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German Pages 266 Year 2014
Michael Mayer Tarkowskijs Gehirn
Band 10
Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.
Michael Mayer (PD Dr.) lehrt Medienwissenschaft an der Universität Potsdam. Sein Forschungsschwerpunkt ist die medienphilosophische Reflexion über die Krise des modernen Subjekts.
Michael Mayer
Tarkowskijs Gehirn Über das Kino als Ort der Konversion
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Andrej Tarkowskij: Angelo, Ciesa nell’acqua, Cittaducale, Italien (Polaroid, Oktober 1982). Copyright by Andrej A. Tarkowskij. Der Autor dankt Andrej A. Tarkowskij für die Erlaubnis zur Reproduktion des Photos. Lektorat & Satz: Johannes Bennke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2070-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Einleitung | 7
1. T A R K O W S K I J S G E H I R N I Zum Kino der Melancholie | 17
2. Z E I T -B I L D 1: W E LT (Glauben) | 41
3. W I E A M M E E R E S U F E R IM SAND
EIN
GESICHT
Zur Kinematographie der Zwischengesichtigkeit bei Yasujiro Ozu | 69
4. Z E I T -B I L D 2: S U B J E K T (Langeweile) | 109
5. Z E I T -B I L D 3: Z E I T (Gesang) | 149
6. T A R K O W S K I J S G E H I R N II Zum Kino der Konversion | 207
ANHANG A. Literaturverzeichnis | 235 B. Filmverzeichnis | 260 C. Musikverzeichnis | 262 D. Abbildungsverzeichnis | 262
Einleitung
1. Das Buch macht den Versuch, den Begriff der Passibilität, den ich in „Humanismus im Widerstreit. Versuch über Passibilität“1 diskutierte, im Kontext einer Theorie des Kinos medienästhetisch näherhin zu erproben. Es geht hier also nicht um eine medientechnische und -geschichtliche Rekonstruktion sei1 | Michael Mayer: Humanismus im Widerstreit. Versuch über Passibilität. München 2012, Einleitung et passim. Zur Nähe zum Begriff der Passibilität, wie er bei Dieter Mersch Anwendung findet, zur Nähe zu dem damit eng verzahnten Begriff der Responsivität bei Mersch und Bernard Waldenfels sei verwiesen auf: Dieter Mersch: Kunst und Sprache. Hermeneutik, Dekonstruktion und die Ästhetik des Ereignens. http://www.dieter-mersch.de/download/mersch.kunst.und.sprache.pdf. S. 13f. Ders. Maß und Differenz. Zum Verhältnis von Mélos und Rhythmós im europäischen Musikdenken. http://www.dieter-mersch.de/download/mersch.mass.und.differenz.pdf. S. 18. Ders. Vom Werk zum Ereignis. Philosophie der Gegenwartskunst. Fünf Vorlesungen. Hier: Kpt. 5: Cages Radikalisierung des Zufalls und die Ethik des Responsiven. http://nyitottegyetem.phil-inst.hu/kmfil/MERSCH/kunst_t.htm. Ders. Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2002. Kpt. II.3 Alterität und Struktur der Responsivität (Heidegger II; Lévinas). München 2002. S. 403423. Ders. Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2002. Hier: Kpt. IV.6: Ethik der Performativen: Ereignis und Responsivität. S. 289-298. Ders. Aisthetik und Responsivität. Zum Verhältnis von medialer und amedialer Wahrnehmung. In: Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Matthias Warstat (Hg.): Wahrnehmung und Medialität. Theatralität 3. Basel 2001. S. 273-299. Zuletzt auch: Ders. Posthermeneutik. Einleitung: Ansätze des Posthermeneutischen. Berlin 2010. Hier vor allem: S. 7-30, bes. S. 25-27 und 3. Teil: Performativität und Responsivität. S. 201-308. Dazu: Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden. Frankfurt/M. 1990. Ders. Antwortregister. Frankfurt/M. 1994. Ders. Deutsch-Französische Gedankengänge. Frankfurt/M. 1995. Ders. Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt/M. 2000. Bes. Kpt. VIII: Leibliches Responsorium. S. 365-393. Ders. Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/M. 2006. Bes. Kpt. III: Antwort auf das Fremde. S. 56-67. Dazu: Kathrin Busch/Iris Därmann (Hg.): Philosophie der Responsivität: Festschrift für Bernhard Waldenfels. München 2007.
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ner Entwicklung noch um die Sammlung, Sichtung und Abgleichung ausgesuchter formaler und inhaltlicher Merkmale, die diese Entwicklung systematisch zu interpretieren erlaubte. Es geht um den Versuch, das Kino auf seine Aktualität hin zu befragen. Wobei der Begriff der Aktualität Michel Foucaults Rede einer „Ontologie der Aktualität“2 geschuldet ist (und Gianni Vattimo3 sollte ihm später darin folgen), der damit in der Flucht von Heideggers „Seinsgeschichte“ nach dem gegenwärtig erreichten Stand in der Geschichte des Seins fragte; mithin nach der strukturellen Verfassung dessen, was als „real“ erfahren und zugelassen wird und was nicht. In Anlehnung daran zielt die Frage nach der „Aktualität des Kinos“ auf den gleichsam subjektiven Pol dieses Begriffs, mithin auf den aktuell erreichten Stand in der Geschichte des Subjekts, wie es im Kino exemplarisch zum Ausdruck zu kommen vermag. Zur Diskussion steht die These, dass in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung maßgeblich das moderne Kino eine Krise des modernen Subjekts enthüllt. Und dass dieser Krise in ihrer festzuhaltenden Negativität zugleich vexierbildhaft die Konturen ihrer möglichen Inversion eingeschrieben sein könnten. Dem Kino Andrej Tarkowskijs, dessen Faszinationskraft ich mich dabei weniger denn je entziehen kann und will, gilt zwar das besondere Augenmerk. Es steht aber mitnichten allein. Auf ausgezeichnete Weise findet es etwa im Kino Yasujiro Ozus (Kpt. 3) sein Pendant; auf vielfältige Weise auch im Autorenkino des Westens: Neorealismus, Nouvelle Vague, Neuer Deutscher
2 | Foucault selbst verwendet die Begriffe einer „Ontologie der Aktualität“ und den damit eng verknüpften einer „historischen“ oder „kritischen Ontologie unserer selbst“, die sein gesamtes genealogisch, archäologisch ausgerichtetes Anliegen charakterisieren, in zwei prominenten Texten von 1984, die sich bezeichnenderweise mit Kant und seinem Aufklärungsartikel auseinandersetzen (mit dem sich ja Kant selbst – wie überhaupt mit dem Gros seiner Aufsätze der Spätschriften, seiner „vierten Kritik“ – in Richtung einer nicht mehr transzendentalen, sondern historischen Vernunftkritik zubewegte): Michel Foucault: Was ist Aufklärung? (1) Übers. v. HansDieter Gondek. In: Dits et Ecrits. Schriften. Bd. IV 1980-1988. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarb. v. Jacques Lagrange. Frankfurt/M. 2005. S. 837-848. Hier: S. 848. Zur historischen, kritischen Ontologie unserer selbst: Was ist Aufklärung? (2) Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Ebd. S. 687-707. Hier: S. 702-706. Dazu: Eva Erdmann/Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt/M., New York. 1990. 3 | Cf. Gianni Vattimo: In-der-(ganzen)-Welt-Sein. Vortrag an der Bauhaus-Universität, Weimar. Kolleg Friedrich Nietzsche am 11.11.2004. Dazu: Simona Forti: Ethos der Freiheit, des Widerstandes und der Verantwortung. Laudatio auf Gianni Vattimo anlässlich der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken. http://www.hannah-arendt.de/preistraeger/preis_2002_6.html.
E INLEITUNG
Film, New Hollywood, Postmodernes und Post-Mortem-Kino4 etc. In enger Tuchfühlung mit dem Œuvre Gilles Deleuzes (Kpt. 1 - 6), in Konstellation mit dem Denken Walter Benjamins (Kpt. 1), Jacques Derridas, Giorgio Agambens und Emmanuel Lévinas‘ (Kpt. 3), Martin Heideggers (Kpt. 2, 4) und Friedrich Nietzsches (Kpt. 2, 4, 5) u.a., sollen die im Kino in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auffällig werdenden Phänomene wie Melancholie (Kpt. 1), Langeweile (Kpt. 4), Leiden an Zeit (Kpt. 5), Beziehungslosigkeit, Handlungshemmung, physische wie psychische Erschöpfung (Kpt. 1, 3, 6) als symptomatische Anzeigen einer möglichen Konversion des Subjekts (Kpt. 3, 6) ausgelesen werden, als Indizien, die auf einen einsetzenden Wandel im menschlichen Selbst- und Weltverhältnis vorausdeuten könnten. Themen, die sich formal in der Art ihrer filmischen Darstellung spiegeln: Die Linearität und Rationalität der Bildfolgen und Sequenzen, mithin die visuelle Grammatik des Films, die im klassischen Erzählkino die Geschichten strukturierte, löst sich zunehmend auf, weicht einem freieren Ensemble von visuellen und akustischen Impressionen, die sich explizit einer eindeutig decodierbaren Sinnkonstruktion verweigern. Gilles Deleuze hat dazu ausführlich gearbeitet.5 Die von ihm als „kinematographische Mutation“6 gekennzeichnete Veränderung findet dabei in einer neuen Funktion und Gestalt des Schauspielers wie der von ihm verkörperten Rolle ihren sichtbaren Ausdruck. Während im klassischen Erzählkino die Helden als aktiv Handelnde vor bestimmte Aufgaben gestellt waren, die sie zu bewältigen hatten und selbst, wenn sie daran scheiterten, zu bewältigen versuchten, erscheinen die Protagonisten des neuen 4 | Wobei uns der Held des Post-Mortem-Kinos ausdrücklich nicht, wie von Thomas Elsaesser eingeführt, der „lebende Tote“ ist, sondern der „Überlebende“: Der, der den Tod des Anderen, den anderen Tod, zu überleben gezwungen ist. Wir kommen darauf noch zu sprechen. Cf. Thomas Elsaesser: Was wäre, wenn du schon tot bist? Vom „postmodernen“ zum „post-mortem“-Kino am Beispiel von Christopher Nolans MEMENTO. In: Christine Rüffert (Hg.): Zeitsprünge. Wie Filme Geschichte(n) erzählen. Berlin 2004. S. 115-125. Dazu: Jacques Derrida u. Jean Birnbaum: Das Leben, das Überleben. Vom Ethos des Denkens und von der Chance des europäischen Erbes. Gespräch mit Jacques Derrida. Übers. v. Markus Sedlaczek. In: Lettre International. Nr. 66, 3/04. Mayer: Totenwache. Wien 2001. Ders. Memento. Zur Präsenz der Toten an der Schnittstelle zwischen Fotografie und Film. In: Nadja Bohrer/Samuel Sieber/ Georg Christoph Tholen (Hg.): Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien. Bielefeld 2011. S. 31-46. 5 | Deleuze: Cinéma 1. L’Image-Mouvement. Paris 1983. Dt. Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übers. v. Ulrich Christians u. Ulrike Bokelmann. Frankfurt/M. 1989. Ders. Cinéma 2. L’Image-Temps. Paris 1985. Dt. Das Zeit-Bild. Kino 2. Übers. v. Klaus Englert. Frankfurt/M. 1991. 6 | Deleuze: Das Zeit-Bild. l.c. S. 34, 189 et passim. Cf. Kpt. 1 im vorliegenden Buch.
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Kinos seltsam verloren, deplatziert und Situationen ausgesetzt, denen sie aus unerklärlichen Gründen nicht gewachsenen scheinen. Ihre Schwäche ist chronisch. Sie gerät zum Movens einer anderen Wahrnehmung der Situation, in der sie sich befinden, der Situation-als-solcher, die dergestalt auf ein anderes, verandertes Subjekt vorausweist. Wobei die annoncierte Konversion des Subjekts und seiner Wahrnehmungspraktiken schließlich auf das Kino als Ganzes übergreift, mithin von der Produktions- zur Rezeptionsästhetik überspringt und so auch dem Zuschauer, dessen Bestimmung Deleuze geradezu demonstrativ unterbelichtet lässt, eine andere rezeptive Einstellung abverlangt. Sie habe ich mit dem Begriff der Passibilität kenntlich zu machen versucht. Passibilität gerät dabei zum wesentlichen medienästhetischen Merkmal eines Subjekts, das den „manisch-depressiven“ Pendelschlag zwischen Allmacht und Ohnmacht, zwischen unbedingter Selbsthabe und totalem Selbstverlust, zwischen rückhaltloser Weltverfügung und radikaler Weltvernichtung ebenso aussetzt, wie es die fatale, bis dato virulente Alternative zwischen Humanismus und Antihumanismus unterläuft und so eine dritte Position und Möglichkeit ins Spiel bringt. Es ist die des Schwachen Subjekts.7 Gianni Vattimos Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eingeführte Formel einer „Schwächung des Denkens“ subjekttheoretisch aufgreifend, lässt sich „Passibilität“ als das dem Schwachen Subjekt korrespondierende praktische „Vermögen“ lesen. Es ist das paradoxe Vermögen, nicht zu vermögen, die Fähigkeit, nicht fähig zu sein. Wollte man dieses Schwache Subjekt phänomenologisch durch Inventarisierung seiner kategorialen Ausstattung positivieren - durch Charakteristika wie Anfälligkeit, Hinfälligkeit, Zufälligkeit etc. -, lässt sich Passibilität präzisieren als basale Empfindlichkeit für den Empfang dessen, was mir zustößt, bevor ich als Ich es als Etwas mit bestimmten Eigenschaften und Merkmalen zu identifizieren vermag. Gleichsam als hermeneutischer Lackmustest der geleisteten filmphilosophischen Interpretationen soll Gilles Deleuzes Begriff des Zeit-Bildes zuletzt als praktische Kategorie erkennbar werden – nicht als theoretische, nicht als technische , bei der sich die Spezifik dieses Filmbilds in der seiner Wahrnehmbarkeit spiegelt. Diese Wahrnehmung ist die der Passibilität. 7 | Neben den vielen Referenzen und Tendenzen, die hier zu benennen wären und noch ausführlicher thematisiert werden, sei vor allem auf Gianni Vattimo verwiesen, dem wir uns nahe wähnen. Cf. Vattimo: Das Ende der Moderne. Übers. v. Rafael Capurro. Stuttgart 1990. Ders. Jenseits des Subjekts. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik. Übers. v. Sonja Puntscher Riekmann. Graz, Wien 1986. Ders. Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie. Übers. v. Martina Kempter. Frankfurt/M. 1997. Ders. Glauben – Philosophieren. Übers. v. Ch. Schulz. Stuttgart 1997. Ders./Pier Aldo Rovatti (Hg.): Il pensiero debole (a cura di). Milano 1997. Dazu: René Scheu: Das schwache Subjekt. Zum Denken von Pier Aldo Rovatti. Wien 2008.
E INLEITUNG
2. Also enthüllt sich das moderne Kino als Laboratorium einer Konversion des Subjekts; als binnensphärisch abgedichtetes Provisorium, in dem die Akteure des Films wie die Rezipienten des Kinos jene „Mutation“8 durchlaufen, auf die Deleuze anspielte und der ein fundamental gewandeltes Welt- und Selbstverhältnis implizit scheint. Seiner Explikation gilt die Aktualität des Kinos, die nur aus der Komposition kinematographischer und philosophischer Motive resultieren kann, niemals aus einem allein noch aus der jederzeit möglichen Dominanz eines über das andere. Was methodisch nicht ohne Folgen bleibt. Ohnehin schon der Bezugnahme zweier disparater Genres geschuldet – dem Kino, der Philosophie -, sollen divergente, aus der Zugehörigkeit ihres jeweiligen Zusammenhangs herausgebrochene Elemente so miteinander verschränkt werden, dass im leeren Zwischen ihrer Bezugnahme aufleuchtet und spürbar wird, denkbar, was sich den Gattungen also solchen meist hartnäckig entzieht. Nicht der Logik der Schnittstelle, nicht der des Kontakts, weder der Mengung noch der Abstraktion geschuldet, nicht analogisch, nicht kollisorisch noch tangential, verdankt sich hier das Neue der Erkennbarkeit einer Trennung, die eine Beziehung und einer Beziehung, die eine Trennung ist; verdankt es sich einer saltatorischen Zündung, deren Bedingungen gesetzt sind, deren Realisation indes unwillkürlich erfolgt, spontan. Wir nennen dieses Verfahren Diskonjunktion und diskonjunktiv ein Komplex der induktiven Fernwirkung, der wechselseitigen Influenzen, die an ausgesuchten Partikeln, Bruchstücken, Musterfragmenten, Bild- und Begriffsmaterien beobachtbar werden. Diskonjunktionen verknüpfen also nicht nur das bislang Unverknüpfte, sondern das schlechthin Unverknüpfbare, halten auf Abstand in der und als Beziehung. Sie aber ist niemals neutral, äußerlich und ohne wesentlichen Effekt. Die Spannung, die sich kraft einer diskonjunktiven Verschränkung aufbaut, deformiert, verzerrt und löst schließlich einzelne Bestandteile aus ihrem natürlichen Milieu und setzt sie frei. Dem grammatischen, vor allem aber dem astronomischen Jargon entlehnt, sind Diskonjunktionen Nutznießer der diskreten Initiative des „und“, dieser grauen Eminenz der Sprachspiele und -systeme, dem, so Fichte einmal, „leere(n) Flickwort ..., das wir gar nicht verstehen, und welches überhaupt das unverständlichste und durchaus durch keine bisherige Philosophie erklärte Wort in der ganzen Sprache ist“.9 Diskonjunktive Interventionen, ihre hermeneutischen, erkenntniskritischen, ontologischen, endlich auch pädagogischen Effekte, referieren dabei auf offen8 | Cf. Mayer: Mutanten. Filmphilosophische Anmerkung zur Krise des Subjekts. In: Claudia Wirsing (Hg.): Auf Nietzsches Balkon. Philosophische Beiträge aus der Villa Silberblick. Weimar 2012. S. 220-231. 9 | Johann Gottlieb Fichte: Die Wissenschaftslehre (1804). In: Fichtes Werke. Bd. X. Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie II. Hg. v. Immanuel Hermann Fichte. Berlin 1971. S. 144.
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kundig prototypische Annoncen in Begriffen wie „Konstellation“ (Adorno)10 und „Konfiguration“ (Benjamin),11 „Zusammengehörigkeit“ und „Gegen-einander-über“ (Heidegger),12 auf die „Verkettung“ (Lyotard),13 auf die „disjunktive, einschließende oder inklusive Synthese“ (Deleuze/Guattari),14 verweisen auf eine verborgene Tradition philosophischer Dissidenz, die durch die Assoziation unnatürlicher Verbindungen in eine völlig neue Praxis des Denkens initiierte. Es ist die Praxis eines „und“, eines analytisch synthetisch operierenden „und“, das distanziert, was es verknüpft: „Die Philosophie ist überfüllt mit Diskussionen über das Zuschreibungsurteil (Der Himmel ist blau) und das Existenzurteil (Gott ist), über die Möglichkeit der Zurückführung des einen auf das andere oder ihre Nichtzurückführbarkeit. Aber immer geht es um das Verb ‚sein‘. Selbst die Konjunktionen werden an diesem Verb gemessen, beim Syllogismus ist das deutlich zu sehen. Eigentlich haben erst die Engländer und die Amerikaner die Konjunktion befreit und über die Relationen nachgedacht. Wenn man allerdings aus dem Relationsurteil einen eigenständigen Urteilstyp macht, merkt man auf einmal, dass es sich überall einschleicht, dass es alles durchdringt und zersetzt: das UND ist nicht einmal mehr eine besondere Konjunktion oder Relation, es reißt alle Relationen mit sich fort, es gibt so viele Relationen wie UNDs, das UND bringt nicht nur alle Relationen ins Wanken, es bringt das Sein ins Wanken, das Verb … etc. Das UND, ‚und … 10 | Cf. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 21980. S. 164ff. 11 | Cf. Walter Benjamin: Erkenntniskritische Vorrede. In: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Gesammelte Schriften. Werkausgabe. (GS) Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.) Frankfurt/M. 1980. Bd. 1. S. 207-237. Hier: S. 214f, 227f. 12 | Zur „Zusammengehörigkeit“: Cf. Martin Heidegger: Der Satz der Identität. In: Identität und Differenz. Pfullingen 61978. S. 9-31. Hier: 20 ff. Zum „Gegen-einanderüber“: Ders. Das Wesen der Sprache. In: Unterwegs zur Sprache. Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 61979. S. 157-216. Hier: S. 211ff.. 13 | Jean-François Lyotard: Der Widerstreit. Übers. v. Joseph Vogl. München 1987. Ders. Streitgespräche, oder: sprechen „nach Auschwitz“. Übers. v. Andreas Pribersky. Bremen 1982. S. 55ff. Dazu: Georg Christoph Tholen: Sprechen ,nach Auschwitz‘. Zum Denken der Differenz bei Jean-François Lyotard. http://sammelpunkt.philo. at:8080/1053/1/16650.0. tholyotard.pdf. 14 | Zur „disjunktiven Synthese“: Deleuze: Logik des Sinns. Aesthetica. Über. v. Bernhard Dieckmann. Frankfurt/M. 1993. S. 223. Zur „einschließenden Disjunktion“: Ders. Erschöpft. In: Samuel Beckett: Quadrat – Stücke für das Fernsehen. Mit einem Essay v. Gilles Deleuze. Übers. v. Erika Tophoven. Frankfurt/M. 1996. S. 55. Ders. Stotterte er… In: Kritik und Klinik. Übers. v. Joseph Vogl. Frankfurt/M. 2000. S. 145-154. Hier: S. 149. Zur „inklusiven Disjunktion“: Ders./Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt/M. 1977. S. 96ff.
E INLEITUNG
und … und‘, ist genau das schöpferische Stottern, der fremde Sprachgebrauch, im Gegensatz zum konformen und herrschenden Sprachgebrauch, der sich auf das Verb ‚sein‘ stützt.“15 Doch noch das Sein selbst, das Deleuzes Philippika etwas vorschnell der Konformität zeiht, lässt sich relationslogisch denken und muss relationslogisch gedacht werden, beginnt man unter Denken etwas anderes zu verstehen als die leere, immer ein wenig verzweifelte Tautologie des Denkens des Denkens. Dem Konzept einer dreiwertigen Logik, mit der etwa Gotthard Günther16 die Restriktionen der formalen Aristotelischen Logik zu überwinden versuchte und die noch im Dilemma des Informationsbegriffs, der weder allein durch Masse noch Energie beschreibbar ist, nachzittern, entspricht eine zweiwertige Ontologie,17 für die die Beziehung zum Seienden das Sein dieses Seienden bestimmt. Dass also die Dinge, so Heidegger, „selbst die Orte sind und nicht nur an einen Ort gehören“,18 dass also die Ontologie als Fundamentalontologie, die ja das Sein selbst als „Anwesen“ zu denken gab, endlich zur „Topologie“ werden musste, zeigt einen der Einsatzpunkte diskonjunktiver Lektüre an. Ihr hermeneutisches Pendant hat sie in der Überzeugung, dass sich der Sinn eines Textes allererst in immer neuen Komplexionen mit anderen Texten freisetzt, dass er, anders gesagt, immer zu-künftig ist. Vollendet also erst der Messias alle hermeneutische Exegese? Derridas so oft, so sehr missverstandene These vom „Ende des Buches und dem Anfang der Schrift“19 entledigte sich ja nicht platterdings des Buchs20, das von avancierteren technischen Medien alsbald verdrängt sein würde. Sein Fragen zielte auf eine meist unterschwellige, gleichwohl wirkmächtige Metaphysik des Buches, die einen idealen, identischen und vorab gegebenen Sinnkern stillschweigend unterstellte, den der Leser jeweils zu rekonstruieren hatte. Geschichtlichkeit nistete in diesem prinzipiell metachronischen Konzept allenfalls im Motiv einer nurmehr asymptotischen Annäherung an diesen Kern. Er selbst aber blieb und war und ist immer der15 | Deleuze: Unterhandlungen 1972–1990. Übers. v. Gustav Roßler. Frankurt/M. 1993. S. 67f. 16 | Gotthard Günther: Idee und Grundriss einer nicht-aristotelischen Logik. Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen. Hamburg 31991. 17 | Cf. Härle, Clemens-Carl: Karte des Unendlichen. In: Ders. (Hg.): Karten zu „Tausend Plateaus“. Berlin 1993. S. 104-133. Hier: S. 116f. 18 | Heidegger: Die Kunst und der Raum. L’art et l’espace. St. Gallen 1969. S. 11. 19 | Cf. Jacques Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt/M. 1983. Dazu: Michael Wetzel: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Weinheim 1991. 20 | Derrida: Das kommende Buch: In: Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten. Übers. v. Markus Sedlaczek. Wien 2006. S. 17-33.
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selbe. Der Abschied21 von diesen Präsuppositionen, die einer jüdischen Hermeneutik offenbar seit je fremd klingen mussten,22 erst macht den Blick frei für eine diskonjunktive Hermeneutik, die nicht zuletzt Gianni Vattimos enger Verzahnung von Hermeneutik und Subjektkritik vieles verdankt. Deshalb berührt sich der Versuch zur Aktualität des Kinos, der das dem Begriff der Passibilität implizite subjektkritische Motiv aufnimmt und weitertreibt, fernperspektivisch mit der Figur des Schwachen Subjekts. Ohne seine Konversion, die seit Platons, seit Paulus‘ Tagen den Menschen als Ganzen erfasst und eben nicht den Bereich seiner Intelligibilität allein, seines theoretischen Erkenntnisvermögens, bleibt jedwedes Räsonnement abstrakt, allenfalls vorläufig. Die Bestimmung der Passibilität ist dergestalt eng mit jenem Motiv der Konversion verzahnt; ist Bestimmung im Sinne des Begriffs und des Fatums. Sie wäre ein Sein und ein Sollen oder das, was immer nur jenseits der Polarität dieser Begriffe vorherrschten kann. Eine Widerfahrnis vielleicht, deren unbedingte, deren performative Bejahung mich zum Subjekt meiner Zufälle, meiner Hinfälligkeit, meiner Anfälligkeit machen könnte, zum Subjekt meiner Schwäche, zum Schwachen Subjekt. * Mehr als alles andere verdankt sich dieses Buch einem jener Zufälle, mit denen man niemals rechnet, die aber, wenn sie denn eintreten, die ganze Lebenssituation von Grund auf zu verändern beginnen. Als ich im Herbst/Winter 2004/2005 (und noch einmal im Frühjahr 2006) auf Einladung von Dr. Rüdiger Schmidt-Grépály als Fellow in Residence am Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar nach Weimar kam, ahnte ich nicht, dass mir nicht nur die wunderbare Gelegenheit zuteilwerden sollte, ein gutes Stück Theoriearbeit unbelastet von der tagtäglichen Sorge ums materielle Überleben zu verfertigen. Noch weit darüber hinaus erlaubte, nein erzwang die Weimarer Klausur, vieles, was mir bis dahin als unabwendbar erschien, grundsätzlich in Frage zu stellen. Dieses Buch ist eine Antwort auf diese Infragestellung; ein Versuch mithin, nicht nur inhaltlich eine These durchzuarbeiten, sondern im Ganzen neu anzufangen. So war diese Zeit für mich ein Beginn, eine Chance und ein Geschenk. Und es war nicht nur der Ort, der seine eigene Magie entfaltete, die Villa Silberblick, in der Nietzsche bekannt21 | Inwiefern dieser Abschied als Abschied von der Metaphysik, der Philosophie überhaupt gelesen werden kann, dessen strukturelle Unabschließbarkeit das Feld der Philosophie überhaupt erst öffnet: Cf. Hans-Joachim Lenger: Der Abschied. Ein Essay zur Differenz. Bielefeld 2001. 22 | Cf. Almuth Sh. Bruckstein: Die Maske des Moses. Studien zur jüdischen Hermeneutik. Wien 22007.
E INLEITUNG
lich seine letzten Lebensjahre verbrachte; es waren zuallererst die Zuwendung und Unterstützung, die Freundlichkeit und last, but not least die Freundschaft von Rüdiger Schmidt-Grépály, dem langjährigen, tapferen Leiter des Kollegs, die für mich den Weimarer Aufenthalt so überaus wichtig werden ließen. Ihm gilt mein ganz besonderer Dank. Idee und Konzept, die Ausführung wichtiger Teile des Buchs sind dem Weimarer Fellowship geschuldet, parallel abgehaltene Seminare an der dortigen Baushaus-Universität taten das Übrige. Den Studentinnen und Studenten dieser Seminare sei für ihr scharfsinniges Engagement, ihren Ernst und ihren Witz bei der Sache gedankt. Johannes Bennke besorgte dankenswerterweise Layout und Korrektur; Matthias Korn bemühte sich hartnäckig um die Klärung von Bildrechtefragen. Zusammen mit dem eingangs angezeigten Band „Humanismus im Widerstreit“ bildete die vorliegende Studie in abgewandelter Form den zweiten Teil meiner an der Universität Potsdam 2009 eingereichten Habilitationsschrift mit dem Titel „Passibilität als ästhetische und medienphilosophische Bestimmung“. So bleibt mir zum Schluss noch den Gutachtern Dieter Mersch, Georg Christoph Tholen und Lorenz Engell zu danken – ganz gewiss nicht nur für ihre Gutachten.
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1. Tarkowskijs Gehirn I Zum Kino der Melancholie
„Zeigen, dass die Filmgeschichte zuerst einmal keine Geschichte ist, sondern aus Geschichten besteht. Und dann zeigen, dass alle diese Geschichten sich mit der Geschichte des 20. Jhr. vermischt haben. Die Geschichte des Films ist der einzig sichtbare Teil der Geschichte, und in diesem Sinne ist es die Weltgeschichte, die zur Filmgeschichte gehört. Keine Chronologie zeigen, Namen oder Daten, sondern einen Windzug, ausgehend von der Grundidee: das ganze 20. Jhr. war ein Schauplatz eines gnadenlosen Kampfes zwischen Bildern oder Tönen (das Neugeborene) und Worten (die Erwachsenen, die Regierung).“ Jean-Luc Godard „Der Aufstand beginnt als Spaziergang.“ Heiner Müller „Die Leinwand selbst ist die Gehirnmembran, wo Vergangenheit und Zukunft, inneres und äußeres, ohne bestimmbare Distanz, unabhängig von jeglichem Fixpunkt, sich unmittelbar gegenüberstehen.“ Gilles Deleuze
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Plot: „Der Psychologe Chris Kelvin (Donatas Banioni) wird zum Planeten Solaris geschickt – einem entfernten, von einem gewaltigen Ozean fast vollständig bedeckten Himmelskörper -, um mysteriöse Vorkommnisse auf der orbitalen Forschungsstation zu untersuchen. Die dort stationierten Wissenschaftler scheinen verwirrt; die Erforschung der Solaris selbst, deren atypisches Verhalten rätselhaft ist, tritt auf der Stelle. Nach einem letzten Besuch bei seinem Vater (Nikolai Grinko) fliegt Kelvin zum Planeten und findet die Station in einem desolaten Zustand. Nicht minder die Wissenschaftler: Gibarian (Sos Sarkissjan) nahm sich das Leben, Snaut (Jüri Järvet) und Sartorius (Anatoli Solonizyn) verhalten sich merkwürdig. Nach seiner ersten Nacht auf der Station erwacht Kelvin neben einer jungen Frau (Natalja Bondastschuk), die mit seiner Frau Harey, die vor Jahren Selbstmord beging, identisch zu sein scheint. Tatsächlich aber handelt es sich bei dem Wesen um eine Doublette, die der Ozean - eine Art extraterrestrisches Gehirn - im telephatischen Kontakt mit dem Unbewussten Kelvins erschaffen hat. Was auch das Verhalten der anderen Crew-Mitglieder erklärt: Denn auch Gibarian wurde, Snaut und Sartorius werden von Materialisationen ihrer innersten Wunschphantasien heimgesucht. Mehrere Versuche, „Harey“ loszuwerden, sprich zu töten, scheitern, da der Ozean seine „Wesen“ stets von neuem rekreiert. Kelvin bemerkt, dass die zweite „Harey“, die schließlich von ihrer artifiziellen Existenz erfährt, ein Gedächtnis und ein eigenes Bewusstsein mit eigenen Verhaltensweisen zu entwickeln beginnt. Sie wird menschlich. Und Kelvin lernt, was ihm bei der „realen“ Harey offensichtlich nicht gelang: sie zu lieben. Er entschließt sich, bei ihr zu bleiben. Was „Harey“ aber nicht möchte, da Kelvin dann auf immer auf der Station leben müsste. Sie lässt sich von Sartorius „vernichten“: Der Ozean setzt durch die Transmission des Enzephalogramms von Kelvins Hirnaktivität deren Rematerialisierung zwar aus, schafft aber auf seiner Oberfläche kleine Inseln aus Kelvins Gedächtnisinhalten. In der letzten Sequenz des Films sieht man Kelvin beim Haus seines Vaters, sieht, wie sich Vater und Sohn wiedertreffen, ihre Umarmung, Kelvins Kniefall vor ihm. Die Kamera hält die Szene fest, während sie immer höher schwebt, um nach einem Flug durch Wolkenfelder die Szenerie schließlich als Ganze freizugeben: Man sieht eine kleiner und kleiner werdende Insel, umgeben von einem riesigen Ozean. Chris Kelvin ist auf Solaris/zu Hause.“ 1. Wo sind wir? An welchem Ort? Und mit wem? Und wer ist „er“? Und wer „wir“? „Ich“? Chris? Chris Kelvin, der Wissenschaftler, der Raumfahrer, der Fernreisende, es hatte ihn also hierher verschlagen. Hierher, wo auch immer das gewesen sein mag, an diesen Ort oder Unort jenseits von Jupiter und darüber hinaus, im agonalen Orbit über einem Planeten, über einem Ozean, der, so heißt es, in irgendeiner Weise denke, der, so heißt es, in irgendeiner Weise eine Intelligenz darstelle, ein Gehirn. Wenn man denn wüsste, was das heißt:
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(Abb. 1 - Filmstills aus Andrej Tarkowskij: Solaris, UdSSR 1972)
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Denken, Intelligenz, Gehirn. Chris jedenfalls befindet sich am Ende seiner utopischen oder auch atopischen Reise. Wo aber am Ende? Und an welchem Ende? Wo befindet er sich am Ende? Wo findet er sich wieder? Vor einem Haus, dem Haus seiner Eltern vielleicht, dem Haus seiner Kindheit vielleicht. Er blickt durch ein Fenster ins Innere des Hauses. Und man ahnt, dass hier etwas nicht stimmt. Man ahnt es mit einem langsam aufkommenden Gefühl leiser Beklemmung, einem Gefühl traum- oder alptraumhafter Bedrückung, undeutlich, bedrängend. Etwas verstörend Träges lastet auf alldem. Das einer Art verschrecktem Staunen weicht als im Haus mit einem Mal Wasser - oder ist es etwas anderes? - als dünnes Rinnsal aus der Decke zu sickern beginnt, dampfend wie flüssiger Sauerstoff, sich auf die Schulter des Mannes ergießt, der all das gar nicht zu bemerken scheint. Der tut, als wäre das völlig normal. Doch wer ist „er“ eigentlich? Der „Vater“? Zuerst eine klamme Ahnung also. Doch verdichtet sich die Ahnung alsbald zur Gewissheit. Der Wolkennebel, in den wir eintauchten, verfliegt und gibt zögerlich den Blick nach unten frei. Wie eine zaghafte Aufblendung, behutsam, langsam, unerbittlich: eine dieser endlos langen Kamerafahrten. Man kennt sie, wir sind im Kino Tarkowskijs. Dem Kino der schwebenden Menschen. Dem Kino der schwebenden Bilder. Vertikale Enthüllung eines endlich kaum mehr gehüteten Geheimnisses: wir sind auf Solaris. Chris ist auf Solaris. Doch wo sind wir? Wo ist Chris? Wir sind im Kino. Wir sind auf Solaris. Solaris? Was heißt das schon? Was sagt das schon? Zumindest zweierlei. Halten wir das fest. Zumindest gäbe es zwei mögliche Paraphrasen dieser einen Situation, zwei Attestate, die einander schroff zu widerstreiten scheinen. Als zerfiele diese eine Situation in zwei vollkommen konträre Deutungsalternativen. Einerseits nämlich wären wir hier auf Solaris, hier im Kino, wäre Chris in der Fremde allererst bei sich angekommen, wäre die Heimat (und wohl kein Wort ist in diesem Zusammenhang unvermeidlicher) in der Fremde allererst möglich geworden. Nicht, dass die Fremde selbst zu Heimat geworden wäre; nein, es ist die Heimat selbst, die eigene und eigentliche Heimat, die an diesem Unort, jenseits von Jupiter und darüber hinaus, zum wahren Ort wurde. Zum Ort einer exorbitalen Wahrheit. Die materialisierte Erinnerungsinsel auf der Oberfläche des Ozeans wäre jene Heimat, die Chris nur deshalb, weil er sie verließ und verlor, in dieser befremdlichen und fremdesten Fremde, in dieser Extraterrestrik seiner wunden Innerlichkeit, wiederfinden konnte. Weil er sie wiederfinden konnte wie er Harey, seine Frau, wiederfinden musste mehr als einmal. Wie ein Fluch, wie eine Erlösung. Wiedergefundene Zeit, wiedergefundene Heimat! Heimisch geworden zu sein im Fremden und durch das Fremde, mithilfe und im Medium des Fremden, versöhnt mit sich. Versöhnt mit dem Vater, der Mutter, seiner Frau, seiner Schuld.
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Andererseits aber wäre jenes Eigene, die Trautheit des Vertrauten, nur möglich, weil es schon enteignet wurde; weil es in der Fremde zu einem Fremden, weil es nur in der Fremde und nur als fremdes möglich wurde, unheimlich und von allenfalls supplementärer, von dämonischer Wirklichkeit. Unheimliches Heim. Die Heimat also, sagen wir es so, wäre nur zu haben um den Preis ihres unendlichen Verlusts. Lichtjahre entfernt. Chris, der Heimkehrer, kehrt nicht heim. Er ist und er bleibt auf dem Ozean, auf diesem Gerinnsel seiner Virtualität, weil er nicht zurück will und kann. Keine Versöhnung, mit nichts und mit niemandem. Schon gar nicht mit sich und seiner Schuld. Zum einen, zum anderen: Unmögliche Möglichkeit der Heimkehr: „von Solaris kehrt niemand zurück; es sei denn, er kehrt auf Solaris von Solaris zurück“. Wo also sind wir? Und mit wem? Mit dem Vater? Aber er ist ja gar nicht da. Er ist abwesend. Anwesend ist allenfalls seine subatomare Doublette. Vielleicht ist er längst tot. Wie Harey, seine Frau, die sich das Leben nahm, weil sie seine Lieblosigkeit nicht ertrug. Sind wir also unter Toten? Unter untoten Toten? Unter Schemen? Unter Schatten im Reich von Schatten? Oder als letzte, äußerste, extreme Möglichkeit: stirbt Chris? Weil er auf Solaris landet, weil er nicht zurückkehrt, weil er auf Solaris landet, um nicht zurückzukehren, weil er auf Solaris landet, um zu sterben? Als wäre dies das Bild eines Sterbenden. Nicht mehr lebend unter Lebenden, noch nicht tot unter Toten. Bild eines Sterbenden, der zu sich findet ein erstes, ein letztes Mal oder ein letztes, ein erstes Mal verfehlt und verliert. Letztes Bild, letzte Einstellung. Schlussbild. Plot: „Der russische Dichter Andrej Gortschakow (Oleg Jankowski) recherchiert in Italien über den russischen Komponisten Pavel Sosnowskij, der sich dort vor rund zweihundert Jahren aufhielt. Auf seiner Forschungsreise durch die Toskana, auf der ihn die schöne, vergeblich um ihn werbende Eugenia (Domiziani Giordano) begleitet, verliert sich Gortschakow immer mehr in der Landschaft, der Architektur und Kunst, den Orten und Menschen, seinen Erinnerungen, seiner Wehmut und Melancholie. In Bagno Vignoni trifft er auf den Verrückten Domenico (Erland Josephson), der den Plan hat, sich in Rom zu Errettung der Welt selbst zu verbrennen. Domenico bittet Gortschakow, eine Kerze durch das Bassin der Thermalquellen von Bagno Vignoni zu tragen. Während Domenico in Rom auf dem Reiterstandbild Marc Aurels sein Vorhaben in die Tat umsetzt, erfüllt ihm Gortschakow im entfernten Bagno Vignoni den Wunsch. Nach mehreren, quälend langen Versuchen, schafft er es, die Kerze durch das ausgelassene Bassin zu tragen und am Beckenrand aufzustellen. Doch Gortschakow, der sich schon an sein Herz gefasst hatte, bricht zusammen und stirbt. In der letzten Sequenz schwebt die Kamera horizontal durch eine Kirchenruine (Abteiruine San Galgano), in die das Bild eines russischen Bauernhauses, dem Haus von
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(Abb. 2 – Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Nostalghia, Italien 1982/83) Gortschkows Kindheit, hineinmontiert wurde. Es beginnt zu schneien – in der italienischen Ruine/auf das russische Haus.“ 2. Bild eines Sterbenden: wo sind wir? An welchem Ort? Andrej stirbt. Andrej Gortschakow, der Dichter, den es hierher verschlagen hat, nach Italien, auf den Spuren eines gewissen Pavel Sosnowskij, einem kreuzunglücklichen Tondichter. Andrej, ein Fremdling auf den Spuren eines Fremdlings, stirbt im leeren Bassin von Bagno Vignoni; stirbt beim Versuch, eine Kerze, wie ihm Domenico, sein verrücktes Alter Ego, geheißen hatte, von einem Beckenrand zum anderen zu tragen. Eine Kerze, die ebenso brennt wie Domenico brannte als er sich in Rom, auf dem Reiterstandbild Marc Aurels, mit Benzin übergoss und ansteckte. Domenicos lodernder Flammentod und das matt gewordene Herz Andrejs. Schlussbild: eine unendlich lange Kamerafahrt in einer Kathedrale, einer Ruine, horizontale Fahrt rückwärts, schwebend, jenseits der Schwerkraft. Horizontale Enthüllung eines Gotteshauses als Ruine. Es beginnt zu schneien. Geräusche, ein Plätschern und der ferne Gesang einer Frau. Die Kamera gleitet sacht durch den Innenraum dieser himmelwärts aufgebrochenen Kathedrale, in der, seltsam genug, ein russisches Bauernhaus steht. Inmitten einer italienischen Kathedrale, von Bäumen umsäumt, mit einer großen Wasserlache davor und einem liegenden Hund. Allegorische Diskonjunktion zweier Orte in einem, in einem Un-Ort: und langsam verlischt das Bild, der Film, das Leben. Mehr als alles andere wurde dieses Schlussbild berühmt, mehr als alles andere provoziert es Sinn. Doch welchen? Tarkowskij gibt einen seltsamen Bescheid: „Ich muss zugeben, dass die Schlusseinstellung von ‚Nostalghia‘, wo
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inmitten einer italienischen Kathedrale mein russisches Bauernhaus auftaucht, zumindest teilweise metaphorisch ist. Dieses konstruierte Bild hat etwas leicht Literarisches an sich. Es ist gleichsam ein Modell von Gortschakows innerem Zustand, von seiner Zerrissenheit, die ihn nicht mehr wie bisher weiterleben lässt. Wenn man so will, könnte man natürlich auch das Gegenteil behaupten und davon sprechen, dass dies das Bild einer neuen Einheit ist, die die Hügel der Toskana und das russische Dorf zu einem organischen, untrennbaren Ganzen zusammenschließt, das bei einer Rückkehr nach Russland von der Realität wieder auseinandergeschlagen würde.“1 Wenn man so will: Bild der Zerrissenheit/Bild der Einheit. Bild des Scheiterns/Bild des Gelingens: beides wäre möglich und wäre doch zugleich nicht möglich. Oder doch? „Meiner Meinung nach präsentiert die Einstellung etwas ziemlich Komplexes und Mehrdeutiges: Sie drückt auf bildhafte Weise das aus, was hier mit Gortschakow geschieht, symbolisiert aber dennoch nicht irgend etwas anderes, das man erst enträtseln muss.“2 An Tarkowskijs Bemerkung fällt unmittelbar zweierlei auf: Zum einen eine Art kinematographisches schlechtes Gewissen, das den Regisseur beschleicht beim Einsatz einer Bildkonstruktion, die „zumindest teilweise“ metaphorisch sei, die „etwas leicht“ Literarisches an sich habe. Der pejorative Ton ist unverkennbar, die gezierte Distanzierung. Als beschuldigte er sich selbst der Verwendung kinofremder Ausdrucksmittel im Kino. Zum anderen indes wird eine augenscheinlich genaue Vorstellung über die Funktion kinematographischer Ausdrucksmittel fühlbar, die bildhaft darstellten, was nicht symbolisiert und also auch nicht dechiffriert werden muss. Und schon gar nicht in die Eindeutigkeit sinnhafter Rede transformiert werden kann und darf. Offensichtlich qualifiziert sich der Bildsinn des Filmbildes durch eine Mehrdeutigkeit und Ambivalenz, die dem auf Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit ausgerichteten Aussagesinn widerstreitet. Tarkowskijs gesamte zuweilen nervöse wie aggressive Polemik gegen den Gebrauch von Deutungstechniken, die einen hinter den Bildern verborgenen und in sprachlicher Form repräsentierbaren Sinn freizulegen versuchen, speist sich von seiner Insistenz auf dem Eigensinn des kinematographischen Bildes her. Erste und gewiss nicht einzige Koinzidenz mit Gilles Deleuzes Konzept des Zeit-Bildes.3 Wir werden sehen. Als rührte Tarkowskijs Unbehagen gegenüber dem Schlussbild aus „Nostalghia“ von der Gefahr her, dass es aufgrund seines latent metaphorischen Charakters jene Demarkation zwischen Bild und Aussage unterlaufen 1 | Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, Ästhetik und Poetik des Films. Übers. v. Hans-Joachim Schlegel. Berlin, Frankfurt/M. 21986. S. 238. 2 | Ebd. S. 239. 3 | Cf. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Übers. v. Klaus Englert. Frankfurt/M. 1997. S. 41ff.
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könnte, auf die es wesentlich ankomme, wenn man das Wesen des Kinos, seines Kinos, auch nur andeutungsweise erfassen möchte. Als wollte er das filmische Bild irgendwie schützen. Deshalb Tarkowskijs Missmut, deshalb seine Heftigkeit. „Deshalb mutet es mich auch so seltsam an, wenn ich höre, dass Menschen die doch keinesfalls unbeteiligt ins Filmbild gebrachte Natur nicht einfach genießen, sondern darin nach irgendeinem verborgenen Sinn suchen. Im Regen kann man natürlich einfach nur schlechtes Wetter sehen, während ich ihn etwa in einer bestimmten Weise als ästhetisierendes Milieu benutze, das die entsprechende Filmhandlung prägt. Doch das bedeutet doch um Gottes willen noch lange nicht, dass die Natur in meinen Filmen irgend etwas symbolisieren soll!“4 So wäre also der Regen - der berühmte Tarkowskijsche Regen! -, der, so Deleuze, jeden seiner Filme „rhythmisiert“5, nichts anderes als - Regen.6 Ein Rhythmus, ein Milieu, der dem Blick keinen Widerstand bietet, keinen Gegenstand, der den Blick auf so eigentümliche Weise ins Leere fallenlässt, in ein Nichts an Konkretion und Bestimmtheit, bei dem es nichts zu sehen gibt; bei dem es einzig zu sehen gibt, dass es regnet. Einzig und vielleicht ein erstes Mal überhaupt.7
4 | Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. l.c. S. 237. 5 | Deleuze: Das Zeit-Bild. l.c. S. 104. 6 | „In der letzten Zeit hatte ich viele Gelegenheiten, mit meinen Zuschauern zu sprechen. Dabei bemerkte ich immer ihre Skepsis gegenüber meinen Beteuerungen, dass es in meinen Filmen keinerlei Symbole oder Metaphern gibt. Besonders häufig, ja geradezu leidenschaftlich werde ich beispielsweise nach der Bedeutung des Regens gefragt. Warum der in jedem Film vorkomme. Und weshalb hier immer wieder Wind, Feuer und Wasser auftauchen. Derlei Fragen bringen mich regelrecht in Verwirrung.“ Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. l.c. S. 235. Hierzu passt auch eine Bemerkung Tarkowskijs aus einem Interview Mitte der achtziger Jahre: „Symbolik ist ein schwieriges Kapitel. Ich bin ein Feind der Symbolik. Symbol ist ein zu enger Begriff in dem Sinne, dass Symbole dazu da sind, entziffert zu werden. Aber ein künstlerisches Bild ist unentzifferbar, es ist ein Äquivalent der Welt, in der wir leben. Der Regen in ‚Solaris’ ist kein Symbol, es ist bloß Regen, der für den Helden in einem gewissen Augenblick an Wichtigkeit gewinnt. Er symbolisiert nichts. Er drückt etwas aus. Dieser Regen ist ein künstlerisches Bild. Der Begriff Symbol ist mir zu verworren.“ Ein Feind der Symbolik. Gespräch von Irena Brezna mit Andrej Tarkowskij. In: Tip. 3/84. S. 205. 7 | „Es regnet hier nicht einfach…, sondern es erklingt regelrechte Regenmusik, die etwas vom gemeinhin verborgenen Zauber dieses Phänomens wieder-holt oder allererst offenbart.“ Hans-Dieter Jünger: Kunst der Zeit und des Erinnerns. Andrej Tarkowskijs Konzept des Films. Ostfildern 1995. S. 52.
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(Abb. 3 - Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Der Spiegel, UdSSR 1975) „Es regnet“: ohne Subjekt, Substantiv, ohne Objekt,8 ohne deutbaren Sinn. Reines Ereignen reiner Zeit-Wörtlichkeit: regnen. Sonst nichts. Sonst nichts? Die Dinge sind kompliziert. Und vielleicht sind sie es, weil sie so einfach sind - wie Regen, der an einem tristen Sommertag auf eine schmutzige Stadt niedergeht. Denn andererseits wird Tarkowskij trotz oder wegen seiner stets heftigen Abwehr gegen jedwede Form der symbolistischen Rückführung des Bildes auf einen sagbaren Bildsinn immer wieder auf eine bestimmte Vor8 | An einer Stelle einer frühen Arbeit reflektiert Emmanuel Lévinas über die Anonymität des reinen „Es gibt“, das nach dem Verschwinden des Dinghaften, des Greif- und Begreifbaren, des bestimmt Wahrnehmbaren einzig bleibe. Und er tut dies in Worten, die, trotz ihres unverkennbar pejorativen, „antiheideggerianischen“ Timbres, mit dem „ästhetischen Milieu“ des Tarkowskijschen Regens auf eigentümliche Weise zu korrespondieren scheinen: „Die Abwesenheit aller Dinge kehrt als eine Gegenwart zurück: als der Ort, an dem alles verschwunden ist, als atmosphärische Dichte, als eine Fülle des Leeren oder als Murmeln der Stille. Es gibt, nach dieser Zerstörung der Dinge und Seienden, das ‚unpersönliche‘ Kraftfeld des Seins. Irgend etwas, das weder Subjekt noch Substantiv ist. Die Tatsache des Seins, die sich auferlegt, wenn es nichts mehr gibt. Und dies ist anonym: es gibt niemand und nichts, das dieses Sein auf sich nähme. Es ist unpersönlich wie das ‚es regnet’ oder ‚es ist warm’.“ Emmanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere. Übers. v. Ludwig Wenzler. Hamburg 1984. S. 22f.
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stellung des Symbols zurückgreifen, in dem sich gleichsam exemplarisch seine Theorie und Praxis des Filmbildes verdichtet. So spricht er einmal davon, dass Kunst den Sinn unserer Existenz symbolisiere.9 Während er bei anderer Gelegenheit ausgerechnet einen russischen Symbolisten zum Gewährmann seiner Konzeption des Filmbildes erklärt: „Wjatscheslaw Iwánow hatte in seinen Betrachtungen zum Symbol mit folgenden Worten seine Beziehung zu ihm ausgedrückt (das, was er Symbol nennt, beziehe ich hier auf das Bild): ‚Das Symbol ist nur dann ein wahres Symbol, wenn es in seiner Bedeutung unerschöpflich und grenzenlos ist, wenn es in seiner geheimen (hieratischen und magischen) Sprache Andeutungen und Suggestionen auf etwas Unaussprechliches, nicht in Worte zu Fassendes ausspricht. Es ist vielgesichtig, vieldeutig und stets dunkel in seiner letzten Tiefe. Es ist von organischer Beschaffenheit, wie der Kristall. Es gleicht sogar einer Monade, und darin unterscheidet es sich von der komplexen und vielschichtigen Allegorie, der Parabel oder dem Vergleich. Symbole sind unbegreiflich und mit Worten nicht wiederzugeben.’“10 Also wäre Tarkowskijs affirmativer Gebrauch des Symbols durch zweierlei reguliert: einerseits durch die in einer etwas verschämten Klammer angezeigte Verschiebung vom Iwánowschen „Symbol“ zu seinem, Tarkowskijs Konzept des „Bildes“, andererseits durch die von Iwánow angezeigte Absetzung des Symbols von der Allegorie, der Parabel, dem Vergleich. Also gälte es einen trivialen Begriff des Symbols, das als eine Art Platzhalter für etwas anderes, prinzipiell Sagbares, stünde, zu unterscheiden von einem exklusiven SymbolBegriff, der letztendlich etwas Unsagbares bedeutete, der etwas bedeutete, das nicht erschöpfend, klar und eindeutig und vielleicht überhaupt nicht bedeutet werden kann. Alle Missverständnisse hinsichtlich der Eigenart der Tarkowskijschen Kinematographie gründeten mithin in der Verwechslung dieser beiden diametral entgegengesetzten Konzeptionen des Symbols, gründeten in der Reduktion des Symbols auf die Allegorie.11 Mit was aber prallte beispielsweise der Regen zusammen, wenn er mit nichts zusammenprallt, das etwas wäre, etwas Sag- und Benennbares, wenn Regen mit nichts zusammenprallte als nur mit Regen, wenn Regen Regen symbolisierte? Wie unterschiede sich der Regen symbolisierende Regen von der uneigentlichen Rede der Allegorie, dem Andersreden, das den Regen etwas anderes sagen ließe als das, was er selbst ist? Der Regen oder das Blut: „Im Film dagegen ist Blut - Blut, also kein Symbol, nichts, das für irgend etwas steht.“12 Oder ein Symbol, das etwas als das bedeu9 | Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. l.c. S. 218. 10 | Ebd. S. 120. 11 | Cf. Jünger: Kunst der Zeit und des Erinnerns. l.c. S. 21f. Auch: Maja Josifowna Turowskaja: Andrej Tarkowskij: Film als Poesie - Poesie als Film. Bonn 1981. S. 98. 12 | Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. l.c. S. 180.
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tete, was es ist: etwas als etwas, als es selbst, Symbol als Zusammenprall und Koinzidenz von Zeichen und Bezeichnetem, als Aufspannung und Implosion der semiotischen Differenz in einem und zugleich. Was auch immer das heißen mag: man beginnt zu ahnen, dass die im Zitat angezeigte Verdopplung des Ausdrucks „Blut“, genauer: dass das stumme Zeichen, das jederzeit sichtbare, das jederzeit unhörbare, dass dieser Trenn- und Bindestrich, der die Iteration ein und desselben Ausdrucks „Blut“ skandiert, unterbricht und ermöglicht, dass dieser winzige Moment des Aussetzens, der Atem- und Lautlosigkeit, aus der bloßen Wiederholung eine Wieder-Holung macht, in der ein und dasselbe, das selbe Blut dasselbe ist als anderes. Semiotische Transsubstantiation: auf wundersame Weise hat sich dieses Blut verwandelt, auf wundersame Weise wurde und blieb es - dasselbe. Aber auf welche? 3. Symbol gegen Symbol. Symbol gegen Allegorie: Im Jahre 1928 erscheint Walter Benjamins „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, dessen stilistische Grandezza mit der spekulativen Kühnheit seiner thematischen Prospektiven wetteifert. Benjamin schreibt in diesem Buch, das um die Pole „tragisch traurig“ austariert ist, nichts Geringeres als eine Archäologie der Moderne. Archäologie eines sehr speziellen Typus von Subjektivität, dem die melancholische Hemmung jedwede Aussicht auf ein heilsökonomisch prästabilisiertes Jenseits versperrt, dem die melancholische Hemmung dafür aber den Blick aufs Diesseits, und sei’s ein flüchtiger, zu gönnen vermag. Als gelte seine ganze verzweifelte Treue, seine ganze gebrochene Loyalität nicht mehr dem längst leergefegten Himmel über ihm, sondern dem Gewimmel zu seinen Füßen. Der Melancholiker als „Übermensch“, als „Sinn der Erde“? Im großen zweiten Teil seiner Untersuchung, nachdem er im ersten die Spezifität des Trauerspiels von der antiken Tragödie mit großer Akkuratesse und Eindringlichkeit abgrenzte, konzentriert er sich im zweiten auf den diesem Trauerspiel inhärenten ästhetischen Formbegriff. Es ist der der Allegorie. Man muss Benjamins verblüffender Argumentation schon penibel genau folgen, um ihrer Finesse überhaupt auf die Schliche kommen zu können. Denn dem in der Frühromantik aufgekommenen, in der Klassik dann kanonisierten ästhetischen Symbolbegriff, an dessen Vulgarität er keinen Zweifel lässt, stünde ein Begriff der Allegorie gegenüber, den es, horribile dictu, gar nicht gegeben habe. Nurmehr als spekulative Positivfolie zum Symbol ließe er sich gleichsam extrapolieren.13 13 | „Gleichzeitig mit dem profanen Symbolbegriff des Klassizismus bildet sein spekulatives Gegenstück, der des Allegorischen, sich heraus. Eine eigentliche Lehre von der Allegorie ist zwar damals nicht entstanden noch hatte es sie vordem gegeben. Den neuen Begriff des Allegorischen als spekulativ zu bezeichnen ist aber dadurch gerechtfertigt, dass er in der Tat als der finstere Fond abgestimmt war, gegen den
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Eine hermeneutische Chuzpe von bemerkenswerter Verwegenheit: aus der ideengeschichtlichen Konfiguration des frühen 18. Jahrhunderts deduziert Benjamin seinen für die weitere Entwicklung nicht nur dieses Gedankens wesentlichen Begriff der Allegorie, den es an sich gar nicht gab und so auch nie gegeben hat. Weshalb er, gemäß seiner methodischen Kapriole, den vorherrschenden Symbolbegriff als negative Basis zur Legitimation seiner Konstruktion des allegorischen Zeichens sichern muss. Und er tut es zuerst zaghaft, tastend, ein wenig hilflos, nachgerade mutlos ob der Waghalsigkeit seines Unterfangens. Als wäre spürbar, dass ihm bei der ganzen Sache nicht recht wohl war. Doch nachdem er zwischen Goethe, Schopenhauer und William Butler Yeats14 ein wenig fahrig und ohne recht voranzukommen changierte, erkennt er endlich im Symbolbegriff des Philologen Georg Friedrich Creuzers ein hinreichend plastisches Modell, das die spekulativen Konturen des Allegorischen hochzurechnen erlaubt.15 In skizzenhafter Verdichtung erhält die Demarkation beider Zeichensphären dabei folgende Gestalt: während das Symbol die Totalität seines Bedeutens in einem einzigen Moment und in vollkommener Selbsttransparenz realisiert, um somit die bedeutete Idee, den Gedanken, den Begriff instantan zu vergegenwärtigen, zerbricht in der Allegorie der fixe Zusammenhang zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Ding und Bedeutung, um das Bedeutete in einem zeitlich gestreckten Prozess des Bedeutens anzuvisieren und zuletzt zu verlieren. Das nunc stans des Symbols zerfällt in die Geschichte des Bedeutens. Sie aber ist eine des Verfalls. Denn die sinnhafte und sinnvolle Tageshelle des Symbols atmete den Geist einer Heilsgeschichte, in der das Bedeutete je schon im Licht der Erlösung, einer eschatologisch gesicherten Finalität des Sinns erstrahlt. Keine Zeit nagt an seiner semiotischen Perfektibilität, an der Totalität substantieller Bedeutung. Während die Allegorie die Temporalisierung des Bedeutens mit Unleserlichkeit quittiert. Das allegorische Zeichen bleibt bedeutend deutungslos, bleibt rätselhaft, fragmentarisch, unvollendet und unvollkommen, gleichsam zwielichtig. Die Heils- denaturiert zur Naturgeschichte als Geschichte eines todverfallenen Daseins. Denn Naturzeit ist nichts anderes als unmittelbare Einheit von Werden und Vergehen, leere Vergängnis, die alles, was wird, mit Nichtigkeit schlägt. Derart findet das melancholisch zerrüttete Geschichtsverständnis in der Allegorie die ihr einzig angemessene Expressivität. Derart modelliert Benjamin einen Begriff der Allegorie als eines Zeichens, das bedeutet, ohne zu die Welt des Symbols hell sich abheben sollte.“ Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Gesammelte Schriften. Bd. I/1. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1980. S. 336. 14 | Ebd. S. 338f. 15 | Ebd. S. 340ff.
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bedeuten, das in allem Bedeuten auf das Bedeutende, das Zeichen selbst, wieder und wieder zurückfällt. Auf das Zeichen selbst und seine rohe, primitive, barbarische Materialität, seine, mit Hegel zu sprechen, vermittelte Unmittelbarkeit. Was nämlich Benjamin als Ausdruck dialektischer Spannung apostrophieren würde, als „Antinomie des Allegorischen“16 und eine Art vexierbildhaften Umschlag melancholischer Trauer in das zarte Glück der Passibilität anzeigt, wäre allein die kraft dieser Sinnstockung möglich gewordene „Rettung des Materials“.17 Rettung der Dinge, der Welt, aus ihrer klischeehaften Vernutzung, um sie einzig und zum wiederholten Male ein erstes Mal sein zu lassen, was sie sind: Dinge, Welt. Die organische Totalität des Symbols, von der Benjamin spricht,18 entwertet das Zeichen zum Träger eines Bedeutens, hinter dem es zu verschwinden droht: als wäre das Symbol das Ansich des Begriffs; der Begriff das Fürsich des Symbols. Der amorphe Zeichensplitter der allegorischen Hieroglyphik degradiert den Zeichenträger zwar auch, da er als Zeichen auf anderes als es selbst verweist; doch genau dadurch wird er auch erhöht, da er sich in seinem universellen Verweisungszusammenhang ebenso behauptet wie ihn ermöglicht. Anstelle der semiotischen Vertikalität des Symbols, das zwischen Zeichen und Bezeichnetem das unantastbare Regime luzider Bedeutung kodifiziert, tritt die semiotische Horizontalität - und Deleuze würde vielleicht sagen: Immanenz - der Allegorie, die die Wirklichkeit im Stande ihrer Diskonjunktion zeigt, der Zusammengehörigkeit des Verschiedenen.19
16 | Ebd. S. 350ff. 17 | Was Adorno, vernehmlich inspiriert von Benjamins Kritik des Symbols, durch das Motiv der „Buchstäblichkeit“ umschreibt, die erst durch den Abbruch symbolischer Bedeutung in ästhetischer Erfahrung in Erscheinung trete. Cf. Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka. In: Gesammelte Schriften, Bd. 10. Frankfurt/M. 2003. S. 255. Dazu: Christoph Menke: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt/M. 1991. S. 34ff. Den Ausdruck „Rettung des Materials“ verwendet Menke übrigens zur Charakterisierung des ästhetischen Gehalts der Heideggerschen „Erde“ wie des Adornoschen „Naturschönen“: Ebd. S. 171ff. Die Nähe Derridas zu diesem Motivkreis, vor allem auch zu Adorno, bedarf kaum der Erwähnung: Cf. Derrida: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinsberger u. Hanns Zischler. Frankfurt/M. 1983. Auch: Ders. Fichus. Frankfurter Rede. Übers. v. Stefan Lorenzer. Wien 2003. 18 | Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. l.c. S. 351. 19 | Bedenkenswert wäre womöglich, das Motiv der „Ähnlichkeit“, das Georg DidiHuberman in einer aufwühlenden Meditation zum Bildbegriff Maurice Blanchots herausstellt, in diesen Zusammenhang zu rücken: Didi-Huberman: Der Tod und das Mädchen. In: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung. Nr. 9, Oktober 2004. S. 27-37.
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(Abb. 4 - Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Andrej Rubljow, UdSSR 1966-1969) „Demnach wird die profane Welt in allegorischer Betrachtung sowohl im Rang erhoben wie entwertet.“20 So Benjamin. Der auf seine Weise eine Befreiungsgeschichte schreibt oder, wagen wir es zu sagen, eine Befreiungstheologie, die, eigentümlich genug, nicht dem Helden zukommt, sondern dem todtraurigen Zauderer.21 Als hätte er in Hamlet seinen Archetyp, das Urbild eines unpolitischen Menschen, dessen Handlungshemmung eine fatale Kette politischer Katastrophen auslöst, die in der Vernichtung des Königshauses gipfelt. Doch ist Hamlet gescheitert? Der allegorischen Antinomie jedenfalls entspricht eine des Melancholikers, des Chronikers einer Chronologie leerer Zeitlichkeit. Seine Krankheit zum Tode findet kein Heil und keine Heilung mehr im Phantasma einer Gesundung, die nur zu haben sein wird um den Preis gelebten Lebens. Seine Krankheit zum Tode heilt allenfalls die Krankheit zum Leben. Dem Chroniker beginnt sich nicht nur alles in der Zeit, es beginnt sich die Zeit selbst zu wenden.22 Wende der Zeit! Darum und um nichts anderes geht es hier und jetzt: etwa bei Benjamin, bei Tarkowskij, etwa bei Deleuze.23 20 | Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. l.c. S. 351. 21 | Cf. Joseph Vogl: Über das Zaudern. Zürich, Berlin 2007. 22 | Cf. Michael Theunissen: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt/M. 1991. Auch: Ders. Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit. München 22002. 23 | „Und trotzdem war ich wirklich ein Toter, ich war sogar der einzig mögliche Tote, der nicht den Eindruck vermittelte, durch Zufall zu sterben. Meine ganze Kraft, das Gefühl, dass ich beim Einnehmen des Schierlingstranks nicht der sterbende Sokrates, sondern Sokrates und Platon zusammen sei, diese Gewissheit, nicht ver-
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4. „Sich damit zu begnügen, die formale Perfektion einer solchen Einstellung zu bewundern, hieße erneut, auf einer falschen Etage zu landen. Diese Art, die Dinge zu sehen, hat einen Sinn.“24 Diese Art: die Andrej Tarkowskijs, etwa in „Andrej Rubljow“, zu dessen Bildern Chris Marker verbindliche Worte findet. Doch um welchen Sinn geht es? Was heißt hier „Sinn“? Und was wäre der Sinn dieses Sinns? Marker, der schon in „Sans Soleil“25 Tarkowskij die Reverenz erwies, der, wie Roland Barthes,26 in „Japan“ der Spur des Haiku folgen sollte, dem auch Tarkowskij einige maßgebliche Bemerkungen27 widmete, wird, wenn er von „Sinn“ spricht, jene Sinnfalle gewiss nicht ignorieren, die alle Filme, zumal die wenigen, die guten, bedroht. Jene Sinnfalle, die sofort zuschnappt, wenn die unbedingte Demarkation zwischen dem Institut der Bilder und dem der Sprache verletzt wird; mithin zwischen einer primären Prozessualität gleichsam visueller Infantilitäten, die zu sehen und zu hören geben, und jenem propositionalen Regime, die die Bilder dem stets übermächtigen, stets unwiderstehlichen, stets magischen Reglement des Kommentars zu subordinieren versucht. Also gelte es zweierlei zu vermeiden: zu einem jenen ikonophilen Syntaktismus, der in den abstrakten Kompositionen von Form und Figur, Timbre und Ton sein Genügen findet und dabei stumm verharrt; zum anderen jenen ikonoklastischen Semantismus, der die Bilder zum Vehikel sinnhafter Rede zurichtet. Zwischen diesen beiden Insuffizienzen gelte es, das immer gefährdete Terrain einer dritten Position einzunehmen, einen Zwischen-Ort, der einen „Sinn“ zu umschreiben erlaubt, dessen Sinn es wäre, zu sehen zu geben: passibles Sehen, das jenen haptischen Chiasmus zwischen Berührung und Blick, von dem Merleau-Ponty auf seine Weise nicht weniger eindringlich zu sprechen scheint als Deleuze, Nancy oder Derrida,28 zu seinen wesentlichen schwinden zu können, die nur den mit Todeskrankheit geschlagenen Wesen zuteil wird, dieser Gleichmut vor dem Schafott, der den Verurteilten ihre wirkliche Anmut gibt, machte aus jedem Augenblick meines Lebens den Augenblick, an dem ich es verließ.“ Maurice Blanchot: Thomas der Dunkle. Übers. v. Jürg Laederach. Basel, Weil am Rhein 2007. S. 87. Diese Passage zitiert Derrida in: Derrida: Bleibe. Maurice Blanchot. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 2003. S. 135. Ein erstes Mal nimmt er diese Passage auf in: Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits. 1. Lieferung. Übers. v. Hans-Joachim Metzger. Berlin 1982. S. 291f. 24 | Chris Marker: Ein Tag im Leben des Andrej Arsenjewitsch. Frankreich 2000. 25 | Ders. Sans Soleil. Frankreich 1982. 26 | Cf. Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt/M. 1981. S. 94 - 115. 27 | Cf. Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. l.c. S. 122. 28 | Cf. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare - gefolgt von Arbeitsnotizen. Übers. v. Regula Giuliani u. Bernhard Waldenfels. München 21994.
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Effekten hat. Zum einen, zum anderen: Wäre nicht Benjamins Begriff der Allegorie in ausgezeichneter Weise als dieses Zwischen beschreibbar? So diskonjungiert Benjamins Allegorie Tarkowskijs Konzept des kinematographischen Bildes. Ob Tarkowskij es nun mit dem Symbol kreuzt oder von ihm separiert; ob er es, wie zu anderer Gelegenheit, auch als Metapher einführt29 oder von ihr distanziert. Der Eigensinn der Bilder ist stets ein Sinn als Sinnentropie, als Sinnstockung, in der nicht das Zeichen auf das Bezeichnete hin überschritten wird, sondern jene Dimension des Ideellen, Konzeptuellen gleichsam im Zeichen selbst statthat, gleichsam in das Zeichen selbst einkehrt: Kondeszendenz. Suspension des Sinns oder seine Schwebe. Schwebe des Sinns, in der Regen alle Potenzen möglichen Bedeutens aufnimmt und zugleich fortspült, um nichts anderes zu sein als - Regen; in der ein Hund im Durchmessen aller kultur-, natur- und kunstgeschichtlichen Bezüge, aller individual-, regional-, national-, kollektiv-, aller art- und gattungsgeschichtlichen Referenzen, im Durchmessen aller psychoanalytisch und psychohistorisch, aller archetypischen Assoziationen und Dissoziationen zu dem wird, was er ist: ein Hund. S. 176f. Dazu: Antje Kapust: Berührung ohne Berührung. Ethik und Ontologie bei Merleau-Ponty und Levinas. München 1999. Kpt. VI. „Das Sichtbare ist aus dem Berührbaren geschnitzt“. S. 315ff. Deleuze: Francis Bacon – Logik der Sensation. Übers. v. Joseph Vogl. München 1995. S. 11, 75, 85f. Derrida: Berühren, Jean-Luc Nancy. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Berlin 2007. Jean-Luc Nancy: Noli me tangere. Übers. v. Christoph Dittrich. Zürich, Berlin 2008. 29 | „Moi, je préfère m’exprimer d’une manière métaphorique. J’insiste pour dire métaphorique et non pas symbolique. Le symbole comprend en lui-même un sens déterminé, une formule intellectuelle, tandis que le métaphore c’est l’image. C’est une image qui possède les mêmes charactéristiques que le monde qu’elle représente. Contrairement au symbole, elle a un sens indéfini. On ne peut pas parler du monde, qui est justement limité, en utilisant des moyens aux-mêmes définis et limités. On peut analyser une formule, c’est-à-dire un symbole; mais une métaphore est un être en elle-même, un monôme. Si on la touche, tout de suite elle se démonte.“ Aus: Le Monde, 12.5.1983. Zitiert nach: Hartmut Böhme: Ruinen - Landschaften. Naturgeschichte und Ästhetik der Allegorie in den späten Filmen Andrej Tarkowskijs. In: Konkursbuch 14, Tübingen 1985. S. 118. Der Text Hartmut Böhmes war übrigens der Erste, der Tarkowskijs Kino mit den Mitteln des Benjaminschen Trauerspielbuchs lesbar zu machen versuchte. Doch auch wenn man diesem überraschend frühen und kühnen Versuch den Respekt nicht versagen kann und will, krankt er fühlbar daran, keinen Begriff der dialektischen Umkehr von Benjamins theologischen Antinomien zu haben. Melancholie wie Allegorie werden durchgängig mit den post-metaphysischen Attributen prinzipieller Vergeblichkeit versehen. Für die negativistische Finesse Benjamins, die Negativität irdischen Daseins ineins als Grund seiner Bejahung fassen zu können, scheint Böhme kein Ohr zu haben.
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(Abb. 5 – Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Stalker, UdSSR 1979) Die infinite Unbestimmtheit des unbestimmten Artikels, die, nach Deleuze, eine „Macht des Unpersönlichen“ manifestiere, die „keineswegs eine Allgemeinheit, sondern eine äußerste Singularität“30 sei, äußerste Singularität eines Hundes, realisiert alle bestimmten und noch nicht bestimmten, alle wirklichen, vergangenen und gegenwärtigen, realisiert alle potentiellen Bedeutungen, die einen Hund wie eine Korona illuminieren. Deutend bedeutungslos, offenes Zeichen wie eine Wunde, die sich mit all dem infiziert, mit dem sie in Berührung kommt. Nur ein Bild. Nur ein Hund. Nur ein Hund. Nur ein Bild. „Es ist sehr schwer, alles, was an dem Bild hängt, wegzureißen, um an den Punkt ‚Ausgeträumt träumen’ zu gelangen. Es ist sehr schwer, ein reines, unbeflecktes Bild zu schaffen, das nichts anderes ist als Bild, dahin zu gelangen, wo es in seiner ganzen Einzigartigkeit auftaucht, ohne mit irgend etwas Persönlichem und Rationalem behaftet zu sein, und zum Undefinierten vorzudringen wie zu einem himmlischen Zustand. Eine Frau, eine Hand, ein Mund, Augen…“31 Und wenn Artaud, so ein anderer „ausgeträum30 | Deleuze: Kritik und Klinik. Aesthetica. Übers. v. Joseph Vogl. Frankfurt/M. 2000. S. 13. 31 | Deleuze: Erschöpft. Übers. v. Erika Tophoven. In: Samuel Beckett: Quadrat, Geister-Trio, …nur noch Gewölk…, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen. Frankfurt/M. 1996. S. 65f. Zum Motiv des „Ausgeträumt träumen“: Cf. Beckett: „Aus-
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te Träumer“, so ein anderer „Wachwandler“32 zwischen Traum und Erwachen wie Benjamin,33 auf Vincent Van Gogh zu sprechen kommt, den Selbstmörder der Gesellschaft und durch die Gesellschaft, wird er dessen Eigenart von der Gauguins strikt unterscheiden. Und er tut es mit folgenden Worten: „Der brennende Kerzenleuchter auf dem Strohsessel scheint die leuchtende Scheidelinie zu bezeichnen, welche die beiden grundsätzlichen Eigenarten van Goghs und Gauguins trennt. / Der ästhetische Gegenstand ihres Disputs wäre vielleicht nicht, wenn man von ihm berichtete, von großem Interesse, aber er sollte zwischen dem Wesen van Goghs und Gauguins eine grundlegende Spaltung erkennen lassen. / Ich glaube, dass Gauguin dachte, der Künstler solle nach dem Symbol, dem Mythos trachten, die Dinge des Lebens bis zum Mythos erhöhen, / während van Gogh dachte, er müsse es verstehen, den Mythos aus den ganz alltäglichen Dingen des Lebens abzuleiten. / Und ich meine, er hatte verdammt recht damit. / Denn die Wirklichkeit ist jeder Geschichte, jeder Fabel, jeder Göttlichkeit, jeder Surrealität erschreckend überlegen.“34 5. Benjamin jedenfalls wird in der Symptomatologie des Melancholikers gerade dem Hund einen privilegierten Platz einräumen. Und er kennzeichnet ihn durch die nämliche Antinomie, wie sie für den Melancholiker und sein allegorisches Verfahren überhaupt charakteristisch ist. Denn die melancholische Komplexion, die im Hund ihren bevorzugten Ausdruck findet - an prominenter Stelle in Albrecht Dürers „Melencolia I“35 -, ist dem in der hündischen geträumt träumen“. In: Dante und der Hummer. Gesammelte Prosa. Frankfurt/M. 2000. S. 214-218. 32 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. l.c. S. 218. 33 | „Im Paradoxon der Möglichkeit des Unmöglichen hat bei ihm (Benjamin; M.M.) ein letztes Mal Mystik und Aufklärung sich zusammengefunden. Er hat des Traumes sich entschlagen, ohne ihn zu verraten und sich zum Komplizen dessen zu machen, worin stets die Philosophen sich einig waren: dass es nicht sein soll.“ Adorno: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1976. S. 301. Zur Stellung und Funktion des Traumes bei Benjamin auch: Derrida: Fichus. l.c. S. 11 - 31. 34 | Antonin Artaud: Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft und andere Texte und Briefe über Baudelaire, Coleridge, Lautréamont und Gérard de Nerval. Übers. v. Franz Loechler. München 1988. S. 21f. 35 | Ein Bild, dessen Deutung und Deutungsgeschichte - zumal bei Carl Giehlow, Erwin Panofsky, und Fritz Saxl - in Benjamins Trauerspielbuch bekanntlich einen hohen Stellenwert inne hat. Erkennbar, wenn auch unausgewiesen in der Spur Benjamins bewegt sich auch hier Hartmut Böhme. Aber auch hier scheint er (wie in seinem frühen Versuch zur Tarkowskijschen Allegorie; s. Fn. 29), obgleich Böhme aus der allegorischen Unabschließbarkeit allen Deutungsgeschehens den Funken der Modernität zu schlagen versucht, in eine Metaphysik der Resignation abzurutschen.
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Tollwut artikulierten Wahn ebenso nahe wie der Ausdauer und dem Spürsinn, die den Forscher und Grübler wie auch jenes Tier gleichermaßen kennzeichnen.36 Nach alter Lehre der Milz geschuldet, resultieren die „bösen Träume“ aus ihrer Dysfunktion; die „divinatorischen“37 aus ihrem Funktionieren. Doch könnte entscheidendes Merkmal gerade dieses Temperaments sein, was auch schon dem Hund, dem Schnüffler, dem die Beute hetzenden Jäger als Körperhaltung eignet: der nach unten gesenkte Kopf. Ist es der Trübsinn, ist es die Spur, der er folgt, die ihn den Kopf hängen lässt? Also wäre die Nase, wie kaum ein Sinneswerkzeug sonst als Nahsinn ausgewiesen und auf Nähe kapriziert, das melancholische Leitorgan schlechthin. Also wäre jene Intuition, die ins Erdige und Irdische, ins Diesseits sich versenkt, die im Detail sich verliert wie das Detail aufspürt, ausgräbt und hervorzerrt, eine wesentlich melancholische. Aller Tiefsinn entspränge so einem Hang nach Tiefe. Eine Passion mit manchmal verhängnisvollen Folgen, da doch der, der sich zum Abgrund neigt, sein Gleichgewicht verlieren und stürzen kann. Ein Verhängnis, das aber zugleich stets die Möglichkeit wundersamer Rettung birgt, weil der, der stürzt, manchmal, wie in einem Traum, das Fliegen lernt, das Schweben. Wie im Kino Tarkowskijs. „Denn alle Weisheit des Melancholikers ist der Tiefe hörig; sie ist gewonnen aus der Versenkung ins Leben der kreatürlichen Dinge und von dem Laut der Offenbarung dringt nichts zu ihr.“38 Wirklich nicht? Ist nicht der rückhaltlosen Hingabe an das Fleisch der Dinge eine Wendung inne, die auch die der Offenbarung sein könnte? Freud jedenfalls hatte für die primäre Logik des Traumes eine Ambivalenz geltend gemacht, die in der sekundären Logik des Wachbewusstseins, das jedweden Widerspruch, jedwede Nichtidentität zu tilgen versucht, keine Rolle mehr spiele. Doch fänden sich Rudimente dieser archaischen Zwiespältigkeit zuweilen noch in Worten. So stände das lateinische „altus“ sowohl für „tief “ wie für „hoch“.39 Und dem Tiefsinn, der endlich keinen Grund mehr findet und keinen Halt, stände so, traumwandlerisch, der Sinn auch für jene Höhe, den HimDen vermeintlichen Verlust des Absoluten quittiert er mit einem Fatalismus, dem man die Affirmation eines unendlich endlichen Wissens und seines Subjekts nicht recht glauben mag. Einen Begriff der theologisch-dialektischen gesättigten Dynamik der Benjaminschen Allegorie hat Böhme, wie gesagt, nicht. Hartmut Böhme: Melencolia I. Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt/M. 1989. 36 | Cf. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. l.c. S. 329f. 37 | Ebd. S. 330. 38 | Ebd. 39 | Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse Und Neue Folge. In: Studienausgabe (StA) Bd 1. Frankfurt/M. 2000. S. 186. Dazu: Ders. Über den Gegensinn der Urworte. In: Psychologische Schriften. StA 4. S. 233. Cf. Ders. Die Traumdeutung. StA 2. S. 316ff.
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mel über mir, der seit je privilegierte Stätte nicht nur des moralisch Erhabenen, sondern auch des Numinosen war. Der tiefen Treue gegenüber allem Erdigen, der dunklen Materie des Geschöpfs offenbart sich die Schöpfung selbst. Und nur ihr allein. Wer die Erde um des Himmels willen verrät, verrät auch ihn. Als ob die Erlösung, die aus keinem dem Diesseits gegenüber postierten Jenseits mehr hereinbricht, die des Diesseits selbst aus ihm selbst wäre. Zielt Benjamins angespannte, unversöhnte und unversöhnliche Dialektik des Allegorischen, der Melancholie nicht genau auf diesen Kulminationspunkt? Auf eine Krisis jedenfalls, die auf immer unentschieden lässt, ob das unheilvolle Gestirn, unter dessen Geleit der Melancholiker steht, ihm auch Heilung bringt und Heil, Seelenheil. Den in der Renaissance zumal von Marsilius Ficinus initiierten Versuchen,40 gleichsam die positive Seite der Melancholie zu beerben, ohne sich mit der negativen zu belasten, quittiert Benjamin mit dem Konzept einer stillgestellten Dialektik. Ihre Momente beharren. Ein Drittes synthetisiert sie nicht. Weshalb die genialische Inspiration, wohl nichts anderes als eines der Pseudonyme für erfülltes, glückhaftes Dasein, nur zu haben sein wird um den Preis einer Trauer, die in der Langeweile, der tiefen zumal,41 ihr schlechtgehütetes Inkognito hat. Wer sie zu vertreiben versucht, verfällt ihr. Wer die Trauer erstickt, erstickt jedwede Möglichkeit des Glücks. Wer den Schmerz betäubt, wird taub auch für die Lust. Hätte das Nietzsche anders gesagt?42 Sein Übermensch jedenfalls, seinerseits gehalten durch eine Kette unschlichtbar ambivalenter Bestimmungen - wovon jene der „ewigen Wiederkehr des Immergleichen“ als Pathosformel des denkbar größten Unheils wie zugleich der Befreiung von ihm nicht die unbedeutendste war -, kündigt jene grundlegende Rekonfiguration der Subjektivität an, deren embryonales Frühstadium den Barock kennzeichnete, deren reifere Gestalt, folgt man der Fährte Gilles Deleuzes, in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung das Kino zu charakterisieren begann, die in dem Andrej Tarkowskijs womöglich einen Höhepunkt fand. Wäre der barocke Melancholiker eine ihrer Phäno-
40 | Cf. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. l.c. S. 326ff. 41 | Cf. Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1929/30 (= Bd. 29/30 Gesamtausgabe). Frankfurt/M. 1983. §§ 29-38. S. 199-249. Wir werden im Kapitel 4 dieses Buches darauf ausführlicher zu sprechen kommen. 42 | Cf. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“). In: KSA 3. Erstes Buch § 12. S. 383. Dazu: Rüdiger Safranski: Jenseits des Glücks. Lebenskunst nach Nietzsche. In: Der Blaue Reiter. Journal für Philosophie. Nr. 14 „Glück“, 2/2001. S. 30-35.
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typen, wäre Deleuzes kinematographischer „Mutant“43 eine andere. Benjamins Neubewertung des melancholischen Temperaments, die er an der Schnittstelle medizinischer, astrologischer und theologischer Diskurse der frühen Neuzeit freilegt, antwortet en passant auf eine dramatische Umformatierung der Anthropologie, des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses. Gegen den Heroismus und Neoheroismus eines Subjekts, das sich in den letalen Kreislauf von Selbstsicherung und Selbstzerstörung verstrickt, in die Fatalität einer Autoimmunreaktion, bei der ein - psychischer, physischer, politischer - Körper an den Kräften krankt, die ihn schützen,44 steht dergestalt eine Schwäche, die nichts anderes wäre als ein Wesensmerkmal des Menschseins selbst. Die Schwächung des Subjekts, analog zur Schwächung des Seins,45 bezeugte so den unendlichen Wunsch des Menschen, endlich geboren zu werden: Fleisch zu sein vom Fleisch der Mutter. Sein Urbild aber hätte er an den Wunden des Gekreuzigten, seiner Verwundung und Verwundbarkeit. Aber warum das Kino? Warum das Kino Tarkowskijs? Gilles Deleuzes großangelegter irritierender Philosophie der Kinematographie lag nicht nur, wie einem Palimpsest, das Vorhaben zugrunde, insgeheim auch eine Geschichte der Philosophie (auch der eigenen) zu schreiben.46 Die buchtechnische Zäsur, 43 | Mit dem Aufkommen des Kinos des Zeit-Bildes vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwandelten sich auch dessen Protagonisten: „Im Westen ebenso wie in Japan erfahren die Figuren eine Mutation, sind selbst Mutanten.“ Deleuze: Das Zeit-Bild. l.c. S. 34. 44 | „Der Prozess der Auto-Immunisierung, der uns hier besonders interessiert, besteht bekanntlich darin, dass ein lebender Organismus gegen seinen eigenen Selbstschutz dadurch sich schützt, dass er seine eigenen immunitären Abwehrkräfte zerstört.“ Jacques Derrida: Glauben und Wissen. Übers. v. Alexander García Düttmann. In: Ders./Gianni Vattimo u.a.: Die Religion. Frankfurt/M. 2001. S. 72. Dazu: Ders. Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Übers. v. Horst Brühmann. Frankfurt/M. 2003. S. 56ff. Auch: Ders. Autoimmunisierung, wirkliche und symbolische Selbstmorde. Ein Gespräch mit Jacques Derrida. Übers. v. Ulrich Müller-Schöll. In: Jürgen Habermas/Jacques Derrida: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori. Berlin, Wien 2004. S. 117-178. 45 | Cf. Gianni Vattimo: Das Ende der Moderne. Übers. v. Rafael Capurro. Stuttgart 1989. Ders. Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik. Übers. v. Sonja Puntscher-Rickmann. Graz 1986. Ders. Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie. Übers. v. Martina Kempter. Frankfurt/M. 1997. Dazu: Martin Weiß: Gianni Vattimo. Einführung. Wien 2003. 46 | Die Aufteilung des Kino-Projekts Deleuzes in zwei Bände sei, so Raymond Bellour, Ausdruck des Willens „ausgehend von der Geschichte des Kinos eine Geschichte der Philosophie zu schreiben.“ Wobei dem klassischen Kino der Narrativität die
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die zwischen Kino 1 (Bewegungs-Bild) und Kino 2 (Zeit-Bild) klafft, bildet damit jene Konversion ab, die das klassische Subjekt zum modernen macht. Jene Konversion oder, in den Worten Deleuzes, jene „Mutation“. Eine Mutation, die plötzlich auftritt, unerwartet und ohne, dass sie als bloßer Effekt aus irgendwelchen Anfangsbedingungen resultiert. Denn diese Evolution ist, wie jede echte Evolution seit den Tagen Darwins, saltatorisch. Nur ein Satz bringt den Menschen zu sich über sich hinaus. Nur ein Satz über einen Abgrund und in einen Abgrund verwandelt den Menschen zu jener „Brücke“47, die er nach Nietzsches rätselhafter Auskunft zu sein habe, verwandelt ihn zu jenem ÜberMenschen. Ein Satz, ein Sprung, eine Umkehr und eine Bekehrung, die seit Platons, seit Paulus’ Tagen48 immer eine Verwandlung des ganzen Menschen erzwingt. Deshalb die Zäsur, der Bruch, deshalb die zwei Bücher. Die „Krise des Aktionsbildes“, womit Kino 1 schließt, womit Kino 2 beginnt und die als Krise das klassische Kino als Ganzes49 erfasst und von innen her aufsprengt, sie wird als Krise des „sensomotorischen Schemas“, der Angemessenheit zwischen Wahrnehmung und Handlung lesbar als die einer welt- und selbstmächtigen Subjektivität schlechthin. Idee und Praxis einer Person, die in jeder nur möglichen Situation zu agieren wüsste; die wüsste, was zu tun, was zu lassen sei. Die prinzipielle, transzendentale wie praktische Tauglichkeit ihrer Kapazitäten adeln sie zum Souverän ihrer weltaneignenden, ihrer selbstsichernden Akte. Das Erkennen als transzendentale, das Tun als praktische Handlung sind bis in feinste Justierungen hinein aufeinander abgestimmt im Zeichen einer jederzeit und allerorten garantierten Vollmacht der Entscheidung, der Aktion, der Kompetenz. Die Aufgaben mögen schwierig sein, die Probleme gewaltig: doch ihre Lösbarkeit ist allenfalls eine Frage des Konfliktmanagements und der Kalkulation. Es gibt Risiken, keine Gefahr. Die Selbstsicherheit wäre so das epistemologische Pendant zu jener Staatssicherheit, die die Dissidenz, die Insubordination, den Terror, die sie in endlosen unerklärten wie unerklärbaren Kriegen zu bekämpfen vorgibt, provoziert. klassische Philosophie des Systems entspräche (Band 1); dem modernen der freigesetzten akustischen und optischen Bilder die moderne Philosophie der Singularität. Raymond Bellour: Denken, erzählen. Das Kino von Gilles Deleuze. Übers. v. Alex Rühle. In: Oliver Fahle/Lorenz Engell (Hg.): Das Kino bei Deleuze/Le cinéma selon Deleuze. Weimar 1999. S. 41-60. Hier: S. 52. Dazu: Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Kino: Das Sichtbare und das Sagbare. München 2003. S. 76ff. 47 | Cf. Nietzsche: Also sprach Zarathustra. KSA Bd. 4. S. 16f. Auch: Ders. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. KSA Bd. 5. S. 324. 48 | Cf. Karlheinz Ruhstorfer: Konversionen. Eine Archäologie der Bestimmung des Menschen bei Foucault, Nietzsche, Augustinus und Paulus. Paderborn 2004. 49 | Cf. Deleuze: Über das Bewegungs-Bild. In: Unterhandlungen 1972 - 1990. Übers. v. Gustav Roßler. S. 77ff.
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Jenes „Ich“, man kennt dieses neoklassische Kino zur Genüge, als Held, als zeitgenössische Variante des Heros, der noch dort, wo er unterliegt, als Held konfirmiert wird und als Held aufersteht. Mel Gibsons „Passion“50 konsolidiert die Logik dieses Heroismus noch dort und gerade dort, wo sie den Antiheroismus programmatisch in Szene setzt. Sein Masochismus coram publico51 ist der des Voyeurs, der das Leiden goutiert, das Opfer dankt. Aber Christus war kein Opfer. Christus war kein Held, und er war kein Antiheld. Er war ein Mutant. Er war ein Melancholiker. Er war ein Idiot. Einer, der endlich geboren wurde, der endlich zur Welt gekommen, der endlich in der Welt angekommen ist. Zum theologischen Mysterium geraten dabei nicht nur die endlosen Wanderschaften Jesu, sondern auch deren Geschwindigkeit.52 Jesus rennt. Außer Atem, außer sich: Pasolinis Evangelium.53 Auf den Stationen seiner Streifzüge bewirkt er nichts, und was er bewirkt, sind Wunder. Nichts Sinnvolles. Und dieser Taugenichts, dieser weltfremde Sonderling wäre der Prototyp der Moderne, Prototyp einer neuen Zeit, in der die Zeit selbst eine andere wäre? Deleuze jedenfalls registriert im Kino des Zeit-Bildes, das für ihn im großen Stile nach dem Zweiten Weltkrieg aufkommt (Neorealismus, Nouvelle Vague, Neuer deutscher Film etc.), das Auftauchen einer neuen Figur, bei der die sensomotorische Verkettung zwischen Aktion und Wahrnehmung, Wahrnehmung und Aktion entscheidend geschwächt ist. Die „kinematographische Mutation“,54 die wie ein verschleppter Infekt die Rationalität der Verkettungen von Bildern, Bildfolgen und Sequenzen angreift und zunehmend auflöst, hat ihre Entsprechung im Auftauchen eben jener „Mutanten“,55 denen nichts mehr zu tun bleibt. „Eine neue Art von Figuren für ein neues Kino. Da das, was ihnen zustößt, sie nicht wirklich betrifft und sie nur zur Hälfte angeht, verstehen sie es, von dem Ereignis denjenigen Teil abzuziehen, der in dem Geschehen nicht aufgeht: nämlich den Teil der unerschöpflichen Möglichkeit, der das Unerträgliche, das Untragbare, nämlich das Visionäre ausmacht.“56 Was aber wäre das Unerträgliche, das Untragbare, das Visionäre? So sehr die Mutanten Deleuzes dem Symptomkreis des Melancholikers nahe zu sein scheinen, so sehr auch sie jener rätselhaften Hemmung anheimfallen, der sie zu einer Art Teilnahmslosigkeit verdammt, zu einer Art Tatenlosigkeit, zu 50 | Mel Gibson: The Passion of Christ. USA 2004. 51 | Cf. Gibson: Braveheart. USA 1994. 52 | Cf. Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie. Bern 1947. S. 10. 53 | Pier Paolo Pasolini: Das 1. Evangelium – Matthäus. Italien 1964. 54 | Deleuze: Das Zeit-Bild. l.c. S. 189. 55 | Ebd. S. 34. 56 | Ebd.
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einer Art Passivität, die mehr und anderes wäre als nur das Gegenteil von Aktivität - nämlich Passibilität, die Empfindlichkeit der wunden Seele, die ungeschützte Empfänglichkeit für das, was seinen Anspruch, empfangen zu werden auf unerhörte, auf aufdringliche, ja obszöne Weise reklamiert -, so sehr sind die Protagonisten des Kinos Tarkowskijs Abkömmlinge dieses Milieus. „In ‚Nostalghia’ kam es mir darauf an, mein Thema des ‚schwachen’ Menschen fortzusetzen, der von seinen äußeren Merkmalen kein Kämpfer, für mich aber dennoch ein Sieger in diesem Leben ist.“57 Was für ein „Sieger“ aber das wäre? Ein Sieger, ein Verlierer, Beautiful Loser?58 Iwan, das Kind, der Mönch Rubljow, Gortschakow und Domenico, Kelvin, Stalker, Tarkowskijs Spiegelungen im Spiegel: Wer hätte Zugang zur Zone, wenn nicht die Schwachen?59 Wer landet auf Solaris, wenn nicht Chris Kelvin? Der Ozean aber, auf dem er landet, wäre das Unerträgliche selbst, jenes Gehirn, das ihm seine Schuld gibt und wiedergibt und wieder wiedergibt. Jener Gehirnozean, der, wie schon Freuds Unbewusstes, keine Zeit zu kennen scheint; der eine Zeit kennt, in der die Gegenwart, die maßgebliche Aktualität des Präsenten, von einer Vergangenheit heimgesucht und durch sie gleichsam perforiert wird. Von seiner Vergangenheit. Von seiner Schuld, seinem Leben, seiner Liebe. Irgendwann wird sich Harey, die die Lieblosigkeit ihres Mannes nicht mehr erträgt, töten. Irgendwann wird Harey wiederkehren, um sich wieder und wieder zu töten und wieder getötet zu werden. Irgendwann kehrt Harey als solaristische Wiedergängerin zu Chris zurück, um Harey zu werden. Um Mensch zu werden. Gehirnozeanische Gefühle und die Spirale der Zeit. Nachdem aber Chris auf Solaris landet, nachdem er wiederfindet, was er in diesem Augenblick verliert, nachdem die Solaris ihm die Rückkehr verweigert, die sie ihm gewährt, ist Harey spurlos verschwunden. Als hätte das Gehirn sie verschluckt. Die teure Tote, die Untote, die tote Untote. „Warum ist Harey verschwunden? (Der Ozean weiß es.)“60
57 | Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. l.c. S. 232. 58 | Leonard Cohen: Schöne Verlierer. Über. v. Elisabeth Hannover-Drück. Frankfurt/ M. 1970. 59 | Cf. Dietrich Sagert: Tarkowskijs Gottesnarren. http://www.forum.lu/pdf/ artikel/5845_259_Sagert.pdf. Ders. Der Spiegel als Kinematograph nach Andrej Tarkowskij. http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/sagert-dietrich-2004-12-17/ PDF/Sagert.pdf. 60 | Tarkowskij: Martyrolog. Tagebücher 1970 - 1986. Frankfurt/M., Berlin 1989. S. 86.
2. Zeit-Bild 1: Welt (Glauben)
„Im Kampf zwischen dir und der Welt se kundiere der Welt.“ Kafka „Ungeachtet dessen, dass wir den Weltenbau nicht in seiner Ganzheit wahrnehmen können, vermag das Bild diese Ganzheit auszudrücken.“ Tarkowskij
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1. Gehen wir also davon aus, dass das, was man so selbstverständlich Welt nennt, so selbstverständlich nicht ist. Gehen wir davon aus, dass die Entdeckung der Welt - noch vor aller einschränkenden Präzisierung als Neue Welt, mögliche, moderne Welt, als Welt von diesem oder jenem etc. - eine im hohen Grade prekäre Entdeckung ist. Entdeckung oder Erfindung, Erzeugung oder Stiftung, Gründung und Begründung von etwas, das sich der landläufigen Bestimmung als „etwas“ hartnäckig zu widersetzen scheint. Denn ist Welt, wenn sie ist, etwas? Etwas, das man benennen, bestimmen, greifen und begreifen kann? Und wenn man Welt begreifen könnte, könnte man sie dann als etwas begreifen? Und wenn nicht, als was dann? Und was hieße dann „begreifen“, wenn es nicht um etwas ginge, das begriffen werden sollte? Prekär nämlich wäre die Entdeckung der Welt noch in einem anderen Sinne. Denn das, was man mit einem saloppen Ausdruck „Globalisierung“ nennt - gleichviel ob als metaphysische, terrestrische oder als tele-technische Globalisierung charakterisiert1 -, ermöglicht die Entdeckung der Welt wie sie im gleichen Atemzug ihrer Verstellung zuarbeitet, ermöglicht die „Entdeckung der Welt als eine bereits verlorengegangene“.2 Im gleichen Atemzug wäre die Eklipse der Welt nurmehr die andere Seite ihrer Illumination. Traurige Welt: Als gäbe es keine, bevor sie entdeckt würde, die doch schon im Moment ihrer Entdeckung verloren wäre. Der weltgewandte Eroberer, der Stürmer, der Konquistador säße, wie so oft, am Ende mit leeren Händen da, am Ende der Welt: weltverloren, mutterseelenallein.3 Alles Denken und Bedenken der Welt, in welcher Form und welchen Inhalts auch immer, wäre also durchdrungen und getragen von jener eigentümlichen Melancholie, jener tiefen Melancholie, der sich allein, wenn überhaupt, Welt als solche zu zeigen vermag. Das Märchen vom Verstehen der Welt4 wäre also das Märchen ihres Missverstehens. Notwendigerweise: zwar kommen wir zur Welt, sind aber in ihr. Sie wäre das alles Fassbare Fassende und so ihrerseits jenes Umfassende, das selbst nicht fassbar wäre, das unfassbare Umfassende. Wir können Welt nicht fassen, und wenn wir sie fassen, fassen wir sie nicht als Welt. Doch als was 1 | Cf. Peter Sloterdijk: Sphären. Bd. II: Makrosphärologie. Globen. Frankfurt/M. 1999. S. 47-141. Ders. Sphären. Bd. III: Plurale Sphärologie. Schäume. Frankfurt/M. 2003. S. 27-88. Ders. Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt/M. 2005. 2 | Jean-François Lyotard: Veduta auf ein Fragment in der Geschichte des Begehrens. Übers. v. Emmanuel Alloa. In: Alloa (Hg.): Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie. München 2011. S. 136-201. Hier: S. 184. 3 | Cf. Ludger Lütkehaus: Das nie erreichte Ende der Welt. Erzählungen von den ersten und den letzten Dingen. Frankfurt/M. 2007. 4 | Cf. Ute Guzzoni: Das Märchen vom Verstehen der Welt. In: Wege im Denken. Freiburg, München 1990. S. 238-242.
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dann? Und wie überhaupt kommen wir zur Welt? Zuerst einmal: niemals allein. Niemals kommen wir aus eigener Kraft zur Welt noch werden wir allein durch die Kraft einer Anderen zur Welt gebracht. Das Zur-Welt-Kommen, seit langhin schon Chiffre und mehr als nur Chiffre der Geburt, der Gebürtigkeit des Menschen wäre ein Akt, der nichts weniger wäre als ein Akt. Weder Akt noch einer allein. Niemand stirbt für sich allein, niemand wird allein geboren. Der Traum, geboren zu werden, ausgetragen zu werden, wäre der Traum, eine Mutter zu haben, die sterben und auf eine Welt zu kommen, die untergehen wird. Als wären die Welt, noch bevor „ich“ in ihr auftauche, und der Tod, der noch nicht „mein“ Tod ist, auf unvergleichliche und nur schwer zu durchschauende Weise miteinander liiert. Dieser unendliche Wachtraum, den wir wieder und wieder träumen, aus dem wir wieder und wieder erwachen um zu träumen, dass wir träumten zu erwachen, dieser unendliche Angst- und Wunschtraum, geboren zu werden,5 stünde so am Anfang aller Höhlenausgänge. Er wäre ihr Urbild. Und die Gewalt, man weiß es, ist nicht das unwesentlichste Element, das diesen Auszug begleitet. Die rohe, nackte, die unermessliche Gewalt des Fleisches am Fleisch: Geburt.6 Wenn also Welt als Topos wie als Thema seit langem schon verkannt würde, wenn das Zur-Welt-Kommen die große Marginalie der abendländischen Philosophie darstellte,7 wenn Frauen- und Weltverachtung8 tatsächlich einen unheilvollen Komplex bildeten, stellt sich die Frage nach dem Schicksal der Welt heute, der Welt unter den Bedingungen eines techno-ökonomischen Dispositivs, das alle Lebens- und Seinsbereiche zu durchdringen scheint, mehr denn je. Etwa als Frage nach dem Verhältnis von Globalisierung, Mondialisation und Erschaffung: Die sich abzeichnende bio-technische Entkopplung von Sexualität, Natalität und Fortpflanzung9 schlüge unmittelbar, so lautet der Befund, auf das Verhältnis des Menschen zu sich wie zur Welt als Ganzes durch. Weshalb Jean-Luc Nancy schon den Titel eines Buches, das sich ganz der Welt verschrieben hat, mit einer Vieldeutigkeit belastet, die axiomati-
5 | Cf. Herbert Achternbusch: Der Komantsche. In: Es ist ein leichtes beim Gehen den Boden zu berühren. Frankfurt/M. 1980. S. 43-71. 6 | Roman Polanski: Rosemary’s Baby. USA 1967. 7 | Cf. Ludger Lütkehaus: Natalität. Philosophie der Geburt. Kusterdingen 2006. 8 | Cf. Andrea Günter: Frauenverachtung, Weltverachtung? Metaphysische Anfragen an den Begriff „Welt“ in postmodernen Globalisierungszeiten. In: Weltliebe - Gebürtigkeit, Geschlechterdifferenz und Metaphysik. Königstein 2003. S. 71-85. 9 | Cf. Gerburg Treusch-Dieter: Von der Hexe zur Hysterikerin. In: http://www.irrenoffensive.de/szaszsymposium/gerburg.htm. Auch: Dies. „Ihr werdet sein wie Gott“. Transpflanzungen im Menschenpark. In: Theo Steiner (Hg.): genpool. biopolitik und körperutopien, Wien 2002. S. 107ff.
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schen Charakter hat. „Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung“10 (La création du monde ou la mondialisation) umspielt, so Nancy, einen dreifachen Sinn der Konjunktion: erstens nämlich könne das „oder“ konjunktivisch verstanden werden. Beide Ausdrücke wären Elemente eines Zusammenhangs, akzentuierten zwei Bereiche eines einzigen Problembereichs. Zweitens aber hätte die Konjunktion auch einen disjunktiven Sinn: beide Wendungen stünden einander exklusiv gegenüber im Sinne des Entweder-Oder. Und drittens gäbe es einen substitutiven Sinn: beide Ausdrücke meinten dasselbe, denselben Vorgang, weshalb der eine für den anderen einstehen, ihn ersetzen könnte. „Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung“: Für welche der semantischen Varianten sollte man sich entscheiden und aus welchen Gründen? Wäre Globalisierung, der planetarische Aus- und Zugriff auf Welt als Ganzes nur ein anderer Name für die Formung und Formierung, die Stiftung und Bildung von Welt selbst und als solche? Wäre sie deren Gegenteil? Wäre sie die moderne Variante, die geschichtliche aktuelle Gestalt eines uralten Phänomens? Welcher Sinn entspräche unserer Situation? Und wer sind wir? Wir, die Europäer, die Euroamerikaner, die Euroasiaten - oder jenseits? Wir, die Menschheit selbst? Globalisierung, Planetarisierung, Mondialisation, Kreation: welches „oder“? Welche der angezeigten Deutungsmöglichkeiten wäre die richtige, angemessene, die wahre? Oder entspricht unserer Situation keine der angezeigten Deutungsmöglichkeiten? Wagen wir eine erste These. Was wir, wie ungenügend und mit welchem Recht auch immer, „unsere Gegenwart“ nennen, wäre durch jenes mehrfach bestimmte, über- und unbestimmte „oder“ bestimmt. Seine Überdetermination determinierte den geschichtlich konkreten Augenblick. Er bliebe gleichsam durch das Unbestimmbare bestimmt. Er bliebe in der Schwebe. Die dialektische Finesse, die Hegel wohl walten lassen würde, um aus der Varianz der Alternativen die Eindeutigkeit des durch alle seine Negationen hindurch Bestimmten zu destillieren, schlägt fehlt. Das dialektische Procedere stockt, die Begriffsbildung bricht ab. Hätte Hegel recht, und Philosophie wäre vor allem anderen jene Praxis, die eigene Zeit in Begriffe zu fassen, dann ginge es hier nicht mehr um Philosophie. Jedenfalls nicht im Hegelschen Sinne. Nicht ganz: Einer melancholischen Philosophie steht die Möglichkeit vor Augen, nicht mehr zu einem Schluss und Abschluss kommen zu können. Kein Ende der Philosophie. Kein Ende der Welt. Als ruhte sie auf dem mehrfach unbestimmbaren oder, als wäre sie gegründet über diesem Abgrund unentschiedener Alternativen, als wäre sie als Philosophie nur möglich als Philosophie des Oder.
10 | Jean-Luc Nancy: Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung. Übers. v. Anette Hoffmann. Zürich, Berlin 2003. S. 9.
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Die Lage scheint wenig komfortabel. Sie ist beklemmend, bedrohlich. Denn dieses unbestimmte, indefinite, dieses unendliche Oder ist die Zone, in der wir uns bewegen. Jene Zone, deren Gesetze wir nicht kennen. Jene Zone, die in jedem Moment ihre Gesetze ändern könnte. Wir wissen nicht, ob jener als tele-technische Globalisierung apostrophierte Prozess ein anderes Pseudonym für die Kreation und Rekreation von Welt darstellt oder das Menetekel ihrer Verwüstung. Der apokalyptische Furor, dem der Einsatz der Computer-, Tele-, Bio- und Nanotechnik das Unheil nur komplettiert, welches die großen Politiken der Vernichtung des 20. Jahrhunderts initiierten, ist strikt komplementär zu jener technophilen Rigorosität, die die konstitutiven Gebrechen menschlichen Daseins zu kurieren verheißt. Beides sind Strategien, die wesentliche Unentschiedenheit, die unsere Gegenwart ausmacht, zu verdecken. Beides wären Weisen, eine Gewissheit zu halluzinieren, eine Securitas, die es nur gibt um den Preis einer Verkennung dessen, was ist. Und wie es ist. Als begänne das Abenteuer der Vernunft stets mit dem einfachen und zugleich so schwierigen Aufweiss dessen, was ist.11 Ein Aufweisen, ein Zeigen und Deuten auf das, was ist. Und wie es ist. Nichts erfordert ein größeres Maß an Sorgfalt und Fürsorge, an Aufmerksamkeit, die vielleicht nichts anderes wären als die drei Vornamen dieser einen und einzigen Vernunft. Die vielleicht das Gegenteil wären jenes überstürzten Urteils, des Klischees, der immer und überaus bequemen Stereotypie. Die sanften Zynismen des Bescheidwissens, jenes Zu-Wissen-Meinens, dem schon Sokrates, dieser komische Kauz am Rande der Agora, mit bewunderungswürdiger Inständigkeit den Garaus machte, wären nichts denn Projektionen anheimelnder Sicherheit. Sie aber trügt. „Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung“: wir wissen nicht, was jenes „oder“ zu bedeuten hat. Wir wissen es nicht, und wir können es nicht wissen. Das ist unsere Situation! 2. Versuchen wir, sie zu präzisieren. Versuchen wir es, indem wir uns zwei Texten nähern, von denen jeder als eine Art Relais funktioniert, das ins Innere jener meist verborgenen Zusammenhänge, zu ihrer Komplizität, ihrer Fatalität führt. Mehr denn je beanspruchte der Zusammenhang von Globalisierung und Kreation die Aufmerksamkeit, mehr denn je der Zusammenhang von Weltbild und Welt. Erstes Relais, erste Station der Recherche: Am 9. Juni 1938 hält Martin Heidegger seinen Vortrag „Die Begründung des neuzeitlichen Weltbildes durch die Metaphysik“, den er später unter dem Titel „Die Zeit des Weltbildes“ veröffentlichen wird. Es ist eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Schrift. Nicht nur findet sich in ihr in Keimform seine früheste Auseinandersetzung mit einem Thema, das ihn danach nicht mehr loslassen sollte: Technik. Nicht nur entstand sie zeitnah zu Heideggers erstem entwickelten 11 | Cf. Alexander García Düttmann: So ist es. Ein philosophischer Kommentar zu Adornos „Minima Moralia“. Frankfurt/M. 2004.
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Versuch zur Kunst („Der Ursprung des Kunstwerkes“, 1935/36), die, ebenso wie Technik, in „Sein und Zeit“ (1927) selbst nennenswert noch keine Rolle gespielt hatte. Wobei die zeitliche Koinzidenz des Auftauchens von Kunst und Technik im Denken Heideggers auf eine sachliche vorausweist, deren innere Verfasstheit ihn im Ganzen bewegt und in eine gewisse Unruhe versetzt. Wir werden sehen. Doch sind auch Aufbau und Komposition des Weltbild-Aufsatzes selbst auffallend. Unterteilt in einen Haupttext und einen umfänglichen Anmerkungsapparat, provoziert schon der knapp gehaltene Einleitungsteil in äußerster Dichte der Diktion mit einer These, deren Unausgewiesenheit den Leser ebenso überrascht wie ihr apodiktischer Ton. Jedes Zeitalter werde durch den ihm offensichtlich verborgenen metaphysischen Grund beherrscht, der alle seine Phänomenbereiche, die wesentlichen zumal, bedinge. Was wiederum bedeutete, diese Bereiche auf besagten Grund hin durchsichtig machen und auf ihn zurückführen zu können. Heidegger nennt diesen Vorgang „Besinnung“. Für die Epoche der Neuzeit zählt er sogleich eine Reihe kardinaler Erscheinungen auf: Wissenschaft und die von ihm so genannte Maschinentechnik, die Ästhetisierung der Kunst, die Auffassung menschlicher Aktivität als Kultur und last but not least, was er Entgötterung nennt, der er vorwiegend der Umdeutung des Christentums zu einer Weltanschauung anlastet.12 Auch wenn jedes dieser Motive unbestritten für sich allein schon bedeutend genug ist, muten Aufzählung wie Auswahl, die Heidegger hier trifft, eher willkürlich an. Sie wirken wie eine bloße Aufzählung. Fühlbar von dieser vermeintlichen Beliebigkeit unterscheidet sich dann der erste Hauptteil, der ganz der Analyse der „Wissenschaft“ gewidmet ist. Nachdem er deren neuzeitliche Gestalt als „Forschung“ näherhin gekennzeichnet hat, detailliert er diese Forschung in die Momente „Entwurf “, „Verfahren“ und „Betrieb“, womit er die der als Forschung initiierten Wissenschaft selbst undurchsichtigen fundamentalen Einstellungen umreißt, die sie allererst ermöglichen. Die Genauigkeit und Stringenz, die stilistische Sprödheit, auch die nachgerade deduktive Schlüssigkeit, die diesen Teil ausmachen, unterscheiden sich aber nicht nur von der Einleitung, sondern merklich auch von einem zweiten Hauptteil, in dem Heidegger die Erscheinung der „Wissenschaft“ auf ihren metaphysischen Grund hin zu überschreiten versucht. Dieser Grund wird von Heidegger mit dem Begriff der „Vorstellung“ assoziiert. Und man tut gut daran, diesen Ausdruck wortwörtlich zu nehmen. Denn die für sein gesamtes weiteres Œuvre und auch schon für diesen frühen Text bestimmende Meditation über den Sinn besagter Vorstellung greift dabei nicht nur auf den Menschen selbst über, der nun als „Subjekt“ in Erscheinung 12 | Martin Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. In: Ders. Holzwege. Frankfurt/M. 61980. S. 74f.
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tritt; das heißt als Wesen, das das Gesamt dessen, was ist, sich nicht nur im landläufigen Sinne vorstellt, sondern vor sich hin und sich gegenüber stellt. Es wird damit zum „Gegenstand“.13 Die berüchtigte und vor allem Descartes zu recht oder unrecht angelastete Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, die als eine Art epistemologischer Ursündenfall der Moderne bekanntlich auch im Zentrum der Erkenntniskritik der Kritischen Theorie, zumal Adornos, stand und als Kritik der „Répresentation“ den philosophischen Aufbruch Frankreichs im Umfeld des Mai ’68 maßgeblich inspirierte, hat damit ihr Initial. Sie ist für Heidegger - und für ihn nicht allein - eine die gesamte Epoche durchherrschende Grundjustierung, die noch in all den Versuchen, deren Krise durch den massiven Einsatz ethischer Expertensysteme zu bewältigen, immer schon vorausgesetzt wird. Damit also in der Neuzeit Wissenschaft als Forschung inauguriert werden kann, muss vorgängig schon eine Entscheidung über Verfassung und Status von Wirklichkeit überhaupt gefallen sein. Sie ist gegenständliche Wirklichkeit, d.h. fassbar, sichtbar, rechen- und berechenbar. „Nur was dergestalt Gegenstand wird, ist, gilt als seiend. Zur Wissenschaft als Forschung kommt es erst, wenn das Sein des Seienden in solcher Gegenständlichkeit gesucht wird.“14 Und nachdem Heidegger das „Wesen der Neuzeit“ in der Opposition zwischen einer gegenständlichen Ordnung zum einen und einer Subjektivität, die diese Ordnung trägt und stabilisiert zum anderen, ausgemacht hat, dringt er zu jener Frage vor, die den gesamten zweiten Hauptteil seiner Untersuchung, die hier wiederum einen kaleidoskopartigen Aufbau zeigt, dominieren wird. Was nämlich ein Weltbild überhaupt sei, nach dem in der Besinnung auf das neuzeitliche Weltbild gefragt werde. Denn nicht allein das Selbstverhältnis des Menschen hat sich gewandelt, auch die „Auffassung des Seienden“15 im Ganzen. So unvermutet, wie der Begriff des Weltbildes an dieser Stelle auftaucht und eingeführt wird, so unvermutet entledigt er sich sogleich seiner herkömmlichen Bedeutung. Denn allererst in der Neuzeit konnte sich so etwas wie ein Weltbild überhaupt entwickeln. Es ist deren Spezifität. Sowenig es Sinn machte, von einem mittelalterlichen oder antiken Weltbild zu sprechen, so sehr definierte sich die Neuzeit durch eben dies. Der Begriff des Weltbildes entscheidet über das „Wesen der Neuzeit“. Darum geht es. Was Heidegger stillschweigend in die Lage versetzt, sämtliche die Neuzeit bestimmenden Grundphänomene auf ein einziges zurückzuführen: Technik - insofern jene Vorstellung der Welt als Zugriff auf sie Technik wesentlich charakterisiert. Und die im Einleitungsteil eher summarische Auflistung signifikant neuzeitlicher Phänomene erhält nachträglich eine gleichsam sys13 | Ebd. S. 85f. 14 | Ebd. S. 85. 15 | Ebd.
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tematischere Form. War eingangs die „Maschinentechnik“ als eine der Wissenschaft „dem Range nach gleichgewichtige Erscheinung“16 eingeführt, also schon hier die gewöhnliche Positionierung der Technik als nurmehr angewandte Wissenschaft unterlaufen worden, kippt diese Balance mit der Einführung des Begriffs des Weltbildes endgültig zugunsten der Technik. Doch verweist sie nicht nur unmittelbar auf jenes „Weltbild“, das den gesamten Motivkomplex der Vorstellung in sich aufnimmt und verdichtet. Das Weltbild manifestiert sich seinerseits in den Weisen, wie Welt im Medium des Weltbildes betrachtet, anvisiert, wie sie angeschaut wird. Es manifestiert sich als „Weltanschauung“17; genauer: als Krieg konkurrierender Weltanschauungen, der, trotz oder wegen seiner Unerbittlichkeit, auf dem Boden einer gemeinsamen Grundentscheidung, der unbeschränkten Deutungs- und Verfügungshoheit über die eine Wirklichkeit als Ganzer, ausgetragen wird. Unendlicher Krieg zwischen Souverän und Märtyrer, zwischen Tyrann und Terrorist,18 dessen tödliche Agonie, nach einem erschöpften Dezennium des beinahe seligen Stillstands, vielleicht das 21. Jahrhundert mit nicht minderer Rigidität schinden wird wie die Physiognomien Hitlers und Stalins das 20. Jahrhundert schreckten. Kein Ende der Geschichte. Schon gar nicht dieser: „Mit diesem Kampf der Welt-
16 | Ebd. S. 73. 17 | Ebd. S. 92. Wobei Heideggers „Weltanschauung“ unschwer als Titel für Ideologie erkennbar wird, die immer im Plural und d.h. immer in einem agonalen Verhältnis zu anderen Ideologien in Erscheinung tritt. Das 20. Jahrhundert war demgemäß durch die Weltanschauungen oder Ideologien des Bolschewismus, des Nationalsozialismus sowie des Amerikanismus (Kapitalismus) geprägt, die bei aller Todfeindschaft gegeneinander von Heidegger auf dem gemeinsamen Grund dessen zurückgeführt wurden, was er vor allem in den „Beiträge zur Philosophie“ als „Machenschaft“ beschrieb. Eine in jedweder Hinsicht riskante These, deren diagnostische Kraft ebenso erstaunt wie sie Heideggers oft kolportierte Taubheit gegenüber dem Begriff einer Demokratie, die mit der Axiomatik des Kapitalismus nicht deckungsgleich wäre, zu belegen scheint. Könnte man nicht das Œuvre Hannah Arendts, bei all ihrer schütteren Treue Heidegger gegenüber, als unzweideutigen Einspruch gegen Heideggers meisterdenkerische Ignoranz lesen? Cf. Heidegger: Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Bd. 65. Frankfurt/M. 1989. II. Der Anklang, S. 107-166. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes I. Das Denken. München 1979. Dies. Vom Leben des Geistes II. Das Wollen. München 1989. Dies. Das Urteilen. München 1985. Dies. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München 1986. Dies. Über die Revolution. München 1986. u.a. 18 | Cf. Sigrid Weigel: Der Märtyrer und der Souverän. Szenarien eines modernen Trauerspiels, gelesen mit Walter Benjamin und Carl Schmitt. In: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung, Nr. 8. Berlin 2004.
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anschauungen tritt die Neuzeit erst in den entscheidenden und vermutlich dauerfähigsten Abschnitt ihrer Geschichte.“19 Auch wenn Heidegger, aus welchen Gründen auch immer, den Begriff des „Weltbildes“ nur in diesem Aufsatz verwenden und ihn später bedenkenswerterweise fallenlassen und durch den des „Gestells“ ersetzen wird,20 bildet er die früheste Keimform seines Denkens der Technik. Sie ist das eigentliche und eine Grundphänomen der Epoche. Als wäre Wissenschaft, als wäre das ästhetische Erlebnis, der humane Mehrwert akkumulierter Kulturgüter, als wäre die Wertproduktion der christlichen Kirchen, diese willfährigen Dienstleister eines vermeintlich normativ unbemittelten Staates, selbst nur ein Stück Technik. Und der eilfertige Moralismus, mit dem die Folgen technischer Weltverfügung abgefedert werden sollen, wäre ihr beflissenster Agent. Sie aber erhält so, als gleichsam nach außen gestülpte Kategorialität des Verstandes, einen erkenntniskritischen Status. Technik wäre die Weise, wie wir die Wirklichkeit, die wir erkennen, mit dem Mittel und im Medium ihrer Erkenntnis so hervorbringen, dass diese Wirklichkeit ohne Abstriche handhabbar ist. Als wäre sie den Schemata des Erkennens und Handelns vorab schon angepasst worden. Weshalb „Weltbild“ nicht bloß ein Abbild von der Welt bezeichne. „Wir meinen damit (mit dem Weltbild; M.M.) die Welt selbst, sie, das Seiende im Ganzen, so wie es für uns maßgeblich und verbindlich ist. Bild meint hier nicht einen Abklatsch, sondern jenes, was in der Redewendung herausklingt: wir sind über etwas im Bilde. Das will sagen: die Sache selbst steht so, wie es mit ihr für uns steht, vor uns. Sich über etwas ins Bild setzen heißt: das Seiende selbst in dem, wie es mit ihm steht, vor sich stellen und es als so gestelltes ständig vor sich haben.“21 Weltbild meine nicht ein „Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen“.22 Und Heidegger resümiert: „Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens.“23 Man wird lange über diese Sätze, diese Worte, jedes einzelne, nachdenken müssen, um auch nur im Ansatz ihre immensen Weiterungen erahnen zu können. Und mehr als eine Ahnung wird es nicht sein, die sich selbst strenger Lektüre eröffnete. Auch wenn man Heideggers Text als Ganzen - was wir hier 19 | Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. l.c. S. 92. 20 | Noch in den zeitlich wie thematisch dem Weltbild-Aufsatz eng verwandten „Beiträge zur Philosophie“ bleibt der Ausdruck, aller inhaltlichen Nähe zum Trotz, ausgespart. Cf. Heidegger: Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis) l.c. 21 | Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. l.c. S. 87. 22 | Ebd. 23 | Ebd. S. 92. Dazu: Steffen Siegel: Kosmos und Kopf. Zur Sichtbarkeit des Weltbildes. In: Christoph Markschies/Johannes Zachhuber (Hg.): Die Welt als Bild. Interdisziplinäre Beiträge zur Visualität von Weltbildern. Berlin, New York 2008. S. 113-142.
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nicht tun und tun können - ausbuchstabierte, auch wenn man ihn, was nötig wäre, mit seinen späteren Überlegungen zur Frage der Technik anreicherte, wäre vermessen zu glauben, dass wir die ganze Bedeutung dieser Ungeheuerlichkeit schon überblicken könnten. Wir stehen mitten in ihr. Immerhin erörtert „Die Zeit des Weltbildes“ Jahrzehnte vor Marshall McLuhans medientheoretischer Initialzündung24 die Konsequenzen einer universellen Sichtbarmachung allen Geschehens, seine Verfügbarkeit, seine Erreichbarkeit, durch den Einsatz einer tele-technischen Infrastruktur, die jeden beliebigen Punkt der Welt mit einem anderen zu koppeln vermag. Doch was das für das Schicksal der Welt selbst bedeutete, wissen wir nicht. Weil wir es nicht können. Weil dieses Nicht-Wissen unserer Situation bedingt, beherrscht und definiert. Weil dieses Nicht-Wissen gleichsam das Entrée-billet zu dieser Situation ist. Gegenüber der nurmehr resignierten Registratur des status quo allerdings, die das technische, das mediale Apriori nur noch beschreiben zu können glaubt,25 weil es zu denken bedeutete, vorauszusetzen, was gedacht werden solle, gäbe es die Möglichkeit einer behutsamen Näherung an ein Denken der Technik, das ihr, als zweiter Natur, wie der ersten auch zu begegnen versuchte,26 das dergestalt ins Abwegige vorstößt, ohne Orientierung und Richtung, ohne Oben und Unten. Was einmal keinen Mangel an Gewissheit darstellte, sondern den Preis für die Preisgabe trügerischer, falscher, fataler Sekuritäten. Also sind wir über das Weltbild nicht im Bilde? Das „Bescheid-Wissen“, das „Gerüstetsein“, das „sich darauf Einrichten“ wären allesamt nur Weisen jenes „Im Bilde sein“ selbst,27 wären somit Praktiken, die Macht des Weltbildes zu konfirmieren, die labilisiert werden soll. Diese Macht zu bekämpfen kann nur der, der rückhaltlos abrüstete; der auf alle Finten und Listen, auf die stets verlockenden Halluzinationen makelloser Kompetenz verzichtete, der, anders gesagt, die phantastische Fremdheit, die ihm aus der todlangweiligen Welt entgegenschlüge, zuließe. Also sollten wir uns gegenüber der zur zweiten Natur gewordenen Tele-Technik verhalten wie gegenüber jener ersten, die von uns den „lange(n) und gewaltlose(n) Blick auf den Gegenstand“28 einklagte?
24 | Cf. Marshall McLuhan: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. Toronto 1962. Ders. Understanding Media. The Extensions of Man. New York 1964. 25 | Cf. Friedrich Kittler: Aufscheibsysteme 1800/1900. München 1985. Ders. Grammophon Film Typewriter. Berlin 1986. Ders. Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München 2000. u.a. 26 | Cf. Ute Guzzoni: Über Natur. Aufzeichnungen unterwegs: Zu einem anderen Naturverhältnis. Freiburg i.Br., München 1995. S. 81-115 u.a. 27 | Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. l.c. S. 87. 28 | Theodor W. Adorno: Anmerkungen zum philosophischen Denken. In: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt/M. 1980. S. 14. Dazu: Ute Guzzoni: „Der lange und
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Heideggers Weltbild jedenfalls als Versuch, die Welt als Bild zu begreifen, beschreibt diesen Begriff als eine im Medium des Bildes und als Bild sich vollziehende Aneignung und Assimilation von Wirklichkeit, deren Neutralisation. Das Weltbild, gleichviel, was es und was sich in ihm zeigt, zeigt per definitionem eine kommensurable Welt, deren Schrecken und deren Schönheit, deren Ekel und deren Pracht und Fülle den Betrachter prinzipiell nicht überfordern dürfen und können. Das Kleine ist sein Maß, Verkleinerung seine Rancune an allem, was seinen Dunstkreis quert. Als wäre das Weltbild in der Tat die zur externen Apparatur ausgestülpte Version der Kantischen Einbildungskraft, die bekanntlich des Menschen Vermögen, ein einheitliches Bild einer Sache zu synthetisieren, beschreibt. Fasslichkeit ist sein Agens; Konformität sein Zweck. Tele-Technische Einbildungskraft, beseelt gleichsam durch die verquere Logik einer Animosität, die mit Ausschluss quittiert, was die Regularien visueller Konventionen verletzte. Noch die freundliche Eleganz des audio-optischen Designs, das die Kompatibilität der Mensch-Maschine-Schnittstelle garantiert, atmete den Geist einer Niedertracht, die den Inhalten gilt und ihrer Präsentation, dieses fein dosierte Gemisch aus Skandalisierung und Deeskalation, die eine trübe Neugier auf alles und auf nichts wach und am Leben hält. Jedermann wisse doch, wie’s läuft. Man sei im Bilde. Als verdunkelte das Weltbild die Welt, indem es sie zeigt. Als setzte es sich, wie eine Art Deckbild, an deren Stelle. Agonie des Realen, Agonie der Welt? Generierung einer Welt jedenfalls, die für den Beobachter vor ihm und für den Beobachter permanent vor ihm und für den Beobachter stimmig29 vor ihm steht. Für den Beobachter, dessen voyeuristische Position einzig durch seine Unsichtbarkeit abgesichert wird. Obsession eines Sehens, das die Invisibilität des Sehenden zu seiner Bedingung hat. Die Invisibilität und Unberührbarkeit. Als sähe er einzig durch einen winzigen Spalt wie durch eine Maske. Wie durch ein Visier: Was Derrida den „Visier-Effekt“ nannte: „Wir sehen nicht, wer uns ansieht.“ 30 Die Beobachtung eines vermeintlich unbeobachteten, unbeobachtbaren Beobachters, geriete so zum Sinnbild seiner Situation. Von jenem Außen, das im Rahmen des Weltbildes in Erscheinung tritt, dringt nichts herein. Und was eindringt, dringt nicht vor, nicht bis zur Haut. Was von außen und von ferne tele-technisch heran- und hereingeholt wird, bleibt eigentümlicherweise gerade deshalb außen und als dieses Außen außen vor. Die Aufnahme, auch die aus nächster Nähe, wird zum Vehikel gleichförmiger gewaltlose Blick auf den Gegenstand“. Überlegungen zum Denken bei Heidegger und Adorno. In: Sieben Stücke zu Adorno. Freiburg i.Br., München 2003. S.117-137. 29 | „Zum Wesen des Bildes gehört der Zusammenstand, das System.“ Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. l.c. S. 98. 30 | Cf. Derrida: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Übers. v. Susanne Lüdemann. Frankfurt/M. 1995. S. 22.
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Distanz. Als ob der Bildschirm, die Leinwand, das Fenster, der Frame, das Interface zugleich als Medium der Hindurchsichtbarkeit wie als Filter fungierten. Sie verheißen Genuss, Befriedigung und eine Lust ohne jedwedes Risiko der Infektion. Bilder, heißt es, seien nicht ansteckend. Oder doch? Wenn Heidegger das Dispositiv des Weltbildes konturiert, entwickelt er zwar dessen Funktionssinn in dreierlei Hinsicht: erstens beschreibt er die Irreversibilität zwischen Betrachtendem und Betrachtetem, zwischen Subjekt und Objekt, das allein für das Subjekt erscheint und ist; zweitens betont er die Irreduzibilität der Kluft zwischen ihnen und drittens insistiert er auf der Unausdrücklichkeit dieses Vorgangs, der der Neuzeit wesentlich verschlossen bleibe.31 Das Phantasma universeller Verfügbarkeit ist seinerseits unverfügbar. Einen alternativen Zugang zur Welt indes skizziert Heidegger hier allenfalls am Rande; eine alternative Idee von Bild gar bleibt selbst als Möglichkeit ausgespart. Doch wie irrig könnte es sein, die Auto-Immunität des Weltbildes mit der Intimität eines Bildes zu kontrastieren, dessen Sinn das Verlangen, die Berührung und Durchdringung, kurz: die Passibilität wäre? Bilder wie Wundmale, zu scheußlich und zu schön, um den Blick noch von ihnen lassen zu können; frivole Passionen, die das Auge entzünden, die Haut reizen; Bilder, ansteckend wie ein Lachen, infektiös wie eine Krankheit. Krankheit der Bilder, die, indem sie sich ihrem primären Funktionssinn zu verweigern begännen, begännen zu faszinieren, die begännen, „mich“ wahr- und einzunehmen und in ein Drama zu verstricken, das keinen Anfang hat und kein Ende mehr nähme. Heidegger sagt dazu nichts. Einen metaphysikkritischen Begriff des Bildes entwirft er nicht. Schon 1929 konsolidiert er in „Kant und Problem der Metaphysik“ einen Begriff des Bildes, den er ausdrücklich am Schema der Kantischen Einbildungskraft ausrichtet.32 Auch wenn er ihn hier affirmativ verwendet - worüber man gründlich nachdenken sollte -, ist seine metaphysische Signatur unverkennbar. Seine Attribute wirken wie Vorformen dessen, was er nur wenige Jahre später metaphysikkritisch aufseiten des Weltbildes verbucht. Und noch das „Ereignis“, jenes rätselhafte Grundwort seines späten Philosophierens, ist bilderlos wie das Denken, das ihm zu antworten hat. Und doch wird er nahezu zeitgleich mit Technik das Phänomen einer Kunst und eines Kunstwerks thematisieren, die wie das bestimmt andere technischer Weltverfügung anmuten. Doch welches andere und wie? Die Dinge sind heikel. Denn während Heidegger in der Tat auf der wesentlichen Verschiedenheit beider Sphären ein ums andere Mal beharrt, betont er mit nicht minderer 31 | Cf. Heidegger: Die Zeit des Weltbildes. l.c. S. 92ff. 32 | Cf. Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik. Frankfurt/M. 41973. S. 89-98. Dazu: Didi-Huberman: Der Tod und das Mädchen. In: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung. Nr. 9, Oktober 2004. S. 27-37.
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Hartnäckigkeit deren Wesensverwandtschaft.33 Beides nämlich seien Weisen des „Hervorbringens“. Schematisieren wir: Wäre es der Technik darum zu tun, dem Menschen seine Um- und Mitwelt als Mittel der Daseinsbewältigung zu sichern, ginge es Kunst darum, diese Welt jenseits bloßer Zweck-Mittel-Relationen an sich selbst hervortreten zu lassen. Als existierte „Natur“ an sich selbst. Als zielte künstlerische Arbeit darauf, eine unbearbeitete Wirklichkeit hervorzubringen, ein Material, Materie, eine Materialität in status nascendi gleichsam, gleichsam roh - als hätte sie noch kein menschliches Auge je gesehen, als hätte sie noch keine menschliche Hand je berührt… Und doch verdeckt die vermeintliche Schlichtheit des Schemas eine Komplizität, mit der sich Heidegger zeitlebens abmühte. Während nämlich das Motiv des Gestells alsbald nach der „Zeit des Weltbildes“ (1938) zum Leitbegriff seines Denkens der Technik avancieren wird, firmiert exakt dieser Ausdruck, „Gestell“, noch im „Ursprung des Kunstwerks“ (1935/36) als genuin kunstphilosophische Kategorie.34 Andererseits gipfelt seine Meditation zum Weltbild in einer Bestimmung des Bildes als „Gebild“ vorstellenden Herstellens, doch taucht genau diese Wendung, „Gebild“, rund zwanzig Jahre später wieder auf, um im Zusammenhang einer Überlegung zur Dichtung, zum dichterischen Sagen erkennbar einem nichttechnischen Kontext eingeschrieben zu werden.35 Beide Begriffe haben in einem eigentümlichen Chiasmus die Seiten gewechselt. Als ließen sie sich nicht fixieren. Als vagabundierten sie zwischen den Polen des Technischen und Künstlerischen, die sich zum Verwechseln ähnlich sind. Als deutete ihre Verwechslung unterschwellig auf die Möglichkeit eines Bildes, dessen schmerzliche Intimität die Immunität technischer Weltbildhaftigkeit aufbräche, sie durchschlüge wie ein Geschoss. Anders gesagt: Gäbe es ein Welt-Bild, das kein Weltbild wäre?
33 | „Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muss die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist. / Ein solcher Bereich ist die Kunst.“ Heidegger: Die Frage nach der Technik. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 41978. S. 39. 34 | Cf. Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks. In: Holzwege. l.c. S. 50, 69f. 35 | „Solches Sagen hat den Grundzug des Bildens. ‚Bilden‘ geht zurück auf das althochdeutsche Zeitwort ‚pilon‘; das meint das Stoßen, Treiben, Hervortreiben. Bilden ist Her-vor-bringen, nämlich vor ins Unverborgene, Offenbare und her aus dem Verborgenen und Sichverbergenden. Das so verstandene Hervorgebrachte, Gebildete ist das Gebild.“ Heidegger: Sprache und Heimat (1960). In: Denkerfahrungen 1910 - 1976. Frankfurt/M. 1983. S. 103. Den Hinweis auf diese Stelle verdanke ich Matthias Korn.
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3. Gäbe es ein Welt-Bild, das kein Weltbild wäre?36 Heidegger verweigert die Frage. Indem er den Begriff des Weltbildes fallenlässt, wird auch der des Bildes obsolet. Und so wenig wie er eine alternative Möglichkeit, Bild zu denken zumindest einräumt und überhaupt, das Bild mit dem in eine Beziehung zu setzen, was er später emphatisch „Denken“ nennen wird, „Denken-des-Seins“, so wenig lässt er sich im Weltbild-Aufsatz über Welt schlechthin aus. Sie bleibt der unausgewiesene Hintergrund seiner Überlegungen, jenes Unausdrückliche, das sie an sich immer schon ist. Ohnehin wird Heidegger zeitlebens die Frage der Welt durcharbeiten. Zeitlebens wird sie ihn offensichtlich nicht zur Ruhe kommen lassen. Schon in „Sein und Zeit“ widmet er der Welt, dem Inder-Welt-sein des Menschen, den er fundamentalontologisch als „Dasein“ nominiert, wesentliche Überlegungen, die nicht nur das In-sein des Daseins selbst ausloten, sondern eben jenes auch, worin das Dasein als Dasein zu sein hat: Welt.37 Und nur wenige Jahre nach der nahezu parallelen Zündung seiner Kunst- wie seiner Technikphilosophie wird er in der berühmten Vorlesung aus dem Wintersemester 1929/30 „Welt - Endlichkeit - Einsamkeit“38 die Erfahrungsmöglichkeit von „Welt“ in den Kontext zu jener Langeweile rücken, die, ausführlicher, entschiedener, deutlicher noch als das Phänomen der Angst in „Sein und Zeit“, als wesentliche Grundstimmung des Menschen Einblick in seine fundamentale Verfasstheit - und das heißt hier: seine vorgängige Verwiesenheit auf Welt - erlaubt. Wir kommen darauf noch zu sprechen (Vgl. Kpt. 4). Und schließlich setzt nach „Der Ursprung des Kunstwerks“ von 1935 spätestens mit den Bremer Vorträgen von 1949 seine neuerliche große Meditation zum Verhältnis von Ding und Welt ein, die in seinen späten Exkursionen zur Sprache ihren vielleicht vollendeten Ausdruck findet und als der „Unter-Schied“ zwischen Ding und Welt39 sehr wie eine topologische Reformulierung der ontisch-ontologischen Differenz anmutet. Die Frage nach einem „Welt-Bild“ also, das Welt eröffnete, den Zugang zu ihr, statt sie zu jenem „Globus“40 zuzurichten, der in steter und stets gleicher 36 | Auch Emanuel Alloa ist der Sinn dieser Frage keineswegs fremd: Emanuel Alloa: Bare Exteriority. Philosophy of the image and the image of philosophy in Martin Heidegger and Maurice Blanchot. In: Colloquy 10, 11/2005, Themenheft „Blanchot the Obscure”. S. 69-82. 37 | Cf. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 151979. Drittes Kapitel: Die Weltlichkeit der Welt. S. 63-113. 38 | Cf. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1929/30 (= Bd. 29/30 der Gesamtausgabe). Frankfurt/M. 2004. 39 | Cf. Heidegger: Die Sprache. In: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 61979. S. 9-33. Bes: S. 22ff. 40 | Nancy: Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung. l.c. S. 30
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Reichweite als eine Art Spielball einer nimmermüden Diktatur der Handhabbarkeit herhält; einer universellen Manipulation ohne Instanz, Institut oder Institution, die für sie länger verantwortlich zeichnete; eines Systems der Subjektivität, die schließlich auf kein Subjekt mehr angewiesen sein wird, auf kein faktisches oder transzendentales Subjekt einer Ichheit, da deren kategoriale Fertigkeiten längst und besser, perfekter einem Apparat überschrieben wurden, dessen Wartungsfreundlichkeit und Störungsresistenz die Reibungslosigkeit jenes Ablaufs garantiert - diese Frage des mit all dem brechenden „Welt-Bildes“ scheint unabweisbar und von einer Notwendigkeit beseelt, die unmittelbar dem Korpus des Heideggerschen Denkens selbst zu entspringen scheint. Es wäre auch und nicht zuletzt die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Bild. Was aber geschähe, wenn man Heideggers Text den durchaus aggressiven Influenzen dieser Fragen aussetzte? Zweites Relais, zweite Station einer Recherche nach jenem Zusammenhang oder jenem Verhängnis, das unsere Situation ausmacht, unsere Aktualität und „Ontologie der Aktualität“.41 Zweites Relais: In den Jahren 1983 und 1985 publiziert Gilles Deleuze eines der rätselhaftesten Werke der Philosophie des 20. Jahrhunderts: „Das Bewegungs-Bild. Kino 1“ und „Das Zeit-Bild. Kino 2“.42 Mit seiner 1981 erschienenen Studie zur Malerei Francis Bacons43 markieren beide Texte Deleuzes „iconic turn“, seine Abkehr vom Projekt eines „bilderlosen Denkens“, wie er es etwa noch in „Differenz und Wiederholung“44 nachdrücklich prononciert hatte. Von nun an wird ein Bild des Denkens, das auf der Höhe der Zeit zu sein versucht, ohne ein Denken des Bildes nicht zu haben sein. Von nun an ist es eigentümlicherweise das Bild oder das, was Deleuze „Bild“ nennt, das dem Ausdruck zu geben vermag, was gewöhnlicherweise unterdrückt zu werden pflegt: das, was mich angeht, attackiert, vielleicht sogar verletzt, ohne, dass ich es schon zu fassen, zu binden, zu kontrollieren vermag. Ohne, dass ich als das Ich, das denkt, ernsthaft die Chance hätte, seiner habhaft werden zu können, sieht es sich einer Komplikation ausgesetzt, die es nur auflösen kann um den Preis einer Abstraktion seiner wesentlichen Merkmale. Vorab des Denkens selbst. Als ginge es um ein Denken vor dem ich, das denkt; um ein Denken vor aller Flexion und Beugung unter das Regime einer Egologie, die im gleichen 41 | Cf. Gianni Vattimo: In-der-(ganzen)-Welt-Sein. Vortrag an der Bauhaus-Universität, Weimar. Kolleg Friedrich Nietzsche am 11.11.04. 42 | Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übers. v. Ulrich Christians u. Ulrike Bokelmann. Frankfurt/M. 1989. Ders. Das Zeit-Bild. Kino 2. Übers. v. Klaus Englert. Frankfurt/M. 1991. 43 | Deleuze: Francis Bacon - Logik der Sensation. Übers. v. Joseph Vogl. München 1995. 44 | Deleuze: Differenz und Wiederholung. Übers. v. Joseph Vogl. München 1992. S. 215.
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Atemzug die Sicherung und Selbstabsicherung des Ich verspricht wie sie das Leben dieses Ich, das ich bin - und niemand sonst - verrät. Als ginge es um ein unflektiertes Denken, das nur möglich wäre im Medium eines Bildes, das dieses Denken in ausgezeichneterweise herausfordert und stellt. Was aber heißt das? Auch wenn Deleuze sein Konzept des Bildes niemals eindeutig klärt,45 wird es doch in der Konfrontation mit dem, was er „Klischee“ nennt, deutlichere Konturen gewinnen. Ohne das Klischee und das Bild als Klischee macht das Bild als Bild keinen Sinn. Weshalb der Begriff des Klischees für das Denken Deleuzes von eminenter Bedeutung ist.46 Wer ihn verkennt, verfehlt es ums Ganze. Noch im letzten, zusammen mit Félix Guattari verfassten Buch wird zur eigentlichen Aufgabe der Philosophie, der Kunst, der Wissenschaft - den drei „großen Formen des Denkens“47 - der Kampf gegen das Klischee, die Meinung, das Stereotyp.48 Zwar schütze die Meinung uns wie ein Schirm vor dem Chaos, der amorphen Unbestimmtheit der auf das energetische Niveau der Lichtgeschwindigkeit hochgetrimmten Materie. Doch kostet sie das Leben. Das Leben des Geistes, das Leben selbst. Die starren Schemen der Stereotypie ertrotzen eine Ordnung, die das Leben, das sie sichern, abtöten, töten. Dem Chaos trotzen, ohne in jene Doxa und Urdoxa zurückzufallen, denen Philosophie von Sokrates bis Heidegger und darüber hinaus unentwegt den Kampf ansagt: darum geht es! Denn Leben, was auch immer sonst, bedarf gleichsam einer Prise Chaos, eines Minimums jenes chronischen Gifts, an dem es zuletzt zugrunde gehen wird. Das Chaos, die reine, leere Vergängnis, Zeit selbst in ihrer schlechthin undenkbaren Gestalt, wandelte sich zu jenem Werden, in der die Zeit, was sie gebiert, nicht mehr verschlingt. Nicht unmittelbar. Revolution der Zeit selbst in der Zeit, die man nur wird verhindern können, wenn man das Leben selbst verhindert. Das aber wäre der Kult und die Kultur eines Todes, der die Lebenden und die Toten gleichermaßen tyrannisiert, Kult und Kultur eines Todes, in der die Toten die Lebenden begraben. Als begänne alle Arbeit des Denkens - im Medium des Begriffs (Philosophie), der Funktion (Wissenschaft), der Empfindung (Kunst) - mit der Destruktion des Stereotyps. Nie beginnen wir von einem Nullpunkt aus. Um das, was ist, empfindlich werden zu lassen, erkennbar, denkbar, bedarf es 45 | „Deleuze verweigert sich jedem Nachdenken über Bilder im Allgemeinen oder als solche. Nie wird auch nur der Versuch einer begrifflich eindeutigen Bestimmung gemacht.“ Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare. München 2003. S. 11. 46 | Cf. hierzu zuletzt: Martin Stefanov: Der Begriff des Klischees in der Filmphilosophie von Gilles Deleuze. Mag.-Arbeit (unveröffentlicht). Wien 2008. 47 | Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? Übers. v. Bernd Schwibs u. Joseph Vogl. Frankfurt/M. 1996. S. 234. 48 | Cf. Ebd. S. 238ff.
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einer vorgängigen und unendlich mühsamen und oft zum Scheitern verurteilen Operation der schrittweisen Demontage scheinbar unverwüstlicher Klischees: Giacomettis plastische Reduktionen.49 Oder die Zweifel Cézannes.50 Der Widerstand jedenfalls ist erheblich. Und er ist schmerzhaft. Dann entstehen Bilder. Nichts sonst. Nichts anderes. Ein Bild wie es ist. Das ist die ganze Schwierigkeit. „Aus der Gesamtheit der Klischees muss ein Bild herauskommen … Aber was für eine Politik bedarf es dazu, und was folgt daraus? Was wäre ein Bild, das kein Klischee ist? Wo hört das Klischee auf und wo fängt das Bild an?“51 Während das letzte Kapitel des ersten Kinobuches mit diesen Fragen schließt, nimmt das erste Kapitel des zweiten Kinobuchs sie wieder auf. Und es wird deutlicher: „Wir verfügen über Schemata, die uns die Abwendung von etwas allzu Unangenehmen erlauben, die uns vor etwas Furchtbaren resignieren und uns schwelgen lassen, wenn etwas zu schön ist… Genau das ist aber ein Klischee: ein sensomotorisches Bild von der Sache.“52 Das sensomotorische Bild von der Sache aber, dieses pseudobehavioristische Pseudonym Deleuzes, die ihm in äußerst verknappter Form das Modell einer Subjektivität zu zeichnen erlaubt, dessen Eingriff den Anforderungen wahrgenommener Situationen ebenso restlos entspricht wie die Wahrnehmung denen gegebener Aktionen, wäre gar nichts anderes als jener zauberhafte Automat, der die 1:1-Konvertabilität zwischen Erkennen und Handeln garantierte. Der garantierte, dass alles, was ich realisiere, ebenso zu einem Impuls motorischer Energieabfuhr umgewandelt werden kann wie die Effekte von Handlungen eine Situation generieren, die ich als Ganzes zu erfassen vermag. Mithin wären Klischees jene Art Bilder, die sich wie ein Filter vor die Wirklichkeit schöben, die sie zeigen, um all das auszusondern, was den Status, den Stand und die Prominenz des Betrachters hintertreiben könnte. Also verhalten wir 49 | Cf. Dieter Honisch: Groß und klein bei Giacometti. In: Alberto Giacometti. Nationalgalerie, Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz (Hg.). Berlin 1987. S. 99-105. 50 | „Hierin liegt für den Maler eine sehr wichtige Erfahrung: Eine ganze Kategorie von Dingen, die man ‚Klischees’ nennen kann, besetzt bereits die Leinwand vor dem Beginn. Das ist dramatisch. Es scheint, dass Cézanne diese Erfahrung tatsächlich bis zum höchsten Punkt durchlaufen hat: Es gibt immer schon Klischees auf der Leinwand, und wenn sich der Maler damit begnügt, das Klischee zu transformieren, es zu deformieren oder zuzurichten, es in alle Richtungen zu zerreiben, so ist dies noch eine allzu intellektuelle, eine allzu abstrakte Reaktion, die das Klischee aus seiner Asche wiedererstehen lässt, den Maler noch im Element des Klischees festhält oder ihm keinen anderen Trost als die Parodie spendet.“ Deleuze: Francis Bacon. l.c. S. 55. Dazu: Maurice Merleau-Ponty: Der Zweifel Cézannes. Übers. v. B. Engels und S. Zwiener. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie. 2/1994. S. 281-298. 51 | Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. l.c. S. 287. 52 | Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 35.
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uns zu Bildern wie Odysseus zu den Sirenen? Irgendwie von ihnen fasziniert, angezogen und umgarnt, errichten wir ein audio-optisches Regime robuster Quarantäne, die die Folgenlosigkeit ihres Genusses, der Lust und der Leidenschaft deckt. „Wir nehmen normalerweise nur Klischees wahr.“53 Aber was Bilder wären, die keine Klischees sind? Im siebten Kapitel seines zweiten Kino-Buchs wird Deleuze diese Frage, nachdem er sie im Konzept des Zeit-Bildes zeittheoretisch eigentlich schon ausgearbeitet zu haben schien,54 wieder aufgreifen. Und er tut es, indem er die schon eingängig argumentierte Krise des klassischen Kinos, die den Übergang zum modernen erzwingen wird, am Verhältnis von Denken und Bild reformuliert. Das moderne Kino wird also nicht mehr nur mit der Vulgarität eines überlieferten Zeitbegriffs brechen, sondern endlich auch mit der einer Welt, die uns offensichtlich nichts mehr zu sagen hat, weil alles sagbar und alles längst gesagt ist. Ob vom Denken zum Bild oder umgekehrt: Einmal mehr avanciert Eisenstein zum Kronzeugen einer Konzeption des Kinematographen, dessen Bilder zerebrale Reizungen auslösen, die das Denken zu denken nötigen, das Ganze, den Begriff und die die Affekte, die auf sie zurückstrahlen, hervorrufen. Die von den auto-kinetischen Bildern erwirkten Schocks wären mithin „Erkenntnisschocks“, die nicht allein den Zuschauer, sondern, entscheidender, die Masse der Zuschauer zu denken zwingen. Ihnen entkäme sehenden Auges niemand. Ob vom Bild zum Denken oder umgekehrt, oder ob Bild und Denken wechselseitig, sprich: dialektisch, aufeinander verwiesen sind: Der letzte Sinn des Eisensteinschen Unterfangens wäre jene Selbstermächtigung des Denkens selbst, das Denken der Macht und des Machens, der Machenschaft, analog zu jenem sich selbst gründenden und begründenden Denken der klassischen Philosophie, analog zu jenem mit sich identischen und seine Identität sichernden Selbstbewusstsein. Bild und Begriff erscheinen so als zwei nurmehr graduell unterschiedene Stadien einer Phänomenologie des Geistes als Kinematographie: „der Begriff ist an sich im Bild, und das Bild ist für sich im Begriff “.55 So huscht zu Beginn des siebten Kapitels wie in einer Art Zeitraffer am inneren Auge des Lesers Deleuzes gesamtes Projekt einer Philosophie des Kinos abermals vorbei. Und wie schon beim Übergang von Kino 1 zu Kino 2, beim Übergang vom klassischen zum modernen Kino, mengt Deleuze auch hier, was die Sache nicht einfacher macht, empirische und transzendentale Argumente für die Krise des klassischen Kinos. Die kinematographische Revo53 | Ebd. 54 | Weshalb von einer Akzentverschiebung, gar einem Bruch im zweiten Kino-Buch selbst gesprochen wird: Joost Raessens: Deleuze und die kinematographische Modernität. In: Oliver Fahle/Lorenz Engell (Hg.): Der Film bei Deleuze. Le cinéma selon Deleuze. Weimar 1997. S. 276ff. Dazu: Schaub: Gilles Deleuze im Kino. l.c. S 210ff. 55 | Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2 l.c. S. 212.
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lution, die der Mobilisierung des Denkens und der Massen galt, gleichviel ob als russische, französische oder amerikanische Revolution, sie versandete in einer aufkommenden Mittelmäßigkeit, in der Propaganda, in staatlicher Manipulation: „einer Art Faschismus, der Hitler mit Hollywood und Hollywood mit Hitler vereinigte.“56 Doch nach dieserart Faschismus und der Mediokrität der Produktionen benennt Deleuze, zögerlich eingeleitet durch ein „vielleicht“, noch einen dritten starken Grund für die Krise des Bewegungs-Bildes, der die gesamte Szenerie verändern, ihre Entwicklungslogik und -dynamik umformen wird. Alles käme darauf an, einen Unterschied wahrzunehmen, der bei oberflächlicher Betrachtung zu verschwinden drohte, eine Differenz, ebenso unscheinbar wie entscheidend. Eine Differenz zwischen Artaud und Eisenstein. Die „genauere Untersuchung des Falls Artauds“, dem „vielleicht“ eine „entscheidende Bedeutung“57 zukäme, scheint allerdings zuerst einmal die Affinität ihrer beiden Anliegen anzuzeigen. Wie Eisenstein ginge es auch Artaud um ein Bild, das eine neurophysiologische Schwingung, einen Schock, eine Nervenkaskade auslöste, die das Denken entstehen ließe. Ein Denken, das sich mit Hilfe und im Medium des Bildes selbst zeugte, austrüge und gebärte. Ein Denken seiner selbst und durch sich selbst. „Oberflächlich gesehen gibt es zwischen den Äußerungen Artauds und denjenigen Eisensteins keinerlei Widerspruch“.58 Und dennoch: Wenn nämlich das Denken durch das Bild allererst zu denken hervorgerufen werden soll und muss, wenn das Denken einer Provokation bedarf, ohne die es nicht entstehen könnte, zeigt sich ein gewisser Makel, eine gewisse Schwäche dieses Denkens der Macht und als Macht, zeigt sich eine gewisse Ohnmacht: „Und dennoch gibt es bei Artaud etwas völlig anderes: eine Feststellung der Ohnmacht, die nicht auf das Kino zielt, sondern statt dessen das wahrhafte Subjekt-Objekt des Kinos bestimmt. Durch das Kino wird nicht die Macht des Denkens, sondern sein Unvermögen befördert; das Denken hat es niemals mit einem anderen Problem zu tun gehabt.“59 Und das Kino, nach langer Irre konzeptioneller und kapitalistischer Indienstnahme, käme endlich zu sich selbst, wenn es dieses Problem brüsk und schonungslos, grausam denunzierte. Also entlarvte das Kino Artauds, das Kino der Grausamkeit, nichts geringeres als jene „Ohnmacht des Denkens im Herzen des Denkens“60 selbst, jene zentrale Hemmung, jenen inneren Zusammenbruch, jene innere Versteinerung, die das Denken einem Denkbaren gegenüber, das noch etwas anderes 56 | Ebd. S. 215. 57 | Ebd. S. 216. 58 | Ebd. S. 217. 59 | Ebd. 60 | Ebd.
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und mehr wäre als denkbar, scheitern lassen. Wobei der Charakter des Denkens wie auch des Bildes sich entscheidend veränderte: während das Bild nicht länger mehr als bloßes Ansich des Begriffs fungiert (so wenig wie der Begriff als Fürsich des Bildes), sondern kraft einer durch den Begriff uneinholbaren Heterogenität gekennzeichnet ist, ist das Denken nicht mehr durch die immanente Logik der Ableitbarkeit und Konnektivität der Gedanken untereinander bestimmt, sondern durch ein Undenkbares, dem Denken Vorgängiges, Exteriores. „Man könnte sagen, dass Artaud Eisensteins Argument umkehrt: Wenn es wahr ist, dass das Denken von einem Schock abhängt, der es entstehen lässt (der Nerv, das Mark), dann kann es nur eines denken: die Tatsache, dass wir noch nicht denken, das Unvermögen, das Ganze wie sich selbst zu denken“.61 Die Folgen aber sind unabsehbar. Sie sind ungeheuerlich. Sie betreffen die Gestalt und den Aufbau dessen, was die philosophische Tradition in einer enormen Aufspreizung intellektueller Potenzen als das Denken selbst, seine Denkmöglichkeit wie sein Denkmögliches, zu denken versuchte. Stehen wir also vor ihrem Ruin, dem Bankrott einer Überlieferung, die uns noch auf der Schwundstufe analytischer Begriffskonstruktionen die allgemeine Funktionalität eines formalen Regulariums des Logischen vorzugaukeln versucht? Ihre Krise jedenfalls, die sie an die Schwelle eines Abgrunds drängt, der vielleicht nur ein anderer Name wäre für jenes aberwitzige Wagnis der Modernität, ist zugleich die Krise eines Kinos, dessen Klassizität nicht einmal mehr musealen Wert hätte. Die Krise des Bildes, des Aktionsbildes, des Bewegungs-Bildes, des sensomotorischen Schemas jedenfalls wäre mit jener Krise des Begriffs deckungsgleich, mit der Krise des Denkens selbst. Und auf Heidegger, zu dem er ansonsten kaum Tuchfühlung hält, auf Artaud und Blanchot bezugnehmend, resümiert Deleuze endlich jene zwei Motive, die sich in ausgezeichneter Weise im (modernen) Film fänden: „einerseits die Präsenz eines Undenkbaren im Denken - eines Undenkbaren, das in einem sein Ursprung und seine Begrenzung ist; andererseits die bis ins Unendliche reichende Präsenz eines anderen Denkers im Denker, der den Monolog eines denkenden Ich zerbricht.“62 4. Kann man weiter gehen? Ist man je weiter gegangen? Deleuze jedenfalls zieht hieraus die weitreichendsten Konsequenzen. Sie betreffen nichts Geringeres als das Wesen des Denkens, des Bildes, der Welt. Und sie betreffen das Wesen jener Beziehung zwischen Denken und Welt, deren Eintracht und Allianz unter der Hand schließlich erkauft wurden mit dem Treubruch einer Solidarität, die diese Welt in der Tat verdient hätte. Auf die diese Welt Anspruch gehabt hätte. Nachdem sie einmal entdeckt worden war, metaphysisch, physisch, planeta61 | Ebd. S. 219. 62 | Ebd.
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risch, nachdem der Mensch die Lichtung betrat und sich, endlich auf zwei Beinen, umtat, bediente er sich. Ihrer Großzügigkeit und Generosität gegenüber aber erwies er sich ab einem gewissen Punkt, den genau zu fixieren wohl kaum gelingen kann, als überaus undankbarer. Wenn nämlich Denken mit Danken63 aufs engste liiert ist, wäre ein Denken der Welt, das sie zur Matrix kognitiver Akrobatik herrichtet, im eigentlichen Sinne gedankenlos. Das aber rächt sich. Die Beziehung zwischen Mensch und Welt, jene willfährige Assoziation mit einer Wirklichkeit, einer im eigentlichen Sinne imaginären und durch das Imaginäre regulierten Wirklichkeit, erschlafft. Die Angelegenheit wird öde. Das Objekt, auch die zum Super-Objekt bestallte Welt, die Welt als Bild und als Klischee, zeigt sich doch immer schon und immer nur als das, was wir ohnehin schon wissen. Wir nämlich wissen Bescheid. Wir sind im Bilde. Und weil wir im Bilde sind, wird uns langweilig, todlangweilig. Eine Traurigkeit beginnt den Drang nach Tat und Triumph, Triumph des Willens und der Kalkulation, zu unterspülen, beginnt den Werktätigen einzuhüllen wie ein unsichtbares Gas. Es wirkt toxisch. Es lähmt das Nervensystem und die Motorik. Er ist ein Held, gewiss, denn er muss es sein; doch eigentlich und von nahem besehen von trauriger Gestalt, weltverloren und mutterseelenallein. Gehemmt ist schließlich nicht nur sein Hang zur Tat; gehemmt ist schließlich sein Hang zu jener Tathandlung, in der das Ich sich mit sich und durch sich eint. Es liegt in Trümmern: keine Identität mit sich, kein basales Vertrautsein mit sich, Selbstfremdheit.64 Aus dieser Situation führt kein Weg hinaus. Wir glauben nicht an die Umformatierung universeller Handlungshemmung in den fröhlichen Trübsinn Peter Sloterdijks. So verlockend das Angebot sein mag: Seine „dichte Welt“,65 in der die Interaktionen zwischen Individuen so sehr komprimiert werden, dass sie sich gegenseitig blockieren, mag vor Verletzungen schützen wie vor unbedachten Bewegungen. Doch die Märtyrer stehen schon Massenvernichtungswaffe bei Fuß, um eine Handlungskompetenz zu demonstrieren, die die Dichte der dichten Welt ebenso voraussetzt wie bersten lassen wird. Jener Terrorrist, der ebenso ziel- wie zwecklos jedes Leben attackiert, das Leben selbst, hat sein spiegelsymmetrisches Pendant im Tyrannen, dem Souverän, der nicht nur nach Gutdünken über den Ausnahmezustand entscheidet, sondern auch die Gewalt hat, ihn durchzusetzen. Beide, Souverän wie Märtyrer, Terrorist wie Tyrann wären, wenn auch auf unterschiedlichen energetischen Niveaus, Phänotypen unerlöster Melancholie. Und Sloterdijks Gestalt des Konsumenten 63 | Cf. Heidegger: Was heißt Denken? Tübingen 1971. S. 91. 64 | Cf. Dietmar Kamper: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Selbstfremdheit. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie. Bd. 6, 1997, Heft 1. S. 9-11. 65 | Sloterdijk: Die dichte Welt. Vortrag an der Bauhaus-Universität, Weimar. Kolleg Friedrich Nietzsche am 13.11.04.
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komplettierte nur den agonalen Reigen. Ihr stummes Martyrium aber erlöst der Märtyrer allein, in dem er alle und alles auslöscht. Als unvollkommener Transvestit, steckengeblieben in einem Zwischenstadium der Metamorphose, als monströser Hybrid des Inhumanen ist er überzeugt, das Recht und die stets heilige Pflicht zu haben, das einem Leben, das ihm das antat, irgendwie, irgendwann zu vergelten. Keine dichte Welt wird uns davor schützen. Ihr betäubendes Aroma ist von begrenzter Dauer. Und wie jedes Narkotikum wird es schal. Die Notlosigkeit, die es erwirkt, ist eine Not sehr spezieller Natur. So unfassbar, so grund- und sinnlos wie jener Überdruss, jener „Ekel“, der den überfällt, der ohne Not ist und alles hat, weil er alles hat. Aus dieser Situation führt kein Weg hinaus, sondern nur einer hinein. Wenn wir eine Chance haben wollen - und mehr können wir nicht mehr erwarten -, beruhte sie in jener Schwächung des Seins oder des Denkens, der Gianni Vattimo mit bewunderungswürdiger Insistenz das Wort redet, in jener Schwächung eines Subjekts, das einer Welt gegenübertritt, die es nicht mehr fassen kann. Schwächung des Subjekts oder, sagen wir es so, seine Konversion. Also geht man ins Kino. Deleuze jedenfalls tat es. Und was er dort sah, war erstaunlich. Verwies doch jener sensomotorische Bruch, der die Logik des Aktions-, zuletzt des Bewegungs-Bildes als Ganzes ruinierte und den konstitutiven Konnex zwischen Erkenntnis und Handlung, zwischen Theorie und Praxis zerriss, auf einen Bruch zwischen Mensch und Welt überhaupt. „Der sensomotorische Bruch macht aus dem Menschen einen Sehenden, der sich von etwas Unerträglichem in der Welt getroffen und der sich etwas Undenkbarem im Denken konfrontiert fühlt.“66 Ein Seher also, ein Visionär, den diese Welt nichts mehr angeht, auf verzweifelte Weise abgehängt von allen Umtriebigkeiten, Aktivitäten, Plänen und Vorhaben, dem sich die Dinge in ihrer ungetrübten Nützlichkeit als ganz nutzlos erweisen, dem die Dinge auf fast Kantische Weise „schön“ werden, zwecklos zweckmäßig, bedeutend deutungslos und dem endlich die Welt, aus der er sich herausgesetzt fühlt, nahe kommt als jenes bestimme Unbestimmbare, das den Dingen ihren Ort gibt wie sie selbst in den Dingen ist. Also wäre jener Bruch zwischen Perzeption und Aktion als Bruch zwischen Mensch und Welt, ausgerechnet er, die Bedingung für die Ankunft des Menschen in der Welt, seine Geburt und Wiedergeburt, seine Umkehr?67 Genau diese Paradoxie mutet Deleuze uns zu. Wenn der Demontage des Klischees, wie schwierig und zuweilen unmöglich sie auch immer scheinen mag, ein Bild entspringt, das nicht ein Bild von der Welt ergibt, sondern sie 66 | Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 221. 67 | Cf. Mirjam Engelhardt: Deleuze als Methode. Ein Seismograph für theoretische Innovationen durchgeführt an Beispielen des feministischen Diskurses. München 2008. S. 77-81.
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selbst und als solche gibt, wird diese Gabe unmittelbar einem Denken zuteil, das durch sie allererst zum Denken wird. Als gründete es nicht länger mehr in sich, als begründete Denken nicht länger Denken. Kein Denken des Denkens. Sondern ein Denken-der-Welt oder ein Denken-des-Außen.68 Denken dessen, was Denken zu denken heißt: Denken-des-Seins.69 Was Denken zu denken nötigt und zwingt, provoziert und aufruft. Woraus eine doppelte Depotenzierung dieses Denken resultiert: Weder vermag es sich selbst aus sich selbst noch vermag es die Welt selbst zu denken. Sie bleibt als dessen Grund und als solches unverfügbar. Was Deleuze im Kino entdeckt, im Kino des Zeit-Bildes, im Kino radikaler Modernität, ist eben dies: diese eine Welt nach dem Zusammenbruch der Klischees, des Weltbildes, der Phantasmagorie ihrer Hindurchsichtbarkeit, ihrer universellen Disponibilität. Was Deleuze im Kino entdeckt, ist eine Welt, die das Denken hervorruft und überfordert; ist ein Bild, das diese Welt stiftet und gibt; und ist ein Denken, das sich ohnmächtig in sich einrollt. Und diese Ohnmacht wird zur eigentlichen Macht des Denkens. Denn sie wird zum Glauben.70 Ausgerechnet Deleuze also, der Spinozist, wird ebenso einem Glauben das Wort reden, dessen kryptochristologische Signatur augenfällig ist,71 wie Heidegger dem Fragen als „Frömmigkeit des Denkens“.72 Man täusche sich nicht. Hier geht es nicht um Metaphern, Gleichnisse oder ein kokettes Spiel kurzlebiger Assoziationen. Hier geht es um Denken, um Begriffe, um Philosophie. Um eine Philosophie, die an entscheidender Stelle in den Corpus philosophicus ihm wesensfremde Bestimmungen implantiert. Und sie tut es und sie muss es tun, weil sie auf eine Erfahrung rekurriert, die mit der der philosophischen Gemeinschaften rückhaltlos bricht. Es ist die Erfahrung des Kreuzes. Es ist die Erfahrung einer Niederlage, einer Demütigung, einer Erniedrigung und einer Schmach, die kein Mensch, auch der Menschensohn nicht, tragen und ertragen könnte, ohne die kontrafaktische, kontraintuitive, kontrakognitive Absurdität eines Aktes, der die unbedingte 68 | Cf. Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens. Übers. v. Walter Seitter. Frankfurt/M. 1991. Dazu: Schaub: Gilles Deleuze im Kino. l.c. S. 244ff. 69 | Cf. Martin Heidegger: Was heißt Denken? l.c. 70 | Cf. Schaub: Gilles Deleuze im Kino l.c. S. 260ff. Auch: Dies. „Etwas Mögliches, oder ich ersticke“ – Deleuzes paradoxer Glaube an die Welt über den Umweg des Kinos. In: Journal Phänomenologie 17/2002. S. 24-31. Schaub ist u.W. die Erste, die Deleuzes Motiv des Glaubens aufgreift und ernstnimmt. Doch folgen wir ihrer formal-strukturalistischen Lesart, der wir viel verdanken, ebenso wenig wie auch der Tom Holerts: Cf. Tom Holert: Bewegung und Suspension. Zum Verhältnis von Welt und Film bei Gilles Deleuze. In: Friedrich Balke/Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie. München 1996. S. 266-275. 71 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2 l.c. S. 221ff. 72 | Cf. Heidegger: Die Frage nach der Technik. In: Vorträge und Aufsätze. l.c. S. 40.
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Machtlosigkeit als Macht sui generis enthüllte, als machtlose Macht indes in einem strengen, nichtdialektischen Sinne - als schwache Macht. Dieser Akt ist das heilige Ja zum Diesseits. Dieser Akt ist der Glaube, der revolutionäre, der messianische Glaube an eine Welt, die sich nicht fassen und die sich nicht denken lässt. Ein absurder Glaube vielleicht, so absurd jedenfalls wie ein „Glaube als ein Denken des Undenkbaren“.73 Ein absurder Glaube vielleicht, in jedem Fall aber ein Glauben des Glaubens, ein Glaube an und durch den Glauben: „ich glaube, dass ich glaube.“74 Weshalb dieser Glaube vielleicht absurd, in jedem Fall aber „performativ“ wäre. Er wäre das Urmuster des Performativen schlechthin: eine Art Software, die das, was sie beschreibt, hervorbringt. Wie eine Beziehung zu einer Welt, die erst möglich ist, wenn sie abbricht. „Das Band zwischen Mensch und Welt ist zerrissen. Folglich muss dieses Band zum Gegenstand des Glaubens werden: es ist das Unmögliche, das nicht anders als in einer Glaubenshaltung zurückkehren kann. Der Glaube richtet sich nicht an eine andere oder verwandelte Welt. Der Mensch ist in der Welt wie in einer rein optischen-akustischen Situation. Die dem Menschen verlorengegangene Reaktion kann einzig durch den Glauben ersetzt werden. Allein der Glaube vermag den Menschen an das zurückzubinden, was er sieht und hört. Von daher ist es notwendig, dass das Kino nicht die Welt filmt, sondern den Glauben an die Welt, unser einziges Band.“75 Unser einziges Band, das aber nur möglich ist, ist es gerissen. Die Beziehung des Menschen zur Welt, weit gefehlt, sie in einem Akt konservativer Restauration schlicht wiederherstellen zu wollen, ist seine Trennung von ihr. Und die Diskonjunktion, bislang eingeführt als hermeneutisches Verfahren der produktiven Lektüre diskreter, verschränkter Sinnelemente, verweist nun auf ihr Fundamentum in re, auf eine Ontologie des Diskonjunktion: die Beziehung als Trennung, die Trennung als Beziehung zwischen Mensch und Welt, zwischen Ich und Sein. Darum geht es! Um diese Konversion einer Melancholie und eines Melancholikers, der sie nicht erstickt (Souverän) so wenig wie an ihr (Märtyrer). Hatte Paulus, der bekehrte Bekehrer, der Priester-Rabbi und treueste Abrahamit, je etwas anderes im Sinn? 5. So glauben wir an die Welt? Wenn das so einfach wäre. Also gehen wir lieber ins Kino, ins Lichtspielhaus. „Uns den Glauben an die Welt zurückzugeben dies ist die Macht des modernen Kinos (wenn es kein schlechtes mehr ist). Ob wir Christen oder Atheisten sind: in unserer universellen Schizophrenie brauchen wir Gründe, um an diese Welt zu glauben. Das bedeutet eine regelrech73 | Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2 l.c. S. 223. 74 | Vattimo: Glauben – Philosophieren. Übers. v. Ch. Schulz. Stuttgart 1997. S. 76. 75 | Ebd. S. 224.
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te Konversion. Es bedeutete schon eine große Wende in der Philosophie von Pascal bis Nietzsche, das Modell des Wissens durch den Glauben zu ersetzen. Doch der Glaube ersetzt das Wissen nur, indem es sich zum Glauben an diese Welt, so wie sie ist, macht.“76 So wie sie ist. Das ist die ganze Schwierigkeit: zu sagen „wie sie ist“. Einfach nur sagen, nennen, zeigen, sprechen. Einfach nur: Beckett hat mit grotesker Intensität spüren lassen, wie schwierig dieses Einfache ist. Zu sagen, was der Fall ist, zu sagen, wie die Welt ist. Und so, wie sie ist, ist sie unerträglich, unfassbar, undenkbar. Was Deleuze, der Leser Becketts, von ihr zu sagen hätte, wäre allenfalls dies: Sie ist nicht länger mehr jenes Ganze im Sinne einer jedwedes Besondere unter sich subsumierenden Totalität; sie ist Ursprung des Denkens als dasjenige, was Denken heißt; sie ist Begrenzung des Denkens als dasjenige, was Denken nicht einholen und nicht auflösen kann; und sie schiebt sich wie eine dunkle Materie zwischen jene unheimliche Dyade reflexiver Egologie, zwischen das Doppel- und Spiegelgängertum eines sich mit sich alliierenden Ich.77 Doch wer jener Andere sei, jener „andere Denker im Denker“, so Deleuze, der den Monolog eines denkenden Ich zerbräche?78 Wer wäre dieser Andere? Und in welchem Verhältnis stünde er zur Welt? Und zu welcher? Zu meiner, zu seiner? Geteilte Welt, geteilter Himmel… Und vielleicht ist Welt immer nur möglich als abermals geteilte. Vielleicht ist die eine Welt, die für jeden die eine ist, die seine, eine durch Andere und mit Anderen geteilte. Wie man Brot teilt, um es zu verteilen, wie man Brot teilt, um abzugeben. Vielleicht. Und doch bleibt rätselhaft, wer als anderer Denker den Denker heimsucht und warum. Und doch bleibt fragwürdig, welcher unendliche, welcher ununterbrochene Dialog im Denker statthat, ohne in die eloquente Eintracht eines inneren Monologs zu münden wie in jenes Gemurmel, das, hat es einmal begonnen, nicht mehr aufhört. Das wäre die Hölle. Die Hölle, das ist der Andere, der ich ist und nur ich: die einsamste Stunde. Der Andere aber als Anderer, als Anderer-in-mir, der nicht ein anderes Ich, sondern anders wäre als ich, er wäre vielleicht niemand anderes als der Tote, dessen Tod untröstlich macht. Die Trauerarbeit wäre unendlich. Das ist Melancholie.79 In einem Text, der dem verstorbenen Hans-Georg Gadamer gewidmet war, verbindet Jacques Derrida Melancholie mit Ethik. Denn wenn Ethik, wie Lévinas lehrte, als fundamentales Ereignis der Beziehung zu einem Anderen gedacht werden müsse, dessen Anderheit sich dem Zugriff des Ego 76 | Ebd. 77 | Cf. ebd. S. 243. 78 | Cf. ebd. S. 219. 79 | Cf. Jacques Derrida: Kraft der Trauer. Die Macht des Bildes bei Louis Marin. Übers. v. Michael Wetzel. In: Michael Wetzel/Herta Wolf (Hg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten. München 1994. S. 13-35. Bes: S. 14f.
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sperrt, wird jede Trauerarbeit, die mit dem Anderen als dem Toten fertig werden, die mit dem Tod des Anderen abschließen möchte, zu einem Frevel und zu einem Verrat. „Doch wenn ich den anderen in mir tragen muss (darin besteht Ethik), um ihm treu zu sein, um seine einzigartige Alterität zu respektieren, dann muss sich noch eine gewisse Melancholie gegen die übliche Trauer auflehnen.“80 Eine gewisse Melancholie gegen die übliche Trauer und gegen die übliche Trauerarbeit, umwillen eines Dialogs mit ihm und mit ihr, den teuren Toten, umwillen einer Zwiesprache, die mit dem Tod nicht endet, sondern in gewisser Weise allererst beginnt. „Also bedarf es der Melancholie.“81 Wir müssen alle Zeit damit rechnen, dass diese Welt von Toten bevölkert ist. Von „unseren Toten“, so wie „wir“, die kommenden Toten, die Toten von Anderen sein werden. Und wenn Heidegger in einer betörenden, über alle Maßen faszinierenden Meditation - in der das Denken selbst zum Gesang werden will! - diese Welt in die Einfalt ihres Gevierts entfaltet, wenn er den Himmel und die Erde, die Göttlichen und die Sterblichen als deren Dimensionen feiert und preist und ehrt, dann verstört, schockiert, empört doch mehr und mehr der Ausschluss der Toten: Wo, in Gottes Namen, sollen denn die Toten auf und in dieser Welt ihren Platz haben? Im Kino ganz gewiss. Dem Kino François Truffauts,82 dem Kino Alain Resnais’,83 dem Fernsehen Edgar Reiz’,84 dem Kino Atom Egoyans,85 dem Kino Naomi Kawases,86 dem Kino Alejandro González Iñárritus,87 dem Kino Susanne Biers.88 Es ist kein Kino, in dem das Ich seinen eigenen Tod überlebt zu haben scheint.89 Es ist das Kino, in dem das Ich den anderen Tod zu überleben hat. In dem dieses Ich, ich, von einem Tod belagert wird, heimge80 | Derrida: Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht. Übers. v. Martin Gessmann, Christine Ott, Felix Wiesler. In: Ders. u. Hans Georg Gadamer: Der ununterbrochene Dialog. Frankfurt/M. 2004. S. 46. 81 | Ebd. 82 | François Truffaut: Das grüne Zimmer. Frankreich 1978. 83 | Alain Resnais: Hiroshima, mon amour. Frankreich, Japan 1959. 84 | Edgar Reiz: Heimat – Eine deutsche Chronik. Folge 11: Das Fest der Lebenden und der Toten. Herbst 1982 und Rückblenden. Deutschland 1981/84. 85 | Atom Egoyan: Das süße Jenseits. Kanada 1997. 86 | Naomi Kawase: Der Wald der Trauer. Japan 2007. 87 | Alejandro González Iñárritu: 21 Gramm. USA 2003. 88 | Susanne Bier: Things We Lost in the Fire. USA, GB 2007. Dies. In einer besseren Welt. Dän 2012. 89 | Cf. Thomas Elsaesser: Was wäre, wenn du schon tot bist? Vom „postmodernen“ zum „post-mortem“-Kino am Beispiel von Christopher Nolans MEMENTO. In: Christine Rüffert (Hg.): Zeitsprünge. Wie Filme Geschicht(n) erzählen. Berlin 2004. S. 115125.
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sucht und verfolgt, von Toten, die sich mir aufdrängen und die willkommen zu heißen ich geheißen bin. Als wäre es das Mindeste, das man schuldig bleibt, immer, das Dringliche, der Humus des Humanen selbst. Es ist das Kino der Lebenden und der Toten.
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3. Wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand Zur Kinematographie der Zwischengesichtigkeit bei Yasujiro Ozu
„Was ich mache, ist negative Arbeit. Man muss etwas machen, indem man es zunichte macht. Alles muss erneut verschwinden. Man muss den Mut haben, den endgültigen Pinselstrich zu ziehen, der alles verschwinden lässt.“ Giacometti „Eine Horrorgeschichte, das Gesicht ist eine Horrorgeschichte.“ Deleuze/Guattari „Allein sein, mit leerem Kopf und ohne Erinnerungen, am Meeresufer … So allein, so abwesend und so gegenwärtig sein, wie ein dunkelhäutiger Eingeborener auf dem Sand in der Sonne … Weit, weit weg, als ob er auf einem anderen Planeten gelandet wäre, wie ein Mensch nach dem Tode …“ D.H. Lawrence
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1. Noch immer erteilte uns der Inhumanismus Lektionen? Die Inhumanität, die Unmenschlichkeit selbst? Die ganze Kälte einer Welt, in der der Mensch, ausgerüstet und gerüstet mit seinem keineswegs wohlfeilen Erbe der Intelligenz, der wahren, der guten und schönen Intelligenz, an Bedeutung verlöre bis zur offenbaren Irrelevanz? Die vereisten Horizonte, dieser Kälteschock nahe am absoluten Minimum der Skala, spiegelten die Erstarrung jener Verhältnisse, die einst menschlicher Opportunität gemäß als manipulierbar galten. Doch längst scheinen Glieder und Hände erfroren zu sein, längst schon friste jener Homo Homini Homo eine nurmehr statuarische Existenz am Rande planetarer Aufmerksamkeit. Wenn er der Welt nichts mehr bedeute: Was bedeutet ihm dann noch die Welt? Nichts mehr, will es scheinen. Und er trollt sich. Allenfalls ein leises Zittern durchläuft manchmal den Leib, kaum sichtbar und nur dem geschulten Auge kenntlich, eine sachte Vibration wie eine letzte Unartigkeit gegen den Stand der Dinge. Doch auch das vergeht. Im Winde klirren nicht nur die Fahnen. Aber wenn der Inhumanismus uns heutzutage noch Lektionen erteilte, dann doch vorab die jener wirkmächtigen Evidenzen einer Autoimmunisierung, die die Entropie des Humanen rasch zum binnenatmosphärisch wohltemperierten Biotop ummodelt. Design als Klimamanagement wäre jenes neobuddhistische Exerzitium, eine Art entspannter Behaglichkeit selbst und gerade an jenen Orten zu etablieren, die uns frösteln machen. Das Abrakadabra des Nähe-Zaubers verscheuchte so die Dämonen der Frigidität. Wenn sich Menschenleib an Menschenleib reibe, entstünde nämlich zweierlei: Bewegungsarmut und Wärme. Während jene vor Handlungen, also auch unbedachten, sprich Verletzungen schütze, müsse diese vor ihrer jederzeit möglichen Eskalation bis zur erogenen Hitzewallung bewahrt und klug ausbalanciert werden. Alles eine Frage der Lüftung also, der Zufuhr des guten Gases, das uns atmen lässt, das angenehm riecht und nicht zu kalt und nicht zu warm sein darf. Schwüle wäre zu vermeiden, Föhn ebenso wie Väterchen Frost: ein ganzes Arsenal meteorologischer Feinjustierungen wäre vonnöten, eine „Sphäre“ aufzublasen, deren lebensfreundlicher Innenraum gegen das lebensfeindliche Außen abgedichtet wird. Doch hat diese Hermetik ihren Preis. Als würden wir manchmal erwachen, um um uns zu blicken und verblüfft zu bemerken, dass wir unter einer Haube auf einem fremden Planeten hausten, auf dem wir nichts verloren hätten. Auf einem fremd gewordenen Planeten … Trösten die erkünstelten Welten über den Verlust der Welt hinweg? Tröstet die psychotechnisch prästabilisierte Paarbeziehung über den Verlust jenes Anderen hinweg, an dessen Leben mir mehr gelegen wäre als an meinem eigenen und dessen Tod mich mehr kränkte als mein eigener? Die Intersubjektivität, die der Intimität wie der Kommunikation gleichermaßen, gleichermaßen, obschon unterm Rubrum umgekehrter Vorzeichen, ausgeklügelte Strategeme
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der Autoimmunität, entschärfte jenen Taumel nahe am Abgrund einer ethischen Gewalt, an der wir jederzeit zuschanden zu gehen drohen. Und doch wäre dieser Taumel, dieses fundamentalethische Delirium nur eine andere Weise zu tanzen. Nicht mehr gehen, noch nicht fliegen. Nennen wir es Glück. Wollen wir also allen Ernstes getröstet werden und behütet? Der Inhumanismus andererseits hat noch eine zweite Lektion parat. Der Humanismus, jene große, bis dato anhaltende Polemik um den Stand und den Status des Menschen, seine Potenzen, seine Herkunft, sein Zweck, steht in Gefahr zu scheitern – und ist er das nicht schon längst? - nicht oder nicht nur aufgrund einer nur ungenügenden Verwirklichung seiner überaus kühnen Prospektiven: der Zivilisierung, der Humanisierung, der Domestikation jener Bestialität, in der die Bestie die Bestie reißt. Nein, dem Humanismus, so der ungeheuerliche Verdacht, schlug der eigene Erfolg zum eklatanten Unheil aus. Sein Triumph gebar das Inhumane, jenes System, jene Institution, jenen Apparat wohlorganisierter Raserei, eines Kannibalismus, der das Fleisch nicht verdaut, sondern zu Staub macht. Von der Gouvernementalität demopolitischer Fürsorglichkeit bis zur Bio-Politik des der exekutiven Behandlung untermittelbar unterstellten Daseins gäbe es also ein Kontinuum zunehmender Übergriffigkeit bürokratischer Normierung. Das total verwaltete Leben aber ist keines mehr. Der Humanismus bedarf des Menschen nicht; nicht des leibhaftigen, nicht des lebendigen. Die Ordnungen der Vernichtung – und vielleicht war es das, was Hannah Arendt mit ihrem mokanten Widerwort von der „Banalität des Bösen“ zu sagen versuchte – waren also nicht a- und nicht inhuman, sondern anti-human. Eine Verkehrung und Umkehrung, eine Perversion des Humanismus, die dessen Matrix voraussetzte und geschickt zu nutzen verstand, die dessen Axiologie ebenso ausbeutete wie konsequent vollendete. Der Inhumanismus, das wäre die dritte Lektion, die uns hier und heute aufgegeben wäre, die dritte und die vielleicht letzte, gewiss aber die schwerste und am schwierigsten zu erlernende, erschiene dann als Versuch, genau dieser Fatalität zu entkommen. Gegen den Inhumanismus des Apparats erstände ein Inhumanismus der Seele oder die Seele selbst, eine Ethik, eine Passibilität, eine ganze Politik der Diskonjunktion. Wenn der Mensch mehr ist als er ist und mehr zu sein hat, um Mensch zu sein, bedarf es eines Bezugs zu einer Heterologie, zu einer irreduziblen Anderheit, die vor dem kategorialen Gefüge des überlieferten Humanismus, der dem Menschen ein Wesen zuschreibt und seine Würde als Wert deklariert, nicht haltmacht und machen kann. Die dieses Gefüge attackiert. Dass also der Mensch verschwinde wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand, Michel Foucaults epochale und die Topographie dieser Epoche auf noch unabsehbare Weise entsichernde Trope, begänne vor diesem Hintergrund zu erzittern. Zu flimmern wie eine nur vage fassbare Spiegelung. Als wäre sie das Unterpfand einer kommenden, einer nahenden Humanität. Advent einer Humanität eines
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anderen Humanen und eines anders als human. Machen wir also den Versuch, einmal mehr, es auszulösen. 2. Machen wir einen Versuch auf das Gesicht. Sein Verschwinden, im Sand, am Meeresufer, metaphorisierte womöglich nicht nur nicht den Tod des Menschen, wahlweise des Subjekts, der Aufklärung, der Zivilisation, sondern seinen Tod als Geburt von etwas anderem, von etwas, für das bis auf weiteres die Worte fehlen. Das Verschwinden als Emanzipation? Womöglich gehen wir zu weit; womöglich nicht weit genug. Der Tod des Menschen jedenfalls, sein Verschwinden, das Verschwinden des Gesichts harren einer Lektüre, einer rückhaltlos bejahenden und eben deshalb radikalen Lektüre der Verwandlung, der Konversion, die beim Gesicht, so wie es sich zeigt, nicht stumm verweilte, sondern im Verschwinden und Verschwinden-Machen des Gesichts das Gesicht zu wahren suchte. Seine Auswischung und Verwischung, seine Auflösung und Dekonturierung gehörten auch auf die Gefahr seiner Chaotisierung, seiner Zerrüttung, des Verrücktwerdens zu den unhintergehbaren Konditionen der Möglichkeit des Gesichts selbst, seiner Gesichtigkeit. Aber vielleicht metaphorisierte das Gesicht, das Drama dieses Gesichts im Sand, nichts, gar nichts als nur das Gesicht selbst? Woher es komme? Was sein Schicksal wäre? Man könnte vorab festhalten, dass die Gesichtwerdung der Menschheit an gewisse mediale, ästhetische und technische Bedingungen geknüpft sei.1 Dass auf steinzeitlichen Höhlenmalereien die Darstellung
1 | Cf. Peter Sloterdijk: Sphären I: Blasen. Frankfurt/M. 1998. Kpt. 2: Zwischen Gesichtern. Zum Auftauchen der interfazialen Intimsphäre. S. 141-209. Thomas Macho: Vision und Visage. Überlegungen zu einer Faszinationsgeschichte der Medien. In: Wolfgang Müller-Funk/Hans Ulrich Reck (Hg.): Inszenierte Imaginationen. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien. Wien, New York 1996. S. 87-108. Christa Blümlinger/Karl Sierek (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes. Wien 2002. Gunnar Schmidt: Das Gesicht. Eine Mediengeschichte. München 2003. Frank Böckelmann/Walter Seitter (Hg.): „Gesichtermoden“. Tumult – Schriften zur Verkehrswissenschaft, Nr. 31, Berlin 2007. Hermann Weber: Von einem Antlitz. In: http://www. weberhermann.de/Texte/Angermeyer.pdf. Georg Simmel: Die ästhetische Bedeutung des Gesichts. In: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Bd. 1. Gesamtausgabe Bd. 7. Frankfurt/M. 1995. S. 36-42. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Körper – Bild – Medium. München 2000. Joanna Barck/Petra Löffler: Gesichter des Films. Bielefeld 2005. Jacques Aumont: Du visage au cinéma. Paris 1992. Helga Gläser/Bernhard Groß/Hermann Kappelhoff (Hg.): Blick-Macht-Gesicht. Berlin 2001. Petra Löffler/Leander Scholz (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation. Köln 2004. Gerburg Treusch-Dieter/Thomas Macho (Hg.): Medium Gesicht. Die faciale Gesellschaft. Ästhetik und Kommunikation, Nr. 94/95. Berlin 1996.
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menschlicher Gesichter bislang noch nicht gesichtet wurde.2 Und dass das Gesicht in der Epoche seiner faziometrischen Feststellbarkeit zum vorläufig primären polizeilichen Identifikationsmerkmal avancierte, das längst nicht mehr nur durch sinnliche Anschauung, sondern durch digitale Ausrechnung funktioniert. Die Phylogenese der Gesichtwerdung erzählte die Geschichte der Immatrikulation des Gesichts in die Ordnung einer Sichtbarkeit, der es durch seinen ihm rasch zugewiesenen Adel vorstehen sollte, um als primärer Ausweis humaner Selbstpräsenz wie als privilegierter Träger physiognomischer Semantik3 Karriere zu machen. Festzuhalten aber bliebe auch, dass gleichsam gegenläufig zu diesem Alpha und Omega der Faziogenese, die in der Verschränkung transzendentaler Subjektivität wie empirischer Personalität kulminiert, mithin in der Idee und Praktik der unanfechtbaren Identität des Menschen, das Gesicht stets zugleich irritierender Schauplatz einer Nichtidentität war, in der das eine Gesicht dem anderen kraft Verwandtschaft oder Mimesis, durch autoplastische oder chirurgische Manipulation oder einfach nur aus Zufall glich. Gesichter sind Unikate und Doubletten zugleich: prinzipiell unverwechselbar durch genau zu lokalisierende Merkmale ihrer Identität; prinzipiell verwechselbar durch die verwirrenden Merkmale ihrer Ähnlichkeit.4 Der fazialen Identifizierbarkeit des total gesichteten Gesichts korrespondierte das faziale Neutrum, diese stets erschreckende, stets lockende Unheimlichkeit eines gesichtigen Ungesichts. Dessen „nächtliche Ähnlichkeit“ Maurice Blanchot im zerschlagenen Antlitz der Heiligen Elisabeth von Bamberg zu entdecken glaubte;5 dessen nächtliche Ähnlichkeit von der weißen Gesichtsmaske des Mörders in John Carpenters „Halloween“ entgegenstrahlt, um den Horror einer Geschichte des Gesichts als Ungesicht ins Unerträgliche zu treiben. Diese Ungesichte des Grauens und der Schönheit wären das paradoxe Pendant zu jener Faziometrie, in der das Drama der Gesichtigkeit des Menschen zum Abschluss gekommen und stillgestellt zu sein scheint. Als hätte das Gesicht, jedes Gesicht, zwei Gesichter. Und vielleicht erzählt Rilke in jener aufwühlenden Passage seiner „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ ihre Geschichte. Hören wir zu: „Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen, vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke rue Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an,
2 | Sloterdijk: Sphären I: Blasen. l.c. S. 174. 3 | Cf. Klaas Huizing: Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie. Gütersloh 1992. 4 | Cf. Georges Didi-Huberman: Der Tod und das Mädchen. In: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung. Nr. 9, Oktober 2004. S. 27-37. bes. S. 29-31. 5 | Cf. Maurice Blanchot: Le musée, l’art et le temps. In: L’Amitie. Paris 1971. S. 45. Dazu: Didi-Huberman: Der Tod und das Mädchen.. l.c. S. 29.
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(Abb. 6 - Die Heilige Elisabeth von Bamberg) leise zu gehen, sowie ich sie gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein. Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so dass das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute, ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.“6 Seltsames Oszillieren zwischen zwei Ressourcen des Schreckens, zwischen der maskenhaften Hohlform eines Gesichts und dieser Wunde, dieser makellos gesichtslosen Wunde, jenseits noch der Entblößung. Seltsame Amplitude der Ängste, die sich zu überlagern scheinen, als ob die eine Angst nur dazu da wäre, die andere, schlimmere, nicht ertragen zu müssen. Die abgelöste Matrize fungierte wie eine Art Deckangst, wie durch ihre Gegenständlichkeit gebundene Furcht, um dieses ganz und gar Unfassbare, die namen-, die gesichtslose Angst eines Kopfes ohne Gesicht zu überlagern. Die Episode erforderte gewiss 6 | Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Werke. Bd. 5. Frankfurt/M. 31984. S. 112. Dazu: Silvia Henke: Die Rhetorik der Blindheit als Trauerarbeit im Sichtbaren bei Derrida und Rilke. In: Hans-Joachim Lenger/Georg Christoph Tholen (Hg.): Mnema. Derrida zum Andenken. Bielefeld 2007. S. 157-169.
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eine intensivere Lektüre, gewiss auch den Abgleich mit jenen eher manierlichen Überlegungen zum Tragen und Abnutzen von Gesichtern auf der Unterlage eines „Nichtgesichts“, die im gedämpften Ton des Erzählers unmittelbar zuvor angestellt werden. Der wunde Kopf ohne Gesicht, der Kopf als Wunde, das durch eine jähe Zerstörung, ein Zerreißen und Abreißen entstandene Ungesicht unterschiede sich in mehrerlei Hinsicht von jenem „Nichtgesicht“, auf das die Menschen, so der Erzähler, ihre Gesichter auftrügen, um sie durch Gebrauch abzunützen. Die Episode mit der Frau, eingeleitet durch ein „Aber“, augenfällig skandiert und dramatisiert durch eine Wiederholung „Aber die Frau, die Frau“, verweist in ein offenbares Jenseits von Gesicht und Nichtgesicht, Offenbarung und Apokalypse, Apokalypse und Katastrophe des Gesichts in einem, die das absolute Neutrum der Fazialität enthüllte, den absoluten Schrecken, die absolute Faszination, die nichts und niemand mehr zu fassen, geschweige denn zu ertragen vermöchte. Muss man also dem Grauen, wie Marlon Brando in „Apokalypse Now“7 in einigen maßgeblichen Worten sagt, einen Namen und ein Gesicht geben, weil man jenes andere Grauen, das ohne Namen und ohne Gesicht ist, um nichts in der Welt aushielte? Wäre die Enthüllung dieses Grauens schrecklicher noch als schrecklich, nämlich tödlich? Doch was wäre damit gewonnen? Womöglich noch nicht allzu viel. Womöglich schon ein Indiz, dass es mit dem Gesicht ein eigentümliches Bewenden habe, dass seine Geschichte noch längst nicht abgeschlossen und geschrieben ist und dass das Gesicht seit unvordenklich langer Zeit auf der Suche nach seinem Gesicht zu sein scheint, seinem verlorenen Gesicht. Jedenfalls wären das fast die Worte Antonin Artauds, dessen wunde Gesichtszüge etwas vom Martyrium fazialer Nacktheit offenbaren, das in den hochglänzenden Gesichtspornographien, die einem aus jedem Augenwinkel entgegenkippen, auf durchaus tückische Weise verraten wird. Artaud, der übrigens in jenem Film Carl Theodor Dreyers, „Die Passion der Jeanne d’Arc“, in der Gestalt eines Priesters kurz zu sehen ist, der erstmals wohl mit solcher Wucht, mit solcher Intensität das Gesicht zur Tribüne des filmischen Dramas selbst herrichtete, wird in einem bemerkenswerten Text von 1947, anlässlich einer Ausstellung seiner Zeichnungen, jedenfalls davon sprechen, dass das „menschliche Gesicht sein Gesicht noch nicht gefunden“8 habe. Und er konkretisiert: dass das menschliche Gesicht sein Gesicht noch nicht gefunden habe, es aber am Maler sei, es ihm zu geben. Dem Maler also obliege, das Gesicht zu retten, und zwar vor nichts Geringerem als dem Tod. Was bedeute, dass das Gesicht, so, wie es heutzutage ist, todverfallen sei, eine 7 | Francis Ford Coppola: Apocalypse Now. USA 1976-79. 8 | Antonin Artaud: Das menschliche Gesicht. Übers. v. Bernd Mattheus. In: Bernd Mattheus/Cathrin Pichler (Hg.): Über Artaud. Wien, München 2002. S. 207-209. Hier: S. 207.
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(Abb. 7 - Filmstill aus John Carpenter: Halloween – Die Nacht des Grauens, USA 1978) „leere Kraft“, ein „Todesfeld“; was bedeute, dass das Gesicht lebt, leben wird, hat es dank und durch den Maler sein Gesicht gefunden. Aber wie? Und vor allem: durch welchen Maler? Artaud wird deutlicher und, wie immer bei solchem Anlass, polemisch: sich und Dubuffet,9 vor allem aber Van Gogh gegen jedweden Vorwurf des Akademismus verwahrend, der augenscheinlich den, der darauf bestehe, die „Züge des menschlichen Gesichts so wiederzugeben, wie sie sind“,10 träfe, errette der Maler das Gesicht von seinem ewigen Tod, indem er ihm „seine eigenen Züge“11 verleihe. Und unter der Hand revanchiert sich Artaud für den Vorwurf des Akademismus, indem er ihn stante pedes zurückreicht: in der Kunstgeschichte von Holbein bis Ingres gäbe es keinen Maler, dem es gelungen sei, das Gesicht zum Sprechen zu bringen. Also hieße für den Maler, das Gesicht zum Sprechen zu bringen, in ihm die eigenen Züge einzutragen? Was aber bedeutete das? Und was für ein Sprechen wäre das? Und in welcher Sprache? Und was sagte es, das Gesicht, und zu wem? Gesetzt, es sagte überhaupt etwas und nicht nichts. Gesetzt, sein Sagen wäre das Sagen selbst, die reine, direkte Rede vor allem Gesprochenen und Aussprechbaren, die sich rein, direkt an ihn wendete: den Maler, der, im Feld des Sichtbaren, für 9 | Cf. Artaud: Handschriftliche und von der gedruckten Fassung abweichende Version von „Das menschliche Gesicht“ in: Artaud: Dessins. Paris 1987. S. 44. 10 | Artaud: Das menschliche Gesicht. l.c. S. 207. 11 | Ebd.
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(Abb. 8 - Antonin Artaud)
einen Anspruch ganz Ohr würde, für den die Akademiker längst taub seien. Alle Akademiker: die Klassiker, die dem Figurativen, besonders dem Portrait verpflichteten Künstler nicht minder wie die der Abstraktion zugewandten Modernen, die sich der Aufgabe des Gesichts erst gar nicht mehr stellten. Alle Akademiker und dem Akademismus verfallene Maler: mit einer einzigen Ausnahme (fast jedenfalls): Van Gogh, der Selbstmörder der und durch die Gesellschaft, bricht, gemäß Artauds delirierendem Kommentar, augenfällig mit diesem Akademismus okularer Taubheit gegenüber dem Gesicht. Hören wir zu: „Einzig van Gogh hat es verstanden, von einem menschlichen Kopf ein Portrait zu entwerfen, das die explosive Rakete eines zersprungenen Herzens ist.“12 Was für ein merkwürdiges Bild! Bild für ein Bild, für ein Portrait, das eine „explosive Rakete eines zersprungenen Herzens“ sei; und Artaud fügt hinzu: „Das seine.“,13 das Van Goghs. Wie auch immer sonst man diese Wendung auslesen mag, sie akzentuiert offensichtlich eine spezielle Relation zwischen Portrait, Portraitiertem und Portraitierendem. Eine Relation, in der das Gesicht zu sprechen begänne – um dabei, so Artaud ein wenig später, das „Geheimnis einer alten menschlichen Geschichte“14 auszusprechen –, und der Maler wiederum ihm seine Züge verliehe. Eine sehr spezielle Relation zwischen 12 | Ebd. S. 208. 13 | Ebd. 14 | Ebd.
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(Abb. 9 - Vincent Van Gogh: Selbstportrait) dem fast lautlosen Anspruch eines Gesichts, dessen Möglichkeit und Vernehmbarkeit vielleicht etwas mit einem Herzen zu tun hat, das nicht mehr eins ist, gebrochen, zersprungen wie Panzerglas und der explosiven Respondenz eines Portraits als Projektil, von dem niemand zu sagen wüsste, wo genau und wann es einschlüge, welchen Ort, welche Landschaft und Gesichtslandschaft es verwüstete. Eine sehr spezielle Relation in jedem Fall, in der das Gesicht kein Gegenüber oder Vis-à-vis mehr wäre, kein Objekt einer piktoralen Mimesis, die die Person oder die Personalität des Menschen selbst bezeugte, sondern die Menschlichkeit des Menschen als primäres Bezogensein offenbarte, als „Von-Angesicht-zu-Angesicht“, wie Lévinas, auf den wir noch zu sprechen kommen werden, sagen würde. Eine sehr spezielle Relation, in der das Wesen des Gesichts durch die Relation und als Relation sich offenbarte, als reiner „Bezug auf…“, der in jeder Form faziometrischer Darstellbarkeit immer schon ausgelöscht wurde. Weshalb das faziale Neutrum, das Ungesicht, die Dekonturen des ausgewischten Gesichts, sich nicht nur, gleichsam horizontal, kraft jener nächtlichen Ähnlichkeit mit den Konturen aller anderen Gesichter auflüde, sondern zugleich die ganze Tiefe des Bezugs zwischen Gesichtern auslotete, von denen das eine das eine des anderen ist. Die ganze Tiefe oder eben jene Dimension, von der Merleau-Ponty einmal sagte, sie wäre keine von oben gesehene Breite mehr.15 Keine euklidische Ordnung zwischen im geometrischen Raum situierten Elementen, sondern die ganze Tiefe einer 15 | Cf. Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. In: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Übers. v. Hans Werner Arndt. Hamburg 1984. S. 26f, 33f.
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(Abb. 10 - Antonin Artaud: Selbstportrait) Beziehung, die „Ich“ zu einem „Dies-da“ habe, das sich mir als Gesicht offenbart. Beziehung, die nicht nachträglich hinzutritt, sondern ihre Pole als solche erst hervorbrächte. Also ginge es, wenn es um das Gesicht geht, um eine Rede und ein Sprechen selbst, das vom Gesicht des Anderen mir entgegenschlägt und mich in eben diesem Moment trifft, in dem ich noch weit entfernt wäre, ihm als Gegenüber gegenübertreten und es auf jenen Abstand verpflichten zu können, der mir die pikturale Ausmessung und semantische Aufladung seiner Merkmale gestattete. Wir haben diese Beziehung „Passibilität“ genannt, um jenem fundamentalen Ereignis Raum zu geben, das in den Gebilden und Bildern zu seinem Widerhall und einer eigentümlichen Form der Stabilität findet, zur Wiederholbarkeit einer dieses eine Mal stattgehabt habenden Singularität, zur Wiederholung eines Nichtwiederholbaren, dessen Nichtwiederholbarkeit wiederholt wird und wieder und wieder wiederholt werden kann und muss. Wäre Artauds „explosive Rakete eines zersprungenen Herzens“ die, wie immer, unbeholfene, die, wie immer, wortwörtliche Metaphorisierung dieses Widerhalls der Passibilität als Passibilität selbst? Als Schleifspur eines Ereignisses, dessen Einmaligkeit sich gleichsam in die Zeit dehnt, sich in die Zeit streckt und zu einer Dauer wird, deren Unabgeltbarkeit nichts anderes wäre als elementarer Ausdruck der Passibilität selbst? Wie ein Echo, das von Mal zu Mal lauter wird, wie ein Trauma, dessen Wirkmacht zunimmt, je mehr Zeit verstrichen scheint, verwirklichte der Widerhall je und nur das Ereignis selbst, das nicht in die Zeit versinkt, sondern sich in und als Zeit ereignet, als Passibilität. Die Explo-
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sivität dieser Trope indes verwiese noch auf einen anderen Aspekt: den der Aggressivität, ja Destruktivität. Um zum Gesicht zu kommen, zum Ereignis des Gesichts in seiner offenbaren Verborgenheit, um zu jener Tiefe zu gelangen, die durch dessen faziometrische Repräsentation immer schon verstellt ist, bedarf es des rohen, des brutalen Zugriffs, der ganzen Grausamkeit eines Stoßes, eines Stichs, eines Schlags, um den Anspruch des Gesichts zu Gehör bringen und empfangen zu können. Anspruch wie ein Schlag ins Gesicht… Die Entstellung des Gesichts, die Entstellung der Entstellung, begänne also mit seiner Auflösung, der Zersetzung jener Ordnung und Organisation des Gesichts als prägnantes Indiz der Person, seiner Personalität, seiner Identität, seiner Selbstpräsenz und Selbsthabe. Sie begänne mit der Zersetzung des Gesichts selbst. Seine Erscheinung zu verwischen, sein Verschwinden, ermöglichte allererst den stets prekären Augenblick seiner Diaphanie, die nicht mehr dem Raum der Präsenz und Repräsentanz angehört so wenig wie dem des Voluntarismus oder der Erkenntnis. Ebenso wenig übrigens gehörte das Portrait im Sinne Artauds, die Protraktion der Diaphanie des Gesichts, noch dem Raum der Kunstgeschichtsschreibung an und auch nicht dem der Kunst und des Kunstwerks. Der Krieg gegen den Akademismus, den man Artaud vorhalten zu können glaubte, spitzt sich zu: „Übrigens habe ich in allen Zeichnungen, die man hier sehen wird, endgültig mit Kunst, Stil oder Talent gebrochen. Ich meine, wehe dem, der sie als Kunstwerke, Werke ästhetischer Simulation der Wirklichkeit begreifen würde. Keine ist streng genommen ein Werk. Alle sind Entwürfe, ich meine Stichproben oder Hiebe in alle Richtungen des Zufalls, der Möglichkeiten, des Glücks oder des Schicksals.“16 Natürlich wird Jacques Derrida diesen Faden aufnehmen, wenn er auf Artaud zu sprechen kommt, auf das Gesicht und die Gesichter Artauds. Anlässlich einer Ausstellungseröffnung seiner Bilder und Zeichnungen im Museum of Modern Art in New York 1996, ausgerechnet an diesem Ort, der wie kein zweiter den Kanon der Kunstgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts fixierte, wird Derrida dem Motiv des Schlags nachspüren.17 Der Vielschichtigkeit seiner Ausführungen werden wir nicht folgen und folgen können, doch sei zumindest darauf hingewiesen, dass Derrida die Frage der Institution, auch und gerade des Museums, sprich dessen, was Artaud „Akademismus“ genannt hätte, direkt mit dem Motiv des einmaligen Schlags verbindet, der die Institution als solche zerstört und als solche, da er in seiner Einmaligkeit die Wiederholung hervorruft, ja erzwingt, begründet. Der Antiakademismus und Antiinstitutionalismus eines Artaud hätte also nur recht, 16 | Artaud: Das menschliche Gesicht. l.c. S. 208f. 17 | Jacques Derrida: Artaud Moma. Ausrufe, Zwischenrufe und Berufungen. Übers. v. Markus Sedlaczek. Wien 2003. bes. S. 61-75.
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indem er unrecht hat: „Dass der eine augenblickliche Schlag ursprünglich ein wiederholter, widerhallender, zurückstoßender Schlag ist, erlaubt es der Destruktion, die Möglichkeit dessen zu retten, was sie zugrunde richtet: zum Beispiel die Kunst und das Museum.“18 Und lebte nicht auch die Demokratie – als Institution des Rechts wie der Moralität – von einem agonalen, ebenso destruktiven wie konstruktiven Verhältnis zu jener ethischen Irregularität dieses einen und einzigen Menschen, die die institutionelle Regularität der Gleichheit aller vor allen ein ums andere Mal außer Kraft setzt, um sie ein ums andere Mal hervorzurufen? Derridas gesamte politische Philosophie ließe sich von dieser Frage her entfalten, die er Lévinas einst stellte und hier gegen Artaud ausspielt. Gegen Artaud: denn immerhin wird Derrida, der sich zeitlebens in ausgiebigen und ausgreifenden Lektüren dem Œuvre Artauds widmete, in diesem Text seine „Feindschaft“ ihm gegenüber bekennen. Dem Doktrinären, dem Deklaratorischen sei eine Antipathie, eine wohldurchdachte Abscheu geschuldet, die, hoffe er, Artaud nicht missbilligt hätte und aus ihm eine Art „privilegierten Feind“ mache, einen „schmerzenden Feind“.19 Und die Spuren dieser Feindschaft sind nur zu offensichtlich: etwa wenn Derrida, indem er unverkennbar auf das argumentative Reservoir seiner großen Diskussion zur Wahrheit in der Malerei20 zurückgreift, Artaud unverhohlen einer „Logik der Rückgabe“21 zeiht, einer zirkelhaften Ökonomie, in der die „Gabe des Gesichts“ eben dadurch vergolten werde, dass ihm sein Gesicht zurückgegeben wird. Eine faziale Zirkologie, die, hat sich der Kreis aus Gabe und Gegengabe erst einmal geschlossen, der Tausch vollzogen und wurde die Transaktion abgeschlossen, die Gabe in jenes Gift verwandelt, die sie zerstört. Sie wäre damit jedem Kalkül selbst preisgegeben, ihrer Berechenbarkeit nach Maßgabe einer Äquivalenz, die jede Gabe, wenn sie eine Gabe ist (was man nie mit letztgültiger Sicherheit zu sagen vermag), rückhaltlos durchbricht. Und doch: findet die Rückgabe Artauds nicht ein erstes Mal statt; findet die Gabe nicht erst in und als Rückgabe statt? Halten wir fest, dass Artaud, trotz einer zuweilen exaltierten Diktion, die Derridas Vorbehalt manches mal zu konsolidieren scheint, trotz eines Extremismus, der dem Recht der Institution gegenüber auf tatsächlich fahrlässige Weise gleichgültig bleibt, eben jenen Begriff, den Derrida in seiner eigentümlich verschleppten Anklageerhebung gegen ihn einsetzt, in diesem Text nur ein einziges Mal verwendet: den der 18 | Ebd. S. 71. 19 | Ebd. S 20. 20 | Cf. Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. Übers. v. Michael Wetzel. Wien 1992. Ders. Aufzeichnungen eines Blinden. Übers. v. Andreas Knop u. Michael Wetzel. München 1997. 21 | Derrida: Artaud Moma. l.c. S. 66f.
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Wahrheit. Nur ein einziges Mal spricht Artaud von „Arten offenbarer linearer Wahrheiten“, die, was immer sonst darunter verstanden werden kann, offenbar mit besagter Logik der Restitution, des Ausgleichs und des Tausches nicht zur Deckung gebracht werden kann. Hätte nicht auch Artaud gesagt oder zumindest sagen können oder müssen, dass der Maler, das Gesicht, das er dem Gesicht zurückgibt, allererst erschafft, indem er es zurückgibt? Allererst erschafft, weil er seine Züge hineinlegt? Allererst erschafft, weil er der Diaphanie des Gesichts ein Dauern verleiht, das wieder und wieder zu sehen heißt, was nie gesichtet worden wäre? Bricht nicht genau an diesem Punkt der Zirkel des Gleich zu Gleich, die Ökonomie des Mehrwerts, die Gleiches mit Gleichem anreichert und mehrt? Als ob das Gesicht erst verschwinden müsse, um seine Gestalt zu finden, sein Gesicht, die Gesichtigkeit seines Gesichts. Als ob es aufgelöst werden muss, um seine „Wahrheit“ preiszugeben: die Diaphanie einer Tiefe, die mir entgegenstrahlt und nur dann entgegenstrahlt, wenn es seines Status als Phänomen, Gegenstand oder Gegenüber verlustig gegangen ist. Die Diaphanie einer Tiefe wie eine Oszillation zwischen oszillierenden Polen. Faziale Resonanzen wie ein durch ein Beben zum Beben gebrachtes Beben. Die Gesichtigkeit des Gesichts wäre jenes Entre-Deux, von dem Lévinas uns lehrte, weniger auf die Zwei zu achten, auf die Substantive, Substanzen und Subjekte, sondern auf jenen Binde- und Trennstrich, jenes stumme Zeichen des Zwischen selbst, jenes deutungslose Zeichen, das nur und nichts anderes bedeutet als das Deuten selbst: Vom-Einen-zum-Anderen. Gesicht. Diaphanie. 3. Gesicht. Diaphanie. Hindurchsichtbarkeit des Gesichts, Strahlung des Gesichts und als Gesicht, Intensitätsfeld einer Gesichtigkeit als Hinwendung auf..., als Anspruch an…, als Anrede und Gruß. Noch vor allem Ausdruck, aller Mimik, jedwedem Inhalt, Gesagtem und Kommandiertem, noch vor jenen Schmeicheleien, die uns nachgiebig stimmen sollen für die von kleinauf eingebläuten Infamien des Daseins, noch vor jeder Grobheit und Kränkung, die einer einem anderen antun kann und, man weiß es, antut: noch vor all dem ist die Diaphanie des Gesichts - Gruß. Die Diaphanie des Gesichts ist Lächeln. Die Diaphanie des Gesichts ist Höflichkeit. Wann je hätte man dieses Mysterium, dieses offenbare, offen zutage liegende und tief verschüttete Geheimnis eindrücklicher, eindringlicher, anmutiger zu spüren bekommen als im Kino des Yasujiro Ozu? Übrigens, wir sind nicht mehr in Europa, dem Abendland, dem Land der langen Schatten, dem Kontinent von Licht und Nacht, dem vom Unheimlichen behausten und belagerten Territorium. Wir sind in einem anderen Europa und einem anders als Europa, gestrandet an einem anderen Strand, menschenleer, allein. Wir sind im Land der Trauer. Nicht mehr die dunkle Dialektik der Fazialität, nicht mehr die vom Schrecken eingenommene Schönheit, nicht mehr
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das vom Schönen okkupierte Grauen markieren die Eckpunkte des Dramas der Fazialität, sondern eine Relation der Unschärfe (keine Unschärferelation!), einer haarfeinen Abweichung und Ablenkung des Blicks, die die Diaphanie des Gesichts als heikle Balance zwischen Sehen und Sprechen ins Lot bringt. Kein Drama mehr, kaum noch, kein faziales Neutrum, kaum noch und schon gar keine Dialektik. Wir befinden uns im Kino einer extremen Zurückhaltung seiner technischen Ressourcen, einer minimalen Infrastruktur, der gegenüber sich die verzweifelten Poetologien der Dekonstruktionen des Gesichts nachgerade brachial ausnehmen. Um nicht zu sagen unhöflich. Aber vielleicht wäre das ungerecht. Es geht um den Geschmack von Makrelen und grünem Tee, um eine Zartheit und Zärtlichkeit, die noch in den zierlichsten Nuancen fühlbar wird. Hier malt man nicht mehr, auch mit der Kamera nicht, mit Spitze und Stift, sondern mit Pinsel und Tusche. Das Papier wird nicht verletzt. Das Gesicht auch nicht. Ozus Kino wäre das der Diskretion und des Takts, der direkten Indirektheit, der Respektabilität gegenüber einer Erscheinung, die stets mehr ist als Erscheinung. Mehr als die Erscheinung eines Gesichts. Gewiss, es gibt - und wer wollte das in Abrede stellen? - die Erscheinung des Gesichts; gewiss kann das Gesicht als Erscheinung in Erscheinung treten. Die dem piktoralen Reglement entsprechende Organisation des Gesichts prädestinierte es zum Ausweis der Person, seines Schicksals, seiner emotionalen Ladung, seines Charakters. Weshalb man gerne Charaktere sieht, hier, im Kino Ozus. „Ozus Eigenart löst sich in Nichts auf, wenn man nur die Story erzählt, denn die Story (öfter auch nur eine Anekdote) ist nur der Vorwand für den Film, dessen wahres Anliegen in der Enthüllung von Charakteren besteht.“22 Wir sind uns da so sicher nicht.23 Der Kargheit seiner Geschichten, die die immergleichen Themen variieren – das Verlassensein der Eltern, die nicht mehr aufschiebbare Heirat der Töchter, die Enttäuschung über den Werdegang der Söhne, die Freundschaften und Loyalitäten unter Freunden und unter Kollegen, die stets ausufernden Saufgelage der Männer, einfach, das Leben, Altern, Sterben der Menschen, ihre Einsamkeit, ihr stilles Dreinfügen in den Gang der Dinge, ihre stille Sehnsucht nach Glück, und, hinter all dem im Halbdunkel der Aufmerksamkeit unauffällig verborgen, jener Krieg, der mit einem beispiellosen atomaren Desaster enden sollte – korrespondiert die Verwendung der 22 | Donald Richie: Yasujiro Ozu und die Syntax seiner Filme. In: Film, Nr. 3, München, August/September 1963. Wiederabgedruckt in: Angelika Hoch (Hg.): Yasujiro Ozu – Texte zum Werk, zur Person, zu den Filmen. Kinematek, Nr. 94. Februar 2003. S. 18f u.a. 23 | Dazu Roland Barthes‘ Bemerkungen zum Gesicht des japanischen Schauspielers: Das geschriebene Gesicht. In: Das Reich der Zeichen. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt/M. 1981. S. 122-129.
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immergleichen Stilmittel des Schnitts, der Montage, der Einstellung, der Szenen und Sequenzen wie die Kooperation mit den immergleichen Mitarbeitern (Drehbuch: Kogo Noda, Kamera: Yuhara Atsuta), korrespondierte zuletzt der Einsatz der immergleichen Schauspieler (Ryu Chishu, Setsuko Hara etc.) wie die Bespielung des immergleichen Orts: Tokyo. Treue wäre die erste Entstehungsbedingung seines Kinos: Treue zum Inhalt wie zur Form, zu den Menschen, ihren Räumen und ihren Rhythmen und schließlich zu den Dingen, die Ozu in nie nachlassender Behutsamkeit in seinen Stillleben einsammelt; jene Treue, die die Menschen in seinen Geschichten nicht mehr aufbringen und aufbringen können. Die Zeiten haben sich gewandelt, die Überlieferungen verbraucht, die Bindungen sind geschwächt, kurz: die Welt gerät aus den Fugen. Aber sie tut es, wie immer, wenn es ernst wird, still und fast unmerklich, unspektakulär. Ozu ist der Meister des Katastrophenfilms einer Katastrophe, die sich vor allen Augen abspielt, ohne dass jemand es merkte. Was sie zugleich ermöglicht. Indem Ozu uns immer gleich die immergleiche Welt zeigt, die uns die Teilhabe an ihr zu verweigern begonnen hat, öffnet er den Blick für sie, den Blick des Teilnahmslosen, dem die Attraktionen, die Dinge und Menschen endlich gleichgültig wurden. Alle Dinge und alle Gesichter. Was anderes aber als die Einübung in diese Gleichgültigkeit des Blicks könnte auf das Desaster der Welt antworten, die in ungnädiger Abständigkeit stumm verharrt? Dass wir in der Welt, so, wie sie ist, endlich ankämen, dass wir endlich geboren würden, dass endlich die Blase platzte und wir zu frieren, zu hungern und zu dürsten begännen: das ist das Versprechen des Kinos. Das sich in seiner entwaffnenden Inständigkeit eher an die Idioten wendet denn an die Kollaborateure der guten Tat und des guten Gewissens. Das Versprechen eines Kinos nach Leben… Und vielleicht meinte Deleuze mit seinem „Glauben an die Welt“ (Vgl. Kpt. 2), den das Kino und - in einem ausgewiesenen Stadium der Geschichte der Melancholie, dieser Nachtseite der Subjektivität - nur das Kino zu geben vermag, gar nichts anderes. Glaube an die Welt und eine Frömmigkeit, die von Halsstarrigkeit manchmal nicht zu unterscheiden wäre. Gegen die immer brachiale Logik des Verdachts, der den Konformismus gerade dort wittert, wo seine eloquente Zynik zu versagen beginnt, wüsste sie nichts auszurichten. Und warum sollte sie? Ozus Pietät bestünde vor allem darin, von Anfang an immer nur eine, diese eine Geschichte zu erzählen, immer die eine Affäre, diese Angelegenheit und Sache zu zeigen, einfach nur zeigen, das da: Welt, Ding, Gesicht. Von Anfang an: weshalb Ozu, der Stummfilmer, der Schwarzweißfilmer, der Farb- und Tonfilmer, der zumindest die filmgeschichtliche Demarkation, wie keiner sonst, zwischen Bewegungs-Bild und Zeit-Bild, zwischen klassischem und modernem Kino nachhaltig irritiert, bei Deleuze eine exzeptionelle Position einnimmt. Weshalb er ihm ein eigenes Kapitel widmet,
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in dem er ihn als den „Erfinder der Opto- und Sonozeichen“24 preist, wodurch anstelle des Aktionsbildes des klassischen Kinos bei Ozu zu einem Zeitpunkt, als dieses klassische Kino sich überhaupt erst auszubilden begann, schon rein visuelle Bilder und optische Bilder treten, Zeit-Bilder. Der Glaube an die Welt allerdings, wider den Schein und die zuweilen verwirrende Diktion Deleuzes, restaurierte keineswegs – was entscheidend wäre! - unsere verlorene Bindung an sie. Deleuze ist kein Konservativer. Keine Restauration und Renovierung jener unheimisch gewordenen Welt, keine Staffage ihrer kahlen Innenräume, kein Design ihrer Erträglichkeit, kein Interface ihrer Kommensurabilität: die wiedergefundene Welt ist die verlorene als verlorene, und nur als verlorene wird sie wiedergefunden, nein, gefunden. Der Bruch mit ihr ist die Bedingung einer Beziehung, die Deleuze als „Glaube“ apostrophiert und wir in formaler Hinsicht mit dem Begriff der Diskonjunktion zu beschreiben versuchten: als Beziehung, die eine Trennung ist. Wim Wenders Bonmot zu Ozu: Man werde „wieder eins mit der Welt“,25 mag mehrheitsfähig sein, verkennt aber dessen Anliegen. Der Irrtum ist fatal. Ozu ist kein Konservativer. Indem er die Welt betrauert, hält er ihr die Treue. Das ist alles. Das ist die ganze Kunst. Es ist eine Kunst des melancholischen Blicks. Nur in der Treue zum verlorenen Objekt, der Trauer, die nicht verebben will, in dieser Schlaflosigkeit einer unstillbaren Wehmut wird eine Welt offenbar, das Leben, Wirklichkeit, die so sinnlos ist wie ein jäher Windzug in den Bäumen: im Kino Rohmers, im Kino Antonionis wäre der Wind das Indiz wie ineins das Indizierte des vollendeten Verbrechens, der aufkeimenden Leidenschaft. Nur wer seine Trauer nicht verrät, erfährt jenes Glück, dessen Intensitätsgrad dem des Schmerzes exakt korrespondiert. Und vielleicht zielte das Haiku, mit dem Ozu, kaum verwunderlich, oft in Verbindung gebracht wurde26 und dem auch Tarkowskij die Reverenz nicht verweigerte27 und Robert Bresson wohl nicht verweigern würde, genau auf diesen Punkt. In einem der schönsten Texte zu Ozu jedenfalls wird Frieda Graefe ihn nicht nur mit der Dichtkunst des Haiku assoziieren, sondern auch mit jenem unübersetzbaren, dem Zen zugehörigen „Satori“: „Satori heißt im Zen der Schock, die unerwartete Störung, die plötzliche Öff24 | Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Übers. v. Klaus Englert. Frankfurt/M. 1997. S. 26. 25 | Wim Wenders: Die Geschichte der Wahrheit. Frankfurter Rundschau, 11.12.93. Wiederabgedruckt in: Yasujiro Ozu – Texte zum Werk, zur Person, zu den Filmen. l.c. S. 54. 26 | Cf. Donald Richie: Ozu: His Life and Films. Berkeley 1974. S. XIII. Ders. A Hundert Years of Japanese Films. Tokyo 2005. S. 59. 27 | Cf. Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Berlin, Frankfurt/M. 1985. S. 122.
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nung, die nur dem widerfährt, der in ständiger Aufmerksamkeit auf die Welt schaut. Satori ist ein außersprachlicher Zustand, nichts Unaussprechliches, ein Wachwerden vor dem Faktischen.“28 Ein Wachwerden vor dem Faktischen oder ein Erwachen vielleicht, das jenes entwurzelte Territorium, jenes Niemandsland markiert, das weder dem Traum- noch dem Wachbewusstsein angehörte. Und auf Roland Barthes bezugnehmend, von dessen „Reich der Zeichen“ sich Graefe spürbar anregen ließ, merkt sie eher beiläufig an, dass ein „japanischer Schauspieler“, nach Barthes, „einen Charakter, eine Person“ nicht simuliere; er akkumuliere und kombiniere nur bestimmte Zeichen.29 Doch welche Zeichen? Und was, wenn sie bedeuteten, bedeuteten sie? Eingedenk der semiotischen Inspiration Barthes‘ wäre es also das Zeichen selbst, das Zeigen des Zeichens, das nicht umwillen irgendeines Bezeichneten, einer Bedeutung oder eines klammheimlich verborgenen Sinns überschritten werden müsse und dürfe, das sich zeigte. Das Zeichen als Zeige und Anzeige, als Referenz, die, Bedeutetes bedeutend, im Bedeutungslosen endete, um abermals zu enden. So gäbe es im Kino des Yasujiro Ozu, dem Kino des Suspens, dem Kino der Aussetzung, der Freistellung von Sinn, der Sinnstockung, nur das zu sehen, was es zu sehen gibt?
(Abb. 11 - Filmstill aus Yasujiro Ozu: Die Geschwister Toda, Japan 1941) 28 | Friede Graefe: Wie sich in Ozu-Filmen orientieren. Süddeutsche Zeitung, 28./29.7.73. Wiederabgedruckt in: Yasujiro Ozu – Texte zum Werk, zur Person, zu den Filmen. l.c. S. 34. 29 | Ebd. S. 32.
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Doch was gab es zu sehen? In jedem Fall: keine Charaktere. Wir sahen Gesichter. Nichts sonst, noch nicht. Und zwar auf natürliche, artifizielle Weise. Gesichter, die nichts bedeuteten als Gesichter, die den Betrachter, uns, bedeuteten ohne ihm zu bedeuten, ohne ihm etwas zu bedeuten. Ozus Perspektive, man hat das oft schon bemerkt, zeigt die Protagonisten einer beliebigen Unterhaltung häufig nicht im Profil oder Halbprofil einer Nah- oder gar Großaufnahme. Indem er den einen der Protagonisten vor die Kamera, den anderen hinter sie platziert, wendet sich jener zwar frontal zur Kamera hin. Doch ist dabei dreierlei bemerkenswert: erstens sieht man nur den, der spricht und nur der, der spricht, wird gesehen. Niemals kommt die Antwort des hinter der Kamera Postierten aus dem Off. Akustisches und optisches Bild treten nicht auseinander, ihre Rahmen sind deckungsgleich. Wodurch sich die Aufmerksamkeit ungestört auf das im Bild gezeigte Gesicht richtet. Der Betrachter sammelt sich, nichts lenkt ihn ab. Zweitens befindet sich die Kamera niemals genau auf gleicher Augenhöhe mit der agierenden Figur, sondern unter ihr,30 aber, ein wichtiges Detail, nur ein kleinwenig. Die Minimalität dieser Verschiebung verhindert, dass die Untersicht der Kamera die gewöhnlicherweise damit assoziierte Unterworfenheit gegenüber einer optisch überhöhten Person versinnbildlicht. Ozus Höhe ist Ehrerbietung ohne Devotion. Vorrang des Anderen, der sich nicht aus Minderwertigkeit speist; Gastlichkeit der Betrachtung, die auf das Recht gleicher Augenhöhe mit dem Gast um des Gastrechts willen verzichtet. Der Zuschauer ist fast auf gleicher Augenhöhe, und das Feingefühl für dieses „fast“, das sich in der Position der Kamera manifestiert, macht Ozus kinematographische Generosität aus. Drittens richtet sich der Blick des Akteurs direkt in Richtung Kamera, er schaut aber niemals direkt in sie, sondern blickt seinen imaginären Gesprächspartner hinter der Kamera an. Der Blick wird gleichsam abgelenkt, geht um eine Winzigkeit am Zuschauer vorbei. Sowenig wie sich die Protagonisten in anderen Einstellungen wechselseitig geradewegs in die Augen schauen – was in Japan als unhöflich gilt31 –, sowenig wird der Zuschauer selbst unmittelbar fixiert. Was zu einem eigentümlichen Effekt führt: Der Zuschauer spürt ganz genau, dass er nicht angeschaut wird, spürt aber zugleich ganz genau, dass der Blick ihn nur äußerst geringfügig verfehlt. Eine unendlich kleine Korrektur 30 | Cf. Donald Richie, Ulrich und Erika Gregor: Interview mit Donald Richie. In: Yasujiro Ozu – Texte zum Werk, zur Person, zu den Filmen. l.c. S. 12. Gertrud Koch: Vor dem Gesetz. Zu den Filmen des japanischen Regisseurs Yasujiro Ozu. Frankfurter Rundschau, 24.9.83. Wiederabgedruckt in: Yasujiro Ozu – Texte zum Werk, zur Person, zu den Filmen. l.c. S. 44. 31 | Tadao Sato: Das Verhalten des Auges in den Filmen von Ozu und Naruse. In: Blimp. Doppelheft Herbst/Winter, Graz 1985. Wiederabgedruckt in: Yasujiro Ozu – Texte zum Werk, zur Person, zu den Filmen. l.c. S. 47.
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(Abb. 12 - Filmstills aus Yasujiro Ozu: Ein Herbstnachmittag (Der Geschmack von Makrelen), Japan 1962) des Blickwinkels, eine winzige Nuance nur, und er wäre gleichsam ertappt. Zugleich aber spürt er auch, dass Ozu ihn nie dieser Pein und Peinlichkeit, dieser überaus beliebten kinematographischen Indiskretion aussetzen würde. Ozu spielt nicht, auch und schon gar nicht mit dem Betrachter. Er fühlt sich sicher und zugleich verstrickt in diese Interaktion: Teil von ihr und doch außen vor. Indem der Zuschauer die Rolle des unsichtbaren Gesprächspartners nicht einnimmt, sie aber sogleich einnehmen könnte, indem er der Position des Anderen so nahe kommt, dass er in diesem Augenblick an dessen Stelle treten könnte, in dieser winzigen Differenz zwischen dem, was er ist, Zuschauer, und dem, was er in diesem selben Moment auch sein könnte, Protagonist der Anrede, wird er zum Dritten im Bunde, ohne eine eigenständige Instanz zu sein. Die Differenz zwischen Indikativ und Konjunktiv ist hauchdünn, sie ist durchsichtig, und sie wird durchlässig: der Zuschauer ist weder gemeint noch angesprochen noch erblickt und doch auch gemeint, auch angesprochen, auch erblickt, weder beteiligt noch unbeteiligt. Weder noch und beides zugleich: freie indirekte Anrede. Es ist, als ob er vom Blick gestreift würde, wie zufällig berührt, ohne verletzt zu werden. Der Blick trifft ihn nicht, er wird von ihm touchiert. Weshalb sich dieses Entre-Deux zu dritt als eine Art Entschärfung des Blicks lesen ließe, als Deeskalation und Abschwächung seiner Militanz und Vormacht. Die dual-duellische Agonie des Blicks, diese existenziale Dialektik des Blickens und Erblicktwerdens, die Sartre32 luzide enthüllte und der noch Lacan33 in seiner diskreten Anverwandlung der Sartreschen Phänomenologie 32 | Cf. Jean-Paul Sartre: Der Blick. In: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Übers. v. Justus Streller, Karl August Ott, Alexa Wagner. Hamburg 1962. S. 338-397. 33 | Cf. Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Übers. v. Norbert Haas. Olten, Freiburg i.Br. 21980.
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auf seine Weise die Treue hielt,34 wird zurückgenommen umwillen der Diaphanie des Gesichts, der Gesichtigkeit in ihrer Totalität. Sie nämlich realisiert sich nie kraft des Vorrangs des Blicks selbst. Seine Präponderanz, sein okzidentaler Trotz gegenüber einem Anderen, dessen Blick er seinerseits nur als aggressiven Akt deuten wird; die scheinbar natürliche Allianz von Gesicht und Blick mithin, wie sie sich in der Rede vom „Gesichtssinn“ manifestiert und in der Repräsentanz des Gesichts als Organ und Organon prosperierender Subjektivität verrät, wird durch Ozus Einstellung, kraft einer einfachen, minimalen Verrückung von Position und Aspektive, relativiert. Der Geringfügigkeit der Untersicht, die den Protagonisten dem Betrachter gegenüber um ein weniges erhöht, korrespondiert die Geringfügigkeit des abgelenkten Blicks, die den Betrachter schont, ohne ihn zu ignorieren. Kraft dieser Entschärfung, dieser Relation der Unschärfe des Blicks, seiner graduellen Zurücknahme, tritt das Gesicht als Ganzes hervor und in Erscheinung als etwas, das mehr ist als Erscheinung. Es wird zum Schauplatz einer Anthropologie, die nicht in den Visionen des gehetzten Hetzers, des Jägers, des Verfolgers ihren exklusiven Ausdruck findet. Was in dieser filigranen Referenzialität zwischen zweien-zu-dritt offenbar wird, wäre somit nichts als die Offenheit selbst, Verzicht von Deckung und Aufzug, faziale Nacktheit, ein ganzes Jenseits der Macht und der Gewalt. Als wäre das Versprechen, das diese Referenz trägt und stiftet und von dem man niemals wissen kann, ob es nicht gebrochen wird, die Blöße selbst, das Gesicht als Armut und Anmut. Die Offenbarheit des Gesichts ist Offenheit, Wehrlosigkeit, mit einem Wort Lévinas’: Verletzbarkeit. Weshalb Lévinas das biblische Gebot „Du sollst nicht töten!“ weniger als satzförmig niedergelegte Vorschrift las, sondern als Inschrift des Gesichts selbst,35 Spur Gottes. Ein Gesicht zu sehen hieße, nicht zu töten. Die erste Bedingung des Mordes wäre die Auslöschung des Gesichts: Seine Fixierung und Ausmessung, die Kartographie seiner Merkmale, die faziale Hermeneutik seiner Charakteristika und Emotionalität, seine Disziplinierung und Zucht. Zucht und Züchtung des Gesichts, um endlich sich gegen seine entwaffnende Wehrlosigkeit wehren zu können, deren maßlose Intensität vor allem eines bedeutet: Preisgabe. Ein Gesicht zu sehen hieße, wehrlos zu sein gegenüber dem Wehrlosen, schwach gegenüber der Schwäche. Ließe sich Ozus Kinematographie also lesen als Versuch, dem Gesicht sein Gesicht zu geben? Ihm seine Wehrlosigkeit zu geben oder zurückzugeben, seinen fazialen Pazifismus? Und bestünde seine asiatische Meisterschaft gerade 34 | Cf. Andreas Cremonini: Die Durchquerung des Cogito. Lacan contra Sartre. München 2003. 35 | Cf. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani. Freiburg i.Br., München 1987. S. 284f.
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(Abb. 13 - Filmstill aus Yasujiro Ozu: Tokyo in der Dämmerung, Japan 1957) darin, zu dieser Sicht des Gesichts kommen zu können, ohne die Gewalt eines Schlags, der es aus seiner Lethargie herausrisse, aus seiner Letalität? Vielleicht. Ozu jedenfalls gelingt das Meisterstück, durch einen ob seiner Schlichtheit konsternierenden Aufbau des Bildes das Bild eines Gesichts zu zeichnen, das spricht, das Sprechen ist. Sprechen und Anspruch, Anrede. Das Entre-Deuxzu-dritt verriete etwas von jener Passibilität des Zwischen, der nichtshaften Beziehung des Einen zum Anderen, die den Raum der Fazialität ausmisst. Sartres famose Intuition, dass ich das Auge nicht sehe, wenn ich den Blick sehe, dass ich den Blick nicht sehe, wenn ich das Auge sehe, dehnte sich so auf das Gesicht als Ganzes aus. Seine Diaphanie hat zur Bedingung das Verschwinden und Verschwinden-Machen des Gesichts als faziometrische Entität, deren Installation ihrerseits die faziale Diaphanie blockiert. Das phänomenologische Schisma zwischen Auge und Blick aber taugt nur bedingt als Paradigma jener Zäsur zwischen Faziometrie und Gesichtigkeit. Der Martialität der BlickGegenblick-Konfrontation mag der Durchbruch zu einer Intersubjektivität gelingen, die die Klippen des Solipsismus souverän umschifft. Doch an denen des intersubjektiv restaurierten Subjektivismus wird sie zerschellen. Inthronisierte sich die „Okulartyrannis“36 der okzidentalen Episteme also im Privileg des Blicks, der Überbelichtung des Auges als Zentralorgan des Menschen? 36 | Ulrich Sonnemann/Florian Rötzer: Aufstand gegen die Okulartyrannis. Interview mit Ulrich Sonnemann. Frankfurter Rundschau 15.2.1986.
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Dessen Abblendung erst öffnete den Zugang zum Gesicht, das nicht nur Sehen ist und Sichtbarkeit, sondern Laut, Atem und Hauch, Inspiration, Empfindlichkeit, Atem-zu-Atem, Passibilität. Zum Gesicht wird die Gesichtsfläche, das Nichtgesicht nicht nur und nicht primär dank jener tiefen Höhlen, in denen die Augen sitzen. „Doch was heißen soll, dass das menschliche Gesicht, so, wie es ist, sich noch immer sucht: mit zwei Augen, einer Nase, einem Mund und den beiden Ohrhöhlen, die den Löchern der Augenhöhlen entsprechen wie die vier Graböffnungen des kommenden Todes.“37 4. Zwei mal zwei Graböffnungen des kommenden Todes und einmal auch der Mund wie die einmal eine Öffnung des kommenden Lebens, des Glücks vielleicht gar, in dessen Vorstellung, einer berühmten Bemerkung Benjamins gemäß, unveräußerlich die der Erlösung mitschwinge.38 Auf einen Stern zugehen, der Erlösung verheißt oder auf ein Gesicht, dessen abrupte Nähe ein Glücksversprechen birgt, das das Herz zerspringen lässt: wäre das dasselbe? Franz Rosenzweig, gegen Ende seines „Stern der Erlösung“, wird jedenfalls in einer atemberaubenden Meditation den Stern mit dem Gesicht kreuzen, ihn dem Gesicht wie eine Tätowierung einschreiben, als wollte er es kraft dieser stellaren Prothetik von einem uralten Verhängnis erlösen: „Gleich wie der Stern in den zwei übereinandergelegten Dreiecken seine Elemente und die Zusammenfassung der Elemente zu einer Bahn spiegelt, so verteilen sich auch die Organe des Antlitzes in zwei Schichten. Denn die Lebenspunkte des Antlitzes sich ja die, wo es mit der Umwelt in Verbindung tritt, sei’s in empfangende, sei’s in wirkende. Nach den aufnehmenden Organen ist die Grundschicht geordnet, die Bausteine gewissermaßen, aus denen sich das Gesicht, die Maske, zusammensetzt: Stirn und Wangen. Den Wangen gehören die Ohren, der Stirn die Nase zu. Ohren und Nase sind die Organe des reinen Aufnehmens. Die Nase gehört zur Stirn, sie tritt in der heiligen Sprache geradezu für das Gesicht im Ganzen ein. Der Duft der Opfer wendet sich an sie wie das Regen der Lippen an die Ohren. Über dieses erste elementare Dreieck, wie es gebildet wird von dem Mittelpunkt der Stirn als dem beherrschenden Punkt des ganzen Gesichts und den Mittelpunkten der Wangen, legt sich nun ein zweites Dreieck, das sich aus den Organen zusammenfügt, deren Spiel die starre Maske des ersten belebt: Augen und Mund.“39 Und nachdem Rosenzweig eine bedenkenswerte Asymmetrie beider Augen vermerkt hat – das linke nämlich schaue eher empfänglich und gleichwertig, das rechte scharf und punktuell -, wendet er sich rasch dem Mund zu, dem er, genau besehen, 37 | Artaud: Das menschliche Gesicht. l.c. S. 207. 38 | Cf. Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.) Bd. 2. Frankfurt/M. 1980. S. 694. 39 | Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung. Frankfurt/M. 1988. S. 470.
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einen gewissen Vorrang noch vor den Augen im fazialen Aufbau zuzugestehen scheint: „Wie von der Stirn der Bau des Gesichts beherrscht wird, so sammelt endlich sein Leben, alles was um die Augen zieht und aus den Augen strahlt, sich im Mund.“40 So leuchte das Antlitz von den Augen her, doch wäre der Mund der Vollender und Vollbringer allen Ausdrucks. Vollendet aber wäre der Mund nicht in der Rede, im Laut, der ihm entspringt, sondern im Schweigen: im Schweigen des jedweder Rede Einhalt gebietenden Kusses. Der Kuss endlich verschließt die Lippen, und er öffnet sie. Doch indem er sie öffnet, entströmt ihnen kein Laut. „So siegelt Gott und so siegelt der Mensch auch.“41 Der Mund also verspräche, wenn er zu sprechen aufhörte, die ganze Scham einer Intimität, die brennende Scham einer Innigkeit, die unendlich viel mehr wäre als Innigkeit und Intimität: Scham, die sich öffnete, diskrete Obszönität. Erst der Kuss, nichts anderes, entsiegelte das Rätsel der Diaphanie, das Rätsel einer Gesichtigkeit jenseits und diesseits des Gesichts. Der Kuss als der absolute Eklat, Furor und Furore einer Eindringlichkeit, ja Durchdringlichkeit fazialer Nähe, die die Zwei nicht zur Indifferenz mystischer Alleinheit verschmilzt, sondern sie in ihrer Zweiheit allererst passibel macht. Der Kuss als Eskalation der Berührung von einem und einer anderen, die die Haut durchsticht und das Fleisch, die Seele, das Herz. Nahrung des Begehrens von den Lippen her und, versteckt im Schlund und hinter Zähnen, die wie blendende Wachposten den Zugang zu verwehren scheinen, von der Zunge. Wer wollte behaupten, dass die geschlechtliche Penetration je dem Eros eines Kusses gleichkäme, der noch die Differenz des Geschlechts überschreitet? Als ob im Kuss, der, nach einer Auskunft Kleists,42 sich auf den Biss reimte, das Fleisch zur Beute des Anderen würde, zur Beute und zu einem Opfer ohne Logik und ohne Sinn. „Wem gefiele nicht eine Philosophie, deren Keim ein erster Kuss ist?“43 Und wem gefiele nicht eine Philosophie, die im letzten Kuss noch nicht vollendet wäre? Als zerrisse es mich im Zerrissenwerden durch den Anderen; durch die Andere. Also hätte das Gesicht im Kuss sein Telos, seinen Abschluss und seine Vollendung? Sein endlich gebrochenes Siegel? Und doch versiegelte er es im gleichen Moment, indem er es bräche. Denn der Kuss heißt Schweigen. Weshalb im Kuss das Gesicht sein seit Jahrtausenden verschüttetes Geheimnis verriete wie hütete. 40 | Ebd. 41 | Ebd. S. 471 42 | Heinrich von Kleist: Penthesilea. In: Werke und Briefe. Band 2. Berlin 1978. S. 118. 43 | Novalis: Fragmente vermischten Inhalts. Philosophie und Physik. In: Novalis Schriften. Ludwig Tieck/Friedrich Schlegel (Hg.) Bd. 2. Stuttgart 1837. S. 131. Hierzu Derrida: „Mit Ausnahme von Novalis dürfte man meiner Kenntnis nach selten versucht haben, den Kuss zu denken, was denken auch heißt.“ Derrida: Berühren, JeanLuc Nancy. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Berlin 2007. S. 392.
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(Abb. 14 - Filmstill aus Pier Paolo Pasolini: Das 1. Evangelium – Matthäus, Italien 1964) Wenn wir also vom Gesicht sprechen, wenn wir über das Gesicht und zu ihm sprechen, dem eigenen wie dem des Anderen – wenn denn diese Unterscheidung so noch Sinn machte, wenn sie nicht jenen Fluchtpunkt einer Diskonjunktion anvisierte, in der das Gesicht unfassbar wäre, nicht mehr zu verorten, nicht mehr identifizierbar -, dann ginge es mitnichten primär um eine Sache der Augen. Und das Chaos, dessen das Gesicht bedarf, um sein Gesicht, die Gesichtigkeit seines Gesichts wahren zu können, entspränge schließlich dem Mund, der es zugleich zu verschlucken drohte. Wie ein Gähnen, das sich endlich über das gesamte Gesichtsfeld erstreckte, um es hinabzuwürgen. Einheit von Auge und Mund, Gehör und Geruch, Einheit einer Haut, die sich über die Stirn spannt bis zum Kinn und eines Blutes, das jenes scheue Erzittern augenscheinlich macht, das wir Erröten nennen. Fragile Einheit oder auch Differenz eines Territoriums oder einer Zone, die schon in feinsten tektonischen Verschiebungen eine völlig andere Landschaft hervorbringt, eine Gesichtslandschaft, die mit der Landschaft, der sie entsprang, mit ihrer Farbe, ihrem Duft und ihrem Klang, die erstaunlichsten Korrespondenzen unterhält: Pasolinis Gesichter, gerade sie, sprechen davon und vielleicht von nichts anderem. Wenn also Derrida in seinem ersten großen Essay, den er dem Denken Lévinas’ widmete, auf dessen Metaphysik des Gesichts zu sprechen kommt, insistiert er nicht nur darauf, dass das „Von-Angesicht-zu-Angesicht“ sich allen Kategorien entzöge. Vor allem erschlösse sich seine ethische Dignität nicht allein vom Auge aus. „Nicht nur Blick, sondern ursprüngliche Einheit
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von Blick und Rede, der Augen und des Mundes – der spricht, der aber auch seinen Hunger mitteilt.“44 Nach was aber hungert der Andere, nach was ich, wenn ich dem Hunger des Anderen begegne, der sich im Gesicht und als Gesicht ausspricht? Denn halten wir einmal mehr fest: das Gesicht bedeutet diesen Hunger nicht. Es bedeutet überhaupt nicht und nichts. „Das Gesicht bedeutet übrigens nicht. Es verkörpert nicht, es kleidet nicht, es bezeichnet nicht, es bezeichnet nichts anderes als sich selbst, Seele, Subjektivität usw. … Der Andere macht sich nicht durch sein Gesicht bemerkbar, er ist dieses Gesicht“.45 Und als dieses Gesicht ist ihm der Bereich des Bedeutens zweifellos nicht fremd. Es wäre nämlich keineswegs abwegig oder gar unstatthaft, im Gesicht zu lesen, seine Züge als Hieroglyphen einer Semantik zu decodieren, die auf die Instantanität eines Wesens verwiesen wie auf die Transitorität eines affektiven Zustands. Doch das Gesicht selbst, das Gesicht als Gesicht, als Diaphanie, wäre mehr. Oder weniger: „Gewiss“, so Lévinas, „kann ich den Anderen erfahren und sein Antlitz und den Ausdruck seiner Gesten ‚beobachten’ als eine Zusammenstellung von Zeichen, die mir Auskunft geben über die Gemütszustände des anderen Menschen, denen analog, die ich selbst empfinde.“ Doch würde die Beziehung zum Anderen dadurch nicht nur als „indirektes Wissen“ im Sinne analoger Übertragung bestimmt, sondern als Wissen überhaupt: „in diesem Wissen, das ich aufgrund der Analogie zwischen dem Verhalten eines objektiv gegebenen fremden Körpers und meinem eigenen Verhalten erreiche, bildet sich lediglich eine allgemeine Idee von der Innerlichkeit und dem Ich.“ Wodurch die „ununterscheidbare Anderheit des Anderen“ aber gerade „verfehlt“ werde.46 Ununterscheidbare Anderheit des Anderen, der mehr und etwas anderes wäre als ein anderes Ich, der anders und anderes wäre als ich. Die physiognomische Naivität, die in der Sichtung des Gesichts einen Zugang zum Zustand und zur Verfassung einer Person gefunden zu haben glaubt, arbeitete so nur an seiner Verstellung, die in der faziometrischen Gegenüberstellung endlich jenen Abstand ausmisst, dessen es bedarf, um dem Anderen mit ausgestrecktem Arm, die Pistole in der Hand, ins Gesicht schießen zu können. Der Charakterologie wäre jene behördliche Fürsorge nicht fremd, die die polizeiliche Identitätsfeststellung zu ihrer Bedingung hat. Die Verfolgungsbehörde, die eine Schuld auf die Haut stempelt, die längst niemand mehr lesen 44 | Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas. Übers. v. Rodolphe Gasché. In: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1972. S. 154. 45 | Ebd. 46 | Emmanuel Lévinas: Bemerkungen über den Sinn. Übers. v. Thomas Wiemer. In: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Freiburg, München. 1985. S. 210.
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kann, definierte die schlechte Metaphysik einer Epoche, die keine Ausflucht mehr zuzulassen trachtet. Weshalb Giorgio Agamben in einer bestechenden Miniatur zum „Antlitz“ (il volto), das mit dem Gesicht (il viso) nicht koinzidiere so wenig wie es dieses Gesicht transzendiere,47 wider dessen Verhärtung im „Charakter“ streitet, der doch nichts anderes sei als die „Grimasse des Antlitzes“.48 Versteinerung und Verzerrung seiner Exteriorität also, seines Ausgesetzt- und Ins-Außen-gesetztseins, seiner diaphanen Öffnung, zur Erkennbarkeit und Wiedererkennbarkeit der Person, zur Aneignung und Wiederaneignung ihrer Fähigkeiten und Eigenschaften. Das Gesicht aber ist ohne Eigenschaften. In seiner ethischen und ästhetischen Exposition desorganisierte das Gesicht die ihm eingeschriebenen Chiffren seiner Identifikation, um schließlich nichts mehr zu bedeuten als das Bedeuten selbst: Anrede, die schon zu verstummen beginnt, wird sie als Botschaft ausgelesen. Die ganze Schwäche des Gesichts bestünde in seiner konstitutiven Wehrlosigkeit gegenüber genau diesem Akt der Ein- und Zuschreibung. Es ist Bejahung, vorbehaltlose Affirmation, Anlächeln. Zum Protest und zur Verweigerung ist es erst fähig, hat es sich als das etabliert, gegen was der Protest sich richtete. Der faziale Imperativ Agambens, mit dem er seinen Text abschließt, wäre also ebenso beschwörend wie verzweifelt: „Seid allein euer Antlitz. Geht an die Schwelle. Bleibt nicht die Subjekte eurer Eigenschaften und Fähigkeiten, bleibt nicht unter ihnen, sondern geht mit ihnen, in ihnen, über sie hinaus.“49 Dieser Imperativ aber ist kein ethischer mehr. Die ethische Singularität, an der jegliche Meditation über das Gesicht ihren Ausgang nimmt, weitet sich im Plural des Imperativs zur Maxime der Handlung und des Denkens, die dem revolutionären Traum des Kollektivs auf Freiheit, Emanzipation und Gerechtigkeit zuarbeitet. Kurzum: Wir betreten das Feld der Politik. Das Feld einer „Politik des Gesichts“ und einer „Politik der Auflösung des Gesichts“.50 Auf einem der Plateaus ihrer „Tausend Plateaus“, auf dem, kaum überraschend, des Jahres Null, werden Gilles Deleuze und Félix Guattari jenen Krieg dramatisieren, der um das Gesicht tobt, seit es im Jahre Null, dem okzidentalen Nullmeridian, dem europäischsten Datum, in Erscheinung trat. Zweierlei wäre bemerkenswert: zum einen die im unendlich Kleinen zusammenschnurrende Punktualität einer Subjektivität des Subjekts; zum anderen die im unendlich 47 | Cf. Giorgio Agamben: Das Antlitz. Übers. v. Detlef Otto. In: Christa Blümlinger/ Karl Sierek (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes. l.c. S. 219-225. Hier: S. 219, 222. 48 | Ebd. S. 222. 49 | Ebd. S. 224. 50 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Das Jahr Null – die Erschaffung des Gesichts. Übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. In: Tausend Plateaus. Berlin 1992. S. 229-262.
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Großen sich weitende Bedeutungsvarianz der Person. Natürlich wären die Gesetze des unendlich Kleinen und des unendlichen Großen nicht deckungsgleich. Ja, sie scheinen sich auf durchaus aggressive Weise zu kontaminieren. Doch fungierte das Gesicht wie eine Art Relais, das beide Ordnungen der „Signifikanz“ und „Subjektivierung“ kurzschlösse und stabilisierte.51 Das Gesicht und genauer: die Organisation, die Hierarchie, das Programm und die Programmatik im Aufbau des Gesichts, das der Mensch/der Mann der abendländischen Odyssee sich passgenau anlegte, seitdem es ihn nach Hause drängt, zurück, zum Ursprung und zum Endziel seiner ganzen Malaise. Wenn also Deleuze und Guattari gegen die Herrschaft des Gesichts prozessieren, attackieren sie nichts anderes als jene Auto-Sklerotisierung einer „Ichheit im Allgemeinen“, deren Charakterstärke und Identität, die sich dank der Prosperität ihrer Abwehrfunktionen, die dem Ich in einem langen ontound phylogenetischen Sozialisationsprozess ins Gesicht geschrieben wurden, gegen die Aleatorik des Daseins wappnet, gegen das Chaos, dem es auf wundersame Weise entsprang. Seine Selbstsicherung aber erkauft es um den Preis gelebten Lebens. Erst eine Politik der Auflösung dieses Gesichts entriegelte es. Sie bewirkte jene Drift, die den Zwangscharakter der abendländischen Rekursionen aus seiner vorgeschriebenen Bahn zu werfen vermag. Eine Politik der Auflösung oder des Verschwindens. Und einmal mehr drängt sich auf, das Œuvre Deleuzes (und Guattaris) als einen einzigen, so ausufernden wie buchstabentreuen Kommentar zum Foucaultschen Gleichnis vom Verschwinden des Menschen zu lesen. Und wenn dieses Bild vom Verschwinden des Menschen wie ein Vexierbild den Index einer Befreiung mit sich führt, das ihn aus der onto-theo-anthropologischen Verklammerung entlässt, dann zielte auch das Verwischen seines Gesichts, seine Auflösung auf nichts anderes als auf die Freisetzung seiner Kapazitäten, Möglichkeiten, seines Begehrens vom Regime einer kastrierenden Zensur. Als würde das Gesicht selbst zum Schauplatz eines unaufhörlichen Kampfes „zwischen einem Merkmal der Gesichthaftigkeit, das der souveränen Organisation des Gesichts entkommen will, und dem Gesicht selber, das sich über diesem Merkmal schließt, es wieder integriert und seine Fluchtlinie blockiert, ihm seine Organisation erneut aufzwingt.“52 Vielleicht ist es müßig zu spekulieren, warum Peter Sloterdijk in seinem eindrücklichen Kapitel zur historischen Anthropologie fazialer Intimität jedweden Bezug auf Lévinas’ Ethik des Gesichts, von einer beiläufigen Bemerkung abgesehen,53 ausspart. Doch bliebe festzuhalten, dass er auch für die Frage der Politik des Gesichts keinerlei Sinn zu entwickeln scheint. Sein Einwand 51 | Ebd. S. 230. 52 | Ebd. S. 258. 53 | Cf. Sloterdijk: Zwischen Gesichtern. Zum Auftauchen der interfazialen Intimsphäre. In: Sphären I: Blasen. l.c. S. 152.
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gegen Deleuze und Guattari, nachdem er die Originalität ihrer Theorie der Gesichtwerdung knapp vermerkte, lautet, dass ihre Kritik die anthropologische Universalität des Gesichts mit der historischen Spezifität des abendländischen Gesichts kurzschlösse. Ihnen fehle die Unterscheidung „zwischen der Protraktion des Sapiens-Gesichts überhaupt und der charakterologischen ‚Beschriftung’ der fazialen Tafel“.54 Doch verschleift das Argument nicht nur den Ansatzpunkt ihrer Politik der Fazialität, die den majoritären und maskulinen Standard des Durchschnittseuropäers55 zu unterlaufen versucht, um das Gesicht selbst freizusetzen; d.h. mit dem ihm umgebenden Kosmos zu diskonjungieren. Deleuze und Guattari schreiben keine Heilsgeschichte der Protraktion, der Faziogenese, aus der das Gesicht als Tabula rasa kulturspezifischer Einschreibungen resultierte, sondern die Horrorgeschichte eines Gesichts, einer Gesichtstypologie, dessen historisch kontingente Vorherrschaft zum transzendentalen Fatum der Gattung überhöht zu werden droht. Ihr Einsatz ist negativistisch: die anarchischen Ressourcen des Gesichts erschließen sich erst durch Weisen seiner Destruktion. Das Gesicht, so, wie es ist, ist nicht, sondern muss gesucht und gefunden werden. Seine Subversion setzte es voraus: „Nur im Gesicht … kann man die Merkmale der Gesichthaftigkeit freilassen wie Vögel“.56 Die Desintegration von Momenten der Gesichtigkeit aus der Totalität des Gesichts wäre also keineswegs regressiv: „nicht zu einem primitiven Kopf zurückkehren, sondern Kombinationen erfinden, bei denen sich die Gesichtszüge mit Charakteristika der Landschaftlichkeit verbinden, die ihrerseits von der Landschaft befreit sind, mit Merkmalen des Bildlichen, des Musikalischen, die ihrerseits von ihren jeweiligen Codes befreit sind.“57 Das einmal erreichte Niveau der Faziometrie wird zur Bedingung einer Fazialität, die ihre Klausur im Binnenraum okzidentaler Selbstvergewisserung sprengte. Die klaustrofaziale Disziplin erst provozierte das Begehren ihrer ethischen, ästhetischen und politischen Überschreitung. Für die durchaus dialektische Finesse der Faziogenese, ihre Gegenstrebigkeit, wie sie in „Tausend Plateaus“ argumentiert wird, ist Sloterdijk taub. Weshalb ihm auch die Ästhetiken der Gesichtsverwischung, etwa bei Francis Bacon, nicht als Versuch der Freisetzung der Gesichtigkeit des Gesichts erscheinen können, sondern allenfalls als „Katastrophengeschichte“58 einer strukturell heilen Interfazialität. Seine Metaphysik der fazialen Intimität ist politisch irrelevant, weil sie längst ihren Frieden mit dem Stand der Dinge 54 | Ebd. S. 170. 55 | Cf. Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. l.c. S. 398. 56 | Ebd. S. 260. 57 | Ebd. 58 | Cf. Sloterdijk: Zwischen Gesichtern. Zum Auftauchen der interfazialen Intimsphäre. In: Sphären I: Blasen. l.c. S. 191ff.
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gemacht hat. Er aber ist faul. Er verdeckt nur jenen Krieg, den wir gegen uns zu führen begonnen haben. Und es ist ein mörderischer Krieg, ohne Kriegsrecht und Regelwerk. Sein Ziel ist die Vernichtung. Wir müssen aus diesem Krieg lernen, wir müssen ihn lernen, sein Handwerk, sonst kommt er zu uns, über uns, in uns. Und wir merken es nicht. „Ich liege mit mir selbst im Krieg, das ist wahr, Sie können gar nicht wissen, wie sehr, mehr als Sie ahnen, und ich sage widersprüchliche Dinge, die, sagen wir, in einem wirklichen Spannungsverhältnis stehen, die mich erschaffen, die mich leben und die mich sterben machen werden. Ich betrachte diesen Krieg bisweilen als einen schrecklichen und peinigenden Krieg, gleichzeitig aber weiß ich, dass eben so das Leben ist. Ich werde erst in der ewigen Ruhe Frieden finden.“59 Dieser Krieg gegen sich, von dem Derrida in seinem letzten Interview spricht, nur kurz bevor er jene ewige Ruhe finden sollte, die ihn so schreckte und womöglich auch lockte, wäre ein Krieg des Fleisches gegen das Fleisch, war ein Krieg des Körpers gegen sich. Und es war ein Krieg des Gesichts gegen das Gesicht: „um ihm anzukündigen, dass meine Gesichtszüge seit ein paar Tagen von einer Gesichtslähmung entstellt werden, durch die mein linkes Auge starr wie das eines glasäugigen Zyklopen aufgerissen ist, unerschütterliche Wachsamkeit des Toten, das Augenlid abgestützt durch den Längsbalken einer inneren Narbe, an invisible scar, sage ich zu ihm, der Mund ist verzerrt, beim Trinken rinnt mir das Wasser aufs Kinn“60 / „dass ich mir diese ‚virale‘, a frigore ‚peripherische‘ (!) Gesichtslähmung selbst zuzuschreiben habe … als ‚Selbst‘bestrafung für das …, was ich den ganzen Tag lang tue, ganz zu schweigen von anderen Meineiden, die meine Züge verzerren, mein Gesicht zweiteilen, mich mit dem bösen Blick anschielen, dessen Anblick kaum zu ertragen ist…“61 / „heute ist es die Angst vor dem, was mir soeben auf halbem Weg, auf der Schwelle zum 59. Jahr, mit dieser Gesichtslähmung oder Lymph-erkrankung widerfahren ist, die, ohne sichtbare Spuren verschwunden, mir das Gesicht von innen heraus verwandelt haben wird, denn von nun an habe ich das Gesicht gewechselt“.62 Wechsel des Gesichts. Oder die Verwandlung des Gesichts in ein Gesicht. „Was ist ein Tic, ein Zucken? Es ist der unaufhörliche Kampf zwischen einem Merkmal der Gesichthaftigkeit, das der souveränen Organisation des Gesichts entkommen will, und dem Gesicht selber, das sich über diesem Merkmal 59 | Derrida im Gespräch mit Jean Birnbaum: Das Leben, das Überleben. Vom Ethos des Denkens und von der Chance des europäischen Erbes. Übers. v. Markus Sedlaczek. In: Lettre International. Nr. 66, 3/04. S. 13. 60 | Derrida: Zirkumfession. 11-323. Übers. v. Stefan Lorenzer. In: Ders./Geoffrey Bennington: Jacques Derrida. Ein Portrait. Frankfurt/M. 1994. S. 110. 61 | Ebd. S. 125f. 62 | Ebd. S. 132f.
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schließt, es wieder integriert und seine Fluchtlinie blockiert, ihm seine Organisation erneut aufzwingt. (Bei der medizinischen Unterscheidung eines klonischen und konvulsivischen Tics und eines tonischen und spasmodischen Tics muss man im ersten Fall vielleicht das Überwiegen des Merkmals der Gesichthaftigkeit sehen, das entfliehen will, und im zweiten Fall das Überwiegen der Organisation des Gesichts, die es wieder einschließen und unbeweglich machen will.)“63 So beweglich, unbeweglich wie ein zur Hälfte erstarrtes Gesicht. Machen wir uns nichts vor: in diesem Krieg des Gesichts gegen das Gesicht wird es manchmal nur Verlierer geben. Der Wahnsinn, der Tod… 5. Eine Fußnote: Im Jahr 1936 erhielt Francis Bacon einige Werke, die er zur Internationalen Surrealisten-Ausstellung in London geschickt hatte, zurück mit der Bemerkung: „nicht surreal genug“. Eine Anekdote und vielleicht ein wenig mehr als das: denn die unfreiwillige Komik der Kapriole kollidiert mit der unfreiwilligen Hellsichtigkeit ihrer Urheber. Mit gedämpftem Gespür für Bacon, für dessen Kunst, attestierten sie ihr eine Art Unfähigkeit zur somnambulen Verblendung des Vorfindlichen, ein mangelndes Talent zur Surrealität mithin. Und doch verfehlt der Ultrakurzkommentar der Kuratoren den Sachverhalt ums Ganze. Bacons Malerei wäre nicht nur „nicht surreal genug“. Sie ist in einem eminenten Sinne mit dem Konzept, Wirklichkeit mit den Mitteln der Wunschmaschinen Traum und Halluzination zu verzeichnen, unvereinbar. Der zuweilen latent regressive Charakter des surrealistischen Projekts, dem schon Adorno den protofaschistischen Puls fühlte,64 stand und steht zur Intention der Baconschen Kunst quer. Treue gegenüber dem Realen, eine verzweifelte Anhänglichkeit ans Faktische, dem Factum brutum leibhaftigen Daseins kennzeichnet sein Begehren; seine Begierde und Gier nach dem Blut, der Haut und dem Fleisch der Welt. In den Manegen, den Gerüstkuppeln und Verstrebungen seiner Bilder verrenken und verdrehen, stauchen und dehnen, reißen seltsam ausgebeint wirkende Geschöpfe über Gebühr und Möglichkeit ihre Gliedmaßen wie Trapezkünstler die gleißenden Körper ganz kurz nur vor dem freien Fall. Manchmal scheint es, man sähe Kreaturen aus einem anderen Kosmos, aus einer anderen Zeit, Kuriositäten aus einem Laboratorium für Hybriddesign. Und doch sieht man menschliche Gestalt, zur Kenntlichkeit, zur Wirklichkeit verzerrt, hier, jetzt. Und doch sieht man nichts anderes als eben jenes Reale, das statthat und eine Stätte, jenes flüchtige Nu, bevor sich seiner die transzendentale Kennerschaft bemächtigt und ins Schnittmuster je schon vertrauter Orientierung fügt. 63 | Cf. Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. l.c. S. 258. 64 | Cf. Theodor W. Adorno: Rückblickend auf den Surrealismus. In: Noten zur Literatur. Bd. 1. Frankfurt/M. 1980. S. 155-162.
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(Abb. 15 - Francis Bacon: Studie nach einem menschlichen Körper, 1981) Bei Bacon tritt eine Wirklichkeit in Erscheinung, die wir, gesegnet mit dem Fluch hochauflösender Blindheit, übersehen sehenden Auges. Nichts anderes haben wir, die Kinder des Lichts und der Lichtung, exerziert, Jahr um Tag. Was Bacons selbstverschuldete Fehlsichtigkeit inständig, zugleich unduldsam und überaus aggressiv zu konterkarieren wagt. Gewiss doch, er ist ein Extremist. Was sonst? Doch zielt sein Extremismus mitnichten auf Zerstörung, sondern auf Destruktion: Abschichtung, Schicht für Schicht, um jene Nervosität freizulegen, jene Empfindlichkeit, jene Passibilität, die vielleicht ein anderer Name wäre für das Leben selbst. Seine Kunst verletzt nicht. Sie macht verletzbar. Wie? Was das heiße? Wer seine „Portraits“ sieht, die kleine Form seiner Selbstbildnisse und Triptychen, dem verhuscht als Erstes jene Litanei aus küchenpsychologischen Halbheiten, mit denen die Bilder Bacons oft traktiert werden. Vom „Selbsthass des Künstlers“ ist die Rede, von der „Ausgesetztheit des modernen Menschen“, seiner „Sinnlosigkeit“ und „Hinfälligkeit“, der „Negativität“ einer durch kein Heil mehr getrösteten Existenz. Das beflissene Lamento aber verfehlte womög-
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(Abb. 16 - Francis Bacon: Selbstportrait)
(Abb. 17 - Francis Bacon: Drei Studien für ein Selbstportrait)
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lich nicht nur den Zugang zu Bacons Kunst. Sie verstellt ihn. Bacons Gesichter sind weder verfremdet, verunstaltet und verkrüppelt, weder fratzenhaft entstellt. Keine Grimasse bleckt sich einem entgegen, um etwa den falschen Schein von Macht und Pomp zu denunzieren. Was, mit anderen Worten, in Erscheinung tritt, Erscheinung wird, ist das Gesicht selbst in verstörender Nacktheit; in seiner Schönheit; in verletzender Anmut. Als wäre Verletzbarkeit in der Tat das ausgezeichnete Merkmal eines Lebewesens, das ein Gesicht hat, wenn man es ein Gesicht haben lässt. Die Portraits Francis Bacons erscheinen als singulärer Versuch, der menschlichen Physiognomie jene Gesichtszüge zu entreißen, die unter ihr verschüttet scheinen. „Wer für ein Portrait sitzt, ist aus Fleisch und Blut, und was eingefangen werden muss ist das, was sie ausstrahlen.“65 Darum also ginge es: um eine gewisse Sensibilität für jene schwachen Emissionen, für die Wirkung unscheinbarer Kräfte, die auf den Betrachter zielen, auf mich, noch bevor ich den Anderen mit Fähigkeiten und Eigenheiten, mit Affekten und mit einer Innerlichkeit ausstatte, die mir seine Physiognomie zu lesen gäben. Auch Bacons Gesichter sind ohne Eigenschaften. Und sie sind es, um jenen Raum einer „Zwischengesichtigkeit“ auszuspannen, der immer schon die bloße Frontalstellung von Einem und einem Anderen übersteigt. Die eigentümliche Haptik seiner Bildnisse, nicht zuletzt der meisterhaften Kolorierung geschuldet, ist mitnichten Ausdruck ästhetizistischer Finesse, kein Trug, sondern Manifestation eines Kontakts, der die Distanz nicht überbrückt, sondern voraussetzt. Vielleicht das, was man mit Fug eine Berührung ohne Berührung genannt hat, eine Diskonjunktion. Hegel, dieser in seinen kunstphilosophischen Schriften, und nur dort, so ausgesucht feinfühlige Schwabe, hat einmal bemerkt, dass für das Portrait Zärtlichkeit und bejahende Liebe für das Portraitierte eine unabdingbare Voraussetzung sei. Besser ließe sich die Baconsche Portraitkunst wohl kaum paraphrasieren. Die Intensität, die aus ihr spricht, verdankt sich einer Intimität, deren primärer Sinn jene basale Zusammengehörigkeit ausmacht, die den Menschen mit seinesgleichen alliiert und zugleich von ihm trennt. Die Verwischung, diese Technik der Ausstreichung und Auflösung der auf bloße Identifizierbarkeit ausgerichteten Züge, geriete so nicht nur zur Einschreibung der Zeit in das Fleisch: Simultaneität einer Bewegung, die im Körper, im Leib stattfände und nicht außerhalb; ein Weilen und ein Dauern, das ins Gesicht geschrieben stünde. Sie zielte vor allem auch auf die visuelle Fühlbarkeit jener Zwischengesichtigkeit, die jedes Gesicht ausmacht, bevor es zum Zeichenträger von Charakter und Gemüt, bevor es zum Ausweis unabdingbarer Identität avanciert. Wenn er einmal davon spricht, dass er kein Geschichtenerzähler 65 | David Sylvester: Gespräche mit Francis Bacon. Übers. v. Helmut Schneider u. Volker Ellerbeck. München, New York 1997. S. 177.
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sei, sondern ein Geschichtenzerstörer, gilt dies auch und vor allem für jene Geschichte, die dem Gesicht aufgesetzt wurde und die Deleuze und Guattari als „Horrorgeschichte“ denunzierten. Seine Freistellung vom Narrativ einer selbst- und weltmächtigen Innerlichkeit, dem Nukleus wehrhafter Humanität, bahnte so womöglich den Weg zu einer anderen Humanität, einer Humanität der Verletzbarkeit, die Bacon, der verschriene Inhumanist, in seinen pikturalen Exzessen aufzeichnete wie kaum je jemand zuvor. Lévinas, wir erinnern uns, wurde nicht müde darauf hinzuweisen, dass der Andere kein Gesicht habe, sondern ein Gesicht sei. Und vielleicht war Bacon in seinen Portraits nach nichts anderem auf der Suche als nach diesem Gesicht des Anderen; diesem anderen Gesicht, diesseits und jenseits aller eingeübten Muster der Wiedererkennbarkeit und Aneignung. Seine Recherche galt jenem Raum des Zwischen, den die alteingesessene Metaphysik der Beseelung ebenso ausblendet wie die jüngst etablierten Physiken einer sich im Anatomischen erschöpfenden Körperlichkeit. Weder Physiker noch Metaphysiker wäre Bacon der Artist dieses Zwischen. Seine bildgewordenen Versuchsanordnungen zielten nicht auf irgendein Wesen hinter der Erscheinung, sondern auf das Wesen der Erscheinung selbst, ihr Aufleuchten, ihr Verglühen. Bacon sagte das so: „Ich möchte den Gegenstand weit über seine alltägliche Erscheinung hinaus entstellen, in der Entstellung aber ihn zurückbringen auf eine Aufzeichnung seiner Erscheinung.“66 6. „Es ist nicht so leicht, das Gesicht aufzulösen. Man läuft dabei Gefahr, wahnsinnig zu werden.“67 Und doch erschlösse uns nur diese Auflösung, ihr Risiko, jenes Mehr, das das Gesicht Gesicht werden ließe: Gesichtwerden. Ein Mehrwert, der sich von jenen Höhlen aus öffnete, die nicht wie von selbst angestammter Sitz eines Paars Augen sein werden. Ein Mehrwert, der sich im Bruch mit jener okularzentrischen Fazialität realisierte, die den Blick des Verfolgers und die endlose Hatz der verfolgten Verfolger als anthropologisches Fatum etablieren sollte. Sprechen wird also vom Mund. Vom Mund, der zu den Ohren und zu den Augen spricht, der zum-Gesicht-vom-Gesicht spricht: face to face. Sprechen wir vom Mund, von Lippen, Zähnen, den Insinuationen eines Zungensprechens und einem Schlund, der sich selbst, wir haben es gesehen, zu verschlingen vermag. Sprechen wird vom Mund und mit ihm. Jenes Organ des Chaos, des Schreis, von Lachen und Weinen als den beiden anthropologischen Extremismen,68 des Gesangs, der im Summen endet und im Lispeln und im Geflüster, direkt ins Ohr, um jene Nähe zu enthüllen, die Heidegger 66 | Ebd. S. 41. 67 | Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. l.c. S. 258. 68 | Cf. Hans-Peter Krüger: Zwischen Lachen und Weinen. Band I: Das Spektrum menschlicher Phänomene. Berlin 1999. Ders. Zwischen Lachen und Weinen. Band
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im Ausgang der Dinge, Lévinas im Ausgang des anderen Menschen suchte. Haben auch Dinge ein Gesicht? Diese Frage ist unendlich schwierig. Sie ist so schwierig, weil wir zu ahnen beginnen, dass sich eine mögliche Differenz zwischen dem menschlichen Gesicht und dem Gesicht der Dinge nicht als Demarkation zwischen einer Ethik des (mitmenschlich) Anderen und einer Ästhetik errichten ließe, die dem Bezug zu den Dingen keineswegs ignorant gegenübersteht. Wenn also Agamben in seinem Text zum Antlitz, der seine Ehrerbietung für Lévinas kaum zu verheimlichen braucht, dieses Antlitz als „Ausstellung“, als Öffnung, Mitteilbarkeit, sprich Sprache bestimmt,69 kann er in einer Bemerkung, deren Beiläufigkeit fast provokativ wirkt (sie steht in Klammern), umstandslos darauf hinweisen, dass die Kunst, was Lévinas kaum gegengezeichnet haben würde,70 auch einem „unbelebten Gegenstand“, einem Stillleben etwa, ein Antlitz geben könne.71 Doch schweigt er sich über den Unterschied, der das menschliche Gesicht/Antlitz von dem der Natur, der unbelebten wie belebten, abhöbe, aus. Die heikle Frage der Politik - die als Politik des Gesichts, so Agamben, das Antlitz sich anzueignen, die mithin die Offenheit, deren sie sich als Politik überhaupt nur verdanke, unter Kontrolle zu bringen trachte - in ihrem Verhältnis zur Ethik steht hier ebenso zur Disposition, wie das einer Ästhetik im Allgemeinen zur Ästhetik der Passibilität, die einen ebenso fundamentalen, fundamentierenden wie abgründigen Charakter innehat wie eine Ethik der Ethik im Sinne Lévinas in ihrem Verhältnis zur Ethik überhaupt. Skizzieren wir: wenn erstens die Fundamentalethik im Sinne Lévinas’ über den Bereich der Intersubjektivität hinaus, wofür es gute Gründe gibt,72 auf den des Dinglichen, schließlich Kosmischen ausgedehnt werden kann und vielleicht auch muss, wird zweitens diese Ethik eines Ereignisses oder Vorfalls, dessen Flüchtigkeit ihm wesentlich ist, kraft einer Ästhetik konfirmiert und versiegelt, die als Ästhetik der Passibilität die Wiederholung des Nichtwiederholbaren einräumt; eine rettende Wiederholung vielleicht, die jenen Eklat einer Ethik in seiner Einmaligkeit und Punktualität verstetigt. Auf allerdings prekäre Weise: die konstitutive Irregularität des Ereignisses wird zum Bestand einer ästhetischen Bearbeitung, die ihn ihrerseits weder sichern noch garantieren II: Der dritte Weg. Philosophische Anthropologie und die Geschlechterfrage. Berlin 2001. 69 | Giorgio Agamben: Das Antlitz. In: Christa Blümlinger/Karl Sierek (Hg.): Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes. l.c. S. 219, 222. 70 | Cf. Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. l.c. S. 267f. 71 | Ebd. S. 219f. Hierzu auch: Katharina Bahlmann: Können Kunstwerke ein Antlitz haben? Wien 2008. 72 | Cf. Derrida: Gewalt und Metaphysik. l.c. S. 188ff.
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kann. Auch die Wiederkehr des Vorfalls ist ein Vorfall. Die Bedingungen seiner Möglichkeit zeitigen ihn nicht. Seine Wirklichkeit ist die einer Passibilität, die eher einer Wunde gleicht und einem Wundsein, einer Verwundung und Reizbarkeit als einem Organ der Aufnehmbarkeit. Geduld auf dem Grunde der Ungeduld, eine Aufmerksamkeit für nichts und für niemanden, die verbissene Leidenschaft des Suchers, der nicht weiß, nach was er sucht, charakterisieren deren Tugenden weit mehr als ein ausgewiesenes Regularium kunstgewerblicher Fertigkeiten. Und eine Politik und politische Praxis, dieses vielleicht unmögliche Unterfangen, stritte drittens im Raum des Universellen, des Allgemeinen und Kollektiven um diesen Einsatz einer Singularität, die die Totalität des Totalen ebenso konterkariert wie bedingt. Sie stellte endlich die stets heikle Frage der Institution und an die Institution nach jenem konstitutiv A-Institutionellen, die eine Institution aus sich ausschließen wie in sich einschließen muss, wenn ihr Statut mehr sein soll als die willfährige Proklamatorik guter Absichten und gutgemeinter Ratschläge. Sie wäre eine Politik jenseits der Politik: Politik der Dinge, umwillen der Dinge, der Gesichter, umwillen der Gesichter. Also hätten auch Dinge ein Gesicht? Sicherlich. Doch es ist stumm. Nur das menschliche Gesicht kann schweigen. Nur das menschliche Gesicht entfaltete das Drama seiner Gesichtigkeit in der Gegenwendigkeit des Sagens eines Gesagten, hinter dem es zurücktritt. Die Dinge aber sagen nichts, nichts Sagbares und Gesagtes, ihr Anspruch ist rein, ist leer und ohne allen Inhalt. Als fehlte ihrem Gesicht die Kontur. Als fehlte ihrem Gesicht das Gesicht. Das menschliche Gesicht hat ein Gesicht, doch es muss es suchen. Immer wieder. Immer noch. Eine Ästhetik der Passibilität wäre auch diese Suche nach einem Verlorenen, das doch nur als Verlorenes ist und gefunden werden kann. Und wenn wir von den Dingen, den unbelebten, den toten, den erschaffenen oder bloß vorgefundenen zu sprechen begännen, vom Gesicht dieser Dinge, das sie mir, schauen wir nur genau hin, zuzuwenden beginnen, wäre es dann noch möglich, die Frage zu verhindern, ob auch die Toten ein Gesicht haben - und wenn ja, welches, und wenn ja, wie. Mit dem Auftauchen des Anderen, seinem Gesicht, nämlich änderte sich nicht nur die Szene des Subjekts schlagartig. Indem der Andere das Gesicht ist, bräche er nicht nur mit den vertrauten Tropen transzendentaler Subjektivität, sei’s der erkenntniskritischen, sei’s der phänomenologischen: Präsenz und Repräsentation, Vorstellung, Wille und Wissen, Vergegenwärtigung und Gleichzeitigkeit, Freiheit und Selbstbezug, Denken als Synthese, Subsumption und Identifikation, Wahrheit als Adäquation und Enthüllung, Erfahrung, Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Reflexivität als sich selbst gründender Grund einer Ichheit, die alles, was ist, nach Maß und Maßgabe seiner theoretischen wie praktischen Kapazitäten ausrichtet und sich dergestalt aneignet. Das alles mag sein und seine Richtigkeit haben. Indem aber der Andere das Gesicht ist, bedeutet er
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über all das hinaus auch einen Tod, der nicht der meine ist und doch der meine, einen Tod, der mich angeht, mich angreift und kränkt, der mich anklagt, als hätte ich ihn verschuldet, als hätte ich einen Mord begangen: „Eintritt in die Beunruhigung-um-den-Tod-des-anderen-Menschen“.73 Beunruhigung über seinen Tod, über ihn, den Toten. Haben Tote ein Gesicht? „Dieser Mensch soll also kein Mensch mehr sein. Dieses Gesicht soll also kein Gesicht mehr sein. Aber dieses Gesicht ist ein Gesicht.“74 Diese gebrochenen Augen, der Mund, dem kein Atem mehr entströmt, diese tückische Schönheit einer atemlosen Dauer, wenn der Tod die Gesichtshaut des Verstorbenen glättet, als wolle er die Spuren jener Zeit tilgen, der er zum Opfer fiel, während die Fahlheit erster Verfärbungen anzeigt, dass sie ihr Werk der Zersetzung längst schon begonnen hat: was für ein Gesicht ist das? Blicken seine Augen, spricht sein Mund? „Was den Tod angeht, die Darstellung eines schlichten Todes, so erinnere ich mich nur des Portraits, das Claude Monet von seiner Frau Camille auf ihrem Totenbett anfertigte. Er bekannte sich erst viel später in einem Brief an Clemenceau dazu: ‚… dass ich mich eines Tages dabei ertappte, wie ich am Bett einer Toten, die mir sehr teuer war und auch teuer blieb, die Augen auf die schreckliche Schläfe richtete und dabei versuchte, die Abfolge, das allmähliche Fortschreiten des Verfalls der Farben, die der Tod dem unbeweglichen Gesicht aufzwang, herauszufinden.’ Im Angesicht seiner toten Frau hat Monet sich nicht daran hindern können, zum Pinsel zu greifen. Nicht um sich ihrer besser zu erinnern, sondern weil die Analyse der Farben für ihn eine ständige Beschäftigung war. Sie war stärker als sein Kummer. Weil Claude Monet nie aufgehört hat, ein Maler zu sein, hat er aus dem Tod seiner Frau ein Kunstwerk gemacht, das an den Wänden der Museen hängen kann.“75 Diese inständige Grausamkeit Monets, die ihn augenscheinlich selbst verwirrte, womöglich auch entsetzte, wäre nur ein Beispiel (aber was für eines!) für die Grausamkeit überhaupt, deren es bedarf, wenn man dem Tod ein Gesicht abtrotzen möchte, das Gesicht des Toten. Noch die Gesichter der Totenmasken mit ihren ostentativ verklebten Augen, den verhangenen Mündern, scheinen einer Sprache mächtig, die kein Lebender spricht und versteht. 73 | Cf. Emmanuel Lévinas: Bemerkungen über den Sinn. In: Wenn Gott ins Denken einfällt. l.c. S. 216. 74 | Erich Fried: „Kobenhavns Amts Sygehus Gentofte“. In: Das Unmaß aller Dinge. Erzählungen. Berlin 1982. Zit. nach: Thomas Macho: Wir erfahren Tote, keinen Tod. In: Rainer Beck (Hg.): Der Tod. Ein Lesebuch von den letzten Dingen. München 1995. S. 296. 75 | Robert Bober: Was gibt’s Neues vom Krieg. Übers. v. Tobias Scheffel. München 1995. S. 162f.
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(Abb. 18 - Claude Monet: Camille Monet auf dem Totenbett, 1879) Denn was sagen sie uns, ganz nah bei uns und doch unendlich fern von uns? Vielleicht sagen sie nichts; nichts als ein Sagen, das all das Gesagte, das gesagt hätte werden können und gesagt worden wäre, sagt. Und vielleicht wird hier und nur hier dieses eine Mal ein Sagen vernehmbar, dessen Gesagtes reine Möglichkeit ist, unmögliche Möglichkeit, die sich in keine Wirklichkeit mehr entlädt. Ein Sagen, dessen Anspruch auf An- und Widerrede so unabgegolten und unabgeltbar wäre wie eine ewige Schuld. Wie im Schlaf sprechen wir zu unseren Toten. Anspruch, Rede. Und Rede, die auf Widerrede wartet und wartet: „Sprich mit mir!“ Wer hat gesagt, dass wir uns billigerweise dieses Anspruchs entledigen dürften?
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4. Zeit-Bild 2: Subjekt (Langeweile)
„Die Welt existiert in zwei Zuständen, ‚Regen’ und ‚Nicht-Regen’, und es sollte eigentlich eine Trennlinie zwischen den beiden geben.“ Haruki Murakami „Waiting for the miracle to come.“ Leonard Cohen
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1. Auf was man wartete, wenn man auf nichts wartete? Auf nichts Bestimmtes jedenfalls, irgendetwas, dessen Ankunft sicher wäre oder wahrscheinlich, zumindest möglich, das immerhin. Wäre das warten? Können wir warten, ohne etwas zu erwarten? Auf was und auf wen, wenn es weder etwas noch jemanden gäbe, auf den sich alle Absicht und Sehnsucht und Furcht richtete? Und wer, wir? Die, die im Zustand des Wartens verharrten, im Wartestand einer Zuversicht ohne Aussicht. Ohne „Aussicht auf etwas.“ Die ironische Volte des Müßiggängers, seine erquickende Langatmigkeit und Bummelei, stehen uns nicht mehr zu Gesicht. Die Zeit einladen zu sich, vielleicht, wie man einen Gast einlädt: Benjamins im Passagen-Werk unter D rubriziertes Konvolut über „Die Langeweile, ewige Wiederkehr“ enthält jedenfalls eine einigermaßen rätselhafte Anweisung: „Man muss sich nicht die Zeit vertreiben - muss die Zeit zu sich einladen. Sich die Zeit vertreiben (sich die Zeit austreiben, abschlagen): der Spieler. Zeit spritzt ihm aus allen Poren. - Zeit laden, wie eine Batterie Kraft lädt: der Flaneur. Endlich der Dritte: er lädt die Zeit und gibt in veränderter Gestalt - in jener der Erwartung - wieder ab: der Wartende.“1 Endlich der Dritte: im Gegensatz zum Typ 1, dem Spieler, dem Zeitvertreiber, der sie gleichsam ausschwitzt, exorziert wie einen Dämon, schlendert Typ 2 dank der Zeit und durch sie, nimmt sie in sich auf und bewahrt sie „wie eine Batterie“. Auch er schon ein Vagant ohne Ziel und Zweck, Rebell without a cause gegen den Zeitvertreib, gegen ihr Antreiben, ihre Beschleunigung,2 auch er schon einer, der Zeit einlädt, lädt, wird mit Typ 3, dem „Wartenden“, Zeit nicht nur gespeichert und konserviert. Ergänzt man das augenscheinlich fehlende Akkusativobjekt und notiert: „er lädt die Zeit und gibt sie in veränderter Gestalt … wieder ab“, entpuppt sich deren Mutation als sein Programm. In der Gestalt und als Zeit der Erwartung also setzt der Wartende sie frei. Aber was das hieße? Zumindest so viel: der ins und aufs Futurische gerichtete Habitus, die Öffnung auf Zukunft, auf Ankunft und Ankommen, diese ganze adventische Beflissenheit deutet offensichtlich auf jenen messianischen Eigensinn voraus, der das Denken Benjamins als Ganzes trägt und bestimmt. Derrida jedenfalls, der in später Tuchfühlung mit Benjamin einige seiner maßgeblichen Überlegungen zu Recht und Gerechtigkeit entwickeln sollte, scheint diesem Messianismus so einiges abgewinnen zu können „trotz aller Unterschiede und gebotener Distanzen”.3 Trotz aller Reserven träten Benjamins 1 | Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Rolf Tiedemann (Hg.) Bd. 1. Frankfurt/M. 1983. S. 164. 2 | Mit feinem Gespür für die denkwürdige Anekdote, notiert Benjamin, dass es im Paris des 19. Jahrhunderts als chic galt, mit Schildkröten zu promenieren: Ebd. S. 532. 3 | Jacques Derrida: Marx ’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Übers. v. Susanne Lüdemann. Frankfurt/M. 1995. S. 94.
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„schwache messianische Kraft“4 und Derridas „messianische Armut“5 in Diskonjunktion, wäre ihre Erwartung des Kommenden ohne alle inhaltliche Bestimmtheit, ohne Gegenstand und Fixpunkt der heiße Nukleus ihres Denkens der Ankunft, des Ankömmlings. Ein Messianismus ohne Messias gleichsam, gleichsam ein „Messianisches ohne Messianismus“,6 ein durchkreuzter, kreuzweise ausgestrichener Messianismus, eine Art Bereitschaft, Aufmerksamkeit, eine Art Erwartung von …, ein Warten auf … Wer hätte je zu behaupten gewagt, die Position von Lucky und Pozzo, diese bedauernswerten Spießgesellen, sei eine komfortable? Ihre Nichtsnutzigkeit ist unbenommen, die Tristesse, der Überdruss, die Langeweile mit Händen zu greifen. „Langeweile haben wir, wenn wir nicht wissen, worauf wir warten. Dass wir es wissen oder zu wissen glauben, das ist fast immer nichts als der Ausdruck unserer Seichtheit oder Zerfahrenheit. Die Langeweile ist die Schwelle zu großen Taten. - Nun wäre zu wissen wichtig: der dialektische Gegensatz zur Langeweile.“7 Dialektisch aber wäre dieser Gegensatz, wäre die Langeweile selbst messianisch virulent. Dialektisch wäre dieser Gegensatz, wenn in ihr selbst das Andere ihrer selbst präfigurierte. Dialektisch wäre dieser Gegensatz, wenn die prekäre Gegenstrebigkeit zwischen diesen beiden Polen, die einander bis zur offenbaren Ununterscheidbarkeit gleichen und gleichen müssen, in der Schwebe bliebe, unentschieden. Als wären es weniger Pole als vielmehr Aggregatzustände, energetische Muster ein und desselben. Derselben Sache, derselben Langeweile. Wenn mit ihr tatsächlich, wie Michael Theunissen einmal gesagt habe, die Psychopathologie im Alltagsleben begänne, begänne mit ihr auch die Möglichkeit des Guten, des ganzen guten Lebens, des Glücks - et vice versa. Als kauerte im Kernschatten der leeren das Inkognito der erfüllten Zeit. Als linderte, als löste nur die Zeit selbst das Leiden an ihr, als wäre diese Erwartung, die nichts erwartet, noch nicht oder nicht mehr, Unheil und Heil zugleich: Langeweile. Um ihre Unbestimmtheit, ihre Unbestimmbarkeit also ginge es, um jenes Möglichkeitsflimmern, jenes Flirren, Flackern, jenes lichtlose Scheinen, jene Hindurchsichtbarkeit des Möglichen, das passibel zu werden begänne in dem Moment, wo die Gegenstände ihre Konturen verlören und ihre Farben ausbleichten. Das „Grau“, das sich über die Landschaft legt wie ein Nebel, wäre ihr Kolorit. Die „grauen Tage“, wolkenverhangen, trübe, verwaschen und fahl, wären ihr bevorzugtes Milieu. Und der Regen, der in stiller Monotonie die Welt, die Menschen, die Dinge auslaugt, wäre ihr Rhythmus. „Nichts langweilt 4 | Cf. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser (Hg.) Bd. 2. Frankfurt/M. 1980. S. 694. 5 | Cf. Derrida. Marx’ Gespenster. l.c. S. 94 u.a. 6 | Ebd. S. 123, 264. 7 | Benjamin: Das Passagen-Werk. l.c. S. 161.
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den gewöhnlichen Menschen mehr als der Kosmos. Daher für ihn die innigste Verbindung von Wetter und Langeweile. Wie schön die ironische Überwindung dieses Verhaltens in der Geschichte vom spleenigen Engländer, der eines morgens aufwacht und sich erschießt, weil es regnet.“8 Wohl möglich, dass der Engländer, der passionierte Kontinentalflüchter, ein wenig zur Exzentrik neigt, doch muss man kein Engländer sein, um dieses Wetter zu hassen. Nietzsches grimmige Invektiven gegen das Deutsche, das Deutschtum, die wilhelminische Klaustrophilie waren stets auch seiner Abscheu gegen das deutsche Wetter geschuldet, der lastenden Schwüle, dem endlosen Regen, der Verhangenheit. Seine mediterrane Sehnsucht aber war keine intellektuelle. Zwar war sie Sehnsucht nach Klarheit, nach Licht, Helle, doch sie war eine leibliche. Der Migräniker wusste, von was er sprach: „Jetzt, wo ich die Wirkungen klimatischen und meteorologischen Ursprungs aus langer Übung an mir als an einem sehr feinen und zuverlässigen Instrumente ablese und bei einer kurzen Reise schon, etwa von Turin nach Mailand, den Wechsel in den Graden der Luftfeuchtigkeit physiologisch bei mir nachrechne, denke ich mit Schrecken an die unheimliche Thatsache, dass mein Leben bis auf die letzten zehn Jahre, die lebensgefährlichen Jahre, immer sich nur in falschen und mir geradezu verbotenen Orten abgespielt hat. Naumburg, Schulpforta, Thüringen überhaupt, Leipzig, Basel, Venedig - ebensoviele UnglücksOrte für meine Physiologie.“9 Und für seine Psychologie: welcher Höllenkreis sich für Nietzsche schloss, als er zum letzten seiner Unglücksorte zurückkam, erahnt man mit Schaudern. Sein Bellevue aufs liebliche Weimar war ein Silberblick ins Leere: regressiv und wie alle Regression tödlich. Seine Heim-, seine Wiederkehr sanktionierte das klägliche Ende aller Denk- und Lebensmöglichkeiten. Als hätte er seinen „abgründigsten Gedanken“ nicht mehr geschultert, die „ewige Wiederkehr des Immergleichen“, deren Bösartigkeit, deren Tödlichkeit zugleich das Leben selbst ist. Extreems meet: nur der Ekel gebiert die Lust. Die leibhafte Negation, die Idiosynkrasien gegen jenes Unerträgliche, das die Haut wund macht und in den Körper eindringt, jenes Kratzen und Würgen bis zum Erbrechen, der überwältigende Widerwille selbst wird zu jenem Ja, zu jener Bejahung ohne Vorbehalt, zum Daseinsjubel. Nietzsches Protokoll dieser wunderlichen Wandlung skandiert den „Zarathustra“ an entscheidender Stelle.10 Der Ekel, taedium vitae: Welchen trugsicheren Instinkt Benjamin geleitet haben mochte, als er die Langeweile, als wär’s eine Annonce, mit Nietzsches „ewiger Wiederkehr“ verschränkte, wissen wir nicht. Seine eigenen Bemer8 | Ebd. S. 157. 9 | Friedrich Nietzsche: Ecce homo. In: Kritische Studienausgabe (KSA) Bd. 6. Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.) Berlin, New York 21988. S. 282f. 10 | Cf. Nietzsche: Also sprach Zarathustra. In: KSA Bd. 4. S. 199-202.
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kungen dazu sind knapp, eher flüchtig und zuweilen fast oberflächlich. Und es ist doch eine Spur. Folgen wir ihr. Folgen wir der Vermutung, dass, analog zur unhintergehbaren Zwiespältigkeit des Nietzscheschen Gedankens der „ewigen Wiederkehr“, auch die Langeweile ein Zwitter ist, dessen Extremismus nur um den Preis, ihm zu erliegen, geleugnet werden kann. Folgen wir dem Verdacht, dass diese Analogie auf eine Koinzidenz in der Sache vorausdeutet. Als hätte Nietzsche mit seiner Grundformel, die er nie ernsthaft mit Inhalt füllte,11 das Schnittmuster jeder möglichen Hermeneutik der Langeweile vorgefertigt: „Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch gegen sich selber: den kräftigsten Labetrunk aus dem eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen.“12 2. Was also Langeweile wäre, was langweilig und wem? Die „Krankheit der Zeit“,13 die nicht nur von der Zeit selbst herrührte, sondern die gegenwärtige Situation, unsere Zeitgenossenschaft, bestimmte und dominierte: wäre sie womöglich der Überdruss des Menschen an sich, an sich selbst als dem, der er ist und zu sein hat? „Müssen wir uns uns selbst erst wieder interessant machen? Warum müssen wir das? Etwa weil wir selbst uns, uns selbst, langweilig geworden sind? Der Mensch selbst sollte sich selbst langweilig geworden sein? Warum das? Ist es am Ende so mit uns, dass eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herzieht?“14 Heidegger wird sich im Wintersemester 1929/30 auf die Suche nach dieser „tiefen Langeweile“ machen, macht sich auf die Suche nach einem Phänomen, dessen offenbare Belanglosigkeit die ganze Kunstfertigkeit phänomenologischer Recherche erfordert, um es überhaupt in den Blick nehmen zu können. Und wie Heidegger das tut, wie er dabei vorgeht, die Hartnäckigkeit und Insistenz seiner Untersuchung, die Behutsamkeit, die Genauigkeit, raubt einem zuweilen den Atem. Gebannt bestaunt man diese einsame Artistik 11 | Zur Inhaltslosigkeit der Wiederkunftgedankens: Cf. Bernard Pautrat: Nietzsche, medusiert. Übers. v. Werner Hamacher. In: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Frankfurt/M. Berlin. 1986. S. 111-128. Hannah Arendt ihrerseits spricht hinsichtlich des Wiederkunftgedankens, der keine Theorie, keine Doktrin, „nicht einmal eine Hypothese“ darstelle, von einem „Gedankenexperiment“ und offenbart damit ein feines Gespür für dessen de- und desontologische Pointe. Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. München 1979. S. 394. 12 | Nietzsche: Der Wanderer und sein Schatten. § 200. In: Menschliches, Allzumenschliches II. KSA Bd. 2. S. 641. 13 | Benjamin: Das Passagen-Werk. l.c. S. 165. 14 | Martin Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. Gesamtausgabe Bd. 29/30. Freiburger Vorlesungen Wintersemester 1929/30. Frankfurt/M. 1983. S. 115.
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eines Denkens, das sich seinem Gegenstand, als bildete es dessen Hohlform, anzuschmiegen trachtet. Denn während Heidegger die „Leergelassenheit“ und „Hingehaltenheit“ als die zwei wesentlichen Strukturmomente der Langeweile freilegen wird, während er deren Komposition im Durchlaufen einer dreigliedrigen Typologie der Langeweile entfaltet, schlägt er dem Hörer, dem Leser ein ums andere Mal all die sorgsam zusammengestellten Befunde wieder aus der Hand. In mäandrierenden Verschlingungen unterspült ein Exzess von Fragen wieder und wieder die eben erst konsolidierten Resultate seiner Analyse. Man hat das Gefühl, als ginge man wieder und wieder leer aus, als würde man irgendwie - hingehalten. Das Gefühl oder die Stimmung. Sie nämlich gelte es zu wecken, die Langeweile als Stimmung, die in den Abgründen des Daseins flotiert, im Dasein womöglich gründet, die „Grundstimmung“, die man nicht erst wach machen, sondern „wachsein lassen, vor dem Einschlafen behüten“15 müsse. Das Bild ist seltsam genug. Doch enthält es einen ersten Hinweis über die Herangehensweise. Denn wenn es darum zu tun sein soll, die Langeweile nicht einschlafen zu lassen, sie nicht einzuschläfern, dann würde aus eben diesem Verhalten, dem Nicht-zulassen-Wollen der Langeweile, sie selbst, wie in einem Zerrspiegel, kenntlich. Das jedenfalls wäre Heideggers methodische Prämisse: „wenn die Langeweile etwas ist, wogegen wir im Grunde und von Hause aus sind, dann wird sie sich als solches, wogegen wir sind, da ursprünglich offenbaren, wo wir gegen sie sind, wo wir sie - ob bewusst oder unbewusst - vertreiben.“16 Die Affinität zum Modus Operandi der Psychoanalyse Freuds, die er zwar schmäht, offensichtlich aber kaum kennt, ist augenfällig: Der Widerstand ist konstitutiver Bestandteil des Phänomens selbst. Ihn auszublenden, mit methodischem Kalkül zu ignorieren eröffnet nicht, sondern verstellt den Zugang zu ihm. Phänomenologisch ausgedrückt: das Sein des Objekts wird auf die Beziehung zu ihm zurückgeführt. Sein Wesen ist allein in dieser Reduktion zu erschauen. Die in der gewöhnlichen szientifischen Analyse geforderte Abstraktion von diesen Beziehungen verhält sich dazu gegenläufig, verfehlt deshalb das Sein des Phänomens als Ganzes. Immer wieder wird Heidegger deshalb sein Vorgehen gegen das der positiven Wissenschaft abgrenzen, gegen deren Tendenz zur Isolation und Vergegenständlichung des Phänomens (hier der Stimmung), gegen deren Ideal vorurteilsfreier Exaktheit,17 um die „Unmittelbarkeit des alltäglichen Daseins“18 wieder in ihr Recht zu setzen. Unmittelbarkeit und auch Naivität eines Bewusstseins, 15 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 118. 16 | Ebd. S. 136. 17 | Ebd. S. 142f. 18 | Ebd. S. 137.
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dessen Kolonisierung durch einen Szientismus und dessen mediale Konkordanz längst jener Sklerotisierung des Denkens zuarbeitet, gegen die dieser Szientismus einst in Stellung gegangen war. Als gelte es, die Kategorien der Selbst- und Fremdbeschreibung vom Präjudiz des szientifischen Vorrechts in der Erkenntnis unserer selbst zu befreien. Die als nurmehr subjektivistisch diffamierten Anteile in ihr sind ihr wesentlich. Also begänne alles mit einer Analyse des „Zeitvertreibs“, um zur „Langeweile“ durchstoßen zu können, mit einer Analyse und schließlich gar mit dem Aufweis ihrer „Einheit“.19 Erste Irritation: während Heidegger in der Tat im Zeitvertreib als „zeitantreibendes Wegtreiben der Langeweile“20 den „Leitfaden unseres Vorgehens“21 gefunden zu haben behauptet, insistiert er andererseits darauf, der Langeweile vorab nicht entgegen zu sein, sich ihr ohne Vorbehalt zu nähern: „Dies ist es, was wir erst lernen müssen, dieses Nichtalsogleich-Widerstehen, sondern Ausschwingenlassen.“22 Was auch immer es mit dem Wortfeld der „Schwingung“,23 das Heidegger in diesem Zusammenhang immer wieder anwendet, auf sich haben soll: welchen Sinn es haben könnte, einerseits den Zeitvertreib als Widerstand gegen die Langeweile als ihr zugehörig zuzuschlagen, andererseits den Verzicht auf ihn augenscheinlich zur Bedingung, sich ihr überhaupt nähern, sie „wach“ sein lassen zu können, zu erklären, bleibt dunkel. Die schlichtschöne Nüchternheit der phänomenologischen Untersuchung der Langeweile als Alltagsphänomen jedenfalls tritt spürbar in Spannung zur appellativen Emphase, die ihr vorausgeht und, wie wir noch sehen werden, auch folgt. Behalten wir das im Auge. Langeweile also würde offenbar im Widerstand gegen sie, gegen das, was langweilt, das Langweilige, das einen ebenso leer lässt wie hinhält. Erste Station der Recherche, erste Szene: „Wir sitzen z.B. auf einem geschmacklosen Bahnhof einer verlorenen Kleinbahn. Der nächste Zug kommt erst in vier Stunden. Die Gegend ist reizlos.“24 Zum Beispiel: schon das Kürzel verrät etwas vom Sinn dieser ersten Form der Langeweile: dem „Gelangweiltwerden von …“. Das Kürzel wie auch das stumme Zeichen, drei Auslassungspunkte, die auf ein „etwas“ verweisen, eine Art Objekt, in dem diese Form gegenständlich, gleichsam materiell wird. Anders gesagt: Die Situation selbst ist langweilig: das endlose Warten auf den Zug, die Trostlosigkeit des Bahnhofs, das verschlafene Städtchen etc. All das ödet mich an, bedrückt, ist langweilig: erstens durch das Leerlassen der Dinge, die gerade dadurch, dass sie anwesend sind, eine eigen19 | Ebd. S. 143. 20 | Ebd. 21 | Ebd. S. 166. 22 | Ebd. S. 122. Auch: S. 199, 240 et passim. 23 | Cf. ebd. S. 200, 222, 227, 241, 247 et passim. 24 | Ebd. S. 140.
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tümliche Weise der Abwesenheit offenbaren. „Obgleich die Dinge vorhanden sind, lassen sie uns leer.“25 Die Dinge sind da, wie immer, doch haben sie in dieser Situation keinen Sinn, keinen Zweck. Als wäre ich auf etwas bezogen, das sich mir zugleich entzieht. Der Bahnhof ist da, ist aber zugleich gleichsam außer Gebrauch, außer Betrieb. Dieser Entzug-im-Bezug ist das, was mich nicht los-, in eins aber leer lässt. Wozu sich als zweites Moment gesellt, was Heidegger „Hingehaltenheit“ nennt: denn die Dinge, der Bahnhof, sein Interieur, lassen mich ja nicht schlechthin leer, sondern jetzt, in diesem Moment, der einen genau auszumessenden Zeitraum umspannt: die Stunden bis zum Eintreffen des Zuges. Mit dessen Einfahrt endet die Langeweile, weil ihr Anlass endet. Bis dahin aber bläht sich die Zeit, dehnt sich, wird endlos lang. Sie verrinnt nicht, sie stockt. Heidegger spricht vom „zögernden Zeitverlauf “, von einer „lähmenden Betroffenheit“26 durch ihn und von all den hilflosen Versuchen, dem Abhilfe zu leisten: das Hin- und Hergehen, der ständige Blick auf die Uhr, die Unrast kleiner Ablenkungen. Und er resümiert: „Das Gelangweiltwerden ist eine eigentümliche lähmende Betroffenheit vom zögernden Zeitverlauf und der Zeit überhaupt, eine Betroffenheit, die uns in ihrer Weise bedrängt.“27 Womit die Spezifik dieser ersten Form der Langeweile schärfere Konturen erhält: denn das temporale Hingehaltensein in der Leergelassenheit durch die Dinge setzt zwar deren Gegebenheit voraus, doch im Fall des „Gelangweiltwerdens von …“ in der jeweils bestimmten Hinsicht eines erwarteten Zwecks, einer Funktion. Funktionieren sie erst einmal wieder genau so, wie man es gewöhnlicherweise erwartet, verflüchtig sich die Situation und die mit ihr einhergehende An- und Zumutung. Es ist genau diese Bestimmtheit, die „Eindeutigkeit“,28 wodurch sich die zweite Form der Langeweile von der ersten unterscheiden wird. Heidegger konstatiert eine dramatische Zuspitzung in der Komposition jener Form, ein Tieferwerden, eine Art Eskalation der Langeweile selbst. Zweite Station der Recherche, zweite Szene: „Wir sind irgendwo abends eingeladen. Wir brauchen nicht hinzugehen. Aber wir waren den ganzen Tag angespannt, und für den Abend haben wir Zeit. Also gehen wir hin.“29 Wer kennt das nicht? Man ist irgendwo zu Gast, unter Bekannten, Freunden, die Stimmung ist ausgelassen, heiter und doch - man langweilt sich auf irgendeine Weise. Man langweilt sich bei etwas, das an sich gar nicht langweilig zu sein scheint. An sich heißt: die Langeweile ist fast objektlos geworden. Ihr fehlt der angebbare Grund. Zwar bleibt sie an eine Situation gebunden, doch kann 25 | Ebd. S. 154. 26 | Ebd. S. 144ff. 27 | Ebd. S. 148. 28 | Ebd. S. 164. 29 | Ebd. S. 165.
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in ihr keineswegs etwas so, wie beim Typ 1, für die Entstehung der Langeweile haftbar gemacht werden. Denn „nichts“ an diesem Abend scheint selbst langweilig zu sein, die Dinge nicht, die Menschen nicht, nicht die Szenerie als Ganzes. Das „Sich-langweilen-bei …“ mag so vom emotionalen Niveau durchaus als weniger bedrängend empfunden werden denn das „Gelangweiltwerden von …“, doch beunruhigt es weit mehr. Warum? Es beunruhigt, verstört, verwirrt seine offensichtliche Unbegründetheit. Es entzieht sich der Benennung, seiner Bestimmung.30 Es bleibt auf eine Situation bezogen, doch nur mehr diffus, da nichts an ihr dingfest gemacht werden könnte, das langweilig wäre. Weshalb Heidegger in einem merkwürdigen Komparativ davon spricht, dass Typ 2 „situationsungebundener“31 sei als Typ 1. Damit einher geht eine grundsätzliche Modifikation des Zeitvertreibs, dem ebenso der konkrete Anhalt fehlt, das bestimmt Langweilige, gegen das er sich zu wenden vermag. Die naheliegende Mutmaßung, dass es in diesem Fall gar keinen Zeitvertreib gebe, kontert Heidegger mit dem Aufweis seiner Unauffälligkeit: denn der Abend selbst ist ein Zeitvertreib, dem man sich, der Etikette entsprechend, zwanglos, leger, „lässig“32 hingibt. Und genau bei diesem Zeitvertreib langweilt man sich. Man muss sehr genau sein, geduldig, achtsam, um die klamme Not, die sich hier auftut, auch nur schemenhaft in den Blick zu bekommen. Ihre Trivialität, die vermeintliche Belanglosigkeit verdeckt ihre Fatalität. Wenn nämlich der Zeitvertreib selbst das Langweilige ist, gegen das er sich wendet, intensiviert jeder Versuch, seiner Herr zu werden, die Langeweile selbst. Wie in einer Art Hyperventilation treibt der Zeitvertreib die Langeweile hervor, die ihn anstachelt. Wie in einer Art psychischer Autoimmunerkrankung sind die Abwehrkräfte das Problem, das sie beseitigen wollen. Kurzum: Der Zeitvertreib ist die Langeweile, die er vertreiben möchte. Gerade indem er sie zu bannen trachtet, fixiert er sie.33 Langeweile und Zeitvertreib schieben sich ineinander bis zur Indifferenz. Sie verklumpen. Sie verschmelzen zu einem einzigen Komplex, der ihre Unterschiedenheit auszulöschen droht. Heidegger spricht von „Verschlingung“: „In dieser langweiligen Situation verschlingen sich die Langeweile und der Zeitvertreib in eigentümlicher Weise.“34 In der eigentümlichen Weise einer wechselseitigen Strangulation, könnte man sagen, einer seelischen Verkrampfung, die die Abwehrreaktionen als Symptom der Krankheit selbst hervortreiben. Wäre das nicht, was man eine Krankheit zum Tode nennen könnte? 30 | Ebd. S. 172ff. 31 | Ebd. S. 193. 32 | Ebd. S. 177ff. 33 | Cf. ebd. S. 170. 34 | Ebd.
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Jedenfalls wird Heidegger das Tieferwerden der Langeweile mit einem Tödlicherwerden assoziieren,35 wird er die Sprichwörtlichkeit der „tödlichen Langeweile“ wortwörtlich36 nehmen, um ihre vermeintliche Harmlosigkeit zu konterkarieren. Was die Befindlichkeit in den Extremen psychopathologischer Gebrechen charakterisiert, charakterisiert die Psychopathologie des Alltagslebens allemal: das Gefühl der Leblosigkeit, des Abgestorbenseins bei lebendigem Leib. Als lebte man, ohne zu leben. Als wäre man tot, ohne gestorben zu sein. Was vielleicht schlimmer wäre als der Tod selbst. Wofür Klaus Kinski in Werner Herzogs Nosferatu37 letztgültige Worte fand: für diese betäubende Trübseligkeit des Untoten. Sie haben in Büchners „Lenz“ ihr Pendant: „Denn die meisten beten aus Langeweile; die andern verlieben sich aus Langeweile, die dritten sind tugendhaft, die vierten lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig!“38 Die Langeweile ist, ein absurder Komparativ, tödlicher als tödlich. Als drohte ihre für Typ 2 bestimmende „Ausweitung“39 auf die Situation als Ganzes endlich auf das Dasein selbst überzugreifen. Das süße Leben wäre keines: „alles wird langweilig.“40 Natürlich wird man sich fragen können oder müssen, ob damit in der Tat nicht schon der Übergang zu jenem Typ 3, der tiefen Langeweile, vorgezeichnet ist; ob die Amplifikation der Langeweile über diese und jede Situation hinaus, ob die vollendete Situationsungebundenheit, ob die Amputation des „bei …“ im Ausdruck „Sich-langweilen-bei …“ nicht schon das Milieu jener Langeweile zu charakterisieren begänne, aus der es kein Entrinnen mehr gäbe. Und ob das nicht genau die Eigenart einer Epoche auszumachen vermag, die gelernt hat, sich nicht bei diesem oder jenem zu langweilen, sondern bei schlechthin allem; genauer: die sich überhaupt langweilt. Scheitelpunkt der Langeweile: das Leben selbst als Zeitvertreib-als-Langeweile… Überraschenderweise geht Heidegger diesen Weg nicht. Zweite Irritation: während alles darauf hinauszulaufen scheint, die tiefe Langeweile als konsequente Vollendung der Langeweile vom Typ 2 zu eskalieren, kappt Heidegger fast beiläufig den zuvor konstitutiven Konnex zwischen Langeweile und Zeit-
35 | Cf. ebd. S. 162. 36 | Cf. ebd. S. 144, 145. 37 | Werner Herzog: Nosferatu. Deutschland, Frankreich 1978. 38 | Georg Büchner: Lenz. In: Büchners Werke in einem Band. Berlin, Weimar 51980. S. 180f. 39 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 139. 40 | Ebd.
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vertreib beim Typ 3.41 Der Ausfall des Zeitvertreibs hänge mit dem „Charakter dieser Langeweile“42 zusammen: ihr gegenüber sei er „machtlos“43; wäre „fast so etwas wie eine Vermessenheit“44. Aber warum? „Der dieser Langeweile entsprechende Zeitvertreib fehlt nicht einfach, sondern er wird von uns gar nicht mehr zugelassen, mit Rücksicht auf diese Langeweile, in der wir schon gestimmt sind.“ (Hervorh., M.M.)45 Doch wer wäre dieses „uns“, was sein Motiv? Von welcher Position aus redete er „an sich oder für uns“? Als ob ein unausgesprochenes Gebot, ein normativer Impuls die phänomenologische Prosaik verunreinigte, ein unterschwellig schon feststehendes Einvernehmen über das Ziel des ganzen Unternehmens. Und als stünde der Zeitvertreib seiner Verwirklichung zuletzt im Wege. Erst der Ausfall des Zeitvertreibs eröffnete die Möglichkeit eines Verständnisses meiner selbst und meiner Situation. Welcher Ausfall den Eindruck bestärkt, als stünde die tiefe Langeweile in keinem oder einem strukturell andersgearteten Verhältnis zu Typ 1 und 2 als diese Formen unter sich. Heidegger jedenfalls beschreibt Typ 3 einmal auch als eine Art transzendentalen Grund für 1 und 2.46 Also wäre sie, die tiefe Langeweile, empirisch erfahrbar und zugleich transzendentaler Bedingungsgrund der Erfahrbarkeit der Langeweile 1 und 2? So klar der Übergang von Typ 1 zu Typ 2 auch gezeichnet ist, so unklar ist der von Typ 2 zu 3. Behalten wir das im Auge. Natürlich bleibt die Verschränkung, schließlich Verschmelzung von Langeweile und Zeitvertreib auf der Ebene des Typs 2 nicht ohne Folgen für die Strukturmomente der Langeweile selbst. Sowohl die Leergelassenheit wie die Hingehaltenheit an sich wie auch ihr Verhältnis zueinander erfahren weitreichende Modifikationen. Denn die Dinge lassen mich hier nicht mehr aufgrund einer gleichsam „objektiven“ Dysfunktion leer, sondern aufgrund einer gleichsam „subjektiven“. Nicht sie langweilen mich, sondern ich langweile mich bei und mit ihnen. Die Leergelassenheit, so Heidegger, wachse „aus der Tiefe“, die 41 | Cf. ebd. S. 202ff. Vielleicht mehr als nur eine Anekdote: über dreißig Jahre nach seiner großen Vorlesung wird Heidegger die „tiefe Langeweile“ nochmals thematisieren, wobei er zwar erkennbar an seine frühe Vorlesung anknüpft, zugleich jedoch Zeitvertreib und tiefe Langeweile, die er gar als „Sucht zum Zeitvertreib“ kennzeichnet, stillschweigend wieder verkettet: Heidegger: 700 Jahre Meßkirch (Ansprache zum Heimatabend am 22. Juli 1961). In: Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges. GA Bd. 16. Frankfurt/M. 2000. S. 579f. 42 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 204. 43 | Ebd. 44 | Ebd. S. 204f. 45 | Ebd. S. 205. 46 | Cf. ebd. S. 235.
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„Ausgefülltheit“ im Dabeisein in der Situation mit den Dingen, den Mitmenschen erweist sich als „Schein“.47 Als schöbe sich eine Art unsichtbare Wand zwischen mir und der Situation, als bliebe ich ausgehängt, unbeteiligt, als wäre ich allein mit all dem und den anderen. Tatsächlich bin ich allein, ohne allein zu sein: eine Einsamkeit, der keine Gesellschaft je wird abhelfen können, da ich ja schon in Gesellschaft bin. Wozu sich eine nicht minder tiefgreifende Wandlung des Merkmals der Hingehaltenheit gesellt: denn die Zeit, die noch in Typ 1 aufgrund der langen Zeitspanne endlos, die langsam, nur zögernd zu vergehen schien, kommt beim Typ 2 schließlich zum stehen.48 Sie zögert nicht, sie staut sich: „Wir bringen sie zum Stehen - aber nicht zum Verschwinden. Im Gegenteil. Wir lassen uns Zeit. Aber die Zeit lässt uns nicht.“49 Welche Hingehaltenheit an die stehende Zeit uns ebenso bedrängt wie sie die Zeit deformiert: das Jetzt wird zur bloßen Gegenwart, abgedichtet gegen das gewesene und das kommende Jetzt, wird zu einer Art Metapräsenz, die sich von Vergangenheit und Zukunft isoliert. Sich ganz dem Jetzt, der Situation zu überlassen, quasi in ihr aufzugehen, zeitigt, entgegen landläufiger Meinung, gerade keine Erfahrung erfüllter Zeit, sondern eine Leere eigener Art und eine Hingehaltenheit eigener Art.50 Was die Mystik im nunc stans als exaltierten Augenblick einer ganz außergewöhnlichen Erfahrung zu preisen, was Dostojewskij als Epilepsie stillgestellter Zeit zu beschreiben scheint, gerät bei Heidegger zur Verfallsform des stehenden Jetzt, das mich auf eigentümliche Weise attackiert. Ein stehendes Jetzt, das, so Heidegger in einer etwas formalistisch anmutenden Schlussfolgerung,51 die gesuchte Einheit beider Strukturmomente selbst ausmacht, da es, wie das Sichbilden der Leere, das Langweilende selbst sei. Im „Sichlangweilen bei…“ verdichten sie sich ebenso zur Einheit, zur „Fuge“,52 wie in ihm Zeitvertreib und Langeweile sich ineinanderschieben. 3. Und nun die „tiefe Langeweile“, das Herz einer Finsternis, die nicht weicht und nicht weichen wird. Vielleicht könnte man es so sagen: Die affektive Ladung, die die erste Form der Langeweile charakterisierte, Unruhe und Unrast, steigerte sich in der zweiten zu Unbehagen und Überdruss, gipfelte endlich in der dritten, der letzten Form in die offene Verzweiflung über jenes Leben, das keines wäre, das versäumt schien noch bevor es begann.
47 | Ebd. S. 177. 48 | Cf. ebd. S. 181ff. 49 | Ebd. S. 183. 50 | Ebd. S. 187ff. 51 | Ebd. S. 190f. 52 | Ebd. S. 161.
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Dritte Irritation: In dem Augenblick, wo Heidegger zur tiefsten Schicht der Langeweile durchstößt, wird er, nachdem er schon deren Verbindung mit dem Zeitvertreib unterbrach, auch jede Beziehung mit dem Moment der Verzweiflung in Abrede stellen. Und er tut dies gleichsam en passant, in zehn Zeilen, in einem einzigen Abschnitt. Und er tut dies bei seltsam unpassender Gelegenheit, als hätte er rasch noch etwas nachzutragen: am Beginn seiner Ausführungen zur „Hingehaltenheit“ der tiefen Langeweile (§ 31b), nachdem er deren „Leergelassenheit“ (§ 31a) längst abhandelte. Die tiefe Langeweile habe nicht den Charakter der Verzweiflung, würde nur durch eine „wesenhafte Wandlung“ zu dieser.53 Eine wesenhafte Wandlung, die offensichtlich aus einer Art Absonderung der Leergelassenheit von der Hingehaltenheit bestünde. Mit welcher spröden Notiz es Heidegger schon ein Bewenden nehmen lässt. Was auch immer ihn zu dieser Blitzintervention bewogen haben mochte, sie führt dazu, dass der Zugang zur Grundform der Langeweile endgültig freigesprengt zu sein scheint. Kein Widerwille, kein Leiden und kein Schmerz erschwert, belastet oder verunmöglicht ihre Affirmation. Man erliegt nicht nur ihrem „Zwang“,54 man kann ihm auch erliegen. Sie ist erträglich. Was etwa Kant noch als ein „Grauen (horror vacui), und gleichsam das Vorgefühl eines langsamen Todes, der für peinlicher gehalten wird, als wenn das Schicksal den Lebensfaden schnell abreißt“ 55 umschrieb, was Ernst Jünger als engen Konnex zwischen Schmerz und Langeweile markierte,56 mutiert bei Heidegger zuletzt zu einem Phänomen ohne Sentiment, zu einer Befindlichkeit ohne Befinden. Zwar „bannt“ sie das Dasein in den Horizont gleichförmiger Zeitlichkeit,57 doch korrespondiert diesem Bann kein affektives Milieu. Seine emotionale Besetzung erscheint wie abgespalten, verdrängt. Wagen wir eine Vermutung: indem die tiefe Langeweile von ihrer möglichen Beziehung zu dem, was man Verzweiflung nennen könnte, zu jenem tiefen Leiden an ihr entlastet wird, gibt es auch keinen Anlass mehr, ihr durch den Zeitvertreib zu widerstehen. Der Widerstand gegen sie ist mit der Anästhetisierung des Leidens an ihr sinnlos geworden. Weshalb es endlich sehr einfach anmutet, die tiefe Langeweile zuzulassen, sich in sie „einzuschwingen“ in Aussicht auf eine Erkenntnis, die endlich geborgen und gesichert zu werden vermag, in Aussicht auf eine Wahrheit, die nichts geringeres als die Überwin53 | Ebd. S. 211. 54 | Cf. ebd. S. 209. 55 | Cf. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Absicht. In: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Werke in zehn Bänden. Bd. 10. Wilhelm Weischedel (Hg.) Darmstadt 1983. BA 173, S. 554f. 56 | Cf. Ernst Jünger: Über den Schmerz. In: Sämtliche Werke. Bd. 7. Stuttgart 1980. S. 156. 57 | Cf. ebd. S. 218ff.
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dung der Langeweile selbst verheißt. Deren negative Momente scheinen verschwunden zu sein, die positiven, der epistemologische und praktische Lohn, sind zum Greifen nahe. Behalten wir das im Auge. Dritte Station der Recherche, dritte Szene? Nicht ganz. Alles nämlich begänne mit einer Schwierigkeit. Sie wäre erheblich. Was noch die Analyse der Typen 1 und 2 ermöglichte und antrieb, muss bei der tiefen Langeweile ausfallen: die Möglichkeit eines Beispiels, die Exemplarität der Szene selbst.58 Man wird nicht mehr von und bei etwas gelangweilt, sondern langweilt sich überhaupt. Heidegger gibt ihr die Gestalt einer lakonischen Aussage: „es ist einem langweilig.“ 59 Alles käme jetzt darauf an, den Gehalt dieser Formel zu prüfen, minuziös deren Implikationen freizulegen, um den Sinn der tiefen Langeweile in den Blick nehmen zu können. Denn etwas anderes, irgendwie Handfestes, haben wir nicht. Als ob die bislang eingeübte Methode an einem Phänomen, das sich seiner Phänomenalität gänzlich verweigerte, scheiterte. Ähnlich wie die objektlose Angst im Gegensatz zur objektbezogenen Furcht, ist die tiefe Langeweile, im Gegensatz zu Typ 1 und 2, ohne Gegenstands- und Situationsbezug.60 Anstelle einer phänomenologischen Untersuchung träte die semantische Analyse eines Satzes. Nichts sonst. Und doch: während Heidegger mit unklaren Argumenten den Ausfall des Zeitvertreibs, mit klaren Argumenten den möglicher Exemplarität vermerkt, ringt er sich nolens volens doch zu einer Art Situation durch, zu einem Muster, das der Erfahrung der tiefen Langeweile gemäß sein könnte: „Um eine mögliche, aber gänzlich unverbindliche Veranlassung zu nennen, die vielleicht dem einen oder anderen schon begegnet ist, ohne dass er ausdrücklich auf das Vorkommen dieser Langeweile
58 | Cf. Boris Ferreira: Stimmung bei Heidegger. Das Phänomen der Stimmung im Kontext von Heideggers Existenzanalyse des Daseins. Dordrecht, Boston, London 2002. S. 231. 59 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 202ff. 60 | Die Analogie ist gewiss keine äußerliche, bedenkt man, dass Heidegger sich in „Sein und Zeit“ der Angst ausführlicher widmet. Und in seiner Freiburger Antrittsvorlesung wird er, indem er sich abermals der Angst verschrieben hat, auch die Langeweile zumindest anführen. Wobei es sicherlich lohnte, das Verhältnis einer das Seiende im Ganzen offenbarenden Langeweile und einer das Nichts offenbarenden Angst eigens zu prüfen. Cf. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 151979. § 40. S. 184ff. Auch: Ders. Was ist Metaphysik? In: Wegmarken. Tübingen 21978. S. 103-121. Dazu: Christian Iber: Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos. Berlin, New York 1994. S. 343ff. Auch: Ferreira: Stimmung bei Heidegger. l.c. S. 188ff, 261ff.
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eingesprungen, von sich aus eingeschnappt ist: ‚es ist einem langweilig’, wenn man an einem Sonntagnachmittag durch die Straßen einer Großstadt geht.“61 Halten wir kurz inne. Das wie beiläufig hingestreute Beispiel, das kein Beispiel sein kann, will, darf, macht irgendwie stutzig. Heidegger, dem bäuerlichen Milieu erklärtermaßen zugetan, dem Regionalen, seiner alemannischen Provinz, der Denker der Holzwege und Lichtungen, der sich dem Ruf in die Großstadt standhaft verweigerte, notiert eine Situation, die auf den ersten Blick nicht recht einleuchten will. Denn wo sollte die Langeweile, der „Mittagsdämon“, einen gemäßeren Ort finden, wenn nicht auf dem Land, dem Dorf, dem „Kaff “? Sonntags in der kleinen Stadt: vor was sonst wäre man geflohen, wenn nicht vor diesem sonn-, feiertäglichen „ennui“, dem Horror bildhübscher Vakanz, den niemand, ohne Schaden zu nehmen, über sich ergehen lassen kann? Tschechow hatte dieses Desaster ja theatralisiert, das dumpfe Einerlei an Ödnis und zweckloser Gier, das diese Frauen, die Besseres verdient gehabt hätten, umzingelte wie eine dumpfe Verwünschung.62 Doch Heidegger denkt an anderes, einen anderen Schauplatz. Menschen am Sonntag, Menschen in der großen Stadt: man schlendert durch endlose Straßen, lässt den Blick schweifen und heftet ihn doch an nichts, an nichts Bestimmtes. Abwechslung gäbe es genug, doch nichts bietet Abwechslung. Die Schaufenster der Geschäfte preisen Waren an, die man an diesem Tag meist nicht kaufen kann. Man steht vor den Auslagen und sieht irgendwann nicht mehr, was man sieht. Man glotzt. Bei aller fassbaren Verschiedenheit der Örtlichkeiten, der Plätze, der Wege und Straßen scheint es überall gleich auszusehen. Wozu sich ein zweites Moment fügt: in dieser Stadt ist man niemals allein. Und indem man nicht allein ist, ist man allein. Man ist allein in seinem Nicht-allein-sein. Man ist wie jedermann und doch niemand. Das Herumlungern und Herumziehen ohne Ziel und Zweck, diese Streifzüge durchs vollgepfropfte Leere, teile ich mit vielen, zu denen ich wie jeder sonst, ohne dazuzugehören, gehöre. Schon Deleuzes „balader“,63 das urbane Streunen, das von nichts ausgeht und zu nichts führt, dieses unwillkürliche Vagabundieren, entdeckte die belanglosen Gegenden, die monotone Schläfrigkeit schlafloser Kapitale, die dämmrige Indolenz großer Städte, in denen mancher manchmal verrückt spielt. Ihr aber implizierte eine ausgezeichnete Form von Subjektivität, deren Antriebsschwäche, deren Zögerlichkeit und Blockiertheit zu ihren wesentlichen Merkmalen gehört. 61 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 203f. 62 | Anton Tschechow: Die drei Schwestern. Übers. u. bearb. v. Thomas Brasch. Berlin 1988. 63 | Cf. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Übers. v. Ulrich Christians u. Ulrike Bokelmann. Frankfurt/M. 1989. S. 278f.
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Vielleicht schwebte Heidegger das in etwa vor: diese Krise des Subjekts in der Langeweile, die seiner Metamorphose zuarbeitete. Die Ontologisierung der Melancholie, die wir an der Schnittstelle Benjamins und Deleuzes erprobten,64 hätte ihr Pendant in der Ontologisierung der Langeweile durch Heidegger.65 Unbenommen aller ontischen Differenzen (klinisch, psychiatrisch-psychologisch, kultur- und kunstgeschichtlich, theologisch, soziologisch, onto- und phylogenetisch etc.) bildeten Langeweile und Melancholie ontologisch einen symptomatologischen Komplex. Es wäre der eines endlich weltverlassenen Subjekts; eines Menschen, dessen Seins- und Weltverlust ihn bestimmt, mithin bedrängt. Er kann, schlicht gesagt, von diesem Verlust nicht lassen. Das ist sein Elend. Aber vielleicht nicht nur das. Denn wenn wir hier in all der gebotenen Vorläufigkeit, mit Vorsicht, mit vielen Zweifeln versuchen, den Menschen im Zeichen dieses Verlusts zu denken, geht es immer auch um eine mögliche Alternative, um ein tertium datur zwischen den Extremen einer Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, einer Abstraktion, die womöglich nur ein anderer Name wäre für das Verhältnis zum Objekt als Ware,66 und dem damit strikt korrespondierenden Bestreben einer Reanimation ihrer Harmonie und Ganzheitlichkeit. Denn wenn das Ganze das Unwahre ist, ist es das Ganze der Warenwelt nicht minder wie das Ganze distanzloser Eintracht. Der Totalität des total verwalteten Lebens entkommt man nicht durch deren Substitution durch die Totalität prämerkantiler Inklusionsphantasmen. Gegen den Isola-
64 | Eine Ontologisierung der Melancholie, die Alexandra Stähli ihrerseits an der Schnittstelle Benjamins und der Psychopathologie Hubert Tellenbachs (Freuds) thematisiert: Alexandra Stähli: Materie und Melancholie. Die Postmoderne zwischen Adorno, Lyotard und dem pictorial turn. Wien 2004. S. 149ff. 65 | Heidegger selbst erwähnt im zweiten Teil seiner Vorlesung die „Schwermut“, die er, auf Aristoteles Bezug nehmend, dem Melancholiker zuordnet, führt aber den Begriff nicht weiter aus. Aus dieser Notiz zieht Peter Trawny Konsequenzen - die Entgegensetzung von Schwermut (Melancholie) und Langeweile -, denen wir uns so wenig anschließen wie deren unausgewiesener Unterscheidung durch Heidegger selbst. Wir bekennen, dass unser Versuch eine enge Verwandtschaft von Langeweile und Schwermut, Melancholie, Acedia und Taedium Vitae voraussetzt. Cf. Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 270f. Dazu: Peter Trawny: Martin Heideggers Phänomenologie der Welt. Freiburg i.Br., München 1997. S. 287ff. Zum Konnex von Langeweile, Melancholie, Acedia, Taedium Vitae u.a.: Ludwig Völker: Langeweile. Untersuchungen zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs. München 1975. S. 121ff. 66 | Cf. Michael Eldred: Kapital und Technik. Marx und Heidegger. Dettelbach 2000. S. 75ff. Auch: Ute Guzzoni: Identität oder nicht. Zur Kritischen Theorie der Ontologie. Freiburg i.Br., München 1981. S. 174ff.
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tionismus des solus ipse wäre dessen Auflösung nicht die Alternative, sondern seine Konsequenz. Den Verlust festhalten, den Mangel, die Leere, diese gefährliche Absenz: vielleicht begänne damit tatsächlich das Abenteuer einer Humanität, für die nicht nur die Geburt, längst der Tod auch ein Ereignis darstellte, das mehr, immer mehr als nur einen anginge. Vielleicht begänne es damit und vielleicht endete es damit auch. Lassen wir einfach offen, ob man mit Fug, mit Recht noch von „Humanismus“ sprechen sollte. Doch vom Menschen nicht zu sprechen, erscheint so unmöglich, so unsinnig, wie von ihm nicht nicht zu sprechen. Sein „Weltschmerz“ verdankte sich nicht einer romantizistischen Grille, der man mit Hegelscher Grobheit zu Leibe wird rücken können. Sein „Weltschmerz“ wäre das Kraftwerk seines Glücks.67 War es das, was Deleuze mit „Glauben“ meinte (Vgl. Kpt. 2)? Indem wir sein im „Zeit-Bild“ subthematisch verschüttetes Subjekt des modernen Kinos dem Typus Melancholicus zuschrieben, tritt es mit einer Folgerichtigkeit, die den Effekten eines physikalischen Experiments ähnelt, in Diskonjunktion mit Heideggers Subjekt der Langeweile, dessen Schattenriss er in wenigen, doch markanten Strichen zeichnet. Wenn wir uns den Effekten dieses philosophischen Experiments widmen, seine Auswertung betreiben, soll es nicht darum zu tun sein, Heidegger gegen Deleuze, Deleuze gegen Heidegger oder wen auch sonst auszuspielen noch Affinitäten herauszustellen und Unterschiede zu betonen, noch sie platterdings in eins zu setzen. Das alles interessiert hier nicht. Eine diskonjunktive Lektüre zielt auf anderes, auf eine Hermeneutik des Zwischen, die in diesem Spalt, der sich in der abständigen Spannung zwischen den beiden Zentren öffnete, den Raum einer Aktualität weitet, der unsere Situation, hier, heute erkennbar werden lassen könnte. Und sei’s nur für einen kurzen Moment. Als ginge es um Gravitationskräfte, unsichtbare Influenzen, die sich zwischen diesen Polen wechselseitig überlagern, interferieren und intensivieren, gilt es, die Krümmungen, Verschiebungen, Verzerrungen zu registrieren, die an der Sache ihres Denkens kraft dieser Versuchsanordnung arbeitet. Es sind Verzerrungen bis zur Kenntlichkeit der Sache selbst. Diese Sache aber wäre, was sonst, der Mensch - genauer: ein Mensch. Wer oder was nämlich wäre dieser „eine“, dem langweilig sei, der dem „es ist einem langweilig“ entspräche? Heidegger sagt es so: „Es - einem - nicht mir als mir, nicht dir als dir, nicht uns als uns, sondern einem. Name, Stand, Beruf, Rolle, Alter und Geschick als das Meinige und das Deinige fällt von uns ab. Deutlicher, gerade dieses ‚es ist einem langweilig’ lässt all das abfallen. Was bleibt? Ein allgemeines Ich überhaupt? Ganz und gar nicht. Denn dieses ‚es ist einem langweilig’, diese Langeweile vollzieht ja keine Abstraktion und Verallgemeinerung, in der ein allgemeiner Begriff ‚Ich überhaupt’ gedacht würde, 67 | Cf. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. KSA 3. § 338. S. 565-568.
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sondern es langweilt. Das ist nun das Entscheidende, dass wir dabei zu einem indifferenten Niemand werden.“68 Zu einem Niemand, zu einem Namenlosen, ohne Etikett, ohne Identität und Eigenheit, ganz aufgehoben in der Unbestimmtheit des unbestimmten Artikels, der Indefinitheit einer grammatischen Form, die sich, was schwierig zu denken bleibt, mit der Universalität des Abstrakten gerade nicht deckt. Nicht mehr der, der und der, sondern einer: so gleichgültig, wie mir die Dinge wurden, werde ich selbst. Doch welches „ich“? Seine Besonderung, Konkretion als Exemplar der Gattung kraft seiner Merkmale, seines Charakters, seiner Individualität und gesellschaftlichen Position fällt von ihm ebenso ab wie es sich der leeren Kategorialität der Ichheit überhaupt, der Universalität des transzendentalen Subjekts sperrt. Weder allgemeines noch besonderes Ich bin ich - einer: der alltäglichen Personalität enthoben wie über die jeweilige Situation mit ihrem jeweiligen Interieur hinausgehoben.69 Einige Seiten weiter spricht Heidegger von „Verarmung“, die das Selbst erst „in aller Nacktheit“ zu ihm selbst bringe als „das Selbst, das da ist und sein Da-sein übernommen“ habe, um es selbst zu sein. „Nicht mir als mir, sondern dem Dasein in mir versagt sich das Seiende im Ganzen, wenn ich weiß: es ist einem langweilig.“70 Was also diese Vereinerung des Ich, des Subjekts, seine Einerheit bedeutete? Schematisieren wir: wenn Heidegger in „Sein und Zeit“, aber natürlich nicht nur dort, die abendländische Metaphysik der „Seinsvergessenheit“ zeiht, die sie ausgerechnet im überlieferten Konzept des Seins praktizierte und als dessen Geschichte entfaltete, geht es ihm immer auch um eine andere, gewandelte Form von Subjektivität, für deren Seinsart er früh den Term „Dasein“ reserviert. Weshalb die „Forderung einer völligen Umstellung unserer Auffassung vom Menschen“71 auch seine Phänomenologie der Langeweile regiert. Das „Subjekt“ wäre für ihn das Subjekt der neuzeitlichen Metaphysik, gewappnet mit seinem Vermögen der „Vorstellung“, die ihm erlaubt, das Gesamt alles Seienden, endlich die Welt als Ganzes, sich gegenüberzustellen, um es nach Maßgabe von Nutzen und Kalkül zu inventarisieren. Diesem Erfolgsmodell der okzidentalen Philosophie, das den Zenit seiner Wirkmächtigkeit im Augenblick ihres Untergangs erklommen zu haben scheint, kontrastiert Heidegger eine Möglichkeit von Menschsein, das der Welt nicht mehr „gegenüber“ tritt, sondern sich je schon in ihr aufhält. Das „In-Sein“ des „In-der-Welt-seins“ wird zu seinem primären Merkmal, zum Merkmal des Daseins selbst.
68 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 203. 69 | Ebd. S. 207. 70 | Ebd. S. 215. 71 | Ebd. S. 93.
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Die Einerheit des Einen als „Subjekt“ der tiefen Langeweile nähme nun eine eigenwillige Zwischenstellung ein: es gehört expressis verbis nicht mehr dem Einzugsbereich klassischer Subjektivität an so wenig wie dem des Daseins im Vollsinn des Begriffs. Das „Dasein“ des Einen wäre allenfalls ein defizienter Modus, eine noch unvollständige, unvollkommene, mithin korrumpierte Version jener Strukturganzheit, auf die Heidegger, trotz ihres nur mehr provisorischen Charakters, ihres tastenden Erfragens, trotz ihrer Einbettung im Projekt einer Fundamentalontologie überhaupt, vorausdeutet. Nicht mehr diesem Konzept abendländischer Subjektivität zugehörig, noch nicht jener postmetaphysischen Blaupause menschlicher Existenz: Weder Subjekt noch Dasein, weder der Welt gegenüber noch ganz in ihr, markiert es ein schwer zu justierendes Territorium, einen ortlosen Ort des Zwischen: inmitten des Seienden im Ganzen, doch zugleich von ihm losgelöst, bei aller Nähe zu den Dingen ihnen zugleich unendlich fern.72 Die Langeweile also hätte ihr gleichsam subjektives Korrelat in einer etwas schillernden, eigenartig undeutlichen Typologie eines Menschseins, das von seinesgleichen, der belebten, unbelebten Natur, den Dingen, endlich von der Welt als Ganzes „hingehalten“ und „leergelassen“ wird. Als wäre das Verhältnis zwischen Mensch und Welt, zwischen Sein und Mensch, ihre Beziehung, irgendwie gestört: vorhanden, doch zugleich zerrüttet, fragil. Ein Trauerspiel von allerdings fundamentalontologischen Ausmaßen: wie zwei, die nicht zusammen sein, ohne voneinander lassen zu können. Der Eine also wäre, anders gesagt, in Bezug auf etwas, das sich ihm radikal entzieht. Und das wäre sein Schicksal. 4. Und seine Funktion wäre die des Übergangs, einer Passage, einer Art Scharnier zwischen Subjekt und Dasein. Die Scharnierfunktion des Einen aber würde kenntlich in der der Langeweile selbst. Denn wäre der Sinn ihrer Phänomenologie nicht die Freilegung der Konditionen ihrer Überwindung? Was sonst? Schon in der Vorlesung als Ganzes, die vor allem auf eine Ausarbeitung und Vertiefung des schon in „Sein und Zeit“ vorgedachten Weltbegriffs ausgerichtet ist, hat die Langeweile eine vermittelnde Funktion: buch- und vorlesungstechnisch, indem sie den Übergang zwischen der einleitenden Klärung des 72 | Weshalb wir das „Subjekt“ der Langeweile auch nicht, wie Trawny, mit dem Subjekt der neuzeitlichen Metaphysik identifizieren. Dessen Abständigkeit zu den Objekten ist eine der Abstraktion, wodurch sie gerade dem Zugriff dieses Subjekts preisgegeben sind. Die Ferne zu den Dingen in der Langeweile hingegen nimmt dem Einen gerade die Möglichkeit des Umgangs mit ihnen. Anders gesagt: das neuzeitliche Subjekt entsteht durch die (permanente) Suppression der Langeweile. Ihr Aufkommen gilt als Zeichen der Schwäche, als Gegenstand therapeutischer Exerzitien. Ihr Scheitern erst bahnte den Weg zum „Dasein“. Cf. Peter Trawny: Martin Heideggers Phänomenologie der Welt. l.c.
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Metaphysik- und Philosophiebegriffs und der Entfaltung der Bestimmung der Welt markiert; inhaltlich, indem deren Analyse die Bedingungen kenntlich macht, unter denen der Mensch endlich zu dem zu werden vermag, was er immer schon ist: Mensch, Dasein. Der Langeweile implizierte, wenn auch im Modus ihrer Verstellung, die Möglichkeit einer ausgezeichneten Situation, in der der Mensch sein Dasein, sich selbst als Selbst, endlich als das ergriffe, was zu sein ihm aufgegeben ist: dieses „Da-sein“ selbst. Heidegger nennt diese ausgezeichnete Situation „Augenblick“. Als hütete die Langeweile dessen Inkognito, sein Pseudonym, um es im Augenblick als Augenblick zu lüften. Keine List der Vernunft, doch womöglich eine des Denkens, das, ganz negativistischer Souverän des Verfahrens, noch dem Scheitern erfüllten Daseins die Konditionen seines Gelingens entlockte. Man wird jedenfalls das Gefühl schwer los, als ginge es im „Augenblick“, aller anderslautenden Annoncen und Verheißungen zum Trotz, mitnichten nur um das endlich in der Welt anlangende Dasein, das seinen ihm angestammten Ort eingenommen und seinen Frieden mit ihr gemacht hätte, um ihr nicht länger mehr als Subjekt in alles berechnender Rancune gegenüberzutreten. Eine Art dezisionistischer Überschuss scheint alle Prospektiven der Befreiung und Loslösung vom Bann selbstverschuldeter Instrumentalisierung alles Seienden, zuletzt des Menschen selbst, zu belasten. Und womöglich erdrückt er sie auch. Erdrückt kraft einer Selbstermächtigung des Menschen, die, indem sie die Limitierungen der klassischen Metaphysik rückhaltlos überschreitet, deren Machtanspruch komplettiert. Ihre Destruktion arbeitete so nur ihrer Perfektionierung vor. Vielleicht scheiterte „Sein und Zeit“, das Abenteuer der Fundamentalontologie genau an diesem Punkt, scheiterte es an diesem Punkt philosophisch, politisch. Gewiss, man muss hier vorsichtig sein, behutsam. Ein ungerechtes Wort ist schnell gesagt, ein Urteil, das das Heideggersche Anliegen unter einem Steinschlag wohlfeiler Moralismen verschüttet, schnell gesprochen. Es aber ist aller Ehren wert. Doch bleiben die Skrupel. Sie begännen beim Ton. Hören wir zu. Nachdem Heidegger die spezifischen Formen der Leergelassenheit und Hingehaltenheit der tiefen Langeweile entfaltete, einmal konkret,73 einmal temporal,74 nachdem er den „Augenblick“75 als Terminus Technicus wie als Fluchtpunkt der gesamten Analyse eingeführt und in mehreren Anläufen und im Verweis auf „Sein und Zeit“ dargestellt hat und die „vulgäre Abschätzung“76 der Langeweile einmal mehr attackierte, wirft 73 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 206ff. 74 | Cf. ebd. S. 217ff. 75 | Cf. ebd. S. 222ff. 76 | Cf. ebd. S. 237ff.
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er in einem abschließenden Kapitel die Frage nach einer „bestimmten“ tiefen Langeweile als „Grundstimmung unseres heutigen Daseins“77 auf. Womit er zugleich den gegenwartsanalytischen Bogen schließt, mit dem er seine Untersuchung der Langeweile einleitete, den Bogen zu der Frage, ob der Mensch sich selbst langweilig geworden sei.78 Eine bestimmte tiefe Langeweile, die sich in spezifischen Merkmalen der Leergelassenheit und Hingehaltenheit detailliert: erstens, was den heutigen Menschen leer, mithin im Stich lasse, sei nämlich die Not selbst. Durch Ausbleiben der „wesenhaften Bedrängnis“ werde das heutige Dasein wesentlich bedrängt, was jedoch durch die Konzentration auf einzelne Nöte, ihr Krisenmanagement, verdeckt werde.79 Man tut sicherlich gut daran, diese Bemerkungen nicht leichthin abzutun. Was Heidegger später mit der schlichten, schönen Formel einer „Not der Notlosigkeit“80 umschreibt, wirft ein noch fahles Licht in meist verborgene Zusammenhänge. Nennen wir es „Risikogesellschaft“, jenes szientifischmedial-politische Dispositiv, das die Krisis, die in tiefer Langeweile und Angst fühlbar zu werden vermag, in ein Set benennbarer, mithin handhabbarer Krisen umwandelt. Die gängigen Bildpolitiken, jenseits ihrer unterschiedlichen weltanschaulichen Ladung, zielen auf Kommensurabilität, auch und gerade dessen, was Heidegger die „Gefahr“81 nannte. Sie wird zum (bestimmten) Risiko, wie die Angst zur (bestimmten) Furcht, wie die tiefe Langeweile zur bestimmten Langeweile, die sich kommunizieren und behandeln lässt. Heidegger jedenfalls scheint das im Blick gehabt zu haben als er die bestimmte tiefe Langeweile seiner Zeit zu diagnostizieren versuchte: „Das Geheimnis fehlt in unserem Dasein, und damit bleibt der innere Schrecken aus, den jedes Geheimnis bei sich trägt und der dem Dasein seine Größe gibt. Das Ausbleiben der Bedrängnis ist das im Grunde Bedrängende und zutiefst Leerlassende, d.h. die im Grunde langweilende Leere. Dieses Ausbleiben der Bedrängnis wird nur scheinbar verdeckt, vielmehr gerade bezeugt durch die Umtriebe des heutigen Dahintreibens. Denn letztlich ist in all dem Organisieren und Programmbilden und Probieren ein allgemeines sattes Behagen in einer Gefahrlosigkeit. Dieses Behagen im Grunde unseres Daseins, trotz all der vielen Nöte, macht es, dass wir glauben, es nicht mehr nötig zu haben, im Grunde unseres Wesens stark zu sein. Wir mühen uns nur noch um anerziehbare Tüchtigkeiten. Die Gegenwart ist voll von Problemen und Fragen der Pädagogik. Durch 77 | Cf. ebd. S. 239ff. 78 | Cf. ebd. S. 115, 241. 79 | Cf. ebd. S. 243ff. 80 | Cf. Heidegger: Nietzsche. Bd. 2. Pfullingen 41961. S. 391. Ders. Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt/M. 1989. S. 119 u.a. 81 | Cf. Heidegger: Die Gefahr. In: Bremer Vorträge und Freiburger Vorträge. 1. Einblick in das was ist. Bremer Vorträge 1949. Frankfurt/M. 1994. S. 46-67.
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Anhäufung der Tüchtigkeiten sind jedoch Kraft und Macht nie zu ersetzen, sondern wenn hiermit etwas erreicht wird, dann die Erstickung von all dem.“82 (Hervorh. M.M.) Gerade wenn man Heideggers Diagnostik nicht allein schon durch Verweis auf die zeitgeschichtlichen Daten ihrer Entstehung kompromittiert sieht, kann man nicht so tun, als hätte man diesen Ton nicht gehört, diesen Schneid in der Stimme. Auch wer sich der hastigen Kolportagen über Heideggers politische Mesalliancen enthält, wer seinen anti-bürgerlichen, anti-liberalen, anti-westlichen Hang nicht per se für eine reaktionäre Grille hält, dem wird beim Klang einer solchen Wortkaskade wie Größe, Schrecken, Stärke, Kraft, Macht unbehaglich. Das Unbehagen aber ist ein philosophisches: denn wären das nicht Attribute, die im Zuschreibungssystem abendländischer Subjektivität ihren angestammten Platz hätten? Was wäre deren Sinn, wenn nicht die Inthronisation des solaren Charakters der Selbstherrschaft und -habe, seiner Härtung und Verhärtung, des starken Subjekts und des Subjekts der Stärke? Adorno, Heideggers spinnefeindlicher Bruder im Geiste Nietzsches, sprach von „Idealismus als Wut“:83 die Übergriffigkeit des Subjekts auf alles, was sich ihm im Rahmen seiner Ordnung-, sprich Denk- und Wahrnehmungsschemata bot. Woran dieses Subjekt aber noch seine Grenze fand, jene unüberwindbare Kluft zum Objekt als strukturelle Bedingung seiner Repräsentations-, sprich Okkupationspraktiken, wird ein Dasein, das seine Stellung verlassen hat und loszustürmen beginnt, mit Bravour überspringen. Wo nämlich stünde geschrieben, dass dieses „Dasein“ sein In-der-Welt-sein nicht dazu nutzte, den neuzeitlichen Herrschaftsanspruch des Subjekts zu überbieten? Ließe sich die nazistische Revolution nicht genau in diese Weise philosophisch deuten? Das ungeheure Destruktionspotential, das sie freisetzte, verdankte sich dem Erbe einer Zeit, die dieses Potential, wenn auch nur instantan, wenn auch nur ungenügend, zu binden vermochte. Wenn wir Heidegger darin folgen, den Rückgriff ins kategoriale Archiv des klassischen Humanismus, dessen Schwundstufe der inflationäre Exzess der „Werte“ und „Wertegemeinschaften“ anzuzeigen scheint, als konstitutives Moment des Problems zu begreifen, das damit gelöst sein will, werden wir diese Fatalität genau beobachten müssen. Auch der „Augenblick“ als Flucht- und Wendepunkt der Heideggerschen Recherche nach dem endlich entfesselten Dasein atmet ihren Geist. Und vielleicht erliegt er ihm. Denn der Augenblick realisiert sich nicht nur als Sollbruchstelle, an der der Zeitbann der tiefen Langeweile endlich und womöglich endgültig gebrochen wird. In der Hingehaltenheit (zweitens) an ihn werden die Konturen einer Entscheidung offenbar, in der das Dasein sein Dasein zu 82 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 244f. 83 | Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 21980. S. 33-35.
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übernehmen gehalten ist, in der der Mensch „werden soll, was er ist“.84 Auch wenn das Ergreifen des Augenblicks selbstredend nicht der Beliebigkeit und Willkür eines frei agierenden Subjekts anheimgestellt ist, deutet das Motiv der „Schwingung“ als Schwingung zwischen der spezifischen Leergelassenheit der tiefen Langeweile und ihrer spezifischen Hingehaltenheit den Moment an, wo deren kinetische Energie ein genügend großes Potential erreichte, um ihren Bannkreis zu durchstoßen. Eventuell könnte man sich das Ganze wie eine Art Schaukelbewegung vorstellen, ein Pendeln zwischen (theoretischer) Einsicht und (praktischer) Bemächtigung: während in der Leergelassenheit das Seiende im Ganzen offenbar wird (theoretischer Part), treibt die Hingehaltenheit auf die Spitze des im Versagen angesagten Augenblicks zu (praktischer Part). Je tiefer ich nun in diese Leergelassenheit eintauche, desto höher trägt mich der Rückschlag in die Hingehaltenheit des versagten Augenblicks. Dieser Pendelschlag der tiefen Langeweile wird endlich eine Amplitude ausbilden, in der „ich“, das „Dasein“, der „Mensch“ zu ergreifen vermag, was zu ergreifen ihm in diesem Augenblick geheißen ist: sich selbst als Dasein. Was Heidegger jedenfalls später als Metaphysik des Willens, des Willens zum Willen,85 denunzieren wird, ist womöglich von dem nicht frei, was noch seinen frühen Versuch zur Überwindung der Langeweile als dezisionistische Schlacke kontaminiert. Zumindest fällt auf, dass er das Konzept der „Überwindung“, dem er bis Mitte, Ende der dreißiger Jahre noch anhängt, schließlich durch das der „Verwindung“ ersetzt, da jene nichts als die „Vollendung“ der Metaphysik betreibe, mitnichten deren Ablösung.86 Sicher, man kann die ganze Malaise umgehen, diesen heiklen Verschnitt philosophischer und politischer Intentionen Heideggers, indem man ihn stante pedes einer „Verweltanschaulichung der Fundamentalontologie“87 zeiht. Man kann diese ganze Malaise umgehen und sich an seiner kühnen Begriffsarchitektur schadlos halten, indem man seine Analyse der Langeweile fundamentalontologisch von seiner Diagnose der geschichtlichen Gegenwart ablöst88 und damit jene „Zweideutigkeit“ vermeidet, die Heidegger selbst als unvermeidlich deklarierte: „Wenn unsere einleitende Charakteristik der wesenhaften Zweideutigkeit des Philosophierens, unseres Philosophierens, keine Phrase war, die lediglich etwas Absonderliches über die Philosophie sagen sollte, dann muss jetzt am Beginn die 84 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 246. 85 | Cf. Heidegger: Überwindung der Metaphysik. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen. 41978. S. 68, 83 u.a. 86 | Ebd. S. 67ff. 87 | Romano Pocai: Heideggers Theorie der Befindlichkeit. Sein Denken zwischen 1927 und 1933. Freiburg i.Br., München 1996. S. 26. Auch: S. 258ff. 88 | Cf. Ferreira: Stimmung bei Heidegger. l.c. S. 167, 191f.
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Zweideutigkeit zur Macht kommen. Wir werden nicht glauben wollen, sie sei dadurch im mindesten zu beheben, dass wir zuvor erklären und behaupten: Es besteht ein theoretischer Unterschied zwischen der Darstellung der geistigen Lage und der Weckung einer Grundstimmung. Dadurch ist uns gar nicht abgenommen. Je eigentlicher wir beginnen, um so mehr lassen wir die Zweideutigkeit spielen, um so härter wird für jeden Einzelnen die Aufgabe, vor sich zu entscheiden, ob er wirklich versteht oder nicht.“89 (Hervorh., M.M.) Das sind unmissverständliche Worte. Heidegger macht mit seltener Emphase klar, dass es nicht belanglos sein kann, welche Stimmung als Relais einer Umcodierung der menschlichen Anthropologie herhalten muss: nicht Angst, nicht Freude, sondern die Langeweile allein verklammerte die systematische mit der gegenwartsanalytischen Perspektive,90 erlaubte eine „Hermeneutik der Aktualität“, weil die Langeweile allein zur Grundstimmung seiner Epoche avancierte. Seiner und vielleicht auch - wenngleich unter anderen, ausdrücklicher noch medial geprägten Vorzeichen91 - der unsrigen. Denn wo anders sollte sie ihren Ort haben, wenn nicht in jenen Grotten der Licht- und Schattenspiele, in diesen einsamen Höhlen, in denen die Langeweile nicht nur medientechnisch haust, sondern auch filmphilosophisch zum Ereignis wird? Deleuzes traurige Helden künden davon und vielleicht von nichts anderem. Man mag ein philosophisches Unterfangen, das sich ausdrücklich in die Niederungen zeitdiagnostischer Recherche begibt, in den Zwiespalt aus Gegenwartsbezogenheit und begrifflicher Konstruktion, zweifelhaft finden und zweideutig obendrein. Doch haben wir wirklich eine Alternative? Und hatte Kant, als er die eigene geschichtliche Gegenwart in den Rang eines genuin philosophischen Problems erhob, als er den Begriff der Kritik mit einem gegenwartsanalytischen Moment anreicherte, als er den Schul- mit dem Weltbegriff der Philosophie alliierte, anderes im Sinn? Heideggers Neutralisation jedenfalls hat ihren Preis. Seine Zurichtung zur Spielfigur des akademischen Glasperlenspiels zum einen, seine Diskrimination zur Unperson der philosophischen Sozietät zum anderen mag die Sache, das Strittige, in der einen oder anderen Weise entscheiden. Doch die Repression, die der Schiedsspruch fordert, ist eine des Denkens selbst. Wir folgen ihm nicht. Auch auf die Gefahr hin, der „Gefahr“ zu erliegen.
89 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 114. 90 | Cf. Klaus Held: Grundstimmung und Zeitkritik bei Heidegger. In: Dietrich Pappefuss/Otto Pöggeler (Hg.): Zur philosophischen Aktualität Heideggers. Bd. 1. Frankfurt/M. 1991. S. 31-56. 91 | Cf. Lorenz Engell: Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens. Frankfurt/M. 1989. S. 256ff.
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Heideggers „Gefahr“ wäre also die Gefahr „Heidegger“? Vielleicht. Der harmlose Heidegger ist uns jedenfalls so fremd wie der Delinquent Heidegger, dessen Arretierung die Reibungslosigkeit des philosophischen Geschäfts garantieren soll. Seine Zweideutigkeit festhalten, die Ununterscheidbarkeit zwischen Zeitdiagnostik und Fundamentalontologie, die Ununterscheidbarkeit seines philosophischen und politischen Schicksals, erzwingt eine Lektüre, die sich bei jedem Schritt ihrer Ausgesetztheit bewusst ist. Das Terrain ähnelt keiner Landschaft mehr, die man kennt und in der man sich auskennt, in der man weiß, mit wem man spricht, von und gegen wen. 5. Machen wir also nochmals einen Schritt zurück. Tauchen wir noch einmal ein in die Stimmung der Langeweile, in die Tristesse dangereux, in das von der tiefen Langeweile durchdrungene Dasein des „Einen“. Der Eine, dieser charakterlose Charakter, dieses gesichtslose Gesicht, ohne Eigenheit und Einheit, diese Unperson, Unpersönlichkeit, dieser deindividuierte Niemand, siegelt den Verlust all seiner Konkretionen mit einem sehr seltsamen Gespür, einer Art Empfindlichkeit, für ein ungewisses Etwas, das wie eine Flüssigkeit durchzusickern beginnt. Der Eine ist ohne Eigenschaften, gewiss, doch schärft genau das seinen Sinn, seine Sinne für das „Übernatürliche“, das Un- und Widernatürliche, das anders ist als das, was wirklich ist und wirklich zu sein den Anspruch erhebt: keine andere Präsenz, sondern anders als präsent, ihr Anderes; anders gesagt: das Mögliche, das möglich ist und möglich bleibt. Denn, so weiß Ulrich ja längst, der Mann/Mensch ohne Eigenschaften: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.“92 Der Bescheid ist schlicht, die Annonce indes trägt und durchdringt und beherrscht den ganzen Roman. Als geriete Musils Epik zum Laboratorium einer Anthropologie der Vernehmbarkeit des Möglichen. Was aber wären seine Konditionen, die Bedingungsmöglichkeit dieses Möglichkeitssinns selbst? Die Frage ist schwierig. Auf der anderen Seite scheint Heidegger das Tableau eines Daseins dieser Möglichkeit zu umreißen: „Das Dasein findet sich durch diese Langeweile gerade vor das Seiende im Ganzen gestellt, sofern in dieser Langeweile das Seiende, das uns umgibt, keine Möglichkeit des Tuns und keine Möglichkeit des Lassens mehr bietet. Es versagt sich im Ganzen hinsichtlich dieser Möglichkeiten.“93 Das aber hat Konsequenzen: denn in diesem Versagen all der Möglichkeiten zu handeln oder nicht zu handeln, der Handlung überhaupt, weist - ein für Heidegger geradezu paradigmatischer Umschlag der Verborgenheit in die Unverborgenheit - das Versagen genau auf diese Möglichkeiten. Im Versagen weist es auf sie, werden sie erkennbar, 92 | Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 1. Frankfurt/M. 21981. S. 16. 93 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 210.
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obschon das Organ dieser Erkennbarkeit kaum mehr den natürlichen Sinnen angehören wird. Heidegger jedenfalls sagt es so: „Im Versagen liegt eine Verweisung auf anderes. Diese Verweisung ist das Ansagen der brachliegenden Möglichkeiten. Wenn die Leere dieser dritten Form der Langeweile in diesem Sichversagen des Seienden im Ganzen besteht und dementsprechend die Leergelassenheit im Ausgeliefertsein daran, dann hat gleichwohl die Leergelassenheit aufgrund der im Versagen liegenden Verweisung in sich einen strukturierten Bezug auf anderes. Nach allem Bisherigen vermuten wir dabei: Dieses im Versagen selbst liegende Sagen, Hinweisen auf die brachliegenden Möglichkeiten, ist am Ende die zu dieser Leergelassenheit gehörige Hingehaltenheit.“94 Was wie eine kryptodialektische Finte anmutet, hat Weiterungen, deren Ausmaß allenfalls erahnt werden kann. Zum einen, was auf der Hand liegt, wird die strukturelle Einheit zwischen der Leergelassenheit als dem Versagen und der Hingehaltenheit als dem Ansagen auf überzeugende Weise mit der Einheit des Paares Versagen-Ansagen selbst verklammert. Mit dem Bezug des Versagens auf das Ansagen ist auch der der Leergelassenheit zur Hingehaltenheit gesetzt. Zum anderen, unter der Hand, wird ein Begriff, genauer ein Modus von Möglichkeit eingeführt, der schwierig zu denken ist. Worauf das unscheinbare Wort „brachliegen“ deutet. Denn was „brachliegen“ bedeutete? Was eine Brache wäre? In einer schönen Miniatur zur tiefen Langeweile Heideggers gibt Giorgio Agamben folgenden Hinweis: „Das Verb brachliegen stammt aus der Landwirtschaft. Die Brache bezeichnet dasjenige Feld, das man unbestellt liegen lässt, um es erst im folgenden Jahr zu besäen. Brachliegen bedeutet also inaktiv, unbestellt lassen.“95 Agamben spricht auch von einer „Deaktivierung der konkreten Möglichkeiten“, einer „Schwebe“,96 bevor er 94 | Ebd. S. 212. 95 | Giorgio Agamben: Tiefe Langeweile. In: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Übers. v. Davide Giuriato. Frankfurt/M. 2003. S. 75. 96 | Ebd. Inwiefern diese „Deaktivierung“ mit dem zusammenstimmt, was Agamben in seinem bewunderungswürdigen Kommentar zum Römerbrief als Grundzug der „messianischen Berufung“ herausstreicht, die die faktischen Verhältnisse, in denen ich je schon existiere, nicht einfach zerstört und ersetzt, sondern als solche beibehält, sie aber unwirksam macht, sie „deaktiviert“, aber dadurch erst auf einen Gebrauch hin öffnet, der jenseits des Eigentums und kodifizierter Eigentumsverhältnisse einsetzt, wagen wir an dieser Stelle noch nicht zu entscheiden. Cf. Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. v. Davide Giuriato. Frankfurt/M. 2006. S. 39, 109ff. Auch ders.: Über negative Potentialität. Übers. v. Emmanuel Alloa. In: Emmanuel Alloa/Alice Lagaay: Nich(s) sagen. Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert. Bielefeld 2008. S. 247-264. Dazu: Emmanuel Alloa: Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie. Zürich 2011. Hier: Kpt. II.8. Fähigkeit zur Unterlassung. S. 108-114.
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- vielleicht etwas zu schnell - auf jene „reine Möglichkeit“ zu sprechen kommt, Heideggers „ursprüngliche Ermöglichung“. Denn bleiben wir einen Moment bei den Dingen, die getan werden könnten, aber nicht getan werden können. Die Deaktivierung konkreter Möglichkeiten macht sie nicht verschwinden: wenn etwas schwebt, in der Schwebe liegt, ist unentschieden, wohin es tendiert. Es changiert zwischen Zuständen, die es in der einen oder anderen Weise annehmen kann. Agambens „Deaktivierung der konkreten Möglichkeiten“, Heideggers „Brachliegen“ meint augenscheinlich nichts anderes, als dass die Möglichkeiten einen Modus annehmen, den sie gewöhnlicherweise nicht haben. Dieser Modus ist der der Unmöglichkeit. Und die Möglichkeit, um die es hier geht, um deren Spezifität, ist die Möglichkeit als unmögliche Möglichkeit. Als unmögliche Möglichkeit ist sie weiterhin gegeben, vorhanden, jederzeit zu verwirklichen; als unmögliche Möglichkeit ist die Möglichkeit ihrer Verwirklichung unterbrochen. Anders gesagt: Als unmögliche Möglichkeit bleibt sie, ist sie - Möglichkeit.97 Und genau das passiert dem „Einen“, das genau geschieht ihm, das stößt ihm zu. Das ist seine Erfahrung. Und vielleicht zielte Deleuzes Konzept des ZeitBildes, unbenommen aller Abweichungen en detail, genau darauf? Zumindest entsteht, was er „Virtualität“ nennt, die sich in der gegenwendischen Spanne zur „Aktualität“ ebenso aktualisiert wie sich diese Aktualität virtualisiert,98 allein unter der Bedingung, dass die Möglichkeiten des aktiv Handelnden blockiert sind, dass die vertraute Prozessroutine ihrer Realisation unterbrochen wurde. Diese dual-duellische Spannung, diese stillgestellte Dialektik zwischen dem, was wir hier vorläufig und durchaus unzulänglich „Wirklichkeit“, was „Möglichkeit“ nennen und die Deleuze dem Paar „Aktualität“ - „Virtualität“ zuordnete, lässt ein Drittes entstehen und auf besondere Weise fühlbar werden, eine Art „Reales“, bei dem das Wirkliche, die Präsenz des Präsenten durchlässig wird, fast durchsichtig auf jenes Mögliche hin, auf jene Latenz, jenes Glimmen der Eventualität, das die Dinge, die Orte, die seltsam ungenutzten Gegebenheiten aufleuchten lässt als glühten sie auf in einer Art Emlsfeuer. Heideggers oft als unbeholfen, ungelenk, ja lächerlich99 empfundene Beschreibung von 97 | Was die Bestimmung einer unmöglichen Möglichkeit auch trennt vom Konzept einer möglichen Unmöglichkeit im Sinne Rainer Martens. Dessen Insistenz auf einer doch für möglich zu haltenden Unmöglichkeit birgt zwar auf ihre Weise ein Widerstandspotential gegen die Eindimensionalität des Wirklichkeitssinns, beschreibt indes ein völlig anderes Phänomen: Cf. Rainer Marten: Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion. Freiburg i.Br., München 2005. 98 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Übers. v. Klaus Englert. Frankfurt/M. 1997. S. 95ff. 99 | Cf. Derrida: Restitutionen. Von der Wahrheit nach Maß. In: Die Wahrheit in der Malerei. Übers. v. Michael Wetzel. Wien 1992. S. 343. Dazu: Mayer: Humanismus
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Van Goghs „Bauernschuhen“100 war vielleicht nur ein notdürftiger Versuch, ein hilfloser Versuch, diesem „Realen“ prosaischen Ausdruck zu geben: jener Halbtransparenz des Wirklichen auf das Mögliche hin. Als lüde sich, was ist, auf, wie eine Batterie, mit all dem Möglichen, das hätte getan, hätte geschehen können, mit all dem Möglichen der Zeiten selbst, den gewesenen, den gegebenen und den kommenden Möglichkeiten, die nie wirklich waren, sind, sein werden. Und vibrieren die Bilder Edward Hoppers, diese feinkolorierten Brachen, nicht von solchen Energien des Möglichen als wollten sie im nächsten Moment schon zerspringen? Dieser Moment aber kommt nicht. Deshalb warten wir. Und wir tun gut daran. Was die abrahamitische Weisheit als messianische Ankunft feiert und lobpreist, diese Leerstelle der Erlösung, verwandelt sich ja unter der Hand in jenes Übel, das schlechthin Böse, das immer dann aufkommt, erliegt man der Versuchung, die Erlösung in die eigene Hand zu nehmen: Versuchung, den Erlöser zu erlösen101 - und sei’s um den Preis seiner Vernichtung. Und nicht nur seiner… Was Deleuze jedenfalls unter dem Reißen des senso-motorischen Bandes verhandelt, annonciert in einem verdächtig spröden Wort einen grundlegenden Wandel des gewöhnlichen Konzepts von Realität. Die reinen optischen und akustischen Bilder, die Zeit-Bilder, die durch den Ruin des senso-motorischen Schemas hervorgerufen werden, zeigen diese Wirklichkeit in einem un-, in einem vor-menschlichen Zustand, gleichsam in status nascendi, gleichsam im Zustand ihrer stillgestellten Gebürtigkeit. „Etwas Mögliches, oder ich ersticke“.102 Doch woran? Woran, wenn nicht an jener universellen Verhangenheit unserer Aussicht aufs Leben selbst? Ihrer Verengung im Tunnelblick des Akteurs - aufs Opportune, glücklich Gefügte, Gewährte - stünde ein in Trübsal Gefallener entgegen, dem die Dinge nichts mehr bedeuten und nichts mehr sind und dem sie sich deshalb, genau deshalb allmählich, langsam, sehr sachte offenbaren dürfen in ihrer nichtsnutzigen, ihrer staunenswerten Noblesse. Als begänne Denken
im Widerstreit. Versuch über Passibilität. München 2012. Kpt. 7: Die stumme Wahrheit. 100 | Cf. Heidegger: Ursprung des Kunstwerkes. In: Holzwege. Frankfurt/M. 61980. S. 17ff. 101 | Richard Wagner: Parsifal. Bühnenweihfestspiel. 1882. Dazu: Rudolf Kreis: Nietzsche, Wagner und die Juden. Würzburg 1995. 102 | Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 222. Dazu: Mirjam Schaub: „Etwas Mögliches, oder ich ersticke“ – Deleuzes paradoxer Glaube an die Welt über den Umweg des Kinos. In: Journal Phänomenologie 17/2002. S. 24–31. Zum „Mord am Möglichen“ als Charakteristikum einer „perversen Welt“, einer „Welt ohne anderen“: Deleuze: Logik des Sinns. Übers v. Bernhard Dieckmann. Frankfurt/M. 1993. S. 385.
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nicht nur, als endete es auch mit dem Staunen.103 Dem endlich in Gesang verwandelten Dasein, dem der bezaubernden Musikalität des Melancholikers104 erlegenen Dasein erstünde eine Welt in unendlichen Resonanzen. Sie zittert. Und sie macht die Dinge zittern. Und manchmal bringt sie sie zum Tanzen. Ihr stellarer Tanz aber resoniert den Oberton ihrer unzählbaren Möglichkeiten. Welche Möglichkeiten nämlich hätten die Dinge? Wofür Heidegger, der Daseinsanalytiker wenigstens, noch kein Ohr zu haben scheint. Wenn er vom „Ermöglichenden“ spricht, das den Möglichkeiten erst die Möglichkeit verleiht, möglich zu sein, spricht er nur und ausschließlich von den Möglichkeiten und dem Ermöglichenden des Daseins selbst. Hinsichtlich der Bestimmbarkeit dieses Ermöglichenden aber hält er sich bedeckt. Für das Ermöglichende, „das alle wesenhaften Möglichkeiten des Daseins trägt und führt“, haben wir, so Heidegger, „scheinbar doch keinen Inhalt“, können wir nicht sagen, was es sei. Weshalb es durch eine „merkwürdige Inhaltslosigkeit“ und das „Beunruhigende dieser Inhaltslosigkeit“105 gekennzeichnet sei. Gleich im Anschluss seiner konkreten, im Kontext seiner zeittheoretischen Interpretation der tiefen Langeweile aber wird er dieses Ermöglichende als „Augenblick“ selbst kenntlich machen. Mit folgenden Worten: „Der Augenblick ist nichts anderes als der Blick der Entschlossenheit, in der sich die volle Situation eines Handelns öffnet und offenhält. Was demnach die bannende Zeit an sich hält und im Ansichhalten zugleich als Freigebbares ansagt und als Möglichkeit zu wissen gibt, ist etwas von ihr selbst, das Ermöglichende, das sie selbst und nur sie sein kann, der Augenblick. Die Hingezwungenheit des Daseins in die Spitze des eigentlich Ermöglichenden ist das Hingezwungensein durch die bannende Zeit in sie selbst, in ihr eigentliches Wesen, d.h. an den Augenblick als die Grundmöglichkeit der eigentlichen Existenz des Daseins.“106 Man muss Heideggers große Weigerung, das Ermöglichende aller Möglichkeiten des Daseins inhaltlich zu bestimmen, sehr ernst nehmen. Seine Insistenz auf einer Art daseinsanalytischen Formalismus ist gewiss auch der unhintergehbaren Provisorität seiner Prospektiven geschuldet. Doch sollte man nicht minder ernst nehmen, was er als „Blick der Entschlossenheit“, als „Augenblick“ einführt, der, unbenommen seiner eigenen Inhaltsleere, den
103 | Cf. Ute Guzzoni: Das Erstaunliche und die Philosophie. Freiburger Abschiedsvorlesung. Information Philosophie, Heft 2001-2. 104 | Jean Starobinski: Melancholie im Spiegel. Baudelaire-Lektüren. Übers. v. Horst Günther. München, Wien 1992. S. 79f. 105 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 216. 106 | Ebd. S. 224.
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„Bann der Zeit“107 brechen wird, den die Langeweile, die tiefe zumal, errichtete? „Der Augenblick ist der Blick eigener Art, den wir nennen den Blick der Entschlossenheit zum Handeln in der jeweiligen Lage, in der das Dasein sich befindet.“108 Aber welche Lage? Welches Handeln? Und wozu, woraufhin? Heidegger zwar schweigt sich aus. Doch in welcher „Lage“ sollte das Dasein sich befinden, hier, jetzt, in diesem „Augenblick“, wenn nicht in der, endlich all die blockierten Möglichkeiten, endlich die Möglichkeit aller Möglichkeiten überhaupt, die Möglichkeit des und zum Dasein selbst, zum „eigentlichen“ Dasein, zu entriegeln? So mag man den Augenblick als Steigerung der Möglichkeit des Möglichen deuten,109 doch wäre sein Sinn die Aufgipfelung zum äußersten, worin ich, Mensch, Dasein werde, was ich, Mensch, Dasein eigentlich bin. Was sonst? Die gesamte Phänomenologie der Langeweile scheint von diesem Telos regiert zu werden. Und Heidegger verliert sein Ziel nicht aus den Augen. Er behält die Kontrolle. Seine mehr oder minder unterschwelligen Manipulationen an Sinn und Status des „Zeitvertreibs“, seine Anästhetisierung der tiefen Lange-weile, die deren „Überwindung“ vorbereitet, wären durch diese Fernperspektive motiviert. Das aber verdirbt, was Langeweile keimhaft in sich trägt: das Glück nach Menschen Maß. Dass beim Glück immer, einer Bemerkung Benjamins gemäß,110 die Vorstellung der Erlösung mitschwinge, besagt ja nichts anderes, als dass diese Erlösung nur als arme, als „schwache“ möglich ist und sein darf. Ihre Schwäche nur mag vor der Raserei der „starken“ schützen, einer Art Wahnsinn, einer Art Großtat, die, umwillen einer Neuen Zeit und Schöpfung, einer Neuen Welt und eines Neuen Menschen das Fleisch, alles Fleisch mißachtet, schändet und endlich zu Asche verbrennt. Heideggers „Augenblick“ ist ein Urenkel noch dieser Stärke. Zumindest nach 1927: scheint sich doch in seiner großen Vorlesung von 1929/30 schon abzuzeichnen, dass die für „Sein und Zeit“ noch charakteristische Struktureinheit des Paares „Eigentlichkeit - Uneigentlichkeit“111 sich aufzulösen und in seinsgeschichtlich separierbare Epochen zu rekombinieren beginnt.112 Mit welcher Separation zumindest der Schattenriss eines Daseins sichtbar würde, das sich seiner „Uneigentlichkeit“ entledigt haben könnte. Was das aber sein könnte, wenn nicht die Urphantasie der endlich entschuldeten Existenz? Der 107 | Ebd. S. 226. 108 | Ebd. 109 | Cf. Ferreira: Stimmung bei Heidegger. l.c. S. 229. 110 | Cf. Benjamin. Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften. l.c. S. 693. 111 | Cf. Heidegger: Sein und Zeit. l.c. §§ 74-76. 112 | Cf. Michael Mayer: Transzendenz und Geschichte. Ein Versuch im Anschluss an Lévinas und seine Erörterung Heideggers. Essen 1995. S. 188f.
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„status corruptionis“, der in Sünde gefallene, in Sünde gehaltene Anthropos wäre aufgehoben, überformt durch eine Art seinsgeschichtlichen Befreiungsschlag, der die Einheit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit aufsprengte und die Aussicht auf ein eigentliches Dasein öffnete, das von der Last des Uneigentlichen freigestellt wäre. Als verwandelte sich Heideggers fundamentalontologisches Abenteuer gleichsam en passant in das Pseudonym einer Rechtfertigung des Menschen durch den Menschen, in die Hybris und hybride Selbstzeugenschaft des unschuldigen Daseins selbst: jener Bruderhorde,113 die den Tod (des Vaters/der Mutter) aus ihren Erinnerungsspeichern ein für alle Mal gelöscht hätte. Nur der jemeinige Tod, die Totalität des Vorlaufens auf ihn spielte hier eine Rolle114 - die kardinale, wohlgemerkt. Der Melancholiker, der nicht lassen kann von seinem Verlust, hin- und hineingehalten in die erfüllte Leere einer Abwesenheit, die nah ist und fern bleibt, erschiene so als beschädigtes Modell eines Menschen, dem die Traurigkeit und die Treue ins Gesicht geschrieben stehen. Seine Sünde, die Trauerim-Stillstand, die Trägheit eines Herzens, das von den Toten nicht lassen kann, von ihrem Tod, der, so Lévinas’ grundstürzendes Wort, wie ein Mord sei, den man nicht habe verhindern können, für den man die Verantwortung trage,115 sein Interregnum des Überlebens seiner unendlich vielen Toten, seiner vorläufigen Tode-der-Anderen, würde durch eine Anthropologie neuen Typs ersetzt, durch einen Menschen, der endlich zur eigentlichen Tat schritte und entschlossen sein Dasein übernähme. Kann man die Dinge so sehen? Steht es so um die Sache Heidegger, den Streitfall, Anfang der dreißiger Jahre? Vielleicht. Jedenfalls scheint dieser „Augenblick“116 die „innerste Ermöglichung“117 des Menschen, seine im Bann der Langeweile aufgehobene, aufbewahrte wie eingekapselte Potenz schließlich freizusetzen, die Zeitigung der Zeit, die den Bann der Zeit selbst bricht. 113 | Cf. Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Über. v. Hans-Dieter Gondek u. Hans Naumann. Berlin 1997. S. 115ff, 168 u.a. 114 | Cf. Mayer: Totenwache. Wien 2001. 115 | Cf. Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit. Übers. v. Astrid Nettling u. Ulrike Wasel. Wien 1996. S. 83. Ders. Bemerkungen über den Sinn. In: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Übers. v. Thomas Wiemer. Freiburg i.Br., München 1985. S. 213. Ders. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Übers. v. Thomas Wiemer. Freiburg i.Br., München 1992. S. 204 u.a. 116 | Seinen Vorbehalt gegen die Kulminanz der Phänomenologie der Langeweile in den „Augenblick“ formuliert auch Byung-Chul Han: Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei Martin Heidegger. München 1996. S. 42ff. Ders. Todesarten. Philosophische Untersuchungen zum Tod. München 1998. S. 156ff. 117 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 227.
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Als markierte diese Selbstermächtigung des Daseins, diese Generalvollmacht seiner Selbsthabe, den Point of no return für Heideggers Desaster. Kein Stern mehr, auf den zuzugehen wäre. Von diesem Punkt aus gibt es kein Zurück mehr. Oder doch? 6. Auf einen Stern zugehen. Sternenbilder lesen, Konstellationen und Konjunktionen, Diskonjunktionen zwischen durch Abgründe, „unendliche Weiten“, getrennte Leuchtfeuer. Oft nämlich verschwinden Sterne, wenn man sie unmittelbar fixiert, oft erscheinen sie wieder, richtet man den Blick ins Nichts, ins Dunkel, in jene Leere, das sie unmittelbar umgibt. Was Denken heißt, wäre womöglich diese Leere selbst, die Abständigkeit des Zwischen, das „Stern in Stern“,118 das die Lektüre erst ermöglicht und stiftet und den Streit um die rechte Lesart erzwingt, die Deutung der Bilder. Eine diskonjunktive Hermeneutik ist ein Experiment. Und das Geschäft ist waghalsig. Als gelte es, Kontaktstellen freizulegen, zu isolieren, Relais, die plötzlich einen Konnex herstellen, der bislang undenkbar schien: die Unbestimmtheit des Möglichen. Seine Latenz und Unterschwelligkeit, seine Unnatürlichkeit durchdringt das, was nicht minder missverständlich und meist überhastet „Wirklichkeit“ geheißen wird, das Konkrete, Gegebene, die Faktizität des Faktischen. Es durchdringt sie, besser, es färbt sie ein, tönt sie mit einem Kolorit, das es nicht einfach zu sehen gibt. Aber man sieht es doch, man spürt es. Als würde man aus irgendeinem Grund dafür empfänglich, empfindsam, passibel. Nur: welches „man“? Unter welchen Bedingungen? Was wären die Bedingungen der Möglichkeit dieserart Erfahrung, die selbst, diese Möglichkeit, „erfahren“ werden kann? Was wäre dieses Nirgendwo, wo Transzendentalität und Empirizität sich auf unvorstellbare, auf so erstaunliche Weise kreuzen? Deleuze wird von „Virtualität“ sprechen, die, unbenommen ihrer Spannung zum landläufigen Begriff der „Möglichkeit“, der er mehr als einmal Ausdruck verleiht,119 eine Art Kraft umschreibt, vielleicht auch eine Tugend, eine Tauglichkeit und ein Vermögen, deren unsichtbare Influenzen manchmal, unter ausgezeichneten Voraussetzungen bis in den Raum des Aktuellen hineinstrahlen und ihn ausdünnen. Vielleicht zielte Kunst, wenn sie für uns von Interesse ist, in ihrer formalen Komposition stets auf eine Versuchsanordnung, die diese bipolare Kondensation zwischen „Wirklichem“ und 118 | Rainer Maria Rilke: Früher, wie oft. In: Werke. Bd. 3. Frankfurt/M. 31984. S. 264. 119 | Cf. Deleuze: Henri Bergson: Zur Einführung. Übers. v. Martin Weinmann. Hamburg 2001. S. 119-128. Differenz und Wiederholung. Übers. v. Joseph Vogl. 21977. S. 267-271. Dazu: Ingo Zechner: Deleuze – Der Gesang des Werdens. München 2003. S. 100-108. Michaela Ott: Virtualität in Philosophie und Filmtheorie von Gilles Deleuze. In: Peter Gente/Peter Weibel (Hg.): Deleuze und die Künste. Frankfurt/M. 2007. S. 106-120. Dies. Gilles Deleuze. Zur Einführung. Hamburg 2005.
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„Möglichem“, dem Manifesten, dem Latenten, diese flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Ladungen stabilisierte. Um welches Mögliche es ginge, für wen und für was? Alles hinge einmal mehr an der Unbestimmtheit eines unbestimmten Artikels, an der Ausstreichung und Ausstreichbarkeit aller Bestimmtheit, Ausstreichung all dessen, was irgendwen oder irgendetwas zu etwas Besonderem macht, zu einem Exemplar oder Exempel seiner Gattung, zur Variante einer präformierten Variabilität. Zu einem Spross und Abkömmling einer Genealogik als Logik einer universellen evolutionären Konstanz. Die Filiationen unterbrechen, die Ableitungen und Deduktionen, die Fäden reißen lassen, die das Schicksal des Individuums oder Atoms an das binden, was blinde Mächte schon entschieden zu haben behaupten, bevor sie gegen sie anrennen. Ein Mensch, ein Stein: wo, wenn nicht bei Francis Ponge, dem Dichter des Kieselsteins,120 bei Cézanne, bei Chardin wurde zum Sujet, zum Wort, zum Bild, was kaum bislang der Rede wert schien? Ein Stein, ein Mensch: was das wäre? Was ihr unmögliches Mögliches wäre? Wir behaupten nicht, dass Deleuze diese Frage je hätte bearbeiten wollen. Sowenig wie Heidegger oder all die anderen, die hier, mehr oder minder, ausdrücklich oder nicht, von Belang wären. Wenn wir versuchen, sie auch in dieser Konstellation auszulesen, richtet sich der Blick nicht auf Texte oder textoder werkimmanente Affinitäten, Verwandtschaftsverhältnisse oder opportune Allianzen, sondern auf Textpartikel, die aus dem hermeneutischen Korpus, dem sie mit der maßgeblichen Autorität des geistigen Eigentumsvorbehalts zugehören, herausragen wie Trümmerteile. Uns interessieren nicht die Sterne, uns interessieren ihre Bilder. In einem Text mit dem Titel „Die Literatur und das Leben“, erstmals 1993 publiziert, wird Deleuze jedenfalls den ödipalen Hang, das „Unbestimmte“ nur mehr als „Maske eines Personalen oder eines Possessiven“ aufzufassen, durch das Verfahren der Literatur, ihre Methode, zu unterlaufen versuchen. Sie nämlich ginge den umgekehrten Weg und entstünde nur, hören wir genau zu, „indem sie unter den scheinbaren Personen die Macht eines Unpersönlichen entdeckt, das keineswegs eine Allgemeinheit, sondern eine äußerste Singularität ist: ein Mann, eine Frau, ein Tier, ein Bauch, ein Kind…“121 (Hervorheb., M.M.) Magie und Macht des „ein“, Ohnmacht des unbestimmten Artikels, der die Macht des Bestimmten, der deklinierten Nominalität oder Normalität der Person oder des Subjekts aushöhlt. Weder „vage noch allgemein“, doch 120 | Francis Ponge: Einführung in den Kieselstein. In: Einführung in den Kieselstein und andere Texte. Übers. v. Gerd Henniger u. Katharina Spann. Frankfurt/M. 1986. S. 144-153. 121 | Deleuze: Die Literatur und das Leben. In: Kritik und Klinik. Übers. v. Joseph Vogl. Frankfurt/M. 2000. S. 13.
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ein Indefinites, das dem Wachwandler,122 aufleuchtet und sei’s im Nu, im Bild selbst, das, nach all der Mühe, die man sich mit ihm machte, vorbeihuscht wie eine flüchtige Liaison. „Es ist sehr schwer“, schreibt Deleuze in einem Essay von 1992 zu Samuel Beckett, „alles, was an dem Bild hängt, wegzureißen, um an den Punkt ‚Ausgeträumt träumen’ zu gelangen. Es ist sehr schwer, ein reines, unbeflecktes Bild zu schaffen, das nichts anderes ist als Bild, dahin zu gelangen, wo es in seiner ganzen Einzigartigkeit auftaucht, ohne mit irgend etwas Persönlichem oder Rationalem behaftet zu sein, und zum Undefinierten vorzudringen wie zu einem himmlischen Zustand. Eine Frau, eine Hand, ein Mund, Augen…“123 Ein Leben? Tatsächlich wird Deleuze in seinem letzten Text, am Ende seines Lebens, das „ein Leben“ ein letztes Mal nominieren, die Literatur und nicht zuletzt den unbestimmten Artikel. Beispielsweise bei Dickens: „Wie kein anderer hat Dickens erzählt, was ein Leben ist, indem er den unbestimmten Artikel als Indiz des Transzendentalen bedachte. Ein Schuft, ein übles, von allen verachtetes Subjekt wird sterbend herbeigebracht, und mit einem Mal bezeugen nun die, die ihn pflegen, eine Art Eifer, Achtung, Liebe gegenüber dem geringsten Lebenszeichen des Sterbenden. Jeder bemüht sich um dessen Rettung, bis schließlich inmitten seines Komas der Bösewicht selbst sich von einer gewissen Sanftheit durchdrungen fühlt. Je mehr er aber ins Leben zurückkehrt, desto kälter werden seine Retter, und er gewinnt all seine Unverschämtheit, seine Bosheit zurück. Zwischen seinem Leben und seinem Tod gibt es einen Augenblick, der nur mehr der eines Lebens ist, das mit dem Tod ringt.“124 Diese Sätze, zu denen viel zu sagen wäre, stehen Heidegger unendlich nah und unendlich fern zugleich. Was aber zwischen dem Siechtum des Bösewichts und dem in tiefer Langeweile befangenen Einen aufleuchtet, sich in gleichsam embryonaler Monstrosität ankündigt, wäre die Idee eines Lebens, das den Keim, aus dem er erwuchs, noch in sich trägt, während es wächst. Die Idee und die Praxis: Mensch jenseits seiner Individualität, seiner Personalität, seiner Subjektivität, ohne all die Kennzeichen, Merkmale, Eigenheiten und Eigenschaften, seien’s die guten oder schlechten, die ihn zu dem machen, den man kennt und erkennt, von dem man weiß oder, der Etikette entspre122 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 218. 123 | Deleuze: Erschöpft. Übers. v. Erika Tophoven. In: Samuel Beckett: Quadrat, Geister-Trio, …nur noch Gewölk, Nacht der Träume. Stücke für das Fernsehen. Frankfurt/M. 1996. S. 65. Zum Motiv des „Ausgeträumt träumen“: Cf. Beckett: „Ausgeträumt träumen“. In: Dante und der Hummer. Gesammelte Prosa. Frankfurt/M. 2000. S. 214-218. 124 | Deleuze: Die Immanenz: Ein Leben. Übers. v. Joseph Vogl. In: Friedrich Balke/ Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze - Fluchtlinien der Philosophie. München 1996. S. 30f.
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chend, zumindest wissen sollte. „Das Leben solcher Individualität verlöscht zugunsten des singulären Lebens, das einem Menschen immanent ist, der keinen Namen mehr hat, obwohl er sich mit keinem anderen verwechseln lässt. Singuläres Wesen, ein Leben…“125 Ein Leben, singuläres Leben? Hören wir noch einmal Heideggers Attestat: „Es - einem - nicht mir als mir, nicht dir als dir, nicht uns als uns, sondern einem. Name, Stand, Beruf, Rolle, Alter und Geschick als das Meinige und das Deinige fällt von uns ab. Deutlicher, gerade dieses ‚es ist einem langweilig‘ lässt all das abfallen. Was bleibt? Ein allgemeines Ich überhaupt? Ganz und gar nicht. Denn dieses ‚es ist einem langweilig’, diese Langeweile vollzieht ja keine Abstraktion und Verallgemeinerung, in der ein allgemeiner Begriff ‚Ich überhaupt’ gedacht würde, sondern es langweilt. Das ist nun das Entscheidende, dass wir dabei zu einem indifferenten Niemand werden.“126 Zu einem namenlosen Patron, weder Individuum noch Typus: niemand und zugleich durch niemanden zu ersetzen, unverwechselbar und zugleich ohne ein Merkmal seiner Unverwechselbarkeit. Als ob der Keimling, dieses Urbild aller Potentialität, zum Transzendental eines Daseins geriete, das in jedem Moment alle Möglichkeiten in sich trägt, die möglichen nicht nur, die keimhaft angelegten, dem Regime der Entelechie zugewiesenen; die unmöglichen zumal, die nicht wirklich werden, wurden und werden konnten und können, die stillgestellten Möglichkeiten des Daseins. Was, anders gesagt, ein Dasein wäre, das in jedem Moment ganz anders, etwas ganz anderes zu werden vermag. Denn der Eine, nur der Eine, ist einer von anderem, das ihm noch nicht zuhanden wäre, zur Verfügung stünde und zu Gesicht. Denn der Eine, nur der Eine, ist passibel für jenes „es ist langweilig“, für das „Es ist“, das „Es gibt“, für die Gabe und Aufgabe der Langeweile, für das Geben einer Welt, die einen angeht, mir aber nichts, noch nicht, bedeutet. Als blickte ich auf eine Welt, die mir noch keinen Platz zugewiesen hat, womöglich noch nicht einmal eine Zeit. Als hätte ich keine Adresse, keinen Vorund Nachnamen, noch nicht einmal ein Pronomen, das mir die Inbesitznahme jener Güter und Rechte, auf die Anspruch zu erheben meine Personalität in Aussicht stellt, erlaubte. Singularität, das Mutabor modernen Philosophierens, die Unverwechselbarkeit und Unaustauschbarkeit des Einen und Einzigen, seine Respondenz, seine Passibilität erschiene so als Effekt einer metaphysischen Kernspaltung, kraft derer schon Adorno die neuzeitlichen Unterstellungen, die Front- und Frontalstellung von Subjekt und Objekt erschütterte. Ohne Identität! Gebrochener Nukleus einer Individualität, die nur als gespaltene die Chance hat, zu „sich“ zu finden; die nur als gespaltene die Chance hat, 125 | Ebd. S. 31. 126 | Heidegger: Die Grundbegriffe der Metaphysik: Welt - Endlichkeit - Einsamkeit. l.c. S. 203.
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„sich“ (endlich!) zu verlieren. Manchmal ist sie winzig, einem Rodion Raskolnikow127 genügte selbst das. Manchmal ist sie verschwindend wie im Kino der Schizophrenie, das etwa David Lynch in immer neuen Anläufen desubjektiviert und radikalisiert, bis der Kreislauf implodiert als wäre der Fluchtpunkt, den noch jedes Roadmovie als Kennzeichen seines Scheiterns oder Gelingens fixiert, nichts als eine Fiktion ohne Grund und Halt und Sinn. Michael Kowalski128 wusste noch, Thelma und Louise,129 dieses zarte lesbische Pärchen, ahnten noch, dass ihr Tod, ihr Scheitern, das Negativ eines Gelingens in sich trug, das anderes verhieß als ausgerechnet diesen Tod. Doch wohin führt eine Flucht in die Wüste, wenn nicht in die Wüste? Wer wäre jemals aus ihr zurückgekehrt, aus der himmlischen Hitze von Death Valley?130 Keine Liebe ist stark genug… Aber was, wenn die Straße selbst verloren ging? Die Beleuchtung, die Markierungen. Wenn das Nichts nicht nur vor einem liegt, sondern von den Rändern her hereinzieht wie ein Nebel? Schon Lynchs „Lost Highway“,131 keineswegs erst die „Straight-Story“132 mit ihrer bezaubernden Ironie gerontrischer Verlangsamung, sanktioniert das Ende des Roadmovie, das noch in seinen äußersten Verzerrungen und Verfremdungen nur mehr Spielarten der Goetheschen Lehr- und Wanderjahre darstellte, die immer, irgendwie, irgendwann und irgendwo, ein Ende nehmen. Eine „Falsche Bewegung“133 insinuiert stets, und sei’s im Akt der Verneinung, die richtige. Den Goetheschen Hang zur ausholenden Opulenz konsolidierte ein Wim Wenders stets. Die Schizophrenie aber, die zu einem Weltverhältnis mutierte, zu einem Weltverhängnis, zu einem ontologischen Fatum, zersetzt noch die Parameter, an denen richtig und falsch, wahr und unwahr zertifiziert werden konnten. Weder die Figuren im Film noch der Zuschauer im Kino erfassen mehr jenes Außen, von dem aus das Kontrastmittel in diesen Kosmos der Schizophrenie eingespritzt werden könnte. Die Spaltung, die gespaltenen Schädel, die Gewalt, die Atemnot - nichts sonst. Was in Hitchcocks „Psycho“, wenn überhaupt, nur mühsam gelang: dass der Held, der Polizeibeamte, der Psychiater die Normalität, die der Schizophrene verwüstete, wieder restauriert,134 fällt bei Lynch
127 | Fjodor M. Dostojewski: Schuld und Sühne. Übers. v. Hermann Röhl. Frankfurt/M. 1986. 128 | Richard C. Sarafian: Fluchtpunkt San Francisco. USA 1971. 129 | Ridley Scott: Thelma & Louise. USA 1991. 130 | Michelangelo Antonioni: Zabriskie Point. USA 1970. 131 | David Lynch: Lost Highway. USA 1997. 132 | Lynch: The Straight Story. USA 1999. 133 | Wim Wenders: Falsche Bewegung. Deutschland 1975. 134 | Alfred Hitchcock: Psycho. USA 1960.
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aus.135 Ist es nicht Irrsinn, wenn der Irrenarzt, anstatt unbeirrt auf den Irren zu schießen,136 durch ihn ermordet wird?137 Aber was, wenn die Straße selbst verlorenging? Als wäre Alpha Omega, als ob Anfang und Ende sich zum Höllenkreis kurzschlössen: Lynchs „Lost Highway“, bei dem Schizophrenie nicht mehr nur im Film Thema, sondern als Film Form wird, endet und beginnt mit einer atemlosen Flucht auf dem Highway, beginnt und endet und endet nie, da die Flucht doch schon zu Beginn nur ins Leere führt. Das Roadmovie, das keines mehr sein kann und sein wird, beginnt und endet mit zittrig suchenden Scheinwerferkegeln, die die rasend unter dem Auto wegfliegende Straße abtasten, absuchen, auf den in kürzeste Intervalle gebrochenen Mittelstreifen fixiert als wär’s die letzte Beglaubigung in einem längst unglaublich gewordenen Universum. Und nach vorne, nach links und nach rechts verliert sich der Highway, der lost Highway, in nachtschwarzer Dunkelheit. Sie empfängt den Blick des Betrachters, lockt ihn zu sich und in sich, verschluckt ihn lautlos wie eine konturlose Amöbe. Woher und wohin führt Fred Madisons Flucht? Und woher und weshalb diese Beunruhigung des Blicks, der bei seiner Suche auf nichts stößt, das ihm ausreichend Widerstand zu bieten vermag? Jedenfalls wird aus dem Jahre 1952 von Tony Smith, lange bevor er zu einem der führenden Protagonisten der minimal art werden sollte, eine Anekdote überliefert, die mehr wäre als eine Anekdote; eher das Protokoll einer Art Schock, der manchmal, wie man weiß, lange braucht, bis er ankommt, Laut wird und seinen Ausdruck findet. 1952 also (und noch rund zehn Jahre sollte es dauern bis er seine erste Arbeit fertigstellen wird, jenen schwarzen Kubus aus Stahl mit dem Titel „Die“) fährt Tony Smith nächtens auf seinem lost Highway, der noch nicht fertiggestellten New Jersey Turnpike: „Die Nacht war dunkel, und es gab keine Beleuchtung, keine Fahrbahn- oder Seitenmarkierungen, keine Leitplanken, überhaupt nichts außer dem dunklen Asphalt, der durch die flache Landschaft lief, mit den Höhenzügen in der Ferne, und zwischendurch Fabrikschornsteine, Türme, Rauch und farbige Lichter. Diese Fahrt war eine Offenbarung.“ Aber von was? „Ich dachte bei mir, es sollte klar sein, dass das das Ende der Kunst ist.“138
135 | Cf. Johannes Pause: Die Flucht ins Nichts. Videobilder als Irritation von Realität in David Lynchs „Lost Highway“. In: Nach dem Film, Nr. 3/2003. www.nachdemfilm. de/no3/pas01dts.html. 136 | John Carpenter: Halloween. USA 1978. 137 | James Mangold: Identität. USA 2003. 138 | Samuel Wagstaff, Jr.: Talking with Tony Smith. In: Artforum V, Nr. 4, 1966. Zit n. Michael Fried: Kunst und Objekthaftigkeit. In: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art – Eine kritische Retrospektive. Dresden 21998. S. 368. Dazu: Georges Didi-Huberman:
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Das Ende der Kunst, mithin einer gewissen Konventionalität, die mit ihrer Bloßstellung auch schon hinfällig geworden sei. Das Ende der Kunst und vielleicht das Ende einer Konvention von Subjektivität überhaupt, von Objektivität, die natürlich scheinen, indes einen avancierten Stand in der Geschichte des Verhältnisses zwischen Sein und Mensch widerspiegeln. Von der schizoanalytisch beglaubigten disjunktiven Synthese bis zu den falschen Anschlüssen im Kino des Zeit-Bildes, bis zu jenen Neuverkettungen, die neu verketten, die den Bruch nicht kitten, sondern voraussetzen. Ist es das, warum wir ins Kino flüchten? Benjamin hatte uns ja mit dieser Idée fixe infiziert, mit diesem spleen einer „Zeit der Erwartung“, die nicht nur anderes erwartet, Neues, sondern die Zeit selbst, die andere, die Neue Zeit. Es geht nicht um das Wunder, das wir erwarten, sondern um das Wunder, dass wir warten. Das Warten selbst ist das Wunder, das wir erwarten. Was wir nicht nur nicht wissen. Wir wissen nicht, dass wir es nicht wissen. Das Warten aber, das Gebet, die Bitte, diese Kryptonyme des Glaubens handeln doch von nichts anderem als von jener erschütternden Unordnung der Zeit, Neuordnung der Zeit, wo das Gesuch um Einlass der Einlass ist, wo der Wunsch, getröstet zu werden, der Trost ist, wo die Bitte die Gabe ist, die Bitte-Gabe, dieser ganz singuläre Vorfall der Erlösung139 als Erlösung. Und wenn Benjamin die Langeweile als „Schwelle“ zu großen Taten preist, dann wäre verkehrt gewiss nicht, einen Moment lang innezuhalten, bevor man sich daran machte, diese Großtat, welche es auch immer sei, in Angriff zu nehmen. Das ist doch das Bemerkenswerte: dass die Schwelle keine Grenze ist. In den ersten Skizzen zum Passagen-Werk, nur wenige Zeilen, nachdem Benjamin ein erstes Mal die Langeweile als „Schwelle zu großen Taten“ apostrophierte, präzisiert er: „Schwelle und Grenze sind schärfstens zu unterscheiden. Die Schwelle ist eine Zone. Und zwar eine Zone des Übergangs.“140 Ein Raum mithin, ein Volumen, eine Ausdehnung. Oder eine Passage. Und den Passagier dieser Passage erkennen wir, wie von Ferne, endlich auch als jenen Einen wieder, jenen Konvertiten without a cause, der dem Ort, von dem aus er aufbrach, nicht mehr zugehört, ohne schon von ihm getrennt zu sein; der dem Ort, zu dem hin er aufbrach, noch nicht zugehört, obwohl er schon mit ihm verbunden ist. Halten wir das fest. Halten wir an. Keine Dialektik der Grenze, der Linearität, des Diesseits-Jenseits. Widerstehen wir der immerWas wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. Übers. v. Markus Sedlaczek. München 1999. S. 82f. 139 | Cf. Mt 7,7. LK 11,9. Dazu: Michael Theunissen: Ho aiton lambanei. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins. In: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt/M. 1991. S. 321-378. 140 | Benjamin: Das Passagenwerk. l.c. Bd. 2. S. 1025. Dazu: Mayer: Altes Licht und die Krankheit der Bilder. Versuche zur Techno-Logik des Imaginären. Essen 1990.
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währenden Versuchung zur Übermächtigung und Überwältigung, zur Destruktion oder Überwindung jener Malaise, die längst unerträglich geworden zu sein scheint. „Es handelt sich nicht darum, die Ställe des Augias auszumisten, sondern darum, sie mittels ihrer eigenen Jauche mit Fresken auszumalen: eine rührende Arbeit, zu der ein festeres Herz und mehr Feingefühl und mehr Ausdauer gehören, als Herkules für seine Arbeit simpler, grober Moralität brauchte.“141 Ausdauer, langer Atem, auch wenn einen das Gefühl peint, ersticken zu müssen. Außer Atem. Dann erst dehnt sich die Schattenlinie,142 die das Davor vom Danach separierte, zum Schattenraum, zur Passage, zur Zone, deren Übergängigkeit wie ausgesetzt anmutet, verzögert, aufgeschoben. Und endlich steht die Zeit still. Die Zone aber ist grau: kein optisches Kompositum aus Schwarz und Weiß, sondern ein haptisches aller Farben,143 die in diesem Grau aufgehoben sind und sehr zart leuchten, fast zärtlich. Die Zone ist grau, silbergrau, ein Gemisch und als Gemisch eigenständig. So hat sie Anteil an dem, was sie scheidet. Eindeutigkeit, das Entweder-Oder, ist ihre Sache nicht. Die Navigatoren in dieser Grau-Zone, dem Schattenraum, die Pfadfinder, die Fährtensucher wissen zumindest, dass man hier keinen Weg sicheren Fußes zweimal gehen könnte. Und sie wissen, dass die Apokalypse der Wünsche nicht immer wünschenswert ist. Weshalb sie vor der Schwelle ausharren als versteinerte sie ein Schmerz. Doch wohnt diesem Schmerz nicht ein Glanz inne? Eine reine Helle? Ein Glanz und ein Versprechen: „Brot und Wein“.144
141 | Ponge: Die Ställe des Augias. In: Einführung in den Kieselstein und andere Texte. l.c. S. 25. 142 | Cf. Joseph Conrad: Schattenlinie. Übers. v. Heinz Piontek. Frankfurt/M., Leipzig 1999. 143 | Cf. Deleuze: Francis Bacon - Logik der Sensation. Übers. v. Joseph Vogl. München 1996. S. 80f. 144 | Cf. Georg Trakl: Ein Winterabend. In: Dichtungen und Briefe. Salzburg 1974. S. 57.
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5. Zeit-Bild 3: Zeit (Gesang)
„all den Gesang in den Fingern, den auch die durch uns lebendige, herrlich-undeutbare Flut uns nicht glaubt.“ Vom Anblick der Amsel. Paul Celan „Und singt, wenn er des heiligen nüchternen Wassers Genug getrunken, fernhin lauschend in die Stille, Den Seelengesang. Und noch, noch ist er des Geistes zu voll, Und die reine Seele“ Deutscher Gesang. Friedrich Hölderlin Bunte Vögel, eigens dazu da, die ganze Tonleiter der Schattie rungen zu verkörpern, f logen hoch und boten die Leere von Rot und von Schwarz. Eintönige Vögel, die dazu da waren, ein Musikkonservatorium ohne Noten darzustellen, sangen das Nichtvorhandensein des Gesangs.“ Maurice Blanchot
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1. Wer gesagt habe, die Zeit heile alle Wunden? Die Zeit heilt alles, nur Wunden nicht. Und wenn Wunden, die wie Einstiche sind in die Zeit, die die Zeit punktieren und manchmal, wie einen Luftballon, platzen lassen, nicht heilen, nicht vernarben wollen, die weiterschwären als ob sie nicht geringer würden in der Zeit, als ob Zeit sie wenigstens linderte, dann vielleicht, weil die Zeit selbst die Wunden offenhält. Die Wunden, die Verletzungen. Nennen wir nicht mit gutem Recht jene Wunden, deren Ränder sich nicht schließen, Traumata? Und hatte Freud nicht selbst einmal das verstörende Attest erstellt, das Unbewusste kenne keine Zeit?1 Was bedeutete, dass die psychoanalytische Praxis, diese Schleichfahrt ins „innere Afrika“, auf jenen Punkt zusteuert, auf jenes punctum der Zeit und in der Zeit, wo der Schmerz haust, wo er lauernd, mit herrischer Intensität. Als geschähe jetzt, in diesem Moment, was einst geschah. Aber tut es das nicht? Ist das nicht das dunkle Geheimnis der Zeit, dass sie, wie eine Perle den Splitter, in sich konserviert, was längst vergangen schien. Dass sie also nicht nur vergeht, sondern bewahrt. The time is out of joint, murmelt Hamlet, der Zauderprinz2 und standhaft Schwache, während einem King Lear, dem Despoten, an der Schwelle zum Wahnsinn all die Toten paradieren, die er, längst vergeben und vergessen, für den diskreten Charme seiner Exzellenz billigend in Kauf genommen hatte. Was man mit Fug einen Eklat nennen sollte. Lévinas jedenfalls sprach einmal von einem „Éclatement du Temps“,3 einem Zerplatzen der Zeit, was Zeit nicht einfach nur löscht oder „aufhebt“, sondern anders, in anderer Gestalt aufleben lässt. Als ob die Zeit platzt, als ob sie, wie man in Lachen ausbricht (éclater de rire), die empfindlich dünne Haut, die das Präsens der Präsenz von einem offensichtlich imperfekten Perfekt trennt, durchstößt. Deshalb also heilt die Zeit alles, außer den Wunden. „Wer hat gesagt, die Zeit heile alle Wunden? Man sollte besser sagen, dass die Zeit alles heilt, außer den Wunden. Mit der Zeit verliert die Wunde der Trennung ihre wahren Ränder. Mit der Zeit wird der ersehnte Körper bald nicht mehr sein, und wenn der ersehnte Körper schon aufgehört hat, für den anderen zu sein, ist das, was bleibt, eine körperlose Wunde.“4 1 | Cf. Sigmund Freud: Das Unbewusste. In: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe Bd. 3. (STA) Frankfurt/M. 2000. S. 119-173. 2 | Cf. Joseph Vogl: Über das Zaudern. Zürich, Berlin 2007. 3 | Cf. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Übers. v. Thomas Wiemer. Freiburg i.Br., München 1992. S. 200. Dazu: Elisabeth Weber: „Éclatement du Temps“ „Zerspringen der Zeit“. Über eine apokalyptische Wendung bei Emmanuel Lévinas. In: Georg Christoph Tholen/Michael O. Scholl (Hg.): Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit. Weinheim 1990. S. 8596. 4 | Chris. Marker: Sans Soleil. Frankreich 1983. Die zitierten Worte stammen von Samura Koichi.
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Das schreibt ein Mann, der Bilder macht und die Bilder, während er über sie schreibt, nicht oder nicht mehr sieht, einer Frau, die seine Zeilen liest und vorliest und die die Bilder, von denen er schreibt, nicht oder noch nicht sieht.5 Das schreibt einer, der sich zu den äußersten Punkten des Überlebens aufgemacht hat, in sein äußeres elendes Afrika und, wie sollte es 1983 anders sein?, in ein Japan, dessen Prosperität dem Ritus der Toten, glaubt man jedenfalls den Bildern, keinen Einhalt gebot. Es ist die Chronik einer Reise, die keine mehr ist, da sie in der „Zone“ endet, Tarkowskijs Zone, dem Gehirn, der Erinnerung. Es ist die Chronik eines Europäers, der sich eines Tages aufmacht, Orte zu erkunden, von denen es kein Zurück mehr geben wird: Afrika! Japan! „Tokio: findet sich diese Stadt auf dem okzidentalen Kreis, der nach Dublin oder nach Ithaka zurückgeleitet?“6 Nur um den Preis einer List, die eher einem Verrat ähnelt denn der ruhmvollen Tat, wird ein Odysseus, der Kreisläufer, der famose Olympionike, jene Gesänge passieren, deren Genuss er sich auf überaus schäbige Weise erschleicht. Haben sie wirklich keine Spuren hinterlassen? Man kann die Frage jedem Freier stellen. Und keiner wird sie beantworten. Doch wohnt nicht jedem Gesang, noch dem odysseischen, ein Zauber inne, der dem der Sirenen zumindest nahekommt? Wahrt nicht jeder Gesang, noch der odysseische, dem der Sirenen auf verwirrende Weise die Treue? Nenne man ihn Ismael oder Elias: den Neuankömmling, den Sphärensegler, den Walfänger, dem schon auf der Stirn geschrieben steht, dass ihm bald, sehr bald schon etwas zustoßen könnte. Doch sei’s drum. „Jedenfalls, sei es die des Propheten, des Beschneiders, der polymathischen Kompetenz oder der telematischen Beherrschung, die Gestalt des Elias bleibt nur eine Synekdoche der odysseischen Erzählung, kleiner und größer zugleich als das Ganze.“7 Und der Gesang der Sirenen wäre eine Episode der Odyssee und zugleich ihr Initial, ihr Fanal und ihre Finalität. Wenn Elias der „Name des unvorhersehbaren anderen“8 ist, wäre eine Reise in seinem Namen etwas unvorhersehbar anderes als eine Reise im Zeichen des Odysseus. Doch tadeln wir ihn nicht zu schnell: Immerhin bewahrt er noch ein feines Gespür der Sensationen in sich, von denen er sich nicht 5 | Cf. Michael Wetzel: X-Marker. Das Visuelle und das Bild im Film. In: Die Wahrheit nach der Malerei. Literatur – Kunst – Medien. München 1997. S. 261-299. Auch: Gonzalo de Lucas: Chris Marker. The political composition of the image. Introduction to the first image of Sans Soleil. 1998: http://www.iua.upf.es/formats/formats2/ luc_a.htm. 6 | Jacques Derrida: Ulysses Grammophon. Übers. v. Elisabeth Weber. Berlin 1988. S. 46. 7 | Ebd. S. 84. 8 | Ebd. S. 96.
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übermannen lassen darf. Boys don’t cry! Oder doch? Vielleicht eine Petitesse; aber Odysseus wird bekanntlich in dem Moment, wo der Sänger Demodokos seinen Ruhmesgesang über die Eroberung Trojas anstimmt, über den durch Schläue und List und Tücke ermöglichten Sieg, in Tränen ausbrechen.9 Griechischer Gesang. Das ist die Geschichte vom weinenden Odysseus. Andere kennen wir auch. Andere Geschichten und ein anderes Singen, diesseits der Tränen, ein Jubeln und ein Jubelgesang, éclater de chanter. Der Roman ist noch jung, die Erzählung hat, gemessen an ihrem ungewöhnlichen Umfang, gerade erst begonnen, da berichtet Marcel Proust folgende Anekdote: Auf einem der Spaziergänge, die der Erzähler, nennen wir ihn Marcel, regelmäßig mit seinen Eltern unternahm, wird das Trio auf dem Rückweg von einem Bekannten, dem ansässigen Landarzt, in der Kutsche mitgenommen. Marcel, ein noch halbwüchsiger Junge, den seit einiger Zeit das Gefühl peint, keine Begabung fürs Schreiben zu haben, darf sich, sicherlich eine schöne Abwechslung für ihn, neben den Kutscher auf den Bock setzen. Eine alltägliche Situation. Doch beim Anblick von zwei, schließlich drei Kirchtürmen, die nach einer Wegbiegung ins Blickfeld rücken, hat Marcel, so Proust, „auf einmal jenes besondere Lustgefühl, das keinem anderen glich“.10 Doch bleibt der Grund für diese außergewöhnliche Impression unklar. Zwar beschreibt der Erzähler nun minuziös die nur einmal noch unterbrochene Fahrt, den Anblick der Türme, die wegen der sich kontinuierlich ändernden Perspektive miteinander zu tanzen scheinen, beschreibt diese Kutsch-, die frappant an eine Kamerafahrt erinnert, detailliert und mit sichtlicher Begabung fürs Schreiben, doch bleibt der Zusammenhang zwischen dem Anblick der Türme und jenem ausgezeichneten Gefühl dunkel. Weshalb der „Zwang“, notiert Proust, hierfür „nach dem Grunde zu forschen“, trotz und wegen seiner Glücksempfindung „quälend“ auf ihm lastete.11 Ein weiteres tritt hinzu: „es kam mir ein Gedanke, der einen Augenblick zuvor noch nicht in meinem Bewusstsein war und der sich in meinem Hirn zu Worten gestaltete, und die Lust, die mir soeben der Anblick der Türme bereitet hatte, war so gesteigert dadurch, dass ich, von einer Art von Rausch erfasst, an nichts anderes dachte.“12 (Hervorh., M.M.)
9 | Cf. Homer: Odyssee. Übers. v. Heinrich Voss. Darmstadt 1980. S. 597f. Dazu: Michael Mayer: Humanismus im Widerstreit. Versuch über Passibilität. München 2012. Kpt. 6: Kleine Apokalyptik der Tränen. 10 | Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übers. v. Eva RechelMertens. Frankfurt/M. 1985. S. 239. 11 | Ebd. 12 | Ebd. S. 240.
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Die Lust, das Vergnügen, das Glücksgefühl steigert sich so durch einen Gedanken und seine Verwandlung in Worte. Doch Rechenschaft über den Inhalt dieses Gedankens vermag Marcel offensichtlich weder sich selbst noch dem Leser zu geben. Es kam ihm nicht „der Gedanke, dass …“, sondern „ein“ Gedanke. Er bleibt eingehüllt in das Inkognito des unbestimmten Artikels. Doch was für „ein Gedanke“ das wäre? Irgendeine Vorstellung? Ein Bild? Eine Erinnerung? Eine Phantasie? Ein bislang nur dunkel gefühlter Wille? Ein verborgener Wunsch? Vielleicht eine Art Affekt, nur ein Affekt, der sich einen Vorstellungsinhalt sucht? All diese Fragen bleiben unbeantwortet, ungestellt. Desto überraschender mutet seine Metamorphose in Wörter, endlich Sätze an, die dem verhinderten Autor plötzlich aus der Feder quellen. „Ohne mir zu sagen, dass das, was hinter den Türmen von Martinville verborgen war, einem wohlgelungenen Satz entsprechen musste, da es mir ja in Gestalt von Worten, die mir Freude machten, aufgegangen war, bat ich den Doktor um Bleistift und Papier und trotz der Stöße des Wagens verfasste ich, um mein Bewusstsein zu entlasten und aus Begeisterung das folgende kleine Stück Prosa, das ich später wiederfand und hier nur wenig abgeändert habe“.13 (Hervorh., M.M.) Es bleibt bei einer unausgesprochenen Mutmaßung, dem bloßen Verdacht, dass ein sprachlicher Ausdruck das Äquivalent zu jenem Mysterium der Türme darstellt, da die Freude bei ihrem Anblick sich beim Auftauchen von Worten noch intensivierte. Doch man spürt das Unsichere der Überlegung, spürt, wie der Autor sich gleichsam selbst von einer Lösung zu überzeugen versucht, die mehr Fragen aufwirft als sie beantwortet. Denn das Geheimnis bleibt dunkel. Dabei ist die Geschichte in ihrer außeralltäglichen Alltäglichkeit so seltsam wie die Logik ihres Protokolls. Denn Proust zitiert nun das auf der Fahrt notierte Stück Prosa ausgiebig, dessen Inhalt nur wiederholt, was die Seiten zuvor schon, obgleich in anderen Worten, beschrieben wurde und eben zur Abfassung dieses Stücks führte: die Fahrt auf dem Kutschbock mit dem Weichbild der Türme. Ein Jugendlicher, den sein mangelndes Talent zum Schreiben deprimiert, beginnt plötzlich kraft eines ihm keineswegs unvertrauten Anblicks zu schreiben, und ein Schriftsteller, der diese Episode erzählt, dokumentiert mit seiner Erzählung, was ihr vorangegangen sein muss, damit sie überhaupt hat entstehen können. Wenn wir hier eine jener gewiss sehr seltenen Situationen vor uns haben, in dem der Augenblick der Geburt eines Schriftstellers aufgezeichnet wurde, dann haben wir zugleich mit jenem Prosastück einen Text in Händen, der, im Roman platziert, ihn zugleich ermöglichte (gleichsam den unscheinbaren Prototyp jener als literarisches Erweckungs- oder Bekeh-
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rungserlebnis14 gehandelten Schlüsselszene15 der Matinee bei der Prinzessin von Guermantes zum Ende des Romans). Marcel lernt schreiben, und Proust schreibt, weil Marcel schreiben lernte, vom Schreibenlernen Marcels. Die Episode ist Teil des Romans, der aus ihr erwuchs: das Ganze umfasst das Moment, das dieses Ganze in sich birgt. Also wohnen wir in der Tat einer Verwandlung bei, einer Metamorphose? Bezeugen wir mit der Geburt des Literaten den Quellpunkt seiner Literatur? Den Beginn dessen, was man Inspiration nennt? Ein neuer Mensch, eine neue Seele, ein neues Werk? „Sie hätte singen sollen, diese ‚neue Seele‘ - und nicht reden!“16 Und genau das tut sie, unsere ‚neue Seele‘: „Ich dachte niemals an diese Zeilen zurück, aber damals in dem Augenblick, als ich auf der Ecke des Bockes, wo der Kutscher des Doktors gewöhnlich in einem Korb das auf dem Markt von Martinville eingekaufte Geflügel abstellte, sie beendet hatte, spürte ich, dass sie mich so vollkommen von diesen Kirchtürmen und von dem, was sich hinter ihnen verbarg, zu befreien vermocht hatten, dass ich, als sei ich selbst ein Huhn, das ein Ei gelegt hat, mit schriller Stimme zu singen begann.“17 Französischer Gesang: „Singen bedeutet von jeher den Mund auftun, damit höhere Kräfte sich kundgeben können.“18 Doch welche das wären? Der eilfertige Verweis aufs Numinose, auf „Musen“ oder gewisse ätherische Mächte enttäuscht allenfalls. Marcel jubiliert - wie, so Prousts etwas gezierte Replik, ein Huhn, das ein Ei legte -, nichts sonst, und der Schrei, der ihm, worauf das Schrille seines noch kindlichen Gesangs wohl hindeutet, auf den Lippen zu liegen scheint, dehnt im Gesang sich zum dauernden Ausdruck. Als wäre der Schrei der im Nu geraffte Gesang schlechthin, als implodierte alle Zeit, die er so großzügig verschwendet, um im Punktuellen zu kollabieren. Der Schrei ist der auf die Spitze getriebene Gesang. Gäbe es tatsächlich jenen „Zeitpunkt“, das so oft schon strapazierte Paradox einer ausdehnungslosen Zeit, dann in dem des Schreis. Sind wir deshalb Sängern so dankbar, weil wir ahnen, dass sie die Kunst beherrschen, den Schrei, zu dem alles in ihnen drängt, zu hemmen, 14 | Cf. Manfred Schneider: Das Ereignis der Zeit. Proust und die Theorie des Erhabenen. In: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hg.): Marcel Proust und die Philosophie. Achte Publikation der Marcel Proust Gesellschaft. Frankfurt/M., Leipzig 1997. S. 121137. 15 | Cf. Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 3934ff. 16 | Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: Kritische Studienausgabe (KSA). Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.) Bd. 1. München, Berlin, New York 1988. S. 15. 17 | Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 242. 18 | Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt/M. 2006. S. 10.
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aufzuschieben und in Gesang zu wandeln? Schreiend kommen wir zur Welt, schreiend verlassen wir sie wieder.19 Aber dazwischen sollten wir lernen zu singen. Es ist nie zu spät, mit dem Singen zu beginnen. Es ist nie zu spät, mit dem Leben zu beginnen. Das „Zu spät“ ist doch ein Wort aus der Hölle. Noch das ärmlichste, erbärmlichste Dasein wäre wert, gelebt zu werden; noch die traurige Gestalt weiß ja, ahnt ja, dass trostloser noch als gar kein Trost, der falsche ist. Denn er, vor allem er betrügt ums Leben, das gelebt sein will wie es ist. Krapp, die ferne Kolportage aus dem Interieur Proustscher Archivalien, entrinnt ihr spät. Während er zu singen weiß, protokollieren seine Tonbänder, Konserven aus der Vorzeit seiner Leidenschaften, ein Scheitern, ein Versagen, die einzig unvertretbare Schuld: die wider das Glück. Die Stille quittiert sie: dass die Erde „unbewohnt“ sein könnte. „Vielleicht“, mault‘s vom Band, „sind meine besten Jahre dahin. Da noch eine Aussicht auf Glück bestand. Aber ich wünsche sie nicht zurück. Jetzt nicht mehr, wo dies Feuer in mir brennt. Nein, ich wünsche sie nicht zurück.“20 Und während das Band weiterläuft „in der Stille“,21 während Krapps Lippen sich „lautlos“22 bewegen, während dieser ganzen seltsamen Kommunion zwischen einer Stille, von der der Krapp auf den Band fabuliert, einer Stille, in welcher das Band aus- und weiterläuft und einer Lautlosigkeit, die der Krapp vor seinem Band atmet, indem seine Lippen sich formen zum Unsäglichen und Unsagbaren, während all dem wird Krapp gelernt haben zu singen, spät, spät abends. Vielleicht ein Wort nur, „Spuuule!!“,23 vielleicht ein Lied.24 Ob er, dröhnt der Neununddreißigjährige von seinem Band, singen werde, wenn er so alt sei wie jene Miss McGlome, die immer des Abends sänge: „Werde ich singen, wenn ich so alt bin wie sie, falls ich je so alt werde? Nein. Pause. Habe ich als Knabe gesungen? Nein. Pause. Habe ich je gesungen? Nein.“25 Verrat also wäre wohl nicht das letzte Wort, das diesen Kosmos zeichnete; Treue nicht das erste. „Eines Abends, spät, in der Zukunft“26 wird Krapp Bananen essen (Gift für einen Mann in seiner Verfassung!), eines Abends, spät, in der Zukunft, wird Krapp singen, endlich, jetzt. In der Zukunft, eines Abends, spät werden wir alle singen, alle…
19 | Akira Kurosawa: Die sieben Samurai. Japan 1954. 20 | Samuel Beckett: Das letzte Band: In: Dramatische Dichtungen in drei Sprachen. Dt. Übers. v. Elmar Tophoven. Frankfurt/M. 1981. S. 109. 21 | Ebd. 22 | Ebd. 23 | Ebd. S. 89 u.a. 24 | Ebd. S. 95 u.a. 25 | Ebd. S. 93. 26 | Ebd. S. 85.
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Aber wer hätte es uns gelehrt? Wer hätte es uns beigebracht und beibringen können, wenn nicht die Vögel? Die Sprache hätten wir, die Primaten inter pares, von Gott empfangen oder vor den Affen ertrotzt, den Gesang aber abgelauscht von den Vögeln. Aller Gesang käme von den Vögeln,27 den Zwitschermaschinen, und bliebe ihnen auf Gedeih und Verderb verpflichtet. Noch der Gesang, der schöne, ist ein eineiiger Zwilling jenes Schreckens, der schon den der Vögel tönt. „Schön gilt allen der Gesang der Vögel; kein Fühlender, in dem etwas von Europäischer Tradition überlebt, der nicht vom Laut einer Amsel nach dem Regen gerührt wäre. Dennoch lauert im Gesang der Vögel das Schreckliche, weil er kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorcht, der sie befängt. Der Schrecken erscheint noch in der Drohung der Vogelzüge, denen die alte Wahrsagerei anzusehen ist, allemal die von Unheil.“28 Alle Vögel sind schrecklich: nicht, weil sie uns, die Abendländler, an einen Zwang erinnerten, dem sie folgten (tun sie das?29), sondern weil sie die unbestrittenen Signifikanten einer Epoche sind, die von der Ankunft des Menschen gar keine Ahnung haben konnte. Man müsse wissen, so soll Hitchcock einmal preisgegeben haben, was „Vögel“ seien, um „Die Vögel“30 zu verstehen. Doch haben wir es nicht schon längst verstanden? Funktioniert dieser Film nicht genau deshalb so schrecklich präzise, weil er ein in Fleisch, in Blut eingeschriebenes Wissen mobilisiert, das in jedem von uns auf seine Gelegenheit wartet? Zurückgezogen in eine Höhe, zu der unsereiner erst seit wenigen Jahren sich grob Zugang verschaffte, demonstriert die Vogelschar mit penetranter, perennierender Majestät, dass es einmal eine Alternative zur Ära der Säuger gab und irgendwann gewiss auch wieder geben wird. Also haftete allem Singen eine Ahnung von Vormenschlichkeit an, die Anamnesis an einen erdgeschichtlichen Äon, in dem es noch keine Menschen gab und keine mehr geben wird. Keine Menschen, nicht einmal, horribile dictu, Säugetiere von nennenswertem Format… Die Humanisierung des Gesangs, auf die so viel wert gelegt und Akribie und Fleiß verwandt wurde, gelang nie vollkommen. Seine Aneignung blieb kontaminiert mit der Schlacke seiner vormenschlichen Provenienz. Zu seinem Zauber gehört eine Magie, eine schwarze, die nicht nur Seefahrer an einen Ort lockt, wo es endlich gar keinen Gesang mehr gibt. Allem Schönen bleibt ein Entsetzen beigesellt, das die Seelen entriegelt und eine Trauer löst, von der
27 | Cf. Kate Bush: Aerial. 2005. CD 2. 28 | Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 41980. S. 105. 29 | Cf. Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. Berlin 1992. S. 450ff. 30 | Alfred Hitchcock: Die Vögel. USA 1963.
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niemand mehr weiß, wohin denn damit. Rührt deshalb der Gesang zu Tränen - und spektakulärerweise nicht nur uns?31 Ist das Inhumane sein Ferment? 2. Und erinnerte der Gesang der Sirenen, der gespenstische, der feenhafte, nymphische, ganz und gar nichtmenschliche die Unseligen, die er ins Verderben riss, an den Trug, der dem menschlichen innewohnt? Gingen sie in den Tod aus schierer Verzweiflung? Oder war es die Verheißung einer Erfüllung, die kein Menschenherz zu fassen vermochte, so dass der Tod allein, der eisige, stumme, zum teuflischen Imitat des Glücks geriert? Gleichviel: das Ende jedenfalls, es ist Legende. Niemand konnte entrinnen, der sich ihnen auf Hörweite näherte, niemand der Verführung widerstehen. Noch der eine, von dem die Mär geht, er habe es geschafft, war ja nicht Manns genug, sondern allenfalls gerissen. Sein Sieg schmeckt schal bis auf den heutigen Tag: „Die Sirenen, besiegt von der Macht der Technik, die immer vorgibt, ein gefahrloses Spiel mit den unwirklichen (den inspirierten) Mächten zu treiben“.32 Doch macht Blanchot die Gegenrechnung auf: „Die Sirenen, besiegt von der Macht der Technik, … haben gleichwohl Odysseus nicht frei ausgehen lassen. Sie lockten ihn dorthin, wo er nicht ruhen wollte, und verborgen im Schoß der Odyssee, die ihr Grabmal geworden ist, verleiteten sie ihn – und nicht nur ihn, sondern viele andere – zu jener selig unseligen Schiffsreise, wie sie in der Sage vorliegt“.33 Das also wäre das „geheime Gesetz der Sage“34: dass sie von einer Begebenheit erzählt, die schon geschehen sein muss, damit sie erzählt zu werden vermag, während die Erzählung gerade erst auf sie zuläuft. Und dass das, von dem sie erzählt, nicht einfach nur Erzählung sei. Die Sage vom sirenischen Gesang, jenes Kapitel aus dem Buch des odysseischen Lebens, wäre kein Gesang mehr, kein reiner, sondern „erzählter“.35 Zeit der Sage – Zeit des Romans: uralter Streit zwischen jener außerordentlichen Zeit, jener spitzen, jener wunden Zeit (Sage) und dem Narrativ (Roman) mit all seinen Implikationen, die es so verlockend machen: der zweckhaft abgerichteten Zeit, der Logik der Ereignisse, der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit, somit Auslöschung aller Kontingenzen, der Stabilisierung der Teile, ihrer Abfolgen, ihrer Anordnung im Ganzen des narrativen Gefüges, der poststabilisierten Harmonie jedweden Geschehens und zuletzt: der Elimination jedweder Gefahr. Der Leser als Voyeur: was nämlich unterschiede seine Position 31 | Byambasuren Davaa/Luigi Falorni: Die Geschichte vom weinenden Kamel. Deutschland 2003. 32 | Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen. Übers. v. Karl August Horst. In: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. Berlin, Wien 1982. S. 13. 33 | Ebd. 34 | Ebd. S. 14ff. 35 | Ebd. S. 13.
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von der des Odysseus, der sich an einem Spektakel weidete, dessen eigentliche Gefahr er schon neutralisierte, bevor er sich ihm stellte? Der Roman, das alte Medium eines Zeitmanagements, das der Zeit ödes Einerlei vertreiben und Spiel und Spannung gaukeln sollte, wäre in seiner Funktion allenfalls durch neue Medien abgelöst oder aufgehoben worden,36 doch sein Sinn wäre der nämliche: eine menschliche Zeit, eine vermenschlichte Zeit zu installieren, die den menschlichen Angelegenheiten opportun wäre. Dem aber stünde eine andere Zeit gegenüber, anders als Zeit oder anders als das, was als Zeit gehandelt wird: die Zeit eines Vorfalls, dessen Extravaganz durch seine Lokalisation im Koordinatensystem geordneter Temporalität eingeebnet wird. Und doch bleibt, wenigstens das, eine Art Spur zurück, eine Narbe vielleicht, die selbst die Wunde ist, die sie zu verschließen vorgibt. Und doch gibt es diesen Vorfall, von dem die Erzählung berichtet und der sie bedingt und zerstört zugleich. Man sage nicht: Lesen wäre eine harmlose Sache. Schreiben auch nicht. Die verordnete Sukzessivität des Literalen, die buchstäbliche Ordnung, wird von einer Attraktion, die mich mitten ins Herz trifft, gleichsam durchschossen. Seit jeher staunen Menschen über das Unfassbare, doch sie staunen auf griechische Weise:37 sie sind fasziniert und zu Tode erschreckt ineins. Diese paradoxe Logik der Sage aber: dass sie als erzählter Gesang ausstreicht, was sie als erzählter Gesang hervorruft, diskutiert Blanchot nicht am Schicksal des Odysseus allein und seinem Rencontre mit den Sirenen, sondern auch an dem Ahabs. Sein Zusammentreffen mit dem Wal, dem „verfluchten weißen Wal“, sollte für alle, auch für die beizeiten noch Vernünftigen, deren Gespür fürs Taugliche sie zum offenen Aufruhr wider Ahabs Wahn hätte führen müssen, tödlich enden. Zwischen Odysseus und Ahab weitet sie die Alternative menschlicher Verhaltensweisen so zum Extrem. Es ist die zwischen Selbstvernichtung und Selbsterhaltung, zwischen einem Begehren, das nur um den Preis gelebten Lebens und einer Rationalität, die nur um den Preis gelebten Lebens gelebt werden kann. Beides aber liefe nicht nur aufs nämliche hinaus, sondern gehörte inwendig auch zusammen: die auf bloße Erhaltung ihrer selbst versteifte Existenz tendiert sei je dahin, den Kokon aus Selbstsicherung und Zucht mit einem Schlag zu durchbrechen. Was die Politiken der Massenvernichtung, die zumal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts reüssierten, im großen Stil vorexerzierten. Der Sieger aus diesem ersten Weltbürgerkrieg der Geschichte um das Erbe Roms, der Liberalismus, mag seinen Triumph auskosten. Doch seine Liquidität geht zur Neige. Es ist eine bittere. Die große Verachtung, die ihm entgegenschlägt, ist eine gegen das Leben überhaupt, das er doch selbst schändet Tag für Tag. Der zweite Weltbürgerkrieg um das Erbe 36 | Cf. ebd. S. 15. 37 | Cf. Georg Picht: Die Fundamente der griechischen Ontologie. Stuttgart 1996. S. 77-85.
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Jerusalems hat, trügen die Zeichen nicht, längst begonnen. Auf Odysseus weiß Ahab wenigstens eine Antwort. Aber was für eine! Vielleicht ist Literatur als Praxis wie als ethisches Projekt insgeheim nie etwas anderes gewesen als der Versuch, noch im buchstabentreuen Notat ihrer ästhetischen Extremismen (sich) eine dritte Möglichkeit zu versprechen, die dem fatalen, dem abendländischen Pendelschlag zwischen Selbstsicherung und Selbstzerstörung entkäme. Literatur, ist es Literatur, wäre mithin niemals lebensfeindlich, was auch immer ihre „Message“ sein mag. Der Pessimismus, die misanthrope Häme sind ihre Sache nicht. Wohl aber ein Wagemut, der sie zwingt, den windigen Typen und ihren so außergewöhnlichen, so gewöhnlichen Geschichten selbst dann noch beizustehen, wenn die Dinge aus den Fugen zu geraten scheinen. Die Dinge oder die Zeit: „Es ist wahr, dass in dem Buch von Melville Kapitän Ahab und Moby Dick zusammentreffen; es ist jedoch ebenso wahr, dass allein dieses Zusammentreffen Melville gestattet, sein Buch zu schreiben; und zwar ist das Zusammentreffen so überwältigend, so über jedes Maß und so eigenartig, dass es über jeden Rahmen, in dem es sich abspielt, hinausgeht, jeden Augenblick, in dem man es ansetzen möchte, überspringt, und dass es lange bevor das Buch anfängt, stattgefunden zu haben scheint, zugleich aber als dereinst geschehendes Ereignis bevorsteht, in der Zukunft des Werks und in jenem Meer, das aus dem Buch einen Ozean nach seinem eigenen Maß hat werden lassen.“38 Einen Ozean oder ein Gehirn, einen Topos jedenfalls, der durch kein Statut mehr reguliert zu werden vermag. Wenn aus Ismael Melville werden muss, aus Odysseus Homer, dann auch aus Marcel Proust; dann erschafft ein Autor immer auch sich selbst, indem er sich ausstreicht; dann ist es die Zeit selbst, die die Zeit in den Abgrund reißt oder einen Strudel. Die Einzigartigkeit der Proustschen Recherche bestünde mithin nicht in ihrer autobiographischen Selbst- als Fremdreferenz, sondern darin, dass sie endlich zum Sujet erhebt, was sie und jedwede Literatur bedingt: die Zeit. Und sie tut es mit äußersten Skrupeln und keineswegs, wie auch?, stringent. Blanchot jedenfalls macht eine vielsagende Entdeckung. Sie findet sich ganz am Ende von Prousts Roman, durchaus nicht an unscheinbarer Stelle. Denn nach all den Irrungen der Seele und des Begehrens, den Wirrungen einer Leidenschaft, die tötet, was sie begehrt und doch nichts mehr zu begehren scheint, als endlich mit dem Töten aufhören zu dürfen, endlich den, den man liebt, nicht festsetzen und erdrosseln zu müssen; nachdem Marcel in sieben Zimmern die Liebe zu sieben Frauen erprobte und wieder und wieder scheiterte;39 nachdem Proust das neurasthenische Gebärdenspiel der feinen 38 | Blanchot: Der Gesang der Sirenen. l.c. S. 17f. 39 | Cf. Michel Butor: Die sieben Frauen Gilberts des Bösen. Weiteres Heptaeder. In: Die unendliche Schrift. Aufsätze über Literatur und Malerei. Übers. v. Helmut Scheffel. Wien, Zürich 1991. S. 58-90.
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Gesellschaft entzifferte, die die feinen Unterschiede - entgegen den Insinuationen einer Kritik, die Proust, dem Feingeist, Dünkel glaubte vorwerfen zu können40 - bis zur offenen Grausamkeit kultiviert, bis zu jenem Punkt, an dem eine einzige winzige Geste, ein Fingerzeig, eine mimische Versteinerung zur tödlichsten aller Waffen wird, nämlich der der Missachtung, bliebe zuletzt eines noch zu tun: die Recherche abzuschließen mit der Enthüllung des Geheimnisses, das sie motivierte. Es ist bekanntlich das der Zeit selbst, der „verlorenen Zeit“, die auf so wundersame Weise wiedergefunden zu werden scheint - obgleich schon der Gedanke eines bloßen Wiederfindens, einer schlichten Wiederholung vergangener Geschehnisse, wie sich rasch zeigen wird, unzutreffend ist. Wieder ist es eine Situation äußerster Niedergeschlagenheit, in der sich Marcel, obschon um Jahre gealtert, befindet, und wieder wird es eine unvermutete Begebenheit sein, deren Belanglosigkeit nur allzu offensichtlich ist, die ihn aus seinem Trübsinn mit einem Schlag rettet. Es ist die bekannte Episode: einer Einladung zur Matinee bei der Prinzessin von Guermantes folgend, muss Marcel, nachdem er im Hof des Guermantesschen Palais angelangt war, einem heraneilenden Wagen mit einem raschen Sprung zur Seite ausweichen. „Ich wich so weit zurück, dass ich unwillkürlich auf die schlecht behauenen Pflastersteine trat, hinter denen eine Remise lag. In dem Augenblick aber, als ich wieder Halt fand und meinen Fuß auf einen Stein setzte, der etwas höher war als der vorige, schwand meine ganze Mutlosigkeit vor der gleichen Beseligung dahin, die mir zu verschiedenen Epochen meines Lebens einmal der Anblick von Bäumen geschenkt hatte, die ich auf einer Wagenfahrt in der Nähe von Balbec wiederzuerkennen gemeint hatte, ein andermal der Anblick der Kirchtürme von Martinville oder der Geschmack einer Madeleine, die in einen Teeaufguss eingetaucht war“.41 Die drei Bäume, deren Rätsel er indes nie zu lüften vermochte,42 die Madeleine, deren Geschmack (nicht Anblick!) in ihm die vergangenen Tage in Combray auf-steigen ließ,43 die drei Kirchtürme, deren gravitätischer Tanz mitnichten auf einen semantischen Kode zurückzuführen war und schließlich die unebene Plasterung des Guermantesschen Hofes, die, wie Proust rekonstruieren wird, mit der des Baptisteriums der Markuskirche in Venedig in Diskonjunktion tritt: sie alle eint vorab ja weniger der intellektuelle Reiz zeitphilosophischer Erkundungen. Sie alle eint zuerst einmal der grenzen-
40 | Cf. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/M. 31984. S. 780ff. 41 | Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 3934f. 42 | Ebd. S. 943ff. 43 | Ebd. S. 63ff.
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lose Überschwang einer Glücksempfindung, die sich, wie vielleicht jede radikale Empfindung, stets mit einer Spur Wehmut zu mengen scheint. Als gipfelte Nietzsches großes Lebensthema, dass die Empfänglichkeit für das Glück der Empfindlichkeit für das Leid direkt korrespondierte, in der sonderbaren Einsicht, dass Glück eine Intensität erlangen kann, die bis zur schieren Unerträglichkeit schmerzhaft wird. Ist es also nicht nur das Unheil, die Gewalt, das Unglück, sondern das Glück auch, das verletzen kann, traumatisieren? Oft schon wurden, der gebührenden Distanzen zum Trotz, die Affinitäten zwischen der Proustschen Introspektion und der psychoanalytischen Technik vermerkt: schon der Widerstand, der Proust entgegenschlägt, wenn er den Grund für jene besagten Vorfälle zu erkunden versucht, erinnert gewiss nicht nur von Ferne an den einer psychoanalytischen Praxis, die das drängende Verdrängte freizulegen trachtet. Doch während Freuds Exkursionen in die Terra Incognita unbewusster Triebregungen peinlich und peinvoll sind, spricht Proust durchgängig von jenem exaltierten Affekt der Lust, der alle Vorstellungen dieser Art, seien es „unwillkürliche Erinnerungen“ sui generis, seien es Imaginationen,44 begleitet. Wie bei Freud ist auch bei Proust womöglich dieser Widerstand konstitutiv, auch auf die Gefahr hin, dass er, wie im Fall der „drei Bäume“, die Oberhand behält. Ginge es also nur um die Wiedergewinnung eines warum auch immer verschütt gegangenen Datums, um eine Arbeit der Rekonstruktion im landläufigen Sinne, wäre weder der Widerstand, seine quälende Insistenz, noch die affektive Ladung - sei’s die der Lust, sei’s die der Unlust -, die mit seiner Überwindung einhergeht, plausibel. Dass Vergessen kein passives Geschehen, sondern aktiver Akt sei, gehört bekanntlich zu den Grundaxiomen der Freudschen Seelenkunde. Die „wiedergefundene Zeit“, gleichviel ob bei Freud, ob bei Proust, birgt ein Geheimnis, das schnurstracks in die Abgründe der Zeitfrage selbst führt. Aber ist nicht die Zeit, Kronos, der „kinderfressende Gott“, seit jeher der natürliche Feind des Glücks? Schlägt sie nicht mit Vergeblichkeit, ja Nichtigkeit, was man ersehnt und manchmal gar erlangt? Dass Lust „Ewigkeit“ will, Nietzsches tollkühner Vers, prädestiniert die Zeit, das Andere der Ewigkeit, zur Antipode jedweder Lust, jedweder Erfüllung. Denn wer zweifelte schon am Sieg der Zeit? Wir vielleicht. Jedenfalls bemerkt Blanchot eine gewisse Widersprüchlichkeit im Versuch Prousts, die Natur seiner Vergangenheit und Gegenwart liierenden Sensationen zu ergründen. Denn nachdem er ausführte, dass das Ereignis unwillkürlicher Erinnerung, dessen emotionale Wucht ihm bislang 44 | „Die drei Bäume beispielsweise, waren sie eine Landschaft des Gedächtnisses oder des Traums?“ Deleuze: Proust und die Zeichen. Übers. v. Henriette Beese. Berlin 1993. S. 46.
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rätselhaft blieb, eben deshalb mit einer eminenten Glücksempfindung einhergehe, weil ja ein Augenblick der Vergangenheit mit dem einer Gegenwart bis zur Ununterscheidbarkeit verschmolz, so dass die Zeit selbst, die ansonsten das Vergangene und Gegenwärtige unhintergehbar trennt, überwunden sei, spricht er zweimal kurz hintereinander von einem „außerhalb der Zeit“. Als wäre der glückhaft beseelte Moment der Zeit überhaupt abgetrotzt, wider sie errungen. „Dadurch erklärte sich, dass meine Sorgen um meinen Tod in dem Augenblick ein Ende gefunden hatten, in dem ich unbewusst den Geschmack der kleinen Madeleine wiedererkannte, weil in diesem Augenblick das Wesen, das ich zuvor gewesen war, außerzeitlich [un être extra-temporel] wurde und daher den Wechselfällen der Zukunft unbesorgt gegenüberstand.“45 (Hervorh., M.M.) Was noch nicht ganz überzeugt. Denn es war ja nicht nur die Sorge um den Tod, die ihm in den besagten Augenblicken schwand, sondern auch die Zweifel an seinem Talent. Marcel Proust findet in jenen Momenten zu seinem Ausdruck, seiner Sprache, seinem Schreiben, zu seiner schöpferischen Energie. Aber warum? Proust jedenfalls entfaltet wenig später einen Gedanken, der ein wenig Licht in diese Zusammenhänge bringen könnte. Denn die bewusste Wahrnehmung gegenwärtiger Dinge, die, so Proust, ihn meist nur langweilte, verschmilzt in jenen außergewöhnlichen Vorkommnissen mit seiner Einbildungskraft, sein „einziges Organ für den Genuss von Schönheit“.46 Indem aber das gewöhnlicherweise Abwesende durch die unwillkürliche Erinnerung nicht sekundär repräsentiert, sondern gleichsam primär präsentiert, als Vergangenes gegenwärtig wird, werden in der gleichen Manier, wie die Gegenstände der Einbildungskraft wirklich werden, die der Wahrnehmung schön. Zu den Träumen der Imagination trete das hinzu, was ihnen üblicherweise fehle: die „Idee der Existenz“.47 Ließe sich diese Verwirklichung des Imaginären nicht lesen als Quellgrund jedweder Kreativität? Speiste sie sich womöglich überhaupt aus dieser Kupplung von Präsenz und einer Schönheit, die stets, nach dem Bescheid Baudelaires,48 flüchtig ist wie ein Blitz in der Nacht? Unmittelbar im Anschluss an diese Bemerkung aber spricht Proust jene Worte, deren schillernde Prominenz nicht nur die Übersetzung schon vor Schwierigkeiten stellte: für die „Dauer eines Blitzes“ sei seinem Wesen erlaubt worden, „etwas zu erlangen, zu isolieren und festzuhalten, was es niemals
45 | Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 3941. i.O: À la recherche du temps perdu. Bd. 7. Paris 1989. S. 169. 46 | Ebd. S. 3942. 47 | Ebd. S. 3943. 48 | Cf. Charles Baudelaire: An eine, die vorüberging (À une passante). In : Die Blumen des Bösen. Übers. v. Monika Fahrenbach-Wachendorff. Stuttgart 1980. S. 192f.
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erahnt hatte: ein wenig Zeit im reinen Zustand.“49 (Übers. geändert; Hervorh. M.M.) Der Widerspruch ist in der Tat frappant. Auch Blanchot, nachdem er diese Stelle seinerseits knapp resümierte, moniert ihn und adelt ihn ineins: „Warum diese Umkehrung? Warum liefert ihm (Proust; M.M.), was außerhalb der Zeit ist, die reine Zeit?“50 Weil, so Blanchot, die Konjunktion zweier Gegenwarten, einer gegenwärtigen und einer vergangenen, das Erlebnis der Zeit selbst realisiere. Weil das Aussetzen der Zeit zugleich die Erfahrung der Zeit selbst, der reinen Zeit, der Zeit im Reinzustand bedeutete. Weil die reine Zeit eine Zeit als Raum wäre. Und weil eben dieser Raum der Zeit in sich leer sei, rein: „Reine Zeit, Zeit ohne Geschehen, bewegte Leere, erregtes In-die-Ferne, werdender Innenraum, in dem die Ekstasen der Zeit in einem faszinierenden Allzugleich ihren Ort finden“.51 Halten wir kurz inne. Blanchots Kommentar, indem er die Verräumlichung von Zeit,52 das Nebeneinander des gewöhnlicherweise nacheinander Gereihten thematisiert, erhellt so viel wie er zugleich verdeckt. Nicht nur mutet anbetrachts der inhaltlichen Fülle jener Vorfälle die fast Kantische Gleichsetzung von „rein“ mit „leer“ seltsam an. Denn müsste sich nicht auch die Logik, Struktur und Verfasstheit einer Zeit, die kraft einer Erinnerung durchbrochen wird, die sich willentlich nicht zwingen lässt, die als spontan, saltatorisch, zufällig erscheint, von einer Zeit, die sich in dieser Erinnerung allererst realisiert, wesentlich unterscheiden? Denn offensichtlich behauptet Blanchot, indem er sich Prousts widersprüchlichen Bescheid zueigen macht, dass die Erfahrung des Aussetzens von Zeit eine Erfahrung der Zeit selbst, dass also die Störung von Zeit eine Störung durch Zeit sei. Als ob Zeit, wie sie gewöhnlicherweise in Erscheinung trete, nicht das Ganze der Zeit sei. Das alles ist in der Tat verwirrend. Blanchot jedenfalls unterscheidet drei, schließlich vier Erscheinungsformen von Zeit, die auf komplexe Weise das Geschehen der Proustschen Recherche beherrschen. Zum einen gäbe es die „wirkliche, die fressende Zeit“,53 die modale, die chronologische Zeit (früher - später/Vergangenheit - Gegenwart - Zukunft)54 als Macht des Vergehens, der nichts zu entkommen vermag, der Zeitstrahl, der unerbittlich progrediert 49 | Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 3942f. i.O: À la recherche du temps perdu. Bd. 7. l.c. S. 170. 50 | Blanchot: Der Gesang der Sirenen. l.c. S. 24. 51 | Ebd. 52 | Cf. Francis Claudon: Hier wird Raum zur Zeit. In: Angelika Corbineau-Hoffmann (Hg.): Marcel Proust. Orte und Räume. Elfte Publikation der Marcel Proust Gesellschaft. Leipzig 2001. S. 121-137. 53 | Blanchot: Der Gesang der Sirenen. l.c. S. 22. 54 | Cf. Peter Bieri: Zeit und Zeiterfahrung. Frankfurt/M. 1972.
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und, was er passierte, in die Abwesenheit des Nicht-mehr, ins Dunkel und schließlich das große Vergessen stößt. Unterm Sigel ihrer Herrschaft triumphierte einzig das Nichts, die Furie eines absoluten Nihilismus, die mit Vergeblichkeit strafte, was wagte zu existieren, was wagte, einfach nur - zu sein. Dagegen gäbe es, wie eine Verheißung heroischer Résistance, zum zweiten die Zeit einer Erinnerung, einer „willkürlichen“, bewussten, mithin kontrollierten Erinnerung, die gleichsam umgekehrt zum Richtungssinn des Zeitpfeils ins Vergangene sich senkt und wieder einholt, was verloren schien. Trotz ihrer zuweilen erstaunlichen Kapazitäten, die sich durch mnemotechnische Fertigkeiten, durch Gymnastiken, schließlich durch Aufschreib- und Speichersysteme bis zu jenem Extrem steigern könnten, wo eine Apparatur denkbar wäre, die alles, was war und was ist notierte, so dass es endlich gar kein Vergessen mehr gäbe;55 trotz dieser Vision, die in Krapps Bändern zu einer Art allegorischem Ausdruck fand, trotz der apparategestützten Monomanie einer Reversibilität des Zeitsinns, seiner Handhabbarkeit, haftet dieser Gedächtniskunst ein entscheidender Makel an: den Zeitstrom selbst, dessen Zerstörungswerk sie zu revozieren verspricht, setzt sie voraus und lässt sie intakt, die Gegenwärtigkeit, die sie restituiert, bleibt eine gewesene, bleibt fahl, unwirklich.56 Natürlich wäre die dritte Form besagter Augenblick selbst, jene Chimäre zwischen dem Jenseits und dem Diesseits der Zeit, zwischen dem Ausfall der chronologischen Zeit und der Erfahrung einer Zeit, die Proust einmal als „außerzeitlich“, einmal als „rein“ markiert, pur. Und endlich, viertens, gäbe es noch eine „Zeit zu schreiben“, in der sich jene reine und die zerstörerische Zeit auf eigentümliche Weise zu mengen scheinen, eine Zeit des Schreibens der Schrift (und wäre es nicht minder die der Lektüre?), die im Ablauf der Narration auf ein Ereignis hinsteuert, das sie voraussetzt und das sie nur zu erreichen vermag, indem sie es verfehlt. Der erfüllte Augenblick bliebe unerfüllt, vergänglich, wäre strukturiert durch einen Mangel, der jenen unwillkürlichen Zusammenprall zwischen dem Gewesenen und dem Jetzt auf ein Kommendes öffnet, ein kommendes und immer zukommendes Jetzt, auf eine Zukunft, die die Zukunft des Ereignisses selbst wäre. Wie zur Verifikation der These verweist Blanchot auf Prousts aufgegebenes Buchprojekt „Jean Santeuil“, in dem Proust eine „reine Sage“, mithin die reine Präsentation jener Augenblicksereignisse selbst anvisierte ohne alle Beimengung durch Unwesentliches, durch beiläufiges Geschehen, Abschweifiges, ohne Chronologie. Dass diese reine Sage scheitert und scheitern muss, weil sie nur möglich ist als unmögliche, weil nur durch die chronologische Verunreinigung die reine Sage wesenhafter Augenblicke gelingt, verwandelt das Scheitern von „Jean Santeuil“ zur
55 | Cf. Chris. Marker: La Jetée. Frankreich 1962. 56 | Cf. Blanchot: Der Gesang der Sirenen. l.c. S. 23.
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Initiationszündung der „Recherche“. Die chronologische Zeit erfährt eine erste, ihre späte Rehabilitation.57 Doch gilt das nicht auch für jene Augenblicke selbst? Sind sie wesenhaft, ja wahrhaftig, einzig möglich durch die Destruktion der chronologischen Zeit? Ist vielleicht die reine Zeit, genauer: „ein wenig Zeit im reinen Zustand“ ihrerseits in einem wesentlichen Sinne unrein? Worin bestünde diese Reinheit? Und das Wenige der Zeit? Warum diese vermeintlich kleinlaute Bescheidenheit? Warum spricht Proust nicht von „Zeit im reinen Zustand“, sondern von „ein wenig Zeit im reinen Zustand“? Das sind alles schwierige Fragen. Blanchots bewunderungswürdige Meditation über Proust, über Ahab und Odysseus, die einen kühnen Bogen von den ältesten Dokumenten abendländischer Dichtkunst bis zur jüngeren Gegenwart schlägt, um ans Geheimnis der Literatur selbst zu rühren, lässt uns mit ihnen allein. Ist es vielleicht einmal mehr das Glück, ist es der direkte Umweg über das Glück, so flüchtig wie die Schönheit, wie ein Blitz, der einen Schritt weiterzukommen erlaubte? 3. Die wohl entscheidende Differenz zwischen der Proustschen und der Freudschen Mnemotechnik nämlich wäre die folgende: unbenommen des Streits um die Frage, ob die verdrängten Erinnerungen auf realen Missbrauchserfahrungen oder ödipalen Phantasien beruhen,58 bleibt die Seelenqual, die die psychoanalytische Kur in einem ausgezeichneten Moment entsiegelt, nicht dem Akt der Erinnerung, sondern ihrem Inhalt geschuldet. Was hier wiederkehrt, ist schmerzlich, nicht schon dass es wiederkehrt. Nicht so bei Proust: an der unwillkürlichen Erinnerung nimmt zumal wunder, dass die Situationen, die durch die blitzhafte Anbindung an eine gegenwärtige Impression zum Gegenstand bewusster Erfahrung wird, an sich selbst belanglos, nachgerade banal anmuten. An und in ihnen selbst scheint kaum irgendetwas auf die unbändige Freude, ihrer wieder inne sein zu können, zu verweisen. Das „Rätsel des Glücks“,59 das Proust umtreibt, besteht somit nicht allein darin, dass der Augenblick unwillkürlicher Erinnerung die Angst vor dem Tod und die Zweifel am literarischen Talent mit einem Schlag löscht, sondern auch, dass das Vergangene kraft einer gespensterhaften Fernwirkung mit einem gegenwärtigen Ereignis verschmilzt und derart aktualisiert wird – allerdings in einer Weise, die das damalige Geschehen nicht einfach nur wiederherstellt. Prousts Glück der Erinnerung wurzelt nicht im Erinnerten. So wird ein Löffel, den ein Diener versehentlich gegen einen Teller schlägt, einen Klang erzeugen, dem eines Hammerschlags identisch, den Marcel beim Zwischen57 | Cf. ebd. S. 36. 58 | Cf. Alice Miller: Die Revolte des Körpers. Frankfurt/M. 2004. Dies. Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema. Frankfurt/M. 1981. 59 | Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 3936.
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stopp einer Eisenbahnfahrt hörte. Die Erinnerung, die die Unachtsamkeit des Dieners heraufbeschwört, gilt einer Baumreihe, deren Beobachtung und Beschreibung er damals, notiert Proust, „so langweilig gefunden hatte“.60 Erst ihre Aktualisierung durch die zufällig provozierte Erinnerung erfüllt sie mit jenem Glück, das dem gewesenen Moment an sich nicht eigen war. Was das berühmte Madeleine-Erlebnis, schaut man genauer hin, nicht minder charakterisiert: dass aus einer Tasse Tee „Combray“ wiederersteht, ist das eine; das andere die Beseligung, die Marcel deshalb erfüllte. Sie ist nicht seiner Tante Léonie geschuldet, die ihm den Tee mit dem Gebäck dereinst reichte, noch irgendwelchen Umständen, die ehedem als glücklich galten: denn, wie Proust in Klammern anmerkt, wusste er schon damals nichts vom Grund des seltsamen Vergnügens,61 das ihm das jähe Memento bereitete. „Unter dem Geschmack der Madeleine ist Combray in all seinem Glanz aufgestiegen; doch haben wir keineswegs die Gründe für eine derartige Erscheinung entdeckt. Der Eindruck der drei Bäume blieb ungeklärt; umgekehrt scheint der Eindruck der Madeleine durch Combray erklärt zu sein. Und dennoch sind wir kaum vorangekommen: warum jene Freude, warum jener Glanz in der Auferstehung von Combray?“62 Für Deleuze ist dieser „Glanz“ eines der Argumente, einen gewöhnlichen Assoziationsmechanismus zur Deutung unabsichtlicher Erinnerungsphänomene zurückzuweisen; die Identität und nicht bloß Ähnlichkeit zweier Empfindungen das andere.63 Aber erst im Abgleich mit der Insuffizienz des willkürlichen Gedächtnisses, dem zweiten Erlebnismodus von Zeit im Sinne Blanchots, wird für Deleuze das Mysterium des Glücks offenbar. Es beruht im Wesen der Vergangenheit selbst, ja im Wesen der Zeit. In einem Text aus dem Jahre 1964, rund zwanzig Jahre vor Publikation seiner Kino-Bücher, wagt Deleuze, genötigt durch Prousts Taumel der wiedergefundenen Zeit, einen Gedanken, dessen Ungeheuerlichkeit fassungslos macht. Er aber ist der Keimling, der erst in seiner Philosophie des Films zur Entfaltung kommen sollte. Er ist die Idee vom Schisma der Zeit. Hören wir zu: nachdem Deleuze den Status der unwillkürlichen Erinnerung mit Argumenten, die etwas grobschlächtig anmuten, herabsetzte, indem er die sinnlichen Zeichen des unwillkürlichen Gedächtnisses zwar denen der Imagination gleichsetzte, denen der Gesellschaft und der Liebe gar überordnete, denen der Kunst indes nachordnete, weist er jenen sinnlichen Zeichen des Gedächtnisses eine allenfalls propädeutische Funktion zu. Sie seien ein „Anfang“, mehr nicht: „Es sind noch Zeichen des Lebens, nicht Zeichen der
60 | Ebd. S. 3937. 61 | Cf. ebd. S. 66. 62 | Deleuze: Proust und die Zeichen. l.c. S. 48f. 63 | Ebd. S. 48.
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Kunst selbst.“64 Unmittelbar im Anschluss daran aber wendet sich Deleuze (dessen spleen für hierarchisch gebaute Begriffsstrukturen unterschwellig stets in Spannung treten kann mit seiner oft protokollierten Aversion gegen vertikale Rangordnungsmuster) dem komplexen Mechanismus dieser spontanen Reminiszenzen selbst zu. Das willkürliche Gedächtnis unterscheide sich von ihnen durch eine doppelte Relativität: dessen Vergangenheit sei „relativ zur Gegenwart, die gewesen ist, aber auch relativ zu jener Gegenwart, im Verhältnis zu der sie nun vergangen ist.“65 Während die letztgenannte Relativität augenscheinlich ist, bleibt die erstgenannte einigermaßen rätselhaft. Wenn man eine gewesene und eine gegenwärtige Gegenwart von einer Vergangenheit unterscheidet, die zu beiden Gegenwarten in ein Verhältnis tritt, erscheint jene als eine Art Plusquamperfekt zu einer perfekten und präsenten Gegenwart. Indes erscheint auch eine plusquamperfekte Vergangenheit nur als graduell modifizierte Form einer mehr als perfekten Gegenwart. Diese Vergangenheit, anders gesagt, ist ihrerseits nichts als eine gewesene Gegenwart. Oder, andere Möglichkeit: obige Wendung „relativ zur Gegenwart, die gewesen ist“ bedeutet: relativ zu jener Gegenwart, die sie, diese Vergangenheit, gewesen ist. Wodurch die perfekte Gegenwart und die Vergangenheit ein und denselben Zeitpunkt markierten, mithin diese Vergangenheit gar nichts und nie etwas anderes wäre als perfekte Gegenwart, die sich wiederum von einer jeweils gegenwärtigen Gegenwart unterschiede. Doch gleichviel, welcher Lesart man zuneigte: ob es hier um drei modalzeitlich unterschiedene Jetztpunkte zu tun sei oder nur um zwei, wovon einer jeweils nur unter zwei verschiedenen Titeln firmierte: entscheidend ist, dass die Vergangenheit gar nicht als Vergangenheit, sondern immer nur als gewesene Gegenwart in Erscheinung tritt. In der Tat ist das der Vorwurf, den Deleuze im Sinne Prousts resümiert: das willkürliche Gedächtnis ergreife die Vergangenheit nicht unmittelbar: „es setzt sie aus Gegenwarten zusammen.“66 Aber genau diese Sukzessivität von Gegenwarten, die dieses Gedächtnis dem Richtungssinn des Zeitpfeils entgegen montiert, straft das dadurch bewusst Erinnerte mit der nämlichen Tristesse, die alle Impressionen gegenwärtiger Ereignisse bei Proust überhaupt charakterisieren. Nicht nur dem willkürlichen Gedächtnis, auch der bewussten Wahrnehmung wird hier der Prozess gemacht. Die chronologische Zeit birgt nicht nur den Schrecken des Todes, sondern, wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen haben, den tödlicher Langeweile. Hieße das, dass man dem Regime der Langeweile nicht durch das Vertreiben von Zeit entkommt, sondern nur, gelänge es, in der Zeit selbst einen Zugang zu einer Art Vergangenheit zu finden, die mehr und anderes wäre als 64 | Ebd. S. 47. 65 | Ebd. S. 49. 66 | Ebd.
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gewesene Gegenwart? Genau diesen Schluss zieht Deleuze: „Es ist offenkundig, dass dem willkürlichen Gedächtnis etwas Wesentliches entgeht: Das Sein der Vergangenheit an sich. Es tut so, als ob die Vergangenheit sich als solche konstituiere, nachdem sie gegenwärtig gewesen war. Es müsste also eine neue Gegenwart erwartet werden, damit die vorhergehende vergehe oder vergangen würde. Doch auf diese Art entgeht uns das Wesen der Zeit.“67 Halten wir kurz inne: an dem Bescheid ist etwas störend. Denn wenn der willkürlichen Erinnerung das „Sein der Vergangenheit an sich“, d.h. eine Vergangenheit, die nicht Gegenwart gewesen ist, entgeht: müsste dann nicht auch der bewussten Wahrnehmung das Sein einer Gegenwart an sich entgegen, die, was auch immer ihre Bestimmungen näherhin sein mögen, vor allem eine Gegenwart zu sein hätte, die nicht gegenwärtig wäre? Eine nichtgegenwärtige Gegenwart und eine Wahrnehmung, die vom Akt des Bewusstseins, der Vorstellung des „Ich denke“ entkoppelt wäre? Allein unter dem Blickwinkel einer Kritik des willkürlichen Gedächtnisses gewinnt ja der Ausdruck einer Vergangenheit, die keine gewesene Gegenwart ist, seine Kontur. In dem Moment, wo die Analyse auch auf die bewusste Wahrnehmung ausgedehnt wird, könnte die terminologische Fixierung auf jener spezifischen Vergangenheit auf eine falsche Fährte führen. Die Differenz zwischen willkürlicher Erinnerung und bewusster Wahrnehmung erzwänge auch eine Differenzierung dessen, was sich den beiden Vermögen jeweils entzöge. Was bedeutete, dass wir eben nicht nur, schwierig genug, von einer Vergangenheit zu sprechen hätten, die mehr und anderes wäre als gewesene Gegenwart, sondern auch, nicht minder schwierig, von einer Gegenwart, die mehr und anderes wäre als gegenwärtige Gegenwart. Das aber führt notwendig zum Bruch im Begriff der Gegenwart selbst, und wir sind gehalten, folgen wir Deleuze, zwischen einer gegenwärtigen und einer nichtgegenwärtigen Gegenwart zu unterscheiden. Wir schlagen vor, für diesen Zeitmodus den Term „Plusquampräsens“ zu verwenden; oder besser, da dem Ausdruck keine grammatische Form entspricht: „Plusquampräsenz“.68 Dieser Unterschied aber ist primär, unhintergehbar und steht insgeheim Pate für all das, was Deleuze über das „Wesen der Zeit“ weiterhin ausführen wird. „Denn wenn die Gegenwart nicht zugleich vergangen (wir übersetzen: nicht-anwesend; M.M.) und anwesend wäre, wenn der gleiche Augenblick nicht mit sich als gegenwärtigem und vergangenem (wir übersetzen: nicht-
67 | Ebd. 68 | Cf. Derrida: Eben in diesem Moment in diesem Werk bin ich. Übers. v. Elisabeth Weber. In: Michael Mayer/Markus Hentschel: Lévinas - Zur Möglichkeit einer prophetischen Philosophie. Schriftenreihe des evangelischen Studienwerks Villigst. Gießen 1990. S. 42-83. Ders. Dissemination. Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1995. S. 345-353. Bes. S. 348f.
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gegenwärtigem; M.M.) koexistieren würde, würde er nie vergehen, niemals würde eine neue Gegenwart ihn ersetzen können.“69 Das Argument findet man auch in Kino 2, dem des Zeit-Bildes,70 und liefert den Schlüssel zu dessen Möglichkeit. Ohne dieses Zugleich einer gegenwärtigen und vergangenen, sprich: einer gegenwärtigen und nichtgegenwärtigen Gegenwart, ohne den Schatten der Plusquampräsenz, der sich über die gleißende Helle der Präsenz legt, ließe sich der Begriff des Zeit-Bildes nicht konstruieren. Es steht und fällt mit der Hypothese, dass die chronologische Zeit nicht das Ganze der Zeit ausmacht, dass es in ihr, wie in einem Tuch eingefaltet, noch eine andere, eine achronologische Zeit gibt. Aber warum eigentlich sollte die Gegenwart nicht vergehen können, wäre sie nicht zugleich gegenwärtig und vergangen in einem? Weshalb würde sie „nie vergehen“? Bei Deleuze sind wir zu dieser Frage nicht fündig geworden. Vielleicht sind wir an jenem äußersten Punkt angekommen, wo das Rätsel der Zeit einmal mehr seinen Tribut forderte. Augustinus bekanntlich löste ihn mit einer unsterblichen Formel ein: dass wir nur wissen, was Zeit sei, würden wir nicht danach gefragt, aber würden wir danach gefragt, wüssten wir es nicht.71 Bei alledem ist das Deleuzesche Räsonnement ja nicht ohne Argument. Wie zum Beleg seiner waghalsigen Konklusionen würde er stante pedes jene Alltagserfahrung herbeizitieren können, die Proust als „mémoire involontaire“ minuziös untersuchte und die, so der Bescheid, gar nicht möglich wäre, wäre Zeit nur als modale denkbar. Doch trübt nicht die verstörende Ungesichertheit seines vielleicht entscheidenden Schlusses noch die Plausibilität seiner empirischen Beglaubigung? Gleicht man indes die Charakteristika der Präsenz und der Plusquampräsenz ab, macht man sich klar, dass jedwede bewusst realisierte Gegenwart sich durch ihr Vergehen bestimmt, ja dass sie eigentlich gar nichts anderes ist und sein kann als Vergehen, vergehende Gegenwart und deshalb die dem autarken Zugriff von Wahrnehmung und Gedächtnis entzogene Plusquampräsenz sich als unvergänglich ausweisen muss, als stabil, statisch, schlechthin beharrend, dann zeichnet sich die noch grobe Kontur einer möglichen Hypothese ab. Wenn die chronologische Zeit schlechthin als Prinzip des Vergehens, des Zeitflusses selbst, erscheint, dann einzig unter der Bedingung, dass es etwas gibt, das bei alledem nicht vergeht. Reines Vergehen wäre reines Nicht-Vergehen. Die Zeitigung der Zeit bliebe auf ein Moment verwiesen, das ihrem Vergehen widerstritte. Der Fluss der Zeit realisierte sich einzig durch das, was ihm entzogen bliebe. Wenn alles fließt, fließt nichts: ohne eine Art gegenstre69 | Deleuze: Proust und die Zeichen. l.c. S. 49. 70 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 111f. 71 | Cf. Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch. Übers. v. Joseph Bernhart. München, Kösel 41980. S. 628f.
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biger Fügung wollte, konnte schon Heraklit sein Werden nicht denken. Die Dialektik von Beharren und Vergehen, von konservativem und progressivem Prinzip aber ist unhintergehbar und kraft einer Dialektik gesetzt, die schon die frühesten Meditationen des Zeiträtsels regierte. Noch Aristoteles’ meisterhafte Deduktion chronologischer Zeit etwa, die bekanntlich in deren Definition als „Messzahl von Bewegung hinsichtlich des ‚davor‘ und ‚danach‘“72 gipfelte, kam ohne den Hauch dieser Dialektik nicht aus. Und wenn Platon Zeit als „ein in Zahlen fortschreitendes ewiges Abbild“73 der Ewigkeit preist, zielte er vielleicht nicht minder auf sie wie Augustinus’ „Seele“,74 der ihr in einem so kühnen wie folgenreichen Akt christlicher Internalisation eine Funktion zuschrieb, die sie erhöhte und vielleicht auch haltlos überforderte: der Zeit zu widerstehen und sie so allererst zu realisieren. Respondiert nicht noch Kants regulative Idee einer „Unsterblichkeit der Seele“, sein transzendentales Inkognito für Identität, auf diese Komplizität? Deleuzes Antwort indes unterscheidet sich von alldem um ein entscheidendes Motiv: das beharrende Prinzip ist eines der Zeit selbst. Nichts anderes verbirgt sich hinter seinem Titel eines „Seins der Vergangenheit an sich“, nichts anderes dürfte das Konstrukt einer „Plusquampräsenz“ bestimmen. „Diese reine Vergangenheit ist eine Instanz, die sich auf keine Gegenwart, die vergeht, reduzieren lässt, sie ist aber auch die Instanz, die alle Gegenwarten vergehen lässt, die ihrem Vergehen vorsteht“.75 Womit Deleuze die Aufgabe, das Vergehen von Zeit zu ermöglichen, an Zeit zurückdelegiert: nicht Gott, nicht an die Seele. Und wir übersetzen Deleuzes Formel: „wenn die Gegenwart nicht zugleich vergangen und anwesend wäre, wenn der gleiche Augenblick nicht mit sich als gegenwärtigem und vergangenem koexistieren würde“ nun wie folgt: „wenn die Gegenwart nicht zugleich nicht-vergehend und vergehend wäre, wenn der gleiche Augenblick nicht mit sich als vorübergehendem und nicht-vorübergehendem koexistieren würde, würde er nie vergehen, niemals würde eine neue Gegenwart ihn ersetzen können.“ Was nie Gegenwart gewesen ist, was nie Gegenwart ist, was nie vorüberging, was nie vorübergeht, was endlich eine Gegenwart ausmacht, die nicht vergeht, eine Gegenwart, die nicht gegenwärtig ist, eine Gegenwart, die nichts gegenwärtigt, die sich nicht gegenwärtigt: all das aber markiert kein Jenseits der Zeit mehr, sei sie transzendenter oder transzendentaler Provenienz, sondern die geheimnisvolle Immanenz der Zeit 72 | Aristoteles: Physik. Übers. v. Hans Günter Zekl. In: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Bd. 6. Hamburg 1995. Buch 4, Kpt. 11, S. 106. 73 | Cf. Platon: Timaios. Griechisch und Deutsch. Übers. v. Hieronymus Müller u. Friedrich Schleiermacher. Bearb. v. Klaus Widdra. In: Werke in acht Bänden. Bd. 7. Darmstadt 1977. Kpt. 10, 37d, S. 54f. 74 | Cf. Augustinus: Bekenntnisse/Confessiones. l.c. S. 660ff. 75 | Deleuze: Proust und die Zeichen. l.c. S. 53.
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selbst. Die Möglichkeit des Vergehens von Zeit steht und fällt mit der Möglichkeit des Beharrens von Zeit. Ob Deleuze sich dabei zu recht nicht nur auf Proust, sondern auch auf Bergson berufen kann, mag eine Bergson-Philologie entscheiden, die das Pro und Contra wägt. Uns erscheint das allerdings nicht minder verwirrend wie beispielsweise ein Deleuze, der sich in seiner Taxonomie der filmischen Zeichen explizit auf Pierce rückbezieht, währenddessen der Deleuzesche und Piercesche Zeichenbegriff recht wenig miteinander zu tun zu haben scheinen.76 Möglich wäre durchaus, dass er mit seiner Idee vom Schisma von Zeit, ohne es zu ahnen, einem Schelling, seinen „Weltaltern“,77 ihrem Gegensatz der Zeiten, sehr viel näher stünde als er Bergson je stand. Wie dem auch sei: Erst dieses Schisma, die irreduzible Spaltung im Begriff der Gegenwart, ja der Zeit selbst, plausibilisiert die Möglichkeit einer wilden, der unwillkürlichen Erinnerung. Regierte einzig Chronos wäre sie nichts als Trug, subjektivistische Illusion einer ansonsten makellosen Objektivität; wäre sie nicht möglich. Dass es sie gibt indes, verweist ihrerseits auf den fiktiven Charakter einer aufs nurmehr Sukzessive verengten Temporalität: „Zwar begreifen wir nie etwas in dem Augenblick als vergangen, in dem wir es als gegenwärtig erfahren … Das liegt indessen daran, dass die vereinten Erfordernisse der bewussten Wahrnehmung und des bewussten Gedächtnisses dort eine reale Aufeinanderfolge errichten, wo auf einer tieferen Ebene eine virtuelle Koexistenz besteht.“78 Sich einmal mehr auf Bergson berufend, wird das Virtuelle schließlich nicht nur der Koexistenz, sondern einem ihrer Relata zugewiesen: „Dies Ansichsein der Vergangenheit nannte Bergson das Virtuelle.79 Womit der Begriff, den Deleuze dem beharrenden Prinzip der Zeit zuweist, endlich in der Welt wäre: Virtualität; deren Substanz er noch dadurch konzentriert, das er sie mit Prousts Formel kreuzt: „réels sans être actuels, idéaux sans être abstraits/ real, ohne gegenwärtig, ideell, ohne abstrakt zu sein.“80 (Übers. geändert; M.M.) Also stünde einer konservativen Virtualität eine unentwegt progre76 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 41-47 u.a. Dazu: André Vandenbunder: Die Begegnung Deleuze und Peirce. Übers. v. Andrea Kern. In: Oliver Fahle/Lorenz Engell (Hg.): Der Film bei Deleuze. Le cinéma selon Deleuze. Weimar 1997. S. 99-112. bes. 103ff. Auch: Schaub: Gilles Deleuze im Kino: Das Sichtbare und Sagbare. München 2003. S. 79f (Fußnote). 77 | Cf. Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813, hg. v. Manfred Schröter. In: Schellings Werke. Münchner Jubiläumsdruck. Nachlassband. München 21979. Vor allem: Druck II. S. 111-184. 78 | Deleuze: Proust und die Zeichen. l.c. S. 49. 79 | Ebd. S. 50. 80 | Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 3943. i.O: À la recherche du temps perdu. Bd. 7. l.c. S. 170.
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dierende Aktualität gegenüber; also bildete die Zweieinigkeit dieses Paares das Ganze der Zeit, das unganze Ganze. Also schnurrte alles auf fünf Thesen zusammen. Erstens: Die chronologische Zeit ist nicht das Ganze der Zeit. Zweitens: Die Zeit ist kein Ganzes. Drittes: Der Augenblick spontaner Reminiszenzen ist ein Kompositum aus Aktualität (Progression als vorübergehende Gegenwart) und Virtualität (Konservation als statische Nicht-Gegenwärtigkeit). Viertens: Die Möglichkeit dieses Augenblicks gründet in der Gegenwendigkeit einer Zeit, die zugleich vergeht und nicht vergeht. Fünftens: Diese Gegenwendigkeit ist dem Bewusstsein gewöhnlicherweise entzogen. Weshalb wir zum einen das „ein wenig“ in Prousts „ein wenig Zeit im reinen Zustand“ nicht als Indiz eines möglichen „mehr“, gar ihrer möglichen Fülle deuten, sondern als Hinweis auf die notwendige Beimengung chronologischen Vergehens. Nur als Augenblick ist der Augenblick zu haben, nur als vorübergehende kehrt eine Zeit zurück, die nicht vorübergeht, nur als Vergehendes wird Unvergängliches gewahrt und als zukommendes bewahrt. Die Fülle des Augenblicks wahrt sich nur in und als Mangel, als Entzug. Vielleicht meinte Benjamin, der zerstreute Proustleser, nichts anderes als er im Augenblick der absoluten Gefahr, Aug in Aug mit der absoluten Lüge seine berühmte Formel notierte, dass der wahre Augenblick der Vergangenheit vorbeihusche.81 Weshalb wir zum anderen das Wort „rein“ in Prousts „ein wenig Zeit im reinen Zustand“ nicht als Ausdruck inhaltlicher Leere deuten, sondern als Vollendetheit, Komplettion: rein ist die Zeit in diesen exaltierten Momenten, weil sie die Zeit überhaupt realisieren, ihr (unganzes) Ganzes und nicht nur ihr chronologisches Residuum. Was endlich auch jenen „Glanz“ der Wiederauferstehung Combrays und all der anderen Schauplätze erklärte, ihre absolute Erneuerung: „Combray steigt nicht auf wie es gegenwärtig gewesen ist. Combray steigt als Vergangenes auf, aber diese Vergangenheit ist nicht bezogen auf eine Gegenwart, die gewesen ist, sie ist nicht bezogen auf die Gegenwart, im Verhältnis zu der sie jetzt vergangen ist. Es ist nicht mehr das Combray der Wahrnehmung, nicht das des willkürlichen Gedächtnisses. Combray erscheint, wie es niemals erlebt werden konnte: nicht in seiner Realität, sondern in seiner Wahrheit“.82 Was eine Wahrheit erforderte, die von Realität, oder eine Realität, die von aktueller Gegenwärtigkeit entkoppelt wäre: „real, ohne gegenwärtig, ideell, ohne abstrakt zu sein“. Was sich jäh offenbart, wäre nichts anderes als eine Wirklichkeit, die nicht nur bewusster Erinnerung entginge, die uns in jedem Moment, jetzt, entgeht; wäre nichts anderes als eine Wirklichkeit, die uns doch immer schon entgangen scheint, obschon sie doch vor Augen läge. Wir müssten sie nur öffnen. Der Tanz der drei Türme, der Marcel fesselt und 81 | Cf. Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd 2. Frankfurt/M. 1980. S. 695. 82 | Deleuze: Proust und die Zeichen. l.c. S. 51.
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sein Schreiben entfesselt, ohne dass er je in Erfahrung brächte, warum; die drei Bäume, deren Geheimnis er nie zu lüften verstand, die Madeleine, eine steife Serviette, der Klang eines Tellers sind wie die fernen Sendboten einer Vernehmbarkeit, einer Passibilität, der endlich kein Ich denke, Ich will, Ich kann mehr vorsteht. Ihre Botschaft aber ist die der Seligkeit, des Glücks selbst. 4. „Proust hat das Ungeheure fertiggebracht, im Nu die ganze Welt um ein Menschenleben altern zu lassen. Aber eben diese Konzentration, in der, was sonst nur welkt und dämmert, blitzhaft sich verzehrt, heißt Verjüngung. ‚A la Recherche du Temps perdu‘ ist der unausgesetzte Versuch, ein ganzes Leben mit der höchsten Geistesgegenwart zu laden. Nicht Reflexion - Vergegenwärtigung ist Prousts Verfahren. Er ist ja von der Wahrheit durchdrungen, dass wir alle keine Zeit haben, die wahren Dramen des Daseins zu leben, das uns bestimmt ist. Das macht uns altern. Nichts andres. Die Runzeln und Falten im Gesicht, sie sind die Eintragungen der großen Leidenschaften, der Laster, der Erkenntnisse, die bei uns vorsprachen - doch wir, die Herrschaften, waren nicht zu Hause.“83 Als ob dem Bilde Prousts, das Benjamin hier zeichnet, das Dorian Grays84 zerrspiegelhaft Modell gestanden hätte: war doch dessen Temperament dank einer Magie, die ihm zuletzt Kopf und Kragen kostete, so ganz entbunden von der Torheit, es nicht auszuleben. Das Mirakel seiner Jugend wurde Gray doch nur deshalb zum Verhängnis, weil es seinem Bildnis aufzwang, was sein eigen Antlitz hätte verzeichnen müssen. Doch Bildmacht beschwört niemand ganz ohne Schaden. Als Herr im Haus blieb Gray, der Dandy, der nutzlose Nutznießer, ohne sein Altern endlich auch ohne Jugend. Die Verjüngung, die Benjamin ihm verheißen könnte (würde er denn darauf eingehen?), arrangiert nur ein Altern, dem sie überhaupt zustößt. Dass wir eine Leidenschaft, so verwerflich sie auch sei kraft Recht, Moral und Brauchtum, nur dadurch loswürden, dass wir ihr folgten, Grays kategorischer Optativ, veranlasste Oscar Wilde zu einem ungeheuerlichen Experiment, das - trotz einer Moral der Geschicht‘, die vom Ende her Grays Ausschweifungen abzustrafen scheint - weit über alle Moralität hinausweist. Dass man das Dasein lebt, das einem bestimmt ist! Weshalb wir doch alle klammheimliche Sympathisanten des Geschlechts der Gray sind, nicht wahr? Nicht nur einer Anna Karenina,85 einer Effi Briest,86
83 | Benjamin: Zum Bilde Prousts. In: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. 4. l.c. S. 320f. 84 | Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray. Köln o.J. 85 | Lew Tolstoi: Anna Karenina. Übers. v. Hermann Asemissen. Bd. 1 & 2. Berlin 21985. 86 | Theodor Fontane: Effi Briest. München 1990.
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einer Emma Bovary,87 wider die sonoren Moralismen ihrer fabelhaften Autoren, würden wir doch ohne mit der Wimper zu zucken alles Recht der Welt auf eine Leidenschaft zubilligen, die schrecklich enden musste. „Lieber Anna Karenina und Vronsky, tausendmal lieber, als Natascha und dieser Prachtkerl Pierre … Nein, lieber Vronsky als der ganze Tolstoi … lieber das, als Tolstoi und Tolstoismus, und diese abscheuliche Bauernbluse, die der alte Kerl trug. Lieber Leidenschaft und Tod als noch mehr solcher „Ismen“ … Lieber Leidenschaft und Tod.“88 Noch Don Giovanni,89 diesem Scheusal, gilt, Hand aufs Herz, unsere uneingeschränkte Bewunderung. Noch das Begehren, das tötet, wäre besser als keines. Die Bruderhorde, Freuds Alp und Schillers Traum, rächt sich längst an der Welt für ihre selbstverschuldete Infertilität. Dass sie den Vater lynchten, die Mutter kastrierten nämlich brachte den Fratres nichts als nur Zins und Zinsenzinsen. Aber wer lebt schon davon? Das „verfluchte Geschlecht“,90 Trakls Verwünschung des Sexus, in der noch die der Sippe, endlich der Gattung überhaupt mitschwingt, wären sie los, die vaterlosen, die mutterlosen Gesellen. Was aber bleibt, ist ein Fluch ohne Geschlecht. Ihre funktionelle Impotenz indes konstruiert sich ihr Pendant in der Gestalt des Monsters. Der Triebtäter, der eine frohgemute Journalistik bei Laune, eine schlechtgelaunte Öffentlichkeit bei der Stange hält, wird zur Projektionsleinwand einer Wunschindustrie, die längst nicht an die Surrogate glaubt, die sie feilbietet. Man sehnt sich nach fetten Gefühlen, nach „echten“. Wenn der Prostituiertenmörder Moosbrugger die Menschen, so Musil, innerlicher beschäftige als der eigene Lebensberuf, dann deshalb, weil die Faszination, die von dieser äußersten Randlage psychischer Dissidenz in die Sphäre alltagstauglicher Normalität hineinstrahlt, immer schon Teil dieser Normalität ist - der verfemte Teil. „Wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müsste Moosbrugger entstehn.“91 Oder Wagner, Ernst Wagner, der 1913, so steht’s in den Akten, das Leben seiner ganze Familie und sieben weiterer Menschen auslöschte. Seine Gräueltat schaffte es innert kurzer Zeit als Prototyp einer im Westen neuen Kategorie von Verbrechen gehandelt zu werden, dem, aus Malaysia importiert, 87 | Gustave Flaubert: Madame Bovary. Übers. v. Arthur Schurig. Frankfurt/M. 1976. 88 | David H. Lawrence: Spiel des Unbewussten. Übers. v. Walter Osborne. München 1929. S. 318. 89 | Wolfgang Amadeus Mozart: Der bestrafte Wüstling oder Don Giovanni. KV 527, 1787. 90 | Georg Trakl: Traum und Umnachtung. In: Sebastian im Traum. In: Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-kritischen Ausgabe v. Walther Killy u. Hans Szklenar. München 1972. S. 80-84. 91 | Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Bd. 1. Hamburg 1981. S. 76.
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eine erstaunliche Karriere bevorstehen sollte. Als „erweiterter Suizid“ leidlich umschrieben, wurde der „Amokläufer“ zum Inbegriff einer Extremform der Devianz, die selbst der Schreckgestalt des Terroristen, des Selbstmordattentäters, den Rang ablaufen könnte. Demonstriert doch der „Apokalyptiker des Risikos“92 die schiere Möglichkeit eines Delikts, das sich allen Deutungs-, Erklärungs- und Sinnzuschreibungsverfahren widersetzt. Wagners kalkulierte Raserei kostete nicht nur etlichen Menschen das Leben. Sie machte auch Schule. Und niemand weiß, warum. Und niemand weiß, warum dieser Wagner, der killer without a cause, den Kleinbürger Klein ins Verderben reißt. Hermann Hesse, den eine herzlose Literaturkritik und -wissenschaft immer noch als „süßlich“ glaubt schmähen zu dürfen, machte aus dem Kriminalfall Wagner seine vielleicht abgründigste Erzählung. Als wär‘s eine Parabel über das Böse, dem jedweder Motivgrund fehlt, jedweder Sinn (und was erschreckte uns mehr?), illuminiert sie die Ambivalenz eines Menschen, der in Treu und Glauben stets sein Tagewerk tat, doch, provoziert durch Wagners dunkel lockendes Beispiel, an und in sich selbst irre zu werden beginnt. Oder was sonst? Dem Gesang der Sirenen nämlich entkam Klein nicht. Denn es war sein Gesang: „Er sang im rasenden Dahinschwimmen“, schreibt Hesse zum Ende, das auch das Ende Kleins sein wird, sang zum Lobpreis Gottes, „inmitten der Millionen Geschöpfe, ein Prophet und Verkünder.“93 Doch was er verkündete? Nichts vielleicht als nur den Gesang selbst. Er aber rührte an niemandes Ohr. Nur Klein hörte sich singen. Mit ihm nämlich ertrank auch sein Sich-singen-Hören. Klein ging ins Wasser: „Ungeheuer brausten die Ströme hin.“94 Als ob Hesse mit dem letzten Satz seiner Erzählung zugleich seine Weigerung, ja sein Versagen geadelt hätte, ein letztes Wort zu sagen zu alldem. Der Zwiespalt, der Klein in den Abgrund riss, in den Tod und ins Leben, bleibt offen wie eine Wunde. „Sein Herz - jene innerste Wurzel in ihm, aus der das Schicksal wuchs - hatte schon immer und immer eine andere Meinung gehabt, es hatte Verbrechen begriffen und gebilligt. Es waren immer zwei Friedrich Klein da gewesen, ein sichtbarer und ein heimlicher, ein Beamter und ein Verbrecher, ein Familienvater und ein Mörder.“95 Wer aber mit einer solchen Wahrheit leben könne?
92 | Alexander Kluge/Joseph Vogl: Soll und Haben. Fernsehgespräche. Zürich, Berlin 2009. S. 85-107. Dazu auch: Georges Devereux: Normal und Anormal. Frankfurt/M. 1974. Darin: Die ethnischen Störungen. S. 48-91. Wolfgang Sofsky: Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt/M. 2002. Heiko Christians: Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Bielefeld 2008. 93 | Hermann Hesse: Klein und Wagner. In: Klingsor. Erzählungen. Gesammelte Werke. Bd. 5. Frankfurt/M. 1970. S. 292. 94 | Ebd. 95 | Ebd. S. 223.
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Das geneigte Publikum, glaubt man, zumindest nicht. Weshalb man Jonathan Demmes Meisterwerk96 in rascher Folge eine Serie von Filmen nachreichte, die allesamt nicht nur aus Hannibal, the Cannibal, einen Schlachtmeister nach Gutsherrenart machten, sondern die Küchenpsychologie gleich mitlieferten, die endlich rationalisiert und kenntlich macht, die aus dem sogenannten Normalen das sogenannte Kranke abspaltet und ins Abnorme projiziert, die endlich identifiziert, was sich aller Identifizierung entzieht: das rohe Begehren. Hannibal Lectors Lektüren des Begehrens, die er der Adlata, der Agentin Starling doziert, werden von seinem Begehren durchkreuzt, das, dank der grandiosen Kamera Tak Fujimoris, in seinen Augen wie eine Warnung, wie eine Verheißung glüht und glimmt. Was der psychiatrisierte Psychiater aber weiß und nicht verrät, dass es Schlimmeres gebe als den Tod, macht zuletzt doch die Frage unausweichlich, wie man denn diesem kongenialen Pärchen, den Irren und den Irrenwärtern, den Verbrechern und den Beamten gleichermaßen entkäme. Von den „großen Leidenschaften“ spricht ja Benjamin nicht nur. Er verspricht sie auch. Und das mit den Worten Prousts. Die Erfüllung, die die wiedergefundene Zeit uns gibt, das Glück, das sie schenkt, ist eine Feier des Lebens, das vergeht. Und nur weil es vergeht, verzehrt es sich, verschwendet es sich. Zweifach aber wäre der Glückswille: Benjamin unterscheidet eine hymnische von einer elegischen Glücksgestalt. „Die eine: das Unerhörte, das Niedagewesene, der Gipfel der Seligkeit. Die andere: das ewige Nocheinmal, die ewige Restauration des ursprünglichen, ersten Glücks.“97 Dessen „Dialektik“,98 von der er zwar spricht, sie aber nicht entfaltet, indes hätte folgenden Schattenriss: wenn die Wiederholung das Glück zurückbringt, das doch noch nie war, wenn das Neue als das hereinbricht, was versäumt war im ersten Moment, verschränken sich Reminiszenz und Produktion auf unentwirrbare Weise. Sie werden, mit einem Wort Deleuzes, ununterscheidbar. So schwänge aber nicht nur in jeder elegischen die hymnische Glücksgestalt als Oberton gleichsam mit, sondern auch in der hymnischen die elegische. Alles Glück, alle Freude, alle Liebe, die alles neu macht und in Neues verwandelt, bleibt gebunden an eine Sehnsucht, die nie gestillt werden konnte. Von ihr her hat sie ihre ganze Kraft. Jede Liebe ist auf den zweiten Blick. Die Irren und daran Irregewordenen klammern die Lust um den Preis des Martyriums; die anderen, die bleichen Advokaten ihrer Vormundschaft, strafen sie mit der Abnormität, die das Normale, wie man so sagt, stabilisiert, die das Gesunde immunisiert - auch um den Preis gewisser autoimmuner Abwehrreaktionen gegen einen Körper, den physischen wie den psychischen, 96 | Jonathan Demme: Das Schweigen der Lämmer. USA 1990. 97 | Benjamin: Zum Bilde Prousts. l.c. S. 313. 98 | Ebd.
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den sie mit den Mitteln, die ihn schützen sollen, zerstören. Auch den politischen: Vielleicht speist sich der Terror, in den nicht nur die Französische Revolution gipfelte, gattungsgeschichtlich aus dem nämlichen Reservoir, wie individualgeschichtlich ein Wünschen, dessen Realisation nicht nur im Märchen oft grausam endet. Im Märchen oder irgendwo sonst vielleicht, weit weg, im Kosmos, dem Kosmos unseres Begehrens: „‚Ein normaler Mensch‘, sagte er, ‚Was ist das, ein normaler Mensch? Einer, der nie etwas Scheußliches getan hat? Ja, aber hat er nie daran gedacht? Oder er hat nicht einmal daran gedacht, es ist ihm aufgestiegen, vor zehn oder dreißig Jahren, vielleicht hat er das verscheucht und vergessen und keine Angst davor gehabt, weil er ja wusste, dass er das niemals in die Tat umsetzen würde. Ja, aber jetzt stell dir vor, auf einmal, am helllichten Tage, mitten unter den Leuten, trifft er DAS, es ist Fleisch geworden, an ihn gekettet, unvernichtbar, was dann? Was hast du dann vor dir?‘ Ich schwieg. ‚Die Station‘, sagte er leise, ‚dann hast du die Station Solaris.‘“99 Solaris, die Station, die Zone: Der Stalker, der Wissenschaftler, der Schriftsteller:100 sie alle wissen ja, sie alle tun gut daran, das Zimmer nicht zu betreten, ihre Wünsche, deren Spur sie folgen, nicht zu enthüllen. Als wäre das Apocalypse Now101 unserer Sehnsucht stets nur das Nichts und der verzweifelte Wille zum Nichts und nichts als das: Moosbruggers, Wagners geheimster Traum… Also kann es gar kein Zufall mehr sein, sondern Indiz eines paranoischen Zwangszusammenhangs, wenn der War on Terrorism ununterscheidbar zum Terror wird, wider den er ficht? Die Bruderhorde jedenfalls schlägt lieber alles kurz und klein als denen Gehör zu schenken, die von einer Hingabe fabulieren, die so wenig dem Leben gilt wie die Überlebensstrategien ihrer übermächtigen, ohnmächtigen Kombattanten. Das kleine Einmaleins einer kommenden Revolution also begänne mit dieser Regel: dass der festgehaltene Augenblick so unmenschlich, so tödlich ist wie dessen Blockade. Und deshalb spricht Benjamin, der Revoluzzer der Geistesgegenwart, von Verschränkung: „Das Widerspiel von Altern und Erinnern verfolgen, heißt in das Herz der proustschen Welt, ins Universum der Verschränkung dringen.“102 Jenes Widerspiel aber wäre, formal betrachtet, das zwischen einer vergehenden und einer unvergänglichen Zeit, zwischen einem aktuellen Jetzt, das vorbeizieht, und einem virtuellen Jetzt, das nie vorbeizog und zieht und ziehen 99 | Stanislaw Lem: Solaris. Übers. v. Irmtraud Zimmermann-Göllheim. Berlin 2006. S. 99f. 100 | Andrej Tarkowskij: Stalker. UdSSR 1978/79. 101 | Francis Ford Coppula: Apocalypse Now. USA 1976-79. Dazu: Joseph Conrad: Herz der Finsternis. Übers. v. Fritz Lorch. Zürich 1977. Cf. Derrida: No Apocalypse, not now (full speed ahead, seven missiles, seven missives). In: Apokalypse. Übers. v. Michael Wetzel. Graz, Wien 1985. S. 91-132. 102 | Benjamin: Zum Bilde Prousts. l.c. S. 320.
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wird. Seit jeher aber ist der Titel für Unvergänglichkeit, wie missverständlich, wie unverständlich auch immer, Ewigkeit. Auch Benjamin spricht ihr das Wort: „Die Ewigkeit, in welcher Proust Aspekte eröffnet, ist die verschränkte, nicht die grenzenlose Zeit. Sein wahrer Anteil gilt dem Zeitverlauf in seiner realsten, das ist aber verschränkten Gestalt, der nirgends unverstellter herrscht als im Erinnern, innen, und im Altern, außen.“103 Was aber Benjamin Verjüngung nennt, den „Chock der Verjüngung“, realisiert sich nur kraft einer Synthese, die das Innen nach außen, das Außen nach innen stülpt. Der Augenblick selbst nämlich ist nicht die Ewigkeit, sondern ein Amalgam aus vergehender Präsenz und unvergänglicher Plusquampräsenz. Die verschränkte Zeit ist mit jener Ewigkeit eben nicht identisch, sondern mischt sie mit Vergänglichkeit - wie mit einem Kontrastmittel, wodurch sie überhaupt erst in Erscheinung zu treten vermag. Nicht anders argumentiert Deleuze: „Das unwillkürliche Gedächtnis gibt uns die Ewigkeit, aber in einer Weise, dass wir nicht die Kraft haben, sie länger als einen Augenblick zu ertragen, noch die Mittel, ihr Wesen zu entdecken. Was sie uns gibt, ist eher das augenblickliche Bild der Ewigkeit.“104 Deleuze indes wird mit diesem Begriff der Ewigkeit zwanzig Jahre später, wenn er das Zeit-Bild als Koexistenz zwischen progressiver Aktualität und konservativer Virtualität konstruiert, nicht mehr operieren. Vielleicht, weil ihm Ewigkeit, seit alters her Topos für das Andere der Zeit überhaupt, suspekt werden musste. Dem Philosophen der Immanenz mag eine Kategorie anrüchig geworden sein, die wenig Neigung zum Diesseits zu haben scheint. Und erst recht nicht zur Zeit, die Ewigkeit doch stets transzendiere. Wenn aber Benjamin besagte Ewigkeit à la Proust ausdrücklich nicht als „grenzenlose Zeit“ auspreist, stellt er sie nicht nur in Opposition zur Semperternitas, der Endlosigkeit endlos fortschreitender Zeit, sondern auch zur Aeternitas, dem Jenseits der Zeit selbst. Nicht Aeternitas, nicht Semperternitas, nicht gute und nicht schlechte Unendlichkeit, sondern eine, die selbst endlich im Endlichen haust. Die Ewigkeit, anders gesagt, ist nicht länger mehr das Andere der Zeit und anders als Zeit, sondern Ingrediens ihrer Veranderung,105 einer anderen Zeit. Wandel der Zeit:106 Was sich bei Benjamin, bei Deleuze, bei Blanchot in ihren buchstabentreuen Proust-Repititionen abzeichnet, was seinerseits Prousts 103 | Ebd. 104 | Deleuze: Proust und die Zeichen. l.c. S. 53. 105 | Zum Begriff der Veranderung: cf. Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart. Berlin, New York 21977. § 11 ff, S. 84 ff. Ders. Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik. Frankfurt a.M. 1980. S. 237ff. 106 | Cf. Theunissen: Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit. München 22002. Vor allem: Heidegger, Hölderlin und die Griechen. Nachbemerkungen zu philoso-
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fast hilflos anmutendes Zittern zwischen „Außerzeitlichkeit“ und „reiner Zeit“ anzeigt, wäre, was man eine Konversion der Ewigkeit nennen könnte. Ihr allein entspringt die Verheißung, „dass nicht nur alles anders werde in der Zeit, sondern dass die Zeit selbst eine andere werde.“107 Womit das große Einmaleins einer kommenden Revolution begänne: dass die Zeit nicht der Feind des Glücks ist, sondern sein Medium. 5. Das also war Zarathustras Nachtlied, sein bestgehütetes Geheimnis: dass die Ewigkeit, die Lust will, eine der Zeit ist. Sein „Rundgesang“ figuriert bereits als Sinnbild, was sich in Wortwörtlichkeit nicht auflösen lässt. Darum also singt Zarathustra, weil nur der Gesang bewahrt, kündet und prophezeit, was aller Prosaik unzugänglich bleibt. Was Zarathustra lehrt, was Nietzsche denkt, ist ja keine Theorie oder in theoretische Propositionalität Aufzulösendes. Kein IstSatz reicht an den Gesang des Sollens. Dem gängigen Leitbild von Moral steht all das so fern wie Kants unnachahmlichem Understatement vom Vorrang der praktischen vor der theoretischen Vernunft nah, das in spröden Worten das Worumwillen aller Philosophie, ist es Philosophie, seit Sokrates’ Tagen paraphrasiert. Und Platons Idee der Idee leuchtet über all dem wie ein Stern. Sie nämlich ist kein Begriff im landläufigen Sinne, nichts, was sich restlos satzförmiger Darstellung fügte. Das Gute ist Tat. Das Gute ist Machen, Wille zum Machen: Macht! Und alles Wissen, unser babylonisches Großprojekt, dem zu spotten schon die Athenische Informationsgesellschaft mit Höchststrafen konterte, nutzt nicht, schadet, wenn wir nicht wissen, es zu gebrauchen.108 Deshalb die Gestalt Zarathustras, des Lehrers, deshalb seine Lieder. „Singt mir nun selber das Lied, dess Namen ist ‚Noch ein Mal‘, dess Sinn ist ‚in alle Ewigkeit!‘, singt, ihr höheren Menschen, Zarathustra’s Rundgesang!“109 Er aber ist ein Gesang der Nacht, und das Lied ein „Nachtwandler-Lied“,110 das bei Lichte besehen, bei Tageslicht, wie von Sinnen anmuten muss. Was phischen und philosophisch-poetischen Rezeptionen. S. 925-989. Dazu: Arne Grøn: Zeit und Transzendenz. In: Emil Angehrn/Christian Iber/Georg Lohmann/Romano Pocai (Hg.): Der Sinn der Zeit. Weilerswist 2002. S. 40-52. Jene Wende der Zeit, in der Zeit selbst anders wird, diskutiert Günter Figal an Theunissens Konzept des Verweilens, das er mit Proust als einen Modus kenntlich macht, bei dem Verweilen, ohne dem Lastcharakter der Zeit zu verfallen, selbst ein genuin zeitliches ist: Günter Figal: Zeit und Erinnerung. Überlegungen im Anschluss an Theunissen, Hegel und Proust. Ebd. 101-111. 107 | Cf. Theunissen: Können wir in der Zeit glücklich sein? In: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt/M. 1991. S. 65. 108 | Cf. Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982. 109 | Nietzsche: Also sprach Zarathustra. KSA 4. S. 403. 110 | Ebd. S. 395ff.
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Nietzsche uns sagt, funktioniert nicht in der Form einer Theorie, sondern nur der der Lehre. Sie aber ist, wie jede Lehre, von der Gestalt des Lehrers nicht ablösbar, ohne das Sagen in allem Gesagten hohl, leer; ohne Stimme, Rhythmus und Intonation, ohne Gestik und leibhaftigen Stil - ohne Laut und Hauch und Atem. Dass wir uns taub machten für das Singen in allem Sprechen („Spuuule!!“), für die Stimme,111 für ihr Stimmen vor dem Bestimmten, Gegebenen, für den Reigen der Vokale und den Wirbel der Konsonanten, für all das Lispeln und Zischeln, das Haspeln, Stocken und Stottern, die Modulation, den Zungenschlag, den Wechsel der Töne,112 wäre mithin die erste Bedingung einer bedingungslosen Selbsthabe, die mit ihrer Unberührbarkeit kokettiert, ihrer Unverletzbarkeit, jener uralten metaphysischen Inklusionsphantasie, die in der Architektur des Bunkers ihren vielleicht vollendeten Ausdruck fand. Welcher Präsenzzwang stand eigentlich Pate bei dem scheußlichen Einfall, ein Wort wie „Thal“ ohne „h“ zu schreiben, ohne den wichtigsten, den stillsten, empfindlichsten Laut von allen? Und wer hat schon einmal versucht, Eric Rohmers mäandrierende Dialoge, dies zartsinnige Gerede, von allem Inhalt abzulösen und nur noch zu hören, wo es nichts mehr zu verstehen gibt? Die Unterhaltung der Frauen113 versinkt schier in der Geräuschkulisse des Straßencafés und der Straße, Vorder- und Hintergrund mengt die Tonspur bis zur Indifferenz. Was eine deutsche Synchronisation artig meint wiederherstellen zu müssen, die Prägnanz und Präsenz des Gesagten, verwischt der Bildmeister, der Tonmeister Rohmer, um jene geheime Kraft hörbar zu machen, die aller Sprache innewohnt: die des Anspruchs. Noch Proust widmet ihr einige maßgebliche Bemerkungen seiner Recherche, als er ein mediengeschichtlich frühes Telefonat zwischen Marcel und seiner Großmutter protokolliert, bei dem deren bloße Stimme, abgelöst von allen anderen visuellen Vorstellungsinhalten, mehr, weit mehr zu hören gibt als das, was sie sagt. Ihre Stimme spricht.114 Und auch Mr. Bloom ist ganz Ohr. Jedenfalls verlegt James Joyce seine Version vom Gesang der Sire-
111 | Cf. Mladen Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme. Übers. v. Michael Adrian u. Bettina Engels. Frankfurt/M. 2007. 112 | Cf. Friedrich Hölderlin: Wechsel der Töne. In: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1. Berlin, Weimar 41984. S. 896-898. Dazu: Derrida: Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie. l.c. S. 26f, 62ff. 113 | Eric Rohmer: Der Freund meiner Freundin. Frankreich 1978. 114 | Cf. Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 1423 Dazu: Beckett: Proust. Essay. Übers. v. Marlis u. Paul Pörtner, Katharina Raabe, Werner Morlang. Frankfurt/M. 1989. S. 22f. Dazu: Manfred Schneider: La vitesse des sons. Proust und das Telefon. In: Uta Felten/Volker Roloff (Hg.): Proust und die Medien. München 2005. S. 193-212.
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nen in ein Lokal,115 wo Bloom, gleichfalls von Eifersucht geplagt, versonnen seinen Sirenen lauscht, den Bardamen, ihren Stimmen, ihrem Gesang, dem Klingklang einer aus Geräusch und Ton erbauten Welt, aus der ihm endlich nichts mehr entgegenbrandet als jene Lautbilder, jenes Lautgebell, mit dem Joyce selbst sein Kapitel komponiert, jener Hall und Widerhall, jener nasale Singsang von „a“ bis „o“, der Bloom einhüllt und seine Sinne nebelt (war’s der Apfelwein oder der Burgunder?) und zu einem Ort zu entführen, ihn dahin zu verführen verspricht, wo endlich Selbstvergessenheit herrscht; jener flüchtige Moment einer Art Geistesabwesenheit, dessen Eminenz Lyotard116 so nachhaltig beeindruckte und den die melancholisch entleerten Gesichter auf den Bildern Manets so eindrucksvoll zeigen. Was vielleicht einer der vielen Vornamen für Glück ist, des Glückes Unterpfand. Nietzsches ganzes Wagnis aber bestand darin, das Glück mit Zeit selbst zu vermitteln, die Lust, an deren Schwinden man in der Tat irrewerden kann, nicht durch ihr Schwinden zum Quellpunkt pathogenen Zwangs zu machen. Dass aber das, was war, wiederkehrt, dieses Pseudonym für den Wahnsinn selbst, den äußersten Schrecken, wird Nietzsche zum Kryptonym seiner Heilung. Es ist schließlich der nämliche Gedanke, der das äußerste Unheil und das äußerste Heil zugleich offenbart. Die denkbar größte Katastrophe birgt das Mysterium Magnum der Rettung vor ihr. Denn es ist ja nicht die „Wiederkehr des Immergleichen“, die Nietzsche als seinen abgründigsten Gedanken preist, es ist die „ewige Wiederkehr des Immergleichen“. Das „Noch einmal“ macht erst „in alle Ewigkeit“ Sinn. Aber welchen? Zwiefach nämlich wäre die Lesart, und wie zur späten Konsolidierung der Kantschen Antinomien gibt es kein Argument, das die richtige von der falschen schiede. Zum einen bedeutete das ewige Noch einmal die endlose Iteration ein und desselben Ereignisses in einem Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gäbe. Die vermeintliche Irrealität der Konstruktion wird konterkariert durch eine psychische Realität, die dieses Lebensgefühl, ja diesen Lebensekel exakt spiegelt. Nihil novi sub sole: die Klage Salomons wird zum Muster eines seelischen Desasters, das moderne Psychopathologien terminologisch zwar diversifizieren und empirisch präzisieren, ohne doch an deren metaphysischen Kern zu rühren: das Erkranken an Zeit als solcher.117 An einer chronologischen Endlosschleife, die mit Belanglosigkeit, ja Vergeblichkeit straft, was wagte zu werden, zu sein. Was wurde, wird nur, um abermals zu enden. Das Empfin115 | Cf. James Joyce: Ulysses. Übers. v. Hans Wollschläger. Frankfurt/M. 1981. S. 355-403. 116 | Cf. Jean-François Lyotard: Der Augenblick, Newman. Übers. v. Christine Pries. In: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Wien 1989. S. 141-157. 117 | Cf. Theunissen: Melancholisches Leiden unter der Herrschaft der Zeit. In: Negative Theologie der Zeit. l.c. S. 218-281.
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den, eigentlich schon tot zu sein, bei lebendigem Leib mortifiziert, wie versteinert, mumifiziert, protokollieren die Aufzeichnungen klinischer Pathogenesen zuhauf.118 Dagegen, zum anderen, hieße jenes ewige Noch einmal ein anderes „ewig“, bedeutete eine andere Weise, wie der Kreis sich schlösse, einen anderen Kreislauf: der, der erst in einer Ewigkeit zum Kreis sich geschlossen haben wird.119 Die Zirkularität des Futur II wird kraft einer Ewigkeit gleichwie aufgebogen, ohne ihre Substanz einzubüßen. Die mathematische Definition einer Parallele als zweier Geraden, die im Unendlichen sich schneiden, wird zur Parallele einer philosophischen Definition der „ewigen Wiederkehr des Immergleichen“: dass nach einer Unendlichkeit alles Endliche sich wiederholt. Was dem Mathematiklehrer leicht von den Lippen ging und seine Schüler, einen zumindest, ins nicht nur mentale Chaos stürzte, gilt für den Philosophielehrer Zarathustra nicht minder: Was sich sagen lässt, lässt sich nicht denken. Jedenfalls nicht mit dieser Vernunft unter den Konditionen von Raum und Zeit, der endlichen. Was sich aber nicht denken lässt, muss vorausgesetzt werden, um denken, ja um überhaupt existieren zu können. Kants regulative Idee als denknotwendige Voraussetzung aller Erkenntnis radikalisiert sich bei Nietzsche zur irregulären Idee als existenznotwendige Voraussetzung allen Lebens im Horizont und im Bewusstsein der Zeit. Ohne diese Idee, die keinen Inhalt hat und haben kann,120 wäre menschliches Dasein sub species temporalis überhaupt nicht möglich. Deshalb das Zögerliche, Hilflose, fast Komische bei Nietzsches wenigen Versuchen, seine Wiederkunftslehre inhaltlich zu bestimmen, deshalb endlich der Abbruch aller Versuche dieserart. Wovon ich aber nicht sprechen kann, davon muss ich singen? Ist es nicht genau das, was Zarathustra lehrt? Die Verwandlung kraft eines Gedankens, den ich nicht denken, den ich nur leben kann? Selbst als kategorischer Imperativ: so zu handeln, dass ich das, was ich getan habe, jederzeit wieder zu tun wollen kann, ist die Abgründigkeit von
118 | Cf. Emil v. Gebsattel: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie. Berlin, Göttingen, Heidelberg 1954. Hubertus Tellenbach: Melancholie. Problemgeschichte, Endogenität, Typologie, Pathogene. Berlin, Heidelberg, New York 41983. Erwin Straus: Das Zeiterlebnis in der endogenen Depression und in der psychopathischen Verstimmung. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Nr. 68/1928. S. 640-656. Thomas Fuchs: Zeit-Diagnosen. Philosophisch-psychiatrische Essays. Kusterdingen 2002. 119 | Cf. Picht: Nietzsche. Stuttgart 1988. S. 284-287, 290-303. 120 | Cf. Bernhard Pautrat: Nietzsche, medusiert. Übers. v. Werner Hamacher. In: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Frankfurt/M., Berlin 1986. S. 111128.
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Nietzsches abgründigstem Gedanken kaum erahnbar. Aber wer’s erahnt, den schaudert’s. Indem, was war, wiederkehrt, indem, was wiederkehrt, in einer Ewigkeit wiederkehrt, versöhnt Nietzsche nicht nur des „Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘“,121 sondern bringt auch zwei Forderungen, deren Unvereinbarkeit offenkundig zu sein scheint, zur Deckung: Zirkularität und Futurizität von Zeit, eine Vergangenheit, an der ich dank ihrer Wiederkehr nicht mehr kranke wie im Ressentiment, und eine Zukunft, die zukünftig ist, d.h. offen. Erst das Zugleich futurischer Offenheit und perfektischer Entzogenheit ermöglicht die Existenzialisierung der Zeit, ihre Anverwandlung zum Existenzial menschlichen Daseins. Nietzsche, mit anderen Worten, konvertiert Ewigkeit zur Zukunft selbst. Erst unter dieser Bedingung wird Kronos, der Gott, der seine Kinder frisst, zugleich zur Göttin, die sie auch gebiert. Die Sterblichkeit des Menschen gerät zum Vexierbild seiner Gebürtigkeit, Hannah Arendts findiges Pronomen für das Vermögen des Anfanges, des Neuen.122 Dass also Lust „Ewigkeit“ will, die „tiefe, tiefe Ewigkeit“, wird mit Zeit, deren Vergehen das „Weh“,123 die Unlust, der Schmerz wollen muss, kompatibel, da diese Ewigkeit nicht mehr das Andere der Zeit überhaupt markiert, sondern eine andere Zeit: Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit sind ihre Beigaben. Was sich vom Proustianismus Deleuzes, all seiner früh bezeugten Affinitäten zu Nietzsche und zum Nietzscheschen Laboratorium einer primären, einer nicht-renovativen, einer produktiven Wiederholung124 in zumindest einer Hinsicht radikal zu unterscheiden scheint: Deleuzes Konversion der Ewigkeit trachtet offensichtlich danach, sie in eine spezifische Form der Vergangenheit transformieren zu wollen. Die Unvergänglichkeit wird mit dem „Sein einer Vergangenheit an sich“ identifiziert, die unter keinen Umständen als gewesene vergehende Gegenwart vorgestellt werden dürfe. Seine Zwei-Stämme-Lehre der Zeit konfrontiert eine Gegenwart, die verrinnt, mit einer Vergangenheit, die harrt. Was aber nicht nur bei der Lektüre seiner Keimidee von 1964, sondern auch bei deren Ausfaltung im Konzept des Zeit-Bildes rund zwanzig Jahre später auffällt: das bemerkenswerte Aussparen des futurischen Pols. Das „ein wenig Zeit im reinen Zustand“, das zumal im Kino des Zeit-Bildes, oft 121 | Nietzsche: Also sprach Zarathustra. l.c. S. 180. Dazu: Heidegger: Was heißt Denken? Tübingen 1971. S. 33-47. 122 | Cf. Hannah Arendt: Vita Activa oder: Vom tätigen Leben. München 1998. S. 315f u.a. Dazu Ludger Lütkehaus: Natalität. Philosophie der Geburt. Kusterdingen 2006. 123 | Nietzsche: Also sprach Zarathustra. l.c. S. 404. 124 | Cf. Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt/M. 1985. S. 75ff. Auch: Differenz und Wiederholung. Übers. v. Joseph Vogl. München 21977.
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nicht einmal mehr als Zitation kenntlich gemacht, wuchert, liest hie wie dort Deleuze als Verklammerung aktueller Gegenwart und virtueller Vergangenheit aus. Wie aber hielte er’s mit der Zukunft? 6. Und wie sie aussähe, diese Zukunft? Welche Struktur ihr eignete? Nietzsches paralogische Zirkularität, sein Versöhnungswerk zwischen den Ekstasen der Vergangenheit und Zukunft, die der Gegenwart endlich den Raum öffnete, den Zeit-Raum, dessen sie bedarf, um ihr punktualistisches Exil verlassen, sich endlich dehnen, weiten, endlich dauern zu können, regiert die Zeit des Zeit-Bildes offensichtlich nicht. Der Dynamik des Nietzscheschen Modells, das die inkompatiblen Charakteristika des Futurischen, seine Unabgeschlossenheit, und des Perfekten, seine Abgeschlossenheit, gleichsam fließend ineinander übersetzt, kontrastiert die Deleuzesche Statik zweier fundamental unterschiedlicher Qualitäten von Zeit, ihrem aktuellen Vergehen und ihrer virtuellen Unvergänglichkeit, die sich wie zwei unterschiedlich gepolte Platten eines Kondensators gegenüberstehen und deren spontane Entladungen erst jene „reine Zeit“ im Sinne Prousts freisetzen. In der Tat muten diese Entladungen, von der Mnemotechnik wilder Erinnerungen bis zur Filmtechnik montierter Bildkompositionen, futurisch gleichwie indifferent an. Die Zukunft wäre nur das an sich leere Gefäß möglicher Augenblicke, die in sich selbst, als Arrangements aus Perfekt und Präsens, ohne futurische Beimengung auszukommen scheinen. Als hangelte man sich von Entladung zu Entladung, um deren Fülle und Erfüllung zu goutieren. - Wäre da nicht jene Insuffizienz, jener eigenartige Mangel, der noch den vollendeten Augenblick mit einer Vorläufigkeit markiert, die seine Vollendetheit, aller Proustschen Emphase zum Trotz, zu kompromittieren scheint. Er aber käme nirgends deutlicher zum Ausdruck als in jener Episode der drei Bäume, deren Weigerung, ihren Code zu verraten, Proust zutiefst deprimieren sollte. Wieder die „drei“, die Dreiheit als Signifikant: Erinnern wir uns noch daran, dass wir auch vom Geheimnis der Kirchtürme von Martinville nichts erfuhren. Prousts deklariertes Glück dieser frühen Erfahrung gründete im Gelingen sprachlichen Ausdrucks, durch was auch immer bewirkt, nicht im Wiedererkennungswert einer in die Gegenwart einbrechenden Vergangenheit. Sollte schon die bloße Spiegelung dieser sinnlichen Trinität, die Kirchtürme dort, der Bäume da, den Verdacht einer unterirdischen Allianz nähren, die noch das nie gelüftete Rätsel der drei Türme in dem der Bäume doppelte? Oder ginge es hie wie da gar nicht um eine abgebrochene, eine geblockte Erinnerungsarbeit, sondern um etwas anderes? Sollte Proust, fixiert auf seine Recherche der verlorenen Zeit, auf der falschen Fährte gewesen sein? Wollten sie ihm, die Türme, die Bäume, etwas ganz anders sagen, etwas ganz anderes zu sehen geben?
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Und was wäre das? Von einem „Anruf des Unbekannten“, den die drei Bäume an Proust richteten, spricht jedenfalls auch Blanchot, der sie mit einem „vielleicht“, entgegen der kaum verhohlenen Enttäuschung und der nur zu offensichtlichen Absicht Prousts, in der Hierarchie seiner auserlesenen Momente weit nach oben expediert. Als wäre gerade dessen Scheitern paradigmatisch. Hören wir zu: „Jedoch einmal zum wenigsten hat Proust sich diesem Anruf des Unbekannten gegenüber befunden, als er im Angesicht der drei Bäume, die er anschaut, ohne dass es ihm gelänge, sie mit dem Eindruck oder der Erinnerung, die in ihm aufsteigen will, in Beziehung zu setzen, der Fremdartigkeit dessen innewird, was er nie wieder wird begreifen können und gleichwohl da ist, was in ihm und um ihn ist, aber nur mit einer unendlichen Bewegung des Nichtwissens von ihm aufgenommen wird. Hier bleibt die Kommunikation unabgeschlossen, sie bleibt offen, bereitet ihm nur Enttäuschung und Angst, aber vielleicht ist gerade sie weniger trügerisch als irgendeine andere und kommt der eigentlichen Forderung der Kommunikation näher.“125 (Hervorh., M.M.) Aber vielleicht: Kommunikation oder auch Kommunion zwischen einem Einst und Jetzt oder zwischen einem Jetzt, das gegenwärtig und einem Jetzt, das nicht gegenwärtig ist, zwischen einem Jetzt, das wirklich und einem Jetzt, das nicht wirklich ist, zwischen einem Jetzt, das vergeht und einem Jetzt, das nicht vergeht: Kommunikation zwischen dem, was präsent, anwesend, bewusst ist und dem, was in dieser Präsenz, in dieser Anwesenheit, in diesem Tag des Bewusstseins immer schon entzogen bleibt: wie ein Nachtrest, ein schlechter Traum, den man längst vergessen hat und der doch, wie der ferne Hall einer längst verklungenen Melodie, ein gespenstisches, ein unheimliches Nachleben führt. Wenn man nicht vergessen kann, was man nicht zu erinnern vermag. Wenn einem auf der Zunge liegt, was Laut werden will und nicht kann. Die „unendliche Bewegung des Nichtwissens“ aber preisen nur Sonderlinge der Polis. Denn die Qual kennt man. Und Poe, der Meister des Unheimlichen, verknüpft sie schon mal, wie beiläufig, mit dem Attest eines bemerkenswerten szientifischen Mankos: „Unter den vielen unverständlichen Mängeln der Wissenschaft vom Geiste gibt es nichts Fesselnderes als die, wie ich glaube, auf den Schulen noch nie bemerkte Tatsache, dass wir in unseren Bemühungen, uns etwas lange Vergessenes ins Gedächtnis zurückzurufen, oft am Rande der Erinnerung stehen, ohne uns schließlich doch erinnern zu können.“126 (Übers. geändert; M.M.)
125 | Blanchot: Der Gesang der Sirenen. l.c. S. 30f. 126 | Edgar Allen Poe: Ligeia. Übers. v. Günther Steinig. In: Grube und Pendel und andere Erzählungen. Frankfurt/M. 1979. S. 12. Original: http://www.gutenberg.org/ dirs/etext00/poe3v11.txt.
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Die Schule, die diesem Mangel Jahrzehnte später endlich abhelfen sollte, hörte bekanntlich auf den Namen Psychoanalyse. Deren seelisches Protoplasma indes könnte aus dem nämlichen Stoff bestehen, aus dem auch Prousts gescheiterte Offenbarung der drei Bäume bestünde: dem einer Art Wahrnehmung, die ihren Sinn, auch den verdeckten, nicht preiszugeben bereit ist, ohne doch sein Vorhandensein schon zu kaschieren. Also weiß man, dass es da noch anderes gibt, aber man weiß nicht was. Die gegenwärtige Wahrnehmung oder die Wahrnehmung der Gegenwart verharrt in einem diffusen Zustand der Halbtransparenz, die, einem unleserlichen Zeichen ähnlich, etwas anmeldet und zugleich verdeckt. Wie Milchglas, das zu sehen gibt, ohne etwas zu sehen zu geben. Vielleicht meinte Deleuze das, als er in einer Klammer, die wir sträflicherweise schon einmal ignorierten, die Vision der drei Bäume mit dem Ausdruck der „Paramnesie“ abschätzte? Also noch einmal: „Zwar begreifen wir nie etwas in dem Augenblick als vergangen, in dem wir es als gegenwärtig erfahren (außer im Falle der Paramnesie, der vielleicht bei Proust die Vision der drei Bäume entspricht).“127 (Hervorh., M.M.) Die Klammer, das „vielleicht“: all das deutet zumindest hin auf eine Extravaganz dieser Episode, der sich auch Deleuze nicht zu entziehen vermag, ohne sie im Schema seiner Zeichenlehre genau verorten zu können. Seine durch die Einklammerung erwirkte Exilierung löst das Problem so wenig wie der Hinweis auf paramnetische Phänomene, bei denen eine meist psychotische Gedächtnistäuschung Erinnerungen an Geschehnisse halluziniert, die nicht stattfanden. Proust aber täuscht sich nicht über den Inhalt einer Erinnerung, täuscht sich nicht über ihre Wirklichkeit. Er wird einfach der Erinnerung - oder was immer auch sonst - nicht Herr, die sich anzukündigen scheint. Er verzweifelt an ihrer Erkennbarkeit. Alles begänne einmal mehr mit einer Kutschfahrt, hier in Begleitung von Madame de Villeparisis, einer Dame von hohem Rang und Ansehen, der künftigen Prinzessin von Guermantes. Die Fahrt geht durch bekanntes Gelände, nichts Außergewöhnliches zeichnet sie aus, als Marcel beim Anblick dreier Bäume, die seinen Blick kreuzen, von einem jähen Glücksgefühl erfasst wird, das er selbst sogleich mit dem Vorfall der drei Kirchtürme verknüpft. „Wir fuhren nach Hudimesnil hinab; plötzlich fühlte ich mich von tiefem Glück erfüllt, wie ich es seit den Zeiten in Combray nicht mehr oft erlebt, einem Glück ganz ähnlich dem, das mir unter anderem die Kirchtürme von Martinville geschenkt hatten. Doch erreichte es diesmal seine Vollendung nicht.“128 Die Annonce dieses Scheiterns durchtränkt den gesamten Zwischenfall; das Déjà-vu der drei Bäume, ihre Vertrautheit, mengt sich mit einer Unvertrautheit, die schließlich die Szenerie als ganzes erfasst. Irritiert durch den unruhigen Pendelschlag sei127 | Deleuze: Proust und die Zeichen. l.c. S. 49. 128 | Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 943.
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nes Geistes, der auf der Suche nach dem Grund seiner unvermuteten Empfindung „zwischen irgendeinem entlegenen Jahr und dem gegenwärtigen Augenblick“ strauchelt, strauchelt endlich die Wahrnehmung selbst: ob das, was er vor sich sehe, real sei oder nur eingebildet? Die weitere Kutschfahrt ist erfüllt mit vergeblichen Versuchen, der vermuteten Erinnerung doch noch inne zu werden, wie ebenso fruchtlosen Grübeleien über den Grund des Phänomens. Die Versuchsanordnung, das Procedere ist bekannt: wie in anderen Fällen auch rhythmisiert Marcel seine Anstrengungen methodisch klar durch den Wechsel von Konzentration und Entspannung. Und wie in anderen Fällen auch bringt die wiederholte Anstrengung das sehr bestimmte Gefühl hervor, dass da „etwas“ sei. Aber wie in anderen Fällen nicht, scheitert die Untersuchung kläglich. Mögliche Erklärungen hierfür reiht Proust wie auf einer Perlschnur auf: die gesuchte Erinnerung liege für ihre Aktualisierung zu weit schon zurück; sie verdanke sich Traumbildern, nicht realem Sinneseindruck; die Impression verweise überhaupt nicht auf eine Erinnerung, sondern auf einen verdeckten Sinn, dessen Unerfindlichkeit ihn mit einer dunklen Erinnerung verwechselbar mache. „Oder aber“, so Prousts letztes Räsonnement, „bargen sie [die Bäume; M.M.] überhaupt keine Gedanken in sich, und nur eine Ermüdung meines Sehvermögens ließ sie mich doppelt sehen in der Zeit, so wie man manchmal Dinge im Raume doppelt sieht? Ich wusste es nicht.“129 Ich wusste es nicht: Prousts lapidare Resignation schaukelt sich im weiteren zu einer Emphase auf, die das Misslingen all seiner Versuche, der Sache doch noch auf die Schliche zu kommen, mit einer Trauer quittiert, deren Unmaß durch die Eskalation exzessiver Vergleiche demonstriert wird: „Und als ich nach der Wendung des Wagens ihnen den Rücken kehrte und sie nicht mehr sah, war ich, während Madame de Villeparisis mich fragte, warum ich so nachdenklich sei, von Trauer erfüllt wie nach dem Verlust eines Freundes, als sei ich mir selber gestorben, als habe ich einen Toten verleugnet, einen Gott nicht erkannt.“130 (Hervorh., M.M.) Der schier erlösungstheologisch aufgeladene Vorfall überhöht das Desaster ins fast Ursündhafte. Die Schuld, von der er glauben muss, sie nur durch des Rätsels Lösung abgleichen zu können, tätowiert ihren Inhalt wie ein einzigartiges Vergehen auf den Rücken des unseligen Delinquenten. Sie selbst ist das Rätsel, dessen Lösung sie vorschreibt. Sie bleibt, sie ist unleserlich wie die Chiffren in Kafkas „Strafkolonie“. Vielleicht wäre Blanchots „unendliche Bewegung des Nichtwissens“, die er als der Anekdote Glutkern entdeckt, nur die glückliche Kehrseite einer Ohnmacht, die den menschlichen Geist beschämt und adelt zugleich. Ich wusste es nicht: Prousts Lakonie beschließt auffällig die 129 | Ebd. S. 945f. 130 | Ebd. S. 946.
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Hilflosigkeit seiner Bemühungen, sein Versagen zu plausibilisieren. Ihren Offenbarungseid aber leistet endlich das Eingeständnis, dass es sich um bloße Täuschung und nichts als Täuschung gehandelt haben mag. Müde Augen ließen ihn, wie im Raum, doppelt sehen in der Zeit: voir doubles dans le temps.131 Eine irgendwie eigenartige, fast bizarre Wendung. Indes könnte sie mehr verraten als auf den ersten Blick ersichtlich. Noch Deleuzes Verweis auf eine paramnetische Gedächtnisstörung gründet ja in der in diesem besonderen Fall möglichen Doppelheit, etwas zugleich als vergangen und als gegenwärtig zu erfassen. Wenn wir aber „vergangen“ (passé) mit Nicht- oder Plusquampräsenz übersetzen, wenn wir zur Defizienz bewusster Erinnerung die bewusster Wahrnehmung hinzuaddieren, wenn wir uns klar machen, dass sich uns in jedem Moment, jetzt, eine Zeitlichkeit entzieht, die expressis verbis nicht als Vergehen, sondern als Nicht-Vergehen ausgewiesen ist, dann stellt sich in der Tat die Frage, ob diesem Konstrukt eine Art Erfahrung entspräche oder ob es platterdings, einer Chimäre gleich, unsinnig sei. Was es also hieße, eine Gegenwart, die nicht und nie vergeht, in einer vergehenden Gegenwart zu erspüren? Was es hieße, ein Phänomen als real, konkret, präsent zu erfassen und zugleich (etwas an ihm) als a-präsent, unvergänglich und unbestimmt? Was also sähe ich, wenn ich in der Zeit doppelt sehen könnte? Beispielsweise drei Bäume: „Ich sah die Bäume entschwinden, während sie verzweifelt die Arme ausstreckten, ganz als wollten sie sagen: was du heute von uns nicht erfährst, wirst du niemals erfahren. Wenn du uns am Wege wieder in das Nichts sinken lässt, aus dem wir uns bis zu dir haben heraufheben wollen, wird ein ganzer Teil deiner selbst, den wir dir bringen konnten, für immer verloren sein.“132 (Übers. geändert; M.M.) Die Botschaft, die Proust den drei Bäumen im Modus des Als ob zuschreibt (ganz als wollten sie sagen), unterscheidet sich von der bloßen Feststellung ihres allmählichen Verschwindens wie der sinnbildlichen Präparation ihrer unterstellten Botschaft. Während sie verzweifelt ihre Arme ausstreckten / en agitant leurs bras désespérés: die Substitution der Äste als Arme, das Ausstrecken oder Schwenken dieser Äste, durch das „verzweifelt“ emotional getönt, ergibt ein seltsames und seltsam banales Bild: das Bild dreier Bäume am Wegesrand, deren Äste im Wind wiegen. Was aber kindlicher Wahrnehmung noch stets gegenwärtig bleibt, was Goethe in einem einmal zu oft schon verballhornten Gedicht beschwört, realisiert der Erzähler bei Proust en passant: die Impression dreier Bäume, die Gestalt annehmen, agieren oder agitieren, die uns etwas zu bedeuten versuchen, das wir nicht verstehen. Als wären sie es, die uns betrachteten und nicht umgekehrt. Aber wer sagt, dass es sich nicht genau so verhält? Indem die Baumkronen sich wiegen, indem die Bäume ihre Äste in den Himmel strecken, winken 131 | Proust: À la Recherche du Temps perdu. Bd. 2. l.c. S. 273. 132 | Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. l.c. S. 946.
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sie, drohen sie, als wollten sie etwas sagen, ohne dass Proust, der Autor, der Erzähler, der Leser jemals erführen, was es denn sei. Was aber Proust hier skizziert, ist das Bild einer Wahrnehmung, die mehr wahrnimmt als wahrzunehmen ist. Worin es bestünde? Vielleicht in diesem Wiegen selbst, dem Winken, dem zeichenhaften Deuten eines Zeichens, das zeigt, ohne schon auf etwas zu zeigen; ein Deuten, das ins Leere, nein, ins Offene deutet und somit dieses Offene allererst erschließt, somit das Offene eröffnet. Die Bäume, anders gesagt, changieren zwischen Ding und Zeichen, zwischen sinnlicher Materialität und über-sinnlichem Sinn. Sowenig sie ihr Geheimnis preisgeben, sowenig verbergen sie, dass es ein Geheimnis gibt. Die Verzweiflung aber, die Proust ihnen andichtet, ist die eigene, die Verzweiflung desjenigen, der eine Sache, von der er annimmt, sie sei zu ergründen, nicht ergründen kann. Halten wir diesen Zustand, so unangenehm, so lastend er auch sein mag, für einen Moment fest: dieses Ahnen, diese Empfindlichkeit, diese Passibilität, die die scheinbar trivialen Dinge und Geschehnisse mit einer Art Spannung lädt, einer Art Kriechstrom, mit einem Minimum an Energie, die sie mit einem kaum merklichen Schimmer zu umgeben scheint, einem unsichtbaren Flirren, das sie deutungslos deutend aufglimmen lässt als wären sie stets mehr als nur Bäume am Wegesrand. Schon dem Kind in Erlkönigs Fängen macht die adulte Beschwichtigung, dass ein Baum ein Baum ein Baum sei, kein Ungetüm; dass sich kindliche Phantasie nurmehr einbilde, was sich bei Lichte besehen, vom Blickwinkel des Erwachsenen aus, in Wohlgefallen auflösen müsse, seine Gesichte nicht schwinden. Dass es sich bei derartigen Gespinsten um bloß subjektivistische Projektion handele, gehört zu den ersten und bestgesicherten Glaubenssätzen einer Weltsicht, an der zu zweifeln nur dem in den Sinn käme, der, wie es heißt, kindisch sei und nicht mehr ganz bei Sinnen. Ihr Gewinn zweifellos und er ist kein geringer! - läge in der Bindung von Angst; ihr Preis aber, den sie eintreibt, bestünde in der Verengung aufs traut Vertraute, das die Schablone vorgibt, mit der, was ist, eingeschätzt und verwertet wird. Doch nicht der Inhalt der sogenannten Projektion infantiler Phantasie wäre von Belang, sondern die schlichte Tatsache, dass es sie gibt, dass das Kind in dieser Wirklichkeit, an dieser Wirklichkeit etwas vernimmt, das auf Leben und Tod seiner lauert. Was dem Vater nur Wind, ist dem Kind ein Flüstern und Raunen, Verlockung und Drohung ineins: „‚Du liebes Kind, komm, geh mit mir! / Gar schöne Spiele spiel ich dir; / Manch bunte Blumen sind an dem Strand, / Meine Mutter hat manch gülden Gewand.‘ // Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, / Was Erlkönig mir leise verspricht? - / Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; / In dürren Blättern säuselt der Wind.“133 133 | Johann Wolfgang von Goethe: Erlkönig. In: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 2. Frankfurt/M. 1987. S. 107-108.
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Dass der angekündigte Kindstod das ungleiche Duell zwischen primärund sekundärprozesshafter Logik endlich entscheidet, macht aus Goethes Knittelvers die Annonce einer unvordenklichen Welt, die sich gelegenheitshalber auch Erwachsenen erschließt: die des Unheimlichen. Der Wind, der in Antonionis „Blow up“134 in dem Moment aufkommt, in dem Thomas, der Fotograph und Stalker der Lichtspur, den Park, den Schauplatz eines gewesenen oder kommenden, jedenfalls eines nie ganz gegenwärtigen Mordes betritt, wird zum eigentlichen Agenten des Films, zu dessen Subjekt, das alles weitere Geschehen in dieser Zone des Verbrechens diskret orchestriert. Sein Rauschen ist Rauschen und mehr als das. Die Mysterien meteorologischer Sensationen sind durch ihre Quantifizierung doch nicht aus der Welt. Noch im Donnerschlag, der das Nichts zum Erbeben bringt, zittert die Angst nach, die das Kind einst aufs fürchterlichste folterte. Das Sensorium hierfür aber lässt sich reizen. Noch Prousts Recherche war ja ein Exerzitium in Sachen Aufmerksamkeit, freischwebender Aufmerksamkeit für eine Wirklichkeit, die sich identifizierendem Zugriff stets entzieht. Ihre vermeintliche Extravaganz indes ist ein Gerücht. Regen, Wind, Bäume, noch dem schlichten Alltagsgegenstand eignet eine Mehrdimensionalität, die nur darauf zu warten scheint, freigesetzt zu werden. Hitchcocks Könnerschaft bestand nicht zuletzt darin, eine gewöhnliche Handbrause so ins Bild zu setzen, dass sie das Entsetzen, das die eigentliche Mordtat auslösen sollte, nicht nur vorwegnimmt. Sie trägt es ihr auch nach, potenziert es ins Unendliche. Seine Bilder leuchten nach, weil jeder Gegenstand, mit dem wir umgehen, unheimlich werden kann, unheimlich ist: denn das Verbrechen ist möglich. Die scheußliche Messerstecherei, die der berüchtigtsten Duschszene135 der Filmgeschichte auf dem Fuße folgt, einmal beiseitegelassen, die Vorstellungsinhalte, mit denen kindliche Einbildungskraft diffuse Empfindungen zu vergegenständlichen pflegt, einmal eingeklammert, bleibt die Diffusität selbst, die Empfindlichkeit für ein Unbestimmtes, das mehr ängstigt, unendlich mehr ängstigt als alles gestaltgewordene Grauen. Der „kleine Hans“136 hat’s doch vorgemacht, wie Angstmanagement funktioniert: noch der Schrecken vor dem schrecklichsten Ungetüm ist besser, lebbarer, als jene unfassbare Angst vor dem Unfassbaren, Dunklen. Es aber ist kein physisches, sondern metaphysisches Dunkel: noch die gleißende Helle hütet es. Kubricks „Shining“137 nahm das erstaunliche Wagnis in Kauf, dem Genre des Horrorfilms sein gleichsam natürliches Milieu zu entziehen: Dunkelheit. Seine Obsession war die über134 | Michelangelo Antonio: Blow up. Italien, Großbritannien 1966. 135 | Alfred Hitchcock: Psycho. USA 1960. 136 | Sigmund Freud: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (Der kleine Hans). In: Zwei Kinderneurosen. Studienausgabe Bd. 8. l.c. S. 9-123. 137 | Stanley Kubrick: Shining. Großbritannien 1980.
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wältigende Totalität einer Welt, die keinen Schatten kennt. Noch in „Full Metal Jacket“,138 noch in „Barry Lyndon“139 tobt das Licht als gleißendes Fluidum, als Medium ungehemmter Intensität, als Lichtzwang des Optisch-Okularen. Wie der Wind bei Antonioni, ist das Licht Kubricks, das, substanzlos, wie es ist, ein autonomer Akteur des Geschehens und nicht dessen nurmehr unsichtbare Bedingung. Das Licht tobt und entzieht sich jener Kontrolle, dessen Mittel es doch sein soll. Es illuminiert nicht die Szene: es ist die Szene. Als ginge es nicht um das Licht im Film, sondern um das Licht als Film.140 Was er uns, seinen privilegierten Opfern, zu sehen gibt, zu sehen zwingt, sind Dinge, Räume, Arrangements, die, noch bevor sie zum Schauplatz von Action und Interaktion werden, schon bersten vor Spannung, schon aufgeladen sind mit Ereignissen, Möglichem. Eyes Wide Shut:141 als hätte man uns, dem Betrachter, dem Zuschauer, dem Delinquenten die Augenlider fixiert, um das Auge einem Leuchten, Scheinen und Durchscheinen auszusetzen, dessen Horror in der Tat unerträglich wäre. Unerträglich und schließlich tödlich.142 Die ungeheuerliche Militanz des Lichts, das Kubrick entfesselt, verwundert und verwundet das Auge, das so endlich sehen muss, was es kaum je zu sehen bekommt: das Mögliche, die endlose Offenheit des Möglichen. Ist es das, was Proust an seinen Bäumen wahrnimmt? Ist es das, was er kaum erträgt, weil die Hängepartie zwischen Manifestation und Latenz unentschieden bleibt, weil das „Abstrakte“ sich seiner Konkretion verweigert? „Hier bleibt die Kommunikation unabgeschlossen, sie bleibt offen, bereitet ihm nur Enttäuschung und Angst, aber vielleicht ist gerade sie weniger trügerisch als irgendeine andere und kommt der eigentlichen Forderung der Kommunikation näher.“143 Welche das wäre? Die der Unabgeschlossenheit, der Offenheit selbst? Prousts Bäume jedenfalls quittieren ihren Dienst. Und nur weil sie ihn quittieren, initiieren sie eine Kommunikation, die sich dem Verstehen, der Aneignung, der Eindeutigkeit einer Wiedererkennung, die sie zum Träger unwillkürlicher Erinnerung geadelt hätte, versagt. Das ist die Kommunikation des Werks selbst und als Werk, als Roman, Buch. Anlass und Intention Prousts galten der wiedergefundenen Zeit, in der seine Suche zu ihrem Abschluss kommen sollte. Doch spielt sich ihr Drama allein kraft eines 138 | Kubrick: Full Metal Jacket. USA 1987. 139 | Kubrick: Barry Lyndon. Großbritannien 1975. 140 | Zu Tendenzen einer Autonomie des Lichts schon im klassischen Kino: Cf. Norbert M. Schmitz: An der Grenze zwischen den Medien – Das Licht im Film der klassischen Avantgarde. In: Lorenz Engell/Joseph Vogl/Bernhard Siegert (Hg.): Licht und Leitung. Weimar 2002. S. 157-167. 141 | Kubrick: Eyes Wide Shut. Großbritannien, USA 1999. 142 | Kubrick: Uhrwerk Orange. Großbritannien 1971. 143 | Blanchot: Der Gesang der Sirenen. l.c. S. 31.
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Möglichkeitssinns ab, der nicht nur in der unwillkürlichen Erinnerung den Zauber des Möglichen erfolgreich beschwört. Vielleicht kam ihm Proust tatsächlich nie näher als in jenem ausgezeichneten Moment, wo er drei Bäume wahrnimmt, die ihm die Offenbarung, die sie in Aussicht stellen, verweigern. Gewiss, unheimlich war sie nicht, die Begegnung mit ihnen, nur niederschmetternd. Doch die von unaussprechbaren Ahnungen schwangere Luft, die sie umgibt, zeichnen sie mit der nämlichen Latenz. Was er in der Zeit doppelt sieht, wäre genau das: ein präsentisch Wirkliches, das den Blick freigibt auf ein plusquampräsentisch Mögliches, das nicht im Begriff stünde, reduziert zu werden. Ein unmögliches Mögliches, der Horizont des Möglichen, des reinen Möglichen, das nie wirklich wird, war und ist. Die unwillkürliche Erinnerung repetiert ja nicht, vergessen wir das nicht, eine gewesene Gegenwart, sondern eine Vergangenheit, die nie Gegenwart gewesen ist. Sie und nur sie kehrt uns wieder und wieder und wieder… 7. Was also wiederkehrt und einzig wiederkehren kann in der Form einer primären Nachträglichkeit, einer Erstmaligkeit des Wiederholten, ist das, was nie verging, weil es nie wirklich war. Was aber nie wirklich war, nie wirklich ist und sein wird, ist das Mögliche, das, was einzig im Modus des Möglichen existiert und nur als das. Das Mögliche, das möglich bleibt. Das Mögliche, das seiner Möglichkeit zur Verwirklichung beraubt ist: das unmögliche Mögliche. Wenn jede Verwirklichung eine Entmöglichung darstellt, stellt jede Entmöglichung nurmehr eine Option dar, die ergriffen wurde vor dem Hintergrund all der liegengebliebenen, der brachliegenden Möglichkeiten, die nicht ergriffen wurden oder ergriffen werden konnten oder können. Aus welchen Gründen auch immer: sei’s wegen der handlungspraktischen Fixierung aufs immer Nächstliegende; sei’s wegen einer Hemmung, einer seelischen Blockade, die den Horizont des Möglichen als Möglichen allererst erschließt. Wenn, wie wir vorangegangenen Kapitel gesehen haben, die Langeweile, die melancholische Verstimmung, die psychische Deprivation allen Antrieb und Eifer in einer Tatenlosigkeit erstickt, die aus dem Silberblick des zu Tode Betrübten spricht, keimt in ihr zuallererst auch die Möglichkeit, für die Möglichkeit als solche, den background der vita activa empfindlich zu werden. Die Passibilität für die Möglichkeit ist jedoch dem aufgeputschten Angestellten so fremd wie dem seiner Seelenruhe ergebenen Stoiker. Das altabendländische Dual zwischen Aktivem und Passivem, zwischen Nutzer und Asket, zwischen dem, der auslangt und dem, der seine Hände faltet, findet keinen Zugang zu ihr, gar keinen Sinn. Die Welt betreten oder ihr entsagen geschieht doch stets unterm Banner, unterm Bann ein und derselben Vollmacht. Nicht dem Betrieb, nicht der Kontemplation und kontemplativer Ataraxie nämlich erschließt sich dieses niegekannte, stets vertraute Universum unmöglicher Möglichkeiten, sondern einem „Teemenschen“ vielleicht, dem weltzugewandten, der die Dinge achtet
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und gleichermaßen die Orte, die sie stiften, dessen immergleiche Zeremonie, der ritualhaft fixierte Ablauf, die gleichförmige Verrichtung ein und desselben ein ums andere Mal politisch ist; so eminent politisch jedenfalls, dass sie ihm schon mal das Leben kosten kann.144 Also bestünde Tarkowskijs heimliches Erbe in jenem diskreten Hinweis auf eine Art Ritual,145 dessen offensichtliche Sinnlosigkeit (das stete Gießen eines abgestorbenen Baumes; das kontrafaktische Nicht-für-wahr-Halten des Übels;146 das an jedem Tag zur selben Zeit vom selben Standort aus aufgenommene Photo einer Straße in Brooklyn147) passibel machte, aufmerksam machte für die Intervalle, Intensitäten, die Rhythmen, ja die Launen des Möglichen? Oder galt seine Loyalität zuletzt doch allein dem Verzweifelten, der auf der Schwelle zum Glück lauert? Was sich bewusster Erinnerung, bewusster Wahrnehmung, was sich dem Bewusstsein überhaupt, dem grammatischen, metaphysischen Nominativ entzieht, wäre jenes Naheliegende, das doch, einer altbekannten Dialektik von Nähe und Ferne gemäß, die Heidegger wie kaum einer sonst erkundete, in eine unendliche Ferne gerückt zu sein scheint. Wie ein Glanz, der die Dinge umgibt, ein Atemkreis, der alles umhüllt, ohne dass sie seiner inne wären. Was wir erkennen, erinnern, entwerfen, was wir wie auch immer realisieren, spielt sich auf dem Hintergrund einer geheimen, geheimnisvollen Choreographie des Unausdrücklichen ab, einer Latenz, die jeder Möglichkeit ihrer Manifestation beraubt ist und sein muss, weil sie jedwede Manifestation wie eine unsichtbare Kraft trägt und stabilisiert, weil sie, wie ein transzendentales Feld, dessen Bedingungsmöglichkeit darstellt, die zugleich Moment der Erfahrung ist, die sie ermöglicht. Wir neigen dazu, dieses nicht-, un- oder vorbewusste Hintergrundrauschen aller Wahrnehmung, allen Tuns und Lassens, diese unmögliche Möglichkeit148
144 | Yasushi Inoue: Der Tod des Teemeisters. Übers. v. Ursula Gräfe. Frankfurt/M. 2007. 145 | Andrej Tarkowskij: Opfer. Schweden, Frankreich 1985. 146 | Anders Thomas Jensen: Adams Äpfel. Dänemark 2005. 147 | Wayne Wang: Smoke. Deutschland, USA 1995. 148 | Wie nah oder wie fern wir mit diesem Motiv nicht nur dem Denken Agambens (s. Kpt. 4, Zeit-Bild 2: Subjekt, Fußnote 96), sondern auch der Dekonstruktion Derridas kommen, bliebe zu bedenken. Jedenfalls umschreibt er einmal als deren wesentliche Aufgabe das „Denken des unmöglichen Möglichen, des Möglichen als des Unmöglichen, ein Denken des Unmöglich-Möglichen, das sich durch die metaphysische Interpretation der Möglichkeit oder der Virtualität nicht länger fassen lässt.“ Derrida: Die unbedingte Universität. Übers. v. Stefan Lorenzer. Frankfurt/M. 2001. S. 73f. Dazu: Ders. Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Übers. v. Susanne Lüdemann. Berlin 2003. Dazu: Christoph Menke: Kraft. Ein Grund-
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- die von der möglichen Unmöglichkeit utopischer Prospektiven149 ebenso weit entfernt ist wie von der wirklichen Möglichkeit einer sich im Nahbereich unserer Handlungen aufdrängenden Option150 - mit dem Begriff der Possibilität zu kennzeichnen. Sie wäre das Nichtkonkrete, Unbestimmte, das Unvergängliche schlechthin oder das vielleicht, was die Tradition auch als „Apeiron“ auswies. Oder als „Sein“ selbst: Sein ohne alle Bestimmung. Seine Infinition aber stünde dem romantischen Motiv des „Uferlosen“ womöglich sehr viel näher als dem Hegelschen Konstrukt eines unvordenklichen ontologischen Urknalls, dem das bestimmungslose Sein, das Sein ohne ein Gran Negativität, buchstäblich in Nullzeit sich in Nichts auflöst, um so den Schauplatz zu bereiten für das „Werden“,151 mithin für die allmähliche Verfertigung des Seins im Vollzug eines Prozesses, der das Prinzip seiner Prozessualität allererst hervorgebracht haben wird. Adornos legendäres Diktum, mit dem er die „Negative Dialektik“ eröffnete: „Kein Sein ohne Seiendes“,152 erweist ja Freund Hegel verhalten nur die Reverenz, um sie gegen Heidegger, den Feind, desto entschiedener in Stellung bringen zu können. Aber hätte der damit überhaupt ein Problem? Ist seine Rede vom „Sein ohne Seiendes“, vom „Sein selbst“ nicht schlüssig erst im Angesicht der Dinge, im Ausgang der Dinge?153 Von Seiendem mithin, das vom metaphysischen Regime einer Identitätslogik befreit werden muss, um Ding, dieses eine da, sein zu können? Regiert also die Axiomatik der ontisch-ontologischen Differenz insgeheim noch die Differenz zwischen Aktualität und Virtualität im Sinne Deleuzes? Mag sein, dass diese Frage zu weit führt. Mag sein, dass sie schlechterdings nicht zu beantworten ist. Die Diskonjunktion zwischen der Heideggerschen und Deleuzeschen Topologie lässt eine Zone entstehen, Zone des „zwischen…“, des „…und…“, deren kategoriale Verwerfungen kaum mehr angemessen zu beschreiben, geschweige denn zu beherrschen sind. Doch wenn Deleuze den unbestimmten Artikel mehr als einmal hofiert, wenn er die Konkretion dieses Lebens überschreitet in Richtung der Infinität dieses einen Lebens, wenn sich begriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt/M. 2008. Kpt. V. Ästhetik. Der Streit der Philosophie. S. 89-106. Bes. S. 105f. 149 | Cf. Rainer Marten: Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion. Freiburg i.Br., München 2005. 150 | Cf. Jan Verwoert: Mehr als nur MÖGLICH. Über die Umwidmung von Ausstellungsräumen in unbestimmte Möglichkeitsräume mittels bestimmter reduzierter Gesten. In: Angela Lammert u.a. (Hg.): Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Nürnberg 2004. S. 90-98. 151 | Cf. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Hg. v. Georg Lasson. Erster Teil. Hamburg 1975. S. 66f. 152 | Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt/M. 1980. S. 139. 153 | Cf. Ute Guzzoni: Was wird aus dem Seienden? In: Heideggeriana 25 (1986).
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ihm die Virtualität des Unbestimmten und Unbestimmbaren aktualisiert visà-vis einer Aktualität des Bestimmten und Bestimmbaren, die sich ihrerseits virtualisiert, wenn ihm dieses ganze Szenario gegenwendischer Fügungen zwischen der Unbestimmtheit des Seinkönnens und der Bestimmtheit präsenter Seiendheit zum Fluchtpunkt gerät einer Philosophie der Immanenz, sprich der Singularität, wird er nicht umhinkommen (und hat er das je gewollt?), die uralte Frage der Metaphysik, die nach dem Sein selbst, abermals zu stellen: und sei’s im Geheimcode einer Terminologie, der man ihr Erbe nicht mehr ansehen mag; und sei’s in einem Stil, einem Gestus, der auf eine eigene, eigenwillige und sehr kluge Weise mit eben diesem Erbe bricht. Und vielleicht realisiert sich dieser Bruch nirgendwo klarer, rigoroser, kühner als im Kino des Zeit-Bildes. Dass es das Sein der Zeit und als Zeit unterm Deckmantel filmtheoretischer Reflexionen entfaltet, macht es zum schlechtbeleumundeten Wahlverwandten eines Denkens, das die Zeit als transzendentalen Horizont des Sinns von Sein154 zu thematisieren begann, um endlich der Zeit selbst den Vorrang zu gewähren. Was nämlich, wenn das Sein der transzendentale Horizont des Sinns von Zeit wäre? Wenn die Rede vom Sein peu-à-peu im Begriff des Augenblicks, endlich des Ereignisses unterginge?155 Wenn schon der späte Titel „Zeit und Sein“156 von einer „Kehre“ kündete, die zur Umkehr, dem ethischen Ernstfall schlechthin, nicht mehr nur aufriefe? Vollzieht nicht auch Deleuze wie Heidegger seine Kehre in das, was auch Deleuze noch Immanenz nennen könnte? Liest dessen Zwei-Stämme-Lehre der Zeit nicht ihrerseits das „Sein selbst“ in einem zeitwörtlichen Sinne aus: als Zeitigung der Zeit selbst? Und stritte sie nicht minder rigoros, nicht minder ingeniös um eine andere, eine ein kleinwenig andere Sicht der Dinge? Darum geht es. Daran, so unscheinbar sie sich geben mag, entscheidet sich das Schicksal und die Zukunft der Philosophie, der Metaphysik, des Denkens. Sollten wir also nicht alle lernen, die Dinge in der Zeit doppelt zu sehen? Unbenommen der stets schwierigen, zuweilen undurchsichtigen, zuweilen obskuren Programmatik der Deleuzeschen Zeit-Bilder – erstens, das in der Vergangenheit, zweitens, das in der Gegenwart gründende, schließlich drittens das der Serialität,157 die bekanntlich allesamt eint, Zeit nicht mehr nur indirekt als Repräsentant der Bewegung, sondern direkt als Zeit selbst zu reali154 | Cf. Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 151979. 155 | Medard Boss, Mitveranstalter und Herausgeber der Zollikoner Seminare Heideggers, berichtet dort von einem stereotypen Angsttraum Heideggers, der erst aufhörte, als er, Heidegger, „im wachen Denken Sein im Lichte des Ereignisses zu erfahren vermochte“. Heidegger: Zollikoner Seminare. Protokolle - Gespräche - Briefe. Hg. v. Medard Boss. Frankfurt/M. 1987. S. 308. 156 | Heidegger: Zeit und Sein. In: Zur Sache des Denkens. Tübingen 1976. S. 25. 157 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 203f.
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sieren, die die sensomotorischen Konventionen in Richtung optischer und akustischer Arrangements überschreiten -, scheint es doch eine Art früher Prototyp des Zeit-Bildes zu sein, bei dem Prousts vielzitierte Vorlage „ein wenig Zeit im reinen Zustand“ kinematographisch am ergiebigsten verwertet wird: der des Kristallbildes. Deleuze führt es im dritten Kapitel von Kino 2 ein, u.a. mit folgenden Worten: „Das Kristallbild wird durch die grundlegendste Operation der Zeit konstituiert: da sich die Vergangenheit nicht nach der Gegenwart, die sie gewesen ist, bildet, sondern gleichzeitig mit ihr, muss sich die Zeit in jedem Augenblick in Gegenwart und Vergangenheit aufteilen, die naturgemäß voneinander differieren, oder, was auf das gleiche hinausläuft, sie muss die Gegenwart in zwei heterogene Richtungen teilen, wobei die eine auf die Zukunft hinstrebt und die andere in die Vergangenheit fällt [dont l’une s’élance vers l’avenir et l’autre tombe dans le passé]. Es ist erforderlich, dass sich die Zeit aufspaltet, während sie sich gleichzeitig gibt oder stattfindet: sie spaltet sich in zwei dissymmetrische Strahlen auf, von denen der eine die gesamte Gegenwart vorübergehen lässt und der andere die ganze Vergangenheit bewahrt. Die Zeit besteht aus dieser Spaltung, wobei sie es ist, die man im Kristall sieht. Das Kristallbild war nicht die Zeit, doch man sieht sie im Kristall.“158 (Übers. geändert; M.M.) Was aber sähe man im Kristall, wenn nicht das Double virtuell - aktuell, jenes temporale Doppel, das die Zeit selbst sei, die Spaltung selbst? In der Zeit doppelt zu sehen, wie Proust spekulierte und Deleuze noch rund zwanzig Jahre vor seinem Experiment mit dem Kino allein einer psychotischen Störung zuzubilligen schien, wäre das Privileg einer besonderen Form des kinematographischen Bildes, das im Bruch mit der Logik von Aktion und Reaktion den der Zeit selbst darstellte. Und zwar unmittelbar: ein wenig Zeit im reinen Zustand wäre also das Bild einer Zeit, die, während sie vergeht, zugleich ihre gleichzeitige Unvergänglichkeit zeigte. Wäre das Bild einer Zeit, die in einem verläuft und steht. Wäre das Bild einer Zeit und als Zeit, die sich durch zwei prinzipiell verschiedene, aufeinander nicht rückführbare Qualitäten charakterisiert. Dass Deleuze aber Virtualität exklusiv mit dem Begriff der Vergangenheit, obschon einer mit dem ausgezeichneten Merkmal absoluter Apräsenz, engführt, will uns immer weniger einleuchten. Es gibt ein Virtuelles der Vergangenheit und eine virtuelle Vergangenheit, gewiss, aber eine Virtualität als Vergangenheit? Wenn wir also mit dem Gedanken spielen, den Begriff der Possibilität einzuführen, dann zuallererst, um die von Deleuze behauptete Gleichsetzung von Virtualität und Vergangenheit aufzuweichen: Virtualität ist Möglichkeit, unmögliche Möglichkeit, Possibilität: ein Möglichkeitsfeld, das die vorübergehende Gegenwart und die gewesene Gegenwart gleichermaßen überlädt, um sie einer Zukunft zu öffnen, die keine kommende Gegenwart ist, 158 | Ebd. S. 112. Ori: Deleuze: Cinéma 2. L’Image-Temps. Paris 1985. S. 108f.
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sondern die Zukunft als Zukommen all der diese und jene Gegenwart, jede Gegenwart unendlich überschreitenden Möglichkeiten. Prousts mnemotechnisches Debakel mit seinen drei Bäumen verzerrte so nur zur Kenntlichkeit, was jede Augenblickserfahrung in ihrem Wesen auszeichnet: dass sie in diesem Augenblick sich nicht erschöpft, dass der Augenblick nur ist, um einen kommenden Augenblick zu versprechen, der für einen Augenblick, was in der Zeit verloren schien, aus der Zeit schöpft. Was hier also keineswegs in Frage stünde, wäre der Vorrang der Wirklichkeit vor der Möglichkeit: dass das Wirkliche das Mögliche schaffe und nicht umgekehrt (Erbe Bergsons).159 Was hier keineswegs in Frage stünde, wäre das Motiv der Inkompossibilität: die Unvereinbarkeit, die Unverträglichkeit, die Überdetermination all der sich aus dieser einen Wirklichkeit rekrutierenden Möglichkeiten (Erbe Leibniz‘).160 Was hier aber in Frage steht, ist ein chronologisch verengter Tunnelblick auf Zukunft: dass sie nurmehr den Fluchtpunkt vergehender Gegenwart darstellt, die Verlängerung ihres Vergehens, kommende Gegenwart.161 Vielleicht also hätte die „grundlegendste Operation der Zeit“ folgende Gestalt: was sich zugleich in der Zeit und als Zeit bildet wären eine gegenwärtige Wirklichkeit, die vergeht, und eine gegenwärtige Möglichkeit, die nicht vergeht. Gewiss, sie, die Zeit, spaltet sich in zwei dissymmetrische Strahlen: doch nicht in vergehende Gegenwart und beharrende Vergangenheit, sondern in vergehende Wirklichkeit und statische Möglichkeit, in chronologische und achronologische Zeit. Wenn die Zeit aus dieser Spaltung besteht, wenn sie es ist, die man im Kristall sieht, dann sieht man im Kristall, im Kino des ZeitBildes genau das: das Durchsichtigwerden allen Geschehens, der Dinge, der 159 | Cf. Bergson: Das Mögliche und das Wirkliche. In: Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Übers. v. Leonore Kottje. Hamburg 1993. S. 110-125. Dazu: Deleuze: Henri Bergson zur Einführung. Übers. v. Martin Weinmann. Hamburg 32001. S. 119-128. Auch: Differenz und Wiederholung l.c. S. 267-271. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass Giorgio Agamben, ausgehend vom Begriff des Erfordernisses, eine ähnliche Umkehrung des Verhältnisses von Möglichkeit und Wirklichkeit andeutet: Agamben: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. Übers. v. Davide Giuriato. Frankfurt/M. 2006. S. 50f. 160 | Cf. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Dritter Teil. Übers. v. Herbert Herring. In: Philosophische Schriften. Bd. 2.2, §§ 414-416. Frankfurt/M. 1996. S. 261-269. Dazu: Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 173f. Auch: Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock. Übers. v. Ulrich Johannes Schneider. Kpt. 5, Inkompossibilität, Individualität, Freiheit. Frankfurt/M. 1995. S. 99-125. Dazu: Ingo Zechner: Deleuze - Der Gesang des Werdens. München 2003. S. 100ff. 161 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 119 u.a.
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Orte, der agierenden Figuren auf ein Möglichsein, das immer ist, die Luzidität des konkret Gegebenen, Bestimmten auf ein Unbestimmtsein, das nicht wird und nicht vergeht. Ozus Takes, denen Deleuze ein eigenes Subkapitel widmet, zeigen es nicht minder wie jene berühmte Einstellung William Wylers, der den Faustkampf zwischen James McKay, dem Städter und Gentleman, und Steve Leech, dem ungehobelten Burschen vom Lande, nicht in der dafür prädestinierten Halbtotale, sondern in der Totale filmte, um der unermesslichen Prärie, die die Prügelei einfach verschluckt, den Raum, ihren Raum unmenschlicher Unbestimmtheit zu geben.162 Als sähe man in Schuhen, lächerlich genug, seien’s Bauernschuhe, seien’s die Schuhe eines Städters, seien’s Schuhe von diesem da oder von der da, all die Menschen, die sie tragen könnten, all die möglichen Wege, das Tun, das Leben, das Sterben, all die Geschichten, die mit ihnen zu tun haben könnten. Sie sind unendlich viele und zugleich doch möglich nur im Ausgang dieser Wirklichkeit, dieser Schuhe, des wirklichen Dings, das immer zugleich auch ein Ding ist: ein Paar Bauernschuhe… Dass dieses Möglichsein „wirklicht“, ohne sich zu verwirklichen, dass diese Wirklichkeit „möglicht“, ohne unwirklich zu werden, umreißt den Horizont einer Unabgeltbarkeit, die vielleicht nur ein anderer Name für Zukunft ist: achronologische Zukunft. Wenn man das Mögliche sieht, das nicht wirklich ist, das aber dadurch wirklich wird, ohne wirklich zu sein, ohne zu vergehen; wenn man das Wirkliche sieht, das nicht möglich ist, das sich aber dadurch mit Möglichkeit lädt, ohne möglich zu sein, ohne zu bleiben, wird sich der Blick, den wir auf die Dinge richten, in der Tat um ein kleinwenig verrücken. Wir sehen sie anders, anderes. Wir sehen nicht nur, was diese Dinge sind, aktuell, wir sehen auch, was sie nicht sind, virtuell. Wir sehen mehr. Wir sehen doppelt und doch eins nur, dieses eine Ding, die Hand, den Stein, diese Person, die mehr sind als diese, dieses oder dieser. Eine Unbestimmtheitsrelation überschreitet die Demonstrativität der Identifikation, der Zuordnung und Lokalisation. Und sie tut es und kann es nur tun, wenn dem, der sie wahrnimmt, der für sie aufmerksam, passibel wird, und sei’s für einen Moment, und sei’s für die Dauer einer Ewigkeit, die Selbstgegenwärtigkeit seines Vermögens, sich selbst gegenwärtig zu sein, aussetzt. Vielleicht durch einen Unfall, einen Schock, einen Schlag oder einfach nur, weil ihm nichts mehr zu tun bleibt, weil er vor sich hinstiert in jenen gottlob unbeobachteten Momenten, wo er alles sieht, ohne etwas zu sehen. Alles ist ihm ja so gleichgültig. Unter den vielen Mängeln psychologischer Forschung rangiert obenauf auch der bislang noch nicht bemerkte Umstand, dass es einer Anstrengung bedarf, sich „zusammenzureißen“, dass erst ein Willensakt diese Momente des Vorsichhinstarrens, der Absenzen, beendet. Also gibt es auch eine unwillkürliche Wahrnehmung. Wo aber der Akteur endlich wieder wahrzunehmen weiß, wo er dieses bestimmt Wahrnehmbare erkennt, 162 | William Wyler: Weites Land. USA 1958.
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sieht einer, einer nur, anderes. „Nacht und Träume“:163 als ob für den, der eine Hand sieht, die den Trostlosen tröstet in der Nacht, das schon der Trost ist, den er sieht. Der Traum, der Trost… 8. Die Koexistenz zwischen Virtuellem und Aktuellem, zwischen dem, was vergeht und dem, was beharrt, zwischen expansivem und kontraktivem Prinzip, zwischen dem, was konkret gegeben ist und dem, was unbestimmt vorherrscht, zwischen dem, was wirklich und dem, was möglich scheint, wird so endlich lesbar als Diskonjunktion zwischen Possibilität und Präsenz. Was wir Wirklichkeit nennen möchten, die einmal nicht mit dem Begriff der Präsenz zur Deckung käme, wäre immer mehr als Präsenz, mehr als die Gegebenheit des Faktischen, bestünde aus einer „Zusammengehörigkeit“ beider Bestandteile, die jedes ihrer Elemente nuanciert und im Bezug auf ihr Oppositum verfremdet. Als das, was nicht vergeht, verging, vergehen wird, beschreibt das Virtuelle als Vergangenheit so nur eine Variante des Possiblen. Das aber ist die Vergangenheit des Möglichen selbst, eine vergangene Zukunft. Denn eine Vergangenheit, die nie Gegenwart gewesen ist, was sollte sie anderes sein können als Zukunft selbst: keine kommende Gegenwart, sondern das Sein einer Zukunft an sich? Eine „vergangene Zukunft“, die also nicht das Gesamt dessen umreißt, was durch lebens- oder zeitgeschichtliche Umstände zufällig nicht realisiert wurde,164 sondern was strukturell nicht ergriffen werden kann, weil es nie wurde und weil es nie verging. Eine solche Zukunft bleibt immer zukünftig, wird nie Gegenwart, bleibt, ist unvergänglich. Und tatsächlich rühren wir hier an den Punkt, wo Zukunft zum Alter Ego der Ewigkeit wird, zu ihrem temporalen Zwilling. Tatsächlich rühren wir hier an den Punkt, wo Ewigkeit im Gewand der Zukunft Gestalt annimmt: dass Ewigkeit, das Andere der Zeit, ein Ingredienz der Zeit selbst wird, einer anderen Zeit. Womit endlich das Ende eines langwährenden Verhängnisses besiegelt wäre? Dass wir an Zeit nicht mehr kranken? Vielleicht wäre das des Guten zuviel; ein Trug aus dem schier unerschöpflichen Reservoir metaphysischer, metachronischer Illusionen. Dass wir nicht nur in der Zeit, sondern durch sie glücklich sein können, besagt doch keineswegs, dass sie ihren Schrecken, ihre Macht, ihre elende Trostlosigkeit, die einem schon im nächsten Moment entgegenschlagen kann, eingebüßt hätte. Die schreckliche Eleganz, mit der der zweite thermodynamische Hauptsatz das Ungleichgewicht zwischen instantaner Ordnung und der sich allmählich verfertigenden Unordnung universel163 | Beckett: Nacht und Träume. In: Quadrat. Stücke für das Fernsehen. Mit einem Essay von Gilles Deleuze. Übers. v. Erika u. Elmar Tophoven. Frankfurt/m. 1996. S. 4347. 164 | Cf. Reinhard Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Strukturen. Frankfurt/M. 1979.
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ler Indifferenz sanktionierte, gerät zum lebensgeschichtlichen Menetekel. Die schlechthinnige Unvorstellbarkeit der kosmischen Fernperspektive war doch immer nur ein schwaches Palliativ. Am Ende wäre Kälte, nur Kälte, der Verlauf sei unumkehrbar. Entropie und die Irreversibilität der Zeit machen noch der bestgestimmten Frohnatur den Garaus. Ihre Spielereien, all die leuchtenden Knöpfe vor leuchtenden Augen, werden doch irgendwann fade, die Spiegelfechtereien öde. Die technisch generierte Reversibilität der Zeit verblüfft wohl und bringt die Gemüter in Wallung. Doch die Verheißung, die sie transportiert, dass die Zeit zuhanden sei, ist nur von sehr begrenztem Haltbarkeitswert. Wenn es soweit ist, lüftet selbst der Schnappschuss, wie unbeschwert auch immer es „damals“ zugegangen sein mag, sein medienpraktisches, sein bitteres Geheimnis: dass ich lebe zum Tode verurteilt. „Sie ist tot/Sie wird sterben“: unter dem Paradox dieser Wahrheit bricht Paul Benjamin zusammen, als er auf den Photoserien Auggie Wrens seine zufällig aufgenommene Frau wiedererkennt, die nur wenige Zeit nach dieser Aufnahme bei einem Überfall erschossen werden wird.165 Die Tränen, die seinen Blick trüben, aber offenbaren das Wesen der Photographie, ja das Wesen all unserer Relikte. „Ich bin tot/Ich werde sterben“: als wären jede Photographie, jedes Bild, jeder Rest und endlich mein Name selbst, dieser Vor- und Zuname, dieser Staub und diese Asche nichts als nur die allmählich verwitternden Lesezeichen eines Testaments.166 Als ob die Taufe, diese heilige Feier der Geburt, immer nur, immer schon das Unheil des Todes siegelte: „Gebären rittlings über dem Grabe und eine schwere Geburt. Aus der Tiefe der Grube legt der Totengräber träumerisch die Zangen an.“167 Roland Barthes „Punctum der Zeit“168 zielte auf nichts anderes. Ihr existenzieller Nihilismus macht noch alle Versuche, diese Schmach und Schande, diese absolute Niederlage diskret zu retuschieren, zunichte. Die Verräumlichung der Zeit, die Verschränkung von Aktualität und Virtualität, die Dopplung von Präsenz und Possibilität, die sich in diesem einen Augenblick nicht, die sich in keinem Augenblick erschöpft, wäre also zu haben allein um den Preis der Billigung ihres destruktiven Charakters? Nur dann wäre Chronotopie, die Weitung des Zeitpunkts zum Zeit-Raum, der das seriell Diskriminierte synchronisiert, zugleich eine Utopie, die die Verschränkung wesentlich als offene, als Zukunft des Augenblicks selbst realisiert. Und wenn diese Zu-Kunft des Augenblicks, seine Erfüllung und sein Kommen, als Ewig165 | Wayne Wang: Smoke. Deutschland, USA 1995. 166 | Cf. Derrida: No Apocalypse, not now (full speed ahead, seven missiles, seven missives). In: Apokalypse l.c. S. 129-132. 167 | Beckett: Warten auf Godot. In: Dramatische Dichtungen in drei Sprachen. Dt. Übers. v. Elmar Tophoven. Frankfurt/M. 1981. S. 197. 168 | Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Übers. v. Dietrich Leube. Frankfurt/M. 1985. S. 105ff.
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keit sui generis erschiene, so doch als genuin zeitliche, als eine der Zeit selbst. Benjamins „verschränkte Ewigkeit“ ist eine schwache, eine messianische: noch im Augenblick der Erfüllung warten wir auf die Erfüllung: Erlösung und Parusie sind eins. Als würde die Gier nach Leben, diese Ursünde alles Lebendigen, durch das Leben nicht gestillt, sondern verstärkt. Wie ein Durst, der brennender wird, je mehr man trinkt… Am Nihilismus der Zeit jedenfalls gäb’s nichts zu deuteln. Dass das Nichts nichts vernichte, sondern nur der Tod alles auslöschen könne,169 ist nicht nur dem Meister Gedicht und unmittelbare Wahrheit. Auch dem Schüler: „Die Zeit verschlingt alles, spült alles spurlos davon. Sie ist furchterregend, gnadenlos. Nicht lange und auch ich, Honkakubo, werde, ohne eine Spur zu hinterlassen, vom Fluss der Zeit hinweggeschwemmt werden.“170 Machen wir uns also nichts vor: „Welche Meinung auch immer wir über den Tod haben mögen, wir können uns darauf verlassen, dass sie bedeutungslos und wertlos ist. Der Tod hat nicht von uns verlangt, ihm einen Tag frei zu halten. Die Werbetechnik ist durch eine ähnliche Überlegung revolutioniert worden. So werde ich ermuntert, Shepherds Abführmittel nicht bloß auszuprobieren, sondern es um sieben Uhr auszuprobieren.“171 Hat Krapp, der passionierte Bananenfresser, je Shepherds Abführmittel um sieben Uhr ausprobiert? Becketts jäher Satz vom Tod zur Werbetechnik ist schließlich kein Gag, sondern enthüllt die tiefe, banale Wahrheit einer planetaren Episode, die vom Bürger auf den Nutzer umgestellt hat:172 dass in den Gütern, die ihm feilgeboten werden, das unausgesprochene Versprechen der Terminierung nistet. Es ist das des Konsums. Das Spiel, das hier gespielt wird, ist kein Schachspiel umwillen der Frist, die man Leben nennt.173 Es ist eines auf Zeit, doch mit verdeckten Karten und einem Einsatz, der beileibe nichts kostet außer Geld, der großen Unbekannten des Kapitals. Gewohnheit nämlich hieße die primäre Abwehrfunktion wider Zeit und ihren eingeborenen Terror. Sie ist von erstaunlichem Leistungsvermögen. Denn unerträglich mutet nur an, was sich der Routine in Ablauf und Habitus, endlich in der Art und Weise, wie wir, was sich zuträgt, einzulösen geneigt sind, versagt. Und selbst diesem Versagen, einer solchen ausgemachten Renitenz gegenüber stülpen sich Hohlformen eingeübten Gebrauchs rasch wie Amöben über ihre als Nahrungspartikel identifizierte Beute. Konsum, das Exekutivorgan der Gewohnheit, flüstert 169 | Inoue: Der Tod des Teemeisters. l.c. S. 162 u.a. 170 | Ebd. S. 145. 171 | Beckett: Proust. l.c. S. 14. 172 | Cf. Panajotis Kondylis: Das Politische und der Mensch. Grundzüge einer Sozialontologie. Bd. I: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität. Falk Horst (Hg.) Berlin 1999. 173 | Ingmar Bergman: Das siebente Siegel. Schweden 1957.
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die Formel, das Anti-Mutabor, das jeglichen Wandel im Prozess entspannten Verbrauchs mit den Mustern des Längstvertrauten abgleicht. Im „rasenden Stillstand“174 konsumtiver Produktion erstarrt die Zeit, verwischt die allesentscheidende Demarkation zwischen dem Neuen und innovativem Austausch. Selbst das Wunder wäre ein „Event“. Dass ein Wunder in eine Konsumgesellschaft einbricht - die Geburt eines Kindes, das Verlöschen einer Sonne, der Kontakt mit irgendwelchen Aliens from outer space - brächte sie keineswegs, mutmaßt Stanislaw Lem in einer bemerkenswert hellsichtigen Note, aus der Fassung. Denn sie sei nicht, wie man gelegentlich meine, eine „Gesellschaft, die jene Produkte, die für den Konsum am attraktivsten sind, lediglich rascher herstellt als andere; es ist eine Gesellschaft, die alles, was sich in ihrem Bereich befindet, also nicht nur Autos, Kühlschränke und Parfüms, sondern auch das Geschlecht, das Blut und das Töten zum Gegenstand konsumtiven Genusses zu machen bemüht ist, eine Gesellschaft, die sich jedes Objekt geschmäcklerisch zurechtstutzt.“175 Das Geschlecht, das Blut und das Töten: Lems mit Bedacht gesetzte Trias kennzeichnet die äußersten Pole einer Konsumgesellschaft, die nicht nur die Ressourcen, die sie nähren, plündert. Wenn nichts mehr zu machen ist, macht sie eben den Tod. Er wird zum Termin. Er wird zur Machenschaft.176 So, als wäre der Totmacher,177 der Amokläufer,178 der Massenmörder, diese Archetypen der jüngeren Kriminalistik, nicht nur ein Störfall am Rande des gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmungsfeldes, sondern dessen Bedingungsmöglichkeit, sein transzendentales Emblem. Noch die „Aktive Sterbehilfe“, diese Prozessroutine entschlossener Barmherzigkeit, wird zum Euphemismus einer Euthanasie, ihrem Neusprech,179 der den wesentlichen Charakterzug einer Bio-Politik denunzierte, die immer auch Thanato-Politik war: administrative Belagerung der Nackten und der Toten. Der Staat, der objektive Geist, aber findet im Konsumenten sein subjektives Korrelat. Gewiss, die heroische Existenz ist ihm ganz fremd geworden, deren Beinkleider schmücken ihn nur in verschämten Phantasien. Dass sie lächerlich sein könnten, schreckt ihn denn doch. Aber wenn der transatlantische Kleinbürger, nachdem er als unsterbli174 | Cf. Paul Virilio: Rasender Stillstand. Übers. v. Bernd Wilczek. München, Wien 1992. 175 | Stanislaw Lem: Nachwort. Übers. v. Friedrich Giese. In: Arkadi & Boris Strugatzki: Picknick am Wegesrand. Übers. v. Aljonna Möckel. Frankfurt/M. 1981. S. 200. 176 | Cf. Heidegger: Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis). Gesamtausgabe Bd. 65. Frankfurt/M. 1989. II. Der Anklang, S. 107-166. 177 | Romuald Karmakar: Der Totmacher. Deutschland 1995. 178 | Stefan Zweig: Amok. Frankfurt/M. 1950. Rainer Werner Fassbinder, Michael Fengler: Warum läuft Herr R. Amok? Deutschland 1970. 179 | George Orwell: 1984. Frankfurt/M. 1984.
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cher Krieger durch die Chroniken scharmützelte, sich als endlich sterbliches Telos der Geschichte entpuppt,180 überdauert in ihm ein Erbe, das stets virulent bleibt. Und wenn er zuletzt ans Leben selbst geht, um sich am Leben zu erhalten, wenn ihm die „Kindlein“, über deren Kommen er zu frohlocken vorgibt, wenn ihm die Toten, deren Weggang er zu beklagen meint, zum Material werden, zum Bestand der Daseinssicherung, enthüllt sich eine Ranküne, ja eine Niedertracht, die noch dem Helden selbst nicht ziemte. Die Deeskalation aber, die dem global consumer gut zu Gesicht stehe, da er zum Präventivschlag gar nicht mehr fähig sei, verdeckt so nur einen Extremismus, der dem der Extremisten durchaus in nichts nachsteht. Der Konsument wäre also keineswegs, wie man uns glauben machen will, die Antwort auf den Bellizismus der herkulischen Existenz, sondern dessen leiser werdendes Echo, sein Diminutiv. Mag er der herrischen Tat nicht mehr mächtig sein, mag er sich an seinesgleichen reiben und stoßen, so dass ihm in all dieser Enge, in all diesen dichten Sphären gar keine Chance mehr bleibt zur weitausholenden Gebärde, zum Schlag, zum aggressiven Akt, so bleibt sein Tun und Trachten doch gebunden an die ihm schmerzliche Empfindung eines zunehmenden Schwunds seiner Optionen, die im Ideal des sensomotorischen Unilateralismus ihr Schnittmuster haben. In einer Souveränität, die dank nuklearer Proliferation ihrer Toterklärung trotzt, findet er, der Konsument, sein gouvernamentales Äquivalent. Wurde die Werbetechnik nicht revolutioniert durch die Erfindung, dass sie ihr Produkt mit dem Affekt der Unverwundbarkeit assoziierte? Nicht zu konsumieren, wenn man könnte, trägt denn auch alle Merkmale des kalten Entzugs. Im Cold Turkey erscheint die Ware, die verhexte, als Sedativ. Dass man mehr sein könne als ein Konsument, dieses Pantoffeltierchen liebgewordener Gewohnheiten, aber ist ein Ehrenwort, das nicht nur in der längst befremdlich anmutenden Chiffre des Citoyens überwintert. Was Kunst, wenn es sie gibt, dem Rezipienten zumutet, geht so unversehens über alles Maß hinaus. Sie ist längst kein Skandal mehr, war es in ihrem Wesen wohl nie, sondern ein Ernstfall auf Leben und Tod. Was auf dem Spiel steht, wenn der Vorhang sich hebt, spürt, wer im Fieberglanz der Entwöhnung einer Erwartung entgegenzittert, von der er nie und nimmer zu sagen wüsste, was zu erwarten sei. Wer schon wartet auf Godot? Becketts Ungestüm, mit dem er an seinem Theater arbeitete, nährte sich ja aus dem Wissen, dass die Gewohnheit um’s Leben betrügt, das sie justiert. Einmal zumindest gab er das ungeschminkt zu Protokoll. Wir hören zu. Beckett spricht hier über Proust, über jenen von ihm ausgiebig dargestellten Zwischenzustand, der entstehe, wenn eine Gewohnheit, etwa eine gewohnte Umgebung, aufgegeben werden musste, ohne dass schon eine neue an deren Stelle getreten sei. „Zwischen diesem Tod [der alten 180 | Russell Mulcahy: Highlander. USA 1986.
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Gewohnheit; M.M.] und jener Geburt [der neuen Gewohnheit; M.M.] ist die Realität unerträglich, sie wird fieberhaft absorbiert durch sein Bewusstsein [das Marcels; M.M.] an der äußersten Grenze der Intensität, durch sein totales Bewusstsein, organisiert, das Unheil abzuwenden, die neue Gewohnheit zu schaffen, die dem Mysterium seinen Schrecken nehmen wird - und auch seine Schönheit.“181 (Hervorh., M.M.) Womit der Preis benannt wäre für jene wohltuende Taubheit, die Unempfindlichkeit, die spöttische Hoffärtigkeit wider den Alp, die Angst, den Schmerz. Die Schönheit indes, der Beckett hier das Wort redet, ist von besonderer Art. Sie nämlich lässt vom Schrecken sich nicht scheiden. Die Erschütterung, die sie auslöst, ist grausam, unannehmbar und betörend. Wenn also die Gewohnheit, so Beckett, so Proust, zur zweiten Natur werde, die die erste kennenzulernen verhindere, verhindere sie ineins deren Grausamkeiten und deren Zauber. Sie aber seien die Grausamkeiten und der Zauber der Realität selbst. „‚Zauber der Realität‘“, so Beckett, „mutet paradox an. Aber wenn das Objekt als ein Einzelnes und Einzigartiges wahrgenommen wird, und nicht bloß als Glied einer Familie, wenn es unabhängig von jeder allgemeinen Begrifflichkeit und befreit von der Vernünftigkeit einer Ursache erscheint, isoliert und unerklärlich im Licht der Unwissenheit, dann und nur dann kann es eine Quelle des Zaubers sein.“182 Der Zauber der Dingwelt, den Beckett wider die auf zuträgliche Betriebstemperatur klimatisierte Objektwelt preist, ist so extrem, so aggressiv wie eine Perzeption, die von keiner Apperzeption je wird begleitet werden können. Das Perzept ist uneindeutig, nicht zu identifizieren; das mit ihm verbundene Gefühl keines der Lust und keines der Unlust und zugleich beides. Was Kant dem Erhabenen zuschrieb, „gemischte Gefühle“, gilt für das Schöne, die große, die schöne Unbekannte der modernsten Moderne nicht minder. Die Ununterscheidbarkeit des positiven und negativen Moments fixiert diesen Zustand als anhaltende, angehaltene Krisis, als Schwebe im Stillstand, heikle Balance, bei der wir nicht wissen, nicht wissen können, ob ihr der Himmelssturz folgt oder die Himmelfahrt. Was anderes wäre menschliches Geschick? Und was anderes stünde ihm zu Gebote, wenn nicht die Zeit selbst, die das Leben, das von ihr zehrt, verzehrt? Beckett jedenfalls leitet seine Untersuchung der Proustschen Zeit mit einer bemerkenswerten Formel ein: „jenes doppelköpfige Ungeheuer der Verdammung und Erlösung“.183 Ihre Ambivalenz aber ist unschlichtbar. Sie ist der Aufenthaltsraum des Menschen selbst. Sie in der einen oder anderen Weise entscheiden zu wollen, enthüllt den ganzen Irrsinn eines Daseins, das lieber, nach einem Wort Nietzsches,
181 | Beckett: Proust. l.c. S. 19. 182 | Ebd. 183 | Ebd. S. 9.
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das Nichts will als nicht zu wollen;184 das sich lieber entscheidet, alles zu vernichten als sich nicht zu entscheiden. Der Wille zum finalen Desaster, zum Fest aller Feste, dieses dunkelste Begehren, entlarvt den wahren Kern von Biedermanns, von Brandstifters Obsession: Sekurität. Das wenigstens sollte ihm glücken. Der Dezisionismus, dem Heidegger in einem entscheidenden Moment seines Holzweges auf den Leim ging, um ihn dann mit beispielloser Akkuratesse zu „destruieren“, erlöst die Erlösung vom Zwiespalt der Zeit allein um den Preis einer Vernichtung, einer „Vernichtsung“, die mit der nuklearen Option endlich ihre apokalyptische Potenz freisetzt: wenn Führer alles historische Geschehen vollenden. Den Erlöser zu erlösen, sprich ihn lieber zu töten als ihm in menschlicher Gestalt, in sterblicher Gestalt beizustehen, denunziert das Trachten einer Kirche in hoc signo als Insinuation des Widersachers. Auf das Evangelium vom Tod Gottes pfropfte sie die Deckerinnerung einer Auferstehung, die das Karfreitagsdebakel im österlichen Triumpfgetöse vergessen machen soll. Die Frage lautet doch nicht, was das Christentum wäre ohne die Auferstehung, die Frage lautet: was das Christentum ist ohne den Tod Gottes! Nietzsches Atheismus der Redlichkeit ist die Kehrseite einer Frömmigkeit, die den Frömmlern in den Ohren gellt. Wenn Jesus der erste Nihilist war,185 dann ist Nietzsche nicht der letzte. Er hat sein „Gott ist tot“ ja nicht gesagt. Er hat es gesungen. Als ob sein Gesang, sein Gesang der Stille, dem Gott, der doch dieses elende Abschlachten, Vorsehung hin oder her,186 ganz gewiss nicht wollte, das Nichts als einzig denkbaren Aufenthaltsraum anbot post Christum mortem. Der horror vacui wäre göttliches Volumen - et vice versa. Durch das Opfer aber wird die Welt nicht gerettet, durch keines. Wem auch immer mein Leben zu danken sei: Niemand, kein Vater, kein himmlischer, kein irdischer, hat das Recht und die Herrlichkeit und die Pflicht, es für was auch immer dranzugeben.187 Der Menschensohn jedoch predigte und pries etwas ganz anderes: dass die Welt gerettet werde einzig durch das Glück. Aber durch welches? Durch das Glück, ein Mensch zu sein? Träumt deshalb der Komantsche (und vielleicht er nicht allein) davon, endlich geboren zu werden?188
184 | Cf. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: KSA 5, S. 412. 185 | Gianni Vattimo in einem Gespräch in Weimar im Herbst 2004. 186 | Cf. Ulrike Eichler: Weil der geopferte Mensch nichts ergibt. Zur christlichen Idealisierung weiblicher Opferexistenz. In: Ulrike Eichler/Ilse Müllner (Hg.): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Thema der feministischen Theologie. Gütersloh 1999. S. 124-141. Dies. Christus im Zwielicht. Zu Michelangelo Caravaggios Bild „David mit dem Kopf des Goliath“: http://www.artnet.de/magazine/features/ eichler/eichler04-05-07.asp. 187 | Cf. Leonard Cohen: The Story of Issac. Auf: Songs from a Room. 1969. 188 | Cf. Herbert Achternbusch: Der Komantsche. Deutschland 1980.
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Nur Chroniker singen. Ihre Krankheit zum Tode jubiliert ein Leben, an dem sie verbluten. Dass die Zeit Fluch ist und Segen, dass sie das Glück nimmt und gibt, wahrt und wiedergibt, spannt den Horizont menschenmöglichen Scheiterns zwischen zwei Toden: das Dasein zu vertun oder hinzugeben. Tertium datur: wenn es, wie der Nosferatu189 sagt, Schlimmeres gebe als den Tod, entblößt er die Unsterblichkeit, die wir allzu eilfertig erbetteln, als größtmöglichen Schaden. Sie wäre ein Bann ganz eigener Art wie die vor der Zeit sich öffnenden Gräber ein exquisiter Thrill.190 Dass Unsterblichkeit nicht jedermanns Sache sei, wie Kurt Schwitters einmal pointierte, ist ja doch mehr als eine Pointe. Es ist ein Versprechen: dass im Sterbenmüssen, das uns schreckt, auch ein Sterbendürfen spiegelverkehrt eingeschrieben ist. Der Neid der Engel ist uns gewiss. Und der Hass der Teufel, der menschlichen. In den Lagern, diesen Zonen eines Ausnahmezustands sui generis,191 machte man hierauf die Probe aufs Exempel. Dort hatte man nicht zu sterben „nach eigenem Gusto“.192 Der Befehl lautete anders. Das große Totmachen galt zuallererst dem Sterbendürfen, dem Tod, meinem. Also heilt die Zeit alles, außer der Wunde Zeit? Dem Chroniker aber, dem all das zu dämmern beginnt, verschlägt es zuletzt doch die Sprache. Das Organon der Benennung, des Urteils, der kategorialen Entscheidung verkümmert ob des Unbenennbaren, der janusköpfigen Zeit. So zerfallen endlich auch ihm die abstrakten Worte „im Munde wie modrige Pilze“.193 Doch ist der Rest nicht Schweigen - vorerst jedenfalls. Der Rest ist Gesang. Und es ist ein Gesang zur Nacht.194 Hätte der Vater doch gesungen! Dass die Nacht, die rabenschwarze, dem Kind endlich zur Obhut wird, wie ein Mantel, der sich über es breitet, kündete, nein, macht ein Singen, das von ganz anderswo herzukommen scheint. Endlich lauschen wir der Sirene. Mit Tränen ohne Scham. Wenn jemand singt, wird es hell. Und dann fällt der Vorhang. Und wir verlassen das Kino.
189 | Werner Herzog: Nosferatu - Phantom der Nacht. Deutschland, Frankreich 1979. 190 | George A. Romero: Die Nacht der lebenden Toten. USA 1968. 191 | Cf. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übers. v. Hubert Thüring. Frankfurt/M. 2002. Ausnahmezustand. (Homo Sacer II.1) Übers. v. Ulrich Müller-Schöll. Frankfurt/M. 2004. Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. (Homo Sacer III) Übers. v. Stefan Monhardt. Frankfurt/M. 2003. 192 | Cf. Günther Anders: Besuch im Hades. München 21985. S. 9f. 193 | Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Poesie und Leben. Erfahrungen mit Wörtern und Menschen. Essays. Frankfurt/M. 1987. S. 44. 194 | Hans-Jürgen Syberberg, Edith Clever: Die Nacht. Deutschland 1985.
6. Tarkowskijs Gehirn II Zum Kino der Konversion
„Warum ist Harey verschwunden? (Der Ozean weiß es.)“ Andrej Tarkowskij „Es ist gesagt worden, dass die großen Ereignisse der Welt im Gehirn vor sich gehen. Im Gehirn und nur im Gehirn werden auch die großen Sünden der Welt begangen.“ Oscar Wilde
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(Abb. 19 - Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Solaris, UdSSR 1972) 1. Also begänne alles und endete alles mit einer Frage des Gehirns? Mit einer Frage an das und über das Gehirn und mit einer Frage des Gehirns selbst, ausgehend vom Gehirn? Mithin mit einer Konfrontation und Konfusion zweier Instanzen oder auch Subjekte, die unmöglich beide zugleich im gleichen Atemzug „Subjekt“ zu sein vermögen. Wer spricht? Wer fragt? Welcher Adressat? Welcher Empfänger? Welcher Souverän? Welcher Untertan? Wer hat alles genommen, was er wollte, bekommen, was er verlangte, erlangt, was er ersehnte? In diesem Spiegelspiel zweier laut- und atemlos ineinander verstrickter, einander so fremd gegenüberstehender Duellanten werden wir kein Territorium ausmachen können, keinen gemeinsamen Boden, keine Erde, von der aus entschieden werden könnte, wo wir uns befinden. Keine Erde, nicht einmal ein Planet, vielleicht. Wasser, Wasser, nur Wasser, soweit das Auge reicht, das nirgendwohin reicht, denn wir wissen nicht, Chris, der Sternenstudent, weiß nicht, was er da sieht, weiß nicht um den „Realitätsstatus“ dieses Gerinnsels, dieser Wassersedimentation auf einer gewellten, mehr als einmal gefalteten Oberfläche. Wasser, Wasser, nur Wasser - oder ist es etwas anderes? Eine andere Flüssigkeit oder etwas anderes als Flüssigkeit? Chris Kelvin, dieser schwerverletzte Argonaut der Solaristik, betritt ein Gebiet, sagen wir es einmal so, ein Reich, ein Gehege, dessen Logik ihm unbekannt ist und dessen Gesetze er nicht kennt. Es ist eine Zone, eine Insel. „Die Inseln sind aus der Zeit vor dem Menschen oder für die Zeit danach.“1 Die ozeanische Insel, um die geht es hier, die gehirnozeanische Insel wäre eine einsame Insel. Sie verdanke sich einer Schöpfung oder Neuschöpfung, resultiere jedenfalls nicht aus den steinsprengenden Spannungen kontinentaler 1 | Gilles Deleuze: Ursachen und Gründe der einsamen Inseln. Übers. v. Eva Moldenhauer. In: Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974. Frankfurt/M. 2003. S. 11.
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Drift, die die Insel als bloßes Fragment des Festlands auswiese. Die ozeanische Insel, die einsame Insel indes wäre neu und ein Neubeginn, nicht nur geologisch. So in etwa könnte man die Dinge sehen: die letzte, die heikelste, dem Tod wie dem Leben gleichermaßen verschriebene Sehnsucht, der Wunsch, erfüllte sich in einer Heim- und Rückkehr, die keine wäre. Doch Wünsche sind tückisch, und was wir wünschen ist oft anderes als das, was wir zu wünschen glauben. Als gäbe es eine dunkle Seite unserer Wünsche, von der wir nichts wissen, in uns, die schrecklicher ist als alles, was uns von außen zuzustoßen vermag. In der Zone jedenfalls, vergessen wir das nicht, scheint die Offenbarung der Wünsche, ihre Enthüllung und Erfüllung zur Katastrophe zu geraten. Ihre Apokalypse ist Heil und Unheil zugleich, absolute Indifferenz einer Erlösung-wovon, das „Fest aller Feste“. Deshalb zögern wir. Deshalb leben wir. Lebt Chris? Noch oder wieder? Nachdem er auf seiner Insel landete, ja „seiner“, nachdem er ankam, wo er niemals ankommen wollte, bietet sich ihm ein kurioses Szenario. Und es bietet sich ihm vielleicht das, was man eine Chance nennen könnte. Wer weiß? Als Bewohner der Insel, als Eingeborener dieses Eilands wäre er möglicherweise auch ein Neugeborener, ein Neubeginner, ein absolut beginner: „Zwar ging der Anfang von Gott und einem Paar aus, nicht aber der Neubeginn, der von einem Ei ausgeht, denn die mythologische Mutterschaft ist häufig eine Parthenogenese. Die Idee eines zweiten Ursprungs verleiht der einsamen Insel ihren vollen Sinn, Überbleibsel der heiligen Insel in einer Welt, deren Neubeginn auf sich warten lässt. Im Ideal des Neubeginns liegt etwas, was dem Beginn selbst vorausgeht, was ihn aufgreift, um ihn zu vertiefen und zeitlich zurückzuverlegen. Die einsame Insel ist die Materie dieses Unvordenklichen oder Tieferen.“2 Die Insel oder das Gehirn, das sie ausbildet. Es böte mithin die Chance dieser abermaligen Geburt, dieser neuen Geburt des Neuen. Einer neuen Zeit, eines neuen Lebens. Geburt und Wiederauferstehung von den Toten und vom Toten, das die Lebenden umstellt wie ein Fatum, ein Fluch, ein ewigwährendes Missgeschick. Die Wunschmaschine, die Schuldmaschine, die eine Schuld verwindet wie man einen Schmerz verwindet: weiß deshalb „nur der Ozean“, warum Harey verschwand? Wir wissen so wenig von ihm und über ihn, eigentlich nichts, gar nichts. So dass es kaum verwunderte, dass eine Kommunikation, irgendeine Form der Verständigung unmöglich zu sein scheint. Denn immerhin geht es um eine Intelligenz so groß wie ein Meer, so tief wie ein Meer, 70000 Faden tief und so völlig anders als alles, was wir bislang zu wissen glaubten. Allenfalls die Spuren ihrer Manifestation werden ersichtlich, doch lesen lassen sie sich nicht. Wie auch? Denn die Insel ist eine Zone. Verstörendes Indiz des Vorübergangs einer unvordenklichen Intelligenz, absolut
2 | Ebd. S. 16f.
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inkompatibel mit der menschlichen.3 Wenn wir deshalb mit der „glänzenden Hypothese eines Nervensystems der Erde“4 zu liebäugeln beginnen, werden wir nicht umhinkommen, bislang überhaupt als bewusstlos eingeschätzte Phänomene wie ein Meer oder eine Sonne oder diese Erde allen Ernstes zu zerebralisieren.5 Und wir werden nicht umhinkommen, den Gedanken keimen zu lassen, dass der Animismus, dessen Ablösung und Verabschiedung als Gründungsakt des modernen Menschen jubiliert wird, auf einer ganz anderen Ebene und mit den Mitteln eines informationskritisch erweiterten Szientismus seiner glänzenden Rehabilitation entgegensähe. Zumindest wäre er von der sehr genauen Ahnung beseelt gewesen, dass jene großen Objekte, jene kolossalen Trümmer kosmischer Abkunft, vor denen der Mensch einst in die Knie brach, Geist sind, Denken, ein Gehirn. Und wir, die Erdlinge, die Abkömmlinge, könnten und sollten nichts anderes tun, als jene Territorien zu bebauen, zu bewohnen, zu bedenken, die die Ozeane uns, aus welchen Gründen auch immer, schenkten. Mehr nicht und nicht weniger. Vielleicht änderte sich dann manches. „So dass auf die bei den früheren Forschern so beliebte Frage: ‚Welche Wesen leben auf der einsamen Insel?’, die einzig mögliche Antwort lautet: dass der Mensch bereits auf ihr lebt, jedoch ein ungewöhnlicher Mensch, ein absolut getrennter, absolut schöpferischer Mensch, kurz, eine Idee des Menschen, ein Prototyp, ein Mann, der fast ein Gott wäre, eine Frau, die fast eine Göttin wäre, ein erinnerungsloser Mensch, ein reiner Künstler, Bewusstsein der Erde und des Ozeans, ein riesiger Zyklon, eine schöne Zauberin, eine Statue der Osterinsel. Der Mensch, der sich selbst vorausgeht.“6 Um diesen Menschen, um nichts anderes, war es uns in all den Lektüren, den Wiederholungen und Wiederaufnahmen, in den Exkursen und Exkursionen zu tun. Um diesen Menschen geht es. Um seine Menschlichkeit, ihre Ethik. Um den Menschen, der sich selbst vorausgeht und der sich selbst nachfolgt. Um den kommenden Menschen, wie man so sagt. Als ginge es um seine Wiederauferstehung, die den Tod nicht platterdings bezwingt - denn wer könnte das schon, wer wollte das schon? -, sondern ihm jene ethische Inspiration abtrotzt, dass der Tod des Einen und Einzigen, der Tod Gottes, den österlichen Neubeginn des Menschen provoziert. Als wäre dieser Neue Adam auf seiner Karfreitagsinsel der endlich erlöste Atheist, der erste Atheist überhaupt, der Erste 3 | Cf. Arkadi Strugatzki/Boris Strugatzki: Picknick am Wegesrand. Übers. v. Aljonna Möckel. Frankfurt/M. 1981. 4 | Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? Übers. v. Bernd Schwibs u. Joseph Vogl. Frankfurt/M. 1996. S. 253. 5 | Cf. Rupert Sheldrake: Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur. Übers. v. Jochen Eggert. München, Zürich 21996. 6 | Deleuze: Ursachen und Gründe der einsamen Inseln. l.c. S. 12.
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Mensch, der keinen Gott mehr nötigt und keine Erde mehr trocknet. An den Glauben glauben. Mehr verlangen wir ja nicht. Und doch bliebe die Frage, warum es überhaupt den Menschen gibt sub species cerebralis. Welchen Sinn sollte es haben, einen Agenten einzuladen, ihm einen Platz einzuräumen und mit einer Generosität, der er sich in keinem Augenblick seiner irrlichternen Existenz als würdig erweist, ein lebenslanges Gastrecht zuzugestehen? Womit die Frage des Subjekts, der Subjektivität selbst, Thema würde. Auf dem Feld dieser außerirdischen Symbiotik, dieser prä- oder auch posthumanen Humanität eskaliert der Würfelwurf des Subjektiven zur agonalen Konfrontation: Welches Interesse hat das Gehirn an seinem Bewohner? Welche Notwendigkeit bindet sein Schicksal an das jenes cerebralen Parasiten auf Gedeih und Verderb, der ohne das Gehirn und all seine neuronalen Hyperaktivitäten, seine feinstrahlenden Emergenzen, sein fiebriges Nervenzittern nicht existierte, nicht lebte, nicht wäre? Welches Interesse könnte das Gehirn an seinem Bewohner haben, dem „Ich“, wenn es nicht seinerseits von ihm abhinge? Mit anderen Worten: Sind wir nicht von unserem Gehirn erwartet worden? All diese flauen Aufgeregtheiten über die Freiheiten des Willens, der Wahl und der Entscheidung, die neurophysiologischen Petitessen über unsere hochnotpeinliche Verantwortungslosigkeit, über die externalisierten Zündungen von Motiv und Grund und Anlass des Denkens und des Handelns, denen eine Philosophiewissenschaft mit der lautsprecherischen Attitüde staatstragender Gravität entgegentritt, trüben allenfalls die Sicht. Wir glauben in der Tat, dass der transzendentale Konservatismus ebenso wenig den Respekt verdiente, den er so aufdringlich erheischt wie die medial rückgekoppelten Gespreiztheiten einer Naturwissenschaft, die sich, scheint es, längst zu Tode gesiegt hat. Im Interieur eines neoautoritären Kapitalismus verschmelzen Wissen und Kapital zu einem Komplex, der dem Leben, dem „Leben des Geistes“, nicht weniger feindlich gegenübertritt als die, die in seinem Namen plädieren. Das Gehirn, das der Hirnforscher untersucht, wäre so weniger von Belang als das Gehirn des Hirnforschers, dessen zerebrale Unschärferelation7 jedweden szientistischen, sprich vorkritischen Zugriff auf sein „Objekt“ ad absurdum führte. Dass nämlich das Ich vom Gehirn abhängt - und Henri Bergson8 hat dazu 7 | Zur Einführung der ursprünglich quantenmechanisch bestimmten Unschärferelation in die Hirnforschung: Cf. Steve Rose: The Conscious Brain. New York 1973. Delisle Burns: The Uncertain Nervous System. London 1968. Dazu: Henning Schmidgen: Figuren des Zerebralen in der Philosophie von Gilles Deleuze. In: Michael Hagner (Hg.): Ecce Cortex. Beiträge zur Geschichte des modernen Gehirns. Göttingen 1999. S. 317-349. 8 | Cf. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg 1991. S. IVff.
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vielleicht längst alles gesagt - schlösse doch keineswegs aus, dass nicht auch seinerseits das Gehirn vom Ich abhinge. Dass ein Gehirn ohne ein Ich, dessen transzendentale Träumereien es an dessen Position halluzinieren, sowenig Sinn machte wie ein Ich ohne Gehirn, beschreibt die Ausgangslage einer ungemein glücklichen, ungemein verwickelten Allianz. Man könnte die Frage auch so stellen: welchen Sinn hat das Auftauchen des Begriffs des Gehirns in einem expressis verbis philosophischen Text? Und welchen Sinn hat das Auftauchen des Begriffs des Gehirns in einem expressis verbis philosophischen Text über das Kino? Und welchen Sinn hat das Auftauchen des Gehirns im Kino? 2. Es geht also auch um Deleuzes Gehirn. Seine anhaltende Faszination über eine Sache, eine „relativ undifferenzierte Materie“,9 die ihm zu erlauben scheint, seinen doppelten Kampf gegen das Klischee und das Chaos so zu führen, dass er die Kräfte des Chaos gegen das Klischee einsetzen kann, ohne ihm zu verfallen.10 Ohne dem Tod zu verfallen. Wenn also Deleuze der „Molekularbiologie des Gehirns“ zukünftig weit mehr Chancen einräumt als etwa der Informatik oder irgendeiner Kommunikationstheorie,11 wäre es ihm keineswegs um eine „Neurophilosophie“ oder dergleichen mehr zu tun, die die gegebenen Befunde neurophysiologischer Forschung auf ihre philosophischen Implikationen oder dergleichen mehr zu befragen versuchte, sondern um eine Konstruktion des Gehirns selbst,12 seine Mutation zu einem genuin philosophischen Konzept. Seine Philosophie des Gehirns initiierte nichts anderes als ein Philosophischwerden des Gehirns an sich. Weshalb ein Ausdruck wie „Molekularbiologie“ schon in dem Augenblick seine terminologische Unschuld zu verlieren beginnt, in dem er nominiert wird: „Ich glaube nicht, dass die Linguistik, die Psychoanalyse für das Kino sehr hilfreich sind. Sehr wohl dagegen die Biologie des Gehirns, die Molekularbiologie. Das Denken ist molekular, es gibt molekulare Geschwindigkeiten, die
9 | Deleuze: Über Das Zeit-Bild. In: Unterhandlungen. 1972-1990. Übers. v. Gustav Roßler. Frankfurt/M. 1993. S. 90. 10 | Cf. Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? l.c. Schluss: Vom Chaos zum Gehirn. 238ff. Vgl. Kpt. 6. 11 | Deleuze/Claire Parnet: Das ABC…von Gilles Deleuze und Claire Parnet… Regie : Pierre-André Boutang 1996. N wie Neurologie. Arbeitsmanuskript. Hergestellt und übersetzt von Christian Malycha für die Ausstellung Deleuze und die Künste im ZKM Karlsruhe. Berlin, Karlsruhe 2003. http://www.langlab.wayne.edu/CStivale/DG/DASABC.html. 12 | Cf. Schmidgen: Figuren des Zerebralen in der Philosophie von Gilles Deleuze. l.c. S. 349.
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die langsamen Wesen, die wir sind, zusammensetzen.“13 Von der Molekularbiologie zum molekularen Denken, zu den molekularen Geschwindigkeiten, vom Molekularen als Rufname einer wissenschaftlichen Disziplin zum Molekularen als Begriff im strengen, im philosophischen Sinne, der in Absetzung zu dem des Molaren allererst seine Konturen erhält. Denn molar wäre das Denken einer ausgewuchteten Struktur, von friedfertiger Balance, harmonisch im Teil und seinen Gliedern, ausgerichtet am Regime eines ausgelagerten Ordnungsprinzips, stabil, zentriert, totalisiert und arretiert durch die Schwerkraft eines exklusiven Partikels, der die Mitte des Feldes definiert und okkupiert. Das molekulare Denken hingegen wäre spontan, saltatorisch, instantan kraft jener Fliehkräfte, die die Gefüge entzerren und auswerfen, die die Aristokratie, die Plutokratie der herausgehobenen Elemente unterspülen und die Zentren frei- und die Partikel aussetzen, deren Ebenbürtigkeit sich jedweder Oberhoheit verweigert.14 Das molare Denken wäre monarchisch, der statistisch signifikante Normalfall des Politischen. Das molekulare Denken wäre demokratisch, der außergewöhnliche, ganz unwahrscheinliche Sonderfall des Politischen, die Abweichung schlechthin oder jenes „Wunder“, das uns seit seiner griechischen Zündung fasziniert und in Atem hält und dessen Scheitern (für wie viel Jahrhunderte diesmal?) unmittelbar bevorstehen könnte. Das molekulare Denken wäre, mit anderen Worten, das „Hirn-Denken“ selbst.15 Dieses Hirn-Denken werden Deleuze und Guattari im Durchgang einer Argumentation anvisieren, die an Waghalsigkeit zu wünschen nichts übrig lässt. Geleitet von der Frage nach der Möglichkeit des Neuen, das sich nicht
13 | Deleuze: Das Gehirn ist die Leinwand. Übers. v. Eva Moldenhauer. In: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 - 1995. Daniel Lapoujade (Hg.) Frankfurt/M. 2005. S. 270. 14 | Zur Unterscheidung molar - molekular, die sich wesentlich an der zwischen Paranoia und Schizophrenie ausrichtet: Cf. Deleuze/Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Übers. v. Bernd Schwibs. Frankfurt/M. 1977. S. 360ff. Dies. Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié. Berlin 1992. S. 456f. 15 | Weshalb man den Begriff der „Multitude“, den Toni Negri und Michael Hardt zur Diskussion gestellt haben und der bekanntlich die Möglichkeit der Demokratie in der postnationalen Epoche des „Empire“ zu thematisieren versucht, mit dem Konzept einer „Politik des Gehirns“, wie sie sich im Ausgang des Deleuzeschen HirnDenkens abzuzeichnen beginnt, abgleichen könnte und vielleicht auch müsste: Cf. Toni Negri/Michael Hardt: Empire. Die neue Weltordnung. Übers. v. Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn. Frankfurt/M. 2002. Dies. Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Übers. v. Thomas Atzert u. Andreas Wirthensohn. Frankfurt/M. 2004.
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in der bloßen Rekombination gegebener Elemente erschöpft,16 geleitet mithin von der Frage nach der Kontur jener Mächte, die das Neue zu denken vermögen - Philosophie, Kunst, Wissenschaft -, stoßen sie auf ein neues Denken, auf ein neues Konzept des Denkens, das sie mit einer neuen Wahrnehmung des Gehirns verbinden. Die Frage, was ist und was heißt Denken?, wird zur Frage des Gehirns selbst. Eine interessante Verschiebung. Folgen wir ihr. Denn immerhin sind es drei konkurrierende Deutungsmächte, denen Deleuze und Guattari die Stirn bieten. Neben der klassischen Neurologie, die mechanistisch die zerebralen Verbindungen als vorgegeben auffasst, gilt ihr Vorbehalt auch einer Gestalttheorie, die diese Verbindungen zwar dynamisch zu begreifen erlaubt. Doch stießen, so Deleuze, Guattari, „die mechanischen wie die dynamischen Zentren auf ähnliche Schwierigkeiten“17: beide setzten eine „Ebene“ voraus, ein „Überfliegen des gesamten Feldes.“18 Ein Überfliegen des gesamten Feldes also: Was auch immer das bedeutete, was „Überfliegen“ hieße, um welches „Feld“ es hier ginge und, vor allem, was die „Gesamtheit“ dieses Feldes ausmache, bevor Deleuze und Guattari diesen durchaus mysteriösen Akt näherhin zu charakterisieren versuchen, entwickeln sie ein in mehrerlei Hinsicht komplexes Argument. Zum einen wenden sie gegen den Objektivismus der Wissenschaften des Gehirns ein, dass er, nach wie vor orientiert am „engen Modell der Rekognition“,19 der „engstirnigsten Logik“20 verhaftet bliebe, also dem universalen Diktat der Meinung, sprich: der AutoImmunisierung gegen das Neue. Ihm gegenüber stünde nun die Weite eines „nicht objektivierbaren Gehirns“21, das sich, könnte man sagen, einer Logik und auch Ontologik des Zwischen verschrieben hat: der Spalte, dem Bruch und der Unterbrechung, dem Hiatus, dem Intervall. Die eigentliche Klippe ihres Arguments zeigt sich aber genau an diesem Punkt. Obschon nun die Momente eines neuen Gehirn-Denkens wenigstens benannt wären und somit ihrer Konstruktion nichts mehr im Wege stünde, muss ein letzter Widerpart angegangen werden: die Phänomenologie. Die Abgrenzung ist heikel, jedenfalls schwieriger als bei den zuvor angegangenen Diskursen, da die Phänomenologie mit ihrer Kritik am Objektivismus, den Deleuze und Guattari ja teilen, nie hinter dem Berg hielt. Und doch konsolidierte auch sie nur jenen Schematismus des Immergleichen: die Meinung. Denn der „Wiederaufstieg der Phänomenologie, die das Gehirn in Richtung auf ein Sein in der Welt überschrei16 | Cf. Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. Übers. v. Annelore Nitschke. München, Wien 1992. 17 | Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie? l.c. S. 248. 18 | Ebd. 19 | Ebd. 20 | Ebd. 21 | Ebd. S. 249.
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tet, mit einer doppelten Kritik des Mechanismus und des Dynamismus“, ließe uns, hören wir genau zu, „kaum aus der Sphäre der Meinung heraustreten, sie führt uns lediglich zu einer als Urmeinung oder Sinn der Sinne postulierten Urdoxa.“22 (Hervorh. M.M.) Was bedeutete, dass die Kritik an (mechanistischer) Neurologie wie (dynamistischer) Gestalttheorie von anderer Qualität ist als die an der Phänomenologie selbst. Die Ablehnung wäre zum einen rigoros, zum anderen graduell. Denn letztere sei nicht konsequent und gleichsam radikal genug in ihrem berechtigten Einwand gegen jene. Zwar ist die Bemerkung zu knapp gehalten, um die überaus komplizierte Liaison zwischen der Phänomenologie, vor allem der Husserls und Merleau-Pontys, zum Denken Deleuzes und Guattaris zu verhandeln. Doch wird eine latente Affinität zu deren Anliegen spürbar, die umso schwerwiegender sein muss angesichts der Möglichkeiten, die die Phänomenologie zweifellos hat, angesichts der Möglichkeiten, um die sie sich gebracht zu haben scheint. Deshalb dieses „kaum“, das ein leises Zögern im Urteil, ein Innehalten und Zaudern anzuzeigen und der Phänomenologie zumindest eine kleine Chance einzuräumen scheint, dem Joch der Meinung noch entkommen zu können. Was ihr vielleicht gelänge, könnte sie jenen von Husserl eingeschleppten cartesianischen, sprich egologischen Infekt ausschwitzen, jenes „Cogito“, um zu einem „Cogitare“ durchzustoßen, zu einem ungebeugten Denken, das mehr und anderes wäre als das Denken des Ich, das denkt. Einmal mehr also wäre es dieses Ich, seine Stellung und Funktion im allgemeinen Haushalt der Kategorien, an dem sich alles entscheidet. Mit anderen Worten: Der springende Punkt wäre hier die Frage des Subjekts, der Subjektivität überhaupt. Der phänomenologischen Orthodoxie, dass der Mensch denke und nicht das Gehirn, setzen Deleuze und Guattari eine überaus verstörende, beunruhigende, überaus provokante Frage entgegen: „Sollte die Wende nicht woanders sein, da, wo das Gehirn ‚Subjekt’ ist, Subjekt wird?“23 Womit die Katze aus dem Sack wäre und der Boden bereitet für zumindest drei Hypothesen, die die Auseinandersetzung mit dem Gehirn, seinen Sinn, seinen Status, in den Schriften Deleuzes und auch Guattaris orientieren könnten. Erstens stünde der Ausdruck „Gehirn“ für die Möglichkeit eines Denkens, das noch nicht oder nicht mehr als Denken-des-Ich und vom Ich aus gedacht werden muss; Möglichkeit eines, sagen wir es so, vorichlichen Denkens, das sich mir denkt, mir eingibt wie im Traum oder wie ein Traum. Das „Gehirn“ schriebe sich damit ein in den allgemeinen Diskurs eines Inhumanismus, der die Vorherrschaft und den Vorrang des Ich in Frage zu stellen wagt. Wobei nicht ohne herbe Ironie zu vermerken ist, dass die genuin philosophische „Kritik
22 | Ebd. 23 | Ebd.
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am Subjekt“24 von Tendenzen nicht nur in Neurobiologie, Evolutions- und Systemtheorie flankiert zu werden scheint, die aus unterschiedlicher Perspektive und mit andersgeartetem Einsatz gleichfalls die Position des Subjekts, des Menschen schlechthin als autonomes, urteils- und handlungsfähiges, als für sein Tun und Lassen rechenschaftspflichtiges und -fähiges, sprich: als bruchfestes, in sich stabiles In-dividuum attackieren. Weshalb nottäte, wenn das ginge, eine Kriteriologie der Unverwechselbarkeit beider Strategien anzugehen. Weshalb nottäte, wenn das ginge, die Absetzung eines ethischen Inhumanismus, der den Menschen aus dem für ihn konstitutiven Bezug zum Nicht- und Unmenschlichen konstruiert, von einem systemischen Inhumanismus anzugehen, der das Subjekt aufhebt und dadurch die Möglichkeit seiner Konversion hintertreibt. Zweitens und damit unmittelbar verschränkt, signalisierte das „Gehirn“ die Abdankung einer Konzeption des Denkens als rationaler Verkettung von Elementen und ihrer Deduktion aus einem vorgegebenen Prinzip, Demission des Denkens als formaler Kombinatorik logischer Konsistenz. Demission des uralten Traums, dieser so verführerischen Phantasie eines Denken-des-Denkens, der Autofertilisation des Denkens in sich, das sich in sich zeugt und sich aus sich heraus gebiert. Als gälte es zu erwachen, „Wachwerden vor dem Faktischen“, vor dem was ist für ein Denken, das ohne diese basale Intentionalität, die immer mehr und anderes ist als Intentionalität, Passibilität, ganz leer wäre, ganz sinnlos, kein Denken. Exteriores Denken, Denken-des-Außen oder Denken-des-Seins. Anstelle des „Auges“ als Indiz der strengen Äquivalenz und Austauschbarkeit des Cogito als Video,25 als Zentralgestirn jener okularen Tyrannis universaler Überschaubarkeit, universaler Luzidität, universaler Perspektive, die die Logik der Wahrnehmung als Logistik der Annexion auswies,26 träte das „Gehirn“ als entzerrtes Geflecht mit seinen probabilisti24 | Cf. Ute Guzzoni: Kritik am Subjekt. Kritisch-ontologische Stücke zum Verhältnis von Denken und Wirklichkeit. In: Veränderndes Denken. Freiburg, München 1985. S. 1-26. 25 | Cf. Jean-Louis Déotte: Video und Cogito. Die Epoche des perspektivischen Apparats. Übers. v. Heinz Jatho. Zürich, Berlin 2006. 26 | Was Hans Belting als „ikonischen Blick“ beschreibt, der im Okularzentrismus der Renaissance zu seiner maßgeblichen Ausprägung fand. Hervorgegangen aus einer Anverwandlung und Abänderung der mittelalterlichen arabischen Optik Alhazens machte zwar schon der Barock, etwa im Modell des Tromp l’oil, diesem monofokalen Perspektivismus den Garaus. Doch tat das seiner Durchsetzung als kultureller Praxis verblüffenderweise keinen Abbruch. Als ikonische Bildkonvention der okzidentalen Moderne trat es seinen Triumphzug an. Das okularzentristische Vorurteil war innereuropäisch früh widerlegt und war überzeugenden außereuropäischen Alternativen spürbar unterlegen: an seinem planetaren Durchbruch änderte das
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schen, sprunghaften und übersprunghaften Kontakten, genauer: mit seinen Diskonjunktionen singulärer Elemente.27 Und drittens indiziert das „Gehirn“ die Möglichkeit einer ungeschützten, so unmittelbaren wie produktiven Empfindlichkeit, einer augenblicklichen und direkt auf das Nervensystem zielenden Reizung, noch bevor die Instanz des Ich dieses Geschehen, dieses Ereignis rubrizieren, einordnen, sprich: überformen kann. Das „Gehirn“ wäre der Referent einer Passibilität, einer anorganischen, noch durch keine Sinnesorgane organisierten und strukturierten Sensation des Fleisches, des rohen Fleisches. Wenn wir also dazu tendieren, das Fleisch als erkenntniskritische Kategorie zu nobilitieren, dann unter der Bedingung seiner zerebralen Referenzialität oder Zerebralität, seiner unmittelbaren neuronalen Bezogenheit auf ein Gehirn, das dessen Passibilität respondiert. Gehirn ist Fleisch und Fleisch ist Gehirn. Das Fleisch-Gehirn wäre gar nichts anderes als Fleisch, als Gehirn, und das „Fleisch der Welt“ wäre mit nicht minderem Recht dessen Gehirn. Die informationstheoretische Unterscheidung zwischen Hard- und Software machte beim Gehirn offensichtlich gar keinen Sinn. Was anderes also könnte das „Hirn-Denken“ sein, wenn nicht Vernehmen, reines Vernehmen, Noesis vor aller Dianoetik? Deleuze und Guattari sagen das so: „Welches sind die Merkmale dieses Gehirns, das nicht mehr durch Konnexionen und sekundäre Integrationen definiert ist? Das ist kein Gehirn hinter dem Gehirn, sondern zunächst einmal ein Zustand distanzlosen Überfliegens, dicht am Boden, des Selbstüberfliegens, dem kein Abstand, keine Falte und kein Hiatus entgehen.“28 Halten wir kurz inne: Immer wieder wird man in ihren Texten, denen Deleuzes, denen Guattaris, auf Wendungen von verstörender Evidenz treffen. Auf überaus hartnäckige Weise sperren sie sich der Deutung. Als ob man jene Schriften von Mystikern in Händen hielte, deren Tropen ein Denken entzünden, das dem Wahn ebenso fern wäre wie der Logik, der Plausibilität, dem Sinn. Ein Denken oder ein Gehirn: kann man „distanzlos“ überfliegen? Und was wäre ein „Zustand distanzlosen Überfliegens, dicht am Boden“, ein „Selbstüberfliegen“, ein „Überfliegen des gesamten Feldes“? Womöglich das, was man „Einen“ nennen könnte, ein Einen ohne Einheit, ja eine Einheit ohne Einheit. Wortwörtliches, zeitwörtliches Einen, das all das sammelt und versammelt, das ein Bild des Feldes und damit das Feld selbst generiert, ein Image, eine Land- oder Gehirnkarte des reinen Zusammenhangs, der reinen Bezüglichkeit und Proportionalität als Protoplasma des nichts. Belting: Die Perspektive als Bild. Der ikonische Blick und die arabische Optik. Vortrag an der Humboldt Universität, Berlin, vom 1.2.2006. 27 | Cf. Patricia Pisters: The Matrix of Visual Culture - working with Deleuze in Film Theory. Stanford 2003. 28 | Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie? l.c. S. 250.
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Denkbaren und schließlich Gedachten. Es wäre das erste Bild des Denkens als Denken des Bildes. Was es heiße, sich im Gehirn zu orientieren? Was, wenn nicht Ausrichtung und Lokalisation der Gegenden und Regionen, die Kartographie und Kartologie seiner Orte, die Topologie der Gebiete und Bezirke, ihrer Verwandtschaftsverhältnisse und Distanzen, die Aufteilung und Partitionierung in fluktuierende, labile und in jedem Moment sich neu, anders ausrichtende Zonen oder „Ebenen“, die jede für sich das Ganze abdecken und jede für sich ein Teil dieses Ganzen sind und jede für sich ein Teil und ein Partikel, das sich keinem Ganzen mehr fügt. Das reine Selbstüberfliegen, dem kein Abstand, keine Falte und kein Hiatus entgehe, nimmt sie also an und auf, vermerkt sie und merkt sich ihren Bereich, präpariert sie und präpariert sich selbst als Gehirn, als Denken, als Hirn-Denken. Der Mensch, dieser jähe Auswurf und wunderbare Funke, den das neuronale Gewitter unentwegt entzündet, wäre der Moment, in dem das Licht sich selbst sieht und blendet, endlich offenbar, endlich verhüllt. Moment, in dem das Gehirn wird. Wie ein Dunkel, das erst im Augenblick der ersten Zündung Dunkel wird gewesen sein können. Was anderes nennen wir Schöpfung? Der Funke Leben: „Das Gehirn denkt, nicht der Mensch, der Mensch ist lediglich eine zerebrale Kristallisierung.“29 Aber was heißt hier schon „lediglich“? „Man wird vom Gehirn so sprechen wie Cézanne von der Landschaft: der abwesende Mensch, aber vollständig im Gehirn aufgegangen…“30 Aber wie sprach Cézanne von der Landschaft, wie malte er sie? Die Landschaft vor dem Menschen oder nach ihm, die menschenleere Landschaft, in die der Mensch eingegangen ist und in die er eingehen wird, die sein Verschwinden sanktioniert wie der Sand, der eine spurlose Möglichkeit seines Gesichts bewahrt, das eben verschwamm. Von dieser Möglichkeit sprechen wir, als wäre sie der Sinn des Gehirns. Und vielleicht war es nie anders. Als wäre das Hirn-Denken, die Noesis als „Form an sich“,31 als Formation und Formatierung eines unvordenklichen Chaos, einer unvordenklichen Gleichzeitigkeit, das Präparat für die Zukunft des Menschen: „Das Gehirn sagt Ich, aber Ich ist ein anderer.“32 3. Hirn-Denken als Denken-des-Einen, als Denken-als-Einen: wenn wir hier den Vorschlag machen, mit dieser überaus traditionell anmutenden Bestimmung diese überaus beispiellos anmutende Intuition zu umschreiben, sind wir uns der Fragwürdigkeit, die sich hier auftut, durchaus bewusst. Zwar ginge es keineswegs um eine Art Neuplatonisierung Deleuzes und auch Guattaris, um eine Resurrektion Plotins und der Ordnung seiner Emanationen (die übrigens 29 | Ebd. S. 249. 30 | Ebd. 31 | Ebd. S. 250. 32 | Ebd. S. 251.
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gar nicht so ordentlich sind und sein können wie es scheint). Doch könnte der Vorwurf ein doppelter sein: einerseits Deleuzes Transklassizität zu hintertreiben, um ihn einer Tradition auszuliefern, ihrer Bonhomie und Enge, aus der er sich mit dem Élan vital des glühenden Bergsonianers befreit zu haben glaubte. Andererseits wäre das Attestat Indiz des Verdachts, dass auch Deleuzes Denken nicht radikal genug, dass es unter dem Deckmantel seiner stilistischen Exaltiertheit von bestechender Konventionalität sei, bestechend schlicht in seiner Zugehörigkeit zum Projekt der abendländischen Geschichte des Denkens, das von Parmenides über Heidegger bis zu Deleuze und darüber hinaus Denken des Seins als Denken des Einen war und bleiben wird. Und hatte man Heidegger nicht genau diesen Vorwurf gemacht? Und kann man diesen Vorwurf nicht immer machen? Ist nicht jeder dem Verdacht ausgesetzt, schutzlos, hilflos, stumm wie ein Delinquent im Schauprozess? Und doch enthält die Anklageschrift schon die Blaupause zur Advokation. Beispielsweise der Deleuzes, beispielsweise der Heideggers: denn beide sind gleichermaßen klassische Philosophen, Metaphysiker und müssen es sein, um gleichermaßen den Bereich des Klassischen überschreiten zu können. Wenn nämlich Heidegger die „Seinsfrage“ aufwirft, fragt er wie alle Metaphysik auch; und doch fragt er ganz anders, indem er das Substantiv „Sein“ in einem verbalen, einem „zeitwörtlichen“ Sinne zu vernehmen lehrte. Man muss ganz Ohr sein, um Heidegger zu verstehen. Dieses Zugleich klassischen und transklassischen Philosophierens aber ist unhintergehbar, dieser Spagat zwischen Untreue und der Treue zu einem Erbe, das man nur wahrt, indem man es verrät, ist unabdingbar, will man nicht blindlings in die Falle jedweden Radikalismus tappen. Denn die reine, abgelöste Transklassizität ist immer noch, immer wieder nichts anderes als klassisch.33 Das Lehrgeld, das Heidegger zu zahlen hatte, war hoch. Und es ist exemplarisch über den Fall hinaus, an dem es zum Skandal wurde: denn alles nachmetaphysische Denken, der Vollmundigkeit zum Trotz, mit dem es sich selbst unentwegt ankündigt, präsentiert und feiert, ist metaphysisch. Der Metaphysik entkommt niemand durch das Programm ihrer Destruktion oder Überwindung noch selbst durch das der Überwindung der Überwindung. Sie zu „verwinden“ wie einen Schmerz, sie „seinlassen“ zu können - im negativen Sinne des Ablassens nicht minder wie im positiven des Zulassens: war das nicht Heideggers Nadelöhr, sein einsamster Weg? Der Deleuzes ist ein anderer. Doch ist auch bei ihm das Amalgam klassischen und transklassischen Philosophierens zuweilen bis ins Buchtechnische hinein identifizierbar: wenn nämlich seine beiden Kino-Bücher, „Das Bewegungs33 | Zu anderer Gelegenheit haben wir versucht, diese Figur als „toponomische Verfassung der Metaphysik“ zu kennzeichnen. Michael Mayer: Transzendenz und Geschichte. Ein Versuch im Anschluss an Lévinas und seine Erörterung Heideggers. Essen 1995. S. 194-226.
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Bild: Kino 1“, „Das Zeit-Bild: Kino 2“ tatsächlich nicht nur zwei Epochen der Geschichte des Kinos durcharbeiten, die klassische und die moderne, sondern auch zwei transzendentale Erscheinungsformen der wesentlichen Möglichkeit des Kinos überhaupt, so gilt dies nicht minder für die Philosophie (nicht nur) des Kinos, die es thematisiert. Der Bruch zwischen klassischem, an der Idee des Systems, der Monologik, der Deduktion und der Hierarchizität ausgerichtetem, sprich: nachplatonischem Philosophieren und dem der Moderne, das sich an dem Motiv der Singularität, der Nichtidentität, des Ephemeren zu orientieren sucht, vollzieht sich nicht als Querelle des Anciens et des Modernes, sondern als Bruch der und in der Moderne selbst, in ihr als integraler Bestandteil ihrer Praxis des Denkens.34 Das muss man wissen, wenn man Deleuze liest. Man muss wissen, dass er durchaus mit dem Projekt einer „Univozität des Seins“35 etikettiert werden kann. 34 | Was wiederum auch bedeutete, den Bruch zwischen Klassizität und Modernität nicht als historische Demarkation auszuweisen, sondern als Riss, der jedes Denken von Rang auszeichnet. Er wäre geradezu der Lackmustest seines Wertes. In diesem Sinne ist es kein subalterner Kalauer zu sagen, dass Kant kein Kantianer, Platon kein Platoniker, Descartes kein Kartesianer und Deleuze kein Deleuzeianer war und sein konnte. Derrida übrigens hat dieses Motiv am Beispiel Descartes einmal exemplarisch durchgespielt: Cf. Derrida: Cogito und Geschichte des Wahnsinns. In: Die Schrift und die Differenz. Übers. v. Rodolphe Gasché. Frankfurt/M. 1976. S. 53-101 35 | Cf. Alain Badiou: Deleuze - Das Geschrei des Seins. Übers. v. Gernot Kamecke. Zürich, Berlin 2003. S. 31-46. Auch Slavoj Zizek scheint, wie Badiou, auf den er sich ausdrücklich beruft, den diskonjunktiven Sinn der Univozität des Seins, des „einen“, zu verfehlen, wenn er das Werden als (plotinisches) Emanat der Einheit des Seins deutet: Cf. Zizek: Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan. Übers. v. Nikolaus G. Schneider. Frankfurt/M. 2005. S. 48f. Dass man nicht ungestraft, wie Deleuze, Anti-Hegelianer sein kann, demonstriert Zizek vor diesem Hintergrund schlagend. Doch demonstriert er nicht auch, dass man nicht ungestraft Hegelianer sein kann? Zumindest fällt auf, dass Zizeks Kritik an der „Fehllektüre Hegels durch Deleuze“ (ebd. S. 107), die auf den zentralen, bemerkenswerten Einwand hinausläuft, dass er, Deleuze, den „Werdensprozess“ insgeheim „in einem einheitlichen Subjekt“ (ebd. S. 109) verankere, keine Vorstellung eines negativ-dialektischen „Einen ohne Einheit“ zu haben scheint. Vielleicht unterscheidet sich die „Identität der Identität und Nichtidentität“ nur um eine Nuance, um eine winzige spekulative Bewegung, durch ein unglaubliches, fast unmögliches spekulatives Zögern von jener „Identität als Selbigkeit“ im Sinne Heideggers; von jener „différance“ im Sinne Derridas; von jener „Dialektik im Stillstand“ im Sinne Benjamins; von jener „Negativen Dialektik“ im Sinne Adornos. Unbenommen aller so notwendigen Differenzierungen in Einzelnen von Heidegger bis Adorno und weiter: Käme es nicht genau darauf an, auf diese Geste des Zögerns, der Abweichung, wenn man
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Man muss aber auch wissen, was der Sinn dieses Etiketts ist. Wenn Deleuze tatsächlich das „Eine“ denkt, die Einheit des Einen, denkt er es ebenso traditionell wie radikal neu, denkt er es innerhalb der Bahn eines Konventionalismus, dessen Restriktionen er genau in diesem Augenblick sprengt. Denn das Eine ist „Einen“, ist eine Einheit ohne Einheit, ohne Substanz, Substantiv oder Prinzip der Einheit schlechthin, das als privilegiertes Moment die Ordnung aller anderen stabilisierte. Genau in diesem Sinne schlagen wir vor, jenes „Überfliegen des gesamten Feldes“ zu lesen. Als „Einen“ ohne alle Einheit, ohne einigende Mitte und Schwerpunkt, ohne Zentrum: die leere Bezugshaftigkeit des Verschiedenen, voneinander Getrennten, die Diskonjunktion. 4. Also wäre das Gehirn die Einheit? „Das Gehirn ist die Einheit. [Le cerveau, c’est ça l’unité.]“36 Oder: „Die Verknüpfung (nicht Einheit) der drei Ebenen ist das Gehirn. [La jonction (non pas l’unité) des trois plans, c’est le cerveau.]”37 Die Einheit/nicht die Einheit: Wäre es nicht zu billig, sich damit zu beruhigen, dass man es hier mit zwei Notizen aus unterschiedlichem Zusammenhang, mithin mit zwei unterschiedlichen Sachverhalten zu tun hat? Dass es einmal um die Verknüpfung von Verschiedenem und einmal eben um die Einheit des Gehirns selbst ohne alle Verknüpfungsleistung gehe? Immerhin geht es jeweils um das Gehirn, das einmal als Einheit, einmal als Verknüpfung dreier Ebenen (der Philosophie, der Kunst, der Wissenschaft) verstanden wird, die expressis verbis keine Einheit wäre. Der auch mögliche Widerspruch löste sich auf, wenn man es mit zwei Modellen von Einheit zu tun hätte: einem herkömmlichen, das Einheit in Opposition zu Konnektion und einem neuen, das Einheit als Konnektion denkt. Einheit als Einheit des Verschiedenen, Disparaten, Einheit, die Differenz nicht ausschließt, sondern sie ermöglicht, sie ist. Hatte nicht auch Heidegger (abermalige Parallele) in einer spektakulären Wendung Identität als Zusammengehörigkeit ausgelesen, als Selbigkeit, die den Unterschied, gegen den sie gewöhnlicherweise abgesetzt wird, eröffnet, trägt und stiftet?38 Derrida jedenfalls folgte ihm hierin39 und entwickelte damit ein frühes Arnach Hegel, weder als Hegelianer noch als Anti-Hegelianer, zu denken beginnen will, ja muss? 36 | Deleuze: Das Gehirn ist die Leinwand. l.c. S. 270. Org. Ders. Le Cerveau, c‘est l‘Écran.. In: Deux Régimes de Fous. Textes et entretiens 1975-1995. Hg. v. David Lapoujade. Paris: 2003. S. 263-271. Hier: S. 264. 37 | Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie? l.c. S. 247. Org. Dies. Qu’est que la philosophie? l.c. S. 196. 38 | Cf. Heidegger: Der Satz der Identität. In: Identität und Differenz. Pfullingen 61978. S. 9-30. 39 | Cf. Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas. In: Die Schrift und die Differenz. l.c. S. 121-235. Bes. S. 203ff, 213f.
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gument gegen jenen ursprungsphilosophischen Argwohn, den Lévinas oder auch Adorno hegten, indem sie dessen Fundamentalontologie der totalitären Inklusion ziehen.40 Das Gehirn als Einheit neuen Typs mithin, als Einheit des Diskontinuierlichen, als Einheit, die eine Zäsur, als Zäsur, die eine Einheit ist. „Das Gehirn ist die Einheit. Das Gehirn ist die Leinwand.“41 Also wären wir wieder im Kino, endlich. Dem Kino des Gehirns. Deleuze widmet diesem Kino, das, wie sich noch zeigen wird, an eines der ältesten theoretischen Motive der Kinematographie überhaupt anzuschließen vermag, ein spätes Kapitel seines zweiten Kino-Buchs. Ein Kapitel, das das moderne Kino nicht mehr oder nicht mehr nur am Motiv des Zeit-Bildes ausrichtet, sondern an der Duplizität des Körpers und des Gehirns. Auch wenn das Kino des Gehirns als Ort und Austragungsort geschichteter Zeit, der Vergangenheitsschichten und Gegenwartsspitzen (Zeit-Bild 1 und 2)42 verstanden werden kann; auch wenn das Kino des Körpers die Serialität der Zeit, ihr Vorher und Nachher, „in den Körper“ verlege und somit den „Ablauf der Zeit am Körper sichtbar“ mache (Zeit-Bild 3),43 ist es weniger die Zeit, die hier zur Sprache kommt als vielmehr erstens die Frage des Zusammenseins: „Wie kann man leben, wenn man nicht in der Lage ist, für sich allein zu leben?“44 Zweitens die des Schauspielers: weshalb im Kino des Körpers (Philippe Garrel, Jacques Doillon) das klassische durch ein modernes Schauspielsystem ersetzt würde, worin der Akteur nicht mehr die Fiktionalität einer gegebenen Rolle repräsentiere, sondern die Realität seines Körpers präsentiere.45 Drittens die Frage des Raums: weshalb das Kino des Körpers mit seinem prä-hodologischen Raum, der den Infanten und den
40 | Ein Vorbehalt großen Stils übrigens, der durch Derridas Argument keineswegs ausgeräumt, sondern bemerkenswerterweise von Derrida selbst später erneuert werden sollte. Cf. Derrida: Vom Geist. Heidegger und die Frage. Übers. v. Alexander García Düttmann. Frankfurt/M. 1988. Ders. Ficus. Frankfurter Rede. Übers. v. Stefan Lorenzer. Wien 2003. 41 | Deleuze: Das Gehirn ist die Leinwand. l.c. S. 270. 42 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Übers. v. Klaus Englert. Frankfurt/M. 1991. Kpt. 5, S. 132ff. 43 | Ebd. S. 244. 44 | Ebd. S. 249. Dazu: Anja Streiter: Das Kino der Körper und die Frage der Gemeinschaft. In: nachdemfilm.de Nr. 5/2004. http://www.nachdemkino.de/no5/str02dts. html. 45 | Cf. ebd. Dazu: Nicole Brenez: Le rôle de Godard. In: Admiranda. Cahiers d‘Analyse du Film et de l‘Image. Nr. 4: Le jeu de l‘acteur, Aix-en-Provence 1989. S. 68-76.
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Idioten gehöre, dem Kind oder dem Hanswurst,46 gegen das der Aktion mit seinem aktionskompatiblen Raum abgesetzt wird.47 Als wäre der Körper nicht mehr Mittel der filmischen Narration, sondern „Zweck an sich“ im Kantischen Sinne. Als wäre er das Medium des Glaubens selbst: wie schon im siebten Kapitel, das jenen auffälligen Bruch in der Komposition des zweiten Kino-Buchs einleitet (Vgl. Kpt. 2), kulminiert auch das achte in einer Reflexion über den Glauben, der durch das Kino des Körpers gegeben oder zurückgegeben werden kann: „doch wenn die Welt zu einem schlechten Film geworden ist, an den wir nicht mehr glauben, kann dann nicht ein wahres Kino dazu beitragen, uns Gründe dafür zu liefern, an die Welt und die ohnmächtig gewordenen Körper zu glauben?“48 Das Kino des Körpers und das des Gehirns: stünde jenes für die Große Müdigkeit, die sich unser längst bemächtigte, die Erschöpfung als Ausschöpfung all unserer Möglichkeiten wie als Ermattung, Schwächung, schließlich Lähmung des Körpers selbst,49 stünde dieses für ein Schöpfertum, für die Möglichkeit, Neues zu erschaffen, wie es für Deleuzes und Guattaris Philosophie des Gehirns ohnehin kennzeichnend war. Deleuze spricht demgemäß von einem Dualismus, von zwei Aspekten des Zeit-Bildes, einem gleichsam destruktiven und gleichsam konstruktiven, der sich am verbrauchten Körper und an der unausschöpflichen Regenerativität des Gehirns manifestiere.50 Zwei Aspekte, die nicht nur im Kino, dem guten, notwendig zusammengehörten, sondern vielleicht die moderne Kunst, die gute, als Ganzes charakterisier-
46 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 262. 47 | Zu diesem senso-motorisch codierten, grundsätzlich der Aktion zugänglichen, sprich hodologischen Raum: Ebd. S. 170ff. Bliebe noch der Hinweis, dass die Differenz zwischen prä-hodologischem und dem hodologischen Raum der Aktion und des Aktions- bzw. Bewegungs-Bildes seine Entsprechung finden könnte in der zwischen dem „glatten“ und dem „gekerbten Raum“, die Deleuze und Guattari in „Tausend Plateaus“ entwickeln: Cf. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus. l.c. S. 663ff, 682ff. Ebenso bliebe auf den Konnex zwischen prä-hodologischem Raum und dem „beliebigen Raum“ hinzuweisen, den Deleuze in Kino 1 skizziert: Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. l.c. S. 153ff. Dazu: Joseph Vogl: Was ist ein Ereignis? In: Peter Gente/Peter Weibel (Hg.): Deleuze und die Künste. Frankfurt/M. 2007. S. 75ff. 48 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 259. 49 | Zu dieser Zweiwertigkeit des Ausdrucks „Erschöpft“, den Deleuze in einem späten Text über Beckett ausbeutet: Erschöpft. In: Samuel Beckett: Quadrat u.a. Stücke für das Fernsehen. Übers. v. Erika und Elmar Tophoven. Mit einem Essay von Gilles Deleuze. Übers. v. Erika Tophoven. Frankfurt/M. 1996. S. 49-101. 50 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 263f.
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ten und die die zeitliche Serialität der Zeitlinie (Körper) und die zeitliche Koexistenz der Zeitebenen (Gehirn) verschränkte.51 Und an diesem Punkt, nachdem er auf Antonioni, auf Cassavetes und auf Kubrick zu sprechen kam, nach einem furiosen Intermezzo über das Kino der Toten, das natürlich vor allem anderen mit dem Namen Alain Resnais’ assoziiert ist, entwirft Deleuze das Szenario einer agonalen Zuspitzung, eines Duells, das um so merkwürdiger anmuten muss, als die Duellanten sich vorab einig zu sein scheinen. Duell zwischen Alain Resnais und Sergej Eisenstein: Es stelle sich die Frage, so Deleuze, „welchen Unterschied es zwischen dem ‚klassischen’ intellektuellen Kino, etwa dem Eisensteins, und dem modernen Kino, etwa dem Resnais’, gibt. Denn Eisenstein identifizierte bereits das Kino mit dem Denkprozess, wie er zwangsläufig im Gehirn stattfindet und wie er zwangsläufig Empfindung oder Passion umspannt. Das intellektuelle Kino war bereits die zerebrale Ganzheit, die Pathos und Organisches in sich vereinigte. Resnais’ Erklärungen lassen sich mit denen Eisensteins in Übereinstimmung bringen: der Gehirnvorgang ist Gegenstand und Antriebskraft des Kinos.“52 Man tut gut daran, kurz innezuhalten. Denn der Einsatz, um den es hier geht, ist hoch. Es geht ums Ganze. Vorab ums Ganze des Kinos: wenn Resnais als hervorragender Protagonist des modernen Kinos mit dem Konzept Eisensteins, der maßgeblichen Kapazität des klassischen Kinos, in Einklang zu bringen wäre, stände auch die Differenz, historisch wie transzendental, zwischen diesen beiden kinematographischen Phänotypen auf dem Spiel. Deren Implosion aber beschädigte auch die Möglichkeit der Philosophie irreparabel, insofern Deleuze sie mit dem Schicksal des Kinos verkettete. Als Philosophie der Moderne, als Ontologie und auch Hermeneutik der Aktualität, die um den Preis ihres Scheiterns dem Singulum das Wort zu reden versucht, wäre sie erledigt. Darum geht es. Und darum dieses sogleich darauf einsetzende „Und dennoch“, diese hastig, fast ein wenig überstürzt platzierte Wendung, mit der Deleuze die heikle Konkordanz zwischen Resnais und Eisenstein stante pedes entkoppelt. „Und dennoch trat eine Veränderung ein, die ohne Zweifel mit der Gehirnforschung, aber mehr noch mit unserer persönlichen Beziehung zum Gehirn zusammenhängt.“53 (Hervorh. M.M.) Womit der Sinn des Begriffs des Gehirns im Kontext einer Theorie des Kinos klarer hervortritt. Dessen Struktur, seine Funktionsweise und Logik entschiede über die des Kinos selbst. An der Veränderung des „Gehirns“, seiner Theorie wie der Praxis seiner Einschätzung hinge mithin alles. Welche Gestalt sie habe? Welchen Status? Welche Logik? Wenden wir also unseren Blick zurück. Als ob eine Art Rückblende der Konfrontation zwischen Eisen51 | Ebd. S. 267. 52 | Ebd. S. 270. 53 | Ebd.
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stein und Resnais deutlichere Kontur verliehe. Denn ihr Showdown hat eine verwirrende Vorgeschichte. Wir kennen sie (Vgl. Kpt. 2). Schon das siebte Kapitel bildete den Schauplatz einer fast dialektischen Montage, die abermals Eisenstein, den „kinematographischen Hegel“,54 mit einer Gestalt kontrastiert, deren Naturell gegenüber Hegelschen Influenzen gänzlich immun anmutet. Anstelle von Alain Resnais also Antonin Artaud. Sein „Kino der Grausamkeit“ scheint Lichtjahre entfernt vom Intellektualismus Eisensteins. Und doch drohe auch hier die Gefahr einer Verwechslung, die Deleuze tief beunruhigen muss. Rekapitulieren wir. Lesen wir die Geschichte ihres schwierigen Rencontres noch einmal und noch einmal neu. Nach einem eingängigen Referat über Eisensteins Konstruktion des alten Kinos, über das Konzept der „Erkenntnisschocks“, die bekanntlich durch eine spezifische Form der Montage von Bildern und Bildsequenzen kontrolliert hervorgerufen werden können, nachdem Deleuze Eisensteins ausgeklügeltes Beziehungsgeflecht zwischen Bild, Affekt und Begriff resümiert hat, widmet er sich der Frage nach den Gründen für die Krise und endlich den Untergang dieser klassischen Form der Kinematographie. Es gäbe vor allem drei Ursachen: erstens die herrschende Mittelmäßigkeit, die bei einer industriellen Kunst wie dem Kino, im Gegensatz etwa zur Malerei, fatal sei. Und zweitens Propaganda und staatliche Manipulation, die eine Art kinematographischen Faschismus beförderten.55 So weit, so gut? Die Motive sind merkwürdig schwach. Sie überzeugen nicht wirklich, nicht philosophisch. Doch gäbe es noch einen dritten Grund für die Krise des alten Kinos, bei dem es, so Deleuze, auf eine genauere Untersuchung des Falls Artaud ankomme. Ihm käme womöglich eine entscheidende Bedeutung zu.56 Doch welche? Sie beträfe nichts Geringeres als die Geschichte und das Schicksal des Denkens selbst. Zwischen abstraktem Kino und dem des Traums changierend, changierend zwischen abstrakt-experimentellem und kommerziellem Kino redete auch Artaud einem durch das kinematographische Bild hervorgerufenen Schock das Wort, insistiere auch Artaud, dass es die Funktionsweise des Denkens zum Gegenstand habe. Also gäbe es auch für Artaud eine Äquivalenz zwischen Bild und Denken, ein Übergang, der vom Bild zum Denken führte et vice versa? Danach sieht es aus: „Oberflächlich gesehen“, konzediert Deleuze, „gibt es zwischen den Äußerungen Artauds und denjenigen Eisensteins keinerlei Widerspruch: vom Bild bis zum Denken sind Schock und Schwingungen wirksam, die das Denken im Denken hervorbringen sollen; vom Bild zum Denken
54 | Ebd. S. 271. 55 | Ebd. S. 215. 56 | Cf. ebd. S. 216.
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ist die Figur wirksam, die sich (eher als in einem Traum) in einer Art innerem Monolog verkörpern soll, der imstande ist, uns den Schock zu vermitteln.“57 Tatsächlich ist die Parallele zum Paar Resnais-Eisenstein offenkundig. Tatsächlich leitet Deleuze auch hier, nachdem er den Augenschein der Vereinbarkeit ausdrücklich konstatierte, sein Argument, das den „absoluten Gegensatz zwischen dem Projekt Artauds und einer Konzeption wie der Eisensteins“58 (Hervorh. M.M.) konsolidieren soll, abermals mit einem „Und dennoch“ ein: „Und dennoch gibt es bei Artaud etwas völlig anderes: eine Feststellung der Ohnmacht, die nicht auf das Kino zielt, sondern statt dessen das wahrhafte Subjekt-Objekt des Kinos bestimmt. Durch das Kino wird nicht die Macht des Denkens, sondern sein Unvermögen befördert; das Denken hat es niemals mit einem anderen Problem zu tun gehabt.“59 (Hervorh. M.M.) Das Bild also wäre nicht mehr das Ansich des Begriffs, der Begriff nicht mehr das Fürsich des Bildes: die Hegelsche Konvertibilität ist blockiert, durch die Absolutheit des absoluten Geistes geht ein Riss. Riss zwischen Bild und Begriff, Bild und Denken. Denn das Bild überfordert stets das Denken, in dessen unerschöpflichen Ressourcen des Sinns, den unfassbaren Modalitäten seiner Epiphanie verliert es sich. Es ist schwach. Schwaches Denken, dessen Ohnmacht mit keiner dialektischen Finesse mehr zur eigentlichen Macht hochgepuscht werden kann. Als kollabierte die spekulative Christologie angesichts einer Christusikone, die nichts zu sehen gäbe als das Martyrium des Fleisches. Die Wiederauferstehung wäre das Wunder, das es nicht denken kann, das Undenkbare und das Unvordenkliche schlechthin, das Unglaubliche. Daran glauben wir, wenn wir zu glauben glauben? Aber was heißt glauben? Was heißt denken? Was, wenn nicht glauben an etwas, dessen Existenz fragil, dessen Existenz keinerlei Bedeutung hat?60 Was, wenn nicht denken, das nicht denken denkt? „Artaud glaubt nicht mehr ans Kino, seitdem er der Ansicht ist, dass es das Wesentliche verfehlt und nichts anderes mehr machen kann als Abstraktes, Figuratives oder Traumhaftes. Aber er glaubt ans Kino, insofern er der Ansicht ist, dass das Kino seinem Wesen nach dazu fähig ist, diese Ohnmacht des Denkens im Herzen des Denkens zu enthüllen.“61 Enthüllung der Realität, dass das Denken das Denken nicht denkt, nicht denken kann, und dass das Denken daran zerbricht. Das Denkendes-Denkens, die Verfertigung des Denkens in sich, aber scheitert als Denkendes-Ganzen, der Totalität. Deleuze spricht von einer Umwälzung der Bezie57 | Ebd. S. 217. 58 | Ebd. S. 218. 59 | Ebd. S. 217. 60 | Cf. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Übers. v. Thomas Wiemer. Freiburg i.Br., München. S. 210, 212. 61 | Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 217.
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hung zwischen Denken und Kino, da es kein Ganzes mehr gebe, das kraft der Montage noch denkbar wäre; da es keinen inneren Monolog mehr gebe, der durch das Bild aussagbar wäre.62 Und er spricht von einer Umkehrung: „Man könnte sagen, dass Artaud Eisensteins Argument umkehrt: Wenn es wahr ist, dass das Denken von einem Schock abhängt, der es entstehen lässt (der Nerv, das Mark), dann kann es nur eines denken: die Tatsache, dass wir noch nicht denken, das Unvermögen, das Ganze zu denken; wir haben es mit einem versteinerten, entzweiten und zerbrochenen Denken zu tun.“63 Genau aber das wäre Denken: die Abkehr vom Denken-des-Denkens zum Denken dessen, was mich zu denken heißt, Denken des Schocks, von dem Denken sich nicht erholen, den es nicht einholen kann, der ihm vorausgeht und es, fast könnte man sagen, bedingt. Bedingtes Denken? In der Tat zeigt sich für das Denken, was auf der Ebene des Gehirns dessen Fleischlichkeit ausmachte: die Exteriorität eines Reizes, den es zu verantworten hat. Als enthüllte sich wie von Ferne, nurmehr umrisshaft, das Axiom eines neuen Paradigmas der Neurologie: als wäre das Denken nicht die Software des Gehirns, das Gehirn nicht die Hardware des Denkens: ihre „Einheit“, Hirn-Denken, bliebe zu denken gegeben, die Unmöglichkeit der Formalisierung des Denkens jenseits des Gehirns; die Unmöglichkeit der Konstruktion des Gehirns jenseits des Denkens, eine ganze Neurologie des Zwischen. Denn wenn das Wort Fleisch wurde, was hinderte uns anzunehmen, dass das Fleisch seinerseits Wort ist? Und war es je anders? Die Parallelität Artaud-Eisenstein = Resnais-Eisenstein gibt den Blick frei auf den Bund zwischen Gehirn und Denken, für jenes Hirn-Denken, dessen Konturen Deleuze und Guattari in ihrem letzten Buch freilegen sollten. Denken im Ausgang der Dinge, im Namen der Dinge,64 Vorrang des Objekts,65 ein Antihumanismus,66 der ein Inhumanismus wäre: all das hätte seine neurologische Korrespondenz im Motiv eines Gehirns, das Fleisch wäre. Motiv eines Gehirns, dessen inklusive Verkapselung zum Gründungsmythos einer Scientia zu gehören scheint, die die Operationalisierung ihres Gegenstands mit seinem primären Sinn bezahlt: seiner Wucherung. Dessen Kontrolle (durch welches Superhirn eigentlich?) jene kompakte Konserve fabrizieren soll, die den aus62 | Ebd. S. 219. 63 | Ebd. 64 | Francis Ponge: Le Parti pris des choses. Paris 1942. 65 | Cf. Adorno: Negative Dialektik. l.c. 184-193. Auch: Guzzoni: „‚Der lange und gewaltlose Blick auf den Gegenstand’. Überlegungen zum Denken bei Heidegger und Adorno. In: Sieben Stücke zu Adorno. Freiburg i.Br., München 2003. S. 117-137. 66 | Cf. Bernhard-Henri Lévy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts. Übers. v. Petra Willim. München, Wien 2002. Bes: Kpt. 2.1 Der Existentialismus ist ein Antihumanismus. S. 213-258.
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gezeichneten Erkenntnistyp generiert, den man ihr stillschweigend unterstellt. Von hier bis zum Debakel der Artificial Intelligence war es wohl nur ein kleiner Schritt. Das körperlose, das fleischlose Gehirn wäre die Schimäre, die jeder schlechten Metaphysik zur Ehre gereichte. Doch der Traum platzt. Wir erwachen - wie aus einem Wachkoma. Und wir leben und erleben uns inmitten eines Gehirns, das uns umgibt wie ein Ozean, das einem Ozean gleicht, das ein Ozean ist. Das klassische Modell des Kinos mit seiner Verkettung von Bildern und Tönen, seiner ausgeklügelten Konvenabilität von Bild- und Tonspur, mit der Logizität seiner Anschlüsse und dem durchaus strengen Reglement seiner Komposition, mit seiner grundsätzlich garantierten Kommensurabilität des kinematographischen Bildes ist mit diesem gehirnozeanischen Feingefühl so wenig noch kompatibel wie mit dem klassischen Modell des Gehirns. Seine Gesetze, die der Integration und Differenzierung (Begriff), das der Assoziation durch Kontiguität und Ähnlichkeit (Bild),67 werden durch einen Ausnahmezustand konterkariert, der sich als sein Normalzustand erweisen könnte. Dem Bruch der senso-motorischen Entente entspricht die Vorstellung eines Gehirns, das prinzipiell seine Grenzen, alle Grenzen überschreitet. Das wäre ein Neues Gehirn. Ein neues Denken des Gehirns und ein neues Gehirn des Denkens: „Zweifellos führte Bergson (der neben Schopenhauer einer der wenigen Philosophen war, die eine neue Konzeption des Gehirns erschlossen) ein grundlegend neues Element ein: das Gehirn war lediglich noch ein Abstand, eine Leerstelle, nichts weiter als eine solche Leere zwischen Reiz und Reaktion.“68 Diese Fissionen festzuhalten, zu fixieren, sie gleichsam stillzustellen, diese Mikrofraktionen nicht mehr durch Integration und Assoziation zu überbrücken, stellte die maßgebliche Leistung der jüngeren Hirnforschung dar. Doch ist die Azentrizität des Gehirns, zu der diese Forschung - die womöglich, so Deleuze, ihrerseits nur auf eine sich ohnehin vollziehende Veränderung der persönlichen Beziehung zum Gehirn antworte69 - durchzustoßen beginnt, heute mehr denn je, nicht des Rätsels Lösung, sondern das Rätsel selbst. Das Rätsel, das sich knüpft. Als wäre es das all unserer Gebrechen, endlich des Todes: „Unsere erlebte Beziehung zum Gehirn wird immer fragiler, immer weniger ‚euklidisch’, und durchläuft kleine Gehirntode. Weit davon entfernt, mit ihm zur Herrschaft, zur Lösung oder zur Entscheidung vorgedrungen zu sein, wird das Gehirn zu unserem Problem, zu unserer Krankheit, zu unserer Passion.“70
67 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 270f. 68 | Ebd. S. 271. 69 | Cf. ebd. S. 272f. 70 | Ebd. S. 273.
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5. Zerebrale Leidenschaften und eine Krankheit zum Gehirntod, die unsere letzte Chance sein könnte, unsere erste vielleicht. Denn das Kino des Gehirns, des Neuen Gehirns, ist das Kino der Konversion. Denn was sagt, was heißt dieses Gehirn, uns, im Kino, überhaupt? Zum einen die Absolutheit eines Schnitts, dem sich die Verkettungen unterordnen statt ihn zu überbrücken.71 Einschnitt, der tiefer reicht als jegliche Unterbrechung. Einschnitt, der kein Danach duldet; der das Danach nur duldet als das ganz Andere - seiner selbst. Als ob nicht mehr der Montage, sondern der Einstellung, dem einzelnen Bild, seiner Einzigkeit und Einzelheit, seinem Dauern, seinem „Zeitdruck“ und „Rhythmus“72 die ganze Sorgfalt gehörte, die kinematographische Aufmerksamkeit. Die Beziehung, die ein solches Bild als Einstellung zu anderen Bildern unterhielte, wäre nicht mehr reguliert durch die Linearität der Narration, wäre nicht mehr ausgerichtet am auktorialen Regime der Regie, die noch den Blick des Zuschauers dirigierte in unbotmäßiger Kumpanei. Die Bilder ordnen sich, alliieren sich und werden einander fremd kraft eines Reglements, das sich im Moment der Verkettung allererst bildet, um im Moment der Verkettung seine Wertigkeit schon wieder einzubüßen. Das hat niemand mehr in der Hand. Kein Atlas schultert diese Bilder. Kein Gehirn kontrolliert das Gehirn. Die Schnitte des Gehirns, diese neuen Schnitte, diese neue Art von Schnitten, von Sprüngen und sprunghaften, instantanen Verkettungen und Friktionen sind im strengen Sinne mit denen des neuen Kinos, dieser neuen Art des Kinos identisch. Ein neues Gehirn eines neuen Kinos: zum anderen nämlich bedeutete es das absolute Jenseits der Innerlichkeit, der Totalität umwillen einer Exteriorität,73 die, ist man erst einmal auf den Geschmack gekommen, die, hat man erst einmal begonnen sich zu rühren, einen unnachahmlichen Sog ausübt, eine Faszination, eine Lust. Als wäre der Kokon, mit dem wir uns panzern zu müssen glaubten, viel zu lange schon, zersprungen. Eine Exteriorität und Exterritorialität, die unsere insulare Existenz enthüllt. Wir Höhlenbewohner und Kannibalen unserer Nachgeburt: wir eroberten ja keinen Kontinent, wie wir meinten, nachdem wir endlich aus diesem Loch gekrochen waren. Was wir zu entdecken beginnen, ist eine Insel, eine stille Ödnis, ein kümmerliches Eiland mit seiner ozeanischen Äußerlichkeit, seiner kosmischen Äußerlichkeit, die noch den Horizonten, dem Umgrenzenden, den letzten vertrauten Koordinaten, links, rechts, oben, unten, vorne, hinten etc. entkommt. Wir können zu den Sternen fliegen oder ins Meer stechen, wir Aquanauten, wir Kosmonauten 71 | Ebd. 72 | Cf. Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films. Übers. v. Hans-Joachim Schlegel. Berlin. Frankfurt/M., Wien 1984. S. 131-141. 73 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 273.
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unserer Äußerlichkeit ohne Nautik und Navigation, ohne das herrische Privileg auf Heimkunft. „Eine Stunde lang hat ein Mensch außerhalb jedes Horizontes existiert - alles um ihn herum war Himmel …“74 Oder Wüste. Oder Sand. Oder Meer. „Far–off, far–off, as if he had landed on another planet, as a man might land after death. Leaving behind the body of care. Even the body of desire. Shed. … To be alone, mindless and memoryless between the sea ... To be alone with a long, wide shore and land, heartless, soulless. As alone and as absent and as present as an aboriginal dark on the sand in the sun.”75 Wie ein Mensch nach dem Tode des Menschen. Wer also lebt dort, auf der Insel, auf Solaris? Und was bedeutet uns der Ozean, das Gehirn? Und was sagt dieses Gehirn, uns, im Kino, überhaupt? „Das Gehirn sagt Ich, aber Ich ist ein anderer.“76 Der Neger Erwin,77 der Neger Rimbaud,78 der dunkelhäutige und Native Speaker einer Sprache, die ihn kaputtgemacht hat, einer Landschaft, die ihn kaputtgemacht hat: Um seine Verwandlung also ginge es, seine Mutation, sein Mutabor und sein Zauberwort, das mit einem Schlag das ganze verkehrte Wesen wegfegte, mit einem Wort, einer Bitte, einem Gebet vielleicht. Gewiss, es ist ein Leichtes, aus einem Kalifen einen Storch zu machen; doch offenbar unendlich schwer, unmenschlich schwer, aus einem Storchen einen Kalifen. Zarathustra, der Verwandelte und Verwandler, der Unmensch und Übermensch und Lehrer des Übermenschen, er hätte sein Lied dazu zu singen gehabt: Wenn ihr nicht werdet wie die Tiere... Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder... Die Stationen seiner Metamorphose sind die einer Krise, von der niemand weiß, auch Zarathustra nicht, ob sie nicht in die Katastrophe mündet, in den Schmerz, in den Wahnsinn. Das Rätsel, das er uns ist, quittiert den Preis für jene enge Passage ins andere unserer selbst. Ohne den Untergang des Menschen, ohne sein Verschwinden, sein Existieren als Verschwinden, ohne sein Aufgehen in der Landschaft, im Gehirn, im Meer wäre sein Menschsein, sein Werden nicht zu haben. An diese Wunde rühren wir. Und wenn wir die Frage stellen, welchen Sinn jener ominöse Bruch in der Komposition von Deleuzes zweitem Kino-Buch
74 | Lévinas: Heidegger, Gagarin und wir. In: Schwierige Freiheit. Versuch über das Judentum. Übers. v. Eva Moldenhauer. Frankfurt/M. 1992. S. 175. 75 | D.H. Lawrence: Kangaroo. Intro. by Richard Aldington. London 1923, Nachdr. 1974. S. 339. 76 | Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie? l.c. S. 251. 77 | Herbert Achternbusch: Der Neger Erwin. Deutschland 1980. 78 | Cf. Arthur Rimbaud: Eine Zeit in der Hölle. Licht-Spuren. Übers. v. Hans Therre u. Rainer G. Schmidt. München 1979. S. 28. Dazu: Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 201.
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haben sollte, wenn wir fragen, warum dieses Buch nach seiner fast79 erschöpfenden Konstruktion des Zeit-Bildes mit dem sechsten Kapitel nicht schiedlich, friedlich endet, ergehen wir uns nicht in formalen Mutmaßungen einer spezialisierten Deleuzeforschung, wie sinnvoll sie auch immer sein mag. Denn der Bruch ist das Signum und Siegel der Konversion selbst, ihr Rätselbild. An ihm wird deren schiere Möglichkeit lesbar. Sie aber wäre die des Zeit-Bildes selbst. Schon die theoretische, buchtechnische wie publikationsstrategische Zäsur zwischen Kino 1 und Kino 2, das Diskontinuum zwischen Bewegungs-Bild und Zeit-Bild, war abenteuerlich genug, indizierte es doch einen Übergang, den keine Brücke mehr ermöglichen sollte, der nicht anders als durch einen Sprung realisiert zu werden vermag. Ein neuer Schnitt eines neuen Denkens. Ein neuer Schnitt einer neuen Art von Philosophie, durch die dieser Schnitt geht, klaftertief, den kein Autor mehr vernähen will und kein Interpret mehr vernähen darf. Denn er wäre auch ein Schnitt und ein Einschnitt ins Fleisch der Subjektivität überhaupt. Rekapitulieren wir: nachdem das Subjekt der senso-motorischen Einheit in Turbulenzen geriet, nachdem die Zeit, auf deren Management er so viel Akribie und Sorgfalt verwendete, ihm schließlich zum Unheil gereichte, das nur um den Preis einer Medikamentierung kleingehalten werden konnte, deren Dosis schließlich tödlich zu werden droht, begannen in einer bestimmten Epoche in der Geschichte des Kinos seltsam verdreht wirkende Figuren, Krüppel und Zombies, Zwerge, Schwächlinge, Nichtsnutze und Zerrüttete, Verstörte, verhuschte oder einfach nur todtraurige Gestalten die Leinwand zu belagern, die vor allem eines zu haben schienen: Zeit. Und das Leiden an Zeit. Ihre Leere und Leergelassenheit aber zersetzte jedwedes Ursache-Wirkungs-, jedwedes MittelZweck-Gefüge, das noch Gerichtetheit, Unterweisung und Orientierung hätte sein können. In einer Welt, in der es nichts mehr zu tun gibt, von einem Spiegel gespiegelt, der nur Fremdes und einen Fremden zeigt, ein Alter Ego, das mehr und anderes wäre als Ego: da begann, zuerst kaum merklich, etwas von dem durchzusickern, was durch die Allgewalt der Floskel, der Phrase, der bildhübschen Schattenspiele stets außen vor gehalten werden musste. Nennen wir es das „Reale“. Oder das „Sein“. Oder das „Werden“. Der Melancholiker, den die Zeit kaputtgemacht hat, diese Zwittergestalt jenseits von Gut und Böse, steht stets an der Schwelle, wie versteinert, beseelt 79 | Halten wir fest, dass Deleuze zumindest die beiden ersten Formen des ZeitBildes (Gegenwartsspitzen und Vergangenheitsschichten) bis zum sechsten Kapitel eingängig entfaltet; die letzte (Serialität) eigentlich erst danach. Doch bliebe denkbar, das Zeit-Bild 3 im Rahmen der Erörterungen von Zeit-Bild 1 und 2 zu situieren. Einen plausiblen Grund für besagten Bruch in der Komposition des zweiten KinoBuchs ist dessen späte Einführung nicht.
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von jenem schrecklichen Silberblick, dem des Dämons, dem des Engels, steht endlos lange unentschlossen vor der Möglichkeit, es ein für alle Mal allen und allem heimzuzahlen (was er kann und getan hat und immer wieder tun wird, wir wissen es nur zu genau). Oder: endlich geboren und wiedergeboren zu werden, anzukommen in der Welt, auf seiner gottverlassenen Insel, dem Nullpunkt seiner endlich unerfüllbaren Wünsche, denen er endlich die Treue wahrt. Die Krise der Subjektivität, deren Latenz seit ihrer Einsetzung als maßgebliches Leitbild humanen Selbst- und Weltverhältnisses sie mehr oder minder still begleitet, wird im Melancholiker manifest, zur Gefahr, zur Chance, zur chronischen Krankheit. Woran man sterben kann. Womit das Leben beginnt. Steh auf und geh! Der Imperativ und die Gewalt dieses Imperativs verraten etwas von jenem griechisch-abrahamitischen Resonanzraum, Dissonanzraum, der vielleicht nur ein anderer Name für die Geschichte selbst wäre. Als wäre sie bestimmt, nein, gestimmt durch jenen unerhörten Oberton, der die Geschichte des Denkens bis auf den heutigen Tag erzittern lässt. Noch in der platonisch-paulinischen Fernbeziehung wird sie offenbar: die Umkehr und Kehre, die Bekehrung wie eine zweite Geburt, die die erste erst ermöglichen sollte. Die Auferstehung von den Toten und die Rebellion gegen den Tod: wer wäre nicht lieber Tagelöhner und Niedrigster unter Niedrigen als nur einen Tag der König der Schatten? Nennt ihn Lazarus. Oder Ismael. Knapp Entronnener einer Katastrophe, bedingt und erwirkt durch Rang und Ordnung, bedingt durch den Treuglauben an eine Schicklichkeit, an der irrezuwerden kein Makel mehr darstellte. Don’t look now! Von welcher Tugend aber sprechen wir? Von welcher Tauglichkeit? Die spröde Eleganz, die das Kantische Wort vom „Vorrang der praktischen vor der theoretischen Philosophie“ atmet, entblößt in einem Nu das bestgehütete Geheimnis aller Philosophie seit den Tagen Sokrates’: dass ihre Wahrheit keine nurmehr theoretische ist; dass sie sich propositional präparieren, doch nicht darstellen lässt.80 Der Rest ist Praxis. Deleuze, der Neuerer und Philosoph einer neuen Philosophie, eines neuen Kinos entwickelte mit dem Zeit-Bild einen Begriff, dessen normative Implikationen die Illusion seiner technischen Fabrikation wie theoretischen Konstruktion hintertreiben. Denn das ZeitBild ist keine technische und keine theoretische, sondern eine praktische Kategorie. Es erschöpft sich so wenig in den Finessen filmischer Präsentation wie filmtheoretischer Repräsentation. Sein primärer Sinn erschließt sich erst kraft jener Konversion von Subjektivität, die den speziellen Typus von Protagonisten, die das Kino des Zeit-Bildes bewohnen, insgeheim zum Modell des Rezipienten selbst ausbilden. Das Schicksal des Zuschauers, den Deleuze nachgerade aufreizend mit Geringschätzung zu strafen scheint, gerät zum
80 | Cf. Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 1982.
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entscheidenden Datum einer Theorie, die die Präsuppositionen des Theoretischen, ihr epistemologisches Privileg, kassiert. Die verstörende, verstörte Frage, was denn nun ein Zeit-Bild sei, wo es zu sehen wäre, wie es eigentlich aussähe, funktioniere und mit welchen Mitteln und Finessen es hergestellt werden könne, sollte man sich nicht hinter vorgehaltener Hand klammheimlich zuflüstern müssen. Denn sie führt ins Zentrum des Problems. „Immer dann, wenn man mich nicht fragt, was ein Zeit-Bild sei, weiß ich es, wenn man mich fragt, weiß ich es nicht.“ Die neoaugustinische Kalamität enthüllt en passant den Entwurf einer Praktik des Zeit-Bildes. Ohne jenes Vermögen, das wir mit einer gewissen nicht nur terminologischen Hilflosigkeit als Passibilität nominiert haben, bleibt die Leinwand leer und leergelassen, belanglos im emphatischen Sinne. Die Wahrnehmung der Zeit selbst und nicht ihrer nurmehr indirekten Repräsentation, der Zeit selbst „im reinen Zustand“, wie Deleuze sie unermüdlich, fast aufdringlich, fast gebetsmühlenartig wieder und wieder verheißt, wäre eine Wahrnehmung ohne Form, Organ; wäre eine Wahrnehmung des Fleisches selbst. Mit dem Fleisch sehen lernen. Nur ein „Mann ohne Eigenschaften“ wäre dazu in der Lage, nur ein Zuschauer, ein „Theoretiker“, der seine angestammte Position räumt. Wenn uns der Sinn nach der Möglichkeit stehen soll, dem Virtuellen, der Dauer, nach jenem fragilen Überhang, wo nichts, was war und je hätte sein können, nicht ist, wo nichts, was sein wird und je sein könnte, nicht ist, müssen wir unsere Bestimmtheit aussetzen, unsere Präsenz, unsere Wirklichkeit. Unseren allerkonkretesten Inhalt. Denn der „Mann ohne Eigenschaften“, der gewöhnliche Zuschauer,81 ist „ein“ Mann, einer. „Ein Leben enthält nur Virtuelles. Was man Virtuelles nennt, ist nicht etwas, dem es an Realität gebricht, sondern das in einen Aktualisierungsprozess eintritt gemäß der Ebene, die ihm ihre eigene Realität verleiht.“82 Das schreibt Deleuze am Ende seines Lebens. Am Ende von John Carpenters „Halloween“, nach all dem grobsinnigen Grusel, dem pittoresken Schlachten und Geschacher um den spritzigsten Plot, werden in hastig aufeinanderfolgenden Einstellungen beliebige Räume gezeigt, Zimmer, Hauseingänge, gewöhnliche Hauseingänge bei Nacht, irgendwelche, menschenleer, in grelles Licht getaucht: unbestimmte Schauplätze eines hier, genau hier möglichen Verbrechens, dessen Möglichkeit wirklicher wird als alle Wirklichkeit. Als gäbe es etwas zu sehen, wo es nichts zu sehen gibt, nichts Bestimmtes, nichts von Belang. Hier kauert die Angst, lauert die Angst, die mehr ist als Angst und Furcht und Zittern. Gewiss, das kann man sehen. Aber wer? „Das Gehirn sagt Ich, aber Ich ist ein Anderer.“ Jetzt geht’s mir besser! Tut es das, jetzt, mit zerschlagenen 81 | Cf. Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. l.c. S. 55. 82 | Deleuze: Die Immanenz,: ein Leben … Übers. v. Joseph Vogl. In: Vogl/Friedrich Balke (Hg.): Gilles Deleuze - Fluchtlinien der Philosophie. München 1996. S. 29-33.
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Gliedern? Accattone,83 der schmutzige Christus, der hässliche Christus, der Lumpenproletarier, der Lumpenhund, der Lumpenheiland, mit dem nichts und niemand mehr Staat wird machen können, er bleibt stumm wie ein Wurm, der am Haken zum Fragezeichen sich krümmt. Also lassen wir das. Lassen wir ihn. Lassen wir ihn allein. Allein auf seiner Insel, allein mit sich und seinen Gläubigern. Wahren wir Diskretion. Und langsam schwebt die Kamera empor. Unter uns der Ozean, das Gehirn, die Insel. Unter uns Solaris. So endet kein Film. So endet kein Leben.
83 | Pier Paolo Pasolini: Accattone. Italien 1961.
Anhang
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C. M USIKVERZEICHNIS Bush , Kate: Aerial. 2005. Cohen, Leonard: Songs from a Room. 1969. Mozart, Wolfgang Amadeus: Der bestrafte Wüstling oder Don Giovanni. KV 527, 1787. Wagner, Richard: Parsifal. Bühnenweihfestspiel. 1882.
D. A BBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17
Filmstills aus Andrej Tarkowskij: Solaris, UdSSR 1972. Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Nostalghia, Italien 1982/83. Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Der Spiegel, UdSSR 1975. Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Andrej Rubljow, UdSSR 1966-1969. Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Stalker, UdSSR 1979. Die Heilige Elisabeth von Bamberg. Filmstill aus John Carpenter: Hallooween – Die Nacht des Grauens, USA 1978. Antonin Artaud. Vincent Van Gogh: Selbstportrait. Antonin Artaud: Selbstportraits. Filmstill aus Yasujiro Ozu: Die Geschwister Toda, Japan 1941. Filmstills aus Yasujiro Ozu: Ein Herbstnachmittag (Der Geschmack von Makrelen), Japan 1962. Filmstill aus Yasujiro Ozu: Tokyo in der Dämmerung, Japan 1957. Filmstill aus Pier Paolo Pasolini: Das 1. Evangelium – Matthäu, Italien 1964. Francis Bacon: Studie nach einem menschlichen Körper, 1981. Francis Bacon: Selbstportrait. Francis Bacon: Drei Studien für ein Selbstportrait.
A NHANG
Abb. 18 Claude Monet: Camille Monet auf dem Totenbett, 1879. Abb. 19 Filmstill aus Andrej Tarkowskij: Solaris, UdSSR 1972.
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Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Margrid Bircken, Dieter Mersch, Hans-Christian Stillmark (Hg.) Ein Riss geht durch den Autor Transmediale Inszenierungen im Werk von Peter Weiss 2009, 240 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1156-4
Stefanie Diekmann, Winfried Gerling (Hg.) Freeze Frames Zum Verhältnis von Fotografie und Film 2010, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1363-6
Jan Distelmeyer, Lisa Andergassen, Nora Johanna Werdich (Hg.) Raumdeutung Zur Wiederkehr des 3D-Films Januar 2012, 178 Seiten, kart., zahlr. Abb., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1815-0
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Metabasis – Transkriptionen zwischen Literaturen, Künsten und Medien Arthur Engelbert Global Images Eine Studie zur Praxis der Bilder. Mit einem Glossar zu Bildbegriffen 2011, 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1687-3
Martina Hessler, Dieter Mersch (Hg.) Logik des Bildlichen Zur Kritik der ikonischen Vernunft 2009, 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1051-2
Gertrud Lehnert (Hg.) Raum und Gefühl Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung 2011, 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1404-6
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