Enthauptung als Paradigma: Zur Ikonografie des Übergangs, der Wahrheitsfindung und der Konversion 9783839467930

Was sagen geschichtliche Bilder über die Praxis des Enthauptens aus? Katrin Weleda arbeitet mittels sorgfältiger Quellen

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German Pages 244 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Zur Ikonografie des Übergangs
1.1 Der König und der Dieb. Ent- und Resakralisierung des abgetrennten Kopfes
1.2 Zur politischen Ikonografie der Guillotinenklinge
1.3 Blutige Details
2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung
2.1 Giovanni Aldinis »amour de la vérité«
2.2 »Die Wahrheit zur Sache« der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz
2.3 Aus dem »Reich der Wahrheiten« des Samuel Thomas von Soemmerring
2.4 »The other manifestations of life« – Paul Loye und Gabriel Beaurieux
2.5 »Dernières apparitions«
3. Loin des yeux, loin du coeur. Medusa de(kon)struieren
3.1 Enthaupten ≠ Kastrieren. Die semiotische Konversion Medusas
3.2 Aus den Augen schaffen
Resümee
Dank
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Enthauptung als Paradigma: Zur Ikonografie des Übergangs, der Wahrheitsfindung und der Konversion
 9783839467930

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Katrin Weleda Enthauptung als Paradigma

Image Band 232

Katrin Weleda ist Kunst- und Medienwissenschaftlerin und unterrichtet als Postdoc im Fach Medienwissenschaft an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, wo sie auch promovierte. Sie war unter anderem wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen sowie Koordinatorin des DFGGraduiertenkollegs »Das fotografische Dispositiv«. Sie co-kuratierte die virtuelle Ausstellung »Ich hasse die Natur – Mensch. Natur. Zukunft« für die Klassik Stiftung Weimar, die den DigAMus-Award gewann. Ihre Forschungsinteressen umfassen Löcher, digitale Bildwelten und künstliche Intelligenz.

Katrin Weleda

Enthauptung als Paradigma Zur Ikonografie des Übergangs, der Wahrheitsfindung und der Konversion

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: La Guillotine. Par un vieux Jacobin, Nr. 1, hg. von OLUSILIPPEPHI, Impr. Bonaventure et Ducessois, 55, quai des Grands-Augustins, März 1848. 1 Blatt, beidseitig, hier Frontispiz, Bibliothèque nationale de France, Paris. Archiv der Autorin. Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839467930 Print-ISBN: 978-3-8376-6793-6 PDF-ISBN: 978-3-8394-6793-0 Buchreihen-ISSN: 2365-1806 Buchreihen-eISSN: 2702-9557 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Vorwort ...................................................................... 7 Zur Ikonografie des Übergangs ........................................ 15 Der König und der Dieb. Ent- und Resakralisierung des abgetrennten Kopfes................................................ 15 1.1.1 Dialogue: je perds une tête – j’en trouve une...................... 20 1.1.2 Louis Villeneuve – Matière à reflection pour les jongleurs couronnées ......................................... 24 1.1.3 Théodore Géricault – Têtes de suppliciés ......................... 33 1.2 Zur politischen Ikonografie der Guillotinenklinge ........................ 44 1.2.1 Ian Hamilton Finlay – Four Guillotine Blades ....................... 44 1.2.2 La Guillotine. Par un vieux Jacobin................................ 59 1.3 Blutige Details ......................................................... 65 1.3.1 Georges-Antoine Rochegrosse – Andromaque ..................... 69 1.3.2 Victor Hugo – Justitia............................................ 73 1.3.3 Michelangelo Merisi da Caravaggio – Decollazione di San Giovanni Battista ..............................76 1.3.4 Henri Regnault – Exécution sans jugement sous les rois maures de Grenade ...................................... 80

1. 1.1

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung ............................. 89 2.1 Giovanni Aldinis »amour de la vérité«................................... 89 2.2 »Die Wahrheit zur Sache« der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz............................................. 107

2.3 Aus dem »Reich der Wahrheiten« des Samuel Thomas von Soemmerring ...................................................... 114 2.4 »The other manifestations of life« – Paul Loye und Gabriel Beaurieux ...133 2.5 »Dernières apparitions« ............................................... 151 2.5.1 Antoine Wiertz – Pensées et visions d’une tête coupée............. 151 2.5.2 Douglas Gordon – 30 seconds text ................................ 171 3. Loin des yeux, loin du cœur. Medusa de(kon)struieren............... 177 3.1 Enthaupten ≠ Kastrieren. Die semiotische Konversion Medusas .......... 177 3.2 Aus den Augen schaffen................................................186 Resümee .................................................................. 203 Dank ....................................................................... 215 Literaturverzeichnis ....................................................... 217 Abbildungsverzeichnis .................................................... 239

Vorwort

Die vorliegende Dissertationsschrift ist das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit dem vielgestalten Themenfeld der Enthauptung. Diese begann mit einer 2009 abgeschlossenen Magisterarbeit, in welcher ich exemplarisch von der Neuzeit bis zur Moderne der These nachging, dass der Schnitt am Körper und der Schnitt am oder auch im Bild den dargestellten Enthauptungsakt in gewissem Sinne wiederholt. Die daraus abgeleitete Prämisse einer künstlerischen Reflexivität, die dieses Sujet in einigen Bereichen trägt, führte mich bei der Recherche für die Dissertation allerdings weg von einem Repertoire bildlicher Darstellungen abgetrennter Köpfe und Enthauptungen, die vor dem Ende des 18. Jahrhunderts vorwiegend biblische und mythologische Figuren zeigen, wie beispielsweise Johannes den Täufer, Holofernes, Orpheus und Goliath. Zudem wurde mir während meines Forschungsaufenthaltes am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris klar, dass eine bildanthologische Herangehensweise für mich nicht aussagekräftig genug wäre und ich inhaltlich keine Parallelen zwischen meiner Forschung und der Enthauptungspraxis des kontemporären Terrors konstruieren möchte, um diesen nicht zu nobilitieren. Stattdessen widmete ich mich aus unterschiedlichen Perspektiven, mit ebenso unterschiedlichen Methoden und im Fokus auf einzelne, scheinbar disparate, aber durchaus diskursive Felder meiner Untersuchung, die sich bald verstärkt auf Phänomene revolutionspolitischer Ikonografie, medizinhistorische Debatten und semiotische Prozesse fokussierte, die mir besonders relevant oder paradigmatisch erschienen, was den Aufbau meiner Arbeit begründet. Jedem der drei Kapitel

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Enthauptung als Paradigma

liegt deshalb eine andere Systematik und Methodik zu Grunde, um den jeweiligen Forschungsgegenständen und -gebieten gerecht zu werden. Das Augenmerk wurde dabei in Anlehnung an Anne Pingeot auf abgetrennte Köpfe, die ihre Energie aus der Enthauptung beziehen, aber auch auf den sie umgebenden Kontext gerichtet, um einen möglichst vielschichtigen und differenzierten Erkenntnisgewinn zu erzielen.1 Mir ging es in erster Linie darum, ein bereits in weiten Teilen gut erforschtes Thema durch die Unterteilung in bestimmte Felder und in Bezug auf bekannte und weniger bekannte künstlerische Positionen neu zu beleuchten, sowie für den äußerst relevanten medizinhistorischen Bereich, der in der Forschung zumeist stark verdichtet wird, eine Quellenanalyse vorzunehmen. Des Weiteren war es mir ein wichtiges Anliegen, Medusa ein Kapitel zu widmen. Der historische Rahmen dieser Arbeit ist dabei vorwiegend zwischen der Französischen Revolution, des europäischen 19. Jahrhunderts und zwei nahezu zeitgenössischen künstlerischen Positionen angesiedelt; die Quellen- und Diskursanalysen gehen darüber jedoch hinaus. Epochale Ereignisse wie die Französische Revolution sind mit der ethnologischen Systematik und Terminologie Arnold van Genneps gesprochen, als komplexes Ritualsystem anzusehen, das mit allen Anbahnungen, Geschehnissen und Zuschreibungen auch als ein politischer Übergangsritus, rite de passage, verstanden werden kann.2 Bestandteile eines solchen Ritus sind unter anderem die Kompensation oder Tilgung von Macht und das Streben nach einem neuen Gleichgewicht sowie letztlich nach Fortschritt. Hierbei handelt es sich um Prozesse, die von 1

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Vgl. Anne Pingeot, »Abgeschnittene Köpfe«, in: Ausst.-Kat. Das Fragment. Der Körper in Stücken 1990, Musée d’Orsay Paris/Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt a.M. 1990, S. 159–170, hier S. 159. Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage) [1909], übers. von Klaus Schomberg und Sylvia M. Schomberg-Scherff, Frankfurt a.M./New York, 20053 . (van Gennep 2005) Innerhalb dieses Konzeptes definiert van Gennep drei Stadien: Das erste Stadium stellt die Ablösungsphase dar, charakterisiert durch Trennungsriten, das zweite ist die Zwischenphase, begleitet von Schwellen- und Umwandlungsriten, das dritte die Integrationsphase, gekennzeichnet durch Angliederungsriten. Ebd., S. 179.

Vorwort

vielschichtigen Diskursen begleitet werden, die in der vorliegenden Arbeit besonders zum Tragen kommen und auch in der Bildpolitik eine wichtige, identitätsstiftende Rolle spielen. Die Hauptthese meiner Arbeit, dass die Enthauptung als Paradigma anzusehen ist, erstreckt sich auf drei unterschiedliche Gegenstandsbereiche, in denen entsprechend differierende methodische Ansätze angewendet werden. Von besonderem Interesse ist dabei in der gesamten Betrachtung die Frage, in welcher Form spezifische Übergänge zu Tage treten, wenn es beispielsweise um Weltauffassungen, Sinnbilder und Muster von Beurteilungen geht. Der Gegenstandsbereich des ersten Kapitels ist wiederum in drei einzelne Themen gegliedert. Zuerst wird hier der revolutionäre Transfer oder symbolische Tausch zwischen Königskörper und Volkskörper analysiert und anhand von grafischen Beispielen auf die darin dargestellten emblematischen Bildmechanismen beleuchtet. Als ein initiierender und bedeutungsvoller Akt der Französischen Revolution wird der guillotinierte Kopf des nun abgesetzten Königs Ludwig XVI. in einem bildlichen Modus präsentiert, der eine Untersuchung seiner Ent- und Resakralisierung in Anlehnung und Weiterführung der Forschung insbesondere von Daniel Arasse3 nahelegt. Hierfür wird die ikonografische Untersuchung mit semiotischen und kulturhistorischen Perspektiven auf die Thematik kombiniert, um den Fragen nach der bildgebenden und politischen Rolle der Guillotine, dem spezifisch revolutionären Bildmodus, sowie der Bedeutung von Zeugenschaft bei der Hinrichtung durch ein Publikum zu begegnen. Diesen Beispielen gegenübergestellt ist ein Gemälde guillotinierter Köpfe von Théodore Géricault, der in seiner ›realistischen‹ Sicht auf den Bildgegenstand einen völlig anderen Darstellungsmodus verfolgt, und hier in Anwendung des poststrukturalistischen, psychoanalytischen Konzeptes der Abjektion4 von Julia Kristeva analysiert wird.

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Daniel Arasse, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit [1987], übers. von Christine Stemmermann, Reinbek bei Hamburg 1988. (Arasse 1988) Kristeva, Julia, Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1980. (Kristeva 1980)

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Enthauptung als Paradigma

In der Revolutionsikonografie verkörpert die Guillotinenklinge als Objekt, wie auch als Bildträgerin, den Übergang per se. Beleuchtet wird in einem Unterkapitel nicht nur ihre technische Entwicklung, sondern auch die Genese der Klingenform. Da sie ihre Aufgabe in einer derart hohen Geschwindigkeit verrichtet, dass die Augen des Publikums die tatsächliche Hinrichtung kaum wahrnehmen können, wird hier insbesondere der Augenblick der Herbeiführung des Todes fokussiert. Untersucht wird in diesem Zusammenhang auch das programmatische Wechselspiel zwischen Sublimität und Horror, das anhand einer Arbeit Ian Hamilton Finlays deutlich wird: Die Guillotinenklinge wird darin als Schiefertafel mit einer Inschrift versehen, die dem Modusbrief von Nicolas Poussin entlehnt ist. Um diesen (Bild-)Gegenstand auch im Hinblick auf den historischen Kontext interpretieren zu können, werden ikonografische, bildwissenschaftliche, zeichentheoretische und kulturhistorische Ansätze miteinander kombiniert. Im dritten Unterkapitel wird untersucht, inwiefern das Austreten und Hinterlassen von Blut ebenfalls einen Übergang signifiziert: Hier steht Blut in der Malerei im Vordergrund, das Details im Bildzusammenhang erst sichtbar macht, da es in Einritzungen und Vertiefungen geflossen ist, um Blut als Signatur des Künstlers sowie letztlich um die möglichst realistische Darstellung von Blut an sich. Die Fokussierung auf Blut als ein Detail in ausgewählten Gemälden, die im Zusammenhang mit der Enthauptung als Hinrichtungsform stehen, ist ein methodologisches Prinzip in Anlehnung an Daniel Arasse,5 welches diese Möglichkeit der Interpretation eröffnet. Hier wird insbesondere den Fragen nachgegangen, was diese spezifischen Details für eine Bedeutung tragen und inwiefern sie Aufschluss über die Praxis und Reflexivität des Künstlers in Bezug auf sein Kunstwerk geben. Für diese detaillierte Betrachtung werden Ansätze der Kunst- und Zeichentheorie sowie der ikonografischen Analyse verknüpft. Im zweiten Kapitel wird in fünf Abschnitten das Augenmerk auf die Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung gerichtet. Durch die Einführung 5

Daniel Arasse, Le Détail. Pour une histoire rapprochée de la peinture [1992], Paris 2011. (Arasse 2011)

Vorwort

der Enthauptung als Strafpraxis werden die Körper und insbesondere die Köpfe der Delinquenten im medizinisch-wissenschaftlichen Experiment aufgewertet. Sie werden nun als faktisches Material angesehen, das nicht mehr nur durch die Hände und den Blick beurteilt wird, sondern gereizt durch galvanische und elektrische Applizierungen, wird an ihnen die Lebenskraft untersucht. In diesem Zuge kommt aber auch wie bereits zur Einführung der Guillotine die Frage auf, ob die abgetrennten Köpfe nach der Hinrichtung noch bei Bewusstsein seien und sogar Schmerzen empfänden. Das erste Unterkapitel geht der Liebe zur Wahrheit Giovanni Aldinis, dem Neffen von Luigi Galvani, nach und beleuchtet anhand der Quellen die Entwicklung seiner Forschungspraxis. Der Galvanismus zielt darauf ab, eine in den Nerven verborgene thierische Elektrizität sichtbar zu machen und durch diese Sichtbarmachung im Dienst der Aufklärung die Wahrheit an das Licht zu bringen. Tatsächlich dringt Aldini durch seine Experimente in den existenziellen Grenzbereich zwischen Leben und Tod ein, indem er die force vitale oder Lebenskraft anhand der Grimassen Enthaupteter ›ablesbar‹ macht, die er mittels der Voltaʼschen Säule erzeugt. Analysiert wird hier auch eine Illustration aus seiner Publikation von 1804, die einen Versuchsaufbau darstellt. Bereits René Descartes geht davon aus, dass die Lebensgeister die Muskelbewegungen hervorbringen und auch die Versuche von Albrecht von Haller und Alessandro Volta sind in diesem vitalistischen Zusammenhang zu beleuchten. Im zweiten Abschnitt werden die Versuche der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz vorgestellt, die ihre Dienste ebenfalls als der Wahrheit dienlich ansieht und ihre Ergebnisse im selben Jahr wie Aldini veröffentlicht. Zu Grunde liegen auch hier elektrische und galvanische Versuche an Körpern. Der Frage nach der Möglichkeit eines noch vorhandenen Bewusstseins der guillotinierten Köpfe wird bei dem hier geschilderten Versuch auf andere Art und Weise nachgegangen: Man stellte sich direkt unter das Schafott, nahm die Köpfe nach erfolgter Enthauptung sogleich in Empfang und fragte sie selbst, ob sie noch über eine sinnliche Wahrnehmung verfügten. Für diesen Diskus ist die Position des Anatomen Samuel Thomas von Soemmerring von großer Bedeutung, da er erstmals 1795 durchaus alar-

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Enthauptung als Paradigma

mierend darauf aufmerksam macht, dass der Tod durch die Guillotine für die Delinquenten enorme Schmerzen verursache. Seine Position wird im dritten Abschnitt vorgestellt und analysiert. Denn bereits ein halbes Jahrzehnt später wird seine Ansicht zu diesem Thema als derart absonderlich eingestuft, dass sein Anliegen nicht mehr nachvollziehbar erscheint. Soemmerring nach wird beim Enthauptungsvorgang der Hals nicht durchtrennt, sondern regelrecht durch die Wucht der Guillotinenklinge zermalmt. Und da er den Sitz der Seele im Kopf vermutet, spricht er sich für das Hängen als ›sanfteren‹ Tod aus. Interessant in diesem Zusammenhang sind die Fragen, wie und ob Soemmerring rezipiert wird. Im vierten Abschnitt wird zuerst die Position des Mediziners Paul Loyes von 1888 beleuchtet, der über Soemmerring spottet, weshalb hier insbesondere der Frage nach der Moral im Zuge der Enthauptung nachgegangen wird. Was nach Meinung Loyes anhand der sich post mortem verändernden Physiognomie abgetrennter Köpfe ablesbar wird, ist vor allem das Ausmaß an Phantasie der Beobachter. Auch zum Ende des 19. Jahrhunderts scheint es so, als sei die Debatte zu diesem Thema nicht wesentlich fortgeschritten oder es gäbe mittlerweile genug Versuche an Enthaupteten. Dass dem nicht so ist, verdeutlicht die Beobachtung des Mediziners Gabriel Beaurieux. Den letzten Erscheinungen ist der fünfte Abschnitt gewidmet. In dem hier zuerst behandelten Kunstwerk von Antoine Wiertz und in dessen Rezeption von Walter Benjamin geht es darum, genau das sichtbar zu machen, was zuvor aus medizinhistorischer Perspektive im Hinblick auf den Schmerz, den der abgetrennte Kopf noch zu empfinden im Stande sei, dargelegt wurde. Der Künstler selbst wird Zeuge einer Guillotinierung und versucht mittels eines so genannten Magnetopathen Kontakt zu dem Kopf aufzunehmen, mit dem er sich in der Folge identifiziert und in diesem Modus sein exzeptionelles Werk konzipiert, das hier eingehend analysiert wird. Dem gegenüber wird eine Arbeit von Douglas Gordon gestellt, die auf den Bericht des zuvor erwähnten Arztes Beaurieux basiert. Darin lässt der Künstler die Rezipient*innen am Sterbeprozess des Enthaupteten ›unmittelbar‹ teilhaben. Im zweiten Kapitel werden die erwähnten Quellen eingehend analysiert und diskusanaly-

Vorwort

tisch eingeordnet, sowie ihre Diachronie im Hinblick auf die medizinhistorische Debatte herausgestellt. Als drittes und letztes Kapitel dieser Arbeit wird die Aussage Sigmund Freuds de(kon)struiert, in welcher er darlegt, dass Kopfabschneiden und Enthaupten das Gleiche, sowie der Schreck des Medusenhauptes mit dem Kastrationsschreck in eins zu setzen seien. Dieses über das Bildliche hinausgehende und daher bilderlose Kapitel beleuchtet einen Spezialdiskurs und antwortet auf die Forderung von Hélène Cixous, die Angst, die – hier auf Seiten Freuds – dahintersteht, zu demaskieren. Als poststrukturalistische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse im Hinblick auf geschlechtsspezifische diskursive Kodierungen und Ordnungen soll hier ein überliefertes Begriffsgerüst demontiert werden: Unter anderem mit den Theorien von Julia Kristeva und Jacques Lacan wird hier die Verbindung des Weiblichen mit dem Tod hinterfragt und diskursanalytisch aufbereitet. Was Freud durch seine Aussage hinterlassen hat, wird in diesem Kontext als Beispiel semiotischer Konversion aufgefasst, um einen neuen Begriff zu finden, der im Stande ist, auch die Gewalt zu inkludieren, die der mythologischen Figur Medusas durch die freudianische Lesart, oder genauer den ›freudianischen Blick‹, widerfahren ist. In allen Zitaten und Literaturangaben ist die originale Schreibweise der jeweiligen Sprache beibehalten, bei Titeln von Kunstwerken ist die Korrektur gekennzeichnet. Ich adressiere meine Schrift an Rezipient*innen, schreibe aber von Wissenschaftlern, wenn in den historischen Dokumenten alleinig Männer genannt sind.

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1. Zur Ikonografie des Übergangs

1.1

Der König und der Dieb. Ent- und Resakralisierung des abgetrennten Kopfes »Man zeigte sich die Ecke, wo dicht nebeneinander die sieben Abgeordneten der oberen Garonne saßen, die als erste aufgerufen wurden, um den Spruch über Ludwig XVI. zu fällen; einer nach dem anderen hatten sie geantwortet: Mailhe: ›Den Tod.‹ […] Paganel hatte gesagt: ›Den Tod. Ein König ist nützlich nur durch seinen Tod.‹ Millaud hatte gesagt: ›Heute müßte man den Tod erfinden, wenn es ihn nicht schon gäbe.‹ Der alte Raffron de Trouillet hatte gesagt: ›Den schleunigen Tod!‹ […] Foussedoire hatte gesagt: ›Ich scheue mich, Menschenblut zu vergießen, aber das Blut eines Königs ist kein Menschenblut. Den Tod.‹ […] Chaillon hatte gesagt: ›Er soll leben. Ich will ihn nicht dem Tod ausliefern, damit Rom einen Heiligen mehr habe.‹« Victor Hugo1

Während der Französischen Revolutionsjahre von 1789 bis 1793, der ›Republik der Gräuel‹, und ganz besonders in der Zeit der Grande Terreur im

1

Victor Hugo, 1793 [1874], übers. von Eva Schumann, Frankfurt a.M./Wien/Zürich 1973, S. 136–137. (Hugo 1973) Dieses Unterkapitel ist ein überarbeiteter Aufsatz: Katrin Weleda, »Ent- und Resakralisierung des abgetrennten Kopfes in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts«, in: Bild und Tod. Grundfragen der Bildanthropologie, Bd. II, hg. von Philipp Stoellger und Jens Wolff, Tübingen 2016, S. 263–280.

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Enthauptung als Paradigma

Jahre 1794 wird der abgetrennte Kopf zu dem Revolutionsmotiv schlechthin.2 In Druckgrafiken ist er symbolhaft festgehalten, europaweit in Wochenblättern reproduziert und öffentlich angeschlagen. Ein komplexer Transfer der Macht zwischen Königskörper und Volk wird der Darstellung der Enthauptung Ludwigs XVI. sowie in der Präsentation seines abgetrennten Kopfes ab 1793 thematisiert und visualisiert. Insbesondere bei diesem Sujet rückt das Phänomen einer Ent- und Resakralisierung in den bildlichen Fokus. Mythologische und biblische Konfigurationen werden nun durch reale Ereignisse, den massenhaften Einsatz der Guillotine, durchbrochen. In den Phasen der revolutionären Umbrüche sowie der Restauration stehen die Darstellungen Enthaupteter nicht nur für die Übertragung und die Demonstration von Macht, sondern sie repräsentieren vor allem in der Malerei auch Spuren des Tötens sowie des gewesenen Lebendigen. Im Zusammenspiel von anatomischem Interesse und künstlerischer Überformung der Anzeichen von Tod und Verwesung wird hier der Tod als Bruchlinie von Bilderfahrung offenbar, in dessen Folge der Kopf als Körperfragment zwischen Subjekt- und Objekthaftigkeit changiert.

2

Vgl. Rolf Reichardt, »›La Tête coupée‹ – Vom Bedeutungswandel eines Revolutionsmotivs«, in: Revolution und Gegenrevolution in der europäischen Bildpublizistik 1789–1889, hg. von Wolfgang Cilleßen und Rolf Reichardt, Hildesheim/ Zürich/New York 2010, S. 45–72, hier S. 45. Zur »Schreckensherrschaft« siehe: François Furet, »Die Schreckensherrschaft«, in: Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, hg. von Francois Furet und Mona Ozouf, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1996, S. 193–215. Sowie: Hans-Ulrich Thamer, »Revolution, Krieg, Terreur. Zur politischen Kultur und Ikonographie der Französischen Revolution«, in: Iconologia sacra: Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas, hg. von Hagen Keller und Nikolaus Staubach, Berlin 1994, S. 632–652. Siehe zur Guillotine in diesem Kontext außerdem: Hubertus Kohle und Rolf Reichardt, »Guillotine«, in: Lexikon der Revolutions-Ikonografie in der europäischen Druckgraphik (1789–1889), hg. von Rolf Reichardt, Bd. 2, Münster 2017, S. 1028–1044.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Die Guillotine als »Regierungsmaschine«3 vollzieht einen »Transfer des Sakralen«,4 in diesem Modus markiert sie den Anfang und den Verlauf der Französischen Revolution. 1792 in Betrieb genommen, soll sie ihre Aufgabe möglichst ohne Komplikationen erledigen und vor allem der Forderung nach »Menschlichkeit, Gleichheit und Vernünftigkeit« beim Vollzug der Tötung nachkommen.5 Es galt, die Standesunterschiede auch im Hinblick auf die Hinrichtungsart aufzuheben und zusätzlich die antiquierten Hinrichtungsmethoden abschaffen, wie zum Beispiel das öffentliche Rädern, die Vierteilung oder das Verbrennen.6 Die Enthauptung durch das Schwert war den höheren Ständen vorbehalten, die selbst bei der Hinrichtung nicht von der Berührung des Henkers ›entehrt‹ werden sollten. Dass sich der Tod mithilfe der Guillotine auf ein »sichtbares, aber augenblickliches Ereignis«7 reduziert und bei korrekter Ausführung lediglich die Zeitspanne eines Blitzstrahls einnimmt, wurde als Fortschritt propagiert.8 Die der Maschine zugeschriebe Präzi-

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7 8

Arasse 1988, S. 105. Vgl. Arasse 1988, S. 77. Vgl. Katharina Sykora, Die Tode der Fotografie. Totenfotografie und ihr sozialer Gebrauch, Bd. 1, München 2009, S. 477. (Sykora 2009) Michel Foucault, Überwachen und Strafen [1975], übers. von Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1994, S. 23. (Foucault 1994) Besonderes Aufsehen erregte die Hinrichtung von Robert-François Damiens, der ein fehlgeschlagenes Attentat auf König Ludwig XV. verübt hatte, auf dem Place de Greve am 28. März 1757. Als ›Königsmörder‹ wurde er öffentlich gefoltert, gevierteilt und verbrannt. Horst Karasek schreibt dazu: »Die Schreie des zu Tode Gemarterten überlebten den Absolutismus, kaum eine Generation später, Damiens’ Name war noch frisch in Erinnerung, mußte der König höchstselbst [sic!], nämlich Ludwig XVI., das Schafott besteigen. Die Guillotine war es, die unter ihrem Beil alles und jedermann gleich machte. Unter ihrer Verheißung und ihrem Schrecken ist diese Vierteilung zu sehen, die maschinelle (demokratische) Tötung wirft ihre Schatten voraus.« Horst Karasek, Die Vierteilung. Wie dem Königsmörder Damiens 1757 in Paris der Prozeß gemacht wurde, Berlin 1994, S. 122–123. Vgl. Foucault 1994, S. 9–12. Foucault 1994, S. 21. Dass dieser kurze Augenblick der Tötung allerdings für das Publikum kaum wahrnehmbar war, wird in Kapitel 1.2. thematisiert.

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Enthauptung als Paradigma

sion und Unfehlbarkeit sollte einen schnellen, schmerzlosen und somit ›aufgeklärten‹ Tod unter den Augen des Volkes garantieren.9 Der Mediziner Joseph-Ignace Guillotin beantragt am 10. Oktober 1789 einen mechanischen Enthauptungsapparat aus ›humanitären‹ Gründen, um die bisherigen grausamen und entehrenden Hinrichtungsarten, bei denen die Delinquenten vom Henker berührt wurden, abzuschaffen. Am 17. März 1792 wird der königliche Leibarzt Antoine Louis von der Nationalversammlung beauftragt, einen Entwurf für ein solches Gerät anzufertigen, wobei er sich an dem mittelalterlichen Fallbeil von Halifax und der Schottischen Maiden orientiert, die längst außer Betrieb sind, aber als technische Grundlage dienen. Die Herstellung der ersten Guillotine, wie sie allerdings erst später genannt wird, gibt der so genannte Henker von Paris, Charles-Henri Sanson, bei dem deutschen Klavierbauer Tobias Schmidt in Auftrag. Guillotin setzt sich als Namensgeber der Apparatur durch, die zunächst nach Anton Louis Louison oder Louisette, im Volksmund auch le rasoir national, le raccourcissement patriotique, la glaive des lois, la cravate à Capet, la monteà-regret, la planche à assignats, la petite chatière oder la veuve genannt wird. Zwischenzeitlich wird sie sogar als Heilige, la sainte guillotine, verklärt und karikiert.10 Am 25. April 1792 kommt sie das erste Mal zum Einsatz, um den Dieb Nicolas-Jacques Pelletier hinzurichten. Der Konstruktion wird bald die bascule hinzugefügt, ein Brett, woran der Delinquent festgeschnallt wird, um den Körper zwischen den Pfosten zu positionieren.11 Von besonderer Bedeutung für den vorliegenden Kontext ist allerdings 9

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11

Siehe zu den Bezügen »Aufklärung« und »Humanität« insbesondere: Angela Taeger, Die Guillotine und die Erfindung der Humanität, Stuttgart 2016. Sowie: Andreas Schlieper, Das aufgeklärte Töten. Die Geschichte der Guillotine, Berlin 2008. Vgl. Arasse 1988, S. 21. Vgl. Bruno Cortequisse, La Sainte Guillotine, Paris 1988, S. 17. (Cortequisse 1988) Vgl. Ausst.-Kat. Visions Capitales 1998, hg. von Julia Kristeva, Paris, Musée du Louvre, 1998, S. 103. (Ausst.-Kat. Visions Capitales 1998) Zur Guillotine siehe insbesondere: Alister Kershaw, A History of the Guillotine, New York 1958; Guy Lenôtre, Die Guillotine und die Scharfrichter zur Zeit der französischen Revolution [1893], übers. von Simon Michelet, Berlin 1996. (Lenôtre 1996) Arasse 1988, S. 21. Vgl. Lenôtre 1996, S. 127.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

die lunette, eine aus zwei beweglichen Brettern mit jeweils halbrunder Aussparung bestehende Fixierungsvorrichtung, um den Hals der Delinquenten zu umschließen. Somit wird der Kopf aus Sicht des Publikums schon vor dem eigentlichen Vorgang der Hinrichtung optisch vom Körper getrennt. Durch diese technische Einbindung des Körpers in die Maschine ist Enthauptung ein logischer Folgeschritt. Darüber hinaus entsteht hierbei eine bildliche Präfiguration, die Daniel Arasse wie folgt beschreibt: »Die Enthauptungsapparatur wird zu einem grausigen Porträtisten, zu einer ›Porträtmaschine‹. Bereits 1793 wird die Guillotine in einer englischen Beschreibung mit der Staffelei eines Malers verglichen (›This destructive instrument is in the form of a painter’s easel‹). Ein treffender Vergleich: zwischen den beiden Balken einer riesigen Staffelei bietet sich in der Tat ein Bild des Todes.«12 Bei Arasse wird deutlich, dass es sich beim Vorgang des Guillotinierens eigentlich um mehrere, bildgebende Verfahren gleichzeitig handelt, denn zum einen wird hier der arretierte Körper bereits zu einem Bild deklariert und zum anderen hinterlässt die Hinrichtung auch ein »Bild des Todes«13 im Antlitz des Delinquenten. Nicht zuletzt ist die Apparatur auch deshalb eine ›Bildproduzentin‹, weil sie das vorliegende Sujet in diesem Umfang erst ermöglicht, also die Bildwerdung der Enthauptung und abgetrennter Köpfe ›initiiert‹. In Théophile Alexandre Steinlens Illustration von 1902 zu Victor Hugos Kurzgeschichte Claude Gueux, erschienen 1834 in Paris, ist der Protagonist im Begriff seinen Kopf durch die lunette zu stecken, wobei er den Betrachter direkt anblickt (Abb. 1).14 Im oberen Bereich scheint die halbkreisförmige Aussparung den Kopf wie einen Heiligenschein zu umfangen, im unteren schneidet sie Brust und Schultern aus. Dieser Darstellungsmodus zeigt einen Bild-im-Bild-Effekt, in welchem die

12 13 14

Arasse 1988, S. 166. Ebd. Abb. 1: Théophile Alexandre Steinlen, Claude Gueux, 1902, Bleistift und Tinte auf Papier, 37,5 x 26,5 cm, © Maisons de Victor Hugo/Roger-Viollet.

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Enthauptung als Paradigma

lunette als Rahmen fungiert. Der hier gezeigte Moment ist als der vor dem von Arasse geschilderten anzusehen.

Abbildung 1

1.1.1

Dialogue: je perds une tête – j’en trouve une

Das Procedere der Hinrichtung wird im Bild in den unterschiedlichsten Momenten festgehalten.15 Das Nicht-Zeigen der Enthauptung und die Absenz des Porträtierten Kopfes sind Gegenstand der Enthauptungsan-

15

Diesem Beispiel liegt mein Aufsatz zu Grunde: Katrin Weleda, »Dialogue«, in: INTERVENTION VII. Aufschlag, hg. von Michel Sauer, Siegen 2014, S. 4–6.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

kündigung dies bisher weniger beachteten Druckgrafik Dialogue: je perds une tête – j’en trouve une eines unbekannten Künstlers von 1793 (Abb. 2).16

Abbildung 2

Das Motiv ist in zwei Hälften unterteilt. Auf der linken Seite schwebt als Attribut die Königskrone en face im Bildraum, wodurch die Leerstelle ihres Trägers betont wird. Von einem Strich im unteren Bereich abgegrenzt ist in handschriftlicher Manier die Aussage »je perds une tête« gesetzt. Auf der rechten Seite ist eine Guillotine dargestellt, die auf den

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Abb. 2: Unbekannter Künstler Dialogue: je perds une tête – j’en trouve une, 1793, Aquatinta, 11,5 x 16,5 cm, Collection de Vinck, Cabinet des estampes, Bibliothèque nationale de France, Paris. Ian Hamilton Finlay adaptiert das Motiv für seine gleichnamige Lithografie Dialogue, worin er anstelle der Königskrone einen Auslassungsstrich sowie das Suffix »LAY« einfügt. Dieses Beispiel wird hier nicht als Bild angeführt, aber in Kapitel 1.2.1 wird auf Finlays Four Guillotine Blades eingegangen.

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Enthauptung als Paradigma

Holzbrettern des Schafotts steht, mit der darunter angeordneten Antwort »j’en trouve une«. Das emblematische Motiv und das Entstehungsjahr verweisen auf das am 17. Januar 1793 von der Nationalversammlung mit einer Stimme Mehrheit beschlossene Todesurteil für den abgesetzten Ludwig XVI., der nunmehr weder als König noch als Bürger Louis Capet anzusehen ist.17 Darüber hinaus veranschaulicht der Dialogue zwischen Königskrone und Guillotine einen Paradigmenwechsel: Die Auflösung der Königskörper. Nach Ernst Kantorowicz, der im Rückgriff auf Edmund Plowden die Theorie der Zwei Körper des Königs formuliert,18 kann der linken Seite der politische Körper, body politic, zugeordnet werden, der hier zwar nicht sichtbar, aber als Träger der Königskrone zweifelsfrei der absente Gesuchte ist. Die Guillotine auf der rechten Seite, die sicher ist, den gesuchten Kopf zu bekommen, wird den natürlichen Körper, body natural, richten. Nach Kantorowicz bilden die beiden Körper des Königs eine unteilbare Einheit, wobei der body politic die Funktion eines Gefäßes erfüllt und nach dem Tod des einen Königs auf seinen Nachfolger übergeht, gemäß der Maxime le roi est mort – vive le roi. Während der Französischen Revolution wird diese Konstante hinfällig. An die Stelle des unsterblichen politischen Königskörpers tritt nun – vive la révolution – der Volkskörper.19 Die Guillotine wird somit zu einem Symbol, das nicht 17

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In seinem Plädoyer weist Romain de Sèze auf diesen Umstand hin. In: Jean Jaurès, Louis XVI. Le procès de la royauté, hg. von Max Gallo, Paris 2006, S. 277. Der bürgerliche Name des Königs, Louis Capet, der dem fränkischen Adelsgeschlecht der Kapetinger, Capétiens, entstammt, bekommt durch seine lateinische Ableitung von caput, was Kopf, Haupt oder auch Oberhaupt und Anführer bedeutet, nun eine ironische, seine Enthauptung scheinbar präfigurierende Bedeutung. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters [1957], übers. von Walter Theimer, Stuttgart 1992, S. 31. Vgl. Arasse 1988, S. 70–73. Siehe Philip Manow, »Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation«, in: Leviathan, 34 (2), 2006, S. 149–181, hier S. 150, wo er über die »Ablösung des politischen vom leiblichen, des ewigen (mystical and eternal) vom sterblichen (carnal and mortal) Körper« anhand des Beispiels von Louis Villeneuves Matière à reflection pour les jongleurs couronnées schreibt. (Manow 2006)

1. Zur Ikonografie des Übergangs

nur für die Aufhebung von Standesunterschieden steht, sondern auch für die Übertragung der politischen Macht in aufklärerischer Tradition, wobei sich die symbolische Figur der Einheit der Königskörper nun auf das Volk als »politischen Revolutionskörper«20 überträgt. Seinen »heiligen Körper«,21 den dritten Körper des Königs nach Kristin Marek, musste Ludwig XVI. allerdings bereits vor seiner Enthauptung ›verlassen‹, als seine Herrschaft von Gottes Gnaden in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt wird. Die neue Verfassung erlangt am 14. September 1791 Gültigkeit, nach dieser gilt der König nunmehr als prince royal. Weder Kopf noch Körper sind in Dialogue: je perds une tête – j’en trouve une konkreter Bildinhalt, sie werden sogar völlig aus diesem ferngehalten. Nur das Attribut, die Königskrone, deutet auf ihren Träger hin. Ebenso verhält es sich mit der Guillotine, deren Konstruktion an den menschlichen Körper angepasst ist und ihn umschließt, so dass ihre Darstellung bereits den Körper als eine zu füllende Leerstelle beinhaltet; sie ›verkörpert‹ in diesem Beispiel den Akt der Hinrichtung. Die emblematische Verbindung von Text und Bild lässt den Handlungszusammenhang herstellen: Dadurch, dass die Guillotinierung des Königs in dieser Bildkonfiguration lediglich angedeutet oder angekündigt wird, muss sich der eigentliche Vorgang von den Betrachtern selbst imaginiert werden. Der Kopf, zumindest als geschriebenes Wort vorhanden, ist sowohl von der Krone als auch von der Guillotine getrennt. Allerdings zeigt die lunette, die im Zusammenspiel mit dem Auffangbehälter wie das bedrohlich aufgerissene Maul eines Tieres wirkt, direkt zur linken Bildhälfte hinüber und fokussiert die Krone. Die Füße der Apparatur im Dreiviertelprofil sind im vorderen Bereich wie zu einem Ausfallschritt gespreizt. Durch die nach oben hin im spitzen Winkel angeordneten

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Wolfgang Schild, »Töten als Rechtsakt. Zur Geschichte der Hinrichtung«, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Töten – Affekte, Akte und Formen, hg. von Christoph Wulf und Jörg Zirfaß, Bd. 20, Heft 1, 2011, S. 32–50, hier S. 48. (Schild 2011) Kristin Marek, Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, Berlin 2009, S. 152.

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Enthauptung als Paradigma

Stützbalken entsteht gar der Eindruck, dass sich die Guillotine in Bewegung zu setzen droht, um die Bildgrenzen zu durchbrechen und zur Krone hinüberzulaufen. Obwohl der Enthauptungsvorgang in dieser Arbeit nicht gezeigt wird, ist der Kopf das unsichtbare Sujet. Der Andeutung dieses gravierenden historischen Ereignisses liegt ein anderer Wirkungsmechanismus zu Grunde, als einem Bild, das die Hinrichtung konkret zum Inhalt hat. Die beiden Seiten dieser Grafik können auch als gleichzeitige Ansicht der Vorder- und Rückseite einer Spielkarte interpretiert werden. Ihr Dialog, oder vielmehr das Vexierspiel der Tilgung der Königskörper, wird in der direkten Gegenüberstellung mittels der Blickbewegung durch die Betrachter animiert.

1.1.2

Louis Villeneuve – Matière à reflection pour les jongleurs couronnées

Abbildungen 3 und 4

1. Zur Ikonografie des Übergangs

In der Aquatinta Matière à reflection pour les jongleurs couronnées (Abb. 3 u. 4)22 von Louis Villeneuve, ebenfalls aus dem Jahr 1793, verfolgt die emblematische Bildstrategie den nicht mehr nur imaginären Akt der Enthauptung, sondern zeigt diesen bereits vollendet als Portrait post mortem. Der abgetrennte Kopf Louis Capets wird von einem vom Bildrand fragmentierten Arm festgehalten und somit einem virtuellen Publikum in Seitenansicht präsentiert. In den unteren Teil des Bildes ist die dreieckige Winkelwaage, ein Symbol der Freimaurer, gesetzt. Besonders während der Revolutionszeit verkörpert dieses Symbol die Gleichheit der Stände, indem jeder Seite ein Teil der Parole liberté, égalité, fraternité zugeordnet wird, hier ist sie zudem von einer Jakobinermütze bekrönt. Diese Symbolkonfiguration wird von einem Auszug des Briefes Maximilien de Robespierres umfangen, worin er das Todesurteil sowie den Ort und die Zeit der Vollstreckung proklamiert.23 Die Positionierung der Phrygischen- oder Jakobinermütze24 auf der Winkelwaage versteht Neil Hertz als eine Doppelung des Vorzeigegestus’ des abgetrennten

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Abb. 3 u. 4: Louis Villeneuve, Matiere [sic!] à reflection [sic!] pour les jongleurs couronnées, 1793, Aquatinta, 21,5 x 17 cm, Collection de Vinck, Cabinet des estampes, Bibliothèque nationale de France, Paris. Im Folgenden wird die korrigierte Schreibweise Matière à reflection pour les jongleurs couronnées verwendet. Die beiden Versionen aus der Collection de Vinck in der Bibliothèque nationale de France in Paris, deren bedruckte Bereiche die gleiche Größe aufweisen, verdeutlichen eine bildnerische Differenz in der Darstellung Ludwigs XVI.: Während seine Züge in Abb. 3 feiner gestaltet sind und sein Hals länger ist, ist in Abb. 4 die Physiognomie gröber, das Kinn steht hervor und sein Hals ist kürzer. Bei der Verbreitung dieser Blätter ging es anscheinend nicht um eine größtmögliche Ähnlichkeit, sondern um die Tatsache, dass der abgesetzte König guillotiniert wurde. Dieses Bildbeispiel wird im Hinblick auf die herabfallenden Blutstropfen auch in Kapitel 1.3.2. erwähnt. Vgl. Rolf Reichardt und Hubertus Kohle, Visualizing the Revolution. Politics and the Pictorial Arts in Late Eighteenth-century France, London 2008, S. 83. Vgl. Linda Nochlin, »Fragments of a Revolution«, in: Art in America, 77.1989 (10), New York 1989, S. 157–167, hier S. 161. (Nochlin 1989) Sie war ursprünglich die Kopfbedeckung der Marseiller Galeerensträflinge und wurde nach deren Befreiung 1792 zu einem Symbol der Französischen Revolution.

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Enthauptung als Paradigma

Kopfes in der Manier des Medusenhauptes.25 Noch 1792 präsentiert sich Ludwig XVI. dem Volk mit diesem Symbol republikanischer Gesinnung, was ihm jedoch nicht zugute kommt. Die Jakobinermütze wird in der Folge nicht nur zum Symbol der jakobinischen Schreckensherrschaft, sondern es verkörpert fortan – in der Heraldik meist auf einem Stab präsentiert – Freiheit und Unabhängigkeit. Für Daniel Arasse konstituiert sich in Matière à reflection pour les jongleurs couronnées das Guillotiniertenbild als Porträt und begründet einen eigenen ikonografischen Typus.26 Der Henkerarm und der Kopf des Hingerichteten als Körperfragmente reduzieren die Aussage des Bildes auf den Umstand der erfolgten Enthauptung.27 Zudem erinnert das Hochheben und Präsentieren des Kopfes von Louis Capet an Perseus’ Gebrauch des Medusenhauptes. Um Medusas Anblick auszuweichen und dabei nicht selbst in Stein verwandelt zu werden, denn er habe auf seinem Weg zu ihr bereits die versteinerten »Bilder«28 von Menschen und Tieren gesehen, enthauptet Perseus sie mit einem Trick: Er spiegelt ihr Antlitz, während sie schläft, im Erz seines Schildes. Fortan nutzt er das Gorgonenhaupt zur Abwehr seiner Feinde als Apotropaion und

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Neil Hertz, »Medusa’s Head: Male Hysteria under Political Pressure«, in: Representations, No. 4 (Autumn, 1983), S. 27–54, hier S. 48. (Hertz 1983) Arasse 1988, S. 167. Anne Carol verweist darauf, dass die Darstellung Villeneuves von Ludwig XVI. auch in der Tradition eines Cephalophoren wie Saint Denis interpretiert werden kann. Anne Carol, Physiologie de la veuve. Une histoire médicale de la guillotine, Seyssel 2012, S. 59. (Carol 2012); Siehe: Ausst.-Kat. La Guillotine dans la Révolution 1987, Musée de la Révolution française, Château de Vizille, hg. von Valérie Rousseau Lagarde und Daniel Arasse, Florenz 1986, S. 11. Als Märtyrer, der mit seinem abgetrennten Kopf in den Händen den Montmartre herabschreitet, hat Dionysius von Paris zweifelsfrei eine starke gründungsmythische Konnotation, weshalb der Vergleich mit ihm innerhalb die Revolutionsikonografie nachvollziehbar erscheint. Allerdings entsteht für mich in der Darstellung Villeneuves vielmehr der Eindruck, dass es sich um einen Henkerarm handelt, der Kopf des ehemaligen Königs zur Schau stellt, und nicht um den Arm des Königs selbst. Ovid, Metamorphosen, übers. von Erich Rösch, München 20045 , S. 125, IV 787–785. (Ovid 2004)

1. Zur Ikonografie des Übergangs

übergibt es später der Göttin Athene, die das Haupt auf ihrem Schild, der Aigis, anbringt. Dieser dem Mythos entstammende apotropäische Effekt überträgt sich nun auf das reale historische Ereignis. Die Darstellung des enthaupteten Monarchen generiert also nicht nur den neuen Typus des Guillotiniertenporträts, sondern verwandelt darüber hinaus das Bildnis der Person in das »Bildzeichen ihrer Auslöschung«.29 Für den zu dieser Ikonografie zugehörigen Gestus des sichtbaren Vorzeigens des abgeschlagenen Hauptes verwendet Linda Nochlin den Begriff der ostensio30 und Klaus Krüger benennt ihn als ostentatio, die er wie folgt charakterisiert: »Der […] Gestus der ostentatio, mit dem das abgeschlagene Haupt weithin sichtbar vorgewiesen wird, dient nicht nur der Triumphbezeugung, sondern pointiert auch näherhin den Umstand, dass der Enthauptete der ›Trägerschaft‹ seiner Person verlustig gegangen ist und diese Autorität nunmehr als disponibles Signum seines Todes an eine fremde Verfügungsgewalt abgetreten hat.«31 Die Neubesetzung dieses »disponiblen Signums«32 findet nach Pascal Bastien während der Exekution als »Staatsritual« statt, um die Absenz des Königs und dessen vollendete Desakralisierung zu repräsentieren.33 Aber hier ist lediglich ein Stadium innerhalb des symbolischen Tauschs angesprochen, der seine »komplexe metamorphotische und zugleich bannende Kraft« vor allem als Gründungsmythos der Französischen Republik ausdrückt.34 Vielmehr kommt es hier zu einer Transferbewegung 29

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Klaus Krüger, »Gesichter ohne Leib. Dispositive der gewesenen Präsenz«, in: Verklärte Körper. Ästhetiken der Transformation, hg. von Nicola Suthor und Erika Fischer-Lichte, München 2006, S. 183–222, hier S. 200. (Krüger 2006) Vgl. Sykora 2009, S. 480. Nochlin 1989, S. 161; Linda Nochlin, The Body in Pieces. The Fragment as a Metaphor of Modernity, London 2001, S. 11. (Nochlin 2001) Krüger 2006, S. 202. Ebd. Pascal Bastien, L’exécution publique à Paris au XVIIIe siècle, Seyssel 2006, S. 247. Sykora 2009, S. 476–477. Weder der psychoanalytische Deutungsansatz zu Matière à reflection pour les jongleurs couronnées von Ronald Paulsen, noch der ihm

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Enthauptung als Paradigma

der (politischen) Ent- und Resakralisierung, in welcher die Guillotine eine kultische Handlung vollzieht, was Katharina Sykora präzisiert: »Das Fallbeil der Guillotine wird damit zum Instrument eines Opferrituals, der Kopf des Königs zur Hostie, welche die Geburt der Republik aus dem Tod des Monarchen bezeugt, und der Henker zum Priester, der diese ›Wandlung‹ vor aller Augen vollzieht. Ein Transfer des Sakralen findet hier statt, das vom einstmals geheiligten Körper des Königs auf den Vollstrecker des Todesurteils und dessen Werkzeug übergeht.«35 Während das Opferritual an Louis Capet vollzogen wird, werden auch gleichzeitig alle Körper des Königs, der politische, der natürliche und auch der heilige, wieder aufgerufen. Matière à reflection pour les jongleurs couronnées verbildlicht zudem die revolutionäre Transsubstantiation, in welcher die Blutstropfen des Kopfes zuerst auf den Refrain der Marseillaise »[…] qu’un sang impur abreuve nos sillons«36 – das unreine Blut tränke unserer Äcker Furchen – und dann auf sein Todesurteil hinabfallen.37 In seinen letzten Worten beteuert Capet nicht nur seine Unschuld, sondern er bete zu Gott, dass

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zwar widersprechende von Klaus Herding, der aber in diesem Zusammenhang von einer »sachlichen Ereignisreportage« spricht, sind im vorliegenden Kontext hilfreich, dennoch sollen beide nicht unerwähnt bleiben: Ronald Paulsen, »The Severed Head. The Impact of French Revolutionary Caricatures on England«, in: French Caricature and the French Revolution, 1789–1799, hg. von Lynne Hockman, Los Angeles 1988, S. 55–65, hier S. 64. Klaus Herding, »Zum künstlerischen Ausdruck von Grauen und Sanftmut«, in: Pathos, Affekt, Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, hg. von Klaus Herdin und Bernhard Stumpfhaus, Berlin/New York 2004, S. 330–356, hier S. 339. Sykora 2009, S. 477. 1795 wird Claude Joseph Pouget de Lisles Chant de guerre pour l’Armée du Rhin, bereits 1792 entstanden, vom Nationalkonvent als Hymne der Republik eingeführt. Bei Ovid wird der Fluch Athenes über Medusa nach der Enthauptung nicht gebrochen, die herabfallenden Blutstropfen aus ihrem Haupt erleben keine Transition: »Während als Sieger er [Perseus] schwebt über Libyens sandigen Flächen, fielen aus Gorgos Haupt hinab die Tropfen des Blutes, welche die Erde

1. Zur Ikonografie des Übergangs

sein Blut, das sie vergießen werden, nicht auf Frankreich zurückfalle: »[…] je prie Dieu que le sang que vous allez répandre ne retombe pas sur la France!«38 Diese letzten Worte werden in der Darstellung Villeneuves invertiert, denn dort widerlegt das Todesurteil seine Unschuld und sein Blut wird zum ›Düngemittel‹ der Republik. Die Hinrichtung des Königs und somit auch sein Blut »weihen« die Guillotine.39 Bruno Cortequisse schildert, dass nach der Hinrichtung die Kavalleristen ihre Schwerter in das Blut des »Märtyrers« tauchten, um sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft zu »exorzieren«.40 »Die Entsakralisierung des Königs (im Augenblick seines Todes) heiligt die Revolution (ihm Augenblick ihrer Gründung), und das Instru-

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empfing und zu mancherlei Schlangen belebte; drum ist der Boden dort so reich an bösem Gewürme.« Ovid 2004, S. 120, IV 617–620. Cortequisse 1988, S. 34. Arasse 1988, S. 68. Ebd. Zudem drängte sich die Menge mit ausgestreckten Händen zur Guillotine, um sie ebenfalls in das Blut des Königs zu tauchen. Darüber hinaus führt Guy Lenôtre den Brief eines Augenzeugen aus der Revue rétrospective an, der davon berichtet, dass der Weidenkorb, in dem Louis Capets Kopf zum Friedhof gebracht wurde, vom Wagen des Henkers gefallen sei und der Boden des Korbes sogleich von einer Menschenmenge mit Wäsche, Taschentüchern und weißen Papiertüchern ausgerieben wurde. Charles-Henri Sanson widerspricht zudem in der Zeitung Thermomètre du Jour vom 29. Januar 1793 dem Gerücht, dass er die Haare Capets verkaufe oder verkaufen lassen. Er habe es nicht geduldet, dass jemand Reste von ihm an sich nahm. Lenôtre 1996, S. 86. Dass die Henker auch Körper von Hingerichteten verarbeiteten und die scharfrichterliche Medizin eine sakrale Qualität innehatte, legt Anna Bergmann dar. Außerdem wurde dem Blut Hingerichteter zugeschrieben, dass es sogar Epilepsie heile. Anna Bergmann, »Töten, Opfern, Zergliedern und Reinigen in der Entstehungsgeschichte des modernen Körpermodells«, in: metis, Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis, 6/11 (1997), S. 45–64, hier S. 52. (Bergmann 1997)

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Enthauptung als Paradigma

ment mit seiner Form eines Tores, durch das diese Passage (und dieser Tausch) erfolgt, erhält dadurch selbst sakrale Weihen.«41 Nach Arasse vollziehe sich die Ent- und Resakralisierung als symbolischer Tausch zwischen Königkörper und der Revolution, die wiederum ihre Legitimität und ihren eigenen sakralen Charakter auf die Sakralität des absoluten Königs gründet,42 »wobei dieses re-volvere als Rückkehr zu den natürlichen und geheiligten Quellen der menschlichen Gemeinschaft dargestellt wird.«43 Eine Rückkehr, die auch in der Zukunft immer wieder reproduziert wird, denn »[i]n jeder Guillotinierung schwingt auch nach der Französischen Revolution die Exkulpierung einer überwundenen Ordnung des Bösen und die Inauguration der neuen Ordnung bürgerlicher Gerechtigkeit mit,« so Sykora.44 Diese Metaphorik bleibt bei öffentlichen Enthauptungen durch das Vorzeigen des Kopfes bestehen, wobei die »Überwindung der Ordnung des Bösen«45 auf die monarchische Herrschaftsstruktur an sich und nicht nur auf das Ancien Regime verweist. In diesem Zusammenhang spricht Jean Baudrillard von einem »Opfertod«, der die vorherige Herrschaft kompensiere: Der »rituelle Tod des Königs oder des Anführers« wird als »soziales Schauspiel der Reversion« angesehen.46 Und bereits Arnold van Gennep legt dar, dass »[d]ie typische Abfolgeordnung [sic!] der Übergangsriten (Trennung, Umwandlung, Angliederung) […] auch das Gerüst von Opferzeremonien [bildet].«47 Zur Reversion und Umwandlung gehören die körperlichen

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Zit. nach Sykora 2009, S. 477. Ausst.-Kat. La Ghigliottina del Terrore 1986, Institut français Florenz, hg. von Valérie Rousseau-Lagarde und Daniel Arasse, Florenz 1986, S. 46. Arasse 1988, S. 69. Ebd., S. 71. Sykora 2009, S. 477. Vgl. Katharina Sykora, »Empathie und Schock: Effekte von Totenfotografien«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften. Emotionen, hg. von Daniela Hammer Tugendhat und Christina Lutter, 2/2010, S. 41–50, hier S. 48. Ebd. Baudrillard 2011, S. 88. van Gennep 2005, S. 179.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Reaktionen des Delinquenten, denn die öffentliche Aufführung der Hinrichtung und des Todes erfüllt eine auf Sichtbarkeit und Zeugenschaft ausgerichtete Beweisfunktion.48 Dabei geht es nicht nur darum, den Tod als privatesten Moment des Individuums zur Schau zu stellen, sondern vor allem den Körper als Ort der Wahrheit zu inszenieren.49 Michel Foucault verweist auf die Folter als Methode der »Wirklichkeitsproduktion« unter der Zeugenschaft der Öffentlichkeit.50 Die öffentliche Hinrichtung ist demnach Teil der Strafe. Während das Hinrichtungsritual vollzogen wird, findet eine Verwandlung statt, der ›böse‹ Leib des Delinquenten wird in einen ›heilbringenden‹ verwandelt, wie Anna Bergmann für die Entstehungsgeschichte des modernen Körpermodells herausstellt.51 Der Akt der Tötung wirkt demzufolge reinigend und die positive oder auch erlösende Wirkung überträgt sich auf das Kollektiv. Die Hinrichtung Ludwigs XVI. auf dem Revolutionsplatz – heute Place de la Concorde – konnte diesen Effekt allerdings nur eingeschränkt erzeugen, da das Volk viel zu weit entfernt vom Schafott stehen musste und kaum etwas sehen konnte.52 Diese »Unsichtbarkeit der Tötung«,53 die Arasse auch als »blinden Fleck, um den herum schreckeinflößende Sichtbarkeit herrscht«54 bezeichnet, macht die Verbreitung der Radierung von Villeneuve umso bedeutungsvoller. Zusammenfassend lässt sich für die revolutionsikonografischen Beispiele feststellen, dass der Tod der Delinquenten selbst nicht zum Bildinhalt gemacht, sondern mithilfe unterschiedlicher Visualisierungsstrategien auf die narrative Bildebene transferiert wird: Zum einen wird der Körper bei Je perds une tête – J’en trouve une völlig aus dem Bild ferngehalten. Nur das Attribut des Königs in Form seiner Krone 48 49 50 51 52 53 54

Arasse 1988, insbesondere Kapitel III »Die Theatermaschine«, S. 113–165. Ebd., S. 175. Foucault 1994, S. 44. Bergmann 1997, S. 52. Marie-Helene Huet, »The Face of Disaster«, in: Yale French Studies, Nr. 111, Myth and Modernity (2007), S. 7–31, hier S. 7. (Huet 2007) Schild 2011, S. 46. Arasse 1988, S. 51. Siehe dazu auch Kapitel 1.2. »Zur politischen Ikonografie der Guillotinenklinge«.

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Enthauptung als Paradigma

deutet auf den Träger hin. Ebenso verhält es sich mit der Darstellung der Guillotine, die in ihrer gesamten Erscheinung bereits für den Hinrichtungsakt steht. Jedoch lässt erst die emblematische Verbindung von Text und Bild den Zusammenhang beider herstellen und nachvollziehen. Ob die Grafik vor oder nach der tatsächlichen Hinrichtung von Ludwig XVI. in Umlauf kam, nimmt diesbezüglich beinahe eine untergeordnete Rolle ein. Der Kopf des abgesetzten Monarchen könnte sich nach erfolgter Enthauptung auch in dem mit einem Tuch umhüllten Korb vor der lunette außer Sicht des Publikums befinden, so dass hier auf der Aussageebene in beide zeitlichen Richtungen gedacht werden kann und letztlich die Betrachter animiert werden, den Prozess des Tötens anhand der Text-Bild-Korrespondenz zu imaginieren. Im deutlichen Gegensatz dazu steht die Darstellung von Villeneuve, die diese Thematik in aller Deutlichkeit transportiert. Darüber hinaus wird die Evidenz des Todes des Monarchen durch den Abdruck des von Robespierre verfassten Todesurteils untermauert. Wenn die Jakobinermütze – wie eingangs erwähnt – als Medusenhaupt interpretiert wird, verdoppelt sich in ihr nicht nur der Enthauptungsprozess. Vielmehr bleiben die Wirkkräfte des Königskopfes durch die ostentatio, ähnlich wie der von Medusa, nach dem Tod im Medium des Bildes erhalten und ist in der fremden Handhabung, hier des Künstlers, einsetzbar. Für das Haupt Ludwigs XVI. bedeutet dies, dass es selbst ein Symbol für die ›versteinerten‹ Machtverhältnisse darstellt und durch die Geste der ostentatio diese Macht nun auf das Volk übergeht. Der Kopf des Königs verkörpert den Prozess der Tilgung seiner Person. Hinzu kommt, dass sein Blick die Rezipient*innen nicht zu treffen vermag und diese den Kopf gefahrlos – wie durch Perseus’ spiegelndes Schild – in der bildlichen Darstellung betrachten können. Matière à reflection pour les jongleurs couronnées trägt die Botschaft vom Tod Ludwigs XVI. in einer Weise, die eine Beweisfunktion ausdrückt: ›Es ist vollbracht‹ oder ›So ist es gewesen‹. Der Prozess des Tötens ist damit vollendet. Die neue Ordnung ›bürgerlicher Gerechtigkeit‹ hat sich somit etabliert und ein Symbol ihrer sofortigen Gültigkeit konstituiert. Die Körper des Königs werden hier aber nicht völlig getilgt, sondern auf das

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Volk übertragen.55 Nur dadurch kann die in der als Bildinschrift formulierte Warnung ihre ikonografische Wirkung entfalten, in der es heißt, mit dem gleichen Ende konfrontiert zu sein, wie der hingerichtete Herrscher, als »Denkanstoß für gekrönte Scharlatane«.56

1.1.3

Théodore Géricault – Têtes de suppliciés

Abbildung 5

Einen völlig anderen Darstellungsmodus abgetrennter Köpfe weisen Théodore Géricaults Têtes de suppliciés – Köpfe der zu Tode Gemarterten – auf (Abb. 5).57 Das Gemälde zeigt die Köpfe eines guillotinierten Man55 56 57

Siehe dazu auch den divergierenden Ansatz von Manow 2006. Louis Villeneuve, Matière à reflection pour les jongleurs couronnées, 1793, Bildinschrift. Abb. 5: Théodore Géricault, Têtes de suppliciés, 1818/1819, Öl auf Leinwand, 50 x 61 cm, Nationalmuseum Stockholm. Géricault fertigte zu dem Kopf des Mannes weitere Zeichnungen und ein Gemälde an, das diesen in verschiedenen Positionen zeigt. Für den vorliegenden Kontext beschränke ich mich auf die Têtes de suppliciés. Weiterführend zu den anderen Versionen siehe beispielsweise: Ni-

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Enthauptung als Paradigma

nes und einer Frau. Beide sind in der dunklen Ecke eines Raumes auf einem hellen blutbefleckten Tuch drapiert, dessen Faltenwurf die Köpfe in der dargestellten Position stützt. Der Kopf der Frau ist auf ihrer linken Wange abgelegt, wodurch der Blick der Betrachter auf die Unterseite ihres Halses gelenkt wird. Dort befindet sich die von einem Tuch lediglich zur Hälfte verdeckte eingetrocknete Schnittstelle, die eher einem Loch ähnelt. Im Gegensatz dazu wirken die geschlossenen Augen der Frau und ihr entspannter Gesichtsausdruck wie der einer Schlafenden. Der beschmutzte, ausgezehrte Kopf des Mannes ist am Hinterkopf leicht aufgestützt, wodurch seine frisch wirkende Schnittstelle am Hals und das von Blut und Wundflüssigkeit durchtränkte Tuch in das Zentrum der Inszenierung gerückt werden. Seine toten, geöffneten Augen schielen nach oben, während der Mund durch den herabhängenden Kiefer, rictus, ebenfalls geöffnet ist. Die Draperie ist von rauer und poröser Textur, sie lässt an einigen Stellen im Vordergrund die Leinwand durchschimmern. Auf der Suche nach Studienobjekten frequentiert Géricault die Leichenschauhäuser und die medizinischen Hörsäle, in denen Sektionen stattfinden, sowie die nahegelegenen Hospitäler Beaujon und Bicêtre, wo die Delinquenten auch vor der Hinrichtung untergebracht sind.58 Dort beobachtet er nicht nur, sondern er trägt menschliche Körperteile zusammen. Zwei Wochen lang bewahrt er sie in seinem Atelier in der

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na Athanassoglou-Kallmyer, »Géricault’s Severed Heads and Limbs. The Politics and Aesthetics of the Scaffold«, The Art Bulletin, 74/4, 1992, S. 599–618. (Athanassoglou-Kallmyer 1992); Germain Bazin, Théodore Géricault. Étude critique, documents et catalogue raisonné. Tome VI, Génie et folie. Le radeau de la méduse et les monomanes, Paris 1994, S. 30–31. Sowie Ausst.-Kat. Visions Capitales 1998. Kristeva bezieht sich in dem Katalog explizit und ausschließlich auf die Zeichnungen. Außerdem: Gregor Wedekind, »Widerspiel der Existenz. Théodore Géricaults tragischer Realismus«, Kapitel III: Köpfe, in: Géricault. Bilder auf Leben und Tod. Ausst.-Kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt 2013–2014/Museum voor Schone Kunsten Gent 2014, hg. von Gregor Wedekind und Max Hollein, Frankfurt 2013. S. 109–152, hier insbesondere S. 136–142. (Wedekind 2013) Nina Athanassoglou-Kallmyer, Théodore Géricault, London/New York 2010, S. 145. (Athanassoglou-Kallmyer 2010)

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Pariser Rue des Martyrs auf, bis der Gestank der Verwesung nicht mehr zu ertragen war.59 Für Géricault ist der Zeitraum nach dem Tod von künstlerischem Interesse, wofür er in diesem Kontext den Prozess des körperlichen Verfalls sowie das durch ihn entstehende, nach wie vor menschliche Antlitz studiert.60 Konkret für die Vorlagen der Têtes de suppliciés gibt Géricaults Biograf Charles Clément an, dass der männliche Kopf der eines guillotinierten Diebes sei, den Géricault aus dem Hospital Bicêtre mitnahm. Der weibliche hingegen stamme von einem lebenden Modell, welches der Künstler engagierte und von dem Clément überliefert, sie sei »eine kleine Buckelige, die in den Ateliers posierte«.61 Für Nina Athanassoglou-Kallmyer evoziert dieses Arrangement den Eindruck eines »makabren Ehebettes«.62 Géricault handelt mit der Absicht, einen überzeugenden ›Realismus‹ in seine künstlerische Umsetzung miteinfließen zu lassen.63 Es ist die Kombination einer bestimmten Sicht auf den körperlichen Verfall, in welcher die Anzeichen des Todes mit einer das Sujet ästhetisierenden Bestrebung vereint werden, was auch Lorenz Eitner hervorhebt: »[T]hey demonstrated the power of art to transfigure what was odious and monstrous in nature.«64 Eitner stützt seine Interpretation, dass Géricault die Fähigkeit besäße, das Abscheuliche und Monströse der

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Charles Clément, Géricault [1879], Paris 1973, S. 130f. (Clément 1973); vgl. Athanassoglou-Kallmyer 1992, S. 599–602. Vgl. Huet 2007, S. 27. Außerdem weist Jean Sagne darauf hin, dass Géricault bereits mit den mumifizierten Köpfen der Märtyrer vom Mai 1789, die in seiner Heimatstadt Rouen ausgestellt werden, in Berührung kommt. Diese Köpfe konservierten laut Sagne in ihrem »petrifizierendem Blick« etwas von der Grausamkeit der Exekution, die in den Têtes de suppliciés einen Widerhall findet. Jean Sagne, Géricault, Paris 1991, S. 17. Clément 1973, S. 131. Athanassoglou-Kallmyer 2010, S. 149. Vgl. Jörg Trempler, »Der Stil des Augenblicks. Das Bild zum Bericht«, in: Der Schiffbruch der Fregatte Medusa, hg. von Jean-Baptiste Savigny und Alexandre Corréard, Berlin 2005, S. 191–240, hier S. 212. (Trempler 2005) Lorenz Eitner, Géricault’s Raft of the Medusa, London 1972, S. 36.

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Enthauptung als Paradigma

Natur in seiner Kunst umzuwandeln, auf eine Notiz von Delacroix. Für den 25. Februar 1857 ist in Delacroix’ Journal folgendes dazu verzeichnet: »Ce fragment [Étude de pieds et de mains (Abb. 6)65 ] de Géricault est vraiment sublime : il prouve plus que jamais qu’il n’est pas de serpent – ni de monstre odieux etc. C’est le meilleur argument en faveur du Beau, comme il faut entendre.«66 Die Têtes de suppliciés seien zwar als »grausig« zu beschreiben, aber Géricaults Étude de pieds et de mains liefere das »beste Argument zugunsten der Schönheit« und seien »wahrhaft erhaben«.67 Dieser erhabene Effekt wird insbesondere durch das starke Helldunkel in der Manier Caravaggios erzeugt, welcher eine ästhetisierende Konzentration auf den Gegenstand befördert.68 Unter gleichem Datum ist auch der Vergleich zwischen Géricault und Jacques-Louis David vermerkt. Darin kritisiert Delacroix die Ebenbürtigkeit der gestalterischen 65 66 67

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Abb. 6: Théodore Géricault, Étude de pieds et de mains, 1818/1819, Öl auf Leinwand, 52 x 64 cm, Musée Fabre, Montpellier. Eugène Delacroix, Journal 1822–1863, Paris 1981, S. 644. Eintrag: Paris, 25. Februar 1857, Kursivsetzung im Original. (Delacroix 1981) Ebd.: »While no. 24 [Têtes de suppliciés] might be described as grisly, no. 25 [Étude de pieds et de mains] transcends mere horror to achieve an aesthetic, sensuous quality that belies the macabre subject. Indeed no. 25 is generally agreed to be the ›fragment de Géricault‹ that provoked Delacroix’s celebrated response in 1857, in which he described the study as ›truly sublime‹ and ›the best argument in favour of Beauty, as it was intended‹.« Vgl. auch Laurance Madeline, »Mais qui assassin-t-on-ici? Géricault, Cézanne, pulsions meurtrières et esthétiques«, in: Ausst.-Kat. Crime & châtiment, Musée d’Orsay, hg. von Jean Clair, Paris 2010, S. 343–351, hier S. 343. Tatsächlich benennt Delacroix ein »je ne sais quoi de style michelangesque [sic!] qui ajoute encore à l’effet que produit la dimension des personnages et leur donne quelque chose d’effrayant.« Delacroix 1981, 372. Im Hinblick auf die Étude de pieds et de mains wird dieser Vergleich besonders deutlich: Der abgetrennte Arm ähnelt durch seinen Gestus des leicht ausgestreckten Zeigefingers sehr dem des Adam im Deckenfresko Michelangelos der Sixtinischen Kapelle. Es scheint, als hätte Géricault die Pathosformel der bevorstehenden göttlichen Berührung bei der Erschaffung Adams dekonstruiert und diese durch das Einfügen in einen Kontext aus abgetrennten Körperteilen derart isoliert, dass an die Stelle der göttlichen Schöpfung ebenfalls Unfassbares getreten ist: der Tod.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Ausführung von Kopf und Faltenwurf eines von Géricault angefertigten Porträts: »Tout est égal; l’intérêt n’est pas plus dans la tête que dans les draperies ou le siège.«69 Auch wenn sich Delacroix damit nicht auf die Têtes de suppliciés bezieht, lässt sich anhand dieser Aussage seine ästhetische Bewertung Géricaults nachvollziehen.70

Abbildung 6

Géricault modelliert bei den Têtes de suppliciés ebenfalls die Köpfe und auch die Draperie mit der gleichen Intensität. Die Köpfe erscheinen nicht von ihrer Umgebung losgelöst, sondern gehen eine Verbindung mit dem Stoff, auf den sie gebettet sind, und dem Raum ein, der sie umgibt. Auch wenn das Tuch, wie Athanassoglou-Kallmyer hervorhebt,

69 70

Ebd., S. 644. Hierbei handelt es sich um ein Porträt von Henriette de Verniac. Vermutlich waren die Têtes coupées nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und wurden auch nicht ausgestellt, weshalb sie in der Forschung auch als Étude für das Radeau de la Méduse angesehen wurden, das 1819 im Salon präsentiert wurde. Mittlerweile werden sie und weitere Skizzen dazu als autonome Arbeit angesehen. Vgl. Athanassoglou-Kallmyer 1992, S. 602.

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Enthauptung als Paradigma

den grauenhaften Umstand der Enthauptung unterstreicht und von dem längst versiegten Blut durchtränkt ist, hat die Draperie keine ästhetisierende Funktion, wie bei der Fokussierung auf die Étude de pieds et des mains vor dunklem Hintergrund.71 Linda Nochlin charakterisiert sowohl die Inszenierungsstrategie von Géricaults Têtes de suppliciés als auch die der Étude de pieds et des mains mit dem »klinischen Blick«: »The mood of these works shockingly combines the objectivity of science – the cool, clinical observation of the dissection table – with the paroxysm of romantic melodrama.«72 Demnach präsentiert der Künstler in erster Linie eine Dissoziation zwischen dem gewesenen lebendigen Leib und seiner dinghaften Inszenierung. Dabei ist ein entscheidender Unterschied zwischen dem weiblichen und dem männlichen Kopf zu bedenken, da es um das bildnerische Arrangement einer Lebenden, deren Kopf als tot dargestellt wird, mit dem Kopf eines tatsächlich Guillotinierten geht. Hierbei handelt es sich um einen künstlerischen Transfer, der sich in der genauen Beobachtung der Anzeichen von Verwesung ausdrückt, und die auf das lebende Modell übertragen werden. In diesem Sinne ›enthauptet‹ Géricault das lebendige weibliche Modell und er setzt gewissermaßen dem ›schnellen‹ Tod durch die Guillotine ein Gemälde entgegen, um das verwesende Antlitz zu konservieren. Diese inszenierungsbedingte Irritation der Têtes de suppliciés forciert und bannt das Abjekte gleichermaßen. Julia Kristeva definiert in ihrer Schrift Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection den Bezug zwischen der Konfrontation mit dem Zustand der Verwesung und der Abwehrreaktion der Betrachter.73 Das lateinische Adjektiv abiectus trägt die Bedeutungen niedrig, gemein, verworfen, aber bei Kristeva geht die Abjektion über diese Wortbedeutungen hinaus. Das Abjekte ruft Ekel und Aversion hervor, ist mit diesen aber

71 72 73

Ebd., S. 603. Nochlin 2001, S. 19. Julia Kristeva, Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection, Paris 1980, S. 12. (Kristeva 1980)

1. Zur Ikonografie des Übergangs

nicht gleichzusetzen.74 Die »Macht des Grauens« ist laut Kristeva sogar »ansteckend«,75 denn die spezifische Qualität des Abjekten ist die Konfrontation des Ichs mit seinen Grenzen und Ängsten. Es führt vor Augen, dass das Leben von Beginn an vom Tode ›infiziert‹ ist. Eine blutige und eitrige Wunde oder der scharfe Geruch von Schweiß und Verwesung signifizieren für Kristeva nicht den Tod. Wobei sich die Frage stellt, ob dieser überhaupt signifiziert werden kann. Vielmehr geht es hier um das Erfassen eines Schwellenzustandes, der bei den Têtes de suppliciés zum Bildinhalt wird: Die Verwesung ist darin ein Zustand, der über den Tod – genauer den toten Körper – hinausgeht, und das Danach als zeitlichen Prozess sichtbar macht. Zudem wird die Position der Betrachter mit der des Künstlers durch die Tatsache zusammengebracht, dass auf menschliche Körperteile geblickt wird, die lebendig waren.76 Dieser Zustand wird im Bild ablesbar in der Art, wie die Leiche ›gesehen‹ wird, denn Kristeva betont die Ambiguität des Phänomens der Abjektion als eine Folge der unvollständigen Abgrenzung von Innen und Außen ohne Trennlinie. Als abjekt erscheint alles, was »eine Identität, ein System, eine Ordnung stört«, indem es »die Grenzen, Orte und Regeln missachtet.« Es ist das »Dazwischen (l’entre-deux), das Zweideutige, Gemischte«.77

74

75 76

77

Den Ekel interpretiert Winfried Menninghaus als »Operator der Unterbrechung«. Winfried Menninghaus, »Ekel«, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck et al., Bd. 2, Stuttgart 2010, S. 142–177, hier S. 174. (Menninghaus 2010); Siehe dazu weiterführend: Winfried Mennighaus, Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt a.M. 2002. (Menninghaus 2002) Ausst.-Kat. Visions Capitales 1998, S. 111. Vgl. Brendan Prendeville, »The Features of Insanity, as seen by Géricault and by Büchner«, in: Oxford Art Journal, Bd. 18, Nr. 1, 1995, S. 96–115, hier ab S. 99. (Prendeville 1995) Kristeva 1980, S. 12. Auf Julia Kristeva wird im dritten Kapitel nochmals eingegangen.

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Enthauptung als Paradigma

Abbildung 7

In der Gegenüberstellung von Géricaults Têtes de suppliciés und einer Illustration aus John Bells 1797 erschienenem, mehrfach aufgelegtem Lehrbuch The Anatomy of the Bones, Muscles and Joint wird eine kompositorische Ähnlichkeit erkennbar (Abb. 7).78 Diese wird insbesondere im Arrangement und der Anzahl der Köpfe, aber vor allem in der Darstellung der Umgebung und der Genauigkeit der Gesichtszüge deutlich: Es scheint, als habe Géricault die zum Teil geöffneten Gesichtspartien der Köpfe aus Bells Illustration, die einen Einblick in die Organisation der Kiefer- und Halsmuskeln gibt, verschlossen und seine Aufmerksamkeit auf die Oberfläche des Bildgegenstandes verlagert. In der Positionierung und Präsentation der Têtes de suppliciés irritiert vor allem ihre

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Abb. 7: John Bell, The Anatomy of Bones, Muscles and Joint, Edinburgh 1797, Tafel III. Zur Gegenüberstellung mit Géricaults Têtes de suppliciés siehe: Martial Guédron, L’art de la Grimace. Cinq siècles d’excès de visage, Paris 2011, S. 246–248. Vgl. Wedekind 2013, S. 142–143.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

horizontale Anordnung. Die Enthaupteten werden so auf die Bedeutungsebene eines schlichten Gegenstandes gerückt, eines Stilllebens, das im wahrsten Sinne eine nature mort darstellt. Ihre einstige Rolle als bedeutendster Teil des menschlichen Körpers wird gegen ihren jetzigen Zustand als leblose Fragmente ausgespielt.79 Die Têtes de suppliciés von Géricault führen eine Strategie des Forcierens und Bannens des Abjekten vor Augen, indem der Kopf als Körperfragment und der Verweis auf seine lebendige Funktion ineinandergreifen. Auch in der Darstellung von Blut und Wundflüssigkeit verbindet Géricault diese beiden Ebenen, da die Schnittfläche am Hals des Mannes zum Zeitpunkt der Bildentstehung wahrscheinlich schon eingetrocknet war. Die Leinwand wird bei Géricault zum Seziertisch. Dem abgetrennten männlichen Kopf ist seine Hinrichtungsart immanent; der kurze Moment der Hinrichtung hat sich durch die am Inkarnat ablesbare fortgeschrittene Verwesung in einen Zeitraum nach dem Tod verschoben und ausgedehnt. Auch wenn diese Anzeichen nach Kristeva den Tod nicht signifizieren, stehen sie in direkter Verbindung mit einem gewissen ›Bild des Todes‹, welches besonders für den weiblichen, nach dem lebenden Modell angefertigten Kopf, zutrifft. Dass die Köpfe so präsentiert werden, dass sie die Perspektive des Künstlers und den Prozess ihrer Bildwerdung vor Augen zu führen,80 ermöglicht

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Vgl. Nochlin 2001, S. 22. Gregor Wedekind benennt Géricaults »Realismus« als eine »Metamorphose des ärztlichen Blicks«. »Der autonom gewordene Blick bewirke eine Spaltung der Realität zwischen der Sphäre des Blicks und der Objekte«, so Wedekind. Siehe: Gregor Wedekind, Le portrait mis à nu. Théodore Géricault und die Monomanen, München/Berlin 2007, S. 87. Dabei verweist er jedoch an keiner Stelle auf die diesem Gedanken zu Grunde liegende Theorie: Jacques Lacan, »Die Spaltung von Auge und Blick [1964]«, in: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI [1964], übers. von Norbert Haas, Olten/Freiburg i.Br. 1978, S. 73–84. (Lacan 1978) Im dritten Kapitel wird auf Lacan näher eingegangen. Vgl. Prendeville 1995, S. 99–100.

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Enthauptung als Paradigma

erst das Erleben eines »delightful horror«.81 Interessant bei diesem Phänomen ist darüber hinaus der von Susan Sontag formulierte »Appetit auf Bilder, die Schmerzen leidende Leiber zeigen […].«82 Das darin vereinte disparate ästhetische Erleben, sei eine »Befriedigung, ein Bild ansehen zu können, ohne zurückzuschaudern. Es gibt das Vergnügen des Zurückschauderns.«83 Es handelt sich um einen ähnlichen Blickmechanismus wie er sich sowohl in der öffentlichen Hinrichtung als auch im anatomischen Theater abspielt, wo ein und dasselbe Opferritual vollzogen wird, »um dem Tod in materialisierter Gestalt auf die Spur zu kommen, indem er aus der Distanz, und zwar aus der Position eines überlebenden Kollektivs am entblößten ›Körper des Anderen‹, gefahrlos anschaubar wurde.«84 Durch diesen Bildmodus unterlaufen die Têtes de suppliciés die Kraft der »Überwindung der Ordnung des Bösen«,85 wie sie in den Ikonografien politischer Enthauptungsgrafiken zum Tragen kommt, indem sie die scheinbar reale körperliche Ebene thematisieren. Da es sich bei dem männlichen Kopf um einen einfachen Dieb und keinen Aristokraten handelt, steht Géricaults Darstellung der revolutionären Bildpolitik entgegen.86 Dabei haben beide Köpfe hier in zweifacher Weise die ›Trägerschaft‹ ihrer Person an eine fremde Verfügungsgewalt

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Edmund Burke, Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen [1757], hg. von Werner Strube, Hamburg 19892 , S. 81–82. (Burke 1989) Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, übers. von Reinhard Kaiser, Wien 2003, S. 50. (Sontag 2003) Sontag 2003, S. 50. Bergmann 1997, S. 54. Vgl. Sykora 2009, S. 477. Zu Géricaults politischer Gesinnung hält Athanassoglou-Kallmyer fest: »By 1820 Géricault was fully immersed in the left-wing ideology of the circle of artists and politicians that congregated in his friend Horace Vernet’s studio in Montmartre.« Athanassoglou-Kallmyer 1992, S. 604. Dazu weiterführend: Nina Athanassoglou-Kallmyer, »Liberals of the world unite: Géricault, his friends and La Liberté des Peuples«, in: Gazette des beaux-arts, 12/1990, S. 227–242, hier S. 227f.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

abgetreten87 – nicht nur durch die tatsächliche Enthauptung im Falle des männlichen Kopfes, sondern vor allem durch die künstlerische Überformung Géricaults. Die Physiognomien seiner Guillotinierten scheinen die von Arasse formulierte »Vulgarisierung des unveräußerlichsten [sic!] Ausdrucks eines Gesichts: des Ausdrucks im Moment des Todes«88 festzuhalten, ein Zustand, den Géricault vom männlichen auf den weiblichen Kopf transferiert. Wobei es ihm nicht darum geht, eine Art letztes Porträt des Menschen zu schaffen, sondern den spezifischen Ausdruck auf der Schwelle zwischen Leben und Tod zu erfassen. Der klinische Blick Géricaults durchdringt den Prozess des Vergehens und stellt diesen mimetisch dar, was sich hier als wirksame Strategie, das Abjekte simultan zu forcieren und zu bannen, herausstellt. Arasse macht deutlich, dass die Bilderwelt, die durch die Guillotine entstehe, dazu dient, den Körper auf die Norm des Gesetzes zu reduzieren.89 Dementsprechend werden in dem Beispiel Dialogue: je perds une tête – j’en trouve une die Körper des Königs getilgt. Darüber hinaus führt in Matière à reflection pour les jongleurs couronnées der Gestus der ostentatio, als simultaner Akt der (politischen) Ent- und Resakralisierung, den Transfer oder die Aneignung des Sakralen und die gleichzeitige sakrale Absorption vor Augen, um ein Symbol dieser Reduktion des Körpers auf das Gesetz zu konstituieren. Hier kommt auch der Unterschied zwischen den Grafiken und der Malerei zum Tragen. Während die Grafiken den Beweis antreten, dass der König nur durch seinen Tod nützlich ist, verbindet Géricault in den Têtes de suppliciés die Banalität des Todes mit dem Überdauern. Die Köpfe werden so zu ›Opfern‹ für sein Bildanliegen. Das im Bild gebannte Abjekte bricht hier mit dem symbolischen MachtTausch der Revolution.

87 88 89

Vgl. Krüger 2006, S. 202. Arasse 1988, S. 175. Ebd., S. 176.

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Enthauptung als Paradigma

1.2 Zur politischen Ikonografie der Guillotinenklinge 1.2.1

Ian Hamilton Finlay – Four Guillotine Blades

»The form of each thing is distinguished by its function or purpose; some are intended to arouse laughter, others terror, and these are their forms.« Ian Hamilton Finlay [Nicolas Poussin]90

Abbildung 8

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Ian Hamilton Finlay, Detail: Four Guillotine Blades [Nicolas Poussin], 1987. Dieses Unterkapitel ist ein überarbeiteter Aufsatz: Katrin Weleda, »Zur politischen Ikonografie der Guillotinenklinge«, in: Mouvement. Bewegung. Über die dynamischen Potenziale der Kunst, hg. von Andreas Beyer und Guillaume Cassegrain, Berlin 2015, S. 109–122.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Abbildung 9

In Ian Hamilton Finlays Arbeit Four Guillotine Blades von 1987 treffen programmatische Zitate künstlerischer Theoriebildung, Aufklärungsgedanken des 18. Jahrhunderts und radikale jakobinische Revolutionspropaganda mit Konkreter Poesie zusammen, um sich alle auf einem vereinheitlichten Bildträger wiederzufinden: in englischer Übersetzung als blutrote Antiquaversalien auf Schiefertafeln eingelegt, deren Form und Werktitel die Guillotinenklinge bezeichnen (Abb. 8 u. 9).91 Die zitierten Persönlichkeiten, unter die sich auch Finlay selbst mischt,

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Abb. 8 u. 9: Ian Hamilton Finlay, Four Guillotine Blades, 1987,in Zusammenarbeit mit Nicholas Sloan, vier Schieferplatten, geschnitten mit eingravierter roter Beschriftung, 69 x 80 x 2 cm je Schieferplatte, © The Estate of Ian Hamilton Finlay/ Victoria Miro, London. 1987 sind unter dem Titel 4 Blades sowohl eine Serie grafischer Arbeiten in Zusammenarbeit mit Gary Hincks zum selben Sujet entstanden als auch die Guillotinen-Installation A View to the Temple für die documenta 8. Aus dem Jahr 1990 stammt darüber hinaus die Bronzearbeit Quin morere ausgeführt gemeinsam mit Nicholas Sloan, wozu Yves Abrioux folgendes schreibt: »The bronze blade is engraved with an inscription from Virgil’s Aeneid, relating to the decision of Dido to use her own death to expiate her guilty love for Aeneas.« Yves Abrioux, Ian Hamilton Finlay. A visual primer [1985], London 19922 , S. 271.

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Enthauptung als Paradigma

scheinen im Zusammenhang mit diesem Werk eine untergeordnete Rolle zu spielen. Da sie namentlich auf den Tafeln nicht genannt werden, ist der Fokus auf den Aussagewert des Zitats gerichtet. In diesem Akt der künstlerischen Reflexivität durch das ›Spiel‹ mit der Autorschaft lauten die Zitate von Denis Diderot: »FRIGHTEN ME, IF YOU WILL, BUT LET THE TERROR WHICH YOU INSPIRE IN ME BE TEMPERED BY SOME GRAND MORAL IDEA«, von Maximilian Robespierre: »THE GOVERNMENT OF THE REVOLUTION IS THE DESPOTISM OF LIBERTY AGAINST TYRANNY. TERROR IS AN EMANATION OF VIRTUE«, und von Ian Hamilton Finlay selbst: »TERROR IS THE PIETY OF THE REVOLUTION.«92 Der von Finlay dekontexualisierte Aphorismus Nicolas Poussins (Abb. 9) erscheint mir ein geeigneter Einstieg, um den speziellen Einschreibungen in Bezug auf die Guillotinenklinge zu begegnen, da sie sowohl ihren Modus als Bild als auch ihren Modus im Bild bestimmen. Die Four Guillotine Blades sind Zeichen für die Aussage, dass manche Formen Gelächter, Schrecken oder gar beides zu erzeugen im Stande seien, weil es eben ihrer Funktion und ihrem Zweck entspräche. Der Inhalt dieser vermeintlichen Aussage Poussins wird auf seine Correspondance zurückgeführt, auf einen Brief, den er am 24. November 1647 in Rom an seinen Auftraggeber Paul Fréart de Chantelou verfasste: den sogenannten Modusbrief.93 Jedoch ähnelt keine Passage dieses Briefes dem übersetzten Wortlaut Poussins in der Arbeit Finlays, vor allem 92

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Stephen Scobie verweist in einer Fußnote auf Folgendes: »Finlay puns on the meaning of the ›blade‹ as ›a dashing young man‹, presenting an image of SaintJust as ›a young blade‹.« In: Stephen Scobie, »A Model of Order: Ian Hamilton Finlay and the French Revolution«, 1997, S. 3. URL: http://yaleunion.org/reedfinlay-internal/essays/scobie_finlay_essay.pdf [letzter Zugriff 15.03.2023]. Das Essay ist entnommen aus: Stephen Scobie, Earthquakes and Explorations: Language and Painting from Cubism to Concrete Poetry, Toronto 1997. Auswahl weiterführender Literatur: Jan Białostocki, »Das Modusproblem in den Bildenden Künsten. Zur Vorgeschichte und zum Nachleben des ›Modusbriefes‹ von Nicolas Poussin«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 24/2, 1961, S. 128–141. Wilhelm Messerer, »Die ›Modi‹ im Werk von Poussin«, in: Festschrift für Luitpold Dussler, hg. von Josef Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, Marcell Restle und Herbert Weiermann, München 1972, S. 335–348. Oskar Bätschmann, Dialektik der Malerei von Nicolas Poussin, Zürich/München 1982. Matthias Bruhn, Nicolas Pous-

1. Zur Ikonografie des Übergangs

nicht in dieser Verdichtung des aphoristischen Sinngehaltes.94 In der neu übersetzten und kritischen Ausgabe The Lives of the Modern Painters, Sculptures and Architects, der erstmals 1672 in Rom erschienen Schrift Gian Pietro Belloris Vite de‹ pittori, scultori ed architetti moderni, findet sich indes folgendes Zitat von Poussin: »The form of each thing is distinguished by its proper function or purpose; some produce laughter, or terror, and these are their forms.«95 Somit kann zumindest festgehalten werden, dass Ian Hamilton Finlay sein Poussin-Zitat wohl einer früheren Studie von Anthony Blunt entnommen haben wird, wo sich der genaue Wortlaut wiederfindet.96 Vielleicht handelt es sich bei dieser Poussin zugeschriebenen Äußerung – seine Kunsttheorie ist nur sehr bruchstückhaft überliefert – auch um eine Montage, denn was in Blunts Erstausgabe von 1967 beinahe wie eine Rechtfertigung dem Leser gegenüber anmutet, beinhaltet durchaus Programmatik: »If Poussin’s explanation of the ›modes‹ is confused, it is because he was himself not very clear about them.«97 Insofern scheint die Entscheidung Finlays, eben diese Worte

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sin. Bilder und Briefe, Berlin 2000. (Bruhn 2000). Bernhard Stumpfhaus, Modus – Affekt – Allegorie bei Nicolas Poussin, Berlin 2007. Siehe Nicolas Poussin, Correspondance, publiée d’après les originaux par Ch. Jouanny, Paris 1911, S. 370–375. In deutscher Übersetzung bei Bruhn 2000, S. 218–220. Giovan Pietro Bellori, The Lives of Modern Painters, Sculptors and Architects [1672]. A new Translation and critical Edition, übers. von Alice Sedgwick Wohl, New York 2005, S. 339. Hervorhebung der Autorin. In der diesem Zitat zugehörigen Fußnote heißt es auf S. 344: »The concept of form in terms of its ›proper function or purpose‹ finds its clearest expression in chapter 25 of Giovanni Paolo Lomazzo, Idea del tempio della pittura, Milan, 1590, pp. 80–82, who defines form as ›that component (of art) with which one shows the outer forms of things which one must of necessity know in order to represent in an orderly fashion everything that enters the imagination and is seen by the eye […].« Bei Blunt findet sich auf der Seite des vermeintlichen Zitats folgender Verweis: »This definition of form, which goes back ultimately to Aristotle, was almost universally accepted by philosophers in the Middle Ages and the Renaissance.« Anthony Blunt, Nicolas Poussin [1967], London 1995, S. 366. (Blunt 1995) Blunt 1995, S. 150.

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auf eine guillotinenklingenförmige Schiefertafel zu setzen, deren Wirkungskraft keineswegs zu verringern, sondern darüber hinaus die Textverfahren Konkreter Poesie mit denen der Künstlervitenschreibung vom Ende des 17. Jahrhunderts emblematisch zu verbinden. Es soll an dieser Stelle nicht näher um die Verifizierung eines Zitats gehen,98 sondern um die davon ausgehende Bedeutung für das Kunstwerk. Denn in Finlays Arbeit ist es nicht allein die Form der Guillotinenklinge, deren politischikonografischer Gehalt den Untersuchungsgegenstand ausmacht, sondern die Drastik der Kombination mit der Aussage jener Zeilen, die der Bildträger hier in geradezu exegetischer Weise verkörpert. In diesem Sinne ist die äußerst bewusste künstlerische Strategie der Einschreibung in historische Ereignisse und ihre Symbole weitaus mehr als das interpretative Bedienen eines Sujets: »Die Mischung von Wirklichem und Erfundenem ist wichtig, weil es den Projekten eine Art nachdrücklicher Qualität verleiht; sie sind nicht bloß Mythologien; und sie sind deshalb auf Ereignisse bezogen – Dinge, die passiert sind«, so Finlay.99 Die Bedeutung der Four Guillotine Blades resultiert nicht allein aus Kombinatorik, die dieser künstlerischen Praxis aber auch zugrunde liegt, sie ist vor allem das Ergebnis des Herausstellens, Zuspitzens und Transformierens historischer Ereignisse in einen spezifisch emblematischen Zusammenhang. Die Wechselwirkungen, die entstehen, wenn Form und Inhalt miteinander in Dialog gesetzt werden, werfen hier insbesondere auch Fragen nach den spezifischen Qualitäten einer ›Verkörperung‹ auf. In Bezug auf die Guillotinenklinge setzt der hier verwendete Verkörperungsbegriff, figurer, bei Daniel Arasse an: »Installé en haut de ses montants, le tranchoir construit un espace qui donne figure à l’instant,

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»Poussin verwies zu seiner Rechtfertigung auf die Tonarten der antiken Musiktheorie und auf die Verpflichtung des Malers, gleich dem Musiker sein Bild auf die gewählte Thematik ›einzustimmen‹.« Hans Körner, Auf der Suche nach der »wahren Einheit«. Ganzheitsvorstellungen in der französischen Malerei und Kunstliteratur vom mittleren 17. bis zum mittleren 19. Jahrhundert, München 1988, S. 60. Ian Hamilton Finlay, zit.n. Kunstforum International, 90, documenta 8: Kunst auf dem Prüfstand, hg. von Stephan Schmidt-Wulffen, Juli-September 1987, S. 304.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

qui est comme une figure spatiale de l’instant.«100 Die arretierte Guillotinenklinge sei nach Arasse zwar im Stande eine abstrakte zeitliche Dimension, die des Augenblicks der Hinrichtung, sichtbar zu machen, und das Potenzial dieses Gegenstandes stelle für ihn die »räumliche Verkörperung des Augenblicks«101 dar. Aber die Funktion der Guillotinenklinge, oder vielmehr ihr Wirken, ist in einem Augenblick schwer zu erfassen, was sie beinahe ihrer vordergründigen Aufgabe, der öffentlichen, exekutiven Bezeugung, entzieht. Denn, wie es an anderer Stelle bei Arasse heißt: »Ein Augenblick genügt dem Auge nicht. Durch die vernunftdiktierte Einführung der Enthauptungsmaschine wird unversehens die Beziehung zwischen der Wahrnehmung und der Hinrichtung gestört.«102 Aus diesem Grund wird bereits sehr bald nach den ersten öffentlichen Enthauptungen der Versuch unternommen, das Herabfallen der Guillotinenklinge zu verlangsamen, um die Sichtbarkeit des Tötungsprozesses wenigstens um einige Millisekunden auszudehnen, in der Hoffnung, die Seh- und Sensationslust des Publikums zu befriedigen. Während die herabfallende Guillotinenklinge paradoxerweise nicht wahrgenommen werden könne,103 herrsche um die beiden halbrunden Aussparungen der lunette herum – die zur Fixierung des Kopfes während der Hinrichtung dient – hingegen ein »blinder Fleck« der »schreckeneinflößenden Sichtbarkeit«.104 Im Zuge der technischen Einbindung des Körpers in die Maschine war die Enthauptung durch die Guillotine in gewissem Sinne ein logischer Folgeschritt. Oft zitiert wird in diesem Kontext die dadurch hervorgerufene, bildliche Präfiguration, die Arasse formuliert:

100 Daniel Arasse, La guillotine et l’imaginaire de la Terreur [1987], Paris 2010, S. 63. (Arasse 2010) Kursivsetzung im Original. In der deutschen Ausgabe: Arasse 1988, S. 52. 101 Arasse 1988, S. 52. 102 Ebd., S. 41. 103 Ebd., S. 50. 104 Ebd., S. 51.

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Enthauptung als Paradigma

»Die Enthauptungsapparatur wird zu einem grausigen Porträtisten, zu einer Porträtmaschine. Bereits 1793 wird die Guillotine in einer englischen Beschreibung mit der Staffelei eines Malers verglichen (›This de-structive instrument is in the form of a painter’s easel‹). Ein treffender Vergleich: zwischen den beiden Balken einer riesigen Staffelei bietet sich in der Tat ein Bild des Todes.«105 ›Staffelei‹ und ›Schafott‹ werden im Sinne von ›Gerüst‹ im Französischen synonym als l’eschafaux [sic!] im Grand Dictionnaire des Arts et des Sciences von 1696 bezeichnet: »L’Estodi [sic!], l’eschafaux [sic!] ou chevallet [sic!] du peintre, c’est sur qouy [sic!] on posse les tableaux pour travailler.«106 Aber auch zwei weitere Bezeichnungen für die Guillotine verweisen auf den während der Hinrichtung visuell erzeugte Fragmentierung des Körpers: le vasistas und la lucarne. Außerdem gibt es umgekehrt ein fenêtre à guillotine, das sich mittig öffnen lässt und technisch an die Konstruktion der Guillotine erinnert, da die Scheiben beidseitig durch Nuten gleiten.107 Hier wird die Gegensätzlichkeit von perzeptiver und ikonografischer Zuschreibung deutlich, welche die beiden Konstruktionsbestandteile der Guillotine betrifft: ihre Klinge und die ein Tondo erzeugende lunette. Auch wenn der Akt der mechanisch erfolgten Hinrichtung und die tatsächliche Abtrennung des Kopfes kaum wahrzunehmen ist, steht demgegenüber ein scheinbar konkretes Bild des Todes, das von der Guillotine als »Porträtmaschine«108 erzeugt wird.

105 Ebd., S. 166. Hervorhebung im Original. 106 Vgl. Ulrich Pfisterer, »Das Werkzeug in der Sammlung – oder: Der König vor Cornelis Gijsbrecht’s Staffelei«, in: Werkzeuge und Instrumente, hg. von Philippe Cordez und Matthias Krüger, Berlin 2012, S. 67–92, hier S. 88, Anm. 5: »Zum Strafgerät [Thomas Corneille]: Le Grand Dictionnaire des Arts et des Sciences, Paris 1696, Bd. 3 [das ist eigentlich Bd. 1], S. 124.« 107 Vgl. Pierre Larousse, Grand Dictionnaire Universel du XIXe Siècle, Bd. 8/2, Genf/ Paris 1982. Darin zur Guillotine: »Instrument de supplice qui sert à décapiter, et qui consiste en un lourd couteau qu’on fait glisser entre deux rainures et tomber sur le cou du patient. […] Archit. : Fenêtre qui s’ouvre au moyen d’un panneau ou d’un châssis glissant entre deux rainures verticales.« S. 1630. 108 Arasse 1988, S. 166

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Die hier verfolgte analytische Zerteilung und Ausdifferenzierung des Tötungsprozesses dient der Bewusstmachung und darüber hinaus der Aneignung eines als unfassbar deklarierten Phänomens: dem punctum temporis.109 Sowohl für die Guillotinenklinge als auch für die historische Narration der Französischen Revolution ist die Konstruktion und die Beschreibung ihrer zeitlichen Charakteristika hervorzuheben, in denen sich eine »geschwindigkeitsbezogene räumliche Bewegung und Distanzüberwindung«110 ausdrückt, die wiederum eine »Veränderung des Material- bzw. Entwicklungszustandes«111 bedingt. Es geht in diesem Zusammenhang um die von Burkhardt Dücker formulierte zeitlich inhärente »Speicherung von Erfahrungen und Geschehnissen im je zeitordnungsabhängigen Erinnerungssystem der Geschichte«.112 Denn sowohl den Ausführungen zur Guillotinenklinge als auch dem paradigmatischen Ausgangspunkt der Schreckensherrschaft, dem Jahr 1793, haftet eine Rhetorik des narrativen Zeitkondensats der kleinstmöglichen Einheit an. Victor Hugo schreibt dazu: »93: das ist der Krieg Europas gegen Frankreich und der Krieg Frankreichs gegen Paris. Und was ist die Revolution? Sie ist der Sieg Frankreichs über Europa, der Sieg Paris’ über Frankreich. Darin liegt die Ungeheuerlichkeit dieser furchtbaren Minute 93, die größer ist als das ganze übrige Jahrhundert.«113 Für ein Jahr steht eine Minute, die wiederum schwerer wiegt als ein ganzes Jahrhundert; das des Schriftstellers war zum Zeitpunkt der Fertigstellung seines letzten Romans Quatrevingt-Treize von 1874 noch nicht einmal abgeschlossen. Dennoch, das Jahr 1793 markiert eine brutale Verdichtung größter gesellschaftlicher Umwälzungen, die überhaupt

109 Ebd., S. 51. 110 Burckhard Dücker, »Zeit«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe [1998], hg. von Ansgar Nünning, 4. Aufl., Stuttgart 2008, S. 782–783, hier S. 782. (Dücker 2008) 111 Dücker 2008, S. 782. 112 Ebd. 113 Hugo 1973, S. 93.

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erst die Bedingungen der gewaltsamen Entstehung von ›Gesellschaft‹ schaffen, die bereits ein Jahr später durch die Grande Terreur entscheidend geprägt und traumatisiert wird: Innerhalb einer Zeitspanne von 49 Tagen – nach dem Revolutionskalender vom 22. Prairial bis zum 9. Thermidor 1794 andauernd – werden 1400 Männer und Frauen mithilfe der Guillotine hingerichtet, was ungefähr 200 Exekutionen pro Woche entspricht.114 Bereits am 10. Oktober 1789 beantragt der Arzt Joseph-Ignace Guillotin einen mechanischen Enthauptungsapparat aus humanitären Gründen, um die grausamen und entehrenden Hinrichtungsarten abzuschaffen, zum Beispiel das Hängen, Rädern oder öffentliche Verbrennen. Zu diesem Zweck formuliert Guillotin ferner die réforme du »code pénal«, worin er unter Artikel 6 die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz sowie gleiche Strafen für gleiche Verbrechen für alle ohne Unterschied fordert.115 Bevor sich diese Reform jedoch durchsetzt oder auch nur eine konkrete Form annimmt, verfasst der Scharfrichter Charles-Henri Sanson eine besonders umsichtige Forderung, die er an den Justizminister adressiert: »Nach jeder Exekution ist das Schwert unbrauchbar für eine weitere Hinrichtung; es ist unbedingt notwendig, das schartig gewordene Schwert erneut zu schärfen und zu schleifen. Wenn mehrere Personen nacheinander hinzurichten sind, ist es daher auch unbedingt notwendig, einen ausreichenden Vorrat an einsatzbereiten Schwertern zur Verfügung zu haben. Ferner ist zu bedenken, daß bei dieser Hinrichtungsform schon oft Schwerter zerbrochen sind. Der Scharfrichter von Paris besitzt nur zwei Schwerter, die ihm vom ehemaligen obersten Gerichtshof ausgehändigt worden sind. Sie haben jeweils sechshundert Livres gekostet.«116 114 115 116

Ausst.-Kat. 1789: French Art During the Revolution 1989, Colnaghi, New York, hg. von Alan Wintermute, New York 1989, S. 142. Henri Pigaillem, Le docteur Guillotin. Bienfaiteur de l’humanité, Paris 2004, S. 80–81. Bericht des Charles-Henri Sanson an den Justizminister über die Art der Enthauptung, zit.n. Arasse 1988, Anhang, Text 1, S. 215–216. In der französischen

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Die Enthauptung durch das Schwert stellt für den Henker seit dem Mittelalter eine sehr komplizierte und mit hoher Konzentration verbundene Angelegenheit dar. Denn erfolgt die Exekution nicht möglichst schnell und mit einem senkrecht zwischen den Halswirbeln des Verurteilten hindurchgehenden Hieb, konnte das Volk, das bei öffentlichen Hinrichtungen seit ehedem zahlreich anwesend war, sogar den Tod des Henkers fordern: »Ein mißglückter Schlag, das sogenannte Putzen, war ein gefährlicher Kunstfehler; denn der Henker lief Gefahr, von der wütenden Menge gesteinigt zu werden.«117 Die Angst vor Komplikationen während der Hinrichtung war demnach sowohl beim Delinquenten als auch beim Henker vorhanden und sie stellte einen gewichtigen Grund für die bevorstehende Maschinisierung des Tötungsaktes dar. In seiner Stellungnahme zur Methode der Enthauptung – ausgefertigt in Paris, den 7. März 1792 – formuliert daher der königliche Leibarzt Antoine Louis folgende Überlegungen: »Es [ist] notwendig, die Hinrichtung schnell und mit einem Streich zu vollziehen. […] Der Rumpf, dessen Fall nichts verhinderte, wurde vorwärtsgeworfen, und drei oder vier Säbelstreiche waren notwendig, bevor der Kopf vom Rumpf getrennt war; diese Schlächterei, wenn der Ausdruck gestattet ist, konnte nur Entsetzen hervorrufen. […] Die Exekution, die man als ehrenhaft bezeichnen kann, wird mit einem Schwert durchgeführt; der Verbrecher kniet nieder, seine Augen werden verbunden, seine Hände sind frei. Wenn die Strafe entehrend wirken soll, wird das gefesselte Opfer mit dem Gesicht nach unten gelegt und der Kopf mit dem Beil abgetrennt.«118

117 118

Ausgabe durch folgende Quellenangabe ergänzt: »Cité par Jules Taschereau, dans Revue rétrospective, Paris 1835.« Arasse 2010, S. 274. In Bezug auf die Quelle wird an dieser Stelle auf Arasse verweisen, da ich mir bezüglich der Authentizität und Aussagekraft der ›Tagebücher‹ nicht sicher bin: Henri Sanson, Tagebücher der Henker von Paris 1685–1847 [1862], Eberhard Wesemann und KnutHannes Wetting, 2 Bände, München 1985. Ernst Schubert, Räuber; Henker; arme Sünder. Verbrechen und Strafe im Mittelalter, Darmstadt 2007, S. 93. Hervorhebung im Original. Zit. nach Arasse 1988, S. 217.

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An anderer Stelle beschreibt Louis seine Idee eines unveränderlichen und mechanischen Werkzeuges als Prototyp der späteren Guillotine: »Der Kopf des Verbrechers wird mit dem Gesicht nach unten zwischen den zwei Pfosten gelegt, die oben durch einen Querbalken verbunden sind, von dem ein konvexes Beil vermittels einer Auslösevorrichtung auf den Nacken des Mannes niederstürzt. Der obere Teil des Instruments soll stark und schwer genug sein, um wie das Gerät zu wirken, das zum Einrammen von Pfählen verwandt wird. Es ist bekannt, daß die Wucht noch mit der Fallgeschwindigkeit zunimmt.«119 Am 17. März 1792 wird Antoine Louis von der Nationalversammlung beauftragt, einen Entwurf für ein solches Gerät anzufertigen, wobei er sich am mittelalterlichen Fallbeil von Halifax und der Schottischen Maiden orientiert, die längst außer Betrieb sind, aber die technische Grundlage liefern. Die Herstellung der ersten Guillotine, wie sie allerdings erst später genannt wird, gibt Charles-Henri Sanson bei dem deutschen Klavierbauer Tobias Schmidt, der in Paris lebt, in Auftrag (Abb. 10).120

119 Ebd., S. 219. 120 Abb. 10: Jean T. A. Laquiante, Projet de Machine à décapiter proposé d’abord par Schmidt, 1792. Entnommen aus: Louis Du Bois, Recherches historiques et physiologiques sur la Guillotine, et détails sur Sanson, Paris 1843, S. 37.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Abbildung 10

Louis kann sich als Namensgeber der Apparatur nur zeitweilig mit den Bezeichnungen Louison und Louisette durchsetzen, aber für ein besonders wichtiges Detail fühlt er sich sehr verantwortlich: »Meine Rolle in der Angelegenheit, und ich betrachte sie als einen Akt der Menschlichkeit, beschränkte sich auf die Korrektur der Form der Schneide, die ich konvex sehen wollte, damit das Ziel durch einen sauberen Schnitt erreicht wird.«121 Diese Klingenform wird von Louis auch als croissant bezeichnet.122 Aber die konvexe Form der Guillotinenklinge wird trotz einiger erfolgreicher Versuche an lebenden Schafen nicht beibehalten, denn bei der Anwendung an menschlichen Kadavern erweist sich die abgeschrägte, diagonale Schneide als zuverlässiger.

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Ebd., S. 35. Vgl. Kershaw 1958, S. 52. Du Bois 1843, S. 30.

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Über das Zustandekommen der endgültigen Form der Guillotinenklinge berichtet das politische Wochenmagazin Le Point in seiner Onlineausgabe vom 2. März 2012, dem 220. Jahrestag der folgenden Anekdote, die sich auf den vermeintlichen Bericht des Enkels von CharlesHenri Sanson stützt: Ludwig XVI., dessen Begeisterung und Geschicklichkeit für Schlosserarbeiten Anerkennung findet, verständigt sich demnach gemeinsam mit Louis, Guillotin und Sanson über die Effektivität der Klingenform bei der Hinrichtung. Die Zusammenkunft wird auf den 2. März 1792 datiert, und ihm werden folgende Fragen in den Mund gelegt: »Ce fer en forme de croissant, est-il bien là ce qu’il faut? Croyez-vous qu’un fer ainsi découpé puisse s’adapter exactement à tous les cous? Il en est qu’il ne ferait qu’entamer, et d’autres qu’il n’embrasserait même pas.«123 Die Zweifel des Königs, der bald abgesetzt wird,124 werden ernst genommen und Sanson lässt folglich zwei Ausführungen herstellen. Am 17. Januar 1793 beschließt die Nationalversammlung mit einer Stimme Mehrheit das Todesurteil für Ludwig XVI., welches am 21. Januar 1793 auf dem Revolutionsplatz, heute Place de la Concorde, mit ebenjener Form der diagonal abgeschrägten Guillotinenklinge vollstreckt wird, die er durch seine Bedenken gegenüber dem croissant selbst mit anregte. Die Bezugnahme auf die eben skizzierten revolutionären Ereignisse sowie deren Bewältigung sind Konstanten im gesamten Werk Ian Hamilton Finlays. Insbesondere in seiner Arbeit Four Guillotine Blades wird das französische Trauma beispiellos ästhetisiert, dabei jedoch weder 123

Frédéric Lewino und Gwendolin Dos Santos, »2 mars 1792. Onze mois avant d’être tranché, Louis XVI améliore l’efficacité de la guillotine«, in: Le Point.fr, 2. März 2012, URL: www.lepoint.fr/c-est-arrive-aujourd-hui/2-mars-1792-onzemois-avant-d-etre-tranche-louis-xvi-ameliore-l-efficacite-de-la-guillotine-0203-2012-1437055_494.php [letzter Zugriff 15.03.2023]. 124 Seine Herrschaft von Gottes Gnaden wurde mit der neuen Verfassung in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt und trat am 14. September 1792 in Kraft. Er galt nunmehr als prince royal und präsentierte sich sogar im selben Jahr dem Volk mit der phrygischen Mütze auf dem Haupt, dem Symbol republikanischer Gesinnung, um erfolglos seine die Kriegsführung gegen Österreich betreffenden Entscheidungen zu rechtfertigen.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

verharmlost noch seiner Bedeutung entladen. In diesem Zusammenhang handelt es sich offenbar eher um die von der Guillotinenklinge ausgehende Bildsprache einer Verkörperung des Zusammenfalls von Begriff, Zeichen und Gegenstand. Charlotte Schoell-Glas analysiert dazu folgendes in ihrem Aufsatz »The medium is the message«: »His [Finlay’s] serious play with the aesthetics of the sublime not only points to politics in a general way, but to its central driving forces: power and violence. […] ›History‹ is being aestheticized and then brought into contemporary reality. The power of the image arises from this translation of a concept into the concrete.«125 In einem erweiterten Sinne ist das Fallbeil als »Sichel der Gleichheit«126 auch Ausdruck der spezifischen französischen Revolutionsrhetorik, wie Lynn Hunts Untersuchungen hierzu deutlich machen: »The French rhetoric of revolution had to provide its own hermeneutics […]«,127 und: »While referring to a mythic present, revolutionary rhetoric also had to explain the failures of the present […].«128 Die rhetorische Qualität der Guillotinenklinge ist, dass sie als pars pro toto zwischen einem depersonalisierten Zeichen und dem Gesetz mediatisiert, was nach Richard Taws den Status der Guillotine als »Anti-Monument«129 kennzeichnet. Darüber hinaus repräsentiert das Messer in Anna Bergmanns Entstehungsgeschichte des modernen Körpermodells »[…] das klassische Instrument der religiösen Opferhandlung: etwa als Symbol Abrahams, der Beschneidung, als liturgisches Messer, als Marterinstrument und als Mittel der Exekution.«130 Genau diese Verknüpfungen werden während der 125

Charlotte Schoell-Glas, »The medium is the message. Ian Hamilton Finlay’s Garden Little Sparta«, in: The pictured word, hg. von Martin Heusser und Claus Clüver, Amsterdam 1998, S. 211–230, hier S. 219. 126 Hans-Ulrich Thamer, Die Französische Revolution [2004], München 20062 , S. 65. 127 Lynn Avery Hunt, »The Rhetoric of Revolution in France«, in: History Workshop, 15, 1983, S. 78–94, hier S. 81. (Hunt 1983) 128 Hunt 1983, S. 89. 129 Richard Taws, »The Guillotine as Anti-Monument«, in: The sculpture journal, 19/1, 2010, S. 33–48, hier S. 41. 130 Bergmann 1997, S. 61.

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Französischen Revolution zum Teil transformiert und an die Stelle der Sakralisierung tritt nun ein ›aufklärerischer‹ Impetus: »Der Schnitt des Skalpells, seine Geste, hinterlässt einen körperlichen Rest bestehend aus Torso und Gliedmaßen, der hinter dem Erkenntnisgewinn des Experiments zurückbleibt und als körperlicher Rest verfällt«, so Petra BoltePicker.131 Die Theoretisierung in dieser Konstellation geht sogar so weit, dass durch die Nichtwahrnehmbarkeit des Todes bei der Guillotinierung – en un clin d’œil132 – dieser nun seines Mittels der Repräsentation entledigt sei oder gar ein »semiotisches Vakuum«133 hinterlasse. Dabei ist es durchaus fragwürdig, was genau eine solche Repräsentation des Todes ausmachen würde. Von großer Bedeutung ist an dieser Stelle allerdings der Prozess einer Überschreitung der rhetorischen Ebene, da sich darin die eingangs erwähnte »räumliche Verkörperung des Augenblicks«134 situiert. Zoran Terzic trägt nicht nur der Bewegungskomponente der Guillotinenklinge Rechnung, seine Ausführungen lassen auch in erweitertem Sinne eine mögliche (Selbst-)Sublimierung dieses Gegenstandes denkbar werden: »Die ideale staatlich legitimierte Tötung steht […] für einen Tod ohne Sterben[,] d.h. für eine unendliche Sublimierung des Prozesses der Sanktion und einer virtuellen ›Entfernung‹ des Strafsubjektes, das idealerweise einfach nicht mehr ›da‹ sein soll. Und eben das beschreibt die scharfe semantische Zäsur zwischen Leben und Tod, die das herabstürzende Fallbeil verkörpert.«135 131

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Petra Bolte-Picker, »Theater der Physiologie. Körper/Teilung, Körper/Dichte und der politisierte kopflose Rest«, in: Welt – Bild – Theater, hg. von Kati Röttger, Bd. 2: Bildästhetik im Bühnenraum, Tübingen 2012, S. 193–206, hier S. 200. Siehe dazu: Jean Clair, Méduse. Contribution à une anthropologie des arts du visuel [1989], Paris 2006, S. 125–150. Hans Christian von Herrmann und Bernhard Siegert, »Beseelte Statuen – zuckende Leichen. Medien der Verlebendigung vor und nach Guillaume-Benjamin Duchenne«, in: Körperinformation, Kaleidoskopien 3, hg. von Günter Karl Bose et al., Berlin 2000, S. 66–99, hier S. 84. Arasse 1988, S. 41. Zoran Terzic, »Die Axt. Zur politischen Phänomenologie von Sieg und Niederlage«, in: Inszenierung des Sieges – Sieg der Inszenierung, hg. von Michaela Fahlen-

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Nicht zuletzt ist die Guillotinenklinge demnach auch ein vergegenständlichtes Ideal, was als Komponente ihrer Verkörperungsstrategie betrachtet werden muss und ohne das eine politisch-ikonografische Auslegung im Besonderen nicht auskommt.

1.2.2 La Guillotine. Par un vieux Jacobin Durch die einfache geometrische Form der Guillotinenklinge, reduzierbar auf eine Zusammensetzung aus Rechteck und Dreieck, bietet sich eine schematisierte Betrachtung des Gegenstandes geradezu an. Ernst H. Gombrich definiert, dass »der wirkliche Wert eines Bildes […] aber in der Möglichkeit der Übermittlung von Informationen [liegt], die sich in kein anderes Zeichensystem übertragen lassen.«136 Dieser »wirkliche Wert« ist die Basis für ikonografische Zu- und Einschreibungsprozesse – nicht ausschließlich, aber in ihrer Folge – in einen Gegenstand. Da dieser aber als Referent oder Akteur in seinem Bezugssystem realhistorischen Konnotationen unterliegt, deren Modus, Zuschreibungen und gesellschaftlicher Wert wiederum in sein ›Abbild‹ mit einfließen, funktioniert die Form der Guillotinenklinge gerade durch ihre schematische Einfachheit im Sinne einer »Reduzierung der Symbole auf das Wesentliche«.137 Außerdem wird auch folgende Prämisse erfüllt: »Die Deutung seitens des Herstellers eines Abbildes muß immer an die Deutung durch den Betrachter angepaßt werden.«138

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bock, Lukas Madersbacher und Ingo Schneider, Innsbruck 2011, S. 157–172, hier S. 165. (Terzic 2011) Ernst H. Gombrich, Das Gombrich Lesebuch: ausgewählte Texte zu Kunst und Kultur, hg. von Richard Woodfield, Berlin 2003, S. 46. Ebd., S. 46. Ebd., S. 47.

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Abbildung 11

Ebenso bedeutsam wird bei dieser Betrachtungsweise auch die geometrische Form der gesamten Guillotine einschließlich ihrer Klinge in der Verschriftlichung als Définition de la guillotine par un Mathématicien (Abb. 11): »La guillotine est un plan horizontal à quelques pieds du sol, sur lequel on a élevé deux perpendiculaires séparées par un triangle rectangle tombant à travers un cercle sur une sphère restée plus tard isolée par une sécante.«139 Diese Zeile findet sich als letzter, humorvoller Kommentar – ein Charakteristikum des frühen Feuilletons – im Journal La Guillotine. Par un vieux Jacobin (Abb. 12),140 das im März 1848 in Paris als Abb. 11: »Définition de la guillotine par un Mathématicien«, in: La Guillotine. Par un vieux Jacobin, Nr. 1, hg. von OLUSI-LIPPEPHI, Impr. Bonaventure et Ducessois, 55, quai des Grands-Augustins, Paris, März 1848. 1 Blatt, beidseitig, hier S. 2., Bibliothèque nationale de France, Paris. Archiv der Autorin. (La Guillotine. Par un vieux Jacobin 1848) 140 Abb. 12: La Guillotine. Par un vieux Jacobin 1848. Aufgeführt ist die Titelseite auch in: Französische Presse und Pressekarikaturen, Ausst.-Kat. Universitätsbibliothek Mainz 1992, hg. von Rolf Reichardt, Mainz 1992, S. 78, Abb. 49, Kat.-Nr. 61. (Ausst.-Kat. Französische Presse und Pressekarikaturen 1992) Dort ist vermerkt, dass sich der ungenannte Redakteur dieses sozialistischen Zeitungsblattes sowohl von der Terreur als auch von Louis-Philippe distanziert und außer139

1. Zur Ikonografie des Übergangs

beidseitig bedrucktes Blatt erschien und allem Anschein nach zum Ziel hatte, die Guillotine durch ihre historische Verortung und »[…] sachlich›klinische‹ Beschreibung zu entdämonisieren«.141

Abbildung 12

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dem, dass es keine weitere Ausgabe der Zeitschrift gegeben habe. Allerdings erschien 50 Jahre später La Guillotine. Journal des Braves Gens, Première Année – No 1, Jeudi 1er Décembre 1898, 14, rue Bellecordière LYON. Auch Arasse verweist auf diesen Umstand: »Die klaren Linien ihres Umrisses sind bezeichnend: Mit einem Rechteck, einem Kreis und einem Dreieck als Bestandteilen [sic!], die aus einem Quadrat entwickelt sind […], bleibt sie auf die drei fundamentalen Formen der Geometrie beschränkt. Arasse 1988, S. 75. Außerdem führt Arasse auf S. 76 (in der französischen Ausgabe: Arasse 2010, S. 93) für den gleichen Wortlaut der »Définition de la guillotine par un Mathématicien« in La Guillotine. Par un vieux Jacobin, die er nicht erwähnt, als Quelle Edmond und Jules de Goncourt, Histoire de la société française pendant la Révolution [1854] Paris 1895, S. 439 an. Der betreffende Textabschnitt ist dort jedoch als Zitat kursiv gesetzt, allerdings ohne Angabe der Quelle, die sehr wahrscheinlich die hier genannte Zeitung ist. Ausst.-Kat. Französische Presse und Pressekarikaturen 1992, Universitätsbibliothek Mainz, hg. von Rolf Reichardt, Mainz 1992, S. 78. (Ausst.-Kat. Französische Presse und Pressekarikaturen 1992)

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Besonders eindrucksvoll wurde das der klassischen Buchform entlehnte Frontispiz als Illustration zwischen den Titel gesetzt und emblematisch eingebunden in die es flankierenden Zeilen: »1793. Tout le monde y passera« und »1848. Persoune [sic!] n’y passera«. Als Pseudonym des Herausgebers findet sich der Name »OLUSI-LIPPEPHI«, ein Anagramm von Louis-Philippe, ihn stellt auch die Titelkarikatur dar. Wie bei einem sich öffnenden Theatervorhang raffen seine Hände das Hemd in der Mitte der Brust auseinander, ein Bildausschnitt in Form einer Mandorla, einem ovalen Stigma oder der Seitenwunde Christi gibt den frontalen Blick auf eine Guillotine samt Sockel preis. Die Augen des Karikierten fixieren die Betrachter, angestrengt sind seine Brauen zusammen- und seine Mundwinkel nach unten gezogen. Wichtig bei dieser grafischen Arbeit ist, dass die Guillotine auf der Brust LouisPhilippes in der Gesamtheit ihrer Teile genau so dargestellt ist, wie sie in der sprachlichen Fassung auf der anderen Seite des Blattes in ihre mathematischen Bestandteile zerlegt auftaucht. In seinem 1994 erschienenen Band Peines de Mort trägt Martin Monestier unter dem Stichwort Décapitation die technischen Daten einer Guillotine zusammen, die aneinandergereiht eine völlige Dekomposition des ikonografisch aufgeladenen Gegenstandes vorführen: »Caractéristiques de la Guillotine: – Hauteur des montants verticaux : 4,50 m – Espaces entre les montants : 37 cm – Hauteur de la planche à bascule : 85 cm – Poids du couperet : 7 kg – Poids du mouton : 30 kg – Poids total de l’ensemble décapiteur : 40 kg – Hauteur de chute du couperet : 2,25 m – Epaisseur moyenne d’un cou : 13 cm – Temps d’exécution : ± 40/100 de seconde – Temps de coupe du cou du supplicié : 2/100 de seconde – Vitesse du couperet : ± 23,4 km/h – Poids total de la machine : 580 kg […].«142 Patrick Wald Lasowski hält in seiner Untersuchung Guillotinez-moi! indessen die kinetische Energie der herabfallenden Klinge fest: »Le cou-

142 Martin Monestier, Peines de mort. Histoire et techniques des exécutions capitales à nos jours [1994], Paris 2001, S. 298.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

teau fait donc le même effet que produiraient 16,800 kilogrammes tombant de la hauteur d’un centimètre.«143 In Anbetracht dieser Fakten wirken Finlays Guillotine Blades wie ihre eigenen Grabmäler. Zur Zeit der Französischen Revolution waren diese aufgrund hoher Kosten nicht für alle Gesellschaftsschichten zugänglich.144 Philippe Ariès spricht in Bezug auf die damaligen Begräbnisstätten sogar von »Totenpferchen«.145 Diesen Totenpferchen stehen nun Finlays guillotinenklingenförmige Schieferplatten gegenüber, welche die Inschriften ihrer absenten Verfasser tragen. Besonders das hier besprochene Beispiel ist sowohl vergleichbar mit einem kriegerischen Mahnmal, das aus sich selbst heraus und durch den Aphorismus Poussins ebenso ein Bespiel des Leitsatzes form follows function darstellen könnte, als auch mit einer Schiefertafel im Kontext des Schulunterrichts. Andererseits ist der von Finlay verwendete Schiefer ein sehr brüchiger und splittriger Stein und daher – im Gegensatz zur Stahlklinge der Guillotine – kaum belastbar: Materialwechsel und Materialübersetzung der Guillotine Blades entheben sie ihrer eigentlichen Funktion. Das Herabfallen des Fallbeils wird durch die Arretierung im künstlerischen Werk scheinbar bis ins Unendliche verlängert. Außerdem bewirken die Versalien eine Verlangsamung des Leseprozesses bei den Rezipient*innen und entfalten so die Vehemenz ihrer Aussage. Die Methodik des Konzeptkünstlers und die der Konstrukteure der Guillotine verbindet das Prozedere einer Delegation bei der Durchführung ihrer Projekte: Für die technische Umsetzung werden Experten benötigt, denn weder Finlay noch Louis oder Guillotin haben ihr ›Werk‹ eigenhändig hervorgebracht. Dafür werden Spezialisten engagiert, Werkproben gefertigt, die handwerkliche Arbeit wird überwacht und das Ergebnis schließlich durch die öffentliche Inszenierung zelebriert.

143 Patrick Wald Lasowski, Guillotinez-moi! Précis de décapitation, Paris 2007, S. 15. 144 Siehe dazu weiterführend: Anne Carol, »Le cadavre et la machine au XIXe siècle«, in: Corps et Machines à l’âge industriel XIXe –XXe siècle, hg. von Laurence Guignard, Pascal Raggi und Étienne Thévevin, Rennes 2011, S. 87–98. 145 Philippe Ariès, Geschichte des Todes [1978], übers. von Hans-Horst Henschen und Una Pfau, München 200210 , S. 643.

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Durch die gesamte Thematik der Guillotinenklinge zieht sich eine Ambiguität, die in den von Finlay verwendeten Wörtern »TERROR« und »LAUGHTER« durch zwei gegenüberliegende Bezugspunkte markiert wird. Die Guillotine Blades zählen dadurch zu den »Dingen«, wie sie Aristoteles in seiner Poetik charakterisiert: »Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen.«146 Dass allerdings diese »getreue Abbildung« ihre Wirkungsweise verändert, je mehr sie mit der Realität konvergiert, stellt Edmund Burke fest: »Je näher sie [die Tragödie] der Wirklichkeit kommt und je mehr sie uns von jeder Idee des Fiktiven fernhält, desto vollkommener ist ihre Wirkung. Aber mag ihre Wirkung sein, welche sie will, so erreicht sie doch niemals die Sache, die sie darstellt.«147 Diesen den Zwiespalt des Sublimen und des delightful horror bezüglich des Kunstschaffens deutet Jörg Trempler wie folgt, so »[…] behauptet Burke doch nicht weniger, als dass sie tun und schaffen können, was sie [die Künstler] wollen, die Natur aber in keinem Fall einholen werden. […] Die Verbindung zwischen Künstler und Mythos [ist] unterbrochen.«148 Genau in diesem l’entre-deux entfaltet die künstlerische Bearbeitung der Guillotinenklinge eine Wirkungskraft, die über ihre Bedeutung als politisches Symbol und ihren darin bezeugten Selbstzweck hinausgeht, denn: »political symbols and rituals were not metaphors of power; they were the means and ends of power itself«, wie Lynn Hunt betont.149 Und so hat am Ende die Feststellung von Stephen Scobie Bestand, da er nicht nur das Spezifische der Arbeit Finlays würdigt, sondern darin auch der argumentative Bogen dieses Kapitels mündet: »The ›beautiful‹ is not merely an intensification of the pretty: it is a high and stern ideal, in which the Sublime meets and acknowledges Terror. It is in this 146 Aristoteles, Poetik, übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2005, S. 11. 147 Burke 1989, S. 81–82. Vgl. Jörg Trempler, »Vom Terror zum Bild – Von der Authentizität zum Stil. Gedanken zur historischen Begründung authentischer Bilder«, in: Bildpolitik – Sprachpolitik, hg. von Wilhelm Hofmann, Berlin 2006, S. 117–135, hier S. 124; Trempler 2005, S. 210. 148 Ebd.; Trempler 2006, S. 125. 149 Lynn Avery Hunt, Politics, Culture, and Class in the French Revolution, Berkeley/Los Angeles/London 1984, S. 54.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

sense that even the guillotine, at the moment when the blade falls, is beautiful.«150

1.3 Blutige Details »[T]wo details must face one another when the book is opened, they have been arranged in such a way as to bring out certain analogies and contrasts. Some of these contrasts are like epigrammatic summaries of the history of art […]. But the majority of openings have been arranged because the details have something in common, either of movement and design or of subject and mood.« Kenneth Clark151 Daniel Arasse publiziert 1992 seine Untersuchung Le Détail. Pour une histoire rapprochée de la peinture,152 und bereits im Titel – Audrey Rieber übersetzt diesen als Theorie einer Geschichte der Malerei aus der Nähe153 – wird deutlich, welche vom Detail ausgehende Wirkung für Arasse darin ausschlaggebend ist: Die Verringerung der Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter durch die Konzentration auf ein Detail als Ausgangsebene für die Annäherung an die Malerei an sich. Der Ausschnitt eines Gemäldes, so seine These, thematisiert und reflektiert gleichermaßen das ganze Werk, nicht als Fragment oder pars pro toto,

150 Scobie 1997, S. 5. 151 Kenneth Clark, One Hundred Details from Pictures in the National Gallery [1938], London 1944, S. V. (Clark 1944) Dieses Unterkapitel ist ein überarbeiteter Aufsatz: Katrin Weleda, »Blutige Details. Blutspuren bei Rochegrosse, Hugo, Caravaggio und Regnault«, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaft, En Detail. Zur Epistemologie kleiner Formen, hg. von Joseph Imorde, 1.2015, S. 29–46. 152 Daniel Arasse, Le Détail. Pour une histoire rapprochée de la peinture [1992], Paris 2011. (Arasse 2011) 153 Audrey Rieber, »Daniel Arasse und die Kunstwissenschaft: Theorie einer Geschichte der Malerei aus der Nähe«, in: Regards Croisés, 2013, Heft 1, S. 51–59. (Rieber 2013)

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sondern als »Phänomen«.154 »Arasses Vorliebe für das Einzelphänomen äußert sich paradigmatisch in seinem Interesse für das ikonische Detail (kleiner Teil eines Ganzen) und mehr noch für das malerische Detail (Spur einer Person, die dieses Zeichen hinterlassen hat),«155 dabei unterstreicht Rieber den explizit selektiven Zirkelschluss: »Das Detail, vor allem wenn es einmalig und seltsam ist, wird zum Gegenstand, aber auch zum methodologischen Prinzip der Interpretation.«156 Arasse selbst stellt diesbezüglich fest: »Après tout, le phénomène est excessivement subjectif et les conditions de sa définition risquent d’être trop fragile pour subir les lourdeurs inhérentes à l’objectivité souhaitée par la méthode historique. Et l’historien de l’art a déjà bien assez d’autres questions et d’autres tâches objectives pour s’amuser à ces bagatelles.«157 Und eben diese Nichtigkeiten oder bagatelles, wie im französischen Original formuliert, diese kleinen, vermeintlich unnützen Dinge, als welche Details hier bezeichnet werden, entfalten durch ihre Fokussierung eine die Maßstäbe verändernde Relevanz. Folgt man dem Gedanken von Arasse, auch wenn seine Theorie sinngemäß detailhaft bleibt, kristallisieren sich folgende Fragen heraus: Was passiert in den Momenten, die von Details getragen werden? Wonach genau suchen die Betrachter, wenn sehr nah an ein Gemälde herangegangen wird, um anschließend Erkenntnisgewinn aus der Re-Komposition des Gesamtzusammenhanges zu ziehen? Gibt das, was gesucht wird, Aufschluss über die Praxis und Reflexivität des Künstlers in Bezug auf sein Kunstwerk? Und, da ein Detail gesehen und nicht gemacht wird, ist es nicht so, dass es erst in diesem Moment vom Verlangen der Betrachter im Sinne einer archäologischen Bedeutung des Begriffes er-funden wird? Arasse beginnt seine Abhandlung damit, dass er den erstmals 1938 erschienen Katalog One Hundred Details from Pictures in the National Galle-

154 155 156 157

Arasse 2011, S. 7. Rieber 2013, S. 55. Ebd. Arasse 2011, S. 7–8.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

ry von Kenneth Clark anführt.158 Clark verfolgt mit diesem bis dato ungewöhnlichen Katalog ein programmatisches Ziel: Durch die fotografischen Schwarz-Weiß-Reproduktionen von Details berühmter Gemälde will er nicht nur die Blicke der Besucher lenken, sondern anhand von Detailvergleichen eine kunsthistorische Entdeckungsreise inszenieren. Auf den Doppelseiten selbst gibt es keine Angaben zu den Kunstwerken. Dem Abbildungsteil vorangestellt finden sich die Informationen und notizartige Beiträge zu den jeweils dialogisch angeführten Detail-Themen. Wie subjektiv bereits bei Clark Auswahl und Bedeutung der Details sind, zeigt sich sowohl in seinen einleitenden Worten, denn er fügt noch hinzu, dass die Detailbeispiele alle aufgrund ihrer Schönheit ausgewählt und starke Kontraste vermieden sind.

Abbildung 13

158

Kenneth Clark, der 1933 Direktor der National Gallery in London wird und bis 1945 bleibt, kuratiert die Royal Collection. Ein Jahr nach Erscheinen seines Kataloges evakuiert er zum Schutz vor Luftangriffen die Sammlung in ein Bergwerk bei Wales. Aufgrund der großen Beliebtheit der One hundred Details erscheint 1941 ein zweiter Band gleicher Art unter dem Titel More Details from the National Gallery.

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Für den vorliegenden Kontext interessant wird seine Aussage zu den beiden als The Feet of Angels betitelten Bildausschnitten (Abb. 13),159 wenn sowohl die konkreten Bezeichnungen der Gemälde als auch seine Ausführen ausgeblendet werden und so der reine Verlauf der Assoziationskette deutlich wird: Im Vergleich von A mit B werden wir »zwangsläufig« an C erinnert.160 Das Er-finden und Erinnern von Details unterliegt demselben subjektiven, am Phänomen orientierten Modus, in dem auch die im Folgenden angeführten Beispiele zueinander finden: Alle blutigen Details resultieren aus Enthauptungen. Ferner geht es mir um Blut in der Malerei, das wiederum Details auch erst sichtbar macht, da es in Einritzungen und Vertiefungen geflossen ist, und um Blut als Signatur des Künstlers sowie letztlich um die Darstellung von Blut als Blut selbst.

159

Abb. 13: Doppelseite »The Feet of Angels« [Detail linke Seite: Piero della Francescas Taufe Christi und Detail rechte Seite: Matteo di Giovannis Maria mit dem Heiligen Gürtel], in: Clark 1944, S. 32–33. 160 Clark 1944, S. XV: »In comparing Piero with his Sienese contemporaries we are inevitably reminded of the contrast between Classical and Gothic architecture, between the columns of a Greek temple and the flying buttresses of a cathedral. In Matteo’s Madonna of the Girdle, painted about thirty years later than Sassetta’s St. Francis series, the character of the individual forms is Gothic no longer, but the movements and silhouettes correspond exactly to those decorative late Gothic traceries which outside Florence and Rome survived almost to the day when they were transformed into Baroque.«

1. Zur Ikonografie des Übergangs

1.3.1

Georges-Antoine Rochegrosse – Andromaque

Abbildungen 14 und 15

Das Detail, das in Georges-Antoine Rochegrosses Gemälde Andromaque von 1883 besonders augenfällig durch einen anderen, scheinbar vorausdeutenden historischen Kontext erscheint, ist die blutige Swastika am Antrittspfosten der das Bild diagonal durchschneidenden Treppe (Abb. 14 u. 15).161 Das Swastika-Symbol ist so dargestellt, als wäre es bereits in den Stein geritzt, bevor das Blut der Hingerichteten in diese Vertiefung fließen konnte und gewissermaßen die Gravur farblich eingelegt hat. (Hier noch die anderen schwer erkennbaren Einritzungen darunter erwähnen) Die Mauerkrone hat allem Anschein nach als Hackstock beim Abtrennen der Köpfe gedient, die an ihrem Fuße zu einem Haufen aufgetürmt liegen. Dieser Moment des Trojanischen Krieges soll Entsetzen hervorrufen, weshalb Andromaque auch als ›Sensationsbild‹ bezeichnet wird. Die

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Abb. 14 u. 15: Georges-Antoine Rochegrosse, Andromaque, 1883, Öl auf Leinwand, 479 x 335 cm, Musée des Beaux-Arts, Rouen.

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Betrachter affizierende Sujets entsprechen dem Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sie waren spezifisch für ihren Ausstellungskontext, markieren aber auch einen Wendepunkt: Der Kunstbetrieb wird sich im weiteren Verlauf internationaler ausrichten, der Wettbewerb wird freier und die Historienmalerei an Bedeutung verlieren.162 Aber noch sind die in den Pariser Salons ausgestellten Werke dicht gehängt und die Besucher vor ihnen dicht gedrängt. Um nicht unterzugehen zwischen den vielen ›Sensationsbildern‹, gilt es mit aller Gewalt aufzufallen. Benno Beckers Bericht über Die Ausstellung der Secession in München von 1892 verdeutlicht die Situation: »Sie [die Künstler] werden zum Extravaganten, Sensationellen verführt. Das Bescheidene, Kleine, Unscheinbare wirkt natürlich nicht inmitten des großen Marktes. Wer die Aufmerksamkeit auf sich lenken will, muss etwas recht Absonderliches, Verrücktes aushecken, muss übertreiben und vergröbern.«163 Als Rochegrosse Andromaque im Pariser Salon von 1893 präsentiert, gewinnt er den begehrten Preis der Ausstellung. Der Kritiker Henry Houssaye, der über den Salon in diesem Jahr berichtet, empfindet diesen zwar insgesamt als »mittelmäßig«.164 Allerdings lobt er den fünfundzwanzigjährigen Rochegrosse euphorisch und beschreibt sein – von Houssaye sogar als »Meisterwerk neuer Schule« bezeichnetes – Gemälde ausführlich:165

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Vgl. Philip Ursprung, »›Widerwärtige Aufeinanderschichtung nackter Frauenleiber‹. Die Sensationsbilder von Georges Rochegrosse in deutschen Augen«, in: Distanz und Aneignung. Kunstbeziehungen zwischen Deutschland und Frankreich 1870 – 1945, hg. von Alexandre Kostka und Françoise Lucbert, Berlin 2004, S. 333–347, hier S. 339 u. 343. (Ursprung 2004) 163 Benno Becker, »Die Ausstellung der Secession in München«, in: Die Kunst für Alle, 8/1892, S. 343–344, hier S. 343; vgl. Ursprung 2004, S. 339. 164 Henry Houssaye, »Le Salon de 1883«, in: Revue des Deux Mondes, 3e période, tome 57, 1883, S. 596–627, hier S. 597. (Houssaye 1883) 165 Ebd., S. 597–599.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

»Ilion est pris. Les Grecs massacrent et brûlent. Au pied des hautes murailles à appareil cyclopéen qui forment l’enceinte de la ville s’amoncellent [sic!] dans des flaques de sang les cadavres et les têtes coupées; d’autres cadavres sont pendus au faîte des remparts. La fumée noire de l’incendie monte lentement vers le ciel; et sous l’arc trapu d’une poterne intérieure on aperçoit les lueurs de la cité en flammes. C’est l’abattoir et la fournaise. Sur les premières marches tout éclaboussées de sang d’un étroit escalier qui mène à la plate-forme, Andromaque se débat au milieu d’un groupe d’Achéens; échevelée et à demi-nue dans ses vêtements déchirés, elle lutte avec une sauvage énergie pour défendre son enfant.«166 Die mythologische Gestalt Andromache und der Trojanische Krieg sind Stoffe, die in Homers Illias und Vergils Aeneis bearbeitet sind, aber auch als Tragödie von Jacques Racine im Jahre 1667 und als Oper von AndréErnest-Modeste Grétry 1780 in Paris uraufgeführt werden. Ähnlich einem Bühnenstück entwirft auch Rochegrosse sein Bildszenario mit dem blutigen Detail im Mittelpunkt. Da die Swastika von einem Kreis eingerahmt ist, handelt es sich nicht um den Ausschnitt eines Mäander-Ornaments. Viel eher besteht die Möglichkeit – da ab den 1870er Jahren Swastiken in den archäologischen Ausgrabungen von Heinrich Schliemann in Verbindung mit der Entdeckung des antiken Trojas in Erscheinung treten – dass der Künstler gerade dieses Symbol auswählt, um sowohl den Ort Ilion in Troja zu kennzeichnen, als auch die Gräueltaten des Krieges mithilfe der blutig eingefärbten Swastika zu verdeutlichen. Andromaque findet auch Erwähnung in Arasses Le Détail, es ist das von ihm zuletzt angeführte Beispiel für den Abschnitt Le tableau en morceau. Allerdings interessiert er sich nicht direkt für das Swastika-Symbol. Er spricht über die Gleichzeitigkeit aller vorhandenen Details in dem Gemälde und stellt fest, dass es sich zwischen der Ansammlung von Einzelaspekten und dem Reiz seiner farblichen Gestaltung verliere. Ein Prozess der Dislokation zwischen Werk und Betrachtern setze sich durch diese Wirkung in Gang, bei dem das Auge die Bildoberfläche in seine

166 Ebd., S. 599.

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Details zerteile.167 Somit steht fest, dass die Konzentration auf ein Detail im Sinne von détailler das Heraus- und Auflösen – im Umkehrschluss auch das Ausblenden – sowie das Zerkleinern umfasst. Zugespitzt würde im Anschluss an den Nachvollzug dieser zerteilenden Blicklenkung, oder vielmehr Blickdissoziation, die Betrachter auf seine unäre Leiblichkeit zurückgeworfen werden, allerdings blutleer, wie durch seinen Blick ausgesaugt.168 Die Art und Weise, wie die Detaillierung den Bildzusammenhang in ein paradoxes Gleichzeitig-Episodisches spaltet, überfordere scheinbar. Houssaye vermerkt lediglich mit einem Augenzwinkern am Ende seines Salon-Berichtes über diese Detailversessenheit: »Wenn wir an Monsieur Rochegrosse eine kleine Kritik üben, dann weil er sie selbst provoziert durch seine wissenschaftlichen Nachforschungen im Detail.«169 Arasse führt ferner eine Bemerkung aus L’Illustration an, die eine Mutmaßung über Andromaches roséfarbenes Gewand beinhaltet: Es sähe so aus, als hätte Rochegrosse seine Inspiration dafür eher aus irgendeinem japanischen Modegeschäft, als aus der Sammlung des Dr. Schliemann.170 Dieser Hinweis verdeutlicht, dass die vermeintliche Detailtreue Rochegrosses durchaus mit Hohn gesehen wurde. Immerhin wird hier der Bezug zu Schliemann hergestellt. Wenn dem Künstler schon nicht zugetraut wurde, das Kleid dem schliemann’schen Kontext entlehnt zu haben, so doch vielleicht die Swastika?

167

Vgl. Arasse 2011, S. 230: »Le tableau s’est perdu entre l’accumulation de ses aspects et le charme d’une note de couleur, ce processus de dislocation de développant au cours de la relation qui s’installe entre l’œuvre et celui qui la regarde, dès lors qu’il la parcourt et que la ›promenade‹ de l’œil y détaille la surface.« 168 Vgl. Ebd., S. 233: »La promenade dans le tableau est accomplie, le visiteur n’a plus qu’a l’abandonner à son unité, exsangue, comme vampirisé par le regard.« 169 Houssaye 1883, S. 600: »Si nous faisons ces petites chicanes à M. Rochegrosse, c’est qu’il les provoque par sa recherche savante du détail.« 170 Arasse 2011, S. 230.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

1.3.2 Victor Hugo – Justitia

Abbildung 16

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Enthauptung als Paradigma

Victor Hugos Werk Justitia von 1857 wird in der Ausstellung Crime et châtiment im Musée d’Orsay in Paris 2010 gezeigt (Abb. 16).171 Der Gang durch die Ausstellungsräume ist dramaturgisch gestaltet, denn bevor der Besucher den Raum mit Hugos Exponaten erreicht, ist an der Wand folgendes Zitat von ihm zu lesen: »Man kann gegenüber der Todesstrafe indifferent sein, weder ja noch nein sagen, solange man die Guillotine nicht mit eigenen Augen gesehen hat.«172 Es bleibt nur wenig Zeit, darüber zu sinnieren, welche Wirkungskraft diese Hugos Roman Les Misérables entnommene Aufforderung Position zu beziehen entfalten könne, denn diese Worte sind eine Ankündigung: Um die Ecke steht sie, eine tatsächlich in Gebrauch gewesene Guillotine. Zum Teil mit schwarzem Tüll als Trauerschleier verhängt, verstärkt sich noch der Eindruck, dass sie wesentlich kleiner ist, als zumeist dargestellt. In Justitia steht die Guillotine von schwarzen Nebelschwaden umfangen im rechten hinteren Bildraum. Ihre Lünette, die Einspannvorrichtung für den abzutrennenden Kopf, ist hell erleuchtet, einem Vollmond gleich. Vielleicht spiegelt sich auch das Licht auf der herabgefallenen Klinge, die diese Aussparung nach erfolgter Hinrichtung nun ausfüllt. Links oben prangt ein abgetrennter Kopf, das Gesicht verzerrt und den Mund wie zu einem Schrei geöffnet. Es scheint fast so, als sei er durch den Aufprall der Guillotinenklinge, die ihre Wucht auf den Kopf übertragen hat, an diese Stelle im Bild katapultiert worden zu sein. Jedoch geht es mir um ein anderes Detail: Vom unteren Bildrand angeschnitten ist der in Blut geschriebene Name der römischen Göttin der 171 172

Abb. 16: Victor Hugo, Justitia, 1857, Mischtechnik auf Papier, Maisons de Victor Hugo, Paris. Victor Hugo, Les misérables, première partie, Fantine, Paris 1862, S. 38: »On peut avoir une certaine indifférence sur la peine de mort, ne point se prononcer, dire oui et non, tant qu’on n’a pas vu de ses yeux une guillotin [sic!]; mais si l’on en rencontre une, la secousse est violente, il faut se décider et prendre parti pout ou contre.« Zit. nach Werner Spies, »Pariser Schau zur Todesstrafe. Die Sekunde vor der Tat«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. März 2010, URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst-und-architektu r/pariser-schau-zur-todesstrafe-die-sekunde-vor-der-tat-1953179.html [letzter Zugriff 15.03.2023].

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Gerechtigkeit – Justitia – auf den groben Pflastersteinen zu lesen. Hugo gilt als entschiedener Kritiker der Todesstrafe, eine Haltung, die sein gesamtes Werk prägt. Die Erzählung Le dernier jour d’un condamné von 1829 ist ein Manifest gegen die Todesstrafe, wie er selbst betont, damit »[…] tritt er vor alle Gerichtshöfe, vor alle Richter, vor alle Geschworenen der Welt«.173 Die Nachwirkungen der Julirevolution von 1830 anprangernd, verfasst er 1832 diese Vorrede: »Der Juli hat zur Folge gehabt, dass man nicht mehr öffentlich hinzurichten wagt und wir sind also wieder in der Zeit heimlicher Hinrichtungen, aus Feigheit der Behörden. Kürzlich hat man in Bicêtre einen verurteilten in eine Art Korb gepackt, den man zwischen zwei Räder hing und von allen Seiten verschloss. Zwei Gendarmen schafften das Paket in aller Stille nach der öden Barriere Saint-Jaques. Dort hatte man um 8 Uhr morgens eine Guillotine ganz neu errichtet. Als Publikum saßen nur eine Anzahl von Gassenjungen auf den Steinhaufen rings um die Maschine, die man in dem Bezirk nicht erwartet hatte. Schnell wurde der Mann aus dem Korb gezogen, und ohne ihm nur Zeit zum Atmen zu lassen, wurde ihm tückisch der Kopf abgeschlagen. Dies nennt man einen öffentlichen und feierlichen Akt der hohen Gerechtigkeit. Niederträchtiger Hohn!«174 Bei Hugo ist das Blut so dargestellt, als sei es nach erfolgter Guillotinierung in die Vertiefungen der Pflastersteine geflossen, die nun ihre Botschaft formen. Hier fordert das Blut des Enthaupteten Gerechtigkeit ein und innerhalb der Programmatik Hugos letztlich die Abschaffung der Guillotine und der Todesstrafe überhaupt. Auch schwebt der Kopf im Bildraum und wird nicht wie in Louis Villeneuves Matière à reflection pour les jongleurs couronnées aus dem Jahr 1793 (Abb. 3 u. 4) von einem fragmentierten Arm gehalten, der in der Revolutionsikonografie nicht nur für den Henker steht, sondern für den Willen des Volkes, der bei Hugo nicht

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Victor Hugo, Der letzte Tag eines Verurteilten [1829], übers. v. Alfred Wolfenstein, Köln 2005, S. 5. Ebd., S. 13.

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mehr vorhanden ist.175 Bei Villeneuve fällt das Blut aus dem Hals des abgetrennten Kopfes Ludwig XVI., nunmehr Bürger Louis Capet, auf die letzten beiden Zeilen des Refrains der Marseillaise herab: »[Q]u’en sang impur abreuve nos sillons«. Die Tropfen stellen eine Verbindung zwischen dem Kopf und dem Wunsch her, dass das Blut des ehemaligen Monarchen ein guter Dünger für die im Aufblühen begriffene Revolution sein möge. Unterstützt wird diese Emblematik durch den im untern Bildraum zitierten Briefausschnitt Maximilian Robespierres. Dieser bezeugt in einem bildschriftlichen Akt, dass durch die Guillotinierung des Königs nun die Republik entstehe.176 Im Gegensatz dazu verdeutlicht die Signatur Hugos sowohl die mittlerweile entstandene historische Distanz zu den Anfängen der Französischen Revolution und zur Terrorherrschaft, als auch in Verbindung mit dem Titel Justitia im Bild, seine politischen Forderungen.

1.3.3 Michelangelo Merisi da Caravaggio – Decollazione di San Giovanni Battista Abbildungen 17 und 18

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Abb. 3. u. 4.: Louis Villeneuve, Matière à reflection pour les jongleurs couronnées, 1793. Dieses Bildbeispiel wird auch in Kapitel 1.1.2. behandelt. Vgl. Kapitel 1.1.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Das Beispiel der Blutsignatur Caravaggios ist das prominenteste unter den blutigen Details (Abb. 17 u. 18).177 Seine Decollazione di San Giovanni Battista entsteht 1608 als Altarbild für das Oratorium der MalteserRitter in der Kathedrale San Giovanni Decollato in Valletta auf Malta.178 Dabei handelt es sich nicht nur um das größte Bild in seinem Œuvre, es ist wahrscheinlich auch das einzige, das Caravaggio signiert.179 Das Gemälde wird während eines versuchten Diebstahls am 25. April 1989 am unteren Teil – genau dort wo sich Blutlache und Signatur befinden – beschädigt und Ende der 1990er Jahre restauriert.180 Walter K. Lang beschreibt den Zustand des Gemäldes vor seiner Wiederherstellung: »Trotz des Farbverlustes in diesem Bereich ist sie [die Signatur] noch deutlich zu entziffern: f michela. Von den weiteren Buchstaben sind nur noch einige Fragmente zu erraten. Ebenso ist die Blutlache durch eine größere Fehlstelle deformiert.«181 Dass das Werk gerade an dieser entscheidenden Stelle lädiert wurde, ist sicher Zufall. Jedoch geht diese »Inskription«, so Karin Gludovatz, deutlich über eine Bezeugung der Autorschaft hinaus.182 Die Blutlache verweist auf

Abb. 17 u. 18: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Decollazione di San Giovanni Battista, 1607/1608, Öl auf Leinwand, 361 x 520 cm, La Valletta, Malta, Co-Cathedrale San Giovanni. 178 Auswahl weiterführender Literatur: Bert Treffers, Caravaggio nel sangue del Battista, Rom 2000; Karin Gludovatz, »Malerische Worte. Die Künstlersignatur als Schrift-Bild«, in: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, hg. von Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer, München 2005, S. 313–328. (Gludovatz 2005); Karin Gludovatz, »Caravaggios Enthauptung des Johannes – Der Täufer als Märtyrer, der Maler als Ordensritter«, in: Märtyrer-Porträts. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, hg. von Sigrid Weigel, München 2007, S. 159–161. (Gludovatz 2007); David M. Stone, »Signature Killer: Caravaggio and the Poetics of Blood«, in: The Art Bulletin, Volume 94, Issue 4, 2012, S. 574–593. (Stone 2012) 179 Konkrete Angaben zu den Maßen und ihrer Modifizierung sind erläutert bei: Stone 2012, S. 587. 180 Ebd., S. 573. 181 Walther K. Lang, Grausame Bilder. Sadismus in der neapolitanischen Malerei, Berlin 2001, S. 101. 182 Gludovatz 2005, S. 321.

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das Martyrium des Johannes und zeigt ihn als »Blutzeugen« – Caravaggio verleiht seinem und dem Bekenntnis der Malteser Ordensritter als Nachfolger der milites Christi Ausdruck in Blut.183 Außerdem substituiert die Farbe auf der Leinwand die Blutreliquie von Johannes dem Täufer, wodurch das Gemälde zu einer Blutanbetung in effigie befähigt.184 Es handelt sich hierbei um eine Gestalt des »substitutiven Bildakts«, bei dem sowohl in den Bildträger als auch in das dargestellte Blut die unsterbliche leibliche Präsenz des Heiligen und des Künstlers eingeschrieben wird.185 Dadurch, dass sich die Signatur direkt neben der Blutlache befindet, die dem Hals des Täufers entspringt, erwecken die roten Buchstaben den Eindruck, als hätte Caravaggio selbst den Finger in das Blut des Heiligen getaucht und damit sein Werk signiert:186 »Rough, blocky, and even, the brushstrokes seem hurried. Their appearance confirms what the iconography tells us: this is blood, not oil paint. […] In a wonderful chiastic conceit, Caravaggio turns paint into blood and then in turn uses that blood, to paint‹«187 , so David M. Stone. Folglich handelt es sich um eine blutige Selbsttaufe des Künstlers: Er verwendet das gemalte Blut, um sich selbst den Namen zu geben, mit dem er das Bild signiert – als einzige Signatur umso bedeutungsvoller.188 Ausgehend von Caravaggios künstlerischer Reflexivität, ist es naheliegend, den Gestus der Tauf-Signatur mit dem zuvor entstandenen Werk Incredulità di san Tommaso zu vergleichen (Abb. 19).189 Demnach hat

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189

Ebd., S. 323 und Sybille Ebert-Schifferer, Caravaggio. Sehen – Staunen – Glauben; der Maler und sein Werk [2009], München 2010, S. 223. (Ebert-Schifferer 2010) Gludovatz 2007, S. 160. Vgl. Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010, S. 173–230. Vgl. Gludovatz 2005, S. 321. Stone 2012, S. 582. Bei Gludovatz ist der Täufer der Handelnde: »Er tauft diesen durch das gemalte Blut, also vermittels der Farbe im Medium des Bildes, und gibt ihm den Namen, der, von Caravaggio als Signatur gesetzt, zugleich dessen Unsterblichkeit als Künstler garantieren soll.« Gludovatz 2007, S. 161. Abb. 19: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Incredulità di san Tommaso, Kirchliche Version, 1601, Öl auf Leinwand, 116 x 156,5 cm, Privatsammlung, Florenz.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

er in diesem Gemälde seine Zweifel an der Wiederauferstehung durch ebenso taktile Bezeugung überwunden und zugleich das Medium des Bildes sowie den Leib Christi durchbrochen wie er nun den Finger in das Blut taucht.

Abbildung 19

In dem Gemälde der Enthauptung des Täufers ist außerdem der Fall einer nicht auf den ersten Schlag geglückten Enthauptung mit dem Schwert dargestellt, das so genannte Putzen, bei dem es sich um einen Kunstfehler handelt, für den der Henker selbst hingerichtet werden konnte. Der Täufer als Vorläufer Christi, dem Lamm Gottes, wird zum »Schlachtopfer«.190 Auch wenn Caravaggio noch im selben Jahr der Entstehung seines Werkes sowohl in den Orden der Malteser-Ritter aufgenommen und – nach einem Streit – wieder verstoßen wird, bleibt sein über die Grenzen des Bildlichen hinausweisendes Zeugnis letztlich auch als Form des Selbstportraits in diesem Detail bestehen:

190 Ebert-Schifferer 2010, S. 221.

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»He bodily inhabits the scenes he portrays, ›verifying‹ what he paints for us. In The Beheading of Saint John, Caravaggio expands his repertoire of self-portraits by inventing a new way of putting himself, as it were, into the picture. He insists on his credentials as a witness of the execution, for the blood of Saint John is still fresh enough that the artists can use it to paint his signature ›fra MichelAngelo‹.«191

1.3.4 Henri Regnault – Exécution sans jugement sous les rois maures de Grenade Abbildungen 20 und 21

»Man will nicht, dass der Albtraum seinen Reiz hat. In der Malerei wird das zugestanden; die Salome oder der Coupeur de Têtes von Henri Regnault billigt man, Werke, die mit Sicherheit überhaupt nichts lehren und keinerlei angenehmes Bild heraufbeschwören.«192 In dieser Weise urteilte Ernest Renan in einem Brief, den er am 8. September 1874 aus

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Stone 2012, S. 582. Gustave Flaubert, Die Versuchung des heiligen Antonius [1874], hg. von Felix Paul Greve, Zürich 1979, S. 192. Brief von Ernest Renan für diesen Band erstmals übersetzt von Hanns Grössel.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Venedig an Gustave Flaubert adressiert, über Henri Regnaults Exécution sans jugement sous les rois maures de Grenade (Abb. 20 u. 21).193 Das 1870 entstandene Gemälde zeigt den verkrampften Körper eines Enthaupteten zu Füßen seines Henkers, der sich soeben den blutigen Säbel am Saum seines Gewandes abwischt und dabei mit verächtlichem Blick in seiner Geste verharrt. Der angewinkelte Arm des Opfers ist vor dem Schnitt an seinem Rumpf aufgestellt, jedoch verdeckt er damit nicht das aus ihm herauslaufende, Lachen bildende und verspritzte Blut, dass seinen eine Treppenstufe tiefer liegenden Kopf auch nach erfolgter Hinrichtung noch mit dem Körper verbindet. Henri Cazalis bezeichnet dieses Detail als »schreckliche Blutlache«, die sich auf der weißen Treppe ausdehnt.194 Für Théophile Gautier hingegen verdeutlicht dieser »purpurne Fleck« den Grundton und auch die Dominante des Gemäldes. Und gerade dadurch, dass die von ihm als »Blut« bezeichnete Farbe auf der Leinwand sowohl in Fäden als auch in dicken Tropfen gerinnt, erzeuge Regnault einen Wahrheitsgehalt, zu welchem er wahrscheinlich nur deshalb imstande war, weil er Enthauptungen in Tangier beobachtet habe.195 Bemerkenswert ist hier die Aussage Gautiers, nicht ein Abscheu erregendes Grauen gehe von diesem Bildelement aus, sondern aus Sicht der Kunst sei es Schönheit.196 Das Gegenteil davon empfindet Paul de Saint-Victor: Abb. 20 u. 21: Henri Regnault, Exécution sans jugement sous les rois maures de Grenade, 1870, Öl auf Leinwand, 302 x 146 cm, Musée d’Orsay, Paris. 194 Henri Cazalis, Henri Regnault. Sa vie et son œuvre, Paris 1872, S. 85. »[L]a tête vient de rouler, et près d’elle une flaque de sang horrible s’étale sur les marches blanches.« (Cazalis 1872) 195 Théophile Gautier, Œuvres de Henri Regnault exposées à l’École des Beaux-Arts, Paris 1872, S. 29: »Cette tache de pourpre, d’une incroyable richesse de couleur, est le note tonique, la dominante du tableau. Là le sang a cinglé avec force, éclaboussant les degrés; ici il s’étale plus largement répandu. Plus loin il couple en longs filets ou se coagule en gouttes épaisses; cela est d’un vérité qui ne se devine pas. Il faut que le jeune artiste ait vu à Tanger quelque décapitations à l’yatagan, et l’on pourrait même croire que c’est ce spectacle qui lui a suggéré l’idée de sa composition.« (Gautier 1872) 196 Gautier 1872, S. 30: »[M]ais ici l’horreur n’est pas de dégout. Au point de vue de l’art, il y a beauté.« 193

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»Was übrigens noch fehlte, um dieses missratene Bild zu verschmieren, ist die Vortäuschung des Blutflecks, der sich unten auf den Stufen ausbreitet. Das ist mehr mit einem großen Fleischermesser als mit einem Spachtel auf die Leinwand gebracht. Die Illusion ist zugleich schrecklich und kindisch. […] Keine Gedanken, kein Gefühl gehen von diesem brutalen Realismus aus.«197 Ein Jahr bevor Regnault 1871 als Siebenundzwanzigjähriger im deutschfranzösischen Krieg in der Schlacht von Buzenval fiel, stellte er das Werk fertig und ließ es nach Paris verschiffen. Er verfolgte die Absicht, in seiner letzten Jahresgabe als Träger des Prix de Rome alle Bemühungen darauf zu konzentrieren, ein Historiengemälde anzufertigen, wie aus einem Brief hervorgeht: »[W]enn Du nach Tangier kommst, wirst Du mich einer gewaltigen Leinwand gegenüberstehend auffinden, auf der ich den vollkommenen Charakter der arabischen Herrscher in Spanien malen möchte, diese mächtigen Mauren vergangener Zeiten, die immer noch das wahre Blut von Mohammed in der dritten, vierten, fünften und sechsten Generation in ihren Köpfen tragen.«198 Nach seinem frühen von den Zeitgenossen als patriotisch empfundenen Tod, urteilte Paul de Saint-Victor nicht milder über Regnaults letztes GeArthur Duparc, Correspondance de Henri Regnault, Paris 1872, S. 392: »Ce qui suffirait, de reste à gâter ce tableau manqué, c’est le trompe-l’œil de la tache de sang qui s’épate au bas sur les dalles. C’est avec un coutelas de boucher plutôt qu’avec un couteau de palette qu’elle semble appliquée sur la toile. L’illusion en est à la fois horrible et puérile. Cela rappelle ces vessies pleines de sang de bœuf que les tyrans de tragédie crevaient autrefois sur leur draperie, en se frappant, au cinquième acte, de leur poignard en fer blanc.« Zit. nach: Petra Bopp, Fern-gesehen. Französische Bildexpeditionen in den Orient 1865–1893, Marburg 1995, S. 17. (Bopp 1995) 198 Cazalis 1872, S. 89: »[Q]and tu viendras à Tanger, tu me retrouveras en face d’une toile immense, où je veux peindre tout le caractère de la domination arabe en Espagne, et les puissants Maures d’autrefois, ceux qui avaient encore à leur tête le vrai sang de Mahomet à la troisième, quatrième, cinquième et sixième génération.« Übersetzung der Autorin. 197

1. Zur Ikonografie des Übergangs

mälde. Er deutet dies nun als eine schreckliche Vorahnung und der täuschend echte Blutstrom ergieße sich nun über das gesamte Werk, als »tragische Signatur« des Künstlers.199 Offensichtlich ist bei Regnault die Diskrepanz zwischen seiner spätmittelalterlichen Vorstellung einer königlichen Exekution und einem nordafrikanischen Drama, wie es nur im 19. Jahrhundert dargestellt werden konnte.200 Er war auf der Suche nach dem maurischen Andalusien unter der Zeitschicht des modernen Marokkos.201 Und es entbehrt aus unserer Perspektive nicht an brachialer Aktualität, wenn Théophile Gautier für dieses Enthauptungsszenario feststellt, dass es sich um »[…] eine Art Personifikation und den Triumph des Islam in den Zeiten der Kalifen von Spanien [handelt]«.202 Der Henker ist für Regnault eine Projektionsfigur seiner Vorstellung von arabischer Männlichkeit, die sowohl für eine hochentwickelte Zivilisation steht, aber auch für groteske Grausamkeit. Diese Projektion sozial und radikal alternativer Maskulinität ist hier Bild geworden.203 Und sicher kann noch einen Schritt weiter gegangen werden, hier den Akt einer Kastration zu sehen, die der Überlegene seinem Gegner zufügt. Wenn dieses blutige Detail als »tachistisch hingeworfene Spritzer« oder als Dripping angesehen wird, gilt es zu bedenken, dass dieser Malstil im Kontext des Bildes weit entfernt von Abstraktion ist. Regnault

199 Paul de Saint-Victoir, Barbares et bandits : La Prusse et la Commune, Paris 1871, S. 218: »Bien plus, dans son dernier tableau [Une exécution sans jugement sous les rois maures de Grenade], il s’était complu, par une sinistre caprice, à étaler au bas de la toile, une large tache du sang peinte en trompe-l’œil, de manière à produire une effrayante illusion. – Hélas! ce flot de sang rejaillit maintenant sur son œuvre entière, et la marque comme d’une tragique signature.« 200 Vgl. Hollis Clayson, »Henri Regnault’s Wartime Orientalism«, in: Orientalism’s Interlocutors. Painting, Architecture, Photography, hg. von Jill Beaulieu und Mary Roberts, Durham/London 2002, S. 131–178, hier S. 137. (Clayson 2002) 201 Ebd., 135. 202 Théophile Gautier, Tableaux de Siège. Paris 1870–1871, Paris 1871, S. 197: »[U]ne sorte de personnification et de triomphe de l’Islam au temps des califes d’Espagne.« 203 Vgl. Clayson 2002, S. 141.

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wollte Blut als Blut darstellen. Und auch das Gegenüberstellen zur dekorativen Fassade im Hintergrund, um das ›Ereignishafte‹ hervorzuheben, greift nicht weit genug.204 Die Architektur dient nur als Kulisse seiner Inszenierung und bezieht sich auf kein konkretes Bauwerk, sondern steht für einen bestimmten Stil zur Verortung des ›Maurischen‹.205 Und er schien es sich genau vorgestellt haben können, dass die Enthauptung beim Durchtrennen des Halses solche Spuren hinterließe, die er mit blutroter Farbe auf dem Pinsel ebenso auf die Leinwand abzuschütteln oder zu tropfen in der Lage war. »Es [das Detail] erfordert und ermöglicht eine andere Optik, einen spezifischen Blick und eine eigene Epistemologie: Sie interessiert sich für das Kleinste, für das scheinbar Marginale oder Unbedeutende, sie fokussiert Mikrostrukturen und dringt in die kleinsten Partikel der Dinge ein, die ihr zum Signum der Erkenntnis werden.«206 Diese geforderte »andere Optik« entsteht geradezu von selbst, wenn das Detail im Kontext einer existentiellen, gleichsam drastischen und wirklichkeitsnahen Ikonografie – wie der des Blutes – in Erscheinung tritt. Signifikat (Blut) und Signifikant (Farbe) fusionieren im Medium des Bildes. Demnach werden durch die Fokussierung auf den hier angeführten Gegenstandsbereich sowohl das »ikonische Detail (kleiner Teil eines Ganzen)« als auch das »malerische Detail (Spur einer Person, die dieses Zeichen hinterlassen hat)« berührt.207 Als Spur einer Person unterliegt speziell die Blutsignatur ihrer Fetischisierung. Die blutige Swastika bei Rochegrosse ist ebenso eine symbolisch gefasste, zusätzliche Signatur des Künstlers, wie auch der blutige Namenszug Justitia bei Hugo gleichzeitig Ausdruck einer Ambigui204 Vgl. Bopp 1995, S. 31. 205 Cazalis 1872, S. 90: »[J]e détourne la critique en ne faisant ni l’Alhambra, ni l’Alcazar de Séville.« 206 Wolfgang Schäffner, Sigrid Weigel und Thomas Macho, »Das Detail, das Teil, das Kleine. Zur Geschichte und Theorie eines kleinen Wissens«, in: Dies., ›Der liebe Gott steckt im Detail‹. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003, S. 7–17, hier S. 7. (Schäffner/Weigel/Macho 2003) 207 Rieber 2013, S. 55.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

tät zwischen dem eigentlichen Wortsinn und der angeprangerten Ungerechtigkeit ist samt nebenstehender und bekräftigender Unterzeichnung. Durch die Signatur Caravaggios sind die medialen Grenzen des Gemäldes aufgehoben, Blut, Heiligen- und Künstlerleib werden darin substituiert. Bei Regnault durchbricht der realistische Duktus des Blutflecks die scheinbar entrückte Erhabenheit des Gemäldes und konterkariert, ebenso wie bei Rochegrosse, die Maßgaben orientalistischer Sujets und der Historienmalerei. Was bei Clark durch die fotografische Reproduktion von Details in Gemälden deutlich wird, ist, dass es in dieser Verwendung nicht die Fotografie ist, die die Details erst erschafft, sondern dass sie in der Malerei enthalten sind und im fotografischen Modus detailliert, also herausgelöst und er-funden werden können. Das Ausschneiden und Zeigen von Details ist im vorliegenden Kontext nichts anderes. »In dem Maße […] wie das Detail selbst zum Ausgangspunkt von Fragestellungen genommen wird, erhält es die Rolle des Katalysators, der es erlaubt, synchrone Zusammenhänge von Wissensformationen und historischen Umbrüche sichtbar zu machen.«208 Um diesem Vorhaben Genüge zu tun, ist es wichtig, auf die Subjektivität hinzuweisen, der das Zusammenbringen und Kompilieren von Vergleichsbeispielen unterliegt. Von Arasse wurden hier lediglich Gedanken aufgegriffen, die einer Annäherung an meinen subjektiven Bildgegenstand dienlich sind. Nicht zuletzt ist die Untersuchung und Be-Deutung von Details determiniert von einer Auswahl, die unendlich viele Möglichkeiten bietet: Alle Möglichkeit geht vom Detail aus. Im ersten Kapitel dieser Arbeit werden unterschiedliche Bedeutungsebenen der Hinrichtung durch die Guillotine beleuchtet. Dabei steht die Enthauptung des Königs für die Inauguration der Republik im Zentrum, denn hier liegt ein komplexer Handlungsakt zu Grunde, der sich in unterschiedliche Bildwerdungen einschreibt und auch die Bedeutung der Guillotinenklinge determiniert.

208 Schäffner/Weigel/Macho 2003, S. 13.

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Die Enthauptung von König Ludwig XVI. setzt einen Transfer der Macht in Gang, einen »symbolischen Tausch« im »Schauspiel der Reversion« nach Jean Baudrillard.209 Denn hierbei vollzieht sich in einem ersten Schritt der Entsakralisierung die Ablösung eines Regierungssystems, in dem der Königskörper getilgt wird und die Sterblichkeit des bürgerlichen, leiblichen Körpers des Königs in den Vordergrund rückt. Sein Körper besteht aus Fleisch und Blut, was durch den Hinrichtungsakt bezeugt wird, der gleichzeitig als Akt der Befreiung und regelrechter Exorzismus inszeniert wird, wie Daniel Arasse herausstellt.210 Katharina Sykora macht deutlich, dass es sich hierbei gleichzeitig um einen Akt der Resakralisierung handelt, der als Ritus der Hinrichtung vollzogen wird: Die Guillotine wird gegenständlich, bildlich und symbolisch zu einem Eintrittsportal für eine Passage, zu einem sakralen Instrument mit der Macht zur Transformation in der Handhabung des Henkers, der nunmehr als Priester fungiert.211 Die Identifikation und Hermeneutik von Übergangsriten, wie es Arnold van Gennep darlegt, sind für diese Analyse von großer Bedeutung, denn sie bestehen aus einem Dreischritt, der die »Trennung«, die »Umwandlung« und die »Angliederung« umfasst.212 Dieser prozessuale Akt kennzeichnet auch den Transfer der Macht, den die Enthauptung des Königs und jede weitere Enthauptung in der Folge manifestiert und kommuniziert.213 Während sich bei der Enthauptung des Königs dessen Macht auf das Volk überträgt, wird bei der Enthauptung der bürgerlichen Delinquenten auch die »neue Ordnung der bürgerlichen Gerechtigkeit« immer wieder aufgerufen.214 Dass der abgetrennte Kopf im Vorzeigegestus der ostentatio als Zeichen seiner eigenen desakralisierten Bildwerdung gesehen wird, wie es Klaus Krüger und Pascal

209 210 211 212 213 214

Baudrillard 2011, S. 88. Arasse 1988, S. 68. Sykora 2009, S. 477. van Gennep 2005, S. 179. vgl. Sykora 2009, S. 477. Ebd.

1. Zur Ikonografie des Übergangs

Bastien herausstellen,215 ist hier als Angliederung im Sinne Genneps zu verstehen und dem vorangegangenen Prozess von Trennung und Umwandlung geschuldet. Den graphischen Beispielen gegenüber stehen die Têtes de suppliciés von Théodore Géricault, die einen anderen Vorzeigegestus aufweisen, indem sie nach Vorlage einer anatomischen Zeichnung im Bild aufgebahrt werden. Hier ist das Interesse des Künstlers am Zusammenspiel von körperlicher Verwesung und menschlichem Antlitz im Vordergrund. Putrefaktion und Abjektion als Bildstrategie drücken hier eine andere Umwandlung und Angliederung aus, als in den vorangegangenen Grafiken. Der klinische Blick des Künstlers versucht hier zwischen dem Leben und dem Tod zu mediatisieren, sogar über den Tod und den Prozess der Verwesung hinauszugehen, indem er diesen Zustand im Bild wie in einem Stillleben arretiert. Zwischen Bewegung und Arretierung steht auch räumlich im Hinrichtungsakt die Klinge der Guillotine. Als Instrument interveniert sie zwischen Trennung und Umwandlung und als künstlerischer Gegenstand wird sie im Werk Ian Hamilton Finleys zu einem Symbol der Angliederung, indem er ihre Form mit unterschiedlichen, programmatischen ›Zitaten‹ konfrontiert. Hier ist vor allem jenes von Nicolas Poussin von Bedeutung, in dem es heißt, die Form eines jeden Gegenstandes mache seine Funktion oder Bestimmung kenntlich, manche intendieren Gelächter auszulösen und andere Terror. Dieses Werk ist auch deshalb bemerkenswert, weil es die beiden Pole der Sensationslust benennt und zugleich auf das Spektakel und den Schrecken der Hinrichtung verweist. Zugleich wird deutlich, wie ein Gegenstand exemplarisch für eine epochale Veränderung stehen und mehr als einen Moment im kulturellen Gedächtnis repräsentieren kann. Die Untersuchung von Details, die das Suchen und Finden nach ihnen beinhaltet, ist dabei in ähnlicher Weise zu verorten. Zum einen handelt es sich bei ihnen um bildliche Kondensate, die in der Tradition von Arasse auch zu assoziativen Interpretationen einladen.216 Zum 215 216

Krüger 2006, S. 200; Bastien 2006, S. 247. Arasse 2011, S. 7.

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anderen ist der Fokus hier auf das Blut von Enthauptungen konzentriert, die durch die unterschiedlichen Beispiele der Künstler GeorgesAntoine Rochegrosse, Victor Hugo, Michelangelo Merisi da Caravaggio und Henri Regnault, also zwischen christlichem Andachtsbild, dem Historienbild des 19. Jahrhunderts und dem bildlichen Appell gegen die Todesstrafe, aufgriffen werden. Bereits die unterschiedlichen Bildgattungen machen deutlich, dass es hier im Hinblick auf den Übergangsritus um den Bereich der Anbindung geht, was auch mit den jeweiligen programmatischen Bildsignaturen zusammenhängt. In Victor Hugos Justitia findet sich der Appell des Künstlers und Schriftstellers wieder, die Todesstrafe generell abzuschaffen, Ent- und Resakralisierung sind in diesem Bildmodus überwunden und die Forderung nach Gerechtigkeit ›schreit‹ den Betrachter*innen durch den geöffneten Mund des schwebenden, guillotinierten Kopfes förmlich entgegen. Bei Rochegrosses Andromaque wird deutlich, dass die historische Distanz zu den Guillotinierungen der Revolution zu einem Brückenschlag im Hinblick auf das Bildmotiv der Enthauptung mit dem Trojanischen Krieg einlädt, um ein durchaus wirksames Sensationsbild konstruieren zu können. Ähnlich verhält es sich bei Regnault, dessen Imagination die Enthauptung eines Königs im maurischen Andalusien entspringt und den es um divergierende Bildeffekte geht: das scheinbar Erhabene wird in einem historisierten Kontext situiert und mit Grausamkeit sowie wirklichkeitsnahen Details, wie dem verspritzten Blut, kompiliert. Das Andachtsbild von Caravaggio zeigt die noch nicht vollendete Enthauptung von Johannes dem Täufer. Durch die wahrscheinlich einzige Signatur des Künstlers, die als malerisches Detail aus der Blutlache entstanden zu sein scheint, weist dieses Gemälde die bemerkenswerte Reflexivität auf, dass der Künstler die Enthauptung im Bild zu wiederholen scheint und sich hiermit ebenfalls im Bereich der Anbindung befindet.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

2.1 Giovanni Aldinis »amour de la vérité«1 »[W]ährend schon früher viele sehr berühmte Männer sie angekündigt hatten, so hätten wir doch nie erwartet, dass uns das Glück so hold sein würde, uns zuerst zu gestatten, die in den Nerven verborgene Electricität [sic!] gleichsam mit Händen zu greifen, aus den Nerven hervorzuziehen und beinahe vor Augen zu legen.« Luigi Galvani2 In den folgenden Ausführungen soll gezeigt werden, dass anhand des medizinischen Diskurses auf der Schwelle des ausgehenden 18. Jahrhunderts und des beginnenden 19. Jahrhunderts ein Politikum hervortritt: Der Anspruch, dem höchsten Ideal zu dienen, dem der Wahrheit. Im Geist der Spätaufklärung modifiziert Giovanni Aldini die Wortbedeutung der Philosophie, der Liebe zur Weisheit, zu seinem selbsternannten Leitmotiv einer Liebe zur Wahrheit. Aber er ist nicht der Einzige, der seine Arbeit in ihren Dienst stellt. Denn das, was sich gemäß der damaligen Auffassung wissenschaftlicher Forschung im deduktiv experimentellen Sinne als wahr herausstellt, wird durchaus sehr

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2

Jean Aldini, Essai théorique et expérimental sur le galvanisme, avec une série d’expériences faites en présence des commissaires de l’institut national de France, et en divers amphithéatres [sic!] anatomiques de Londres, Paris 1804, S. 123. (Aldini 1804) Victor Hugo, 1793 [1874], übers. von Eva Schumann, Frankfurt a.M./Wien/Zürich 1973, S. 136–137. (Hugo 1973)

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unterschiedlich interpretiert und rezipiert, so dass sich divergierende Bedeutungsstiftungen auf die Wahrheit berufen. Ein ideologischer Impetus begleitet die Experimente an Guillotinierten. Das Ziel der anatomischen und physikalischen Versuchsanwendungen Luigi Galvanis und Aldinis richtet sich nicht nur auf das Erforschen der naturgegebenen Grenze zwischen Leben und Tod, sondern auf ihre Sichtbarmachung. Dies markiert den Ausgangspunkt meiner Überlegungen. In diesen existenziellen Grenzbereich einzudringen, bedeutet gleichzeitig die unterschiedlichen epistemologischen Ebenen – oder die sich überlagernden Bedeutungssphären von Körper und Leib einerseits und von Geist, Seele, Bewusstsein, Empfinden und Lebenskraft andererseits – in Kohärenz zu bringen. Diese Konstellation offenbart die Schwierigkeit, das Materielle und das Metaphysische klar voneinander abzugrenzen zu müssen. Als Giovanni Aldini im Jahre 1804 seinen Essai théorique et expérimental sur le galvanisme unter dem Namen Jean Aldini in Paris publiziert, versieht er seine Studien mit einer bedeutsamen Widmung an Napoléon Bonaparte.3 Aldini ist zu diesem Zeitpunkt unter anderem als Professor an den Universitäten von Bologna, Turin und Mantua tätig, außerdem ist er Mitglied der Société galvanique et académique des sciences in Paris sowie der Société de médecine in Paris und London. Seine durch die Erforschung und Weiterführung der galvanischen Methodik erlangten Erkenntnisse erreichen ohne Umwege europaweite Bekanntheit, denn das Reich Bonapartes, der sich am 2. September 1804 zum Kaiser krönt, erstreckt sich zu diesem Zeitpunkt bis an die Grenze Russlands. Du pouvoir du galvanisme sur les suppliciés décapités betitelt Giovanni Aldini seine Experimente, die er im Januar und Februar des Jahres 1802 in

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»A BONAPARTE. CITOYEN PREMIER, CONSUL ET PRÉSIDENT,« siehe: Aldini 1804, der Einleitung vorangestellte Widmung ohne Seitenangabe. Diese Widmung Aldinis an Bonaparte ist in der Hinsicht bedeutsam, dass sein Onkel, Luigi Galvani, der von Bonaparte eingesetzten Cisalpinischen Republik den Eid verwehrt, woraufhin Galvani 1798 seiner Ämter an der Universität von Bologna enthoben wird. Aldini engagiert sich mit Erfolg für Galvanis Rehabilitierung, doch dieser verstirbt noch im selben Jahr. Galvani 1894, S. 74.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

Bologna durchführt und im zweiten Abschnitt von Band I seines Essai théorique et expérimental sur le galvanisme schildert.4 In der Vorrede ist es ihm besonders wichtig, darauf hinzuweisen, dass sein wissenschaftliches Bestreben ausdrücklich von einer »amour de la vérité« geprägt sei:5 »Telle est, un peu de mots, l’analyse de l’Essai que je présente au public; tel est l’exposé de mes recherches et de mes expériences : elles n’ont été dirigées ni par enthousiasme pour une découverte nouvelle, ni par esprit de systême [sic!], mais bien par des vues philanthropiques, par le desir [sic!] d’étudier, de connaître la nature, et par l’amour de la vérité.«6 Es sind also in erster Linie philanthropische Beweggründe, das Verlangen die Natur zu erkunden sowie die Liebe zur Wahrheit, die nicht nur seiner Arbeit zu Grunde liegen, sondern ihn auch seinen vermutlich aus rhetorischen Gründen formulierten Widerwillen gegenüber anatomischen Sektionen überwinden lassen.7 Aldini steht in der Familientradition, die Arbeit seines Onkels Luigi Galvani fortzuführen und beachtlich weiterzuentwickeln, denn in den Versuchen Aldinis laufen die verschiedenen Wissenschaftsbereiche von Medizin, Physik, Anatomie und Physiologie zur weiteren Erforschung der Lebenskraft oder force vitale zusammen.8 Dabei geht Aldini von dem Postulat Galvanis 4

5 6 7

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Aldini 1804. Darin in Bd. I., S. 121–153. Die komplette Überschrift lautet: »Du pouvoir du galvanisme sur les suppliciés décapités à Bologne, en janvier et février 1802.« Ebd., S. 123. In der Einleitung äußert er sich dazu noch ausführlicher: Ebd., S. IXX. Ebd., S. 123. Ebd., »Quoique accoutumé à un genre pacifique d’expériences dans mon cabinet de physique; quoique éloigné de l’habitude de faire des dissections anatomiques, l’amour de la vérité, et le desir [sic!] de répandre quelques lumières sur le systême [sic!] du galvanisme, l’emportèrent sur toutes mes répugnances, et je passai aux expériences suivantes.« Zu einem ähnlichen Problem äußert sich auch Paul Loye, worauf in Kapitel 2.4 eingegangen wird. Diese Schrift sei hier bereits erwähnt: Jean Joseph Sue, Recherches physiologiques et expériences sur la vitalité, lues à l’Institut national de France, le 11 messidor, an V de la République. Suivie d’une nouvelle édition de son opinion sur les supplice de la guillo-

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aus, dass in den Körpern eine thierische Elektrizität in gewissem Sinne gespeichert sei und diese durch das Experiment abgerufen und darüber hinaus in ihrer Wirkungsweise sichtbar gemacht werden könne. Diese Theorie ist durchdrungen von der naturphilosophischen Lehre des Vitalismus und dem mechanistischen Paradigmenwechsel seit der Naturbetrachtung von René Descartes. Auch wenn bei Descartes der Aufbau des Menschen wie der einer Maschine angelegt ist, spricht er auf der organischen Ebene von den esprits animaux, den Lebensgeistern, die er mit einem »ganz feinen Wind« und einer »ganz reinen und sehr lebhaften Flamme« vergleicht, die vom Herzen in das Gehirn steigt und weiter zu den Nerven und Muskeln.9 Darüber hinaus bemerkt er: »[…] daß die Lebensgeister in ihm [dem menschlichen Körper] die Kraft haben, die Glieder zu bewegen – wie man ja sieht, daß Köpfe, kurz nachdem sie abgeschlagen sind, sich noch regen und ins Gras beißen, obwohl sie nicht mehr beseelt sind […].«10 Aber die Lebensgeister bewirken nicht nur die Muskelbetätigung, wofür Descartes interessanterweise das Bespiel der mechanischen Bewegung post mortem abgetrennter Köpfe wählt. Sie ermöglichen darüber hinaus auch, die äußeren Einwirkungen und die der Seele aufzunehmen, um das »Organ oder de[n] Sitz des sensus communis (Gemeinsinn), des Vorstellungsvermögens und des Gedächtnisses« zu bilden.11 Nach Descartes sind im interaktionistischen Dualismus des Körpers als res extensa und des Geistes oder der Seele als res cogitans bei aller Eigenständigkeit vor allem aufeinander einwirkendende Substanzen beteiligt.

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tine ou sur la douleur qui survit à la décolation [sic!], Paris 1797. Außerdem siehe zu diesem Thema: Hippolyte Baraduc, La force vitale, notre corps vital fluidique, sa formule biométrique, Paris 1897. René Descartes, Discours de le Méthode [1637], Französisch–Deutsch, übers. und hg. von Christian Wohlers, Hamburg 2011, S. 93–94. (Descartes 2011) Descartes 2011, S. 95. René Descartes, »Vorwort zur Beschreibung des menschlichen Körpers [1664]«, in: Menschen aus Menschenhand. Zur Geschichte der Androiden. Texte von Homer bis Asimov, hg. von Rudolf Drux, Stuttgart 1988, S. 27–29, hier S. 29.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

In dieser Tradition sind auch die Versuche von Albrecht von Haller zu sehen, der Köpfungsexperimente an tierischen Körpern, zumeist an Fröschen, vornimmt, die von großer Bedeutung für die experimentelle Physiologie sein werden. Im Jahr 1752 trägt Haller in der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen die Resultate seiner jahrelangen und bereits teilweise publizierten Forschung zu Empfindungen und zur Reizbarkeit tierischer Körper vor.12 Für Haller ist der menschliche Körper ein Gottesbeweis, folglich offenbare die Sektion nichts weniger als die Schöpfung.13 In der Unterscheidung des menschlichen vom tierischen Körper spielt bei ihm die Seele und vor allem das Schmerzempfinden eine Schlüsselrolle: Bei den Tieren sei davon nicht so viel zu erkennen, jedoch haben auch sie »empfindliche Teile«, die bei Reizung »Zeichen des Schmerzes« offenbaren.14 12 13

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Sarasin 2001, S. 54. Vgl. Ulrike Enke, »Delinquente Seelen – schöne Anatomie. Von Anatomieleichen und ihrer Sektion im 18. Jahrhundert«, in: Die Anatomie des Bösen – Ein Schnitt durch den Körper, Moral und Geschichte, hg. von Roger Fayet, Schaffhausen 2008, S. 55–80, hier S. 66–67. Auch Descartes geht es darum, die Existenz Gottes und die der Seele zu beweisen. Descartes 2011, S. 73. »Denjenigen Theil des menschlichen Körpers, welcher durch ein Berühren von außen kürzer wird, nenne ich reizbar: sehr reizbar ist er, wenn er durch ein leichtes Berühren, wenig aber reizbar, wenn er erst durch eine starke Ursache sich zu verkürzen veranlasset wird. Empfindlich nenne ich einen solchen Theil des Körpers, dessen Berührung sich die Seele vorstellet; und bey den Thieren, von deren Seele wir nicht so viel erkennen können, nenne ich diejenigen Theile empfindlich, bey welchen, wenn sie gereizt werden, ein Tier offenbare Zeichen eines Schmerzes oder einer Unruhe zu erkennen giebt.« Albrecht von Haller, »Von den empfindlichen und reizbaren Theilen des menschlichen Körpers«, in: Sammlung kleiner Hallerischer Schriften, Bern 1772, S. 7. Der Hinweis darauf ist zu finden bei: Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a.M. 2001, S. 54. (Sarasin 2001); Zu Haller siehe insbesondere: Margarethe Vöhringer, »Hallers Köpfungen«, in: »Allerhand nützliche Versuche«. Empirische Wissenskultur in Halle und Göttingen (1720–1750), hg. von Tanja von Hoorn und Yvonne Wübben, Hannover 2009, S. 105–122. (Vöhringer 2009); Siehe zur Forschung Hallers das Schmerzempfinden betreffend insbesondere: Roland Borgards, »Das Leben ein Schmerz. Die Geschichte einer Denkfigur in Literatur und Medizin«, in: Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Äs-

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Für Galvani sind hingegen die Reflexbewegungen von besonderem Interesse. In seiner 1791 veröffentlichten Schrift De viribus electricitatis in motu musculari ist ein Vortrag von 1773 aufgeführt, »Sul moto muscolare nelle rane«, in dem er seine Erkenntnisse zur Muskelbewegungen darlegt.15 Der Ausgabe von 1793 sind zudem noch einige Briefe hinzugefügt, so auch ein Schreiben Galvanis, von ihm gezeichnet als öffentlicher Professor und Mitglied des Instituts zu Bologna. Darin resümiert er im letzten Absatz an Herrn Professor Carminati: »Es scheint mithin erwiesen zu seyn [sic!], daß in dem thierischen [sic!] Körper eine ihm eigene Elektrizität ihren Sitz hat, und daß die Gesetze, nach welcher sie wirkt, mit den Gesetzen übereinstimmen, welche die Elektrizität unbelebter Körper anerkennt.«16 Das Prinzip der vitalistischen Lehre, dass ein Unterschied zwischen dem Unbelebten und dem Belebten bestehe, scheint in den galvanischen Erkenntnissen Aldinis aufgehoben zu sein. Darüber hinaus gibt es eine große Ähnlichkeit zwischen der von ihm konstatierten Elektrizität und den Lebensgeistern oder spiritus animales.17 Galvani ist in seinen Experimenten auf die Nerven, Muskeln und im Speziellen auf die von ihm darin vermuteten verborgenen Kräfte fokussiert, und

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thetik um 1800, hg. von Maximilian Berggruen, Roland Borgards und Johannes Friedrich Lehmann, Würzburg 2001, S. 135–158, insbesondere »II. Physiologie des Schmerzes«, S. 137–152. (Borgards 2001) Galvani 1894, S. 72. Aloysi Galvani, Abhandlung über die Kräfte der thierischen Elektrizität auf die Bewegung der Muskeln nebst einigen Schriften der H. H. Balli, Carminati und Volta über diesen Gegenstand, hg. von D. Johann Mayer mit 4 Kupfertafeln, Prag 1793, S. 183. (Galvani 1793) Philipp Sarasin erläutert diesbezüglich den Kontext in der Medizintheorie als »[…] Übergang vom cartesianischen-mechanistischen Denken in der Medizin, […] zum Vitalismus, der ein Produkt der Aufklärungsepoche war und der mit Bichats und Broussais Physiologie in Frankreich sowie mit Schellings spekulativer Naturphilosophie in Deutschland die Medizin des 19. Jahrhunderts prägte«. Philipp 2001, darin Kapitel 1.2 »Irritabilität, Sensibilität und Vitalismus, S. 51–71, hier S. 51. Weiterführend für diesen Kontext auch: Hans Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre, Leipzig 1905.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

anhand seiner Aussage liegt die Vermutung nahe, dass mit den »unbelebten Körpern« nicht ausschließlich diejenigen von Tieren gemeint sein könnten, sondern auch die von Menschen.18 Die Vorrede seines Buches adressiert er sehr bestimmt an die Öffentlichkeit, welche seine Forschungsresultate beurteilen und durch Betrachtungen und Experimente noch weiter entwickeln solle, um zu dem einen Ziel zu gelangen, wonach er selbst zwar strebe, von dem er sich aber zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Studien sehr weit entfernt wähnt.19 In dem Akt der vorangestellten Erklärung und direkten öffentlichen Aufforderung, seine Hypothesen zu überprüfen, formuliert Galvani den Anspruch vollkommener ethischer Integrität seines Handelns, das nichts als der Wahrheit verpflichtet sei. Galvani, der sich darüber im Klaren ist, dass er mit seinen Experimenten etwas bisher Unbekanntes und Unerklärtes berührt, will seine Forschung explizit nicht in einem begrenzten wissenschaftlichen Rahmen angesiedelt wissen, sondern er wünscht ausdrücklich das Interesse der Öffentlichkeit. Nicht zuletzt legt er mit seiner Forschung auch ein Fundament für die Weiterentwicklung technischer Voraussetzungen, Elektrizität zu erzeugen und zu speichern, was für seine Arbeit eine ebenso große Rolle spielt wie die klinische Beobachtung der Versuchsobjekte. Die grundlegende Entdeckung Luigi Galvanis verdankt sich ihm zufolge einem Zufall, der sich wie folgt ereignet habe: Einige sezierte und präparierte Frösche liegen auf einem Tisch, auf dem sich auch eine »Electrisirmaschine« befindet. Der »Conduktor« steht dabei in einiger Entfernung. Nun berührt aus Versehen einer von Galvanis Mitarbeitern mit dem Skalpell die inneren Schenkelnerven des Frosches ganz leicht, woraufhin sich: »[a]lle Muskeln an den Gelenken wiederholt derart zusammenzuziehen, als wären sie anscheinend von heftigen tonischen Krämpfen befallen. […] Unfehlbar traten heftige Contractionen [sic!] in den einzelnen Muskeln der Gelenke in demselben Momente ein, in dem der Fun-

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Ebd. Galvani 1894, S. 3.

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ken übersprang, wie wenn das präparierte Thier vom Tetanus befallen wäre.«20 Wird der Frosch nun zwar mit dem Messer berührt, aber ohne Entstehen des zugleich erzeugten Funkens des Conductors, findet keine Zuckung statt. Galvani leitet aus diesem Umstand die Existenz eines »electrischen [sic!] Fluidums« ab, »[…] welches auf irgendeine Weise in dem Frosch thätig [sic!] wird«.21 Er bezeichnet dieses »Fluidum« ferner als »Nervenfluidum«, »[…] das während der Erscheinung von den Nerven zu den Muskeln fliesse, ähnlich dem electrischen Strome in der Leydener Flasche.«22 Nachdem Galvani im Jahre 1791 seine Abhandlung über die Kräfte der Electricität bei der Muskelbewegung publiziert hatte, beschäftigt sich auch Allessandro Volta mit Galvanis Entdeckungen.23 Seine Entwicklung der Voltaʼschen Säule, die auch bei den Galvanisten zum Einsatz kommt, ist bahnbrechend; die Säule kann mithilfe von Conduktoren – bestehend aus einem Zinkpol unten und einem Kupferpol oben – Elektrizität erzeugen. Volta beschreibt Funktion und Form der Säule wie folgt: »[…] nach dem Princip [sic!], dass die Leiter in gewissen Fällen auch Erreger der Elektricität sind, sobald sie nämlich von verschiedener Beschaffenheit sind und sich berühren; mit diesem Apparat, den ich künstliches elektrisches Organ genannt habe und das daher im Grunde genommen derselbe ist, wie das natürliche Organ des Rochens, ihm sogar, wie ich bereits mitgetheilt [sic!] habe, der Form nach gleicht.«24 20 21 22

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Ebd., S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 23. Galvani experimentiert weiter mit der (außerkörperlichen) Elektrizität und er nimmt die folgende Einteilung ihrer drei möglichen Quellen vor: 1. die »künstliche Electricität«, die über einen »Conductor« erzeugt wird, 2. die »atmosphärische Electricität«, die in den Blitzen bei einem Gewitter vorkommt und 3. die »tägliche, ruhige Electricität«, die in der Umgebung vorhanden ist. Alessandro Volta, Galvanismus und Entdeckung des Säulenapparates 1796 bis 1800, hg. von A. J. Oettingen, Leipzig 1900, S. 156. (Volta 1900) Volta 1900, S. 97.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

Analogisierungen der Apparatur mit der Natur und der Natur mit der Maschine sind sowohl bei Volta – das »künstliche elektrische Organ« imitiert die Natur – als auch bei Galvani – der Körper wird als elektrisches Speichermedium interpretiert – aufzufinden.25 Die von Galvani erwähnte Leydener Flasche ist ein Kondensator und dient zur Speicherung von Energie. Um das Speichervolumen zu erhöhen, können mehrere von ihnen zu Batterien aneinandergekoppelt werden. Der menschliche Körper verfügt also nach Ansicht Galvanis über eine vergleichbare Fähigkeit zur Speicherung von Elektrizität, wie diese technische Apparatur. In den Versuchen Aldinis werden diese Kräfte durch die Aneinanderreihung mehrerer Körper oder Körperteile zu einem Kreislauf dann noch größere Brisanz entfalten. Grundlegend dafür ist die Annahme Galvanis, dass auch im Menschen eine »thierische Electricität« vorhanden sei: »Wenn wir auch dieselbe durch Ueberlegung [sic!] und zahlreiche Beobachtungen geleitet, vielleicht zuerst vor unser öffentliches Theater gebracht haben. Wir glauben also, dass das electrische [sic!] Fluidum durch die Kraft des Gehirns bereitet und wahrscheinlich aus dem Blute [sic!] entwickelt wird, und in die Nerven geht und innen durch sie fliesst […]. Wenn das der Fall ist, wird vielleicht die geheimnisvolle und bisher lange vergeblich erforschte Natur der Thierseele [sic!] ihrem Dunkel entzogen werden. Wie dem aber auch sei, so wird deren Electricität in Zukunft nach unseren Versuchen, wie ich meine, sicher niemand mehr in Zweifel ziehen.«26 Im Duktus der Aufklärung wird hier die Absicht formuliert, die Wahrheit ans Licht zu bringen, also die »Natur der Thierseele ihrem Dunkel« zu entziehen, sie lesbar zu machen.27 Diese Sichtbarmachung soll als Wahrheitsbekundung dienen, denn bisher war die Idee, dass das »electrische Fluidum« im Blut gebildet werde und in den Nerven fließe, nur eine Annahme. Von elementarer Bedeutung wird nun die Hypothese, 25 26 27

Ebd. Galvani 1894, S. 54. Ebd.

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Enthauptung als Paradigma

dass das Fluidum seinen Ursprung im Gehirn habe, weswegen die galvanischen Experimente folglich insbesondere auf den Kopf fokussiert sind.28 Außerdem könne »[…] man ohne weiteres von den Thieren und vor allem den warmblütigen diese unsere Beobachtungen, wie wir nicht grundlos glauben, auf den Menschen übertragen […],« so Galvani.29 Der Rückblick auf ein galvanisches Experiment an zwei Hunden, das dem Schreiben des »Drs Eusebius Balli über die thierische Elektrizität« vom 5. April 1792 an Luigi Galvani entnommen ist, lässt im weiteren Verlauf die Übertragung des Experimentes und dessen ablesbare Resultate vom Tier auf den Menschen nachvollziehen: Während der erste Hund bereits beim Töten all sein Blut verlor, was ihn für weitere Experimente unbrauchbar machte, verlief der zweite Versuch nach einem Schlag auf den Kopf und seiner anschließenden Öffnung mit heftigen Bewegungen und einem Zittern, das laut Galvanis Beobachtungen noch lange Zeit anhielt: »[…] im Kopfe endigte sich das Schauspiel binnen einer Stunde.«30 Eine andere Auffassung von Wahrheit jedoch hat im besagten Feld der Untersuchung Alessandro Volta, der in seiner Dritten Abhandlung über Thierische Elektricität, in einem Briefe an den Herrn Giovanni Aldini, datiert auf den 24. November 1792, darauf hinweist, dass hingegen die »elektrische Flüssigkeit« die Muskelbewegungen hervorbringe und dass es sich bei den Konduktoren lediglich um einen elektrischen Leiter handele.31 Zwar vergleicht auch er das Körperpräparat mit einer Leydener Flasche, weil beiden das Prinzip der Entladung gemeinsam sei, aber er benennt einen gravierenden Unterschied zwischen seiner eigenen wissenschaftlichen Interpretation von »thierischer Elektrizität« und derjenigen Galvanis und Aldinis: »[D]ie Elektricität [wirkt] auf Nerven und nur auf Nerven direct [sic!], sei sie nun künstlich erzeugt oder thierischen Ursprungs; dass es ferner keineswegs nöthig [sic!] sei, dass die Elektrizität von den Nerven 28 29 30 31

Ebd. Ebd. Galvani 1793, S. 147. Volta 1900, S. 9.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

bis zu den Muskeln laufe; dass noch viel weniger ein Strom einer Entladung zwischen Muskeln und Nerven statthabe oder zwischen der Innen- und Aussenseite jener, wie solches der Autor [Aldini] behauptet.«32 Vor allem warnt Volta Aldini äußerst deutlich davor, dass seine Schlussfolgerungen nicht korrekt sein können, weil sie bereits auf den falschen Prämissen Galvanis aufbauen. Aldini solle sich ferner mit seinen Erkenntnissen besser vertraut machen und diese annehmen. Volta schreibt diesbezüglich: »Ich weiß nicht, ob Sie [Aldini] meine beiden Abhandlungen gesehen und vollständig gelesen haben, über die thierische Elektricität […].«33 Würde er seine Erkenntnisse nicht berücksichtigen, so prophezeit Volta ein Szenario, worin »[…] das ganze Gebäude […] eine Ruine [werde].«34 Aldinis Theorien sind also nach der Meinung Voltas zum Scheitern verurteilt. Im weiteren Verlauf wird allerdings nicht nur bei galvanischen Versuchen an abgetrennten Köpfen ein Detail der Ausführungen Voltas besondere Berücksichtigung erfahren, nämlich dass zwischen der Hinrichtung und dem Experiment möglichst wenig Zeit vergehen dürfe: »In dem Masse, wie die Lebenskraft abnimmt, wird auch die angezeigte elektrische schwächer, und das sowohl in Hinsicht auf die Wirkung, durch welche die elektrische Flüssigkeit sich zwischen den inneren und äusseren Theilen [sic!] desselben; so denn auch in Hinsicht auf die Kraft durch welche diese Flüssigkeit ins Gleichgewicht gesetzt wird.«35 Außerdem steht für Volta bereits vor seiner Erfindung der Säule fest, dass durch einen »Condensator« bei Berührung zweier verschiedener Metalle ohne Hilfe eines »thierischen Theiles« Elektrizität nachzuweisen sei; ein Verfahren, das fortan als »Fundamentalversuch« bezeichnet

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Ebd., S. 98. Ebd., S. 7. Ebd., S. 98. Volta 1900, S. 10.

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wird und sowohl auf Galvani als auch auf Volta zurückgeht, denn beide haben mit der »Contact-Elektrizität« experimentiert, die durch »Berührung zweier ungleicher Metalle [Volta] oder überhaupt zweier ungleichartiger Körper [Galvani]« entsteht, wobei es zu einem »Zustand einer continuierlichen (ununterbrochenen) und in sich zurückkehrenden Bewegung oder Strömung in den Leitern« kommt.36 In Alexander Schlottmanns medizinhistorischer Bewertung geht der ›Disput‹ aus der Perspektive von 1856 zwar zu Gunsten von Volta aus, weil Aldini das Gebiet des Organischen verlassen habe, »[a]ber die Anhänger Galvani’s [sic!] hielten sich dadurch keineswegs besiegt. Noch vier Jahre nach Erfindung der Säule sucht Aldini in seinem: essai théorique et expérimental sur le galvanisme die Existenz einer thierischen Elektricität durch seine Menge von Versuchen zu erweisen, die aber von den früher angestellten sich wenig unterschieden.«37 In der Folge wird bei dieser Art Versuchen zwischen galvanischen und elektrischen unterschieden.38 Auch wenn Aldini mit der Voltaʼschen Säule arbeitet, rückt er in diesem entscheidenden Punkt nicht davon ab, dass die durch sie erzeugte Energie nach Voltas Erkenntnis die Nerven direkt anspreche. Er bleibt der galvanischen Lehre verhaftet und führt nun folgende Versuche an menschlichen Körpern und insbesondere an den Köpfen Enthaupteter durch:

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37 38

Enzyklopädie der Experimental-Physik, der Astronomie, Geografie, Chemie, Physiologie, Chronologie nach dem Gebiete der Verwandtschaft mit der Physik. Populäres physikalisches Lexikon oder Handwörterbuch der gesammten [sic!] Naturlehre für die Gebildeten aus allen Ständen, hg. von Gotthard Oswald Marbach, 2. Band, E bis G, Leipzig 1835. Über den »Galvanismus«, S. 472–638, hier S. 472. Alexander Schlottmann, Kritische Geschichte der Theorien des Galvanismus, Breslau 1856, S. 7. So zum Beispiel in den Experimenten der medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz, die im folgenden Unterkapitel untersucht werden. Die Versuche dort finden in einer Hütte neben dem Schafott in zwei voneinander abgetrennten Bereichen statt.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

»Il fallait donc saisir le cadavre humain dans le plus haut degré de la conservation des forces vitales après la mort; et pour cela je devais, pour ainsi dire, me placer à côté d’un échafaud, et sous la hache de la loi, pour recevoir de la main d’un bourreau des corps ensanglantés, sujets seuls vraiment propres à mes expériences. Je profitai donc de l’occasion de deux criminels décapités à Bologne, que le gouvernement accorda à ma curiosité physique. La jeunesse de ces suppliciés, leur tempérament robuste, la plus grande fraîcheur des parties animales, tout cela m’inspira l’espoir de recueillir des résultats utiles des expériences que je m’étais auparavant proposées.«39 Aldini betont, dass die Enthaupteten für seine Experimente von gesunder Konstitution und in einem möglichst ›frischen‹ Zustand sein sollten. Er gehe davon aus, dass auf diese Weise die forces vitales, die Lebenskräfte, noch in einem hohen Maße in ihnen erhalten seien, und dass die parties animales noch keine signifikanten Anzeichen von Verwesung aufwiesen. Von derart beschaffenen Präparaten verspricht sich Aldini äußerst aussagekräftige Ergebnisse, weshalb er sich selbst neben das Schafott und vor die Guillotinenklinge begibt, um dort den blutbefleckten Körper vom Henker in Empfang zu nehmen.40 Den Verlauf seiner daraufhin stattfindenden galvanischen Versuche beschreibt Aldini wie folgt: »Je vis d’abord de fortes contractions dans tous les muscles du visage, qui étaient contournés si irrégulièrement, qu’ils imitaient le plus affreuse grimaces. L’action des paupières fut très-marquée, […] et la langue se retira sensiblement.«41 Er beobachtet zunächst starke Kontraktionen in allen Muskeln des Gesichts des ersten Kopfes, diese seien so unregelmäßig, dass sie die grauenvollsten Grimassen »imitierten«.42 Die Bewegungen der Augenlider seien sehr ausgeprägt und die Zunge habe sich deutlich zurückgezogen. Und weiter: » Les mouvements excités furent plus forts dans celle-ci, en raison de sa plus grande vitalité. Cette puissance semblait presqu’épuisée dans 39 40 41 42

Aldini 1804, S. 122–123. Ebd. Ebd., S. 124–125. Ebd.

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l’autre.«43 Beim zweiten Kopf zeigen sich dieselben Reaktionen. Allerdings fallen sie noch stärker aus, was ihn bei diesem auf eine größere Vitalität als beim ersten schließen lässt.44

Abbildung 22

Diese Experimente sind der Auftakt zu einer spektakulären Versuchsreihe, die mithilfe einer Illustration, die dem Anhang des ersten Bandes von Aldinis Essay beigefügt ist, veranschaulicht werden soll

43 44

Ebd., S. 127. Ebd.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

(Abb. 22).45 Im Folgenden liegt das Augenmerk besonders auf der TextBild-Relation zwischen der Illustration und folgender Passage: »Je plaçai donc horizontalement sur une table […] les deux têtes des suppliciés, de façon que les deux sections communiquaient ensemble par la seule humidité animale. Les choses ainsi disposées, je fis arc avec la pile, de l’oreille droite d’une tête à la gauche de l’autre : il fut merveilleux, et même effrayant, de voir ces deux têtes faisant à-la-fois d’horribles grimaces l’une contre l’autre; de sorte que quelques-uns des spectateurs qui ne s’attendaient pas à de pareils résultats, en furent véritablement épouvantés. On remarqua que les convulsions excitées dans cette disposition étaient plus vives que celles obtenues lorsque je faisais les expériences sur chaque tête séparément.«46 Die beiden abgetrennten Köpfe liegen in dieser Schilderung der Versuchsanordnung horizontal – Schnittstelle an Schnittstelle – auf einem Tisch, wodurch sie laut Aldini eine Einheit oder einen Kreislauf der humidité animale bilden. In dieser Bezeichnung drückt sich die Nähe zur thierischen Elektrizität und dem daraus abgeleiteten electrischen Fluidum oder Nervenfluidum aus; gleichbedeutend nutzt Aldini auch den Begriff force vitale. Das Flüchtige und das Fließende werden in diesen Bezeichnungen zwar zugunsten einer Betonung des Materiellen vereint, aber der lateinische Begriff anima für Seele, Hauch, Leben oder Kern

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Abb. 22: In: Aldini 1804. Anhang in Band I. pl. 4, fig. 6, Maße 28 x 20 cm – »Dessiné par Pecheux« und »Dirigé par G. M.«. Wahrscheinlich ist die Abbildung auf einen Entwurf von Benoît Pécheux zurückzuführen, er war Freskenmaler und von 1796 bis 1808 Professor an der Académie de Peinture et de Sculpture in Turin. Siehe: Louis Etienne Dussieux, Les Artistes français à l’étranger, Paris 1852, S. 118. Erwähnt wird der Name auch bei Jean-Simon Renier (Hg.), Catalogue des dessins d’artistes liègeois d’avant de XIX siècle possèdès par l’académie des beaux-arts a Liège, Verviers 1873, S. 11. Aldini 1804, S. 127–128.

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entsprecht durchaus dem begrifflichen Verständnis Aldinis.47 Er bezeichnet die Köpfe als Dinge, »les choses«,48 und beschreibt ferner, wie er vom rechten Ohr des einen Kopfes zum linken Ohr des anderen einen elektrisch leitenden Bogen anbringt. Als in gleicher Weise wunderbar, wie auch beängstigend, empfinde er das ablesbare Resultat des Versuches, nämlich dass die beiden Köpfe die abscheulichsten Grimassen schneiden, wobei er nicht versäumt, auf das dadurch hervorgerufene Entsetzen der Zuschauer hinzuweisen. Die Kontraktionen der Gesichter gestalten sich laut seiner Aussage in dieser Anordnung viel stärker und lebendiger, als in den Versuchen an einzelnen Köpfen. Auffällig in der dazugehörigen Illustration ist die Zweiteilung der Bildebenen, wodurch der Anordnungen der Handlungsschritte eine besondere Bedeutung zukommt. Im unteren Bildbereich deuten senkrechte Schraffuren, die zwei Drittel des Bildraumes einnehmen, auf die vereinfachte Gestaltung einer Wand als Raumbegrenzung hin. Die waagerechen Schraffuren im Bereich des unteren Bildrandes markieren den Boden mitsamt den darauf angedeuteten Schatten. Links und rechts im Bild, jeweils auf einem Tisch, der ihrer Körpergröße entspricht, liegen die beiden männlichen kopflosen Leichen. Die linke ist von kleinerer Statur, die rechte deutlich größer. Der rechte Oberarm des Körpers links im Bild – in der Illustration als Fig. 1. bezeichnet – ist durch einen Schnitt geöffnet, der die Muskelfasern deutlich erkennbar hervortreten lässt.49 Sie werden wohl von demjenigen der beiden Assistenten, der auf einem kleinen Hocker vor dem Tisch steht, gerade präpariert. Am rechten Körper, Fig. 2., sind eine weitere Person und ein Assistent damit beschäftigt, durch Öffnungen an beiden Füßen die Nerven- und Muskelfasern für weitere Versuche vorzubereiten. Hinter dem Tisch, ebenfalls auf einem Hocker, steht zu diesem Zweck ein Assistent, wohingegen der Mann im

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Hinsichtlich dieser größeren Debatte siehe zum Beispiel: Frédéric F. Bérard, Doctrine des rapports du physique et du moral, pour servir de fondement à la métaphysique, Paris 1823. Aldini 1804, S. 127. Die im Folgenden verwendeten Bezeichnungen einzelner Figures als Versuchsetappen sind der Illustration entnommen.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

Frack im Mittelpunkt der Illustration wohl Aldini selbst darstellen soll; sein Profil ist dem des Physikers nachempfunden. Auch er präpariert die Fußnerven des Leichnams, dessen Brustkorb nach oben gewölbt ist und dessen Beine leicht gespreizt sind, während die Hände unter dem Gesäß ruhen. Zwischen dem Rumpf des enthaupteten Körpers und dem rechten Bildrand steht auf dem Tisch eine Voltaʼsche Säule. Auf sie richtet sich in diesem Tableau eine von den zahlreichen fliegenden Händen samt angedeuteten Hemdsärmeln und hält einen dünnen Stab in den Bereich unter die Spitze der Säule.50 Die fliegenden Hände duplizieren in der Darstellung keinen exponierenden Zeigegestus, sondern die Hände des Anatomen; sie spannen den Handlungsbogen von der Präparierung der Körper zu den schematisierten Versuchsanordnungen, die im oberen Bereich zu sehen sind. Sie stehen für die Gesten, die sowohl den Körper des Anatomen, als auch den Körper oder Körperteil des Hingerichteten mit der Apparatur verbinden. Der obere Bildraum ist vom unteren zwar durch ein gröber in senkrechten Schraffuren verlaufendes Band abgegrenzt, wird jedoch durch sechs weitere fliegende Hände durchbrochen, um den Handlungszusammenhang zum unteren Bildgeschehen herzustellen. Die Versuchsobjekte oben scheinen sowohl auf einem Untergrund zu liegen, was durch ihre Schattenwürfe angedeutet wird, als auch wie die Hände zu schweben. In Fig. 3. und Fig. 4. ist ein Versuchskreislauf abgebildet, der auf der linken Seite aus einem Kopf besteht, dessen linkes Ohr durch einen von zwei Händen gehaltenen, elektrisch leitenden Bogen am oberen Ende einer Voltaʼschen Säule angekoppelt ist und vom Mund ausgehend mit einem weiteren Bogen am unteren Ende der Säule in Verbindung steht. Dem Kopf auf der linken Seite ist die Schädeldecke abgenommen, die beiden Hirnhälften liegen frei, der elektrische Leiter ist direkt zwischen ihnen eingeführt, ansonsten ist die Anordnung spiegelverkehrt zu Fig. 3. In der Mitte des Bildteils, Fig. 5., ist der ganze Körper einer Leiche durch einen

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Forschungen zu Darstellungen der fliegenden Hand als Animationssymbol liegen nicht vor, auch in folgender, dennoch interessanter Publikation wird speziell darauf nicht eingegangen: Mariacarla Gadebusch Bondio (Hg.), Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte, Berlin 2010.

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Schnitt im rechten Oberarm mit einem Bogen, gehalten von einer Hand, mit dem oberen Ende der Voltaʼschen Säule und vom rechten Ohr ausgehend mit einem weiteren, von zwei Händen gehalten Bogen, mit dem unteren Ende der Säule verbunden. Bezüglich der Text-Bild-Relation lässt sich feststellen, dass die oben zitierte Passage der Fig. 6. zugeordnet werden kann, worin zwei abgetrennte Köpfe an ihren Hinterköpfen, die beiden Schnittflächen an ihren Hälsen gegeneinander liegend und sich achsensymmetrisch spiegelnd, zu einem gemeinsamen Kreislauf der humidité animale gekoppelt sind. Vom linken Ohr des rechten Kopfes führt dabei ein leitender Bogen, gehalten von zwei Händen, zum unteren Teil der Voltaʼschen Säule und vom rechten Ohr des linken Kopfes ein leitender Bogen, gehalten von einer Hand, zum oberen Teil. In der Illustration wird deutlich, wie eng die beiden Köpfe miteinander verbunden sind, sie scheinen eher miteinander verwachsen zu sein und ineinander überzugehen, denn ihre Abtrennung ist lediglich von einer schwarzen Linie markiert. In diesem Sinne intensiviert das Bild die Vorstellung eines galvanischen Kreislaufs, der über den Tod hinaus die Körpergrenzen zweier abgetrennter Köpfe überwindet, beide Körperfragmente miteinander verbindet oder sogar einen ›ganzen‹ Körper subsituiert. Im Gegensatz zu den von Aldini beschriebenen grausamen Grimassen, zeigt sich auf ihren Gesichtern keine Spur der Erregung. Eher ausdruckslos oder mit dem Antlitz ›friedlich‹ Entschlafener sind sie in die Illustration eingegangen. Hier wird die Gegensätzlichkeit deutlich, in welcher die Versuchsschilderung Aldinis und die Illustration zueinanderstehen, denn der melodramatische Bericht fordert die Vorstellungskraft viel mehr heraus und stellt das Ereignis ›lebendiger‹ vor Augen als die Grafiken, die eher den Modell- und Anleitungscharakter veranschaulichen. Erst Text und Bild zusammen leisten die Überzeugungskraft des Experiments. Dessen Wahrheitscharakter wird zum einen durch die Öffentlichkeit, das heißt die Zuschauer im medizinischen Theater, bezeugt; zum anderen weist die Systematik der Handlungen das Experiment als wiederholbar aus. Aldini möchte die Frage nach dem Wissen, ob der Galvanismus oder vergleichbare Verfahren an den Gliedern von Enthaupteten Schmerz er-

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

regen, nicht »erneut« aufgreifen.51 Er bleibt in diesem wichtigen Punkt unverbindlich, denn er habe weder dem etwas hinzuzufügen, was auf der einen Seite Jean Joseph Sue und Samuel Thomas von Soemmerring zum Beweis für das Vorhandensein von Schmerz vorgebracht haben, noch dem, was auf der anderen Seite von Pierre-Jean-Georges Cabanis, Joseph-Ignace Guillotin und weiteren, Gegenteiliges behauptet wurde.52 Auf die Positionen von Cabanis und Sue gilt es später zurückzukommen. Aldinis Standpunkt wurde hier vorangestellt, weil er einen Wendepunkt in der Erforschung der Funktionen des menschlichen Körpers markiert und speziell im galvanischen Versuch das Einwirken des Anatomen eine bedeutende Rolle spielt. Der Frage nach dem fortdauernden Bewusstsein von Enthaupteten geht die körperliche Bemächtigung durch Strategien der Reanimation voraus, in welchen der Anatom sich zunehmend als Künstler und sein Präparat als Gliederpuppe wahrnimmt. Die Annahme, dass in den Körpern eine abbildbare Lebenskraft gespeichert ist, beinhaltet, dass diese auch ohne ›Kunstgriff‹ noch kurz nach der Guillotinierung vorhanden sein kann.

2.2 »Die Wahrheit zur Sache«53 der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz »Die Wahrheit gewinnt durch die Zeit und durch das Verein der Kräfte; Übereilung und Einseitigkeit erzeugt Falschheiten. Das [sic!] der Galvanims [sic!] die Elektrizität einigermasen [sic!] verschleierte und hintansetzte, hat er mit anderen Entdeckungen gemein; Nach dem Sturme kehrt das Gleichgewicht zurück.« Die medizinische Privatgesellschaft zu Mainz54

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Aldini 1804, S. 248. Ebd. Die medizinische Privatgesellschaft zu Mainz (Hg.), Galvanische und elektrische Versuche an Menschen- und Thierkörpern, Frankfurt a.M. 1804, S. 50. (Die medizinische Privatgesellschaft zu Mainz 1804) Die Medizinische Privatgesellschaft zu Mainz 1804, S. X.

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In Frankfurt a.M. erscheint 1804, im selben Jahr der Publikation von Aldinis Essai théorique et expérimental sur le galvanisme, die Schrift Galvanische und elektrische Versuche an Menschen- und Thierkörpern, ausgestellt von der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz. Wie auch bei Aldinis Essai ist bei dieser Veröffentlichung ihre Widmung zu beachten. Zwischen zwei aus Tacitus’ Annalen entnommenen Zitaten eingegliedert, zeugt sie von hoher politischer Brisanz: »Der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Petersburg«.55 Im gleichen Jahr kommt es zum Bruch zwischen Zar Alexander I. und Napoléon Bonaparte. Außerdem wird der Code civil des Français, zwischen 1807 und 1815 auch als Code Napoléon bezeichnet, in Mainz eingeführt, das zu diesem Zeitpunkt zum französischen Territorium gehört, im Gegensatz zur mittlerweile neutralen Reichsstadt Frankfurt. Auch wenn kein Herausgeber mit Namen genannt wird, so sind doch in der Vorrede etwa fünfzehn beteiligte Wissenschaftler und Me-

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Auf den beiden Seite vor und nach der Widmung sind folgende Zitate aus den Annalen des Tacitus eingefügt: »Veritas visu et mora, falsa festinatione et incertis valescunt.« [Annalium, Liber II., Kapitel 39, Vers 15.] Das erste bezieht sich auf die Erzeugung von Wahrheit, die demnach nur durch direkten Anblick und Vorsicht zunimmt. »Nec occultum est, quando ex veritate, quando adumbrata laetitia facta Imperatorum celebrentur.« [Annalium, Liber IV., XXXI.] Das zweite Zitat ist in politischer Hinsicht zu verstehen, da es um das geheuchelte Lob für die Taten des Herrschers geht, was im Kontext dieses Widmungsgefüges sicher auf Napoléon als Antipoden zu Alexander bezogen ist. Noch mehr hervorgehoben als diese renommierte Forschungsstätte in der Hauptstadt des russischen Kaiserreiches, die nicht nur für die Naturwissenschaften zu dieser Zeit von größter Bedeutung war – beispielsweise gab es dort ein anatomisches Theater, aber auch die Petersburger Kunstkammer war dort angegliedert – wird Zar Alexander. Auf den ersten vier Seiten, adressiert an die »Hochansehnliche[n]!« – gemeint sind mit dieser Anrede wahrscheinlich die Kollegen an der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Petersburg – wird besonders betont, dass Alexander I. Tempel für Künste und Wissenschaften stifte und dass man in seinem Reiche ferner den Wert von Künsten und Wissenschaften »fühlen« könne. Die medizinische Privatgesellschaft zu Mainz 1804, der Vorrede vorangestellte Widmung ohne Seitenangabe.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

diziner namentlich aufgeführt.56 Dabei werden die »Herrn Doktoren Ruf und Kircher« für die galvanischen Versuche und »Doktor Wittman« für die Protokollführung als Verantwortliche erwähnt.57 Folgender Eingangsfrage soll dabei auf den Grund gegangen werden: »Welche Wirkungen die Elektrizität, auf todte [sic!] Körper angewendet, in der ganzen Maschine und in einzelnen Theilen [sic!] derselben besonders hervorbringe, und in wiefern [sic!] dieselben von jenen des galvanischen Agens auf todte Körper verschieden seyen [sic!]?«58 Den Anlass für die darin geschilderten Versuche bieten die am 21. November 1803 durchgeführten Guillotinierungen von zwanzig verurteilten Räubern und Dieben einer Bande, bei denen es sich um junge, starke und gesunde Männer handele, die nur leicht durch die Haft versehrt seien, darunter auch der so genannte Schinderhannes.59 Die Enthauptungen werden aufgrund des erwarteten Andrangs von Schaulustigen vor der Stadt Mainz ausgeführt. Für die geplanten Versuche wird eigens in der Nähe der Hinrichtungsstätte eine in die Erde eingelassene Hütte mit Fenstern errichtet; diese ist zweigeteilt um die galvanischen von den elektrischen Versuchen getrennt stattfinden zu lassen.60 So dauert es nur ungefähr vier Minuten, bis das Leichen-Präparat nach der Hinrichtung für die Experimente zur Verfügung steht. Der tote Körper sollte ja möglichst ›frisch‹ sein, um ein veritables Ergebnis zu liefern. Denn würde bereits die Leichenstarre einsetzen, könnten weder die galvanische noch die elektrische Stimulation Muskelkontraktionen hervorrufen. Werden aber die Conduktoren der Voltaʼschen Säule bereits kurz nach dem Tod an die Muskeln der Delinquenten angebracht, »[…] so ziehen sich jene Muskeln auf dieselbe Weise zusammen, wie sie es während des Lebens 56

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Weiterführend sei hier der quellenreiche Aufsatz von Gunter Mann erwähnt: Gunter Mann, »Schinderhannes, Galvanismus und die experimentelle Medizin in Mainz um 1800«, in: Medizinhistorisches Journal, hg. im Auftr. d. Kommission für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, Akademie der Wissenschaften und Literatur zu Mainz, 12.1977, S. 21–80. (Mann 1977) Die medizinische Privatgesellschaft zu Mainz 1804, S. XII. Ebd., S. XIII. Ebd., S. XI. Ebd.

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zu thun [sic!] pflegten.«61 Darüber hinausgehend gibt die medizinische Privatgesellschaft zu Mainz noch die aus dem Experiment abgeleitete Gesetzmäßigkeit zu bedenken, dass die künstlich erzeugten Kontraktionen der Gesichts- und Kaumuskeln zudem noch ungleich stärker seien als zu Lebzeiten. Aufschlussreich für die Sicht der Mediziner ist an dieser Stelle der genaue Wortlaut des Protokolls zu den Versuchen mit der Voltaʼschen Säule: »Die mit der größten Geschwindigkeit abwechselnden Zusammenziehungen aller Gesichtsmuskeln, verbunden mit dem durch die Bewegung des Unterkiefers entstandenen Knirschen der Zähne, stellten augenblickliche, schnell vorübergehende, unter sich sehr verschiedene Physionomien [sic!] desselben Gesichtes dar; ein am entseelten Körper, vermittelst der noch vorhandenen Erregbarkeit der Organe, durch die Kunst nachgeahmtes Minenspiel, welches den Nichtunterrichteten zu täuschen und zu schrecken im Stande war.«62 Hier wird der tote Körper nunmehr als Hülle aufgefasst, da ihn die Seele bereits verlassen habe. Aber der Tod oder das tatsächliche Sterben wird als noch nicht vollendet eingestuft, da die Organe eine gegenwärtige »vorhandene Erregbarkeit« aufweisen, ihre Lebensenergie also noch nicht versiegt sei und durch die »Kunst« reanimiert werden könne. Die beteiligten Wissenschaftler stimmen außerdem in ihrer Ansicht überein, dass der Leichnam einer hingerichteten Person, der für derartige »Untersuchungen« in einem »kultivierten Staate« Verwendung fände, einem »klugen« und »humanen« Zweck dienlich sei und sie »[…] statt dieser im Grunde unnützen Strafen, […] einer nützlichen Verwendung zu überlassen,« von großer Wichtigkeit sei.63 Außerdem sind sie der Meinung, dass die galvanische Forschung noch nicht an ihrem Ziel angekommen sei, die Methodik noch verfeinert und nützlich gemacht werden müsse: »Was eine Nation nicht leistet, trägt die andere

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Ebd., S. 8. Ebd., S. 4. Ebd., S. IX-X.

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bey [sic!]; und das nächste Jahrzehend [sic!] wird ersetzen, was dem gegenwärtigen zu thun [sic!] übrig blieb.«64 Auch wenn in dieser Schrift nicht unerwähnt bleibt, dass der Galvanismus seit mehr als einem Jahrzehnt nahezu alle Ärzte und Naturforscher beschäftige, wird mit Absicht nicht auf die Versuche Anderer mit der Voltaʼschen Säule eingegangen.65 Und es ist durchaus nicht nur als rhetorische Strategie zu werten, wenn auf der letzten Seite, direkt nach der »Dritte[n] Abtheilung [sic!]. Versuche über Empfindungen und Bewustseyn [sic!] nach der Enthauptung«,66 angeführt wird: »Es ist uns ferner hier nicht um Controversen [sic!], sondern um die Wahrheit der Sache zu thun [sic!].«67 Die von Aldini formulierte »Liebe zur Wahrheit« wird von der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz als »die Wahrheit der Sache« ebenso willkürlich modifiziert.68 Wobei Induktion und Deduktion durcheinandergeraten, denn diese Liebe scheint ihnen, anders als die Triebfeder Aldinis, nicht als sachlicher Beweggrund geeignet zu sein, die Wahrheit zu finden. Vielmehr soll sich hier die Wahrheitsfindung auf den Gegenstand ausrichten, und auch andersherum scheint die Annahme zu sein, dass die Wahrheit bereits in der Sache liege: Empirie statt Philosophie. Dass dieses Ziel nicht nur mithilfe der galvanischen und elektrischen Experimente erreicht werden soll, wird in folgender Arbeitsanweisung des Protokolls deutlich: »Die HH. Gröser und Pischaft, zwey [sic!] hoffnungsvolle Jünglinge, hatten den Auftrag bekommen, während der Hinrichtung untern dem Schaffot [sic!] zu stehen, um an mehreren Köpfen, gleich nachdem sie abgeschlagen und unter das Schaffot herabgefallen waren, nach der ihnen gegebenen Anweisung zu erforschen, ob noch Bewußtseyn [sic!] und Empfindung vorhanden sey [sic!].«69 64 65 66 67 68 69

Ebd., S. X. Ebd. und S. 50. Ebd., S. 49–50. Ebd., S. 50. Aldini 1804, S. 123. Die medizinische Privatgesellschaft zu Mainz 1804, S. 50. Ebd., S. XII–XIII.

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Die Anweisung lautet, einem ausgewählten Kopf die Frage: »Hörst Du mich?« zu stellen, mit dem Ergebnis: »Allein man bemerkte […] nicht die geringsten Bewegungen an den Augen, noch sonstige Zeichen an dem Kopfe, die das Vernehmen der zugerufenen Worte ausgedrückt hätten.«70 Trotzdem stellen sie fest: »Die Augen der abgeschlagenen Köpfe waren alle starr, bey [sic!] einigen offen, bey anderen geschlossen. Bey einigen Köpfen (bey denen man aber den eben beschriebenen Versuch nicht anstellte) bemerkte man Zuckungen in den Gesichtsmuskeln.«71 Erstaunlich ist, dass an dieser Stelle kein klares Ergebnis formuliert oder gar eine Deutung vorgenommen wird. Stattdessen wird betont, dass bei der direkten Ansprache der abgetrennten Köpfe, »nicht die mindeste Verzerrung«, »nicht die geringste Veränderungen« und »nicht die geringsten Bewegungen an den Augen« zu beobachten seien.72 Mit Bezug auf das Eingangszitat, dass nach »dem Sturme«, dem Galvanismus, »das Gleichgewicht zurückkehre«, geht es den Medizinern scheinbar nicht darum, die Wahrheit von ihren Ergebnissen abzuleiten, sondern sie glauben vielmehr, dass die Ergebnisse der Versuche quasi für sich selbst und somit für die Wahrheit stünden. Außerdem wird darin auch das erste Tacitus-Zitat paraphrasiert, dass die Wahrheit nur durch direkte Anschauung und Vorsicht zunehme.73 Es deutet alles darauf hin, dass die medizinische Privatgesellschaft zu Mainz bei keiner der von ihnen angewendeten Versuchspraktiken Empfindungen oder Bewusstsein in den abgetrennten Köpfen überhaupt für möglich hält. Bei den Versuchen mit der Voltaʼschen Säule wird explizit vom »entseelten Körper« gesprochen und dass ein Laie nicht im Stande wäre, ein »durch die Kunst nachgeahmtes Minenspiel« zu beurteilen.74 Auch, wenn ohne jegliche Einwirkung bei einigen Köpfen nach der Guillotinierung noch Zuckungen in den Gesichtsmuskeln bemerkt werden –bei ihnen wird allerdings nicht die Frage gestellt, ob

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Ebd., S. 49. Ebd. Ebd. Ebd., S. X. Ebd., S. 4.

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sie noch etwas hörten – wird hieraus keine Wahrheit abgeleitet. Und dass vornehmlich diese Versuche von vornherein als eher von geringem Wert angesehen sind, belegt die Formulierung, dass die »Kandidaten der Medizin« die »Mühe« übernehmen, sich unter das Schafott zu begeben.75 Die Körper der Delinquenten werden auch hier in den Dienst der Wissenschaft gestellt, ohne dass beispielsweise auf die vorangegangene These des ehemaligen Mainzer Professors Samuel Thomas von Soemmerring eingegangen wird. Diese ist Gegenstand des folgenden Unterkapitels. Die Versuche sowie die daraus abgeleiteten Gesetze der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz sind letztlich einer hermetischen Wahrheitsfindung verpflichtet, die auch ein Tacitus-Zitat nicht zu nobilitieren vermag.

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Ebd., S. 49.

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2.3 Aus dem »Reich der Wahrheiten«76 des Samuel Thomas von Soemmerring »Pöbelhafte Criminalisten [sic!], die an solchen Scharfrichterkünsten sich ergötzen, öffentlich davon mit einer Art von Wollust sprechen, muß kein gescheidter [sic!] Mann belehren wollen. Sie sind zur Überzeugung unfähig!« Samuel Thomas von Soemmerring77

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Samuel Thomas von Soemmerring, »Ueber die Vereinigung der Sehnerven«, in: Hessische Beiträge zur Gelehrsamkeit und Kunst, Bd. I, Frankfurt a.M. 1785 S. 185–207. »Man hebt immer mehr und mehr die kurzsichtige Einschränkung einer Wissenschaft in unnatürliche Grenzen auf, und gönnt ihr freundschaftliches Licht, von denen die ihr verwandt sind. Man entdeckt neue Glieder der Verkettung menschlicher Kenntnisse, und erweitert das Reich der Wahrheiten. Man hindert nicht mehr wie in den dunklen Jahrhunderten unserer Vorfahren, wo das eiserne Joch des unbarmherzigen Aberglaubens die Vernunft drückte, daß sich Wahrheiten mit Wahrheiten immer fester zu ernsthafter Vertilgung der Irrthümer [sic!] verbinden.« S. 192. Kursivsetzung der Autorin. Verweis darauf auch bei: Ulrike Enke, »›Leichen für die Anatomie‹ – Samuel Thomas Soemmerrings Arbeitsbedingungen in Kassel«, in: Philippia, 14/3, Kassel 2010, S. 241–256, hier S. 245. (Enke 2010); Auch Rudolf Wagner führt 1844 in seiner biographischen Schrift über Soemmerring, um dessen Wirken zu charakterisieren, eine Passage aus der Urkunde der Bayrischen Akademie der Wissenschaften an, die, nachdem Bayern 1807 zum Königreich erhoben, eine Neuorganisation erfährt. Soemmerring wird zwar dorthin berufen, aber er nimmt den Ruf nicht an: »[D]amit im Reich der Wahrheit und der Kenntnis hervorgebracht werde, was einzelne Kräfte, nähme man jede derselben als die möglich größte an, nie vermögen würde.« Rudolf Wagner, Samuel Thomas von Sömmering’s [sic!] Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen (1844), erste und zweite Abteilung, hg. von Franz Dumont, Stuttgart/New York 1986, S. 122–123. (Wagner 1986) Samuel Thomas von Soemmerring, »Ueber den Tod durch die Guillotine (1795)«, in: Ders., Werke. Ueber das Organ der Seele [1796], hg. von Jost Benedum und Werner Friedrich Kümmel, begründet von Gunter Mann, Bd. 9, Basel 1999, S. 255–266, hier S. 264. (Soemmerring 1795); Die Bezeichnung »Scharfrichterkünste« bezieht Soemmerring hier auf das Enthaupten an sich und nicht nur auf das Guillotinieren, sondern auch auf die Hinrichtung durch das Schwert und das Beil. Ebd., S. 263.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

Auch Samuel Thomas von Soemmerring78 wird am 21. November 1803 zu den Guillotinierungen in Mainz von seinem dortigen Nachfolger und ehemaligem Schüler Jakob Fidelis Ackermann eingeladen, der jedoch nicht der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz angehört.79 Obwohl Soemmerring Ackermann gegenüber zunächst Interesse bekundet, nimmt Soemmerring nicht daran teil.80 Dieser bietet ihm sogar an: »Bei der Execution [sic!] des Schinderhannes sollen Sie, wenn Sie wollen, durch die schriftliche Erlaubniß [sic!] des Präsidenten des Tribunal spécial vor allen Unannehmlichkeiten gesichert sein, wenn es Ihnen ernst ist, hierher zu kommen.«81 Aufgrund der französischen Belagerung kommt der Mainzer Universitätsbetrieb weitestgehend zum Erliegen, weshalb Soemmerring bereits 1795 nach Frankfurt a.M. übersiedelt, zwei Jahre später seine Demission bewirkt und sich danach nicht mehr zurück nach Mainz begibt.82 Außerdem vertritt er seit 1795 eine Position, die allein die Teilnahme bei einem solchen »Schauauftritte«, als welchen auch die Hinrichtungen in Mainz neun Jahre später gelten könnten, kategorisch ausschließt.83 Denn für Soemmerring steht bereits seit der Einführung der Guillotine in Frankreich ohne Zweifel fest, dass die Frage, ob der abgetrennte Kopf für eine kurze Zeit nach der Hinrichtung noch bei Bewusstsein ist und demnach Schmerz empfindet, zu bejahen ist. Und wie im Eingangszitat 78

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Da der Name Samuel Thomas von Soemmerring in den unterschiedlichsten Schreibweisen zu finden ist, wird er hier zu dem eben genannten vereinheitlicht sowie im Text und in den Literaturangaben kurz Soemmerring genannt. Gunter Mann weist darauf hin, dass Ackermann »der offenbare Gegenspieler« der medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz sei und zur selben Zeit Präsident der Departemental-Gesellschaft der Wissenschaften und der Künste zu Mainz wird. Mann 1977, S. 42. Ackermann nimmt im Anschluss an die Guillotinierungen galvanische Versuche an den Körpern vor. Ebd., S. 34. Wagner 1986, S. 105. Ebd., S. 105–106. Wagner zitiert Soemmerring aus dem Jahr 1797: »Es ist nicht mehr das Mainz, das es sonst war. Es ist schrecklich, wie alles in dem Grund verheert und zerstört ist, physisch und moralisch. […] Aber die Universität kann sich nicht mehr erholen.« Ebd., S. 104. Soemmerring 1795, S. 266.

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deutlich wird, scheint er sowohl eine intellektuelle, als auch eine gewisse moralische Verachtung gegenüber denjenigen zu empfinden, die vielleicht weniger seine anatomischen Beobachtungen anzweifeln, als dass sie seine moralischen und politischen Schlussfolgerungen nicht zu teilen im Stande sind. Im Kontext der zu der Zeit gerade stattfindenden wissenschaftlichen Differenzierung von Galvanismus und Elektrizität wird deutlich, dass es hier um das Begreifen naturwissenschaftlich materieller Gesetzmäßigkeiten geht und dass Experimente an Enthaupteten – etwa in Hinsicht auf die durch die ›Kunst‹ der Anatomen hervorgerufenen Reaktionen – vor allem im Hinblick auf den erhofften wissenschaftlichen Fortschritt und die sich in diesem Zuge herausstellende Wahrheit durchgeführt werden. Soemmerrings anatomische und physiologische Erkenntnisse lassen ihn allerdings auf einer anderen Ebene zu folgender Wahrheit gelangen: Der Enthauptete empfindet den Schmerz physiologisch begründet und er nimmt sich selbst in der Situation wahr. Datiert auf den 20. Mai 1795 in Frankfurt, veröffentlicht Soemmerring seine Stellungnahme zur Strafpraxis des Guillotinierens in Klio, eine[r] Monatsschrift für die französische Zeitgeschichte als Aufsatz mit dem Titel Ueber den Tod durch die Guillotine. In seinen dortigen Ausführungen ist in der Folge besonders diese Passage von Bedeutung: »Diejenigen die von der Wahrheit folgender zweyer [sic!] Sätze, nehmlich [sic!]: 1) daß der Sitz alles Bewußtseyns [sic!] im Hirne ist, und 2) daß zu den Operationen des Bewußtseyns auf eine Zeitlang entweder kein Kreislauf des Blutes durchs Hirn, oder doch nur ein geringer, partieller hinreicht, überzeugt sind, brauchen auch nur dieser Winke, nur der Zusammenstellung dieser beyden [sic!] Sätze um den Schluß sogleich daraus zu machen; daß diese Todesart deswegen höchst schrecklich und grausam seyn müsse, weil der vom Rumpf getrennte Kopf des Hingerichteten, in dem alles Bewußtseyn, die wahre Personalität, das eigentliche Ich noch eine Zeitlang lebendig bleibt,

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

die dem Halse zugefügten grausamen Schmerzen noch nachfühlt, noch empfindet.«84 Der Überschrift nachgeordnet ist die Adressierung an einen der Herausgeber, der an dieser Stelle nicht namentlich genannte Schweizer Peter Paul Usteri, welcher, um die Zensur in der Schweiz zu umgehen, Klio in Leipzig herausgibt.85 Es ist ferner von politischer Tragweite, dass Usteri zu dieser Zeit mit den Girondisten sympathisiert und dass sich über ihn in Zürich auch die Bekanntschaft zu Konrad Engelbert Oelsner ergeben haben könnte, der Soemmerring zur Niederschrift seiner Beobachtungen und zur medizinischen und politischen Stellungnahme aufgefordert hat.86 Oelsner ist auch der Herausgeber von Luzifer oder gereinigter [sic!] Beyträge zur Geschichte der französischen Revolution, die ab 1797 erscheinen.87 Durch diese persönlichen Verbindungen gekennzeichnet,

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Ebd., S. 257. Ab Juli 1796 hatte die Zeitschrift den Titel Neue Klio, des Weiteren publiziert Usteri die Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution, ab 1796 Humaniora. Siehe: Gunter Mann, »Soemmerring, Lichtenberg und die Ärzte im Streit um die Guillotine (Einführung zu S. Th. Soemmerring: Ueber den Tod durch die Guillotine)«, in: Samuel Thomas Soemmerring, Werke. Ueber das Organ der Seele [1796], hg. von Jost Benedum und Werner Friedrich Kümmel, begründet von Gunter Mann, Bd. 9, Basel 1999. S. 105–130, hier S. 113–114. (Mann 1999) Rudolph Wagner merkt diesbezüglich an: »Sömmerring habe wissenschaftlich bewiesen, was er (Oelsner) so oft gesehen. Er berufe sich auf das schauervolle Zeugniß von Charlotte Corday, deren Gesicht Jedermann [sic!] habe erröthen [sic!] sehen, als der rohe Henker diesem ruhigen und schönen Haupte einen Backenstreich versetzte. Interessant ist in diesem Briefe Oelsner’s, wie in dem von Sömmerring, neben dem Ernste der Betrachtung und den Abscheu vor den blutigen Thaten [sic!] jener Zeit, das seltsame Gemisch von Gefühlen für Humanität gegen Verbrecher und für Lebensstrafen überhaupt wahrzunehmen. Beide giengen [sic!] von der Ansicht aus, den Verbrecher nicht blos [sic!] auf eine möglichst schmerzlose, sondern selbst auf eine mit angenehmen Gefühlen verknüpfte Weise aus der Welt zu schaffen.« Wagner 1986, S. 64. Auf letzteren Aspekt wird im nächsten Unterkapitel noch näher eingegangen. Im ersten Teil nach der Vorrede adressiert er einige Seiten »An Dr. P. U.«, womit Oelsner sicherlich Usteri meint. Konrad Engelbert Oelsner, Luzifer oder gerei-

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erreicht der Inhalt eine durchaus breite Leserschaft, denn auch in französischer Sprache erscheint Sur le supplice de la guillotine, par le professeur Soemmering. Oelsner aux rédacteurs du Magasin Encyclopédique, von Oelsner ohne das Wissen Soemmerrings veröffentlicht.88 Ebenfalls durch seine Herausgeberschaft ist der Artikel in der Gazette Nationale im Moniteur Universel unter der Rubrik »Mélanges« am 9. November 1795, dem 18. Brumaire des Jahres IV, zu finden.89 Bereits im April 1795 reist Soemmerring nach Paris. Nach dem Sturz und der Enthauptung Maximilian Robespierres am 28. Juli 1794 glaubt er, dass nun die Gelegenheit gekommen sei, durch sein »Raisonnement« aus »reinster Menschenfreundlichkeit« ein Umdenken in Bezug auf das Guillotinieren als Hinrichtungsart bewirken zu können.90 Die Reaktion auf Ueber den Tod durch die Guillotine, die aus einem Brief seines Freundes Christian Gottlob Heyne aus Göttingen vom 14. Dezember 1795 hervorgeht, ist jedoch kritisch: »Ich danke Ihnen, lieber Freund, für das Gutachten über die Guillotine. Machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie darüber zu leiden haben werden. L. und Consorten [sic!] werden über Sie herfallen und ihren Witz auslassen; Sie mögen sich nur voraus auf eine Vertheidigungsschrift [sic!] gefaßt machen, wie Sie erweisen wollen, daß bloße mechanische Convulsionen [sic!], allenfalls animalische Sensationen, mit Bewußtsein verknüpft sein müssen! Ich habe noch niemanden darüber gesprochen; und möchte Ihnen wohl rathen [sic!], daß Sie die Schrift nicht viel herumschicken. Denn auch das, daß ein solcher ultra exaltirter [sic!] Jacobiner, als Oelsner ist, Ihre Vertraulichkeit rühmt, wird Sie verhaßt machen und über das Lob von Ihnen, daß von einem solchen

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nigter [sic!] Beyträge zur Geschichte der französischen Revolution, erster Theil [sic!], Leipzig 1797, S. IX-XIV. (Oelsner 1797) Mann 1999, S. 114. Vgl. Hans-Rudolf Wiedemann unter Mitarb. von Franz Dumont und Stefan Grus, »›Ein schönes Schneiden!‹«: Ein unbekannter Brief Soemmerrings über die Guillotine«, in: Medizinhistorisches Journal, Bd. 27, Stuttgart 1992, H. 1/2, S. 126–137, hier S. 131. (Wiedemann 1992) Wiedemann 1992, S. 131. Soemmerring 1795, S. 255–256.

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Mann, den man einen Phantasten schilt, wird Ihnen nachtheilig [sic!] sein. Dem andern [sic!] Grund widerspricht niemand, daß sich bei der Guillotine das ganze Gefühl vom Wohlanstand empört.«91 Auch wenn Soemmerring weit über die Kreise seiner Profession hinausgehend hohes Ansehen genießt – so steht er beispielsweise mit Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Hölderlin, Johann Gottfried Herder, Johan Caspar Lavater, Georg Forster und Wilhelm Heinse in Korrespondenz – scheint Heyne ihn vor den möglichen Konsequenzen einer Veröffentlichung schützen zu wollen. Mit »L.« nimmt Heyne Bezug auf Georg Christoph Lichtenberg, an den Soemmerring am 26. Mai 1795 schreibt und dem er seinen Aufsatz schickt. Die Reaktion Lichtenbergs fällt jedoch anders aus, als es Heyne annimmt, denn dieser würde den Beitrag durchaus gerne in seinen Göttinger Taschen Calender mitaufnehmen, »[…] wenn die Damen so etwas vertrügen, diese Untersuchungen sind in der That [sic!] ein wenig schauderhafft [sic!]. […] Denn Beyträge [sic!] von solcher Hand kan [sic!] man einiger gespaltenen hysterischen Trembleusen [sic!] wegen nicht weglegen,«92 so Lichtenbergs derbe Antwort.93 Den Umgang mit Oelsner, den Heynse als »ultra exaltirte[n] [sic!] Jacobiner« bezeichnet, wertet er als Nachteil. Dieser steht mittlerweile den Girondisten näher und schreibt ebenfalls für Klio und Minerva. Ein Journal für Geschichte, Politik und Literatur. Soemmerring kommt die Veröffentlichung auch in der Hinsicht gelegen, um sicher zu stellen, dass seine Schrift den stellvertretenden Gesetzgebern Frankreichs vorgelegt 91 92

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Wagner 1986, S. 95. Georg Christoph Lichtenberg, Briefwechsel 1793–1799 und Undatiertes, hg. von Ulrich Joost und Albrecht Schöne, Bd. IV, 1992, S. 461. Hervorhebung im Original. Siehe auch: Mann 1999, S. 112. (Lichtenberg 1992) Hervorzuheben für den Austausch insbesondre zwischen Soemmerring und Lichtenberg sowie für weitere Positionen, die in diesem Kapitel nicht aufgeführt werden, ist insbesondere der Aufsatz von Franz Dumont, »Humaine ou barbe? Le rôle du Magasin encyclopédique dans la controverse des médecins français et al.lemands autour de le guillotine«, in: Aubin-Louis Millin et l’Allemagne. Le Magasin encyclopédique – Les lettres à Karl August Böttiger, hg. von Geneviève Espagne und Bénédicte Savoy, Hildesheim 2005, S. 123–146.

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werde, wie er zu Beginn seines Aufsatzes betont.94 Denn ihn empört mehr als das »ganze Gefühl vom Wohlanstand«, wie es Heye für sich ausspricht. Umsichtig begründet Soemmerring, warum er nicht sofort mit einer schriftlichen Stellungnahme reagierte, als er Nachricht von der Einführung der Guillotine erhielt: »[…] theils [sic!] weil man sich gerne vom Ueberdenken solcher Gegenstände wegwendet, theils weil ich besorgte, daß ein Aufsatz von dieser Art zur Zeit des Terrorism [sic!] entweder gar keine, oder bey grausamen Menschen vielleicht gar eine schädliche Wirkung haben könnte.«95 Für den vorliegenden Kontext ist es von großer Bedeutung, dass die These Soemmerrings, die Konvulsionen seien mit dem Bewusstsein verknüpft, Heyne selbst zu gewagt erscheint. Er ist eher der Auffassung, dass die Kontraktionen mechanisch entstünden und als »animalische Sensation« einzustufen seien. Hier wird der Interpretationsspielraum zwischen der körperlichen und der seelisch-geistigen Ebene deutlich. Schließlich wird Soemmerring vielleicht aus protektionistischen Beweggründen gewarnt, er solle sich auf eine »Vertheidigungsschrift [sic!]« gefasst machen; es entsteht der Eindruck, dass Heyne die Überzeugung teilt, Soemmerrings Aufsatz bedürfe der Verteidigung. Aber das Guillotinieren an sich missfällt auch ihm. Dass sich insbesondere die Ärzte für das Guillotinieren aussprechen, »[…] deren ganzes Bestreben den Zweck hat, das Leben der Menschen durch alle mögliche Kunst zu verlängern,«96 ist für Soemmerring mit

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Soemmerring 1795, S. 256. Ebd., S. 255. Ferner ist folgende Äußerung Oelsners für den vorliegenden Kontext interessant: »Ein Manuscript [sic!] in fremder Sprache, bei einem Ausländer, hätte diesen aufs Schafot [sic!] gebracht. Um solchen Preis dürften wenig angehende Schriftsteller Lust zum Schreiben fühlen. Es lohnt sich der Müh dem Unheil vorzubeugen. Allein wer hätte nicht gern das erste Produkt jugendlichen Fleisses, dem frühen Tode zu entreissen gesucht?«. Oelsner 1797, S. IV-V. Und an anderer Stelle: »Ich habe von Gauklern gehört, die einen Vogel durch blose Berührung seines Schattens enthaupten, aber sie hüten sich, das magische Messer eher anzusetzen, als bis der Kopf von selbst zu fallen, bereit ist.« Ebd., S. 53. Soemmerring 1795, S. 256. Hervorhebung der Autorin.

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ihrem Berufsstand unvereinbar. Auch wenn er sich nicht konkret gegen die Todesstrafe ausspricht, könnte eine solche Haltung als Konsequenz seiner Ausführungen angenommen werden. Und wenn die Todesstrafe schon unabdingbar sei, so könne sie auch ohne die von ihm herausgestellten Leiden des Delinquenten vollzogen werden. Der Gedanke, dass der Verurteilte nach der Hinrichtung im medizinisch-wissenschaftlichen Versuch einen Nutzen haben könnte, ist bei Soemmerring nahezu auszuschließen, denn er betrachtet die Thematik aus entgegengesetzter Perspektive: Niemand könne von den Leiden der Hingerichteten so durchdrungen sein oder sich in sie hineindenken, wenn er »[…] den Menschen nicht um des todten [sic!] Körpers, sondern hauptsächlich um des Lebens und der Seele willen studierte«, so Soemmerring.97 Bei der Einführung der Guillotine ist die kurze Dauer, die von der tatsächlichen Hinrichtung in Anspruch genommen wird, ein wichtiges Argument. Denn es wird davon ausgegangen, dass durch diesen präzisen mechanischen Akt – der nach heutiger Erkenntnis im Idealfall die Exekutionsdauer mit 40/100 Sekunden und das Durchtrennen des Halses mit 2/100 Sekunden bemisst – auch das Töten dementsprechend präzise abläuft und die Leiden der Delinquenten sich auf diesen Moment beschränken.98 In dieser Hinsicht verkörpert die mit hoher Geschwindigkeit herabfallende Guillotinenklinge einen Tötungsakt, von dem geglaubt wurde, dass er ebenso schnell sei.99 Genau gegen dieses Paradigma argumentiert Soemmerring, denn es geht ihm darum, den Zeitraum nach der Exekution bis zum Tod zu fokussieren: »[…] allein an eine Nachempfindung, an ein Nachfühlen, an ein fortdauerndes Bewußtseyn [sic!] nach der Hinrichtung scheint man gar nicht gedacht, geschweige die Dauer dieses Bewußtseyns nach der

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Ebd. Die Angaben sind zu finden bei: Monestier 2001, S. 298. Ausführlich zur Guillotinenklinge siehe: Katrin Weleda, »Zur politischen Ikonografie der Guillotinenklinge«, in: Mouvement. Bewegung. Über die dynamischen Potenziale der Kunst, hg. von Andreas Beyer und Guillaume Cassegrain, Berlin 2015, S. 109–122 und in Kapitel 1.2. vorliegender Arbeit.

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Hinrichtung in Anschlag gebracht, oder berechnet – am allerwenigsten meiner Überzeugung nach bezweckt zu haben.«100 Auch an dem mechanischen Vorgang übt Soemmerring schwerwiegende Kritik, da er weniger von einer »Zertrennung« des Halses durch die Guillotinenklinge sprechen möchte, als eher von einer »Zermalmung oder Zerquetschung«, die auch die Knochen der Wirbelsäule betreffe.101 Verheerend erscheint ihm die Erkenntnis, dass sich im Hals die Stämme aller Nerven der oberen Gliedmaße bündeln, weshalb die Enthauptung den »allerheftigsten, allergrößten« Schmerz verursache.102 Außerdem wirft er die Frage auf, ob die vordergründig angeführte kurze Dauer auch die »horrende Intensität des Schmerzes« aufwiege.103 Ferner fragt er: »[…] welche Art der Entseelung ist die sanfteste und in dieser Hinsicht die vernünftigste?«104 Soemmerring betont die Verdichtung des Ausmaßes an Schmerzen anstelle des propagierten Augenblicks, den die Enthauptung augenscheinlich in Anspruch nehme. Als vernünftigere Hinrichtungspraxis schlägt er das Hängen vor. Den physiologischen Vorgang beim Erhängen charakterisiert Soemmerring als ein »sanftes Einschlafen«, bei dem das Hirn vom angestauten Blut zusammengedrückt werde, was dazu führe, dass der Gehängte erst das Bewusstsein verliere, wie es auch beim Schlafen der Fall ist, und dann in einem Zustand ohne Bewusstsein sterbe.105 Bei der Gegenüberstellung beider Hinrichtungsmethoden ist genau dies Soemmerrings entscheidender Punkt gegen das Guillotinieren: »So lange das Hirn des Hingerichteten seine Lebenskraft behält, so lange behält die Seele des Hingerichteten, das ist denn doch der eigentliche Mensch, sein Bewußtseyn.«106 Beim Hängen hingegen sind außerdem bereits einige »[…] aus diesem Tode

100 Brief von Samuel Thomas Soemmerring, Frankfurt d. 26 May [sic!] 95, in: Lichtenberg 1992, S. 453. 101 Soemmerring 1795, S. 262. 102 Ebd. 103 Ebd., S. 263. 104 Ebd., S. 264. Hervorhebung der Autorin. 105 Ebd., S. 264–265. 106 Ebd., S. 259.

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wieder zurück ins Leben […]« gekommen, und er könne sogar »[…] redende Zeugen für diese Wahrheit […]«107 anführen. Entscheidend für das Verständnis von Soemmerrings Theorie bezüglich des fortdauernden Bewusstseins und des Schmerzempfindens von Enthaupteten ist, dass er im Kopf des Menschen, genauer im Gehirn, auch den Sitz der Seele vermutet, weshalb er das Ergebnis einer Hinrichtung auch als »Entseelung« bezeichnet.108 Seiner Auffassung nach befindet sich das »Organ der Seele« sowohl inmitten der Flüssigkeit der Hirnhöhlen als auch der Hirnendigungen der Nerven, wie er es in seinem Werk Ueber das Organ der Seele von 1796 darlegt.109 Das Buch ist Immanuel Kant – »Unserm Kant« – gewidmet und es wird auch mit einem Nachwort von Kant publiziert, wobei dieses allerdings auf die Initiative des Verlegers zurückgeht; Soemmerring wird für diese Entscheidung nicht befragt.110 Aber dass die Ventrikelflüssigkeit auch als Organ bezeichnet wird, die ebenfalls der Sitz der Seele sein soll, überschreitet die damals gängige naturwissenschaftliche Sicht hin zum Metaphysischen, und dies war nicht im Sinne Kants, dessen Kritik Soemmerring jedoch verkennt.111 Auch bei den Zeitgenossen Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller stößt Soemmerrings Theorie auf Unverständnis.112 107 Ebd., S. 265. Kursivsetzung der Autorin. 108 Ebd., S. 264. 109 Samuel Thomas Soemmerring, »Ueber das Organ der Seele [1796]« in: Ders., Werke. Ueber das Organ der Seele [1796], hg. von Jost Benedum und Werner Friedrich Kümmel, begründet von Gunter Mann, Bd. 9, Basel 1999, Originalschrift S. 155–252. 110 Manfred Wenzel, »Soemmerrings Werk Ueber das Organ der Seele«, in: Samuel Thomas Soemmerring, Werke. Ueber das Organ der Seele [1796], hg. von Jost Benedum und Werner Friedrich Kümmel, begründet von Gunter Mann, Bd. 9, Basel 1999, S. 53–103, hier S. 84. (Wenzel 1999) 111 Siehe dazu die genaue Erläuterung bei Anette Mook, Die freie Entwicklung innerlicher Kraft. Die Grenzen der Anthropologie in den frühen Schriften der Brüder von Humboldt, Göttingen 2012, S. 160–168. 112 Wenzel 1999, S. 84. »Wilhelm von Humboldt […] hatte das Werk [Ueber das Organ der Seele] schon im Manuskript beim Verlag lesen können; er bezeichnete es Schiller gegenüber, dem er es zu lesen empfahl, als »interessante Curiosi-

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Die Seele ist nach Soemmerring ein Organ von fließender Konsistenz, weil es die körperliche und die geistige Ebene miteinander verbindet. Eben durch diese Beschaffenheit und Funktion werden auch die Gemeinsamkeiten zur »humidité animale« sowie der »thierischen Elektrizität und dem »electrischen Fluidum« oder »Nervenfluidum« bei Galvani und Aldini deutlich.113 Soemmerring selbst hat galvanische Experimente durchgeführt und sich mit der Lehre des Galvanismus beschäftigt. Er merkt diesbezüglich an: »Die galvanischen Versuche brachten mich auf die ausgesprochenen Ideen«, womit er sich auf Ueber den Tod durch die Guillotine bezieht.114 In seiner Note sur le supplice de la guillotine von 1796 legt Pierre-JeanGeorges Cabanis dar, dass es eben auch der Rest der »faculté vitale« sei, die sich in Krämpfen und Bewegungen ausdrückt und nicht der Schmerz, denn ein Guillotinierter leide weder im Kopf noch in seinen Gliedern. Etwas anderes anzunehmen, verbiete ihm sein »amour de la véritié«, denn es gebe hier keine Gewissheit der Erfahrung.115 Auch

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taet [sic!]«, […] aber Schiller spottete in seiner Antwort darüber, dass die Seele feucht sei. Wiedemann 1992, S. 136. Und ferner urteilt Wenzel »Unbestreitbar ist wohl, daß in Soemmerrings Argumentation gleichermaßen seine Stärken als Anatom wie seine Defizite im theoretischen und wissenschaftlichen Bereich zum Vorschein kommen, so daß man seine Schrift Ueber das Organ der Seele als markantestes Beispiel für seine Art, Wissenschaft zu betreiben, aber auch mißzuverstehen, herausstellen kann.« »Einleitung«, in: Samuel Thomas Soemmerring, Werke. Ueber das Organ der Seele [1796], hg. von Jost Benedum und Werner Friedrich Kümmel, begründet von Gunter Mann, Bd. 9, Basel 1999, S. 11–18, hier S. 14. Siehe Kapitel 2.1. Mann 1999, S. 128. »On voit que les observations précédentes répondent tour à tour à M. Soemmering et au citoyen Sue. Il en résulté qu’un homme guillotiné ne souffre ni dans les membres ni dans la tête; que sa mort est rapide comme le coup qui le frappe et si l’on remarque dans les muscles des bras, des jambes et de la face, certains mouvements ou réguliers ou convulsifs, ils ne prouvent ni douleur ni sensibilité; ils dépendent seulement d’un reste de faculté vitale, que la mort de l’individu, la destruction du moi, n’anéantit pas sur-le-champ dans ces muscles et dans leurs nerfs. Mon amour de la vérité ne me permet cependant pas de dissimuler que nous n’avons, à cet égard, qu’une certitude d’analogie et de rai-

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wenn sich zumindest Aldini später aus vitalistischer Sicht bestätigt sieht,116 spricht sich Cabanis doch in letzter Konsequenz für die Abschaffung der Todesstrafe aus: »Il ne faut tuer personne. Il ne faut pas tuer ceux qui tuent. Il ne faut pas tuer le bourreau! Les lois d’homicide, il faut les tuer!«117 Cabanis findet Soemmerrings Theorie auch dahingehend inkonsequent, dass dieser die leidende Seele lediglich im Kopf lokalisiere.118 Die Wahrheitsfindung oder vielmehr der Disput um das kurzzeitige Fortbestehen des Bewusstseins nach der Enthauptung wird 1803 von Soemmerring in seinen Rezensionen für die Göttingische gelehrte Anzeigen erneut aufgegriffen, nachdem Johann Daniel Metzger in seiner im selben Jahr erschienenen Schrift Über den menschlichen Kopf, in anthropologischer Rücksicht den Thesen Soemmerrings widersprochen hatte.119 Soemmerring bemerkt dazu: »Der Hr. geh. Rath schrieb aufgefordert diese Bogen mehr für Dilettanten, als für Ärzte, welche einsehen, daß nicht alles Wissenswerthe [sic!] in der Natur durch die Chemie erschöpft ist.«120 Und weiter:

sonnement, et non point une certitude d’expérience.« Pierre-Jean-Georges Cabanis, Note sur le supplice de la guillotine (1796). Suivie de l’Histoire d’Helene Gillet de Charles Nodier, Orléans 2007, S. 59–60. (Cabanis 2007) 116 Aldini 1804, S. 248. 117 Cabanis 2007, S. 97. 118 »Il est évident que MM. Oelsner et Soemmering n’ont pas insisté sur cet faits [hier bezieht sich Cabanis vor allem auf Experimente an ›seelenlosen‹ Tieren], parce que, suivant leur manière de voir, l’âme n’existe et ne doit souffrir que dans la tête; et cependant s’il est vrai que les mouvements réguliers prouvent sensation, et les mouvements convulsifs douleur, la sensation et la douleur doivent nécessairement se trouver dans toutes les portions du corps morcelé qui palpitent. A cet égard le citoyen Sue me paraît plus conséquent.« Cabanis 2007, S. 48. 119 Johann Daniel Metzger, Über den menschlichen Kopf, in anthropologischer Rücksicht. Nebst einigen Bemerkungen über Dr. Galls Hirn- und Schädeltheorie, Königsberg 1803. 120 Rezension von Samuel Thomas Soemmerring in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 1803, Bd. III, den 28. Nov. 1803, S. 1909–1911, hier S. 1909. (Soemmerring 1803a)

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»Sodann erörtert er die interessante Frage, ob ein vom Rumpfe getrenntes Haupt Gefühl und Bewußtseyn noch eine Zeit lang behält? Er bestimmt sich für die verneinende Entscheidung (weil Hrn. Wendt’s [sic!] Schrift damals, als er schrieb, noch nicht erschienen war), doch sagt er S. 87: Wenn in einem Fall eine Fortdauer von Leben und Bewußtseyn im Kopfe wenigstens auf einige Secunden [sic!], denkbar ist, so ist es, wenn der Kopf durch einen Schwunghieb tief zwischen den Schultern herausgehoben wird.«121 Johann Wendt veröffentlicht ebenfalls im Jahr 1803 in Breslau zuerst die Schrift Ueber Enthauptung im Allgemeinen und über die Hinrichtung Troer’s insbesondere,122 und anschließend Ueber die wahrscheinliche Fortdauer des Bewusstseyns in einem vom Rumpfe getrennten Kopfe. Eine Apologie der Abhandlung über Enthauptung,123 die Soemmerring gemeinsam mit August Theodor Zadigs Beweis, daß ein vom Rumpfe getrennter Kopf sogleich das Bewußtseyn verliere. Nebst Erklärung der an dem Kopf des enthaupteten Troer wahrgenommen Erscheinungen,124 erschienen ebenfalls in Breslau im selben Jahr, rezensiert. Für die Soemmerring geht es in dieser Debatte um weitaus mehr, als am Anfang der Rezension des Archivs der Staatsarzneikunde zu denselben Positionen von Wendt und Zadig anklingt: »Zwischen zweien Breslauer Aerzten entspann sich unlängst eine litterarische [sic!] Fehde über die Möglichkeit einer Fortdauer des Bewußtseyns in einem vom Rumpfe ge-

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Soemmerring 1803a, S. 1910–1911. Johann Wendt, Ueber Enthauptung im Allgemeinen und über die Hinrichtung Troer’s insbesondere, Breslau 1803. 123 Johann Wendt, Ueber die wahrscheinliche Fortdauer des Bewusstseyns in einem vom Rumpfe getrennten Kopfe. Eine Apologie der Abhandlung über Enthauptung u.s.f., Breslau 1803. 124 August Theodor Zadig, Beweis, daß ein vom Rumpfe getrennter Kopf sogleich das Bewußtseyn verliere. Nebst Erklärung der an dem Kopf des enthaupteten Troer wahrgenommen Erscheinungen, Breslau 1803. Nachdem Abraham Zadig 1802 vom jüdischen Glauben zum Christentum konvertiert ist, ändert er auch seinen Namen in August Theodor Zanth. Soemmerring verwendet die Namensvariante August Theodor Zadig.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

trennten menschlichen Kopfe.«125 Für Soemmerring steht fest, dass die erste Schrift Wendts die wichtigste sei: »Verdienen irgend Schriften, gehörig gewürdigt, und ihr Gegenstand, besonders von unsern [sic!] Criminalisten [sic!], aufs strengste geprüft und beherzigt zu werden, so ist es gewiß hier der Fall.«126 Außerdem lässt Soemmerring ihre Gemeinsamkeit nicht unerwähnt, dass es mancherlei Ursache gebe, die einen »Entdecker« zurückhielten, »[…] sein Gefundenes öffentlich bekannt zu machen, über Todesstrafen, und über den Satz, daß in einem vom lebendigen Menschen plötzlich getrennten Kopfe wohl noch Bewußtseyn eine Zeit lang übrig bleiben könnte.«127 Wendt führt seine Untersuchungen an »Hr. v. Troer« durch, ein Ungar, der seine Gattin aufs »grausamste ermordet« habe.128 Aber er sei auch ein Mörder mit »Seelengröße«,129 der seine Strafe – eine Enthauptung durch das Schwert zwischen dem dritten und vierten Halswirbel – annehme, was ihn für die folgenden Versuche an seinem Kopf umso geeigneter erscheinen lässt: »Hr. Dr. W. faßte das Antlitz des ihm vorgehaltenen Kopfes scharf ins Auge, und entdeckte nicht die geringste Verzerrung; sein Gesicht war ruhig, sein Auge offen und hell, sein Mund geschlossen. (1) Als Hr. W. mit einem Troikart das Rückenmark reizte, zeigte sich im Gesichte der auffallendste Ausdruck von Schmerz, jeder Muskel des Antlitzes zuckte, und die Lippen wurden verzerrt. Als nach wenigen Tertien die Ruhe zurückkehrte, fuhr Hr. W. (2) mit den Fingerspitzen gegen die Augen, und die Augenlieder [sic!] schlossen sich. (3) Man richtete das Antlitz gegen die Sonne, und in dem nämlichen Augenblick schloß der Kopf das Auge, welches gegen die Sonne gerichtet war. (4) Hr. Dr. W. rief

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Archiv der Staatsarzneikunde, hg. von Friedrich Ludwig Augustin, Bd. II, Berlin 1805, Unbekannter Rezensent, S. 127–130, hier S. 127. (Archiv der Staatsarzneikunde 1805) Rezension von Samuel Thomas Soemmerring in: Göttingische gelehrte Anzeigen, 1803, Bd. III, 194. St., den 3. Dec. 1803, S. 1936–1944, hier S. 1937. (Soemmerring 1803b) Soemmerring 1803b, S. 1937. Ebd. Ebd.

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Enthauptung als Paradigma

(nach Verlauf einer Minute und 30 Secunden) mit erhobener Stimme zwey Mahl den Nahmen ›Troer‹ in das Ohr des Kopfes, nach jedem Rufe öffnete der Kopf die Augen, drehte sie sanft nach der Seite, woher der Schall kam, und öffnete dabey einige Mahl den Mund. In dem Mechanismus dieses Öffnens wollten Einige das wirkliche Streben zum Sprechen selbst bemerkt haben. (5) Hr. W. reizte mit dem Troikart das Rückenmark, und die Aeusserungen [sic!] um Antlitz, nämlich krampfhaftes Schließen der Augenlieder [sic!], Zusammenbeissen der Zähne, zuckende Näherung der Backenmuskeln gegen das untere Augenlied [sic!], waren so auffallend, daß mehrere der Umstehenden ausriefen: Dieß [sic!] ist Leben! und Hr. W.: Wenn dieß nicht Leben und Empfindung ist, was soll Leben und Empfindung seyn? Man steckte darauf einen Finger verschiedene Mahl in den Mund, und die Zähne drückten ihn jedes Mahl merklich. Nach 2 Minuten und 40 Secunden [sic!] schloß der Kopf langsam die Augen, erblaßte, und zeigte keine Spur des Lebens mehr.«130 Die Rezension im Archiv der Staatsarzneikunde von 1805 ähnelt den Ausführungen Soemmerrings, allerdings wird hier darauf hingewiesen, dass es sich anhand von Troer um eine »nähere Bestimmung dieser Streitfrage« handele.131 Aber für Soemmerring steht seine Wahrheit

130 Ebd., S. 1938–1939. 131 »Dr. Wendt hatte bei der daselbst stattgefundenen Hinrichtung des Mörders von Troer zur näheren Bestimmung dieser Streitfrage mehrere Beobachtungen an dem vom Rumpf genommen Kopf angestellt und in seiner Schrift (über Enthauptung im Allgemeinen und über die Hinrichtung Troers insbesondere, Ein Beitrag zur Physiologie und Psychologie, Bresl. 1803, S. 8.) bekannt gemacht. Er erzählt darin folgendes: Er faßte das Antlitz des ihm vorgehaltenen abgeschlagenen Kopfes scharf ins Auge und entdeckte nicht die geringste Verzerrung; sein Gesicht war ruhig, sein Auge offen und hell, sein Mund geschlossen. Beim Reizen des Rückenmarks mit einem Troikart zeigte sich im Gesicht der auffallendste Ausdruck von Schmerz, jeder Muskel des Antlitzes zuckte und die Lippen wurden verzerrt. Als nach wenigen Tertien die Ruhe zurückkehrte fuhr er mit den Fingerspitzen gegen die Augen und die Augenlieder schlossen sich. Man richtete das Antlitz gegen die Sonne und in dem nämlichen Augenblick schloß der Kopf das Auge, welches gegen die Sonne gerichtet war. – Dr. W. rief

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

nicht zur Disposition; dies wird in seiner Rezension der Schrift Zadigs deutlich, aus der er folgende Passage zitiert: »Es wäre in der That [sic!] eine der schrecklichsten Todesstrafen, wenn es erwiesen wäre, daß ein solcher Kopf noch Bewußtseyn – [sic!] behielte, und die Erscheinungen an dem Kopfe während der angestellten Versuche waren so frappant, daß es wirklich scheinen mußte, als geschähe alles dieß [sic!] mit Bewußtseyn.«132 Zadig vermutet, da Menschen auch aufgrund krankhafter Ursachen den höchsten Schmerz durch Gebärden ganz unwillkürlich ausdrückten, ohne dabei Schmerz zu empfinden, wie es ihm nach zum Beispiel bei der Fallsucht oder hysterischen Krämpfen der Fall sei, dass »[d]iese Bewegungen […] eben so mechanisch (?) [sic!] [geschehen], wie die lustigen Bewegungen eines künstlichen Gliedermannes, und hören auf, so bald der Künstler seine Hand von der bewegenden Feder entfernt.«133 Soemmerring versieht den Begriff »mechanisch« mit einem eingeklammerten Fragezeichen, da darin die Gegensätzlichkeit seiner Erkenntnisse kulminiert. Ebenfalls in Klammern fügt er hinzu: »Wir gestehen, daß wir hiermit nicht so leicht, als Hr. Z., fertig werden […]. Bey dem Gliedermann lassen sich die Fäden zeigen, welche die Glieder bewegen, aber Hr. Z. zeige auch nur Ein [sic!] Nervenfädchen, welches sich vom Rückenmarke her, ohne Dazwischenkunst [sic!] der in dieser Hinsicht noch ganz unbekannten Structur [sic!] und Wirkungsart des Hirnes, bis in eine Lippe hin erstreckt. Folglich ist dieß

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nach Verlauf einer Minute und 30 Sekunden laut den Namen, Troer, ins Ohr des Kopfes; nach jedem Ruf öffnete der Kopf die Augen, drehte sie sanft nach der Seite, woher der Schall kam und öffnete dabei einige Male den Mund, wobei einige das wirkliche Streben zu Sprechen selbst bemerkt haben wollen. – Dr. W. reizte mit dem Troikart das Rückenmark und alle Bewegungen der Gesichtsmuskeln zeigten Leben. Man steckte einen Finger verschiedne [sic!] Mal [sic!] in den Mund und die Zähne drückten ihn jeden Mal merklich […] langsam die Augen, erblaßte und zeigte keine Spur des Lebens mehr.« Archiv der Staatsarzneikunde 1805, S. 127. Ebd., S. 1939. Ebd., S. 1940.

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[sic!] ein unpassendes Gleichniß, oder ein auf dunkeln [sic!] Begriffen ruhender Machtspruch, aber kein Beweis.«134 An späterer Stelle der Rezension greift Soemmerring eine Unterstellung Zadigs auf, »[…] eine so ungeheure unsinnige Behauptung […],« die dieser ihm scheinbar polemisierend unterstellt, »[…] dass ein ausser Verbindung mit dem Herzen gesetzter Kopf reden würde, wenn man ihm nur eine künstliche Lunge anpassen könnte.«135 Auch Zadig bezieht sich auf die Versuche an dem Enthaupteten von Troer, dessen Reaktionen er insgesamt dem Zufall zuschreibt. Er könne darin keine Kausalität oder gar einen Beweis erkennen, »[…] daß die Erscheinungen eine Folge der Willkür und des Bewußtseyns des Kopfes war.«136 Direkt daran anschließend kommt Soemmerring auf die zweite Schrift von Wendt, die Apologie zu sprechen, worin dieser »drey öffentlich auf ihn geschehene Angriffe«137 als Reaktion auf seine erste Schrift schildert. »Der erste Angriff geschah als Possenreisserei auf der Schaubühne, der zweyte, noch elendere, in der Berliner und Breslauer Zeitung, der dritte von Herrn A. Th. Zadig in eben angezeigter Schrift«, so Soemmerring.138 Soemmerring führt an dieser Stelle ein Schreiben von Ackermann an, »[…] der mehrere Mahle [sic!] Gelegenheit hatte, an so vielen Guillotinierten Beobachtungen und Versuche anzustellen.«139 Soemmerring zitiert Ackermann wie folgt: »Ich muß bemerken, daß es mir sehr wahrscheinlich ist, daß Empfindungen und Bewußtseyn nicht gerade mit der Trennung des Kopfes vom Rumpfe erloschen, sondern nach derselben noch einige Zeit fortdauern, aber nur einige kurze Zeit.«140 Vielleicht war es Soemmerring nicht genug an Zustimmung, dass Ackermann davon spricht, es sei »sehr wahrscheinlich« und »nur einige kurze Zeit«, 134 135 136 137 138 139 140

Ebd., S. 1940. Ebd., S. 1942. Ebd., S. 1941. Ebd., S. 1942. Ebd. Ebd., S. 1943. Ebd.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

dennoch führt er diese Position an, um die eigene zu untermauern.141 Die Versuche in Mainz finden am 21. November 1803 statt, Soemmerrings Rezension erscheint bereits am 3. Dezember desselben Jahres; es ist durchaus möglich, dass sie sich zeitnah darüber ausgetauscht haben. Soemmerrings Rezension endet mit dem Hinweis auf einen Erfolg, den er sich zuschreibt, wobei viel wichtiger ist, in welchem Rahmen er diesen kontextualisiert: »Endlich müssen wir auch noch zur Ehre der Aufklärung in Deutschland bemerken, daß der im Brünner patriotischen Tageblatt im Jahre 1801 abgedruckte Sömmerringsche Aufsatz über Enthauptung die erwünschte Folge hatte, daß man eine Enthauptung, um nicht unnöthig [sic!] grausam zu seyn, nicht Statt [sic!] finden ließ.«142 Was sich aus Soemmerrings Beitrag »zur Ehre der Aufklärung in Deutschland« in medizinhistorischer Hinsicht entwickelt,143 lässt sich anhand des Lemmas »Enthauptung« für das Encyclopädische Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften von 1834 beleuchten. Hierin schreibt Philipp Phöbus, Privatdozent an der Berliner Charité: »Diese, auch in physiologischer und, wie Hinrichtungen überhaupt, in psychologischer Beziehung interessante Operation hat wiederholt zu ärztlichen Untersuchungen und Streitigkeiten Veranlassung gegeben.«144 Für ihn ist es nicht von wesentlicher Bedeutung, was sich nach der Hinrichtung abspielt, sondern an welcher Stelle genau der Schnitt erfolgen soll: »[…] der Streich [muss], wie man sich leicht bei der Bertachtung eines Skelettes oder der 1sten Tafel von Sömmerring’s [sic!] Geruchsorganen überzeugen kann, durch den Raum etwa von der Mitte des 4ten Wirbels bis hin zum 7ten Wirbel einschlieslich gehen; allenfalls darf 141 142 143 144

Ebd. Ebd., S. 1943–1944. Ebd. Philipp Phöbus, »Enthauptung«, in: Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, hg. von d. Professoren d. medicinischen Facultät zu Berlin: D. W. H. Busch, C. F. v. Gräfe und C. W. Hufeland et al., Bd. 11. (Encathisma – Fallkraut.), Berlin 1834, S. 204–222, hier S. 205. (Phöbus 1834)

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er auch noch, bei Personen, die keinen hohen Unterkiefer haben, und wenn es angeht, den Kopf so zu befestigen, das das Kinn von der Brust möglichst entfernt und dadurch eine Verirrung des Streiches in die Weichtheile [sic!] unter dem Kinn (die Wamme) einigermasen verhütet wird, durch den oberen Theil des 4ten Wirbels gehen [sic!]. Das Niveau des Streiches darf also selbst bei langhalsigen Menschen nur die Höhe von kaum 3 Zoll variiren [sic!], und zugleich die Richtung desselben nicht merklich von der gegen den Hals senkrechten abweichen.«145 Geradezu ernüchternd für diese Debatte mutet die rückblickende Aussage des Biografen Soemmerrings, Rudolph Wagner, von 1844 an, der dessen Wirken zwar im »Reich der Wahrheit« situiert, allerdings mit einer aufschlussreichen Ausnahme: »Man wird Sömmering’s [sic!] Ansichten weder vom jetzigen Standpunkte noch von dem der Rechtspflege theilen können. Aber als ein sehr merkwürdiges Document der Zeit schien es mir passend, den Aufsatz [Ueber den Tod durch die Guillotine] im Anhange abdrucken zu lassen.«146 Bereits 49 Jahre nach der Veröffentlichung wird Ueber den Tod durch die Guillotine als »merkwürdiges Document« von Wagner, der selbst Anatom und Physiologe ist, abgetan. Dass Soemmerring, der ein Selbstverständnis als »Entdecker« im Geiste der Aufklärung pflegt, Physis und Metaphysik zusammendenkt, trägt sicher zu seinem Unverständnis bei.147 Aber viel wichtiger erscheint die Tatsache, dass es sich hierbei um einen Gegenstand handelt, von dessen Überdenken man sich gerne wegwende, wie Soemmerring selbst feststellt.148 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass nicht zuletzt weil diese Methode Delinquenten, also eines Verbrechens für schuldig befundene Personen, treffe, der Diskurs um das Exponieren des Zeitraums nach 145 146 147 148

Phöbus 1834, S. 205. Wagner 1986, S. 64–65. Soemmerring 1803b, S. 1937. Soemmerring 1795, S. 255.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

dem Tod durch Hinrichtung in diesem Kontext als nachrangig erscheint. Eine mögliche Ungleichzeitigkeit von Sterben und Tod spielt letztlich für die Opfer der Guillotine und der Physiologie keine bedeutsame Rolle. Denn dem Bestreben, die Leiden bei der Hinrichtung zu verkürzen oder zu vermindern, habe die Einführung der Guillotine ja bereits Rechnung getragen.

2.4 »The other manifestations of life«149 – Paul Loye und Gabriel Beaurieux »It has been shown that after decapitation intellectual death, the loss of consciousness, is immediate and final. […] If the mental functions are abolished, if the return of consciousness is impossible, the other manifestations of life should neither interest nor disturb the criminalist or moralist.« Rezension »Death by Decapitation« von Paul Loye, The American Journal of the Medical Sciences150 Mit diesen Worten fasst ein unbekannter Rezensent des American Journal of the Medical Sciences die 1888 erschienene Publikation La Mort par la Décapitation von Paul Loye im Folgejahr zusammen. Die Untersuchung Loyes ist besonders aus medizinhistorischer und politischer Hinsicht hervorzuheben. Beginnend mit einer historischen Einordnung der Enthauptung, wozu neben der gerichtlichen Hinrichtung, le supplice légal, bei Loye auch der Selbstmord mithilfe einer sorte de guillotine gehört, schließen sich Auswertungen experimenteller Forschung unter anderem an Hunden an. Im dritten und letzten Teil ist der Mensch Untersuchungsgegenstand, der in la tête des décapités und le tronc des décapités aufgeteilt ist. In den eingangs zitierten Zeilen schwingt eine 149 The American Journal of the Medical Sciences, Review »Death by Decapitation« by Paul Loye, Unbekannter Rezensent, in A.M., M.D., new series vol. XCVII, Philadelphia 1889, S. 387–390, hier S. 387. Kursivsetzung der Autorin. (The American Journal of the Medical Sciences 1889) 150 The American Journal of the Medical Sciences 1889, S. 387.

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fragwürdige Ironie mit, denn eben diesen »other manifestations of life«151 gilt das Forschungsinteresse Loyes. Insbesondere an folgender Textstelle des Fazits von La Mort par la Décapitation orientiert sich der Rezensent: »Mais ce qui est regardé comme un inconvénient par les moralistes est considéré comme un avantage par les criminalistes. La séparation de le tête et du tronc […] offre la preuve publique de la mort : elle constitue un signe de première valeur auquel la foule ne se trompe pas, car elle sait bien que les parties séparées ne peuvent se réunir, que la destruction est définitive. [L]a guillotine abolit immédiatement la volonté et l’intelligence. La douleur produite par la section du cou n’a pas le temps d’être perçue. Les seules souffrances physiques imposées au patient résultent de la ligature des membres et de la position du corps sur la bascule : l’humanité ne peut guère exiger mois. La véritable douleur, c’est l’angoisse morale, c’est la frayeur de la mort, et aucun supplice n’est capable de la supprimer puisque la loi ne permet pas de frapper le condamné sans que celui-ci soit prévenu.«152 Loye ist der Meinung, dass das, was von den Moralisten als Nachteil angesehen werde, wiederum einen Vorteil aus Sicht der Kriminalisten darstelle, denn letztere teilen die Meinung, dass die Abtrennung des Kopfes vom Rumpf den öffentlichen Beweis für den Tod liefere, und dass die Enthauptung ein Zeichen von grundsätzlichem Wert konstituiere. Von diesem Zeichen würden sich selbst die Massen nicht täuschen lassen, da sie sehr wohl wüssten, dass die separierten Körperteile nicht wieder zusammengefügt werden können und diese Form der Zerstörung endgültig sei. Die Betonung der Irreversibilität und die daraus resultierende Zeichenhaftigkeit des Hinrichtungsaktes sind nicht nur in Loyes Abhandlung entscheidende Argumente für die Enthauptung als Methode, sondern sie stellen auch seit der Einführung der Guillotine und seit dem re151 152

Ebd. Paul Loye, La Mort par la Décapitation, Paris 1888, S. 280. (Loye 1888)

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

volutionären Akt der Enthauptung Louis Capets nicht zu entkräftende Tatsachen dar.153 Loyes Darlegung bedeutet gewissermaßen, dass sich der politische Körper des Königs auf das Volk übertragen hat und nun die menschlichen und physiologischen Körper dessen Bedeutungsebene repräsentieren.154 Hinzu kommt, dass die Guillotine den Willen und den Verstand abschaffe. Der Schmerz, der durch das Durschneiden des Halses entstehe, überdauere eine zu kurze Zeitspanne, um signifikant wahrgenommen werden zu können. Die einzigen körperlichen Leiden des »Patienten« resultierten aus dem Eingebundensein der Gliedmaßen in die bascule.155 Der wahre Schmerz sei die moralische Angst, der Schrecken des Todes. Keine Hinrichtungsart sei imstande, diese Angst zu nehmen, weil das Gesetz nicht zulasse, dass den Verurteilten sein Schicksal ohne Vorwarnung ereile.156 Soemmerrings Position, dass der abgetrennte Kopf für einen kurzen, aber durchaus bedeutenden Zeitraum noch bei Bewusstsein sei, die »wahre Personalität« noch eine Zeitlang im Körper des Delinquenten lebendig bleibe und demgemäß auch das Schmerzempfinden andauere,157 war Loye bekannt; er äußert sich dazu unmittelbar: »Sœmmering [sic!] n’a rien vu de ses propres yeux : il rapporte et il amplifie les histoires qu’on lui a contées. Il n’en est pas moins convaincu de l’existence de certains mouvements volontaires dans la tête décollée et il considère ces mouvements, qu’il n’a point observés lui-même, comme une dernière plainte et comme une suprême protestation.«158

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Dieser Aspekt wird auf der Bildebene insbesondere in Abb. 3 u. 4 deutlich, siehe Kapitel 1.1.2. Vgl. Ludmilla Jordanova, »Medical Meditations: Mind, Body and the Guillotine«, in: History Workshop, No. 28, Autumn 1989, S. 39–52, hier S. 43. (Jordanova 1989) Loye 1888, S. 280. Ebd. Soemmerring 1795, S. 257. Ebd., S. 143.

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Dass Soemmerring die Enthauptungen, die seinem Urteil zu Grunde liegen, nicht mit eigenen Augen gesehen habe, lässt ihn aus Loyes Sicht nicht nur unglaubwürdig erscheinen. Er findet es geradezu anmaßend, dass Soemmerring »bestimmte, aus sich heraus entstehende Bewegungen« von abgetrennten Köpfen in der Art anführe, als würde er eine »letzte Klage« und einen »höchsten Einspruch« inszenieren.159 Er verzerre und übertreibe die ihm erzählten Geschichten und baue darauf seine Überzeugungen auf. Loye spottet: »C’est en Allemagne qu’il faut chercher des renseignements plus précis.«160 Da er von Soemmerring auf die wissenschaftliche Praxis in Deutschland schließt, kann hier nicht unbemerkt bleiben, dass zwischen den beiden Erscheinungsjahren – Ueber den Tod durch die Guillotine von 1795 und La Mort par la Décapitation von 1888 – genau 93 Jahre vergangen sind.161 Gleichzeitig ist es für Loye überaus wichtig zu betonen, dass Soemmerring nicht Zeuge der Hinrichtungen war, über die er schreibt, womit er in einem übergeordneten Sinne Soemmerrings moralische Kritik an diesem historischen ›Detail‹ der Revolution ablehnt. Wenn Soemmerring seine Schrift als Beitrag »zur Ehre der Aufklärung in Deutschland« versteht, schwingt in seiner patriotischen Sicht auch der anklagende Fingerzeig in Richtung Frankreich mit.162 Dies lässt sich konkret an dem Impetus festmachen, dass seine Schrift den stellvertretenden Gesetzgebern Frankreichs vorzulegen sei, und dass bei »grausamen Menschen eine schädliche Wirkung« durch das Wissen um die Qual der Delinquenten entstehen könne.163 159 Ebd. 160 Ebd., S. 146. 161 Victor Hugo bezeichnet das Jahr 93, den Beginn der Grande Terreur im Jahre 1793, als »furchtbare Minute«, aber auch als »Sieg Frankreichs über Europa«. Hugo 1973, S. 93. Siehe dazu auch Kapitel 1.2. dieser Arbeit. Die Symbolkraft dieser Zahl ist im vorliegenden Kontext nicht zu vernachlässigen. Möglicherweise offenbart sich bei Loye im historischen Rückblick eine Form von Nationalstolz, die mit der Verklärung der revolutionären Ereignisse oder zumindest den massenhaften Enthauptungen einhergeht. 162 Soemmerring 1803b, Bd. II, Brief vom 3.12.1803, S. 1943. 163 Soemmerring 1795, S. 255–256.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

Gerade der hoch gegriffene Anspruch, im Dienst der Wahrheit und der Aufklärung zu agieren, lässt Soemmerrings Intervention jedoch eher zu einer brisanten Randnotiz der deutsch-französischen Geschichte werden. Darüber hinaus scheint es so, als wolle Loye mit seinem eigenen Titel denjenigen Soemmerrings überschreiben: Der Tod durch die Guillotine wird zum Tod durch die Enthauptung. Das gleichermaßen unliebsame wie überdeterminierte Hinrichtungsinstrument wird mit der Bezeichnung der erzeugten Todesart auf der Zeichenebene absentiert. Des Weiteren ist eine Haltung bei Wagner exemplarisch, die es dem Anliegen Soemmerrings auch im Hinblick auf die Untersuchung Loyes schwer zu machen scheint. So störe es ihn, dass: »[…] neben dem Ernste der Betrachtung und den Abscheu vor den blutigen Thaten [sic!] jener Zeit, das seltsame Gemisch von Gefühlen für Humanität gegen Verbrecher und für Lebensstrafen überhaupt wahrzunehmen [ist]. Beide [Oelsner und Soemmerring] giengen [sic!] von der Ansicht aus, den Verbrecher nicht blos [sic!] auf eine möglichst schmerzlose, sondern selbst auf eine mit angenehmen Gefühlen verknüpfte Weise aus der Welt zu schaffen.«164 Bereits der Verweis auf Humanität gereicht hier zum Vorwurf, hinzu kommt die Überspitzung, dass es um »angenehme Gefühle« im Zuge der Hinrichtung gehe; die Todesstrafe anzuzweifeln, liege ihm fern.165 Außerdem reduziert Wagner die Bedeutung der Position Soemmerrings und Oelsners dahingehend, dass er als Anstoß ihrer Beweislage das Erröten des »schönen« Hauptes von Charlotte Corday nach erfolgtem Backenstreich des »rohen« Henkers darstellt, was »jedermann« gesehen habe.166 Auch an dieser Stelle verursacht der Fokus auf den Zeitraum nach dem Tode derart großes Unbehagen, dass hier sogar von einer politischen Entmaterialisierung des Körpers gesprochen werden kann, des164 Wagner 1986, S. 64. 165 Ebd. 166 Ebd.

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sen moralische Priorität nicht über die Tatsache des sicheren Ablebens des Delinquenten hinausgeht und etwaige Umstände zu vernachlässigen imstande ist. Um das moralische Unbehagen zu bannen, begegnet der Rezensent von Loyes Schrift diesem mit rhetorischer Strategie: »Though the subject suggests the sensational, […] the results obtained […] will help to relieve society of unnecessary disquietude, and enlighten popular opinion upon a subject concerning which there has been more or less information.«167 Es gehe also darum, die Gesellschaft von »unnötiger Unruhe zu befreien« und der Sensation, oder vielmehr der Sensationslust, den Begriff und die Tradition der Aufklärung gegenüber zu stellen.168 Wagner hingegen scheint es schlicht abzulehnen, dem Verbrecher gegenüber sogar ein geringes Maß an Humanität walten zu lassen, was im Umkehrschluss verdeutlicht, dass seiner Meinung nach eine möglichst schmerzlose Art der Hinrichtung bereits ein menschliches Zugeständnis sei.169 Das »aus der Welt zu schaffen« solle sich nicht mit »angenehmen Gefühlen« in Verbindung bringen lassen.170 Der Möglichkeit, dass der Verbrecher während der Hinrichtung und auch kurz danach noch leiden oder gar über Bewusstsein verfügen könne, wird keine relevante Bedeutung beigemessen, denn entscheidend sei letztlich der Tod. Diesbezüglich spricht der Rezensent sogar davon, dass die Arbeit Loyes die Gesellschaft von unnötiger Unruhe befreie und die vorherrschende Meinung ›aufkläre‹. »There can be no doubt that the punishment [decapitation] is painless.«171 Diesen Satz schließt er direkt an die Zeilen des Eingangszitats an, was im vorliegenden Kontext verdeutlicht: Der Zweifel dürfe bei dieser Frage keine Rolle spielen, er sei schlicht zu vernachlässigen. Tatsächlich versteht Loye, was diesen Zweifel auslöst, weshalb er gleich zu Beginn seiner Abhandlung der Frage nachgeht, ob die Barbarei

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The American Journal of the Medical Sciences 1889, S. 390. Ebd. Wagner 1986, S. 64. Ebd. Ebd., S. 387.

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des Guillotinierens nicht als massenhaftes Verbrechen zu bewerten sei. Zur Beantwortung dieser Frage führt er interessanterweise genau die Phänomene und Reaktionen an abgetrennten Köpfen an, die als Anzeichen für ein noch vorhandenes Bewusstsein oder von Lebensenergie dienen: »Chaque fois qu’une tête est tombée sous le glaive ou sous la hache d’un bourreau, l’imagination des spectateurs a cherché, dans les changements de la physionomie du décapité, des preuves de la persistance de la conscience et de la volonté. Les yeux se tournant, c’est pour témoigner de la douleur; les lèvres remuent, c’est pour parler; la bouche; s’entr’ouvre [sic!], c’est pour mordre par une sorte de rage. Il n’est pas une modification du visage qui n’ai été interprétée comme une marque de la conservation du sentiment.«172 Jedes Mal, wenn ein Kopf durch das Schwert oder die Axt eines Scharfrichters herabgefallen sei, habe die Phantasie der Zuschauer in den Veränderungen der Physiognomie des Enthaupteten Beweise für das andauernde Bewusstsein und den Willen gesucht: »Die Augen verdrehen sich, um vom Schmerz zeugen; die Lippen regen sich, um zu sprechen, der Mund öffnet sich, um wie mit einer Art Wut zu beißen.«173 Es sei auf die Imagination der Zuschauer zurückzuführen, dass den physiognomischen Veränderungen derartige Beachtung wiederfahre, es gäbe keine Modifikation des Gesichtes, die nicht als Gefühlsäußerung gedeutet worden wäre. Ihre Bewertung entscheide letztlich über die Frage, ob diese Praxis barbarisch sei. Loye vertritt die Auffassung, dass die Enthauptung diejenige Todesstrafe sei, bei welcher der Delinquent den schnellstmöglichen und am wenigsten schmerzhaften Tod erfahre – im Vergleich beispielsweise zum Rädern, Hängen, Ertränken oder zur Strangulierung. Dieser Sichtweise folgt auch der britische Rezensent der bereits 1885 gemeinsam von Loye und Paul-Marie-Léon Regnard veröffentlichten Expériences sur un supplicié mit der Anmerkung:

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Loye 1888, S. 11. Ebd.

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»These researchers show that not a trace of consciousness remains two seconds after beheading. […] Anglo-Saxon sentiment is against the headsman, but surely a contrivance for a ›mort calme et sans agonie‹ might be devised, to replace the ill-favoured gallows.«174 Hier sei an die Überzeugung Soemmerings erinnert, der das Erhängen hingegen als »sanftes Einschlafen« bezeichnet.175 Die Enthauptung habe die Dauer der Leiden signifikant reduziert, weshalb sie einst dem Adel vorbehalten war, so Loyes Ausführung, die argumentativ an die Ideologie anknüpft, die bereits die Einführung der Guillotine begleitet.176 Er habe seine Untersuchungen nur an Enthaupteten durchgeführt, denen der Hals komplett und mit einem schnellen Schlag durchtrennt wurde, was er in seiner Schilderung als klinisches Procedere darstellt. Um seine Arbeit zu nobilitieren, erwähnt er ferner, dass es nicht an »Anekdoten« zu diesem Thema mangele.177 Er greift hingegen nicht bloß die historische Bedeutung sowie die verschiedenartigen wissenschaftlichen und politischen Positionen diesbezüglich auf, er legt vor allem seine Ergebnisse aus medizinischen Experimenten dar, um der Mythifizierung des Todes durch die Guillotine etwas Empirisches entgegenzusetzen und gleichzeitig die Vorzüge der korrekt ausgeführten Hinrichtungspraxis zu betonen. Darin liege nach Loyes Meinung die Besonderheit gegenüber der von ihm angeführten Schrift Anecdotes sur

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The British Medical Journal, Unbekannter Rezensent über »Expériences sur un supplicié« von Paul Loye und Paul-Marie-Léon Regnard, Vol. 2, No. 1386 (Jul. 23, 1887), S. 195–196. Soemmerring 1795, S. 264. Ebd., S. 12. »Aussi, bien que, de tout temps, le supplice de la décollation ait été regardé comme le plus sûr, le plus rapide et le moins douloureux, il ne passait pas pour amener instantanément la mort. Mais, à le comparer à la roue, au bûcher, à la pendaison, à l’écartèlement, à la noyade, à la strangulation, à la fusillade etc., il paraissait avoir le grand avantage de diminuer notablement la longueur de la souffrance. Aussi était-il réservé au noble, tandis que la potence était la supplice du vilain.« Ebd., S. 2.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

les décapités von Hemey d’Auberive aus dem Jahr 1797.178 Hierbei handelt es sich um einen Brief an »M. B…n. Membre de l’Institut national, et du Conseil de santé«, worin gleich eingangs die bedeutende Frage gestellt wird: »Les décapités conservent-ils encore, et peuvent-ils conserver quelques restes d’idées et de sentiments?«, um diese dann anhand von Anekdoten der Weltliteratur und -geschichte in geschmückter Rede mit zahlreichen und ausführlichen Fußnoten zu ›illustrieren‹.179 Die geschilderten Szenarien waren jedoch nie möglich zu beobachten, bevor die Guillotine derart intensiv gebraucht wurde wie zur Zeit des Terrors während der Französischen Revolution.180 Jedoch hat auch Auberive eine klare Haltung zu der von ihm gestellten Frage: »Je conçois fort bien que les mouvemens [sic!] (*) anastatiques observés dans quelques-uns, après le coup destructeur de l’organisation, ne prouvent point qu’il survive aucun sentiment moral : mais aussi, qui oseroit [sic!] prononcer, que ce sentiment est absolument anéanti? […] Qui oseroit prononcer, que ces mouvements sont purement automates, et nullement spontanés?«181 Er benennt die Regungen abgetrennter Köpfe als »anastatische Bewegungen«.182 Ein Begriff, der auf den griechischen Terminus ἀνάστασις zurückgeht und Wiedererweckung oder Wiederauferstehung bedeutet, wie er in der dazugehörigen Fußnote erklärt. Außerdem bezeichnet die Anastasis das Hinabsteigen Christi in das Reich des Todes, das

Hemey d’Auberive, Anecdotes sur les décapités, Paris 1797. Beginnend mit einem »Lettre A M. B…n. Membre de l’Institut national, et du Conseil de santé« und an späterer Stelle gezeichnet: »Paris, 25 brumaire [sic!]. AUBERIVE.« Der Text umfasst 19 Seiten, dazu kommen weitere 10 Seiten für die Fußnoten. (Auberive 1797) 179 Auberive 1797, S. 18. 180 Vgl. Grégoire Chamayou, »La querelle des têtes tranchées : Les médecins, la guillotine et l’anatomie de la conscience au lendemain de la Terreur«, in: Revue d’histoire des sciences, 2008/2, Vol. 61, S. 333–365, hier S. 358. (Chamayou 2008) 181 Auberive 1797, S. 17. In der Fußnote dazu steht: »(*) Ce mot exprime et signifie l’action de se relever.« Kursivsetzung im Original. 182 Ebd.

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Aufbrechen der Hölle, das Überwinden des Todes sowie letztlich die Auferstehung. Auberive verstehe sehr gut, dass diese Regungen nach dem zerstörerischen Schlag der Enthauptung zwar nicht das Überleben des Seelengefühls, des sentiment moral, beweisen. Dennoch frage er, »wer sich zu behaupten anmaßen könne, dass dieses Gefühl absolut vernichtet sei? […] Und wer würde es ferner wagen zu sagen, dass diese Bewegungen rein automatisch geschehen und nicht doch aus innerem Antrieb?«183 In diesem Sinne ist auch sein Standpunkt zur Guillotine, die er nicht beim Namen nennen möchte, deutlich: »Puisse-t-il cet odieux instrument, avec son horrible appareil, et le nom de monstres qui l’employèrent, être à jamais enseveli dans les abîmes de l’oubli.«184 Aber seine Darlegungen sind für Loye nicht von weiterführendendem Interesse, zumindest geht er nicht näher darauf ein. Der Frage La tête d’un décollé conserve-t-elle, plusieurs instants après sa séparation du tronc, la faculté de sentir? – Question métaphysico-physique geht die gleichlautende Dissertation von Pierre Gautier nach, die Loye ebenfalls erwähnt.185 Sie erscheint bereits 1767 in Paris, – 25 Jahre bevor die Guillotine 1792 in Betrieb genommen wird. Auch wenn diese Publikation nicht vorliegt, so wird immerhin auf sie verwiesen und bei Loye aus dem Schlusswort Gautiers zitiert: »Il me restera toujours la satisfaction de me voir, sinon approuvé, au moins loué d’avoir piqué la curiosité de ceux qui 183 Ebd. 184 Ebd., S. 18. 185 Pierre Gautier, La tête d’un décollé conserve-t-elle, plusieurs instants après sa séparation du tronc, la faculté de sentir? – Question métaphysico-physique, Paris 1767. (Gautier 1767); Diese Quelle war bisher nicht auffindbar. Erwähnt wird die Dissertation unter anderem bei: Loye 1888, S. 12 und Kershaw 1958, S. 80; Chamayou verweist diesbezüglich in der Fußnote 81 auch auf Kershaw 1958: Chamayou 2008, S. 358. Kershaw schreibt dazu: »Even before the guillotine itself went into action, a thoughtful medical man had considered the merits and demerits of head-chopping and had finally expressed his belief that, the severed head still retains the faculty of feeling and thinking during several seconds’.« Kershaw 1958, S. 80. Allerdings erwähnt Kershaw auch nicht mehr zu dieser Quelle als ihren Titel. Gautier wird außerdem wie folgt zitiert: »Je crois qu’une tête décollée conserve encore pendant plusieurs instants la faculté de sentir et penser.« Siehe: Achille Chéreau, Guillotin et la guillotine, Paris 1870, S. 48.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

sont plus en état de découvrir le vrai: et ce n’est pas peu pour un jeune homme.«186 Auch Gautier geht es darum, das Wahre bei der von ihm untersuchten Form der Enthauptungsart, den coup de damas, in Anspielung an den Damaszenerstahl der Schwertklinge, aufzudecken.187 Dieser beende die Körperfunktionen, la régularité de l’organisation, jedoch nicht sofort.188 »[L]a section des nerfs ne prive de sentiment et de mouvement que les parties inférieures à l’amputation qui intercepte là le cours de l’esprit animal, mais qu’ils le charrient comme avant l’opération dans celles qui sont supérieures au col où elle se pratique; ce qui ne change en rien l’ordre des choses, et ne détruit en conséquence ni la sensation, ni la pensée.«189 Mit dem cartesianischen Begriff der Lebensgeister gesprochen, geht Gautier davon aus, dass diese im Kopf nach der Enthauptung enthalten bleiben, sich ferner die Ordnung der Dinge nicht ändere und weder Empfindung noch Denken zerstört seien.190 Für Loye zählt allerdings, dass dieser Zustand zu der Zeit vor der Guillotine, wo Gautier sich damit auseinandersetzte, nicht viele Menschen betraf und weist darauf hin, dass die Enthauptung zu dieser Zeit eher selten und beschränkt auf den Adel durchgeführt wurde, außerdem trugen eher zahlreiche Legenden über bestimmte Hingerichtete der Meinungsbildung bei. Wann immer der Henker durch eine Axt oder ein Schwert mit mehr oder weniger Geschick den Kopf eines Gentlemans abtrenne, würde dieser Kopf

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Loye 1888, S. 12. Kursivsetzung der Autorin. Ebd. Ebd. Gautier 1767, S. 11. Zit. nach Anne Carol, Physiologie de la veuve. Une histoire médicale de la guillotine, Seyssel 2012, S. 26. (Carole 2012); Carol erwähnt, dass die Abhandlung des jungen Studenten der Chirurgie an der Pariser Charité lediglich 15 Seiten umfasse und dass er sich eher mit älteren Autoren auseinandersetze. S. 25. 190 Gautier 1767, S. 11.

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einen schmerzlichen Ausdruck zeigen, so Loyes verallgemeinernder Kommentar.191 Im Gegenteil dazu hebt er eine Publikation besonders hervor, die 1870 erschienene Note historique et physiologique sur le supplice de la guillotine von George Octave Dujardin-Beaumetz und Evrard.192 Die Gewissenhaftigkeit dieser Untersuchung beeindruckt Loye: »Dujardin-Beaumetz et Evrard déterminent scrupuleusement la part de Guillotin et celle de Louis dans l’invention de la guillotine; ils examinent la valeur des preuves invoquées pour établir la survie de la conscience chez les décapités et ils concluent, d’après leur observation personnelle et d’après le témoignage de deux exécuteurs, à l’instantanéité de la mort intellectuelle.«193 Für Dujardin-Beaumetz und Evrard bestätigt sich die 1789 konkret gewordene Idee von der Unmittelbarkeit des Todes durch die mechanische Enthauptung, denn sie glauben am 21. Januar 1870 den physiologischen Beweis erbracht zu haben, dass der Enthauptete nicht einen Moment lang das Gefühl seiner Existenz bewahren könne, so Loye. Die herabfallende Guillotinenklinge bezeichnen sie als Stahlhauch, als souffle d’acier, der sich zwischen Herz und Hirn ereigne und augenblicklich die Intelligenz und den körperlichen Schmerz zunichtemache, wenn der Kopf des Hingerichteten auf das Schafott falle.194 Und sie fragen: Wer, wenn nicht ein Chirurg, habe die Kompetenz, dieses neue Instrument und die Augenblicklichkeit des Todes zu beurteilen?195 Mit dem folgenden Abschnitt endet der überlieferte Text: »Si c’est une nécessité sociale de faire passer dans la multitude la croyance que le sentiment survit à la décollation; s’il faut, pour se 191 192

Loye 1888, S. 12–13. George Octave Dujardin-Beaumetz et Evrard, Note historique et physiologique sur le supplice de la guillotine, Paris 1870. Diese Quelle ist bis S. 26 erhalten. (Dujardin-Beaumetz/Evrard 1870) 193 Loye 1888, S. 31. 194 Dujardin-Beaumetz/Evrard 1870, S. 12–13. 195 Ebd., S. 11.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

faire mieux comprendre, parler à son esprit par des images, ne voiton pas qu’en ne citant au peuple que ces exemples de haine et de rage, on pervertit son cœur et sa moralité? […] Mais ne laissons pas notre imagination se livrer à ces images, et rassurons notre âme par cette certitude physiologique, que ces intéressantes victimes, que ces hommes puissants par l’intelligence et d’un cœur éprouvé, sont, au moment même où le glaive de la guillotine les a frappés, entrés tout vivants dans la mort.«196 Laut Dujardin-Beaumetz und Evrard müsse berücksichtigt werden, dass, auch wenn aus sozialer Notwendigkeit heraus dem Volk der Glaube an ein Weiterleben des Gefühls vertrieben werden müsse und wenn zum besseren Verständnis davon nur »durch die Bilder« zu sprechen sei, diese Beispiele von Hass und Wut das Herz und die Moral pervertiere. Die Rhetorik dieser Zeilen ist durchaus zwiespältig, denn zuvor wird im Text beispielhaft vorgeführt, was dieses Sprechen durch die Bilder bedeutet, wenn beispielsweise erwähnt wird, wie sich die abgetrennten Köpfe in einem Sack auf dem Schafott ansammeln und darin sogar interagieren.197 »Il se peut que, poussée par d’autres têtes qui se pressaient dans le même sac, la mâchoire de l’une d’elles ait rencontré, dans son mouvement ascensionnel. L’oreille ou les cheveux d’une autre tête, et que la rigidité cadavérique l’art surprise dans cette expressive, mais involontaire situation. Tout cela est horrible et odieux.«198 Es scheint beinahe so, als würden die Autoren selbst der Imagination dieser Bilder »frönen«, während die physiologische Gewissheit die Seele beruhige, dass die Guillotine ihre Opfer im Tode lebendig mache.199 Loye verdeutlicht daher auch in Abgrenzung zu diesem Beispiel, dass er nicht im Sinn habe, einen »Roman« über die Guillotine zu

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Ebd., S. 26. Kursivsetzung der Autorin. Ebd., S. 25–26. Ebd., S. 26. Ebd.

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schreiben.200 Sein Buch sei an diejenigen adressiert, die sich für die großen Probleme von der Beschaffenheit des Lebens und der Ursachen des Todes interessieren, es werde keinen Anklang bei denen finden, die Gefallen am Spektakel der letzten Agonie und an der Erzählung widerwärtiger Vorbereitungen einer Hinrichtung hätten.201 Und er artikuliert seine patriotische Gesinnung: »[…] on cherche uniquement à savoir si les victimes de tribunaux révolutionnaires ont pu souffrir après leur exécution; toute autre question est superflue.«202 Auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts scheint es so, als bestünde die Unfähigkeit, die medizinischen und technischen Argumente, die zur Einführung der Guillotine beigetragen hatten, revidieren zu wollen oder vielmehr zu können. Im Gegenteil, die immer noch als fortschrittlich bewertete Sichtweise, mit der diese Hinrichtungsart befürwortet wird, lässt sich mit den Argumenten einer »modification du visage«,203 von »mouvemens [sic!] (*) anastatiques«204 oder den »other manifestations of life«205 nicht erschüttern. Loye formuliert darüber hinaus eine klare Methodenkritik, denn man müsse sich seiner Meinung nach wohl eingestehen, dass es nicht ausreiche, sich bloß vor das Schafott zu stellen und eine Enthauptung zu beobachten. Ganz in dieser Art hingegen war beispielweise der bereits geschilderte Versuch der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz von 1804 verlaufen, da direkt unter dem Schafott stehend der Frage nachgegangen werden soll, ob noch Bewusstsein und Empfindung in den abgetrennten Köpfen vorhanden sei, indem man diese anredend fragt: »Hörst Du mich?«206 Ähnlich sind auch die Untersuchungsbedingungen von Johann Wendt aus dem Jahr 1803 an dem Enthaupteten Troer, dessen Antlitz er erst gegen die Sonne richtet, woraufhin sich

200 201 202 203 204 205 206

Loye 1888, S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 33. Ebd., S. 11. Ebd. The American Journal of the Medical Sciences 1889, S. 387. Die medizinische Privatgesellschaft zu Mainz 1804, S. XII-XIII und S. 49.

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die Augen schließen. Als er den Namen in das Ohr des Kopfes ruft, öffnet dieser die Augen nach jedem Rufen und dreht sie in die Richtung des Rufenden, wobei er den Mund wie zum Sprechen öffnet.207 Solches Anschauungsmaterial, welches am Fuße der Guillotine zu Stande komme, reiche nach Ansicht Loyes für eine vollständige und genaue Untersuchung der Enthauptung nicht aus: »Cependant, il faut bien l’avouer, ces documents que l’on va chercher au pied de la guillotine ne sauraient suffire pour une étude complète et rigoureuse de la décapitation. On a beau vaincre des répugnances très légitimes (et cela n’est pas aussi facile que quelques personnes se l’imaginent), on ne regarde pas tuer un homme sans éprouver un douloureux serrement qui modifie beaucoup la puissance de l’observation […] L’attention est vivement appelée sur un point et néglige presque complètement les autres : et même, ce n’est pas du premier coup que l’on peut suffisamment maîtriser son émotion pour étudier l’œuvre de la guillotine avec toute la rigueur de la méthode scientifique.«208 Es sei nicht so einfach wie manch einer denke, die sehr berechtigten Abneigungen, die dieses Sujet hervorrufe, geschickt zu überwinden, so Loye. Man schaue nicht zu, wie ein Mann getötet werde, ohne dass man eine schmerzhafte Beklemmung fühlt, welche die Macht der Beobachtung – oder vielmehr des Beobachteten – sehr verändere. Das Augenmerk sei derart stark auf einen Punkt konzentriert, dass man alles andere fast völlig vernachlässigt. Und das sei nicht die erste Gelegenheit, bei der man seine Gefühle ausreichend zu kontrollieren habe, um das Werk der Guillotine mit der vollen Strenge wissenschaftlicher Methodik studieren zu können.209 Auch Aldini formuliert 1804 in seinem Essai théorique et expérimental sur le galvanisme, dass, obwohl er an eine friedfertige Art von Erfahrungen in seinem physikalischen Kabinett gewöhnt sei,

207 Wendt 1803a, S. 1938–1939. 208 Loye 1888, S. 5. 209 Ebd.

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ihn unter anderem seine »Liebe zur Wahrheit« den Widerwillen überwinden lasse, den seine galvanischen Untersuchungen an Enthaupteten auslösen.210 Loyes Methodenkritik kann jedoch nicht verhindern, dass weitere Versuche stattfinden, die aus seiner Sicht für eine wissenschaftliche Studie nicht ausreichend seien. Unter eben diesen Bedingungen erfolgen aber die Beobachtungen, die in einem kurzen Artikel in der Pariser Tageszeitung La Lanterne mit der Überschrift »Les Décapités. Le Dr. Beaurieux et Languille« vom 28. Oktober 1905 aufgeführt sind.211 Dieser Artikel ist am gleichen Tag auch in der Revue médicale erschienen, in La Lanterne trägt er die Schlagzeile: »[…] Intéressantes observations. – La question de la survie. – Le décapité vivant. – Les yeux de Languille […].«212 Darin wird die Guillotinierung von Henri Languille am 8. Juni 1905 in Orléans beleuchtet, dessen Urteil vom Schwurgerichtshof des Départements Loiret durch den Scharfrichter Anatole Deibler vollstreckt wird. Zu Grunde liegt hier ein Bericht von Gabriel Beaurieux, der Oberarzt in Saint-Martin in Rambervillers ist. Beaurieux platzierte sich demnach exakt vor der Guillotine, um unmittelbar beobachten zu können, wie die Klinge herabschnellt und der Kopf zur rechten Seite in den Auffangbehälter, die baignoire, fällt. Kurze Zeit nach der Enthauptung wird er Zeuge, dass sich die Augenlider und Lippen des Guillotinierten etwa fünf

210 Aldini 1804, S. 123. 211 Zu diesem Thema erschienen weitere Artikel, beispielsweise in der Tageszeitung Le Radical vom 30. Juni 1905, vermerkt ist hier auch das Datum nach dem Revolutionskalender, 11 Messidor an 113. Dort steht auf S. 2, dass Henri Languille am 28. April 1905 um 3.23 Uhr am Morgen guillotiniert worden sei, ein Experiment an dessen abgetrennten Kopf wird hier nicht erwähnt, ebenso wie in Gil Blas aus Paris vom 29. Juni 1905. In der Pariser Tageszeitung Le Journal vom 29. Juni 1905 auf S. 2 wird darauf zwar eingegangen, aber die Schilderung ist wenig spektakulär und aus Beaurieux wird hier »Borieu«. Außerdem zu diesem Thema: Alexandre Lacassagne, Peine de mort et criminalité : l’accroissement de la criminalité et l’application de la peine capitale, Paris 1908, S. 168–171. 212 La Lanterne, »Les Décapités. Le Dr. Beaurieux et Languille« vom 2. Oktober 1905, Rückseite des Blattes. (La Lanterne 1905)

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bis sechs Sekunden lang durch unrhythmische Muskelkontraktionen bewegten: »Voici ce qu’il lui fut donné d’observer immédiatement après la décapitation : les paupières et les lèvres du guillotiné s’agitèrent pendant cinq à six secondes environ, dans des contractions irrégulièrement rythmées. Ce phénomène a été constaté par tous ceux qui se sont trouvés dans les mêmes conditions que moi pour observer ce qui passe aussitôt après la section du cou, écrit le docteur Beaurieux.«213 Beaurieux führt die Erfahrungen Deiblers an, denn dieser habe »Phänomene« wie unregelmäßig rhythmische Kontraktionen bereits bei anderen Köpfen beobachtet, die durch die Guillotine von ihren Rümpfen getrennt wurden, und er vermutet, dass die Bewegungen durch die Sektion des Zentralen Nervensystems hervorgerufen werden.214 Aber bei dem konkreten Beispiel geht die Reaktion von Languilles abgetrenntem Kopfe darüber entscheidend hinaus. Nachdem Beaurieux den Toten bei seinem Namen ruft, treffen sich ihre beiden Blicke. Der Mediziner versichert, dass er aus Erfahrung wisse, wie es sich anfühle, wenn ihn äußerst lebendige Augen wie ebendiese anschauten: »Puis les yeux de Languille se fixèrent d’une façon précise sur les miens et les pupilles accommodèrent. Je n’ai donc pas eu affaire à un regard vague et terne, sans expression aucune, comme nous pouvons l’observer tous les jours chez les mourants que nous interpellons; j’ai eu affaire à des yeux bien vivants qui me regardaient.«215 Das Sonderbare an seiner Darlegung ist, dass sich die Reaktionen abspielen, nachdem durch das Verdrehen der Augen ihre Sclerla, die weiße Lederhaut, bereits zu sehen ist, wie es bei Toten oder gerade Verstorbenen vorkommt, so als habe der Mediziner durch das Rufen des Namens den sterbenden Kopf zurück ins Leben geholt. Sogar als er ihn ein zweites Mal ruft, reagiert dieser erneut ruhig, ohne Spasmen, und der leben213 La Lanterne 1905. 214 Ebd. 215 Ebd.

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dige Ausdruck der Augen hat sich im Vergleich zur ersten Reaktion noch intensiviert: »[L]es paupières se soulevèrent et les yeux bien vivants se fixèrent sur les miens avec plus de pénétration peut-être encore que la première fois.«216 Die Schlussfolgerungen Beaurieux’ werden ebenfalls in dem Artikel zitiert: »Je conclus d’une façon formelle que le sens de l’ouïe et celui de la vision persistent manifestement 25 à 30 secondes après la décapitation.«217 Es sei offensichtlich, dass Gehör- und Sehsinn nach der Enthauptung fortbestehen, was nun auf den konkreten Zeitraum von 20 bis 30 Sekunden bemessen und beziffert wird. Diese Erkenntnis ist für ihn unleugbar und er nennt dieses Phänomen den réflexe supérieur – ein Reflex, bei dem das Leben aus sich selbst heraus den Tod überragt.218 Auch dieser Zeitungsartikel leiste einen Beitrag zur Wahrheitsfindung: »Voilà toute la vérité sur les expériences faites sur le guillotiné d’Orléans«, wie es am Schluss vermerkt ist.219 Darüber hinaus ist er durch die nahezu dramaturgische Strukturierung des Berichtes, das dreimalige Rufen des Namens und die Schilderung der Reaktionen, äußerst eingängig. Auch 1932 erscheint die Hinrichtung Languilles noch so populär oder so makaber, dass sie von Emmanuel Car unter dem Titel »La ›survie‹ du guillotiné« in der Zeitschrift Détective. La mort des maudits mitaufgeführt ist.220 Neben weiteren Überlieferungen und Untersuchungen, die darin vorgestellt werden, kommt Car zu dem Schluss: »De tous les modes de supplices : fulguration, fusillement [sic!], strangulation, la guillotine reste le seul à provoquer, sur le champ, la disparition de la vie mentale, et à rendre impossible tout retour à l’activité consciente.«221 Von allen Hinrichtungsarten sei diejenige durch die Guillotine letztlich die einzige, 216 217 218 219 220

221

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Kursivsetzung der Autorin. Emmanuel Car, »La ›survie‹ du guillotiné«, in: Détective. La mort des maudits, 5e Année-No 206, 16 Seiten, Ausgabe vom 6. Oktober 1932, S. 12–13. URL: https://c riminocorpus.org/en/library/doc/1255/ [letzter Zugriff 15.03.2023]. (Car 1932) Car 1932, S. 13. Hervorhebung im Original.

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die das Sterben des geistigen Lebens herbeiführe und jede Rückkehr der Bewusstseinsaktivität unmöglich mache. Die bedeutende Methodenkritik Loyes wird von seinen Rezensenten nicht erwähnt und es entsteht der Eindruck, als sei an der Versuchspraxis keine weitere Kritik geboten, wenn einige Jahre später Beaurieux seine Beobachtungen vornimmt. Die simple Vorgehensweise, unter dem Schafott stehend nach der Enthauptung den Kopf anzusprechen, überzeugt zumindest durch die Augenzeugenschaft. Die Finalität des Todes entkräftet die anderen Manifestationen von Leben oder Lebensäußerungen, von denen das Bewusstsein der Delinquenten eben nicht zurückkehrt, weil der Körper unwiederbringlich zerstört ist. Anastatische Bewegungen oder Gesichtsmodifikationen, deren Bewertung darüber entscheide, ob die Praxis des Guillotinierens barbarisch ist, konstituieren indes ein Zeichen von grundsätzlichem Wert. Die bereits geweckte moralische Angst vor der Todessstrafe bleibt angesichts dessen dennoch bestehen, weil die Guillotine den Willen und den Verstand abschafft – aber zu ebendiesem Zweck wurde die Maschine letztlich erschaffen.

2.5 »Dernières apparitions«222 2.5.1 Antoine Wiertz – Pensées et visions d’une tête coupée »Dans ces dernières apparitions, des personnes voient le châtiment éternel dû au coupable; d’autres, plus humaines, croient apercevoir dans le nuage du centre l’âme du supplicié recevant d’un ange le baiser de paix.« Antoine Wiertz223

222 Antoine Wiertz, Catalogue du Musée Wiertz, précédé d’une notice biographique, Brüssel 1870, S. 47. (Wiertz 1870a) 223 Wiertz 1870a, S. 47–48.

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Abbildung 23

Ein außergewöhnliches Beispiel, das den Zeitraum des fortdauernden Bewusstseins, die Leiden des Guillotinierten sowie den eintretenden Tod in einem Kunstwerk erfahrbar macht, stellt das Triptychon Pensées et visions d’une tête coupée (Abb. 23)224 von Antoine Wiertz dar.225 Die Leinwände der dreiteiligen Bildfolge sind auf einer großen Tafel von einem schlichten, schwarzen Rahmen eingefasst und im Einzelnen von feineren schwarzen Holzleisten abgeteilt. Für seine 1853 fertiggestellte Arbeit verwendet Wiertz die von ihm entwickelte Technik der Peinture mate.226 Der matte Effekt seiner Malerei diene dazu, die Oberfläche des großformatigen und detailreichen Werkes zu beruhigen, im Gegensatz zum Glanz der konventionellen Ölmalerei, die den Betrachter eher daran hindere, die Ganzheit des Werkes zu erfassen und mit diesem in Einklang zu 224 Abb. 23: Antoine Wiertz, Pensées et visions d’une tête coupée, 1853, matte Ölmalerei auf Leinwand, 265 x 170 cm, Triptychon auf einer Tafel, inv. 1925. Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Musée Antoine Wiertz. Foto: J. Geleyns. 225 Auf Wiertz’ Gemälde Une tête coupée von 1855 sei an dieser lediglich Stelle verwiesen, da sein Triptychon für den vorliegenden Kontext von größerer Relevanz ist. Auch Anne Carol erwähnt das Triptychon. Siehe: Carol 2012, S. 133–135. 226 Siehe zur »Peinture mate«: Antoine Wiertz, Catalogue raisonné du Musée Wiertz, précédé d’une biographie du peintre, par le Dr Louis Watteau, Brüssel/Leipzig 1861, S. 137–139. (Wiertz 1861)

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kommen.227 Aus heutiger Sicht gesehen, hat seine Entscheidung jedoch materielle Auswirkungen, die vom Maler nicht beabsichtigt waren und ebenfalls die Erfassung aller Details behindern. Da sich die pigmentierte Oberfläche in einem Prozess des langsamen Abbaus befindet, gestaltet sich die Konservierung und Restaurierung seiner Gemälde schwierig. Betroffen von dieser Zersetzung sind insbesondere die bei Pensées et visions d’une tête coupée in das Bild gesetzten Rahmungen, die jeden der drei Bildteile umfangen, und in die im unteren Bereich in sehr feiner Schrift ein die Szenarien begleitender Text gesetzt ist.228 Von großer Bedeutung für die Interpretation des Werkes ist diese mittlerweile auch im Ausstellungsraum nahezu unlesbare Inschrift, die in der fotografischen Abbildung kaum zu erkennen ist (Abb. 24).229

227 Karine Janssen, »Les peintures mates d’Antoine Wiertz (1806–1865). Étude des altération«, in: CeROArt. Conservation, exposition, restauration d’objets d’art. Revue électronique, 2/2012, URL: https ://journals.openedition.org/ceroart/26 59#entries, abgerufen am 15.03.2023. (Janssen 2012) 228 Zum Zustand von Pensées et visions d’une tête coupée siehe: Janssen 2012, ohne Seitenangabe. 229 Abb. 24: Antoine Wiertz, Detail: Pensées et visions d’une tête coupée, 1853, matte Ölmalerei auf Leinwand, 265 x 170 cm, Triptychon auf einer Tafel, hier: mittlerer Bildteil, inv. 1925. Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Musée Antoine Wiertz. Archiv der Autorin.

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Abbildung 24

Es kann demnach nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass der Text im Triptychon mit dem übereinstimmt, was unter gleichlautendem Titel sowohl in den Katalogen von 1861, 1867 und 1870 des Antoine-Wiertz-Museums als auch in Wiertz’ erstmals 1869 in Brüssel und 1870 in Paris posthum publizierten Œuvres littéraires enthalten ist.230 Als Walter Benjamin mit diesem Werk 1929 in Berührung kommt, urteilt er 230 Im Gegensatz zu den anderen literarischen Fassungen von Pensées et visions d’une tête coupée ist hier der Text unter anderem durch eine Vorrede und einen weiteren Teil ohne Kennzeichnung am Ende ergänzt, worauf noch eingegangen wird: Wiertz 1861, S. 123–136; Musée-Wiertz, Petit Catalogue, Brüssel 1867, S. 47–52.

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zwar über die Kunst von Antoine Wiertz: »Sein Schaffen geht die große Malerei nichts an. Desto mehr aber den Kenner der Kulturkuriosa und den Physiognomen seines Jahrhunderts.«231 Dennoch hebt Benjamin die Bedeutung der ›Beschriftung‹ des Triptychons hervor: »Es ist, wenn man so sagen will, die ›Beschriftung‹ seines großen Triptychons ›Gedanken und Gesichte eines Geköpften‹. Nicht nur die Tendenz, sondern auch die großartige Einkleidung und die kompositorische Kraft seines Berichts scheinen uns seine Förderung aus der Verborgenheit zu rechtfertigen.«232 Obwohl Benjamin in seiner Übersetzung »Antoine Wiertz. Gedanken und Gesichte eines Geköpften« die »großartige Einkleidung« und »kompositorische Kraft« der »Beschriftung« hervorhebt, modifiziert er das Ende.233 Den letzten Absatz, der auch in Wiertz’ Œuvres littéraires enthalten ist, überträgt Benjamin nicht. Ebenso fehlt der bedeutsame, dem Brief an einem Freund entnommene Wunsch Wiertz’, der sowohl im Petit Catalogue von 1867 als auch in dem von Benjamin verwendeten Catalogue du Musée Wiertz von 1870 abgedruckt ist. Wiertz wird daraus wie folgt zitiert: »Peut-être mon tableau servira-t-il un jour d’argument contre la peine de mort, je le souhaite.«234 Auch wenn Benjamin erwähnt, dass der 1865 verstorbene Künstler den Katalog wohl selbst verfasst habe,235 wird in seinem Kommentar nicht angedeutet, dass Wiertz dieses Gemälde als »Argument« gegen die Todesstrafe zu verstehen wünsche.236 Im vorliegenden Kontext ist es deshalb umso wichtiger

231

232 233 234 235 236

(Wiertz 1867); Wiertz 1870a, S. 41–48; Antoine Joseph Wiertz, Œuvres littéraires, Édition réservée à la France, Paris 1870, S. 491–495. (Wiertz 1870b) Walter Benjamin, »Antoine Wiertz. Gedanken und Gesichte eines Geköpften [1929]«, in: Kleine Prosa, Baudelaire-Übertragungen. Gesammelte Schriften, Band IV, 2, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a.M. 1991, S. 805–808, hier S. 805. (Benjamin 1991) Ebd. Ebd. Der Brief ist aus dem Jahr 1853. Wiertz 1867, S. 47; Wiertz 1870a, S. 41. Benjamin 1991, S. 805. Wiertz 1867, S. 47.

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hervorzuheben, dass Wiertz in seiner bildlichen und literarischen Darstellung eine Beweiskraft sieht. In der Version, die im Catalogue raisonné du Musée Wiertz von 1861 zu Wiertz’ Lebzeiten abgedruckt ist, sind zusätzlich erläuternde Passagen sowie eine längere Vorrede zu dem Werk abgedruckt, in der es heißt: »Wiertz appartient à cette philosophie sociale qui considère l’application de la peine de mort comme une vengeance que la société exerce, non comme l’expression de la souveraine justice. Mû par de pareilles pensées, il résolut d’écrire avec son pinceau un formidable plaidoyer contre la peine du mort.«237 Wiertz sei dieser Sozialphilosophie zuzuordnen, die die Anwendung der Todesstrafe als Rache der Gesellschaft betrachte und nicht als den Ausdruck der unabhängigen Justiz. Von derartigen Gedanken getrieben, habe er beschlossen, mit seinem Pinsel ein großartiges Plädoyer gegen die Todesstrafe zu verfassen.238 Im Folgenden werden die drei Bildteile mitsamt den literarischen Ausführungen und der Übertragung Benjamins für eine Interpretation von Pensées et visions d’une tête coupée verwendet. Punktuell wird hierfür auf die Version aus dem Katalog von 1861 zurückgegriffen, aber als Grundlage dient die Fassung im Catalogue du Musée Wiertz von 1870, weil Benjamin diese Ausgabe verwendet und hier explizit darauf hingewiesen wird, dass dies der als »Legende« bezeichnete Text sei, den Wiertz auf sein Kunstwerk geschrieben habe.239 Benjamin ordnet die längere Anfangspassage der ersten der drei Minuten der Einleitung »Triptychon: Erste Minute, zweite Minute, dritte Minute« zu.240 Bei Wiertz hingegen ist »Tryptique: première minute. – Deuxième minute. – Troisième minute.« der Untertitel des Kunstwerks.241 Von Wiertz wird als »artiste« gesprochen, bevor der

237 238 239 240 241

Wiertz 1861, S. 125. Ebd. Wiertz 1870a, S. 41. Ebd. Ebd.

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eigentliche Bericht in wörtlicher Rede und mit ihm das Bildgeschehen einsetzt. Seine Zeugenschaft ist somit grundlegender Teil der Handlung und Triebfeder für das Wirken als bildnerisches Medium. Sein Vorhaben wird wie folgt begründet: Da erst kürzlich Enthauptungen stattgefunden haben, komme Wiertz auf den Gedanken, der Frage nachzugehen, ob der vom Rumpf abgetrennte Kopf noch einige Zeit die Fähigkeit behalte zu denken?242 Seine Beobachtungen mache er dem Bericht zufolge in Gesellschaft zweier Herren, einer davon sei Herr D., ein »sachverständiger Magnetopath«.243 Wirtz schreibt an dieser Stelle: »[J]e fus introduit sous l’échafaud, là je priai M. D. d’employer les moyens nouveaux qu’il croyait propres à me mettre en rapport avec la tête coupée, M. D. y consentit. Il fit quelques préparations et nous attendîmes, non sans émotion, la chute d’une tête humaine.«244 Mithilfe »neuer Mittel« solle die Verbindung zwischen dem Künstler und dem abgetrennten Kopf durch den anonymisierten Magnetopathen hergestellt werden. Im Magnetismus, dessen Theorie auf Franz Anton Mesmer zurückgeht, wird vom »Äther« oder einer »ätherischen Substanz« des Körpers ausgegangen, die in den Nerven des Menschen zirkuliere und als Vermittler oder Verbindung des Willens und der Empfindungen zwischen Körper und Geist fungiere.245 Ein Magnetopath, der vitalen Magnetismus praktiziere, könne auf die »Lebenskraft« eines anderen

242 Ebd., bei Wiertz 1870a gehört dieser Textteil zu dem Abschnitt »Première minute. – Sur l’échafaud.« 243 Ebd.; Benjamin 1991, S. 806. 244 Wiertz 1870a, S. 41. 245 Ferenc Szápáry, Magnétisme et Magnétothérapie, Paris 1853, S. 38. (Szápáry 1853) Szápáry hebt die Bedeutung des Magnetismus hervor und kontextualisiert sie wie folgt: »Il n’est personne aujourd’hui qui ayant quelque prétention aux connaissances scientifiques et psychologiques, oserait combattre impunément les phénomènes du magnétisme et du somnambulisme, car ces sciences, quelque ignorées qu’elles puissent être par les masses, ne sont pas moins connus des naturalistes que ne l’est l’existence de l’électricité, du galvanisme et du magnétisme minéral.« Szápáry 1853, S. 21.

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Menschen einwirken und ihn magnetisieren.246 In Paris erscheint 1853 die Schrift Magnétisme et Magnétothérapie von Ferenc Szápáry. Daraus ist folgende Passage über den Magnetopathen aufschlussreich: »Le magnétiseur trouve sa force dans la pensée du travail de la nature active concourant toujours à la conservation des êtres. Cette pieuse contemplation du magnétiseur produit l’effet de son regard pénétrant qui agit sur l’esprit et sur l’activité de l’âme du malade. – Quiconque pense ainsi est magnétiseur.«247 In der Lehre vom Magnetismus wird davon ausgegangen, dass der Mensch sich gewissermaßen »durch die Natur« im Schlafe auflade und die magnetische Energie mit Beginn des Erwachens verbrauche.248 In einem toten Menschen existiere kein Magnetismus mehr.249 Auch wenn Wiertz nicht näher auf diese Theorie eingeht, ist sie dennoch für den vorliegenden Kontext relevant, da sie seine spezifische Form der ›Einfühlung‹ oder vielmehr die Identifikation mit dem Hingerichteten und dessen Empfindungen sowie sein mediales Wirken nachvollziehbar werden lässt. In der Vorrede zu Pensées et visions d’une tête coupée im Katalog von 1861 ist der Moment dieser Identifikation von einer »[…] wahnsinnigen Erregung getragen, die der Genius des Menschen über die Grenzen der Möglichkeiten hinaus ausstrahle, die Gedanken von Wiertz leben in dem Kopf den Hingerichteten für drei Minuten, drei Ewigkeiten.«250 In der Einleitung bei Benjamin und im Katalog von 1870 heißt es weiter, dass die herabschnellende Guillotinenklinge, »l’horrible couperet«, das ganze Gerüst erschüttere. Als im nächsten Moment der Kopf in den roten Sack fällt, hätte Wiertz sein Vorhaben gerne aufgegeben, hielte ihn nicht der magnetische Einfluss von Herrn D. gebannt.251 Als nun der Ma-

246 247 248 249 250 251

Ebd., S. 38. Ebd., S. 42–43. Kursivsetzung im Original. Ebd., S. 42. Ebd. Wiertz 1861, S. 125. Benjamin 1991, S. 806; Wiertz 1870a, S. 41–42.

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gnetopath den zuckenden Kopf fragt: »Was fühlen Sie? Was sehen Sie?«, überkomme es den Künstler, für diesen zu antworten: »Entsetzlich! Der Kopf denkt!«252 Aber nicht nur das, er fühle sich mit dem Kopf »gewissermaßen identisch.«253 »Der Kopf des Hingerichteten sah, dachte und litt. Und ich sah, was er sah, verstand, was er dachte und fühlte, was er litt. Wie lange hat es gedauert? Drei Minuten, wie man mir sagte. Der Hingerichtete hat glauben müssen: drei Jahrhunderte«254 »Première minute. – Sur l’échafaud:«255 Der linke Bildteil (Abb. 25)256 zeigt in einer steilen Perspektive, die links über dem Schafott angelegt ist, den Moment nachdem die Guillotinenklinge den Kopf vom Rumpf getrennt hat. Die Blickanordnung ist zur Mitte hin fokussiert, wo der enthauptete Körper mit der Schnittstelle vornüber geneigt und mit gefesselten Händen auf der bascule liegt. Weil sich der Riemen zum Fixieren des Körpers geöffnet hat, droht dieser jeden Moment aus der Vorrichtung zu rutschen. Die Rezipient*innen werden jedoch von einer Personengruppe, die am Fuße des Schafotts links vor der Guillotine steht, auf Distanz gehalten. Von den drei zusammengedrängten Frauen in Hinteransicht weist eine mit dem linken Zeigefinger auf die Schnittstelle des guillotinierten Körpers, der von einer aus dem oberen Bildraum auf ihn hinab drängenden, strudelartig angeordneten Menge nahezu erdrückt wird.

252 Benjamin 1991, S. 806; Wiertz 1870a, S. 42. 253 Benjamin 1991, S. 807; Wiertz 1870a, S. 42. 254 Benjamin 1991, S. 806; Bei Wiertz ist der Wortlaut: »La tête donc du supplicié voyait, pensait, souffrait. Et moi, je voyais ce qu’elle voyait, comprenais ce qu’elle pensait, appréciais ce qu’elle souffrait. Combien de temps cela dura-t-il? Trois minutes, m’a-t-on dit. Le supplicié a dû croire que c’étaient trois siècles.« Wiertz 1870a, S. 42. 255 Wiertz 1870a, S. 41–43. 256 Abb. 26: Antoine Wiertz, Detail: Pensées et visions d’une tête coupée, 1853, matte Ölmalerei auf Leinwand, 265 x 170 cm, Triptychon auf einer Tafel, hier: mittlerer Bildteil, inv. 1925. Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Musée Antoine Wiertz. Archiv der Autorin.

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Abbildung 25

Durch das Verblassen der Farbpigmente lässt sich die Farbgebung an einigen Stellen lediglich erahnen, deutlich hervor treten jedoch die zahlreichen weißen Höhungen, die wie geisterhafte Schleier wirken. Sie steigen wie in feinen Schwaden aus dem textilen Behältnis auf, worin sich der abgetrennte Kopf befindet. In Wiertz’ Bericht wird der äußerst starke Lärm der herabfallenden Klinge hervorgehoben, den der Kopf wahrnehme. Er sei sich nicht sicher, ob die Enthauptung erst noch bevorstehe, als sei dies lediglich ein Blitzschlag und der Kopf gehöre noch zum Körper. Das Atmen werde ihm jetzt unmöglich, ein grauenhaftes Ersticken, aber die Hand des Henkers, deren Finger Purpur

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und Hermelin gestreift haben, lasse ihn noch grauenhaftere Leiden erahnen.257 Die Schilderung dieses dissoziierten Erlebens verunsichert, ob auf Höhe der Schultern des Guillotinierten dessen Kopf hinter den Schwaden zu erahnen sein soll, oder ob es sich hier um einen Kopf aus der Menge handelt.

Abbildung 26

257 Wiertz 1867, S. 48. Benjamin 1991, S. 807.

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»Deuxième minute. – Sous l’échafaud:«258 Im mittleren Bildteil (siehe Abb. 23) ist der Oberkörper des Delinquenten durch den Aufprall der Klinge derart zusammengestaucht, dass er wie eine schmelzende Masse wirkt, aus welcher die um sich tretenden Beine nach oben ragen. Er wird von einem kräftigen Mann, wahrscheinlich dem Henker, festgehalten. Um die Schnittstelle am Rumpf herum ist eine männliche Personengruppe angeordnet, deren Blicke durch die Hand am Brillenglas und einen spitzen Gegenstand, der auf die Wunde zielt, konzentriert sind (Abb. 26).259 Der ganze Körper ist von den weißen Schleiern umsäumt, unzählige kleine Dolche und Blitze, die sich darin befinden, traktieren ihn. Die gesamte Szenerie ist bestimmt von einer großen Dynamik, die von dem Körper ausgeht; alles scheint sich zu drehen und überall sind im Hintergrund Gesichter in der Menge auszumachen. Im rechten unteren Bildbereich ist der abgetrennte Kopf auf den Brettern des Schafotts aufgeschlagen, die Schnittfläche am Hals zeigt nach oben, das Gesicht wirkt versteinert und geisterhaft vor Schrecken. Er ist von Schwaden umgeben, sie wirken wie die Sichtbarmachung einer Bewegung, die auch verdeutlicht, dass die Verbindung zwischen Kopf und Körper gerade abreißt. Im Text wird geschildert, dass der Hingerichtete nun im Bewusstsein seiner Lage sei und sich die Macht des Deliriums verdoppele. Es fühle sich für ihn so an, als breche das Universum zusammen und drehe sich gegen ihn, als wirbelte eine phosphoreszierende Flüssigkeit durch seinen Schädel und als brodele sein Blut.260 Noch immer hoffe er, während er die verkrampften Hände in Richtung des Kopfes ausstreckt, er könne diesen wieder auf seinen Körper setzten. »Es ist der Instinkt, der uns treibt, die Hand gegen die klaffende Wunde zu drücken,« übersetzt Benjamin dessen Gedanken über die mechanisch körperliche Bewegung.261 In diesem Moment ist der Instinkt stärker als der Schmerz.

258 Wiertz 1870a, S. 43–46. 259 Abb. 28: Antoine Wiertz, Pensées et visions d’une tête coupée, 1853, matte Ölmalerei auf Leinwand, 265 x 170 cm, Triptychon auf einer Tafel, Musée Wiertz Museum [sic!], Brüssel, hier mittlerer Bildteil des Triptychons. Archiv der Autorin. 260 Wiertz 1867, S. 49. Vgl. Benjamin 1991, S. 807. 261 Benjamin 1991, S. 807.

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Benjamins Übertragung endet an dieser Stelle mit der scheinbaren Erkenntnis des Kopfes, dass dies bereits der Tod sei, aber so weit ist es noch nicht.262 Bei Wiertz dauert die zweite Minute noch an und es folgen nun Schilderungen der pensées et visions, die Benjamin ausgelassen hat: »Je vois mon cercueil, on me place dedans, des milliers de vers m’y attendent pour me dévorer. Les médecins m’entourent et regardent mon cou, c’est sans doute pour étudier. […] Aujourd’hui même je serai à l’hôpital, ma tête du moins; […] on coupera dans mes chairs, il y aura bien des curieux. C’est aujourd’hui aussi que l’on m’enterre, il n’y aura point de prières pour moi; ceux qui seront là fuiront et auront peur. Je vois ma famille; ma femme est morte, morte de douleur, mes enfants l’entourent et pleurent. J’ai beau leur dire de m’aider un peu, de rapprocher ma tête de mon cou, que le temps presse, qu’il sera trop tard, que le sang coule toujours, ils ne m’entendent pas.«263 Er sehe seinen Sarg, in den man ihn hineinlege. Tausende Würmer warteten auf ihn, um ihn zu verschlingen. Ärzte umringen ihn und begutachten den Hals, was ohne Zweifel zum Zweck des Studiums geschehe. Noch heute werde er im Hospital sein, zumindest sein Kopf, und im Beisein vieler Neugieriger werde in sein Fleisch geschnitten. Noch heute werden sie ihn begraben, es werde keine Gebete für ihn geben, diejenigen, die dort hinkommen, werden fliehen und Angst haben. Er sehe seine Familie, seine Frau sei tot, sie starb vor Trauer, seine Kinder umringen ihn und weinen. Er sage ihnen, dass sie ihm ein wenig helfen sollen, seinen Kopf zum Hals heranzurücken, dass die Zeit knapp sei, beinahe zu spät, und dass noch Blut fließe. Aber sie hören ihn nicht. Ferner beschreibt der Kopf einen Schmerz, der sich anfühle wie feuriger Staub, von dem jedes Korn einer seiner Qualen entspreche.264 Am Himmel zeichne sich ein dunkles Objekt ab, bald erstrecke sich die Dunkelheit nach allen Seiten, ein schwarzes Phantom berühre seine Füße, der

262 Wiertz 1867, S. 50. Benjamin 1991, S. 807. 263 Wiertz 1870a, S. 44–45. 264 Wiertz 1867, S. 51, Benjamin hat diese Passage nicht übertragen.

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ganze Körper werde zu Granit. Bei Wiertz kommt erst an dieser Stelle der Gedanke an den Tod, aber dieser verzögere sich noch.265 »Troisième minute. – Dans l’éternité:«266 Im rechten Bildteil (Abb. 29)267 kulminiert die Dynamik in einem Inferno. Von dem skelettierten Oberkörper links unten im Bild steigen diagonale Rauchstrudel empor, umgeben von glühendem Chaos. Details sind kaum mehr zu erkennen. Im Text heißt es, dass der Tod immer noch nicht gekommen sei, der Kopf denke und leide noch immer. Benjamin übersetzt diese Passage wie folgt: »Leidet Feuer, das brennt, leidet den Dolch, der zerreißt, leidet das Gift, das verkrampft, leidet an den Gliedern, die man durchsägt, leidet in den Eingeweiden, die man herausreißt, leidet im Fleisch, das man hackt und zerstampft, leidet an den Gebeinen, die man langsam in kochendem Öl siedet. All dies gesammelte Leiden kann noch kein Begriff von dem geben, was der Hingerichtete durchmacht.«268 Der Kopf sei sich bewusst, dass diese Schmerzen für einen lebenden Menschen eine unbekannte Welt sind.269 Als er sich schließlich fragt, ob er ewig so zu leiden habe, wird alles um ihn herum schwarz. Nun ist er tot. Der hier anschließende und von Benjamin ausgelassene Abschnitt lautet bei Wiertz: »Il voit dans un coin obscur son cadavre pourrir et se dessécher; puis, ce qui n’est donné qu’aux esprits d’un autre monde d’apercevoir, il voit comment s’accomplissent les mystères de la transformation. Tous les gaz qui composaient son corps, les matières sulfureuses, ammoniacales ou alcalines, il les voit se dégager de ses chairs putréfiées et servir ensuite à la formation d’autres êtres vivants. Plus 265 Wiertz 1870a, S. 46. 266 Ebd., S. 46–48. 267 Abb. 29: Antoine Wiertz, Pensées et visions d’une tête coupée, 1853, matte Ölmalerei auf Leinwand, 265 x 170 cm, Triptychon auf einer Tafel, Musée Wiertz Museum [sic!], Brüssel, hier rechter Bildteil des Triptychons. Archiv der Autorin. 268 Benjamin 1991, S. 808. 269 Wiertz 1867, S. 52. Benjamin 1991, S. 808.

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loin, celui que la hache vient de tuer voit tomber dans un abîme de feu l’infâme guillotine avec ses bourreaux.«270 In einer dunklen Ecke sehe er seine eigene Leiche verwesen und vertrocknen. Er sehe, wie sich die Mysterien der Transformation erfüllen. Alle Gase, aus denen sein Körper bestehe, die schweflige Materie, Ammoniak oder Alkali, sehe er aus seinem faulen Fleisch verfliegen, sie dienen nun zur Formation anderer Lebewesen. Weiter entfernt sehe er, wie die Guillotine mitsamt dem Henker in einen feurigen Abgrund stürze. Dem letzten Abschnitt des Textes, den Benjamin in seine Übertragung nicht mit aufnimmt, ist auch das Eingangszitat des Kapitels entnommen. In diesen »letzten Erscheinungen« sehen die Leute die ewige Strafe des Schuldigen. Die anderen, humaner gesinnten, glauben im Zentrum der Wolke einen Engel zu erblicken, von dem der Gemarterte den Friedenskuss empfängt.271 Der von Wiertz ins Bild gefasste »letzte Spuk,«272 der das Sterben begleitet, erfährt in der literarischen Ausführung eine wesentliche Gegenüberstellung seiner Sicht einer möglichen Rezeption: Für die einen transportiere dieses Sujet die Sichtbarkeit der »ewigen Bestrafung eines Übeltäters,« für die anderen, humaneren, den Glauben, die »Seele eines Gequälten zu sehen.«273 In der Version des Kataloges von 1861 beginnt die Vorrede zu Pensées et visions d’une tête coupée mit einführenden Worten zu Joseph-Ignace Guillotin, »ein[em] philanthropische[n] Mediziner«, der aus Empörung über die Barbarei bei der öffentlichen Hinrichtung eine Apparatur erfindet; Mannaia und Maiden dienen für sie als Vorbilder, und ihre Klinge töte wie mit »leichter Frische«.274 Als Gegenposition werden an dieser Stelle auch Samuel Thomas von Soemmerring und Jean-Joseph Sue erwähnt: »Le jour où Soemmering [sic!] en Allemagne, J. J. Sue et Castel en France posèrent ce redoutable problème : ›La sensibilité et la douleur

270 271 272 273 274

Wiertz 1870a, S. 47. Ebd., S. 47–48. Ebd. Ebd. Wiertz 1861, S. 123–124.

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s’éteignent-elles à la seconde même de la décollation par la guillotine?‹ et qu’ils répondirent négativement, l’existence de Guillotin fut empoisonnée. Pour un grand nombre d’hommes savants, médecins, physiologistes, l’arrière-douleur persistait dans le cerveau, pendant un temps plus ou moins long après la décapitation. L’idée que la douleur pouvait persister au delà de la séparation de la tête avec le tronc, était venue souvent visiter le cerveau de Wiertz. Un jour qu’il suivait les développements dramatiques d’un procès qui causa une grande émotion en Belgique.«275 Bei Wiertz heißt es, dass die Existenz Guillotins an dem Tag vergiftet sei, als Soemmerring und Sue die Frage stellen: Werden das Empfinden und der Schmerz in dem Augenblick ausgelöscht, in dem die Enthauptung durch die Guillotine stattfindet? Und sie antworten mit Nein. Für eine große Anzahl von gelehrten Männern, Ärzten, Physiologen, bleibe der Nachschmerz für eine längere oder kürzere Zeit nach der Enthauptung im Gehirn bestehen. Die Vorstellung, dass der Schmerz über die Abtrennung des Kopfes vom Rumpf hinaus bestehen könnte, sei oft in Wiertz eigenes »Gehirn« gekommen. Eines Tages verfolgt er die dramatischen Entwicklungen eines Prozesses, der in Belgien für große Emotionen sorgt.276 Die Namen der beiden Mörder, Guillaume Vandenplas und François Rosseel, werden bei Wiertz lediglich in einer Fußnote erwähnt, wodurch sich auf ihre Guillotinierung am 18. Februar 1848 schließen lässt, der Prozess beginnt zehn Tage zuvor. Das Procedere der Hinrichtung geht ohne besondere Vorkommnisse vonstatten. Allerdings ist die Menschenmenge, die dieser aufgrund des aufsehenerregenden Kriminalfalls des dreifachen Mordes beiwohnt, beachtlich. Rückblickblickend auf die physiologische Debatte über das Schmerzempfinden sei hier an die Position Soemmerrings erinnert, der in Ueber den Tod durch die Guillotine von 1795 zu bedenken gibt, dass »die wahre Personalität, das eigentliche Ich« nach der Enthauptung im Kopf noch eine Zeitlang lebendig bleibe und die grausam zugefügten Schmerzen

275 Wiertz 1861, S. 124. Kursivsetzung im Original. 276 Ebd.

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weiterhin empfinde.277 Darüber hinaus schreibt er in einem Brief an Lichtenberg vom 26. Mai 1797, dass man noch gar nicht daran gedacht habe, dieses Bewusstsein nach der Hinrichtung zu berechnen.278 Soemmerring betont »die horrende Intensität des Schmerzes«, die der Kopf als Sitz des Organs der Seele zu erleiden habe.279 Für eine Interpretation der Pensées et visions d’une tête coupée ist die physiologische Darlegung Jean-Joseph Sues jedoch interessanter. In seiner »Opinion de J.-J. Sue, sur la douleur qui survit à la décolation [sic!]«, aus der Schrift Recherches physiologiques, et expériences sur la vitalité von 1797, verurteilt er den Tod durch die Guillotine als »horrible mort«.280 Eine Bemessung der Leiden nimmt Sue zwar nicht vor, aber seiner Meinung nach, habe jede Ausprägung der force vitale einen bevorzugten Sitz ihrer Manifestation im menschlichen Körper.281 Er schreibt: »Il est à remarquer que le sentiment, la personnalité, le moi de chaque régulateur reste vivant et se retire à mesure que la chaleur décroit. Le moi intellectuel, le moi moral, et le moi animal, peuvent donc vivre quelque temps indépendens [sic!] l’un de l’autre, et avoir chacun un arrière-sentiment […].«282 Sue teilt das Empfinden und die Persönlichkeit, was er als le moi, »das Selbst« oder »das Ich«, benennt, in drei signifikante Ausprägungen ein: le moi intellectuel, le moi moral und le moi animal.283 Sie verkörpern jeweils das ordnende Prinzip, das »Leben« ihres Körperbereiches.284 Das »intellektuelle Ich«, dem die »Gedankenblitze« entspringen, habe seinen Sitz 277 278 279 280

Soemmerring 1795, S. 257. Lichtenberg 1992, S. 453. Soemmerring 1795, S. 262. Jean Joseph Sue, Recherches physiologiques et expériences sur la vitalité, lues à l’Institut national de France, le 11 messidor, an V de la République. Suivie d’une nouvelle édition de son opinion sur les supplice de la guillotine ou sur la douleur qui survit à la décolation [sic!], Paris 1797. S. 51. (Sue 1797) 281 Ebd., S. 73. 282 Ebd. Hervorhebung der Autorin. 283 Sue 1797, S. 73. 284 Ebd.

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im Kopf, dort wo sich auch das »Heiligtum der Seele« befindet.285 Der Ursprung der »automatischen Bewegungen« findet sich in den Genitalien, sie werden gesteuert vom »animalischen Ich«.286 Das »Zentrum des Gefühls«, der »Geburtsort aller Emotionen«, ist dem »moralischen Ich« mit Sitz in der Brust zugeordnet.287 Alle drei, das »intellektuelle Ich«, das »animalische Ich« und »das moralische Ich«, verfügen laut Sue über ein eigenes Leben und stellen jeweils ordnende Prinzipien dar. Da diese Bereiche auch voneinander unabhängig noch einige Zeit existieren können, sterben sie dem zufolge auch asynchron und summieren in letzter Konsequenz die Leiden des Enthaupteten.288 Sue schreibt dazu: »Mais il ne faut pas en conclure que le système ne souffre plus; au contraire, il souffre bien davantage, car alors il n’y a plus de régulation, et ce défaut d’accord arrête la bonne intelligence de tous ces organes; de là cassation de bien-être, et conséquemment souffrance. […] D’après cette distinction, il est facile d’observer que la vie intellectuelle peut être pendant quelque temps de la vie morale, et jouir cependant de son action. Les deux autres vies peuvent de même être isolées l’une de l’autre, et conserver quelque minutes leurs effets.«289 Das System leide viel mehr, denn es gäbe keine Regulierung mehr und dieser Mangel an Übereinstimmung verhindere das gute Verständnis aller Organe, wodurch das Wohlbefinden ende und die Leiden folgen. Gemäß seiner Unterscheidung sei es leicht zu beobachten, dass das intellektuelle Leben auch für einige Zeit die Aktivitäten des moralischen Lebens übernehmen könne. Die anderen zwei Leben können voneinander isoliert werden und behalten ihre Wirkung für einige Minuten.290 In eben dieser Annahme liegt auch eine Übereinstimmung in der Vorrede zu Wiertz Pensées et visions d’une tête coupée, im Katalog von 1861 heißt es:

285 286 287 288 289 290

Ebd., S. 74. Ebd. Ebd. Ebd., S. 73–74. Ebd., S. 74–75. Ebd.

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»Mais, est-ce uniquement la douleur de l’organe qui se tord et crie dans l’angoisse, qui produit la torture endurée par ce guillotiné? – Non, car voici les douleurs intellectuelles et morales. – Nous allons voir le cœur, qui ne bat plus dans la poitrine, battre encore dans le cerveau.«291 Es sei nicht nur der Schmerz des Organs, sondern auch der »intellektuelle und moralische Schmerz«, der durch die Folter der Guillotine hervorgebracht werde. Das Herz, das nicht mehr in der Brust schlage, schlage immer noch im Gehirn. Vor dem Hintergrund der Theorie Sues erscheinen die drei Minuten von Wiertz’ Triptychon Pensées et visions d’une tête coupée nahezu wie eine Illustration des Sterbens dieser aus dem intellektuellen, dem moralischen und dem intellektuellen Ich bestehenden ›physiologischen Trinität‹. Insbesondere auf die Position Sues bezogen, betont Daniel Arasse, dass diese zwar zu einem modernen Verständnis des Körpers als einem organischen Ganzen beigetragen habe, aber der Schrecken des ›sterbenden Hauptes‹ um den Preis einer Abwertung des Gehirns gebannt werde.292 Über ein halbes Jahrzehnt nach Sues Veröffentlichung bezieht sich Wiertz darauf und konzipiert mit Pensées et visions d’une tête coupée nicht nur um zu der Debatte des Nachschmerzes, den die Guillotinierung erzeuge, ein künstlerisches und literarisches Statement zu setzten, sondern um sich zur Abschaffung der Todesstrafe im Allgemeinen zu positionieren. Die Wahl des Künstlers, sein Werk in Form eines Triptychons zu realisieren, macht sein Bildanliegen, die Andacht, deutlich. In diesem Sinne zeigt Pensées et visions d’une tête coupée im Zusammenspiel von Bild und ›Beschriftung‹ nicht nur den guillotinierten Körper in drei Szenen, vielmehr nähert sich die dreiminütige Passion des Sterbens, die in einer von höllischen Leiden begleiteten Himmelfahrt ihr Ende findet, der Bildtradition der Kreuzigung. Hier konvergieren die Bildstrategien der Entund Resakralisierung der Enthauptung und des abgetrennten Kopfes.

291 Wiertz 1861, S. 131–132. Kursivsetzung der Autorin. 292 Arasse 1988, S. 59.

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Im Text heißt es, dass die Finger des Henkers Purpur und Hermelin gestreift hätten, was auf einen Königsmantel verweist.293 Allerdings trägt in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit der symbolischen Auslöschung der Monarchie und dem Gründungsmythos der Französischen Republik nicht. Dem Körper des Delinquenten widerfährt keine ›Reinigung‹ durch das Hinrichtungsritual. Heil erfahre er lediglich durch den Tod, diesen Friedenkuss eines Engels,294 der das Ende der Leiden bedeute. Anstelle einer ostentatio, der Präsentation des abgetrennten Kopfes, tritt die malerische und literarische Einfühlung des Künstlers, die er den Rezipient*innen zugänglich macht. Als bildliche Sichtbarmachung des Schmerzes fungieren bei Wiertz die in den weißen Schwaden befindlichen kleinen, weißen Dolche und Blitze, die sich in den Körper bohren. Durch das Zusammenspiel von Triptychon und Bericht, den seine emphatische Erzählform und wechselnde Erzählperspektive auszeichnet, fusionieren die Ebenen des Sichtbaren mit Unsichtbaren. Maßgeblich bei Wiertz ist hierbei das Stilmittel der ästhetischen Immersion, das sich zum einen durch die perzeptive Ausdehnung des Zeitraums der ins Bild gefassten drei Minuten ausdrückt und zum anderen durch seinen ›Bericht‹ als Medium, in dem er sich mit dem Kopf des Hingerichteten, einschließlich von dessen Gedanken, Visionen und dissoziativen Empfindungen identifiziert.

293 Wiertz 1867, S. 48. Benjamin 1991, S. 807. 294 Wiertz 1870a, S. 47.

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2.5.2 Douglas Gordon – 30 seconds text

Abbildung 27

Dass dieser Effekt der ästhetischen Immersion in Bezug auf das fortdauernde Bewusstsein des abgetrennten Kopfes auch mit vergleichsweise einfachen Mitteln erzeugt werden kann, exemplifiziert die Installation 30 seconds text von Douglas Gordon aus dem Jahr 1996 (Abb. 27).295 295 Abb. 27: Douglas Gordon, 30 seconds text, installation view of the exhibition »Douglas Gordon: Timeline«. MoMA, New York, June 11, 2006 through September 4, 2006. Photographic Archive. The Museum of Modern Art Archives, New York. Acc. n.: IN1974.22. Photographer: Jonathan Muzikar. Copyright: The Museum of Modern Art, New York. DIGITAL IMAGE © 01.03.2023, The Museum of Modern Art/Scala, Florence. Die Installation von 1996 trägt den Titel 30 seconds text, weißer Vinyltext in Bembo und Helvetika Schrifttypen, schwarze Wand, Zeitmessgerät und Glühbirne, variierende Größenanordnung. Der projizierte

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Enthauptung als Paradigma

In Gordons Arbeit beleuchtet eine an einem Stromkabel herabhängende Glühbirne einen abgedunkelten Raum für die Dauer von 30 Sekunden. In diesem Zeitraum ist ein in weißen Lettern auf schwarzer Wand angebrachter Text zu sehen. Den Rezipient*innen stehen dementsprechend 30 Sekunden zum Lesen folgender Zeilen zur Verfügung: »In 1905 an experiment was performed in France where a doctor tried to communicate with a condemned man’s severed head immediately after the guillotine execution. ›Immediately after the decapitation, the condemned man’s eyelids and lips contracted for 5 or 6 seconds… I waited a few seconds and the contractions ceased, the face relaxed, the eyelids closed half-way over the eyeballs so that only the whites of the eyes were visible, exactly like dying or newly deceased people. At that moment I shouted ›Languille‹ in a loud voice, and I saw that his eyes opened slowly and without twitching, the movements were distinct and clear, the look was not dull and empty, the eyes which were fully alive were indisputably looking at me. After a few seconds, the eyelids closed again, slowly and steadily. I addressed him again. Once more, the eyelids were raised slowly, without contractions, and two undoubtedly alive eyes looked at me attentively with an expression even more piercing than the first time. Then the eyes shut once again. I made a third attempt. No reaction. The whole episode lasted between twenty-five and thirty seconds.‹ …on average, it should take between twenty-five and thirty seconds to read the above text. Notes on the experiment between Dr. Baurieux [sic!] and the criminal Languille (Montpellier, 1905) taken from the Archives d’Anthropologie Criminelle.«296 Text wird in die jeweilige Sprache des Landes, wo das Werk Gordons gezeigt wird, übersetzt. So war dieser beispielsweise für die Ausstellung im Hôtel de Caument (Collection Lambert) in Avignon 2008 auf Französisch und 2011 im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt a.M. auf Deutsch zu lesen, im Original ist die Arbeit in englischer Sprache verfasst. 296 30 seconds text, Kursivsetzung im Original.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

Die Überschrift sowie der erste und vorletzte Absatz sind in Helvetika und die mittlere Passage in der Schrifttype Bembo gesetzt, was die Intervention des Künstlers von dem wörtlichen Zitat der Versuchsbeschreibung eines gewissen »Dr. Baurieux« abgrenzt.297 Zweifelsfrei liegt dieser Arbeit Gordons der Bericht Gabriel Beaurieux’ zu Grunde, der die Enthauptung von Henri Languille zum Anlass seines Versuches nimmt, worauf bereits im vorangegangenen Unterkapitel eingegangen wird. Anscheinend hat der Künstler den zweiten Buchstaben im Namen des Arztes weggelassen.298 In dieser Installation Gordons steht die künstlerische Reflexivität über das fortdauernde Bewusstsein des abgetrennten Kopfes deutlich im Vordergrund, denn der Titel verweist abstrahierend auf die materielle Ebene des Kunstwerkes und der eigentliche Versuch wird schriftbildlich durch eine antiquiert wirkende Type historisiert. Hinzu kommt, dass die Lesedauer mit der Beleuchtungszeit des Textes korrespondiert und somit eine partizipative Verbindung zu den Rezipient*innen hergestellt wird, während der Bericht die Vorstellungsbilder induziert. Das Szenario, das sich an die Enthauptung anschließt, entsteht dem zufolge auf der ›Leinwand im Kopf‹. Im Bericht wird der narrative Fokus auf die Augen gesetzt, denn das geschilderte Treffen

297 Ebd. 298 Die Frage, warum Douglas Gordon, wenn er schon seine Quelle benennt, nämlich die Archives d’Anthropologie Criminelle, den Namen des Experimentators verändert, bleibt offen. Dieser Umstand kann jedoch dahingehend kommentiert werden, dass auch bei den Übersetzungen Inkorrektheiten absichtlich beibehalten werden. In einem Interview von 2008 äußert sich Douglas Gordon wie folgt: »Jeder Fehler, den ich mache, landet im Druck. Allerdings dürfen sie nicht forciert werden, es müssen ehrliche Fehler sein.« Dies bezieht sich jedoch auf den Plan eines anderen Projektes, aber vielleicht trifft die dargelegte Handhabung des Künstlers auch für 30 seconds text zu. Douglas Gordon im Interview, »Wir brauchen Stars, aber niemand braucht Prominente«, geführt von Jenny Schlenzka, erschienen im Spiegel, 21.02.2008, Seite 2 von 2: URL: https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/konzeptkuenst ler-douglas-gordon-wir-brauchen-stars-aber-niemand-braucht-prominentea-536732.html [letzter Zugriff 15.03.2023].

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Enthauptung als Paradigma

der Blicke übertragt die Bezeugung Beaurieux’, in Languilles Blick das »unzweifelhaft Lebendige« erkannt zu haben.299 Ein Effekt ästhetischer Immersion kommt hier in doppelter Form zu Stande, da Gordon die mediale Erfahrbarkeit des Berichtes von Beaurieux’ Beobachtungen verdichtet. Die physische und temporäre Präsenz der Installation wird gesteuert von Licht und Dunkelheit, vom Sichtbaren und Unsichtbaren, um die zeitliche Dauer der Reaktionen des Delinquenten zu reanimieren, was darin mündet, dass die Rezipient*innen sogar mit Languille sterben können, wenn das Licht der Glühbirne erlischt und der dramaturgische Höhepunkt einleitet wird: das kurze Verharren in der Dunkelheit, bevor die Installation ihren Kreislauf fortsetzt und wieder von vorne beginnt. Auch bei Wiertz markiert der Moment der völligen Dunkelheit den Tod. Sowohl Antoine Wiertz’ Triptychon mitsamt der Beschriftung von Pensées et visions d’une tête coupée als auch Douglas Gordons 30 seconds text kennzeichnet, dass sich beide Werke in den Schmerz, das Fortleben sowie das Sterben des abgetrennten Kopfes nach der Hinrichtung gewissermaßen einschreiben. Dies geschieht in den Pensées et visions d’une tête coupée durch die perzeptive Ausdehnung des Zeitraums, die in dem Gemälde und den literarischen Ausführungen angelegt ist. Bei 30 seconds text ist das absorbierende Momentum die Dunkelheit, die nach der genauen bemessenen Lesedauer von 30 Sekunden eintritt. Mag die Einteilung Arnold van Genneps der Übergangsriten für das erste Kapitel dieser Dissertation durch die revolutionsikonografische Einordnung anhand des Dreischrittes »Trennung«, »Umwandlung« und »Angliederung«,300 relativ einfach nachvollziehbar sein, wird es im Hinblick auf die medizinischen Versuche und deren Einordnung auch aufgrund der langen historischen Zeitspanne, die diese einnehmen, im zweiten Kapitel komplexer. Auch wenn es sich hierbei um etwas handelt, das nach van Gennep als »Zeremonie« verstanden werden kann, sind die jeweiligen, verschiedenen sozialen Kategorien noch entscheidender. Van Gennep weist auf die Trennungen der Geschlechter und 299 30 seconds text. 300 van Gennep 2005, S. 179.

2. Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung

derjenigen zwischen dem Profanen und dem Sakralen hin, wozu auch die unterschiedlichen Kasten und Berufsgruppen gehören, die hier die »Abfolgeordnung« des »Zeremonienkomplexes« bestimmen.301 An den Delinquenten, die im Zuge eines medizinischen Versuches bei der Enthauptung beobachtet werden, vollziehen sich sowohl die Trennung, als auch die Umwandlung und die Angliederung auf einmal. Dabei geht es hier zugleich um eine ›profanisierte‹ Ent- und Resakralisierung, und zugleich wieder aufgeführte »Inauguration der neuen bürgerlichen Ordnung«302 einer Gesetzeskraft, die dem Verurteilten durch das medizinische Experiment einen gesellschaftlichen Nutzen zugesteht. Die Diskussion, ob zu diesem Procedere der Schmerz, Leiden und Empfindungen überhaupt dazugehören, wird von denjenigen bestimmt, die aufgrund ihrer Berufsgruppe ermächtigt sind. Zur Wahrheitsproduktion und der Tilgung von Strafe auch im medizinischen Sinne gehört hier die am Körper ablesbare Reaktion während und nach der Hinrichtung, die den gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Nutzen generiert, der stärker wiegt als die Argumente zugunsten der Menschlichkeit.

301 Ebd., S. 181–183. 302 Sykora 2009, S. 477.

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3. Loin des yeux, loin du cœur. Medusa de(kon)struieren

»Il suffit qu’on regarde la Méduse en face pour la voir : et elle n’est pas mortelle. Elle est belle et elle rit. Ils disent qu’il y a deux irreprésentables : la mort et le sexe féminin. Car ils ont besoin que la féminité soit associée à la mort; ils bandent par trouille! pour [sic!] euxmêmes! ils [sic!] ont besoin d’avoir peur de nous. Regarde, les Persées tremblants avancer vers nous bardés d’apotropes, à reculons! Jolis dos! Plus une minute à perdre. Sortons.« Hélène Cixous1

3.1 Enthaupten ≠ Kastrieren. Die semiotische Konversion Medusas Das Medusenhaupt ist die zentrale Figur der Enthauptung innerhalb der auf die Antike zurückgehenden abendländischen Mythologie. Ein mythenkritischer Ansatz soll im Folgenden die Perspektiven einer politischen Ikonografie und einer medizinisch-wissenschaftlichem Diskursanalyse ergänzen. In diesem Zusammenhang ist es mein Interesse zu hinterfragen, in welcher Weise sowohl die Enthauptung mit der Kastration, als auch der abgetrennte Kopf oder vielmehr die Wunde in Folge der Enthauptung mit dem weiblichen Genital konnotiert ist. Ausgehend

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Wiertz 1870a, S. 47–48.

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Enthauptung als Paradigma

von Sigmund Freud sind diese Verknüpfungen fester Bestandteil der Rezeption geworden. Der Nachvollzug dieser Genese beleuchtet die vielgestalten Verschränkungen und Mechanismen von Blick- und Bild. Dabei soll die psychoanalytische (Über)Semantisierung des Medusenhauptes in einer akzentuierten Rezeptions- und Diskursanalyse kritisch reflektiert werden. Wissenschaftskritische ›Kronzeugin‹ ist hier Julia Kristeva, die gleich zu Beginn ihrer Schrift Eine Semiologie des Unheimlichen die Frage stellt: »Sind der Tod, das Weibliche, der Trieb immer Vorwand des Unheimlichen?«2 In Kristevas Auseinandersetzung mit den symbolischen Prozessen des Unheimlichen bei Sigmund Freud, stellt sie im Wesentlichen »[…] eine Schwächung des Wertes der Zeichen als solcher und eine Schwächung der ihnen eigenen Logik«3 fest. Durch diese Prozesse wird das Zeichen nicht mehr als arbiträr »erlebt«, weil sich »[…] die materielle Realität, die das Zeichen üblicherweise bezeichnen soll, allmählich zugunsten der Imagination […]« auflöst.4 Diese Feststellung, und ebenso ihr möglicher Umkehrschluss, erscheinen mir für die Semiose Medusas symptomatisch zu sein. Den Ausgangspunkt folgender Überlegungen markiert die Aussage Freuds, dass der Enthauptungs- und Kastrationsakt ein und dasselbe seien: »Kopfabschneiden=Kastrieren. Der Schreck der Meduse ist also Kastrationsschreck, der an einen Anblick geknüpft ist.«5 Innerhalb des psychoanalytischen Deutungsapparates situiert Freud das Erlebnis des »Kastrationsschrecks« auf das männliche Kindesalter, »[…] wenn der Knabe, der bisher nicht an die Drohungen glauben wollte, ein weibliches Genitale [sic!] erblickt. Wahrscheinlich ein erwachsenes, von Haaren umsäumtes, im Grunde das der Mutter.«6 Die Ineinssetzung »Kopfab2 3 4 5

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Julia Kristeva, Fremde sind wir in uns selbst [1988], übers. von Xenia Rajewsky, Frankfurt a.M. 2013, S. 202. (Kristeva 2013) Kristeva 2013, S. 202. Ebd. Sigmund Freud, »Das Medusenhaupt [1922]«, in: Gesammelte Werke chronologisch geordnet, hg. von Anna Freud, Bd. 17, Frankfurt a.M. 1993, S. 45–48, hier S. 47. (Freud 1993) Freud 1993, S. 47. Hervorhebung der Autorin.

3. Loin des yeux, loin du cœur. Medusa de(kon)struieren

schneiden=Kastrieren«7 bleibt in nahezu keiner Auseinandersetzung und Deutung des Sujets der Enthauptung unerwähnt, seitdem Das Medusenhaupt 1940 erstmals publiziert wurde.8 Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass den von Freud gesetzten Verknüpfungen in dieser Prädikation – »=« und »ist also«9 – eine grundlegende Bedeutung zukommt, weil er durch ihre Setzung scheinbar ›offensichtlich‹ logische Aussagen formuliert,10 wie es Paul Gordon herausstellt: »Indeed, this essay on the detached head is all about the copula […] of an ›obvious‹ connection that is then put in the ultimate form of the copula by Freud himself […].«11 Gordon führt vor Augen, wie die Themenbereiche Enthauptung, Kastration, weibliches Genital und Medusa in den psychoanalytischen Arbeiten Freuds konvergieren. Die Basis bilden dabei letztlich Deutungen und Behauptungen, deren assoziativer, hermeneutisch-logischer Verbund in eben dieser Konvergenz offenbar wird. Sowohl als Psychoanalytiker als auch als literarischer Autor kommt der Person Freuds innerhalb seiner Schriften die Rolle zu, selbst Kopula zu sein, denn nur er begründet und hält sein System in eben dieser Ambivalenz zwischen medizinischer Beobachtung und symbolischer Deutung zusammen. Auch wenn die von Freud konstruierte Anknüpfung an den Anblick für ein Verständnis des Aktes der Blickübertragung und der darin agierenden Wirkungsmacht als durchaus produktiv angesehen werden kann, ist darin nur ein Teil seiner Ausführungen zum Medusenhaupt

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Ebd. Datiert ist das Manuskript auf das Jahr 1922. Freud 1993, S. S. 47. Es ist das Faszinierende an dem Werk Sigmund Freuds, dass die von ihm geschaffene Hermeneutik – die Psychoanalyse ist eine Deutungslehre, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert – derart breite interdisziplinäre Diskurse präfiguriert. Umso wichtiger erscheint es mithilfe der philosophischen Logik, seine Kernaussagen zu speziellen Themenbereichen wie dem hier vorliegenden zu überprüfen. Paul Gordon, »Medusa Recapit(ul)ated: Freud, Female Genitalia and the ›Cuntroversy‹ at CU«, in: Psychoanalysis, Culture & Society (2014), 19, S. 113–126, hier S. 122. (Gordon 2014)

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Enthauptung als Paradigma

angesprochen. Deutlich im Vordergrund steht bei Freud für den Blick die inhärente Prämisse der Ineinssetzung von Kastration und Enthauptung als Symbol des absoluten Machtverlustes, des Verlusts oder gar der Tilgung des Phallus, der »Penislosigkeit«12 als Folge der »Kastration als einer Strafe«13 , eine drastische Konstellation, die den Blick mit immenser Gewalt besetzt. Kristeva stellt zum einen heraus, wie bedeutungsvoll und selbstverständlich Freuds Analogisierungen für die Disziplinen übergreifende Auseinandersetzung mit dem Medusa-Theorem geworden sind, zum anderen vertieft und expliziert sie in ihrer Interpretation das, was Freud mit den Bezeichnungen »Schrecken«, »Drohung« und »Strafe« im Hinblick auf die Abjektion präfiguriert: »Anthropologues et historiens de l’art n’ont pas manqué de souligner que cette tête visqueuse, entourée d’une chevelure bouclée de serpents, évoque l’organe sexuel féminine – la vulve maternelle qui épouvante le jeune garçon s’il vient à y ›jeter un œil‹. Freud y déchiffre la fascination et l’horreur que provoquent la castration féminine tout autant que la puissance génitale de la mère, vallée originelle des humains.«14 Freud »dechiffriert« laut Kristeva die Ambivalenz zwischen Reiz und Schrecken oder Faszination und Abstoßung durch den Anblick. Nach Jacques Lacan bedeutet den Blick auf etwas werfen auch die gleichzeitig stattfindende Abspaltung vom Subjekt, denn der unvermittelte Blick beherrscht das Sichtbare nicht.15 Diese Teilung des Subjekts wird beim Sehen realisiert, da auf der einen Seite das narzisstische Sehen vom 12

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Sigmund Freud, »Die infantile Genitalorganisation (Eine Einschaltung in die Sexualtheorie) [1923]«, in: Schriften über Liebe und Sexualität, Frankfurt a.M. 1994, S. 153–159, hier S. 158. (Freud 1994a) Freud 1994a, S. 158. Ausst.-Kat. Visions Capitales 1998, S. 35. Hervorhebungen der Autorin. Kristeva verweist an dieser Stelle lediglich in einer Fußnote auf Freuds Medusenhaupt. Jacques Lacan, »Die Spaltung von Auge und Blick« [1964], in: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan, Buch XI [1964], übers. von Norbert Haas, Olten/Freiburg i.Br. 1978, S. 73–84. (Lacan 1978)

3. Loin des yeux, loin du cœur. Medusa de(kon)struieren

Auge ausgeht und auf der anderen Seite das triebhafte Gesehen werden vom Blick bestimmt wird. Der Blick ist hier im Feld des Anderen situiert und wird auf den oder das Andere projiziert.16 Dass Kristeva explizit die Analogie des Medusenhauptes mit dem mütterlichen Genital aufgreift und als deren gemeinsames Charakteristikum ihre »viscosité«17 aufzeigt, steht nicht nur im Zusammenhang mit dem Phänomen der Abjektion, sondern auch mit dem von Lacan definierten Blick und in Anlehnung an den psychoanalytischen Schautrieb. Bei Kristeva steht die Wirkung eines zirkulierenden (An)Blickes im Hinblick auf die Ambiguität des Phänomens der Abjektion als Folge einer unvollständigen Abgrenzung, in erster Linie von der Mutter, die ohne klare Trennlinie als Passage zwischen dem Innen und Außen wirkt, im Vordergrund. Das, was hier erblickt wird, steht im Zusammenhang mit dem eigenen Leib, denn der Blick geht vom eigenen Leib aus, kreist um das Gesehene und entfaltet dessen Wirkung wiederum durch das Zurückgeworfen werden auf den eigenen Leib. Als abjekt erscheint alles, was »eine Identität, ein System, eine Ordnung stört«, indem es »die Grenzen, Orte und Regeln missachtet.« Es ist das »Dazwischen [l’entredeux], das Zweideutige, Gemischte«.18 Das, was hier im abjekten Modus des Schautriebes gesehen wird, zeigt eine unvollkommene semiotische Geburt, die verdeutlicht, dass das Leben von Beginn an mit dem Tode infiziert ist. Wie Freud laut Kristevas Zitat dieses ›Offenlegen‹ von Ambivalenzen im Hinblick auf die Verknüpfungen des abgetrennten Kopfes mit dem Kastrationskomplex und dem weiblichen Genital entwickelt, wird 16

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Siehe dazu weiterführend: Rudolf Bernet, »Das Phänomen und das Unsichtbare. Zur Phänomenologie des Blickes und des Subjekts«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, hg. von Günther Figal und Enno Rudolph, 1/1998, S. 15–30, hier S. 15. Generell ist es schwierig und erzeugt mehr Unschärfe als Klarheit, Begriffe wie diesen von Kristeva zu übersetzen. Ich tendiere dazu, das ›Unreine‹ der Abjektion und die Textur betreffende Bezeichnung der viscosité auch im Umkehrschluss als Lubrikation und die damit verbundene weibliche (Seh-)Lust zu interpretieren. Kristeva 1980, S. 12.

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bereits in seiner erstmals 1919 publizierten Arbeit über Das Unheimliche deutlich: »Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arm gelöste Hand […], Füße, die für sich allein tanzen […], haben etwas ungemein Unheimliches an sich, besonders wenn ihnen […] noch eine selbstständige Tätigkeit zugestanden wird. Wir wissen schon, daß diese Unheimlichkeit von der Annäherung an den Katrationskomplex herrührt. […] Es kommt oft vor, daß neurotische Männer erklären, das weibliche Genitale sei ihnen etwas Unheimliches.«19 Genau diese von Freud konstatierte »selbstständige Tätigkeit«, die von einem abgetrennten Kopf auszugehen vermag, lässt das abgetrennte Körperteil nun selbst zu einem autarken, und somit unberechenbar Handelndem werden, sogar zu einer potenziellen Bedrohung, weil dieser sich als Etwas entpuppt, was seinem ursprünglich vermuteten Objektstatus enthoben ist. Freud dient das geschilderte Beispiel als Erlebnis des Unheimlichen, das zu Stande kommt, »[…] wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wieder belebt werden, oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.«20 Das Unheimliche ist eine operative Komponente, eine nicht kontrollierbare Beimischung in die nur scheinbare Indexikalität der Zeichen, deren Verortung es stört, sie somit der Kontrolle entzieht und dadurch die latenten Ängste animiert, die Es zum Verschwinden gebracht haben. Für Freud ist das Medusenhaupt – zumindest vorerst – ebenfalls nicht klar zu verorten. Er weiß, dass er mit seiner Analogisierung einen Kunstgriff getan hat und dass seine Zuschreibungen eigentlich nicht haltbar sind. Tatsächlich sieht er die Notwendigkeit zur Überprüfung seiner Aussage, wie aus seinem letzten Kommentar in Das

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Sigmund Freud, »Das Unheimliche [1919]«, in: Studienausgabe. Psychologische Schriften, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1970, S. 241–274, hier S. 266–267. Die Vorsilbe »Un-« steht für das Verdrängte, etwas eigentlich Bekanntes, das sich allerdings der völligen Wiedererkennung entzieht und so zu etwas »Fremden« wird. Freud 1970, S. 271. Kursivsetzungen im Original.

3. Loin des yeux, loin du cœur. Medusa de(kon)struieren

Medusenhaupt deutlich hervorgeht: »Um nun diese Deutung ernstlich zu vertreten, müsste man der Genese dieses isolierten Symbols des Grauens in der Mythologie der Griechen und seinen Parallelen in anderen Mythologien nachgehen.«21 Jedoch verweist Freud ein Jahr später in Die infantile Genitalorganisation, sich durch die Position des Kollegen diesbezüglich bestätigt sehend, auf eine Notiz von Sandor Ferenczi, »[der] kürzlich mit vollem Recht das mythologische Symbol des Grausens, das Medusenhaupt, auf den Eindruck des penislosen weiblichen Genitals zurückgeführt [hat].«22 Hier zeigt sich deutlich der eingangs von Kristeva beschriebene Prozess der Auflösung der materiellen Realität zugunsten der Imagination.23 Das, was Freud durch die Kopula »Kopfabschneiden=Kastrieren« für das Medusa-Mythologem hinterlässt, ist nicht nur Zeugnis seiner auktorialen Selbstbezogenheit, sondern eine folgenreiche semiotische Konversion24 . Gordon formuliert dies folgendermaßen: 21 22

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Freud 1993, S. 48. Hervorhebung der Autorin. Freud 1994a, S. 158. Hervorhebung der Autorin. Der Wortlaut bei Ferenczi: »Aus der Analyse von Träumen und Einfällen kam ich wiederholt in die Lage, das Medusenhaupt als schreckhaftes Symbol der weiblichen Genitalgegend zu deuten, dessen Einzelheiten ›von unten nach oben‹ verlegt wurden. Die vielen Schlangen, die sich ums Haupt ringeln, dürften – durch das Gegenteil dargestellt – das Vermissen des Penis andeuten und das Grauen selbst den furchtbaren Eindruck wiederholen, den das penislose (kastrierte) Genitale auf das Kind machte. Die angstvoll und ängstigend vorquellenden Augen des Medusenhauptes haben auch die Nebenbedeutung der Erektion.« Sandor Ferenczi, »Zur Symbolik des Medusenhauptes«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, hg. von Sigmund Freud, Bd. IX, 1923, S. 69. (Ferenczi 1923) Kristeva 2013, S. 202. Dieser Begriff ist innerhalb der deutschen Forschung nicht geläufig. Ich möchte ihn an dieser Stelle einführen und verwenden, weil es meiner Meinung nach keine Bezeichnung gibt, für eine derart starke Umdeutung von Zeichen jenseits der Arbitrarität aber innerhalb eines Bezugssystems, der psychoanalytischen Symbolverknüpfungen Freuds. Hier handelt es sich um einen willkürlichen und gewaltsamen Paradigmenwechsel auf semiotischer Ebene. In der Linguistik bedeutet die Konversion, eine Wortart in eine andere zu überführen. Das Beispiel hier ist schwerwiegender, da es um die Überführung einer Bedeutung in einen anderen diskriminierenden Kontext geht.

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»Freud, I would claim, also ›loses his head‹ at the sight of the woman’s/mother’s vagina insofar as he himself falls victim to the Persean act of cutting off the discourse of female genitalia and replacing it with a discourse of the penis, of that which can be seen, and of that which is seen even when it isn’t there.«25 In eben diesem Akt des »Abschneidens«, der die Verselbständigung und Umbesetzung eines Diskurses mit dem Effekt einer Ent-Unheimlichung impliziert, vollzieht sich die semiotische Konversion. Der Terminus Konversion ist für den vorliegenden Bedeutungszusammenhang von Freud entlehnt, der diesen einführt, um eine psychosomatische Verschiebung oder genauer Verdrängung als Abwehrmechanismus unerträglicher psychischer Zustände – dazu gehören Affekte wie unter anderem Angst, Aggression, Schuld und sexuelle Triebwünsche – auf die körperlich äußerliche und organische Ebene zu bezeichnen.26 Das Medusenhaupt ist von der semiotischen Konversion Freuds infiziert: Die Affekte, die es verkörpert und widerspiegelt, sind die des Betrachters. Und so handelt es sich um einen Zirkelschluss, wenn der von Freud zu- und eingeschriebenen Pathologisierung des »Kastrationsschrecks« oder »Kastrationskomplexes« im Medusenhaupt Ausdruck verliehen wird. Die Ausführungen von Craig Owens zeugen ebenfalls von dessen werkimmanentem Verständnis der Freud’schen Ineinssetzung von »Kopfabschneiden=Kastrieren«27 . Owens bezieht sich dabei auf den

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Gordon 2014, S. 122. »Bei der Hysterie erfolgt die Unschädlichmachung der unverträglichen Vorstellung dadurch, daß deren Erregungssumme ins Körperliche umgesetzt wird, wofür ich den Namen der Konversion vorschlagen möchte. Die Konversion kann eine totale oder partielle sein und erfolgt auf jene motorische oder sensorische Intervention hin, die in einem innigen oder mehr lockeren Zusammenhang mit dem traumatischen Erlebnis steht.« Sigmund Freud, »Die Abwehr-Neuropsychosen. Versuch einer psychologischen Theorie der akquirierten Hysterie, vieler Phobien und Zwangsvorstellungen und gewisser halluzinatorischer Psychosen [1894]«, in: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, 1. Bd., Werke aus den Jahren 1892–1899, London 19642 , S. 57–74, hier S. 63. Freud 1993, S. 47.

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Aufsatz Einige psychische Folgen des Anatomischen Geschlechtsunterschiedes28 von 1925 und hebt die darin geschilderte konträre Analogie beim Aufkommen des Penisneids hervor: Nachdem der Junge den Anblick des weiblichen Genitals mit einer realen Kastrationsandrohung in Verbindung bringe, könne dies bei ihm nach Freud zu folgenden Reaktionen führen: »Abscheu vor dem verstümmelten Geschöpf oder triumphierende Geringschätzung desselben.«29 Nach Freud wüssten die Mädchen hingegen binnen eines Augenblickes der Begutachtung des bis eben noch völlig unbekannten männlichen Genitals, dass sie selbst zwar keinen Penis besäßen, einen solchen aber haben wollen.30 Weil Freud den Mädchen spontane Entschlussfreudigkeit attestiert, sieht Owens im Umkehrschluss bei Freud selbst eine ebenso undistanzierte wie affektive Verkettung durch seine Zuschreibungslust offenbar werden: »Instead, Freud makes his judgement and his decision in a flash; he has seen it [das weibliche Genital] and he knows ›to decapitate = to castrate‹.«31

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Sigmund Freud, »Einige psychische Folgen des Anatomischen Geschlechtsunterschiedes [1925]«, in: Schriften über Liebe und Sexualität, Frankfurt a.M. 1994, S. 169–181. (Freud 1994b) Freud 1994b, S. 175. An anderer Stelle ergänzt er diesbezüglich: »Beim Manne erübrigt vom Einfluß des Kastrationskomplexes auch ein Maß von Geringschätzung für das als kastriert erkannte Weib. […] Das Weib anerkennt die Tatsache seiner Kastration und damit auch die Überlegenheit des Mannes und seine eigene Minderwertigkeit, aber es sträubt sich auch gegen diesen unliebsamen Sachverhalt.« Sigmund Freud, »Über die weibliche Sexualität [1931]«, in: Schriften über Liebe und Sexualität, Frankfurt a.M. 1994, S. 189–209, hier S. 195. (Freud 1994c) Freud 1994c, S. 195. Craig Owens, »The Medusa Effect, or, The Specular Ruse«, Craig Owens. Beyond Recognition. Representation, Power, and Culture, hg. von Scott Bryson, Barbara Kruger, Lynne Tillman und Jane Weinstock, Berkeley/Los Angeles/London 1992, S. 191–200, hier S. 196–197. Kursivsetzungen im Original.

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3.2 Aus den Augen schaffen Ein fundamentaler Unterschied besteht allerdings darin, ob es lediglich darum geht, Kastrationsangst hervorzurufen, also eine diffuse Angst vor dem Verlust des Genitals, oder ob die Kastration de facto als Bedrohung angesehen oder gar erlebt wird: »In Freudian theory, castration is posed as a threat coming from the father. The boy, who is passionately attached to his mother, begins to see the father as a rival and imagines that the father will castrate him, making him like the mother. In this way, the father is constructed as the castrator, the one who mutilates the genitals. Fear of castration by the father overcomes the boy’s desire for the mother and he eventually renounces her in the knowledge that one day he will inherit the power of his father and have a woman of his own. His mother’s body inspires castration fear but – according to Freud – her genitals do not threaten to castrate.«32 Barbara Creed prägt mit ihrer feministischen Lesart Freuds eine Position, in welcher sie bereits Konsequenzen der semiotischen Konversion aufzeigt und zudem sein Verhaftetsein im hermetischen System der Psychoanalyse entlarvt: Denn eigentlich stehe bei der Kastrationsangst die Angst vor dem exekutiven Potential des Vaters im Vordergrund. Die Freud’sche Analogisierung des abgetrennten Kopfes der Medusa mit dem weiblichen Genital prägt den Diskurs des Phallus’ von Jacques Lacan, was der Rezeption des Hauptes der Medusa ebenfalls inhärent ist. Aber das Entscheidende in diesem Kontext ist nicht die konjunktive oder indikative Sichtbarkeit, also das, was nach Gordon bezüglich des Phallus’ gesehen werden kann oder was gesehen wird, auch wenn es nicht vorhanden oder unsichtbar ist. Vielmehr geht es mir im Abgleich vom Phallus mit dem weiblichen Genital respektive dem Medusenhaupt um ihre phallische Qualität ex negativo, also um den Prozess der Ablösung der Möglichkeit des Sichtbaren von der tatsächlichen Sichtbarkeit. 32

Barbara Creed, The Monstrous-Feminine. Film, feminism, psychoanalysis, London/ New York 1993, S. 109.

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Wenn an diesem Punkt der kritische Blick auf die psychoanalytische Mytheninterpretation im Zuge eines wilden Denkens auf ein geschichtswissenschaftliches Theorem trifft, lässt sich die These aufstellen, dass obwohl Medusa fest im »kulturellen Gedächtnis«33 verankert zu sein scheint, sie dennoch aus kulturhistorischer Perspektive eine symbolische Figur des Verschwindens oder der Verdrängung ist, insbesondere wenn es um die Manifestation des Patriarchats geht. Diese Sichtweise folgt der Definition des Assmann’schen Begriffes von Felix Denschlag, der hervorhebt, dass vor allem die Selektivität und Exklusivität in Form eines Ausschlusses der Geschichte anderer identitätsstiftend sei.34 Für das Medusa-Mythologem ließe sich daraus ableiten, dass Freud und Ferenczi durch ihre ›Deutung‹ auch eine bestimmte kulturgeschichtliche Zugehörigkeit verkörpern, die Teil ihrer den Mythos überlagernden Rezeption ist sowie der Kanonisierung wird: Eine Sichtweise, die darin mündet, das Medusenhaupt und den (An)Blick des weiblichen Genitals aus den Augen zu schaffen. Diese ideologische Disposition wird von aktuelleren Positionen aufgegriffen und interdisziplinär diskutiert: »It could be argued that Medusa’s slaying […] is actually a symbol of the usurping of a long line of female goddesses and the dying-out of the cultures that worshipped them, to be replaced by masculine-headed, and orientated, culture«, so Jay Dolmage.35 Mit ähnlichem Ausgangspunkt aber optimistischfeministischem Ausgang sieht Susan R. Bowers diese Entwicklung: »The journey of Medusa in Western culture is a journey from the mutilation and destruction of the female body in Greco-Roman myth to the cele-

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Siehe dazu zum Beispiel: Aleida Assmann et al. (Hg.), Schrift und Gedächtnis, München 1983; Jan Assmann und Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988. Felix Denschlag, Vergangenheitsverhältnisse. Ein Korrektiv zum Paradigma des »kollektiven Gedächtnisses« mittels Walter Benjamins Erfahrungstheorie, Bielefeld 2017, S. 156. Jay Dolmage, »Metis, Mêtis, Mestiza, Medusa: Rhetorical Bodies across Rhetorical Traditions«, in: Rhetoric Review, Vol. 28/Nr. 1, 2009, S. 1–28, hier S. 17. (Dolmage 2009)

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bration of the whole female self.«36 In diesem Kontext ist der dominantsubstitutive semiotische Prozess, also des Austauschen, Umbesetzen und Verdrängen von Macht mit Jacques Lacans La signification du phallus von 1958 zu interpretieren.37 Lacan formuliert hier das Einwirken des Signifikats auf den Signifikanten als mutablen und organischen Prozess im Hinblick auf seinen Sinngehalt: »[C]’est la découverte de Freud qui donne à l’opposition du signifiant et du signifié la portée effective où il convient de l’entendre : à savoir que le signifiant a fonction active dans la détermination des effets où le signifiable apparaît comme subissant sa marque, en devenant par cette passion le signifié.«38 Diese Semiose verläuft nicht ohne Spuren, denn das »Erleiden«39 der Markierung wird in das Signifikat augenscheinlich übernommen und in das Zeichen (mit)eingeprägt. So fügt das Sichtbare dem Signifikat einerseits erhebliche Bedeutungen zu und erweitert dessen Indexikalität. Andererseits hebt Lacan gerade bezüglich des Phallus’ hervor – den er als

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Susan R. Bowers, »Medusa and the Female Gaze«, NWSA Journal, Vol. 2, No. 2 (Spring, 1990), S. 217–235, hier S. 235. (Bowers 1990) Jacques Lacan, »La signification du phallus [1958]«, in: Ders., Écrits II. Nouvelle édition. Texte intégral, Paris 1999, S. 163–174. (Lacan 1999) Deutsche Übersetzung: Jacques Lacan, »Die Bedeutung des Phallus [1958]«, in: Ders., Schriften II, hg. von Norbert Haas, Freiburg i.Br. 1975, S. 119–132. (Lacan 1975) Gewiss ist es ein Wagnis, Freud semiotische ›Brüche‹ oder wie im vorliegenden Kontext ›semiotische Konversion‹ zu attestieren, da die Linguistik nach ihm entstand. Lacan weist Freud allerdings nicht nur als Entdecker des analytischen Systems aus, in welchem Freud die Formeln der Linguistik antizipiert, sondern er macht auch deutlich, dass die Gegenüberstellung des Signifikats zum Signifikanten für das Operieren in und mit diesem System absolut notwendig ist. Lacan 1975, S. 124 und Lacan 1999, S. 166. Nicht zuletzt entsteht vor allem durch die Rezeption Lacans eine Öffnung dieses Systems, die es überhaupt erst möglich macht, Verknüpfungen a posteriori (wieder-)herzustellen und zu überprüfen, wie es besonders für das Medusa-Theorem von grundlegendem Interesse dieses Kapitels ist. Lacan 1999, S. 166. Hervorhebung der Autorin. Vgl. Lacan 1975, S. 124.

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»le plus saillant« und »le plus symbolique au sens littérale (typographique) de ce terme«40 bezeichnet – dass dieser seine Rolle nur verschleiert spielen kann: »[…] Das heißt seinerseits nur als Zeichen der Latenz, mit der alles Bedeutbare geschlagen ist, sobald es in der Signifikantenfunktion aufgehoben* ist. Der Phallus ist Signifikat dieser Aufhebung* selbst, die er durch sein Verschwinden inauguriert (initiiert).«41 Demnach wäre der Phallus als Zeichen in einem fortwährenden Stadium des Noch-Nicht-Sichtbaren, also im perpetuierlichen Erscheinen: Ein Status, den laut Lacan jedes Zeichen in dem Moment ereilen kann, wenn Signifikat und Signifikant in eins fallen. Das, was noch nicht sichtbar ist, lässt sich aber erahnen, was im lacan’schen Sinne das Begehren hervorruft, in welchem das Subjekt mit seiner eigenen und der »Spaltung« des Anderen konfrontiert ist.42 Diese »Spaltung« bezeichnet eine asymptotische Beziehung, also eine unendliche Annäherung an den oder das Andere(n), die gesteuert und determiniert ist vom Begehren nach dem Phallus, der eben im fortwährenden Stadium des Noch-NichtSichtbaren verharrt. Lacan hat das von Freud herausgestellte Inkraftsetzungspotential des »Erblickens« im Hinterkopf, wenn er die besagte »Spaltung« mit der Kastrationsangst in Verbindung bringt. Konkret äußert sich Lacan zur Ebene des Sehens in Die Spaltung von Auge und Blick43 von 1964 wie folgt: »Der Blick erscheint für uns allein in Form einer befremdlichen Kontingenz, Symbol dessen, was wir in unserem Gesichtskreis finden, gestoßen gleichsam durch unsere Erfahrung: jener konstitutive manqueder Kastrationsangst. Auge und Blick, dies ist für uns die Spaltung, in der sich der Trieb auf der Ebene des Sehfeldes manifestiert.«44

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Lacan 1999, S. 170. In der deutschen Übersetzung heißt es »Gipfel des Symbolischen«. Lacan 1975, S. 128. Lacan 1975, S. 128. Hier finde ich die deutsche Übersetzung treffend, die mit »*« versehenen Ausdrücke sind im französischen Originaltext auf Deutsch, weil sie sich auf Freud beziehen. Vgl. ebd., S. 129. Lacan 1978, S. 73–84. Ebd., S. 79.

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Bevor es um eine genauere Analyse des Blickes gehen wird, ist es notwendig, hier zuerst eine punktuelle Vertiefung von Lacans Freudrezeption voranzustellen. Denn ein relevanter Unterschied zwischen Lacan und Freud ist, dass für Lacan die »Deutung des Phallus, des Subjekts zum Phallus ohne Rücksicht auf das anatomische Geschlecht«45 erfolgen soll. So stellt er eingangs von La signification du phallus im Hinblick auf den Kastrationskomplex die Frage, warum der Mensch sich nur über eine Bedrohung – ja sogar nur unter dem Aspekt einer Beraubung – die Attribute seines Geschlechts zu eigen machen könne.46 Bereits bei Freud wäre genau dies die »essentielle Störung der menschlichen Sexualität«47 , eine Aporie, von der alle Geschlechter betroffen seien. Im vorliegenden Fall ist aber die Frage Lacans von größerer Bedeutung, weil eben diese potentielle Beraubung, der das Geschlecht ausgesetzt sei, nicht vom Phallus verkörpert wird, sondern von dem mit Ohnmacht konnotierten weiblichen Genital, wohingegen der Phallus seine Wirkungsmacht auch dann behält, wenn der Akt der Ablösung vollzogen ist. »Le phallus ici s’éclaire de sa fonction. Le phallus dans la doctrine freudienne n’est pas un fantasme, s’il faut entendre par là un effet imaginaire. Il n’est pas non plus comme tel un objet (partiel, interne, bon, mauvais etc.) pour autant que ce terme tend à apprécier la réalité intéressée dans une relation. Il est encore bien moins organe, pénis ou clitoris, qu’il symbolise. Et ce n’est pas sans raison que Freud en pris la référence au simulacre qu’il était pour les Anciens.«48 Lacan hebt, für den vorliegenden Kontext bedeutend, für ihn allerdings zweitrangig, hervor, dass der Phallus sowohl die Gestalt des Penis als auch der Klitoris annehmen kann, was ebenfalls bei Freud schon

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Lacan 1975, S. 121. Ebd., und Lacan 1999, S. 163. Lacan 1999, S. 163. Ebd., S. 168.

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erwähnt wurde.49 Aber viel wichtiger erscheint es Lacan, auf die vielgestalten Verkörperungen des Phallus hinzuweisen, die auch innerhalb der Freud’schen Doktrin keine Phantasmen darstellten, da ihnen ein Realitätsbezug inhärent sei. Für Lacan ist es von Bedeutung, dass Freud zum Ausdruck seiner Interpretationen Simulakren des antiken Denkens verwendet, worin auch er sich positioniert, wenn er konkret auf die Verankerung des Phallus zwischen den Sphären der Begriffe Nous und Logos verweist: »La fonction du signifiant phallique débouche ici sur la relation la plus profonde: celle par où les Anciens y incarnaient le Νοῦζ et le Λογòζ.«50 Stellt man sich den Phallus nun in diesem Bedeutungskontext vor, so steht er dafür, dass sein Erscheinen die symbolische Ordnung zwar stört, aber auch gleichzeitig die ihr zu Grunde liegende Arbitrarität und ihre männliche Konnotation bestätigt. Dies begründet sich zum einen darin, dass er in eben diesem System erkannt wird und darin überhaupt erst seine Bedeutung entfalten kann. Zum anderen hinterlässt sein Ausdruck in Simulakren klare Spuren im Prozess der Semiose des Phallus. Allerdings ist der Phallus in diesem Prozess gefangen, was dazu führt, dass er nicht zuletzt seine eigene, stete Aktualisierung symbolisiert und keinen klaren Zeichenstatus erreicht. Für die Analyse der Bedeutung des Blicks ist es hier sehr aufschlussreich, eine weitere Position von anderer Rhetorik dazwischenzuschalten, weil sie den Überbau feministischer und postmoderner Positionen betrifft und so einen hohen Aussagewert über ein weites Feld von Interpretationen hat: »Though the female genitals are just as visible as the male, their portal shape announces hidden spaces behind them. This is their metaphorical reserve: a metaphor for metaphoricity itself«, so Peter Benson.51 Mit »eine Metapher der Metaphorizität an sich«52 ist aber 49

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»Der Mann hat doch nur eine leitende Geschlechtszone, ein Geschlechtsorgan, während das Weib deren zwei besitzt: die eigentlich weibliche Vagina und die dem männlichen Glied analoge Klitoris.« Freud 1994c, S. 194. Lacan 1999, S. 174. Jay Dolmage, »Metis, Mêtis, Mestiza, Medusa: Rhetorical Bodies across Rhetorical Traditions«, in: Rhetoric Review, Vol. 28/Nr. 1, 2009, S. 1–28, hier S. 17. (Dolmage 2009) Benson 1994, S. 114.

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weder ein Alles-oder-Nichts- noch ein Beliebigkeitsprinzip gemeint – beides kann der symbolischen Funktion auf einer Metametaebene unterstellt werden, sondern, dass sich hinter dem weiblichen Genital, der äußerlich sichtbaren Oberfläche eines übersemantisierten Portals, ein noch viel interessanterer, verborgener Bereich befindet, der über die Grenzen des Sichtbaren und die Körpergrenze hinauswirkt. Doch geht diese geheimnisvolle Ausstrahlung von einem unheimlich überdeterminierten Ort aus, der, verborgen aufgrund seiner Körpergrenze mit einem sinnbildlichen Vakuum geschlagen ist, was das Zuschreibungspotential zusätzlich steigert. Bei Freud geht es darum, das weibliche Genital männlich zu besetzen und letztlich im männlichen Prinzip verschwinden zu lassen. Bereits angeführt wurde das Zitat Paul Gordons, worin er Freud mit Perseus gleichsetzt, denn in Das Medusenhaupt vollziehe Freud den koinzidenten Akt des Abschneidens eines Diskurses über das weibliche Genital und sein Ersetzen mit dem Diskurs über den Phallus: Das, was gesehen werden kann, wird mit dem ersetzt, was gesehen wird, sogar wenn es nicht da ist.53 Barbara Creed stellt die Bedeutung dieser Umbesetzung des Diskurses heraus:54 Die Frau wird bereits als ›kastriert‹ angesehen, weshalb ihr daraus ›folgerichtig‹ innerhalb der Geschlechterdichotomie die Repräsentation eines Fehlens oder eines körperlichen Mangels zugewiesen wird – »jener konstitutive manque∼Fehl der Kastrationsangst«55 bei Lacan – der sie zugleich auch der männlich dominierten, symbolischen Ordnung und dem männlichen Blick unterwirft: »It is because woman is ›castrated‹ that she is seen to represent ›lack‹ in relation to the symbolic order while man inherits the right to rep-

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Gordon benutzt hier den englischen Ausdruck »penis«, was ich aber als Phallus auffasse, denn es wird ja nicht das Geschlecht übertragen, sondern dessen symbolische Ebene in Anlehnung an Lacan. »Freud […] falls victim to the Persean act of cutting off the discourse of female genitalia and replacing it with a discourse of the penis, of that which can be seen, and of that which is seen even when it isn’t there.« Gordon 2014, S. 122. Creed 1993, S. 110. Lacan 1978, S. 79.

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resent this order. […] The argument that woman’s genitals terrify because they might castrate challenges the Freudian and Lacanian view and its association of the symbolic order with the masculine.«56 Hier schließt sich der Kreis einer Medusa als symbolische Figur des Verschwindens und der Verdrängung, da ihre Enthauptung sowohl für die Ablösung und das Aussterben von matriarchalen Kulturen steht, die weibliche Gottheiten verehrten, als auch für deren Übernahme und Umbesetzung in patriarchale Gesellschaftsformen mit den ihnen entsprechenden Gottesbildern, die nun die hierarchisch männliche Ordnung repräsentieren.57 Dieser aus Umwertung, Umbesetzung und Aus den Augen schaffen zusammengesetzte Mechanismus kann wiederum seine eigenen Beweggründe nicht verschleiern. Im Gegenteil, genau diese haben auch eine Instandsetzung feministischer Lesarten des Medusa-Mythologems und ihrer Rezeption veranlasst, in welcher sich die Perspektive nun umkehrt. Susan R. Bowers formuliert es deutlich: »[…] I am suggesting that a feminist reading of Medusa will reveal that she is actually the icon of the female gaze, that powerful expression of female subjectivity and creativity. The great irony of Medusa is that she has become a classic example of the female object, though the greatest emphasis in the Medusa myth is the terrifying power of her own gaze.«58 Dieses Herausstellen des »weiblichen Blicks« markiert eine drastische Umkehr bei der Deutung der komplexen Verschränkung von Blick und Bild. Nicht mehr im Vordergrund des Medusa-Mythologems stünde nun demnach, dass sich Medusas Macht vor allem in der Gewalt von jemand anderem – Perseus oder der Psychoanalyse – ausdrückt. Wesentlich bedeutsamer ist ihre Wirkung als Apotropaion, versehen mit einer Kraft, die aus ihrem eigenen Blick reflexiv zum Betrachteten hervor und über ihren eigenen Tod hinausgeht. Der Kopf der Medusa ist wahrlich kein ›Ob-

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Creed 1993, S. 110. Dolmage 2009, S. 17. Bowers 1990, S. 219.

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jekt‹, wie es Brigid Doherty formuliert, sondern weil das Medusenhaupt etwas nicht von Menschenhand Geschaffenes ist, ein Acheiropoieton,59 ist es durchdrungen von göttlicher Kraft und vielmehr als »Ikone des weiblichen Blicks«60 anzusehen, so Susan R. Bowers. Und Medusa könne, wie es Jean Clair prophezeit, »Wahrzeichen des Blicks« und sogar die »heilige Patronin der Künste« sein, allerdings in einer anderen »Religion«, als der unsrigen.61 Aus der Sicht von Owens wären die Voraussetzungen für eine solche Interpretation aber seit Freud denkbar schlecht: »Since Freud’s wellknown text ›Das Medusenhaupt‹, the meaning of the myth has itself been petrified, immobilized.«62 Denn genau beim Fokussieren auf den Vorgang des Petrifizierens, der Erektion, und auf das immobile Petrifikat, den Phallus, wird nicht nur Medusa erneut zum Verschwinden gebracht, sondern damit einhergehend auch das Potential des »weiblichen Blickes«. Medusas apotropäische Wirkung kehrt sich ebenfalls symptomatisch auf verschiedenen Ebenen gegen sie selbst. Auch für diesen Punkt liefert Ferenczi eine Interpretationsgrundlage: »Die angstvoll und ängstigend vorquellenden Augen des Medusenhauptes haben auch die Nebenbedeutung der Erektion,«63 die Freud explizieren wird: »Der Anblick des Medusenhauptes macht Starr vor Schreck verwandelt den Beschauer in Stein. Dieselbe Abkunft aus dem Kastrationskomplex und derselbe Affektwandel! Denn das Starrwerden bedeutet die Erektion, also in der ursprünglichen Situation den Trost des Be59

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»Indem Marin den enthaupteten Kopf der Medusa als ein Objekt auffasst, das erst durch seine Selbstbetrachtung bildhauerisch und künstlerisch gemacht wurde, gilt ihm das Haupt als eine Art Acheiropoieton – als ein nicht von Menschenhand geschaffenes Ding.« Brigid Doherty, »Monster, Medusa, Vera icon. Gesichter und deren Verlegung in Rosemarie Trockels Kunst«, in: Gesichter. Kulturgeschichtliche Szenen aus der Arbeit am Bildnis des Menschen, hg. von Sigrid Weigel, München 2013 S. 151–168, hier S. 163. Bowers 1990, S. 219. »Emblème des puissance de la vue, elle pourrait être, dans une autre religion que la nôtre, la sainte patronne des artistes.« Clair 2006, S. 11. Owens 1992, S. 196 Ferenczi 1923, S. 69.

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schauers. Er hat noch einen Penis, versichert sich desselben durch sein Starrwerden. […] Auch das erigierte männliche Glied dient als Apotropaeon, aber kraft eines anderen Mechanismus. Das Zeigen des Penis – und all seiner Surrogate – will sagen: Ich fürchte mich nicht vor dir, ich trotze dir, ich habe einen Penis. Das ist also ein anderer Weg zur Einschüchterung des bösen Geistes.«64 Erschrockenheit, sich selbst Trost spenden, Selbstvergewisserung, Widerstand leisten, das ist es, was Freud in der vom Anblick des Medusenhauptes ausgelösten männlichen Erektion ›sieht‹. »Das Zeigen des Penis – und all seiner Surrogate«65 verweist auf die Schlangen, in welche Minerva Medusas Haare verwandelt hat, als ›Strafe‹ für die ihr widerfahrene Vergewaltigung.66 Dass gerade diese Doppelbödigkeit der tragischen Metamorphose, die Medusa ereilt hat, signifikant für die Erektion geworden ist, spiegelt wieder, dass sie aufgrund ihrer Schönheit Neptuns Begehren und die anschließende Vergewaltigung in Minervas Tempel selbst verschuldet und geradezu ihre Eifersucht herausgefordert habe. Wenn nun diese narrativen Verknüpfungen bei Ovid wiederum die Bedeutung der Schlangen des Medusenhauptes eingehen und dergestalt zum Ausdruck der Fetischisierung innerhalb der Freud’schen Doktrin avancieren, so transportieren sie dorthinein auch das Stigma ihrer Verwandlung als Strafe. Und dies geschieht folglich in der Konsequenz des Medusa angetanen Unrechts durch einen gewalttätig die perkutane Ebene des (An)Blicks überschreitenden Begehrenden. »To argue that the Medusa’s severed head symbolizes the terrifying castrated female genitals, and that the snakes represent her fetishized and comforting imaginary phallus, is an act of wish fulfilment par excellence. Freud’s interpretation masks the active, terrifying aspects of the female genitals – the fact that they might castrate. The Medusa’s entire visage is alive with images of toothed

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Freud 1993, S. 47–48. Ebd., S. 48. Ovid 2004, Buch VI, 800, S. 125.

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vaginas, poised and waiting to strike. No wonder her male victims were rooted to the spot with fear.«67 Auch in diesem Punkt stellt Creed die Einschaltung Freuds in das Medusa-Mythologem heraus, indem sie auf die hermeneutische Wunscherfüllung hinweist, die den Fetisch repräsentierenden, phallischen Schlangen zu Grunde liegt. Die Fetischisierung des Medusenhauptes befördert auch die Verschiebungen von Attributen einzelner Komponenten dieses ikonischen Konglomerats ins Zwitterhafte.68 Die Glandes phalli werden folglich zu aufgerissenen und mit Giftzähnen versehenen Schlangenmäulern, die den Blick in ihre gleißenden Rachen freigeben als Duplikate der Vagina dentata. Jean Clair deutet die aufgerissenen Schlangenmäuler sogar als die im Schrei zum Rictus erstarrten Münder von Neugeborenen.69 Darüber hinaus ist die Terminologie des Maskierens von erheblicher Bedeutung, um zu erfassen, was Freuds ›Interpretation‹ dem Medusenhaupt zugefügt hat: Der Diskurs über den Phallus und seine Fetischisierung maskiert und verdeckt die aktiven, furchterregenden Aspekte weiblicher Genitalien und ihr Handlungspotential, Kastrieren zu können. Medusas männliche Opfer haben scheinbar keine andere Wahl, als ihre Angst aus Feigheit zu maskieren und gleichzeitig erstarrend sich selber Trost durch Erektion verschaffen zu müssen, diese Auffassung verweist auf das dem Kapitel übergeordnete Zitat von Hélène Cixous. Die Re-Aktionen des Petrifizierens, Erstarrens oder Erigierens als Maskerade der Angst stehen in Zusammenhang mit dem, was Lacan – hier in der verdichteten Rezeption von Owens – zu Blick, Bild und Pose ausführt: »In placing the moment of arrest prior to the moment of seeing, Lacan is, of course, simply describing what happens when we look

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Creed 1993, S. 111. Kursivsetzung im Original. Freud ignorierte den Vagina dentata-Aspekt bei Medusa. Creed hingegen verweist in diesem Kontext auf Bisexualität, aber sie meint eher das »Zwitterhafte«. Creed 1993, S. 111. Clair 2006, S. 41.

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at a picture, any picture – first an arrested gesture (painting, photograph); then the act of viewing which completes the gesture. But he is simultaneously describing the mechanism of pose: to strike a pose is to present oneself to the gaze of the other as if one were already frozen, immobilized – that is, already a picture. For Lacan, then, pose has a strategic value: mimicking the immobility induced by the gaze, reflecting its power back on itself, pose forces it to surrender. Confronted with a pose, the gaze itself is immobilized, brought to a standstill (for the object does not move with the eye); a pose, then, is an apotrope. And to strike a pose is to pose a threat.«70 Für Lacan ist die apotropäische Pose bereits ein Bild, das die Rezipient*innen allein durch den An-Blick plötzlich einfrieren lässt und in einen immobilen Zustand versetzt, weil die Arretierung das Gesehene durchdringt oder weil gar der Zustand der Arretierung das Sujet ist. Noch dazu wirkt das Gesehene, das Bild, als der reflexive Ausgangspunkt, von dem die bedrohliche Überlagerung von Bild und Blick – das Antizipieren der Affekte des Betrachters – ausgeht. In dieser riskanten Konstellation scheint es so, als würde das Bild über einen eigenen Blick verfügen: Einen starren Bildblick, der zwar selbst blind aber dennoch imstande ist, zu Sehen zu geben und sich dadurch des Betrachters bemächtigt. Dass, worauf es Perseus abgesehen hat, ist die apotropäische Fähigkeit Medusas, ihr petrifizierender (An)Blick, den er nun, um sie zu bezwingen, gegen sie selbst richtet. Von daher ist es die größte Herausforderung, ihre Enthauptung in genau dem Moment auszuführen, bevor Medusas Antlitz zu versteinern beginnt, sie ihre Macht verlieren und sterben würde. So durchlebt Medusa zwei Metamorphosen: Nachdem Minerva sie zuerst in das Monstrum mit todbringendem Antlitz verwandelt hat, veranlasst Perseus ihre zweite und legt sogar durch den von ihm ausgeführten Schwerthieb ihren neuen Daseinszustand fest, denn

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er greift ein in den Prozess ihrer Autopetrifikation,71 aus dem das Medusenhaupt als Symbol im Schwellenzustand zwischen Leben und Tod hervorgeht. Da fortan der abgetrennte Kopf Medusas nunmehr von ihrer apotropäischen Wirkungsmacht am ›Leben‹ gehalten wird, ist sie beileibe mehr tot als lebendig. Für Craig Owens trennt Perseus’ Schwert nicht einfach nur den Kopf oder Phallus vom Körper, er separiere viel mehr »an initial moment of seeing from a terminal moment of arrest.«72 Diese zwei Momente, der ursprüngliche Moment des Sehens und der abschließende Moment der Arretierung, definiert Katharina Sykora als »doppelten Tod«73 : »[…] durch die Versteinerung, die Medusa im Blick auf ihre Reflexion sich selbst zufügt, und durch sein [Perseus’] Krummschwert, mit dem er ihr den Kopf vom Leib schlägt. Beide Tode trennt nur ein infinitesimaler zeitlicher Abstand. Genauer gesagt, interveniert der Schwerthieb des Perseus momenthaft in den Prozess der zugleich fremd- und selbstverursachten Versteinerung der Medusa. Intentionale Handlung und komplexes Ereignis, Tötung und Selbsttötung durchkreuzen einander.«74

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Vgl. Katharina Sykora, Die Tode der Fotografie. Tod, Theorie und Fotokunst, Band II, Paderborn 2015, S. 55. (Sykora 2015) »Lacanian psychoanalysis also enables us to detect, in the myth’s central episode, a crucial elision; for this episode collapses what are, in fact, two distinct moments: one in which Medusa sees herself, and another in which she is petrified. These two moments must logically be distinct: how can Perseus decapitate Medusa, if she is already turned to stone? What Perseus’ sword separates, then, is not only a head (or phallus) from a body, but also, in narrative terms, an initial moment of seeing from a terminal moment of arrest.« Owens 1992, S. 197. Sykora 2016, S. 55. Ebd.; Vgl. Louis Marin, dieser schreibt weniger prägnant von einer »infinisimalen Dauer«, einem Zwischenraum den er als »[…] Abstand, worauf sich die Repräsentation ›gründet‹, der Anstand der Gegenwart: ein Punkt, der ein Loch ist, das Loch des (perspektivischen) Auges, in das der (theoretische) Blick hineinfällt.« Louis Marin, Die Malerei zerstören, übers. von Bernhard Nessler, Berlin 2003, S. 199. (Marin 2003)

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Die von Perseus ausgehende intentionale Handlung ist das Durchkreuzen und Arretieren von Medusas Verwandlung sowie das Annektieren ihrer Macht: »Thus he [Perseus] first deflects the threat of Medusa onto Medusa herself; he then channels the power of Medusa to his own ends. The first action is translation; the second, transformation«, so Inez Hedges.75 Perseus lenkt die von Medusa ausgehende Gefahr ihres Blickes um und lässt diesen mit ihrem duplizierten Blick kollidieren. Dass, was Hedges hier als transformation bezeichnet ist genau genommen eine Neutralisierung: Perseus macht sich den Blick von Medusa zu Eigen und lenkt ihn für seine Zwecke um; er setzt sie dem Bildblick seines Schildes aus und somit ihre Versteinerung in Gang. Perseus’ »Intervention«76 durch die Enthauptung als Handlungsakt wäre demnach ein weiterer Moment, der diesem Vexierspiel hinzukommt. Das nahezu zeitgleiche Zusammenfallen von Medusas beginnender Verwandlung und ihrer Enthauptung neutralisiert die von ihr ausgehende Gefahr und bannt ihre Macht: »The apotropaion is ›homeopathic‹: it kills with its own negativity, which turns the apotropaion into a ›positive‹ function«, so Barbara Baert.77 Dazu weiter: »The apotropaion taps its power from two necessary conditions: the visual shock of the abject and the dangerous hole. The idea consists in the fact that the hole ›sucks‹ away. The apotropaion kills ›homeopathically‹ the obscene evil, the ethical filth, by neutralizing it in its dark abyss. The particular function of obscenitas is described in terms of absorption, tumbling, and is activated in what the obscene

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Inez Hedges, »Post-Face Translation/Transformation, in: SubStance. Vol. 6/7, No. 16, Translation/Transformation (Summer, 1977), S. 172–173, hier S. 173. Hervorhebungen im Original. Sykora 2016, S. 55. Barbara Baert, »Cutting the throat. Obscenity and the case of the Johannesschüssel«, in: Scenes of the obscene. The non-representable in art and visual culture, Middle Ages to today, hg. von Kassandra Nakas/Jessica Ulrich, Weimar 2014, S. 127–146, hier S. 138. (Baert 2014)

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endeavors: genitals, open wounds, blood, the dark gaze of the gruesome head/face.«78 Die bei Baert beschriebenen Kräfte der Abjektion und der obscenitas sind überaus mächtig. Das Abstoßende und das Absorbierende liegen bei diesem Apotropaion so dicht beieinander, dass eine Neutralisation, die auch Transformation ist, möglich wird, weil sich ihre Kräftefelder überschneiden. Louis Marin sieht in der Verdichtung des Moments von Medusas Autopetrifikation und ihrer damit einhergehenden Bannung gar eine »Negation«79 : »[…] da die Kraft weder ausgeübt wird noch sich manifestiert, da sie friedlich in den Zeichen ruht, die sie bedeuten und auf sie weisen: und Bewahrung, das sich die Kraft im und durch den RepräsentationsEffekt als legitime Autorität, als zwingendes Gesetz, als autorisierte Todesdrohung gibt, die ständig unmittelbar vor ihrer Aktualisierung steht.«80 Eine Kraft, die »friedlich in den Zeichen ruht« und zugleich ein »zwingendes Gesetz« mit »autorisierter Todesdrohung« befördert, geht über eine Neutralisierung hinaus, weil sie nach Aufhebung, Tilgung, und eben nach Negation strebt. In seinem Psychoanalytischen Zwischenspiel führt Marin dazu weiter aus: »Das Medusenhaupt und sein Blick, das ist das erwartete Objekt. Und der Blick, der es erwartet, sowie die Enthauptung, das ist der Blick, der entdeckt, dass das erwartete Objekt nicht da ist.«81 Jean Clair fügt der Bedeutung und Auswirkung der Kastrationsangst noch eine weitere hinzu, indem er die optische Sogwirkung beim Anblick des weiblichen Genitals mit der gravitativen Anziehungskraft eines »schwarzen Loches«82 vergleicht – Barbara Baert

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Baert 2014, S. 130. Louis Marin, Von den Mächten des Bildes [1993], übers. von Till Bardoux, Paris 2007, S. 20. (Marin 2007) Marin 2007, S. 20. Marin 2003, S. 199. Clair 2006, S. 40.

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spricht hier von einem »dangerous hole«83 . Außerdem wäre das weibliche Genital – durch seine einer Mandorla ähnlichen Form – mit einem Auge zu vergleichen, allerdings sei dieses mit einer blind spiegelnden Iris ausgestattet, von der ein todbehafteter, »böser Blick«84 ausgehe. Sogar als »Invagination«85 bezeichnet Jean Clair die Folgen der Macht dieses (An)Blicks: Das, was das Leben von Beginn an mit dem Tode infiziert, ist auch die Drohung einer Rückkehr in die »cloaque«86 , die sich in das Dasein einschreibt oder sich im Sinne der Metapher der Invagination darin ›einstülpt‹. Mit Barbara Creed lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass es schwierig bleibt, den Mythos kastrierender Frauen aufzulösen. Dieser gehe letztlich klar aus männlichen Ängsten und Fantasien hervor, die das weibliche Genital als Falle und schwarzes Loch interpretieren wollen, das sie verschlingen und in Stücke reißen könnte.87 Oder mit den hoffnungsvollen Worten von Gilles Deleuze und Félix Guattari gesprochen: »Die Physiker sagen: Löcher bedeuten 83 84

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Baert 2014, S. 130. »La vulve, couronnée de la toison, le vagin velu et bridé, avec ses lèvres qui ressemblent à des paupières hypertrophiées, évoquent bien un œil à demi fermé. Mais à poursuivre la comparaison formelle, il faut la mener à terme. S’il agit d’un œil, c’est un œil vitreux, chassieux et sans éclat, un œil dont la pupille s’est éteinte, dont l’iris mobile a été transformé en un trou noir et fascinant; c’est en réalité un œil énucléé, gluant, glaireux dont entre les plis et les poils, semble nous fixer sans que nous puissions le voir. Plus qu’un sexe, c’est un œil maléfique qui est jeté sur nous, et c’est le regard de la mort. C’est la mauvais œil qui nous rappelle au parchemin dur et glacé u corps mort, à la rigidité cadavérique, qui nous rejette dans la monde de l’inerte, du minéral, de l’aveugle.« Clair 2006, S. 40. »L’enfant grandit sou l’œil de sa mère, tout autant qu’il grandit en oblitérant le souvenir de son sexe. Jeter rétrospectivement son regard sur l’organe génital de la mère, c’est donc se retourner sur soi pour revenir là d’ou vient et, du même coup, se mettre dans la position du coupable sur qui pèse l’œil du châtiment. C’est, par une sorte d’invagination de son être, courir le risque de revenir au cloaque, à l’état in-fans où l’on est privé de paroles, de moyens d’expression, tout autant qu’on est menacé dans son identité de petit homme et dans l’affirmation de sa virilité.« Clair 2006, S. 41. Ebd. Creed 1993, S. 106.

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nicht das Fehlen von Teilchen, sondern sind Teilchen, die sich schneller als das Licht bewegen. Fliegende After, schnelle Vaginas, es gibt keine Kastration.«88 Das dritte Kapitel steht für eine ›Rekontextualisierung‹, die anhand der Diskursanalyse der psychoanalytischen Lesart Sigmund Freuds im Hinblick auf das Medusenhaupt und ihre mythologische Enthauptung von Perseus nachvollzogen wird.

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Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus [1980], übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992 S. 51.

Resümee

Alles, was, auch beim Gerichtsverfahren, über den einfachen Tod hinausgeht, scheint mir bloße Grausamkeit; wir sollten doch eigentlich soviel Respekt haben, daß wir sie unversehrt ins jenseitige Leben schicken; aber das ist unmöglich, wenn wir sie durch unerträgliche Folterqualen außer sich gebracht und der Verzweiflung in die Arme getrieben haben… […] Ehe ich es gesehen habe, habe ich mir gar nicht denken können, daß Menschen so barbarisch sein sollten, aus bloßer Mordlust einen Mitmenschen zu töten, ihm Glieder abzuhacken, mit allem Scharfsinn unbekannte Qualen und neue Todesarten auszudenken, und zwar nicht aus Haß oder Profitgier, sondern aus dem Zweck, sich an dem Schauspiel eines Menschen in Todesnot zu weiden, an seinen Schmerzengesten und an seinem Stöhnen und Schreien.« Michel de Montaigne1 Was Michel de Montaigne bereits zum Ende des 16. Jahrhunderts darlegt, erscheint als unheimliche Vorausdeutung dessen, was in der vorliegenden Untersuchung noch im späten 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert galt. Obwohl die Guillotine eingeführt wurde, um für alle Verurteilten dieselbe Hinrichtungsart zu etablieren, diese möglichst schnell und angeblich ohne Schmerzen zu vollziehen, ist sie dennoch ein Symbol für eine neuzeitliche Form kollektiver Grausamkeit, da ihr Einsatz 1

Michel de Montaigne, »Über die Grausamkeit«, in: Die Essais, hg. u. übers. von Arthur Franz, Leipzig 1953, S. 186–193, hier S. 191. (Montaigne 1953); Für Arasse ist es treffend im Titel der deutschen Übersetzung: das »Schauspiel der Gerechtigkeit«, Arasse 1988.

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es einer Öffentlichkeit ermöglichte, sich an Menschen in Todesnot zu ›weiden‹. Die Menschenversuche, die zumeist in anatomischen Theatern oder im Anschluss an Hinrichtungen direkt am Fuße des Schafotts stattfinden, um dem Vorhandensein und der Wirkungsweise einer Lebenskraft abgetrennter Köpfe auf die Spur zu kommen, verschiebt das öffentliche Theater der Grausamkeit in den geschlossenen Zirkel neuzeitlicher Wissenschaften. Die direkte Anschauung des Todes eines gesellschaftlich ausgegrenzten Anderen generiert eine Schaulust, die beim breiten Publikum wie bei den Wissenschaftlern neben dem Willen zum Wissen auch die Phantasie anregte: Physiologische Befunde und das Aufleben alter Mythen bestimmte die Rezeption gleichermaßen.2 Auch Sigmund Freuds Medusenhaupt ist hier einzuordnen, denn die mythologische Figur der Medusa wird nicht nur durch ihre Enthauptung, sondern vor allem durch die Aneignung und Handhabung ihres Kopfes, der semiotischen Konversion, versehrt. Die frühe Psychoanalyse delektiert sich an den chiastischen Blicken, dem Kastrationsschreck, der beim Anblick des weiblichen Genitals konstruiert und mit dem Medusenhaupt analogisiert wird. Dass es bei aller Differenzierung in eine décapitation légale, décapitation suicide und décapitation homicide keine ›natürliche‹ Enthauptung gibt, wird bei Paul Loye deutlich.3 Dass es sich jedoch immer um einen ›vorsätzlichen‹ Akt des Abtrennens des Kopfes vom Körper handelt, macht die Enthauptung zu einem genuin kulturellen Phänomen. Nach Regina James geht es darüber sogar noch hinaus, wenn sie feststellt, dass die Enthauptung als erstes Anzeichen eines symbolischen Prozesses verstanden werden kann, der unsere Spezies als unverwechselbar menschlich markiere.4 Für Montaigne, der hier mit Seneca spricht, handelt es 2 3 4

Vgl. Loye 1888, S. 11. Loye 1888, S. 245–246. »There is nothing natural about decapitation. The deliberate separation of a head from its body is exclusively cultural. Not only is decapitation exclusively cultural, but it is also the first sign of the symbolic processes that mark our species as distinctively human or at least hominid. […] Unlike other forms of violence, however, decapitation, defined as the deliberate separation of a head from its body, does not occur outside human culture. Natural decapitations are

Resümee

sich dabei jedoch um »[…] die Höhe der Grausamkeit, daß ein Mensch seinen Mitmenschen tötet nicht aus Zorn, nicht aus Angst, nur weil er ihn sterben sehen will.‹«5 Mit anderen Worten: Die Lust des Menschen am Spektakel des Todes eines Anderen macht ihn zu einem kulturellen Wesen. Bereits vor der Französischen Revolution wird die Guillotine in spätaufklärerischer Denkart als rationalistische ›Regierungsmaschine‹ konstruiert, um die Zuschauermasse am dramatischen Sterbemoment des Verurteilten teilhaben zu lassen. Zusammengenommen ermöglicht diese moralische Ambivalenz erst den delightful horror 6 oder das »Vergnügen des Zurückschauderns«7 . Die Argumente gegen die Todesstrafe, die Victor Hugo in seinem Werk anführt, greifen dieses Paradigma nicht nur an, sondern weisen auch auf die daraus resultierenden kulturellen Konsequenzen hin: »Wir stellen die Frage: Was kann man zugunsten der Todesstrafe vorbringen? Wir stellen die Frage ernsthaft den Kriminalisten, nicht geschwätzigen Literaten. […] Die Richter halten die Todesstrafe für unbedingt nötig. Denn die Gesellschaft müsse sich von einem Mitglied befreien, das ihr geschadet hat und wieder schaden kann. – Aber dann würde lebenslängliches Gefängnis genügen. […] Aber ihr sagt zweitens, die Gesellschaft müsse sich rächen, müsse strafen. Keins von beiden! Die Strafe liegt über der Gesellschaft, die Rache unter ihr. Weder das Große noch das Kleine kommt zu ihr. Sie darf nicht strafen, um zu rächen, sie muß züchtigen, um zu bessern. Es bleibt der dritte und letzte Grund: die Abschreckungstheorie. Man muß abschreckende Beispiele geben und durch das Schauspiel der Bestrafung alle andern vom Verbrechen abhalten. Das ist die ewige Behauptung, von der die fünfhundert Gerichtssäle Frankreichs in den

5 6 7

by-products or accidents.« Regina James, »Prologue Head Matters«, in: ders., Losing Our Heads. Beheadings in Literature and Culture, New York 2005, S. 1–9, hier S. 2. »Ut homo hominem, non iratur, non timens, tantum spectaturus, occidat.« Seneca, Epist. 90. Zit. nach Montaigne 1953, S. 191. Burke 1989, S. 81–82. Siehe auch Kapitel 1.2.2. vorliegender Arbeit. Sontag 2003, S. 50.

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Reden der Staatsanwälte widerhallen. Wir leugnen zunächst den Erfolg der Abschreckung. Jenes Schauspiel flöße dem Volk durchaus nicht Furcht und besseren Willen ein, es entsittlicht die Menge, es verdirbt die Empfänglichkeit, es vernichtet die Tugend. Beweise dafür gibt es im Überfluß.«8 Vor allem der dritte Grund zugunsten der Todesstrafe, den Hugo hier widerlegt, die »Abschreckungstheorie«, ist im vorliegenden Kontext besonders interessant.9 Das »Schauspiel der Bestrafung« habe seiner Meinung nach keinen Erfolg, im Gegenteil, es demoralisiere die Zuschauer und habe keinen kathartischen Effekt.10 Es scheint fast so, als sei die Kompensation von Herrschaft als gemeinschaftlicher Ritus, historisch initiiert durch den Opfertod des Königs,11 durch die Wiederholung erodiert. Vielleicht ist es gerade dieser Widerspruch, dass es den Menschen auf der einen Seite zu einem kulturellen Wesen macht, Lust am Spektakel des legalen gewaltsamen Todes eines anderen zu empfinden, und auf der anderen Seite, um den von Hugo beschriebenen Effekt der Entsittlichung, der Empfänglichkeit und der Vernichtung der Tugend. Auch wenn die vorliegenden visuellen Beispiele nicht sehr zahlreich erscheinen, repräsentieren sie dennoch eine Bandbreite ikonografischer Modi: Dialogue: je perds une tête – j’en trouve une (Abb. 2) ist hier am ehesten als humorvoll zu bezeichnen und in gewisser Weise auch das Frontispiz Louis Philippes in La Guillotine. Par un vieux Jacobin (Abb. 12). Während im 8

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Victor Hugo, Der letzte Tag eines Verurteilten [1829], übers. von Alfred Wolfenstein, Köln 2005, S. 13–14. (Hugo 2005); Hugo betont, dass dies »nichts anderes als eine Schrift gegen die Todesstrafe« sei, S. 5. Barbara Baert, »Cutting the throat. Obscenity and the case of the Johannesschüssel«, in: Scenes of the obscene. The non-representable in art and visual culture, Middle Ages to today, hg. von Kassandra Nakas/Jessica Ulrich, Weimar 2014, S. 127–146, hier S. 138. (Baert 2014) Ebd.; Dass diese blutige Thematik aber auch einen besonderen Reiz im Bereich der Unterhaltung darstellt, ist anhand der historischen Funktion des Melodramas, im roman noire, nachzuvollziehen. Siehe dazu beispielsweise: Roger Bellet, »Le sang de la guillotine et la mythologie de Jean Hiroux (1830–1879)«, in: Romantisme, 1981, no 31, Sangs, S. 63–76. Baudrillard 2011, S. 88. Vgl. Sykora 2009, S. 477.

Resümee

Dialogue der Körper des Königs völlig aus dem Bild ferngehalten wird, aber die Guillotine für ihn bereitsteht, trägt die Karikatur Louis Philippes die Guillotine als Bild auf der Brust.12 In der Gegenüberstellung wird hier die Aussage gemacht, dass im Revolutionsjahr 1793, der Absetzung und Hinrichtung Ludwigs XVI., die ganze Welt ihr Leben lassen würde, Tout le monde y passera. Im Zuge der Februarrevolution musste Louis Philippe am 24. Februar 1848 abdanken, die Zweite Französische Republik wurde ausgerufen, aber nun würde niemand umkommen, Persoune [sic!] n’y passera, so die Hoffnung. Der dargestellte Oberkörper des Königs wird hier als Leinwand oder Projektionsfläche eingesetzt, denn die Art der Hinrichtung durch die Guillotine ist der monarchischen Herrschaftsstruktur als Warnung gewissermaßen eingeschrieben, wie Villeneuves Darstellung (Abb. 3 u. 4) von 1793 verdeutlicht. Dennoch ist die Enthauptung kein Paradigma, das im Stande wäre, einen revolutionären Übergang als permanenten Status zu implementieren. Diese Inkonsistenz, die Kompensation von Herrschaft als gemeinschaftlichem Ritus einerseits und der Bruch mit ihr andererseits, wird sowohl in der Gegenüberstellung von Matière à reflection pour les jongleurs couronnées und Géricaults Têtes de suppliciés (Abb. 5), als auch innerhalb dieses Beispiels durch die Kombination eines als Enthauptete dargestellten Modells mit dem Kopf eines guillotinierten Diebes, deutlich. Zudem stehen sich hier auch ikonografisch das Guillotiniertenbild als Porträt,13 gleichsam Symbol der Ent- und Resakralisierung,14 und der »klinische Blick«15 des Künstlers auf die grenz-überschreitenden Têtes ›abjects‹16 gegenüber. Die Guillotinenklinge ist per se Zeichen des Übergangs. Als »räumliche Verkörperung des Augenblicks«17 sublimiert sie den Prozess der Sanktion.18 Der Tod, den sie erzeugt, zeichnet sich als maschinisierte 12 13 14 15 16 17 18

Im Ausst.-Kat. Französische Presse und Pressekarikaturen 1992 heißt es, es wirke so, als sei die Guillotine auf die Brust tätowiert, S. 78. Arasse 1988, S. 167. Ebd., S. 69. Nochlin 2001, S. 19. Vgl. Kristeva 1980, S. 12. Arasse 1988, S. 41. Vgl. Terzic 2011, S. 165.

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Opferhandlung durch seine Nichtwahrnehmbarkeit aus. Die Seh- und Sensationslust des Publikums wird mitnichten befriedigt, sondern umso mehr angeregt. Dabei stellt die Guillotinenklinge keine Metapher der politischen Macht dar, sondern sie ist Mittel und Zweck der Macht selbst.19 Der Künstler Ian Hamilton Finlay versieht eine seiner schiefernen Four Guillotine Blades (Abb. 9) mit einem nahezu wörtlichen Zitat aus Nicolas Poussins Modusbrief, in dem es heißt: Die Form eines jeden Gegenstandes zeichne sich durch dessen Funktion oder Aufgabe aus; manche beabsichtigen Gelächter auszulösen, andere Terror, und dies seien ihre Formen. Diese künstlerische Arbeit steht für den Zwiespalt, auf der einen Seite die Lust am makabren Spektakel aufzugreifen, und auf der anderen Seite, durch die Materialübersetzung eine Entrückung von der Enthauptungspraxis zu suggerieren, auf die sich der Gegenstand aber bezieht. In Anlehnung an Daniel Arasses Untersuchung des Details,20 wurden für diese Arbeit blutige Details in der Malerei ausgewählt. Von bildtheoretischem Erkenntnisinteresse ist hierbei, welche Rolle die ausgewählten Details im jeweiligen Bildzusammenhang spielen und was sie als »Signum der Erkenntnis«21 beitragen. Blut deutet darauf hin, dass die leibliche Grenze gewaltsam durchbrochen wurde; Blut signifiziert den Übergang als Zeichen der Versehrung oder Öffnung des lebendigen Körpers und tritt im Zusammenhang mit Verletzung und der Herbeiführung des Todes auf. In den Gemälden von Georges-Antoine Rochegrosse, Victor Hugo, Caravaggio und Henri Regnault steht das Blut darüber hinaus im Handlungszusammenhang der Enthauptung, wobei jedes blutige Detail eine andere Ikonizität exemplifiziert. Die Darstellung von Blut wird unter anderem eingesetzt, um Details im Bild sichtbar zu machen. In dem ›Sensationsbild‹ Andromaque (Abb. 14) ist Blut in ein eingeritztes Swastika-Symbol geflossen, das sich an einem steinernen Treppenaufgang befindet. Die aufgetürmten Köpfe am Fuße der Mauerkrone deuten darauf hin, dass sie zuvor als Hackstock diente. Bei Hugo 19 20 21

Vgl. Hunt 1984, S. 54. Arasse 2011, S. S. 7. Schäffner/Weigel/Macho 2003, S. 7.

Resümee

formt das Blut im Kopfsteinpflaster das Wort Justitia (Abb. 16). Als erklärter Gegner der Todesstrafe konterkariert die Gerechtigkeit die Guillotine als Quelle des Blutes. Die prominente Blutsignatur im letzten Gemälde Caravaggios (Abb. 17) ist in der Art darstellt, als habe er seinen Finger in das Blut von Johannes dem Täufer getaucht und damit seinen Namen unter dessen Enthauptung gesetzt. Regnault hat sich bei den Blutspritzern in der Exécution sans jugement sous les rois maures de Grenade (Abb. 20) sowohl bemüht, Blut als Blut selbst darzustellen, als auch durch das eine Treppenstufe herabfließenden Blut vom Körper zum Kopf eine Verbindung oder einen Übergang der beiden Körperteile abzubilden, was den Umstand ihrer Separierung allerdings noch verstärkt. Während des Prozesses der Wahrheitsfindung und Sichtbarmachung wird zum Paradigma, den menschlichen Körper im Übergang vom Leben zum Tod auf dessen wissenschaftlichen Nutzen hin zu beurteilen. In diesem Sinne dreht sich der Diskurs statt um Wahrheit und Moral vielmehr um Wahrheitsfindung und zweckgeleitete Moralität, was auch den Positivismus der jüngeren Forschung auszeichnet: »Bei aller Schrecklichkeit des Prozeßgeschehens wurden, fast ungewollt, im Streite neue wissenschaftliche Areale erreicht, die Baugrund für die Wissenschaften des 19. Jahrhunderts wurde«, so Gunter Mann.22 Innerhalb ihrer Untersuchung zu Albrecht von Haller merkt Margarethe Vöhringer an, dass die Experimentalkultur des 18. Jahrhunderts das genaue Gegenteil der Beobachtung eines unvoreingenommenen Sehens suggeriere, da hier die Wiederholung im Vordergrund stehe: »Haller behauptete, dass nur Experimente, die wiederholbar waren, den Weg zur Wahrheit führten.«23 Und ferner: »Der Forscher denkt, während er handelt, während er experimentiert.«24 Hier stellt sie den Bezug zum »Basteln« her, das als Element von Experimentalsystemen

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23 24

Barbara Baert, »Cutting the throat. Obscenity and the case of the Johannesschüssel«, in: Scenes of the obscene. The non-representable in art and visual culture, Middle Ages to today, hg. von Kassandra Nakas/Jessica Ulrich, Weimar 2014, S. 127–146, hier S. 138. (Baert 2014) Vöhringer 2009, S. 113. Ebd., S. 115.

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nach Hans-Jörg Rheinberger als »Reinigungstechnik, die bei einem chaotischen Zustand ansetzt und sich entlang von Hindernissen und Verwerfungen entwickelt,«25 verstanden wird. Bei Haller sei es fraglich, ob er die Ergebnisse seiner Experimente nicht bereits im Vorfelde ahnte, wie zum Beispiel, dass sich die Gliedmaßen auch nach der Enthauptung weiter regten.26 Aber nicht nur bei Haller, der seine Experimente bereits vor denen in dieser Arbeit untersuchten vorgenommen hat, stellt sich die Frage, inwiefern die Wiederholung notwendig ist, auch wenn sie als Wahrheitsbezeugung angesehen wird. Oder, warum die Kritik und die Forschung anderer Wissenschaftler einen tatsächlich geringen oder keinen Stellenwert hat, oder schlichtweg ignoriert wird, auch wenn die Ergebnisse im langen 19. Jahrhundert gut dokumentiert sind. Die propagierte Wiederholbarkeit ist eher als Deckmantel eines Wettstreites einzuordnen. Sicher hätte Giovanni Aldini seine Ergebnisse anders bewertet, wenn er die an ihn gerichtete Kritik Alessandro Voltas angenommen hätte, dass es keineswegs nötig sei, die Elektrizität von den Nerven bis zu den Muskeln laufen zu lassen, da diese nur in den Nerven wirke.27 Aber in der Tradition Luigi Galvanis stehend, sind für Aldini die Reflexbewegungen ohne Einbeziehung der Muskeln undenkbar. Dass er zwei abgetrennte Köpfe mit ihren Schnittstellen gegeneinander legt, um so einen Kreislauf der humidité animale zu erzeugen (Abb. 22), deutet darauf hin, dass er die Köpfe lediglich als Dinge einstuft, als Mittel zum Zweck für sein spektakuläres Experiment.28 25

26 27 28

Ebd. Siehe: Hans-Jörg Rheinberger, »Historische Experimente experimenteller Kreativität in den Wissenschaften«, in: Woher kommt das Neue? Kreativität in Wissenschaft und Kunst, hg. von Walter Berger, Emil Brix u. Christian Smekal, Wien/ Köln/Weimar 2003, S. 29–50, hier S. 32f. Vöhringer 2009, S. 112. Volta 1900, S. 9. Auch wenn es mir in meinen Ausführungen nicht um die zahlreichen literarischen Bezüge diese Themas geht, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Mary Shelley, weil sie vielleicht selbst bei den Versuchen Aldinis in London anwesend war oder ihr von Bekannten darüber berichtet wurde, in der Einleitung der drittem, revidierten Ausgabe aus dem Jahre 1831 von Frankenstein

Resümee

Im Zuge der ›Aufführung‹ der Versuche im anatomischen Theater, die im Dienste der Wahrheitsbezeugung steht, sei die von Anna Bergmann untersuchte Hirntoddebatte erwähnt.29 Diese weist in einigen Teilen Ähnlichkeit mit dem auf, was insbesondere Samuel Thomas von Soemmerring für das Vorhandensein von Schmerzempfinden und Bewusstsein der Enthaupteten postuliert, was die Ungleichzeitigkeit von Leben und Tod bedeute: »Man stirbt, nachdem man bereits tot ist.«30 So kann parallel einerseits Angst vor dem Hirntod existieren, also dass ein noch lebendiger Mensch für tot erklärt und durch die Sektion ›traumatisiert‹ werde, anderseits verhallen Soemmerrings Thesen, weil von der Enthauptung schließlich Straftäter betroffen seien und sich durch die Einführung der Guillotine bereits um einen schnellen, ›aufgeklärten‹ und ›humanen‹ Tod bemüht wurde. Der Straftäter ist demnach bereits

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[1818] erwähnt, dass man einen Leichnam vielleicht wiederbeleben könne, »[…] dafür gäbe es Beispiele mit galvanischen Versuchen; vielleicht auch könnten die passenden Einzelteile eines Lebewesens zusammengesetzt und mit Wärme des Lebens versehen werden.« Mary Shelley, Frankenstein oder Der moderne Prometheus [1831], übers. von Karl Bruno Leder und Gerd Leetz, Frankfurt a.M. 1988, S. 15. Kursivsetzung der Autorin, »Wärme des Lebens« meint hier sicherlich Lebenskraft oder force vitale. Anna Bergmann, »Zerstückelter Körper – zerstückelter Tod. Zur Dekonstruktion des Todes durch die Transplantationsmedizin«, in: Keine Antworten: Reflexionen über Sterben und Tod, hg. von Andreas Hölscher und Rainer Kampling, Berlin 2000, S. 189–217, hier S. 193. (Bergmann 2000) Im Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité war im letzten Jahr die Ausstellung Scheintod. Über die Ungewissheit des Todes und die Angst, lebendig begraben zu werden zu sehen, die sich ebenfalls mit diesem Thema beschäftigte, sie dazu die vorangegangene Publikation: Ausst.-Kat. Vita Dubia. Über die Ungewissheit des Todes und die Angst, lebendig begraben zu werden 2016, Museum für Sepulkralkultur, Kassel, als Ausgabe von: Friedhof und Denkmal. Zeitschrift für Sepulkralkultur, hg. von der Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e.V., 61. Jahrgang, 3/4-2016, Kassel 2016. Claus Pias, »Die Welt als Wille und Wechselstrom«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.12.2000. An dieser Stelle sei auch auf den Aufsatz von DominicAlain Boariu verwiesen, der an der Universität Freiburg, Schweiz, ebenfalls eine Dissertation zu Thema Enthauptung eingereicht hat, die als Publikation noch nicht vorliegt.

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durch sein Kapitalverbrechen aus der Gesellschaft ausgeschlossen, die Hinrichtung durch die Guillotine bestätigt diesen ›sozialen Tod‹ lediglich auf der biologischen Ebene. »Mit Hilfe des Skalpells erfährt nun der Geist-Materie-Dualismus eine unmittelbar materielle Realisierung. […] [D]er Cartesianismus [hat sich] im Laufe der Geschichte der modernen Medizin, in seiner bedingungslosen Gewalttätigkeit gegenüber einem per definitionem zur Geistlosigkeit verdammten und erniedrigten Körper auf den Menschen ausgedehnt.«31 Die Guillotinenklinge und das Skalpell symbolisieren den Synkretismus, in dem sich die politische Ideologisierung mit medizinischwissenschaftlichem Fortschrittsglauben vermischt und sich anhand von Experimenten an Guillotinierten manifestiert. Die Versuche der Medizinischen Privatgesellschaft zu Mainz von 1804 und die von Gabriel Beaurieux 1905 sind nahezu unter denselben Voraussetzungen durchgeführt worden: Direkt nach der Enthauptung wird der abgetrennte Kopf am Fuße der Guillotine entweder gefragt, ob er noch etwas höre oder mit seinem Namen angesprochen. Das Ergebnis fällt unterschiedlich aus. Obwohl Paul Loye in seiner Schrift von 1888 diese Methode in aller Deutlichkeit als unwissenschaftlich kritisiert, finden derartige Versuche wenig später dennoch statt. Umso beeindruckender für die gesamte Debatte um das Schmerzempfinden ist die künstlerische Position Pensées et visions d’une tête coupée von Antoine Wiertz (Abb. 23), worin der hier analysierte Diskurs neben Douglas Gordons 30 seconds text (Abb. 27) kulminiert. Die zeitliche sowie die textuelle Komponente werden in beiden Arbeiten parallel zur bildlichen hervorgehoben, um das Unvorstellbare zu zeigen oder erfahrbar zu machen, wozu nur die Kunst imstande ist. Douglas Gordon führt in einem Akt der ästhetischen Immersion den nahezu völlig entmaterialisierten Zeitraum nach der Enthauptung ›vor Augen‹. Die Arbeit der Anatomen kehrt er hierbei in gewissem Sinne um, gemessen an dem Ziel

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Bergmann 2000, S. 193.

Resümee

Galvanis, die in den Nerven verborgene Elektrizität aus ihnen hervorzuziehen und sichtbar zu machen.32 Wiertz hingegen evoziert eine neue Imago Pietatis, das Bild des Schmerzensmannes, der statt der Himmelfahrt nun eine leidbehaftete und gottlose Höllenfahrt in drei nicht enden wollenden Minuten durchlebt. Innerhalb des psychoanalytischen Deutungsapparates Sigmund Freuds lässt sich anhand seiner Bemerkungen zum Medusenhaupt die beispielhafte Umwertung eines Zeichens nachvollziehen. Da es dafür bisher keinen Begriff gibt, muss einer gefunden werden, der sowohl die psychoanalytische als auch die semiotische Ebene anspricht: die semiotische Konversion. In diesem Sinne erlangt die Enthauptung sowohl als Paradigma als auch als Paradigmenwechsel Relevanz. Die Auslegung Julia Kristevas legt dar, dass Freud zwar bereits die Theorie der Abjektion präfiguriert, indem er den Fokus auf die Wirkungen von Schrecken, Drohung und Strafe setzt. Aber bei Freud findet auch ein Prozess der Auflösung der materiellen Realität zugunsten der Imagination statt,33 für den die semiotische Konversion am Beispiel von Medusa symptomatisch ist. Von der Aussage Freuds: »Kopfabschneiden=Kastrieren. Der Schreck der Meduse ist also Kastrationsschreck, der an einen Anblick geknüpft ist,«34 bleibt nach der hier durchgeführten De(kon)struktion sinngemäß nicht viel übrig. Aber anhand der angeführten Positionen im Rahmen der über das Bildliche hinausgehenden Diskursanalyse ist deutlich geworden, von welch großer Bedeutung Medusa für die Blickund Bildtheorie ist.

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Galvani 1894, S. 54. Kristeva 2013, S. 202. Freud 1993, S. 47.

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Dank

Die vorliegende Untersuchung wurde als Dissertationsschrift zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie im April 2019 von der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig im Fach Kunstwissenschaft angenommen. Mein besonderer und sehr herzlicher Dank gilt Katharina Sykora, die mich in allen Lebenslagen auf meinem Weg zur Promotion unterstützt hat. Ihr verdanke ich die entscheidenden Impulse für meine Forschung. Außerdem gilt meine Dankbarkeit dem Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris, wo ich als Jahresstipendiatin unter besten Bedingungen forschen konnte. Darüber hinaus möchte ich all jenen Kolleg*innen und Freund*innen danken, die meine Arbeit mit anhaltendem Interesse begleitet haben, besonders Boris Roman Gibhardt, Robert D. Hoehn, Thomas Stach sowie Elena Korowin, Caitlin Hennen und Theresia Bäcker. Nicht zuletzt gilt mein aufrichtiger Dank für die Realisierung der Publikation meiner Mutter Ilse Monika Weleda und Jacob Nauta.

Literaturverzeichnis

Beiträge aus elektronischen Publikationen werden unter den jeweiligen Autorennamen im Literaturverzeichnis aufgeführt. Abrioux, Yves, Ian Hamilton Finlay. A visual primer [1985], London 19922 . Aldini, Jean, Essai théorique et expérimental sur le galvanisme, avec une série d’expériences faites en présence des commissaires de l’institut national de France, et en divers amphithéatres [sic!] anatomiques de Londres, Paris 1804. American Journal of the Medical Sciences, The, Review »Death by Decapitation« by Paul Loye, Unbekannter Rezensent, in A.M., M.D., new series vol. XCVII, Philadelphia 1889, S. 387–390. Arasse, Daniel, La guillotine et l’imaginaire de la Terreur [1987], Paris 2010. Arasse, Daniel, Die Guillotine. Die Macht der Maschine und das Schauspiel der Gerechtigkeit [1987], übers. von Christine Stemmermann, Reinbek bei Hamburg 1988. Arasse, Daniel, Le Détail. Pour une histoire rapprochée de la peinture [1992], Paris 2011. Ariès, Philippe, Geschichte des Todes [1978], übers. von Hans-Horst Henschen und Una Pfau, München 200210 . Aristoteles, Poetik, übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2005. Assmann, Aleida et al. (Hg.), Schrift und Gedächtnis, München 1983. Assmann, Jan und Hölscher, Tonio (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988.

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Enthauptung als Paradigma

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File:G%C3%A9ricault_-_Etude_de_pieds_et_de_main,_Vers_1817__1819.jpg [letzter Zugriff 15.03.2023]. Abb. 7: John Bell, The Anatomy of Bones, Muscles and Joint, Edinburgh 1797, Tafel III. Archiv der Autorin. Abb. 8: Ian Hamilton Finlay, Four Guillotine Blades, 1987, in Zusammenarbeit mit Nicholas Sloan, vier Schieferplatten, geschnitten mit eingravierter roter Beschriftung, 69 x 80 x 2 cm je Schieferplatte, © The Estate of Ian Hamilton Finlay/Victoria Miro, London. Abb. 9: Ian Hamilton Finlay, Detail: Four Guillotine Blades [Nicolas Poussin], 1987, in Zusammenarbeit mit Nicholas Sloan, Schieferplatte, geschnitten mit eingravierter roter Beschriftung, 69 x 80 x 2 cm, © The Estate of Ian Hamilton Finlay/Victoria Miro, London. Abb. 10: Jean T. A. Laquiante, Projet de Machine à décapiter proposé d’abord par Schmidt, 1792. Entnommen aus: Louis Du Bois, Recherches historiques et physiologiques sur la Guillotine, et détails sur Sanson, Paris 1843, S. 37. Abb. 11: »Définition de la guillotine par un Mathématicien«, in: La Guillotine. Par un vieux Jacobin, Nr. 1, hg. von OLUSI-LIPPEPHI, Impr. Bonaventure et Ducessois, 55, quai des Grands-Augustins, Paris, März 1848. 1 Blatt, beidseitig, hier S. 2., Bibliothèque nationale de France, Paris. Archiv der Autorin. Abb. 12: Frontispiz: La Guillotine. Par un vieux Jacobin, Nr. 1, hg. von OLUSI-LIPPEPHI, Impr. Bonaventure et Ducessois, 55, quai des Grands-Augustins, Paris, März 1848. 1 Blatt, beidseitig, hier S. 1., Bibliothèque nationale de France, Paris. Archiv der Autorin. Abb. 13: Doppelseite »The Feet of Angels« [Detail linke Seite: Piero della Francescas Taufe Christi und Detail rechte Seite: Matteo di Giovannis Maria mit dem Heiligen Gürtel], in: Clark 1944, S. 32–33. Abb. 14: Georges-Antoine Rochegrosse, Detail: Andromaque, 1883, Öl auf Leinwand, 479 x 335 cm, Musée des Beaux-Arts, Rouen. Archiv der Autorin. Abb. 15: Georges-Antoine Rochegrosse, Andromaque, 1883, Öl auf Leinwand, 479 x 335 cm, Musée des Beaux-Arts, Rouen. Photo © RMNGrand Palais/Agence Bulloz. URL: https://art.rmngp.fr/en/library/a

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rtworks/georges-antoine-rochegrosse_andromaque_huile-sur-toil e_1883 [letzter Zugriff 15.03.2023]. Abb. 16: Victor Hugo, Justitia, 1857, Mischtechnik auf Papier, Maisons de Victor Hugo, Paris. Public domain via Wikimedia Commons. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Victor_Hugo,_Justicia_( 1858),_ink_wash_and_mix_media_on_paper,_dimensions_and_col lection_unknown.jpg [letzter Zugriff 15.03.2023]. Abb. 17: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Detail: Decollazione di San Giovanni Battista, 1607/1608, Öl auf Leinwand, 361 x 520 cm, La Valletta, Malta, Co-Cathedrale San Giovanni. Archiv der Autorin. Abb. 18: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Decollazione di San Giovanni Battista, 1607/1608, Öl auf Leinwand, 361 x 520 cm, La Valletta, Malta, Co-Cathedrale San Giovanni. Public domain via Wikimedia Commons. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:La_de capitaci%C3%B3n_de_San_Juan_Bautista,_por_Caravaggio.jpg [letzter Zugriff 15.03.2023]. Abb. 19: Michelangelo Merisi da Caravaggio, Incredulità di san Tommaso, Kirchliche Version, 1601, Öl auf Leinwand, 116 x 156,5 cm, Privatsammlung, Florenz. Public domain via Wikimedia Commons. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_Incredulity_o f_Saint_Thomas.jpg [letzter Zugriff 15.03.2023]. Abb. 20: Henri Regnault, Detail: Exécution sans jugement sous les rois maures de Grenade, 1870, Öl auf Leinwand, 302 x 146 cm, Musée d’Orsay, Paris. Archiv der Autorin. Abb. 21: Henri Regnault, Exécution sans jugement sous les rois maures de Grenade, 1870, Öl auf Leinwand, 302 x 146 cm, Musée d’Orsay, Paris. Public domain via Wikimedia Commons. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Henri_regnault_maures_grena.jpg [letzter Zugriff 15.03.2023]. Abb. 22: Jean Aldini, Essai théorique et expérimental sur le galvanisme, avec une série d’expériences faites en présence des commissaires de l’institut national de France, et en divers amphithéatres [sic!] anatomiques de Londres, Paris 1804. Anhang in Band I. pl. 4, fig. 6, Maße 28 x 20 cm, Dessiné par Pecheux« und »Dirigé par G. M.«. Archiv der Autorin.

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Abb. 23: Antoine Wiertz, Pensées et visions d’une tête coupée, 1853, matte Ölmalerei auf Leinwand, 265 x 170 cm, Triptychon auf einer Tafel, inv. 1925, Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Musée Antoine Wiertz. Foto: J. Geleyns. Abb. 24: Antoine Wiertz, Detail: Pensées et visions d’une tête coupée, 1853, matte Ölmalerei auf Leinwand, 265 x 170 cm, Triptychon auf einer Tafel, hier: mittlerer Bildteil, inv. 1925. Musées royaux des BeauxArts de Belgique, Brüssel, Musée Antoine Wiertz. Archiv der Autorin. Abb. 25: Antoine Wiertz, Detail: Pensées et visions d’une tête coupée, 1853, matte Ölmalerei auf Leinwand, 265 x 170 cm, Triptychon auf einer Tafel, hier: linker Bildteil, inv. 1925. Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel, Musée Antoine Wiertz. Archiv der Autorin. Abb. 26: Antoine Wiertz, Detail: Pensées et visions d’une tête coupée, 1853, matte Ölmalerei auf Leinwand, 265 x 170 cm, Triptychon auf einer Tafel, hier: mittlerer Bildteil, inv. 1925. Musées royaux des BeauxArts de Belgique, Brüssel, Musée Antoine Wiertz. Archiv der Autorin. Abb. 27: Douglas Gordon, 30 seconds text, installation view of the exhibition »Douglas Gordon: Timeline«. MoMA, New York, June 11, 2006 through September 4, 2006. Photographic Archive. The Museum of Modern Art Archives, New York. Acc. n.: IN1974.22. Photographer: Jonathan Muzikar. Copyright: The Museum of Modern Art, New York. DIGITAL IMAGE © 01.03.2023, The Museum of Modern Art/Scala, Florence.

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