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Ilinca Tanaseanu-Döbler Konversion zur Philosophie in der Spätantike
POTSDAMER ALTERTUMSWISSENSCHAFTLICHE BEITRÄGE (PAwB) Herausgegeben von Pedro Barceló (Potsdam), Peter Riemer (Saarbrücken), Jörg Rüpke (Erfurt) und John Scheid (Paris) –––– Band 23
Ilinca Tanaseanu-Döbler
Konversion zur Philosophie in der Spätantike Kaiser Julian und Synesios von Kyrene
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2008
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09092-6 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT .............................................................................................................9 1. EINLEITUNG ...................................................................................................11 1.1. Konversion zur Philosophie: Forschungsansätze .......................................11 1.2. Problematisierung des Gegenstandes: die Komplexität antiker Philosophie .....................................................................................13 1.3. Problematik des Religionsbegriffes ............................................................15 1.4. Problematik des Konversionsbegriffes: theoretische und methodische Überlegungen .............................................16 1.5. Konversionsbegriff und methodischer Ansatz der Arbeit ..........................22 2. PHILOSOPHIE UND RITUAL IM NEUPLATONISMUS .............................27 2.1. Plotin: Philosophie versus Ritual ................................................................28 2.2. Die Chaldäischen Orakel und die Theurgie ...............................................29 2.3. Porphyrios: Irrelevanz des Rituals für die Philosophie ..............................34 2.4. Ritual als Krönung der Philosophie bei Jamblich.......................................37 3. JULIAN – PHILOSOPH, PRIESTER UND KAISER......................................57 3.1. Biographie...................................................................................................57 3.2. Forschungsstand zur Konversion Julians....................................................61 3.3. Quellenlage und methodische Vorüberlegungen ........................................65 3.4. Christentum und Homerlektüre: Julians geistiger Hintergrund vor dem Philosophiestudium .......................70 3.4.1. Julians religiöse Sozialisation..............................................................71 3.4.2. Begegnung mit der heidnischen Literatur: Der Homerunterricht bei Mardonius....................................................78 3.5. Die Begegnung mit der Philosophie ...........................................................85 3.5.1. Julians Beschäftigung mit der Philosophie vor 351.............................85 3.5.2. Der pergamenische Neuplatonismus ...................................................86
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike
3.5.3. Julians Aussagen zu seinem Philosophiestudium: Bekehrung zur Philosophie und Entdeckung der alten Götter.............91 3.5.4. Der Bericht des Libanios: Julians Philosophiestudium als Wendepunkt seiner Religiosität.........99 3.5.5. Der Bericht des Eunapius: Julians lange Suche nach Bildung und Weisheit ...............................103 3.5.6. Zusammenfassung .............................................................................106 3.6. Julians Zeit in Athen .................................................................................107 3.7. Julian als Caesar........................................................................................109 3.7.1. Die Erhebung zum Caesar: Philosophie und politische Macht......................................................109 3.7.2. Julians Selbstdarstellung als Philosoph .............................................112 3.7.3. Heidnischer Neuplatonismus in den Schriften des Caesars...............114 3.8. Julian als Augustus: der Philosoph auf dem Kaiserthron .........................120 3.8.1. Julians Sendungsbewußtsein: die Restauration des Imperiums.........120 3.8.2. Julian und die praktische Philosophie................................................121 3.8.3. Julians Philosophieverständnis in den Reden gegen die Kyniker......124 3.8.4. Julians Weltbild .................................................................................128 3.8.5. Julian und die Theurgie......................................................................135 3.8.6. Philosophie und Priesteramt: Julian als pontifex maximus ................141 3.9. Epilog: Julians Todesszene .......................................................................150 3.10. Zusammenfassung: Julians Konversion zur Philosophie und zum Heidentum......................................................152 4. SYNESIOS VON KYRENE – PHILOSOPH, PRIESTER UND POLITIKER................................................155 4.1. Einführung ................................................................................................155 4.1.1. Leben und Werk.................................................................................155 4.1.2. Forschungsstand zur Konversion des Synesios .................................160 4.1.3. Quellenlage und methodische Vorüberlegungen...............................162 4.2. Heidentum oder Christentum? Synesios’ religiöse Sozialisation und formelle Zugehörigkeit .................165 4.2.1. Der VII. Hymnus ...............................................................................166 4.2.2. Die Briefe und Prosawerke ................................................................169
Inhaltsverzeichnis
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4.2.3. Der Brief 105 .....................................................................................173 4.2.4. Die ἑτέρα ἀγωγή ............................................................................174 4.2.5. Das „Haus des Hesychios“ ................................................................176 4.3. Synesios’ Begegnung mit der Philosophie in Alexandrien.......................181 4.3.1. Hypatia und der alexandrinische Neuplatonismus.............................181 4.3.2. Die Herkulianosbriefe........................................................................190 4.3.2.1. Datierung ....................................................................................190 4.3.2.2. Die Philosophie in den Briefen an Herkulianos..........................197 4.3.3. Der IX. Hymnus.................................................................................213 4.4. Die Bedeutung der Philosophie für Synesios in seinen späteren Werken und Briefen bis zur Bischofswahl..................225 4.4.1. Philosophie als religiöse Lebensform in den späteren Schriften .......225 4.4.2. Synesios’ Weltbild.............................................................................229 4.4.3. Chaldäische Orakel, Mantik und Theurgie .......................................253 4.4.4. Philosophie und Politik – vita activa und vita contemplativa ...........260 4.5. Philosophie und öffentliches Amt: Synesios als Bischof .........................274 4.5.1. Die Bischofswahl...............................................................................274 4.5.2. Synesios’ Auftreten als Bischof.........................................................280 4.6. Zusammenfassung: Synesios’ Konversion zur Philosophie .....................285 5. SCHLUSSBETRACHTUNG: KONVERSION ZUM NEUPLATONISMUS ALS MÖGLICHKEIT RELIGIÖSER BEKEHRUNG IM 4. JAHRHUNDERT ................................287 LITERATURVERZEICHNIS .............................................................................295
VORWORT In neuerer Zeit wurde beklagt, daß die Beschäftigung mit der Philosophie und ihren Beziehungen zur Religion innerhalb der Religionswissenschaft wenig vertreten sei. Neuere Arbeiten versuchen, diesem Mangel abzuhelfen, und konzentrieren sich dabei vor allem auf die neuzeitliche Philosophie.1 Ein Blick in weitere historische Epochen wäre aber notwendig, um die ganze Bandbreite der Interaktion dieser beiden Diskursfelder zu verstehen. Als ein Baustein in diesem Unterfangen kann vielleicht auch das vorliegende Buch gelesen werden. Es wirft die Frage auf, inwiefern das Diskursuniversum der spätantiken Philosophie über normative Texte hinaus für die Religiosität und die Biographie konkreter Individuen relevant werden kann. Dazu erweist sich die Kategorie der Konversion hilfreich, weil sie die Möglichkeit bietet, Entwicklungen der Identität nachzuzeichnen und so den prozeßhaften Charakter der Auseinandersetzung mit der Philosophie und der individuellen Relationierung von Philosophie und religiösen Traditionen der Spätantike zu beleuchten. Die Arbeit wurde am 13. Juli 2005 von der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth aufgrund der Gutachten von Herrn Prof. Dr. Ulrich Berner und Herrn Prof. Dr. Christoph Bochinger als Dissertation angenommen. Für die Publikation wurde sie leicht überarbeitet und um neuere Literatur ergänzt. Den Herausgebern der Potsdamer altertumswissenschaftlichen Beiträge sei an dieser Stelle für die Aufnahme in die Reihe herzlich gedankt. Ebenso gilt mein Dank der Stadt Bayreuth und der Deutschen Vereinigung für Religionswissenschaft, die durch ihre Dissertationspreise die Drucklegung der Arbeit ermöglicht haben.
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Siehe dazu SCHLIETER 2007.
1. EINLEITUNG 1.1. KONVERSION ZUR PHILOSOPHIE: FORSCHUNGSANSÄTZE In seinem Klassiker „Conversion“ hat NOCK 1933 erstmals den Begriff der Konversion zur Philosophie geprägt und diese als eine der wenigen Möglichkeiten echter Konversion im griechisch-römischen Heidentum beschrieben.1 Sein Augenmerk liegt dabei auf dem sinn- und orientierungsstiftenden Potential der antiken philosophischen Schulen seit Sokrates.2 Durch die Kombination einer umfassenden Weltanschauung mit einem klaren Wertesystem würden sie eine besondere Lebensweise ermöglichen, die sich deutlich von der alltäglichen unterscheide.3 Mit den großen Philosophen, um die sich verschiedene Legenden ranken, biete sie herausragende Vorbildfiguren, die ihre Bedeutung und ihr Prestige stärker hervorhöben.4 Die Philosophie biete somit ein distinktives Gegenstück zum alltäglichen Leben, so daß es sinnvoll sei, die Hinwendung zur Philosophie als Konversion zu beschreiben: We can here use the word conversion for the turning from luxury and self-indulgence and superstition (another frequent object of philosophic criticism) to a life of discipline and sometimes to a life of contemplation, scientific or mystic.5
NOCKS normative Beschreibung spiegelt die Begrifflichkeit der philosophischen und vor allem protreptischen Literatur wider, die die Dichotomie zwischen weltlichem Leben und philosophischer Disziplin betont. Allerdings erfaßt er damit kaum konkrete Fälle von Konversion zur Philosophie, sondern vielmehr das Idealbild, das sich aus den Schriften der Philosophen selbst ergibt. Kurze Zeit später legte BARDY das französische Pendant zu NOCK vor. Auch er konstatiert die Bekehrung zur Philosophie als etabliertes Phänomen in der Antike.6 Er sieht die Gründe dafür ebenfalls in dem klaren Weltbild der Philosophie, in ihrer Ethik, die sich in den herausragenden Philosophen, den „Heiligen“ der Philosophie, als Vorbild- und Identifikationsfiguren zeige, sowie in der seelsorgerlichen Dimension der Philosophie, die Trost und Halt in Krankheit und Tod biete.7 BARDY geht den verschiedenen Formen „philosophischer Propaganda“ nach, um zu zeigen, mit welchen Mitteln sie ihre Botschaft verbreitet, und er skizziert die verschiedenen Rollen und Positionen, welche die Philosophen in der antiken Gesellschaft innehaben.8 Dennoch hält er fest, daß die Philosophie dem Christentum keine ernst1 2 3 4 5 6 7 8
NOCK 1988, 164–186; 1986b, 470–475. NOCK 1988, 165ff. Ebd., 167–175 oder 185. Ebd., 175f. Ebd., 179. BARDY 1988, 76. Ebd., 76–86. Ebd., 86–94.
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hafte Konkurrenz habe bieten können, zum einen aufgrund ihrer aristokratisch-elitären Ausrichtung, zum anderen – und da kommt BARDYS apologetische Tendenz deutlich zum Tragen – weil sie keine befriedigende Antwort auf die letzten existentiellen Fragen gegeben habe, die die Menschen beschäftigen.9 In der neueren Forschung wird die Konversion zur Philosophie kaum als solche thematisiert. DIHLES Studie über die Philosophie als Lebenskunst geht nicht auf diesen Aspekt ein.10 In seiner Analyse der Rolle des Philosophen in der spätantiken Gesellschaft geht BROWN nur kursorisch darauf ein, wobei er sein Augenmerk nur auf die idealtypische Konversion zur Philosophie richtet und sich an NOCK orientiert.11 Die ihm gewidmete Festschrift, die seinen Titel „The Philosopher and Society in Late Antiquity“ aus der Perspektive der neuesten Forschung aufgreift, behandelt das Thema der Konversion nicht.12 HAHNS Untersuchung über das Idealbild des Philosophen in der kaiserzeitlichen Gesellschaft geht zwar kurz auf sie ein, skizziert aber seinem Thema entsprechend – wie NOCK – nur die paradigmatischen Anforderungen an eine solche Konversion ohne sie zu problematisieren und ohne auf die moderne Konversionsdebatte einzugehen.13 Auch in CROOKS Arbeit über Konversion im antiken Mittelmeerraum14 nimmt die Konversion zur Philosophie aufgrund der neutestamentlichen Ausrichtung des Buches nur einen untergeordneten Platz ein.15 CROOK geht in seiner Darstellung nicht auf NOCK oder BARDY ein, sondern beschreibt das Auftreten der Philosophen in den Begriffen des antiken Patronatswesens, welches er als grundlegende Struktur der antiken Religion ansieht.16 Er betont, daß die Philosophie eine exklusive Loyalität impliziere, da sich die verschiedenen Systeme widersprächen,17 und verweist auf die Konversionsintention der protreptischen Literatur.18 Schließlich weist er darauf hin, daß der Philosoph die ‚Wohltaten‘ seiner Lehre nicht selbstlos ausschließlich für das Wohl der Studenten, sondern auch zur Mehrung seines sozialen Prestiges verbreite und anpreise.19 Die Anwendung von Patronatsbegrifflichkeit auf den philosophischen Unterricht ist ein möglicher Ansatz, die Struktur philosophischer Schulen und Kreise zu verstehen; allerdings trägt sie nicht viel zum Verständnis der Konversion zur Philosophie bei.
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Ebd., 94–98. DIHLE 1990. BROWN 1980, 10–12. SMITH 2005. HAHN 1989, 59. CROOK 2004. Ebd., 100–108. Ebd., 59 und 76ff. Ebd., 101. Ebd., 104–106. Ebd., 107f.
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1.2. PROBLEMATISIERUNG DES GEGENSTANDES: DIE KOMPLEXITÄT ANTIKER PHILOSOPHIE Um die oben skizzierten Ansätze fruchtbar zu machen, müßten sie auf Einzelfälle angewandt werden, um zu untersuchen, welche Rolle der Philosophie in einzelnen Biographien tatsächlich zukommen kann. Dabei gilt es auch, die Philosophie in ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit wahrzunehmen. NOCKS Ansatz verleitet dazu, die Philosophie als klar umrissene Sphäre zu betrachten, zu der das Individuum eine bestimmte Haltung einnehmen kann – entweder er entscheidet sich für „a life of discipline and sometimes for a life of contemplation“ oder nicht. Zwar kann aufgrund der philosophischen Literatur ein Idealbild des Philosophen entworfen werden, der sich von dem unreflektierten alltäglichen Leben der übrigen Gesellschaft distanziert, um moralisch und intellektuell vollkommen zu leben und andere darin zu unterweisen. Jedoch handelt es sich hierbei in erster Linie um ein schematisches Ideal, das je nach historischem Kontext unterschiedlich mit Inhalt gefüllt werden kann. Unter dem Oberbegriff ‚Philosophie‘ verbirgt sich ein System verschiedenster, teilweise widersprüchlicher ethischer und metaphysischer Vorstellungen, die von verschiedenen Gruppen oder Personen getragen, oft kontrovers diskutiert werden und auf unterschiedliche Weise in einen konkreten Lebensentwurf integriert werden können. So kann das Studium der Philosophie lediglich als konventioneller Abschluß des traditionellen Bildungsweges betrachtet werden, das keine existentiellen Konsequenzen nach sich zieht.20 Es kann auch dazu führen, daß der Student später als professioneller Philosoph auftritt und z. B. eine Schule eröffnet oder als Berater und Erzieher tätig wird.21 Hierbei kann der Schwerpunkt je nach Zeit und Schulhaupt unterschiedlich gesetzt werden. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten läßt sich eine breite dritte Kategorie unterscheiden, von Personen, die zwar keine professionellen Philosophen sind, sich aber trotzdem als Philosophen verstehen und sich dementsprechend in der Interaktion mit ihrer Umwelt positionieren, indem sie sich z. B. aus der öffentlichen Ämterlaufbahn zurückziehen oder philosophische Traktate verfassen. Gerade in dieser Kategorie gibt es eine große Vielfalt der persönlichen Kombinationen von philosophischen Elementen zu dem jeweiligen individuellen Konstrukt ‚Philosophie‘: für manche gehört strenge Askese dazu, während andere kein Problem darin sehen, Delikatessen mit Freunden auszutauschen. Die Einstellung zur vita activa, vor allem zu politischen Ämtern, kann ebenfalls unterschiedlich ausfallen. Diese Kategorie, die man vielleicht ‚Laienphilosophen‘ nennen könnte, hat bisher als solche wenig Interesse in der Forschung gefunden, die sich hauptsächlich auf die professionellen Philosophen konzentriert hat. Jedoch bildet sie einen wichtigen Bereich der Geschichte der Philosophie als eines sozialen Phänomens. Daher
20 Zur Stellung der Philosophie im Bildungssystem der spätantiken Gesellschaft s. HAHN 1989, 61–66. 21 Die Stellung solcher professioneller Philosophen in der kaiserzeitlichen Gesellschaft bildet das zentrale Thema bei HAHN 1989, der die nichtprofessionellen Philosophen nur am Rande erwähnt.
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ist es etwas irreführend, sie mit HAHN als ‚philosophisch Dilettierende‘ zu etikettieren.22 Auf diesem Hintergrund wird deutlich, daß man vorsichtig sein muß, wenn man von ‚Konversion zur Philosophie‘ in der Antike spricht. Anders als in der bisherigen Forschung, die das Ideal der Konversion zur Philosophie anhand normativer Texte untersucht hat und dazu neigt, diesen Idealtypus in die historische Realität zu projizieren, soll hier deswegen ein anderer Weg vorgeschlagen werden. Die Rede von Konversion zur Philosophie hat für die historische Forschung nur dann Sinn, wenn sie jeweils auf ein konkretes Individuum bezogen und auf diese Weise kontextualisiert wird. Anhand von Einzelbiographien kann der Einfluß der Philosophie in seiner ganzen Reichweite ausgelotet werden. Für Religionswissenschaftler wäre von Interesse, wie weit die Begegnung mit der Philosophie, mit Texten, Vertretern usw., auf die Religiosität23 von Individuen einwirkt. Kann die Hinwendung zur – wie auch immer im Einzelfall gearteten – Philosophie eine eigenständige, spezifische Religiosität begründen? Wie fügt sich diese gegebenenfalls in das übrige religiöse Panorama der Zeit mit ihren verschiedenen religiösen Traditionen ein? Diesen Fragen soll in der Arbeit anhand zweier ‚Laienphilosophen‘ nachgegangen werden, in deren Leben die neuplatonische Philosophie eine bedeutende Rolle spielt und die sich sowohl zeitlich als auch kulturell und philosophisch nahe stehen: Kaiser Julian und Synesios von Kyrene. Beide leben im nachkonstantinischen vierten Jahrhundert. Beide kommen aus dem Osten des Reiches, sind begeisterte Vertreter der klassischen paideia und kommen schließlich mit dem griechischen Neuplatonismus in Berührung. Dennoch vollziehen sie diametral unterschiedliche Entwicklungen: Julian entwickelt sich vom christlichen Lektor zum heidnischen pontifex maximus, während Synesios zum Metropoliten der Pentapolis gewählt wird. Auf dem gemeinsamen geistigen Hintergrund treten die Unterschiede in ihrer persönlichen Religiosität besser zutage. Zwar üben beide religiöse Spezialistenfunktionen aus, jedoch deuten sie diese unterschiedlich und integrieren sie jeweils anders in ihre religiöse Biographie und Identität. Während für Julian die Identität als Priester von grundlegender Bedeutung ist, sieht Synesios darin lediglich einen lästigen, aber notwendigen politischen Dienst an seiner Heimatstadt. Der Reiz eines Vergleiches zwischen diesen beiden Gestalten ist schon von BREGMAN bemerkt worden, der in einem Aufsatz aus dem Jahre 1998 einen solchen Vergleich skizziert. Dieser beinhaltet jedoch nur eine allgemeine Gegenüberstellung ihrer respektiven Geisteswelten, fokussiert auf die problematische Frage, welcher der beiden nun ‚hellenisch‘ und welcher ‚byzantinisch‘ denke.24 Hier soll von solchen Kategorien Abstand genommen werden und das Augenmerk auf die Rolle der Philosophie für ihr Selbstverständnis und ihre Religiosität gerichtet werden.
22 HAHN 1989, 136 (bezogen auf Quellen aus dem kaiserzeitlichen Athen, nicht auf Julian und Synesios). 23 Zum Begriff der Religiosität siehe weiter unten Abschnitt 1.3. 24 BREGMAN 1998, 127–138.
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1.3. PROBLEMATIK DES RELIGIONSBEGRIFFES Damit tut sich ein zweiter Problemkomplex auf. Die Abgrenzung dessen, was unter ‚Religion‘ verstanden wird, ist ein notorisches Problem der Religionswissenschaft. Unter diesem Oberbegriff verbirgt sich eine verzweigte Begriffsfamilie.25 Deren vielfältige Aspekte lassen sich illustrieren, wenn man die verschiedenen klassischen Definitionsversuche von ‚Religion‘ Revue passieren läßt. Während z. B. F. M. MÜLLER Religion auf die individuelle Anlage jedes Menschen reduziert, das Unendliche wahrzunehmen, und ansonsten die intellektuelle Dimension der Glaubenslehren betont,26 legt E. DURKHEIM den Fokus auf den kollektiven Ursprung und die soziale Funktion von Religion und läßt den individuellen Aspekt vernachlässigbar erscheinen.27 Jede Definition von Religion stellt bestimmte Aspekte des Gegenstandbereiches der Religionswissenschaft in den Vordergrund und vernachlässigt andere; sie eignen sich daher jeweils zur Untersuchung bestimmter Facetten des letztlich begrifflich unfaßbaren Phänomens der Religion. Wie WITTGENSTEIN anhand des Begriffes „Spiel“ betont,28 ist bei solchen komplexen Begriffen nicht von einer einzigen Essenz, sondern von einer Vielzahl von miteinander verbundenen Phänomenen auszugehen, die alle durch „Familienähnlichkeiten“ zu einem großen Komplex gehören. Damit erweist sich die Suche nach einer „richtigen“ Definition als sinnlos, da sie aussichtslos ist. Deshalb soll in dieser Arbeit nicht angestrebt werden, eine umfassende und erschöpfende Definition von Religion zu geben. Lediglich eine Präzisierung soll getroffen werden: eine ausschließlich funktionalistische Herangehensweise an diesen Bereich, wie sie etwa LUCKMANN29 vertritt, erscheint problematisch, da sie die Gefahr birgt, daß letztlich alles, was zur Selbsttranszendierung des Individuums führt, als religiös angesehen werden kann. Daher ist mit R. STARK und W. S. BAINBRIDGE30 einer substantiellen Präzisierung der Vorzug zu geben. Als ‚religiös‘ werden in dieser Arbeit Prozesse, Handlungen, Vorstellungen etc. verstanden, die sich auf eine Realitätsebene beziehen, welche die rein empirisch zugängliche Menschenwelt transzendiert. Der Begriff „transzendent“ ist dem von STARK für diese Sphäre vorgeschlagenen Begriff „übernatürlich“ wegen der damit verbundenen Problematik des Naturbegriffs vorzuziehen.31 25 WITTGENSTEIN entwickelt seine Theorie der Familienähnlichkeiten u. a. in der Philosophischen Grammatik, Abschnitt 35 (WITTGENSTEIN 1989, 74ff). 26 F. M. MÜLLER 1874, 14ff. 27 DURKHEIM 1984, 73f. 28 WITTGENSTEIN, Philosophische Grammatik 35. Für eine Anwendung der Wittgensteinischen Theorien auf den Religionsbegriff plädierte schon SALER 1994. Siehe auch BERNER 2004. 29 LUCKMANN 1991. 30 STARK, BAINBRIDGE 1985, 3–5. 31 Darauf verwiesen schon DURKHEIM 1984, 49 und FRAZER, 1890, 8f. Die kognitive Religionsforschung hat eine Reihe von neuen Termini geprägt, um diese Sphäre wissenschaftlich zu beschreiben, ohne auf vorbelastete Begriffe wie „transzendent“ oder „übernatürlich“ zu rekurrieren. So spricht BOYER 1992, 27–57 von „unobservable extra-human entities and processes“ (34) und benutzt in späteren Artikeln den Begriff „counterintuitive“. Dieser Begriff ist auch von anderen Forschern, wie etwa PYYSIÄINEN 2001, aufgegriffen worden (s. bes. 9–23, wo er
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Eine weitere Differenzierung erweist sich als notwendig. Gerade für die Untersuchung individueller Lebensentwürfe ist es sinnvoll, zwischen der persönlichen Religion des Individuums, seinem Weltbild und Glaubenssystem und den daraus entspringenden Handlungen und Reaktionen einerseits und der kollektiven Dimension der historisch gewachsenen religiöser Traditionskomplexe andererseits zu unterscheiden. Der Begriff „Religion“, der auf beide Bereiche angewandt werden könnte, verleitet dazu, die Diskrepanz, die zwischen ihnen besteht, zu verwischen und die Eigenständigkeit und Flexibilität religiöser Akteure, die aus Elementen verschiedener Traditionen individuelle religiöse Konstrukte entwickeln, zu vernachlässigen. Um die beiden Dimensionen konsequent auseinander zu halten, wird „Religion“ in dieser Arbeit nicht verwendet werden. Für die persönlichen religiösen Konstrukte soll der Begriff ‚Religiosität‘ benutzt werden, während die kollektiven Reservoires, aus denen sie sich speisen und mit denen sie interagieren, als „religiöse Traditionen“ oder „religiöse Systeme“ bezeichnet werden. Die Unterscheidung lehnt sich an SMITHS Trennung zwischen faith und tradition an, obwohl sie diese nicht reproduziert und sich auch nicht SMITHS allgemeine theoretische Überlegungen hinsichtlich des Religionsbegriffs zu eigen macht.32 1.4. PROBLEMATIK DES KONVERSIONSBEGRIFFES: THEORETISCHE UND METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN Zusätzlich zu den historischen Problemen, die NOCKS Thesen bergen, muss bei dem Versuch eines Neuansatzes die moderne Debatte um den Konversionsbegriff beachtet werden.33 NOCK selbst ist in seiner Definition den Ansätzen der amerikanischen Religionspsychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts verpflichtet, dessen bekanntester Vertreter WILLIAM JAMES ist. Mit ihm betont Nock die psychologische, vor allem emotionale Dimension der Konversion und sieht darin eine radikale existentielle Umorientierung: By conversion we mean the reorientation of the soul of an individual, his deliberate turning from indifference or from am earlier form of piety to another, a turning which implies a consciousness that a great change is involved, that the old was wrong and the new is right. It
als Grundlage eines Religionsbegriffes den Glauben an „counter-intuitive agents“ vorschlägt, durch welchen er die Problematik älterer Religionsdefinitionen, die vom Glauben an Götter oder übernatürliche Wesen ausgingen, vermeiden möchte. Den Begriff Transzendenz ersetzt er dementsprechend durch „a counter-intuitive level or aspect of reality“). Letztlich handelt es sich jedoch nur um neue Ausdrücke, die aus einer anderen Perspektive dasselbe umschreiben, was mit „transzendent“ gemeint ist. 32 W. C. SMITH 1978, 194f. 33 Einen guten Überblick über die moderne Literatur zur Konversion bieten die Forschungsberichte von SNOW, MACHALEK 1984, 167–190 oder WOHLRAB-SAHR, KRECH, KNOBLAUCH, 1998, 7–43. Überblickscharakter hat auch KILBOURNE, RICHARDSON 1988.
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is seen at its fullest in the positive response of a man to the choice set before him by the prophetic religions.34
Über JAMES hinausgehend differenziert NOCK zwischen Konversion und Adhäsion. Unter letzterer versteht er die Annahme neuer Kulte als Ergänzungen der religiösen Praxis, die nicht die Aufgabe oder Umwertung der bisherigen Religiosität erfordern.35 An diesem Maßstab gemessen, sei in der Religionsgeschichte der Antike genuine Konversion fast ausschließlich auf Konversion zu den exklusivistisch angelegten prophetischen religiösen Traditionen, zum Judentum und Christentum, beschränkt. Von einer Konversion zu den einzelnen heidnischen Kulten oder Mysterien könne nicht gesprochen werden, da diese nicht exklusiv, sondern pluralistisch angelegt seien36 und somit kein Entweder-Oder zwischen dem alten und dem neuen Kult bestehe.37 Nur in einem isolierten Fall weist nach NOCK eine Mysterieninitiation die psychologischen und emotionalen Charakteristika einer echten Konversionserfahrung auf: die Einweihung des Lucius in Apuleius’ „Goldenen Esel“.38 Die einzige mögliche religiöse Konversion im Rahmen des antiken Heidentums sei die oben skizzierte Konversion zur Philosophie.39 Erst später, nachdem das Heidentum durch das Christentum mehr und mehr in die Defensive gedrängt werde und als kulturelles und religiöses Ideal Konturen annehme, werde auch genuine Konversion zum Heidentum als solchem möglich, wie es der Fall des Kaisers Julian zeige.40 Dieser Konversionsbegriff ist offensichtlich stark an christlichen paradigmatischen Bekehrungen wie diejenige des Paulus oder Augustins orientiert. Wie JAMES, der seine Theorie bewußt anhand von Extremfällen entwickelt,41 weist auch NOCKS Definition Probleme bei der Verallgemeinerung auf: unspektakuläre Fälle von Konversion bleiben unberücksichtigt, obwohl gerade diese z. B. bei der Verbreitung des Christentums die Hauptrolle spielten.42 NOCKS Konversionsbegriff fand Eingang in die spätere Konversionsforschung und Theoriebildung, die sich jedoch eher abseits historischer Arbeiten vor allem auf dem Gebiet der Psychologie und Soziologie entwickelte.43 Ein entscheidender 34 NOCK 1988, 7. Vgl. z. B. JAMES 1985, 157: „To be converted, to be regenerated, to receive grace, to experience religion, to gain an assurance, are so many phrases which denote the process, gradual or sudden, by which a self hitherto divided, and consciously wrong inferior and unhappy, becomes unified and consciously right, superior and happy, in consequence of its firmer hold upon religious realities. This at least is what conversion signifies in general terms, whether or not we believe that a direct divine operation is needed to bring such a moral change about.“ 35 NOCK 1988, 7. 36 Vgl. NOCK 1933, 136f. 37 Ebd., 137. 38 Ebd., 137–155. 39 Ebd., 164ff. 40 Ebd., 15 und 156ff. 41 JAMES 1985, 44 oder 171. 42 Dies kritisiert R. MACMULLEN 1985, 74f. 43 Siehe z. B. SNOW, MACHALEK 1984, 169. Die Brücke zwischen historischer Forschung und soziologischer bzw. psychologischer Theoriebildung wird nur selten geschlagen. So gehen
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Katalysator waren hierbei die Bekehrungen zu sogenannten New Religious Movements in den 60er und 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Einflußreiche Modelle wurden entwickelt, um die Beweggründe und Mechanismen solcher Konversionen zu erklären.44 Dabei wurde der Akzent verstärkt von der Betrachtung der individuellen Glaubensvorstellungen und Emotionen auf das soziale Umfeld des Konvertiten verschoben, das in den psychologischen Ansätzen von JAMES und NOCK keine Rolle gespielt hatte. So betonen LOFLAND und STARK in ihrem einflussreichen Aufsatz „Becoming a World Saviour“ die überragende Bedeutung sozialer Bindungen und der daraus entstehenden Netzwerke für die Übernahme neuer Weltanschauungen. Intensive affektive Bindungen zu Vertretern der neuen Gruppe können dabei die Konversion trotz intellektueller Vorbehalte bewirken.45 In späteren Arbeiten betont STARK dieses Moment als Grundmechanismus jeglicher Konversion.46 Ein Vorteil dieser Ansätze ist die Erklärung der unspektakulären ‚Durchschnittskonversionen‘, die in JAMES’ Modell unbeachtet bleiben; die Konversion wird von der Dramatik der inneren Bühne in die Alltagswelt mit ihrem sozialen Kontext zurückgeholt. Allerdings schließen sie wiederum solche Konversionen aus, die aus theologischer Überzeugung erfolgen und das Ergebnis einer langen religiösen Suche sein können. Justin der Märtyrer oder Augustin finden in diesem Modell keinen Platz. Diesem Manko versucht seinerseits LOFLAND abzuhelfen, indem er zusammen mit SKONOVD eine Typologie von Konversionsmustern (conversion motifs) entwickelt.47 Die Autoren schlagen als heuristische Hypothese vor, daß die Unterschiede in den Konversionsberichten, die verschiedenen Arbeiten zugrunde liegen, nicht nur als Ergebnis unterschiedlicher theoretischer Perspektiven der Forscher anzusehen seien, sondern im Phänomen selbst begründet liegen, das eine Vielfalt von „conversion careers“ ermögliche. Je nach Grad des sozialen Drucks, Dauer, affektiver Erregung, affektivem Inhalt und der Abfolge von Überzeugungen und Teilnahme am Leben der neuen Gruppe unterscheiden sie sechs Typen von Konversion: intellectual conversion, mystical conversion, experimental conversion, affectional conversion, revivalist
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Arbeiten zu Konversionen in der europäischen Religionsgeschichte meistens nicht auf die Theoriedebatte ein (z.B. MACMULLEN 1983 oder 1984, FLETCHER 1999, BERNET 2003, CARVER 2003, J.-C. SCHMITT 2003). Wenn Theorien erwähnt werden, dann meistens NOCK, ohne die moderne Diskussion zu berücksichtigen, so bei SANMARK 2004 oder T. SCHMITT 2001. Ansätze wie die von STOLZ 1999 oder FINN 1997, moderne Konversionstheorien auf antike Konversionen anzuwenden, sind selten. Mehr Anklang findet die moderne Theoriedebatte bei Neutestamentlern wie CHESTER 2003 oder CROOK 2004. Auf soziologischer Seite hat STARK 1996 in einem vieldiskutierten Buch versucht, seine anhand der Analyse moderner Gruppen gewonnenen Theorien auf den Aufstieg des Christentums anzuwenden. Siehe z. B. LOFLAND, STARK 1965, LONG, HADDEN 1983 (Moonies), BECKFORD 1978 (Zeugen Jehovas), RICHARDSON, STEWART 1977 (Jesus Movement), GERTRELL, SHANNON 1985 (Divine Light Mission). LOFLAND, STARK 1965. Ihr Modell bleibt ein Referenzpunkt der Konversionssoziologie und wurde in zahlreichen Artikeln anhand neuen Materials getestet oder weiterentwickelt. Aus neuerer Zeit ist vor allem das Modell des Psychologen L. RAMBO zu nennen (RAMBO 1987 und 1993). STARK 1996. LOFLAND, SKONOVD 1981, 373–385.
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conversion und coercive conversion.48 Damit streben sie an, die verschiedenen Forschungsansätze in ihrer Verschiedenheit gelten zu lassen und zu einem Gesamtbild zu vereinen.49 Eine solche Herangehensweise erscheint sinnvoll, da sie einer essentialistischen Reduktion der Konversion auf einen einzigen Kern vorbeugt. Allerdings stellt sich immer noch die Frage nach einem übergeordneten Arbeitsbegriff von Konversion, der sich für die Analyse des historischen Materials eignet. Man muss Konversion zuerst eingrenzen können, um sie dann in einem zweiten Schritt zu analysieren und in unterschiedliche Typen einzuteilen. Hierbei könnten sich die neueren Ansätze der Konversionsforschung, die mit dem Begriff des ‚Selbst‘ bzw. der Identität operieren, als hilfreich erweisen. Diese Arbeiten sind auf dem Hintergrund einer allgemeinen Zunahme des soziologischen Interesses an der Erforschung von Selbst und Identität zu sehen.50 Ansätze dieser Richtung wurden zur Erklärung verschiedener Fälle von Konversion und Dekonversion verwendet.51 Für die Konzeptualisierung von Konversion ist besonders der einflußreiche Aufsatz von TRAVISANO zu nennen.52 Dieser beschreibt Konversion als drastischen Identitätswandel und setzt sie von Identitätsveränderungen geringeren Ausmaßes ab, die er als Alternation bezeichnet. Somit liegt eine ähnliche Differenzierung wie bei NOCK vor, jedoch konzentriert auf die Frage nach der Identität, die er als soziales Konstrukt versteht, welches durch zwei Momente zustande kommt: durch die Selbstdefinition des Individuums, die von seiner gesellschaftlichen Umgebung validiert wird.53 Ausgehend von seinen Untersuchungen über Juden, die zu einer fundamentalistischen christlichen Gruppe konvertieren („Hebrew Christians“) und solchen, die den Unitariern beitreten, spezifiziert TRAVISANO den Unterschied zwischen Konversion und Alternation. Erstere sei eine radikale Änderung des „informing aspect“, des Strukturprinzips des eigenen Lebens und der eigenen Biographie. Eine solche dramatische Veränderung gehe mit einer eindeutigen Negation der Vergangenheit einher und sei erkennbar an einer Neustrukturierung der Identität und des Lebens.54 Mit MEAD gesprochen, erwächst sie aus einem Wechsel von einem „universe of discourse“ zu einem anderen – und somit von einer sozialen Gruppe, die als Trägerin dieses universe of discourse fungiert,55 zu einer anderen. Als Ergebnis habe sie eine „pervasive“ neue Identität, d.h. eine Identität, die in den meisten Lebenssituationen von der betreffenden Person für relevant angesehen wird und die Mehrheit ihrer Handlungen und Interaktionen maßgebend bestimmt.56 Im Gegen48 Ebd., 374f. 49 Dagegen KILBOURNE, RICHARDSON 1988, 14, die die Unterschiede in den Konversionsberichten nicht auf das Phänomen selbst, sondern vielmehr auf das unterschiedliche Interesse der jeweiligen Forscher zurückführen. 50 Vgl. dazu JENKINS 2004, 8–14. 51 S. z. B. BROMLEY, SHUPE 1986, FUCHS EBAUGH 1984, 1988, SYRIÄINEN 1984, ROTHBAUM 1988, DAWSON 1990, KRECH, SCHLEGEL 1998; STENGER 1998. 52 TRAVISANO 1981, 237–248. 53 Ebd., 240. 54 Ebd., 242. 55 Vgl. MEAD 1972, 89f. 56 TRAVISANO 1981, 243 und 247f.
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satz dazu bezeichnet er weniger einschneidende Identitätsänderungen, die relativ leicht durchzuführen sind und keine radikalen Veränderungen im „universe of discourse“ erfordern, als Alternationen: Alternations and conversions, then, are different kinds of identity change. Alternations are transitions to identities which are prescribed or at least permitted within the person’s established universes of discourse. Conversions are transitions to identities which are proscribed within the person’s established universes of discourse, and which exist in universes of discourse that negate these formerly established ones.57
TRAVISANO bestimmt also Konversion ähnlich eng wie NOCK als Negierung des bisherigen zentralen universe of discourse,58 mit dem Unterschied, daß er sich nicht nur auf religiöse Konversion beschränkt, sondern Konversion und Alternation allgemein als Identitätsänderungen versteht. Die religiöse Bekehrung wäre somit ein Untertypus von Konversion. Die Betonung des Doppelaspektes von Identität, die zwar Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung des Individuums ist, aber stets in einem sozialen Kontext artikuliert und überhaupt erst möglich wird, bietet die Möglichkeit, sowohl hochgradig individuelle Konversionen solcher religiöser Virtuosen wie Augustin als auch stärker sozial bestimmte „Durchschnittskonversionen“ zu berücksichtigen und besser zu interpretieren. TRAVISANOS Konversionsdefinition wird von SNOW und MACHALEK aufgegriffen, die Konversion ebenfalls als fundamentalen Wandel des universe of discourse bestimmen.59 Über TRAVISANO hinaus versuchen sie empirische Indikatoren von Konversion aufzustellen. Als solche lehnen sie jedoch vorher gebräuchliche Faktoren wie Änderungen in der religiösen Affiliation sowie öffentliche Demonstrationen von Konversion – Taufen, Revivals, Zungenreden – ab60 und konzentrieren sich hingegen auf die Sprache der Konvertiten, indem sie vier rhetorical indicators vorschlagen. Zum einen trete bei Konvertiten als typisches Merkmal eine Rekonstruktion der Biographie entsprechend den Kategorien des neuen zentralen universe of discourse auf. Zum zweiten zeichne sich bei Konvertiten die kausale Erklärung durch die Prädominanz eines zentralen Musters aus, eines master attribution scheme. Drittens werde eine deutliche Präferenz ikonischer Metaphern gegenüber analogischen Metaphern konstatiert; dies führen SNOW und MACHALEK auf das Gefühl der Einzigartigkeit der neuen Weltsicht des Konvertiten zurück. Viertens nehme die Rolle als Konvertit eine zentrale Stellung im Handeln des Konvertiten ein und beeinflusse alle interaktiven Situationen.61 Die zentrale Rolle, die sie der Sprache von Konvertiten zur Identifizierung von Konversion zuweisen, führt sie dazu, den Status von Konversionsberichten kritisch zu diskutieren. Da diese soziale Konstruktionen sind, die die Kategorien der neuen religiösen Gruppe widerspiegeln und mit der Zeit variieren, warnen sie davor, diese als zuverlässige Quellen für die vergangenen Erfahrungen der Konvertiten anzusehen; sie würden vielmehr dessen aktuelle Situation widerspie57 58 59 60 61
Ebd., 244 (Hervorhebung der Verfasserin). Vgl. SNOW, MACHALEK 1984, 169. SNOW, MACHALEK 1984, 170. Ebd., 171–173. Ebd., 173–174.
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geln. Sie sollten deshalb weniger als Quellen für die Rekonstruktion der Konversion als vielmehr als Untersuchungsgegenstand sui generis betrachtet werden.62 Die Konzentration auf die sprachlichen Ausdrücke der Konversion kann als ‚linguistic turn‘ in der Konversionssoziologie betrachtet werden.63 In der Folgezeit entstanden verschiedene Arbeiten zur Struktur und Funktion von Konversionsberichten.64 STAPLES und MAUSS versuchen, den Ansatz von SNOW und MACHALEK stärker mit dem Selbstkonzept zu verknüpfen.65 Dazu rücken sie den Begriff des universe of discourse in den Hintergrund, als ein mögliches, aber nicht zentrales Element der Konversion, und sehen Bekehrung primär als einen Wandel des Selbstverständnisses: In contrast, we see conversion as involving primarily a change in self-consciousness, or, using the more conventional term, as a change in the self-concept (…). Thus, conversion is seen to involve a change in the way a person thinks and feels about his or her self.66
Konversion als Selbsttransformation betreffe das ‚reale‘ Selbst, jenseits der sozialen Rollen und Selbstdarstellungen: We capitalize on Turner’s distinction between the “real self“ and the “spurious self” by viewing conversion as a self-transformation – the creation of a new vision of who we really believe we are when all our social roles and self-presentations are stripped away.67
Äußerungen der Konvertiten rücken somit als Quelle in den Mittelpunkt: „the subject, and only the subject, is qualified to tell us who he or she is“. Dabei sehen STAPLES und MAUSS diese jedoch weniger als Quellen über den in der Konversion erfolgten Wandel an, sondern vielmehr als Instrumente, durch welche dieser Wandel im Selbstbild überhaupt erst vollzogen werde. Die von SNOW und MACHALEK identifizierten rhetorischen Muster, die jene als Indikatoren für ein von ihnen zu unterscheidendes Ereignis der Konversion ansahen, werden bei STAPLES und MAUSS zu Methoden der Selbsttransformation.68 Konversion und Konversionsbericht verschmelzen somit; Konversion wird außerhalb der sprachlichen Äußerungen nicht greifbar.69 Von den vier Charakteristika, die SNOW und MACHALEK vorschlagen, lassen sie anhand ihres Datenmaterials zudem nur die biographische Rekonstruktion als typisch für Konversion gelten.70 Auf derselben Linie mit STAPLES und MAUSS befindet sich auch der Ansatz von STROMBERG. Auch er versteht Konversion als Identitätstransformation, weist aber die Vorstellung zurück, daß diese ein distinktes, beobachtbares Ereignis sei, das sich in Konversionserzählungen ausdrücke. Ein solches den Berichten voran-
62 63 64 65 66 67 68 69 70
Ebd., 175–178. KRECH 1994, 25 und 28–31. S. ULMER 1988, 1990; STAPLES, MAUSS 1987; STROMBERG 1990; BISCHOFSBERGER, 1992. STAPLES, MAUSS, 1987, 146. Ebd., 137. Ebd. Ebd., 137f. S. KRECH 1994, 31. Ebd., 145.
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gehendes Phänomen sei aus diesen nicht herausdestillierbar.71 Der Wandel finde nicht ein für allemal statt, sondern müsse permanent erneuert werden; dem dienten die Konversionsberichte, deren Sprache von einem neuen System von Symbolen – einer Ideologie72 – geprägt sei, die dem Individuum dazu verhelfe, Konflikte und Sinnprobleme ständig aufs neue zu meistern und ihm auf diese Weise das Gefühl einer persönlichen Veränderung vermittele.73 1.5. KONVERSIONSBEGRIFF UND METHODISCHER ANSATZ DER ARBEIT Der Überblick über die Konversionsforschung zeigt, daß Konversion aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und konzeptualisiert werden kann. Hier wurde schon eine Einschränkung getroffen, da nur Theorien untersucht wurden, die sich auf individuelle Konversion beziehen. Auch diesbezüglich kann jedoch der Akzent unterschiedlich gesetzt werden. Er kann zum einen auf den individuellen psychischen und emotionalen Prozessen liegen, die zu einer drastischen Umorientierung des Lebens führen. Konversion kann zum anderen auch als Wechsel der Weltanschauung verstanden werden, der sich hauptsächlich über soziale Beziehungen vollzieht. Jede Definition ist im Hinblick auf ihr Material entworfen, so daß jede auf bestimmte Fälle anwendbar ist, andere jedoch nicht erfassen kann. Die neueren Ansätze, die Konversion als Identitätstransformation verstehen, bieten aufgrund der Einbettung individueller Äußerungen in ihren gesellschaftlichen Kontext das meiste Potential zur Entwicklung einer möglichst weit tragenden Vorstellung von Konversion. Hier stellt sich jedoch die Frage nach dem Verständnis von Identität. Denn allein schon die oben umrissenen Konversionstheorien operieren diesbezüglich mit verschiedenen Vorstellungen und hüten sich wohlweislich, die komplexe und schier endlose Debatte um das Verständnis von Identität als Problem anzusprechen. Während TRAVISANO im Gefolge MEADS Identität als gesellschaftlich validierte Selbstverortung des Individuums versteht und diese in der Partizipation des Individuums an verschiedenen universes of discourse verankert, so daß Identität letztlich als komplexes Gefüge einzelner Teilidentitäten besteht, steht bei STAPLES und MAUSS das real self TURNERS im Mittelpunkt: die subjektive Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition jenseits aller sozialen Selbstdarstellungen. Diese Theorien, die man unterschiedlichen Spielarten des symbolischen Interaktionismus zuordnen könnte,74 zeigen einen kleinen Ausschnitt aus der Vielfalt von Identitätsbegriffen und –modellen, die in der 71 STROMBERG 1990,43. 72 Ebd., 42. 73 Ebd. Ebenfalls mit dem Begriff der Identität arbeitet auch LEONE 2004, der allerdings Konversion nicht als reales historisches Phänomen in den Blick nimmt, sondern die Merkmale von Konversion als anthropologischer idealtypischer Kategorie semiologisch herausarbeiten möchte. Ein solcher Ansatz ist für die historische Arbeit nur bedingt von Nutzen; auf ihn soll deswegen im folgenden nicht weiter eingegangen werden. 74 Siehe STRYKER 1980.
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soziologischen und psychologischen Diskussion im Umlauf sind. Seit den späten 80er Jahren wurde daher die Gefahr der Begriffsverwirrung konstatiert.75 BRUBAKER und COOPER76 zogen eine radikale Konsequenz, indem sie für die Aufgabe des Begriffes plädierten und ihn stattdessen in drei große autonome Sinnbereiche zerlegten. Der erste Bereich umfasse Prozesse der Selbst- und Fremdpositionierung von Individuen in der gesellschaftlichen Interaktion, die sie als Identifikation und Kategorisierung bezeichnen. Der zweite Bereich umfasse Identität als Selbstverständnis und Selbstdarstellung, während der dritte kollektive Identitätsaspekte zusammenfassen solle. Dieser Versuch, unterschiedliche, jeweils voneinander unabhängige Bedeutungskomponenten von Identität zu trennen, ist zwar problematisch, weil gerade dadurch deren Zusammengehörigkeit deutlich wird: ein fundamentaler Unterschied zwischen den ersten beiden Bereichen ist nicht auszumachen, und auch kollektive Identitäten können für die individuelle Identifikation und das Selbstverständnis eine wichtige Rolle spielen.77 Jedoch macht er auf die Notwendigkeit aufmerksam, den jeweils untersuchten Aspekt von Identität zu spezifizieren. Angesichts des historischen Materials, das in dieser Arbeit analysiert werden soll, ist es von vornherein klar, daß die Quellen es nur ermöglichen, die Selbstdarstellung der beiden Protagonisten nach außen zu rekonstruieren. Synesios und Julian stellen sich in ihren Briefen und anderen Schriften auf eine bestimmte Weise dar und wollen damit bei ihren jeweiligen Adressaten ein bestimmtes Bild von sich vermitteln, bzw. bestimmte Reaktionen hervorrufen. Im Falle Julians sind glücklicherweise auch Reaktionen anderer auf sein Auftreten dokumentiert; für Synesios liegen keine solchen Quellen vor. Über Identität im Sinne eines ‚wahres Selbst‘ jenseits der sozialen Selbstdarstellungen wie sie STAPLES und MAUSS verstehen, können keine Aussagen getroffen werden. Daher eignet sich für die vorliegende Arbeit ein Identitätsverständnis, wie es Travisano oder Stromberg im Anschluß an MEAD voraussetzen, nämlich als sozial validierte Selbstdarstellung bzw. Positionierung des Individuums.78 Konversion wäre dann eine Veränderung des Identitätsgefüges einer Person, indem periphere oder neue Identitäten in der Identitätshierarchie an prominente Stelle rücken und für deren Selbstverständnis bzw. Selbstdarstellung zentral werden. Für das Verständnis solcher Prozesse ist der MEADsche Begriff des universe of discourse hilfreich. Darunter versteht MEAD a group of individuals carrying on and participating in a common social process of experience and behaviour, within which these gestures or symbols have the same or common meanings for all members of the group, whether they make them or address them to other individuals, or whether they overtly respond to them as made or addressed to them by other individuals. A universe of discourse is simply a system of common or social meanings.79 75 76 77 78
FREY, HAUßER 1987: 3–5. BRUBAKER, COOPER 2000. Siehe JENKINS 2004, 23ff. TRAVISANO 1981, 240; STROMBERG 1990, 54, Anm. 1 („a social position that is accepted as coherent by the actor and those with whom he or she interacts.“). 79 MEAD 1972, 89f.
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Innerhalb der Gesellschaft gibt es somit verschiedene universes of discourse, die den verschiedenen Untergruppen entsprechen; hinter allen stehe das allen gemeinsame übergeordnete logische universe of discourse, in der alle Menschen übereinstimmen.80 MEADS universe of discourse ist somit dem WITTGENSTEINISCHEN „Weltbild“81 vergleichbar. Es ist festzuhalten, daß die verschiedenen universes of discourse nicht isoliert voneinander bestehen; insofern als das Individuum in verschiedenen distinkten Untergruppen agiert und verschiedene Rollen annimmt, teilt es verschiedene miteinander verbundene universes of discourse, die ihrerseits in allgemeinere universes eingebettet sind. Daraus ergibt sich, daß sich im Falle einer Konversion nicht alles ändern kann, sondern die Veränderung im Normalfall auf einzelne universes of discourse beschränkt ist, so daß Kommunikation über die Konversion auch mit Außenstehenden möglich bleibt. Die Veränderung kann durch Nennung der Träger des neuen universe of discourse sowie die Beschreibung der distinktiven Merkmale angegeben werden. Im Falle der neuplatonischen Philosophie lassen sich verschiedene philosophische Kreise feststellen, die eine spezifische Weltsicht, Ethik und Soteriologie, im Falle theurgischer Schulen auch spezifische Rituale vertreten, eigene Identifikationsfiguren, die großen Philosophen, anbieten und sich somit von anderen Gruppen unterscheiden. Es könnte somit von einem neuplatonischen universe of discourse gesprochen werden, und es kann untersucht werden, inwiefern sich Julian und Synesios dessen Elemente zu eigen machen. Allerdings zeichnet sich hier eine grundlegende Frage ab. Kann man jede Veränderung eines universe of discourse als Konversion betrachten, oder müßte zwischen Konversion und weniger einschneidenden Wandlungen unterschieden werden? TRAVISANOS Vorschlag, Konversion an der Entwicklung einer pervasiven Identität festzumachen, die in der Mehrheit der sozialen Interaktionen dominant bleibt und die Autobiographie des Individuums entscheidend strukturiert, bietet eine Möglichkeit der Eingrenzung. Allerdings handelt es sich hierbei um eine rein formale Definition, die auf unterschiedliche, nicht nur religiöse Sachverhalte angewandt werden kann. Dies ist zum einen hilfreich, um Parallelen zwischen religiösen Prozessen und anderen Identitätstransformationen zu beleuchten. Allerdings droht der Begriff auf diese Weise zu weit zu werden. Als inhaltliches Pendant könnte man mit LOFLAND und STARK die Weltanschauung des Individuums heranziehen. Damit würde sich Konversion nicht auf jedes Diskursuniversum beziehen, z.B. auf den Eintritt in einen bestimmten Beruf, den man dann als Workaholic mit Leib und Seele ausübt, sondern nur auf Verschiebungen und Veränderungen in den übergeordneten universes of discourse, die die gesamte Existenz und Lebensweise des Menschen betreffen. 80 Ebd., 156f., 269. 81 STAPLES, MAUSS, 1987, 135 verweisen auf die Parallele zwischen MEADS universe of discourse und WITTGENSTEINS Begriff des Sprachspiels. Allerdings legt sich die Parallele zwischen universe of discourse und WITTGENSTEINS „Weltbild“ als System der Annahmen und Sprachspiele einer Gesellschaft, welches individuelles Denken und Handeln ermöglicht, näher. WITTGENSTEIN entwickelt diesen Begriff in der Schrift Über Gewißheit, z. B. in den Abschnitten 86–112 oder 162–167.
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Anhand dieses Arbeitsbegriffes von Konversion müssen die Methoden geklärt werden, mittels derer nach einer solchen Änderung bei den zwei untersuchten Fällen gefragt werden kann. Die Ansätze von STAPLES/MAUSS und STROMBERG, die die Konversion als solche hinter die Analyse von Konversionserzählungen zurückdrängen, erweisen sich im Hinblick auf die historische Forschung aufgrund des zur Verfügung stehenden Materials als problematisch. Es liegen zwar antike autobiographische Darstellungen vor, die die Konversion thematisieren – der berühmteste Fall sind wohl Augustins Confessiones. Wenn jedoch nur nach expliziten Aussagen der Konvertiten über ihre Konversion gesucht würde, liefe man Gefahr, die Materialbasis stark einzuschränken und bestimmte Fälle, die durchaus als Veränderung religiöser Identität mit der Begrifflichkeit der Konversion interpretiert werden könnten, aufgrund des Fehlens direkter Konversionsberichte auszuschließen. Zwar ist mit STAPLES/MAUSS festzuhalten, daß gerade die Aussagen der Konvertiten die primäre Quelle für die Erforschung von Konversion sind. Dennoch kann aufgrund der Vielfalt der Formen sozialer Kommunikation angenommen werden, daß die Affirmation einer neuen Identität nicht nur in Form expliziter autobiographischer Rekonstruktion in Berichten, die die Konversion zum Thema haben, stattfinden muß. Um eine Identitätsänderung zu rekonstruieren, kann gefragt werden, ob die Begegnung mit der Philosophie oder mit einer religiösen Tradition dazu führt, daß man sich über diese definiert und sich somit in einem neuen Licht sieht und darstellt. Es muß analysiert werden, welchen Stellenwert diese neue Identität für das weitere Leben der Person besitzt, ob sie eher peripher ist oder ihre Selbstdarstellung und ihr Auftreten maßgeblich bestimmt. Dies kann bei Synesios und Julian durch eine chronologische Untersuchung ihrer Schriften und Briefe geschehen. Direkte Äußerungen über die Bedeutung der Philosophie für ihr Leben müssen dabei durch eine Analyse ihrer Weltanschauung – soweit greifbar – und ihres praktischen Handelns ergänzt werden, da diese indirekte Formen sozialer Selbstdarstellung sind. Falls die Quellen, wie im Falle Julians, es erlauben, muß das Bild durch die Einbeziehung der Reaktionen des gesellschaftlichen Umfeldes ergänzt werden, in dem der Betreffende seine Identität als Philosoph entfaltet. Über Synesios gibt es – im Gegensatz zu Julian – keine externen Quellen; jedoch liefert er selbst in seinen Werken und vor allem in seinen Briefen wertvolle Einzelheiten, aus denen Reaktionen verschiedener Personen auf sein philosophisches Gebaren rekonstruiert werden können. Durch die Analyse dieser Bereiche – direkte und indirekte Selbstdarstellung sowie Reaktionen des sozialen Umfeldes – kann der Einfluß philosophischer Diskurse auf die Biographie dieser beiden Gestalten rekonstruiert werden. Auf dieser Basis kann dann erörtert werden, inwiefern es sinnvoll ist, von Konversion zur Philosophie zu sprechen, inwiefern dies zum Verständnis der spätantiken Religions- und Geistesgeschichte beiträgt.
2. PHILOSOPHIE UND RITUAL IM NEUPLATONISMUS Bevor Julian und Synesios selbst zur Sprache kommen, muss zu ihrer besseren Einordnung in das philosophische Panorama ihrer Zeit eine lang anhaltende Kontroverse des Neuplatonismus beleuchtet werden, die immer wieder in der Forschungsliteratur als Kriterium zu ihrer philosophischen Verortung und oft auch Bewertung herangezogen wurde. Es handelt sich um die Frage, wie Philosophie und Ritual zueinander stehen. Dieses Thema wird schon im Schülerkreis Plotins diskutiert und wird dann zum Gegenstand einer systematischen Diskussion in der zweiten neuplatonischen Generation unter Porphyrios und Jamblich. Dabei geht es um das richtige Verhältnis des Philosophen zu Ritualen allgemein, speziell aber zu jenem Ritualkomplex, der in engem Zusammenhang mit den Chaldäischen Orakeln steht und als Theurgie bezeichnet wird. Gerade die Debatte zwischen Porphyrios und Jamblich hat seit dem einflußreichen Aufsatz von PRAECHTER,1 der unterschiedliche neuplatonische Schulen unterscheidet, zur Bildung einer klaren Dichotomie in der Analyse neuplatonischer Philosophen geführt. Auf der einen Seite stehen die ‚rationalistischen‘ Porphyrianer, welche irrationale Rituale ablehnen und sich im besten Fall womöglich noch wissenschaftlich betätigen, während auf der anderen Seite – in verschiedenen Abstufungen – die irrationalen Jamblicheer stehen, welche die Theurgie hochhalten. Julian und Synesios werden oft den zwei Extremen dieses Spektrums zugeordnet. Schon PRAECHTER hatte Julian mit der in seinen Augen absonderlichsten neuplatonischen Strömung, der pergamenischen Schule in Zusammenhang gebracht, die in seinen Augen nichts mit echter Philosophie, sondern nur mit theurgischen Wundergeschichten zu tun habe. Synesios hingegen wird im Gefolge seiner Lehrerin Hypatia als Porphyrianer betrachtet, die in Alexandria aufgrund der besonderen religiösen Lage der Stadt hätten florieren können.2 Obwohl PRAECHTERS Einteilung des Neuplatonismus in verschiedene, klar voneinander abgrenzbare und lokal festzumachende Schulen in der neueren Forschung z. B. durch die Arbeiten von I. HADOT und FOWDEN widerlegt wurde,3 halten sich die daraus stammenden Generalisierungen besonders in der Synesiosforschung hartnäckig4 und werden stets am Zauberwort ‚Theurgie‘ festgemacht, das in dieser Literatur immer noch als Inbegriff der Irrationalität verstanden wird. Da gerade diese Größe in der Forschung noch nicht geklärt ist, sondern unterschiedliche Ansichten über ihren Charakter, ihre Ursprünge 1 2 3 4
PRAECHTER 1973b, 165–216. Ebd. 168–170 bzw. 206ff. I. HADOT 1978, FOWDEN 1979. Die Literatur zu Julian hat von der Neuplatonismusforschung profitiert; die alte Vorstellung von der pergamenischen Irrationalität, die sich in der älteren Forschung z. B. bei SEECK 1966 oder BOWERSOCK 1978 fand, ist heute nur noch in eher populärwissenschaftlichen Biographien wie z. B. MURDOCH 2003, zu lesen. Zu Synesios als Porphyrianer siehe z. B. LACOMBRADE 1951b, 1994 und 2001; BREGMAN 1982; BERETTA 1993; DI PASQUALE BARBANTI 1998.
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und ihre Träger kursieren, ist es an dieser Stelle nötig, ihr einige Betrachtungen zu widmen. Dabei sollen nur die Quellen herangezogen werden, die für Synesios und Julian als Hintergrund relevant sind. Angefangen mit Plotins Position wird die neuplatonische Debatte um den Nutzen des Rituals und insbesondere der Theurgie bis zu Jamblich skizziert. Zwar kann hier nicht eine vollständige Lösung aller mit der Theurgie verbundenen Probleme angestrebt werden, jedoch kann aufgrund der Vorstellung der Protagonisten der Diskussion die Problematik des Terminus illustriert werden. 2.1. PLOTIN: PHILOSOPHIE VERSUS RITUAL Plotins soteriologisches Anliegen ist die Abwendung und Reinigung der Seele von der Materie und die Kontemplation des und Vereinigung mit dem Einen, dem göttlichen Urgrund aller Dinge. Philosophie mündet hier in Mystik: sie ist zugleich Theologie und Methode, das von der Theologie gesetzte letzte Ziel zu erreichen.5 Dies wird an einigen Passagen der Vita Plotini, welche sein Schüler und Nachfolger Porphyrios verfaßt hat, besonders gut deutlich. Porphyrios berichtet, daß für Plotin das letzte Ziel in der „Einswerdung mit dem über allen thronenden Gott und der Annäherung an ihn“ bestand.6 Er habe sich oft im Geiste auf dem von Platon im Symposion gewiesenen Weg zum höchsten Gott jenseits des Seins erhoben. In der Zeit, in der Porphyrios bei ihm war, soll Plotin viermal die Schau des Einen erreicht haben; von sich selbst berichtet Porphyrios, er habe es nur einmal im 68. Lebensjahr geschafft.7 Erscheint die unio mystica somit als das letzte Ziel der neuplatonischen Philosophie, so ist eine andere Anekdote aus der Plotinvita für Plotins Einstellung zum Kult aufschlußreich. Amelios, ein Schüler des Plotin, der nach Porphyrios’ Bericht gerne an Opferzeremonien teilnahm und kein Fest ausließ, soll einmal Plotin aufgefordert haben, ihn zu einem solchen Fest zu begleiten. Plotin lehnt ab mit der Begründung: „Es ziemt sich, daß die Götter zu mir kommen, nicht, daß ich zu ihnen gehe“.8 Somit distanziert er sich vom praktizierten Kult. Zwar lehnt er ihn nicht ab – der opferfreudige Amelius gehört zu seinen Schülern und bekommt nach Porphyrios auch keine Rüge dafür zu hören. Auch wird berichtet, daß Plotin selbst die Geburtstage des Sokrates und Platons mit Opfern und Festmählern beging.9 Aber die abweisende Antwort auf Amelius’ Aufforderung läßt erkennen, daß er kein Interesse am Kult hat, daß dieser für seine persönliche Religiosität kei5 6 7 8
9
Vgl. dazu etwa Plotin, Enn. V8, 9. Porphyrios, Vita Plotini 23: Τέλος γὰρ αὐτῷ καὶ σκόπος ἦν τὸ ἑνωθῆναι καὶ πέλασαι τῷ ἐπὶ πᾶσι θεῷ. Vita Plotini 23. Vita Plotini 10: ἐκείνους δεῖ πρὸς ἐμὲ ἔρχεσθαι, οὐκ ἐμὲ πρὸς ἐκείνους. Was Plotin mit dieser eher befremdlichen Äußerung gemeint haben könnte, ließe sich vielleicht aus Enn. V 8, 9 ersehen, wo Plotin Anleitungen zur Kontemplation des Nous gibt. Die Seele soll sich zuerst von allen Eindrücken und Gedanken freimachen und dann den Nous bitten, daß er mit den mit ihm verbundenen intelligiblen Göttern in sie Einzug halte. Vita Plotini 2.
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ne Rolle spielt. In Plotin und Amelios zeichnen sich demnach zwei Möglichkeiten neuplatonischer Religiosität ab: eine vergeistigte, die des Kultes nicht bedarf, und eine, die das philosophische Streben mit der Kultfrömmigkeit verknüpft.10 2.2. DIE CHALDÄISCHEN ORAKEL UND DIE THEURGIE Die starke Rationalität und Vergeistigung der plotinischen Religiosität zeigt sich auch am absoluten Desinteresse an den Chaldäischen Orakeln,11 die im späteren Neuplatonismus zu regelrechten heiligen Schriften avancieren,12 und der von ihnen propagierten Theurgie. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von angeblich göttlichen λόγια, die gegen Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. entstanden ist.13 Davon sind lediglich disparate Fragmente erhalten. Jeder Versuch, die Weltsicht und Rituale der Chaldäischen Orakel zu rekonstruieren, muß daher lediglich hypothetisch bleiben. Erschwerend kommt noch hinzu, daß die Auswahl und Einbettung der Fragmente in die Tradition den jeweiligen Interessen der Autoren gehorcht.14 Einige immer wiederkehrende Schlüsselbegriffe und längere Fragmente lassen jedoch eine Rekonstruktion bis zu einem gewissen Grad zu.15 Das darin ausgedrückte Weltbild berührt sich mit dem des Mittleren Platonismus. Im Kosmos lassen sich drei große Bereiche unterscheiden – das Empyreum, wo das höchste Göttliche thront, die ätherischen Regionen und schließlich die Welt der Materie.16 Höchste transzendente Gottheit ist der Vater, auch als „väterlicher Abgrund“
10 Über das Christentum schweigt sich Plotin in seinen Werken bis auf Enn. II 9 aus, wo er sich gegen Gnostiker – wahrscheinlich christliche Gnostiker – richtet. Für einen theoretischen Vergleich seiner Metaphysik mit christlichen Positionen s. ARMSTRONG 1992. ARMSTRONG sieht den gewichtigsten theologischen Unterschied in der jeweils zu Grunde liegenden Spielart des Monotheismus: während Plotin ein Exponent eines historisch allmählich gewachsenen inklusivistischen Monotheismus sei, der im All mit seinen verschiedenen göttlichen Wesen eine umfassende, ewige Offenbarung des höchsten Gottes sieht, vertreten die Christen einen exklusivistischen Monotheismus, der die Einzigartigkeit Gottes und seiner Offenbarung in Christus betont (124–128). „Plotinus might, just conceivably, have accepted Christ as a theophany, and a great one, if he had been preached to him differently. But he could never have accepted him as the one and only theophany, excluding or devaluing all others“ (128). 11 So die communis opinio der älteren Forschung. Diese These wurde von DILLON 1992 dahingehend nuanciert, daß Plotin die Orakel zumindest gelesen habe und sich bei ihm gelegentlich terminologische Reminiszenzen daran finden, ohne daß sie seine Metaphysik inhaltlich beeinflußt hätten. 12 Vgl. NILSSON 1961, 479, der sie die „Bibel der Neuplatoniker“ nennt. Der Ausdruck kursiert in der Forschung; seine Anfänge haben sich im Dunkel verloren. Zu den Chaldäischen Orakeln vgl. DES PLACES 1971, SAFFREY 1990, 33–49, DODDS 1970, 150–167. Neuere Diskussionen bei MAJERCIK 1989, JOHNSTON 1990 sowie ATHANASSIADI 1999, 149–183 und 2006, 38–70. 13 DES PLACES 1971, 7ff. 14 Vgl. dazu ATHANASSIADI 1999, bes. 175–177. 15 Ein Referenzpunkt solcher Rekonstruktionen ist. LEWY 1978. Eine neuere ausführliche Rekonstruktion der Weltsicht der Orakel bietet MAJERCIK 1989, 5–21. 16 S. ATHANASSIADI 1999, 160.
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(βυθὸς πατρῷος) oder „väterliche Monas“ (πατρικὴ μονάς)17 bezeichnet.18 Eine wichtige Rolle kommt einer Trias aus Vater, Nous und Dynamis zu;19 ob der Vater mit der Monas gleichzusetzen ist oder diese über der Trias steht, ist unklar. Bezüglich des Nous wird nochmals zwischen einem ersten und einem zweiten Nous unterschieden, wobei nicht klar ist, ob der erste Nous mit dem Vater zu identifizieren ist oder nicht.20 Der zweite Nous ist der Weltschöpfer.21 In seiner Funktion ist er der plotinischen Weltseele ähnlich: er blickt einerseits zum Intelligiblen auf, andererseits zur Materie hinunter und fungiert daher gleichsam als Schaltstelle zwischen dem Intelligiblen und dem Kosmos, der ebenfalls triadisch strukturiert zu sein scheint.22 Zwischen dem obersten Göttlichen, symbolisiert durch Monas und Trias, und der materiellen Welt gibt es verschiedene Zwischenwesen.23 Entscheidend sind dabei die Gestalten der Rhea – Quelle der geistigen Götter – und der Hekate, die für die Schöpfer- und Lebenskraft im All steht. Die beiden Gestalten verschwimmen oft ineinander zum Symbol des schöpferischen, lebensspendenden Prinzips.24 Eine wichtige Rolle spielen die Bilder des Lichtes und vor allem des Feuers, welches als terminus technicus für das Göttliche bzw. Geistige verwendet wird.25 Die menschlichen Seelen sind göttlichen Ursprungs und müssen danach streben, aus der Materie und ihrer Selbstvergessenheit26 wieder zurück zum Göttlichen zu gelangen.27 Ihre Rolle wird durch das Bild des Tagelöhners veranschaulicht28: sie sind zwar aus dem Bereich des Göttlichen zur Erde herabgestiegen, sollten aber dabei ihre souveräne Freiheit gegenüber der Materie wahren. Bei dem Aufstieg zum Göttlichen spielen συνθήματα, in der Seele29 wie im Kosmos30 17 18 19 20 21 22 23 24 25
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Vgl. frg. 11 DES PLACES. Vgl. frg. 18 DES PLACES. Vgl. frg. 3–4 sowie 26–28 DES PLACES. Vgl. frg. 5 sowie 7 DES PLACES. Frg. 5 DES PLACES. Frg. 8 DES PLACES. SHAW 1995, 141 sieht darin pythagoreischen Einfluß und verweist auf Aristoteles, De caelo 268a 11–17. Vgl. z. B. frg. 32, 40, 56,77,80,137–138 DES PLACES (die letzten beiden Fragmente sprechen von ἄγγελοι). Zur Rolle der Hekate im chaldäischen System vgl. JOHNSTON 1990. Zum Verhältnis von Hekate und Rhea s. ebd. 66 und 68f. Vgl. etwa frg. 3, 5, 6, 10, 32,, 33, 35, 36, 42, 60, 81, 96, 121, 122, 128 DES PLACES. BIDEZ 1965, 75 spricht auf dieser Grundlage von einer regelrechten Feuerverehrung; er führt sie auf die geographischen und geologischen Besonderheiten Babyloniens, v.a. den brennenden Naphthaquellen, zurück. Derartige Vorgänge hätten notwendigerweise in der Umgebung einen Feuerkult begünstigt; die Bemühungen der Sassaniden um den Parsismus und die Feuermetaphorik der Chaldäischen Orakel seien verschiedene Formen eines solchen Kultes. Wahrscheinlicher erscheint der Hinweis von ATHANASSIADI 1999, 155, Anm.2 auf das πῦρ νοερόν der Stoa. Vgl. frg. 109 DES PLACES. Vgl. frg. 115 und 116 DES PLACES. Frg. 99 und 110 DES PLACES. Vgl. frg. 109 DES PLACES sowie Proklos, Eklogai I (bei DES PLACES 1971, 206f.). Vgl. frg. 108 mit den Anmerkungen von DES PLACES.
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enthaltene Spuren bzw. Symbole des Göttlichen, eine wichtige Rolle.31 Die Schau des höchsten Göttlichen übersteigt das diskursive Denken und die dieses kennzeichnende Trennung zwischen Objekt und Subjekt; sie vollzieht sich durch die „Blüte des Geistes“ (νόου ἄνθει).32 Das Weltbild der Orakel erinnert somit an den Platonismus. Vor allem zum System des Mittelplatonikers Numenios sind bestimmte Ähnlichkeiten vorhanden. In welcher Richtung die Abhängigkeit verläuft, kann kaum entschieden werden.33 Die Rolle des Feuers könnte auf stoische Einflüsse zurückgehen. Auch sonst werden religiöse Grundthemen der Zeit aufgegriffen – die Soteriologie ist etwa typisch für zahlreiche Strömungen der Zeit, von den Mysterien34 bis zur Gnosis. Auch der theologische Inhalt der Orakel sowie ihre Kosmologie, die aus einem göttlichen Urgrund den hierarchisch gestuften Kosmos hervorgehen läßt und so Monotheismus und Polytheismus zu einer Synthese verbindet, haben eine deutliche Parallele in anderen Orakeln der Zeit, die NOCK als „theologische Orakel“ charakterisiert hat und welche ebenfalls eine henotheistische Theologie propagieren und die Frage nach der richtigen Frömmigkeit behandeln.35 Wie ATHANASSIADI bemerkt, haben solche Texte die Funktion, „to provide supernatural authority for the philosophical koine of the age and the cultic practices dictated by it“.36 Der Begriff der Theurgie taucht zum ersten Mal in den Chaldäischen Orakeln auf und scheint die Wortschöpfung ihrer Verfasser zu sein.37 In den erhaltenen Orakelfragmenten selbst fällt zwar nur einmal das Nomen θεουργός,38 doch ist wiederholt von heiligen ἔργα die Rede, die man auszuführen hat.39 In der späteren Literatur wird der Begriff mit der gewichtigen Ausnahme von Jamblichs De mysteriis meistens in Verbindung mit den Chaldäern und ihren Orakeln gebraucht.40
31 Aus den erhaltenen Orakelfragmenten wird nicht deutlich, was man genau unter den συνθή‐ ματα zu verstehen hat. Einige Fragmente (frg. 108) könnten für materielle Objekte sprechen, die dann in irgendeiner Weise als Symbole des Göttlichen fungieren, einige legen die Bedeutung als Paßwörter nahe (z. B. frg. 109). DES PLACES 1971, 94, Anm. 2 zu frg. 109 lehnt eine Reduktion der συνθήματα auf Zauberwörter bzw. voces mysticae, ab. Anders JOHNSTON 1997, 185–189, die sie in Anlehnung an die sogenannte Mithrasliturgie ausschließlich als Paßwörter auffaßt, welche der Seele den Aufstieg durch die verschiedenen Sphären des Alls ermöglichen sollen. 32 Frg. 1 DES PLACES. 33 Vgl. dazu DES PLACES 1971, 11; SAFFREY 1990, 37–39 (Abhängigkeit des Numenios von den Orakeln); DODDS 1961, 271, der eine gegenseitige Beeinflussung für wahrscheinlich hält. LEWY 1978, 320f. und P. HADOT 1978, 708 plädieren für die Unabhängigkeit und parallele Entwicklung der beiden Systeme. ATHANASSIADI 1999, 153–56 sieht Apamea als Entstehungsort der Orakel an und sieht darin eine mögliche Verbindung zu Numenios gegeben. 34 Vgl. BIDEZ 1965, 76. 35 NOCK 1986. Siehe dazu auch ATHANASSIADI 1992b. 36 ATHANASSIADI 1999, 178. Zu ähnlichen Konsequenzen gelangt JOHNSTON 1997, 72–73. 37 Vgl. LEWY 1978, 461. 38 Frg. 153 DES PLACES. 39 Frg. 110, 128, 133 DES PLACES. 40 LEWY 1978 461–464.
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Laut den Orakeln sind die Theurgen über das Schicksal erhaben.41 Die soteriologische Ausrichtung der Theurgie wird in anderen Fragmenten wie etwa frg. 110 deutlich, wo aufgefordert wird, den „Kanal“ bzw. die „Lebensader“ der Seele zu suchen, durch den sie als „Tagelöhnerin“ zur Erde hinabgestiegen ist, und die Seele durch die Verbindung von heiligem Wort und heiligem Werk wieder an ihren angestammten Platz zu befördern.42 Durch die theurgische Initiation ist man vor den bösen irdischen Dämonen gefeit, die der Physis entspringen43 und die Seele betören und von den heilbringenden Weihen abwenden wollen.44 Die rettende Wirkung der Theurgie erstreckt sich sogar auf den materiellen Körper.45 Die Bedeutung des Feuers für die chaldäische Weltsicht spiegelt sich im Ritual. Man solle einen „feurigen Geist“ auf die „Werke der Frömmigkeit“ richten, um auch den Körper zu retten.46 Wiederholt werden „Werke des Feuers“ erwähnt, die ein Priester leitet.47 Die Erwähnung des Priesters könnte schließen lassen, daß die theurgischen Rituale der Chaldäer verschiedene Grade der Ritualteilnehmer voraussetzen und somit nicht individuell, sondern von einer – wenngleich noch so kleinen – Kultgemeinschaft vollzogen wurden.48 Fraglich ist jedoch, inwiefern sich eine solche Gemeinschaft tatsächlich nachweisen läßt. Neben den Fragmenten, die direkt auf den Aufstieg der Seele anspielen, gibt es solche, die Göttererscheinungen beschreiben. Wegen der körperlichen Natur der Menschen nehmen die „unmittelbar sichtbaren Erscheinungen“ (αὔτοπτα φάσματα) der an sich unsichtbaren Götter körperliche Gestalt an.49 So spricht in frg. 72 eine Göttin, die in voller Rüstung erschienen ist. Auch Feuererscheinungen in bestimmten Gestalten, oder aber formlose, werden erwähnt. Sie scheinen im Zusammenhang mit Hekateerscheinungen zu stehen50 und werden durch die Aussprache bestimmter Formeln erreicht; zur Selbstkontrolle wird genau beschrieben, was man wann sehen wird. Der ganze Kosmos wird vom Ritual erschüttert – Erdbeben und Blitze setzen ein, Sterne und Mond verblassen. Es handelt sich demnach wahrscheinlich um eine nächtliche Zeremonie. Die Formeln, mit deren Hilfe die Götter beschworen werden, sind in den Orakeln nicht angegeben. Sie enthielten wahrscheinlich „barbarische“ Götternamen, denn ein Orakelfragment besagt,
41 Frg. 153 DES PLACES: οὐ γὰρ ὑφ’ εἱμαρτὴν ἀγέλην πίπτουσι θεουργοί. 42 Vgl. dazu den Kommentar von MAJERCIK 1989, 183f. 43 Frg. 88 und 102. Zu den irdischen Dämonen und ihrer Beziehung zur Physis s. JOHNSTON 1990, 134–142. 44 Frg. 135 DES PLACES. 45 Frg. 128 DES PLACES. LEWY 1978, 214–216 deutet dies als Bewahrung vor krankheitsverursachenden Dämonen. 46 Frg. 128 DES PLACES. 47 Frg. 66 und 133 DES PLACES. 48 So JOHNSTON 1997, 177. 49 Frg. 142 DES PLACES. 50 Frg. 146–148 DES PLACES. Zu diesen Fragmenten vgl. LEWY 1978, 241ff sowie in der neueren Forschung die eingehende Analyse von JOHNSTON 1990, 111–126.
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daß „barbarische Namen“ nicht übersetzt werden dürfen.51 Andere Praktiken sind etwa die Opferung bestimmter Steine für bestimmte Wesen, so die des Steines mnizouris beim Erscheinen eines gewissen Dämons.52 Die hier geschilderten Rituale stehen der antiken Magie sehr nahe. Die detaillierte Beschreibung der Rituale und der Erscheinungen, die Verwendung bestimmter Formeln und unübersetzbarer Götternamen, bestimmter Steine usw., die nächtlichen Rituale, die kosmische Erschütterung, die die Erscheinung begleitet, deren Gefolge aus verschiedenen Geistern – all dies findet sich in ähnlicher Weise in den ägyptischen Zauberpapyri, ebenso wie ein ausgefeiltes Ritual zum ἀπαθα‐ νατισμός bzw. zum Aufstieg der Seele, die sogenannte Mithrasliturgie.53 Hekate, die bestimmende Gottheit der Orakel und ihrer Rituale, ist schon in der alten griechischen Magie die Zaubergöttin par excellence. Allerdings läßt sich Hekates prominente Stellung in den Chaldäischen Orakeln weniger auf ihre Funktion als Zaubergöttin, sondern eher auf ihre Assoziation mit liminalen Situationen und ihre Rolle als Führerin bzw. Mittlerin zurückführen.54 Ebenfalls als Unterschied zu den Papyri, in denen doch eher unmittelbar diesseitige Gewinne angestrebt werden und der Seelenaufstieg, z. B. in der Mithrasliturgie, nur Mittel zum Zweck ist, zielen die erhaltenen Fragmente der Orakel eher auf die Reinigung und den Aufstieg der Seele als Selbstzweck.55 Einige Fragmente beschreiben einen geistigen, kontemplativen Aufstieg der Seele zum höchsten Urgrund. Es ist zu überlegen, ob kontemplative und rituelle Methode nicht beide gleichermaßen in den Orakeln angelegt sind und verschiedene Etappen des Aufstiegs betreffen.56 Die Soteriologie der Orakel ist in Grundzügen ein Kind ihrer Zeit, in der die Vorstellung des Seelenaufstiegs mit Hilfe von Paßwörtern und anderen Erkennungsmerkmalen, ob geistig oder rituell, zum gängigen Repertoire der Erlösungslehren gehörte, wie gnostische und hermetische Parallelen beweisen.57 Aus den Orakeln ergibt sich somit für die Theurgie das Bild eines Mysterienkultes58 mit einer gewissen Hierarchisierung. Anders als andere herkömmli-
51 Frg. 150 DES PLACES. Es handelt sich um ein altes, verbreitetes Prinzip der Magie, daß die Namen durch die Übersetzung ihre Macht verlieren. Vgl. dazu Origenes, Gegen Kelsos I 24 oder CH XVI, 1–2. 52 Frg. 149 DES PLACES. Vgl. dazu JOHNSTON 1997, 180, die die Angabe als apotropaische Maßnahme deutet. 53 Vgl. dazu LEWY 1978, 241ff. Eine genaue Verhältnisbestimmung der PGM zur chaldäischen Theurgie sowie überhaupt eine Bestimmung der griechischen und orientalischen Elemente der Orakel ist äußerst kompliziert und würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Es sei nur vermerkt, daß z. B. JOHNSTON 1997, 183ff. eine enge Nähe der sog. „Mithrasliturgie“ zu theurgischen Texten konstatiert und ihre Rekonstruktion des chaldäischen Seelenaufstiegs darauf stützt Allerdings betont sie auch den „aggressive Hellenism“ der Orakel (ebd. 170). 54 JOHNSTON 1990, 21–48. 55 Vgl. die Diskussion bei MAJERCIK 1989, 21–25 sowie bei JOHNSTON 1990, bes. 86–89. 56 Vgl. die Diskussion bei MAJERCIK 1989, 33–45 und bei JOHNSTON 1990, 82–85. 57 MAJERCIK 1989, 25 und 44f. 58 Schon LEWY 1978, 177ff hatte die Theurgie als Mysterienkult beschrieben. JOHNSTON 1997 führt seine Analyse weiter und betont auch die Parallelen zu griechischen Mysterienkulten, vor allem zu den bacchischen und eleusinischen Mysterien, die sie vor allem in der Verwen-
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chen Formen der Begegnung mit dem Göttlichen, wie etwa Orakelstätten oder andere Mysterienkulte, zeichnet sie sich jedoch, wie JOHNSTON zu Recht betont, durch eine hohe Flexibilität und Individualisierung aus: sie weist keinerlei örtliche Bindungen auf, sondern bietet geheimes Ritualwissen, welches zum Aufstieg der Seele und somit zum direkten Kontakt mit dem Göttlichen in dessen eigener Sphäre führt, ohne daß die Vermittlung religiöser Experten dazwischentreten würde.59 Die spannendere Frage, die sich daraus ergibt, wäre, ob ein solcher Kult tatsächlich historisch existiert hat. Denn außerhalb der Orakel lassen sich zumindest für die Zeit vor Porphyrios und Jamblich kaum Spuren dieses Kultes finden. Die Rekonstruktionen des chaldäischen Mysterienkultes bei LEWY und JOHNSTON greifen bezeichnenderweise nicht nur das chaldäische Material auf, sondern beziehen auch die spätere neuplatonische Theurgie mit ein.60 Ein solches Vorgehen birgt die Gefahr, spätere Entwicklungen in die Frühzeit der Orakel hineinzuprojizieren, zumal gerade die neuplatonische Tradition, wie später gezeigt werden wird, den Begriff der Theurgie ausweiten und chaldäische wie ägyptische61 oder orphische62 Lehren darunter subsumieren kann. Im Falle der Chaldäischen Orakel liegt somit eine ähnliche Situation wie im Fall der Hermetik vor, wo auch vermutet wurde, daß es sich um bloße „Lesemysterien“ handeln würde. FOWDEN hat nachgewiesen, daß es Anzeichen dafür gibt, daß es – wenngleich sehr lose – hermetische Gruppen gegeben haben könnte, die durch den Bezug auf die Lehren des Hermes ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln konnten.63 Chaldäische Milieus lassen sich jedoch historisch nicht nachweisen, so daß der Verdacht aufkommt, daß „chaldäisch“ ein bloßes durch die Orakel vorgegebenes Etikett ist, mit dem man verschiedenste Praktiken legitimieren kann. Dieser Verdacht wird sich im Verlauf der Analyse erhärten. 2.3. PORPHYRIOS: IRRELEVANZ DES RITUALS FÜR DIE PHILOSOPHIE Anders als Plotin legt Porphyrios ein viel stärkeres Interesse an den religiösen Traditionen seiner Zeit an den Tag. Dies zeigt sich schon an seiner Schrift De philosophia ex oraculis haurienda, die in der Forschung allgemein als Jugendschrift angesehen wird, welche er noch vor seinem Studium bei Plotin verfaßt haben soll.64 Darin sammelt Porphyrios verschiedene im Umlauf befindliche Orakel-
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dung von „Paßwörtern“ (ebd. 187–188) sowie in der Abwehr von Dämonen, die den Kult stören können (ebd. 180), gegeben sieht. JOHNSTON 1997, 166–174. LEWY verarbeitet in seiner umfassenden Studie die gesamte theurgische Tradition von den Chaldäischen Orakeln bis zu Psellos; JOHNSTON 1997, 173f. verweist eher auf Jamblich und seine Nachfolger in Pergamon. S. Jamblich, De myst. VII–X. So etwa Julian, ep. 89b, 292a. FOWDEN 1987, 155–160. Zu dieser Schrift und der Frage, ob Porphyrios hier schon auf die Chaldäischen Orakel zurückgreift und die Theurgie voraussetzt, vgl. die ausführliche Diskussion bei VAN LIEFFERINGE 1999, 177–186, die die verschiedenen Forschungspositionen darstellt und plausibel be-
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sprüche, allesamt vom Typus der „theologischen Orakel“, und versucht, ihren verborgenen philosophischen Sinn herauszuarbeiten. Das Studium bei Plotin scheint dieses Interesse nicht beseitigt, wohl aber problematisiert zu haben, denn Porphyrios stellt sich von da an wiederholt die Frage nach der Vereinbarkeit von Philosophie und Kult bzw. Ritual.65 In seinem Brief an Anebo, der an einen Adressaten aus den Kreis um Jamblich gerichtet ist – ob an Jamblich selbst oder einen seiner Schüler, ist nicht auszumachen – wirft er das grundsätzliche Problem der philosophischen Vertretbarkeit der Theurgie, verschiedener Kulte und mantischer Praktiken auf. Seine Grundthese ist, daß diese allesamt ein falsches Gottesbild voraussetzen und vermitteln – als seien die Götter wandelbare, den Affekten unterworfene Wesen, die durch den Kult oder die verschiedenen Anrufungen der Menschen dazu gebracht würden, deren Willen zu tun.66 Seine Position wird in De abstinentia dargelegt, wo Tieropfer strikt abgelehnt werden und entsprechend der Hierarchie der Götter eine abgestufte Gottesverehrung vertreten wird. Das geziemende Opfer für den höchsten Gott sei ausschließlich der Aufstieg der Seele zu ihm, der sich in der Reinigung von den Affekten und der Kontemplation und Vereinigung mit diesem höchsten Göttlichen vollzieht. Der Philosoph ist somit allein wahrer Priester des obersten Gottes. Die intelligiblen Götter dürfen zusätzlich durch Hymnengesang verehrt werden; niedere Götter erhalten auch materielle – jedoch unblutige – Opfer.67 An blutigen Opfern finden nach Porphyrios nur die bösen Dämonen Gefallen, die sich fälschlich als Götter ausgeben. Solche Opfer können unter Umständen für die Städte nötig sein, um diese Dämonen zu besänftigen.68 Der öffentliche Kult wird somit in Porphyrios’ System integriert, aber nur auf einer sekundären Ebene. Für den Philosophen ist die rein geistige Verehrung maßgeblich; Philosophie ist Gottesverehrung. Dies wird auch an Porphyrios’ Ausführungen zum Wesen und Ziel der Philosophie in dieser Schrift deutlich: er betont, daß sie kein bloßes Anhäufen verschiedenster Kenntnisse ist, sondern auch die konkrete Umsetzung dieser Kenntnisse und die Wahl einer bestimmten Lebensform beinhaltet, welche den Menschen zur Vereinigung mit dem Nous führen soll.69
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gründet, daß die Theurgie in diesem Werk nicht greifbar wird und Porphyrios sich mit dem gesamten heidnischen Kult beschäftigt. Zur Abfassungszeit vgl. ebd. 177f. Die Chronologie der porphyrischen Werke ist sehr umstritten; da sie für das Thema dieser Arbeit nicht direkte Relevanz besitzt, soll hier nicht auf sie eingegangen, sondern nur auf die umfassenden Diskussionen bei VAN LIEFFERINGE 1999, 187–211 sowie bei P. HADOT 1978, 703–723 verwiesen werden. Dieses Thema beherrscht in verschiedenen Variationen den gesamten Brief und auch die jamblicheische Entgegnung; s. z. B. De myst. I,11–15. De abstinentia II, 33–34. De abstinentia II, 42–43. De abstinentia I 29,1–2: Οὐκ ἔστιν ἡ εὐδαιμονικὴ ἡμῖν θεωρία λόγων ἄθροισις καὶ μαθημάτων πλῆθος, ὡς ἄν τις οἰηθείη, συνισταμένη κατὰ τοῦτο, οὐδ’ ἐν τῷ πο‐ σῷ τῶν λόγων λαμβάνει τὴν ἐπίδοσιν· οὕτω γὰρ οὐδὲν ἂν ἐκώλυεν τοὺς πᾶν μά‐ θημα συνάγοντας εἶναι εὐδαίμονας. Νῦν δ’ οὐχ ὅπως πᾶν μάθημα [οὐ] συμπλη‐ ροῖ τὴν θεωρίαν, ἀλλ’ οὐδὲ τὰ περὶ τῶν ὄντως ὄντων, ἐὰν μὴ προσῇ καὶ ἡ κατ’ αὐτὰ φυσίωσις καὶ ζωή.
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Der Bezug auf die Chaldäischen Orakel erscheint explizit in der nur im Referat des Augustin erhaltenen Schrift De regressu animae. Laut diesem soll sich Porphyrios in ihr immer wieder auf die Autorität der Orakel berufen haben, die als göttlich offenbarte Weisheit erscheinen, die sich mit den Lehren der Philosophie decke.70 In dieser Schrift gesteht er der Theurgie Wirksamkeit zu und räumt ein, daß durch ihre Riten die unteren Teile der Seele gereinigt werden könnten; für den höheren, göttlichen Teil der Seele bleibe die Philosophie jedoch der einzige Weg zur Reinigung und Vereinigung mit dem Göttlichen.71 Jedoch ist hier Vorsicht geboten: Augustin hat Porphyrios nur in Auszügen gelesen, und seine Paraphrasen stehen im Widerspruch zu der im Brief an Anebo und in De abstinentia entwickelten Position. Zudem ist unklar, ob die von Augustin paraphrasierte Schrift tatsächlich ein eigenständiger Traktat ist, oder nur ein Teil eines größeren Werkes, so daß der Kontext von Porphyrios’ Ausführungen nicht sicher feststeht. Es ist daher nicht auszuschließen, daß Augustin Porphyrios mißverstanden hat oder verzerrt wiedergibt. Eine Diskussion dieser Frage würde in die komplizierte Debatte über Chronologie und Zusammenhang von Porphyrios’ Werken und somit hier auf Abwege führen. Es genügt an dieser Stelle festzustellen, daß bei Porphyrios dem konkreten Ritual und dem Kult immer nur sekundäre Bedeutung beigemessen wird, während die philosophische Frömmigkeit rein geistig zu sein hat. Dabei wird den im Original erhaltenen Werken, vor allem De abstinentia, und sodann Jamblichs griechischer Auseinandersetzung mit dem offenen Brief seines Lehrers eine größere Bedeutung einzuräumen sein als dem mit Vorsicht zu genießenden Referat Augustins. Diese Herabwertung des Kultes und Betonung der geistigen Gottesverehrung könnte dazu verleiten, in Porphyrios eine Art der Philosophie verkörpert zu sehen, die kein Interesse am Kult hat und daher nicht militant für das Heidentum eintritt. Mit dem Opferkult würde eine, wenn nicht die essentielle Barriere zwischen Heidentum und Christentum wegfallen und es Porphyrianern erleichtern, sich mit dem Christentum zu arrangieren. Jedoch darf über seine Philosophie seine Auseinandersetzung mit dem Christentum nicht vergessen werden. Obwohl er Jesus an einigen Stellen seines Werkes durchaus positiv gegenübersteht,72 rechnet er mit dem Christentum in einem derart polemischen Ton ab,73 daß manchmal die Vermutung laut wurde, darin werde der destruktive Eifer des Dekonvertiten greifbar.74 Der Kirchenvater Origenes, laut Porphyrios heidnisch erzogen und zum Christentum konvertiert, der dann die philosophische allegorische Auslegung für die christliche Schrift instrumentalisiert, ist für ihn der große Verräter an der Sache des Hellenentums und der Philosophie.75 Hier wird deutlich, daß eine heidnische Identität auch unabhängig vom Opferkult konstruiert werden kann, der seit 70 Porphyrios bei Augustin, De civitate dei X 32 (s. frg. 302 SMITH). Vgl. die Analyse bei LIEFFERINGE 1999, 188–193. 71 Porphyrios bei Augustin, De civitate dei X, 9–10; 23; 26-28 (s. frg. 286F–295F SMITH). 72 Porphyrios, De philosophia ex oraculis haurienda, frg. 345F und 345aF SMITH. 73 Zu Porphyrios’ Polemik gegen die Christen vgl. LABRIOLLE 1948, 251–290. 74 Vgl. ebd. 231ff. 75 Vgl. ebd. 263f.
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Paulus von den Kirchenvätern oft als die Trennlinie schlechthin zwischen Christen und Heiden angesehen wurde.76 2.4. RITUAL ALS KRÖNUNG DER PHILOSOPHIE BEI JAMBLICH Mit dem Namen Jamblichs verbindet sich neben einer Weiterführung und Verfeinerung der neuplatonischen Metaphysik und Hypostasenspekulation77 vor allem seine dezidierte Parteinahme für die Theurgie in der Schrift De mysteriis, mit der er auf Porphyrios’ Brief an Anebo antwortet.78 Die Datierung und Einordnung dieser Schriften in das Gesamtwerk der beiden Philosophen ist unklar; da es hier nur 76 Gegen ROSEN 2006, 231f. 77 Diese ist für diese Arbeit nicht von Interesse und soll deshalb hier nicht behandelt werden. Vgl. dazu z. B. DILLON 1995, bes. 880–890. 78 Zur Theurgie in Jamblichs De mysteriis vgl. A. SMITH 1974, 83–110, der vor allem an der theoretisch-philosophischen Einordnung der Theurgie in das philosophische System des Neuplatonismus interessiert ist. Er fragt nach dem Verhältnis von Theurgie und νόησις, nach der Existenz einer höheren und einer niederen Form von Theurgie sowie nach der dahinter stehenden Kausalität, und kommt zu dem Schluß, daß Jamblich trotz der Betonung des rituellen Elementes zwischen einer niederen, hauptsächlich von materiellen Riten bestimmten Form der Theurgie für die große Masse der Menschen und einer höheren, spiritualisierten Form für die Elite unterscheidet, welche jedoch nicht frei von materiellen Riten gedacht werden muß. Die neuere Forschung hat De mysteriis verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet. Zu nennen wäre vor allem SHAW 1995, der eine ausführliche und äußerst anregende Analyse der philosophischen Voraussetzungen Jamblichs sowie eine Rekonstruktion der in De mysteriis behandelten Theurgie liefert. Obgleich seine Systematisierung z. T. sehr hypothetisch ist, hat sie das große Verdienst, Jamblichs oft als wirr abgestempeltes Denken gerade in De mysteriis faßbarer zu machen. Ebenso wie SMITH ist auch SHAW primär an der Rolle der Theurgie in Jamblichs Denken interessiert. Diesen philosophischen Aspekt untersuchen auch NASEMANN 1991 und STÄCKER 1995, die sich mit den Fragen der Rationalität beschäftigen. Für diese Arbeit ist dieser philosophische Aspekt sekundär. Wichtiger ist die Frage, inwiefern De mysteriis als religionsgeschichtliche Quelle für die Rekonstruktion der Theurgie zu jener Zeit gelesen werden kann. Diese Aufgabe, die für die Chaldäischen Orakel schon durch LEWY, und in der neueren Forschung etwa durch DES PLACES, MAJERCIK, und JOHNSTON fruchtbar, wenngleich nicht mit endgültigen Ergebnissen unternommen wurde, ist für Jamblich nicht umfassend gelöst worden. Zwar betont SHAW 1995 die Bedeutung dieses Aspektes, er steht bei ihm jedoch nicht im Mittelpunkt. Viel näher kommen dem die Ausführungen bei FOWDEN 1979 aufgrund des historischen Ansatzes der Arbeit. Leider wird dort die Theurgie nur en passant berührt. LUCK 1989, 185–225 versucht zwar eine Rekonstruktion der Theurgie, sein Ansatz jedoch, Quellen aus den verschiedensten Zeiten und Kontexten – von Apuleius und den Chaldäischen Orakeln bis Psellos und Kerularios – ohne Reflexion einer möglichen Entwicklung heranzuziehen, ist problematisch. Eine Zwischenstellung zwischen dem „philosophischen“ und dem „historischen“ Ansatz stellt VAN LIEFFERINGES Studie zur Entwicklung der Theurgie (1999) dar. Sie erkennt die Notwendigkeit, den Begriff nicht absolut zu verwenden, sondern in seiner geschichtlichen Entwicklung darzustellen, bleibt jedoch in den einzelnen Kapiteln bei einer Analyse der Theorie der Theurgie bei Jamblich, Porphyrios u. a. stehen. Da für diese Arbeit weniger der philosophische bzw. theoretische Aspekt der Theurgie im Vordergrund steht, sollen die Arbeiten der ersten Kategorie nur zitiert werden, wenn sie zum Verständnis des Textes beitragen; ansonsten soll aufgrund des Textes eine religionsgeschichtliche Rekonstruktion der Theurgie bei Jamblich versucht werden.
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um die Inhalte geht, soll hier nicht darauf eingegangen werden.79 Porphyrios wirft in seinem Brief, der als Adressat einen ägyptischen Priester Anebo anspricht, die Frage nach den theologischen und philosophischen Implikationen ritueller Praktiken auf, die von geheimen Götterbeschwörungen über Liebes- und Schadenzauber und verschiedenste Formen privater und öffentlicher Mantik bis zum traditionellen öffentlichen Kult reichen. Wie aus einem direkten Zitat Jamblichs hervorgeht, benutzt er selbst den Begriff „Theurgie“.80Jamblich geht auf Porphyrios’ Fiktion eines ägyptischen Adressaten ein und stellt sich als ranghöherer Priester dar.81 Er entwickelt eine glühende Apologie der Rituale, deren Sinn Porphyrios angezweifelt hatte. Seine Position prägt die spätere neuplatonische Tradition entscheidend. Wenn nun anhand dieser Debatte rekonstruiert werden soll, was sich hinter dem Begriff „Theurgie“ verbirgt, liegt die erste Schwierigkeit schon darin, daß der Begriff von den beiden Philosophen nicht erst systematisch definiert wird. Porphyrios hatte im Brief an Anebo verschiedene Bereiche angesprochen: die Natur der Götter, die Legitimität von kultischen Handlungen wie Anrufungen oder Bittgebete, Rituale, die die Erscheinung verschiedener göttlicher Wesen bewirken sollen, verschiedene Formen der Mantik, den Sinn von materiellen Opfern und die Bedeutung des Gebets, Schaden- und Liebeszauber sowie schließlich ägyptische Lehren und Rituale. Dieses Konglomerat wird nun von Jamblich der Reihe nach systematisch diskutiert. „Theurgie“ bzw. „theurgisch“ werden als termini technici zur Bezeichnung dieser Praktiken herangezogen, neben anderen Begriffen der Kultsprache, die mit ihm in Jamblichs Sprachgebrauch manchmal sinngleich zu sein scheinen, manchmal aber nicht ganz deckungsgleich damit verwendet werden, wie etwa ἱερατικὴ τέχνη, ἁγιστεία, ἱερουργία, μυσταγωγία.82 „Theurgie“ und die anderen verwandten Begriffe schillern in ihrer Verwendung zwischen drei Themenkomplexen. Zum einen wird das Wort „Theurgie“ mit Termini und Vorstellungen aus den Chaldäischen Orakeln verknüpft. An solchen Stellen könnte also „echte“ chaldäische Theurgie vermutet werden. Zum anderen bringt Jamblich die Theurgie in Zusammenhang mit traditionellen Kultpraktiken; manchmal gehen Passagen, in denen es eher um besondere, elitäre Riten zu gehen scheint, nahtlos in solche über, in denen es um den öffentlichen Kult geht.
79 Vgl. dazu VAN LIEFFERINGE 1999, 187ff. De mysteriis wird in der Forschung fast einstimmig anhand einer Glosse von Proklos Jamblich zugeschrieben. Über die Identität Anebos und die Bedeutung des Pseudonyms Abammon vgl. SAFFREY 1971, der Anebo mit dem von Eunapius überlieferten Ägypter aus dem Kreis Jamblichs identifiziert, welcher in dessen Gegenwart Geister- und Götterbeschwörungen durchführt (VS VI 11,11). 80 Der Begriff findet sich in den Rekonstruktionen des Briefes von SODANO z. B. 4, Z.2 und der ‚Minimalversion‘ von FAGGIN, 29 und 52, der ohne kritischen Apparat den älteren Text von GALE übernimmt. VAN LIEFFERINGE kommt zu dem Schluß, daß alle Vorkommen auf die Rekonstruktion zurückgehen und keine sicheren Belege für Porphyrios’ Sprachgebrauch vorliegen. Allerdings zeigt die kritische Edition von SODANO, daß Porphyrios mindestens an der genannten Stelle selbst den Begriff der Theurgie verwendet. 81 De myst. I 1. 82 Vgl. LUCK 1989, 186f.
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Schließlich stehen in den letzten Büchern (VII–X) ägyptische Vorstellungen zur Diskussion, die ebenfalls als „Theurgie“ bezeichnet werden.83 Eine Reihe von Passagen läßt Termini erkennen, die in der Forschung als charakteristisch für die Chaldäischen Orakel anerkannt sind.84 Συνθήματα spielen eine entscheidende Rolle.85 Die Theurgen werden als „wahre Athleten bezüglich des Feuers“ bezeichnet.86 Das Feuer spielt eine wichtige Rolle bei den Göttererscheinungen; ein Kriterium der discretio deorum ist die Beschaffenheit ihres Feuers.87 Die Anthropologie deckt sich mit derjenigen der Chaldäischen Orakel.88 Im Zusammenhang mit den Riten, die als Theurgie bezeichnet werden, werden auch Priester erwähnt, die mit den Theurgen identisch zu sein scheinen. Auch die für die Orakel charakteristische Verknüpfung der Dämonen mit der physis und der heimarmene läßt sich bei Jamblich finden.89 Diese Terminologie beherrscht die ersten sechs Bücher – also diejenigen, in welchen Jamblich nicht explizit auf die ägyptischen Lehren und Symbole eingeht und seine Selbststilisierung als ägyptischer Priester auch sonst nicht zum Tragen kommt. Daß diese Terminologie und die durch sie ausgedrückten Auffassungen wesentlich auf der chaldäischen Tradition fußen, wird im Abschnitt III 31 explizit behauptet, einem zentralen Abschnitt, der die Funktion der Theurgie und der theurgischen Mantik erklärt. Dort werden diese Rituale und Phänomene explizit als Lehre und Überlieferung der „chaldäischen Propheten“ charakterisiert.90 Dieser Abschnitt soll weiter unten besprochen werden. Man kann daher schließen, daß Jamblich sein Verständnis von Theurgie durchaus aus der chaldäischen Tradition speist.91 Jedoch handelt es sich nicht um originalgetreue Übernahme, sondern um eine eigene philosophische Interpretation und Systematisierung. Ein zentrales Element dieser Deutung ist Jamblichs Betonung der absoluten Transzendenz und Freiheit der Götter.92 Diese sind frei von Affekten und vollkommen unwandelbar. Porphyrios hatte zu bedenken gegeben, daß die Rituale und Gebete wandelbare bzw. affektgeleitete Götter voraussetzen 83 Jeder der drei Bereiche wurde in der Forschung für den bestimmenden Aspekt gehalten. So versucht CREMER 1969 nachzuweisen, daß die chaldäische Theurgie die Grundlage für den jamblicheischen Theurgiebegriff bildet (s. z. B. 153). VAN LIEFFERINGE 1999, 124–126 betont vor allem die Integration des traditionellen Kultes in den Theurgiebegriff, während FOWDEN 1987, 135ff sowie SHAW 1995, 23 die ägyptische Prägung unterstreichen. 84 Der Analyse des chaldäischen Vokabulars hat sich CREMER 1969 gewidmet. 85 De myst. I 12, 15, 21 (ἐνθήματα τοῦ πατρὸς τῶν ὅλων), II 11, IV 2, VI 6. Der Begriff σύμβολον wird an zahlreichen Stellen damit synonym verwendet – etwa I 11, II 11, IV 2. 86 De myst. II 10: ἀληθινοὶ ἀθληταὶ περὶ τὸ πῦρ. 87 De myst. II. 88 Vgl. CREMER 1969, 102–143. 89 S. De myst. II 5 und 9. 90 Vgl. dazu CREMER 1969, 26–36 sowie 9–18, wo andere Verweise Jamblichs auf die Chaldäer als dessen Quellen zusammengestellt sind. 91 Vgl. CREMER 1969, 20 und 153f. 92 Vgl. CREMER 1969, 23 sowie SHAW 1995, 187. Dies ist ein entscheidender Aspekt der Theologie bzw. Ontologie Jamblichs, der dazu tendiert, die oberste Spitze der Seinspyramide, die erste Quelle bzw. den allerersten Ursprung möglichst weit ins Transzendente zu rücken, um seine Würde zu bewahren. So postuliert er vor dem plotinischen Einen noch eine höhere Entität; chaldäisch gesprochen schiebt er vor die Trias noch die Monas als distinkte Entität.
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würden – Götter, die man dazu bringen will und kann, bestimmte Dinge zu tun. Während Porphyrios als guter Schüler Plotins den Schluß zieht, daß solche Rituale somit mit den echten Göttern nichts zu tun hätten und deren Bild verzerren würden, läßt Jamblich das Ritual nicht fallen, sondern nimmt seine Zuflucht zu der Vorstellung, daß das Ritual nur den ewig bestehenden und ewig wirksamen, daher sich stets gleichbleibenden Willen der Götter, Gutes zu tun, für die Menschen greifbar mache. Diese Souveränität des göttlichen Handelns wird z. B. durch die zahlreichen Komposita von αὐτός deutlich. Hier sei zur Illustration eine kurze Passage zitiert, die ein theurgisches Ritual zusammenfasst – es geht um die κλῆσεις, die Anrufungen der Götter, die Porphyrios als Indiz dafür auffasst, daß die Götter in der Theurgie als manipulierfähig gedacht würden: Denn die Erleuchtung durch die Anrufungen (der Götter) erscheint und vollendet sich gewissermaßen aus sich selbst heraus, und sie ist weit davon entfernt, herabgezogen zu werden. Durch die göttliche Energie und Vollkommenheit geht sie hervor ins Sichtbare und übertrifft die freiwillige Bewegung um so viel, wie der göttliche Wille zum Guten das von der freien Wahl bestimmte Leben überragt. (...) Durch den so gearteten Willen lassen die Götter das Licht neidlos leuchten, da sie den Theurgen wohlgesinnt und gnädig sind, indem sie sowohl deren Seelen zu sich heraufrufen als auch ihnen die Einswerdung mit sich gewähren.93
Diese Passage, die das Wirken göttlicher Anrufungen auf die Ritualteilnehmer beschreibt, enthält im Grunde die wichtigsten Begriffe, die Jamblich für die Charakterisierung der Theurgie benutzt. Die göttliche Erleuchtung, die ἔλλαμψις, ist ein terminus technicus für das Wirken des Göttlichen im Hinblick auf die menschlichen Seelen,94 das Licht ein wesentliches Element der Gottesvorstellung.95 Diese Erleuchtung führt die Menschen hinauf zu den Göttern und gewährt ihnen die Einswerdung mit ihnen. Auch die göttliche Wirkkraft, ihre Energie, wird immer wieder betont, sei es im Zusammenhang mit der Hervorbringung und der Erhaltung des Alls, sei es im Ritual, das sie eigentlich selbst vollbringen. Denn die Menschen trennt eine schier unüberbrückbare Kluft von den Göttern – anders als Plotin oder Porphyrios erklärt Jamblich an einer vielzitierten Stelle, daß sie diese nicht mittels der Vernunft erreichen können.96 Wie SHAW gezeigt hat, hängt dies mit der unterschiedlichen Auffassung vom Seelenabstieg zusammen. In seinen späteren Schriften postuliert Plotin, gefolgt von Porphyrios, daß die Seele des Menschen eigentlich nicht gänzlich in die Materie herabsteige, sondern mit ihrem 93 De mysteriis I 12: αὐτοφανὴς γάρ τίς ἐστι καὶ αὐτοτελὴς ἡ διὰ τῶν κλήσεων ἔλ‐ λαμψις, πόρρω τε τοῦ καθέλκεσθαι ἀφέστηκε, διὰ τῆς θείας τε ἐνέργειας καὶ τε‐ λειότητος πρόεισιν εἰς τὸ ἐμφανές, καὶ τοσούτῳ προέχει τῆς ἑκουσίου κινήσεως ὅσον ἡ τἀγαθοῦ θεία βούλησις τῆς προαιρετικῆς ὑπερέχει ζωῆς (...) Διὰ τῆς τοι‐ αύτης οὖν βουλήσεως ἀφθόνως οἱ θεοὶ τὸ φῶς ἐπιλάμπουσιν εὐμενεῖς ὄντες καὶ ἵλεω τοῖς θεουργοῖς, τάς τε ψυχὰς αὐτῶν εἰς ἑαυτοὺς ἀνακαλούμενοι καὶ τὴν ἕνωσιν αὐταῖς τὴν πρὸς ἑαυτοὺς χορηγοῦντες. 94 Vgl. DES PLACES 1971, 62, Anm. 2 mit weiteren Stellenangaben. Der Begriff spielt eine wichtige Rolle in der platonischen und neuplatonischen Tradition (vgl. CREMER 1969, 104). Seine Verwendung bei Jamblich illustriert die bewusste Kombination chaldäischer und philosophischer Begriffe zur Beschreibung der Theurgie. 95 Siehe dazu JOHNSTON 2004a. 96 De myst. II 11.
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höheren Teil in der intelligiblen Welt verbleibe. Das Böse wird dabei in der Materie gesehen. Nach SHAW dominiere bei ihnen die Einstellung zur Materie aus Platons Phaidon und nicht die optimistische Vision des Timaios. Aus dieser Anthropologie folgt, daß die Seele nur aus ihrem gegenwärtigen Leiden erlöst werden kann, wenn sie sich konsequent von der Materie abwendet und sich wieder auf sich selbst und das Intelligible zurückbesinnt. Materielle Riten haben in einem solchen System per definitionem keinen Platz, würden sie doch die Seele lediglich ablenken.97 Anders Jamblich, der an dem totalen Abstieg der Einzelseele festhält und der Meinung ist, daß ihr als Menschenseele ein fester Status in der Hierarchie des Alls zukomme. Dies bedeute jedoch laut SHAW keinen Pessimismus, sondern eine Rückkehr zum Optimismus des Timaios: der Abstieg der Seele sei kein Fall, sondern eine wichtige Etappe in der Entstehung und Erhaltung des Alls und als solche durchaus gottgewollt. Die Materie sei an sich nicht böse, sondern neutral; das Böse liege in dem falschen Verhältnis der Seele zu der materiellen Welt, die zum Verhaftetsein am Körperlichen führe. Der Mensch müsse sich als Zwischenwesen zwischen Materie und Immateriellem verstehen. Daraus folge aber, daß der Mensch aufgrund dieses Status gerade auch durch materielle Riten die Verbindung zu den Göttern aufnehmen könne, womit die materiellen Riten der Theurgie nicht nur legitim, sondern geradezu geboten wären.98 Die einzige Möglichkeit zum Kontakt mit dem Göttlichen bleiben die συνθή‐ ματα, die die Götter selbst eingesetzt haben und mittels derer sie selbst wirken und die menschlichen Seelen mit sich verbinden. Jamblich gibt keine genaue Definition bzw. Aufzählung dieser συνθήματα, aber aus einzelnen Stellen läßt sich schließen, daß es um Elemente bzw. Utensilien des Rituals geht.99 So werden z. B. Götternamen oder Bittgebete (ἱκετεῖαι) so bezeichnet.100 Die Wirksamkeit dieser συνθήματα beruht auf ihrer Urbild-Abbild-Relation zum Göttlichen; die Götter erkennen ihre eigenen εἰκόνες und wirken dann dementsprechend.101 Ein anderer Begriff dafür ist folgerichtig σύμβολον. Jamblich bringt dies polemisch zugespitzt auf den Punkt, wenn er behauptet, daß nicht einmal Unwissenheit und Irrtum über die Götter die Wirksamkeit des Ritus beeinträchtigen könnten.102 Das 97 SHAW 1995, 11–13 oder 62–65. 98 SHAW 1995, 21–106. 99 Vgl. dazu CREMER 1969, 109f, der die συνθήματα unter Rückgriff auf andere Entitäten des chaldäischen Systems zu erklären versucht. Seine Position wird kurz bei SHAW 1995, 165 diskutiert, der den chaldäischen Einfluß weniger betont wissen will. Eine gute zusammenfassende Diskussion der συνθήματα, die sich am Text von Jamblich orientiert, findet sich ebd. 47–49. Im weiteren Verlauf seines Buches versucht er, den theurgischen Kult anhand der im Buch V gegebenen Differenzierung zwischen verschiedenen Götter- und Menschenklassen zu systematisieren. Es ergeben sich somit drei Etappen – materielle, intermediäre und noetische Theurgie. In den Kapiteln 15–20 diskutiert er drei sich theoretisch daraus ergebende Klassen von συνθήματα – materielle, intermediäre und noetische – und versucht, die einzelnen bei Jamblich vorkommenden Beispiele darunter zu subsumieren. Die Diskussion ist allerdings sehr spekulativ. 100 Götternamen in De myst. I 12; Bittgebete De myst. I 15. 101 De myst. II 11. 102 De myst. II 11: Ἔστω μὲν γὰρ ἡ ἄγνοια καὶ ἀπάτη πλημμέλεια καὶ ἀσέβεια, οὐ μὴν διὰ τοῦτο ψευδῆ ποιεῖ καὶ τὰ οἰκείως τοῖς θεοῖς προσφερόμενα καὶ τὰ θεία ἔργα,
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Ziel dieser Rituale ist die Verbindung mit dem Göttlichen. Jamblich benutzt dafür verschiedene Termini; die wichtigsten sind συναφή,103 κοινωνία und ἕνω‐ σις. Wie aus seiner Darstellung der Wirkungen des Gebetes folgt, stehen diese drei Begriffe für drei verschiedene Stufen dieser Verbindung.104 Diese Skizze zeigt, wie Jamblich, prädisponiert durch seine Tendenz, die Transzendenz des Göttlichen und den ontologischen Abstand zwischen ihnen und den Menschen zu betonen, die chaldäische Theurgie als geheimen Ritus zur Hinaufführung der Seele zu den Göttern in das neuplatonische System integriert und für die Erreichung des alten philosophischen Ideals der Vereinigung mit den Göttern unabdingbar macht. Durch die Macht der συνθήματα wird die conditio humana transzendiert, und die Seele steigt in der Seinsskala bis zu den Engeln oder Göttern auf. Somit bleibt der Status des Theurgen ambivalent: er bleibt zwar einerseits Mensch, kann aber faktisch den Gewalten des Alls wie ein Gott gebieten.105 Ein weiterer wichtiger Zug der jamblicheischen Theurgievorstellung ist deren enger Bezug zur Mantik.106 Durch die Anfrage des Porphyrios veranlasst, der nach der Mantik allgemein, nach theurgischen Praktiken wie nach der Funktionsweise traditioneller Orakelstätten wie Delphi, Klaros oder Branchidai gefragt hatte, muß Jamblich in seiner Darstellung auf alle Arten und Techniken der Mantik eingehen. Diese ist seinem Prinzip der absoluten Transzendenz und Souveränität des Göttlichen verpflichtet: alle Mantik hat ihren Ursprung ἔξωθεν, von den Göttern, und nicht in irgendwelchen innerweltlichen Gegebenheiten wie etwa Vogelflug, Erddämpfen oder Wasser oder den davon ausgelösten menschlichen Geistesverfassungen. All diese Dinge sind nur Werkzeuge, derer sich die Götter bedienen. Jamblich bedient sich dabei der klassischen Klassifizierung divinatorischer Praktiken, wenn er zwischen Formen der Mantik unterscheidet, bei denen das Göttliche direkt in Kontakt mit dem Menschen tritt (θεία μαντική), und solche, die der menschlichen Kunst zuzurechnen sind, z. B. die Deutung des Vogelflugs, der Sterne oder der Eingeweide.107 Hier bedienen sich die Götter dieser Dinge als Zeichen, durch die sie den Menschen verschlüsselt Auskunft geben. Die
103 104 105 106 107
οὐδὲ γὰρ ἡ ἔννοια συνάπτει τοῖς θεοῖς τοὺς θεουργούς· (...) ἀλλ’ ἡ τῶν ἔργων τῶν ἀρρήτων καὶ ὑπὲρ πᾶσαν νόησιν θεοπρεπῶς ἐνεργουμένων τελεσιουργία ἥ τε τῶν νοουμένων τοῖς θεοῖς μόνον συμβόλων ἀφθέγκτων δύναμις ἐντίθησι τὴν θεουργικὴν ἕνωσιν (...) τὰ δ’ ὡς κυρίως ἐγείροντα τὴν θείαν βούλησιν αὐτὰ τὰ θεῖά ἐστιν συνθήματα. Jedoch darf daraus nicht geschlossen werden, daß die Disposition bzw. der Zustand der Seele völlig belanglos wären. Aus anderen Stellen geht hervor, daß dieser unabdingbar ist, aber eben nicht als wirkende, ausreichende Ursache, sondern nur als Voraussetzung. Vgl. dazu die Analyse von SMITH 2000, 348–352 sowie allgemeiner ATHANASSIADI 1993b, 116 oder 128. Der Terminus spielt in der platonischen Tradition eine wichtige Rolle; s. dazu CREMER 1969, 104. De myst. V 26. Diese Stelle ist stark chaldäisch gefärbt, wie die Beschreibung des Endziels als τελείαν ἀποπλήρωσιν ἀπὸ τοῦ πυρός zeigt. Vgl. dazu LUCK 1989, 210. De myst. IV 2. Vgl. auch I 15. Vgl. dazu SHAW 1995, 231–236 sowie ATHANASSIADI 1993b, 119ff. Siehe z. B. Platon, Phaidros 244 a–d oder Cicero, De divinatione I 18.
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menschliche Kunst besteht darin, diese Zeichen als solche zu erkennen und richtig zu interpretieren. Da das Göttliche hier nur mittelbar mit den Menschen kommuniziert, handele es sich um eine der ersten Kategorie untergeordnete Art der Divination. Die göttliche Mantik findet sich sowohl in der göttlichen Inspiration der alten Orakelzentren wie auch in einigen spezifisch theurgischen Ritualen wie der Herabbeschwörung des göttlichen Pneumas108 oder der „Herbeiführung des Lichtes“ (φωτὸς ἀγωγή),109 bei der die Götter das pneumatische Seelengefährt erleuchten. Dazu bediene man sich verschiedener καταστάσεις – Aufstellungen von Dingen, die den angerufenen Göttern verwandt sind. Auch Beschwörungslieder und „Empfehlungsformeln“ (ἐπῳδαὶ καὶ συστάσεις) finden Verwendung zur Vorbereitung auf die Aufnahme der Götter. Das Licht kann im Wasser beschworen oder aber auf eine Wand projiziert werden, die zuvor durch die „heiligen Niederschreibungen der Schriftzeichen“ (χαρακτῆρες) dazu vorbereitet wurde. Diesen Ritus stellt Jamblich als höhere Form der Mantik dar: das göttliche Licht kommt par excellence ἔξωθεν, ohne Zutun der Menschen, wobei dem Licht Ritus und Ritualgeräte nur als Werkzeuge dienen.110 Die traditionellen Orakelstätten werden uminterpretiert und in dieses Modell integriert. Die materiellen bzw. örtlichen Gegebenheiten der Orakel sind lediglich sekundär und dienen nur zur Reinigung und Vorbereitung auf die Aufnahme des Göttlichen.111 Somit sind sie nur ein Untertypus der göttlichen Mantik, die letztlich nicht daran gebunden ist. Die abschließende Deutung erfährt die Mantik im Licht der Lehre der „chaldäischen Propheten“. Um den möglichen Vorwurf der Charlatanerie zu widerlegen, skizziert Jamblich die Wirkungen der „göttlichen“ oder „hieratischen“ Mantik auf die wahren Theurgen in Anlehnung an die Chaldäer. Diese betonen, daß diejenigen, die sich durch die ἱερατική gereinigt haben, Gemeinschaft mit den Göttern haben und durch deren Erleuchtung von jeglicher Schlechtigkeit und den Affekten befreit werden, so daß die Theurgen, erfüllt vom göttlichen Feuer, vor bösen Geistern sicher sind. Also folgert Jamblich: Diese eine ist nun die unbefleckte und priesterliche und wahrhaftig göttliche Art der Mantik. Und diese bedarf nicht, wie du behauptest, meiner oder eines anderen als Schiedsrichter, um sie unter vielen vorzuziehen, sondern sie selbst ist von allen anderen abgesondert, da sie vor ihnen existiert, übernatürlich und ewig, indem sie weder einen Vergleich noch eine Überlegenheit zuläßt, die unter Vielen übergeordnet ist. Vielmehr ist sie von allen losgelöst und führt die anderen an, eingestaltig und für sich selbst existierend. Dieser Art der Mantik mußt du dich – und auch jeder, der ein echter Liebhaber der Götter ist – ganz hingeben. Denn aus einer solchen Art ergibt sich zugleich sowohl die unfehlbare Wahrheit in den Zukunftsprophezeiungen als auch die vollkommene Tugend in den Seelen. Zusammen mit diesen beiden wird den Theurgen der Aufstieg zum geistigen Feuer gewährt, der sicherlich auch als Ziel so-
108 De myst. III 6. Die Feuer- und Pneumametaphorik läßt an die Chaldäischen Orakel denken. 109 De myst. III 14. 110 De myst. III 14: αὐτεξούσιος καὶ πρωτουργὸς καὶ τῶν θεῶν ἐπάξιος ὁ τοιοῦτος τρόπος τῆς μαντείας. 111 De myst. III 11. Vgl. dazu auch SHAW 1995, 232.
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike wohl jeder Kenntnis der Zukunft als auch jeder theurgischen Tätigkeit vorangestellt werden muss.112
Jamblich betont hier in aller Deutlichkeit die Einzigartigkeit der theurgischen Mantik. Diese könne mit den anderen Arten nicht auf eine Stufe gestellt werden, sondern stelle ein Phänomen sui generis dar. Dieses wird ganz eng mit dem theurgischen Ideal verknüpft: die untrügliche Wahrheit der Zukunftsvoraussagen und die vollkommene Seelentugend sind die zwei Seiten derselben Medaille. Ihr letztes Ziel ist der Aufstieg zum intelligiblen Feuer, Ziel sowohl jedes Vorwissens als auch des gesamten theurgischen Unterfangens. Die Mantik steht hier als pars pro toto für die Theurgie schlechthin.113 Jamblichs Konzeption der Theurgie wirft nun zwei Fragen auf, die im folgenden zu behandeln sind. Die Einbeziehung der alten Orakelstätten läßt nach seiner Einstellung zum traditionellen Kult fragen. Zum anderen rücken Rituale wie das Herabführen des Pneumas oder die Herbeiführung des Lichtes mit ihren Beschwörungsformeln, Aufstellungen und sonstigen Utensilien die Theurgie wiederum in eine bedrohliche Nähe zur zeitgenössischen Magie, die ja auch schon für die Chaldäischen Orakel selbst festgestellt worden war. Bei der Lektüre von De mysteriis fällt auf, daß an manchen Stellen die Differenzierung zwischen Theurgie und sonstigen Kulten unmöglich ist. Bestimmte Termini wie ἁγιστεία, ἱερατικός (und Wortfeld), ἱερουργία werden im Griechischen allgemein für Kulthandlungen benutzt und erst von Jamblich auf die Theurgie angewandt. So überrascht es nicht, daß sie von ihm an einigen Stellen auch für die Beschreibung des öffentlichen Kultes genutzt werden.114 Auch trennt Jamblich meistens nicht explizit zwischen dem öffentlichen Kult und der Theurgie und markiert nicht den Wechsel vom einen zum anderen. Einen guten Ansatzpunkt, um diesen Zusammenhang zu erfassen, bietet das 5. Buch, in dem Jamblich die Frage der materiellen Opfer behandelt. Porphyrios’ Ablehnung der materiellen und vor allem der Tieropfer115 begegnet Jamblich mit einer umfassenden Apologie der Opfer. Dabei geht es nicht nur um die Theurgie, sondern um den Opferkult allgemein. Ein wichtiges Argument ist die Verschiedenheit der Menschen. Der vollkommenste und höchste Kult mag sehr wohl, wie Porphyrios dies betont, unkörperlich und geistig sein. Jedoch sind nur wenige in der Lage, ihn auszuüben, da 112 De myst. III 31: Ἓν οὖν τοῦτό ἐστι τὸ ἄχραντον καὶ ἱερατικὸν θεῖόν τε ὡς ἀληθῶς γένος τῆς μαντείας· καὶ τοῦτο οὐχ, ὡς σὺ λέγεις, διαιτητοῦ δεῖται ἢ ἐμοῦ ἢ ἄλλου τινός, ἵν’αὐτὸ ἐκ πολλῶν προκρίνω, ἀλλ’ αὐτὸ ἐξῄρηται πάντων, ὑπερφυὲς ἀί‐ διον προϋπάρχον, οὐδὲ παράθεσίν τινα ἐπιδεχόμενον οὔτε ὑπεροχήν τινος ἐν πολλοῖς προτεταγμένην· ἀλλ’ ἀπολέλυται καθ’ ἑαυτὸ μονοειδὲς πἀντων προηγεῖται. Ὧι δεῖ καὶ σὲ καὶ πᾶς ὅστις ἐστὶ γνήσιος τῶν θεῶν ἐραστὴς ἐπιδοῦ‐ ναι ἑαυτὸν ὅλον· ἐκ γὰρ τοῦ τοιούτου τρόπου παραγίγνεται ἅμα τε καὶ ἐν ταῖς μαντείαις ἡ ἄπταιστος ἀλήθεια καὶ ἐν ταῖς ψυχαῖς ἡ τελεία ἀρετή. Μετὰ τούτων δὲ ἀμφοτέρων δίδοται τοῖς θεουργοῖς ἡ πρὸς τὸ νοητὸν πῦρ ἄνοδος, ὁ δὴ καὶ τέ‐ λος δεῖ πάσης μὲν προγνώσεως πάσης δὲ θεουργικῆς πραγματείας προτίθεσθαι. 113 Vgl. dazu ATHANASSIADI 1993b, 119–121 sowie SHAW 1995, 136. 114 Vgl. etwa De myst. I 11, I 21,V. S. auch SHAW 1995, 209. 115 Dies läßt sich z. B. aus De myst. V 22 ersehen. Porphyrios’ Auffassung ist uns auch in seinem Werk De abstinentia (Buch II) erhalten.
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die meisten Menschen, die πολλὴ ἀγέλη, immer noch in der Welt des Werdens, in der physis und heimarmene herrschen, gefangen sind.116 Den materiellen Kult zu verbieten, hieße, diese Lage zu verkennen und die Durchschnittsmenschen – „Städte und Völker“ – der einzigen Möglichkeit des Kontaktes mit dem Göttlichen zu berauben. 117 Der hier gemeinte materielle Kult kann nur der traditionelle öffentliche Kult sein. Er steht im Einklang mit der physis.118 Von dieser „großen Herde“ setzt sich die Elite derer ab, die ihr Leben vollständig nach dem Nous ausrichten – das Idealbild des Philosophen. Diesen entspricht eine unkörperliche Observanz in allen Teilen der Theurgie.119 Jedoch lasse sich dieses Ideal nur sehr schwer, wenn überhaupt, erreichen.120 Diejenigen, die sich noch im Spannungsfeld zwischen Materie und Intelligiblem bewegen, müssen sowohl unkörperliche als auch körperliche Rituale ausüben; dies betrifft nicht nur die große Masse, sondern auch die Anfänger bzw. die Halb-Fortgeschrittenen in der Theurgie.121 Wenn auch Jamblich als höchste Stufe der Theurgie die rein geistige Verehrung des Einen ansieht, so macht er dennoch durch andere Argumentationsgänge pro sacrificiis klar, daß nicht einmal der vollkommene Theurg auf den materiellen Kult verzichten kann. Schließlich gebe es ja auch verschiedene Klassen von Göttern, denen allen Verehrung gebührt. Die Götter, die über Seele und Natur gebieten, werden dementsprechend durchaus auch und gerade am besten durch materielle Opfer verehrt; Götter, die einer bestimmten Region vorstehen, am besten durch Dinge, die diese hervorbringt.122 Der durchgängige ontologische Zusammenhang der Wesen, die „goldene Kette“ der Seinshierarchie, verbietet eine isolierte Anrufung bestimmter Götter, da sie mit verschiedenen anderen, tieferstehenden Mächten nach dem Ursache-Wirkung-Prinzip verbunden sind, die ihnen 116 Vgl. De myst. V 15–18 und 20–23. 117 De myst. V 15, 20, 22. 118 De myst.V 18: τὴν θρησκείαν ἐπιτηδεύουσι τῇ φύσει πρόσφορον καὶ τοῖς κινουμέ‐ νοις ὑπὸ τῆς φύσεως σώμασι. 119 De myst. V 18: οἱ δὲ κατὰ νοῦν μόνον καὶ τὴν τοῦ νοῦ ζωὴν τὸν βίον διάγοντες, τῶν δὲ τῆς φύσεως δεσμῶν ἀπολυθέντες, νοερὸν καὶ ἀσώματον ἱερατικῆς θεσ‐ μὸν διαμελετῶσι περὶ πάντα τῆς θεουργίας τὰ μέρη. 120 De myst. V 21 und 22. 121 De myst. V 20: Ἀλλὰ μὴν ὁπότε γέ τις τῶν θεουργικῶν θεῶν ὑπερκοσμίως μετά‐ σχοι (τοῦτο δ’ ἐστὶ τὸ πάντων σπανιώτατον), έκεῖνος δήπουθέν ἐστι ὁ καὶ σωμά‐ των καὶ ὕλης ὑπερέχων ἐπὶ θεραπείᾳ τῶν θεῶν, ὑπερκοσμίῳ τε δυνάμει τοῖς θε‐ οῖς ἑνούμενος. Οὐ δεῖ δὴ τὸ ἐν ἑνί ποτε μόλις καὶ ὀψὲ παραγιγνόμενον ἐπὶ τὸ τέλει τῆς ἱερατικῆς τοῦτο κοινὸν ἀποφαίνειν πρὸς ἅπαντας ἀνθρώπους, ἀλλ’ οὐ‐ δὲ πρὸς τοὺς ἀρχομένους τῆς θεουργίας ποιεῖσθαι αὐτόχρημα κοινόν, οὐδὲ πρὸς τοὺς μεσοῦντας ἐν αὐτῇ· καὶ γὰρ οὗτοι ἁμωσγέπως σωματοειδῆ ποιοῦνται τὴν ἐπιμέλειαν τῆς ὁσιότητος. An diesen Passagen im V. Buch entwickelt SHAW 1995, 129– 152 seine Systematik der drei verschiedenen Stufen der Theurgie nach Jamblich (materiell, intermediär und noetisch). Vgl. auch SHAW 1993, 121–125, wo er von einem „theurgic itinerary from material to noetic sacrifices” spricht, der jeweils dem Grad der Entfremdung der Seele von ihrem eigentlichen Wesen entspricht, oder CLARKE 2001,45–47, die zwischen der großen Masse und den völlig vergeistigten Theurgen die „theurgists in training“ ansiedelt (46). 122 De myst. V 24.
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gleichsam vorgelagert sind und sich bei jedem Akt, der die ihnen übergeordneten Götter anvisiert, mit in Bewegung setzen. Der Kult muß somit die ganze Vielfalt der Allhierarchie nachbilden, jedem Wesen das Eigene zuteil werden lassen, um die erwünschten Wirkungen zu zeitigen. Selbst die kleinsten Auslassungen haben verheerende Auswirkungen. Dieses grundsätzliche Gesetz des Kultes, das gerade den Theurgen aus Erfahrung bestens bekannt ist, verlange somit auch materielle Opfer.123 Schließlich betont Jamblich, daß jeglicher Kult nicht bloße menschliche Konvention, sondern göttliches Geschenk sei.124 Somit wird klar, daß die unkörperliche Gottesverehrung des vollkommenen Theurgen – an sich schon ein schier unerreichbares Ideal – in den materiellen Kult eingebunden ist, und zwar in den spezifisch theurgischen wie in den traditionellen öffentlichen Kult, der ja ebenfalls wie die theurgischen Rituale von den Göttern eingesetzt worden ist.125 Was der Theurg der großen Masse voraus hat, ist sein Wissen: er kennt den Zusammenhang der göttlichen Hierarchie, den verborgenen Funktionsmechanismus und somit den eigentlichen Sinn der Opfer, deren gängige verbreitete Begründungen völlig irrig sind,126 und er weiß als einziger aus Erfahrung, wie sehr es auf die korrekte Durchführung und die Einbeziehung aller göttlicher Mächte ankommt. Somit erscheint die Theurgie im jamblicheischen Entwurf nicht nur als Ritualpraxis der Elite, die nach religiöser Vollkommenheit strebt, sondern auch als der theologische Deutungsschlüssel für den öffentlichen Kult mit seinen Ritualen und Symbolen.127 Jamblichs Position zum traditionellen Opferkult ist somit parallel zu seinem Umgang mit den alten Orakelstätten. Die Theurgie ist für ihn keine Konkurrenz zu den althergebrachten Kulten. Sie bietet zwar denen, die über die traditionellen religiösen Angebote des Heidentums hinaus nach Einsicht in die Götterwelt und nach Vereinigung mit ihr streben, einen eigenen rituellen Weg dorthin, ist aber zugleich die Instanz, von der aus der traditionelle Kult, der manchmal vielleicht primitiv anmuten mag, in seinem tieferen Sinn verständlich und philosophisch vertretbar wird.128 Anders als im Fall der Chaldäischen Orakel können die theurgischen Riten von De mysteriis z. T. besser rekonstruiert werden. So erwähnt Jamblich Anrufungen der Götter (κλήσεις).129 In seiner Interpretation bewirken sie eine „aus eigenem Antrieb erscheinende und sich selbst vollendende Erleuchtung“, die die Seelen der Theurgen zur Vereinigung mit den Göttern hinaufzieht. Die κλήσεις scheinen im Zusammenhang mit Göttererscheinungen zu stehen, durch welche die Seele ihr menschliches Leben und menschliche ἐνέργεια überwindet und gegen die göttliche eintauscht.130 Die διὰ τῶν κλήσεων ἄνοδος gewährt den Priestern 123 De myst. V 20–22. 124 De myst. V 25. 125 Etwas anders SHAW 1995, 154ff, der die materiellen Riten eher nur als notwendige Vorbereitung auf das Immaterielle versteht. 126 De myst. V 5. 127 Vgl. dazu auch De myst. I 21. Hier ist die geistige Nähe der jamblicheischen Theurgie zu den ‚theologischen Orakeln‘ deutlich zu greifen. 128 Vgl. dazu VAN LIEFFERINGE 1999, 124 oder 126. 129 De myst. I 12. 130 De myst. I 12.
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(ἱερεῖς) Reinigung von den Affekten, Entfernung von der Welt des Werdens und Vereinigung mit dem göttlichen Ursprung. Eine andere Kategorie bilden die Herbeirufungen (προσκλήσεις). Auch diese sollen die Priester mit den Göttern verbinden. Sie erreichen die Götter über die „heiliggeziemenden Götternamen, und die anderen göttlichen Symbole (συνθήματα), die ihrem Wesen nach zu den Göttern hinaufführen.“131 Gerade unverständliche Götternamen (ἄσημα ὀνόμα‐ τα) seien aufgrund des symbolischen Charakters besonders wertvoll für den Aufstieg, ebenso fremdartige, assyrische oder ägyptische Götternamen, da die Sprachen heiliger Völker ungleich besser als das profane Griechisch für den Kult geeignet seien.132 Andere Rituale sind „Besänftigungen des göttlichen Zornes“ (μήνιδος ἐξι‐ λάσεις), Opfer (ἐκθύσεις), durch die irdisches Übel abgewendet wird,133 sowie „Götterzwänge“ (θεῶν ἀνάγκαι).134 Die schon angeklungenen göttlichen Erscheinungen scheinen für die Theurgie nach Jamblich eine zentrale Rolle zu spielen. Das gesamte zweite Buch ist den göttlichen Erscheinungen (ἐπιφάνειαι) gewidmet, für welche Jamblich eine ausgefeilte Methode der discretio spirituum entwickelt. Kriterien sind dabei zum einen die Merkmale der Erscheinungen – Aussehen der erscheinenden Götter135, begleitende Lichterscheinungen136, Gefolge von Geistwesen137 usw. Zum anderen kann aufgrund der Wirkung der Erscheinung auf den Sehenden auf ihre Natur geschlossen werden138 Die angerufenen Götter tragen bestimmte Steine und Pflanzen, sind in der Lage, mit „heiligen Fesseln“ zu binden und diese zu lösen, Verschlossenes aufzutun und die Vorsätze der sie Aufnehmenden zu ändern.139 Solche Erscheinungen könnten u. a. im Zusammenhang mit der Mantik eine Rolle gespielt haben. Diese wurde oben schon diskutiert, im Kontext der spezifisch theurgischen Rituale des Herabführens des göttlichen Pneumas in ein Medium,140 oder der von Jamblich bevorzugten „Herbeiführung des Lichtes“ (φωτὸς ἀγωγή).141 Daß im Ritual bestimmte Gegenstände benutzt wurden, die den angerufenen Göttern jeweils verwandt sein sollen, wird auch an anderer Stelle deutlich. Im Zusammenhang mit den Opfern spricht Jamblich davon, daß die Materie nicht per se negativ ist, sondern durchaus zur Aufnahme des Göttlichen dienen kann. Die Theur-
131 De myst. I 12. 132 De myst. VII 4–5. Vgl. dazu STRUCK 2002, der die unterschiedlichen sprachtheoretischen Hintergründe von Porphyrios und Jamblich herausarbeitet und sie auf dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Einstellungen zum Hellenismus betrachtet. 133 De myst. I 13. 134 De myst. I 14. 135 De myst. II 3. 136 De myst. II 4, 8. 137 De myst. II 7. 138 De myst. II 5; 6; 9. 139 De myst. III 27. 140 De myst. III 6. 141 De myst. III 14.
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gie habe dies erkannt und kombiniere daher Steine, Pflanzen, Tiere, Wohlgerüche und andere Gegenstände zu einem geeigneten Aufnahmegefäß für die Götter.142 Damit liegt die Problematik solcher Rituale auf der Hand: sie stehen in einer großen Nähe zu dem, was man als Magie bezeichnen würde, etwa zu den Ritualen, die in den griechisch-ägyptischen Zauberpapyri enthalten sind. Aufgrund des umfangreichen Materials läßt sich dies für Jamblichs Theurgie ungleich besser als für die Chaldäischen Orakel nachvollziehen.143 Gerade die Zauberpapyri liefern ähnliche Rituale, in denen Götter, deren Aussehen genau beschrieben wird, anhand verschiedenster Gegenstände – verschiedener Pflanzen, Tiere, Steine usw. – angerufen werden. Die θεῶν ἀνάγκαι, an denen schon Porphyrios Anstoß nimmt, muten fast als Anspielung auf die modernen wie antiken Abgrenzungen von Magie und (legitimer) Religiosität an, die die Magie als Götterzwang charakterisieren.144 Die unübersetzbaren fremdartigen Götternamen, die uns schon in den Chaldäischen Orakeln begegnet waren, sowie die sinnlosen Buchstabenkombinationen (ἄσημα ὀνόματα) haben ebenfalls ihre Entsprechung in den Zauberpapyri mit ihrer bunten Mischung aus ägyptischen, babylonischen, hebräischen, griechischen Namen sowie den unverständlichen voces magicae.145 Auch die „Charaktere“, verschiedene symbolische Zeichen, finden in den Ritualen der Papyri Verwendung.146 Die ἐπῳδαί sind schon aus der griechischen Religionsgeschichte bekannt.147 Die συστάσεις finden sich in den ägyptischen Zauberpapyri wieder, wo sie Rituale zur eigenen Empfehlung an bestimmte Götter – besonders an den Sonnengott – darstellen, die dem Anrufenden diesen Gott als mächtigen Patron und Helfer sichern sollen.148 Laut NOCK ist gerade dieses Ritual charakteristisch für die späte griechisch-ägyptische Magie der Zauberpapyri.149 Kultische Reinheit durch die Enthaltung vom Fleischgenuß150 sowie durch sexuelle Enthaltsamkeit151 spielt in magischen Texten ebenfalls eine wichtige Rolle;152 für die Zauberpapyri wurde aufgrund der Bedeutung des ersteren Gebotes neupythagore-
142 De myst. V .23. 143 Vgl. dazu EITREM 1942. 144 Sie erinnern stark an die ἐπάναγκοι, die Zwangsmittel der griechischen Zauberpapyri (PGM II 43, 63, IV 1035, XII 115, vgl. auch der Sache nach I 297 oder III 495). 145 Vgl. LEWY 1978, 239f mit den Anmerkungen; in den Papyri werden solche Götternamen und Formeln durchaus parallel zu De mysteriis als „Symbole und unaussprechliche Namen” (VII 560) bezeichnet. 146 Vgl. z. B. PGM II 60 oder III 291 oder VII 589, sowie die magischen Zeichnungen im Appendix bei PREISENDANZ 1974, Tafel 1–3. 147 Vgl z. B. Platon, Charmides 155 e. 148 PGM II 43 (Apollon), III 198ff und 495ff, IV 168ff und 261ff (Helios), IV 779 (τοῦ μεγά‐ λου θεοῦ), IV 930 (αὔτοπτος σύστασις an den „lebenden Gott, den feuerleuchtenden, unsichtbaren Erzeuger des Lichts“; gerade diese Stelle, die Teil einer Photagogie zu mantischen Zwecken ist, hat Parallelen zur Terminologie und den Ritualen von De mysteriis), VII 505 (σύστασις ἰδίου δαίμονος, vgl. De mysteriis IX, das dem ἴδιος δαίμων gewidmet ist). 149 NOCK 1929, 226. 150 De myst. V 1–4. 151 De myst. IV 11ff. 152 Vgl. PGM I 43ff (7 Tage Fleischenthaltung), II 148, III 304 (3 Tage),IV 28 (7 Tage), 54, 735.
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ischer Einfluß angenommen.153 Zwar müssen die Anrufenden selbst gerecht sein – eine Bedingung, die magische Rituale so nicht voraussetzen. Allerdings stürzt dies Porphyrios in eine weitere Aporie: warum fordern die Götter von ihren Verehrern Gerechtigkeit und lassen sich doch gleichzeitig von diesen zu ungerechten Zwekken mißbrauchen? Was hier aufgeworfen wird, ist die Frage des Schadenzaubers, und es ist auffällig, daß Jamblich diesen nicht lediglich als Mißbrauch und falsche Theurgie abtut, sondern weit zur Verteidigung des Rituals ausholt und zu bedenken gibt, daß göttliche und menschliche Gerechtigkeit nicht nach denselben Maßstäben funktioneren.154 Auch der Liebeszauber wird von Porphyrios thematisiert und von Jamblich nicht gleich als verkehrt hingestellt, sondern es wird wieder auf die Möglichkeit hingewiesen, daß solches nach dem höheren und den Menschen nicht zugänglichen Gesetz der Götter geschehe.155 Schließlich gibt zu denken, daß sogar das mantische Ritual, das Jamblich als das theurgische par excellence hervorhebt, die Photagogie, Parallelen in den Zauberpapyri hat: in PGM IV 955ff wird ein Ritual zur φωταγωγία ausführlich beschrieben, bei welchem mittels einer Lampe eine göttliche Lichtvision zu mantischen Zwecken bewirkt werden soll.156 Diese de facto gegebene Nähe zur Magie zwingt Jamblich wiederholt dazu, sich von ihr, der γοητεία, zu distanzieren.157 Dabei rekurriert er hauptsächlich auf zwei Argumente. Zum einen spricht er der Magie die Gemeinschaft mit den Göttern ab und wertet sie zu einer bloßen Technik ab, die sich lediglich die Sympathie im All zunutze macht und die niederen Mächte und bösen Dämonen zu Diensten hat, die sich manchmal als Götter auszugeben versuchen. Der Gegensatz ist hierbei τεχνικῶς, ἀλλ’ οὐ θεουργικῶς.158 Jedoch ist auch die Theurgie eine Kunst.159 Der Unterschied zwischen ihr und der Magie würde dann darin liegen, daß die theurgische Kunst von den Göttern ausgeht und wieder zu ihnen führt, während die Magie reine Technik bleibt, die niedere kosmische Gewalten manipuliert. Die Tatsache, daß die Theurgie eine Kunst sui generis ist, liefert ihm nun das zweite Argument: wahre Theurgen kennen ihre Kunst genau und führen die Rituale richtig aus. Sie wissen um die langwierigen Vorbereitungen, die man auf sich nehmen muß und halten jeden Schritt bzw. deren Reihenfolge genau ein, ohne sich ungeordnet und dem Gesetz zuwider auf die Götter zu stürzen und sich damit unversehens in die Gewalt böser Geister zu begeben.160 Jamblichs Versuche, die Theurgie als erhabenes gottgegebenes Mittel zur Vereinigung mit dem Göttlichen von der Magie abzugrenzen, dürfen nicht über die Verwandtschaft der von ihm besprochenen Rituale mit denen der Zauberpapyri hinwegtäuschen. Nun sind die Papyri ziemlich heterogen und enthalten nicht 153 154 155 156 157 158 159 160
Vgl. NOCK 1929, 228. De myst. IV 4–10 De myst. IV 11 ff. Vgl. dazu EITREM 1929, 49–53 und 1942, 77. Vgl. CREMER 1969, 25–36. De myst. III 28. Siehe z. B. V 23. III 13 (Divination mittels Charakteren) sowie 31 und X 2.
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nur plumpe Schadens-, Liebes- oder Unsichtbarkeitszauber, sondern auch durchaus philosophisch anmutende Passagen, wo Gott für die Erkenntnis seiner selbst gedankt und um Standhaftigkeit in einem entsprechenden Lebenswandel gebeten wird. Auch die sogenannte Mithrasliturgie könnte in diesem Zusammenhang erwähnt werden, die einen Unsterblichkeitsritus beschreibt, in dem die Seele eine Himmelsreise durch die gesamte Götterwelt vollführt und von Helios dem höchsten Gott vorgestellt wird.161 Der Großteil der Zauberpapyri läßt sich auf das späte dritte bis zum fünften Jahrhundert n. Chr. datieren – ungefähr auch die Zeit, in der sich die neuplatonische Theurgie entwickelt. Ob bereits die Chaldäischen Orakel darauf zurückgreifen oder Jamblich deren Theurgie weiterentwickelt, läßt sich nicht genau sagen; spätere Berichte von Proklos halten die σύστασις z. B. für einen wichtigen Ritus der Chaldäer, so daß man versucht ist, sie schon in die Orakel selbst zurückzuprojizieren.162 Auf jeden Fall kann mit EITREM oder NOCK behauptet werden, daß Theurgie und ägyptisch-griechische Magie im selben Milieu entstanden sind,163 bzw. daß Jamblich die Papyri oder ähnliche Texte gekannt haben muß.164 Ihre Rezeption könnte dadurch erleichtert worden sein, daß viele Texte der Papyri sich als Schreiben ägyptischer Priester geben und somit die Brücke zu deren geheimnisumwobener Weisheit schlagen.165 Auf diesem Hintergrund könnte vielleicht Jamblichs persona als ägyptischer Priester mehr als bloße literarische Konvention sein und von einem echten, Porphyrios bekannten, Interesse an ägyptischen religiösen und magischen Texten zeugen. Letzteres wird auch dadurch bestätigt, daß Jamblich in den letzten Büchern (VII–X) auf angebliche ägyptische Geheimlehren zu sprechen kommt. Von dort an spricht er eindeutig als Ägypter. Die Ägypter hätten in ihren Lehren und Riten die Allnatur und die göttliche Schöpfung symbolisch dargestellt, und Jamblich erläutert die Bedeutung verschiedener solcher Symbole wie Schlamm, Barke und Tierkreis. Er wehrt Porphyrios’ Ablehnung der sinnlosen Götternamen ab und plädiert für Gebete in den heiligen Sprachen der heiligen Völker, Ägypter und Assyrer. Der Begriff „Theurgie“ wird nun auf ägyptische Riten angewandt, die den Aufstieg zum Göttlichen anstreben. Dabei spielt die Einhaltung des astrologischen 161 Vgl. dazu NOCK 1929, 231f. 162 Vgl. MAJERCIK 1989, 25f.; anders FOWDEN 1987, 135: „there is admittedly little if any sign of Egyptian influence in the Oracula chaldaica themselves.” 163 EITREM 1942, 51 (obwohl seine Annahme, die Theurgie fange schon mit Ammonius Sakkas und Plotin an, mit DODDS 1970, 152ff abzulehnen ist). 164 NOCK 1929, 222. 165 In der neueren Forschung wird auf dem Hintergrund eines verstärkten Vergleiches der griechischen Zaubertexte mit den demotischen Zaubertexten, die oft Seite an Seite mit ihnen auf dem gleichen Papyrus stehen, aber von PREISENDANZ in seiner Edition ausgeschieden wurden, eine tatsächliche Prädominanz genuiner ägyptischer Traditionen in den PGM gesehen. Siehe dazu RITTNER 1995, der betont, daß für den ägyptischen Kult eine normative Unterscheidung zwischen magischen und religiösen Praktiken nicht möglich sei, da die Magie für die Ägypter als göttliches Geschenk durchaus anerkannt gewesen und gerade in den Tempeln bzw. im priesterlichen Milieu par excellence beheimatet gewesen sei (3353ff.). Die PGM werden als „direct outgrowth of the internal development of Egyptian magic” betrachtet und ihr Großteil auf ein Tempelarchiv zurückgeführt (3371). „Egyptian priest-philosophers“ wären dann als die Quelle der am Okkulten interessierten Neuplatoniker anzusehen (ebd.).
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kairos eine wichtige Rolle. Hauptquellen Jamblichs scheinen hier hermetische Texte zu sein. Er beruft sich auf Hermes und den sagenumwobenen Priester Bitys.166 Die in diesen Büchern dargestellten Lehren berühren sich in vielen Punkten, z. B. hinsichtlich der Seelenlehre,167 Anthropogonie168 oder der Dämonologie169 mit Vorstellungen aus den Traktaten des Corpus Hermeticum. Allerdings lassen sich in diesem Kontext auch chaldäische Motive finden, die in den hermetischen Texten keine Entsprechung haben, wie z. B. die Vorstellung, daß die menschlichen Seelen von Gott auf die Erde entsandt worden seien, um danach wieder zu ihm zurückzukehren. 170 Die Diskussion des persönlichen Dämons im IX. Buch führt ebenfalls über hermetische Parallelen hinaus. Dessen Beschwörung scheint in der zeitgenössischen Magie, vor allem in der ägyptischen, verbreitet gewesen zu sein; in den Zauberpapyri gibt es Rituale zur Empfehlung an den persönlichen Dämon,171 und ein Kapitel von Porphyrios’ Vita Plotini berichtet von dem halb mißglückten Versuch eines ägyptischen Priesters, für Plotin in einem Isistempel in Rom dessen persönlichen Dämon erscheinen zu lassen.172 Jamblich erläutert, daß es zwei Arten der Anrufung und Verehrung gebe: die theurgische, die den Dämon ausgehend von den ihm übergeordneten Ursachen anrufe, und die technische, die, von der sichtbaren Welt ausgehend, mittels der Astrologie vorgehe. Im theurgischen Ritual wird nun dieser Dämon durch einen Gott als Aufseher der Seele ersetzt und muss diesem weichen oder dienen.173 Der Weg zum Glück findet sich somit auch nach dieser ägyptisch-hermetischen Lehre laut Jamblich in der Reinigung der Seele und der Vereinigung mit den Göttern, die durch die Theurgie vonstatten geht. Wiederum ist die Darstellung hermetisch geprägt: Wenn (die theurgische Gabe der Glückseligkeit) aber (die Seele) einzeln mit den Bereichen des Alls und mit den diese Bereiche durchdringenden göttlichen Kräften in ihrer Gesamtheit verbindet, dann führt sie die Seele zu dem ganzen Schöpfer und vertraut sie ihm an, und außerhalb jeglicher Materie vereint sie die Seele mit dem ewigen Logos allein (...) und dann legt sie die Seele in den ganzen Schöpfergott. Und das ist das Ziel des priesterlichen Aufstiegs bei den Ägyptern.174
166 De myst. VIII 4f. 167 Vgl. De myst. VIII und Poimandres oder CH XIII. 168 Vgl. De myst. X 5 und Poimandres 3 und 13–19. Zu Jamblichs Behauptung an derselben Stelle, daß nur die Erkenntnis (γνῶσις) zur Erlösung führe, siehe auch CH IV4, VII 2, IX 4, X 8–9, 15,19. 169 Vgl. De myst. IX 5–6 und CH IV. 170 De myst. VIII 8. 171 PGM VII 505ff. 172 Vita Plotini X. 173 De myst. IX 6. 174 De myst. X 6: Ἐπειδὰν δὲ κατ’ ἰδίαν ταῖς μοίραις τοῦ παντὸς συνάψῃ καὶ ταῖς διη‐ κούσαις δι’ αὐτῶν ὅλαις θείαις δυνάμεσι, τότε τῷ ὅλῳ δημιουργῷ τὴν ψυχὴν προσάγει καὶ παρακατατίθεται, καὶ ἐκτὸς πάσης ὕλης αὐτὴν ποιεῖ μόνῳ τῷ ἀι‐ δίῳ λόγῳ συνηνωμένην (...) Καὶ τότε δὴ ἐν ὅλῳ τῷ δημιουργικῷ θεῷ τὴν ψυχὴν ἐντίθησιν. Καὶ τοῦτο τέλος ἐστὶ τῆς παρ’ Αἰγυπτίοις ἱερατικῆς ἀναγωγῆς. Vgl. Poimandres 24–26.
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Die Theurgie, wie sie uns in der literarischen Auseinandersetzung zwischen Porphyrios und Jamblich entgegentritt, geht somit über die der Chaldäischen Orakel hinaus und integriert auch verschiedene ägyptische Traditionen. Die Berufung auf die Hermetika erscheint durch die Anklänge an Poimandres und andere Traktate des Corpus Hermeticum gerechtfertigt. Ob nun Jamblich tatsächlich aus nun verlorenen „theurgical Hermetica“ schöpft175 oder lediglich die uns bekannten hermetischen Darstellungen des Aufstiegs der Seele vorliegen hatte, läßt sich schwerlich entscheiden. Trotz der ägyptischen Couleur der Debatte bleibt die Grundvorstellung der Theurgie nach Jamblich der chaldäischen Lehre verpflichtet; auch in den ägyptischen Passagen wird das gleiche Vokabular wie im Hauptteil des Buches gebraucht. Es geht um eine rituelle Methode zur Reinigung und zum Aufstieg der Seele. Die Tatsache, daß Porphyrios seinen Brief an „Anebo“ adressiert und daß Jamblich als „Abammon“ antwortet, läßt sich angesichts der grundsätzlich chaldäisch geprägten Theurgievorstellung Jamblichs nicht ohne weiteres als Beweis dafür interpretieren, daß der ägyptische Ursprung der Theurgie damals ein Gemeinplatz gewesen sei.176 Vielmehr erscheint Jamblichs Theurgievorstellung eine Ausweitung der Theurgie im Sinne einer Synthese aus chaldäischen und ägyptischen Elementen mittels der Kategorien der neuplatonischen Philosophie zu sein.177 Wie Jamblich im Prolog und auch sonst im Verlauf des Werkes betont, sind Chaldäer wie Ägypter als heilige Völker gleichermaßen im Besitz dieser höheren religiösen Weisheit, die zum höchsten Ziel des Menschen bzw. der Philosophie führt. Diese Synthese könnte sehr wohl von Jamblich initiiert worden sein; denn Porphyrios’ erhaltene Schriften sind von den Chaldäischen Orakeln beeinflußt und scheinen diese Verbindung zwischen chaldäischer und ägyptischer Tradition nicht zu kennen. Jamblichs Lehrer wird höchstwahrscheinlich der Aristoteliker und spätere Bischof Anatolios von Laodicea gewesen sein, der eine Zeitlang in Alexandrien gewirkt hat. Ob nun Jamblich dort178 oder in Caesarea seinen Unterricht besuchte, läßt sich aufgrund des Fehlens jeglicher Angabe in den Quellen nicht beweisen.179 Ein Studium in Alexandrien wäre eine, aber nicht die einzige 175 So FOWDEN 1987, 141. 176 So FOWDEN 1987, 134–136, der allerdings festhält, daß bei Jamblich eine „synthesis of Chaldaean, Egyptian and ‚philosophical‘ – that is, Greek – doctrines“ vorliege (132). Plausibler wäre die Vorstellung, daß hier auf die lange, schon bei Herodot greifbare Tradition zurückgegriffen wird, die Ägypten zum Land tiefster geheimer religiöser Weisheit stilisiert. Der Bezug auf Ägypten würde damit Autorität verleihen. Vgl. dazu STRUCK 2002, 390. Verschiedene Varianten dieser Bezugnahme sind denkbar; es könnte sich um die Beanspruchung und Kontestation von Autorität handeln, aber auch lediglich um ein bewußtes Spiel mit diesem Topos ohne tiefergehende Absichten seitens beider Philosophen. 177 SHAW 1995, 239 verweist auch auf die pythagoreische Philosophie, die Jamblich den „conceptual framework and the theoretical justification for the practice of theurgy“ geliefert habe. Dies wirft jedoch die Frage auf, was genau unter der ‚pythagoreischen Philosophie‘ in der Spätantike zu verstehen ist, da in dieser Zeit pythagoreische Gedanken nicht als solche, sondern in Verbindung mit platonischen Vorstellungen vorliegen. Es ist daher nicht sinnvoll, in dieser Zeit von der pythagoreischen Philosophie als Größe bzw. Quelle sui generis zu sprechen. 178 LARSEN 1975, 4. 179 DILLON 1995, 866f. mit Anm. 15.
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Möglichkeit, seine Bekanntschaft mit hermetischen und magischen Texten zu erklären. Nach De mysteriis erscheint die Theurgie als ein Oberbegriff für elitäres geheimes Ritualwissen und als Mittel zum philosophischen Endziel der Vereinigung mit dem Einen. Sie liefert auch den Hintergrund für das richtige Verständnis des traditionellen Kultes, der sich durch sie als philosophisch vertretbar und notwendig erschließt. Für den theurgischen Weg zum Einen gibt es nach Jamblich scheinbar keinen institutionellen Rahmen. Der Theurg agiert für sich, je nach seinen Fähigkeiten. Ein Gruppenerlebnis, wie z. B. bei Mysterieneinweihungen, wird nicht erwähnt, ebensowenig eine Gemeinde mit einer klaren Hierarchie. Dies gilt nicht nur für Jamblich, sondern ist ein Merkmal der gesamten Geschichte der Theurgie, wie ein Blick in die anderen Quellen180 zeigt. Der „chaldäische Mysterienkult“, den LEWY rekonstruiert hat, läßt sich in den Quellen als real existierende Kultgemeinschaft nicht nachweisen. Die Riten, die jeweils als theurgisch bezeichnet werden, werden immer von Einzelpersonen getragen und an Einzelpersonen weitervermittelt. Die Chaldäer werden zwar gerne als label benutzt, jedoch letztlich nur als Umschreibung für die Orakel. Die einzige Stelle in der neuplatonischen Tradition, wo tatsächlich von zwei Chaldäern als konkreten Gestalten erzählt wird, findet sich in der ins Märchenhafte gehenden Biographie der Sosipatra bei Eunapius. Die Geschichte ist zu phantastisch, um ernstgenommen zu werden, und auch da haben die chaldäischen Mysterien eine sehr private Note – sie werden von den zwei Männern an Sosipatra im Laufe ihrer Erziehung weitergegeben. Ansonsten erscheint die Theurgie nur im Zusammenhang mit neuplatonischen Kreisen, die – zumindest im 4. Jahrhundert – selbst eine lose Ansammlung von Schülern verschiedener Tendenzen um eine mehr oder minder charismatische Lehrerpersönlichkeit darstellen.181 Ihr stark individualistischer Charakter, der höchstens von einer Lehrer/Mystagoge-Schüler/Myste Beziehung geprägt sein könnte, entspricht der Struktur und dem Individualismus dieser Kreise. Das Interesse an der Theurgie und an den Chaldäischen Orakeln tritt auch sonst in Jamblichs Werk auf. Er schreibt einen monumentalen – leider verlorenen – Kommentar in mindestens 28 Bänden zu den Orakeln sowie eine ebenfalls nicht erhaltene Schrift über die Götter. Auch in seiner Vita Pythagorica, der ersten Schrift einer zehnbändigen Reihe über die pythagoreische Philosophie, die wahrscheinlich als Propädeutikum für den Philosophieunterricht gedacht war und das neuplatonische Lebens- und Bildungsideal anhand des Lebens von Pythagoras darstellt,182 wird auf die Bedeutung der Frömmigkeit und der verschiedenen Mysterien hingewiesen. Pythagoras habe seine Weisheit aus den Mysterien, den griechischen wie den barbarischen – ägyptischen, chaldäischen, persischen usw. – erlernt.183 Er wird auch als Wundermann portraitiert, der seine Inkarnationen kennt, 180 Es handelt sich dabei vor allem um die Vitae sophistarum des Eunapius von Sardes (4. Jh.), um die Schriften des Proklos und dessen Vita, die von seinem Nachfolger Marinos verfaßt wurde (5. Jh.), sowie schließlich um die Vita Isidori des Damaskios (6. Jh.). 181 Vgl. dazu FOWDEN 1979, 140–167. 182 Siehe dazu LURJE 2002. 183 VP 13–19, 151.
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die Bilokation beherrscht oder Erdbeben voraussagen, sowie Seuchen und Naturkatastrophen bekämpfen kann.184 Wieder einmal gilt Jamblichs Interesse allen geheimnisumwobenen Mysterienkulten, nicht nur den chaldäischen. Jamblichs Beschäftigung mit der Theurgie blieb nicht theoretisch. In seinen Vitae sophistarum überliefert Eunapius von Sardes, der bei Jamblichs „Enkelschüler“ Chrysanthios studiert hatte und mit diesem eng befreundet war, einige vielsagende Anekdoten, die aufgrund seiner Nähe zu dem jamblicheischen Kreis durchaus Beachtung verdienen. Die Geschichte, daß Jamblich auf einem Spaziergang aufgrund seiner höheren, göttlichen Natur wundersamerweise erkennt, daß ein Leichenzug vorbeigezogen war und seinen Schülern rät, einen anderen Weg einzuschlagen, mag eine Reminiszenz bzw. Übertragung von Plutarchs ähnlicher Geschichte über Sokrates sein, obwohl sich Eunapius für die Richtigkeit durch Angabe einer Zeugenkette, die bis zu Jamblich reicht, verbürgen will.185 Dem Drängen seiner Schüler nach bedeutenderen Beweisen gibt Jamblich schließlich, wenngleich widerwillig, bei den heißen Quellen von Gadara nach, wo er die Geister zweier Quellen in Gestalt zweier Knaben beschwört.186 In dieser kurzen Geschichte finden wir angedeutet, was in De mysteriis breit ausgeführt wird: Jamblich kennt die Namen der Quellen bzw. der Quellgeister und kann sie deshalb durch eine leichte Berührung des Wassers und durch eine kurze Formel beschwören. Das Detail, daß die beiden Knaben an Jamblich wie an einem Vater hängen und ihn umarmen, erinnert an die Harmonie zwischen den Wesen im All bzw. der philia der Geistwesen, die ein Schlüsselmotiv von De mysteriis ist: nicht Götterzwang, sondern Harmonie mit den Göttern ist das Ziel des Theurgen. Sodann berichtet Eunapius auch davon, daß Jamblich einer Götterbeschwörung durch einen Ägypter beigewohnt haben soll. Dieser ruft Apollon herbei. Eine Gestalt zeigt sich, die Jamblich kundigerweise jedoch gleich als Phantom eines toten Gladiatoren entlarven kann.187 Wiederum werden wir an seine eindringliche Behauptung erinnert, daß nur der Theurg aufgrund seiner Erfahrung die Erscheinungen richtig einordnen könne. Diese kleine Anekdote zeigt uns Jamblich bei einem Ritual, das von einem Ägypter durchgeführt wird.Es ist ein Indiz für sein Interesse an Ägypten und für die Einbeziehung ägyptischer magischer Praktiken in seine Theurgievorstellung. Die über Jamblich aus seinem Schülerkreis überlieferten Anekdoten bestätigen also das Bild, das man von ihm aus De mysteriis gewinnt.188 Dennoch wäre es eine unzulässige Verkürzung, wenn man Jamblich nur als irrationalen Theurgen darstellen wollte.189 Eine Reihe seiner Schriften, gerade auch die einführenden Schriften, lassen diesen Aspekt stark zurücktreten und betonen 184 185 186 187 188 189
VP 134–136. VS V 1, 11–15; Plut. De genio 580. VS V 2, 1–7. VS VI 11,11. Zu Eunapius’ Jamblich-Anekdoten vgl. FOWDEN 1979, 40ff. Streng genommen ist sogar die Gleichsetzung Theurgie = Irrationalität problematisch, da die Frage nach den Kriterien für Rationalität aufgeworfen werden würde. Diese philosophische Frage kann hier nicht untersucht werden; es sei auf die diesbezüglichen Untersuchungen von NASEMANN 1991 und STÄCKER 1995 verwiesen.
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die Macht der Wissenschaften und der Vernunft, die Seele zu reinigen. So läßt Jamblich Pythagoras in seiner Vita pythagorica trotz der Behauptung, dieser habe seine Philosophie aus den Mysterien der verschiedenen „heiligen Völker“ entwikkelt, in der Ausführung dieser Philosophie nur verschiedene gängige Topoi der pythagoreischen bzw. platonischen Tradition vertreten, ohne eigene, gar theurgische Gedanken zu bringen. Der kultische Aspekt der Seelenreinigung ist gegenüber der Rolle der Wissenschaften, vor allem der Mathematik, Musik und Astronomie, sekundär. Auch in den anderen erhaltenen Werken dieser einführenden Schriftenreihe, etwa im Protreptikos und in der Schrift De communi mathematica scientia, den nächsten zwei Bänden der Folge, fehlt die Bezugnahme auf die Theurgie völlig; in letzterer ist es gut platonisch und pythagoreisch gerade die Beschäftigung mit den Wissenschaften bzw. der Mathematik, die die Seele läutert und dem Nous bzw. Gott nahe bringt.190 Ebenso ist zu beachten, daß Jamblich seine exegetischen Künste nicht nur den Chaldäischen Orakeln gewidmet hat, sondern auch Kommentare zu Platon und Aristoteles verfaßt hat, in denen er die Analyseregeln für die späteren neuplatonischen Generationen etabliert. Auch in den Briefen an einige Schüler, die bei Stobaios erhalten sind, erscheint Jamblich nicht als Theurg, sondern als Philosophielehrer, der ethische Ratschläge bzw. Lebenshilfe erteilt.191 Somit wird ersichtlich, daß der Unterricht bei Jamblich verschiedene Facetten hatte, unter denen die Theurgie nur eine mögliche Option darstellte. Hypothetisch hätte sich auch ein Christ in diesem Unterricht zunächst wohlfühlen können. Jamblich selbst hatte auch wahrscheinlich zuerst bei einem christlichen Philosophen studiert. Trotz seiner innerphilosophischen Parteinahme gegen Porphyrios für die Theurgie und den heidnischen Kult als philosophisch nicht nur vertretbar, sondern notwendig, ist festzuhalten, daß er nicht interreligiös gegen die Christen polemisiert und daher in der Praxis paradoxerweise viel neutraler als Porphyrios erscheinen kann.192 Nach diesem Durchgang durch die klassischen neuplatonischen Positionen zur Frage nach der Rolle des Rituals bzw. der Theurgie wird als erstes hervorstechendes Merkmal die Flexibilität und Individualität der Positionen deutlich. Plotin geht auf den Kult überhaupt nicht ein, so daß man bei ihm von einer rein geistigen Religiosität sprechen kann, welche in der philosophischen Kontemplation der höheren Hypostasen ihre Erfüllung findet. Porphyrios thematisiert zumindest den Sinn des Rituals und kommt zu einer abgestuften Verehrung der Götter, an deren Spitze die rein geistige Verehrung des Philosophen steht. Rituale, insbe190 FOWDEN 1979, 34–36 notiert die unterschiedlichen Akzentsetzungen der erwähnten Schriften und führt sie auf ihren Sitz im Leben zurück : die eine Schriftengruppe wolle an die Philosophie heranführen, während De mysteriis auf Porphyrios’ Zweifel hinsichtlich der Theurgie reagiere. Dabei sei Jamblichs Position eher in letzterem Werk zu vernehmen, da die anderen Traktate „more popular“ wären und nicht sicher sei, daß Jamblich seine Meinung äußere (34). Dennoch betont FOWDEN, daß Jamblich Philosophie und Theurgie nicht gegeneinander ausspielen wolle, sondern sie als Einheit ansehe (36). Anders löst SHAW 1995, 189–198 den Widerspruch, indem er die Beschäftigung mit der Mathematik nach pythagoreischer Manier als noetische und somit höchste Stufe der Theurgie versteht. 191 Vgl. DILLON 1995, 875–878 sowie FOWDEN 1979, 33–36. 192 Darauf hat GEFFCKEN 1914, 15 hingewiesen.
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sondere theurgische, sind mißverständlich, da sie eine falsche Gottesvorstellung suggerieren können. Während bei Porphyrios die Theurgie noch explizit mit den Chaldäern verbunden zu sein scheint, weitet Jamblich den Begriff flexibel aus, bis er letztlich zum Synonym für richtige Interpretation und Durchführung verschiedenster Kulte, besonderer geheimer Rituale chaldäischer oder ägyptischer Provenienz wie auch öffentlicher Praktiken nach neuplatonischen Prinzipien wird. Die Diskussion um den Wert von Ritualen ist von der Frage nach der Einstellung zum Christentum losgelöst. Man würde zwar erwarten, daß Positionen, die Plotin oder Porphyrios folgen, in letzter Konsequenz zur Offenheit gegenüber den Christen führen müßten, während eine Betonung des Rituals nach Jamblich die Kommunikation mit den Christen von vornherein ausschließen würde. Jedoch stellt sich die Lage zumindest bei Porphyrios und Jamblich selbst diametral anders dar. Es geht auch nicht um ein Hochhalten der Rationalität gegenüber dem Aberglauben, sondern um verschiedene systematisch begründete philosophische Positionen, die jeweils von unterschiedlichen Grundannahmen ausgehen. Da es – zumindest in der Zeit – keine philosophische ‚Orthodoxie‘ gibt,193 wird zu erwarten sein, daß spätere Neuplatoniker ihrerseits unterschiedliche Positionen in dieser Frage entwickeln und den flexiblen Begriff ‚Theurgie‘ auf ihre Weise mit Inhalt füllen. Daher müssen bei Julian und Synesios ihr unmittelbares philosophisches Milieu und ihre eigenen Aussagen zum Thema geprüft werden, um zu bestimmen, wie sie hierzu stehen, ohne von vorgefaßten Kategorien auszugehen.
193 Trotz Jamblichs Bestreben, eine solche festzuhalten; siehe dazu ATHANASSIADI 2006, 166ff.
3. JULIAN – PHILOSOPH, PRIESTER UND KAISER Julians Wahrnehmung ist seit der Antike bis zur Gegenwart von seiner Hinwendung zum Heidentum dominiert, die sich in seinem Beinamen „Apostata“ spiegelt. Seine Ablehnung des Christentums sowie sein Versuch, den alten Kulten wieder zu einer Vorrangstellung im Reich zu verhelfen, ließen ihn abwechselnd zum Feindbild oder zur Identifikationsfigur werden, was sich neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung in literarischen Werken verschiedenster Genres und Tendenzen niederschlägt.1 Die unzweifelhafte Bedeutung dieser Bekehrung zum Heidentum für das Reich läßt einen anderen Aspekt seiner geistigen Entwicklung, die Entdeckung der neuplatonischen Philosophie, in den Hintergrund treten. Sie wird in der Forschung meist als Vorbedingung oder weitere Konsequenz der Bekehrung zum Heidentum rezipiert. Sogar NOCK, der den Begriff der Konversion zur Philosophie geprägt hat, betrachtet Julians Konversion nur als Konversion vom Christentum zum Heidentum, ohne von einer Konversion zur Philosophie zu sprechen.2 Allerdings ist zu beachten, daß Julian auf seine Bekehrung zum Heidentum nur an einer Stelle explizit zu sprechen kommt. Hingegen beschreibt er seine geistige Entwicklung stets in den Begriffen der Bildung und der Philosophie. Seit seinen Studien tritt er explizit als Philosoph auf; erst später entwickelt er seine Identität als pontifex maximus. Es wird also im folgenden zu untersuchen sein, inwiefern sich Julians Begegnung mit der Philosophie als identitätsverändernde Konversion beschrieben werden kann. Sodann soll das Augenmerk auf die Beziehung zwischen der Bekehrung zur heidnischen Tradition und der Bekehrung zur Philosophie gerichtet sein. 3.1. BIOGRAPHIE Julian ist ca. 331 als Sohn des Julius Konstantius, des Halbbruders Konstantins, geboren.3 Seine Kindheit steht unter dem Zeichen des frühen Verlustes seiner Eltern. Nachdem seine Mutter schon kurz nach der Geburt stirbt, wird er mit sechs Jahren zum Zeugen des Blutbades, das Soldaten unter den männlichen Verwandten der Konstantinssöhne – einschließlich Julians Vater – anrichten. Nur Julian und sein Halbbruder Gallus überleben. Konstantius, der die Morde zumindest toleriert,4 schickt Julian zunächst nach Nikomedien, wo er der Obhut des dortigen 1 2 3 4
Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Julians BRAUN, RICHER (Hg.) 1978 und 1981 sowie ROSEN 2006, 394–462. NOCK 1988, 157f. Einen guten kurzen Überblick über Julians Biographie bietet R. SMITH 1995, 1–9. Für eine ausführliche Biographie siehe ROSEN 2006. Siehe dazu ROSEN 2006, 51–53.
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arianischen Bischofs Euseb, eines Verwandten mütterlicherseits, anvertraut wird.5 Mit seiner Erziehung wird der alte Pädagoge seiner Mutter, Mardonios, betraut, der Julian in die Lektüre Homers einführt. Euseb wird 339/40 zum Bischof von Konstantinopel gewählt; wahrscheinlich folgt ihm Julian dorthin. An diesem Punkt beginnen die Schwierigkeiten der Datierung. Julian selbst berichtet von einer sechs Jahre währenden Internierung zusammen mit Gallus auf einem kaiserlichen Landgut in Kappadokien während seiner frühen Adoleszenz.6 Ammianus Marcellinus überliefert den Namen dieses Gutes: es handelt sich um Macellum. Dieser Aufenthalt wird von anderen wichtigen Quellen, etwa vom heidnischen Rhetor Libanios, verschwiegen. Libanios liefert ein weiteres Datierungsindiz durch seine Behauptung, Julian habe sich zur selben Zeit wie er in Nikomedien aufgehalten und sich Mitschriften seiner Vorlesungen besorgt.7 Libanios’ Aufenthalt in Nikomedien läßt sich auf 343–49 datieren.8 Bei den Versuchen, die verschiedenen selektiven Quellenberichte konsistent miteinander zu verbinden, ergeben sich verschiedene Rekonstruktionen.9 Eine Forschungslinie, die von SEECK begründet wurde, setzt Macellum von 345 bis 351 an.10 Danach wäre Julian erst in Konstantinopel zur Schule gegangen, hätte dort ziemlich früh mit dem Rhetorikstudium angefangen und dann 344 – mit 13 Jahren – einige Monate in Nikomedien studiert, bevor er nach Macellum abberufen wurde. Diese Chronologie wurde von BAYNES in Zweifel gezogen, der die Periode von 342–348 vorschlug.11 Julian wäre demnach von Konstantinopel noch als Kind nach Macellum gebracht worden, hätte dann 348 in Konstantinopel Literatur und Rhetorik studiert und wäre dann erst ca. 348 oder 349 wieder nach Nikomedien gegangen, wo sich sein Aufenthalt mit dem des Libanios überschnitten hätte. Diese Rekonstruktion bietet eine plausiblere Korrelation von Alter und Bildungsweg und hat sich in der späteren Forschung bis auf einige wenige Ausnahmen durchgesetzt.12 Sie liegt daher auch diesem Abschnitt zugrunde. Ihre Bedeutung für eine Rekonstruktion der geistigen Entwicklung Julians liegt vor allem darin, daß Julian selbst seine Konversion zum Heidentum auf ca. 351 datiert;13 je nach Datierung müssen ihre Voraussetzungen und Bedingungen anders bestimmt werden. 5 6 7 8 9 10 11 12
13
Vgl. Amm. XXII 9,4. Brief an die Athener 271c–d. Julians Werke werden nach der Ausgabe der Collection Budé zitiert, mit Ausnahme der Fragmente der Schrift Gegen die Galiläer, für welche die LoebAusgabe die Grundlage bildet. Or. XVIII 14–15. Vgl. BAYNES 1925, 253 (der den Zeitraum 344–49 vorschlägt) und BOUFFARTIGUE 1992, 31 (der für 343–349 plädiert). Vgl. dazu BOUFFARTIGUE 1922, 28ff. SEECK 1966, 207 und 214. BAYNES 1912 und 1925. Eine ausführliche Diskussion der Argumente pro und contra findet sich bei BOUFFARTIGUE 1992, 28–39. Der frühen Datierung von Macellum folgen z. B. W. KOCH 1927, 140f (mit einer leichten Änderung: er setzt den Aufenthalt in Macellum von 341–347 an), BIDEZ 1965, 22, ATHANASSIADI 1992a, 27, CRISCUOLO 1982, 71, R. SMITH 1995, 2, WIEMER 1995, 15, Anm. 10. SEECKS Chronologie findet sich bei FESTUGIÈRE 1957, 54, BROWNING 1975, 42, GIEBEL 2002, 26 sowie bei ROSEN 2006. Ep. 111 434d.
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In seinen späteren Briefen beschreibt Julian die Zeit in Macellum als schreckliche Isolation: den Prinzen sei Besuch von Gleichaltrigen verwehrt und ihre einzigen Gefährten und Sportkameraden seien nur ihre Sklaven gewesen.14 Angesichts dieser Situation nimmt er seine Zuflucht zu den Büchern, die ihm Mardonios seit frühester Kindheit als Schlüssel zu einer wunderbaren Welt nahegebracht hatte, hinter der die Wirklichkeit bei weitem zurückbleibe.15 Seine Lesefreude spiegelt sich in einem späteren Brief, in dem er schildert, wie er sich aus der Bibliothek des Bischofs Georgios von Kappadokien Bücher zu den verschiedensten Themen auslieh, so daß er die Bibliothek schließlich bestens kannte.16 Diese traurige Einsamkeit endet 348, als Julian nach Konstantinopel abberufen wird. Er studiert dort zunächst Literatur und Rhetorik. Als seine Lehrer werden der christliche Rhetor Hekebolios und der wahrscheinlich heidnische Grammatiker Nikokles genannt.17 Bald begibt er sich aber nach Kleinasien, wo er in Nikomedien Rhetorik und dann in Pergamon und Ephesus Philosophie studiert. 354 wird Gallus hingerichtet. Für Julian folgt eine Periode quälender Unsicherheit, die damit endet, daß er zum Caesar ernannt und nach Gallien geschickt wird.18 Dort gelingt es Julian zusammen mit seinem Stab, die Barbaren zurückzuschlagen und Gallien wieder zu einem gewissen Frieden und Aufblühen zu verhelfen.19 Im Jahre 360 kommt es zum Éclat: Konstantius, der im Osten des Reiches gegen die Perser kämpft, erteilt Julian den Befehl, ihm den Großteil der gallischen Legionen zu schicken. Diese weigern sich, ihre Heimat zu verlassen und erklären Julian zum Kaiser.20 Über die Interpretation dieses Aktes ist schon die julianfreundliche Überlieferung des vierten Jahrhunderts gespalten: handelt es sich um eine spontane Reaktion der Soldaten, die Julian überraschte, oder21 im Gegenteil um einen von Julian und seinen Vertrauten sorgfältig geplanter Staatsstreich?22 Die Analyse der Quellen legt die zweite Variante nahe.23 Jedenfalls 14 Brief an die Athener 271b–d. In einem ganz anderen Licht versucht Gregor von Nazianz diese Jahre erscheinen zu lassen: Julian sei einer sorgfältigen Erziehung auf einem kaiserlichen Gut gewürdigt worden (Or. IV 22). Da sowohl Julians Darstellung als auch die des Kirchenvaters tendenziös sind, kann keine genaue Aussage über Julians Zeit in Macellum getroffen werden. 15 Misopogon 351c–352a. 16 Ep.106, 411c–d und 107, 377d–378c. 17 Vgl. ATHANASSIADI 1992a, 27–29. 18 Zu den Ereignissen dieser Zeit vgl. Julian, Brief an die Athener 5–7, 273c–277c. 19 Siehe Julian, Brief an die Athener 7–11, 277d–284a sowie Amm. XVI–XVIII. Nach Julian wollte sich Konstantius damit seiner entledigen, indem er ihn mit gebundenen Händen, ohne wenigstens die Truppen selbst befehligen zu dürfen, in eine geschwächte, den Barbaren ausgelieferte Provinz schickte. Diese einseitig-polemische Sicht korrigiert ROSEN 2006, 130ff. 20 S. Amm. XX. 21 So Amm. XX, 4,1–5,10 und Libanios, Or. XIII,33–35 und XII,59–61. Auch Julian legt in seinen Schriften nach der Proklamation Wert darauf, daß er nie nach der Herrschaft gestrebt, sondern sich nur widerwillig dem Willen der Götter unterworfen hätte (Brief an die Athener 11, 284b–285a). 22 So Eunapius, VS VII 3, 7–9, gestützt von Julians ep. 14, 384a–d aus der Caesarenzeit an seinen Vertrauten und Leibarzt Oreibasios. 23 Siehe BOWERSOCK 1978, 46–54, ROSEN 2006, 178ff, zurückhaltender MATTHEWS 1989, 97– 99.
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nimmt Julian die Proklamation an, bemüht sich aber zunächst um gütliche Einigung mit Konstantius.24 Als dieser gegen ihn zieht, zieht ihm Julian in einem Blitzmarsch entgegen; da er über weit weniger Truppen als Konstantius verfügt, scheint sein Schicksal jedoch besiegelt zu sein.25 Doch im November 361 stirbt Konstantius überraschend. Julian ist nun der rechtmäßige Kaiser. Ab diesem Zeitpunkt macht er aus seiner Begeisterung für den heidnischen Kult keinen Hehl mehr, sondern opfert in aller Öffentlichkeit.26 Zunächst hält er sich in Konstantinopel auf. Er ergreift Maßnahmen zur Restauration des Heidentums, u. a. erläßt er das vieldiskutierte Rhetorenedikt, mit welchem er christliche Rhetoriklehrer vom Lehrbetrieb ausschließt.27 Im Sommer 362 bricht er nach Osten auf, um den Feldzug gegen die Perser vorzubereiten.28 Vor dem Persienzug verbringt er einige Monate in Antiochien, wo er sich durch sein betont asketisches Auftreten und vor allem durch die Eingriffe in das wirtschaftliche Leben der Stadt gründlich unbeliebt macht. Schließlich zieht er von dort aus gegen die Perser; nach anfänglichen Erfolgen lehnt er deren Friedensangebot ab und versteift sich darauf, sie – als zweiter Alexander? – völlig zu unterwerfen. Der anfängliche Siegeszug verkehrt sich bald in sein Gegenteil, Julian stirbt im März 363 auf dem Schlachtfeld und sein Nachfolger Jovian muß angesichts der Übermacht der Perser einen schmachvollen Frieden schließen, durch welchen den Persern weite Teile der römischen Randgebiete zufallen.29 Julians Korrespondenz deckt den Zeitraum von seiner Caesarenzeit bis zu seinem Persienfeldzug; aus den Jahren vor der Ernennung zum Caesar ist nichts erhalten. Dasselbe gilt für seine Schriften. Aus seiner Caesarenzeit stammen drei Panegyriken, zwei auf Konstantius und eine auf seine Gemahlin Eusebia. In Gallien verfaßt er auch eine Trostrede an sich selbst über die Abreise seines vertrauten Freundes Saloustios. Der Brief an Themistios, in dem der Vorrang der philosophischen Kontemplation über die politische Aktivität dargelegt wird, wird ebenfalls dieser Zeit zugewiesen. Julians Proklamation zum Augustus spiegelt sich im Brief an die Athener, der einzige erhaltene aus einer Reihe von Briefen, die an bedeutende Städte des Reiches zur Legitimation seines Vorgehens gegen Konstantius verfaßt wurden. Aus seiner Kaiserzeit stammen zwei Prosahymnen auf Helios und die Mutter der Götter, in denen er die beiden Götter und ihren Kult im Sinne der jamblicheischen Theologie deutet. In zwei Schriften setzt er sich mit den Kynikern auseinander. Eine dieser Schriften ist der Erörterung des Wesens der Philosophie und 24 Zu Julians Proklamation als Augustus und den späteren Bruch mit Konstantius vgl. SZIDAT 1997, 63–70, welcher darlegt, daß die Annahme der Augustustitels noch nicht als Usurpation, sondern als Versuch der „Neuverteilung von Rang und Kompetenzen“ (70) anzusehen sei, wobei vor allem die Regelung der Nachfolgefrage (66) im Mittelpunkt stand. Erst als Julian öffentlich mit Konstantius breche, „wird aus Julian ein ganz normaler Usurpator“ (70). 25 Amm. XXI. 26 Amm. XXII 5. 27 Ebd. XXII 10,7 und XXV 4,20. 28 Der Aufenthalt in Antiochien sowie der Perserfeldzug werden in Amm. XXII 12 – XXV geschildert. 29 Vgl. dazu Amm. XXV 7.
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des wahren Kynismos gewidmet. Mit der anderen reagiert Julian auf einen Vortrag des Kynikers Herakleios. Empört über die Allegorie, mit der ihn Herakleios als Pan und sich als Zeus dargestellt hatte, setzt er ihr einen autobiographisch geprägten Mustermythos entgegen, in dem seine Autorität als Kaiser auf den Willen der Götter zurückgeführt wird. Eine scharfe Auseinandersetzung mit dem Christentum bietet die Schrift Gegen die Galiläer, die nur fragmentarisch in der Widerlegung durch Cyrill von Alexandrien erhalten ist. Die Tatsache, daß Cyrill fast ein Jahrhundert später es für nötig befindet, Julians Abrechnung mit dem Christentum zu widerlegen, um der Verunsicherung der Gläubigen entgegenzutreten, bezeugt die hohe Sprengkraft dieser Schrift. Neben diesen philosophischen und religiösen Schriften sind von Julian noch zwei Satiren überliefert. Die Caesaren spiegeln seine Sicht auf die römischen Kaiser, sein Herrscherideal – das heidnische Philosophenkaisertum des Marcus Aurelius – sowie seine Verachtung für Konstantin und das Christentum wider. Mit dem Misopogon reagiert Julian auf die Spannungen, die sein Auftreten und seine Politik in Antiochien hervorgebracht hatten. Er greift die „Julianwitze“, die in der Stadt im Umlauf sind, auf und versucht, sich dagegen zu verteidigen. 3.2. FORSCHUNGSSTAND ZUR KONVERSION JULIANS Da die vorhandenen Quellen eine enge Verbindung zwischen Julians Entdeckung des Neuplatonismus in Pergamon und seiner Konversion zum Heidentum nahelegen, wurde erstere in der Forschung meist nur im Zusammenhang mit der Bekehrung zum Heidentum behandelt. Marginal erscheint die Rolle der Philosophie bei SEECK, der Julian schon in Macellum eine innere Abwendung vom Christentum vollziehen läßt. Das Studium der christlichen Schriften habe in ihm Fragen aufkeimen lassen, die er in seiner intellektuellen Isolation nicht befriedigend habe lösen können. Seine persönlichen Erfahrungen ließen zudem die Moralität des Christentums in einem fragwürdigen Licht erscheinen. 351 habe er nach der Ernennung seines Bruders zum Caesar eine gewisse Freiheit erlangt und die Fortsetzung seiner rhetorischen Studien angestrebt. SEECK läßt das Studium in Pergamon als Studium der Rhetorik, nicht der Philosophie, erscheinen. Julians Bekehrung stellt er als Zufall dar, indem er eine isolierte Notiz bei Libanios aufgreift:30 Julian habe sich in Nikomedien von einem „heidnischen Propheten wahrsagen lassen“; die Bewahrheitung der Verkündigung habe in ihm das Interesse an der Mantik entfacht, das im pergamenischen Kreis Befriedigung finden sollte. Der Neuplatonismus erscheint hier als wissenschaftlich verbrämter Aberglaube.31 Eine ähnliche, wenngleich nicht derart polemische Darstellung findet sich bei NOCK, der Julians Fall nicht unter die Konversionen zur Philosophie, sondern unter die religiösen Konversionen im engeren Sinne einreiht. Als Voraussetzung hebt er besonders Julians klassische Bildung hervor. Auslöser der Konversion sei die Begeg30 Or. XIII, 10–11. 31 SEECK 1966, 209–216.
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nung mit der heidnischen Mantik in Nikomedien gewesen. Unter Rückgriff auf den autobiographischen Mythos, den Julian in seiner Rede gegen Herakleios entwirft, rekonstruiert er diese Begegnung als ein Orakel, das ihn an die Sonnenverehrung seiner Vorfahren erinnert und ihn als auserwählten Herrscher angesprochen habe. Erst nach dieser Konversion habe Julian die heidnischen Neuplatoniker in Pergamon und Ephesus aufgesucht und sich in die theurgischen Mysterien initiieren lassen. Nach NOCK vollzieht sich die Konversion somit in Nikomedien; das Interesse für den theurgischen Neuplatonismus sei ein weiterer Schritt, der sich aus der Konversion ergebe. Julians Konversion sei somit in erster Linie eine Konversion zum Heidentum, nicht eine Konversion zur Philosophie.32 Andere Forscher betrachten die Begegnung mit der Philosophie als eine wichtige Schaltstelle in Julians Hinwendung zum Heidentum, wobei letztere nicht nur unterschiedlich datiert, sondern auch unterschiedlich interpretiert wird. Der erste Untertypus dieser Gruppe umfaßt Interpretationen, welche diese Hinwendung als Konversion interpretieren, die mit den klassischen Studien eingeleitet und schließlich in der Begegnung mit der Philosophie vollendet wird. Eine solche Position vertritt neben KOCH33 die Darstellung von BIDEZ, die zu einem Referenzpunkt späterer Julianliteratur werden sollte.34 Nach BIDEZ habe „der erste Ruf der Götter“35 Julian in Nikomedien durch die Berührung mit Libanios und seinem heidnischen Freundeskreis erreicht.36 Dieser erste Impuls habe dann Julian nach Pergamon zum Jamblichschüler Aidesios und dann nach Ephesus geführt, wo er in Maximus von Ephesus den lang gesuchten Lehrer gefunden habe. Von Maximus habe er sich schließlich in einer Grotte bei Ephesus in die „neuplatonischen Mysterien“ einweihen lassen;37 der in Nikomedien begonnene Prozeß komme damit zum Abschluß. Dieser Ansicht folgt BRINGMANN, der die Verbundenheit der jamblicheischen Tradition mit dem Heidentum betont und Julian somit als „praktizierende(r)[n] Heide[n] aus neuplatonischem Geist“ bezeichnet.38 Mit negativer Tendenz findet sich dieselbe Rekonstruktion bei BOWERSOCK.39 Auch MURDOCH sieht Julians Begegnung mit Maximus als Schlüsselerlebnis für seine Bekehrung, beschreibt diesen jedoch als antiken Rasputin, der den jugendlich-leichtsinnigen Julian verführt habe.40 Eine Konversion zum Heidentum, ausgelöst oder zumindest vollendet durch die Begegnung mit der Philosophie nehmen auch BROW41 42 NING und FESTUGIÈRE an, die jedoch anhand von SEECKS Datierung Julian zum Zeitpunkt dieser Bekehrung noch in Macellum weilen lassen. FESTUGIÈRE er32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
NOCK 1988, 158. W. KOCH 1927, 125–139. BIDEZ 1965. So die Kapitelüberschrift zum 9. Kapitel der deutschen Übersetzung (Julian der Abtrünnige, München 1947). BIDEZ 1965, 57–62. BIDEZ 1965, 67–81. BRINGMANN 2004, 35. BOWERSOCK 1978, 28–30. MURDOCH 2003, 27. BROWNING 1975, 44. FESTUGIÈRE 1957, 53–58.
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klärt Julians Konversion parallel zu SEECK psychologisch anhand eines Stufenmodells religiöser Entwicklung. Die Adoleszenz gehe gewöhnlich mit einer tiefen religiösen Krise einher, da der naive Kinderglaube in Frage gestellt werde. Um diese Krise zu überwinden und eine neue Stufe der Religiosität zu erreichen, sei die Begleitung durch Persönlichkeiten, die Autorität und Glaubwürdigkeit ausstrahlten und somit die betreffende religiöse Tradition positiv verkörperten, unabdingbar. Julian sei aber gerade in dieser entscheidenden Zeit einsam und isoliert gewesen; das Christentum habe in seiner Nähe keinen glaubwürdigen Repräsentanten gefunden. Die Abwendung vom Christentum habe sich daher schon in Macellum ereignet; in Kleinasien habe er dann im Neuplatonismus die gesuchte Religiosität gefunden. Die Konversion vollziehe sich somit in zwei distinkten Etappen: die Apostasie in Macellum, die Konversion zum Heidentum in Pergamon. BROWNING weist auf die Einsamkeit des Heranwachsenden hin, der sich aus der düsteren, von Misstrauen und Angst gezeichneten Realität in die Welt der Bücher flüchte. Durch die Bibliothek von Georgios komme er zum ersten Mal in Kontakt mit der Philosophie. Die Krise, die er erlebe, entferne ihn vom Christentum und lasse ihn im letzten Jahr in Macellum eine intellektuelle Konversion zum Monotheismus der heidnischen Intellektuellen vollziehen.43 SMITH greift NOCKS Position auf und plädiert ebenfalls für eine echte Konversion Julians zum Heidentum,44 problematisiert jedoch NOCKS Unterscheidung zwischen religiöser und philosophischer Konversion im Falle Julians. NOCKS Ausblendung philosophischer Motive bei der Konversion Julians verkenne den stark religiösen Charakter des Neuplatonismus im 4. Jahrhundert, der durchaus die Voraussetzungen erfüllte, um als Philosophie den Rahmen für eine Konversion zu liefern.45 Julian selbst habe seine Begegnung mit der Philosophie als Konversion beschrieben.46 SMITH untersucht die Rolle der Philosophie in Julians Denken und wendet sich dabei gegen die Thesen von BOWERSOCK und ATHANASSIADI, die im jamblicheischen Neuplatonismus die Triebkraft hinter Julians religiösen Reformen sehen. Er betont, daß das Interesse an Theurgie nur ein Aspekt von Julians Frömmigkeit und Philosophieverständnis war, und behauptet, daß er sich durchaus in den konventionellen Bahnen der Gebildeten seiner Zeit bewegte.47 Dabei tendiert er zur Antithese zwischen ‚abstrusem‘ jamblicheischen Neuplatonismus und konventionellen Anschauungen der gebildeten Elite.48 Der zweite Untertypus dieser Forschungslinie umfasst Forscher, die zwar die Rolle der Philosophie bei der Entdeckung des Heidentums betonen, für diese Entdeckung aber den Terminus Konversion ablehnen. Nach ATHANASSIADI erscheint der Einfluß des Mardonios, der Julian die heidnische Götterwelt nahebrachte, ausschlaggebend für Julian. Georgios von Kappadokien habe in ihm zudem Antipathie geweckt und ihn sich vom Christentum schon in jüngsten Jahren distanzieren 43 44 45 46 47 48
BROWNING 1976, 44. R. SMITH 1995, 180–188. Ebd., 188f. Ebd. 29f. Ebd., 34–48. Z. B. ebd., 86.
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lassen. Er habe daher nie eine religiöse Konversion wie etwa Justinus der Märtyrer durchlebt. Die Entdeckung der neuplatonischen Philosophie sei somit keine Wende, sondern nur der Abschluß eines langen Suchprozesses, der mit Mardonius angefangen und sich über Naturbetrachtung und seinen Rhetorik- und Literaturstudien hin zur Begegnung mit der philosophisch-theurgischen Mantik in Nikomedien, die ihm den weiteren Weg zum Studium der Philosophie in Pergamon und schließlich zur Initiation in die „Neoplatonic mysteries“ in einer Höhle bei Ephesus unter der Anleitung des Maximus von Ephesus fortgesetzt habe. In der Philosophie habe er Fragen auf die ihn beschäftigenden metaphysischen Fragen gefunden; die Initiation in ihre Mysterien habe ihm eine konkrete Antwort auf seine undeutliche Suche aus Macellum sowie das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gruppe gegeben. Jedoch konnte das für Julian nicht ausreichen, der auf der Suche nach einer organisierten Form von Religion war. Diese Suche münde in der Initiation in die Mithrasmysterien.49 Julians religiöse Reformen seien alle im Lichte der jamblicheischen Religionsphilosophie zu verstehen. Seine Schriften gegen die Kyniker und seine Prosahymnen seien Ausdrücke eines kohärenten, an Jamblich angelehnten Konzeptes der paideia, die die alten Werte des Hellenismus – als Einheit von religiösen und kulturellen Überlieferungen zu verstehen – vermitteln und so für die Rettung des Reiches sorgen sollte.50 Auch das Priesterideal, das in seinen Pastoralbriefen zu erkennen ist, sowie die Reform und Organisation des heidnischen Klerus seien im Lichte von Jamblichs Konzeption des weisen Theurgen zu verstehen.51 Eine ähnliche Rekonstruktion bietet GIEBEL,52 welche in den traumatischen Erlebnissen der Kindheit den Grund für eine bleibende Aversion Julians gegen das Christentum sieht.53 Ihre Darstellung der frühen Jugend Julians in Macellum steht unter dem programmatischen Titel „Philosophie contra Religion“.54 In Macellum entdecke er durch die Lektüre philosophischer Werke eine neue Welt, „Vorbilder und (...) prägende(n) Erfahrungen“.55 In Pergamon könne er dann die nur aus Büchern bekannte Religiosität der Philosophen konkret kennenlernen.56 Bei Maximus von Ephesus finde er das Gesuchte: „Wissen, Spiritualität, eine esoterische Gemeinschaft und einen Seelenführer“,57 der ihm dann auch die Einweih-
49 50 51 52
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ATHANASSIADI 1992a, 14–38. Ebd. 121–128, bes. 124. Ebd.181–189. GIEBELS Darstellung bietet z. T. sehr spekulative Rekonstruktionen, die auf ihren popularisierend-romanhaften Charakter zurückgehen. Da sie den Anspruch einer historischen, wenngleich popularisierenden, Darstellung erhebt, soll sie an dieser Stelle als neuere Juliandarstellung erwähnt werden. GIEBEL 2002, 46f. GIEBEL 2002, 26. Ebd. 46. Ebd. 59. Ebd. 65.
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ung in die Mysterien der Hekate und des Mithras vermittele,58 so daß er vollen „Ersatz (...) für das Christentum“ erhalte.59 Eine dritte mögliche Sichtweise auf Julians Entdeckung der Philosophie vertritt ROSEN.60 Er sieht die Konversion Julians als einen viel längeren, sich über fast ein Jahrzehnt erstreckenden Prozeß der allmählichen Transition vom Christentum zum Heidentum an, der erst 361 mit dem Tod des Konstantius zum Abschluß komme. Betonten BIDEZ und NOCK die Diskrepanz zwischen klassischer Bildung bzw. neuplatonischer Philosophie und Christentum, so weist ROSEN auf die nicht unerhebliche Grauzone zwischen „dogmatischem Christentum und überzeugtem Heidentum“ hin, in der sich viele bewegten, „ohne daß sie jeden Augenblick klar sagen konnten, wie weit sie von hüben und drüben entfernt waren“. Das Philosophiestudium bei Maximus habe somit Julian nicht vom Christentum abgebracht; er habe sich lange Zeit in dieser Grauzone bewegt und sich nur allmählich den heidnischen Riten zugewandt.61 Dabei betont Rosen die geistige Verwandtschaft zwischen dem philosophischen Monotheismus der Neuplatoniker und dem Christentum.62 Noch vor dem Zug gegen Konstantius habe er geschwankt; ähnlich wie Konstantin habe er zunächst neben den heidnischen Riten durchaus noch die christlichen geprüft; erst seine wunderbare Errettung durch den Tod des Konstantius verschaffe ihm endgültig Gewißheit darüber, welche Götter anzubeten seien; erst dann könne man von einem Konversionserlebnis sprechen.63 Es bleibt festzuhalten, daß Julians Philosophiestudium hauptsächlich als Element seiner Konversion zum Heidentum betrachtet wird. Daher konzentriert sich die Darstellung auf die religiösen und besonders rituellen Aspekte des Neuplatonismus. Die meisten Darstellungen von Julians Philosophiestudium in Pergamon haben als krönenden Abschluß die sogenannte Initiation durch Maximus in der Höhle bei Ephesus, die von BIDEZ’ meisterhafter Schilderung getragen ist, aber, wie VAN LIEFFERINGE gezeigt hat,64 keine solide Quellenbasis hat. Andere Aspekte der Begegnung mit der Philosophie, z. B. die ethische Dimension, ihre Konsequenzen für Julians weitere Lebensgestaltung und Identitätsentwicklung werden weniger beachtet. 3.3. QUELLENLAGE UND METHODISCHE VORÜBERLEGUNGEN65 Als Quellen zu Julians Religiosität kommen in erster Linie seine eigenen Schriften und Briefe in Betracht. In ihnen finden sich einige spärliche Andeutungen 58 59 60 61 62 63
Ebd. 67–70. Ebd. 70. ROSEN 1997 und 2006. ROSEN 1997, 128 oder 134f. Z. B. ROSEN 2006, 173ff. ROSEN 1997. 143–146 sowie 2006, 229–232. Sein Ansatz wird von BRINGMANN 2004, 36 kritisiert. 64 VAN LIEFFERINGE 1999, 217ff. 65 Eine gute Klassifizierung der Quellen zu Julian bietet BOWERSOCK 1978, 1–11.
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über seine christliche Sozialisation, seine Konversion zum Heidentum sowie seinem Bildungsweg, der ihn zum Philosophie geführt hat. Bei den direkten Äußerungen Julians zu Einschnitten und Änderungen in seiner Religiosität – sei es zur Philosophie oder zum Heidentum hin – muß festgehalten werden, daß sie allesamt aus einer späteren Zeit stammen – fast alle aus seiner Zeit als Augustus zehn Jahre nach der Bekehrung.66 Selbstzeugnisse aus jener Zeit gibt es nicht, wie es auch keine für die Religiosität seiner frühen Jugend gibt. Die Quellenlage ist daher nicht so glücklich wie bei Augustin, der sein Bekehrungserlebnis in Mailand in seinen frühen philosophischen Dialogen festgehalten hat. Gerade dieser Vergleich läßt die Problematik deutlich hervortreten– wären von Augustin nur die ebenfalls fast zehn Jahre später verfassten Confessiones überliefert, die seine religiöse Suche und die Bekehrung in Mailand durch das Prisma des vom paulinischen anthropologischen Pessimismus durchdrungenen katholischen Bischofs schildern, würde man ein völlig verzerrtes Bild seiner Konversion entwickeln.67 Augustins Fall illustriert aufs beste, wie Bekehrungsberichte nicht objektive Berichte über die Zeit vor der Konversion sowie den Verlauf der Bekehrung liefern, sondern diese aus der Sicht des Konvertiten interpretieren.68 Neben diesen direkten Äußerungen geben Julians Schriften Aufschluß über die Bedeutung der Philosophie für sein späteres Leben. Es wird zu fragen sein, ob der Neuplatonismus Konsequenzen für sein Welt- und Gottesbild gehabt hat, welche Rolle der Theurgie zukommt, welche Rolle die Philosophie für seine Lebensund Regierungsführung spielt. Julians Philosophiestudium sowie seine Abwendung vom Christentum spiegeln sich in den Werken verschiedener antiker Autoren. Der heidnische Sophist Libanios, der Julian schon aus seiner Zeit in Kleinasien kannte, damals schon mit ihm korrespondierte und später zum Hofredner Julians avancierte, verknüpft in seinen julianischen Reden Philosophiestudium und Bekehrung zu den alten Göttern.69 Die Reden sind auf dem Hintergrund des wechselvollen Verhältnisses von 66 Vgl. R. SMITH 1995, 21 und CRISCUOLO 2001, 375. SMITH betrachtet die Rekonstruktion der tatsächlichen inneren Prozesses bei der Konversion Julians aufgrund des späten Datums der Quellen als unmöglich. Innere Vorgänge sind jedoch dem Zugriff der Historiker ohnehin entzogen; es können jedoch die Auswirkungen des Philosophiestudiums für Julians Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung beschrieben werden. Wie CRISCUOLO 2001, 375 betont, läßt sich zumindest eine 362 zirkulierende ‚offizielle‘ Darstellung der Bekehrung nachweisen, die einen Anhaltspunkt bietet. 67 In seinen frühen Dialogen (Contra Academicos 3, De beata vita 1–5, De ordine 5) beschreibt Augustin seine Lebenswende in den Begriffen des Rückzugs aus der öffentlichen Tätigkeit und dem Streben nach Ämtern und die Hinwendung zur zurückgezogenen, asketischen Lebensweise der Philosophie, während er in den Confessiones den Akzent auf seine Bekehrung zum christlichen Glauben und einem christlichen asketischen Leben legt (s. z. B. die Darstellung seiner Begegnung mit dem Platonismus Conf. VII oder die an christlichen Vorbildern orientierte Bekehrung zum enthaltsamen Leben Conf. VIII) Vgl. dazu FREDRIKSSEN 1986, bes. 20ff. 68 Vgl. dazu BISCHOFBERGER 1992, 123f. 69 Die Konversion wird in den Or. XIII 9–16; XII 26–38 und 69; XVIII 13–19 direkt thematisiert; andere Reden, wie etwa Or. XV–XVI lassen auch wichtige Aufschlüsse über Julians Religiosität zu.
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Julian und Libanios zu lesen.70 Libanios hatte Julian in Nikomedien kennengelernt, hatte sich aber in der ungewissen Zeit nach Gallus’ Hinrichtung anscheinend wieder zurückgezogen. Nach Julians Herrschaftsantritt erhält er daher auch keine offizielle Einladung an den Hof. In Antiochien bemüht er sich zuerst mit einer Rede zur Begrüßung Julians in Antiochien (Prosphonetikos (Or. XIII)), die im privaten Kreise vor Julian vorgetragen wurde, um dessen Gunst. Nach anfänglichen Schwierigkeiten avanciert er zum offiziellen Redner Julians. Im Misopogon zählt ihn der Kaiser zum innersten Zirkel seiner Vertrauten.71 In dieser Stellung hält er am 1. Januar 363 die Festrede zum 4. Konsulatsantritt Julians (Hypatikos (Or. XII)). Libanios spricht hier als enger Vertrauter Julians vor einem breiten Publikum, bestärkt Julians gewünschtes offizielles Image und wirbt für dessen Politik, vor allem für die heidnische Restauration.72 Eine dritte Stelle, an der Libanios auf Julians Bekehrung zu sprechen kommt, ist sein Epitaphios auf Julian. Seine Darstellung des Philosophiestudiums ist in allen Reden die gleiche; Abweichungen sind in anderen Punkten wie etwa der Proklamation in Paris festzustellen.73 Da zumindest der Hypatikos als Ausdruck julianischer ‚Propaganda‘ anzusehen ist, kann angenommen werden, daß Julian diese Darstellung sanktioniert hat. Libanios’ Äußerungen zum Philosophiestudium und zur Bekehrung Julians kann also ein hoher Quellenwert zugemessen werden.74 Natürlich stellt sich dasselbe Problem wie bei Julians Selbstaussagen: auch Libanios schreibt elf Jahre nach den geschilderten Ereignissen und kann somit höchstens Julians damalige offizielle Selbstdarstellung zum Ausdruck bringen. Ein anderer enger Freund und Vertrauter Julians, der Iatrosophist Oreibasios, hat eine nun verlorene Biographie Julians verfaßt. Oreibasios gehört zu der heidnischen Elite von Pergamon, einem stark von jamblicheischen Traditionen durchdrungenen Zirkel, dem Milieu, in dem Julian dem Neuplatonismus begegnet.75 Er lernt Julian in Athen kennen, wird zu seinem Leibarzt, begleitet ihn nach Gallien und bleibt bis zu seinem Tod in Persien an seiner Seite.76 Seine Biographie diente einem Freund, Eunapius von Sardes, als Vorlage für eine Juliangeschichte, die allerdings ebenfalls verloren ist.77 Glücklicherweise geht Eunapius, der nicht nur 70 Dazu vgl. WIEMER 1995, 16ff., auf dessen Darstellung im folgenden zurückgegriffen wird. Diese wechselhafte Beziehung wird bei CRISCUOLO 1982 nicht beachtet. 71 Misopogon 25, 354c: Ἑπτὰ γάρ ἐσμεν οἵδε παρ’ ἡμῖν ξένοι νεήλυδες, εἷς δὲ καὶ πο‐ λίτης ὑμέτερος, Ἑρμῇ φίλος καὶ ἐμοί, λόγων ἀγαθὸς δημιουργός (...). Vgl. dazu WIEMER 1995, 48. 72 Vgl. WIEMER 1995, 151: „War der «Prosphonetikos» die Rede, mit der Libanios sich bei Julian und seinem Hof vorstellte, so ist der «Hypatikos» eine Rede, in der Libanios um Zustimmung zur Herrschaftsauffassung und Politik Julians wirbt. Mit anderen Worten: Während der «Prosphonetikos» eine gewissermaßen private Meinungsäußerung des Libanios ist, handelt es sich beim «Hypatikos» um ein offiziöses Dokument julianischer “. 73 Vgl. dazu WIEMER 1995, 164ff. 74 Vgl. CRISCUOLO 2001, 375. 75 Zu Oreibasios’ Biographie s. BALDWIN 1975. 76 Vgl. STAESCHE 1998, 94. 77 Das Werk ist indirekt durch die Geschichte des Zosimos erhalten, die Photios in seinem Bibliothekskatalog als eine bloße Epitome von Eunapius charakterisiert; auch Ammianus Marcellinus scheint in weiten Teilen davon abhängig zu sein (vgl. dazu BOWERSOCK 1978, 7f).
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mit Oreibasios befreundet war, sondern auch in Pergamon bei Chrysanthios, einem der Lehrer Julians, studiert hatte, in seinen Vitae sophistarum bei der Schilderung der jamblicheischen philosophischen Tradition in Pergamon ziemlich ausführlich auf Julians Studium der Philosophie ein. Aufgrund seiner nahen Bekanntschaft mit Oreibasios und Chrysanthios kann er als eine zuverlässige Quelle für genau die kritische Periode gelten, in der Julian mit den heidnischen Neuplatonikern in Berührung kommt. Eunapius könnte somit Libanios’ eher schematischen Bericht ergänzen.78 Allerdings bleibt festzuhalten, daß Eunapius selbst seinen Beteuerungen zum Trotz alles andere als ein objektiver Historiker ist79 – er schreibt eigentlich ein Enkomium auf die seiner Meinung nach letzten Verfechter der hellenischen paideia.80 Gerade „der allergöttlichste Julian“81 ist mit seinem Versuch, dieser endgültig wieder zum Sieg zu verhelfen, für ihn ein Heros. Die Vitae sind zudem erst gegen Ende des 4. Jahrhunderts verfaßt worden, so daß nicht wie bei Libanios die direkte Kontrolle durch Julian gegeben ist. Eunapius’ Ausführungen müssen daher trotz seiner guten Quellen cum grano salis genommen werden.82 Allerdings könnten sich gerade wegen der Distanz von Julian in seiner Schrift Informationen erhalten haben, die der Korrektur des späteren Julian nicht unterlagen. Ein Zeitgenosse Julians ist auch der gebürtige Antiochener Ammianus Marcellinus. Er diente unter Julian als Caesar in Gallien und nahm auch am Persienfeldzug teil.83 Somit hat er als Augenzeuge eine wichtige Bedeutung.84 Allerdings gehört er nicht zu Julians näherer Umgebung. Er hat zwar bei den protectores domestici, einer Elitetruppe der kaiserlichen Garde, gedient,85 aber es ist ungewiß, inwiefern er persönlich mit Julian bekannt war, da es diesbezüglich in seinem Geschichtswerk keine Anhaltspunkte gibt.86 Seine Informationen bezieht er zum
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Zur Konversion Julians gibt es allerdings bei Zosimos keine genauen Angaben; er bleibt meist auf der Ebene der Ereignisgeschichte. Zur Chronologie des lebens und de Werke des Eunapius s. die Arbeiten von GOULET 1980 und 2001a. Vgl. BOWERSOCK 1978, 8f. Vgl. schon die Kritik von W. C. WRIGHT 1980, 44f. an Eunapius’ Methode. Vgl. PENELLA 1990, bes. 32ff. ὁ θειότατος Ἰουλιανός: etwa in VS VI 3,9. Vgl. W. C. WRIGHT 1980, 44f. Zu Eunapius’ Ungenauigkeiten und seinem Programm siehe auch GOULET 2001b, 376ff. Vgl. dazu FONTAINE 1978, 44. Zu Ammians Julianbild, das viel stärker seine Rolle als römischer Kaiser und Feldherr betont, vgl. ebd. sowie CRISCUOLO 1982, 84–86. GÄRTNER 1968 analysiert die Darstellung Julians in Ammians XXV. Buch und legt dar, daß dieser bewußt auf panegyrische Schemata zurückgreife, um auf die „Äußerungen jenes maßlosen Hasses gegen Julian und jener Voreingenommenheit für Jovian (...)“ zu reagieren, „wie sie für die Vertreter der christlichen Seite in den Jahrzehnten nach 363 typisch sind.“ (529/33). Amm. XVI 7,7. Vgl. FONTAINE 1978, 44. GÄRTNER 1968, 524 (28) plädiert dafür. In seiner Einführung zu Ammians Werk stellt SEYFARTH 1978, 20 fest, daß Ammianus „sicher nicht zur engsten Umgebung des Kaisers Julian gehört, wenn er auch gute Beziehungen zu dieser hatte“.
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einen aus anderen Geschichtswerken;87 zum anderen greift er auf offizielle Dokumente zurück. Wahrscheinlich hat er auch Augenzeugen befragt.88 Seine Notiz darüber, wie Julian in Gallien seine Nächte zwischen Schlaf, Gebet und Lektüre aufteilt, könnte z. B. auf dessen Kammerdiener Eutherius zurückgehen, der zur Zeit der Abfassung der Res gestae in Rom lebt und sich hohen Ansehens erfreut.89 Ein Brief, den Julian kurz nach seinem Machtantritt an ihn richtet, zeigt, daß Eutherius praktizierender Heide war und Julians Achtung genoß.90 Ammianus könnte ihn somit persönlich gekannt und zu seinem Heros befragt haben. Die lobenden Ausführungen, die er Eutherius widmet,91 könnten darauf hindeuten, daß dieser sein Gewährsmann war. Die detaillierte Schilderung der letzten Stunden Julians könnte vielleicht auf die Aufzeichnungen von Oreibasios zurückgehen,92 ist aber als solche Teil eines kunstvollen komplexen Narrativs, das verschiedene Erklärungstendenzen für das Fiasko miteinander verwebt und Julian zu einem tragischen Heros macht.93 Es kann nicht genau entschieden werden, ob Ammians Informationen tatsächlich auf diese Augenzeugen aus Julians unmittelbarer Umgebung zurückgehen; daher sind sie mit Vorsicht zu genießen. Im Falle von Julians Religiosität weicht Ammianus in seiner persönlichen Einschätzung von den anderen bisher diskutierten Quellen ab. An solchen Stellen liegt es nahe, den anderen, Julian und seinem näheren Umkreis näherstehenden, Quellen die Priorität über Ammianus einzuräumen. Neben den heidnischen Quellen wurde Julians Konversion natürlich in verschiedenen christlichen Quellen behandelt. Gregor von Nazianz, der mit Julian in Athen studierte, käme als Zeitgenosse und Augenzeuge die höchste Bedeutung zu. Allerdings darf man sich über Julians Konversion keine Aufschlüsse von ihm erhoffen, da er nie zum engeren Vertrautenkreis Julians gehörte. Auch die Tatsache, daß sein Bruder Caesarius 361–362 trotz der Proteste seines Vaters und Bruders als Arzt am Hofe Julians geblieben ist, ist in dieser Hinsicht unbedeutend: Gregor kommt durch ihn an bestimmte Anekdoten über das öffentliche Verhalten Julians, die den von Ammianus referierten gleichen, aber nicht an Julians Privatsphäre.94 Somit steht Gregor auf einer ähnlichen Stufe wie Ammianus – natürlich mit entgegengesetztem Vorzeichen.95 Eine Generation später kommt Johannes Chryso87 Vgl. BOWERSOCK, 7f, der Ammianus unterstellt, daß er sogar für die Rekonstruktion der von ihm erlebten Ereignisse sich primär auf andere Geschichtswerke, z. B. auf Eunapius, stützt, und ihm deshalb generell nur sekundären Quellenwert zuschreibt. 88 Vgl. zu Ammians Methoden und Quellen GALLETIER 1968, 25–28, hier 27. 89 XVI 7,7. FONTAINE 1978, 48 geht davon aus, daß Ammianus sich bei Eutherius informiert habe. 90 Ep. 29; vgl. dazu GALLETIER 1968, 34. 91 Amm. XVI 7,4–10. 92 GALLETIER 1968, 27. 93 Siehe dazu R. SMITH 1999. 94 Vgl. dazu BERNARDI 1978, 89–98, zu Caesarius 94f. 95 Auch die stark polemische Widersprüchlichkeit seiner Darstellung in den Orationes contra Iulianum schränkt den Quellenwert erheblich ein. Gregor geht es darum, Julian in den schwärzesten Farben zu malen. Zum einen läßt er ihn als bösen verstockten Heiden von der Wiege an erscheinen, zum anderen legen manche Formulierungen nahe, daß Julian erst durch
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stomos in seinen Predigten auf Julian zu sprechen; für Julians Konversion kann er noch weniger als Gregor als Quelle in Betracht kommen. Objektiver als Gregor und Johannes Chrysostomos sind die Kirchengeschichtswerke von Sokrates, Philostorgios, Sozomenos und Rufin. Diese sind allerdings erst im Laufe des 5. Jahrhunderts entstanden und greifen auf älteres Material zurück – neben der christlichen polemischen Tradition werden Libanios oder Eunapius konsultiert.96 Diese Werke können höchstens etwas zum Julianbild des 5. Jahrhunderts, nicht aber zur Rekonstruktion der Religiosität Julians beitragen. Als Hauptquellen für Julians Begegnung mit der Philosophie bleiben also neben Julians eigenen Werken primär Libanios und Eunapius und sekundär Ammianus und Gregor von Nazianz. Eunapius kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Da er mit Julian nicht persönlich bekannt war, sondern seine Informationen nur über Oreibasios und Chrysanthios bezog, von denen letzterer nach Julians Machtantritt dessen wiederholte Einladung an den Hof ausschlug und somit später nicht zu Julians engerem Kreis gehörte, könnte bei ihm Material aus einer früheren Zeit, das dem Einfluß des späten Julian nicht unterlag, vorhanden sein.97 Im folgenden sollen daher die primären Quellen die Grundlage für die weitere Darstellung bilden, wobei immer zuerst Julians eigene Aussagen und dann in einem zweiten Schritt die bei Libanios und Eunapius vorhandenen Berichte analysiert werden. Gregor und Ammianus werden zur Ergänzung herangezogen, wobei der Wert ihrer Darstellungen von Fall zu Fall bestimmt werden muß. 3.4. CHRISTENTUM UND HOMERLEKTÜRE: JULIANS GEISTIGER HINTERGRUND VOR DEM PHILOSOPHIESTUDIUM Julian selbst äußert sich in einem Brief explizit – wenngleich sehr knapp – zu seiner religiösen Entwicklung. Um die christliche Gemeinde in Alexandrien, die um die Rückkehr des Athanasios gebeten hatte, von der Wahrheit des Heidentums zu überzeugen, führt Julian seine eigene Erfahrung als Argument an. Er sei ein vertrauenswürdiger Gewährsmann, da er beide Traditionen aus der Innenperspektive kenne: Denn ihr werdet den rechten Weg nicht verfehlen, wenn ihr einem Manne Gehör schenkt, der auch jenen Weg zwanzig Jahre lang gegangen ist und nun mit den Göttern auf diesem Weg schon im zwölften Jahr wandelt.98
die klassische Bildung vom Christentum abfiel. BOWERSOCK 1978, 5 bemerkt treffend zu Gregor: „Yet Gregory was an intelligent recipient of facts and gossip that were current, so that the denunciations he wrote shortly after Julian’s death constitute a valuable repository of early Christian traditions“. 96 Vgl. BOWERSOCK 1978, 2–3. 97 Julians kontrollierender Einfluß auf Libanios läßt sich an einigen Stellen in dessen Reden nachweisen; s. dazu BOUFFARTIGUE 2002, bes. 178f. 98 Ep. 111, 434d: οὐχ ἁμαρτήσεσθε τῆς ὀρθῆς ὁδοῦ πειθόμενοι τῷ πορευθέντι κἀκεί‐ νην τὴν ὁδὸν ἄχρις ἐνιαυτῶν εἴκοσι, καὶ ταύτην ἤδη σὺν θεοῖς πορευομένῳ δωδέ‐
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Diese Aussage zeigt, daß er vor elf Jahren eine Konversion vom Christentum zum Heidentum im Sinne eines Wandels der religiösen Selbstzuordnung erlebt hat.99 Da der Brief im Jahre 362 geschrieben wurde, läßt sich diese Bekehrung auf das Jahr 351 datieren, in die Zeit seines Philosophiestudiums in Kleinasien. Um die hier nur knapp behauptete Wende zu rekonstruieren, müssen zuerst die Voraussetzungen dargestellt werden, mit denen Julian an das Studium der Philosophie herantritt. 3.4.1. Julians religiöse Sozialisation Alle vorhandenen Quellen bezeugen mehr oder weniger deutlich und detailliert, daß Julian eine christliche Erziehung durchlaufen hat. Darauf läßt schon sein familiäres und soziales Umfeld schließen. Konstantius war bekennender Arianer; er vertraute Julian nach der Ermordung seines Vaters der Obhut des Bischofs Euseb von Nikomedien an.100 In Macellum knüpfte Julian engeren Kontakt zu Bischof Georgios von Kappadokien, der ihm Bücher aus seiner Bibliothek zum Abschreiben lieh.101 Julian selbst spricht nur selten von seiner Kindheit; noch seltener sind die Hinweise auf die von ihm durchlaufene religiöse Sozialisation. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, anhand dieser Stellen Julians religiöse Identität vor seiner Begegnung mit der Philosophie zu skizzieren. Verstand sich Julian als Christ, oder konnte er sich nie mit dem Christentum identifizieren? Die chronologisch erste Stelle findet sich in seiner 361 verfaßten Rede über die Göttermutter. Bei der Auslegung des Kybele-Kultes kommt Julian auf die Speisegebote zu sprechen, die auf den ersten Blick absonderlich anmuten und eine willkommene Zielscheibe für den Spott der „allergottlosesten Menschen“ – eine κατον ἔτος. (Ich übernehme hier abweichend von BIDEZ die Konjektur ἤδη für ἰδοὺ, die HERTLEIN vorgeschlagen hatte (s. BIDEZ z. St.). 99 Vgl. R. SMITH 1995, 182 ff. sowie CRISCUOLO 2001, 374f. Anders ATHANASSIADI 1992a, 25: „He baldly states the fact that till his twentieth year he walked in the road of Christianity (ep. 111.434d), but adds no expression of contrition, guilt or repentance, as would have been the case with a man of Julian’s fanatical nature had he felt that he had consciously erred”. Die Berufung auf psychologische Gründe ist jedoch spekulativ. Wie schon eingangs erörtert, muß eine Konversion, ein Übergang vom Christentum zum Heidentum nicht notwendig mit starken emotionalen Umwälzungen verbunden sein. ROSEN 2006,100 sieht in der Metapher des Weges eine dynamische Dimension: Julian deute nur an, daß 351 die Weichen für seine spätere Konversion gestellt wurden, ohne damit einen tatsächlichen Einschnitt zu implizieren. Eine derart abschwächende Deutung wird jedoch nicht vom Kontext gestützt, in dem es weniger um geistige Entwicklung als vielmehr um Konversion geht. Die Passage soll die christlichen Alexandriner von der augenfälligen Wahrheit des Heidentums und der daraus folgenden logischen Notwendigkeit der Konversion zu überzeugen; da liegt die Interpretation näher, daß Julian mit der Wegmetaphorik seine Erfahrung in beiden religiösen Traditionen zum Ausdruck bringen möchte. 100 Vgl. Amm. XXII 9,3. 101 Julian, ep. 106, 411c–d und 107, 377d–378c.
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durchsichtige Umschreibung für die Christen – seien. Julian bekennt, daß er selber zu diesen Spöttern gehört hätte und bekundet seine Dankbarkeit, daß die Göttermutter ihm den Weg aus dieser Finsternis gewiesen habe: Nachdem ich viele häufig dieses (sc. den Spott gegen die Sinnlosigkeit der Speisevorschriften) habe flüstern hören und sogar früher auch selbst behauptet hatte, scheine ich als einziger von ihnen allen den Herren Göttern, durchaus allen, in erster Linie aber der Göttermutter, wie in allen anderen Angelegenheiten, so auch in diesem Punkt großen Dank zu wissen, weil sie mich nicht übersehen hat, als ich gleichsam in der Finsternis herumirrte, sondern mir zunächst freilich befahl, das Überflüssige und Sinnlose abzuschneiden – nicht körperlich, sondern hinsichtlich der vernunftlosen Bestrebungen und Bewegungen der Seele, durch die geistige Ursache, die unseren Seelen vorsteht. Sodann gab sie mir in den Sinn bestimmte Überlegungen, die vielleicht nicht gänzlich von der wahren und zugleich heilig-reinen Erkenntnis über die Götter abweichen.102
Nach ATHANASSIADI würde Julian hier nicht auf eine religiöse Wende, sondern lediglich auf seine moralische Verfassung anspielen.103 Zwar enthält die Passage eindeutige Anklänge an die philosophische Bekämpfung der Leidenschaften. Allerdings zieht diese Interpretation den Kontext der Passage nicht in Betracht. Die „Finsternis“, in der Julian herumirrte, ist nach dem direkt vorangehenden Passus die Zugehörigkeit zu den „allergottlosesten Menschen“, die über die Kultgebräuche der Kybele spotten. Somit erscheint die Annahme gerechtfertigt, darin eine Anspielung auf Julians ehemaliges Christentum zu sehen.104 Die Anspielung auf „vernunftlose seelische Triebe und Bewegungen“ kann als heidnisch-neuplatonische Umschreibung des Christentums und somit als nachträgliche Interpretation Julians aufgefaßt werden.105 Sie könnte auch auf einen engen Zusammenhang 102 Or. VIII 14, 174b–d: Ταῦτα ἀκηκοώς μινυριζόντων πολλῶν πολλάκις, ἀλλὰ καὶ εἰρηκὼς πρότερον, ἔοικα ἐγὼ μόνος ἐκ πάντων πολλὴν εἰδέναι τοῖς δεσπόταις θεοῖς μάλιστα μὲν ἅπασι, πρὸ τῶν ἄλλων δὲ τῇ Μητρὶ τῶν θεῶν, ὥσπερ ἐν τοῖς ἄλλοις ἅπασιν, οὕτω δὲ καὶ ἐν τούτῳ χάριν ὅτι με μὴ περιεῖδεν ὥσπερ ἐν σκότῳ πλανώμενον, ἀλλά μοι πρῶτόν γε ἐκέλευσεν ἀποκόψασθαι, οὔτι κατὰ τὸ σῶμα, κατὰ δὲ τὰς ψυχικὰς ἀλόγους ὁρμὰς καὶ κινήσεις τῇ νοερᾷ καὶ προεστώσῃ τῶν ψυχῶν ἡμῶν αἰτίᾳ τὰ περιττὰ καὶ μάταια· ἐπὶ νοῦν δὲ ἔδωκεν αὕτη λόγους τινὰς ἴσως οὐκ ἀπᾴδοντας πάντη τῆς ὑπὲρ θεῶν ἀληθοῦς ἅμα καὶ εὐαγοῦς ἐπιστήμης. 103 ATHANASSIADI 1992a, 25: „In the second passage, also from a dogmatic writing, the Hymn to the Mother of the Gods, Julian uses exactly the same phraseology when thanking Cybele for not having disregarded him when he was wandering in the darkness (VIII. 174c), and proceeds to clarify what he actually means by the word ‘darkness’: far from indicating any conscious rejection of the right way to salvation (as would have been the case if Julian were at that stage the ‘leidenschaftlich (sic) Christ’ that Schemmel and Bidez claim), it refers to the existence of some ‘superfluous and vain elements in the irrational impulses and motions of my soul’ of which the gods helped him to purify himself.” Dies ist eine verkürzende Interpretation, die nicht nur den vorangehenden Kontext außer acht läßt, sondern auch die Erwähnung der ihm eingegebenen Lehren, die mit dem „frommen und wahren Wissen über die Götter“ im Einklang stehen, die auch eher in Richtung Konversion deutet, übergeht. 104 So BOGNER 1924, 295: „σκότος braucht Julian stets, wenn er das Christentum meint“ sowie MAU 1970, 107f In der neueren Forschung vertritt R. SMITH 1995, 184, diese Position, der sich mit ATHANASSIADIS Argumenten auseinandersetzt. 105 So R. SMITH 1995, 184. Über die heidnisch-neuplatonischen Termini für das Christentum vgl. SAFFREY 1975.
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zwischen der Bekehrung zu den heidnischen Göttern und der Hinwendung zu einer philosophischen Lebensweise hindeuten. Ein anderer wichtiger Passus findet sich in seinem Hymnus auf Helios. Julian beschreibt die Faszination, die die Sonne schon seit frühester Kindheit auf ihn ausgeübt habe: Denn ich bin ein Gefolgsmann des Königs Helios. Die genaueren Beweise dafür habe ich zwar bei mir zu Hause, aber was ich mit Fug und Recht aussprechen darf, ist folgendes: von Kindheit an wurde mir eine brennende Sehnsucht nach den Strahlen des Gottes eingegossen, und seit frühester Kindheit geriet ich mit meiner Denkkraft in solch vollkommene Ekstase angesichts dieses ätherischen Lichtes, daß ich nicht nur begehrte, ihn unverwandt anzublikken, sondern auch wenn ich in wolkenloser Nacht bei klarem Himmel hinausging, pflegte ich von allen übrigen Dingen abzulassen und meine Aufmerksamkeit auf die himmlische Pracht zu richten, ohne zu verstehen, wenn jemand zu mir etwas sagte, oder darauf zu achten, was ich denn gerade täte. Und ich schien ziemliches Interesse an diesen Dingen zu entwickeln und übermäßig neugierig zu sein, und manch einer vermutete in mir einen Sterndeuter, obwohl mein Bart gerade erst zu sprießen begann. Dennoch war mir, bei den Göttern, noch kein solches Buch in die Hände gefallen, und ich hatte überhaupt keine systematische wissenschaftliche Kenntnis von der Sache. Aber warum sage ich dies, wo ich doch viel Größeres sagen könnte, wenn ich erklären wollte, wie ich damals von den Göttern dachte? Vergessen aber sei jene Finsternis!106
Diese frühe Faszination habe ihre Wirkung entfaltet, ohne daß Julian das entsprechende explizite diskursive Wissen gehabt hätte. Nicht nur, daß er keine astronomischen Kenntnisse besaß – dies wäre, wie er betont, eher das kleinere Manko im Vergleich zu seinen damaligen Ansichten über das Wesen der Götter gewesen. Diese führt er nicht weiter aus, aber die folgende abwehrend-abbrechende Bemerkung –„aber jene Finsternis gerate in Vergessenheit!“ läßt vermuten, daß es sich hierbei um seine frühere christliche Religiosität handelt.107 Julian stilisiert sich so106 Or. XI 1, 130c–131a: καὶ γάρ εἰμι τοῦ βασιλέως ὀπαδὸς Ἡλίου. Τούτου δὲ ἔχω μὲν οἴκοι παρ’ ἐμαυτῷ τὰς πίστεις ἀκριβεστέρας· ὃ δέ μοι θέμις εἰπεῖν καὶ ἀνεμέση‐ τον, ἐντέτηκέ μοι δεινὸς ἐκ παίδων τῶν αὐγῶν τοῦ θεοῦ πόθος, καὶ πρὸς τὸ φῶς οὕτω δὴ τὸ αἰθέριον ἐκ παιδαρίου κομιδῇ τὴν διάνοιαν ἐξιστάμην, ὥστε οὐκ εἰς αὐτὸν μόνον ἀτενὲς ὁρᾶν ἐπεθύμουν, ἀλλὰ καὶ, εἴ ποτε νύκτωρ ἀνεφέλου καὶ καθαρᾶς αἰθρίας οὔσης προέλθοιμι, πάντα ἀθρόως ἀφεὶς τοῖς οὐρανίοις προσ‐ εῖχον κάλλεσιν, οὐκέτι ξυνιεὶς οὐδὲν εἴ τις λέγοι τι πρός με οὔτε αὐτὸς ἐμαυτῷ ὅ τι πράττοιμι προσέχων· ἐδόκουν τε περιεργότερον ἔχειν πρὸς αὐτὰ καὶ πολυ‐ πράγμων τὶς εἶναι, καί μέ τις ἤδη άστρόμαντιν ὑπέλαβεν ἄρτι γενειήτην. Καίτοι νὴ τοὺς θεοὺς οὔποτε τοιαύτη βίβλος εἰς ἐμὰς ἀφῖκτο χεῖρας, οὔτε ἠπιστάμην ὅ τί ποτέ ἐστι τὸ χρῆμα πώποτε. Ἁλλὰ τί ταῦτα ἐγώ φημι, μείζω ἔχων εἰπεῖν, εἰ φράσαιμι ὅπως ἐφρόνουν τὸ τηνικαῦτα περὶ θεῶν; λήθη δὲ ἔστω τοῦ σκότους ἐκείνου. 107 Vgl. dazu BIDEZ 1965, 34 und R. SMITH 1995, 184, der sich gegen ATHANASSIADI vorgeschlagene Deutung richtet. Nach ATHANASSIADI 1992a, 25 würde diese Stelle die Annahme bestätigen, daß Julian sich nie als Christ verstanden habe: „when he says: ‚let that darkness be buried in oblivion’, he refers, as is quite clear from the context, to his ignorance at that period of the right path, rather than to his attachment to the Christian faith“. Diese Interpretation zieht nicht in Betracht, daß Julian nicht von Unwissenheit, sondern explizit von falschen Meinungen spricht, im Vergleich zu welchen seine Unwissenheit bezüglich der Astronomie vernachlässigbar erscheint.
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mit im Nachhinein als „anonymer Heide“, der zwar auf der diskursiven Ebene die christlichen Lehrmeinungen vertreten, in seiner tiefsten Religiosität, auf der Ebene der Erfahrung und der Emotionen jedoch stets schon das fascinosum der wahren Götter verspürt habe.108 Es liegt eine ähnliche nachträgliche Rekonstruktion der Biographie aus der Perspektive des Konvertiten wie bei Augustin vor, der in seinen Confessiones immer wieder betont, daß er immer schon an Christus geglaubt und seinen Namen zum Prüfstein aller religiösen Strömungen und Philosophien gemacht habe.109 Die besondere Beziehung Julians zur Sonne wird auch im Mythos der Rede gegen den Kyniker Herakleios thematisiert.110 In einer nur zu durchsichtigen allegorischen Form beschreibt Julian die Geschicke seiner Familie und seiner selbst. Der Mythos schildert zunächst die zunehmende Verwirrung, die unter Konstantin und Konstantius um sich greift. Konstantin erscheint als reicher Herdenbesitzer,111 der den väterlichen Besitz auf den verschiedensten, teils nicht gerade rechtschaffenen Wegen vermehrt habe, da er die Götter gering achtete. Selbst der Kunst, seinen Besitz richtig zu verwalten, unkundig, vererbt er ihn seinen Söhnen, ohne sie darin zu unterweisen. Die Söhne führen untereinander Krieg, um sich des ganzen Erbes zu bemächtigen, die anderen Verwandten mischen eifrig mit, ein allgemeines Morden bricht an. Die Söhne zerstören die Tempel, die schon ihr Vater mißachtet und ihrer Weihegeschenke beraubt hatte, und errichten Gräber auf deren Ruinen. Menschliche und göttliche Gesetze werden gleichermaßen mit Füßen getreten. 112 Julian verbindet hier verschiedene Motive und Traditionen, um die Lage seiner Dynastie zu beschreiben. Anklänge an Jamblichs Alkibiadeskommentar sind erkennbar,113 ebenso auch Elemente der attischen Tragödie.114 108 Vgl. SMITH 1995, 187 sowie CRISCUOLO 2001, 365f. 109 Damit ist nicht gesagt, daß die von Julian berichteten Erlebnisse nicht authentisch wären; dies kann nicht entschieden werden. Es ist interessant, daß Julian hier zu den Anfängen seiner heidnischen Religiosität die Kontemplation der Gestirne und vor allem der Sonne zählt. Dies ist parallel zu seinem Brief an die Alexandriner, wo er wiederum eine Beziehung zwischen den sichtbaren Göttern – den Gestirnen –, allen voran die Sonne, und die richtige Gotteserkenntnis knüpft: die Erfahrung der von der Sonne ausgehenden Wohltaten begründet die primäre, instinktiv richtige, allgemeinmenschliche Gotteserkenntnis. Nur die Christen würden da eine Ausnahme bilden und sich dieser menschlichen Grunderfahrung verschließen. Vielleicht kann die Tatsache, daß Julian auch andernorts die Solarreligiosität als Grundform menschlicher richtiger Gotteserkenntnis ansieht, als ein weiterer Beweis gedeutet werden, daß sich hier wirklich tiefe autobiographische Erfahrungen spiegeln, daß also die im Hymnus auf Helios beschriebenen religiösen Erfahrungen authentisch sind. Wie DILLON 1998, 113 festhält: „There can be no doubt that reverence for the Sun was an important aspect of his personal religion“. 110 Or. VII 22, 227c–234c. 111 Der Vergleich des Königs mit dem Hirten geht auf Homer zurück (z. B. Il. IV 413), sie findet sich z. B. auch bei Platon, Politeia 343b und 345c–e. 112 Damit sind die christlichen Märtyrerschreine gemeint. Auch in seiner zweiten Rede auf Konstantius gedenkt Julian missbilligend der Zerstörung und Plünderung der Tempel (Or. III 24, 80c oder 29, 89a). 113 Vgl. dazu ASMUS 1917, 65ff., zur Vorgeschichte des Mythos 66–68. 114 ATHANASSIADI 1992a, 172f. verweist auf den Mythos des Brüderzwistes zwischen Eteokles und Polyneikes.
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Angesichts dieser katastrophalen Lage läßt sich Zeus erbarmen und faßt den Entschluß, dem Morden Einhalt zu gebieten und dem Geschlecht wieder aufzuhelfen. Dazu wendet er sich an Helios, den Schutzgott der Flavier, Konstantins persönlichen Schutzgott vor der Bekehrung,115 und bittet ihn, von seinem Zorn über Konstantins frevelhafter Mißachtung abzulassen und dessen Familie beizustehen. Die Moiren sowie Dike und Eusebeia stimmen Zeus’ Plan zu. Zeus zeigt dann Helios Julian – einen „Verwandten der Brüder, beiseite gedrängt und vernachlässigt, ein Neffe jenes Reichen und ein Vetter der Erben“. Dieser sei Helios’ eigener Nachkomme: Dieser, sprach er, ist dein Nachkomme. Schwöre nun bei meinem und deinem Zepter, dich besonders um ihn zu kümmern, sein Hirte zu sein und ihn von der Seuche zu heilen. Du siehst ja, wie er gleichsam voll von Rauch und Schmutz und Qualm ist, und daß die Gefahr droht, daß das von dir in ihn gesäte Feuer erlösche, „wenn du nicht deine Rüstung anlegst“.116
Helios bemerkt, daß im Jungen noch ein kleiner Funke seiner selbst bewahrt geblieben ist, und nimmt sich zusammen mit Athena seiner an – er rettet ihn aus dem Mordgetümmel und zieht ihn groß. Julian artikuliert hier wieder einmal seine Überzeugung einer besonders engen Beziehung zu Helios.117 Die Terminologie dieser Passage verweist auf die Chaldäischen Orakel, in denen das Feuer Terminus für die geistige Substanz ist, die vom obersten Gott ausgehend die ganze Welt durchdringt und formt.118 Das von Helios in Julian gesäte Feuer droht aber, unter Rauch, Schmutz und Qualm völlig zu verlöschen; von dieser Seuche soll Helios – gleichsam als deus ex machina – 119 Julian retten. Nun wird nicht klar ausgesprochen, was mit diesem elenden Zustand des Jungen gemeint ist. Es könnte sich zum einen um eine Anspielung auf dessen Christentum handeln, es könnte aber auch auf Julians moralische Verfassung bezogen werden – wiederholt erwähnt er, daß die Philosophie auf ihn eine reinigende, das Wilde und Verwegene in ihm besänftigende Wirkung gehabt habe.120 Allerdings deutet die Verwendung des Begriffes „Seuche“ (νόσος) in die erste Richtung; er ist bei Julian sonst oft polemischer terminus technicus für das Christentum.121 Da115 Or. XI 2,131c–d mit der Anm. 4 von LACOMBRADE 1964, 202. 116 Or. VII 22, 229c–d: τοῦτο, ἔφη, σόν ἐστιν ἔκγονον. Ὄμοσον οὖν τὸ ἐμόν τε καὶ σὸν σκῆπτρον, ἦ μὴν ἐπιμελήσεσθαι διαφερόντως αὐτοῦ καὶ ποιμαίνειν αὐτὸ καὶ θεραπεύσειν τῆς νόσου. Ὁρᾷς γὰρ ὅπως οἷον ὑπὸ καπνοῦ ῥύπου τε ἀναπέπλη‐ σθαι καὶ λιγνύος, κίνδυνός τε τὸ ὑπὸ σοῦ σπαρὲν ἐν αὐτῷ πῦρ ἀποσβῆναι, ἢν μὴ σύ γε δύσεαι ἀλκήν. 117 Vgl. auch Or. XI, 1–2, 130b–131d. 118 Auf die chaldäischen Parallelen verweist ASMUS 1917, 70f. 119 ATHANASSIADI 1992a, 173. 120 So etwa im Brief an die Athener 4, 272a, in dem er der Jahre in Macellum gedenkt und bemerkt, daß ihn die Götter durch die Philosophie vor sittlicher Verrohung bewahrt oder gereinigt hätten. In der Rede gegen Herakleios 23, 235b kommt er auf die Mäßigung zu sprechen, die ihn sein Philosophielehrer gelehrt habe. Schließlich ist auch noch der oben besprochene Passus aus der Hymnus auf die Göttermutter Or. VIII 14, 174b–d zu erwähnen. 121 Vgl. ep. 61, 424b (Rhetorenedikt), ep. 86, ep. 98, 401c, sinngemäß auch ep. 114, 438b, ep. 89a.
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mit steht er in einer langen Tradition. Seit Platon ist der Begriff eine Metapher für die Gottlosigkeit.122 Die heidnische Polemik gegen das Christentum greift ihn auf – so etwa der Ἀληθὴς λόγος des Kelsos oder Porphyrios’ Schrift gegen die Christen. Schließlich ist zu bedenken, daß der Abfall von den Göttern bzw. ihre Geringschätzung im Mythos neben der Unmoral die Triebfeder der dynastischen Katastrophe ist. Aufgrund dessen erscheint es plausibel, die Stelle auf Julians Christentum zu beziehen. 123 Aus Julians Andeutungen gewinnen wir die Vorstellung, daß er sich in seiner Kindheit und Jugend als Christ verstand. Dieses Bild wird von fast allen anderen zeitgenössischen Quellen bestätigt. In seinen teilweise vor Julian vorgetragenen Reden erwähnt Libanios, daß Julian bei seiner Ankunft in Kleinasien einen „heftigen Haß“ auf die Götter hegte.124 In der offiziellen Konsulatsantrittsrede spricht er von dem „Flecken“ des Christentums, den Julian durch die Philosophie weggewaschen habe.125 Auch das Bild, welches er für die von Julian angestrebte Repaganisierung des Reiches verwendet, stellt Julian als einst überzeugten Christen dar: Julian handele „wie ein Sohn, der seine Mutter ermahnt, der zuerst mit ihr zusammen irrte und später sich und jene zugleich vom Irrtum befreite.“126 In Julians Grabrede erklärt Libanios Julians Rhetorikunterricht bei seinem Rivalen, dem christlichen Redner Hekebolios mit Julians überzeugtem Christentum.127 Auch Eunapius beschreibt in seinen Ausführungen zu Julian, wie christliche Eunuchen von Konstantius eigens damit beauftragt worden wären, Julian im Christentum zu unterweisen. Die rhetorische Tendenz der Stelle ist nicht zu verkennen – Eunapius betont, wie bald sich Julian seinen Lehrern überlegen gezeigt und die Schriften auswendig beherrscht hätte. 128 Julians geistige Größe und implizit die Unzulänglichkeit des Christentums werden dadurch polemisch hervorgehoben. Dennoch bleibt festzuhalten, daß auch Eunapius von der christlichen Erziehung Julians zu berichten weiß. Die gründlichen Schriftkenntnisse, von denen Eunapius berichtet, spiegeln sich in Julians Schrift Gegen die Galiläer, in der er verschiedene Kernprobleme des Christentums als ehemaliger Insider auf eine Weise angreift, die Christen ein Jahrhundert später noch zu schaffen machten.129 Gregor von Nazianz’ vierte Rede, die gegen Julian gerichtet ist, kommt ebenfalls auf seine christliche Erziehung zu sprechen, die sie detailliert ausmalt. Gregor will Julians Abwendung vom Christentum möglichst publikumswirksam dar122 123 124 125 126
Vgl. KURMANN 1988, 107. So R. SMITH 1995, 185. Or. XIII 11. Or. XII 33. Or. XII 69: ὥσπερ τινὰ μητέρα νουθετῶν υἱός, ὃς αὐτῇ τὰ πρῶτα συνεξηπατη‐ μένος αὑτόν τε κἀκείνην ὕστερον ἀπήλλαξε τῆς πλάνης. 127 Or. XVIII 12. 128 VS VII 1,6–7: εὐνοῦχοι δὲ αὐτὸν ὅμως ἀμφεπόλευον βασλικοὶ καὶ παραφυλακαί τινες ἦσαν, ὅπως εἴη χριστιανὸς βέβαιος· ὁ δὲ καὶ πρὸς ταῦτα τὸ μέγεθος τῆς φύ‐ σεως ἐπεδείκνυτο. πάντα γοῦν οὕτω διὰ στόματος εἶχε τὰ βιβλία, ὥστε ἠγανάκ‐ τουν ἐκεῖνοι πρὸς τὴν βραχύτητα τῆς παιδείας, ὡς καὶ οὐκ ἔχοντες ὅ τι διδάξουσι τὸ παιδίον. 129 Zu Julians Bibelkenntnis s. BOUFFARTIGUE 1992, 113–117.
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stellen und unterstreicht deshalb die Perfidie, mit der Julian seine ehemalige christliche Erziehung nach und nach verraten habe. Julian habe auf dem kaiserlichen Gut in Macellum eine sorgfältige Erziehung genossen. Neben der ἐγκύ‐ κλιος παίδευσις habe er auch die christliche Lehre und Lebensweise – ἡ καθ’ ἡμᾶς φιλοσοφία – kennengelernt und sich anfänglich auch darin geübt. Die beiden Brüder hätten sich aus Glaubenseifer sogar in den Klerus aufnehmen und zu Lektoren weihen lassen.130 Dieses Detail wird später auch von Sokrates überliefert, der jedoch nichts von dem Aufenthalt in Macellum weiß und es nach Nikomedien, nach Julians Apostasie, verlegt.131 Aufgrund der Bezeugung durch zwei unabhängige Quellen dürfte es als plausibel gelten, daß Julian dieses Amt einmal ausübte.132 Da dieses Amt die Taufe voraussetzt, kann geschlossen werden, daß Julian nicht nur christlich sozialisiert, sondern auch getauft war – ein Schritt, der in der damaligen Zeit eher hinausgeschoben zu werden pflegte.133 Der Eifer der beiden Brüder habe sich auch in ihrer Stiftertätigkeit gezeigt; sie hätten Märtyrerschreine ausstatten und bauen lassen.134 Allerdings sei Julian schon zu jener frühen Zeit innerlich verdorben gewesen; anders als sein Bruder habe er keine echte Frömmigkeit entwickelt, sondern habe durch diese äußeren Akte der Frömmigkeitsbezeugung nur Zeit und Sicherheit gewinnen wollen.135 Deshalb hätte Gott wegen Julians verkehrter προαίρεσις gleichsam als Fingerzeig seine Bemühungen um den Aufbau eines Märtyrerschreins scheitern lassen.136 Gregors Darstellung klingt etwas widersprüchlich, er scheint sich nicht recht entscheiden zu können, welche Strategie günstiger sei – die Schwarzweißmalerei von Julians früherem Eifer und späterem Abfall, oder die Beteuerung, er sei stets ein übler Heuchler gewesen. Letztere Tendenz scheint jedoch zu überwiegen. Allerdings gibt er uns mit der Erwähnung des Lektorats einen wichtigen Hinweis: anders als die damaligen Durchschnittschristen war Julian schon früh getauft worden. Die erhaltenen Bücher der Res gestae von Ammianus gehen auf Julians Kindheit und frühe Jugend nicht ein. Ammianus erwähnt nur beiläufig, daß er seit seiner Kindheit schon zur Verehrung der Götter geneigt war und sich im Laufe seiner Adoleszenz immer stärker dafür begeisterte.137 Da diese Notiz sowohl Julians Selbstzeugnis als auch Libanios und Eunapius widerspricht, kann ihr nicht besonderes Gewicht verliehen werden.138 130 131 132 133 134 135
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Or. IV 23, sowie auch IV 52 und 97. Sokrates III 1, 20. Vgl. KURMANN 1988, 93. Vgl. dazu BERNARDI 1983, 118, Anm. 1 (zu Or. IV 23). Er interpretiert dies deshalb als „signe de vraie ferveur“. Zum Taufalter im 4. Jh. vgl. D. F. WRIGHT 1997, 389–394. Or. IV 24–29. Sozomen V 2,12 spricht davon, daß die beiden Brüder ein Martyrium zu Ehren des Märtyrers Mamas errichten wollten. Die Widersprüchlichkeit mit der Gregor einmal von dem Eifer der beiden Brüder spricht, der sie zur Lektorenweihe und zur Stiftung von Schreinen getrieben habe, um dann den Spieß umzudrehen und zu behaupten, Julian sei im Grunde nie Christ gewesen, kann hier vernachlässigt werden, da es nur um die Feststellung der christlichen Sozialisation geht. Gregor, Or. IV 24ff; vgl. dazu KURMANN 1988, 94–106. Amm. XXII 5,1. S. dazu R. SMITH 1995, 184 gegen ATHANASSIADI 1992a, 26f.
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Alle Quellen sind sich somit einig, daß Julian eine streng christliche Erziehung durchlaufen hätte. Sie divergieren jedoch in der Einschätzung der Wirkung dieser Sozialisation. Gregor von Nazianz sowie Ammianus tendieren dazu – mit diametral entgegengesetzter Bewertung –, Julian als bloßen Namenschristen hinzustellen, der durch die strenge Observanz kultischer Akte seine eigentliche Religiosität verbergen wollte. Libanios stellt Julian in allen seinen Reden durchgängig als zunächst überzeugten Christen dar, der später zur Erkenntnis der Wahrheit des Heidentums kommt. Da er spätestens zur Abfassung des Hypatikos zu Julians Vertrauten gehörte, kann geschlossen werden, daß Julian mit der Darstellung einverstanden war, daß er zunächst vom Christentum „getäuscht“ worden und später durch die Philosophie zur wahren Erkenntnis über die Götter gekommen wäre. In dieser Richtung deuten schließlich auch Julians eigene Schriften – der Hymnus auf Helios, in welchem er darauf hinweist, daß er in seiner frühen Jugend völlig falsche Meinungen über die Götter vertreten habe, der Hymnus auf die Göttermutter, wo er zugibt, zusammen mit den Christen über den Kybele-Kult gespottet zu haben, sowie schließlich seine klare Aussage im Brief an die Alexandriner, daß er zwanzig Jahre lang den falschen Weg gegangen sei. Julian, der in Ermangelung eines Besseren seine irrationale Faszination durch die Gestirne als Beweis dafür konstruiert, daß er immer schon naturaliter paganus gewesen sei, hätte es nicht versäumt, auf seine verborgene heidnische Gesinnung schon in seinen frühen Jugendjahren hinzuweisen, hätte es diese gegeben. Schließlich muß auch darauf geachtet werden, daß er nicht bloßer Katechumene, sondern schon getauft war. Somit läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten, daß die christliche Sozialisation Julians mit einigem Erfolg verlaufen und er zumindest nicht als verkappter Heide anzusehen ist, sondern sich durchaus als Christ verstand.139 3.4.2. Begegnung mit der heidnischen Literatur: Der Homerunterricht bei Mardonius Erwähnt Julian seine religiöse Sozialisation und Konversion zum Heidentum nur spärlich, so geht er hingegen an einigen Stellen in seinem Werk auf seinen Bildungsweg ausführlich ein. Er beschreibt dabei die Beschäftigung mit der klassischen Literatur als Vorbereitung auf die Philosophie. In der Rede gegen Herakleios stellt er der kynischen Bildungsverachtung des Herakleios seinen eigenen Werdegang gegenüber, der ihn über die Werke der Dichter zur Philosophie geführt habe: Denn du hast keine ordentliche Kinderstube genossen und hattest auch nicht das Glück, einen solchen Führer zu den Dichtern zu finden, wie ich diesen Philosophen hier fand, mit dem ich bis zur Vorhalle der Philosophie kam, wo ich von einem Manne eingeweiht werden sollte, von dem ich überzeugt bin, daß er alle meine Zeitgenossen überragt. (...) Da ich auf diese 139 S. BIDEZ 1965, 31–34, der als zusätzliches Argument für den Einfluß des Christentums auf Julian auf dessen spätere Reformversuche des Heidentums nach christlichem Vorbild verweist und etwa seine Betonung des Vorrangs der Nächstenliebe als christliche Reminiszenz sieht.
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Weise von geistigen Führern eingeweiht wurde, da der, der mich in die Vorbildung einweihte, ein Philosoph, derjenige aber, der mir die Vorhallen der Philosophie wies, ein überaus großer Philosoph war, habe ich zwar wegen der mich von außen befallenden mußeraubenden Geschäften wenig, aber dennoch etwas von der richtigen Lebensführung genossen, weil ich nicht die Abkürzung, die du vorschlägst, sondern den Weg ringsherum ging.140
Julian stellt in dieser Passage zwei Hauptetappen in seiner geistigen Entwicklung fest: zum einen die Beschäftigung mit der Dichtung, die er als Vorbereitung auf die Philosophie versteht, zum anderen die „Einweihung“ in die Philosophie. Die beiden Lehrer, auf die er anspielt, werden nicht namentlich genannt; im zweiten wird man wahrscheinlich Maximus von Ephesus sehen können, der für Julian die Schlüsselgestalt par excellence war und die Erfüllung seiner Suche nach religiöser und philosophischer Unterweisung darstellte.141 Es liegt nahe, im Literaturlehrer seinen alten Erzieher Mardonios zu sehen, den Literaturlehrer seiner Mutter, von dem im Misopogon berichtet wird, wie er Julian für die alte Dichtung begeistert habe.142 Es überrascht an dieser Stelle, daß er ebenfalls als Philosoph tituliert wird. Dies könnte als bloße Metapher verstanden werden. Eine andere Möglichkeit wäre, daß Julian hier die grundlegende Bedeutung der literarischen paideia für die Philosophie zum Ausdruck bringen möchte. Dies entspricht der Nachdrücklichkeit, mit der er die Zusammengehörigkeit der beiden behauptet. Wichtig ist auch die Bezeichnung des Mardonios als καθηγεμών. In der neuplatonischen Tradition wird dieser Titel Lehrern von besonderem Charisma und persönlicher Heiligkeit verliehen – etwa Plotin oder Jamblich, die als spirituelle Führer angesehen werden.143 Den alten Literaturlehrer nicht nur als Philosophen, sondern als
140 Or. VIΙ 23, 235a–d: οὐδὲ γὰρ ἐπαιδοτριβήθης καλῶς οὐδὲ ἔτυχες καθηγεμόνος ὁποίου περὶ τοὺς ποιητὰς ἐγὼ τουτουὶ τοῦ φιλοσόφου, μεθ’ ὃν ἐπὶ τὰ πρόθυρα τῆς φιλοσοφίας ἦλθον ὑπ’ ἀνδρὶ τελεσθησόμενος ὃν νενόμικα τῶν κατ’ ἐμαυτὸν πάντων διαφέρειν. (...) Οὕτως ἡμεῖς ὑφ’ ἡγεμόσι τελούμενοι, φιλοσόφῳ μὲν τῷ τὰ τῆς προπαιδείας με τελέσαντι, φιλοσοφωτάτῳ δὲ τῷ τὰ πρόθυρα τῆς φιλοσο‐ φίας δείξαντι, σμικρὰ μὲν διὰ τὰς ἔξωθεν ἡμῖν προσπεσούσας ἀσχολίας, ὅμως δ’ ἀπελαύσαμεν τῆς ὀρθῆς ἀγωγῆς, οὐ τὴν σύντομον, ἣν σὺ φής, ἀλλὰ τὴν κύκλῳ πορευθέντες. 141 Vgl. Eunapius, VS VII 1,5–2,13 und die Behandlung dieser Stelle weiter unten 3.3.3. 142 Eine andere Zuordnung wird von W. C. WRIGHT 2002, 151, Anm. 1 und 2 vorgenommen: er bezieht die Wendung „dieser hier anwesende Philosoph“ auf Maximus, der ja an Julians Hof weilte, und sieht im Philosophielehrer Jamblich selbst. Eine andere Möglichkeit wäre, den Literaturlehrer mit dem γραμματικός Nikokles von Sparta gleichzusetzen, bei dem Julian studiert hat. Es wäre allerdings auffällig, daß Julian an dieser Stelle Nikokles eine derart große Bedeutung für seinen Entwicklungsweg zuerkennt, ihn sonst aber in seinen Werken und Briefen überhaupt nicht erwähnt. Die verschiedenen Zuordnungsmöglichkeiten der beiden Gestalten werden bei BOUFFARTIGUE 1992, 18–25 zusammengestellt und durchexerziert, der sich dann schließlich ebenfalls für Mardonius und Maximus entscheidet. 143 Zur Bedeutung von καθηγεμών vgl. ATHANASSIADI 1992a, 34, Anm. 96 sowie DZIELSKA 1998, 47 mit Anm. 52. Dieselbe Verwendung findet sich auch in der christlichen philosophischen Tradition, wenn z. B. Gregor Thaumatourgos über Origenes’ Philosophieunterricht spricht: ἓν δέ μοι φίλον ἦν καὶ ἀγαπώμενον, φιλοσοφία τε καὶ ὁ ταύτης καθηγε‐ μὼν οὗτος ὁ θεῖος ἄνθρωπος (Oratio Panegyrica in Origenem, PG 10, 1052–1104, hier 1072). S. auch Porphyrios, Brief an Markella 7.
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geistlichen Führer zu bezeichnen, zeugt von der Bedeutung, die Julian dieser Stufe seiner Entwicklung beimißt. Julian thematisiert seinen Bildungsweg nochmals im Misopogon und reagiert damit auf die Ablehnung und den Spott, den sein Auftreten in Antiochien erregt hat.144 Er stilisiert sich als unverstandener asketischer Philosoph, der über den Spott der genußsüchtigen antiochenischen Bürgerschaft souverän erhaben ist. Um sein Auftreten und seine Handlungen zu rechtfertigen, verweist er unter anderem auf den prägenden Einfluß der von ihm durchlaufenen Erziehung. Wieder einmal sind es zwei Gestalten, die die Bühne beherrschen, sein alter Erzieher Mardonius sowie ein „unheimlich gewandter Greis“, der ihn in seiner frühen Jugend für die Philosophie begeisterte.145 In scharfem satirischen Ton hält Julian den Antiochenern Mardonius als den Hauptverantwortlichen für seinen Lebensstil vor. Sein Erzieher habe auf ihn einen enormen Einfluß ausgeübt und ihn den rauhen Weg der Tugend gelehrt. Das, was auf die verweichlichten Antiochenern wie bäurische Grobheit wirke, habe er als würdiges Verhalten angesehen, die vermeintliche Gefühllosigkeit als Besonnenheit, den Kampf mit den Begierden als wahre Tapferkeit. Mardonius habe Julian strikt dazu angehalten, nur seiner Pflicht nachzugehen und unmoralische Belustigungen und Annehmlichkeiten zu verschmähen. Als Gegengewicht zu den Freuden und Genüssen der Jugend, zu Theateraufführungen, Pferderennen und Tänzen habe er ihn auf die Welt der Dichtung verwiesen: dort könne man einen viel erleseneren Genuß erfahren.146 Mardonius erscheint somit als derjenige, der Julian schon von Kindheit an einen strengen Lebenswandel einprägt, der in Julians Augen dem philosophischen Lebensideal entspricht – das wird daran ersichtlich, daß er für die Charakterisierung seines Einflusses auf philosophische Tugenden zurückgreift. Dieser Lebenswandel wird mit der Begeisterung für die homerische Dichtung kombiniert, die Julian eine eigene, der Realität überlegene, Welt eröffnet. Diese Darstellung erklärt, warum Julian Mardonios in der Rede gegen Herakleios als Philosophen darstellt: sein Anliegen, ihm eine bestimmte moralische Praxis zu vermitteln, stimmt mit demjenigen der Philosophie überein, das in einem zweiten Schritt in diesem 144 Misopogon 21–23, 351b–353a. 145 Ich folge dabei LACOMBRADE 1964, 202, Anm. 1, der in dem δεινὸς γέρων aus 353 b einen der Philosophielehrer Julians sieht (Anm. 1, S. 206) (anders etwa F. L. MÜLLER 1998, 230, der darin immer noch Mardonius angesprochen sieht). Dafür sprechen eine Reihe von Gründen: zunächst einmal hätte man, wenn der schon erwähnte Mardonius wieder Gegenstand wäre, im Griechischen einen bestimmten Artikel oder irgendeine andere Form der Rückbezüglichkeit erwartet. Zum anderen heißt es, der betreffende δεινὸς γέρων hätte sich Julians jugendliche Begeisterung für die Literatur und Rhetorik zunutze gemacht und ihn für einen philosophischen Lebenswandel begeistert. Im folgenden geht es denn auch nur um Philosophie – es werden philosophische Maximen erwähnt und vor allem aus Platon zitiert. Das zeigt, daß es an dieser Stelle wohl eher um Julians auf den Rhetorikunterricht folgendes Philosophiestudium geht. Angesichts des überragenden Einflusses, den von allen Philosophielehrern Maximus von Ephesus auf Julian ausübte, könnte vermutet werden, daß Julian hier auf ihn anspielt. Vgl. dazu auch BOUFFARTIGUE 1992, 19–25. 146 Misopogon, 21–22, 351b–352a.
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Abschnitt durch den Hinweis auf den Unterricht des Maximus147 illustriert wird. Die Kontinuität zwischen seiner literarischen und moralischen Bildung durch Mardonius und dem Philosophieunterricht bei Maximus zeigt sich auch daran, daß Julian in diesem Passus die Wirkweise beider Lehrer mit demselben Terminus als „Umstimmen“ (ἀνέπεισεν)148 beschreibt. Die Beziehung des Mardonius zu Julian geht weit über die eines bloßen Literaturlehrers hinaus. Julian gedenkt in der Trostrede über die Abreise des Saloustios des tiefen Schmerzes, den er bei der Trennung von ihm verspürt habe.149 Wenn man Julians familiäre Umstände, vor allem seine Einsamkeit und die völlige charakterliche Verschiedenheit der beiden Brüder bedenkt, erscheint Mardonius als eine der wenigen Personen, bei denen Julian Liebe, Halt und moralische Orientierung findet150 – auf diesem Hintergrund bekommt auch der Literaturunterricht ein anderes Gewicht. Es wäre zu überlegen, ob Situationen solcher Art, wo Ideen an bestimmte prägende Persönlichkeiten gebunden erscheinen, nicht eine viel tiefere Bindung an diese Ideen hervorrufen als die bloße Lektüre. Julians nachhaltige Begeisterung für die homerische Götterwelt könnte daraus erklärbar sein. Ebenso könnte hier eine Wurzel seiner späteren Neigung zum blutigen Opferkult liegen.151 Im Hinblick auf die vor allem von Libanios und Eunapius betonte Rolle der neuplatonischen Philosophie als ausschlaggebendes Moment für die Konversion Julians erscheint es wichtig, daß Julian in diesen Darstellungen seines Werdeganges Literatur und Philosophie als eine Einheit darstellt. Er kennt keine Konversion von der Rhetorik zur Philosophie, wie sie etwa bei Augustin oder später bei Damaskios bezeugt ist.152 Über das Verhältnis von literarischer und rhetorischer Bildung einerseits und Philosophie andererseits wurde spätestens seit der radikalen Verwerfung der Bildung durch die Kyniker heftig debattiert. Vierzig Jahre nach Julian mußte sich Synesios noch vor seinen Kritikern verantworten, die ihm vorwarfen, daß seine Bemühungen um einen schönen Stil und die Beschäftigung mit den Dichtern ihn als Nichtphilosophen erwiesen.153 Julians Äußerungen sind somit programmatisch für sein Philosophieverständnis. Die besondere Bedeutung der klassischen Bildung für Julian tritt in seinen späteren Werken und Entscheidungen an den Tag. In seinen Werken weist er ihr oft eine religiöse, auf die wahre Erkenntnis vorbereitende Funktion zu. In der 147 148 149 150 151
Misopogon 24–25, 353b–354a. Für Mardonius Misopogon 22,352c; für Maximus 24, 353c. Or. IV 2, 241c. Vgl. ATHANASSIADI 1992a, 15 sowie BOUFFARTIGUE 1978, 29. Mardonios’ eigene religiöse Zugehörigkeit läßt sich nicht bestimmen; aufgrund der Tatsache, daß er schon seit Kindheit im christlichen Haushalt von Julians Großvater und Mutter großgeworden war, wird vermutet, daß er wahrscheinlich selbst Christ gewesen ist – aber dieser Schluß ist nicht zwingend notwendig. Vgl. dazu ATHANASSIADI 1992a, 18, Anm. 20. 152 Vgl. dazu Damaskios, Vita Isidori frg.137 ATHANASSIADI oder, Contra Academicos 3, De beata vita 1–5, De ordine 5. Die Tatsache, daß für Julian literarische bzw. rhetorische und philosophische Bildung fundamental zusammengehören, wird ausführlich von R. SMITH 1995, 23–48 dargelegt. 153 Siehe z. B. Synesios, ep. 154.
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Schrift Gegen die Galiläer spricht er von der reinigenden Wirkung der ἐγκύκλι‐ ος παιδεία, die auf die Erkenntnis des Göttlichen vorbereite.154 Eine ähnliche Stelle findet sich in einem seiner „Pastoralbriefe“, wo Julian behauptet, die jüdischen Propheten hätten ihren Gott deshalb nicht richtig erkennen können, weil sie ihre Seele nicht durch die ἐγκύκλια μαθήματα gereinigt hätten. Die jüdischen Propheten stünden den Dichtern daher bei weitem nach.155 Der Topos der Reinigung der Seelenaugen durch die artes liberales, die schon bei Platon das notwendige Präludium zur philosophischen Erkenntnis sind,156 wird hier zur Voraussetzung echter Gotteserkenntnis. Auch das vieldiskutierte Rhetorenedikt kann unter diesem Aspekt betrachtet werden. Im Jahre 362 erlassen, sieht es vor, daß Lehrer von zweifelhafter Moral vom Literatur- und Rhetorikunterricht auszuschließen seien. Wie Julian in einem Begleitbrief deutlich macht, sind damit vorrangig Christen anvisiert.157 Denn der Lehrer sollte nicht so sehr bestimmte Fertigkeiten vermitteln als vielmehr in erster Linie durch seinen Unterricht den Charakter seiner Schüler bilden. Darin spiegelt sich zum einen das philosophische Bildungsideal, wie es seit Platon in Auseinandersetzung mit dem Anspruch der Sophisten formuliert worden war. Zum anderen erinnert dieses Bild auch an Julians Beschreibung des Mardonius, so daß man davon ausgehen kann, daß die eigene Erfahrung dem philosophischen Topos neues Gewicht verleiht.158 Angesichts dieser Aufgabe darf der Lehrer unter keinen Umständen mit schlechtem Beispiel vorangehen und den Schülern Unehrlichkeit vorleben, zumal nicht in den wichtigsten Fragen, in Dingen der Glaubensüberzeugung. Julian betont, daß die religiösen Überzeugungen der alten Dichter und Schriftsteller kein bloßes Akzidens seien, von dem man bei der Analyse ihrer Werke absehen könnte – diese hätten ihr Schaffen ja selbst Schutzgottheiten wie den Musen oder Hermes unterstellt. Somit könnten die christlichen Literaturlehrer die heidnischen Klassiker nicht sinnvoll auslegen.159 Es ist auffällig, daß Julian mit dem Rhetorenedikt eine Sache in die Debatte zwischen Heiden und Christen rückt, die vorher nie ein brisantes Thema dieser Auseinandersetzung gewesen war. Heiden hatten Christen vorher nie von der paideia ausschließen wollen;160 ganz im Gegenteil bildete diese eine Sphäre, die Heiden und Christen gemeinsam durchliefen und die einen selbstverständlichen Teil ihres Lebens ausmachte, einen
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Contra Galilaeos 229c–d. Ep. 89b, 295d–296a. Politeia VII 533d, Sophist. 254a. Ob damit nur die öffentlichen Lehrstühle oder der gesamte, private wie öffentliche Lehrbetrieb gemeint war, ist nicht klar; PENELLA 1990, 92f. nimmt ersteres an. Zum Rhetorenedikt vgl. DOWNEY 1957, 97–103 sowie KLEIN 1981, die beide ausführlich auch die politische Dimension dieses Ediktes beleuchten. Ein Überblick über die verschiedenen Forschungspositionen zum Rhetorenedikt findet sich bei SARACINO 2002, 126–131. 158 Auch BELAYCHE 2001, 457–486, hier 470, sieht einen engen Zusammenhang zwischen Julians Erfahrungen mit seinen Lehrern und seinen Forderungen im Rhetorenedikt. 159 Julian, ep. 61, 422a–423d. 160 LIMBERIS 2000, 385f.
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Berührungspunkt zwischen den beiden Traditionen.161 Für Julian läßt sich jedoch die klassische Bildung nicht von ihrem religiösen Kontext trennen; eine rein kulturelle oder ästhetische Betrachtung der antiken Tradition gibt es für ihn jedenfalls in der Theorie, im Normativen, nicht.162 Libanios beschreibt diesen Sachverhalt treffend, wenn er betont, daß für Julian Literatur und der Kult der Götter Geschwister seien.163 Ganz im Zeichen der Bildung stehen auch die Darstellungen von Julians früher Jugend, die Libanios und Eunapius bieten. In seinen Panegyriken hebt Libanios Julians Bildungseifer hervor und betont, daß er schon durch sein Literatur- und Rhetorikstudium implizit in die Richtung der wahren Götter gelenkt worden
161 Illustriert wird dies z. B. durch Ammianus Marcellinus’ kopfschüttelnden Kommentar zum Edikt: „Illud autem erat inclemens, obruendum perenni silentio, quod arcebat docere magistros rhetoricos et grammaticos ritus Christiani cultores.“ (Amm. XXII 10,7). 162 Die Bildungskonzeption Julians ist z. B. dem Anliegen des Basileios von Caesarea, der Jugend einen religiös neutralen, ihre Religiosität nicht berührenden Umgang mit der klassischen Literatur zu ermöglichen, diametral entgegengesetzt. Vgl. ATHANASSIADI 1992a, 1–12, die einen Überblick über die verschiedenen Positionen im heidnischen und christlichen Lager zur Relation von klassischer Bildung und Religiosität gibt. Allerdings wäre zu fragen, ob diese hier normativ mit aller Schärfe ausgesprochene Einheit von paideia und Heidentum für ihn auch tatsächlich in der Praxis Geltung hatte. Er selbst macht ja zum Rhetorenedikt eine bezeichnende Ausnahme: der athenische christliche Rhetor Prohairesios, den Julian selbst während seiner Studien in Athen gehört hatte, darf weiterhin lehren, wie Hieronymus in seiner Chronik berichtet; allerdings habe er aus Solidarität zu den anderen Christen seine Stelle aufgegeben. Da es unwahrscheinlich ist, daß der Kirchenvater eine solche Nachricht, die Julian in ein besseres Licht stellt, erfunden haben würde, ist ihr wohl Glauben zu schenken. Julians Respekt für Prohairesios läßt sich auch aus einem Brief an diesen entnehmen, in dem er ihm vorschlägt, ihn mit Quellenmaterial für eine Geschichte seiner Taten zu versorgen. Eunapius’ Bericht, Prohairesios sei nach dem Edikt sofort seines Lehrstuhls enthoben worden, wäre damit eine etwas verkürzende Darstellung; Prohairesios’ Ablehnung würde dann auch Julians Groll auf ihn erklären, auf den Eunapius des öfteren anspielt. In der Praxis scheint Julian also durchaus auch Christen eine echte Aneignung bzw. Vertreten der Werte der klassischen paideia zuzuerkennen – jedenfalls solange sie nicht die Bildung dazu instrumentalisieren, als Christen gegen das Heidentum zu polemisieren. Vgl. allerdings auch den Brief an Photinus von Sirmium , den Julian für seine arianische Christologie im Vergleich zu der orthodoxen Lehrmeinung seines Gegners Diodor von Tarsos lobt. In diesem Brief läßt Julian seiner Entrüstung über den Missbrauch der paideia durch Diodor freien Lauf: „Iste enim malo communis utilitatis Athenas navigans et philosophans inpudenter musicarum participatus est rationum et rhetoricis confictionibus odibilem armavit linguam adversus caelestes deos“ (ep. 79). Es geht um eine ähnliche Entrüstung und um ähnliche Vorwürfe wie die des Porphyrios gegen Origenes, der als Grieche erzogen zum Christentum abfällt und die bei den Philosophen erlernten Methoden der allegorischen Auslegung auf die unwürdigen Texte der Bibel anwendet (s. dazu LABRIOLLE 1948, 263ff). Die Frage stellt sich, ob der Konfliktpunkt nicht erst dann erreicht ist, wenn die Christen paideia bewußt mit ihrem religiösen System kombinieren und in dessen Dienst stellen – wie etwa bei Origenes oder den Kappadokiern. Dafür würde sprechen, daß jemand, der die Rhetorik wie Prohairesios in traditioneller Manier ohne Bezugnahme auf religiöse Fragen betreibt, von Heiden wie Julian oder auch Eunapius durchaus als ein würdiger Vertreter der klassischen hellenischen Bildung angesehen wird. Siehe aber auch die Interpretation von GOULET 2001a, der Prohairesios als Heiden ansieht. 163 Or. XVIII 157: ὁ δὲ νομίζων ἀδελφὰ λόγους τε καὶ θεῶν ἱερά (...).
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wäre.164 Julians Streben nach Bildung über das Schulalter hinaus zeige seine edle Natur, da er aus eigenem Antrieb die ihm durchaus zu Gebote stehenden weltlichen Freuden verschmäht und wie Herakles den „rauhen und steilen Weg“ zur geistigen Vollkommenheit antritt.165 Libanios’ Darstellung gipfelt jedesmal in der Entdeckung der Philosophie und der endgültigen Konversion zum Heidentum.166 Streben nach innerer charakterlichen Vollkommenheit, Wissen und Erkenntnis sowie die religiöse Formung der Persönlichkeit erscheinen bei Libanios somit als Facetten eines einzigen Prozesses. Wie bei Julian ist die paideia mehr als rein technisches Können, als Erwerb von bestimmten Fähigkeiten im Umgang mit Texten und von Redegewandtheit. Sie ist Mittel zur Persönlichkeitsbildung und hat deshalb u. a. die Fähigkeit und die Aufgabe, religiöse Bildung zu vermitteln.167 Expliziter als Julian beschreibt Libanios dessen Weg zum Heidentum als einen Prozeß der paideia, durch den Literaturunterricht unbewusst ausgelöst und in der Begegnung mit der Philosophie gipfelnd. Eine starke Dosis Eigeninteresse mag bei dieser Darstellung des Rhetors eine gewisse Rolle gespielt haben. Entsprechend steht bei Eunapius, den vor allem die Zugehörigkeit zum selben philosophischen Kreis mit Julian verbindet, zwar auch die wahre paideia im Mittelpunkt der Juliandarstellung. Nur setzt er der dürftigen christlichen paideia, die Julians geistiger Größe nicht genügen kann, nicht die literarische und rhetorische Bildung, sondern die Philosophie entgegen, welche Julian in Pergamon kennenlernt.168
164 165 166 167
Or. XIII,1, XII, 27. Or. XII 27–32. Or. XIII 12, Or. XII,33. Interessanterweise zieht Libanios aus dieser Auffassung jedoch nicht dieselben praktischen Konsequenzen wie Julian. Libanios feiert in seinen Reden die Wiederherstellung des alten Kultes und lobt Julian dafür. Während es nun Julian konsequent erschien, die Stellung des Heidentums durch das Rhetorenedikt zu festigen, fehlt darauf jegliche Anspielung bei Libanios, obwohl aufgrund von dessen Vorstellung von der Einheit von Kultur und Götterverehrung eine lobende Stellungnahme erwartet werden könnte. Libanios verschweigt jedoch diese Maßnahme völlig, was nur als verhaltene Ablehnung gedeutet werden kann. S. dazu auch WIEMER 1995, 109f. 168 VS VII 1,6–8.
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3.5. DIE BEGEGNUNG MIT DER PHILOSOPHIE 3.5.1. Julians Beschäftigung mit der Philosophie vor 351 Julians Philosophiestudium in Kleinasien ist nicht sein erster Kontakt mit der Philosophie. Schon in Macellum scheint er durch die Bibliothek des kappadokischen Bischofs Georgios, die neben rhetorischen, theologischen und historischen Werken durchaus auch philosophische Schriften enthielt, die Julian sich zum Abschreiben auslieh, mit der Philosophie, wenngleich nur theoretisch, in Kontakt gekommen zu sein. Gregor von Nazianz erwähnt die Beschäftigung mit den ἐκ τῆς φιλοσοφίας δογμάτων in Macellum als Anfang vom Ende, als wichtigen Impuls für die Annäherung an das Heidentum, die er allerdings erst in Asien in der „Schule der Gottlosigkeit“ tatsächlich vollzogen habe.169 Zwar läßt sich aus Julians Briefen philosophische Lektüre für diese Zeit belegen; über ihre Wirkung auf ihn läßt sich jedoch nur spekulieren, so daß daraus keine Schlüsse über seine Konversion gezogen werden sollten. 170 Allerdings war Julian der Philosophie nicht nur in Buchform begegnet. In seinem Brief an Themistios erwähnt er, daß er unter dessen Anleitung Platons Nomoi studiert hatte.171 Diese Studien sind zwischen Macellum und Nikomedien anzusetzen, da Themistios 348/49 einen Philosophielehrstuhl in Konstantinopel innehatte.172 Julians Philosophiestudien hatten somit schon vor 351, parallel mit seinen Rhetorik- und Literaturstudien angefangen; der Besuch der neuplatonischen Schule in Pergamon stellt somit nur einen, wenngleich entscheidenden Studienabschnitt, dar. Dies zeigt, daß für Julian Philosophie und Christentum zunächst keine Gegensätze waren. Er hatte philosophische Schriften durch die Vermittlung eines sie offensichtlich schätzenden Bischofs kennengelernt und hatte dann bei einem von Konstantius hoch geschätzten, wenngleich heidnischen, Philosophen studiert. Auch Konstantius, der Julians Studien in Kleinasien gestattete und nicht in sie eingriff, scheint die Philosophie, selbst den pergamenischen Neuplatonismus, nicht als heidnisches Gegenstück zum Christentum aufgefaßt zu haben. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß Jamblich und seine Schüler nach außen hin neutral erschienen und offensichtlich nicht ihren heidnischen Charakter betonten. Julians Konversion zum Heidentum war somit nicht schon durch seine Lehrer- und Studienortswahl vorgezeichnet.173 Allerdings erscheint in allen Quellen die Zeit in Kleinasien als ausschlaggebendes Moment bei der Hinwendung Julians zum Heidentum. Für Julian hat sie, 169 Or. IV 30f. Siehe auch ep 106, 411c–d und 107, 377d–378c von Julian über die Bibliothek von Georgios. 170 Vgl. z. B. die widersprüchlichen Einschätzungen von BROWNING 1976, 44f, der diese Lektüre in Zusammenhang mit einer religiösen Krise bringt, und R. SMITH 1995, 25f., der das Ausmaß solcher Selbststudien eher herunterspielt. 171 Brief an Themistios 5, 257d. 172 R. SMITH 1995, 27. 173 Vgl. GEFFCKEN 1914, 15 und SEECK 1966, 214.
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wie im weiteren auszuführen sein wird, über diesen religiösen Moment hinaus bleibende Bedeutung für seine Lebensweise und sein Selbstverständnis. Bis zu seinem Tod stellt er sich als Philosoph dar und umgibt sich mit Philosophen als engsten Beratern. Diese Zeit und ihre Folgen sollen nun nach einer Skizze des philosophischen Milieus, in dem sich Julian bewegt, untersucht werden. 3.5.2. Der pergamenische Neuplatonismus Die pergamenische neuplatonische Tradition läßt sich direkt auf Jamblich zurückführen. Dessen Schülerkreis zerstreut sich nach seinem Tod; einige seiner Schüler gehen in die Politik. Jamblichs geistige Nachfolge als Lehrer der Philosophie scheint nur von seinem Schüler Aidesios angetreten worden zu sein, der sich in Pergamon niederläßt. Er ist noch am Leben, als Julian mit dem Philosophiestudium beginnt, verweist jedoch den jungen Prinzen mit dem Hinweis auf seine schwache Gesundheit an seine „rechtmäßigen Söhne“, seine Schüler Eusebios von Myndos, Chrysanthios von Sardes, Priscus und – last but not least – Maximus von Ephesus.174 Prosopographisch gesehen tritt Julian somit in die direkte jamblicheische Schultraditionskette. Wie im Eingangskapitel dargestellt wurde, hat PRAECHTER die These aufgestellt, daß die pergamenische Schule eine extreme Ausprägung der Lehre Jamblichs bilde, die einseitig nur das wunderbare Element, das theurgische Ritual, suche und weniger an spezifisch philosophischen Theorien interessiert sei.175 Für die Rekonstruktion der Konversion Julians und die Frage nach der Relation von Philosophie und religiösen Traditionen ist gerade dieser Punkt von besonderer Bedeutung. Lernt er die Philosophie nur als theurgischen Neuplatonismus kennen, so daß die Bekehrung zur Philosophie letztlich automatisch eine Bekehrung zum Heidentum einschließt? Schon die vielseitige Persönlichkeit Jamblichs – theoretischer Philosoph, Kommentator philosophischer Klassiker, Seelsorger, heiliger Mann und Theurg – läßt vermuten, daß im Kreise seiner Schüler verschiedene Tendenzen und Interessen geherrscht haben könnten. Diese verschiedenen Tendenzen hat FOWDEN bei Jamblichs Schülern nachgezeichnet und gezeigt, daß sich nicht einmal in Pergamon verallgemeinernd von einer irrationalen und unreflektierten Wundersucht sprechen läßt.176 Für Aidesios selbst lassen sich – anders als bei anderen Jamblichschülern wie etwa dem wegen Schadenzaubers angeklagten und hingerichteten Sopatros – keinerlei theurgische Interessen belegen. Eunapius schreibt über ihn, daß er Jamblich kaum nachgestanden habe, mit Ausnahme der göttlichen Inspiration (θειασμός).177 Diesbezüglich habe er nichts über Aidesios in Erfahrung bringen können, was er zum einen mit Aidesios’ eigener Vorsicht aufgrund der für das Heidentum ungünstigen politischen Lage und zum anderen mit der 174 175 176 177
Eunapius VS VII 1,13–14. PRAECHTER 1973b, 177–179. FOWDEN 1979, 101. VS VI 1,4.
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Neigung seines Kreises zur Geheimhaltung solcher göttlichen Dinge erklärt. Es ist bezeichnend, daß Aidesios in der weiter oben referierten Anekdote über Jamblichs hellseherische Fähigkeiten, die ihn einen vorausgegangenen Leichenzug ankündigen lassen, zu denen gehört, die nicht gleich dem Meister folgen, sondern nach einem Beweis suchend die Straße weitergehen, bis sie tatsächlich auf den Leichenzug stoßen. Aufschlußreich ist auch die Gegenüberstellung Aidesios’ und seiner Bekannten Sosipatra, die zur gleichen Zeit in Pergamon als Philosophin wirkte. Deren Kindheitserzählung bei Eunapius geht ins Märchenhafte; sie soll in die chaldäischen Mysterien initiiert gewesen sein178 und zeichnet sich vor allem durch divinatorische Fähigkeiten aus. Ihr exaltierter Philosophieunterricht konkurriert mit dem seinigen: nach Aidesios’ Vorlesungen, der für die Stringenz seiner Argumentation und seiner Lehren bewundert wird, strömen die Studenten zu ihr, voller Verehrung für ihre göttliche Inspiration (ἐνθουσιασμός).179 Diese Gegenüberstellung läßt vermuten, daß Aidesios weniger als gottbegeisterter Theurg, sondern vielmehr als Philosoph im engeren Sinne, ähnlich wie Porphyrios oder Plotin, anzusehen ist. Dennoch war er ein vertrauter Schüler Jamblichs. Auch sein engerer Schülerkreis weist verschiedene Tendenzen auf.180 Nach dem Bericht von Eunapius ist Eusebios von Myndos, der anfängliche Lehrer Julians, stark rationalistisch geprägt. Sein Ziel ist die Läuterung der Seele durch die Vernunft. Die theoretische Unterweisung vermittle das eigentlich Wahre, während die theurgischen Praktiken nur trügerische Gauklerstückchen seien, die mit den niedersten Kräften der Materie operierten.181 Anders Chrysanthios von Sardes, ein weiterer Lehrer Julians, der mit seinem Kollegen Maximus von Ephesus das Ideal des θειασμός, der Durchdringung der Seele mit göttlicher prophetischer Inspiration, hochhält.182 Chrysanthios steht dabei nach Eunapius in erster Linie in der neupythagoreischen Tradition.183 Er erreicht eine solche Stufe der Vollkommenheit, daß er die Zukunft untrüglich voraussehen kann – nach Eunapius ein Indiz für seine Nähe zu den Göttern.184 Er beherrscht die Kunst, Opfer darzubringen und deren Vorzeichen nach verschiedenen Methoden zu interpretieren.185 Hier läßt sich eine gewisse Abweichung zu Jamblichs Mantikvorstellung sehen, der die Opferschau zur menschlich-technischen, niederen Form der Mantik zählte.186 Dennoch ist festzuhalten, daß auch bei Chrysanthios der traditionelle philosophische Unterricht und das traditionelle philosophische Leben durchaus eine wichtige Rolle spielen. Eunapius berichtet, daß ihn Chrysanthios zwar schon seit seiner Kindheit unterrichtet, aber ihm erst nach zwanzig Unterrichtsjahren in die ἀληθέστερα – dem Kontext nach die jamblicheischen Lehren zum θειασμός – 178 179 180 181 182 183 184 185 186
VS VI 7. VS VI 9,2. Vgl. FOWDEN 1979, 97–99, BOUFFARTIGUE 1992, 43, CRISCUOLO 2001, 378f. VS VII 2,3 und 7. VS VII 2,1: ἦν δὲ ὁ Χρυσάνθιος ὁμόψυχος Μαξίμῳ, τὰ περὶ θειασμὸν συνενθουσιῶν (...). VS XXIII 1, 8. VS XXIII 1,9–10. VS XXIII 4, 7. Vgl. De myst. III.
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eingeweiht habe.187 Chrysanthios selbst war von Aidesios zuerst in den Schriften von Platon und Aristoteles unterwiesen worden188 – es liegt nahe anzunehmen, daß diese auch die Basis seines Unterrichtes bildeten. Somit läßt sich festhalten, daß in der pergamenischen Tradition die Theurgie neben dem herkömmlichen Unterricht eine mögliche aber nicht notwendige Option war. Das heidnische Element wird ebenfalls zumindest im konventionellen Unterricht keine große Rolle gespielt haben. Allerdings besteht aufgrund der starken individualistischen Tendenz des Neuplatonismus die Möglichkeit, sich gerade solchen Lehrerpersönlichkeiten anzuschließen, die in ihrer Person beides, Theurgie und Philosophie, vereinigen. Eine solche ist Maximus von Ephesus, der in Julians Leben eine entscheidende Rolle spielen sollte.189 Eunapius widmet ihm das siebte Kapitel seiner Viten und beschreibt ihn als äußerst impulsive und selbstsichere Persönlichkeit. Er hatte ihn in seiner Jugendzeit einmal selbst erlebt und beschreibt anschaulich sein charismatisches Auftreten: Seine Pupillen waren irgendwie geflügelt, ein grauer Bart wallte herab, die Augen ließen die Bewegungen der Seele deutlich erkennen. Und ein gewisses Harmoniegefühl befiel sowohl den Zuschauer als auch den Hörer, und durch beide Sinne wurde derjenige, der mit ihm zusammen war, in betäubtes Erstaunen versetzt, da er weder die schnellen Augenbewegungen noch den Fluß der Argumente ertragen konnte. Aber auch wenn sich einer der erfahrensten und gewandtesten mit ihm unterhielt, wagte dieser es nicht, Maximus zu widersprechen, sondern allmählich gaben sie sich selbst preis und folgten dem Gesagten als käme es vom Dreifuß herab; so großer Liebreiz saß auf seinen Lippen.190
Eunapius portraitiert Maximus fast als zweiten Sokrates, der seine Zuhörer in den Bann schlägt. Das Ideal des griechischen Philosophen ist in ihm verwirklicht: tiefes Wissen kombiniert mit einem gefälligen Stil und einem gewinnenden Aussehen; die Weisheit und innere Schönheit des Philosophen strahlen sichtbar nach außen. Allerdings ist zu beachten, daß diese Verbindung von innerer und äußerer Schönheit ein Topos ist, den Eunapius auch für andere herausragende Persönlichkeiten wie etwa Prohairesios oder Chrysanthios verwendet.191 Wie Chrysanthios, Priscus und Eusebios von Myndos wird Maximus unter die besten und vertrautesten Schüler des Jamblichschülers Aidesios gerechnet. Zusammen mit Chrysanthios steht er für einen dezidiert theurgischen Neuplatonismus. Allerdings ist er nicht einseitig als Thaumaturg oder antiker Rasputin anzusehen. Bezeichnenderweise hat er keine theurgischen oder theologischen
187 188 189 190
VS VI 1,6. Eunapius VS XXIII 1,8. Zur Rekonstruktion des Lebens und Werkes von Maximus vgl. PRAECHTER 1930. VS VII 1,1–3: τῷ δὲ καὶ πτηναὶ μέν τινες ἦσαν αἱ τῶν ὀμμάτων κόραι, πολιὸν δὲ καθεῖτο γένειον, τὰς δὲ ὁρμὰς τῆς ψυχῆς διεδήλου τὰ ὄμματα. καὶ ἁρμονία γέ τις ἐπῆν καὶ ἀκούοντι καὶ ὁρῶντι, καὶ δι’ ἀμφοῖν τῶν αἰσθήσεων ὁ συνὼν ἐπλήττετο, οὔτε τὴν ὀξυκινησίαν φέρων τῶν ὀμμάτων, οὔτε τὸν δρόμον τῶν λόγων. ἀλλ’ οὐδὲ εἴ τις τῶν ἐμπειροτάτων πάνυ καὶ δεινῶν διελέγετο πρὸς αὐτὸν, ἀντιλέγειν έτόλμα, ἀλλ’ ἡσυχῆ παραδόντες αὑτούς, τοῖς λεγομέμοις ὥσπερ ἐκ τριπόδων εἵποντο· τοσαύτη τις ἀφροδίτη τοῖς χείλεσιν ἐπεκάθητο. 191 Vgl. dazu FOWDEN 1979, 288–291.
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Werke, sondern Kommentare zu Aristoteles geschrieben. 192 Sein Philosophieunterricht steht Christen wie Heiden offen und führt nicht notwendig zu einer Konversion. Der spätere Bischof der novatianischen Gemeinde von Konstantinopel, Sissinos, soll bei ihm studiert haben.193 Die Anekdoten, die Eunapius über Maximus berichtet, lassen zwei markante Züge an ihm hervortreten – zum einen seine theurgischen Fertigkeiten, zum anderen eine wenig glückliche persönliche Veranlagung, geprägt durch Trotz und Arroganz. Seine Darbietung im Hekataion, wo er vor seinen Kollegen die Statue der Göttin durch Weihrauchopfer und Inkantationen zum Lächeln und ihre Fakkeln zum Lodern bringt, veranlaßt Eusebios von Myndos zu heftiger Kritik.194 Eunapius benutzt explizit den Begriff „Theurgie“ für Maximus.195 Sein Verständnis dieser Disziplin differiere laut Eunapius stark von Chrysanthios’ Verständnis, wie ihre Reaktion auf die Einladung an Julians Hof zeigt. Die beiden befragen die Götter; die Vorzeichen fallen denkbar ungünstig aus. Chrysanthios respektiert die Meinung der Götter und entscheidet sich abzusagen. Nicht so Maximus: „Mein lieber Chrysanthios“, sprach er, „du scheinst aber die Bildung, in der wir unterwiesen worden sind, gänzlich vergessen zu haben, nämlich, daß es sich für die besten unter den Griechen, die auch in diesen Dingen unterwiesen worden sind, ziemt, nicht bedingungslos den zuerst widerfahrenden Vorzeichen zu weichen, sondern die Natur des Göttlichen zu zwingen, bis sich diese zum Verehrer neige.“196
Nach langen wiederholten Versuchen erlangt Maximus endlich die gewünschten Vorzeichen; er begibt sich nach Konstantinopel und wird zur bestimmenden Persönlichkeit des Hofes. Diese herausragende Stellung habe Maximus überheblich werden lassen; er habe den rauhen Philosophenmantel für ein üppigeres Gewand aufgegeben und sei bei Audienzen hart und unfreundlich aufgetreten.197 Dadurch habe er sich äußerst unbeliebt gemacht, was sich nach Julians Tod bitter gerächt habe – unter Jovian unbehelligt, sei er zusammen mit Priscus als Julians Mitarbeiter von Valentinian und Valens verfolgt worden. Priscus, der auch am Hofe bescheiden und besonnen gelebt und niemandem Grund zur Beschwerde gegeben habe, habe nach Griechenland zurückkehren dürfen, während Maximus, gegen den allgemein geklagt worden sei und der zudem Valentinians Groll auf sich gezogen hätte, indem er ihn bei Julian des Religionsfrevels bezichtigt hätte,198 eine schwere, schier unbezahlbare Geldstrafe auferlegt worden sei. Er sei nach Klein192 Vgl. PRAECHTER 1930, 2566ff. sowie ROSEN 1997, 130. 193 Sokrates, Kirchengeschichte V 21,1f; Sozomenos VII 12,4 und VIII 1,9. Vgl. ROSEN 1997, 130. 194 VS VII 2,7–11. 195 VS VII 6,2. 196 VS VII 3,12: ἀλλ’ ἐπιλελῆσθαί μοι δοκεῖς, εἶπεν, ὦ Χρυσάνθιε, τῆς παιδείας ἣν ἐπαιδεύθημεν, ὡς τῶν ἄκρων γέ ἐστιν Ἑλλήνων καὶ ταῦτα πεπαιδευμένων μὴ πάντως εἴκειν τοῖς πρώτως ἀπαντήσασιν, ἀλλ’ ἐκβιάζεσθαι τὴν τοῦ θείου φύσιν ἄχρις ἃν ἐπικλίνῃ πρὸς τὸν θεραπεύοντα. 197 VS VII 4,1–2. Eunapius bemüht sich sofort, seinen Helden Julian zu retten, indem er versichert, dieser habenichts davon gewußt. Zum kynischen τρίβων des Maximus vgl. Julian, ep. 26. 198 PRAECHTER 1930, nach Zosimos IV 2, 1f.
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asien zurückgekehrt, um das Geld zu besorgen, und dort von den Behörden aufs schwerste mißhandelt worden, so daß er Selbstmordgedanken gehegt habe. Der neue Statthalter von Asia, Klearchos, habe ihn aus dieser Lage gerettet, ihm zu seinem Besitz zurückverholfen und sei sein Schüler geworden, so daß alle in ihm den zweiten Julian für Maximus gesehen hätten. Maximus habe daher eine zweite Blütezeit erlebt und habe sich wieder fatalerweise in die Hauptstadt gewagt, wo er öffentliche Vorträge gehalten und allenthalben ängstliche Bewunderung wegen seiner Erfahrung in der Theurgie und seiner Redegewandtheit genossen habe. Seine theurgischen Fähigkeiten bringen ihn zu Fall: eine Konspiration gegen Valens legt ihm ein privates Orakel zur Deutung vor. Auf diese Weise unfreiwillig zum Mitwisser des Komplotts geworden, wird er verhaftet und schließlich hingerichtet.199 Eunapius schildert sein standhaftes Verhalten im Prozeß als regelrechtes heidnisches Martyrium.200 Eunapius kann sich der Bewunderung für Maximus nicht erwehren, hebt aber deutlich die negativen Züge an ihm hervor – Hochmut und Geltungssucht, die ihn wider den Willen der Götter handeln und bei vielen unbeliebt werden lassen. Damit verfolgt er eine klare Absicht – er selbst ist langjähriger Schüler und Freund des Chrysanthios, der sonst ganz im Schatten des Maximus steht, und will beweisen, daß sein Lehrer der echtere Philosoph sei, der seine tiefe Weisheit und umfassende Bildung bescheiden verborgen habe und den Göttern in allen Dingen gefolgt sei. Auch wenn Maximus zur entscheidenden Gestalt für Julian geworden sei, sei er deshalb Chrysanthios in keinster Weise überlegen; gerade in der Zurückweisung der politischen Betätigung und im bescheidenen Privatleben liege Chrysanthios’ große Überlegenheit. Dennoch wird aus seiner Vita deutlich, welche überragende Bedeutung Maximus für Julian hatte: „er ward gewürdigt, der Lehrer Kaiser Julians zu werden“. 201 Dies wird weder von Eusebios noch von Chrysanthios gesagt, wenngleich Julian auch an ihrem Unterricht teilgenommen hat. Julians Briefe an Maximus zeugen ebenfalls von einer besonders engen Bindung an seinen Lehrer und von überschwenglicher Verehrung.202 Maximus’ Bedeutung für Julian wird von anderen Quellen bestätigt. So lobt Libanios in einem Brief Maximus als Erzieher Julians; der Kontext legt es nahe, daß er hierbei vor allem die religiöse Wende im Blick hat.203 Mit dem Brief reagiert Libanios auf die Nachricht von Julians Reise nach Antiochien. Die darin ausgedrückte überschwengliche Begeisterung für Maximus wird daher höchstwahrscheinlich taktisch motiviert gewesen sein; der Brief beweist somit indirekt den Einfluß, den Maximus am Hofe Julians genießt. Julians religiöse Wende prägt auch Libanios’ weitere Darstellungen des Maximus in den julianischen Reden: er erscheint als der „Arzt“, der Julians verwirrten Sinn geheilt und ihn zur Erkenntnis der wahren
199 VS VII 6,2–13. Eine knappere Darstellung gibt Amm. XXIX 1, 42. 200 VS VII 6,5–9; vgl. dazu WIEBE 1985, 215. 201 VS VII 1,5: Ἰουλιανοῦ δὲ τοῦ βασιλεύσαντος ἠξιώθη γενέσθαι διδάσκαλος. Vgl. dazu GEFFCKEN 1914, 15f. 202 S. ep. 26. 203 Ep.694 FOERSTER.
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Götter trotz des damit verbundenen Risikos geführt habe.204 Ammianus Marcellinus hebt nicht so sehr seinen religiösen, als vielmehr seinen allgemein bildenden Einfluß auf Julian hervor: aufgrund seiner immensen Bildung habe er ihm einen reichen Wissensschatz vermittelt.205 Sowohl Libanios als auch Ammianus beschreiben eine bezeichnende Episode, die Julians Verehrung für Maximus illustriert: auf die Nachricht hin, Maximus sei in Konstantinopel eingetroffen, sei Julian mitten in einer Senatssitzung aufgesprungen aus dem Saal gelaufen, habe Maximus stürmisch umarmt und geküsst und ihn dann in den Senatssaal geführt. Laut Libanios soll er, Maximus’ Hand haltend, öffentlich erklärt haben, wie ihn Maximus verändert habe.206 Libanios interpretiert diese Szene in seinem Epitaphios als Versuch, die Würde der Bildung und Philosophie öffentlich zu unterstreichen, während Ammianus es als völlig deplaziertes, unkaiserliches Verhalten kritisiert.207 3.5.3. Julians Aussagen zu seinem Philosophiestudium: Bekehrung zur Philosophie und Entdeckung der alten Götter Angesichts der Bedeutung, die Julians Konversion zum heidnischen Kult für das Römische Reich hatte, ist es auffällig, daß Julian selbst sie in seinen Schriften nur andeutungsweise thematisiert und sie nicht als prägendes Ereignis für seine geistige Entwicklung beschreibt. Im Gegensatz dazu hebt er wiederholt den entscheidenden Einfluß der Philosophie hervor. Deutlich wird dies etwa in der schon erwähnten Rede gegen Herakleios, wo Julian seinen Weg zur Philosophie über die Literatur skizziert. Die Begegnung mit der Philosophie erscheint hier an die Begegnung mit einem besonderen Lehrer – Maximus von Ephesus – geknüpft: Dieser lehrte mich vor allen Dingen, mich in der Tugend zu üben und die Götter als die Führer zu allem Edlen anzusehen. Ob er nun irgendeinen Fortschritt erzielt hat, dürfte er selbst wissen und vor ihm natürlich die Herren Götter. Er versuchte beständig, das Manische und Vorwitzige an mir auszumerzen und mich besonnener zu machen, als ich war. Obwohl ich nun, wie du weißt, von den äußeren Vorteilen beflügelt war, unterstellte ich mich dennoch dem Führer und dessen Freunden und den Altersgenossen und Kommilitonen, und ich eilte, bei denjenigen zu hören, die ich ihn loben hörte, und ich las alle Bücher, die er für gut befand.208
204 Or. XII, 34; vgl. auch Or. XIII,12. 205 Amm. XXIX 1,42: Maximus ille philosophus, vir ingenti nomine doctrinarum, cuius ex uberrimis sermonibus ad scientiam copiosus Iulianus exstitit imperator (…). 206 Libanios, Or. XVIII 155f., Ammianus XXII 7, 3–4. Vgl. dazu STAESCHE 1998, 189ff. 207 Amm. XXII 7,3. 208 Or. VII 23, 235b–c: Ὁ δέ με πρὸ πάντων ἀρετὴν ἀσκεῖν καὶ θεοὺς ἁπάντων τῶν καλῶν νομίζειν ἡγεμόνας ἐδίδασκεν. Εἰ μὲν οὖν τι προὔργου πεποίηκεν, αὐτὸς ἂν εἰδείη καὶ πρὸ τούτου γε οἱ βασιλεῖς θεοί· τουτὶ δὲ ἐξῄρει τὸ μανιῶδες καὶ θρασύ, καὶ ἐπειρᾶτό με ποιεῖν ἐμαυτοῦ σωφρονέστερον. Ἐγὼ δὲ, καίπερ, ὡς οἶσθα, τοῖς ἔξωθεν πλεονεκτήμασιν ἐπτερωμένος ὑπέταξα ὅμως ἐμαυτὸν τῷ καθηγεμόνι καὶ τοῖς έκείνου φίλοις καὶ ἡλικιώταις καὶ συμφοιτηταῖς, καὶ
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Die Verwendung von Mysterienterminologie für die Philosophie, seit Platon eine gängige Metapher,209 könnte erwarten lassen, daß Julian auf den religiösen Aspekt des Neuplatonismus anspielt, etwa auf die theurgische Initiation in die seit BIDEZ vielbeschworenen „neuplatonischen Mysterien.“ Julian legt jedoch im folgenden den Akzent auf den ethischen Aspekt des Unterrichtes. Maximus habe ihn gelehrt, sich in der Tugend zu üben; er habe versucht, Julian das philosophische Ethos der Besonnenheit und Mäßigung zu vermitteln und das „Manische und Vorwitzige“ an ihm auszumerzen. Neben dieser praktischen Dimension des Studiums wird auch die theoretische greifbar, wenn Julian andeutet, alle von Maximus empfohlenen Bücher gelesen und Vorträge aller von Maximus geschätzten Philosophen gehört zu haben. Der Passus zeigt die starke affektive Bindung Julians an seinen Lehrer. Er habe sich trotz seines hohen Ranges völlig Maximus untergeordnet. Diese enge Lehrer-Schüler-Beziehung ist laut FOWDEN das typische Strukturprinzip bzw. Kohäsionsprinzip neuplatonischer Philosophenkreise. Im Falle Julians dauert sie sein ganzes Leben an: Maximus gehört zu denen, die in Persien an seinem Sterbebett stehen und mit denen er sich – nach Ammianus – über die himmlische Natur der Seele unterhält.210 Julian hat jedoch nicht nur einen καθηγεμών, einen spirituellen Führer, gefunden, sondern auch eine greifbare Gemeinschaft Gleichgesinnter; er beschreibt seine Integration in den Kreis von Philosophen und Studenten um Maximus. Zwar ist eine solche neuplatonische „Gemeinde“ äußerlich nur lose strukturiert, sie vermittelt aber nichtsdestotrotz das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Zugehörigkeit zur höchsten Stufe der Bildung und einem besonderen, dem höchsten, bios. Dieser Gemeinschaft wird sich Julian zeitlebens zugehörig fühlen; er erhält die Beziehungen zu seinen Lehrern und Kommilitonen in Gallien durch Korrespondenz aufrecht211 und ruft seine Lehrer später als Berater an seinen Hof.212 Doch seine Kontakte beschränken sich nicht nur auf die Lehrer, wie ein Brief an Theodoros, den designierten Oberpriester der Asia, zeigt. Nach eigenen Angaben schreibt Julian an ihn in einem informell-persönlicheren Ton als an die anderen Priester, da dieser ihm näher stehe als sie. Beide hätten bei demselben καθηγεμών studiert, und Julian habe ihn, als er noch in Gallien weilte, zu seinen Freunden gezählt, einzig und allein weil Maximus ihn schätzte.213 Die beiden scheinen sich nie persönlich begegnet zu sein; die bloße Zugehörigkeit zur Schülerschaft des Maximus begründet schon für Julian ihre besondere Beziehung.214
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ὧν ἤκουον ἐπαινουμένων παρ’ αὐτοῦ, τούτων ἔσπευδον ἀκροατὴς εἶναι, καὶ βιβλία ταῦτα ἀνεγίγνωσκον, ὁπόσα αὐτὸς δοκιμάσειεν. S. Platon, Phaidros 249c. Platons Gebrauch dieser Metaphorik wird bei RIEDWEG 1987, 1–69 analysiert. Amm. XXV 3, 23. S. ep. 8, 11, 12, 13. Vgl. Eunapius, VS VII 3, 9–4,7. Ep. 89a, 452a. Ep. 89a, 452b. Ein ähnlicher Fall findet sich in der Korrespondenz des Synesios, wo dieser seiner Lehrerin Grüße an alle neuen Studenten aufträgt, die er zwar nicht kenne, mit welchen er aber als Schüler der Hypatia verbunden sei (Ep. 16, GARZYA/ROQUES 27).
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Die Stelle enthält außerdem noch ein weiterführendes Indiz. Maximus soll ihm neben der Tugend auch die Götter als Führer zu allem Edlen nahegebracht haben. Dies könnte als Hinweis darauf interpretiert werden, daß seine Bekehrung zum Glauben an die alten Götter mit Maximus’ Unterweisung zusammenhängt,215 zumal die Formulierung stark an den Prolog von Jamblichs Vita Pythagorica erinnert, einem Werk, das gerade für den propädeutischen Unterricht konzipiert war.216 Für diese Interpretation spricht auch der weitere Kontext der Passage: Julian reagiert auf die Mißachtung der Götter durch den Kyniker Herakleios mit dem Hinweis auf seinen eigenen, richtigen, Weg zur Philosophie, indem er u. a. deutlich macht, daß ein edles, tugendhaftes Leben – das oberste Ziel der Kyniker – nur mit der Hilfe der Götter erreichbar sei.217 Jedoch ist festzuhalten, daß die Bekehrung zu den heidnischen Göttern nur leicht angedeutet wird, während die Bekehrung zu einem philosophischen Leben und einer Philosophengemeinschaft im Mittelpunkt steht. Die Verbindung von religiöser Konversion und philosophischer Selbstdisziplinierung charakterisiert den Passus aus dem Hymnus auf die Göttermutter, der oben als Beleg für Julians christliche Sozialisation behandelt worden ist. Julian bezeugt dort, daß er früher zusammen mit den Christen über die Gebote des Kybele-Kultes gespottet habe. Jetzt scheine er als einziger den Göttern und insbesondere der Göttermutter für seine Errettung aus dieser Finsternis Dank zu wissen.218 Seine Errettung aus der „Finsternis“ beschreibt er in zwei Schritten, einem moralischen und einem theoretischen. Die Göttermutter fordert ihn zunächst auf, seine Seele zu ordnen, indem er mit Hilfe der „intellektualen Ursache, die den menschlichen Seelen substantiell vorangeht“ die überflüssigen und nutzlosen unvernünftigen Regungen der Seele beschneide. Erst nach dieser philosophischen Selbstdisziplinierung schenkt sie Julian Einsicht in die Gründe der problematischen Speisegebote, die er dann im weiteren Verlauf der Schrift entfaltet. „Finsternis“ bezeichnet hier demnach Julians Unverständnis angesichts der Fastengebote, das aus seiner christlichen Sozialisation herrührt und erst nach der philosophischen Bekämpfung der Affekte durch göttliche Inspiration gänzlich zerstreut wird. Die philosophische Abwendung von den Affekten, die Julian als Kernstück des Unterrichtes bei Maximus hervorgehoben hatte, erscheint hier als entscheidender erster Schritt zur Bekehrung und zur Einsicht in göttliche Geheimnisse. Wenn man den Passus als geraffte Darstellung seiner Bekehrung zum Heidentum auffaßt, dann erhellt sich seine volle Bedeutung nur im Kontext der Rede. Mit der intellektualen Ursache der Seele ist Attis als ihr Urbild und Vorbild gemeint. Julian deutet ihn in dieser Rede als diejenige Entität, die von der sichtbaren Sonne, dem „dritten Schöpfer“, ausgehend die Materie beseelt und gestaltet – den Schöpfernous219 in seiner untersten Existenzform, von dem das Geistige in der sichtbaren Welt – Seele,
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Vgl. dazu GEFFCKEN 1914, 16 sowie BOUFFARTIGUE 1992, 18 und 23. Jamblich, VP 1. Gegen ROSEN 2006, 99, der die Bedeutung dieser Äußerung abschwächt. Or. VIII 14, 174b–d. Or. VIII 3, 161 c–d.
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Leben, Form – ausgeht.220 Die Mutter der Götter, „Quelle der intellektualen und schöpferischen Götter“, verliebt sich mit „leidenschaftsloser Liebe“221 in ihn und versucht, seine Schöpferkraft auf die höchste materielle Sphäre, den unveränderlichen Äther, zu beschränken.222 Attis’ Schöpferdrang macht aber bei dieser Grenze nicht halt; er steigt bis in die tiefsten Niederungen der Materie und des Werdens hinab und verliert die eigentliche Quelle seiner Schöpferkraft aus dem Blick. So sei laut Julian Attis’ Liebe zur Nymphe zu deuten.223 Die darauffolgende Kastration bedeute, daß die Göttermutter nun eingreift, dem grenzenlosen unbestimmten Verströmen geistiger Substanz ein Ende setzt und so die Welt des Werdens ordnet. Attis wendet sich wieder von der Materie zur geistigen Welt; ihm kommt die Funktion des Ordnens und Gestaltens des nunmehr Geschaffenen zu.224 Sein Mythos wird von Julian als Illustration ewig bestehender kosmischer Grundgegebenheiten verstanden – der neuplatonischen Dialektik zwischen Verströmen und Schaffen einerseits und Begrenzen und Ordnen andererseits, zwischen dem Hervorbringen neuer Hypostasen und deren Hinwendung zu ihrem Ursprung.225 In diese Dialektik sind die menschlichen Seelen einbezogen; Attis stellt paradigmatisch ihr Schicksal im Kosmos dar. Die symbolische Darstellung dieser Erkenntnisse in den Mysterien der Kybele sollte die Menschen durch die rituelle Zelebrierung der Kastration dazu ermahnen, ihre Seelen aus der ins Grenzenlose tendierenden Verstrickung in die Materie zu sammeln und auf das Geistige zu richten, um so zur Götterwelt aufzusteigen: Nach diesem Symbol, wenn der König Attis der Grenzenlosigkeit durch die Entmannung ein Ende setzt, tragen uns die Götter auf, daß auch wir selbst die in uns befindliche Grenzenlosigkeit wegschneiden und uns hieraus wegbewegen und zum Begrenzten und Eingestaltigen und, wenn es denn möglich sein sollte, zum Einen selbst hinaufzulaufen. Wenn dies nun geschehen ist, muss auf jeden Fall das Fest der Hilaria folgen. Denn was könnte fröhlicher, was heiterer sein als eine Seele, welche der Grenzenlosigkeit und dem Werden und dem Wogenschwall, das dem Werden innewohnt, entronnen ist und zu den Göttern hinaufgeführt worden ist? Auch Attis war eine von ihnen, und die Göttermutter übersah ihn keineswegs, als er sich über das Erlaubte hinaus entfernte, sondern bekehrte ihn zu sich, indem sie ihm befahl, der Grenzenlosigkeit ein Ende zu setzen.226
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Or. VIII 3,161 d–162a und 5, 165a–b. Or. VIII 6, 166b. Or. VIII 5, 165c. Or. VIII 5, 165c und 6, 167b. Or. VIII 6–7, 167 b–d, Vgl. dazu BOGNER 1924, bes. 284 und 287f. 169c–d: Μετὰ δὲ τὸ σύμβολον τοῦτο, ὅτε ὁ βασιλεὺς Ἄττις ἵστησι τὴν ἀπειρίαν διὰ τῆς ἐκτομῆς, ἡμῖν τε οἱ θεοὶ κελεύουσιν ἐκτέμνειν καὶ αὐτοῖς τὴν ἐν ἡμῖν αὐτοῖς ἀπειρίαν καὶ κινεῖσθαι ἐκ τούτων, ἐπὶ δὲ τὸ ὡρισμένον καὶ ἑνοειδὲς καὶ εἴπερ οἷόν τέ ἐστιν, αὐτὸ τὸ ἓν ἀνατρέχειν· οὗπερ γενομένου, πάντως ἕπεσθαι χρὴ τὰ Ἱλάρια. Τί γὰρ εὐθυμότερον, τί δὲ ἱλαρώτερον γένοιτο ἂν ψυχῆς ἀπειρίαν μὲν καὶ γένεσιν καὶ τὸν ἐν αὐτῇ κλύδωνα διαφυγούσης, ἐπὶ δὲ τοὺς θεοὺς αὐτοὺς ἀναχθείσης; Ὧν ἕνα καὶ τὸν Ἄττιν ὄντα περιεὶδεν οὐδαμῶς ἡ τῶν θεῶν Μήτηρ βαδίζοντα πρόσω πλέον ἢ χρῆν, πρὸς ἑαυτὴν δὲ ἐπέστρεψε στῆσαι τὴν ἀπειρίαν προστάξασα. Vgl. auch 172b und 175b; vgl. dazu BOGNER 1924, 288.
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Die Mysterien sind somit Sinnbild des neuplatonischen soteriologischen Ideals. Die Terminologie, die Julian hier verwendet, berührt sich mit derjenigen, in der er seine persönliche Beziehung zur Göttermutter beschreibt. So, wie sie Attis nicht „übersehen“ hat, der in seinem Schöpferdrang zu weit ging und der Unbestimmtheit bzw. Grenzenlosigkeit anheim zu fallen drohte, sondern ihn zu sich „bekehrte“,227 hat sie auch Julian nicht „übersehen“, als dieser im Dunkel des Christentums irrte. Julians Konversion wird somit in enger Nähe zum philosophisch gedeuteten Attisgeschehen gerückt und erhält somit eine kosmische bzw. ontologische Dimension: der Wechsel vom Christentum zum Heidentum impliziert die Umkehr zu den höheren Hypostasen, die Wiedereingliederung in die Ordnung des Seienden.228 Den prägenden Einfluß der Philosophie auf sein Leben und Denken betont Julian auch im Misopogon. Nachdem er dort zunächst Mardonios’ strenges Ethos und Erziehungsmethoden geschildert hat, geht er in einem zweiten Schritt auf einen δεινὸς γέρων ein, der ihn zur Philosophie verführt habe: Mich überredete aber ein unheimlich gewandter Greis, den auch ihr als Hauptschuldigen an meiner Lebensweise mit Recht zusammen mit mir tadelt. Und dabei war er, wisset wohl, von anderen verführt worden. Zu euch sind Namen durchgedrungen, welche oft ins Lächerliche gezogen werden, Platon, Sokrates, Aristoteles und Theophrast. Von diesen ließ sich dieser Greis wegen seiner Unbesonnenheit überreden, und dann fand er mich jungen Mann, einen Liebhaber der Reden, und überzeugte mich, daß ich, wenn ich denn in allen Dingen jenen nacheiferte, zwar vielleicht nicht besser würde als irgendein anderer Mensch (denn nicht mit denen läge ich im Wettstreit), aber sicherlich besser als ich selbst. Nachdem ich mich nun einmal habe überzeugen lassen – denn ich ich hatte keine andere Wahl –, kann ich mich nicht mehr ändern.229
Julian betont hier wiederum die lebenspraktische Komponente des Philosophieunterrichtes bei Maximus. Der „unheimlich gewandte Greis“, seinerseits ein ‚Opfer‘ der großen athenischen Philosophen, habe sich seinen Bildungseifer zunutze gemacht und sein Verhalten unumkehrbar nach philosophischen Prinzipien geformt. Ironisch ins scheinbare Gegenteil gewendet, wird auch hier Maximus’ faszinierende Persönlichkeit spürbar, der Julian nicht widerstehen kann. Die Philosophie erscheint hier als unablässige Arbeit an sich selbst nach dem Vorbild der 227 169d. 228 Eine ähnliche Verbindung liegt auch bei Augustin vor, der conversio zum einen als religiöse Bekehrung vom Christentum zum Heidentum und zum anderen wie Julian neuplatonisch im Sinne von ἐπιστροφή als Hinwendung zu Gott und somit als Erfüllung der menschlichen Bestimmung ansieht und die beiden Bedeutungen ineinander verschwimmen läßt. S. dazu MADEC 1986, 1287. 229 Misopogon 24, 353b–d: Δεινὸς δὲ ἀνέπεισε γέρων, ὃν καὶ ὑμεῖς ὡς ὄντα μάλιστα αἰ‐ τιώτατον τῶν ἐμῶν ἐπιτηδευμάτων ὀρθῶς ποιοῦντες ξυλλοιδορεῖτέ μοι, καὶ τού‐ τον δέ, εὖ ἴστε, ὑπ’ ἄλλων ἐξηπατημένον. Ὀνόματα ἥκει πρὸς ὑμᾶς πολλάκις κωμῳδούμενα, Πλάτων καὶ Σωκράτης καὶ Ἀριστοτέλης καὶ Θεόφραστος. Ἐκεί‐ νοις ὁ γέρων οὗτος πεισθεὶς ὑπὸ ἀφροσύνης, ἔπειτα ἐμὲ νέον εὑρών, ἐραστὴν λό‐ γων, ἀνέπεισεν ὡς, εἰ τὰ πάντα έκείνων ζηλωτὴς γενοίμην, ἀμείνων ἔσομαι τῶν μὲν ἄλλων ἀνθρώπων ἴσως οὐδενός (οὐ γὰρ εἶναί μοι πρὸς αὐτοὺς τὴν ἅμιλλαν), ἐμαυτοῦ δὲ πάντως. Ἐγὼ δὲ (οὐ γὰρ εἶχον ὅ τι ποιῶ) πεσθεὶς οὐκέτι δύναμαι μεταθέσθαι (...).
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großen Philosophen. Ziel ist die persönliche sittliche Vervollkommnung. Julian zitiert im folgenden aus den Nomoi Platons und legt dar, daß er sich in seiner Regierung nach dessen Maximen richte.230 Als Herrscher habe er sich besonders dessen Forderungen zu Herzen genommen, durch die Praktizierung von αἰ‐ δώς und σωφρωσύνη zu einem Vorbild für das Volk zu werden. Die praktische Umsetzung dieser platonischen Prinzipien habe ihn bei den Antiochenern verhasst gemacht, da sie ein zurückgezogenes Leben implizieren, ohne Geschäftsbeziehungen zu den Bürgern zu knüpfen und ohne sich allzu viel in der Öffentlichkeit zu zeigen, es sei denn, im Tempel oder ab und an im Theater.231 Αἰδώς und σω‐ φρωσύνη umfassen somit den weitgehenden Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben mit seinen möglichen Verstrickungen.232 Diese Position entspricht dem traditionellen Idealbild des Philosophen, der sich aufgrund seiner tadellosen Lebensführung aus der Gesellschaft hinaus begibt, um dann als Außenstehender für sie als moralische Instanz fungieren zu können.233 Als einzige uneingeschränkt zugelassene Ausnahme nennt Julian den Kult der Götter, der somit in seine philosophische Konzeption eines vorbildhaften Lebens integriert ist. Allerdings ist dies die einzige Anspielung auf religiöse Elemente der ihm von Maximus vermittelten platonisch geprägten Lebensweise, und sie geschieht nur en passant. Es dominieren die ethischen, charakterformenden Aspekte. Diese unterstreicht Julian auch im Brief an die Athener, wo er die harten Jahre in Macellum schildert und betont, daß diese Gallus’ rauhen Charakter erst recht haben verrohen lassen. Er selbst habe mit Hilfe der Philosophie diese schädlichen Einflüsse konterkarieren können: Billigerweise trägt auch diese Schuld derjenige, der uns mit Gewalt an dieser Erziehung hat teilhaben lassen, von der die Götter mich durch die Philosophie reinigten und heilten. Diesem aber gab niemand eine Anleitung an die Hand. Denn er wechselte schlagartig von den Feldern zum Kaiserhof, und gleich zu Beginn entbrannte jener, als er ihm das purpurne Obergewand umlegte, sogleich in Mißgunst gegen ihn und hörte nicht eher auf, als bis er ihn umgebracht hatte.234
Nach Julians Schriften läßt sich somit festhalten, daß die Begegnung mit der Philosophie einen großen Einfluß auf ihn gehabt hat. Julian beschreibt diesen vor allem in moralischen Begriffen: er habe gelernt, sich selbst zu beherrschen, übermäßige Impulse zu unterdrücken und nach dem Vorbild der großen Meister der Philosophie sein Leben an der Gerechtigkeit auszurichten. Allerdings hat die Philosophie für ihn auch andere Aspekte. Maximus lehrt ihn, daß gerade die alten Götter die Führer zum philosophischen Lebensideal seien. Und umgekehrt wird die 230 231 232 233 234
Misopogon 25, 353d–354b. Misopogon 25, 354c–d. Vgl. F. L. MÜLLER 1998, 232. Zu dieser Erwartung an den Philosophen s. HAHN 1989, 40f. Brief an die Athener 4, 271d–272a: Δίκαιος οὖν οἶμαι καὶ ταύτην ἔχειν τὴν αἰτίαν ὁ ταύτης ἡμῖν πρὸς βίαν μεταδοὺς τῆς τροφῆς, ἧς ἐμὲ μὲν οἱ θεοὶ διὰ τῆς φιλο‐ σοφίας καθαρὸν ἀπέφηναν καὶ ἐξάντη, τῷ δὲ οὐδεὶς ἐνέδωκεν· εὐθὺς γὰρ ἀπὸ τῶν ἀγρῶν ἐς τὰ βασίλεια παρελθόντι ἐπειδὴ πρῶτον αὐτῷ περιέθηκεν ἁλουρ‐ γὲς ἱμάτιον αὐτίκα φθονεῖν ἀρξάμενος οὐ πρότερον ἐπάυσατο πρὶν καθελεῖν αὐτὸν, (...).
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Konversion vom Christentum zum Heidentum in der Rede über die Göttermutter mit der philosophischen Selbstdisziplinierung verbunden. Dies läßt schließen, daß Julians Bekehrung zur Philosophie auch religiöse Veränderungen, eine Bekehrung zum Heidentum, implizierte. Auffällig ist, daß Julian in den Beschreibungen seines Weges zur Philosophie und den wahren Göttern dem Studium bei Themistios keinen Platz einräumt. Zwei Gestalten beherrschen die Bühne: Mardonios und Maximus, obwohl Themistios und Julian anscheinend lange Zeit korrespondierten. War Themistios’ Einfluß auf Julian immer schon lediglich marginal,235 oder spiegelt dieses Schweigen einen Bruch mit Themistios? Die Beziehungen zwischen den beiden sind Gegenstand einer kontroversen Diskussion.236 Julians Studium in Pergamon könnte als Zeichen interpretiert werden, daß seine Erwartungen an die Philosophie von Themistios’ Philosophieverständnis enttäuscht wurden. Jedoch gibt Julians Brief an Themistios zu verstehen, daß der Kontakt zwischen Schüler und Lehrer auch nach dem Studium in Konstantinopel nicht abriß: Julian deutet an, daß er sich für gemeinsame Freunde in Kleinasien eingesetzt habe.237 Julian und Themistios bewegen sich somit in denselben Kreisen, in denen sich unter anderen eine Jamblichschülerin befindet.238 Julian schreibt an Themistios während seines Aufenthaltes bei Hofe nach der Hinrichtung des Gallus und teilt ihm seine Freude über die scheinbare Verbannung nach Athen mit. Diese Kontakte gehen weiter; der Brief an Themistios ist als Antwortschreiben auf ein Schreiben des Themistios anläßlich seiner Erhebung zum Caesar konzipiert. Somit wird deutlich, daß Julian zumindest in seiner Zeit als Caesar und früher Augustus den Kontakt zu Themistios nicht abgebrochen hatte. Das Studium in Pergamon kann somit nicht als Abwendung vom Unterricht des Themistios angesehen und auch nicht als Abwendung von einer religiös pluralistischen, christenfreundlichen Position zugunsten eines dezidiert heidnischen Platonismus interpretiert werden. Dennoch ist festzuhalten, daß Julian mit ihm zwar philosophisch korrespondiert, ihm aber nie die Rolle des καθηγεμών einräumt, die er Maximus zuspricht.239 Der Kontakt zu Themistios ist ihm gerade am Anfang seiner Zeit als Augustus besonders nützlich, da er über den ehemaligen Berater und Hofredner des Konstantius die Legitimität seiner Nachfolge untermauern kann.240 Es könnte vermutet werden, daß Julian Themi235 So R. SMITH 1995, 29. 236 Vgl. DALY 1980, 1–11, der die Differenzen zwischen Julian und Themistios betont, und BRAUCH, 1993a/b der hingegen von einer Kooperation zwischen Themistios und Julian ausgeht. Die neueste Themistiosbiographie von VANDERSPOEL 1995 greift mit anderen Argumenten die Position von DALY auf und plädiert für eher distanzierte Beziehungen zwischen Julian und Themistios (bes. 115–126 und 134). 237 Brief an Themistios 6, 259c–d. 238 Es handelt sich um eine gewisse Arete, an die Jamblich über die Besonnenheit schreibt. Vgl. ATHANASSIADI 1992a, 43. 239 Dieser Unterschied zeigt sich deutlich bei einem Vergleich der beiden erhaltenen Briefe an Themistios und an Maximus von Ephesus. Im ersteren geht Julian von einem Gleichheitsverhältnis zu Themistios aus, den er, wenngleich respektvoll, in philosophischen Fragen korrigiert, während der Brief an Maximus überschwengliche Verehrung zum Ausdruck bringt. 240 BRAUCH 1993b, 98.
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stios dazu benutzt hätte, um später den pergamenischen Neuplatonikern eine immer stärkere Rolle in seiner Regierung einzuräumen. Dem steht entgegen, daß die beiden stets gute Beziehungen unterhalten zu haben scheinen, so daß Themistios nicht nur Panegyriken auf ihn verfaßt sondern auch den Posten des Stadtpräfekten unter ihm bekleidet haben soll.241 Themistios erscheint somit zwar nicht als einflußreicher Lehrer und Ratgeber, aber dennoch als einer der Philosophen, die Julian als Mitarbeiter für seine Regierung heranzieht. Eine Diskussion der julianischen Selbstaussagen zu dieser Wendezeit in seinem Leben wäre ohne die Erwähnung des autobiographischen Mythos in der Rede gegen Herakleios, in welchem Julian seine Kindheit und frühe Jugend skizziert, unvollständig. Der erste Teil des Mythos war weiter oben referiert worden. Julian beschreibt seine Befangenheit in der „Seuche“ des Christentums; als Heranwachsender erkennt er das Ausmaß der Katastrophe, in der seine Familie verstrickt ist, und trägt sich mit Selbstmordgedanken. Aus dieser schier ausweglosen Situation retten ihn die Götter, die ihn schon als Kind beschützt hatten. Hermes geleitet ihn zu einem Berg, wo der Göttervater wohnt, und entfernt sich mit der Aufforderung, diesen richtig anzubeten. Der junge Mann versucht dies; als Belohnung wird ihm eine Vision von Helios und Athene zuteil, die ihm mitteilen, daß er keineswegs bei ihnen bleiben dürfe, sondern zurück zur Erde müsse, um dort eingeweiht zu werden und dann anders als Konstantius als wahrer Herrscher über das Reich zu herrschen und den Kult der Götter wiederherzustellen. Weil Julian hier scheinbar gerade über die Ereignisse spricht, die zu seiner Konversion geführt haben, könnte man versucht sein, diesen Text als Quelle dafür zu verwenden.242 Es könnte geschlossen werden, daß sich das für Julians Konversion entscheidende Ereignis – etwa eine Vision des Sonnengottes oder der Durchbruch zur Erkenntnis der Wahrheit des Polytheismus in seiner frühen Jugend, als er noch nicht in die Theurgie initiiert war – demnach in der Zeit seines Philosophiestudiums oder unmittelbar davor anzusetzen sei.243 Allerdings muß beachtet werden, daß der Text gerade wegen seiner Form als Mythos als Quelle höchst problematisch ist. Er hat die Funktion, Herakleios’ Anmaßung, im Gewande des Zeus Julian, den er als Pan präsentiert, in die Kunst des Herrschens einzuweisen und zu beraten, in ihre Schranken zu weisen, indem er klarstellt, daß Julian anders als seine Vorgänger der gottgesandte Kaiser ist, der die Aufgabe hat, anhand des philosophischen Herrscherideales das Reich wieder zu retten und den alten Kult wiederherzustellen. Er kann daher höchstens als Beleg dafür herangezogen werden, wie Julian später seine Herrschaft verstanden hat; als solches bezeugt er eindrucksvoll dessen Sendungsbe-
241 So BRAUCH 1993a, 76ff, und 1993b, 112f. 242 So NOCK 1988, 157f und ROSEN 1997, 127–129, der diesem Text eine Schlüsselrolle in seiner Interpretation von Julians Konversion einräumt und sogar die einzelnen Metaphern ausdeutet. In seiner Julianbiographie von 2006 tritt diese Interpretation in den Hintergrund. 243 Für die möglichen Schlüsse, die man aus dem Mythos ziehen könnte, s. R. SMITH 1995, 132ff.
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wußtsein und legt die Grundsätze seiner Regierung dar.244 Was den in Bewegung gesetzten Götterapparat und die Visionen betrifft, darf nicht vergessen werden, daß fiktive Visionen und Traumgesichte zum vorgeschriebenen Repertoire der antiken Rhetorik gehörten.245 Somit erscheint es eher unwahrscheinlich, daß der Mythos reale Ereignisabläufe im Leben Julians widerspiegelt oder zur Rekonstruktion seiner Konversion zum Heidentum im Jahre 351 beitragen könnte. 3.5.4. Der Bericht des Libanios: Julians Philosophiestudium als Wendepunkt seiner Religiosität Während Julian vor allem die praktische Dimension und Wirkung der Philosophie hervorhebt und eine damit verbundene religiöse Veränderung nur andeutet, steht diese im Mittelpunkt der Darstellungen heidnischer wie christlicher Zeitgenossen. Sowohl Libanios und Eunapius als auch Gregor von Nazianz sehen in der Philosophie primär den Auslöser für die endgültige Bekehrung zum Heidentum. In seinen julianischen Reden greift Libanios stereotyp immer zum selben Modell: Julian wird durch die literarische und rhetorische Bildung allmählich unbewußt auf die heidnische Welt vorbereitet; sein Philosophieunterricht in Kleinasien führt den Übertritt zum Heidentum herbei. Die ausführlichste Bekehrungsdarstellung findet sich im Prosphonetikos, Libanios’ erster Rede vor Julian. Libanios beschreibt, wie Julian noch als überzeugter Christ nach Nikomedien kommt: (...) er wurde nach Nikomedien geschickt, um sich dort aufzuhalten, in der Meinung, die Stadt sei weniger bedeutend. Dies war aber der Anfang der größten Güter sowohl für ihn als auch für die ganze Erde. Denn dort war noch ein gewisser Funke der Mantik verborgen, den Händen der Frevler mit Mühe entronnen. Durch diesen angestoßen spürtest du zum ersten Mal dem Unsichtbaren nach und zügeltest dadurch den übermäßigen Haß auf die Götter, besänftigt durch die Orakelsprüche.246
In der Begegnung mit der heidnischen Mantik sieht Libanios den ersten Impuls für Julians Bekehrung. Dieses Interesse am Okkulten und besonders an der Mantik muß im Römischen Reich des 4. Jahrhunderts nicht notwendig eine Konversion zum Heidentum implizieren. Interesse für Mantik ist durchaus auch bei Christen belegt. Mochten auch die Kirchenväter sie auf böse Dämonen zurückführen und vor solchen Praktiken warnen, so sahen viele Christen darin ein brauchba-
244 So ASMUS 1917, 66, CRISCUOLO 2001, 368f. oder besonders prägnant ATHANASSIADI 1992a, 171–175, die den Mythos als Ausdruck einer „conversion to a theocratic idea of kingship” (171) betrachtet. 245 Vgl. dazu R. SMITH 1995, 134, der die starke Parallele zu Dion Chrysostomos’ erster Rede herausarbeitet und auf Menander 390, 7–10 verweist. 246 Or. XIII 10–11: πέμπεται τῇ Νικομήδους ἐνδιατρίψων, ὡς ἀσθενεστέρᾳ. τὸ δὲ ἦν ἀρχὴ τῶν μεγίστων ἀγαθῶν αὐτῷ τε καὶ τῇ γῇ. ἦν γάρ τις σπινθὴρ μαντικῆς αὐτόθι κρυπτόμενος μόλις διαφυγὼν τὰς χεῖρας τῶν δυσσεβῶν.ὑφ’ ᾧ δὴ πρῶτον τἀφανὲς ἀνιχνεύων τὸ σφοδρὸν μῖσος κατὰ τῶν θεῶν ἐπέσχες ὑπὸ τῶν μαντευ‐ μάτων ἡμερούμενος.
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res Instrument zur Bewältigung ihrer Probleme.247 Man könnte Julians Religiosität auf dieser Stufe durchaus noch im Rahmen des Christentums sehen – ein Christ, der pragmatischerweise auf ein Angebot aus dem Sortiment des heidnischen religiösen Supermarktes zurückgreift.248 Auch Libanios behauptet nicht, daß auf dieser Stufe schon eine Konversion stattgefunden hätte. Diese bleibt der Begegnung mit der Philosophie vorbehalten: Als du aber nach Ionien kamst und einen Mann erblicktest, der ein Weiser schien und es auch war, von denen vernahmst, die dieses All gebaut haben und bewahren, zur Schönheit der Philosophie schautest und vom süßesten aller Quellen kostetest, schütteltest Du rasch den Irrtum ab, zerrissest deine Fesseln wie ein Löwe und befreit von der Dunkelheit ergriffest du die Wahrheit anstelle der Unwissenheit, das Rechtmäßige anstelle des Unrechtmäßigen, die alten Herrscher anstelle desjenigen, der vor kurzem auf üble Weise eingeführt worden war.249
Die Begegnung mit einem bedeutenden Philosophen in Ionien führt Julian zur Erkenntnis der Götter als Schöpfer und Erhalter des Alls. Die Philosophie zeigt ihm die Wahrheit und bewirkt eine von Libanios dramatisch geschilderte Wende.250 Aus der nächsten Passage wird klar, daß es sich dabei um den Neuplatonismus handelt.251 Libanios fährt fort, indem er Julians machtlose Trauer über den Ruin des Heidentums und seiner Tempel beschreibt; dieses Verhalten flöße der heidnischen intellektuellen Elite neue Hoffnungen ein. Die Götter freuen sich über Julians Konversion252 und bereiten ihn auf das Herrscheramt vor. Dasselbe Szenario wird in der Rede zu Julians Konsulatsantritt aufgegriffen, mit einer bedeutenden Ausnahme: die Entdeckung der Mantik in Nikomedien wird übergangen. Da er den Hypatikos als Julians Vertrauter verfaßt und vorträgt, stellt sich die Frage, ob diese Episode überhaupt historischen Gehalt besitzt oder nur Julians Wahrnehmung in Antiochien wiedergibt, welche er in Ermangelung besserer Informationen aufgrund seiner Distanz zu Julian im Prosphonetikos verarbeitet. Letztlich kann dies nicht entschieden werden; es wäre zumindest möglich, daß die Notiz eine historische Grundlage hat. Wenn ja, dann könnten für ihre Auslassung im Hypatikos zwei Gründe angeführt werden. Zum einen wird dadurch die Rolle der Philosophie stärker hervorgehoben – was Julians Verehrung für Maximus von Ephesus und dessen einflußreicher Stellung am Hof Rechnung tragen würde. Zum anderen 247 Hier sei nur ein Beispiel aus dem Personenkreis um Julian angeführt: Eunapius berichtet in der Vita des athenischen Rhetors Prohairesios (VS X 8, 1–2) daß er, nachdem er aufgrund des Rhetorenediktes sofort seines Amtes enthoben worden war, den eleusinischen Hierophanten aufsuchte, um sich in verschlüsselter Form nach der Dauer der Herrschaft Julians zu erkundigen. Zu dieser unter Christen verbreiteten Praxis siehe auch ROSEN 2006, 102f. 248 Zu dieser ökonomischen Terminologie s. STARK 1996 bes. 193–204. 249 Or. XIII,12: ὡς δὲ ἥκες εἰς Ἰωνίαν καὶ εῖδες ἄνδρα καὶ δοκοῦντα καὶ ὄντα σοφὸν καὶ περὶ τῶν τὸ πᾶν δὴ τοῦτο τεκτηναμένων τε καὶ διατηρούντων ἤκουσας καὶ πρὸς τὸ κάλλος τῆς φιλοσοφίας ἔβλεψας καὶ τοῦ ποτιμωτάτου τῶν ναμάτων ἐγεύσω, ταχέως ἀποσεισάμενος τὴν πλάνην καὶ διαρρήξας ὥσπερ λέων τὰ δεσ‐ μὰ καὶ τῆς ἀχλύος ἀπαλλαγεὶς ἀλήθειαν μὲν ἀντέλαβες ἀγνοίας, τὸ δὲ γνήσιον τοῦ νόθου, τοὺς δὲ παλαιοὺς ἄρχοντας ἀντὶ τοῦ νεωστὶ κακῶς εἰσκωμάσαντος. 250 Vgl. WIEMER 1995, 98. 251 Or. XIII 13. 252 Or. XIII 16: θεοὶ δέ σε τῆς μεταβολῆς ἀγασθέντες (...).
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könnte die Beschäftigung mit der Mantik ein ungünstiges Licht auf Julian werfen. Mantik kommt oft in Zusammenhang mit politischen Interessen zum Einsatz, so daß der Eindruck entstehen könnte, daß Julian schon zu jener Zeit politische Ambitionen hegte.253 Dies widerspricht jedoch dem Bild, das Julian sonst von sich und seinem Herrschaftsantritt verbreitet wissen will. Er stilisiert sich selbst als Intellektuellen, der das kultivierte Privatleben, die Muße der Studien, über alles schätzt und sich nur widerwillig dazu bewegen läßt, politische Macht zu übernehmen.254 Nach Julian ist die Proklamation zum Augustus von den Göttern bewirkt worden, die ihn mit der materiellen wie geistigen Rettung des Reiches beauftragen.255 Bei Libanios läßt sich nun zwischen seiner ersten Rede vor Julian und der vorliegenden Rede ein bezeichnender Unterschied feststellen – war die Proklamation zu Paris in Or. XIII primär der Akt der Soldaten, die ihrer Bewunderung für Julians politisches und militärisches Genie dadurch Ausdruck verliehen, so erscheint sie in Or. XII als Werk der Götter, die die eigentlich Handelnden hinter den Kulissen sind.256 Es könnte somit sein, daß Libanios auch die Mantik-Episode aus diesem Grund fallen läßt, um sich Julians Selbstverständnis anzupassen.257 Im Hypatikos beschreibt Libanios weiter, wie Julian auf der Suche nach rhetorischer und philosophischer Bildung nach Nikomedien kommt. Diese Suche führt ihn zur Philosophie; diese erweist sich wieder als Führerin zur Wahrheit, nämlich zu den alten Göttern. Wieder wird die Bekehrung als Erkenntnisakt beschrieben. Wie im Prosphonetikos schildert Libanios diesen im Zeitraffertempo mit neuen plastischen Bildern: sofort habe Julian seine Befleckung von sich geworfen und die wahren Götter anerkannt; Libanios preist den Tag und den Ort der μεταβο‐ λή und läßt diese dadurch als klar abgrenzbares dramatisches Ereignis erscheinen. Die besondere Rolle des Maximus bei der Bekehrung wird hervorgehoben; er wird als „Arzt“ für Julians verwirrten Sinn tituliert, der höchste Gefahr auf sich nimmt, um seinen Schüler von der Wahrheit zu überzeugen.258 Auch in der Grabrede auf Julian, welche der Kontrolle Julians nicht untersteht, erscheint derselbe kausale Zusammenhang zwischen Philosophie und Bekehrung zum Heidentum. Julians eifrige Studien gipfeln in seiner Begegnung mit Männern, die „voll von der Kenntnis Platons“ sind; deren Unterweisung führt ihn zur Wahrheit: 253 Ein Vorwurf, der gegen Julian immer wieder laut wurde und gegen den Ammianus ihn verteidigt (XXI 1,7). Dahingehend rekonstruiert NOCK 1988, 157 das von Julian angeblich empfangene Orakel. 254 Diese Selbstdarstellung findet sich ausführlich im Brief an Themistios oder dem Brief an die Athener. 255 Vgl. etwa den Brief an die Athener 6–13, ep. 26 an Maximus und ep. 28 an seinen Onkel Julian. 256 Vgl. Or. XIII 33ff. und XII 59ff. 257 Zur Anpassung des Libanios an Julians Selbstdarstellung vgl. WIEMER 1995, 162–166, der die Rede als „offiziöse Kundgebung des julianischen Hofes, als ein Dokument julianischer “ ansieht (166), und BOUFFARTIGUE, 2002, 177–183. 258 Or. XII 33–34.Im Brief 694 FOERSTER, den Libanios kurz vor Julians Ankunft in Antiochien an Maximus schreibt, lobt er ihn dafür, daß er Julians Charakter im Sinne des Heidentums gebildet habe.
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike Und schließlich kam er mit denen zusammen, die voll von Platon waren, und er hörte von den Göttern und Dämonen und von denen, die dieses All in Wahrheit sowohl geschaffen haben als auch bewahren. Er hörte, was die Seele ist, woher sie kommt und wohin sie geht, wovon sie untergetaucht und wovon sie emporgehoben wird, wovon sie heruntergezogen und wovon sie in die Höhe gehoben wird, was für sie eine Fessel ist, was aber Freiheit, und wie es nun möglich sein könnte, das eine zu fliehen, das andere aber zu erlangen. Dann wusch er die bittersalzige Kunde durch süße Reden ab, und nachdem er alles vorherige leere Geschwätz verworfen hatte, führte er in seine Seele an dessen Stelle die Schönheit der Wahrheit ein, wie wenn einer gleichsam in einen großen Tempel Statuen der Götter hineinführt, die vorher mit Schmutz geschändet waren. Und hinsichtlich dieser Dinge war er ein anderer, jedoch verhielt er sich äußerlich wie vorher, denn es war unmöglich, sich zu offenbaren.259
Zwar konzentriert Libanios den heilbringenden Philosophieunterricht nicht mehr explizit auf Maximus allein, jedoch hat die Stelle trotz der fehlenden Kontrolle durch Julian den gleichen Tenor wie die schon untersuchten Passagen. 260 Der religiöse Charakter der neuplatonischen Philosophie wird betont, indem ihre Theologie, Anthropologie und Soteriologie angerissen werden. Julians Bekehrung erhält an dieser Stelle zwei Dimensionen. Zum einen ist es eine Bekehrung zur richtigen religiösen Tradition, vom Christentum zum Heidentum; zum anderen ist es ein Heidentum besonderer Prägung, eben die neuplatonische Weltsicht, und Julians Bekehrung ist zugleich eine Hinwendung zum philosophischen Leben – er wird über das Wesen der Seele und die Wege zu ihrer Befreiung belehrt. Damit berührt sich Libanios’ Darstellung hier mit Julians Andeutungen in seinem Hymnus an die Mutter der Götter, wo er religiöse und philosophische Bekehrung ineins verschmelzen läßt. Eine neue Facette ist die Behauptung, daß Julian sich zwar innerlich, in seiner persönlichen Religiosität zwar zur platonischen polytheistischen Weltsicht bekehrt, äußerlich aber am christlichen Kult weiterhin teilgenommen habe. Libanios’ Darstellungen der Bekehrung Julians sind schematisch und skizzenhaft; er hebt zwar hervor, daß die Philosophie der Auslöser gewesen sei, berichtet aber nichts Genaueres darüber. Auch er datiert Julians Begegnung mit der Philosophie auf die Zeit in Pergamon und nennt Themistios nicht; angesichts der herausragenden Rolle von Maximus am Hofe Julians kann dies als taktischer Zug gesehen werden.
259 Or. XVIII 18–19: καί ποτε τοῖς τοῦ Πλάτωνος γέμουσιν εἰς τἀυτὸν ἐλθών, ἀκούσας ὑπέρ τε θεῶν καὶ δαιμόνων καὶ τῶν ὡς ἀληθῶς τὸ πᾶν τοῦτο καὶ πεποιηκότων καὶ σῳζόντων καὶ τί τε ἡ ψυχὴ καὶ πόθεν ἥκει καὶ ποῖ πορεύεται καὶ τίσι βαπτίζεται καὶ τίσιν αἴρεται καὶ τίσι καθέλκεται καὶ τίσι μετεωρίζεται, καὶ τί μὲν αὐτῇ δεσμός, τί δὲ ἐλευθερία, καὶ πῶς ἂν γένοιτο τὸ μὲν φυγεῖν, τοῦ δὲ τυχεῖν, ἁλμυρὰν ἀκοὴν ἀπεκλύσατο ποτίμῳ λόγῳ καὶ πάντα τὸ ἔμπροσθεν ἐκβαλὼν ὕθλον ἀντεισήγαγεν εἰς τὴν ψυχὴν τὸ τῆς ἀληθείας κάλλος, ὥσπερ εἴς τινα μέγαν νέων ἀγάλματα θεῶν πρότερον ὑβρισμένα βορβόρῳ. καὶ ἦν μὲν περὶ ταῦτα ἕτερος, ἐσχηματίζετο δὲ τὰ πρόσθεν, οὐ γὰρ ἐξῆν φανῆναι. 260 Gegen ROSEN 2006, 101, der die Stelle interpretativ abschwächt.
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3.5.5. Der Bericht des Eunapius: Julians lange Suche nach Bildung und Weisheit Boten die Berichte von Julian und Libanius nur knappe Andeutungen über die Studienzeit in Pergamon, so finden sich in Eunapius’ Vitae sophistarum Anekdoten, die diese Zeit lebendig illustrieren. Eunapius beginnt seine Darstellung mit einem Hinweis auf die strenge christliche Erziehung, welche Julian von Konstantius auferlegt worden war. Die Größe seiner Natur zeige sich in der Schnelligkeit, mit welcher er all das gemeistert habe, was die mit seiner Erziehung betrauten Eunuchen ihn lehrten; bald kenne er die Schriften der Christen auswendig. Damit ist indirekt der geringe intellektuelle Wert des Christentums herausgestellt – einer wahrhaft begabten Natur wie Julian kann es keine entsprechende Schulung bieten.261 Julian erhält später von Konstantius die Erlaubnis, Rhetorik und Philosophie zu studieren. Anders als Libanios, der daran interessiert ist, seine Verbindungen zu Julian durch die Betonung des gleichzeitigen Aufenthalts beider in Nikomedien sowie der Begeisterung Julians für die rhetorische Bildung hervorzuheben, überspringt Eunapius Julians Rhetorikstudien und berichtet, wie Julian, von dem Ruhm des Neuplatonikers Aidesios angezogen, nach Pergamon reist. Er ist sofort von dessen „Reife und göttlicher Art der Seele“262 eingenommen und versucht, dessen Schüler zu werden. Aidesios wehrt aber ab, mit der Begründung, er sei viel zu alt und schwach dazu. Es ließe sich fragen, ob die Gefahr, den „vom kaiserlichen Mißtrauen und einer Leibwache“263 begleiteten christlichen Prinzen zum Schüler zu haben, nicht zu seinen Bedenken beigetragen haben könnte.264 Er verweist jedoch Julian an seine „rechtmäßigen Söhne“ – seine Schüler, von denen Maximus und Priscus zwar abwesend, Eusebios und Chrysanthios jedoch an Ort und Stelle wären. Julian beherzigt den Rat und besucht deren Unterricht. Eusebios beendet seine Vorlesungen immer mit ein und demselben auffälligen Schlußsatz: das, was er vorgetragen habe, sei die eigentliche Wahrheit, während Gauklereien, die die Sinneswahrnehmung betören, die Werke von Charlatanen seien, die zu zwielichtigen materiellen Wirkkräften abgeirrt und in Wahnsinn geraten wären.265 Julian versucht nun, von Chrysanthios herauszufinden, was für eine Bewandtnis es damit habe. Dieser rät ihm, Eusebios selbst zu befragen – um nicht hinter dem Rücken seines Freundes und Mitschülers über seine Lehren zu sprechen, oder aus berechtigter Angst, da hiermit die Theurgie, die ja unter die Mantikgesetzgebung des Konstantius fiel, angesprochen wäre? Julian fragt Eusebios nach dem Sinn der rätselhaften Worte. Dieser erklärt ihm, daß er damit Maximus von Ephesus meine. Von seiner großen Begabung und der Überfülle seiner 261 Damit ist ein alter Topos der antichristlichen Polemik aufgegriffen, der sich z. B. bei Kelsos oder Porphyrios wiederfindet. Siehe zu Kelsos ANDRESEN 1955, 167–174, zu Porphyrios BERCHMAN 2005, 10. 262 VS VII 1,11. 263 VS VII 1,9. 264 Vgl. R. SMITH 1995, 109f zum Risiko, die Theurgie zu praktizieren. 265 VS VII 2,3. Vgl. dazu CRISCUOLO 2001, 379.
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Bildung geblendet, habe dieser sich zu gewissen wahnwitzigen Unternehmungen hinreißen lassen. Eines Abends habe er seine Mitphilosophen in das Heiligtum der Hekate bestellt und seine übernatürlichen Fähigkeiten dadurch unter Beweis gestellt, daß er mit Hilfe von Weihrauch und gewissen Inkantationen die Statue der Göttin zuerst zum Lachen gebracht und dann auch noch die Fackeln in ihren Händen auflodern lassen habe. Nach dieser Erzählung versucht Eusebios, Julian wieder zur nüchtern-rationalen philosophischen Kontemplation zu ermahnen: „Du aber gerate nicht ins Staunen darüber, und sei der festen Meinung, daß die Reinigung durch die Vernunft etwas Großes sei.“ Damit kann er ihn aber nicht mehr ködern: „Leb’ wohl und widme deine Aufmerksamkeit den Büchern; mir hast du jedoch denjenigen gezeigt, den ich schon lange suchte“. Er reist nach Ephesus und wird zu einem eifrigen Schüler des Maximus. Dieser läßt dann auch Chrysanthios kommen, und beide unterrichten Julian.266 Dies ist nach Eunapius nicht das Ende von Julians Suche: nach vollendetem Unterricht in der Philosophie soll er nach Griechenland gereist sein, um den Hierophanten von Eleusis aufzusuchen. Eunapius kennt diesen selbst, da er von diesem in die eleusinischen Mysterien eingeweiht wurde. Er schildert dessen prophetische Fähigkeiten, dank derer dieser den Untergang der Mysterien in der Goteninvasion des Alarich voraussehen konnte,267 und charakterisiert ihn als „göttlichsten unter den Hierophanten“268. Selbst Christen suchen seinen Rat über die Zukunft. 269 Er scheint mit Nestorius, dem Vater des athenischen Neuplatonikers Plutarch identisch zu sein, in der neuplatonischen Literatur als besonders fähiger Theurg überliefert, der durch seine Rituale Athen vor einem Erdbeben gerettet haben soll.270 Die theurgische Traditionskette des Proklos geht auf ihn zurück.271 Mit dem Besuch beim Hierophanten rundet Eunapius Julians Streben nach geheimen Ritualen und Kontakt mit dem Göttlichen ab. Allerdings ist seine Darstellung in diesem Punkt historisch ungenau. 272 Wie Julian selbst belegt, hat Konstantius ihn nach der Hinrichtung von Gallus im Jahre 355 auf den Rat seiner Gemahlin hin nach Athen zum Studium geschickt.273 Dies erklärt sich daraus, daß das entlegene Athen militärisch und politisch unbedeutend war.274 Auch waren die Mysterien zumindest nicht die einzige Attraktion der Stadt für Julian, der dort seine Rhetorik- und Philosophiestudien fortsetzte.275 Andererseits hat Eunapius, der jünger ist als Julian, persönlich die Bekanntschaft des Hierophanten gemacht; seine Notiz wird somit zumindest Julians Interesse an den Mysterien während seiner Zeit in Athen reflektieren.276 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275
VS VII 2,6–13. Eunapius, VS VII 3, 1–5; vgl. auch X 8, 1–2. VS VII 3,6. VS X 8,1–3. Vgl. dazu die ausführliche Diskussion bei FOWDEN 1979, 115–118. Marinus, Vita Procli 28. S. die Diskussion bei FOWDEN 1979, 117f. Vgl. PENELLA 1990, 123. Or. II 12, 118b–d. Gregor, Or. V 23. BROWNING 1976, 64. Or. II 12, 119 b–d. Gregor von Nazianz lernt ihn als Kommilitonen im Rhetorikunterricht kennen (Or. V 23f). 276 Siehe dazu KALDELLIS 2005.
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Die Schilderung wird mit der Erhebung zum Caesar fortgesetzt. Durch die göttliche Vorsehung meistert Julian die schier auswegslose Lage in Gallien; die geheime Verehrung der Götter verhilft ihm zum Sieg. Umgeben von einem kleinen Kreis von Getreuen – dem eleusinischen Hierophanten, der ihn in Gallien besucht und mit ihm gewisse geheime Riten durchführt, dem Arzt Oreibasios und einem gewissen Euhemeros von Libyen schickt er sich an, die tyrannische Herrschaft des Konstantius zu beseitigen.277 Eunapius beschreibt Julians Weg zum Heidentum als einen allmählichen Prozeß. Die treibende Kraft ist die Suche nach Bildung278 einerseits, nach religiöser Erfahrung und verborgenen kultischen Praktiken andererseits.279 Anders als Libanios sieht Eunapius in der Entwicklung Julians keinen Moment eines radikalen Bruches mit der Vergangenheit. Julian ist zwar christlich sozialisiert, doch Eunapius ist davon überzeugt, daß die christliche Erziehung keinen wirklich begabten Geist, wie Julian einer ist, befriedigen könne. Es ist somit für ihn eine vollkommen natürliche Entwicklung, daß Julian nach höherer paideia strebt, die ihm bei den heidnischen Philosophen in Pergamon zuteil wird. Auch dort durchläuft Julian verschiedene Stufen, vom vergeistigten Unterricht des Eusebios, der zwar auch die Reinigung der Seele als Ziel hat, dies aber über die Vernunft erreichen will, bis zum theurgischen Neuplatonismus des Maximus. Auch Eunapius erwähnt im Kontext der Suche nach Bildung Julians Studium bei Themistios nicht. Dies erklärt sich zum einen daraus, daß er als Exponent der jamblicheischen Traditionskette des Aidesios schreibt und nur solche Philosophen einbezieht, die diese Tradition illustrieren.280 Möglich wäre auch, daß er Themistios aufgrund seiner Wirkens am Hofe zahlreicher christlicher Kaiser als „pagan ‚heretic‘“ ansieht und daher nicht in seine Galerie der Vertreter der echten paideia im 4. Jahrhundert aufnimmt.281 Eunapius’ Bericht betont Julians Bedürfnis nach konkret faßbaren und erfahrbaren religiösen Praktiken und Manifestationen des Göttlichen.282 Die Begegnung mit Maximus markiert einen entscheidenden Punkt auf seinem Weg, da er dadurch eine sichere Basis für sein weiteres Streben gewinnt; es ist allerdings nicht der Endpunkt: Julian soll weiter nach Athen gereist sein, um die Weisheit des Hierophanten zu erlernen. Eunapius’ Betonung der esoterischen religiösen Weisheit als Leitmotiv der Suche Julians ist einseitig; sie ordnet Julian in den von ihm bewunderten Kreis der herausragenden Vertreter und Verteidiger des ausgehenden Heidentums ein. Diese Einseitigkeit könnte auf seine Quellen zurückgeführt wer277 VS VII 3,6–8. 278 Vgl. dazu BALDINI 1984, der der Meinung ist, daß Eunapius durch seine kausale Verknüpfung von Bildung und Apostasie Julians Selbstdarstellung übernimmt (193ff, 197ff.). 279 Dieselben Motive hält Gregor, Or. V 23 fest, wenngleich ins Negative gekehrt: Δίττος δὲ αὐτοῦ τῆς ἐπιδημίας ὁ λόγος· ὁ μὲν εὐπρεπέστερος, καθ’ ἱστορίαν τῆς Ἑλλάδος καὶ τῶν ἐκεῖσε παιδευτηρίων, ὁ δὲ ἀπορρητότερος καὶ οὐ πολλοῖς γνώριμος, ὥστε τοῖς ἐκεῖ θύταις καὶ ἀπατεῶσι περὶ τῶν καθ’ ἑαυτὸν συγγενέσθαι, οὔπω παρρη‐ σίαν ἐχούσης τῆς ἀσεβείας. 280 PENELLA 1990, 136f. 281 PENELLA 1990, 136. 282 Vgl. dazu CRISCUOLO 2001, 379f.
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den: seine Verbindung zu Julian basiert hauptsächlich auf Personen, die eine starke Verbundenheit mit der heidnischen Tradition und Interesse an Kult und Theurgie an den Tag legen – die Theurgen Maximus und Chrysanthios, Oreibasios, der in Gallien als einziger um Julians Heidentum weiß, sowie der eleusinische Hierophant. 3.5.6. Zusammenfassung Die untersuchten Quellen zur Begegnung Julians mit der Philosophie weisen alle auf eine religiöse Komponente hin: der philosophische Unterricht des Maximus impliziert für Julian neben der Aufnahme einer neuen Lebensweise auch eine religiöse Umorientierung. Die alten Götter erscheinen ihm als Führer und Garanten eines edlen philosophischen Lebens. Bei der Darstellung seines Philosophiestudiums betont er jedoch nicht so sehr diese kultischen und theologischen Aspekte des ihm vermittelten Neuplatonismus, sondern vielmehr die ethische Dimension. Libanios und Eunapius betonen hingegen die religiöse Bekehrung, die sich aus dem Philosophiestudium ergibt. Dabei scheinen sie auf den ersten Blick stark voneinander abzuweichen. Libanios beschreibt den Moment der Bekehrung als dramatischen Bruch mit der christlichen Vergangenheit, während Eunapius von einem längeren Prozeß der Suche ausgeht. Doch ist anzumerken, daß sie sich beide unterschiedlicher Gattungen bedienen – die Form einer Lobrede räumt der Darstellung weitaus weniger Platz als eine Sammlung biographischer Anekdoten ein. Deshalb muß Libanios die Geschehnisse rhetorisch verdichten. Auch Libanios führt Julians Apostasie auf seinen Kontakt mit der klassischen paideia zurück und beschreibt sie als einen Prozeß, der unterschwellig und unbewußt schon mit Julians Literaturunterricht angefangen hatte. Die beiden Autoren unterscheiden sich allerdings in den Akzenten, die sie setzen – Libanios hebt das Dramatische, das Vorher-Nachher, viel stärker hervor als Eunapius, dem es auf die natürliche Entwicklung der Dinge ankommt, die unweigerlich Julians edle Natur zum Heidentum führen muß.283 Welche dieser Deutungen nun die richtige ist, ob Julian wirklich jemals überzeugter Christ war oder nur eine christliche Sozialisierung durchlief, welche keine tieferen Spuren hinterließ und ihn im tiefsten Herzen nicht befriedigte, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Zwar nimmt Libanios in seinen Reden als akkreditierter Hofredner die Radikalität seiner Sprache zurück und benutzt keine derart prägnanten Wendungen wie den „heftigen Haß auf die Götter“ aus dem Prosphonetikos, was als Anpassung an Julians Sichtweise gedeutet werden könnte, der von seinem Christentum ungern spricht und viel lieber seine instinktive, unbewußte Naturfrömmigkeit hervorhebt. Allerdings könnte ebendies als spätere autobiographische Rekonstruktion bzw. Umdeutung Julians nach der Konversion angesehen werden; es bleibt festzuhalten, daß er schon früh getauft wurde, das Amt eines Lektoren versah und äußerlich jedenfalls eifrig praktizieren283 Die Übereinstimmung der beiden Autoren in den wesentlichen Punkten wird auch von CRISCUOLO 2001, 379 festgehalten.
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der Christ war. Dieses Auftreten könnte der Grund dafür sein, daß Libanios, anläßlich Julians ersten Aufenthalts in Antiochien nicht näher mit ihm bekannt, ihn in seiner ersten Rede vor ihm als fanatischen Christen einstufte. Ob dies nun bloße Fassade war oder echte Glaubensüberzeugung, muß offen bleiben. Wie tief der Einschnitt der Apostasie nun wirklich war, kann nicht bestimmt werden. Allerdings ist aufgrund der Quellen festgestellt worden, daß Julian, zunächst jedenfalls Christ – und kein verkappter Heide! – , durch die Auseinandersetzung mit der griechischen Kultur und vor allem durch seine Begegnung mit der neuplatonischen Philosophie immer weiter vom Christentum abkommt und zum Heidentum findet. Dieser Befund rechtfertigt es zum einen, von einer Konversion zum Heidentum zu sprechen.284 Zum anderen erscheint diese Bekehrung als Teil und Ergebnis des Philosophiestudiums, so daß sie als Teilaspekt einer Konversion zur Philosophie angesehen werden könnte. Es stellt sich nun die Frage, ob die Philosophie für Julians weiteres Leben eine relevante Größe darstellt. Denn von einer Konversion zur Philosophie kann nur gesprochen werden, wenn das Philosophiestudium zur Grundlage einer neuen, bleibenden Identität wird; ansonsten wäre dieses lediglich als ein Sprungbrett zu den Mythen und Kulten des Heidentums anzusehen. Im folgenden soll daher die Bedeutung der Philosophie für Julian im Laufe seines weiteren Lebens dargestellt werden. 3.6. JULIANS ZEIT IN ATHEN Aus den Jahren, die zwischen Julians Philosophiestudium in Pergamon 351 und seiner Ernennung zum Caesar im Jahre 355 liegen, sind keine direkten Quellen erhalten. Julian lebt in Kleinasien und wird nach dem Fall seines Bruders 354 an den kaiserlichen Hof bestellt. Auf Anraten der Kaiserin Eusebia wird er dann nach Athen zum Studium entsandt. Ob und inwiefern in heidnischen Kreisen Julians Konversion bekannt war, wie Libanios es beschreibt,285 ist unsicher; nach außen agiert Julian als Christ. Eine Episode, die er in einem späteren Brief berichtet,286 zeigt jedoch, daß zumindest sein Interesse für die heidnische Antike bekannt war. Von Konstantius an den Hof berufen, reist er über Ilion. Um die Tempel aufsuchen zu können, gibt er sich als Tourist aus und läßt sich vom örtlichen Bischof Pegasius durch die Stadt führen. Dieser ist ihm vom Hörensagen als militanter Christ und Tempelzerstörer bekannt und verhaßt. Beim Rundgang zeigt Pegasius Julian die Tempel im guten Zustand und gibt sich gegenüber dem Prinzen, wenngleich sehr verdeckt, durch 284 Vgl. dazu BRAUN 1978, 159–166. Er nimmt eine plausibel abwägende Mittelposition ein und betont, daß die Texte, allen voran Julians eigenes Zeugnis, eine Konversion beschreiben, daß aber Julian keinen dramatischen Bruch durchgemacht habe, wie BIDEZ ihn beschreibt, da er auch in seiner Jugend zwar Christ, aber kein überzeugter gewesen sei. 285 Or. XIII, 14–15. Seine Behauptung, daß die gesamte kleinasiatische heidnische Elite von der Konversion wußte und eine regelrechte pro-julianische Partei darstellte, wird als rhetorische Übertreibung anzusehen sein. Vgl. dazu WIEMER 1995, 98f. 286 Ep. 79.
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seine ehrfürchtige Haltung vor den Tempeln und Statuen als Gesinnungsgenosse zu erkennen. Somit offenbart Julian schon unter Konstantius vorsichtig seine heidnischen Sympathien.287 Seine Studienzeit in Athen wird in den Quellen unterschiedlich dargestellt. Eunapius reduziert sie auf die Unterweisung des eleusinischen Hierophanten. Gregor von Nazianz beschreibt Julian als Mitstudenten der Rhetorik.288 Julian selbst stellt diese Zeit zwei Jahre später im Winter 356/357 in der Lobrede auf Eusebia als Weiterführung seiner philosophischen Studien dar. Er vergleicht die Lage der Philosophie und Bildung in Griechenland mit den Quellen des Nils: Aufgrund der Bildung und der Philosophie ist es, wie ich meine, den Angelegenheiten Griechenlands ähnlich ergangen wie in den ägyptischen Mythen und Erzählungen. Denn auch die Ägypter erzählen ja, daß der Nil bei ihnen sowohl in allen anderen Dingen ein Bewahrer und Wohltäter des Landes sei, als auch das Verderben durch Feuer von ihnen abhalte, jedesmal wenn die Sonne durch bestimmte lange periodische Umläufe mit edlen Sternen zusammenkomme und durch die Zusammenkunft die Luft mit Feuer erfülle und alles verbrenne. Denn sie habe nicht die Kraft, die Quellen des Nils zu zerstören oder zu erschöpfen. Also ist nun auch von den Griechen die Philosophie nicht vollends entschwunden, und sie hat weder Athen noch Sparta noch Korinth verlassen. Am allerwenigsten leidet Argos Durst wegen Quellen. Denn viele fließen in der Stadt selbst, viele auch vor der Stadt um jenen alten Mases. Peirene selbst ist jetzt im Besitz von Sikyon und nicht von Korinth. Die Athener aber besitzen zum einen viele klare einheimische Wasserströme, zum anderen strömen von außen viele hinzu und wogen heran, die nicht weniger wertvoll sind als die inneren.289
Unter Rückgriff auf den von Platon im Timaios berichteten Mythos290 spielt Julian in vorsichtig-unpräziser Ausdrucksweise auf die gegenwärtigen Zustände in Griechenland an. Widrige Umstände bedrohen ganz Griechenland, das jedoch durch die Philosophie vor dem Untergang bewahrt werde. Diese Widrigkeiten, denen die Philosophie ausgesetzt ist, sind aus Julians Sicht am ehesten die kaiserliche Bevorzugung des Christentums und Verdrängung des Heidentums. Damit erscheint die Philosophie als Teilbereich des Heidentums,291 als bedrohte, aber letztlich nie versiegende rettende Quelle. Die Nennung der verschiedenen Städte könnte auf 287 Vgl. WIEMER 1995, 99. Anders ROSEN 1997, 136f, der die Ansicht vertritt, daß Julian zu dem Zeitpunkt nur an der alten Kultur interessiert, nicht aber als Konvertit anzusehen sei. 288 Or. V 23f. 289 Or. II 12, 119a–d: Παιδείας δὲ ἕνεκα καὶ φιλοσοφίας πέπονθεν οἶμαι τὰ τῆς Ἑλλά‐ δος παραπλήσιόν τι τοῖς Αἰγυπτίοις μυθολογήμασι καὶ λόγοις· λέγουσι γὰρ δὴ καὶ Αἰγύπτιοι τὸν Νεῖλον παρ’ αὐτοῖς εἶναι τἀ ἄλλα σωτῆρα καὶ εὐεργέτην τῆς χώρας καὶ ἀπείργειν αὐτοῖς τὴν τοῦ πυρὸς φθοράν, ὁποτὰν ἥλιος διὰ μα‐ κρῶν τινων περιόδων ἄστροις γενναίοις συνελθὼν καὶ συγγενόμενος ἐμπλήσῃ τὸν ἀέρα πυρὸς καὶ ἐπιφλέγῃ τὰ σύμπαντα· οὐ γὰρ ἰσχύει, φασίν, ἀφανίσαι οὐδὲ ἐξαναλῶσαι τοῦ Νείλου τὰς πηγάς. Οὔκουν οὐδὲ ἐξ Ἑλλήνων παντελῶς οἴχεται φιλοσοφία, οὐδὲ ἐπέλιπε τὰς Ἀθήνας οὐδὲ τὴν Σπάρτην οὐδὲ τὴν Κόρινθον· ἥκι‐ στα δέ ἐστι τῶν πηγῶν ἕκητι τὸ Ἄργος πολυδίψιον· πολλὰι μὲν γὰρ ἐν αὐτῷ τῷ ἄστει, πολλαὶ δὲ καὶ πρὸ τοῦ ἄστεως περὶ τὸν παλαιὸν ἐκεῖνον Μάσητα· τὴν Πειρήνην δὲ αὐτὴν ὁ Σικυὼν ἔχει καὶ οὐχ ἡ Κόρινθος· τῶν Ἀθηνῶν δὲ πολλὰ μὲν καὶ καθαρὰ καὶ ἐπιχώρια τὰ νάματα, πολλὰ δὲ ἔξωθεν ἐπιρρεῖ καὶ ἐπιφέρε‐ ται τίμια τῶν ἔνδον οὐ μεῖον· 290 Vgl. Timaios 22c–d. 291 Vgl. BIDEZ 1972a, 92, Anm. 3.
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Begegnungen mit bestimmten Philosophen hindeuten. Anscheinend begegnet Julian in Athen sowohl athenischen als auch fremden Philosophen.292 Der wichtigste dieser hier namenlosen Philosophen, ist der Neuplatoniker Priscus, dessen Unterricht er besucht.293 Von den anderen haben sich keine Spuren erhalten. 3.7. JULIAN ALS CAESAR 3.7.1. Die Erhebung zum Caesar: Philosophie und politische Macht Nach den Studienmonaten in Athen wird Julian 355 wieder an den kaiserlichen Hof berufen und nach einer Zeit der Unsicherheit zum Caesar erhoben und nach Gallien entsandt. In seinen Schriften betont er, daß dieser Schritt gegen seinen Willen vollzogen wurde. Die erste Erwähnung dieser Episode findet sich in seiner Lobrede auf Eusebia. Julian beschreibt, wie Eusebia ihm geraten habe, die neue Würde anzunehmen: (...) Sie forderte mich auf, Mut zu fassen und weder aus Angst vor der Größe der Geschenke ihren Empfang zu verweigern, noch mit grob-bäurischer und allzu frecher freimütigen Rede die aus der Not geborene Bitte dessen, der mir solch große Wohltaten erwiesen hatte, schimpflich zu mißachten.294
Die hier Eusebia in den Mund gelegten Worte greifen eine Reihe von Stichwörtern auf, die mit dem Verhalten des Philosophen – vor allem des Kynikers – assoziiert sind. Den Philosophen kommt das Privileg der παρρησία, der freimütigen, schonungslosen Rede im Umgang mit allen Menschen,295 auch den Herrschern, zu; ihr Verhalten erscheint den unphilosophischen Massen als bäurische Derbheit, ἀγροικία, da sie außerhalb der menschlichen Durchschnittsgesellschaft mit ihren Konventionen stehen und kompromißlos allein nach dem Maßstab der philosophischen Tugenden leben296 und sich auf die nackte Wahrheit konzentrieren, die im Gegensatz zur schmeichelnden Rhetorik die Menschen ohne Beschönigung direkt mit den Tatsachen konfrontiert. Julian stellt sich durch Eusebia als Philosoph dar, der über weltliche Dinge erhaben ist und Macht verachtet. Dies baut er im folgenden aus, indem er auf seinen Unwillen anspielt, das Amt anzutreten, und auf den Kontrast zwischen dieser ungewohnten Position und seinem einfachen Lebens292 BIDEZ 1972a, 93, Anm. 4 erwägt darin eine Anspielung auf Priscus oder Maximus von Ephesus. 293 S. dazu R. SMITH 1995, 30–33. 294 Or. II, 13, 121b–c: θαρρεῖν κελεύουσα καὶ μήτε τὸ μέγεθος δείσαντα τῶν δεδομέ‐ νων ἀρνεῖσθαι τὸ λαβεῖν, μήτε ἀγροίκῳ καὶ λίαν αὐθάδει χρησάμενον παρρησίᾳ φαύλως ἀτιμάσαι τοῦ τοσαῦτα ἐργασαμένου ἀγαθὰ τὴν ἀναγκαίαν αἴτησιν. 295 Zur Bedeutung der parrhesia als Merkmal des Philosophen vgl. HAHN 1989, 41f. Schon Platon, Gorgias 487a sieht darin eine notwendige Voraussetzung des Philosophierens. 296 Dieser Kontrast zwischen dem genußorientierten Verhalten der Masse und der philosophischen Ethik findet sich auch im Misopogon, wo Julian der moralischen Erziehung durch Mardonios gedenkt: dieser habe das, was den Antiochenern als ἀγροικία vorkomme, als σεμνό‐ της bezeichnet (351c).
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stil.297 Ähnlich wird diese Wende in seinem Brief an die Athener beschrieben, der im Sommer 361 als Teil einer Reihe von offenen Briefen an verschiedene Städte des Reiches entstand. In diesen Briefen versucht Julian, sein Handeln, vor allem seinen Bruch mit Konstantius, zu legitimieren und für sich zu werben.298 Er beschreibt dort die innere Distanz, die ihn von der Welt des Hofes trennt. Wehrlos habe er seinen Bart abrasieren lassen und militärischen Habitus anlegen müssen; der Bart signalisiert hier den Philosophen. Seine bescheidene Zurückgezogenheit habe ihn als Fremdkörper in der Welt des Hofes auffallen lassen.299 Die Annahme der Caesarenwürde sei nur widerstrebend aufgrund einer göttlichen Traumvision erfolgt.300 Sowohl hinsichtlich der Lobrede auf Eusebia als auch des Briefes an die Athener ist zu beachten, daß das Image des Philosophen, der gegen seinen Willen in eine ihm fremde Welt gezwungen wird, für Julian aufgrund der äußeren Umstände sehr brauchbar ist. Die Lobrede verfaßt er als Caesar, in einer Situation, in der er – eingedenk des tragischen Schicksals seines Bruders – darauf bedacht sein muß, jeden möglichen Verdacht zu vermeiden, daß er politische Macht anstrebe oder angestrebt hätte. Im Brief an die Athener muß Julian sich gegen den Vorwurf der Usurpation rechtfertigen. Dies wirft die Frage auf, ob Julian dieses Bild von sich nur gezielt instrumentalisiert oder sich tatsächlich damit identifiziert. Julianfreundliche Quellen greifen Julians Selbstdarstellung auf und bestätigen sie. So beschreibt Ammianus Marcellinus, wie Julian, der den Philosophenmantel trägt,301 von Konstantius feierlich zum Caesar proklamiert wird;302 anschaulich schildert er Julians Anflüge von Traurigkeit über seinen ungewollten Aufstieg zur Macht.303 Die Schilderung, die vielleicht auf einen Augenzeugenbericht zurückgeht,304 ist natürlich sehr idealisiert. Eunapius berichtet ebenfalls von Julians Unwillen angesichts seiner Erhebung zum Caesar. Erst später habe Julian, gelenkt durch seinen Freund und Leibarzt Oreibasios, allmählich die positiven Seiten der Macht erkannt und die Usurpation konsequent betrieben.305 Während Ammian und Eunapius Julian folgen und einen Gegensatz zwischen politischer Macht und philosophischem Leben konstruieren, vertritt Themistios eine diametral entgegengesetzte Position. Auch er stellt zwar Julian als Philosophen dar und wertet seine Erhebung zum Mitregenten in einer Lobrede auf Konstantius als glanzvollen Beweis für dessen philosophische Gesinnung. Kaiserherrschaft und Philosophie seien vereint; Platons Gebet für das Wohl der Menschheit somit erfüllt.306 Aber das Ideal des Philosophen, das er Julian in einem verlorenen Gratulationsschrei297 Or. II, 13–14, 121c–d. 298 Vgl. BIDEZ 1972a, 210. 299 Brief an die Athener 5, 274c–d. Vgl. dazu die Anekdote über Julians Unwilligkeit und Traurigkeit bei seiner Krönung Amm. XV 8,11 und 17. 300 Brief an die Athener 6, 275c–d. 301 Amm. XV 1: etiam tum palliatum. 302 Amm. XV 4–17. 303 Amm. XV,11 und 17. 304 So ROSEN 2006, 133. 305 VS VII 3, 6–8. 306 Themistios, Or. II, 40a–b.
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ben unterbreitet, besteht gerade in der politischen Betätigung zum Wohle der Mitmenschen. Julian reagiert darauf mit dem Brief an Themistios. Die Abfassungszeit des Briefes ist umstritten; einige Forscher setzen ihn zu Beginn der Caesarenzeit Julians an, andere 361, nach dem Tod des Konstantius.307 Nach der neueren Forschung lassen sich zwei Schichten unterscheiden. Julian scheint den Großteil des Briefes als Antwort auf ein Gratulationsschreiben des Themistios anläßlich seiner Erklärung zum Caesar verfaßt zu haben. Der Brief wurde jedoch nicht abgeschickt; bei seiner Proklamation zum Augustus schrieb Julian einen Schluß und publizierte den Brief, weil dieser ein brauchbares Licht auf seine Einstellung zur Macht warf.308 Wenn diese Hypothese stimmt, dann hätten wir mit diesem Brief ein Dokument aus Julians früher Caesarenzeit; nur die zwei letzten Paragraphen würden der Zeit nach der Proklamation zum Augustus angehören.309 Themistios’ Position kann aus Julians Brief rekonstruiert werden. Seine Kernthese ist, daß Julian, der sich schon lange mit der Philosophie beschäftigt habe, als Caesar die einmalige Chance eröffnet worden sei, die philosophischen Lehren in die Praxis umzusetzen und somit den Gipfel der Philosophie, der eben im Handeln und nicht in der Theorie zu suchen sei, zu erreichen. Julian sei in derselben Situation wie Herakles und Dionysos, aufgerufen, Philosoph und Herrscher zu werden;310 das epikureische λάθε βιώσας sei völlig fehl am Platz.311 Themistios betrachtet die Caesarenwürde somit nicht als Abwendung von der Philosophie, sondern als einen Übergang „von der ‚überdachten‘ Philosophie zur Philosophie unter freiem Himmel“.312 Diese Aufforderung wird auf dem Hintergrund von Themistios’ Konzeption der Philosophenrolle verständlich. Er tritt in seinen Reden unermüdlich dafür ein, daß die Philosophie sich nicht à la Epikur aus dem öffentlichen Leben zurückziehen dürfe, sondern dem Gemeinwesen dienen solle. Die Philosophie seiner Zeit, die die Öffentlichkeit meide und ein kümmerliches Leben in dunklen Zimmern auf Ruhebetten friste, sei ihrer eigentlichen Aufgabe, die Menschen zu erziehen und zu heilen, wie sie Sokrates, Platon und Aristoteles vertraten, untreu geworden und müßte sich wieder darauf besinnen.313 Die Erörterung der „göttlichen“ Fragen – der naturwissenschaftlichen und spekulativen Untersuchungen – sei natürlich dem engen Kreis der Schulen vorbehalten, aber die praktische Philosophie sei unbedingt für das Volk zu popularisieren.314 Um dieser Aufgabe effektiv nachzukommen, sei es nicht nur notwendig, daß die Philosophen öffentliche Reden halten, sondern daß sie diese auch kunstvoll gestalten, um ihr Publikum zu
307 Einen Überblick über die Datierungsvorschläge findet sich bei BARNES und VANDER SPOEL (sic) 1981, 187. 308 Vgl. BARNES und VANDER SPOEL (sic) 1981, 187–189, gefolgt von R. SMITH 1995, 28. 309 VANDERSPOEL 1995, 119: „Because of the nature and date of its composition, this letter offers a candid account of Julian’s actions and attitudes. not propaganda. Only the final paragraphs reflect the situation of 360.” 310 Brief an Themistios 1, 253c. 311 Ebd. 2, 255b. 312 Ebd. 9, 262d. 313 Vgl. Or. 26, 317d–320b, 324c–325d oder Or. 28, 341b–342d. 314 Vgl. Or. 26, 327a–328c (bes. 327a–b).
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bewegen.315 Die praktische Umsetzung dieser Forderungen ist sein vielfältiges politisches Engagement: er ist maßgeblich an der Erweiterung des Senates von Konstantinopel beteiligt316 und betätigt sich als kaiserlicher Redner, Berater und Erzieher.317 Julian vertritt in seiner Antwort eine andere Konzeption von den Aufgaben des Philosophen und versucht, den Vorzug der philosophischen Kontemplation vor dem tätigen Leben zu begründen.318 Philosophen seien von großer Bedeutung für die Menschheit, nicht aber durch ein etwaiges politisches Engagement, sondern durch ihre Lehren und ihr Vorbild, durch welche sie die Menschen verbessern könnten.319 Sokrates, der auf diese Weise über seinen Tod hinaus bis in die Gegenwart Menschen rette, sei somit der Vorzug vor Alexander zu geben: Wer wurde nun durch Alexanders Sieg gerettet? Welche Stadt wurde besser verwaltet? Welcher Privatmann besserte sich? (...) Alle aber, die heutzutage durch die Philosophie gerettet werden, werden wegen Sokrates gerettet.320
Wie bei seinen vorher untersuchten Äußerungen bleibt fraglich, ob hier tatsächlich „a candid account of Julian’s actions and attitudes“321 vorliegt, oder ob es sich um eine rein äußerliche Geste handelt, die seine Freude an der Macht verschleiern soll. Aufgrund der erhaltenen Aussagen Julians über diese Zeit kann dies nicht entschieden werden, da sie alle in Situationen verfaßt sind, in denen eine Distanzierung von der Macht aus verschiedenen Gründen sinnvoll war. Ammianus und Eunapius bestätigen, daß er gegen seinen Willen zum Caesar erhoben wurde. Beide sind zwar viel später geschrieben und sind stark pro-julianisch; Eunapius könnte aber für diese Zeit zutreffende Informationen bieten, da er auf die Memoiren des zur Abfassungszeit seiner Biographien noch lebenden Oreibasios zurückgreift. Es ist somit nicht unbegründet, Julians Aussagen zu akzeptieren. Als Indikator für das tatsächliche Gewicht dieser Aussagen kann die Bedeutung angesehen werden, die er der Philosophie in seinem Leben und Selbstverständnis als Caesar beimißt. 3.7.2. Julians Selbstdarstellung als Philosoph Die frühesten Zeugnisse für die Bedeutung der Philosophie für Julian während seiner Caesarenzeit sind die Lobreden auf Konstantius und Eusebia, die er als Caesar in Gallien verfaßt. In ihnen tritt Julian, angelehnt an die Konstantiusreden 315 Diesem Thema ist Or. 28 gewidmet. Vgl. auch Or. 26, 315a–c, 319c–d. 316 Zur Erweiterung des Senates von Konstantinopel 357 und Themistios’ Aufgaben vgl. VANDERSPOEL 1995, 61ff. 317 Dazu vgl. VANDERSPOEL 1995, 71–217, der die Beziehungen des Themistios zu verschiedenen Kaisern nachzeichnet. 318 Brief an Themistios 10–11, 263c–266c. Vgl. dazu VAN LIEFFERINGE 1999, 225. 319 Brief an Themistios, 10–11, 264b–266c. 320 Brief an Themistios 10, 264d: Τίς νῦν ἐσώθη διὰ τὴν Ἀλεξάνδρου νίκην; Τίς πόλις ἄμεινον ᾠκήθη; Τίς αὑτοῦ γέγονε βελτίων ἰδιώτης ἀνήρ; (...) Ὅσοι δὲ σῴζονται νῦν ἐκ φιλοσοφίας, διὰ τὸν Σωκράτη σῴζονται. 321 VANDERSPOEL 1995, 119.
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seines ehemaligen Lehrers Themistios, als Philosoph auf, der sich der Rhetorik lediglich für die Zwecke der Philosophie bediene.322 Im ersten Panegyrikus stellt er zu Beginn klar, daß er kein Rhetor sei, sondern „in anderen Studien großgeworden und erzogen“, nämlich in der Philosophie.323 Deren Gesetz schreibe ihm vor, stets nach dem Schönen zu streben, deren edelste Ausprägung die Tugend sei. Um diese zu propagieren, dürften alle Redegattungen eingesetzt werden, solange sich der Redner seiner Verantwortung bewußt sei und nichts sage, was gegen die Philosophie oder die Tugend gehe.324 Daher wolle er den Kaiser, dessen Tugend allen offensichtlich sei, loben, indem er weniger seine äußerlichen Taten, als vielmehr seine Tugenden in den Mittelpunkt stelle.325 Noch deutlicher hebt er sein Philosophentum in der zweiten Lobrede auf Konstantius hervor, deren ersten Teil er zunächst strikt nach den Konventionen der Rhetorik gestaltet.326 In einem Mittelteil legt er in Anlehnung an Platons Gorgias den Gegensatz zwischen Philosophie und Rhetorik dar, um Sokrates als Vorbild für den wahren, an der Tugend orientierten philosophischen Lobpreis zu wählen.327 Diese philosophische Lobrede trägt er anschließend in Form eines Fürstenspiegels vor.328 In der Rede auf Eusebia gedenkt er ihrer Wohltaten, die sie ihm aus Hochachtung für die Philosophie, zu deren Anhängern sie ihn zählte, erwiesen habe: Denn wir haben uns nicht von unserem Thema entfernt, als wir zeigen wollten, wie viele Wohltaten sie uns aus Hochachtung für den Namen der Philosophie verschaffte. Ich weiß nicht wie dieser Name mir beigelegt wurde, da ich zwar durchaus helle Freude an dieser Arbeit gefunden hatte und von leidenschaftlichster Liebe zur Sache ergriffen worden war, aber hinter dem Ziel zurückblieb. Er blieb auf unerfindliche Art und Weise ein bloßer Name und ein Wort ohne tatsächliche reale Grundlage.329
Julian streitet ab, Anspruch auf den Philosophennamen zu haben, denn er liege in der Philosophie weit zurück. Dies dürfte wohl gerade im Vergleich zu den Lobreden auf Konstantius, in denen er im Gegensatz zur Rhetorik als Philosoph spricht, als Bescheidenheitsfloskel aufzufassen sein.330 Noch deutlicher wird dies in dem 322 Zu den Parallelen zwischen Themistios und Julian vgl. BIDEZ 1972a, 5f. Julian und Themistios scheinen über ihre Reden auf Konstantius im Austausch gestanden zu haben: nachdem Julian seine zwei Lobreden nach seinem Beispiel verfaßt hatte, scheint sich Themistios in seiner dritten Rede auf Konstantius an Julians erster Rede orientiert zu haben. Vgl. dazu GLADIS 1907, 56 und BRAUCH 1993b, 82. 323 Or. I 1, 3c–d. 324 Or I 2, 3d–4b. 325 Or. I 3, 4c–5b. 326 Or. III, 1–23, 49c–78a. 327 Or. III 23, 78b–79d. 328 Or. III, 24–39, 80a–101d. 329 Or. II, 13, 120b–c: οὐ γὰρ ἀλλοτρίων ἡψάμεθα λόγων δεῖξαι ἐθέλοντες ὅσων ἡμῖν ἀγαθῶν αἰτία γέγονε τιμῶσα τὸ φιλοσοφίας ὄνομα. Τοῦτο δὲ, οὐκ οἶδα ὅντινά μοι τρόπον ἐπικείμενον, ἀγαπήσαντι μὲν εὖ μάλα τὸ ἔργον καὶ ἐρασθέντι δεινῶς τοῦ πράγματος, ἀπολειφθέντι δέ, οὐκ οἶδα ὅντινα τρόπον ὄνομα ἐτύγχανε μόνον καὶ λόγος ἔργου στερόμενος. 330 Anders BOUFFARTIGUE 1992, 547, der Julians Beteuerungen ernst nimmt und behauptet: „en vertu de la représentation, dominante à cette époque, de la philosophie comme ascension spi-
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Brief an Themistios. Der Hauptteil, der auf die Caesarenzeit zurückgehen könnte, ist von der Behauptung eingerahmt, daß Julian trotz seiner Liebe zur Philosophie wegen äußerer widriger Umstände sein Ziel nicht habe erreichen können.331 Im Brief entwickelt er jedoch eine philosophische Disputation über den Wert des philosophischen Lebens, in der er sich nicht scheut, die Aristotelesinterpretation seines ehemaligen Lehrers zu verwerfen und eine eigene zu entwickeln.332 3.7.3. Heidnischer Neuplatonismus in den Schriften des Caesars Julians Schriften aus dieser Zeit enthalten verschiedene Motive, die seinen philosophischen und religiösen Hintergrund durchscheinen lassen. Die meisten solcher Motive finden sich in der zweiten Lobrede auf Konstantius. Dort werden im ersten Teil Konstantius’ Taten parallel zu Episoden aus der Ilias geschildert; in einem zweiten Teil zeigt Julian, daß Konstantius das philosophische Ideal des Königtums verwirkliche.333 Der Tenor der Rede ist ambivalent: Julian evoziert zu Beginn den verhängnisvollen Streit zwischen Achilles und Agamemnon; sein Fürstenspiegel, der vordergründig als Illustration der Qualitäten des Konstantius dienen soll, kann als sein eigenes Regierungsprogramm gelesen und somit als politisches Manifest aufgefaßt werden.334 Auch fallen bestimmte Ideen und Begriffe, die Julians Nähe zum Heidentum und somit eine Spannung zum Christentum des Kaisers andeuten. Generell ist zu bemerken, daß Julian in dieser Rede oft den Plural benutzt, wenn er von Göttern spricht. Wenngleich das literarische Genre des Panegyrikus beachtet werden muß und Anspielungen auf die heidnischen Götter als schmükkende Metaphern sehr wohl auch bei christlichen Rhetoren bekannt sind,335 ist dies auffällig, da christliche Panegyriken grundsätzlich von den Göttern im Plural nur dann sprechen, wenn es um Allegorien geht, und heidnische Rhetoren vor christlichen Kaisern den Stein des Anstoßes vermeiden, indem sie den Singular sowie unbestimmte Wendungen wie numen oder τὸ κρεῖττον benutzen. Ein besonders deutliches Beispiel für diese Praxis bieten z. B. gerade die Reden des Themistios oder des Libanios vor Konstantius.336 Im ersten Teil erwähnt Julian, wie Hektor sich aus der Schlacht in die Burg zurückzieht, um seine Mutter zu bitten, mit den anderen Frauen Athene anzurufen.
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rituelle de type initiatique, le titre de philosophe revenait à l’ élève parvenu à un certain niveau de cursus, et ce niveau, Julien ne l’ a pas atteint. » Allerdings läßt sich ein derart differenzierter Umgang mit dem Philosophentitel nicht belegen. Daher ist FOUSSARD 1978, 191 der Vorzug zu geben, der den lebenspraktischen Charakter der Philosophie betont und darauf hinweist, daß Julian zwar kein philosophisches System entwickelt, wohl aber sein Leben und seine Politik nach philosophischen Prinzipien gestaltet habe. Brief an Themistius 2, 254b und 12, 266c. Ebd. 10–11, 263b–266c. Vgl. BIDEZ 1972a, 109–111. Vgl. BIDEZ 1972a, 112ff. S. dazu HUNGER 1978. Vgl. ROSEN 1997, 131 über Themistios, Or. I, und Libanios, Or. 59.
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Julian kritisiert dieses Verhalten: es zieme sich, daß der Heerführer oder König als Priester und Prophet die Verehrung Gottes selbst vollziehe und sie nicht anderen delegiere. Dies ist die erste Äußerung eines Leitgedankens seiner späteren eigenen Regierung, der ihm das Unverständnis und den Spott weiter Kreise seiner Untertanen einbringen wird. Um diese Maxime zu begründen, greift Julian einen Gedanken aus Platons Menexenos auf und wandelt ihn ab: hatte Platon behauptet, daß der Mensch sein Wohlergehen und seine Glückseligkeit nur von sich selbst abhängig machen sollte,337 so ersetzt Julian „sich selbst“ durch „Gott“. Im folgenden versucht er, die Äquivalenz dieser beiden Formulierungen zu beweisen: Denn mit „sich selbst“ meint er natürlich nicht den Leib oder den Reichtum oder den Adel und Ruhm der Vorfahren. Denn diese Dinge sind zwar der besondere persönliche Besitz eines Menschen, aber sie machen sein Selbst nicht aus; dieses wird durch den Intellekt und durch das Denken, wie Platon sagt, und insgesamt durch den in uns wohnenden Gott konstituiert. Diesen hat Platon selbst an einer anderen Stelle als die höchste Form der Seele in uns bezeichnet und behauptet, daß Gott ihn einem jeden als Daimon geschenkt habe, nämlich die Form, die wir an der höchsten Stelle unseres Körpers ansiedeln und von der wir annehmen, daß sie uns von der Erde zu unserer himmlischen Verwandtschaft erhebe.338
Mit einem fast wörtlichen Zitat aus Platons Timaios339 erklärt Julian die Übereinstimmung der beiden Formulierungen aufgrund der Göttlichkeit der menschlichen Seele. Dieser daimon im Menschen sei aufgrund seiner Natur leidenschaftslos und mit Gott verwandt.340 Gott wird als der reine, mit dem Körperlichen unvermischte Nous bezeichnet. Dem Nous sollte man die Führung im menschlichen Leben überlassen; ihm zu gehorchen, indem man nach der Tugend strebt, sei das gottgefälligste Verhalten.341 Dennoch sei der gesetzliche Kult nicht etwa zu unterlassen: Julian definiert die Frömmigkeit mit Platons Euthyphron als Teilklasse der Gerechtigkeit und somit der Tugend.342 Hier zeigt sich, daß Julian die platonische Anthropologie und Tugendlehre verinnerlicht hat. Um seine philosophische Kompetenz zu zeigen, spielt er hier mit verschiedenen Platonstellen und ihrer Terminologie. Kritik an Platon wird dabei keineswegs laut; es geht nur um die richtige Interpretation.343 Julians Aneignung der platonischen Anthropologie mit ihrer Betonung der Göttlichkeit des menschlichen Nous könnte für christliche Ohren provokativ wirken; dennoch ließen sich auch bei christlichen Autoren, etwa bei Gregor von Na-
337 Menexenos 247d–284a. 338 Or. III 15, 68d–69a: Τὸ γὰρ σεαυτοῦ οὐ δήπου τὸ σῶμά φησιν, οὐδὲ τὰ χρήματα οὐ‐ δὲ εὐγένειαν καὶ δόξαν πατέρων· ταὐτα γὰρ αὐτοῦ μέν τινος οἰκεῖα κτήματα, οὐ μήν ἐστι ταῦτα αὐτός, ἀλλὰ νῷ καὶ φρονήσει, φησί, καὶ τὸ ὅλον τῷ ἐν ἡμῖν θεῷ· ὃ δὴ καὶ αὐτὸς ἑτέρωθι κυριώτατον ἐν ἡμῖν ψυχῆς εἶδος ἔφη, καὶ ὡς ἄρα αὐτὸν δαί‐ μονα θεὸς ἑκάστῳ δέδωκε, τοῦτο ὃ δή φαμεν οἰκεῖν μὲν ἡμῶν ἐπ’ ἄκρῳ τῷ σώ‐ ματι, πρὸς δὲ τὴν ἐν οὐρανῷ ξυγγένειαν ἀπὸ γῆς ἡμᾶς αἴρειν. 339 Timaios 90a ff. 340 Or. III, 16, 70b. 341 Or. III, 16, 70b–c. 342 Or. III 16, 70d. S. Euthyphron 12d. 343 Gegen ROSEN 2006, 177.
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zianz, wenngleich sehr spärlich, ähnliche Formulierungen finden.344 Im weiteren Verlauf der Rede kommt Julian bei der Diskussion des wahren, auf Seelengröße und Leistung beruhenden Adels auf die antiken Mythen von verschiedenen Göttersöhnen zu sprechen. Die Alten hätten sie aufgrund ihrer Tugend zu solchen erklärt. Dies würde sich noch im Rahmen gängiger rhetorischer Topoi bewegen, die Christen wie Heiden verwenden konnten.345 Jedoch fährt Julian folgendermaßen fort: Und wir dürfen denen keinen Glauben schenken, welche behaupten, daß jene von ihrer Unwissenheit irregeführt dieses gegen die Götter erdichtet hätten. Denn wenn es auch wahrscheinlich wäre, daß sie bezüglich der anderen Götter oder Dämonen irrten, indem sie ihnen menschliche Gestalten und solcherlei Formen umlegten, da diese eine der sinnlichen Wahrnehmung unsichtbare und entzogene Natur besitzen, die dem scharf denkenden Intellekt nach langen Anstrengungen wegen der zwischen ihnen bestehenden Verwandtschaft entgegentritt, so ist es doch nicht plausibel, daß sie diesem Irrtum auch hinsichtlich der sichtbaren Götter erlegen sein sollten, wenn sie Aietes als Sohn des Helios bezeichneten, einen anderen als Sohn des Morgensterns und andere anderen als Söhne zuwiesen.346
Julian beläßt es nicht bei der Ehrenrettung der heidnischen Antike durch den Hinweis, daß die Rede von den Göttersöhnen eine metaphorische Hervorhebung ihres Seelenadels sei, sondern setzt dabei ein polytheistisches Weltbild als gegeben voraus. Die Alten hätten sich zwar bezüglich der Natur und Darstellungsweise der unsichtbaren Götter und Dämonen geirrt, aber ein Irrtum bezüglich der allen zugänglichen sichtbaren Götter sei höchst zweifelhaft. Somit zeigt diese Passage, daß Julian von der Vielfalt der Götter und Dämonen ausgeht. Seine Unterscheidung zwischen sichtbaren und unsichtbaren Göttern ist ein Strukturmerkmal der neuplatonischen Theologie.347 Julian kritisiert somit den Anthropomorphismus bzw. die Gottesvorstellung der heidnischen Dichter nicht als Christ sondern als platonischer Philosoph.348 Bei dem von Julian entworfenen Idealbild des Herrschers steht die Frömmigkeit an erster Stelle: Er ist in erster Linie fromm und verachtet nicht den Kult der Götter.349
344 Vgl. dazu VOLLENWEIDER 1985, 133. 345 So ROSEN 2006, 177. 346 Or. III 26, 82d: Καὶ οὐ πειστέον τοῖς λέγουσιν ὡς ἄρα ἐκεῖνοι ὑπὸ ἀμαθίας ἐξαπα‐ τώμενοι ταῦτα τῶν θεῶν κατεψεύδοντο· εἰ γὰρ δὴ καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων εἰκὸς ἦν ἐξ‐ απατηθῆναι θεῶν ἢ δαιμόνων, σχήματα περιτιθέντας ἀνθρώπινα καὶ μορφὰς τοιαύτας, ἀφανῆ μὲν αἰσθήσει καὶ ἀνέφικτον κεκτημένων αὐτῶν φύσιν, νῷ δὲ ἀκριβεῖ διὰ ξυγγένειαν μόλις προσπίπτουσαν· οὔτι γε καὶ ἐπὶ τῶν ἐμφανῶν θεῶν τοῦτο παθεῖν εὔλογον ἐκείνους, Ἡλίου μὲν ἐπιφημίζοντας Αἰήτην υἱέα, Ἑωσ‐ φόρου δὲ ἕτερον, καὶ ἄλλους ἄλλων. 347 Vgl. z. B. Jamblich, De myst. I, 19. Damit ist ROSENS Interpretation, der nur die rationalistische Deutung der Mythen berücksichtigt und darin einen Beweis sieht, daß Julian lediglich als gebildeter Christ spreche (2006, 177), widerlegt. 348 Anders ATHANASSIADI 1992a, 65, die keine Kritik, sondern reine „Neoplatonic defence of mythology“ vorliegen sieht; dies widerspricht der genauen Lektüre des Textes. 349 Or. III 28, 86a: ἕστι δὲ πρῶτον μὲν εὐσεβὴς καὶ οὐκ ὀλίγωρος θεραπείας θεῶν.
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Der Plural ist umso auffälliger, da Julian hier ausdrücklich eine philosophische Skizze über die Idealtugenden eines Herrschers zu geben beansprucht und somit keine rhetorische, metaphorische Sprechweise geltend gemacht werden könnte. Julian läßt es jedoch nicht nur bei dieser an exponierter Stelle stehenden Behauptung bewenden. An anderer Stelle erwähnt er den Frevel, sich am Besitz der Götter zu vergreifen.350 Nicht nur der Plural ist hier problematisch; der hier angeprangerte Frevel ist nichts anderes als die von christlichen Kaisern begünstigte und geduldete Zerstörung der heidnischen Tempel, eine äußerst aktuelle und heikle Angelegenheit. Weiter oben hatte er kritisch behauptet, daß man der Sonne trotz der Zerstörung ihrer Tempel und dem Raub ihrer Weihgaben nichts anhaben könne.351 Schließlich läßt es sich Julian nicht nehmen, im Fürstenspiegel den höchsten Gott, den „König der Götter“ als Vorbild des irdischen Kaisers zu bemühen. Dieser wird gut platonisch als Schöpfer ausschließlich des Guten dargestellt.352 Neben der Frömmigkeit behandelt Julian auch die anderen Pflichten des Kaisers, wobei er vor allem auf Platon und Dio Chrysostomos anspielt.353 Julian beschreibt ihn als Heerführer, der das harte Leben und die Anstrengungen der Soldaten teilt,354 als Hüter der Gesetze,355 als Schaffer von Frieden und Wohlstand,356 der für harmonische Relationen zwischen den verschiedenen Teilen des Gemeinwesens – Wächtern und Bauern – sorgt.357 Einem guten Kaiser winkt himmlischer Lohn von den Göttern; nach dem Tod wird er zu ihrem χορευτὴς καὶ συνέσ‐ τιος.358 Diese Stellen zeigen, daß Julian im zweiten Panegyrikus wenngleich verhalten, so doch explizit sein Heidentum zu erkennen gibt.359 Seine geäußerte Wertschätzung für die alten Kulte, die ἔννομος θεραπεία, z. B. den Sonnenkult, ist in den Kontext der neuplatonischen Theologie eingebettet: Julian beruft sich auf philosophische Autoritäten und vertritt die Göttlichkeit der Seele nach Platon, beschreibt Gott als den reinen Nous, unterscheidet zwischen sichtbaren und unsichtbaren Göttern sowie Dämonen und definiert die kultische Frömmigkeit als Teil der Tugend der Gerechtigkeit. Auch die praktische Philosophie kommt in der Rede durch das platonische Regierungsprogramm zum Tragen. Steht im zweiten Panegyrikus auf Konstantius damit neben der theologischen Dimension der Philosophie ihre öffentliche Bedeutung als Richtschnur einer gerechten Regierung im Vordergrund, so tritt in einer anderen Schrift der Zeit en passant der private Aspekt hervor. In einer Trostrede an sich selbst anläßlich der 350 Or. III 29, 89a. 351 Or. III 24, 80c. Die Zerstörung der Tempel unter Konstantin und Konstantius beklagt Julian auch im Mustermythos in der Rede gegen Herakleios (228c). ATHANASSIADI 1992a, 65 sieht an der vorliegenden Stelle eine direkte Drohung an Konstantius. 352 Or. III 30, 90b. 353 Or. III 28–31, 85d–93b. Vgl. dazu die jeweiligen Anmerkungen von BIDEZ 1972a, 161–170. 354 Or. III 28–29, 87a–88b. 355 Or. III 29, 88d–89b. 356 Or. III 32, 92a. 357 Or. III, 28, 86 d–87b und 32, 91d–92b. 358 Or. III 32, 92b. 359 Vgl. BIDEZ 1972a, 114f.; gegen ROSEN 1997, 137f. und 2006, 177.
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Abreise seines Freundes und Mitarbeiters Saloustios setzt Julian die Philosophie zur Trostfindung ein. Sie erscheint als das Korrektiv, welches die Geschichte erst genießbar macht, indem sie sie auf das Wesentliche reduziert und vor unnötiger Erzählung schützt.360 Julian greift in diesen Schriften auf verschiedenstes Wissen aus seinem Philosophiestudium zurück. Allerdings wird die Philosophie für ihn nicht zu einer praktischen Sammlung von Versatzstücken, die bequem zur Demonstration seiner Bildung eingesetzt werden können.361 Auch als Caesar bleibt er mit seinen Philosophielehrern und Kommilitonen in Verbindung. Seine Briefe zeigen, daß er das Studium philosophischer und theologischer Schriften weiterhin nach Möglichkeit verfolgt. Erhalten sind Briefe an Priscus, seinen Lehrer aus Athen,362 sowie ein Brief an zwei Kommilitonen.363 Die Briefe an Priscus sind im überschwenglichfreundlichen Ton spätantiker Freundschaftsbriefe364 geschrieben. Er lädt diesen nach Gallien ein; 365 als dieser sein Kommen ankündigt, bittet er ihn um Jamblichs Kommentar zu den Schriften Julians des Chaldäers,366 da der Schwiegersohn seiner Schwester ja ein gut korrigiertes Exemplar besäße. Damit gewährt Julian einen kurzen Einblick in das Netzwerk, das sich in der Spätantike um einzelne Lehrerpersönlichkeiten bildet und Neuplatoniker und ihre Verwandten zu einer großen Gemeinschaft verbindet.367 Jamblich wird nachdrücklich gegen den Vorwurf des Ehrgeizes verteidigt, der gegen ihn von den Parteigängern seines Rivalen, Theodoros von Asine, erhoben wurde: nach Julian sei er „wahrhaft göttlich und der Dritte nach Pythagoras und Platon“368, kurzum der Gipfel der Philosophie schlechthin: Auch ich selbst bin rasend vor Begeisterung über Jamblich in der Philosophie, über meinem Namensvetter aber in der Theosophie, und ich denke, daß die anderen, um mit Apollodoros zu sprechen, im Vergleich zu diesen nichts sind.369
Jamblich und Julian der Chaldäer stehen für die Theurgie und den sie einbeziehenden Neuplatonismus. Dennoch beschränken sich Julians Interessen nicht darauf. Im selben Brief erklärt er Priscus, daß er durch dessen knappe Zusammenfassungen des Aristoteles diesen viel besser verstanden habe, als Porphyrios in seiner
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Or. IV 3, 244b. Zu dieser Ansicht tendiert SMITH 1995. Ep. 11–13. Ep. 8. S. dazu HUNGER 1978, 222ff. Ep. 11. Vgl. BIDEZ 1972b, 19, Anm. 1. Ep. 12. Die komplizierten Netzwerkstrukturen der östlichen neuplatonischen Elite hat ATHANASSIADI 1993a für das späte fünfte Jahrhundert skizziert; ihre Ergebnisse lassen sich mit dem Beziehungsgeflecht, in welches Julian eingebunden ist, vergleichen. 368 Ebd. 369 Ebd.: καὶ αὐτὸς δὲ περὶ μὲν Ἰάμβλιχον ἐν φιλοσοφίᾳ, περὶ δὲ τὸν ὁμώνυμον ἐν θεοσοφίᾳ μέμηνα, καὶ νομίζω τοὺς ἄλλους, κατὰ τὸν Ἀπολλόδωρον, μηθὲν εἶναι πρὸς τούτους.
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dicken Eisagoge vermitteln könnte.370 Er scheint selbst in seiner Freizeit kurze Studien zu Aristoteles verfaßt zu haben, die er mit Priscus besprechen möchte.371 In einem Brief an zwei Studienfreunde ermahnt er diese, ihre Studien weiterzuführen. Das höchste Gut sei, in aller Muße der Philosophie nachzugehen. Sie sollten sich ernsthaft mit Literatur und Rhetorik beschäftigen, die Wissenschaften (μαθήματα) nicht vernachlässigen und ihre gesamte Arbeit darauf ausrichten, Platon und Aristoteles zu studieren. Das sei die Hauptsache, alles andere Beiwerk.372 Der Brief mag vielleicht, wie ROSEN suggeriert, als höfliche Abweisung der Bitte um eine Einladung nach Gallien geschrieben worden sein373. Er bringt jedoch das zum Ausdruck, was Julian auch sonst in seinen Schriften vermittelt: Literatur und Philosophie als zusammengehörige Bereiche der Bildung, deren Studium das höchste Glück bedeutet. Insofern kann er als ein bescheidenes Zeugnis seiner Einstellung zur Diskussion um das Verhältnis von Philosophie und literarisch-rhetorischer Bildung angesehen werden. Auch unterstreicht der Brief wieder Julians Überhöhung des privaten philosophischen Lebens, die er auch sonst in den Schriften dieser Zeit an den Tag legt. Seine Briefe bestätigen somit den Eindruck, den seine Reden hinterlassen: Julian fühlt sich immer noch zur philosophischen Gemeinschaft seiner Lehrer und Kommilitonen zugehörig. Als höchstes Gut preist er immer noch das zurückgezogene stille Philosophieren an. Dabei legt er besonderen Wert auf Jamblich und die Theurgie, was Eunapius’ Bericht von seiner Begeisterung über Maximus bestätigt. Dennoch betreibt er auch konventionellere Studien und beschäftigt sich mit Aristoteles.
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Ep. 12. Ebd. Ep. 8. ROSEN 2006, 172.
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3.8. JULIAN ALS AUGUSTUS: DER PHILOSOPH AUF DEM KAISERTHRON 3.8.1. Julians Sendungsbewußtsein: die Restauration des Imperiums Julians Proklamation zum Augustus wurde in der Forschung kontrovers diskutiert.374 Dies beruht auf der teilweise widersprüchlichen Quellenbasis. Die Debatte um die genaue Rekonstruktion dieser Episode kann an dieser Stelle nicht aufgerollt werden. Festzuhalten ist, daß seine unverhoffte Rettung durch den Tod des Konstantius in Julian ein ausgeprägtes Sendungsbewußtsein reifen läßt. Die Briefe, die er unmittelbar nach dem Tod des Konstantius an seinen Onkel Julian und seinen Lehrer Maximus schreibt, sind von der Gewißheit geprägt, daß die Götter ihm die Expedition gegen Konstantius befohlen hätten, daß er von den Göttern aller Erwartung zum Trotz von der Niederlage gerettet und zur Reinigung und Wiederherstellung des alten Kultes im Reich auserkoren worden sei.375 Insofern ist dieser Moment die höchste Bestätigung seiner Konversion zu den alten Göttern und markiert den endgültigen Schritt in der Entwicklung eines regelrechten Sendungsbewußtseins.376 Julian sieht sich mit einer göttlichen Mission beauftragt.377 Dieses Selbstverständnis, das hier gegenüber seinen Vertrauten privat geäußert wird, spiegelt sich öffentlich in dem autobiographischen Mythos der Rede gegen den Kyniker Herakleios, wo Julian als der auserwählte Herrscher erscheint, der im absoluten Gehorsam gegenüber den Göttern regieren und somit das unter Konstantin und Konstantius verfallene Reich retten soll. Die im Mythos von den Göttern geäußerten Herrschaftsprinzipien beschränken sich dabei nicht auf den religiösen Bereich. Der Akzent liegt vor allem auf dem richtigen Verhalten zu den Untertanen und der richtigen Auswahl seiner Vertrauensmänner.378 Julians Sendungsbewußtsein ist somit nicht nur auf seine Politik der Restauration der heidnischen Kulte zu reduzieren.379 374 So weist z. B. BOWERSOCK 1978, 46–54 Julian eine aktive Rolle in der Herbeiführung der Proklamation zu. Ähnlich sieht SZIDAT 1997, 66 die Proklamation als Versuch Julians, eine für ihn günstige Regelung der Nachfolge zu erzwingen. Demgegenüber betont ATHANASSIADI 1992a, 72ff. Julians Loyalität gegenüber Konstantius und den inneren Konflikt zwischen eben dieser Loyalität und dem Bewußtsein, von den Göttern als Herrscher auserwählt worden zu sein. Ähnlich auch MATTHEWS 1989, 93ff.: „Julian’s actions are at least compatible with his categorical profession, made before the gods, of good faith and innocence“ (97). 375 Ep. 8 an Maximus (415 c–d), 9 an Julian (382 b–c). 376 Vgl. CRISCUOLO 2001, 367f, der auch die Spuren dieses Sendungsbewußtseins in Julians späteren Anspielungen auf seine Konversion herausarbeitet (365–369). Anders ROSEN 1997, 129 und 143–146, der die Bedeutung des Todes von Konstantius ebenfalls betont, darin jedoch erst den Abschluß von Julians in Pergamon begonnener Konversion sieht. Julian habe bis dahin immer in einem Spagat zwischen Heidentum und Christentum gelebt und sich beide Optionen letztlich freigehalten. 377 Vgl. ANDREOTTI 1978, 166. 378 Or. VII 22, 232a–233c. 379 Diese These entwickelt ANDREOTTI 1978, z. B. 165: „Nicht mehr Dualismus zwischen dem Gläubigen und Staatsmann, dem Soldaten, dem Gesetzgeber, dem Administrator, sondern
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3.8.2. Julian und die praktische Philosophie In den untersuchten Selbstaussagen Julians zur Bedeutung der Philosophie in seinem Leben trat vor allem die praktische Dimension der Philosophie in den Vordergrund. Das Studium der Philosophie erschien als Mittel zur Charakterbildung und –korrektur, als Einübung einer bestimmten Selbstdisziplin und Lebensweise. Dieser Aspekt der Philosophie ist in seinem Auftreten als Augustus sowohl in seiner Regierung als auch in seiner Lebensweise spürbar. Nach Ammianus soll er unmittelbar nach seinem Herrschaftsantritt die üppige Hofhaltung des Konstantius beendet und das Personal drastisch reduziert haben.380 Nach dem Tod seiner Frau habe Julian in absoluter Enthaltsamkeit gelebt, die ihm auch seine Feinde bestätigen könnten. Im Krieg habe er die Lebensweise und karge Ernährung der Soldaten geteilt und sich im Frieden mit so schmaler Kost begnügt, „als sollte er bald zum Philosophenmantel zurückkehren“ 381 Ammianus zieht also explizit die Parallele zwischen der asketischen Lebensweise Julians und dem Image des Philosophen.382 Neben diesem spielen jedoch auch andere Erwartungen an den Kaiser und Feldherrn eine Rolle in der Beschreibung: das Bild des Kaisers, der sich im Felde mit seinen Soldaten solidarisch zeigt und ihre Mühen und Anstrengungen teilt, ist ein Topos, „der bei vielen Schilderungen guter Truppenkommandeure zu finden ist“.383 Der bei Ammianus geschilderte Tagesablauf des Caesars, der Julian sich kaum Schlaf und nur wenig otium, Privatsphäre, einräumen läßt,384 entspricht dem Ideal des verantwortungsbewußten Herrschers, der sich Tag und Nacht im Dienste des Staates betätigt.385 Ein ähnliches Bild ergibt sich auch aus der Schil-
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diese verschiedenen Aspekte werden vielmehr vom Ursprung des Imperiums her erhellt und verschmelzen alle zu der mächtigen Einheit des wirklich existierenden Individuums“. Vgl. auch ATHANASSIADI 1992a, 96–120. Auffällig ist, daß Julians Regierung gerade aufgrund dieser anderen Aspekte auch bei Christen einen bleibenden Eindruck hinterließ. So kann Prudentius Julian folgendermaßen charakterisieren: Principibus tamen e cunctis non defuit unus, me puero, ut memini, ductor fortissimus armis, conditor et legum, celeberrimus ore manuque, consultor patriae, sed non consultor habendae relligionis, amans ter centum milia diuum. Perfidus ille Deo, quamvis non perfidus orbi (...). (Apotheosis 449–454). Vgl. dazu PALLA 1998, 359–371. ROSEN 2006, 54–69 betont hingegen vor allem den religiösen Aspekt des Restaurationsprogramms. Amm. XXII 4. S. auch Claudius Mamertinus, Gratiarum actio 11. Vgl. dazu BOWERSOCK 1978, 71f. Amm. XXV 4, 1–4: namque in pace victus eius mensarumque tenuitas erat recte noscentibus admiranda, velut ad pallium mox reversuri. Vgl. auch Amm. XVI 5,10: cum exercere proludia disciplinae castrensis philosophus cogeretur ut princeps, artemque modulatius incedendi per pyrricham concinentibus disceret fistulis, vetus illud proverbium „clitellae bovi sunt impositae, plane non est nostrum onus“ Platonem crebro nominans exclamabat. STAESCHE 1998, 80. Amm. XVI 5,4–9. STAESCHE 1998, 31f.
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derung des Libanios, wo Julian den Tag außer zwei kargen Mahlzeiten zwischen Staatsgeschäften und philosophischer Lektüre verbrachte.386 Julian selbst läßt seinen harten Tagesablauf en passant in seinen Briefen und Schriften deutlich werden. Seine Nächte opfert er dem Schreiben verschiedener Traktate – so soll der Hymnus auf die Göttermutter in einigen Nachtstunden entstanden sein,387 und der Hymnus auf Helios in drei aufeinanderfolgenden Nächten.388 In seiner Rede gegen den Kyniker Herakleios weist er darauf hin, daß er auf dessen Vortrag nicht früher habe reagieren können, da seine Zeit von unzähligen Regierungsgeschäften beansprucht worden sei.389 Neben diesen beiläufigen Äußerungen, die ihn als Kaiser und Philosophen zeigen, aufgerieben von Regierungsgeschäften und philosophischer Arbeit, wird sein asketisch-philosophischer Lebensstil zusammenhängend und ausgiebig im Misopogon thematisiert. Julians äußeres Erscheinungsbild – die langen, wirren Haare und der ungepflegte Bart des Philosophen,390 seine von Tinte geschwärzten Finger – sowie sein Lebensstil und sein Auftreten stoßen auf beißenden Spott in Antiochien; seine Einmischung in die Angelegenheiten der Stadt auf heftige Ablehnung.391 Julian verteidigt sich mit einer Heftigkeit, welche erkennen läßt, daß die Kritik etwas berührt, was für ihn von großer Bedeutung ist. Er skizziert seine strenge Lebensweise und seine Prinzipien und verteidigt sich mit dem Hinweis auf die strenge Erziehung bei Mardonius. Seine unbeliebten Maßnahmen als Kaiser führt er auf das Studium der Philosophie zurück und rechtfertigt sich mit ausgedehnten Platonzitaten.392 Die Berufung auf die Philosophie als Grundlage für seine Regierung ist kein bloßer Topos. Schon der Schluß des Briefes an Themistios, mag er nun zum Antritt seiner Caesarenzeit oder seiner Kaiserherrschaft anzusetzen sein, ist ein Appell an diesen und andere Philosophen, ihm bei seiner politischen Aufgabe beizustehen. Unter den Einladungsschreiben, die Julian zu Beginn seiner Kaiserherrschaft an verschiedene namhafte Intellektuelle richtet, sind viele an Philosophen gerichtet. Sein Mentor Maximus sowie sein Freund Priscus zählen zu seinem eng386 387 388 389 390
Libanios, Or. XVIII, 174ff. Vgl. STAESCHE 1998, 29ff. Or. VIII 19, 178d. Or. XI 44, 157c. Or. VII 10, 216a. Zur großen Bedeutung von Bart und Haaren als augenfällige Erkennungsmerkmale des Philosophen in der Gesellschaft siehe die Ausführungen von HAHN 1989, 33–45, bes. 44: „Elemente des Äußeren und des Auftretens können so in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Rolle und das Wirken kaiserzeitlicher Philosophen kaum überschätzt werden. Sie waren unentbehrliche Voraussetzungen für den Umgang des Philosophen mit seinem Publikum und elementarer Bestandteil seines Selbstverständnisses. Philosoph zu sein bedeutete, ein Bekenntnis abzulegen, und dieses Bekenntnis musste vornehmlich vor der Öffentlichkeit abgelegt werden: Bart, Haltung und Accessoires waren die augenfälligsten Ausdrucksweisen.“ 391 Die heftigen Debatten um Julians Verhalten in Antiochien zeigen die Bedeutung, die damals dem Verhalten und Auftreten des Kaisers von breiten Teilen der Bevölkerung zugemessen wurde. Julians Auftreten als Philosoph mit unordentlichem Bart entspricht zwar, wie oben dargelegt, den Konventionen zum Erscheinungsbild des Philosophen, widerspricht jedoch denen, die das würdevolle Auftreten eines Kaisers regeln. S. dazu MARCONE 1998, 51f. 392 Misopogon 24–25, 353b–354d.
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sten Vertrautenkreis. Julian bezieht also die Philosophen aktiv in seine Politik ein und läßt sich von ihnen beraten.393 Auch als Augustus räumt Julian somit der Philosophie als Richtschnur sowohl für seinen privaten Lebensstil sowie für seine Regierungsmaßnahmen einen großen Stellenwert ein. In der Rede gegen Herakleios bezeichnet er sich als Feldherr und Philosoph;394 die Philosophie kenne er als vielbeschäftigter Soldat weniger aus den Büchern, als vielmehr aus eigener Erfahrung.395 In den Caesaren läßt er aus dem Wettstreit der Herrscher den Philosophenkaiser Marcus Aurelius als Sieger hervorgehen und präsentiert ihn damit als sein Vorbild. 396 Auch bricht er mit den Konventionen der Kaiserdarstellung und läßt sich wiederholt als Philosoph mit langen Haaren, Bart, Mantel und Schriftrolle darstellen.397 Damit wird deutlich, daß Julian die Identität als Philosoph auch als Kaiser nicht aufgibt, sondern sie gerade zur tragenden Kraft für seine Kaiserherrschaft erhebt.398 Dieses Selbstverständnis als Philosophenkaiser wird auch von seinen Untertanen aufgegriffen und ratifiziert. Ammianus verfaßt seine abschließende Würdigung an Julian anhand der philosophischen Kardinaltugenden. Obwohl der ehemalige Offizier Julian vor allem als Kaiser und Feldherrn zeichnet, äußert sich die Prominenz der Philosophie für den Kaiser in beiläufigen, das alexanderähnliche Bild eher störenden Episoden: Julians öffentlich zur Schau gestellten Hingabe an Maximus oder seinem Vertrauen auf die Philosophen während der persischen Expedition, die Ammian als ungebührlich bewertet. Libanios hebt in seinen Reden und Briefen hervor, daß Julian als Philosoph herrsche und daher Platons Traum vom Philosophenkönig in ihm erfüllt sei.399 Damit greift er denselben Topos auf, den Themistios zu seinem Caesariatsantritt auf Konstantius und Julian projiziert hatte. Neben der Philosophie hebt der Rhetor auch andere Facetten Julians hervor; insbesondere natürlich seine rhetorischen Fertigkeiten.400 Die Philosophie behält in seiner Darstellung deutlich die Oberhand. Auf den handlichen Topos des Philosophenkönigs greift auch Claudius Mamertinus zurück, der Julian dafür lobt, daß er die Philosophie nicht nur an den Hof geholt, sondern sogar auf den Thron gesetzt habe.401 Schließlich sind einige Inschriften zu erwähnen, die Julian als Philosophen fei393 In ein schlechtes Licht rückt Gregor von Nazianz in Or. V 20 dieses Vorgehen, indem er es als leere taktische propagandistische Maßnahme ansieht; Julian habe mit den Eingeladenen letztlich nur gespielt, ohne sie ernsthaft in seine Regierung einzubinden oder ihnen greifbare Beweise seiner Gunst zukommen zu lassen. 394 Or. VII 9, 211b: (…) ἀνδρὶ καὶ στρατηγεῖν καὶ φιλοσοφεῖν ἐθέλοντι. 395 Or. VII 10, 216a. 396 Auch Ammianus sieht die Analogie zwischen Julian und Marcus Aurelius und behauptet XVI 1, 4, daß Julian ihn in seinem Handeln nachzuahmen versuchte (rectae perfectaeque rationis indagine congruens Marco, ad cuius aemulationem actus suos effingebat et mores). 397 Vgl. SCHOLL 1994, 90. Zu Julians Ikonographie vgl. LÉVÊQUE 314f, der drei Darstellungstypen unterscheidet: als Philosoph, als Oberpriester und als Heiliger. 398 S. SCHOLL 1994, 89. 399 Siehe z. B. ep. 694 (an Maximos) 758 (an Julian); 947 (an Priscus) Auch ep. 1431, wo Julian als Nestor gefeiert wird, könnte in diese Reihe eingeordnet werden. SCHOLL 1994, 88f. 400 Ep. 760. 401 Claudius Mamertinus, Gratiarum actio 23.
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ern.402 Drei davon sind von dem Prokonsul der Asia in Ephesus und Pergamon aufgestellt und sind Julian als philosophiae principi403 und filosofiae magistro404 gewidmet. Eine griechische Inschrift aus Iasos auf der Basis einer Marmorstatue erklärt, daß Julian von philosophischen Prinzipien ausgehend regiere.405 Julians Identität als Philosoph wird jedoch nicht nur in heidnischen, sondern auch in christlichen Kreisen rezipiert; Ephraem der Syrer karikiert Julians asketische Lebensweise inmitten seiner Philosophenfreunde.406 Gregor von Nazianz rechnet mit ihm und seinen Parteigängern aufs bitterste ab: „diejenigen, die den Philosophenkaiser bewundern“ sollten sich seine ungerechten antichristlichen Maßnahmen vor Augen halten.407 Von einem Philosophen sei zu erwarten, daß er seine Affekte dominiert, während Julian trotz seinem Anspruch genau das Gegenteil verkörpere.408 Somit kann festgehalten werden, daß Julians Handeln als Augustus faktisch den von Themistios vorgeschlagenen Linien einer politisch engagierten Philosophie entspricht, von denen er sich als Caesar noch distanziert hatte. Dies wird von seiner Umgebung wahrgenommen und aufgegriffen. Bei allen verschiedenen Julianbildern, die sich notgedrungen aus dem jeweiligen Hintergrund ihrer Verfasser ergeben, bildet die Philosophie eine klare, wenngleich unterschiedlich kommentierte, Konstante. Was aber bedeutete diese für Julian? Diese Frage kann aufgrund der besseren Quellenlage für seine Kaiserzeit ausführlicher beantwortet werden, als es für die Zeit davor möglich war. 3.8.3. Julians Philosophieverständnis in den Reden gegen die Kyniker In den Reden gegen die Kyniker spricht Julian als Philosoph, der die Irrtümer der anvisierten Kyniker aufdeckt und sie zur echten Philosophie und dem echten Kynismos zurückführen kann und will. In ihnen wird deutlich, wie Julian die wahre Philosophie definiert und versteht.409 Besonders eignet sich dazu die Rede gegen die ungebildeten Kyniker, die wahrscheinlich einige Monate nach der Rede gegen Herakleios entstanden ist.410 In ihr setzt sich Julian allgemein mit dem Kynismos auseinander. Zu Beginn erörtert er das Wesen der Philosophie, ausgehend von drei gängigen Definitionen, deren Äquivalenz er zu beweisen versucht. Ob man die Philosophie peripatetisch als „Kunst der Künste und Wissenschaft der Wissen402 Die auf Julian bezogenen Inschriften sind gesammelt und kommentiert bei CONTI 2004. 403 Nr. 26 und 27 CONTI. 404 Nr. 28 CONTI. CONTI 2004, 80, ergänzt eine weitere lateinische Inschrift aus dem Gebiet von Smyrna (Nr. 30 CONTI) zu derselben Formel. 405 Nr. 34 CONTI, Z. 2–3: (...) Τὸν ἐκ φιλοσοφίας βασιλεύοντα (...). 406 So etwa Ephraem der Syrer, Hymnus II 9 in englischer Übersetzung in: LIEU 1989, 111f. 407 Or. IV 91. 408 Or. V 21. 409 Für den Hintergrund der Reden vgl. zum einen ATHANASSIADI 1992a, 128–141, die die Reden als Teil eines umfassenden Programms der Etablierung hellenischer paideia im Reich ansieht. Dagegen argumentiert R. SMITH 1995, 49–90, der sie nicht als Programm, sondern als konventionelle Verarbeitung traditioneller Topoi der antikynischen Polemik liest. 410 S. dazu ROCHEFORT 1963, 42.
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schaften“ (τέχνη τεχνῶν καὶ ἐπιστήμη ἐπιστημῶν) definiert oder kynisch, nach dem delphischen Spruch an Diogenes, als Selbsterkenntnis oder wiederum in pythagoreisch-platonischer Manier als größtmögliche Angleichung an Gott mache keinen Unterschied.411 Denn der göttliche Spruch „erkenne dich selbst“ führte zur Erkenntnis des Menschen als Seele, die sich eines Körpers bedient. Somit impliziere sie notwendig die Kenntnis der jeweiligen Zusammenhänge, in welche Seele und Körper stehen – zum einen die Erkenntnis des Göttlichen und Unsterblichen, zum anderen das Wissen um die verschiedenen Künste und Tätigkeiten, die den Körper betreffen.412 Die Selbsterkenntnis des Menschen sei somit der Ursprung aller Künste und Wissenschaften.413 Er sei auch mit der platonischen Forderung nach Angleichung an Gott austauschbar, da gerade das Wissen die Brücke bilde, über welche sich diese Angleichung vollziehen könne.414 Somit seien alle scheinbar verschiedenen Definitionen der Philosophie gleichwertig und die Philosophie trotz ihrer verschiedenen Aspekte und Akzente eine einzige, deren Einheit Julian entschlossen verteidigt: Keiner soll uns also die Philosophie in viele Stücke zerreißen und keiner sie in viele Teile zerschneiden, besser gesagt, keiner soll aus der Einen viele machen. Denn so, wie es nur eine Wahrheit gibt, so gibt es auch nur eine Philosophie; es ist nun aber nicht weiter verwunderlich, wenn wir auf vielen unterschiedlichen Pfaden zu ihr unterwegs sind. (...). Keiner soll es uns vorhalten, wenn einige von denen, die ebendiese Wege gegangen sind, sich verirrten und, nachdem sie irgendwo anders angelangt waren, wie von Kirke oder den Lotophagen von Lust, Ruhm oder von etwas anderem geködert, es aufgaben, weiter zu wandern und das Ziel zu erreichen. Nein, er soll die in Betracht ziehen, die in jeder einzelnen philosophischen Richtung den ersten Rang erreichten, und dann wird er entdecken, daß alles miteinander harmoniert.415
An dieser Stelle wird das eklektische Philosophieverständnis des Neuplatonismus deutlich spürbar. Es gebe nur eine Wahrheit und somit nur eine Philosophie, obwohl zu ihr verschiedene mögliche Wege existierten. Die Philosophie erscheint als Streben nach der Wahrheit, das sich bei allen führenden Köpfen der verschiedenen Schulen in gleicher Weise findet. Der Epikureismus wird dabei als Irrweg beschrieben, der für das Verständnis der Philosophie belanglos ist – Julian scheint ihm nicht einmal den Rang einer eigenen Schule zuzugestehen.416 Das Streben nach Wahrheit, das hier als Wesen der Philosophie angedeutet wird, ist allerdings 411 412 413 414 415
Or. IX,3, 183a. Or. IX, 4, 183a–d. Ebd. 183d. Or. IX, 5, 184b–c. Or. IX 5, 184c und 184d–185a: Μηδεὶς οὖν ἡμῖν τὴν φιλοσοφίαν εἰς πολλὰ διαιρεῖτο, μηδὲ εἰς πολλὰ τεμνέτω, μᾶλλον δὲ μὴ πολλὰς ἐκ μιᾶς ποιεῖτο. Ὥσπερ γὰρ ἀλή‐ θεια μία, οὕτω καὶ φιλοσοφία· θαυμαστὸν δὲ οὐδὲν, εἰ κατ’ ἄλλας καὶ ἄλλας ὁ‐ δοὺς ἐπ’ αὐτὴν πορευόμεθα. (...) Μὴ δὲ τοῦτό τις ἡμῖν προφερέτω εἴ τινες τῶν κατ’ αὐτὰς ἰόντων τὰς ὁδοὺς ἀπεπλανήθησαν, καὶ ἀλλαχοῦ που γενόμενοι, καθ‐ άπερ ὑπὸ τῆς Κίρκης ἢ τῶν Λωτοφάγων ἡδονῆς ἢ δόξης ἤ τινος ἄλλου δελεασ‐ θέντες, ἀπελείφθησαν τοῦ πρόσω βαδίζειν καὶ ἐφικνεῖσθαι τοῦ τέλους, πρωτεύσαντας δὲ ἐν ἑκάστῃ τῶν αἱρέσεων σκοπείτω καὶ πάντα εὑρήσει σύμφωνα. 416 Or. IX 5, 184d–185a.
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nicht nur im theoretischen Sinne als Erkenntnis über Götter, Mensch und Welt zu verstehen; es impliziert auch die Erkenntnis und Umsetzung der dem Menschen angemessenen Lebenspraxis, die zur Glückseligkeit führt: das Lebens gemäß der eigenen Natur,417 entsprechend dem edelsten Seelenteil, der den Menschen vor den Tieren auszeichnet.418 Die wirre Vielfalt der unteren Seelenteile muß dem göttlichen Seelenteil untergeordnet werden.419 Zum echten Kynismos – und somit zur Philosophie – gehört auch die gebührende Verehrung der Götter. Julian unterstreicht, daß Diogenes, den er als Prototyp und Vorbild der Kyniker ansieht, die Götter zwar nicht durch teure Opfer, die er sich nicht hätte leisten können, wohl aber innerlich verehrt habe: Wenn aber jemand ein Zeichen der Gottlosigkeit darin zu entdecken vermeint, daß Diogenes nicht an Tempel, Götterbilder oder Altäre herantrat und sie auch nicht verehrte, so liegt er falsch. Denn er hatte nichts dergleichen, weder Weihrauch, noch Trankspende noch Geld, um sie zu kaufen. Wenn er aber über die Götter richtig dachte, dann reichte dies allein aus; denn er verehrte sie mit der Seele selbst, indem er sein wertvollstes Eigentum hingab, nämlich die Weihung seiner Seele durch die Gedanken.420
Julian stellt hier den inneren Kult durch die richtigen Gedanken über die Gottheit als höchste Form der Gottesverehrung hin, der äußere Kult ist sekundär und letztlich überflüssig. Ähnlich hatte er in der zweiten Lobrede auf Konstantius gesprochen, wo er das Streben nach Tugend unter der Führung des Nous als das Gottgefälligste im menschlichen Leben hervorgehoben hatte. Angesichts von Julians theurgischen Interessen und seinem Engagement als pontifex maximus überrascht die darin implizierte Abwertung des materiellen Kultes; damit würde sich Julian von Jamblich distanzieren, der auch für den Philosophen und fortgeschrittenen Theurgen den materiellen Kult vorsieht, und stärker die Position des Porphyrios reflektieren, nach dem der höchste Gott durch die richtigen Gedanken über ihn und den Aufstieg zu ihm verehrt wird. Greift Julian zu dieser Argumentation nur, um Diogenes’ Frömmigkeit beweisen zu können, ohne die weiteren Implikationen dieser Strategie vollends zu berücksichtigen? Seine Manier, philosophische Traktate hastig in den wenigen ihm zur Verfügung stehenden Nachtstunden zu verfassen, ließe vermuten, daß er seine Thesen und Argumente nicht methodisch in ein lükkenloses, widerspruchsfreies Gedankensystem eingliedert. Die Bedeutung des materiellen Kultes für Julian wird im Kontext seines Wirkens als pontifex maximus weiter zu erörtern sein. Jedenfalls steht für ihn fest, daß die Frömmigkeit, das richtige persönliche Verhältnis zu den Göttern, ein zentraler Aspekt des Kynismos
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Or. IX 13, 193d. Ebd. 194d. Or. IX 15, 197b. Or. IX 17, 199b–c: εἰ δὲ, ὅτι μὴ προσῄει μηδὲ ἐθεράπευε τοὺς νεὼς μηδὲ τὰ ἀγάλ‐ ματα μηδὲ τοὺς βωμούς, οἴεταί τις ἀθεότητος εἶναι σημεῖον, οὐκ ὀρθῶς νομίζει· ἦν γὰρ οὐθὲν αὐτῷ τῶν τοιούτων, οὐ λιβανωτός, οὐ σπονδή, οὐκ ἀργύριον, ὅθεν αὐτὰ πρίαιτο. Εἰ δὲ ἐνόει περὶ θεῶν ὀρθῶς, ἤρκει τοῦτο μόνον· αὐτῇ γὰρ αὐτοὺς ἐθεράπευε τῇ ψυχῇ, διδοὺς οἶμαι τὰ τιμιώτατα τῶν ἑαυτοῦ, τὸ καθοσιῶσαι τὴν ἑαυτοῦ ψυχήν διὰ τῶν ἐννοιῶν.
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bzw. der Philosophie überhaupt ist.421 Noch deutlicher wird diese These in der Rede gegen Herakleios, dem er vor allem verächtlichen Umgang mit den Göttern vorwirft. In einer langen Passage trägt Julian Beispiele für die Frömmigkeit der verschiedenen großen Philosophen zusammen – die Pythagoreer, Platon, Aristoteles und schließlich Diogenes –, um zu beweisen, daß sie für die echte Philosophie unabdingbar sei.422 Dieser Abschnitt bildet den Schluß der Rede; diese exponierte Plazierung zeigt, daß gerade die Zusammengehörigkeit von Philosophie und frommer Gottesverehrung für Julian von höchster Bedeutung ist. Ein weiterer Aspekt, der in der Rede gegen Herakleios zum Tragen kommt, ist die Zusammengehörigkeit von Philosophie und Bildung. Julian stellt fest, daß die Bildungsverachtung der Kyniker keine Abkürzung zur Tugend und Philosophie, sondern ein Irr- und Abweg ist. Dem stellt er seinen eigenen Werdegang entgegen.423 Schließlich ist noch die Einteilung der Philosophie nach verschiedenen Disziplinen zu erwähnen, die Julian in dieser Rede kurz skizziert. Er unterscheidet Physik, Moral und Logik und unterteilt diese jeweils in drei weitere Subdisziplinen. So umfasse die Physik Theologie, Mathematik sowie die Lehre von der Welt des Werdens und der ewigen Welt des Seins. Die Moral umfasse das Verhalten zu Individuen, die Lenkung des eigenen Hauswesens sowie die Politik. Schließlich erwähnt er drei Unterdisziplinen der Logik.424 Damit gewinnt der Leser einen Einblick in Julians formale Philosophievorstellung. Festzuhalten ist, daß Julian in seinen Ausführungen zur Philosophie inhaltlich keine originellen Beiträge leistet, sondern Standardwissen aus dem curriculum des neuplatonischen „Grundkurses“ reproduziert, der auf die propädeutische Phase folgte. Dazu gehören etwa die drei Definitionen der Philosophie oder die Einteilung in verschiedene Disziplinen.425 Die starke Betonung der Religiosität in der Polemik gegen die falschen Kyniker scheint hingegen sein persönlicher Akzent zu sein. Doch auch das Standardwissen bleibt nicht bloßes Buchwissen, sondern wird hier in eine lebendige Debatte um die richtige Philosophie eingebracht, die Julian passioniert verteidigt.426 ATHANASSIADIS Interpretation, daß hinter dieser Einstellung ein umfassendes Programm der Erziehung des gesamten Reiches stehe, kann angesichts der starken Gelegenheitsgebundenheit und Situationsbedingtheit von
421 S. dazu RAHN 1991, 247–254, der die These aufstellt, daß Julians Ausführungen zur Frömmigkeit der Kyniker als inniges persönliches Verhältnis zu den Göttern als Projektion seiner eigenen Religiosität anzusehen seien (ebd. 248 und 251). RAHN sieht Julians Aussagen jedoch nur im engen Kontext der Reden gegen die Kyniker und bezieht Julians weiteres Schrifttum und Wirken nicht ein, so daß sich für ihn das Problem der Diskrepanz zwischen dem Julian dieser Rede und dem opfernden pontifex maximus gar nicht erst stellt. 422 Or. VII 24–25, 236d–237d. 423 Or. VII, 23, 235a–d. 424 Or. VII 10, 215c–216a. 425 Vgl. dazu BOUFFARTIGUE 1992, 554–559. 426 So auch RAHN 1991, 247 und 251.
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Julians Schriften427 reserviert betrachtet werden; es handelt sich dennoch sichtlich um mehr als eine theoretische Kompilation konventioneller Topoi der Literatur gegen die Kyniker zum Zwecke der Selbstdarstellung als gewandter Rhetor vor dem bewundernden Kreis seiner Höflinge.428 3.8.4. Julians Weltbild Schon in Julians Lobrede auf Konstantius war der Einfluß neuplatonischer Kosmologie und Theologie stellenweise greifbar. In seinen Schriften als Augustus treten diese in aller Deutlichkeit an den Tag. Seine Prosahymnen auf Helios und die Göttermutter behandeln als hymnoi physikoi nach Menander das Wesen dieser Götter429 und greifen bestimmte Motive der jamblicheischen Metaphysik auf. Auch die Schrift Gegen die Galiläer liefert weitere Details. Der Versuch, Julians Weltbild aus diesen Schriften herauszuarbeiten, stößt jedoch auf Probleme aufgrund deren Gelegenheitscharakters. Der Hymnus auf Helios hat Helios im Zentrum und feiert ihn als König der intellektualen Götter, während im Hymnus auf die Göttermutter diese das Feld beherrscht und Helios zu ihrem paredros verblaßt. Dieses Problem wird in der Forschung verschiedentlich angegangen: während Forscher wie BOUFFARTIGUE grundsätzlich die Möglichkeit sehen, Julians Weltsicht trotzdem kohärent darzustellen, ziehen CRISCUOLO oder DILLON es vor, die Schriften für sich zu untersuchen und nehmen Abstand von einer allgemeinen Synthese.430 Im folgenden sollen die Grundzüge der für eine Rekonstruktion des Weltbilds Julians in Frage kommenden Werke dargestellt werden. In seinem Hymnus auf die Göttermutter spricht Julian als „Philosoph und Theologe“431 und versucht, eine neuplatonische Exegese des Mythos und Mysterienkultes um Kybele und Attis zu liefern. Dabei betont er die Eigenständigkeit seiner Darstellung; er habe erfahren, daß Porphyrios sein Thema auch behandelt hätte, habe ihn aber nie gelesen.432 In einer stark jamblicheisch und chaldäisch ge-
427 Auf welche R. SMITH 1995, 89 zu Recht verweist. Er tut es nur für die beiden in Frage stehenden Schriften gegen die Kyniker, sie gilt aber für alle Schriften Julians, die alle im Hinblick auf konkrete Anlässe und nicht als systematische theoretische Schriften verfaßt wurden. 428 So R. SMITH 1995, 90: „His purpose in writing the speeches was lighter and more immediate. He was out to defeat two ‘puppy-dogs’ in a staged debate before an admiring audience of intimates and members of the imperial court, and will have relished the opportunity the occasion offered for an oratorical display of learning and skill in the manipulation of a familiar repertoire of literary invective.“ 429 Vgl. LACOMBRADE 1964, 77. 430 BOUFFARTIGUE 1992, 648. CRISCUOLO 2001, 371 schlägt eine Extremlösung vor: man solle bei der Rekonstruktion der Theologie Julians die beiden Prosahymnen als esoterische Texte, die sich an Eingeweihte richteten, auszuschließen und sich auf die Schrift gegen die Galiläer und den ‚paganen Katechismus‘ De diis et mundo des Saloustios, Julians Freund und Mitarbeiter, konzentrieren. DILLON 1998 beschränkt seine Analyse auf den Hymnus auf Helios. 431 Or. VIII 2, 161a. 432 Or. VIII 3, 161c.
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prägten Passage feiert er die Göttermutter als Zentrum der Zwischenebene der intellektualen Götter: Wer also ist die Mutter der Götter? Die Quelle aller intellektualen und demiurgischen Götter, die die sichtbaren Götter regieren. Sie hat den großen Zeus geboren und wohnt ihm bei, indem sie als große Göttin nach dem großen Schöpfer und mit ihm zusammen existiert, die Herrin jedes Lebens, die Ursache jedes Werdens, die das, was gemacht ist, mühelos vollendet, das Seiende aber ohne Leidenschaft zusammen mit dem Vater schafft und gebiert. Denn sie ist sowohl mutterlose Jungfrau als auch Throngenossin des Zeus und wahrhaftig die Mutter aller Götter. Denn nachdem sie die Ursachen aller intelligiblen überweltlichen Götter in sich empfangen hatte, wurde sie zur Quelle der intellektualen.433
Der Terminus νοερός kommt schon in den Chaldäischen Orakeln vor,434 wurde aber im Neuplatonismus erst von Jamblich systematisch zur Bezeichnung einer bestimmten Klasse von Göttern gebraucht: den Göttern, die zwischen dem Bereich des Intelligiblen und den sichtbaren Göttern vermitteln.435 Julian zeigt sich hier mit dieser Systematik vertraut. Die Vorstellung von der Göttermutter als Quelle der intellektualen Götter weist starke Parallelen zu einem Fragment der Chaldäischen Orakel auf, in der Rhea als Quelle der νοερῶν μακάρων besungen wird.436 Neben dem chaldäischen Element fällt die Identifizierung der Μήτηρ mit verschiedenen Gottheiten des griechischen Pantheons auf – als Rhea gebiert sie Zeus, sie thront mit ihm zusammen als Hera, ist zugleich aber die mutterlose Jungfrau Athene.437 Durch diese Verschmelzung der Kybele mit verschiedensten griechischen Göttinnen verbindet Julian die kleinasiatische Gottheit unmißverständlich mit der griechischen Götterwelt.438 Die betonte Jungfräulichkeit der Mutter läßt eine Spitze gegen das Christentum vermuten.439 War Kybele die Quelle der intellektualen Götter, so wird Attis als einer der aus ihr entsprungenen Götter, als νοερὸς θεός interpretiert.440 Er ist die immaterielle Ursache aller materiellen Formen und abhängig vom ‚dritten Demiurgen‘, der sichtbaren Sonne – vergleichbar mit dessen Strahlen steigt er herab von den Gestirnen bis zur Erde.441 Die Mutter der Götter ordnet an, daß er seine schöpferischen Fähigkeiten in steter Verbindung mit ihr nur auf die Sphäre des Äthers be433
434 435 436 437 438 439 440 441
Or. VIII 6, 166a–b: Τίς οὖν ἡ Μήτηρ τῶν θεῶν; Ἡ τῶν κυβερνώντων τοὺς ἐμφανεῖς νοερῶν καὶ δημιουργικῶν θεῶν πηγή, ἡ καὶ τεκοῦσα καὶ συνοικοῦσα τῷ μεγάλῳ Διί, θεὸς ὑποστᾶσα μεγάλη μετὰ τὸν μέγαν καὶ σὺν τῷ μεγάλῳ δημιουργῷ, ἡ πάσης μὲν κυρία ζωῆς, πάσης δὲ γενέσεως αἰτία, ἡ ῥᾷστα μὲν ἐπιτελοῦσα τὰ ποιούμενα, γεννῶσα δὲ δίχα πάθους καὶ δημιουργοῦσα τὰ ὄντα μετὰ τοῦ Πατρός· αὕτη γὰρ καὶ παρθένος ἀμήτωρ καὶ Διὸς σύνθωκος καὶ μήτηρ θεῶν ὄντως οὖσα πάντων. Τῶν γὰρ νοητῶν ὑπερκοσμίων θεῶν δεξαμένη πάντων αἰτίας ἐν ἑαυτῇ, πηγὴ τοῖς νοεροῖς ἐγένετο. Frg. 1, 3, 6, 37, 39, 56, 79, 81 DES PLACES, Zu Jamblichs Einführung des κόσμος νοερός in das neuplatonische System vgl. MAU 1970, 37f. Frg. 56 DES PLACES. Dazu vgl. BOGNER 1924, 273f. sowie die detaillierte Analyse bei NÄSSTRÖM 1986, 62–66. NÄSSTRÖM 1986, 65 und 145. So BOGNER 1924, 274. Or. VIII 5, 165 c–d. Or. VIII 3, 161c–162a, 5, 165a–b.
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schränke;442 aus übermäßigem Schöpferdrang übertritt Attis diese Sphäre und vereint sich mit dem unkörperlichen Prinzip der Materie.443 Somit gerät er in die Niederungen der Materie, die er gestaltet, ordnet und belebt. Somit übernimmt er die sonst traditionell der Selene zugewiesene Rolle.444 Diesem unersättlichen Drang zur Materie, ins Unendliche, wird von den Göttern sodann Einhalt geboten, um die Ordnung der Welt zu erhalten. Attis wendet sich wieder seiner Quelle, der Göttermutter, zu.445 Sein Schicksal ist das Paradigma für die menschlichen Seelen; wie er neigen sie sich zur Materie und müssen durch eine radikale „Beschneidung“ ihres unbegrenzten Dranges kehrtmachen und wieder zum Einen aufsteigen.446 Julian hebt hervor, daß der Mythos nicht als historische Erzählung, sondern als Symbol ewiger kosmischer Prozesse zu verstehen ist.447 Attis’ Beschreibung sowie seine Einordnung in das jamblicheische System ist etwas undeutlich; manchmal ergibt sich der Eindruck, daß er tatsächlich als Strahl der sichtbaren Sonne und in die Materie hinabsteigende Energie in dem sichtbaren Kosmos anzusiedeln wäre – was seinem Status als intellektualer Gott zuwiderlaufen würde.448 MAU weist jedoch in der Analyse des Hymnus auf Helios darauf hin, daß bei Julian das Licht der sichtbaren Sonne oft als Manifestation der intellektualen Götter in der Welt gesehen wird und daher eine Verschmelzung dieser beiden Bereiche vorliegen kann.449 Diese Unstimmigkeiten könnten auch mit BOGNER darauf zurückzuführen sein, daß Julian verschiedene Quellen verarbeitet und für Attis’ Abstieg eine gnostische Quelle vorliegen hat, die er mit dem jamblicheischen System zu verbinden versucht.450 Ein anderes Bild bietet der Hymnus auf Helios, in welchem Julian nicht mehr seine Eigenständigkeit, sondern vielmehr seine regelrechte Abhängigkeit von Jamblich betont. In seiner Widmung an Saloustios verweist er diesen auf Jamblichs Werke, wo er die angesprochenen Themen tiefer und umfassender behandelt finden könne.451 Seine Gedanken habe er alle dem „Gottesfreund“ Jamblich entnommen.452 Während diese Behauptung in der älteren Forschung angenommen wurde,453 haben neuere Analysen darauf hingewiesen, daß Julian im Hymnus ein vergleichsweise einfaches metaphysisches System entwickelt, welches teilweise eher an mittelplatonische oder porphyrische Theorien erinnert.454 Von Jamblich entlehnt Julian auch hier die Distinktion zwischen Intelligiblem und Intellektua442 Or. VIII 5, 165c und 6, 166c–d. 443. Or. VIII 5, 165c–d. 444 Darin sieht BOGNER 1924, 289 Julian eigenständige philosophische Leistung. 445 Z. B. Or. VIII 7–8, 167b–168c. 446 Or. VIII 9, 169a–d. 447 Or. VIII 10, 170a–c. 448 Z. B. 3, 161d–162a. 449 MAU 1970, 52. 450 BOGNER 1924, 281–289. Als Quelle nimmt er eine „heidnische theologische Schrift, auf welche der uns in christlicher Überarbeitung vorliegende Naassenertext zurückgeht“ (290). 451 Or. XI, 44, 157c. 452 Or. XI, 44, 157d. 453 So dominiert Jamblich die Analyse der Rede bei MAU 1970, 38ff. 454 Vgl. DILLON 1998, bes. 107, und MORESCHINI 1998, 151.
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lem, νοητὰ καὶ νοερά, aus. Das Eine oder Gute– von Julian in der Sphäre des Intelligiblen angesiedelt455 – bringt auf der Ebene der νοεροὶ θεοί Helios als vollkommensten Ausdruck seiner selbst hervor. Ihm kommt innerhalb dieser Götterklasse dieselbe Rolle zu wie dem Guten hinsichtlich der intelligiblen Götter: Das Gute ist für die intelligiblen Götter, wie ich meine, die Ursache ihrer Schönheit, ihres Wesens, ihrer Vollkommenheit, ihrer Einheit, indem es sie mit gutartiger Kraft zusammenhält und umstrahlt. Dasselbe schenkt offensichtlich auch Helios den intellektualen Göttern, weil er von dem Guten als Herrscher und König über sie eingesetzt ist.456
Der Rolle des Helios inmitten der intellektualen Götter entspricht die Rolle der sichtbaren Sonne in der sichtbaren Welt: Aber auch diese sichtbare Scheibe ist als Dritte offensichtlich Ursache der Bewahrung für die wahrnehmbare Welt, und alle Wohltaten, welche nach unseren Ausführungen der große Helios für die intellektualen Götter bewirkt, bewirkt auch diese sichtbare Sonne für die sichtbaren.457
Somit ergibt sich eine Zentralachse in Julians Weltbild, die durch alle Bereiche – intelligibel, intellektual und sichtbar – führt und alle Dinge hervorbringt, ordnet und vereint.458 Eine besondere Rolle kommt dem ‚zweiten‘ Helios der intellektualen Ebene zu. Er repräsentiert nicht nur das Eine auf der Ebene der intellektualen Götter, sondern fungiert auch als verbindende Instanz zwischen dem Intelligiblen und dem Sichtbaren.459 Der intellektuale Helios, Zentrum und Herrscher über die intellektualen Götter, ist letztlich kein anderer als der Nous, der bei Jamblich Mittelpunkt und Inbegriff des κόσμος νοερός ist. Bezeichnend ist, daß Julian dieser philosophisch-abstrakten Entität durch die Identifikation mit Helios ungemein lebendige Züge verleiht.460 455 Or. XI 5, 132c–d. Zur Problematik dieser Bezeichnung im Hinblick auf das jamblicheische System (die Bereich des Nous und des Einen würden dadurch in eine für Jamblich übergroße Nähe gerückt) vgl. DILLON 1998, 111f. 456 Or. XI 6, 133b: Ἔστι δὲ αἴτιον οἶμαι τἀγαθὸν τοῖς νοητοῖς θεοῖς κάλλους, οὐσίας, τελειότητος, ἑνώσεως, συνέχον αὐτὰ καὶ περιλάμπων ἀγαθοειδεῖ δυνάμει. Ταῦ‐ τα δὴ καὶ τοῖς νοεροῖς Ἥλιος δίδωσιν, ἄρχειν καὶ βασιλεύειν αὐτῶν ὑπὸ τἀγαθοῦ τεταγμένος. 457 Or. XI 6, 133c: Ἀλλὰ καὶ τρίτος ὁ φαινόμενος οὑτοσὶ δίσκος ἐναργῶς αἴτιός ἐστι τοῖς αἰσθητοῖς τῆς σωτηρίας, καὶ ὅσων ἔφαμεν τοῖς νοεροῖς θεοῖς τὸν μέγαν Ἥ‐ λιον τοσούτων καὶ ὁ φαινόμενος ὅδε τοῖς φανεροῖς. 458 Die Nähe zu Jamblich hebt MAU 1970, 38ff. hervor, der die philosophischen Parallelen der Rede herausarbeitet. 459 Or. XI 13, 138d und 14, 139: Τίνα οὖν ἐστιν, ἃ συνάγει, καὶ τίνων ἐστὶ μέσος; φημὶ δὴ ὅτι τῶν τε ἐμφανῶν καὶ περικοσμίων θεῶν καὶ τῶν ἀύλων καὶ νοητῶν (...) ἐστὶ μέση τις, οὐκ ἀπὸ τῶν ἄκρων κραθεῖσα, τελεία δὲ καὶ ἀμιγὴς ἀφ’ ὅλων τῶν θεῶν ἐμφανῶν τε καὶ ἀφανῶν καὶ αἰσθητῶν καὶ νοητῶν ἡ τοῦ βασιλέως Ἡλίου νοερὰ καὶ πάγκαλος οὐσία (...). 460 MAU 1970, 38. Vgl. auch MORESCHINI 1998, 152: „E’ probabile che la religiosità personale dell’ imperatore, come del resto, le esigenze spirituale dei devoti ai quali egli si rivolgeva come pontefice supremo, si adattasse meglio a un dio dal volto definitio che ad un principe trascendente e sostanzialmente inconoscibile. Cosi, all’ interno di una triade metafisica ispirata al neoplatonismo, il pensiero profondamente religioso di Giuliano si concentra sul secondo dio,
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Julian geht somit von einem System von drei Sphären aus – der intelligiblen, der intellektualen und der materiellen –, die jeweils von einer „Sonne“, einer zentralen Entität, regiert werden. Die komplizierten Hypostasenlehren und Wesenshierarchien des jamblicheischen Systems finden hierin keinen Platz. DILLONS Analyse dieses Systems zeigt eine starke Nähe zu mittelplatonischen Positionen – zu Numenios oder, noch stärker ausgeprägt, zu den Chaldäischen Orakeln. Dennoch muß nicht angenommen werden, daß Julian sich Jamblichs nur als Aushängeschild bediene. DILLON arbeitet einige distinktiv jamblicheische Details in der Rede heraus und weist darauf hin, daß Jamblich selbst den Komplexitätsgrad seiner Darstellung der Metaphysik je nach Adressaten und Intention variiert, so daß Julian durchaus „Iamblichus in his ‚popularizing‘, exoteric mode“ widerspiegeln könnte.461 Ein Bereich, in dem die Mittlerrolle des intellektualen Helios von großer Bedeutung ist, ist die Hervorbringung – als creatio ab aeterno gedacht462 – und Erhaltung der Welt. Als vollkommenste Emanation des Guten kann er die lebensspendende Energie des Intelligiblen an die sichtbare Welt vermitteln.463 Dabei koordiniert er – oder genauer wohl seine sichtbare Hypostase – die untergeordneten demiurgischen Aktivitäten der anderen am Himmel wirkenden Götter.464 Julian tendiert in dieser Schrift dazu, Helios mit den anderen Göttern zusammenzusehen und verschmelzen zu lassen.465 Helios’ Wirken erstreckt sich jedoch nicht nur auf die Erhaltung und Ordnung der Welt, sondern auch auf die verschiedenen Geistwesen, denen er ein „besseres Los“ vermittelt. Es handelt sich dabei um Engel, Dämonen, Heroen sowie diejenigen Seelen, die sich nicht an einen Körper verlieren, sondern ihrer Idee treu bleiben.466 Helios hat die Funktion, die Seelen in die Welt und aus ihr heraus zu geleiten: Die göttlicheren Dinge sowie all das, was er den Seelen schenkt, indem er sie vom Körper befreit und dann zu den ihnen verwandten Wesen der Götter aufwärts zurückführt, sowie das Leichte und Straffe des göttlichen Glanzes, das den Seelen gleichsam als Gefährt für den sicheren Abstieg in das Werden geschenkt wird, sollen nun von anderen würdig besungen und von uns eher gläubig angenommen als bewiesen werden; was aber von Natur aus allen erkennbar ist, soll ohne Zögern erörtert werden.467
461 462 463 464 465 466 467
che egli chiama Helios come il astro che ne è l’ immagine celeste, mentre il primo dio non riceve nomi divini.” DILLON 1998, 105–112. Eine besondere Nähe ließe sich zur Theologie von De myst. VIII 2–3 erkennen (105 und 112). Or. XI 26, 145d–146b. Or. XI, 16, 140a–b. Or. XI 16, 140a. Z. B. Or. XI,10, 136a oder 31–34. Or. XI 24, 145c. Or. XI 37, 152a–b: Τὰ μὲν οὖν θειότερα καὶ ὅσα ταῖς ψυχαῖς δίδωσιν ἀπολύων αὐ‐ τὰς τοῦ σώματος, εἶτα ἐπανάγων ἐπὶ τὰς τοῦ θεοῦ συγγενεῖς οὐσίας, καὶ τὸ λεπ‐ τὸν καὶ εὔτονον τῆς θείας αὐγῆς οἷον ὄχημα τῆς εἰς τὴν γένεσιν ἀσφαλοῦς διδό‐ μενον καθόδου ταῖς ψυχαῖς ὑμνεῖσθω τε ἄλλοις ἀξίως καὶ ὑφ’ ἡμῶν πιστευέσθω μᾶλλον ἢ δεικνύσθω· τὰ δὲ ὅσα γνώριμα πέφυκε τοῖς πᾶσιν οὐκ ὀκνητέον ἐπεξ‐ ελθεῖν. Die Erlösung der Seelen aus der körperlichen Welt wird auch in 10, 136b erwähnt.
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Julian spielt hier auf verborgene Lehren an, die den philosophischen Beweis übersteigen und deshalb den Uneingeweihten nicht vermittelt werden könnten. Dabei reproduziert er die Grundzüge der soteriologischen Funktion der Sonne nach den Chaldäischen Orakeln, die sie ebenfalls als Schaltstelle und Medium des Ab- und vor allem des Aufstiegs der Seelen sehen.468 Schließlich ist noch die in der Schrift gegen die Christen zum Vorschein kommende Theologie zu erwähnen. Diese Schrift bietet ein klares, kohärentes, wenngleich im Vergleich zu den zwei Prosahymnen vereinfachtes System, was auf ihren „Sitz im Leben“ und ihre missionarische Absicht zurückgehen könnte.469 Gegen die biblische Schöpfungsgeschichte hält Julian in Anlehnung an Platons Timaios an Göttern fest, die dem Demiurgen untergeordnet sind. Dabei unterscheidet er sichtbare und unsichtbare Götter. Die sichtbaren Götter, Sonne, Mond, Sterne und Himmel, sind die Abbilder (εἰκόνες) der entsprechenden unsichtbaren intelligiblen Götter, die dem Demiurgen unmittelbar entstammen und mit diesem aufs innigste verbunden sind.470 Hier liegt somit eine ähnlich knappe Darstellung der Götterhierarchie wie in der zweiten Lobrede auf Konstantius vor, die die in den Hymnen auf Helios und die Göttermutter prominente jamblicheische Zwischenklasse der intellektualen Götter (νοεροὶ θεοί) ausläßt.471 Der Demiurg übt seine Schöpferkraft in der sichtbaren Welt nicht direkt, sondern durch die Vermittlung der intelligiblen und sichtbaren Götter aus.472 Jedem Volk ist dabei ein besonderer Gott, ein Ethnarch, zugeteilt, der für die Eigenart seines Wesens und seiner Kultur verantwortlich ist. In dieses System lassen sich die alten Olympier bestens einfügen: Ares regiert z. B. die kriegerischen Völker, Athene diejenigen, die Vernunft und Kriegslust verbinden, während Hermes unkriegerische, aber kluge Volksstämme in seiner Obhut hat.473 Unter den Ethnarchen setzt sich die neuplatonische Wesenshierarchie fort: ihm unterstehen jeweils bestimmte Engel, Dämonen, Heroen und Seelen.474 Einer der wichtigsten Götter, die auf diese Weise der irdischen Welt die Wohltaten der höchsten Gottheit vermittelt, ist hier Asklepios, den Julian als Gegenfigur zu Christus konzipiert. Er sei den Römern und Hellenen von Zeus als tröstender und rettender Gott geschenkt worden. Von Zeus – an dieser Stelle mit dem höchsten Gott zu identifizieren – im Bereich des Intelligiblen gezeugt, wird er durch die lebensspendende Macht des Helios der Welt offenbart. Julian greift somit strukturell zum selben Prinzip wie in dem Hymnus auf Helios, wenngleich er den lebensspendenden Helios hier nicht als νοερὸς θεός bezeichnet: die Macht des höchsten Gottes bzw. des Einen, der die intelligiblen Götter hervorbringt, wird dem sichtbaren Kosmos durch die Wirkung des Helios zuteil. Asklepios erscheint zunächst in einer Gestalt in Epidaurus in Form eines Menschen und weitet dann seine rettenden Eingriffe auf die gesamte 468 469 470 471 472 473 474
S. dazu LEWY 1978, 149–155, 185ff. S. MORESCHINI 1998, 152f. Contra Galilaeos 65 b–c. S. W. C. WRIGHT 2003, 336, Anm. 3. Contra Galilaeos 65c–66a. Contra Galilaeos 115d–e. Contra Galilaeos 143a–b.
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Erde aus. Seine Heilkraft bezieht sich nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die seelische, moralische Verfassung der Menschen.475 Julian skizziert somit in dieser Schrift ein stark vereinfachtes System der göttlichen Hierarchie, indem er verschiedene Motive der platonischen (und kaum spezielle Details der neuplatonischen) Metaphysik miteinander verwebt. Dabei orientiert er sich stark an den früheren Vorlagen der heidnischen philosophischen Auseinandersetzung mit dem Christentum: wie LABRIOLLE feststellt, findet sich die Theorie der Ethnarchen im Wesentlichen schon bei Kelsos,476 und die Nähe zu Porphyrios wurde schon von Libanios festgestellt.477 Dies spiegelt sich in Julians Behauptung zu Beginn der Schrift, er wolle nun alle Argumente darlegen, die ihn von der Unwahrheit und Wertlosigkeit des Christentums überzeugt hätten.478 Die Auseinandersetzung des ‚Hellenen‘ Julian mit der Theologie des Judentums und des Christentums steht im Zeichen der Philosophie, wie an der emblematischen Gegenüberstellung Platons und Moses’ als der zwei wichtigsten Autoritäten für die hellenische und die jüdisch-christliche Weltsicht und Theologie deutlich wird.479 Für Julian erscheint Platon als die Schlüsselfigur der heidnischen Theologie. Die einzelnen Theologien der julianischen Schriften lassen sich somit in zwei Gruppen einteilen. In der Schrift gegen die Galiläer benutzt Julian eine einfache platonische Dichotomie zwischen intelligiblen und sichtbaren Göttern, die der Zweiteilung der Götter in sichtbare und unsichtbare, nur mit dem νοῦς wahrnehmbare Götter aus der Lobrede gegen Konstantius entspricht. Dies könnte auf die Intention und auf das Genre der betreffenden Werke zurückgehen: sowohl die Rede auf Konstantius als auch die Schrift gegen die Christen haben nicht das Ziel, detailgenaue philosophische Theologien zu entfalten. Die Prosahymnen hingegen setzen sich die Deutung gegebener Gottheiten des Pantheons zum Ziel. Beide entfalten daher – je nach dem unmittelbaren Sitz im Leben anders akzentuiert – die jamblicheische Theologie mit ihrer Unterscheidung zwischen intelligiblen, intellektualen und sichtbaren Göttern. Die herausragende Position der Göttermutter respektive des Helios innerhalb der intellektualen Götter können miteinander verbunden werden. Die Göttermutter ist ja aufs engste mit dem „großen Demiurgen“ verbunden, sie bilden zusammen ein Paar im Zentrum der intellektualen Götter. Die Göttermutter könnte dabei als weiblicher Aspekt vor allem die generierende Macht sein, die in sich die von den intelligiblen Göttern stammenden Ursachen empfangen hat und daraus die intellektualen Götter hervorbringen kann. Helios könnte als das ordnende und verein475 Contra Galilaeos 200a–b. 476 LABRIOLLE 1948, 423. Eine christliche Parallele läßt sich bei Origenes, De princ. III 3, 2–3 finden. 477 LABRIOLLE 1948, 421. MORESCHINI 1998, 156 schließt aus der Analyse der erhaltenen Fragmente sowie aus der Widerlegung durch Kyrill, daß Julian zwecks besserer Verständlichkeit nicht auf die komplizierte jamblicheische Struktur der göttlichen Bereiche, sondern auf die einfachere porphyrische Metaphysik rekurriert. 478 Contra Galilaeos 39A. 479 Contra Galilaeos 96C–E, 49 A–E, 57B–58D, 65A–66A.
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heitlichende demiurgische Prinzip par excellence angesehen werden, der den intellektualen Göttern die Wohltaten des Einen vermittelt und ihre Aktivität hinsichtlich des sichtbaren Kosmos koordiniert und kanalisiert. Neben der inhaltlichen Übernahme der neuplatonischen Weltsicht ist auch der ausschließliche Bezug auf neuplatonische Schlüsseltexte und –figuren als auctoritates von Bedeutung. Platon, Jamblich, die Chaldäischen Orakel besitzen höchste Geltung. Dies unterscheidet Julians Schriften z. B. von denen heidnischer Nichtphilosophen wie z. B. Libanios oder Symmachus; anders als sie ist er dezidiert in das spezifische Diskursuniversum des Neuplatonismus integriert. 3.8.5. Julian und die Theurgie Julians Anspielungen auf die Lehren der Chaldäischen Orakel werfen die Frage nach der Rolle der Theurgie in seinem Denken auf. Eunapius hatte in seiner Beschreibung der Philosophiestudien Julians die Theurgie in den Vordergrund gerückt. In dem oben untersuchten Brief 12 an Priscus bekundete Julian seine Begeisterung für die Orakel und bittet um eine Abschrift von Jamblichs Kommentar zu diesen. Läßt sich daraus schließen, daß er seit Pergamon in die Theurgie eingeweiht war? Die lebendige Schilderung der Initiation in einer Grotte bei Ephesus, welche BIDEZ in Anlehnung an Gregor von Nazianz gibt, ist in der Forschung besonders einflußreich.480 Sie wurde von VAN LIEFFERINGE bestritten, welche die These aufstellt, daß Julian während seines Studiums eine rein philosophische, intellektuelle Konversion durchlebt habe, in der die Theurgie keine Rolle gespielt habe. Bevor er Kaiser wurde, habe Julian einen vergeistigten Neuplatonismus in der Tradition Plotins gepflegt, der den absoluten Primat des kontemplativen Lebens über der vita activa betont habe. In dieser Zeit spiele die Theurgie in seinen Werken keine Rolle, obwohl er die Werke Julians des Theurgen und Jamblichs dazu kenne. Erst mit Antritt der Kaiserherrschaft sehe sich Julian mit dem Konflikt zwischen Philosophie und seiner Rolle als Kaiser konfrontiert, der gehalten ist, politisch tätig zu werden, u. a. um das Reich dem Heidentum zurückzugewinnen. In dieser Situation entdecke er die Theurgie als Möglichkeit, theoria und praxis zu vereinbaren und dem heidnischen Kult durch eine Fundierung im Sinne der neuplatonisch gefärbten Theurgie zum Sieg zu verhelfen.481 Ihre These stellt somit die Gegenposition zu BIDEZ dar, der Julians Konversion als untrennbar mit dem rituellen Aspekt der Theurgie verbunden ansieht. VAN LIEFFERINGE gelingt der Beweis, daß einige der von BIDEZ angeführten Stellen als Beleg für eine Initiation nicht geeignet sind, am allerwenigsten der Text aus der Feder Gregors von Nazianz, Julians erklärtem Feind.482 Dennoch ist ihre Interpretation nicht haltbar. Zum einen steht sie in Spannung zu Eunapius, nach welchem Julians Interesse für Theurgie früh nach seiner Begegnung mit den Neuplatonikern erwacht sei. Er beschreibt, wie Julian sich bewußt von der durch 480 BIDEZ 1965, 79f. 481 VAN LIEFFERINGE 1999, 224–241. 482 VAN LIEFFERINGE 1999, 219ff.
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Eusebios repräsentierten „rationalistischen“ neuplatonischen Richtung ab- und der in Maximus verkörperten Theurgie zuwendet. Ihre Eunapius-Interpretation vermag nicht zu überzeugen.483 Zum anderen zeigt der Brief 12 an Priscus, daß Julian die Chaldäischen Orakel nicht nur kannte,484 sondern besonders schätzte. Er spielt in seinen Schriften wiederholt auf die Orakel an, wobei er hauptsächlich deren Lehren im Blick hat.485 Einige Stellen deuten aber auch auf die kultische Dimension hin. Eine dieser Stellen liefert BIDEZ einen überzeugenden Beweis für die Initiation. Es handelt sich um einen Passus aus dem Hymnus auf die Göttermutter: Wenn ich aber auch die geheime Mystagogie berühren wollte, die der Chaldäer ekstatisch über den Gott mit sieben Strahlen verkündete, indem er durch diesen die Seelen hinaufführte, dann würde ich Unbekanntes erzählen, ja, dem großen Haufen ganz und gar Unbekanntes, den glückseligen Theurgen aber Vertrautes. Deswegen werde ich jetzt darüber schweigen.486
Julian zählt sich hier offenbar zu den „glückseligen Theurgen“, die in die „geheime Mystagogie“ des Chaldäers eingeweiht sind. Daraus läßt sich schließen, daß er eine Initiation in die Theurgie durchlaufen hat.487 Da er zum Schluß der Rede die Göttermutter um „Wahrheit in den Glaubensvorstellungen über die Götter“ (ἀλή‐ θειαν ἐν τοῖς περὶ θεῶν δόγμασιν) sowie zusätzlich „Vollkommenheit in der Theurgie“ (ἐν θεουργίᾳ τελειότητα) anfleht, kann geschlossen werden, daß Julian mit Theurgie nicht lediglich die Kenntnis der Chaldäischen Orakel meint. Eine solche vergeistigte Verwendung des Begriffs läßt sich auch in der sonstigen neuplatonischen Literatur nicht nachweisen, wo Theurgie stets Handeln, genauer gesagt, rituelles Handeln, impliziert. Es handelt sich nicht um theoretisches Wissen – das ist ja mit den δόγμασιν abgedeckt. Daher kann geschlossen werden, daß es sich an der untersuchten Stelle um Theurgie im vollen Sinne handelt, um geheime Rituale, die auf den Chaldäischen Orakeln basieren. Wann diese Initiation nun stattgefunden hat, läßt sich aufgrund von Julians Schriften nicht präzisieren. Der Bericht von Eunapius deutet jedoch dahin, daß sie wahrscheinlich mit BIDEZ in die Zeit des Unterrichts bei Maximus anzusetzen ist. Daß die Theurgie in seinen Schriften vor der Kaiserherrschaft keine Rolle spielt, erklärt sich zufrieden-
483 VAN LIEFFERINGE 1999, 222f. Ihre Behauptung, daß in den zwei knappen Sätzen, die Julians Unterricht bei Maximus und Chrysanthios beschreiben, nur von σοφία und μάθησις, also von einer rein theoretischen Unterweisung, die Rede sei, berücksichtigt den Kontext – Julians Entscheidung für Maximus gerade wegen seiner theurgischen Fähigkeiten – nicht. Auch steht ihre philologische Argumentation auf tönernen Füßen: wenig später steht bei Eunapius σο‐ φία für die Weisheit des Hierophanten von Eleusis, von welcher Julian gierig schöpft – worin wohl weniger theoretische Unterweisung als vielmehr religiöses und rituelles Wissen zu vermuten wäre. 484 So VAN LIEFFERINGE 1999, 241; der Brief wird von ihr nicht ausführlich diskutiert. 485 Eine Analyse der chaldäischen Elemente bei Julian findet sich bei PENATI 1983, 543–562. Vgl. auch R. SMITH 1995, 151ff. 486 Or. VIII 12, 172d: Εἰ δὲ καὶ τῆς ἀρρήτου μυσταγωγίας ἁψαίμην, ἣν ὁ Χαλδαῖος περὶ τὸν ἑπτάκτινα θεὸν ἐβάκχευσεν ἀνάγων δι’ αὐτοῦ τὰς ψυχάς, ἀγνωστα ἐρῶ καὶ μάλα γε ἄγνωστα τῷ συρφετῷ, θεουργοῖς δὲ τοῖς μακαρίοις γνώριμα· διόπερ αὐτὰ σιωπήσω τανῦν. 487 Vgl. BIDEZ 1928, 1478.
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stellend durch das Risiko, das sie für Julian in seiner prekären und exponierten Lage darstellte.488 Im Hymnus auf die Göttermutter zeigt sich der Kaiser somit als eingeweihter Theurg, der vor allem die soteriologische Dimension der Theurgie in der Vordergrund stellt – die anagogische Wirkung der Sonne für die menschlichen Seelen. Diese thematisiert er, wie oben gezeigt, auch im Hymnus auf Helios. Die Wohltaten der Theurgie kommen jedoch nicht nur den Seelen, sondern auch dem Körper zuteil, der dadurch gerettet und geschützt werden könnte: Solcherlei bezeugen auch die Sprüche der Götter, nämlich daß durch die rituelle Handlung nicht nur die Seele sondern auch die Körper reicher Hilfe und heilbringender Bewahrung teilhaftig werden. „Denn“, so heißt es, „auch der sterbliche Mantel der bitteren Materie wird bewahrt“, wie es die Götter den überaus Reinen unter den Theurgen ermunternd versprechen. 489
Λόγια ist die bei den Neuplatonikern gängige Bezeichnung für die Chaldäischen Orakel; ἁγιστεία ist ein zentraler Terminus für den theurgischen Kult in Jamblichs De mysteriis.490 Somit dürfte sichergestellt sein, daß Julian den auf den Orakeln beruhenden Kult meint.491 Die Terminologie dieser Stelle zeigt, daß Reinheit (ἁγνεία) entscheidend ist. Im Lichte Jamblichs dürfte damit die Reinigung der Seele von der Materie und ihren Einflüssen gemeint sein, die zwar auch durch innere Anstrengung, hauptsächlich aber von den Göttern in den ausgeübten Riten zu erreichen ist.492 Wie Jamblich weitet auch Julian stellenweise den Begriff der Theurgie auf religiöse Geheimlehren und – riten aus, die nicht mit den Chaldäischen Orakeln in Verbindung stehen, namentlich der orphischen Tradition, oder stellt zumindest eine enge Verbindung zwischen ihnen her. Deutlich wird dies im Brief 89 an Theodoros, dem Oberpriester der Asia: (...) wenn man die Unterschiede der Sitten und Gesetze in Betracht zieht und nicht nur diese, sondern auch vor allem, was größer und wertvoller und wichtiger ist, die Kunde der Götter, die uns von den alten Theurgen überliefert ist, daß, als Zeus das All ordnete, das Menschengeschlecht aufsproß, nachdem Tropfen heiligen Blutes vom Himmel fielen.493 488 Julian mußte seine heidnische Gesinnung bis zum Tod des Konstantius verbergen. Vgl. dazu ep. 79. VAN LIEFFERINGES Annahme, er habe die Herrschaft nur widerstrebend angenommen, berücksichtigt die Darstellung des Eunapius in VS VII 3,7–8 nicht, nach der Julian durchaus aktiv die Macht anstrebte. 489 Or. VIII 178c–d: Μαρτυρεῖ δὲ τοῦτο καὶ τὰ τῶν θεῶν λόγια, φημὶ δὲ ὅτι διὰ τῆς ἁ‐ γιστείας οὐχ ἡ ψυχὴ μόνον, ἀλλὰ καὶ τὰ σώματα βοηθείας πολλῆς καὶ σωτηρίας ἀξιοῦνται· σῴζεται γὰρ, φησί, καὶ τὸ πικρᾶς ὕλης περίβλημα βρότειον, οἱ θεοὶ τοῖς ὑπεράγνοις παρακελευόμενοι τῶν θεουργῶν κατεπαγγέλλονται. 490 Vgl. VAN LIEFFERINGE 1999, 26 und 232. 491 Das Zitat wird als authentisches Orakelzitat anerkannt (frg. 129 DES PLACES). 492 Vgl. etwa De mysteriis V 18ff. 493 Ep. 89, 292a–b: (...) εἴς τε τὸ διάφορον ἀποβλέψαντα τῶν ἠθῶν καὶ τῶν νόμων, οὐ μὴν ἀλλὰ καί, ὅπερ ἐστὶ μεῖζον, καὶ τιμιὼτερον καὶ κυριώτερον, εἰς τὴν τῶν θεῶν φήμην, ἣ παραδέδοται διὰ τῶν ἀρχαίων ἡμῖν θεουργῶν, ὡς, ὅτε Ζεὺς ἐκόσμει τὰ πάντα, σταγόνων αἵματος ἱεροῦ πεσουσῶν ἐξ οὐρανοῦ τὸ τῶν ἀνθρώπων βλασ‐ τήσειε γένος. Ziel der Argumentation ist der Beweis für die Verwandtschaft aller Menschen miteinander. Vor der Passage ist mit BIDEZ eine Lücke anzusetzen.
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Die hier zusammengefaßte Lehre entspricht eindeutig dem orphischen Mythos von der Zerreißung des Dionysos.494 Mit der sehr abstrakt gehaltenen chaldäischen Götterwelt und Anthropogonie hat sie nichts gemeinsam. Daß sie von den Göttern den Alten geoffenbart worden sein soll, paßt ebenfalls bestens auf Orpheus, den gottbegeisterten Theologen. Dies dürfte beweisen, daß Julian hier orphische Traditionen im Sinn hat, die er jedoch unter Theurgie subsumiert. Die gemeinsame Basis, die dies erlaubt, dürfte darin zu sehen sein, daß Orpheus als Verkünder göttlich inspirierter Lehren sowie als Begründer der griechischen Mysterien galt.495 Diese Ineinssetzung zeigt, daß bei Julian dieselbe Tendenz der Harmonisierung und Verbindung der gesamten religiösen Überlieferung des Heidentums, die schon bei Jamblich ausgeprägt bemerkbar war, wirksam ist.496 Es gibt noch eine andere Stelle, an der eine Kombination von orphischen und chaldäischen Gedanken vermutet werden könnte; allerdings läßt sie verschiedene Interpretationen zu. In der Rede gegen Herakleios kommt Julian auf Dionysos zu sprechen und erwähnt die in bestimmten Kreisen verbreitete Vorstellung, er sei anfangs lediglich ein Mensch gewesen: Denn siehe, ich habe sicherlich viele sagen hören, daß Dionysos zwar Mensch gewesen sei, da er von Semele geboren wurde, daß er aber durch die Theurgie und Telestik zum Gott geworden sei, wie auch der Herrscher Herakles durch die königliche Tugend von Zeus, dem Vater, in den Olymp hinaufgeführt worden sei.497
BIDEZ bringt diese Stelle mit der zuvor untersuchten in Verbindung und vermutet daher auch hier orphischen Einfluß.498 Andere Forscher plädieren hingegen für die Prädominanz des chaldäischen Elementes.499 Die Stelle läßt verschiedene Deutungen zu. Mit der Theurgie und Telestik könnte auf orphische Mysterienriten angespielt werden. Allerdings ist Dionysos gerade in der orphischen Mythologie par excellence Gott und nicht Mensch; diese Vorstellung wäre für orphische Kreise zumindest singulär. Für die Theurgie ist jedoch die Gottwerdung der Seele als Ziel z. B. bei Jamblich belegt.500 Die Unterscheidung von Theurgie und Telestik könnte – gerade im Licht der verbreiteten Auffassung von Orpheus als Urheber der Mysterien – besagen, daß hier alle Spielarten der göttlichen Initiation, die spezifisch chaldäische sowie die orphische, aufgezählt würden: indem Dionysos alle
494 Zu dieser Lehre s. VIAN 1987, 9. Zur Entstehung der Menschen aus dem Titanenblut s. Argonautika Orphika 17–20. 495 S. z. B. Platon, Protagoras 316d. Eine Tradition, die schon bei Diodor von Sizilien IV 25,1–4 greifbar ist, läßt Orpheus Lehren über die Götter, Mysterien sowie die Musik aus Ägypten nach Griechenland importieren (s. auch Eusebios von Caesarea, Praep. ev. X 44). S. auch Argonautika Orphika 10f. sowie die Fragmente bei DIELS/KRANZ I 1, A 1 und 11. 496 Vgl. VAN LIEFFERINGE 1999, 236. 497 Or. VII 14, 219a–b: Ίδοῦ γὰρ ἔγωγε πολλῶν ἤκουσα λεγόντων ἄνθρωπον μὲν τὸν Διόνυσον, ἐπείπερ ἐκ Σεμέλης ἐγένετο, θεὸν δὲ διὰ θεουργίας καὶ τελεστικῆς, ὥσπερ τὸν δεσπότην Ἡρακλέα διὰ τῆς βασιλικῆς ἀρετῆς, εἰς τὸν Ὄλυμπον ὑπὸ τοῦ πατρὸς ἀνῆχθαι τοῦ Διός. 498 VAN LIEFFERINGE 1999, 234. 499 Vgl. etwa PENATI 1983, 544f. 500 Vgl. De myst. I 12.
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diese Riten durchmacht, wird er vergöttlicht.501 Dies würde dafür sprechen, hinter dieser Vorstellung die Kenntnis und Verschmelzung beider Komplexe, des Orphismus wie der chaldäischen Theurgie, zu vermuten.502 Wieder stünde dann die soteriologische Dimension der Theurgie im Vordergrund. Die Theurgie wird auch in der Schrift Gegen die Galiläer erwähnt. Um der Berufung der Christen auf die biblische Verheißung und ihrer Identifikation mit den Gestalten des AT den Boden zu entziehen, beansprucht Julian Abraham, Isaak und Jakob für das eigene Lager: sie seien „aus einem heiligen, in der Theurgie bewanderten Geschlecht“ (γένους ἱεροῦ καὶ θεουργικοῦ)503 – nämlich aus dem Geschlecht der Chaldäer. Dem Versuch der Christen, Salomo als versierten Theurgen darzustellen504, begegnet er mit dem Hinweis auf Inkonsistenz: wer versuche, die theurgische Gewandtheit Salomos als schätzenswerten Zug herauszustellen, könne die Geschichte von seiner Verführung zum Polytheismus durch seine Frau nicht mehr aufrechterhalten, sondern müsse zugeben, daß Salomo berechtigterweise durch eigene Einsicht und göttliche Offenbarung zur Verehrung der anderen Götter gefunden habe. Theurgie wird hier ganz vage, nicht chaldäisch bestimmt, gebraucht; sie steht für geheime göttlich offenbarte Weisheit, die sich in polytheistischen Kulten niederschlägt.505 Eine letzte Stelle, die weiteres Licht auf Julians Theurgievorstellung werfen könnte, ist Contra Galilaeos 198 c–d, wo Julian behauptet, daß Zeus den Niedergang der traditionellen Mantik durch die „heiligen Künste“ (διὰ τῶν ἱερῶν τεχ‐ νῶν) kompensiert und den Menschen den Kontakt zum Göttlichen ermöglicht habe. Diese „heiligen Künste“, die eine neue, noch nicht dagewesene Art der 501 Eine Parallelle dazu findet sich bei Proklos, In Remp. I 120,12, der Herakles’ Apotheose auf die Reinigung durch die Telestik zurückführt. Zur Unterscheidung von Theurgie und Telestik s. BOYANCÉ 1955, 189–209, der beweist, daß die beiden Begriffe in der neuplatonischen Tradition nicht deckungsgleich sind und die Telestik auch nicht, wie DODDS 1970 vorschlägt, als Unterdisziplin der Theurgie betrachtet werden darf. BOYANCÉ betont den hellenischen, insbesondere orphischen Hintergrund der unter „Telestik“ fallenden Vorstellungen (s. bes. 200– 204 und 208f). 502 So der Vorschlag von VAN LIEFFERINGE 1999, 234–36. 503 Contra Galilaeos 354 b. Vgl. VAN LIEFFERINGE 1999, 239. 504 Contra Galilaeos 224d. Julian stellt dies als direkte Behauptung der Christen dar: ἀλλ’ ἐκεῖ‐ νος, φασί, καὶ περὶ θεουργίαν ἤσκητο. Falls Julian hier nicht nur automatisch die eigene neuplatonische Begrifflichkeit auf die Äußerungen seiner Gegner überträgt und kultisches Wissen kurzerhand als Theurgie bezeichnet, wäre die Stelle ein Beleg dafür, daß bestimmte christliche Kreise in der Spätantike den Begriff der Theurgie zur Darstellung der eigenen religiösen Tradition als ebenbürtige Konkurrenz zum Heidentum verwenden. Dies wäre eine ganz andere Herangehensweise als die Augustins, der die Theurgie am Beispiel des Porphyrios gnadenlos ablehnt (De civitate dei X 23). Es wäre am ehesten an neuplatonisch geschulte Intellektuelle zu denken, die mit den heidnischen Neuplatonikern auf deren Ebene diskutieren – man könnte sich etwa den novatianischen Bischof Sissinos, den Schüler Maximus’ von Ephesus, in einer solchen Rolle gut vorstellen. 505 Vgl. dazu VAN LIEFFERINGE 1999, 240. Zum Judentum als Theurgie bei Julian s. auch BREGMAN 1995, 135–149, der die These aufstellt, daß Julian den gesamten Kult der Juden als eines altehrwürdigen Volkes als Theurgie verstanden habe und deshalb auch den Jerusalemer Tempel aufbauen wollte (146 oder 148). Jedoch reflektiert er den Begriff der Theurgie nicht und wendet ihn ohne Argumente auf Julians Sicht des Tempelkultes an.
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Mantik bewerkstelligen, lassen sich am wahrscheinlichsten mit der Theurgie identifizieren, die in Jamblichs De mysteriis wiederum oft als ἱερὰ τέχνη bezeichnet wird.506 Was damit genau gemeint ist, ergibt sich aus der Zusammenschau der Notizen bei Eunapius und Ammianus. Ammianus beschreibt Julians Begeisterung für alle Arten der Mantik, vor allem für die Deutung von Opfereingeweide oder von zufälligen, mehr oder minder auffälligen und ungewöhnlichen Ereignissen.507 Dies wäre nun nichts Neues, sondern althergebrachte divinatorische Methoden, die z. B. auch von den haruspices praktiziert wurden. Das Entscheidende ist, daß bei Ammianus eine Rivalität der Interpretationsmethoden festgestellt wird. Julian vertraut den haruspices oder den Sibyllinischen Büchern nur bedingt und verläßt sich eher auf seine eigene Interpretation oder aber auf diejenige der Philosophen aus seiner Entourage – Maximus und Priscus.508 Dieser Konflikt tritt besonders auf dem Persienfeldzug zutage. Dies ließe vermuten, daß Julian die Interpretationsmethoden der neuplatonischen Theurgen, die er womöglich bei diesen selbst gelernt haben könnte, besonders hoch schätzt. Theurgie wäre somit die richtige Interpretation des herkömmlichen mantischen Datenmaterials. Dies wird von Eunapius bestätigt, wo Chrysanthios und Maximus, die Theurgen par excellence, ebenfalls herkömmliche Methoden der Mantik praktizieren und als Autoritäten für die Deutung solcher Dinge portraitiert werden.509 Wiederum steht dies im Einklang mit Jamblichs De mysteriis, wo der Theurg auch derjenige ist, der die traditionellen Praktiken aufgrund seines tieferen Wissens richtig ausführen und einschätzen kann. Dasselbe Bild, das Ammianus zeichnet, spiegelt sich auch in den Hymnen Ephraems des Syrers, in denen Julian als „Chaldaean“ oder „diviner“ apostrophiert wird. 510 „Chaldäer“ bedeutet hier wahrscheinlich einfach nur im gängigen Sinn „Seher“ oder „Zauberer“ und spielt nicht auf die Tradition der Orakel an.511 Dennoch wird daran deutlich, daß Julian den Anspruch erhob, die Zukunft selbst voraussehen zu können, und daß dies in der Bevölkerung weit bekannt war.512 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß Eunapius’ Bericht von Julians theurgischem Interesse von dessen Werken bestätigt wird. Julian legt große Begeisterung für die Chaldäischen Orakel und Jamblichs Kommentar dazu an den Tag 506 Vgl. VAN LIEFFERINGE 1999, 240f. So auch BELAYCHE 2001, 475, die Julians „engagement théurgique“ als die prägende Kraft seiner Divinationskonzeption ansieht. CRISCUOLO 2001, 387f bezieht diese Stelle auf traditionelle mantische Praktiken, die als Ergänzung zur Theurgie dienten. Jedoch würde dies nicht erklären, inwiefern es sich um ein neues Phänomen handeln soll. 507 Darauf bezieht auch W. C. WRIGHT 2003, 373, Anm. 3 die Stelle. 508 Amm. XXIII 1,4–7; 3,6; 5,10; XXV 2,7. 509 S. o. 3.5.2. 510 Ephraem der Syrer, Hymnus II 16 (in englischer Übersetzung in der Anthologie von LIEU 1989, 108), II 2 (ebd., 110), IV 8 (ebd., 123), s. auch III 17 (ebd., 121). 511 LIEU 1989, 108, Anm. 17. 512 Falls diese Interpretation richtig ist, würde Julians Einstellung zur Mantik wieder der Individualismus und die daraus resultierende Flexibilität der Theurgie als Vorteil gegenüber traditionellen Formen des Kontaktes mit dem Göttlichen illustrieren, welchen JOHNSTON 1997, 174 in den Chaldäischen Orakeln feststellt.
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und betet zu der Göttermutter um Vollkommenheit in der Theurgie. Dabei steht für ihn hauptsächlich der soteriologische Aspekt im Vordergrund. Theurgie ist für ihn wie für Jamblich ein Oberbegriff, der sowohl chaldäische als auch andere geheimnisumwobene Traditionen integriert. Eine zweite wichtige Funktion der Theurgie ist die Ermöglichung des Kontakts zwischen Menschen und Göttern durch die Mantik. Sie ist somit eine wichtige Ergänzung der neuplatonischen Theorien, indem sie den konkret gangbaren Weg zu deren Heilsziel vorgibt und den Philosophen in realen, sehr persönlichen Kontakt mit den Göttern bringt – ihre mantischen Rituale sind nicht orts- oder personengebunden und können je nach Bedarf in Gallien wie in Persien ausgeführt werden. 3.8.6. Philosophie und Priesteramt: Julian als pontifex maximus Wie jeder römische Kaiser führt Julian den Titel des pontifex maximus. Somit stellt sich die Frage, wie er seine private philosophische Religiosität, die sich in seinem Weltbild oder seiner Neigung zu den Ritualen der Theurgie äußert, mit seiner Position innerhalb der religiösen Tradition des Heidentums verbindet. Kann seine Aktivität als pontifex völlig ohne Bezug auf die Inhalte seiner jamblicheischen Religiosität dargestellt werden,513 oder ist sie hingegen nur auf deren Hintergrund, als deren letzte Konsequenz verständlich?514 Eng verbunden mit dieser Frage ist diejenige nach dem Stellenwert der traditionellen heidnischen Kulte für Julians Religiosität. Die Theurgie bildet durch ihre Rituale eine Brücke zwischen der philosophischen Religiosität des Neuplatonismus und dem heidnischen Kult. Julian ist dieser Brücke weiter gefolgt und hat sich nicht nur in die Theurgie, sondern auch in traditionelle Mysterienkulte einweihen lassen. Seine Initiation in Eleusis ist gut bezeugt, ebenso diejenige in die Mysterien der Kybele. Auch scheint er in den Mithraskult eingeweiht worden zu sein, wenn auch die Reichweite seines Mithraismus vielleicht oft überschätzt wurde.515 Gehört die Initiation in verschiedene Mysterienkulte noch zum Bereich der privaten Religiosität, so muß gefragt werden, inwiefern der öffentliche Opferkult für Julians Religiosität von Bedeutung ist. Waren diese Opfer nur politisch motiviert, gleichsam eine Konzession Julians an die Rolle des Kaisers als pontifex maximus? Doch war die spezifisch priesterliche Bedeutung dieses Titels schon im dritten Jahrhundert zurückgetreten und bei Julian christlichen Vorgängern wurde der Titel nur sporadisch ohne religiöse Konnotationen benutzt.516 Julian, der in den verschiedenen untersuchten Werken dem materiellen Kult im Vergleich zur 513 So erwähnt STEPPER 2003, 201–207 in ihrer Darstellung Julians seinen philosophischen Hintergrund nur kursorisch, ohne ihn mit seinen Maßnahmen als pontifex zu verbinden, welche sie ausschließlich als Nachspiel seiner christlichen Religiosität erklärt. 514 ATHANASSIADI 1992a, 181ff. sieht in Julians Priesterideal eine Anwendung des von Jamblich skizzierten Idealbild des Theurgen und somit eine Konsequenz seines Neuplatonismus. 515 Zu Julians Einweihungen in die Mysterien vgl. GAUTHIER 1992. 516 Siehe dazu RÜPKE 2005, 1601–1614.
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inneren Gottesverehrung des Philosophen eine sekundäre Rolle zuweist, hätte durchaus auch auf dem Kaiserthron diese Tradition fortsetzen können. Hingegen versucht er, den alten Opferkult zu revitalisieren und das Amt des pontifex mit neuen, dezidiert religiösen Inhalten zu füllen. Gleich nachdem er durch Konstantius’ Tod zum allgemein anerkannten Augustus avanciert, beginnt Julian, in aller Öffentlichkeit zu opfern, und schreibt an seinen Lehrer Maximus: Wir verehren die Götter öffentlich sichtbar und der größte Teil des Heeres, das mir folgt, ist fromm. Wir opfern Stiere in aller Öffentlichkeit. Wir haben den Göttern als Dank für uns viele Hekatomben dargebracht. Mir befehlen die Götter, nach Kräften alles zu reinigen, und ich gehorche ihnen natürlich gerne; sie versprechen, die Mühen mit reichen Früchten zu belohnen, wenn wir uns nur nicht leichtsinnig verhalten. 517
Hier erscheint Julian zum ersten Mal als eifriger Opferer, der unzählige Hekatomben darbringt – ein Bild, das im Laufe seiner Regierungszeit als Augustus große Verbreitung erreicht und seine Wahrnehmung entscheidend prägt. Er selbst erwähnt in seinen späteren Schriften und Briefen, daß er oft die Tempel der Götter aufsuche518 und zweimal täglich, morgens und abends, zu opfern pflege.519 Libanios lobt sein Engagement als Priester, der alle Opferverrichtungen mit eigener Hand versehe. In seinem Palast opfere er täglich.520 Ammianus berichtet kopfschüttelnd dasselbe: Julian habe sich aufgrund seines Übereifers und durch die deplazierte Übernahme von priesterlichen Aufgaben beim Opfern die berechtigte Kritik zugezogen, daß er eher ein victimarius als ein sacricola wäre.521 Julians unzählige Hekatomben hätten in der Bevölkerung die Erinnerung an das Distichon gegen Marcus Aurelius, in dem die weißen Stiere einen eventuellen erneuten Sieg des Kaisers als ihren drohenden Untergang bezeichnen, wach werden lassen.522 Christlicherseits karikiert Gregor von Nazianz Julians eigenhändige Opfer.523 Es ist daher wichtig zu bemerken, daß an dieser frühesten Stelle, an der Julian über die von ihm dargebrachten Opfer spricht, öffentliche und persönliche Dimension ganz eng verbunden sind. Er opfere öffentlich, vor einem mehrheitlich heidnischen Heer, jedoch für sich, als Ausdruck des Dankes an die Götter für seine Rettung. Der Schlüssel findet sich wahrscheinlich im Sendungsbewußtsein, welches er anschließend artikuliert: er sei von den Göttern beauftragt worden τὰ πάντα ἁγνεύειν, die umfassende kultische Reinheit im Reich wiederherzustel517 Ep. 26, 415c–d: Θρησκεύομεν τοὺς θεοὺς ἀναφανδὸν καὶ τὸ πλῆθος τοῦ συγκατελ‐ θόντος μοι στρατοπέδου θεοσεβές ἐστιν· ἡμεῖς φανερῶς βουθυτοῦμεν· ἀπεδώκα‐ μεν τοῖς θεοῖς χαριστήρια περὶ ἡμῶν ἑκατόμβας πολλάς· ἐμὲ κελεύουσιν οἱ θεοὶ τὰ πάντα ἁγνεύειν εἰς δύναμιν, καὶ πείθομαί γε προθύμως ἀυτοῖς· μεγάλους καρποὺς τῶν πόνων ἀποδώσειν φασὶν, ἢν μὴ ῥαθυμοῦμεν. 518 Z. B. Misopogon 11, 344b oder 15, 346a–c. 519 Ep. 98, 401b. 520 Or. XII, 80–82. SCHOLL 1994, 91–95 und WIEMER 1995, 181f zeigen, daß Libanios diesem Aspekt Julians eine große Bedeutung beilegte. 521 Amm. XXII 14,2. Vgl. auch XXII 12, 6. 522 Amm. XXV 4, 16. 523 Or. V 22.
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len.524 Privates und Öffentliches verschmelzen hier zu einer Einheit. Von Bedeutung ist auch, daß dieser Passus in einem Brief an Maximus von Ephesus, seinem verehrten Philosophielehrer, steht und Julian sich nicht zu rechtfertigen versucht. Er nimmt somit an, daß Maximus sein Handeln loben wird. Damit ist klar, daß Julian zwischen der Philosophie und den öffentlichen Hekatomben keinen Widerspruch, sondern vielmehr Einklang sieht. Die Parallele, die Ammianus zu Marcus Aurelius zieht, könnte auch aufschlußreich sein: Julian wählt sich gerade den Philosophenkaiser zum Vorbild in den Caesaren. Die Opfer, allen voran die traditionellen Tieropfer, bleiben ein zentraler Bestandteil der öffentlichen religiösen Aktivitäten Julians. Warum er gerade diesen Aspekt des heidnischen Kultes in den Mittelpunkt seiner Restaurationsbestrebungen rückt, ist schwierig zu bestimmen und umso mehr, als während der späten Kaiserzeit verschiedene unblutige Kulte immer mehr Raum gewinnen und innerhalb der Elite die Berechtigung und der Sinn des blutigen Opfers heftig umstritten waren.525 Wie BRADBURY feststellt, könnte man sich Julian, der die philosophische Debatte um den Opferkult durchaus kannte, sehr wohl auch an der Spitze einer heidnischen Restauration ohne blutigen Opferkult vorstellen.526 BRADBURY sieht den eigentlichen Grund für Julians Vorgehen in der besonderen Stellung des Opferkultes: er sei der Stein des Anstoßes par excellence zwischen Heiden und Christen gewesen und sei somit emblematisch für das Heidentum. Da Julian die Christen durch seine Politik mit allen Mitteln mit dem Sieg des Heidentums zu konfrontieren und zu provozieren wünschte, habe er gerade auf den Opferkult gesetzt und ihn geflissentlich ausgeübt, um ihnen eindeutig zu demonstrieren, auf welcher Seite er als Kaiser stand. Die Wahl der Opfer wäre somit nicht inhaltlich, sondern als taktischer Zug politisch motiviert. BRADBURY gibt zu, daß Julian durchaus auf eine philosophische Grundlegung des Opferkultes aus der Feder keines geringeren als Jamblichs zurückgreifen konnte, räumt aber dieser philosophischen Position nur eine sekundäre Rolle ein.527 Da Julian selbst keine Begründung der blutigen Opfer liefert, ist es schwierig, seine Position zu rekonstruieren. An einer Stelle deutet er an, daß er seine Opfer gemäß der alten Tradition, κατὰ τὰ πάτρια, vollziehe. 528 Was er damit impliziert, bzw. warum er gemäß den väterlichen Sitten handelt, ist unklar. Will er damit nur seine Traditionstreue zum Ausdruck bringen, weil dies einem römischen Kaiser ziemt? Will er damit an die alte Tradition des Imperiums anknüpfen, zu der der Opferkult als integraler Bestandteil nun einmal dazugehörte? Oder identifiziert er sich aus religiösen Gründen mit dieser Tradition? Der oben zitierte Brief an Maximus legt nahe, daß die Opfer ein selbstverständliches Element seiner Religiosität sind. Daß er seinem Lehrer freudig mitteilt, daß er nun öffentlich opfere, 524 Ἁγνεύειν muß an dieser Stelle transitiv aufgefaßt werden. S. dazu W. KOCH 1928a, 545. 525 Vgl. dazu BRADBURY 1995, bes. 331–340. Zur philosophischen Debatte um die Berechtigung und den Wert der blutigen Opfer vgl. CAMPLANI, ZAMBON 2002, die u. a. Porphyrios, die Hermetika, theurgische und magische Texte untersuchen. 526 BRADBURY 1995, 340. 527 BRADBURY 1995, 346f. 528 Misopogon 15, 346c.
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deutet an, daß die Theologie des Maximus diesen Aspekt durchaus implizierte. Da beide in der Tradition des Jamblich stehen, überrascht das nicht. Jamblich hatte ja die Notwendigkeit verschiedener Opfer, inklusive Tieropfer, betont, da nur diese Vielfalt der Vielfalt der Götter und Geistwesen im All gerecht würde. Er hatte versucht, den traditionellen Kult unter Rückgriff auf seine neuplatonische Interpretation der Theurgie zu fundieren und zu bestätigen. Der immaterielle Kult sei zwar wertvoller, aber nur sehr wenigen vollkommenen Geistern zugänglich. Die Städte, die Volksmassen, bräuchten eine ihnen angemessene – materielle – Form des Kultes, um wenigstens so mit den Göttern in Kontakt treten zu können; die traditionellen Kulte der Städte seien somit legitim und unabdingbar. Auch seine Vorstellung, daß bestimmte Götter bestimmten Völkern ihre Riten geschenkt hätten, impliziert, daß diese alten Riten, τὰ πάτρια der betreffenden Völker, getreulich ausgeführt werden müssen. Gerade diese Vorstellung spiegelt sich in Julians Schrift Gegen die Galiläer wieder. Auf diesem jamblicheischen Hintergrund könnte Julians Betonung, daß er als Priester κατὰ τὰ πάτρια, eine tiefere Bedeutung als nur die politisch korrekte Konformität zur Tradition haben. Zumal Julian gerade hinsichtlich des Opferkultes sich von der traditionellen Rolle des Priesters entfernt: dieser hatte über die richtige Ausführung des Opfers zu wachen, aber nicht eigenhändig die gesamte Zeremonie, einschließlich ihrer weniger ansprechenden Handlungen, durchzuführen – daher auch die Mißbilligung Ammians und der Spott christlicher Autoren.529 Julians Verhalten sollte somit durchaus als konsequente Umsetzung des jamblicheischen Konzeptes gelesen werden.530 Ein weiterer Beleg dafür findet sich in De diis et mundo, dem ‚heidnischen Katechismus‘ seines Vertrauten Saloustios. Wie z. B. am Umgang mit den Mythen und an der Exegese des Kybele-Kultes ersichtlich ist, steht Saloustios Julians Position sehr nahe und gibt lediglich nur ein systematisierendes Referat davon. Hinsichtlich der Opfer bietet er eine stark vereinfachte Skizze jamblicheischer Philosophie, die die unumstößliche Notwendigkeit und den höheren Wert blutiger Opfer verteidigt. Neben der philosophischen Theorie ist schließlich vielleicht die Wirkung der Literatur, der tiefen Faszination für die homerische Welt als ein Element seiner Motivation zu sehen. Gerade bei Homer spielen Tieropfer und Hekatomben eine überaus wichtige Rolle. Sie könnten auf diesem Hintergrund für Julian zu einem Sinnbild jener alten, wunderbaren Welt geworden sein, welcher er wieder die gebührende Geltung verschaffen wollte. Diese beiden Elemente, Homer und Jamblich, bilden für Julian die Basis einer Neuinterpretation seiner Rolle als pontifex: öffentliche Tieropfer rücken in den Mittelpunkt. Neben der Förderung des Opferkultes bildet der Versuch, das heidnische Priestertum neu zu organisieren und zu reformieren, den zweiten innovativen Aspekt der Tätigkeit Julians als pontifex maximus. Er setzt Personen seines Vertrauens als Oberpriester der einzelnen Provinzen ein. Dabei spielen die Beziehungen, die er im Philosophiestudium geknüpft hat, eine wichtige Rolle. Chrysanthios, sein ehe529 Dazu s. SAGGIORO 2002, 241–243, und BELAYCHE 2001, 467ff, die ihn mit Elagabal vergleicht. 530 S. dazu BELAYCHE 2001, 479–485.
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maliger Lehrer, wird mit seiner Frau zum Oberpriester Lydiens ernannt.531 Theodoros, ein Student des Maximus, den Julian nur aus Hörensagen kennt, sich mit ihm aber durch den gemeinsamen Lehrer verbunden fühlt, wird zum Oberpriester der Asia ernannt.532 Julian benutzt somit für seine Restauration das ihm durch sein Studium zugängliche und bekannte Netzwerk.533 Julians Versuch, das heidnische Priestertum, dessen Bedeutung und Befugnisse umzugestalten, spiegelt sich in einer Reihe von Briefen, in denen er als Priester spricht.534 Mit einer Ausnahme sind diese ‚Pastoralbriefe‘535 an Priester gerichtet und legen Regeln für deren Verhalten und Strategien für die Verbreitung des Heidentums fest. Ein Brief ist an einen Beamten gerichtet, der sich der Misshandlung eines Priesters schuldig gemacht hatte. Als κατὰ τὰ πάτρια μέγας ἀρχιερεύς schließt ihn Julian für drei Monate vom Kult aus.536 In den Pastoralbriefen erscheint der βίος ἱερατικός als eine distinkte Lebensform, im Unterschied etwa zum βίος πολιτικός.537 Somit scheint Julian neben den drei klassischen bioi der antiken Tradition einen vierten bios einzuführen. Das priesterliche Leben soll Tempeldienst, ein zurückgezogenes, bescheidenes Leben, Menschenfreundlichkeit und philosophisches Studium verbinden.538 Das Leben der Priester soll zum Vorbild für die anderen werden und so ihre Unterweisung des Volkes im Heidentum bekräftigen.539 Die Philosophie erscheint in diesen Briefen als ein wichtiger Bestandteil des βίος ἱερατικός. Julian erörtert sorgfältig, welche Lektüre den Priestern gezieme und kommt zu dem Schluß, daß philosophische Werke besonders geeignet seien: Uns dürfte allein die Philosophie geziemen *** und von diesen diejenigen, die sich die Götter zu Führern ihrer Bildung erkoren haben, wie Pythagoras und Platon und Aristoteles sowie die Schüler Chrysipps und Zenons. Denn man darf die Aufmerksamkeit nicht auf alle Philosophen oder auf die Lehren aller Philosophen richten, sondern nur auf jene Philosophen und nur auf jene ihrer Lehren, die Frömmigkeit bewirken und über die Götter zuallererst lehren, daß sie existieren, sodann, daß sie um die Angelegenheiten hier auf Erden Sorge tragen und daß sie weder den Menschen noch einander irgend etwas Böses aus Mißgunst oder Feindseligkeit antun. Solcherlei Dinge schrieben unsere Dichter und zogen damit Verachtung auf sich, während die Propheten der Juden solcherlei nachdrücklich behaupten und deswegen von diesen armseligen Gestalten, die sich den Galiläern zuzählen, Bewunderung ernten. 540 531 532 533 534 535 536 537 538
VS VII 4,9. Ep. 89a, bes. 452a–453a. Vgl. dazu ATHANASSIADI 1992a, 185f. Ep. 84, 86, 88, 89a, 89b. Zu diesem Terminus vgl. W. KOCH 1928a, 50. Ep. 88, 451b–d. Ep. 89b, 289a. Am detailliertesten ausgeführt in ep. 89b, bes. 299b–304d. Zur Analyse der Pastoralbriefe vgl. W. KOCH 1928a. 539 Ep. 89b, 299b. 540 Ep. 89b, 300d–301a: Πρέποι δ’ ἂν ἡμῖν ἡ φιλοσοφία μόνη *** καὶ τούτων οἱ θεοὺς ἡγεμόνας προστησάμενοι τῆς ἑαυτῶν παιδείας, ὥσπερ Πυθαγόρας καὶ Πλάτων καὶ Ἀριστοτέλης οἵ τε ἀμφὶ Χρύσιππον καὶ Ζήνωνα. Προσεκτέον μὲν γὰρ οὔτε πᾶσιν οὔτε τοῖς πάντων δόγμασιν, ἀλλὰ ἐκείνοις μόνον, καὶ ἐκείνων ὅσα εὐσε‐ βείας ἐστὶ ποιητικά, καὶ διδάσκει περὶ θεῶν πρῶτον μὲν ὥς εἰσίν, εἶτα ὥς προνο‐
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Explizit verbietet Julian epikureische und skeptische λόγοι und ἔννοιαι.541 Um die rituelle Reinheit des Priesters zu wahren, solle der Priester seine gesamte Tempeldienstperiode im Tempel verbringen, indem er sich mit Philosophie beschäftige.542 Doch ist die Philosophie nicht die einzige geeignete Lektüre; historische Werke sind ebenfalls zugelassen.543 Der Philosophie wird somit eine wichtige Rolle im priesterlichen Leben eingeräumt, sie ist dennoch damit nicht identisch: der Priester soll sich als solcher – nicht als Philosoph – mit den Werken der Philosophen – und zwar nur mit einem Teil, der die richtige Frömmigkeit vermittelt, beschäftigen. Als Hauptaufgabe des Priesters erscheint in diesen Briefen die Verehrung der Götter nach den überlieferten Gesetzen, die er durchzuführen und im Volk zu verbreiten hat.544 Gestaltet nun Julian sein Priesterideal nach neuplatonischen, spezifisch jamblicheischen Vorstellungen?545 Dafür gibt es keine eindeutigen Belege. Da Jamblich den traditionellen Kult in die Theurgie eingeordnet hatte, könnten Julians Ausführungen zum Priestertum in diesem Lichte gelesen werden. Am ehesten können Anspielungen auf die Theurgie im Brief 89 an Theodoros erwartet werden, der als Schüler des Maximus mit ihr vertraut gewesen sein könnte. Auch in diesem Brief steht der öffentliche Kult im Vordergrund. Dieser ist strikt nach den überlieferten Gesetzen einzuhalten: Du tust recht daran, mir in solchen Fragen zu vertrauen. Denn, wie alle Götter wissen, improvisiere ich hinsichtlich der meisten dieser Angelegenheiten nicht, sondern bin so vorsichtig, wie es nur jemand sein kann, und meide die Neuerung sozusagen in allen Dingen, insbesondere aber in denen, die die Götter betreffen, da ich der festen Meinung bin, daß die ursprünglichen väterlichen Gesetze bewahrt werden müssen. Daß die Götter uns diese gegeben haben, ist offenkundig; denn sie wären nicht so schön, wenn sie ihren Ursprung einfach nur von den Menschen hätten. 546
Neben dem Argument, daß die Kulte von den Göttern eingesetzt worden seien, stützt sich Julian auf ein weiteres Argument, die Nachahmung der göttlichen Ordnung im Ritual:
541 542 543 544 545 546
ούσι τῶν τῇδε, καὶ ὡς ἐργάζονται μὲν οὐδὲ ἓν κακὸν οὐδὲ ἀνθρώπους οὐδὲ ἀλλή‐ λους, φθονοῦντες καὶ πολεμοῦντες, ὁποῖα γράφοντες μὲν οἱ παρ’ ἡμῖν ποιηταὶ κατεφρονήθησαν, οἱ δὲ τῶν Ἰουδαίων προφῆται διατεταμένως συγκατασκευά‐ ζοντες ὑπὸ τῶν ἀθλίων τούτων τῶν προσνειμάντων ἑαυτοὺς τοῖς Γαλιλαίοις θαυμάζονται. Ebd. 301c–d. Ebd. 302d. Ebd. 301b. Vgl. bes. ep. 89b, 297a, 299b–300c.301d–302c. So W. KOCH 1928a, 538 und ATHANASSIADI 1992a, 182–189. Ep. 89a, 453b: Δίκαιος δὲ εἶ πείθεσθαί μοι τὰ τοιαῦτα· καὶ γὰρ οὐδὲ ἀποσχεδιάζο‐ μαι τὰ πολλὰ τῶν τοιούτων, ὥς ἴσασιν οἱ θεοὶ πάντες, ἀλλά, εἴπερ τις ἄλλος, εὐ‐ λαβής εἰμι καὶ φεύγω τὴν καινοτομίαν ἐν ἅπασι μέν, ὥς ἔπος εἰπεῖν, ἰδίᾳ ἐν τοῖς πρὸς τοὺς θεοὺς, οἰόμενος χρῆναι τοὺς πατρίους ἐξ ἀρχῆς φυλάττεσθαι νόμους, οὓς ὅτι μὲν ἔδοσαν οἱ θεοί, φανερόν· οὐ γὰρ ἂν ἦσαν οὕτω καλοὶ παρὰ ἀνθρώ‐ πων ἁπλῶς γενόμενοι.
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Denn was das Verhalten in den Heiligtümern betrifft, so ziemt es sich, alles zu beachten, was das väterliche Gesetz befiehlt, und man darf nicht mehr und nicht weniger tun als das Geforderte. Denn das, was zu den Göttern gehört, ist ewig, so daß auch wir ihr Wesen nachahmen müssen, damit wir sie auf diese Weise günstiger stimmen. 547
Die Vorstellung, daß der Kult von den Göttern eingesetzt ist und deren Sphäre nachzubilden hat, könnte auf dem Hintergrund jamblicheischer Vorstellungen gelesen werden. Auch für Jamblich ist der Kult eine gottgegebene mimesis der göttlichen Ordnung: Denn welche Art von Kulthandlung und Verehrung vollzieht sich durch Leidenschaft, wenn sie nach den priesterlichen Gesetzen erfolgt? (...) Wurde sie (sc. die Kulthandlung) nicht nach den Satzungen der Götter und auf geistige Weise von Anfang an als Gesetz gegeben? Sie ahmt die Ordnung der Götter nach, sowohl die intelligible, als auch die im Himmel. Sie enthält die ewigen Maße der seienden Dinge und wunderbare in sie hineingelegte Elemente, wie sie von dem Schöpfer und Vater des Alls hierher hinuntergeschickt wurden, durch welche zum einen das Unaussprechliche durch geheime Symbole ausgesprochen und zum anderen das Gestaltlose in sichtbaren Gestalten festgehalten wird.548
Diese Stelle ist eine der vielen in De mysteriis, in der Theurgie und traditioneller Kult verschmelzen. Gedanklich stehen sich die beiden Stellen sehr nahe, wenngleich eine direkte Abhängigkeit Julians von Jamblich etwa aufgrund gemeinsamen Vokabulars nicht nachgewiesen werden kann.549 Der von Jamblich verwendete Begriff des Symbols, der oft austauschbar mit σύνθημα die im Kult eingesetzten Symbole und Abbilder des Göttlichen meint, spielt auch in Julians Brief an Theodoros eine wichtige Rolle, im Zusammenhang mit den materiellen Kultgegenständen, Heiligtümern und speziell den Götterbildern. Hintergrund dieser Diskussion des materiellen Apparates des heidnischen Kultes ist der christliche Vorwurf, daß die Heiden materielle Gegenstände als Götter verehrten.550 Götterbilder, Altäre usw. seien Symbole (σύμβολα), durch welche die Götter verehrt werden sollten. Sie vermitteln zwischen den Menschen und den unkörperlichen Göttern. Da die Menschen einen Körper besitzen, muß ihre Gottesverehrung dementsprechend materiell sein. Zwar seien die Gestirnsgöt547 Ep. 89b, 302b: ὡς τά γε ἐν τοῖς ἱεροῖς, ὅσα πάτριος διαγορεύει νόμος φυλάττειν πρέπει, καὶ οὔτε πλέον οὔτε ἐλάττόν τι ποιητέον αὐτῶν. Ἀίδια γάρ ἐστι τὰ τῶν θεῶν· ὥστε καὶ ἡμᾶς χρὴ μιμεῖσθαι τὴν οὐσίαν αὐτῶν ἵν’ αὐτοὺς ἱλασκώμεθα διὰ τοῦτο πλέον. 548 De myst. I 21: Ποία γὰρ ἁγιστεία καὶ κατὰ νόμους ἱερατικοὺς θεραπεία δρωμένη διὰ πάθους γίγνεται (...); οὐχ αὕτη μὲν κατὰ θεσμοὺς θεῶν νοερῶς τε κατ’ ἀρχὰς ἐνομοθετήθη; μιμεῖται δὲ τὴν τῶν θεῶν τάξιν, τήν τε νοητὴν καὶ τὴν ἐν οὐρανῷ. Ἔχει δὲ μέτρα τῶν ὄντων ἀίδια καὶ ἐνθήματα θαυμαστὰ, οἷα ἀπὸ τοῦ δημιουρ‐ γοῦ καὶ πατρὸς τῶν ὅλων δεῦρο καταπεμφθέντα, οἷς καὶ τὰ μὲν ἄφθεγκτα διὰ συμβόλων ἀπορρήτων ἐκφωνεῖται, τὰ δὲ ἀνείδεα κρατεῖται ἐν εἴδεσιν (...). 549 W. KOCH 1928a bezweifelt, daß Julian De mysteriis gekannt hätte, da er sonst auch Porphyrios’ Brief an Anebo gelesen hätte, aber in der Rede auf die Göttermutter selbst bezeuge, nichts von Porphyrios gelesen zu haben. Das Argument ist nicht schlüssig. Außerdem behauptet Julian an der angeführten Stelle nur, daß er Porphyrios’ allegorische Deutung des Mythos von Kybele nicht gelesen habe (Or. VIII,3, 161c); zumindest die Eisagoge scheint er in der Hand gehabt zu haben (ep. 12). 550 Ep. 89b, 293b.
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ter körperliche Abbilder der unkörperlichen Götter, aber ihnen könne aufgrund ihrer Bedürfnislosigkeit auch kein materieller Kult als Ehrenbezeugung dargebracht werden. Dementsprechend wurden die Götterbilder erfunden, damit die Menschen daran in der ihnen angemessenen körperlichen Weise die Götter verehren und sich gnädig stimmen könnten.551 Julian betont, daß die materielle Verehrung der Gottheiten zwar nur symbolisch sei, weil die Götter nichts bedürften, daß sie nichtsdestotrotz die einzige Möglichkeit des Kontaktes mit den Göttern darstelle und deshalb nicht mit dem Hinweis auf die Bedürfnislosigkeit der Götter verachtet werden dürfte.552 Die hier geäußerten Gedanken erinnern wiederum an Jamblich.553 In seiner Verteidigung der materiellen Opfer hatte auch dieser betont, daß die Körperlichkeit des Menschen sich in einem materiellen Kult niederschlagen müsse.554 Er wendet sich gegen Porphyrios, der den materiellen Kult geringschätzt und die geistige Verehrung des Einen und die Vereinigung mit ihm allein anvisiert.555 Allerdings gibt es zwischen Julian und Jamblich gewichtige Unterschiede.556 Jamblich würde neben dem körperlichen Kult, der der körperlichen Seite des Menschen entspricht, einen rein geistigen, an die höchsten Götter gerichteten Kult annehmen, den Julian hier nicht erwähnt.557 Auch der Symbolbegriff, der den materiellen Kult bei beiden charakterisiert, ist jeweils ein anderer. Für Julian sind die materiellen Gegenstände der religiösen Praxis Symbole, insofern als sie die Götter repräsentieren. Er zieht die Parallele zwischen Götter – und Kaiserbildern: so, wie die Menschen den Kaiserstatuen symbolisch die dem abwesenden Kaiser gebührende Verehrung erweisen, so bringen sie den Bildern symbolisch die Verehrung dar, die sie den Göttern nicht direkt zollen können.558 Für Jamblich sind die Symbole Abbilder des Göttlichen im All, die aufgrund ihrer Verwandtschaft zu den Göttern per se wirken und die Menschen ohne ihr Zutun zur Vereinigung mit den Göttern führen. Julian steht mit seinen Ausführungen älteren Autoren der hohen Kaiserzeit wie Dio Chrysostomos oder Maximus von Tyros näher als Jamblich.559 Diese Stellen zeigen, daß sich bei Julian zwar Anklänge an die jamblicheische Kulttheorie finden lassen, daß seine Ansichten über Kult und Götterbilder nicht ausschließlich darauf reduziert werden dürfen. Wie KOCH festhält, ist es bezeichnend, daß Julian hier von Priestern spricht, während Jamblich die Theurgen im Blick hat. Zwar erwähnt Julian in ep. 89 die Lehren der alten Theurgen, aber nicht um den Kult zu begründen, sondern um die Verwandtschaft aller Menschen her-
551 Ep. 89b, 293a–c. 552 Ep. 89b, 293d. 553 Die Nähe zwischen den beiden wird auch von W. KOCH 1928a, 66 sowie VAN LIEFFERINGE 1999, 238f konstatiert. 554 De myst. V 15. 555 Z. B. II 11, V 15 oder V 22. 556 Vgl. CRISCUOLO 1992, 95: „Sul problema delle immagini, elemento „quotidiano“ della prassi religiosa, il pensiero dell’ imperatore emerge con sufficiente chiarezza e si riconosce solo parzialmente nel giamblichismo.“ 557 De myst. V 15. 558 Ep. 89b, 293c–d. 559 S. Dio Chrysostomos Or. XII 59–61 und 77 oder Maximus von Tyros Or. II TRAPP.
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auszustellen; mit dem Kult werden sie nicht in Zusammenhang gebracht.560 Julian kopiert Jamblich nicht, sondern geht mit dessen Lehren sehr frei um.561 Auch im Brief an den Neuplatoniker Theodoros beruft er sich für seine Bestimmungen zur Regulierung des heidnischen Klerus nicht etwa auf theurgische Autoritäten, sondern spricht selbst mit höchster Autorität als pontifex maximus und hebt seine besondere Beziehung zu Rom hervor.562 Seine Bestimmungen erscheinen zum Teil als Antwort auf die christliche religiöse Praxis – wie etwa die wiederholte Betonung der Notwendigkeit eines systematischen karitativen Programms563 – zum Teil lassen sie sich auch aus den traditionellen Vorstellungen über die kultische Reinheit herleiten.564 Julians Priesterideal geht somit über neuplatonische Vorstellungen hinaus, wenngleich diese vor allem in der Betonung der Bedeutung blutiger Opfer einen wichtigen Raum innehaben. Julians Unterfangen, das Leben der heidnischen Priester bis ins kleinste Detail zu regeln und das Priestertum zu einer besonderen moralischen Autorität zu erheben, stellt eine gewichtige Neuerung in der Tradition der kaiserlichen Wahrnehmung des Amtes des pontifex maximus dar.565 Jedoch hat seine religiöse Betätigung als Kaiser auch andere Aspekte. Seine zwei Prosahymnen sind als schriftliche Zelebrationen der entsprechenden römischen Feste verfaßt.566 Der Hymnus auf die Göttermutter beginnt mit einer kurzen Geschichte der Einführung ihres Kultes zuerst in Griechenland und dann in Rom.567 Die Einrichtung des Kultes in Rom wird detailliert geschildert. Diesem Anfang entspricht der Schluß, ein Gebet an die Mutter der Götter, in dem Julian für das Wohlergehen des römischen Volkes und seine Errettung vom „Makel der Gottlosigkeit“ sowie für sich als Kaiser betet.568 In diesem ‚römischen‘ Rahmen interpretiert Julian als „Philosoph und Theologe“569 den Mythos und den Mysterienkult von Kybele und Attis im Sinne der neuplatonischen Philosophie. Auch im Hymnus auf Helios spricht Julian als römischer Kaiser: nachdem er einleitend seine enge persönliche Beziehung zu Helios betont,570 hebt er seine Rolle als Kaiser hervor571 und hebt als solcher zum Lobpreis des Festes an, „welches die Königin der Städte mit jährlichen Opfern feiert“.572 Nach der an Jamblich angelehnten philosophischen Erörterung des We560 561 562 563
564 565 566 567 568 569 570 571 572
Ep. 89b, 292a. W. KOCH 1928a, 68–71. Ep 89b, 298d, 302d. Vgl. R. SMITH 1995, 112. Julians Idee der φιλανθρωπία geht zwar auf stoische Einflüsse zurück, wird aber von ihm explizit als Maßnahme zur Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit des Heidentums mit dem Christentum gedeutet (ep. 84, 430b–431b sowie 89b, 289a–292d). S. die Analyse des philosophischen Hintergrunds bei W. KOCH 1928a, 517–527. R. SMITH 1992, 112. Vgl. dazu STEPPER 2003, 204ff. Or. VIII 3, 161c und XI, 3, 131d. Or. VIII 1–2. Or. VIII 20. Or. VIII 2, 161a. Or. XI 1. Or. XI 2. Or. XI 3, 131d.
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sens und der Macht des Gottes kehrt er wieder zur konkreten Bedeutung des Sonnengottes für Rom zurück. Sich mit dem römischen Volk identifizierend, betont er, daß dieser ἀρχηγός Roms ist. Da er Aphrodite in seinem philosophischen System als eine Helios untergeordnete Gottheit ansieht, kann er behaupten, daß Helios der Ahnherr aller Römer sei.573 Auch die Seele des mythischen Gründers der Stadt, Quirinus, stamme von Helios.574 Julian räumt Helios einen zentralen Platz innerhalb der religiösen Gesetzgebung des Numa ein und diskutiert die Einordnung des Sol-Festes in den römischen Festkalender.575 Schließlich betet er zu Helios für Rom und für sich als Herrscher.576 Damit ist die eigentliche Rede abgeschlossen; es folgt nur noch das Epilog mit der Widmung an Saloustios. An diesen beiden Prosahymnen wird deutlich, daß für Julian die Würde des pontifex neben dem Kult auch die Belehrung über die Bedeutung der Götter und Riten umfaßt. Diese steht ganz im Zeichen der neuplatonischen Philosophie, die als Schlüssel zur Exegese der Mythen und Feste fungiert.577 Julians heidnische Religiosität umfaßt somit neben der neuplatonischen Theologie und Theurgie auch die Initiation in verschiedene Mysterienkulte sowie die Betätigung als pontifex maximus. Die Philosophie bildet den Code, der die verschiedenen Götter mit ihren jeweiligen Riten verständlich machen kann. Auch soll sie im Leben jedes Priesters eine entscheidende Rolle spielen. Julians Konzeption des Priesteramtes kann jedoch nicht nur auf jamblicheische Vorstellungen reduziert werden, sondern verbindet philosophische Elemente mit Vorstellungen des traditionellen öffentlichen Kultes. Priester und Philosoph sind für Julian somit zwei zumindest in der Theorie verschiedene, wenngleich eng verzahnte Identitäten, die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. 3.9. EPILOG: JULIANS TODESSZENE Die Untersuchung der Rolle der Philosophie in Julians Leben wäre ohne die Einbeziehung der Beschreibungen, welche Libanios und Ammianus im wesentlichen übereinstimmend von Julians letzten Stunden bieten, unvollständig. Denn diese stehen beide ganz im Zeichen der Philosophie. Im Kampf verwundet, muß Julian in sein Zelt zurückgetragen werden, wo er, von seinen engsten Vertrauten umgeben, stirbt. In der früheren Darstellung des Libanios wird sein Tod in enger Parallele zu Sokrates’ Tod im Phaidon geschildert: Seine Tugend könnte man auch aus seinen letzten Worten ersehen. Denn als alle Umstehenden in Wehklagen ausgebrochen waren und nicht einmal jene, die sich mit der Philosophie beschäftigten, sich beherrschen konnten, tadelte er die anderen und insbesondere diese, daß sie ihn beweinten, als habe er des Tartaros würdig gelebt, obwohl sein vollendetes Leben ihn zu den Inseln der Seligen führte. Das Zelt glich dem Gefängnis, das Sokrates aufgenommen 573 574 575 576 577
Or. XI, 40, 153d–154a. Or. XI 40, 154c–d. Or. XI, 41–42. Or. XI, 43, 156c–157b. Vgl. FOUSSARD 1978, 194 und 202.
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hatte, die Anwesenden denen, die bei jenem anwesend waren, die Speerwunde dem Gift, die Worte den Worten, der Tatsache, daß nur Sokrates allein nicht geweint hat, glich es, daß auch dieser als Einziger nicht weinte.578
Ammianus entfaltet in seiner späteren Darstellung diese Szene zu einem umfassenden letzten Auftritt Julians, der seinen Getreuen eine eindrucksvolle Rede über seine Seelenruhe angesichts des Todes hält. Nach den Lehren der Philosophen sei er überzeugt, daß die Glückseligkeit der Seele die des Körpers übersteige;579 er sei ruhigen Gewissens, die ihm als Kaiser aufgetragene Aufgabe richtig erfüllt zu haben580 und sehe den ruhmvollen Tod auf dem Schlachtfeld als besonderes Geschenk der Götter an.581 Anders als Libanios widmet Ammianus der Erfüllung der kaiserlichen Pflichten Julians breiten Raum. Das Motiv der tröstenden Kraft der Philosophie bleibt demgegenüber unausgeführt, ist aber dafür an Schlüsselstellen positioniert: er leitet Julians Rede ein und erscheint danach unmittelbar am Schluß seines Lebens: nach der Rede verteilt Julian seine persönlichen Besitztümer an die Umstehenden und stirbt in einem komplizierten Gespräch mit Maximus und Priscus über die himmlische Natur der Seele.582 Somit gelingt es Ammianus, beiden Aspekten seines Julianbildes, sowohl dem Philosophen als auch dem römischen Kaiser und Feldherrn, in dieser letzten Szene Geltung zu verschaffen. Inwiefern die Darstellungen des Libanios und Ammianus authentisch sind, muß letztlich offen bleiben. Da Libanios Maximus und Priscus kannte, könnten diese als Quelle für ihn in Betracht kommen;583 Ammianus scheint sich seinerseits an Libanios orientiert zu haben.584 Ob die Ähnlichkeit der Darstellungen mit der Todesszene des Sokrates lediglich ein apologetischer Kunstgriff ist,585 kann nicht 578 Or. XVIII 272: Ἴδοι δ’ἄν τις αὐτοῦ τὴν ἀρετὴν κἀκ τῶν τελευταίων ῥημάτων. ἁπάντων γὰρ τῶν περιεστηκότων εἰς θρῆνον πεπτωκότων καὶ οὐδὲ τῶν φιλοσο‐ φοῦντων δυναμένων καρτερεῖν ἐπετίμα τοῖς τε ἄλλοις καὶ οὐχ ἥκιστα δὴ τούτοις εἰ τῶν βεβιωμένων αὐτὸν εἰς Μακάρων νήσους ἀγόντων οἵδε ὥς ἀξίως Ταρτάρου βεβιωκότα δακρύοιεν. ἐῴκει δὴ ἡ σκήνη μὲν τῷ δεξαμένῳ δεσμοτηρίῳ τὸν Σω‐ κράτη, οἱ πάροντες δὲ τοῖς ἐκείνῳ παροῦσιν, ἡ πληγὴ δὲ τῷ φαρμάκῳ, τὰ ῥήματα δὲ τοῖς ῥήμασιν, τῷ δὲ μὴ δακρῦσαι τὸν Σωκράτη μόνον τὸ μηδὲ τοῦτον. 579 Amm. XXV 3,15. 580 Amm. XXV 3,16–18. 581 Amm. XXV 3,19. 582 Amm. XXV 3,23: Quibus (sc. die Entourage) ideo iam silentibus, ipse cum Maximo et Prisco philosophis super animorum sublimitate perplexius disputans, hiante latius suffossi lateris vulnere, et spiritum tumore cohibente venarum, epota gelida aqua, quam petiit medio noctis horrore, vita facilius est absolutus (...). 583 SCHEDA 1966, 383 geht von einem Neuplatoniker als gemeinsamer Quelle von Libanios und Ammianus aus. 584 Dies wurde in der älteren Forschung bezweifelt; s. SCHEDA 1966, 382. Die neuere Darstellung von FONTAINE 1977, 219 geht jedoch von einer solchen Abhängigkeit aus. 585 So GEFFCKEN 1914, 168, der die ammianische Darstellung als Wiederholung historiographischer Topoi anzweifelt SCHEDA 1966, 383 erkennt an, daß die Frage nach Julians tatsächlichem Verhalten nicht entschieden werden könnte, sieht aber die sokratische Färbung als apologetisch motiviert an: „Vielleicht hofften die Anhänger Julians das Andenken des Toten dadurch zu retten, daß man seine schwerste Stunde mit dem Sterben des Mannes verglich, dem auch die Christen ihre Ehrfurcht nicht versagen konnten.“
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entschieden werden; es besteht jedenfalls die realistische Möglichkeit, daß Julian sich bewußt in dieser Situation am Vorbild des Sokrates orientierte.586 Darin würde sich die existenzielle tragende Kraft der Philosophie für Julian offenbaren, daß sie ihm sogar in der Todesstunde durch das Vorbild des Sokrates wie auch durch die Seelsorge seiner beiden Lehrer die Bewältigung dieser Situation ermöglicht. 3.10. ZUSAMMENFASSUNG: JULIANS KONVERSION ZUR PHILOSOPHIE UND ZUM HEIDENTUM Die Zeit seines Studiums in Pergamon erweist sich für Julians Identität als Schlüsselphase. Im pergamenischen Kreis begegnet er nach anfänglicher Suche dem theurgischen Neuplatonismus in Gestalt eines charismatischen Lehrers, Maximus von Ephesus. Seit seinem Studium tritt er als Philosoph auf, neben seinen Studien äußerlich erkennbar am Bart, am Philosophenmantel und am asketischen Lebensstil, den er pflegt. Dieses Selbstverständnis ist für ihn zentral; auch als Caesar und als Augustus, indem er in seinen Panegyriken als Philosoph spricht, nachts philosophische Texte verfaßt, mit anderen Philosophen, den Kynikern, über die richtige Auffassung von Philosophie disputiert, Platon als Orientierungspunkt für seine Regierung anführt und sich seinen Untertanen als Philosoph mit wirrem Bart und Haar, Philosophenmantel und tintenverschmierten Fingern auf Statuen oder im Misopogon präsentiert. Die Identität als Philosoph entwickelt sich nicht nur in einer individuellen intellektuellen Suche, sondern getragen von einer philosophischen Gemeinschaft, in welche sich Julian integriert und von welcher er akzeptiert wird. Die Philosophen um Aidesios und ihre Schüler bilden eine äußerlich nur lose strukturierte „Institution“, die aber durch das gemeinsame Interesse an der Philosophie und an einer philosophischen Lebensweise, durch die engen freundschaftlichen Beziehungen der Lehrer und Studenten untereinander sowie durch die Verehrung der philosophischen „Heiligen“– Pythagoras, Platon und vor allem Jamblich – ihre Mitglieder durchaus stark zusammenschweißen konnte. Bei Julian sind alle Stufen und Spielarten dieser affektiven Bindungen noch greifbar: seine Verehrung für seinen Lehrer Maximus, seine Hochachtung vor Chrysanthios, den er trotz ausgeschlagener Einladung an den Hof zum Oberpriester von Lydien ernennt, die philosophische Freundschaft mit Priscus oder mit seinen Kommilitonen Eumenius und Pharianus sowie die Verbundenheit mit späteren Studenten seiner Lehrer aufgrund der gemeinsamen Lehrerfigur, obwohl er sie nicht persönlich kennt. Die Verehrung für Pythagoras, Platon und vor allem Jamblich spiegelt sich ebenfalls in seinem Werk. Julian gewinnt so neben starken Bindungen an konkrete Personen das Gefühl der Zugehörigkeit zur philosophischen Tradition. An seinem Studium in Pergamon wird deutlich, welche überragende Bedeutung die Interaktion mit einer konkreten Gemeinschaft und vor allem die Begegnung mit einer besonderen Lehrergestalt für eine Konversion besitzt: weder seine philosophische Lektüre in Ma586 So FONTAINE 1977, Anm. 544 zu Amm. XXV 3,15.
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cellum noch sein kurzes Studium bei Themistios hatten in ihm die Wirkung hervorgerufen, die neben Aidesios, Chrysanthios und Priscus vor allem Maximus hervorbringen sollte. Wie seine Schriften zeigen, internalisiert Julian nicht nur die philosophische Lebensweise, die er zeitlebens beibehalten sollte, sondern auch das jamblicheische Weltbild, welches für ihn den Schlüssel zum Verständnis der alten Götter bilden wird. Die Übernahme der jamblicheischen Theologie markiert einen Bruch in den religiösen Überzeugungen: wenngleich die philosophische Lebensweise mit dem Christentum ohne weiteres vereinbar ist, so steht die neuplatonische und gerade die jamblicheische Metaphysik mit ihren elaborierten Götterklassen im Widerspruch zu den Axiomen der christlichen Theologie. Sodann werden diese Götterklassen nicht nur abstrakt als solche festgehalten, sondern mit den Göttern der heidnischen Kulte identifiziert. Ein weiterer bedeutender Bruch ist das Interesse an der Theurgie. Bezeichnenderweise reicht Julian eine vergeistigte philosophische Heilssuche nicht; er sucht nach einer Möglichkeit innerhalb der neuplatonischen Philosophie, den Kontakt zum Göttlichen konkret zu erleben, eine Möglichkeit, die er bei Maximus findet, der die Theurgie in die Philosophie integriert. Somit ist Julians Hinwendung zur neuplatonischen Philosophie mit einer Hinwendung zu heidnischen Kulten verbunden. Das jamblicheische Weltbild läßt die alten Götter, die Julian schon seit dem Literaturunterricht bei Mardonios kannte, in höherem Glanz erstrahlen, indem es sie philosophisch als Prinzipien des Alls deutet. Die Theurgie bildet die Brücke zur Welt der heidnischen Kulte: Julian läßt sich während seines Studienaufenthaltes in Athen in Eleusis vom Hierophanten, seinerseits ebenfalls Philosoph und Theurg, einweihen. In Gallien vollzieht er heidnische Riten im Geheimen und verwendet auf seinem Feldzug gegen Konstantius verschiedene mantische Praktiken. Offen kommt seine Einstellung nach Konstantius’ Tod zum Tragen, als er öffentlich zu opfern beginnt, wie er begeistert seinem Philosophielehrer schreibt. Philosophische und traditionell-kultische Religiosität sind in Julians Auftreten und Denken als Kaiser eng verwoben. Julian versucht, das heidnische Priestertum als distinkte Lebensweise mit festen Regeln neu zu definieren. Der Philosophie wird als einziger Lektüre und Beschäftigung des Priesters im Tempel neben dem Vollzug der Gebete und Rituale ein zentraler Platz eingeräumt. Als pontifex maximus feiert er zentrale Feste des römischen Festkalenders mit der Verfassung von Hymnen über die betreffenden Götter. In diesen erscheint die neuplatonische Metaphysik als Schlüssel zur Exegese der antiken Mythen und Rituale. Die Rollen des Priesters und des Philosophen werden somit eng miteinander verbunden, bleiben aber zumindest theoretisch getrennt; das Priestertum wird nicht über die Philosophie sondern über die Aufgabe definiert, die Verehrung der Götter nach den alten Traditionen zu vollziehen. Beide Rollen prägen das Auftreten Julians als Kaiser; der Philosophie wird im Laufe des Persienfeldzuges gegenüber anderen religiösen Experten der Primat eingeräumt, und sie beherrscht nach Ammians Darstellung die Todesszene Julians, der im Gespräch mit seinen Philosophielehrern über die Natur und Unsterblichkeit der Seele verscheidet.
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Da die im Studium angenommene Philosophenrolle für Julians Identität zeitlebens zentral bleibt, kann seine Begegnung mit dem Neuplatonismus in Pergamon als Konversion verstanden werden. Die Philosophie beeinflußt seine religiösen Überzeugungen maßgeblich; mit der Annahme der jamblicheischen Weltsicht und Theurgie eröffnet sie ihm den Weg zu den Kulten und Mythen des Heidentums, aus neuplatonischer Perspektive interpretiert. Mit MEAD gesprochen, übernimmt Julian das „universe of discourse“ des pergamenischen Kreises, in den er sich integriert. Dieses „universe of discourse“ bleibt für ihn zeitlebens bestimmend und prägt auch Julians Aneignung anderer religiöser Rollen in anderen universes of discourse, z. B. seinen Umgang mit der Priesterrolle. Julians religiöse Identität erscheint somit als eine Verbindung zweier Komponenten, der Philosophie und der heidnischen Kulte, wobei erstere als Interpretationsschlüssel und Orientierungsrahmen den Primat innehat.
4. SYNESIOS VON KYRENE – PHILOSOPH, PRIESTER UND POLITIKER 4.1. EINFÜHRUNG 4.1.1. Leben und Werk Mit Synesios von Kyrene befinden wir uns an der Wende vom 4. zum 5. Jahrhundert, in einer Zeit, in der das Christentum nach dem mißlungenen Versuch einer heidnischen Restauration durch Julian allmählich zur Staatsreligion1 avanciert. Synesios ist wahrscheinlich ca. 370 in Kyrene geboren.2 Wie er es in seinen Briefen selbst stolz vermerkt, entstammt er einem alten Adelsgeschlecht, das sich traditionell auf Herakles zurückführt und zu den dorischen Kolonisten gehört haben soll, die ca. 630 v. Chr. von Thera aus die Kyrenaika besiedelten.3 Zu seiner Familie gehörten neben seinem Bruder Euoptios, mit dem er ein besonders enges Verhältnis hatte, was aus den zahlreichen an diesen adressierten Briefen hervorgeht, noch zwei Schwestern. Wie Julian hat auch Synesios wahrscheinlich den in der Spätantike üblichen Bildungsgang durchlaufen – auf den Elementarunterricht folgte der Literaturunterricht beim Grammatiker und dann die Ausbildung beim Rhetor.4 Seine Werke bezeugen seine Vertrautheit mit der antiken Literatur sowohl durch die Fülle von Zitaten5 als auch durch ihre Sprache: vor allem in den Hymnen geht Synesios mit der alten lyrischen Sprache souverän um; im Dion rühmt er sich seiner Fähigkeit, jeden erdenklichen Stil zu gebrauchen.6 Eine wichtige Etappe in seinem Leben stellen die zwei Studienjahre in Alexandrien dar, in denen er bei der berühmten neuplatonischen Philosophin Hypatia
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Auch dieses Kompositum von „Religion“ soll hier aus pragmatischen Gründen als terminus technicus benutzt werden; er berührt das Thema der Arbeit nicht. Vgl. LACOMBRADE 1951b, 13. S. z.B. ep. 41, GARZYA/ROQUES 49; Katastasis II,5. Da für die Briefe des Synesios keine allgemein eingebürgerte Pagination existiert, die die Auffindung der angegebenen Stellen erleichtern könnte, soll im folgenden bei genauen Stellenangaben innerhalb eines Briefes neben der Briefnummer auch die Seitenzahl der zweisprachigen kritischen Ausgabe von GARZYA und ROQUES der Collection Budé angegeben werden. Auf diese Angabe wird verzichtet, wenn ein Brief als ganzer angeführt wird. Vgl. LACOMBRADE 1951b, 21–23 und 28–31. Einen Einblick in den Literaturunterricht vermittelt Synesios’ Mitteilung an seinen Bruder über die Fortschritte seines Neffen, der fünfzig neue Verse täglich ohne Stocken aufsagen könne (ep. 111, GARZYA/ROQUES 246). Zur Präsenz der klassischen literarischen Tradition in Synesios’ Werken und Briefen s. HAUCK 1911. Dion 18,1–4.
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studiert. Diese Zeit ist wohl auf 393–395 anzusetzen.7 Durch Hypatias Unterricht wird Synesios für die Philosophie gewonnen. Briefe an seinen Studienfreund Herkulianos sowie der wahrscheinlich in dieser Zeit entstandene IX. Hymnus zeugen von seinem Enthusiasmus für die Philosophie.8 Das philosophische Lebensideal, welches ihm in dieser Zeit vermittelt wird, gehört zu den Konstanten seines Lebens – noch als christlicher Bischof bezeichnet er sich selbst als φιλόσοφος ἱερεύς.9 Nach dem Studium in Alexandrien kehrt Synesios nach Kyrene zurück. In dieser Zeit könnten seine ersten literarischen Betätigungen liegen: In seinem „Lob der Kahlheit“, einer spielerischen rhetorischen Replik auf Dio Chrysostomos’ „Lob der Haarpracht“, verteidigt Synesios scherzhaft seine überaus frühzeitig einsetzende Kahlheit10 – für den Philosophen ein durchaus mißlicher Vorfall. Vielleicht ist auch sein nun verlorenes Buch über die Jagd in dieser Zeit anzusetzen; vielleicht ist es auch erst im Hinblick auf die Reise nach Konstantinopel verfaßt worden, um am Hofe auf sich als gebildeten und gewandten Literaten aufmerksam zu machen;11 auf jeden Fall ist festzuhalten, daß diese Schrift in Konstantinopel Anklang gefunden und Synesios literarische Anerkennung verschafft hat.12 Als Mitglied einer altadligen Familie lag für Synesios die politische Betätigung in seiner Heimatstadt und der Pentapolis von vornherein als Selbstverständlichkeit nahe. Dies spiegelt sich in seinen Briefen, die von seinem politischen Engagement für seine Provinz zeugen. Er gehört zu einer Gesandtschaft nach Konstantinopel, die dem Kaiser Arkadios das aurum coronarium überbringen sollte. Die Datierung seines Aufenthaltes in Konstantinopel erweist sich als schwierig. Während die frühere Synesiosforschung ihn auf 397–400 datierte, setzte sich seit SEECK die Datierung auf 399–402 durch. Diese Datierung wurde aber in der neueren Forschung überzeugend abgelehnt, die für eine Rückkehr zu der frühen Datierung plädiert.13 Der Aufenthalt in Konstantinopel spielt eine wichtige Rolle in 7 8
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11 12 13
Vgl. LACOMBRADE 1951b, 25 und 38; BERETTA 1993, 57. DZIELSKA 1998, 28 hält fest, daß Synesios’ Studien zwischen 390/393 und 395/396 anzusiedeln seien, wobei er sie bei seinen späteren längeren Aufenthalten in Alexandrien habe fortsetzen können. Vgl. LACOMBRADE 1951b, 38–50, J. BREGMAN 1982, 20–40, die alle Herkulianosbriefe in diese Zeit datieren, während SCHMITT 2001, 497–549, (zusammengefaßt 547–549) dafür plädiert, daß nur die Briefe 137–140 in dieser Zeit verfaßt, die anderen jedoch später. Die Datierung dieser Briefe wird weiter unten diskutiert (4.3.2.1). Ep. 6, GARZYA/ROQUES 78. Dies ist die These der Synesiosforschung des letzten Jahrhunderts; SCHMITT 2001, 36f. greift die Datierung der älteren Forschung auf, nach der die Schrift erst lange nach der Rückkehr vom Hofe entstanden ist, kann dies aber nur als mögliche, aber unbeweisbare Hypothese vorbringen. Die neueste Ausgabe von LAMOUREUX, AUJOULAT 2004, 10 setzt zwar vorsichtig den Zeitraum 396–406 an, tendiert jedoch auch zur Frühdatierung. So die These von SCHMITT 2001, 299ff, der das Werk in Synesios’ Bestreben, sich als „wandering poet“ bei Hofe zu etablieren, einordnet. Vgl. ep. 101, GARZYA/ROQUES 224 und ep. 154, GARZYA/ROQUES 302. Für 399–402 s. SEECK 1894, 462, LACOMBRADE 1951b, 100, BREGMAN 1982, 49, GRUBER 1991, 11f., GARZYA 1999, 35f. Die Auseinandersetzung mit dieser These findet sich bei BARNES 1986a, 104, CAMERON, LONG 1993, 102 und SCHMITT 2001, 243–250.
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Synesios’ Leben. Er fällt in eine Zeit heftiger Auseinandersetzungen um die Stellung der Goten im Oströmischen Reich. Synesios nähert sich dem Politiker Aurelian an.14 Als dieser 399 praefectus praetorii Orientis wird, gewährt er Synesios Steuerfreiheit und der Pentapolis eine Steuererleicherung. Darum scheint sich Synesios aus eigenem Antrieb bemüht zu haben, ohne daß es zu den Aufträgen der Gesandtschaft gehört hätte.15 Die Lage ändert sich allerdings schlagartig mit der Gotenrevolte des Gainas im Jahre 400 und dem davon bedingten Machtwechsel: Aurelian wird verbannt, die von ihm gewährten Privilegien von seinem Nachfolger zurückgenommen.16 In dieser Zeit rühmt sich Synesios, offen für Aurelian Partei ergriffen zu haben. Nach einigen Monaten werden die Goten aus Konstantinopel vertrieben und Aurelian kehrt aus dem Exil zurück, erlangt aber sein Amt als praefectus pretorii nicht wieder.17 Im selben Jahr kehrt Synesios in die Pentapolis zurück. Der ungewöhnlich lange Aufenthalt könnte damit erklärt werden, daß Synesios eine Karriere als Literat und Philosoph bei Hofe angestrebt habe, etwa nach dem Vorbild des Themistios. Damit wäre er in die Nähe der von CAME18 RON beschriebenen „wandering poets“ zu rücken. Synesios’ Aktivität in Konstantinopel spiegelt sich in den zwei dort entstandenen Schriften. Neben De regno, der Rede auf das Königtum, die sich als die Rede präsentiert, die Synesios vor Arcadius gehalten haben soll,19 stammen aus dieser Zeit auch die Ägyptischen Erzählungen (auch als De providentia bekannt), in denen Synesios die Ereignisse des Jahres 400 in verschlüsselter Form wiedergibt. Die Schrift gibt sich als Erzählung eines uralten ägyptischen Mythos. Aurelian und sein Bruder und Rivale Eutychianos erscheinen als das gegensätzliche Bruderpaar Osiris und Typhon,20 Konstantinopel wird zu Theben, die Goten zu
14 Zur Karriere Aurelians s. BARNES 1986a, 101. 15 SCHMITT 2001, 256. 16 Dabei handelt es sich, wie Synesios’ De providentia klarmacht, um einen Bruder und Rivalen Aurelians. In der älteren Forschung wird dieser mit Kaisarios identifiziert; SCHMITT 2001 plädiert für den anderen Bruder, Eutychianos (315–341, zusammengefaßt 339ff). 17 Zum Ablauf der Gesandtschaft und der Gotenrevolte vgl. LACOMBRADE 1951b, 101–110 und 122–130; BREGMAN 1982, 49–59. Die Gesandtschaft und die in ihre Zeit fallenden politischen Ereignisse in Konstantinopel bilden das Thema von CAMERON, LONG 1993. BARNES 1986a konzentriert sich auf die Datierungsfrage. 18 Zu den “wandering poets” vgl. CAMERON 1965. Zur Anwendung dieses Konzepts auf Synesios s. SCHMITT 2001, 261–304 und 346–387. 19 So LACOMBRADE 1951b, 85, 107 und 1951a, 79–87, v.a. 87, COSTER 1968, 155, P. HADOT 1972, 606f., GARZYA 1999, 11; VOLLENWEIDER 1985, 207, Anm. 234. Bezweifelt wird diese These von BARNES 1986a, bes. 104–109, der die Rede als „ a manifesto on behalf of Aurelianus and his political allies against Eutropius, Eutychianus, and their supporters, who at that time had the emperor’s ear“ ansieht (108), sowie CAMERON, LONG 1993, 127–142, die darin einen Versuch des Synesios sehen, die Gunst des Aurelian im Hinblick auf seine Mission zu gewinnen (133). SCHMITT 2001, 282–299 sieht darin den Versuch, Aurelians Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ihn von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. 20 Die Identifikation des Osiris mit Aurelian wird einhellig vertreten; zur Identifikation des Typhon mit Eutychianos – und nicht mit dem anderen Bruder und Rivalen Caesarios – vgl. SCHMITT 2001, 315–341.
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barbarischen Skythen. Synesios portraitiert sich darin auch selbst als Philosophen und treuen Anhänger des Osiris-Aurelian. Aus Konstantinopel zurückgekehrt, heiratet Synesios in Alexandrien eine Christin aus angesehener Familie. Die Trauung wird vom Patriarchen Theophilos höchstpersönlich vollzogen.21 Nach kurzem Aufenthalt in Alexandrien zieht er im Jahre 404 auf sein Landgut im südlichen Libyen. Schon 405 wird das idyllische Leben durch den Einfall der Wüstenstämme in die Randgebiete der Pentapolis gestört. Da das Militär versagt, versucht Synesios, die Verteidigung gegen die einfallenden Wüstenstämme selbständig zu organisieren.22 Diese Zeit ist für sein literarisches Schaffen besonders produktiv. Jetzt entstehen der Dion und der Traktat über die Träume, zwei Prosawerke, mit denen Synesios den ihm von verschiedenen Seiten zugebrachten Vorwurf abwehren möchte, er sei gar kein echter Philosoph, sondern höchstens ein Literat und Rhetor. Diesen Vorwurf greift er im Dion direkt auf und versucht ihn zu entkräften, indem er auf Dio Chrysostomos verweist, der in seiner Person Rhetorik und Philosophie glänzend verbunden habe. Ausgehend davon entfaltet und verteidigt Synesios sein eigenes Lebensideal als eine enge Verbindung von Philosophie und umfassender literarischer Bildung. Das Traumbuch versteht sich als rein philosophisches Werk, welches die Natur der Einbildungskraft und der ψυχὴ εἰδωλική sowie andere nach Synesios von der griechischen Philosophie bislang noch nicht behandelte Themen erörtern soll. In der Zeit nach der Rückkehr aus Konstantinopel entstehen wahrscheinlich auch seine anderen Hymnen.23 In ihnen verbindet Synesios heidnische und christliche Motive, um seiner Religiosität Ausdruck zu verleihen. Indizien für eine Datierung finden sich lediglich in zwei Hymnen: der I. Hymnus setzt die Gesandtschaft und die Rückkehr nach Libyen voraus, während der VII. Hymnus durch die Rekonstruktion der angegebenen Familiensituation des Synesios als einziger genauer in die Zeit nach seiner Eheschließung und vor der Geburt seines ersten Sohnes datiert werden kann.24 Die Versuche, die Hymnen nach inhaltlichen Kriterien, etwa der wachsenden Präsenz christlicher Motive, chronologisch anzuordnen,25 gehen jeweils von einem bestimmten Synesiosbild aus, etwa der Annahme einer Entwicklung vom Neuplatonismus zum Christen-
21 Vgl. ep. 105, GARZYA/ROQUES 238. 22 Vgl. GRUBER 1991, 12. 23 Von den Hymnen kann nur der VII. Hymnus genauer auf den Zeitraum 403–404 datiert werden. 24 Den entscheidenden Durchbruch brachte 1907 eine Konjektur von WILAMOWITZ 1907, 281f, die in der Forschung weitgehend übernommen wurde. Sein Datierungsvorschlag wurde allerdings verändert: hatte er angenommen, daß der Hymnus vor der Geburt des letzten Sohnes geschrieben sei, wird heute angenommen, daß er kurz vor der Geburt des ersten Sohnes entstanden sein müsse. Die einzelnen Rekonstruktionen unterscheiden sich geringfügig im Detail. Für solche Rekonstruktionen vgl. z. B. GRUBER, STROHM 1991, 220f oder CAMERON, LONG 1993, 17–19. 25 So etwa LACOMBRADE 1951b, 175–183. Ähnlich geht BREGMAN 1982, 29–35 und 78–124 vor, der die Hymnen dementsprechend bestimmten Phasen der Biographie des Synesios zuordnet.
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tum, und können daher keine unabhängige, sichere Grundlage für die Erforschung der geistigen Entwicklung des Synesios bieten.26 Im Sommer 41027 erfährt das Leben des Synesios eine jähe Wende: er wird von den Einwohnern von Ptolemais zum Bischof und somit zum Metropoliten der Pentapolis gewählt. Synesios zögert lange, ehe er das Amt annimmt; im Brief 105, der an seinen Bruder adressiert, aber als offener Brief an den Klerus von Alexandrien und speziell an den Patriarchen Theophilos konzipiert ist, legt er seine Bedenken ausführlich dar. Als wichtigstes Problem nennt er den Widerspruch zwischen Philosophie und Christentum in bestimmten entscheidenden Punkten wie Ewigkeit der Welt, Präexistenz der Seele und der Frage der Auferstehung. Ein siebenmonatiger Aufenthalt in Alexandrien schließt sich an die Wahl an. Wie aus einem an seinen Freund Olympios gerichteten Brief28 aus dieser Zeit ersichtlich ist, versucht Synesios, sich aus der Ferne mit dem Bischofsamt und seinen Anforderungen vertraut zu machen. Nach langem Bedenken nimmt er schließlich die Bischofswürde an und läßt sich wahrscheinlich in der Fastenzeit 411 zum Bischof weihen. Die von ihm wiederholt geäußerten Befürchtungen, die Amtsgeschäfte würden ihm die zum Philosophieren unabdingbare Muße rauben, bewahrheiten sich voll und ganz. Die langwierige Auseinandersetzung mit dem praeses der Provinz Andronikos,29 die Schlichtung verwickelter innerkirchlicher Streitigkeiten und Probleme,30 nicht zuletzt der ständige Kampf gegen die Barbaren31 lassen ihm keine Zeit und keine Ruhe zum Philosophieren. Auch privat bricht das Unglück über ihn herein – seine drei Kinder sterben alle binnen zweier Jahre, sein Bruder zieht außer Landes, um der finanziellen Last zu entgehen, die ihm als Kuriale auferlegt wird,32 seine Freunde ziehen sich von ihm zurück, selbst seine verehrte Lehrmeisterin Hypatia scheint auf seine Briefe nicht mehr zu antworten.33 Deren schrecklichen Tod im Jahre 415 hat Synesios wohl nicht mehr erlebt; er stirbt wahrscheinlich im Laufe des Jahres 413.34
26 FESTUGIÈRE 1945, 269 sowie MARROU 1952, 478. Ein Überblick über die Forschungsgeschichte zur Datierung der Hymnen findet sich bei SENG 1996, 27–30. 27 Ich folge hier der Datierung von LACOMBRADE 1951b, 210–212, die vom Großteil der Forscher akzeptiert wird. BARNES 1986b plädiert für das Jahr 407 als Jahr der Bischofsweihe; ROQUES, 1987, 310ff setzt die Wahl auf Januar 411 und die Ordination auf Januar 412 an. 28 Ep. 96, GARZYA/ROQUES 219f. 29 Der Hergang des Konfliktes ist in den Briefen 41, 42, 73, 79 und 90 dokumentiert. 30 Vgl dazu etwa den Brief 66. 31 Vgl. die Briefe 66, 89 und die Katastasis II. 32 Vgl. dazu ep. 93. Eine andere Deutung des Briefes bei SCHMITT 2001, 230ff, der ihn als Beleg heranzieht, daß Synesios und sein Bruder nicht als Kurialen, sondern als Senatoren anzusehen seien. 33 Vgl. ep. 10 und 16. 34 Synesios’ offizielle Korrespondenz als Bischof ist nur an Theophilos von Alexandrien gerichtet; es gibt keine Briefe an dessen Nachfolger Kyrill. Theophilos ist im Herbst 412 gestorben. Synesios hat ihn zwar überlebt, wie der Brief 13 zeigt, aber wohl nicht allzu lange Zeit.
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4.1.2. Forschungsstand zur Konversion des Synesios Synesios’ Neuplatonismus und seine dezidierte Selbstdarstellung als Philosoph auf der einen Seite, sowie die christlichen Motive in einigen Hymnen, seine intensiven Beziehungen zu Christen in Alexandrien wie am Kaiserhof sowie vor allem die Bischofswahl auf der anderen Seite haben die Rekonstruktion seiner religiösen Entwicklung in der Forschung immer wieder als eine höchst reizvolle Aufgabe erscheinen lassen. Gerade die Bischofswahl des Synesios hat aufgrund von ep. 105 besonderes Augenmerk auf sich gezogen. Behauptet Synesios doch, daß er in erster Linie Philosoph sei und weiterhin zu bleiben gedenke, daß er als solcher gewisse im Christentum verbreitete Vorstellungen nicht teile. In Dingen der Wahrheitsfindung könne er sich nur auf die stringente Beweisführung der Philosophie verlassen, er sei jedoch bereit, seine philosophischen Meinungen für sich zu behalten und für das Volk eine mythologische Redeweise zu verwenden. Τὰ μὲν οἴ‐ κοι φιλοσοφῶ, τὰ δ’ ἔξω φιλόμυθός εἰμι διδάσκων wird somit zur zusammenfassenden Formel seiner Einstellung, und es stellt sich die Frage, welche Gewichtung dem Neuplatonismus und dem Christentum genau für sein Selbstverständnis und seine Religiosität zukommt. Alle Forscher betonen die Bedeutung der frühen Studienjahre bei Hypatia für Synesios’ geistige Entwicklung. Die genaue Bestimmung der Rolle der Philosophie sowie der Beziehung von Philosophie und Christentum fällt dabei aber jeweils unterschiedlich aus. In der modernen Synesiosforschung lassen sich drei Haupttendenzen unterscheiden.35 Eine breite Strömung der Synesiosforschung sieht diesen primär als heidnischen Neuplatoniker an, der sich im Laufe seines Lebens dann auf das Christentum zu bewegt, um schließlich ohne dramatischen Bruch aufgrund der gemeinsamen Schnittmenge neuplatonischer und christlicher Theologie zum christlichen Bischof zu werden. Hierzu könnte man WILAMOWITZ36, GEFFCKEN37, VON CAM38 39 40 PENHAUSEN , die frühen Arbeiten von LACOMBRADE, VOGT oder GRUBER rechnen. Die Beschreibung dieses Lebensweges ist verschieden nuanciert – während WILAMOWITZ oder VON CAMPENHAUSEN die zentrale Bedeutung der Philosophie betonen und die Bekehrung zum Christentum als sekundär und hauptsächlich politisch motiviert ansehen, sieht LACOMBRADE eine tatsächliche innere Annäherung an das Christentum gegeben. Die Forscher dieser Richtung betonen den reli35 Hier soll nur auf jene Arbeiten eingegangen werden, welche für die Fragestellung nach einer Konversion zur Philosophie relevant sind. Die Analysen von VOLLENWEIDER 1985 und GARZYA 1985a, oder 1995, die beide „statisch“, ohne chronologische Dimension, das Miteinander von Heidentum und Christentum in Synesios’ Werken betonen, bieten zwar wertvolles Material für die Interpretation der einzelnen Schriften, können aber für die Bedeutung der Philosophie in seiner geistigen Entwicklung nur wenig aussagen. 36 WILAMOWITZ 1907. 37 GEFFCKEN 1920, 216–221. 38 CAMPENHAUSEN 1967, 125–136. 39 VOGT 1985d, 92–108. 40 GRUBER 1991.
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giösen Charakter des Neuplatonismus. Obwohl sie nicht explizit von einer Konversion zur Philosophie sprechen, setzen sie der Sache nach eine solche voraus. Synesios wird als Heide angesehen, dessen Religiosität somit erst durch den Neuplatonismus in Reinform, mit seinem heidnischen Weltbild, geprägt ist, ehe er sich dann von dieser Basis aus dem Christentum nähert. In der neueren Forschung ist dieser Ansatz von BREGMAN in seiner Dissertation „Synesius of Cyrene, Philosopher-Bishop“ von 1982 expliziert worden. Er vertritt eine pagane Sozialisierung des Synesios41 und beschreibt als erster in Anlehnung an NOCK Synesios’ Philosophiestudium bei Hypatia als Konversion zur Philosophie.42 Das Verhältnis von Philosophie und religiösen Traditionen beschreibt BREGMAN als Stufenmodell. Die Philosophie bedeute für Synesios den Weg par excellence zum Heil, der der geistigen Elite – den Philosophen – zugänglich sei. Sie stehe über den einzelnen religiösen Traditionen, die die absolute Wahrheit, zu der die Philosophie direkten Zugang hat, jeweils auf ihre Weise in höherem oder geringerem Maße vermitteln43 und so der großen Masse, die an der Philosophie nicht teilhaben könne, einen wenngleich eingeschränkten Kontakt zum Göttlichen ermöglichten.44 BREGMAN tendiert dazu, Neuplatonismus als sicheres Indiz für Heidentum anzusehen. Zwar habe sich Synesios im Laufe seines Lebens langsam an das Christentum angenähert, so daß er schließlich das Bischofsamt übernehmen konnte. Die Philosophie sei jedoch für seine Religiosität bestimmend geblieben: „For Synesius believed not in the God of Abraham, Isaac and Jacob. He believed in the God of the philosophers“.45 Eine andere Linie wird vor allem von der französischen Forschung vertreten. In seiner Rezension von LACOMBRADES Synesiosbiographie schlägt MARROU eine andere Relationierung von Philosophie und Christentum vor.46 Philosophie und Religion47 würden demnach auf verschiedenen Ebenen liegen; philosophische Fragen stellten sich auch im Rahmen des Christentums. Das Vorhandensein neuplatonischer Lehren könne daher nicht als Indiz für Synesios’ Heidentum gewertet werden. Da abgesehen vom Neuplatonismus nirgendwo eindeutige Beweise für eine Zugehörigkeit des Synesios zum Heidentum gegeben seien, vielmehr schon lange vor der Bischofswahl Anzeichen eines formellen Beitritts zum Christentum festgestellt werden könnten, sei Synesios lange vor der Wahl schon Christ gewesen.48 Es sei daher verfehlt, im Falle des Synesios die Alternative „Christentum versus Philosophie“ bzw. „Christentum oder Neuplatonismus“ im Sinne eines
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BREGMAN 1982, 18f. Ebd. 36–38. Ebd. 38f. Ebd.135. Ebd. 184. MARROU 1952, sowie 1964. Der Begriff „Religion“ wird von Marrou selbst verwendet und wird deshalb hier für die Darstellung seiner Position benutzt. 48 MARROU 1952, 477f.
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Entweder-Oder aufzuwerfen. Für Synesios, wie für jeden gebildeten Christen, gehe es darum, Glaube und Vernunft in Einklang zu bringen.49 Der Position von MARROU schließt sich LACOMBRADE in seinen späteren Beiträgen zur Synesiosforschung an.50 Sie wird von ROQUES in seinem 1978 erschienenen Werk „Synésios de Cyrène et la Cyrénaïque de Bas-Empire“ weitergeführt.51 Mit anderen Argumenten bauen auch CAMERON/LONG diese Position aus.52 Merkmal dieser Richtung wäre die konsequente Unterscheidung von Philosophie und Religion, so daß die Philosophie, speziell der Neuplatonismus, mit verschiedenen religiösen Traditionen, auch mit dem Christentum, kompatibel wird.53 Stehen bei dieser Forschungslinie noch die religiösen bzw. theologischen Aspekte des Neuplatonismus im Vordergrund, so wird in der 2001 erschienenen Habilitation von SCHMITT „Die Bekehrung des Synesios von Kyrene“ die Philosophie über ihre lebenspraktische Dimension definiert. Thema des Buches ist Synesios’ Konversion zur Philosophie, welche SCHMITT als Bekehrung zu einer kontemplativen Lebensweise und als Rückzug aus der Reichspolitik zugunsten des Engagements für die eigene Provinz wertet. Ausgehend vom ersten Teil des Dion und gestützt auf die Interpretation des I. Hymnus stellt er die These auf, daß sich Synesios, der nach seinem Studium ursprünglich eine – nach SCHMITT unphilosophische – Karriere als Literat bei Hofe angestrebt habe, um das Jahr 404/405 wegen der Enttäuschung über die „verkehrte Politik“ des Reiches zu einer streng philosophischen Lebensweise, d. h. zum Rückzug von der Bühne der Reichspolitik hin zum privaten, nur dem unabhängigen Engagement für die eigene Provinz geöffneten Leben bekehrt habe.54 4.1.3. Quellenlage und methodische Vorüberlegungen Anders als im Falle Julians, wo dessen eigene spärliche und kryptische Äußerungen zu seiner religiösen Entwicklung durch die Berichte anderer Zeitgenossen ergänzt wurden, ist man bei Synesios lediglich auf dessen Schriften und Briefe angewiesen, da er sonst in den Texten seiner Zeit keine Spuren hinterlassen hat. Es läßt sich nicht belegen, daß die an einen gewissen Synesios gerichteten Briefe des
49 Ebd. 481. Vgl auch MARROU 1964, 145: „What, then, are we to think of the doctrinal misgivings to which Synesius bears witness in his Letter 105? They formulate very neatly the problem posed by the emergence of a professional philosophy within the Christian Church.“ 50 LACOMBRADE 1978, IXf, wo er die These vertritt, daß Synesios aufgrund der frühen umfassenden Christianisierung der Pentapolis in ein christliches Milieu bzw. eine christliche Familie hineingeboren und in einer solchen großgeworden sein muß. 51 ROQUES’ Werk ist wegen seines methodischen Vorgehens in der Forschung auf heftige Kritik gestoßen. Vgl. etwa die Rezension von CAMERON 1992 oder SCHMITT 2001, 55–59. 52 Vgl. CAMERON, LONG 1993, 19–69. 53 Vgl. ROQUES 1987, 307f oder 310 sowie 316, CAMERON, LONG 1993, 27. 54 Vgl. bes SCHMITT 2001, 67–143.
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Isidoros von Pelusion an Synesios von Kyrene adressiert wären.55 Die frühesten Berichte über ihn finden sich erst mehr als ein Jahrhundert später. Euagrios Scholastikos zeichnet Synesios bei seiner Bischofswahl als Heiden; erst nach der Annahme des Episkopates und der Taufe sollen sich seine Zweifel durch die göttliche Gnade zerstreut haben und er zum wahrhaft christlichen Bischof geworden sein. An der Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert finden wir das Problem des Briefes 105 in eigenartiger Weise im Pratum spirituale, einer erbaulichen Schrift des Johannes Moschos, verdreht: dort überzeugt der christliche Bischof Synesios einen seiner heidnischen Studienkollegen von der Wahrheit genau jener Glaubenssätze, die er selbst im Brief 105 monierte, so daß dieser schließlich zum Christentum konvertiert.56 Von Synesios’ eigenem Zwiespalt zwischen Philosophie und christlicher Verkündigung ist da nur noch ein schwacher Reflex vorhanden. Es liegt auf der Hand, daß der Quellenwert solcher später, knapper und ins Wunderbare tendierender Berichte gleich Null ist. Man ist somit für die Rekonstruktion der Religiosität des Synesios ausschließlich auf dessen eigene Werke angewiesen. Aufgrund der Vielseitigkeit dieser Schriften stehen dem Forscher mehrere Ansatzpunkte zur Auswahl – Briefe, Prosawerke, Hymnen –, und je nach Gewichtung dieser Quellen können unterschiedliche Schlüsse gezogen werden.57 Daher muß der Wert der einzelnen Quellen im Vorfeld bestimmt werden. Die erste Unterscheidung, die gefällt werden muß, ist die zwischen Prosaschriften und Briefen einerseits und den Hymnen andererseits. Dies hat verschiedene Gründe. Zum einen sind die Hymnen im Unterschied zu den Briefen und den meisten Prosawerken bis auf einen (den VII. Hymnus) nicht genau datierbar, so daß sie keine sichere Grundlage für die Rekonstruktion seiner Konversion bzw. geistigen Entwicklung bieten können. Anders als bei Julian ist über ihren Sitz im Leben überhaupt nichts bekannt. Zum anderen handelt es sich bei den Hymnen um poetische und somit doppelt interpretationsbedürftige Werke, bei denen nicht ohne weiteres angenommen werden kann, daß sie Synesios’ tatsächliche Religiosität widerspiegeln.58 Prima facie ist zu erwarten, daß sich Synesios’ Selbstverständnis aus den eindeutigeren Selbstzeugnissen in den Briefen und Prosawerken klarer und sicherer rekonstruieren läßt. Die Wahl der Prosawerke und Briefe als primärer Quellengrundlage birgt ihrerseits Probleme. Denn die Datierung vieler Briefe fällt aufgrund des Mangels an chronologischen Fixpunkten schwer und ist in manchen Fällen fast unmöglich; daher differieren die vorgeschlagenen Daten manchmal erheblich. Da die Erörterung der Datierung eine Lebensarbeit für sich darstellen kann, soll darauf in dieser 55 S. DZIELSKA 1998, 42f. Die Identifikation der beiden Synesii war z. B. von LACOMBRADE 1951b, 54f vertreten worden. 56 Joh. Moschos, Pratum spirituale 195, PG 87 (III), 3077–3080. 57 Am deutlichsten wird dies durch den Vergleich von BREGMAN 1982, der Synesios’ Gesamtwerk einbezieht und zu dem Schluß kommt, Synesios sei als heidnischer Neuplatoniker anzusehen, der sich ohne innerliche Konversion für das Bischofsamt entschließt, und VOLLENWEIDER 1985, illustriert, der sich auf die Hymnen konzentriert und so zu dem Schluß kommt, daß Christus zu einer bestimmenden Figur für Synesios’ Weltsicht avanciert. 58 Zu den Problemen der Hymnendatierung und der Problematik, sie als Quellen für Synesios’ Religiosität heranzuziehen, vgl. SCHMITT 2001, 46–48.
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Arbeit nicht näher eingegangen werden; als Grundlage dient die Datierung von GARZYA, dessen Edition der Briefe die erste wissenschaftlich befriedigende Ausgabe darstellt und sich in der Forschung behauptet hat. Zu erwähnen wären noch die Vorschläge von ROQUES, die allerdings in der Forschung auf massive Kritik gestoßen sind.59 Auch stellt SCHMITT in seinem Buch über Synesios’ Bekehrung die Datierung einzelner Briefe in Frage; seine Vorschläge werden im Einzelfall jeweils zu diskutieren sein, insofern sie für das Thema der Arbeit relevant sind. Von den Prosaschriften sind einige aufgrund innerer Anhaltspunkte sicher datierbar. De dono, die Begleitschrift zum Astrolabium für den Höfling Paionios, muß noch in Kyrene im Hinblick auf die Konstantinopelreise entstanden sein. De regno ist am Kaiserhof entstanden; in De providentia spiegeln sich aus großer zeitlicher Nähe die Ereignisse des Jahres 400.60 Sodann sind der Dion und das Traumbuch sicher datierbar. Nach Synesios’ eigenen Äußerungen im Dion ist das Werk in den Monaten vor der Geburt seines ersten Sohnes entstanden, also ca. 404.61 Das Traumbuch fällt in dasselbe Jahr, wie Synesios’ Angabe zu Beginn des Begleitbriefes zu den beiden Werken an Hypatia deutlich macht.62 Unsicher ist die Datierung des Lobes der Kahlheit. Von LACOMBRADE63 und LAMOUREUX und AUJOULAT64 noch als Frühwerk vor der Gesandtschaft angesehen, wird es von SCHMITT einer späteren Phase zugeordnet – nach seiner Rückkehr aus Konstantinopel.65 Da dieses Werk aufgrund seines spielerisch-rhetorischen Charakters nicht viel zur Rekonstruktion der Religiosität des Synesios beizutragen hat, ist dies jedoch nicht von Belang.66 Dies führt zu einem zweiten Gesichtspunkt, der hinsichtlich der Prosaschriften bedacht werden muß: auch bei ihnen muß zwischen Quellen ersten und zweiten Ranges unterschieden werden. In den philosophischen Schriften stellt Synesios seine philosophische Position dar. So ist der Dion als Verteidigung gegen der Vorwurf konzipiert, seine literarischen Betätigungen würden seinen Anspruch auf den Philosophentitel Lügen strafen; er stellt eine Rechtfertigung seines Lebensentwurfs dar. Im Traumbuch, das er unter göttlicher Inspiration geschrieben haben will und Hypatia als philosophisch bedeutsam ans Herz legt, erörtert er ebenfalls philosophische Themen wie die Natur der imaginativen Seele und der Träume. Diese Schriften stehen nicht im Spannungsfeld der Politik, sondern im 59 Vgl. etwa CAMERON, LONG 1993, 14ff. 60 Alle Rekonstruktionen sehen diese zeitliche Nähe gegeben, auch wenn sie im Detail zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Vgl. CAMERON, LONG 1993, 311–316; SCHMITT 2001, 304–358, bes. 353ff. 61 Dion 4,1. 62 Ep. 154, GARZYA/ROQUES 301. 63 LACOMBRADE 1951b, 78–83. 64 LAMOUREUX, AUJOULAT 2004, 10. 65 SCHMITT 2001, 36f. 66 LACOMBRADE 1951b, 82f: „ce traité bouffon“. Auch SCHMITT 2001, 37 sieht die Schrift primär als rhetorisches Stück an. HARICH-SCHWARZBAUER, 2001, 124f, weist, ausgehend von Synesios’ Hochschätzung der Rhetorik auf den „Ernst des Spiels“ (124) hin: Synesios möchte seinen Lesern spielerisch wichtige Themen vor Augen führen. Auch in dieser Interpretation bliebe die Schrift nur ein „Katalog über bedeutsame Themen“ (125), ohne tiefere Diskussion.
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Zeichen der Philosophie bzw. der Debatte um ihr richtiges Verständnis. Sie sind daher für Synesios’ Religiosität sicherere Quellen als die politischen Schriften De regno und De providentia, die stark von ihrem politischen „Sitz im Leben“ – den Adressaten sowie den damit verfolgten Zielen – geprägt sind.67 Bei der Untersuchung sollen daher neben den Briefen der Dion und das Traumbuch im Vordergrund stehen. De regno und De providentia sollen nur insofern herangezogen werden, als ihre Ausführungen von den sichereren Quellen bestätigt werden und auf dem Hintergrund ihres „Sitzes im Leben“ interpretiert werden. Obwohl die Hymnen als Quellen äußerst problematisch erscheinen, darf eine Untersuchung der philosophischen Religiosität des Synesios sie nicht beiseite lassen. Denn es ist nun einmal eine nicht zu vernachlässigende Tatsache, daß Synesios gerade dort am ausführlichsten über Gott, den Kosmos, die menschliche Seele und ihr Schicksal in der Welt spricht. In den Hymnen finden sich auch die christlichen Motive, die zu verschiedensten Interpretationen in der Forschung Anlaß gegeben haben. Eine Auslassung dieses Corpus würde die Lage daher übersimplifizieren. Daher werden die Hymnen zwar in die Untersuchung einbezogen, dürfen aber nie allein als Basis für die Interpretation genommen werden. Die Untersuchung wird daher in jedem Fall erst von den „sicheren“ Prosawerken bzw. Briefen ausgehen und erst in einem zweiten Schritt die anderen Prosawerke bzw. die Hymnen als mögliche Zeugnisse auswerten und die Implikationen dieser Auswertung diskutieren. 4.2. HEIDENTUM ODER CHRISTENTUM? SYNESIOS’ RELIGIÖSE SOZIALISATION UND FORMELLE ZUGEHÖRIGKEIT Um die Rolle der Philosophie in Synesios’ geistiger Entwicklung und Religiosität zu interpretieren, stellt sich zunächst die Frage nach den Voraussetzungen – nach seinem Milieu und dessen religiöser Prägung. War diese Frage bei Julian leicht zu beantworten, so läßt schon ein kurzer Blick in die Forschungsgeschichte das Problem im Falle des Synesios in aller Deutlichkeit hervortreten: auch in der neueren Forschung divergieren die Meinungen so stark, daß Forscher wie GARZYA eine Zuordnung zum Heidentum oder Christentum explizit ablehnen. Dieses Problem beruht auf der gegebenen Quellenbasis. Die sichereren Quellen wie Prosawerke und Briefe weisen – zumindest vor seiner Wahl zum Bischof – kaum Hinweise oder Anspielungen auf das Christentum auf. Dieses ist allerdings in einigen Hymnen eindeutig präsent, von denen zumindest einer (Hymnus VII) deutlich vor der Bischofswahl entstanden ist. Dabei muß jedoch berücksichtigt werden, daß der Hintergrund und der „Sitz im Leben“ dieser Hymnen nicht rekonstruiert werden können. Im folgenden sollen nun daher die vorhandenen Indizien vorgestellt und die auf ihnen beruhenden Argumente für Synesios’ religiöse Einordnung diskutiert werden. 67 Diese Unterteilung gilt natürlich nur für die Frage nach Synesios’ Religiosität; für die Rekonstruktion seiner Karriere und seiner Zeit sind diese beiden Quellen höchst lohnende Dokumente, wie die Analysen von CAMERON, LONG 1993, ELM 1997 und T. SCHMITT 2001 zeigen.
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4.2.1. Der VII. Hymnus In der neueren Forschung wird dieser Hymnus mit plausiblen Argumenten in die Zeit unmittelbar nach Synesios’ Eheschließung, noch vor der Geburt seiner Söhne, angesetzt.68 Es handelt sich um ein Gebet für das eigene Wohlergehen sowie das seiner Familie – Bruder, Schwestern und Ehefrau. Dieses Gebet richtet sich an den „ruhmreichen Sohn der Jungfrau“: Nach den Regeln dorischer Weise will ich den hellen Klang der elfenbeingebundenen Seiten auf Dich richten, Seliger, Unsterblicher, ruhmreicher Sohn der Jungfrau.69
Abgesehen von dieser Stelle läßt sich im Hymnus, der sprachlich von den „stereotypen Wendungen der philosophischen Hymnen“ Gebrauch macht, nichts Christliches ausfindig machen.70 Synesios erbittet im folgenden für sich ein heiteres, unbeschwertes Leben, das sich durch Freiheit von Krankheit und Leid sowie körperliche Kraft und weltlichen Erfolg auszeichnet. Der κοίρανος soll seine Seele mit dem Glanz aus der „geistigen Quelle“ (νοερᾶς ἀπὸ παγᾶς) erleuchten. Das Bild der Quelle für die höheren Hypostasen ist im Neuplatonismus besonders beliebt; sowohl Plotin als auch die Chaldäischen Orakel verwenden es.71 Die Bedeutung der geistigen göttlichen Erleuchtung im Neuplatonismus, insbesondere für Jamblich, war bei der Diskussion von De mysteriis klar hervorgetreten. Parallelen sind vor allem zu Proklos bemerkbar, der in seinem Hymnus an Helios eine ähnliche Bitte formuliert.72 Allerdings könnte die Bitte durchaus auch von einem Christen formuliert sein. Es folgt die Bitte um das Wohlergehen der Angehörigen. Schließlich bittet Synesios um Erlösung nach dem Tod: Nachdem die Seele von der Fessel des irdischen Lebens erlöst ist, entreiße sie den Leiden und der jammervollen Irrfahrt; gib hingegen, daß sie mit den Chören der Reinen Hymnen aufsteigen lasse.73
68 CAMERON, LONG 1993, 16–19. 69 H. VII, 1–5: Ὑπὸ Δώριον ἁρμογὰν / ἐλεφαντοδέτων μίτων / στάσω λιγυρὰν ὄπα / ἐπὶ σοί, μάκαρ, ἄμβροτε, / γόνε κύδιμε παρθένου. 70 Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 219. CAMERON, LONG 1993, 19 erscheint hingegen die Anrufung des „ruhmreichen Sohnes der Jungfrau“ hinreichend, um den Hymnus als „unmistakably Christian“ zu bezeichnen, „though it lacks any specifically Christian language or doctrine“. 71 Für Plotin vgl. Enn. III 8,10 oder V 2,1. Für die Chaldäischen Orakel s. besonders frg. 30, 37 und 56 DES PLACES. 72 Vgl. WILAMOWITZ 1907, 282 und LACOMBRADE 1978, 90, Anm. 3. 73 H VII, 42–47: Ψυχὰν δέ, λυθεῖσαν /χθονίου βιότου πέδας, / ἐξαίνυσο πημάτων / καὶ λευγαλέας ἄλας, / σὺν δ’ εὐαγέων χοροῖς, / ὕμνους ἀνάγειν δίδου. λευγαλέας ἄλας ist eine auf CHRIST zurückgehende und von GRUBER, STROHM 1991 übernommene Konjektur für das metrisch inkorrekte λευγαλέας ἄτας (221 f).LACOMBRADE beläßt es beim alten Text (1978, 92). Sachlich handelt es sich um dasselbe, da beide Begriffe in den anderen Hymnen das Schicksal der in der Materie verstrickten Seele ausdrücken (vgl. zu ἄτη Hymnus I, 380 (χθονὸς ἄταν), 652, 682, 708, 729; V, 88, IX, 14, zu ἄλα H. I,718 (die Seele als φυγὰς ἀλῆτις). Vgl. dazu auch WILAMOWITZ 1907, 282.
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Wiederum handelt es sich bei aller neuplatonischen Terminologie um einen Passus, der ebenso gut christlich wie heidnisch verstanden werden könnte – die Chöre könnten auf die göttlichen Wesen74 oder die christlichen Engel und Heiligen75 bezogen werden. Die Übernahme neuplatonischer Terminologie durch die Kirchenväter ist ein Gemeinplatz, wenn man an die Kappadokier oder an Augustin denkt; gerade im Bereich der Anthropologie und der Erlösung der Seele vom Körper nach dem Tod waren die Anleihen besonders intensiv.76 In der Schlußformel verspricht Synesios dem „Glückseligen“ (μάκαρ) weitere Hymnen zur Ehre seines Vaters und zur Verherrlichung seiner Macht (κάρτος).77 Angesichts des Anfangs denkt man hier an Vater und Sohn als Personen der christlichen Trinität, aber die Betonung der Stärke des Sohnes könnte auch an das Paar Zeus-Herakles denken lassen. Festzuhalten bleibt, daß Synesios diese „persönlichste Aussage in seinem Hymnenbuch“78 an den christlichen Gottessohn richtet, aber sprachlich in einem neutralen Terrain zwischen Christentum und Heidentum bleibt. Für die Interpretation wäre die Kenntnis des Anlasses bzw. des Sitzes im Leben entscheidend, allerdings bleibt sie unzugänglich.79 Auch dieser Hymnus könnte durchaus mit einem Verständnis des Synesios als Heiden vereinbar sein –wenn man etwa wie STROHM ihn lediglich als freundliche Geste an seine christliche Ehefrau und deren Familie interpretiert;80 allerdings scheint dies die umständlichere Interpretation zu sein. Die Tatsache, daß er darin nicht nur für seine Ehefrau, sondern auch für seine gesamte Familie, einschließlich dem Bruder betet, der, der erhaltenen Korrespondenz nach zu urteilen, ihm besonders nahe stand,81 läßt vermuten, daß diese mit der christlichen Ausrichtung des Hymnus übereinstimmten und sich wahrscheinlich als Christen verstanden. Christliche Motive finden sich auch in anderen Hymnen, deren Datierung nicht möglich ist. Wie schon erwähnt, konzentriert sich der VI. Hymnus auf die Anbetung der Magier und der VIII. Hymnus auf die Höllen- und Himmelfahrt 74 75 76 77 78 79
So paradigmatisch Platon im Phaidrosmythos (247b oder 250b). Vgl. die Einträge unter χόρος im Greek Patristic Lexicon von LAMPE 1527. Vgl. dazu DANIÉLOU 1967, 395, und COURCELLE 1967, 402–406. H VII 48–53. GRUBER, STROHM 1991, 219. Eine Hilfe zur Interpretation könnte darin gesehen werden, daß der VII. Hymnus metrisch mit den Hymnen VI und VIII eine Einheit bildet. In diesen Hymnen steht die Gestalt Christi im Vordergrund. Der VI. Hymnus besingt die Anbetung der Magier, der VII. Hymnus die Hades- und Himmelfahrt Christi. Deren Datierung und Interpretation sind jedoch gleichermaßen umstritten. Hatte LACOMBRADE sie in seiner Synesiosbiographie der Zeit vor der Bischofswahl zugeordnet, so datiert er in seiner Hymnenausgabe den VI. Hymnus sicher in die Bischofszeit und den VIII. Hymnus in dieselbe Zeit oder kurz davor (1951b, 193–195 bzw. 1978, 85 und 93). Er sieht in ihnen Ausdrücke tiefster Religiosität. T. SCHMITT 2001, 358– 386 spricht sich hingegen für eine Frühdatierung von H VI in die Zeit bei Hofe aus und sieht darin nichts weiter als ein Propagandastück für Aurelianos, der in dem Hymnus mit Christus gleichgesetzt würde. Aus dem metrischen Zusammenhang der Hymnen lassen sich daher kaum sichere Hilfen für die Interpretation des VII. Hymnus herausarbeiten. 80 STROHM 1991, 32. 81 So urteilt SIMEON 1933, 9 und 32.
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Christi. Der dritte Hymnus richtet sich in verklausulierter Form an den Jungfrauensohn und besingt dessen Inkarnation als irdische Parallele zur vorzeitlichen Geburt des Sohnes aus dem Vater.82 Die Schlußformel benennt die Personen der göttlichen Trinität mit christlichen Namen – Vater, Sohn und πνοιά; diese Identifikation findet sich auch im II. und V. Hymnus.83 Der Dichter bittet den Sohn um die Herabsendung des Geistes zur Benetzung der Flügel der Seele.84 Diese Formulierung illustriert exemplarisch die für Synesios’ Hymnen charakteristische Einbettung christlicher Motive in die neuplatonische Vorstellungswelt. Wie weiter unten ausführlichen diskutiert werden wird, beruhen sie auf der neuplatonischen Kosmologie mit ihren verschiedenen Götter- und Geistwesenklassen. Anthropologisch und soteriologisch schöpft Synesios fast wörtlich aus Porphyrios und den Chaldäischen Orakeln.85 Das Auftreten der christlichen Motive ließe sich leicht erklären, wenn man eine Vertrautheit mit der christlichen Tradition bzw. ein christliches Milieu voraussetzen würde, forderte aber zusätzliche Erklärung, wenn Synesios in einem heidnischen Milieu lokalisiert würde. Eine Möglichkeit, dies zu deuten, wäre die schon angedeutete Theorie von STROHM. Synesios könnte durch die Bewegung in christlichen Kreisen in Alexandrien, durch seine Verehelichung mit einer Christin und den Kontakt zum Patriarchen Theophilos zu einer besseren Kenntnis christlicher Lehren gelangt sein, ohne selbst Christ geworden zu sein. Jedoch wäre eine solche Einstellung singulär; Beispiele für Heiden, die in der Jesusgestalt eine göttliche Inkarnation sehen, lassen sich schwerlich finden.86 Der Plotinschüler Amelios kann zwar den ewigen Logos des Johannesevangeliums mit der Weltseele gleichsetzen, geht aber nicht darüber hinaus auf Jesus ein.87 Umgekehrt kann Porphyrios Jesus als herausragenden Weisen würdigen, dessen Seele sich zu höheren, göttlichen Gefilden erhoben habe, aber nicht als ruhmreichen Gottessohn verstehen – solche krausen Lehren wie Inkarnation oder Auferstehung wären lediglich auf das Mißverständnis Jesu durch die Christen zurückzuführen.88 Synesios könnte am ehesten mit Nonnos von Panopolis parallelisiert und als religiöser Pluralist betrachtet werden, der in Jesus einen möglichen Ausdruck seiner Religiosität sehen könnte. Dies aber nur, falls beide unter Nonnos’ Namen überlieferten Epen auf Jesus bzw. Dionysos auch tatsächlich auf ihn zurückgehen und beide als Ausdruck seiner eigenen Religiosität interpretiert werden. Allerdings sind Datierung
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H III, 1–11. H II, 98, H V, 32. H III, 58–64; vgl. Phaidros 251b. Kapitel 4.4.2. Die Vorstellung des inkarnierten und dann sogar am Kreuz leidenden Gottes war ein Gemeinplatz der heidnischen Auseinandersetzung mit dem Christentum – s. z. B. Kelsos, Porphyrios oder später Julian. Für einen Überblick über die heidnischen Positionen in der antichristlichen Polemik s. LABRIOLLE 1948. 87 Amelios bei Eusebios, Praep. ev. 11,19 und Theodoret v. Kyrrhos, Curatio aff. graec. II 87– 90. Vgl. VOLLENWEIDER 1985, 160. 88 Porphyrios, De philosophia ex oraculis haurienda, frg. 345F und 345aF SMITH.
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und Interpretation dieser Werke höchst umstritten,89 so daß Nonnos nicht als sicheres Vergleichsbeispiel für die Einordnung des Synesios dienen kann. Gerade im Vergleich mit Nonnos drängt sich eine weitere Besonderheit des Synesios auf: er spricht zwar abstrakt immer von verschiedenen Götterklassen,90 aber die Hymnen sind stets an den namenlosen höchsten Gott, den er in den Begriffen der chaldäischen Trias denkt, oder aber an Christus, nicht an heidnische Götter gerichtet. Die alten Olympier werden in den Hymnen nicht einmal namentlich erwähnt; nur unspezifischere Götter wie Sonne, Mond oder Aion treten auf. Dies würde auch die Parallele zu Nonnos abschwächen und läßt eine heidnische Herkunft des Synesios noch unwahrscheinlicher erscheinen. Somit kann vorerst festgehalten werden, daß angesichts der Hymnen die Annahme, daß Synesios aus einem christlichen Milieu stammt, zwar keineswegs die zwingende, wohl aber die einfachste Erklärung für seine Kenntnis und Verwendung christlicher Motive darstellt. 4.2.2. Die Briefe und Prosawerke In den Prosawerken und Briefen vor der Wahl sind die Spuren des Christentums äußerst spärlich. Synesios thematisiert nirgendwo seine eigene religiöse Zugehörigkeit und benutzt kaum christliche Motive. Dafür dominiert in den philosophischen Werken das Weltbild des heidnischen Neuplatonismus mit den verschiedenen Seinsketten und Götterklassen.91 Die Chaldäischen Orakel werden als Autorität zitiert;92 die christlichen Mönche gegenüber den hellenischen Philosophen als Zivilisationshasser und Vertreter eines barbarischen Weges zum Göttlichen dargestellt.93 Allerdings lassen sich auch in diesen Schriften und Briefen vereinzelt mögliche Anspielungen auf die christliche Tradition finden. So zeigt sich Synesios in ep. 5 mit der Makkabäergeschichte vertraut. Dies muß jedoch nicht als Zeichen christlicher Sozialisation angesehen werden, da z. B. auch Porphyrios in De abstinentia IV den Konflikt mit Antiochos IV beschreibt.94 Ein weiteres Indiz für 89 Vgl. dazu CHUVIN 1986. Nach ihm seien die Dionysiaka später als die Paraphrasis des Johannesevangeliums zu datieren und wenden sich an ein breites Publikum: „un publique aristocratique, très largement païen mais pas exclusivement: on doit y trouver aussi des ces chrétiens qui aiment Libanios et ne finissent pas tous, comme Sévère, sur un thrône patriarchal.“ (394). Trotz ihrer heidnischen Inspiration weisen die Dionisiaka keine explizit antichristliche Polemik auf. Über Nonnos’ eigene Religionszugehörigkeit trifft CHUVIN kein endgültiges Urteil; er parallelisiert ihn mit Claudian und zeichnet das Bild eines hartnäckig in den alten kulturellen und religiösen Traditionen verharrenden, aber nicht fanatisch eifernden Heiden (ebd.). 90 So z. B. in De insomniis 2–3, De providentia 9. 91 Vgl. De providentia 9–11 sowie De insomniis 2–3. 92 In De insomniis zitiert Synesios sechs der heute erhaltenen Fragmente der Orakel als auctoritates. 93 Dion 7–9. 94 Es wäre verlockend, wenn auch nicht zu beweisen, daß Synesios der Geschichte gerade bei der Diskussion von Porphyrios’ De abstinentia in Hypatias Unterricht näher gekommen wäre. Christliche Einflüsse vermutet ROQUES 1987, 309 bei der Bezeichnung der Juden als γένος ἔκσπονδος in ep. 5. Der Kontext legt jedoch eher eine kulturelle Bedeutung nahe. Ἑλλήν
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Vertrautheit mit den christlichen Texten sehen CAMERON und LONG in Dion 3,2, wo Synesios davon berichtet, daß Dion auf die Essener eingehe. Hinter Synesios’ Hervorhebung95 der unmittelbaren räumlichen Nähe zwischen der Siedlung der Essener am Toten Meer und Sodom sehen sie die christliche Tradition von Sodom als der Sündenstadt schlechthin – nur ein Christ hätte den Kontrast zwischen der asketischen Lebensweise der Essener und dem Treiben in Sodom so stark empfunden.96 Allerdings kann auch hier auf heidnische Kenntnis Sodoms hingewiesen werden: Strabo weiß in Anlehnung an Polybios und in Auseinandersetzung mit Eratosthenes von einer Sage zu berichten, welche die jüdische Bevölkerung erzählt, wonach Sodom in einer Naturkatastrophe – bei Strabo eine Überschwemmung – untergegangen sei.97 Es wäre ebenfalls vorstellbar, daß Synesios seine Kenntnis dieser Geschichte von Diskussionen mit Christen aus seinem Umfeld – etwa Theophilos, der ihn vor kurzer Zeit getraut hatte – verdankte, ohne eine christliche Sozialisierung annehmen zu müssen. Die auffälligste Formulierung findet sich im Brief 148 an seinen Kommilitonen Olympios, wo Synesios die idyllische Skizze des unbeschwert- einfachen Lebens auf seinem Landgut, welches er durch zahlreiche Anspielungen auf Ilias und Odyssee als Wiederaufleben homerischer Zeiten darstellt, mit einem unerwarteten Verweis auf die Zeit Noahs abschließt: Durch den Brief bist Du im Geiste für einen kurzen Augenblick bei uns gewesen. Du hast das Landgut erblickt, hast die Schlichtheit der Lebensführung gesehen. Du wirst meinen, es handle sich um das Leben zur Zeit Noahs, bevor die Gerechtigkeit in Knechtschaft geraten konnte.98
Die Wendung ὁ ἐπὶ Νῶε βίος ist eine Abwandlung der gängigen heidnischen Wendung ὁ ἐπὶ Κρόνου βίος,99 die auf Hesiod, Werke und Tage 109ff. zurückgeht und das Leben im Goldenen Zeitalter beschreiben soll. Dieses wäre von der Gerechtigkeit geprägt gewesen, die später – in Hesiods eigener Zeit – von „bestechungsfressenden Menschen“ geknechtet worden wäre. Synesios verknüpft nun Hesiods Vorstellungen mit Noah, dem vorbildlichen Gerechten der biblischen
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ist bei Synesios sonst nie christlich konnotiert, sondern bezeichnet immer die griechische Kultur und Tradition. Vgl. dazu etwa CAMERON 1993, 27–29. Auch ist die Verwendung von ἔκσπονδος bzw. von σπονδαί im Zusammenhang mit dem christlichen Neuen Bund ziemlich ungewöhnlich und entspricht nicht dem christlichen Sprachgebrauch, der diesen Bund als (καινὴ) διαθήκη bezeichnet; das Greek Patristic Lexicon von LAMPE führt das Wort nicht auf. Der Begriff könnte vielmehr im Zusammenhang mit dem Topos der Menschen- und Fremdenfeindlichkeit der Juden stehen, der seit dem späten Hellenismus verbreitet ist, und den Selbstausschluß der Juden aus der Gesellschaft reflektieren. Vgl. dazu WARDY 1979, 621–624 und 639f. TREU 1958, 42. CAMERON, LONG 1993, 69. Strabo 16,44. Ep. 148, GARZYA/ROQUES 298: Ἐγένου βραχύ τι διὰ τῆς ἐπιστολῆς μεθ’ ἡμῶν τῇ γνώμῃ. Τεθέασαι τὸν ἀγρόν, εἶδες ἁπλόην πολιτευμάτων. Τὸν ἐπὶ Νῶε βίον ἐρεῖς, πρὶν γενέσθαι τὴν δίκην ἐν δουλείᾳ. Vgl. für den lateinischen Sprachraum Vergils vierte Ekloge (Iam redit et virgo, redeunt Saturnia regna...).
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Tradition, mit dem nach der Sintflut gleichsam ein neues Zeitalter beginnt. Der Rückgriff auf Noah hat keine Parallele bei heidnischen Schriftstellern. Seine Kenntnis und Erwähnung in einem persönlichen Brief an den Freund ließe sich leicht als Ergebnis einer christlichen Sozialisation erklären. Synesios zeigt sein literarisches Können, indem er die beiden Traditionen gewandt miteinander verknüpft. Allerdings wären auch andere Schemata denkbar. Olympios muß die Anspielung verstehen und würdigen können, daher ist anzunehmen, daß zumindest dieser christlich sozialisiert war. Es könnte sein, daß Synesios aus Rücksicht auf seinen Freund eine Anspielung auf die christliche Geschichte in seinen Brief einbaut. Wiederum erscheint die Annahme einer christlichen Sozialisation als die einfachste, aber nicht einzig mögliche Erklärung.100 Sodann ist noch auf einige Stellen in De providentia einzugehen. Bei seiner Schilderung der Besetzung Konstantinopels durch Gainas kommt Synesios auch auf die religiösen Spannungen zwischen arianischen Goten und der orthodoxen Bevölkerung zu sprechen und ergreift polemisch Partei für die Orthodoxie. Es wäre zu fragen, ob Synesios sich damit als orthodoxer Christ zu erkennen gibt.101 Jedoch ist De providentia in erster Linie ein politischer Roman, der aus einer antieutychianischen und somit anti-gotischen Perspektive geschrieben ist und sich an eine mehrheitlich christlich-orthodoxe Leserschaft richtet. Der Vorfall mit der arianischen Kirche hatte eine wichtige Rolle bei der Eskalation der Spannung in Konstantinopel gespielt; er war den Lesern daher besonders präsent. Angesichts dieser Lage ist es verständlich, daß Synesios im Hinblick auf die religiösen Gefühle seiner Leser den Eutychianos und die Goten zusätzlich belastenden Vorwurf der Häresie aufgreift und ausgestaltet.102 Die Kenntnis der religiösen Lage in Konstantinopel kann auch auf den Aufenthalt bei Hofe zurückgeführt werden; die innerchristlichen Streitigkeiten dürften im Reich allgemein bekannt gewesen sein. Synesios’ scharfe Töne gegen den Arianismus der Goten lassen sich daher als politisch motivierter literarischer Kunstgriff interpretieren und müssen demnach nicht zwingend seine eigene christliche Sozialisation oder gar seine Überzeugung wiedergeben. Allerdings muß beachtet werden, daß sich die Sprache des Synesios in De providentia mit Formulierungen in einem Brief berührt, den Synesios als Bischof an seinen Klerus gegen die Eunomianer schreibt.103 Auch diese Wendung ließe sich als Übernahme christlichen Sprachgebrauchs durch den als Bischof 100 ROQUES’ Behauptung, die Wendung beweise, „qu’ en fin 402 [Zeitpunkt von ep. 148 nach ROQUES’ System] Synésios manifestait spontanément une sensibilité religieuse chrétienne nourrie de réminiscences scripturaires“ (1987, 305), erscheint angesichts der spärlichen Ausbeute an biblischen Zitaten etwas übertrieben. 101 Vgl. LACOMBRADE 1951b, 120, der vorsichtig formuliert und zugibt, daß De providentia nicht unbedingt Synesios’ eigene Überzeugung wiedergeben muß. BREGMAN 1982, 72 nimmt den Passus beim Wort und sieht darin Synesios’ eigene Meinung ausgesprochen. Er interpretiert die Stelle als Indiz dafür, daß sich Synesios in Konstantinopel dem Christentum angenähert habe. CAMERON und LONG behaupten dezidierter: „In fact, for all its bizarre Egyptian and Neoplatonic colouring, De providentia shows itself not only Christian, but orthodox“ (1993, 38). 102 Zu Synesios’ Absichten vgl. T. SCHMITT 2001, 349–353. 103 Ep. 4, GARZYA/ROQUES 6, vgl. dazu CAMERON, LONG 1993, 38f.
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sprechenden Synesios ansehen, ohne seine Meinung widerzuspiegeln.104 Beide Formulierungen könnten jedoch auch auf eine christliche, genauer gesagt nizänische Sozialisierung hinweisen. Dies könnte dadurch gestützt werden, daß sich Synesios in seinen Hymnen gegen eine Aufteilung bzw. Zählung der drei höchsten Hypostasen wehrt, was in der Forschung als antiarianische, speziell antieunomianische Deklaration interpretiert wurde.105 Doch lassen die betreffenden Texte ihrerseits verschiedene Interpretationen zu; Synesios könnte sich durchaus auch als nichtchristlicher Neuplatoniker ausgehend von der porphyrischen Vorstellung der höchsten Trias gegen eine Hierarchisierung innerhalb der Trias aussprechen.106 Schließlich ist noch auf De regno zu verweisen. Die Rede, die angeblich vor Arkadios gehalten worden sein soll,107 zeichnet sich in religiöser Hinsicht durch ein besonders ambivalentes, neutrales Vokabular aus, das an das Verhalten heidnischer Panegyriker vor christlichen Kaisern erinnert.108 Allerdings sehen einige Forscher an einer Stelle eine Anspielung auf die christliche Eucharistiefeier. Synesios parallelisiert Stellung und Aufgabe des Kaisers in der Welt mit der Gottes im All. Auf den Idealherrscher müssen sich daher alle Attribute Gottes anwenden lassen. Das wichtigste Attribut, das von allen Völkern, Barbaren wie Gebildeten, erkannt und zelebriert würde, sei die Güte und die daraus resultierende Fürsorge für die Welt. Und Synesios fährt fort: ἱεραί τε ἐν τελεταῖς ἁγίαις εὐχαί πατέρων ἡμῶν ἐκβοῶσαι πρὸς τὸν ἐπὶ πᾶσι θεόν, οὐ τὴν δυναστείαν αὐτοῦ κυδαίνουσιν, ἀλλὰ τὴν κηδεμονίαν προσ‐ κυνοῦσιν.109 Auch die heiligen Gebete unserer Väter im Rahmen der heiligen Mysterien, wenn sie zu dem Gott rufen, der über allem herrscht, verherrlichen nicht seine Macht, sondern beten seine Fürsorge an.
Schon im 16. Jahrhundert änderte CAMERARIUS den überlieferten Text zu πατέρ ἡμῶν und sah darin ein direktes Zitat des Vaterunsers. Diese Korrektur wurde teilweise in der Forschung übernommen.110 Synesios würde sich somit als getaufter Christ zeigen, da die Kenntnis des Vaterunsers nur den getauften Christen vor104 So BREGMAN 1982, 171–173. LACOMBRADE 1951b, 261 gibt ebenfalls die Leichtigkeit zu bedenken, mit der Synesios verschiedenste Ansichten widerspiegelt und sich verschiedenste Stile zu eigen macht. 105 Vgl. dazu CAVALCANTI 1976, 116–120. 106 S. unten 4.4.2. 107 LACOMBRADE 1951a, 79–87, bes. 87, entschied sich für die Authentizität der Rede in der vorliegenden Form. Die moderne Forschung hat sich mit plausiblen Gründen von dieser Interpretation distanziert. Vgl. CAMERON, LONG 1993, 127–132, gefolgt von T. SCHMITT 2001, 283. 108 Vgl. etwa den anonymen Panegyriker von Konstantin nach dem Sieg an der Milvischen Brükke oder die Reden von Themistios, Libanios oder Julian auf Konstantius. In diese Tradition ordnet LACOMBRADE 1951a, 111 Synesios ein. Anders CAMERON, LONG 1993, 37, die bestimmten Passagen aufgrund des intendierten Publikums bzw. der Leserschaft eindeutig christliche Bedeutung zuweisen. 109 De regno 9. 110 So z. B. bei T. SCHMITT 2001, 199f.
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behalten gewesen sei.111 Andere Forscher wie etwa GARZYA behalten den überlieferten Text bei und weisen darauf hin, daß es auch im Falle der Korrektur dennoch nicht zwingend eine Anspielung auf das christliche Gebet angenommen werden muß, da es auch für diese Gebetsanrede, bzw. für die Vorstellung Gottes als Vater im Heidentum Parallelen wie etwa bei Dion von Prusa gebe. Synesios bemühe sich auch an dieser Stelle um eine ambivalente, allseitig akzeptable Terminologie.112 4.2.3. Der Brief 105 Ein weiterer Punkt, der schon seit MARROUS Aufsatz von 1952 als Argument dafür angeführt wird, daß Synesios zumindest lange vor seiner Wahl zum Bischof Christ gewesen sei, ist seine Reaktion auf die Bischofswahl im berühmten Brief 105. Synesios erläutert darin seine Bedenken angesichts des ihm angetragenen Amtes und legt die Konditionen offen, unter denen er es annehmen könnte, damit Theophilos von Alexandrien, an den der Brief eigentlich gerichtet ist, von seiner Ordination entweder absehen möge oder aber, falls er die Ordination doch wünsche, sich keine Gründe für eine spätere Entfernung aus dem Amt vorbehalten könne. Hier fällt auch sein deutliches Bekenntnis zur Philosophie als oberster Wahrheitsinstanz, deren Beweisen in bestimmten theologischen Fragen eher als dem christlichen Dogma zu vertrauen sei. Dies wäre der geeignete Ort gewesen, um anzumerken, daß er noch nicht getauft sei oder gar als vorheriger Heide das Amt annehme. Allerdings wird gerade dieses Problem der religiösen Zugehörigkeit nicht aufgeworfen.113 Zum anderen fällt auf, daß Synesios in diesem Brief vom christlichen Episkopat bzw. Priestertum als einer selbstverständlichen Gegebenheit spricht, ohne sich qua Nichtchrist davon zu distanzieren; auf der Ebene des Kultes scheint er somit die christliche Institution als selbstverständlich gegeben hinzunehmen, wenngleich er sich auf der metaphysischen Ebene von bestimmten im Christentum verbreiteten Vorstellungen distanziert. Der heidnische Kult wird nirgendwo in seinen Briefen thematisiert. Dies könnte dafür sprechen, daß Synesios auf der Ebene der religiösen Traditionen im Christentum verortet war. Auch für seinen Bruder, an den der Brief 105 nominell adressiert ist, muß dasselbe vorausgesetzt werden, da Synesios dies in seinem Brief nicht problematisiert. Über Euoptios soll der Brief zu Theophilos gelangen, und er soll auch Synesios über dessen Entscheidung benachrichtigen. Dies läßt vermuten, daß dieser in den höchsten Kreisen der alexandrinischen Gemeinde verkehrte.114 Der Brief 105 ist somit ein weiteres Indiz dafür, daß Synesios aus einem christlichen Umfeld stammte.
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So T. SCHMITT, ebd. LACOMBRADE 1951a, 43 mit Anm. 43, GARZYA 1999, 398, Anm. 24. MARROU 1952, 477, gefolgt von CAMERON, LONG 1993, 20–22. CAMERON, LONG 1993, 21.
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4.2.4. Die ἑτέρα ἀγωγή Nachdem hier diejenigen Stellen aus Synesios’ Werk diskutiert wurden, die nahelegen, daß Synesios einem christlichen Milieu entstammte und christlich sozialisiert worden ist, sollen hier Textstellen vorgestellt werden, die das Gegenteil zu implizieren scheinen. Die wichtigste Stelle findet sich im Brief 66, der aus der Bischofszeit stammt. Synesios berichtet Theophilos über seine Dienstreise zu den Grenzbistümern Libyens, wo er verschiedene kirchendisziplinarische Probleme im Auftrag des Theophilos zu lösen hatte. Die Reise scheint erfolglos geblieben zu sein. Zum Schluß des Briefes bittet er Theophilos um seine Fürbitte: Ἐπὶ πᾶσιν εὔχου περὶ ἐμοῦ· περὶ καταλελειμμένου γὰρ εὔξῃ καὶ τοῖς πᾶσιν ἐρή‐ μου καὶ δεομένου συνεργίας τοιαύτης. Ὡς αὐτὸς ὀκνῶ περὶ ἐμαυτοῦ τι φθέγ‐ ξασθαι πρὸς θεόν· ἅπαντα γὰρ εἰς τοὐναντίον μοι περιΐσταται διὰ τὴν ῥιψοκίν‐ δυνον τόλμαν, ὅτι ἄνθρωπος ἐν ἁμαρτίαις ἀπότροφος ἐκκλησίας ἀγωγὴν ἑτέραν ἠγμένος θυσιαστηρίων ἡψάμην θεοῦ. Unter allen Umständen bete für mich. Denn Du wirst für einen gänzlich im Stich Gelassenen, von allen Verlassenen beten, der derartiger Mitwirkung bedarf. Denn ich selbst zögere, für mich irgendeinen Laut an Gott zu richten. Denn alles wendet sich mir ins Gegenteil wegen der waghalsigen Kühnheit, weil ich als ein Mensch, der, in Sünden fern von der Kirche groß geworden, in einer anderen Lebensweise verwurzelt ist, die Opferaltäre Gottes berührt habe.
Diese Stelle könnte so interpretiert werden, daß Synesios sich vor der Wahl noch als Heide sah – dann müßte ἀγωγή als Lebensweise im Sinne einer religiösen Tradition übersetzt werden.115 Allerdings erscheint der Begriff eher ungebräuchlich für die Bezeichnung von Christentum und Heidentum als religiöse Traditionen, da dafür vielmehr der Terminus θρησκεία im 4. Jahrhundert gebraucht wird. Ἀγωγή bedeutet primär „Lebenswandel, Lebensweise, Lebensführung“. Er kann zwar in diesem Sinn zur interreligiösen Differenzierung angewandt werden, aber hauptsächlich im Hinblick auf das Judentum, dessen Lebensweise sich von der christlichen unterscheidet; Stellen, die den Begriff auf das Heidentum als distinkte Größe beziehen, sind nicht nachweisbar. Zur Differenzierung zwischen Christentum und Heidentum bietet sich eher als die Lebensweise der Kult an, so daß dafür θρησκεία zum Standardterminus wird.116 ROQUES und CAMERON/LONG verweisen auf eine ähnliche Wendung bei Ambrosius von Mailand, der zwar aus einer christlichen Familie stammt, aber trotzdem von sich sagen kann: non in ecclesia nutritus sum, non edomitus a puero.117 Ambrosius meint damit, daß er nicht von Kindheit an für den geistlichen Stand bestimmt war und somit keine kirchliche sondern die weltliche Laufbahn einge-
115 So KOCH 1902, 755, TREU 1958, 95, BAYLESS 1977, 149 mit Anm. 8. 116 Vgl. das Patristic Greek Lexicon von LAMPE, Art. ἀγωγή und θρησκεία). 117 ROQUES 1987, 302 f. sowie ders. in GARZYA, ROQUES 2000, Anm. 96 zu ep. 66, 319 sowie CAMERON, LONG 1993, 24f. mit Anm. 56. Sie weisen auf Ambrosius, De paenitentia II 72 hin.
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schlagen hatte. Synesios’ Formulierung könnte somit ausdrücken, daß er nicht das Leben eines Geistlichen,118 sondern das des Philosophen geführt hat. Der Begriff ἀγωγή erscheint auch im Dion, dessen Kritik an der Lebensweise der christlichen Mönche oft als Indiz dafür aufgefaßt wurde, daß Synesios als Heide spreche, der sich – ähnlich wie etwa Eunapius – über die zivilisationsfeindlichen Mönche errege.119 Allerdings ist zu Recht hervorgehoben worden, daß Synesios damit nur die Lebensform der Mönche, nicht das Christentum insgesamt kritisiert.120 Mit dem Dion verteidigt er sich gegen den Vorwurf, aufgrund seiner Beschäftigung mit Rhetorik kein echter Philosoph zu sein. Dieser Vorwurf war vor allem von platonischen Philosophen erhoben worden.121 Zum Abschluß seiner Kritik an den Ideen des Mönchtums hebt er dies noch einmal hervor: Ταῦτα οὐ πρὸς τοὺς ἐκ τῆς ἑτέρας ἀγωγῆς μᾶλλον ἢ καὶ πρὸς τοὺς παρ’ ἡμῖν σὺν ἀλογίᾳ μεγαλοφώνους, οἳ καὶ παρέσχον ἀφορμὴν τῷν λόγῳ βοηθῆσαι τοῖς προ‐ παιδεύμασιν. (...) Ἠγώνισταί γε πρὸς τοὺς ἀμούσους ὑπὲρ Μουσῶν, οἳ κακοήθως ἀποδιδράσκουσιν τὸν ἔλεγχον τῆς ἀμαθίας τῷ καταφεύγειν ἐπὶ τὴν λοιδορίαν ὧν ἠγνοήκασιν.122 Dies richtet sich nicht stärker gegen die Vertreter der anderen Lebensform, als gegen diejenigen, die in unserem Lager ohne Vernunft ihre Stimme erheben, die der Rede ja auch den Anlaß lieferten, die vorbereitende Bildung zu unterstützen. (...). Es wurde ja für die Musen gegen die Banausen gekämpft, die aus übler Gewohnheit vor dem Beweis ihrer Unwissenheit weglaufen, indem sie ihre Zuflucht zu der Verunglimpfung der Dinge nehmen, die sie nicht kennen.
Der Begriff ἀγωγή könnte wieder vermuten lassen, daß Synesios sich damit als Heide zu erkennen gibt: auf der einen Seite ständen dann die christlichen Mönche, auf der anderen die heidnischen Neuplatoniker, zu denen er sich zählen würde.123 Da der Terminus jedoch nach den ersichtlichen Belegen nicht für die Differenz zwischen Christentum und Heidentum gebraucht wird, legt sich vielmehr nahe, daß Synesios hier von zwei verschiedenen Lebensweisen spricht. Dies wird dadurch unterstützt, daß Synesios in Brief 148 Philosophie und Mönchtum als zwei unterschiedliche Lebensweisen mit dem gleichen Ziel parallelisiert. Schließlich ist zu beachten, daß die im Dion ausgefochtene Debatte um den Wert der paideia kreist, eine Debatte, die nicht interreligiös, sondern quer durch alle religiösen Traditionen mit ihren verschiedenen Lebensformen ausgetragen wird. Synesios’ Kritik am ‚barbarischen‘ Weg des Mönchtums muß daher nicht implizieren, daß er als Heide gegen christliche Religiosität polemisierte.124 Schließlich ist noch auf eine Passage hinzuweisen, die auch als Indiz für Synesios’ Nichtzugehörigkeit zum Christentum gelesen werden könnte. Im 118 119 120 121 122 123 124
CAMERON, LONG 1993, 25. Eunapius VS VI 6,11 oder Libanios Or. 30,8. Vgl. KOCH 1902, 753f. GEFFCKEN 1920, 217 und 221. Ep. 154, GARZYA/ROQUES 301f. Dion 11,1. So KOCH 1902, 753f. Vgl. CAMERON, LONG 1993, 65–68, GARZYA 1974, Kapitel II, 1–14, hier 12, TREU 1958, 25f., wobei er ihn dennoch als Heiden ansieht.
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Brief 67 erkundigt sich Synesios bei Theophilos um den Status eines Kyrenäers, der von Johannes Chrysostomos als Bischof ordiniert worden war und zu dessen Parteigängern gehört hatte. Synesios weist darauf hin, daß das Problem seine Kompetenz übersteige: Ἐγὼ μὲν οὔτε πόρρωθεν ἐνετράφην τοῖς νόμοις τοῖς ἱεροῖς, οὔτε ἤδη μοι καθήκει πολλὰ μεμαθηκέναι πέρυσιν οὔπω γεγονότι τοῦ καταλόγου.125 Ich für meinen Teil bin nun weder seit langer Zeit in den heiligen Gesetzen erzogen, noch kommt es mir schon zu, viel gelernt zu haben, da ich doch letztes Jahr noch gar nicht auf der Bischofsliste stand.
Der Kontext zeigt jedoch, daß Synesios mit den „heiligen Gesetzen“ nicht das Christentum als solches, sondern nur speziell das Kirchenrecht meint. Er bittet lediglich um Rat, wie er in diesem speziellen Fall als Bischof verfahren müsse.126 4.2.5. Das „Haus des Hesychios“ Bisher wurde das Werk des Synesios auf Indizien zu seiner religiösen Zugehörigkeit und Sozialisation untersucht. Es ließen sich nur einige wenige spezifische Stellen finden, die als Basis für diese Erörterung dienen konnten, und auch diese waren nicht eindeutig und konnten unterschiedlich interpretiert werden. Das Kriterium der Einfachheit legt es näher, eine christliche Herkunft des Synesios anzunehmen. Die Schwierigkeit, relevante Stellen zu finden sowie deren Ambivalenz sind von Bedeutung. Synesios sieht keinen Grund, seine formelle religiöse Zugehörigkeit explizit zu thematisieren. Dies könnte darauf beruhen, daß sie für ihn selbstverständlich war.127 Es könnte auch sein, daß sie jeweils für seine Absichten in den Briefen und Schriften nicht relevant war.128 Denkbar wäre aber auch, daß sie insgesamt für ihn keine besondere Relevanz besaß und deshalb nie thematisiert wird. Ein Vergleich mit dezidierten Christen oder Heiden, mit Eunapius von Sardes, Julian oder christlichen Kirchenvätern, für die ihre religiöse Zugehörigkeit auch selbstverständlich war, die sich aber deutlich als Christen oder Heiden darstellten, ist erhellend. Im Kontrast dazu läßt sich festhalten, daß Synesios kein besonderes Interesse daran hat, sich über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tradition zu definieren, und es könnte vermutet werden, daß diese für ihn keine besondere Rolle spielte. Diese Haltung wäre im vierten Jahrhunderts durchaus verbreitet und auch gesellschaftlich breit anerkannt – man denke etwa an Ausonius, der in religiöser Hinsicht als das lateinische Pendant des Synesios erscheint,
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Ep. 67, GARZYA/ROQUES 200. CAMERON, LONG 1993, 25. Dies vermutet T. SCHMITT 2001, 25. Vgl. VOLLENWEIDER 1985, 14, der Synesios’ Bemühungen um attische Reinheit der Sprache in den Schriften der mittleren Periode für dieses Schweigen verantwortlich macht.
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da er eine vornehm-verhaltene platonisch gefärbte, das Christentum nur vage ansprechende Religiosität an den Tag legt.129 Auf diesem Hintergrund kann nun eine archäologische Quelle angegangen werden, die in der neueren Forschung als Beleg für Synesios’ Christentum angeführt wird. Es handelt sich um die durch GOODCHILD erfolgte Ausgrabung eines „großzügige(r)[n] Gebäudekomplex[es]“130 an der Agora in Kyrene.131 Die im Haus gefundenen Inschriften nennen einen Hesychios, der Libyarch war, sowie einen Hesychios Neos. Sie befinden sich im südlichen und westlichen Umgang: GOODCHILD beschreibt sie folgendermaßen: „im südlichen [Umgang] befindet sich ein schwarz-weißes, geometrisches Ornament mit Inschriften, die Hesychios und seiner Gattin Glück wünschen; das Mosaik im westlichen Gang ist mehrfarbig und zeigt fünf Bildfelder, in denen Gott und Christus um Schutz für die einzelnen Familienmitglieder, einschließlich „Hesychios, des Libyarchen“, gebeten werden. Diese Figuren werden von grob skizzierten Engeln umrahmt. (...) Rechts vom nördlichen Korridor liegt ein Raum mit einem opus sectile-Fußboden in Marmor, der in seiner Mitte eine Inschrift enthält, die „dem jungen Hesychios“ Glück wünscht.“132 Von den insgesamt acht Inschriften, deren Text von REYNOLDS publiziert und analysiert wurde, ist eine eindeutig christlich (Χρεισστέ βοήθει τῷ οἴκῳ τού‐ τῳ); die anderen erflehen unspezifisch die Hilfe Gottes.133 Die Interpretation ist deshalb schwierig. REYNOLDS, die Mitarbeiterin von GOODCHILD, ordnet sie als „many of them patently Christian“ ein, ohne jedoch die Gründe zu spezifizieren.134 SCHMITT betont hingegen, daß nur eine der Inschriften eindeutig christlich sei.135 Auch die Figuren, die sie umgeben, können verschieden interpretiert werden. GOODCHILD faßt sie im oben zitierten Abschnitt als Engel auf,136 während STUCCHI vorsichtiger von „figure alate che sustengono tondi“ spricht.137 Für GOODCHILDS und REYNOLDS’ Interpretation der Inschriften und Figuren könnte sprechen, daß die auf Christus bezogene Inschrift als Teil des Mosaikprogramms 129 Zu Ausonius’ Religiosität s. RIGGI 1968, der von „semicristianesimo“ oder „semipaganesimo“ spricht (693f). RIGGI parallelisiert die religiöse Haltung des Ausonius mit Hypatia und Synesios (693). Gegen die Bezeichnung des Ausonius als„Halbchrist“ wendet sich mit Recht SKEB 2000, bes. 351f., der betont, daß sich für Ausonius die Alternative zwischen Christentum und Heidentum nicht stelle und letztlich „gewissermaßen eine „dritte Konfession“: eine innerliche Religiosität der Erfahrung der praesentia numinis, der gegenüber geschichtlichverbindliche Bezüge verblassen“ gegeben sieht (Hervorhebung im Original). 130 T. SCHMITT 2001, 147. 131 Vgl. GOODCHILD 1971, 72–73. Auf diese Ausgrabung nehmen LIEBESCHUETZ 1985, 159, ROQUES 1987, 209–211, CAMERON, LONG 1993, 16f. sowie T. SCHMITT 2001, 147–151 bezug. Letzterer bietet eine ausführliche Darstellung und Diskussion der Inschriften und Interpretationen. 132 GOODCHILD 1971, 89 bzw. 90. 133 Zu den Inschriften vgl. REYNOLDS 1959, 100f (mit Abbildung einer der Inschriften), wo nur eine der Inschriften zitiert wird, und dies. 1960, bes. 286f, wo alle Inschriften zitiert werden. 134 REYNOLDS 1959, 100. 135 T. SCHMITT 2001, 153. 136 Ihm folgt ROQUES 1987, 209. 137 STUCCHI 1975, 490.
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der fünf von Engeln eingerahmten Bildfelder erscheint. Allerdings weist SCHMITT darauf hin, daß in diesen fünf Inschriften die Form des Sigma differiert; somit könnte man sie vielleicht doch nicht als gemeinsam konzipierte Anlage betrachten und müßte annehmen, daß das ursprüngliche Mosaik weiter entwickelt wurde und die christlichen Motive erst später hinzukamen.138 GOODCHILD datierte die letzte Bauphase zunächst ins fünfte Jahrhundert139; später revidierte er seine Ansicht aufgrund der Münzfunde, da die jüngsten aus der Regierungszeit von Konstantius II. stammen. Er nahm an, daß das Haus nach dem Erdbeben von 365 aufgegeben wurde.140 GOODCHILD hatte das Haus dem Hesychios zugeschrieben, an welchen der Brief 93 des Synesios adressiert ist.141 Allerdings kann es sich bei diesem Hesychios nicht um einen Kyrenäer handeln, da Synesios ihn erst in Alexandrien kennengelernt hat.142 LIEBESCHUETZ hat in einem Aufsatz von 1985 vorgeschlagen, das Haus der Familie des Synesios zuzuschreiben, da dessen ältester Sohn wie auch dessen Vater Hesychios hießen. Außerdem sei Synesios’ Familie „clearly one of the presumably small number wealthy enough to provide the Libyarch.“143 Sein Vorschlag ist von den neueren Synesiosforschern wie CAMERON/LONG oder SCHMITT aufgegriffen worden, während ROQUES noch die alte Datierung ins 5. Jahrhundert und die Zuschreibung an den Freund des Synesios vertritt.144 Seine Gegenargumente sind von SCHMITT diskutiert und entkräftet worden,145 der anhand der in den Inschriften genannten Namen einen hypothetischen Stammbaum und Familiengeschichte der Hesychiden zu entwerfen versucht. Er identifiziert Hesychios den Libyarchen mit Synesios’ Urgroßvater, der zunächst als Libyarch Heide gewesen sei und sich später, nach der Herrschaftsübernahme Konstantins über den Osten im Jahre 324, zum Christentum bekehrt habe. Ab diesem Zeitpunkt sei die Familie christlich gewesen.146 Synesios sei somit in einer christlichen Familie hineingeboren und selbstverständlich christlich sozialisiert worden.147 LIEBESCHUETZS Interpretation des Gebäudekomplexes läßt sich zwar nicht zwingend beweisen, erscheint aber plausibel begründet. Sie deckt sich auch mit dem Ergebnis der Untersuchung von Synesios’ Schriften, die ebenfalls eher eine christliche Herkunft nahe legen. Die Tatsache, daß das Haus nur eine einzige eindeutig christliche Inschrift gegenüber vier, die unspezifisch ὁ θεός tragen, aufweist, könnte mit der Absenz einer klaren eigenen Verortung bei Synesios selbst in Verbindung stehen und darauf hindeuten, daß Synesios’ Familie zwar christlich war, aber darauf keinen besonderen Wert legte. Ähnliche Positionen vertreten CA138 139 140 141 142 143 144 145 146 147
T. SCHMITT 2001, 152–154. REYNOLDS 1959, 100. GOODCHILD 1971, 89–90 sowie REYNOLDS 1959, 100ff. Vgl. REYNOLDS 1959, 100, STUCCHI 1975, 490. CAMERON, LONG 1993, 16 sowie T. SCHMITT 2001, 149. LIEBESCHUETZ 1985, 159, Anm. 95. ROQUES 1987, 209–212. T. SCHMITT 2001, 150. T. SCHMITT 2001, 152–159. Ebd. 190ff.
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und SCHMITT. Erstere weisen darauf hin, daß Christentum nicht mit der Orthodoxie gleichgesetzt werden dürfte und betonen, daß deshalb aus Synesios’ unorthodoxen, heidnisch anmutenden Passagen in den Hymnen oder seiner Freundschaft mit Hypatia nicht geschlossen werden dürfte, daß er kein Christ gewesen wäre. Denn Kirchenväter und Theologen seien die eine Spielart des Christentums, die nicht verabsolutiert und auch nicht auf die Religiosität der Laien übertragen werden dürfte. Letztere wären nicht verpflichtet gewesen, in christlicher Sprache über christliche Themen zu schreiben.148 Daher könne man behaupten: „Synesius had always been a Christian, however conventional and uninterested in doctrine or theology“.149 SCHMITT beschreibt die Religiosität der pentapolitanischen Elite als „kirchenfernes Christentum”. Unter ihren Mitgliedern finden sich lange Zeit keine Bischöfe, und auch die Kirchenbauten seien eher bescheiden – in Kyrene sei bis ins frühe 5. Jahrhundert nur eine einzige Kirche nachzuweisen.150 Die pentapolitanische Elite habe somit zwar den neuen Kult angenommen, aber sich vorbehalten, sich in der Kirche „relativ frei zu bewegen“151 und in Glaubensfragen Unabhängigkeit zu bewahren.152 Die Überlegungen von CAMERON/LONG und SCHMITT lassen einen wichtigen Punkt klar hervortreten, nämlich die Unterscheidung zwischen formeller Religionszugehörigkeit und Überzeugung bzw. Orthodoxie.153 Dem Christentum anzugehören bzw. in eine christliche Familie hineingeboren worden zu sein, wie es für Synesios wohl am plausibelsten erscheint, impliziert nicht, daß man von den Lehrinhalten des Christentums überzeugt wäre oder sie in theologisch impekabler Form vertreten würde. Es impliziert nicht einmal zwingend, daß der Betreffende schon als Kind getauft wird – man denke an Augustinus’ Confessiones, wo deutlich wird, daß die Taufe durchaus hinausgeschoben zu werden pflegte – und das auf Betreiben der fervent christlichen Mutter. Wann nun Synesios getauft ist, ist nicht klar festzustellen; in der Forschung sind verschiedene Positionen vertreten worden.154 Die religiöse Zugehörigkeit ist primär eine soziale Gegebenheit, die an 148 CAMERON, LONG 1993, 36ff. 149 CAMERON, LONG 1993, 35. 150 T. SCHMITT 2001, 191, vgl. STUCCHI 1975, 334 für die Zeit bis zum Erdbeben von 365 („manca peraltro, finora, per tutto questo periodo, ogni traccia di luoghi di culto cristiano“) sowie die Diskussion der ältesten Kirchen, die er ins 6. Jahrhundert datiert (363). Für die Datierung der Basilika von Kyrene fehlten die Anhaltspunkte; die Datierung der ersten Bauphase durch WARD PERKINS in das 5. Jahrhunderts sei „solo congetturale“ (365). 151 T. SCHMITT 2001, 191. 152 T. SCHMITT 2001, 192. 153 Sie kommen somit auf ähnliche Feststellungen wie sie W. C. SMITH, The Meaning and End of Religion mit seiner Unterscheidung zwischen „cumulative traditions“ und „faith“ getroffen hatte (s. o. 15f). 154 In der älteren Synesiosforschung wurde mit Euagrios h. e. I 15 häufig angenommen, daß Synesios erst nach der Wahl zum Bischof getauft worden sei (s. z. B. GEFFCKEN 1920, 218f, LACOMBRADE 1951b, 218, v. CAMPENHAUSEN, 1967, 132). MARROU 1952 hatte bestimmte Passagen des ersten Hymnus so interpretiert, daß Synesios schon in Konstantinopel die Taufe wünschte. CAMERON, LONG 1993 verlegen die Taufe ebenfalls gestützt auf den ersten Hymnus, aber auf eine andere Interpretation, nach Libyen nach der Rückkehr aus Konstantinopel (28–34); T. SCHMITT plädiert schließlich dafür, daß Synesios als Kind getauft worden sei, da
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sich nicht notwendig impliziert, daß die betreffende religiöse Tradition auch religiöse Relevanz für den Einzelnen besitzt und dessen Religiosität und Weltbild prägt. Diese fundamentale Unterscheidung muß nun bei der Analyse der Rolle der Philosophie im Leben des Synesios bedacht werden. Schließlich ist zu erwähnen, daß das „Haus des Hesychios“ neben den Inschriften und den christlichen Motiven auch andere interessante Indizien bietet, die herangezogen werden könnten, um Synesios’ frühes Umfeld zu rekonstruieren, falls man das Haus seiner Familie zuschreibt. STUCCHI beschreibt das Nymphaion des Hauses, das er ebenfalls in die Periode vor 365 datiert, zusammen mit anderen ähnlichen Brunnen aus Kyrene und Ptolemais als besonders interessantes Phänomen.155 Das gemeinsame Merkmal ist die bewußte Eingliederung viel älterer Relief- und Skulpturenelemente, die nicht lediglich als Baumaterial benutzt, sondern in die neue Struktur integriert werden. Ihre Verwendung könne nicht an mangelndem technischen Können liegen, denn die Bearbeitung der Skulpturen sei sehr akkurat. STUCCHI zieht daraus folgende Konsequenz: Piaceva dunque decorare i monumenti con motivi figurati presi di peso dall’ antichita pagana. Qui il ricordo va ai motivi del mito e dell’ epos greci richiamati costantemente nelle pitture delle tombe delle due Asgafa, che sono peraltro cristiane per alcuni chiari simboli, e ad altri richiami classici. Non sembrerebbe quindi che solo per povertà si siano riutilizzati marmi lavorati più antichi, o magari per incapacità tecnica; sembrerebbe piuttosto che questo sia avvenuto per un amore per il passato glorioso, forse anche nell’ illusione di rinovarlo.156
Somit wäre das Christentum nur die eine Facette des kulturellen und sozialen Milieus, in dem Synesios aufwächst. Als andere Seite wäre eine bewußte Hinwendung zu der alten hellenischen Kultur mit ihren Mythen und Symbolen zu nennen, eine Identifikation mit ihr, die nicht isoliert war, sondern von der kyrenäischen und pentapolitanischen Elite geteilt wurde. Dies ist umso auffälliger, als eindeutig identifizierbare Kirchenbauten für diese Zeit fehlen. Man könnte also festhalten, daß diese sich weniger über ihr Christentum bzw. über Kirchenbauten, als vielmehr über den Bezug zur klassischen Kultur definierten und repräsentierten. Dies würde auch der Fülle von literarischen und mythologischen Anspielungen in Synesios’ Briefen entsprechen, sowie seinem Bericht über ein von ihm in Auftrag gegebenes vergoldetes Bild seiner Schwester Stratonike, das er mit einem Epigramm versieht, in dem sie mit Aphrodite gleichgesetzt wird.157 in Libyen die Kindertaufe üblich gewesen sei (2001, 193–200, mit Diskussion der früheren Forschungspositionen). Eine Entscheidung ist angesichts des Fehlens klarer Indizien unmöglich. 155 Zum Nymphaion vgl. auch die Beschreibung von GOODCHILD 1971, 90: „ein kleiner Brunnen, dessen Wasser aus einer halbkreisförmigen Nische floß, die mit einem wiederverwendeten Marmorrelief geschmückt war, das eine Quadriga darstellte. Der Boden des Brunnens war von Säulenpaaren aus Kalkstein umgeben, die vermutlich eine Pergola stützten.“ 156 STUCCHI 1975, 483. 157 Vgl. dazu die Analyse von T. SCHMITT 2001, 214–218, der aus dem Vers und dem Bild rekonstruiert, daß Synesios seine Familie in Tafelbildern als Olympier portraitieren lassen und parallel dazu ein längeres Gedicht verfaßt habe. Er setzt die Entstehung in Zusammenhang mit der Konstantinopelreise; Synesios habe seine Familie über die Grenzen der Provinz hinaus präsentieren wollen. Allerdings ist bei SCHMITTS mitreißender Darstellung zu beachten,
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4.3. SYNESIOS’ BEGEGNUNG MIT DER PHILOSOPHIE IN ALEXANDRIEN 4.3.1. Hypatia und der alexandrinische Neuplatonismus Die Forschung über Hypatia und allgemein über den alexandrinischen Neuplatonismus war lange Zeit den Ausführungen PRAECHTERS verpflichtet, der den alexandrinischen Neuplatonismus als porphyrisch geprägtes Relikt im Gegensatz zu der vorherrschenden jamblicheischen Tendenz anderer Schulen ansah.158 Sein Artikel über Hypatia beschreibt sie dementsprechend als frühe Exponentin dieser neuplatonischen Schule.159 In der späteren Forschung sind seine Interpretationen der alexandrinischen Neuplatoniker, vor allem diejenige des Hierokles, der eine Generation nach Hypatia gewirkt hat, angezweifelt worden, und HADOT hat nachgewiesen, daß der Unterschied zwischen Hierokles und den athenischen Neuplatonikern weitaus geringer ist, als PRAECHTER annahm.160 Dennoch hat seine Einordnung Schule gemacht, und Hypatia wird immer noch oft in seinen Kategorien als Repräsentantin eines älteren, porphyrisch geprägten Platonismus mit starker Betonung der Wissenschaften gesehen.161 Wie im Falle des Maximus von Ephesus sind die Quellen über Hypatia spärlich.162 Neben der Korrespondenz des Synesios163 sind es nur einige wenige Noti-
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daß sie höchst hypothetisch bleibt, da außer dem Bild Stratonikes und dem dazugehörigen Epigramm nichts weiteres belegt ist. PRAECHTER 1973a, 1973b, 204–214. PRAECHTER 1914. I. HADOT 1978, bes. 189–191. Vgl. RIST 1965, der wie PRAECHTER versucht, ausgehend von Hierokles die alexandrinische Tradition zu bestimmen, in die er dann Hypatia einordnet. Er setzt voraus, daß die zeitliche Nähe von Hierokles und Hypatia auch eine philosophische Nähe impliziere. Allerdings ist dies fraglich. Hierokles nennt Hypatia in seiner Aufzählung der neuplatonischen Diadochen überhaupt nicht und stellt sich in die athenische Tradition (vgl. BERETTA 1993, 74). Andere Beispiele für die Übernahme der Praechterschen Kategorien sind die Ausführungen von LACOMBRADE 1951b, 38–46 und 1994, 961–963, gefolgt von EVRARD 1977 sowie BERETTA 1993, 61–63 und 68–87. Diese geht allerdings über LACOMBRADE hinaus und behauptet, daß für Hypatia – anders als für die athenischen Neuplatoniker – die vita activa eine besondere Rolle spiele, und daß nach ihr der Philosoph gehalten sei, im öffentlichen Leben seiner Zeit Stellung zu beziehen und sich nicht von der Gesellschaft abzusondern. Eine ausführliche Quellenübersicht gibt PRAECHTER 1914, 242–243. Zusätzlich zu den dort angeführten Quellen verweisen CAMERON, LONG 1993, 40f. auf die koptische Chronik des Johannes von Nikiu aus dem 7. Jahrhundert, in dem die Ereignisse des Jahres 415 aus der Sicht Kyrills dargestellt werden. Zu Synesios’ Korrespondenz mit Hypatia vgl. HARICH-SCHWARZBAUER 2002, die die Briefe ausschließlich als Literatur versteht, durch welche Synesios der Nachwelt sein Hypatia-Bild überliefern wollte. Diese Literatur diskutiert sie unter dem Gesichtspunkt der Genderforschung. Auf eine Auseinandersetzung mit ihrer Position soll hier verzichtet werden. Festzuhalten ist, daß die Briefe des Synesios nicht einfach nur über Hypatia sprechen, sondern durchaus auch mit ihr konkret kommunizieren, was ihren Quellenwert erhöht, da es sich deswegen nicht nur um eine Sonderform der Philosophenbiographie handelt. Ein ähnlich spekulativer feministischer Zugang findet sich auch in HARICH-SCHWARZBAUER. 2003.
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zen bei Kirchen- und Philosophiehistorikern sowie lexikographische Einträge. Als wichtigste Quellen können ein kurzes Exzerpt von Photios aus der Kirchengeschichte des Arianers Philostorgios,164 ein etwas ausführlicherer Passus bei Sokrates Scholastikos165 sowie einige Fragmente aus Damaskios’ Vita Isidori genannt werden.166 Aufgrund der vagen und widersprüchlichen Angaben in den Quellen ist die Chronologie von Hypatias Leben in der Forschung umstritten. In ihrer neueren Monographie zu Hypatia hat DZIELSKA überzeugend gezeigt, daß ihr Geburtsjahr um 355 angesetzt werden muß.167 Diese chronologische Einordnung wird im folgenden übernommen. Ein zentraler Zug Hypatias, welcher von allen Quellen hervorgehoben wird, ist ihr Interesse an den exakten Wissenschaften, besonders Mathematik und Astronomie. Tochter des Mathematikers und Astronomen Theon, der in der Suda als Mitglied des Mouseions bezeichnet wird,168 wurde sie von ihrem Vater in den Wissenschaften unterrichtet.169 Laut Philostorgios soll sie ihn darin weit übertroffen haben, vor allem in der Astronomie. Philostorgios berichtet weiterhin, daß Hypatia nicht nur eine herausragende Forscherin gewesen sei, sondern auch eine erfolgreiche Lehrerin. Die Beschäftigung mit den Wissenschaften bringt ihr die polemische Bemerkung des Damaskios ein, zwischen ihr und seinem Lehrer Isidoros habe ein himmelweiter Unterschied bestanden, eben der zwischen einer bloßen Geometrin und einem echten Philosophen.170 Die überlieferten Werktitel sind alle mathematischen und astronomischen Charakters.171 Als Wissenschaftlerin 164 165 166 167
Philostorgios, Kirchengeschichte VIII 9 BIDEZ/WINKELMANN. Sokrates VII 15. Damaskios, Vita Isidori frg. 43A–E und 106 A–B ATHANASSIADI. DZIELSKA 1998, 67f. In der Forschung verbreitet ist eine Datierung, die anhand der Angaben der Suda 370 als ihr Geburtsjahr angibt, so LACOMBRADE 1951b, 39 und 1994, 957. PENELLA, 1984 plädiert angesichts der Quellen für absolute Zurückhaltung, hält jedoch diese Datierung für zumindest möglich. CAMERON, LONG 1993, 51 setzen ihre Geburt nach 370 an. Diese Datierungen lassen sie allerdings gleichaltrig mit ihrem Schüler Synesios erscheinen. 168 Damit wäre Theon das späteste überlieferte Mitglied des Mouseions. Ob diese späte Notiz die Existenz des Mouseions als Institution im 4. Jahrhundert belegen kann, ist unsicher, da es ansonsten keine Belege aus dieser Zeit gibt. Vgl. dazu die Diskussion bei BERETTA 1993, 37– 41, die festhält, daß die Quellenbasis zu dürftig ist, um die Existenz der Institution nachzuweisen, aber daß dennoch angenommen werden kann, daß die wissenschaftliche Forschungstradition des Mouseions und das Bewußtsein der Zugehörigkeit zu ihr durchaus noch lebendig waren. 169 Damaskios, Vita Isidori frg. 43 A ATHANASSIADI, Philostorgius VIII 9 BIDEZ/WINCKELMANN. 170 Damaskios, Vita Isidori frg.106 A ATHANASSIADI. Als weiteres Zeugnis wird oft in der Forschung ein Epigramm zitiert, das Palladas zugeschrieben wird (LACOMBRADE 1994, 961, BERETTA 1993, 89f). Allerdings hat LUCK 1958, 462–467 (gefolgt von DZIELSKA, Hypatia 22–23) darauf hingewiesen, daß diese Zuschreibung sowie der Bezug auf Hypatia unsicher sind. 171 ἔγραψεν ὑπόμνημα εἰς Διόφαντον, τὸν ἀστρονομικὸν κανόνα, εἰς τὰ κωνικὰ τοῦ Ἀπολλονίου ὑπόμνημα. Diese Werke wurden in der älteren Forschung für verloren erachtet; CAMERON, LONG 1993, 44–49 schlagen vor, die überlieferte Version der astronomischen Tafeln des Ptolemaios, die in der neueren Forschung Theon zugeschrieben wird, als Hypatias Edition zu betrachten. Auch die vorliegende Version des Almagest soll von ihr
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fügt sich Hypatia gut in das Gesamtbild Alexandriens ein. Die Stadt war seit jeher ein bedeutendes wissenschaftliches Zentrum gewesen, und diese Tradition scheint sich bis in Hypatias Zeit erhalten zu haben. Noch Ammianus Marcellinus zeichnet in seiner Reisebeschreibung ein lebendiges Bild davon.172 Hypatias philosophischer Werdegang ist ungleich schlechter dokumentiert als ihr wissenschaftliches Studium bei ihrem Vater. Die späte Angabe der Suda, Hypatia habe in Athen studiert, welche auf Hesychios von Milet zurückgeht, ist wahrscheinlich falsch. Damaskios, der als athenischer Scholarch und Historiker der späten neuplatonischen Philosophenschulen als die besser informierte Quelle angesehen werden kann, betont, daß sich ihre Erziehung und Bildung in Alexandrien abgespielt haben.173 Zu ihrer Begegnung mit der Philosophie gibt es verschiedene Vorschläge. LACOMBRADE geht von einem Bruch in der alexandrinischen philosophischen Schultradition aus. „Die Existenz einer neuplatonischen Schule in Alexandrien der Jahre 370/400 ist unbelegt“. Diesen Bruch führt er auf die dramatischen Ereignisse der Jahre 391/92 zu, als das Serapeion zerstört und die heidnischen Priester und Philosophen vertrieben wurden. Da sich auch keine Verbindungen nach Athen nachweisen ließen, folgert er, daß Hypatia gewissermaßen als philosophischer Autodidakt anzusehen sei: „Da jeder Unterricht unterbrochen war, konnte H. allein über schriftliche Dokumente Zugang zur Lehre Plotins und Porphyrios’ finden.“174 Diese Darstellung ist unbefriedigend. Die harten antiheidnischen Maßnahmen des Theophilos und die Zerstörung des Serapeions können höchstens einen Bruch in der Übermittlung der Philosophie nach 391 belegen. Hypatias eigenes Studium muß aber davor liegen, denn in den 390ern ist sie schon als Synesios’ Lehrerin belegt. Nachrichten über neuplatonische Philosophen in Alexandrien vor Hypatia sind sehr spärlich. Eunapius berichtet davon, daß Antoninus, der Sohn der Philosophin und Theurgin Sosipatra, sich an der Mündung des Nils in Kanopos niedergelassen und dort als Priester des Serapis und Philosophielehrer gewirkt habe. Sein Unterricht beschränkte sich hauptsächlich auf Fragen der Logik; er habe es grundsätzlich vermieden, theologische und theurgische Fragen zu erörtern. Wie seine Mutter sei er prophetisch veranlagt gewesen und habe die Zerstörung der Tempel in Alexandrien und Kanopos vorausgesagt, die kurz nach seinem Tod eingetreten sei. Somit würde Antoninus in die auf Jamblich zurückführbare Tradition der Verschmelzung von Philosophie und der religiösen Tradition des Heidentums gehören.175 Ein anderer Neuplatoniker derselben Prägung, der um dieselbe Zeit wie Hypatia in Alexandrien aktiv ist, ist Olympios, der die Verteidigung des Sera-
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ediert und kommentiert worden sein. Schließlich schreiben sie Hypatia auch den Text der in einer arabischen Übersetzung erhaltenen Version der Bücher 4–7 der Arithmetik des Diophantus zu, einer im Vergleich zu dem erhaltenen griechischen Text didaktisch aufbereiteten und erweiterten Version. Wenn diese verlockende Hypothese stimmen sollte, bestätigt sie das Bild von Hypatia als Wissenschaftlerin, das die anderen Quellen entwerfen. Amm. XXII 16, 16–18. Vgl. dazu BERETTA 1993, 26ff. Damaskios, Vita Isidori frg. 43 ATHANASSIADI; vgl. BERETTA 1993, 24, LACOMBRADE 1994, 964. LACOMBRADE 1994, 964. Eunapius, VS VI 9,15–10,10, vgl. dazu ATHANASSIADI 1993a, 13f., DZIELSKA 1998, 80f.
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peions organisiert. Ähnlich wie Antoninus war er aus Kleinasien nach Alexandrien gezogen, um sich dem Dienst des Serapis zu widmen. Damaskios portraitiert ihn als ἱεροδιδάσκαλος, der die traditionellen Riten kennt und lehrt und seine Zuhörer zum Dienst an die alten Götter ermahnt. Unter seiner Führung werden die Christen angegriffen und etliche getötet. Nach der Niederlage flieht er aus der Stadt.176 In der betreffenden Zeit lassen sich also vereinzelte jamblicheische religiös militante Neuplatoniker nachweisen. Es stellt sich die Frage, ob Hypatia mit ihnen in Verbindung stand. CAMERON/LONG, die allerdings Hypatias Geburtsjahr nach 370 ansetzen, schlagen vor, in Antoninus den Lehrer Hypatias zu sehen. Synesios’ Kenntnis der Chaldäischen Orakel, hermetischer Schriften und verschiedener Divinationstechniken lasse sich am wahrscheinlichsten auf Hypatia als Quelle zurückführen, so daß ihr Platonismus durchaus in der jamblicheischen Tradition gesehen werden könne.177 Diese Hypothese, die Hypatia in Verbindung mit der jamblicheischen Tradition bringen würde, ist zwar äußerst verlockend, ist aber aufgrund chronologischer Unbestimmtheiten problematisch. Es ist nicht bekannt, wann sich Antoninus in Alexandrien niedergelassen hat. Auch wenn Synesios’ Interesse an den Chaldäischen Orakeln und den Hermetica von Hypatia geweckt worden sein sollte, so zeigt ein Blick auf Porphyrios, daß dieses durchaus auch mit einer Distanzierung von der jamblicheischen Theurgie einhergehen kann. Von größter Bedeutung ist schließlich auch Hypatias Position im Konflikt um das Serapeion bzw. die Einstellung zum traditionellen Kult, die daraus spricht. Wie DZIELSKA betont, gehört Hypatia nicht zu den militanten Heiden, die mit Antoninus und Olympios den Niedergang und die Zerstörung der alten Kulte beklagen und gegen die Christen zu den Waffen greifen. Sie wahrt in diesem Konflikt eine absolute Neutralität, welche erklärt, daß sie danach unbehelligt und respektiert weiterhin lehren darf. Darin zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zur Ausrichtung der bezeugten jamblicheischen Philosophen, die dezidiert für die alten Kulte Partei ergreifen.178 Dies läßt es weniger wahrscheinlich erscheinen, daß sie bei dem charismatischen Philosophen und Priester Antoninus studiert haben sollte. Es muß also offen bleiben, bei wem Hypatia studiert haben könnte; es wäre durchaus anzunehmen, daß es in Alexandrien Philosophen gab, die den hauptsächlich der jamblicheischen Richtung angehörenden heidnischen Philosophiehistoriker wie Eunapius oder Damaskios nicht der Erwähnung wert erschienen und so keine Spuren in der Geschichte hinterlassen haben. Bleibt ihr Studium im Dunkeln, so ist dennoch ihr Auftreten als neuplatonische Philosophin – und nicht nur als Lehrerin der Wissenschaften – durch Synesios, Sokrates und Damaskios gesichert. Sokrates Scholastikos stellt sie aufgrund ihrer herausragenden Bildung als rechtmäßige Nachfolgerin Plotins dar. 179 Er be176 Damaskios, Vita Isidori frg. 42 ATHANASSIADI; vgl. ATHANASSIADI 1993a, 14f, DZIELSKA 1998, 80–82. 177 CAMERON, LONG 1993, 50–56. 178 DZIELSKA 1998, 79–83. 179 Sokrates VII 15,1:: (...) ἐπὶ τοσοῦτο δὲ προὔβη παιδείας, ὡς ὑπερακοντίσαι τοὺς κατ’ αὐτὴν φιλοσόφους, τὴν δὲ Πλατωνικὴν ἀπὸ Πλωτίνου καταγομένην διατρι‐
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nutzt dabei den Ausdruck διατριβὴν (δια)δέξασθαι, terminus technicus für die Übernahme der offiziellen Nachfolge in einer Philosophenschule.180 Wenn der Ausdruck wörtlich genommen wird, muß die Existenz einer auf Plotin zurückgehenden platonischen Schule in Alexandrien angenommen werden, der Hypatia zeitweise vorstand. Allerdings hat Plotin nie in Alexandrien gelehrt. Eine Möglichkeit wäre, einen partiellen Irrtum des Sokrates anzunehmen und eine tatsächliche öffentliche Lehrtätigkeit Hypatias auf dem städtischen Lehrstuhl für platonische Philosophie vermuten.181 Allerdings ist zu beachten, daß in der Spätantike die διαδοχή weniger eine tatsächliche institutionelle als vielmehr eine geistige Nachfolge bezeichnete.182 Somit ließe sich die Behauptung besser dahingehend interpretieren, daß Sokrates die geistige bzw. philosophische Verwandtschaft zwischen Hypatia und Plotin betonen und Hypatia somit unter den anderen Philosophen ihrer Zeit als die wahre Nachfolgerin Plotins auszeichnen möchte. Dies wird durch den unmittelbaren Kontext gestützt: Hypatia tritt die Nachfolge Plotins an, weil sie alle Philosophen ihrer Zeit bei weitem übertrifft.183 Es ist also wahrscheinlicher, daß Hypatia ähnlich wie viele Neuplatoniker ihrer Zeit, wie Aidesios, Maximus oder Sosipatra um sich einen Kreis von Schülern sammelte, der durch persönliche Beziehungen und nicht so sehr durch institutionelle Kontinuität strukturiert war.184 Als Inhalt ihres Unterrichts nennt Damaskios die Kommentierung von Aristoteles, Platon und allen anderen Philosophen.185 Allerdings lokalisiert er ihr Wirken überraschenderweise in der Öffentlichkeit: In einen Philosophenmantel gehüllt und mitten durch die Stadt ziehend erläuterte die Frau öffentlich jedem, der zuhören wollte, entweder Platon oder Aristoteles oder die Lehren jedes anderen Philosophen.186
Dieses Bild, das eher an eine kynische Popularphilosophin denken läßt, entspricht nicht der Vorstellung einer neuplatonischen Philosophin, von der man eher eine nicht zuletzt durch die Schwierigkeit ihrer Gegenstände bedingte vornehme Zu-
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βὴν διαδέξασθαι καὶ πάντα τὰ φιλόσοφα μαθήματα τοῖς βουλομένοις ἐκτίθε‐ σθαι. διὸ καὶ οἱ πανταχόθεν φιλοσοφεῖν βουλόμενοι συνέτρεχον παρ’ αὐτήν. Sokrates bedient sich einer geläufiger Floskel von Philosophenviten, vgl. z. B. Eunapius’ Beschreibungen der Lehrtätigkeit von Jamblich VS V 1,4. Vgl. Eunapius, VS VI 1,1 (zu Aidesios); vgl. BERETTA 1993, 115f. So PRAECHTER 1914, 245, LACOMBRADE 1994, 958 (vorsichtig hypothetisch formulierend). Vgl. dazu FOWDEN 1979, 80f, EVRARD 1977, 73f. Vgl. BERETTA 1993, 74–77, die darauf hinweist, daß im 5. Jahrhundert auch eine andere, rivalisierende Version im Umlauf war, von Hierokles zuerst vertreten und dann von Proklos weitergeführt, welche die athenische Schule über Porphyrios und Jamblich als wahre Erbin Plotins darstellen wollte. Dies beweist, daß das Konzept der diadoche ein Instrument der Legitimierung der eigenen Schultradition sowie Polemik gegen abweichende Traditionen darstellen konnte und nicht so sehr an einer tatsächlichen institutionellen Kontinuität interessiert war. Vgl. FOWDEN 1979, 161f, DZIELSKA 1998, 56. Damaskios, Vita Isidori frg.43A ATHANASSIADI. Damaskios, Vita Isidori frg. 43A ATHANASSIADI: περιβαλλομένη δὲ τρίβωνα ἡ γυνὴ καὶ διὰ μέσου τοῦ ἄστεως ποιουμένη τὰς προόδους ἐξηγεῖτο δημοσίᾳ τοῖς ἀκροᾶ‐ σθαι βουλομένοις ἢ τὸν Πλάτωνα ἢ τὸν Ἀριστοτέλην ἢ τὰ ἄλλου ὅτου δὴ τῶν φιλοσόφων.
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rückgezogenheit erwartet. Der Hinweis auf den τρίβων könnte als Anspielung auf den rauhen, vor allem von Kynikern getragenen Mantel gelesen werden. Der Fortgang der Schilderung schlägt in dieselbe Kerbe: als Beispiel für Hypatias Vollkommenheit in der πρακτικὴ ἀρετή wird beschrieben, wie sie einen in sie verliebten Schüler von seiner Leidenschaft heilt, indem sie ihm eine gebrauchte Monatsbinde vorhält. Damaskios betont, daß dies der tatsächliche Hergang sei, obwohl andere Stimmen die Heilung auf den Einsatz von Musik zurückführen wollten. Auch die Betonung der praktischen Tugend, die auf der Ebene der πολι‐ τικὴ ἀρετή anzusiedeln ist, die in den verschiedensten neuplatonischen Systematisierungen der Tugendgrade einen niedrigen Rang einnimmt,187 erinnert an die Kyniker und könnte zugleich implizieren, daß Hypatia auf dieser Stufe haltgemacht habe.188 Die geschilderte Geste trägt alle Anzeichen der skandalisierenden kynischen παρρησία. In der Forschung ist aufgrund dieser Stelle wiederholt die Meinung vertreten worden, Hypatia sei tatsächlich neben ihren platonischen Lehrinhalten auch als Kynikerin anzusehen.189 Allerdings widerspricht diese Vorstellung den Informationen, die wir aus Synesios’ Werk entnehmen können. Dort wird Hypatia als rechtmäßige Führerin in die Mysterien der Philosophie gesehen,190 die nur auf dem Weg der paideia zu erreichen sind.191 Synesios betont in Briefen an seine Studienfreunde, wie wichtig die Geheimhaltung philosophischer Geheimnisse vor der ungebildeten und ignoranten Masse sei.192 Der Kreis seiner Kommilitonen, die aus seiner Korrespondenz herausgearbeitet werden können, besteht ausschließlich aus Aristokraten, die später wichtige Positionen in der kirchlichen oder politischen Hierarchie besetzen und einen ausgeprägten Sinn für Elite haben.193 Demnach kann Hypatias eigentlicher Philosophieunterricht nicht 187 Vgl. dazu SAFFREY, SEGONDS 2001, in der Einleitung ihrer Ausgabe von Marinus’ Vita Procli, LXIX–XCVIII, bes. LXXXII. 188 Anders wird seine Intention von BERETTA 1993 interpretiert, die annimmt, daß Damaskios mit seiner Philosophiegeschichte eine Reform der athenischen Schule anvisiere, die sich zu einem theurgischen, esoterischen und stark apolitischen Zirkel entwickelt hätte. Um dem entgegenzuwirken greife er auf die alexandrinische philosophische Tradition zurück (25f.). Gerade das praktische und politische Wirken der Hypatia sei für ihn ein Zeichen nachahmenswerter, wahrer philosophischer Haltung (77–82). Nur durch die praktische bzw. politische Tugend könne man zur wahren Philosophie, nach dem Vorbild des Sokrates, gelangen (80). 189 LACOMBRADE 1951b, 44–46 und 2001, 413. Dabei betont er, daß der Kynismus in jener Zeit nicht zuletzt durch Julian reformiert worden wäre und sich als respektable Schule präsentierte (2001, 413). Es stellt sich die Frage, ob damit nicht zwei verschiedene Dinge ineinanderfließen: zum einen die tatsächlich existierenden Kyniker, zum anderen die Übernahme und Uminterpretation der kynischen Tradition durch den Neuplatonismus, wie sie gerade bei Julian deutlich hervortritt. LACOMBRADES Position findet sich auch bei EVRARD 1977, 71–74. 190 Ep. 137. 191 Ep. 143. 192 Ep. 137, 143. Vgl. DZIELSKA 1998, 59f. 193 Vgl. die Analyse bei DZIELSKA 1998, 27–65. Dagegen BERETTA 1993, 131, die Sokrates’ Behauptung anführt, daß Hypatia πάντα τὰ φιλόσοφα μαθήματα τοῖς βουλομένοις ἐκτί‐ θεσθαι. διὸ καὶ οἱ πανταχόθεν φιλοσοφεῖν βουλόμενοι συνέτρεχον παρ’ αὐτήν. Hypatia habe bereitwillig jeden unterrichtet, „senza distinzioni di ceto, razza, religione e tantomeno sesso.“ Sie bringt diesen Passus in Verbindung mit der Notiz des Damaskios und tendiert dazu, die Grenze zwischen dem philosophischen Unterricht für den engeren Schülerkreis
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nach kynischer Manier auf der Straße stattgefunden haben. Die polemische Note in Damaskios’ Darstellung der Hypatia als bloße Mathematikerin war schon oben gestreift worden.194 Wahrscheinlich ist auch diese Notiz als polemisch einzustufen.195 Aus Damaskios’ Karikatur könnte man jedoch als wahren Kern, der die Polemik erst wirksam werden ließ, die Information isolieren, daß Hypatia tatsächlich öffentliche Vorträge hielt, die allerdings von ihrem eigentlichen philosophischen Unterricht zu trennen wären.196 Die Episode mit ihrem Schüler ist verschiedentlich interpretiert worden. CAMERON/LONG weisen darauf hin, daß die andere Version, die der Musik die entscheidende Rolle zuschreibt, durch die Chronik des Johannes von Nikiu bestätigt würde, der behauptet, daß Hypatia sich viel mit Musik beschäftigt habe. Diese Variante würde Hypatia als Platonikerin auch viel besser entsprechen.197 Demgegenüber hält DZIELSKA an der Version des Damaskios fest und sieht in der Geste einen Ausdruck der platonischen Leibfeindlichkeit.198 Diese Unsicherheit der Quellen und die vielfältigen Möglichkeiten der Interpretation zeigen, daß die Geste nicht ohne weiteres als Beweis für den Kynismus der Hypatia herangezogen werden kann. Allerdings muß beachten werden, daß auf der Ebene der Ethik und des Verhaltens durchaus Interferenzen zwischen einem – idealisierten – Kynismus und dem Neuplatonismus zu finden sind. Ein wichtiges Zeugnis dafür wären die oben untersuchten Reden Julians, in denen er den Kynismus mit der paideia versöhnt und dadurch sozusagen gezähmt seinen Ehrenplatz innerhalb der antiken Philosophie behaupten kann.199. Ein Brief an Maximus belegt ebenfalls diese Interferenzen: Julian berichtet, daß er einen Kyniker, der sich von weitem näherte, zunächst für Maximus gehalten habe – ein Zeichen dafür, daß der rauhe Mantel der Kyniker durchaus auch im neuplatonischen Lager Einzug gehalten hatte.200 Ende des 5. Jahrhunderts wird der athenische Scholarch Proklos den kynischen Mantel zur „Uniform“ der Neuplatoniker erheben wollen und auf den Protest des späteren Diadochen Isidoros stoßen.201 Hypatias Verhalten – nicht zu verwechseln mit dem Inhalt ihrer Philosophie202 – könnte also durchaus Züge getragen haben, die rein theoretisch als kynisch zu klassifizieren wären, aber zu jener Zeit schon lange in den Neuplatonismus integriert worden
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und den öffentlichen Vorträgen zu verwischen. Allerdings kann sie für diese Interpretation keine schlagenden Quellenstellen anführen, so daß DZIELSKA der Vorzug zu geben ist. Ihr Hinweis, daß die Formulierung des Sokrates Parallelen in den Viten Plotins und Jamblichs habe, ist richtig, aber gerade ein Vergleich mit den Schülerkreisen jener Philosophen zeigt, daß hiermit nicht jeder beliebige Philosophiebegeisterte, sondern nur jeder Philosophiebegeisterte einer ganz bestimmten Schicht, nämlich der sozialen und vor allem kulturellen Elite gemeint war. Vita Isidori frg. 106 A ATHANASSIADI. CAMERON, LONG 1993, 56–58. DZIELSKA 1998, 57. BERETTA 1993, 133. CAMRON, LONG 1993, 43. DZIELSKA 1998, 50f. Zum Vergleich Hypatias mit Julian, der die „stoisch-kynische Askese“ in seine Philosophie integriert hatte vgl. LACOMBRADE 1994, 963. Julian, ep. 26. Damaskios, Vita Isidori, frg. 59B ATHANASSIADI. Wie richtig CAMERON, LONG 1993, 43 betonen.
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waren. Es wäre also zwischen den tatsächlich noch existierenden Kynikern203 und den asketischen Neuplatonikern zu unterscheiden, denen Hypatia zuzuordnen wäre. Im Hinblick auf Synesios’ geistige Entwicklung ist Hypatias Position zum Christentum wichtig. Wie schon oben erwähnt, hält sie sich 391 völlig zurück. Dies könnte lediglich eine Taktik des Überlebens angesichts der Übermacht des Theophilos sein oder aber ein Indiz für ihre Indifferenz gegenüber den alten Kulten und ein Zeichen religiöser Neutralität.204 Letzteres wird damit plausibel gemacht, daß sich in ihrem aus der Korrespondenz des Synesios rekonstruierten engeren Schülerkreis etliche Christen finden lassen. Sogar ein Diakon gehört dazu, den Synesios respektvoll grüßen läßt,205 und zwei ihrer Schüler, Synesios und Kyros, der Bruder von Synesios’ Kommilitonen Herkulianos, empfangen später die Bischofsweihe. Wichtig ist, daß diese Schüler den inneren, „esoterischen“ Kreis um Hypatia und nicht lediglich das weitere Publikum der öffentlichen Vorträge bilden.206 Dies deutet darauf hin, daß die formale religiöse Affiliation für Hypatia keine Rolle spielte. Diese religiöse Neutralität trägt wahrscheinlich auch zur Erklärung des besonderen Einflusses bei, der ihr von Sokrates und Damaskios einhellig bescheinigt wird. Beide betonen ihre engen Beziehungen zu den politischen Persönlichkeiten (ἄρχοντες) Alexandriens;207 insbesondere wird ihr enger Kontakt zum praefectus augustalis Orestes hervorgehoben.208 Ihre Beliebtheit und ihr politischer Einfluß hätten ihr den Neid und den Haß Kyrills eingetragen, der hinter ihrer Ermordung stehe. Der Hergang des Konfliktes und die Frage nach den Urhebern ist hier nicht von Interesse. Festzuhalten ist, daß Hypatia als wichtige Figur der alexandrinischen kulturellen und politischen Elite erscheint. Schon die Zusammensetzung ihres Schülerkreises beweist dies. Junge Aristokraten aus den verschiedensten Provinzen, die später wichtige Reichs- oder Kirchenämter bekleiden, werden von ihrem Unterricht nach Alexandrien angezogen – Synesios aus Libyen, Herkulianos aus einer nicht benannten Gegend – vielleicht der Panopolis –, Olympios aus Syrien.209 Dies verschafft ihr besonderes soziales Prestige. Anders als ihre neuplatonischen Kollegen Antoninus oder Olympios begibt sie sich auch in die immer christlicher geprägte Öffentlichkeit und gewinnt hohen Einfluß bei den politischen Schlüsselfiguren, so daß ein Antrittsbesuch bei ihr für alle neuen Amtsinhaber zum Pflichtprogramm wird. Ihre Rolle als Frau verschließt ihr zwar a priori die politische Betätigung; ihr steht jedoch aufgrund ihrer paideia und den dadurch geschlossenen Verbindungen die Rolle einer objektiven philosophischen Beraterin offen. Ihren Einfluß bei den ἄρχοντες belegt ein Brief des Synesios, in dem er sie bittet, sich für zwei junge Männer einzusetzen. Es han203 Die Lebendigkeit der kynischen Lebensform wird noch für das späte 5. und frühe 6. Jh. n. Chr. von Damaskios bezeugt (Vita Isidori frg. 66 A–B ATHANASSIADI). 204 So DZIELSKA 1993, 83: „she felt no attraction to Greek polytheism or the local cults“. 205 Synesios, ep. 144. 206 Vgl. DZIELSKAS Analyse dieses Schülerkreises (1998, 27–46). 207 Sokrates VII 15, 2–4 und Damaskios, Vita Isidori frg. 43 E ATHANASSIADI. 208 Sokrates VII 15, 4. 209 Vgl. DZIELSKA 1998, 27–44, zu den dreien 27–34.
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delt sich um ep. 81, der im Zusammenhang mit dem vorangehenden Brief 80 zu stehen scheint. Beide Briefe stammen aus der Bischofszeit des Synesios. Der Brief 80 ist eine Antwort auf einen Brief des Theophilos von Alexandrien, mit welchem sich dieser u. a. bei Synesios für einen jungen Mann namens Nikaios eingesetzt hatte, dem seine Erbschaft streitig gemacht wurde.210 Im Brief 81 bittet Synesios Hypatia um ihre Hilfe für Nikaios und einen gewissen Philolaos. Er selbst habe seinen ehemals bedeutenden Einfluß verloren und könne sich nicht mehr wirksam für sie verwenden.211 Wenn man diesen Brief im Zusammenhang mit ep. 80 liest, ergibt sich folgende Struktur: Theophilos bittet Synesios um Hilfe für Nikaios, und dieser erachtet es für das Beste, Hypatia einzuschalten. Ob dies von Theophilos vorgesehen war, kann nicht bestimmt werden; er wußte jedoch zumindest sehr wohl um Synesios’ Verbindung zu Hypatia. Somit ergibt sich, daß in manchen Fällen Hypatias Einfluß fast sicherer und wirksamer als der von Theophilos war. Dies deckt sich mit der Darstellung von Sokrates und Damaskios.212 Ihr Einfluß könnte sich nicht zuletzt der Machtkonstellation in Alexandrien verdanken. Diese Zeit ist durch das Ringen zwischen politischen und kirchlichen Kreisen um Macht gekennzeichnet; Theophilos und sein Nachfolger Kyrill sind stets bestrebt, Einfluß und Macht der Kirche auf Kosten der weltlichen politischen Gremien, insbesondere der Reichsverwaltung, zu erweitern. Der Konflikt zwischen Kyrill und dem praefectus augustalis Orestes ist der offene Ausbruch und Höhepunkt dieses Konfliktes.213 In dieser Situation konnte Hypatia, die in religiösen Fragen auf Neutralität setzte und durch ihren Unterricht mit verschiedenen einflußreichen Personen verbunden war, zu einem Referenzpunkt der politischen Elite werden, die ein Pendant bzw. Gegengewicht zu Theophilos wünschte. Synesios’ Lehrerin vertritt somit einen Neuplatonismus, der sich durch die Einbeziehung der exakten Wissenschaften, insbesondere der Mathematik und Astronomie, auszeichnet. Der Unterricht umfaßt neben den Klassikern der Philosophie auch esoterische Schriften, die in neuplatonischen Kreisen kursierten.214 Ihr Vater hatte sich neben seinen wissenschaftlichen Forschungen mit Divination und religiösen Überlieferungen beschäftigt – ihm werden Kommentare zu Orpheus und den hermetischen Schriften sowie ein Traktat über die Vogelmantik zu-
210 DZIELSKA 1998, 41 liest m. E. den Brief falsch, wenn sie behauptet, daß sich darin Synesios bei Theophilos für Nikaios einsetzt. 211 Ep. 81, GARZYA/ROQUES 207f: Νυνὶ δὲ ἁπάντων ἔρημος ὑπολείπομαι πλὴν εἴ τι σὺ δύνῃ· καὶ γὰρ δὴ καὶ σὲ μετὰ τῆς ἀρετῆς ἀγαθὸν ἄσυλον ἀριθμῶ. Σῦ μὲν οὖν ἀεὶ καὶ δύνῃ καὶ δύναιο κάλλιστα χρωμένη τῷ δύνασθαι, Νικαίος δὲ καὶ Φιλόλαος οἱ καλοὶ κἀγαθοὶ νεανίαι καὶ συγγενεῖς ὅπως ἐπανέλθοιεν τῶν ἰδίων γενόμενοι κύ‐ ριοι πᾶσι μελέτω τοῖς τὰ σὰ τιμῶσι καὶ ἰδιώταις καὶ ἄρχουσιν. 212 DZIELSKA 1998, 41 kommt aufgrund der falschen Interpretation von ep. 80 zu folgender Behauptung: „Apparently, the chief representative of Greek culture in the city and the head of the church enjoyed similar influence and operated in the same spheres. In social prestige there was no significant difference between the patriarch and the woman teacher of philosophy”. Diese Behauptung müßte mehr zugunsten Hypatias nuanciert werden. 213 Vgl. dazu BERETTA 1993, 18ff., LACOMBRADE 2001, 411. 214 LACOMBRADE 2001, 420.
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geschrieben.215 Diese Interessen könnten bei Hypatia weitergeführt worden sein;216 zumindest spielten die Chaldäischen Orakel im Unterricht eine Rolle, wie ihre Präsenz bei Synesios zeigt. Jedoch impliziert ihre literarische und philosophische Präsenz nicht die Parteinahme für den heidnischen Kult, dem Hypatia vielmehr gleichgültig gegenübersteht. Dennoch bleibt die Philosophie für sie mehr als ein bloßes Bildungsgut; sie impliziert eine asketische Lebensweise, die sich z. B. im Tragen des Philosophenmantels ausdrückt. Schließlich bedeutet die Philosophie nicht einen absoluten Rückzug aus dem öffentlichen Leben zugunsten einer rein kontemplativen Lebensweise, wofür sie als Frau auch prädestiniert gewesen wäre;217 im Gegenteil eröffnet ihr die Philosophie den Weg zu einem eigenen bedeutenden Platz im öffentlichen Leben Alexandriens und seiner Politik. Sie ist in das dortige Patronatssystem integriert und besitzt Einfluß bei den Amtsinhabern wie bei mächtigen Privatpersonen, den sie gegebenenfalls auf Anfrage geltend machen kann. Ihr Einfluß ist dem des Theophilos vergleichbar, in Einzelfällen weitreichender. 4.3.2. Die Herkulianosbriefe 4.3.2.1. Datierung Synesios’ Begegnung mit der Philosophie spiegelt sich im Briefwechsel mit seinem Studienfreund Herkulianos, der zumindest teilweise in die Zeit unmittelbar nach seiner Rückkehr vom Studium nach Kyrene zu datieren ist. Dieser Briefwechsel ist innerhalb der synesianischen Korrespondenz in allen Handschriften als ein geschlossenes Ganzes überliefert (ep. 137–146). Seine Datierung war in der frühen Synesiosforschung umstritten.218 Der Lösungsvorschlag von HERMELIN, die die Briefe ganz in die Zeit zwischen dem Studium und der Konstantinopelreise datierte,219 fand zunächst Anerkennung; ihr folgte die einflußreiche Biographie von LACOMBRADE, die HERMELINS Position durch weitere Argumente ausbaute.220 Die neuere Forschung folgt teilweise LA221 COMBRADE, teilweise werden aber auch abweichende Datierungen vorgeschlagen, oder es wird eine vorsichtigere Linie vertreten. ROQUES datiert ep. 140 in das
215 CAMERON, LONG 1993, 52. 216 CAMERON, LONG 1993, 55. 217 Es ist erhellend, die Karriere der Hypatia mit der Darstellung der Philosophin und Theurgin Sosipatra bei Eunapius, VS VI 9, 1–15 zu vergleichen. Sosipatra, eine Meisterin des θειασ‐ μός, philosophiert gottbegeistert in ihrem Hause, das jedem Studenten offen steht, prophezeit oder tauscht sich mit anderen Philosophen wie Maximus von Ephesus über theurgische Riten aus. Von einem öffentlichen Wirken oder wenigstens Auftreten ist nicht die Rede; sie lebt ganz dem Kontakt mit dem Göttlichen. 218 Die früheren Positionen werden bei HERMELIN 1934, 19 dargestellt. 219 Ebd. 19–25. 220 LACOMBRADE 1952b, 52ff. 221 So etwa BREGMAN 1982, 25 und BERETTA 1993, 62.
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Jahr 403.222 GARZYA läßt die Datierung von ep. 142, 144 und 146 bewußt offen und beschränkt sich auf die Aussage, daß ep. 144 nach ep. 146 geschrieben sein müßte.223 SCHMITT stellt die bisherigen Datierungsvarianten in Frage, indem er einen Teil des Briefwechsels, die Briefe 137–140, zwar noch in Synesios’ Frühzeit datiert,224 die Briefe 141–146 jedoch in die Zeit nach Synesios’ Konstantinopelaufenthalt, ca. 408–410.225 Dies entspricht seiner These, daß Synesios erst nach der Gesandtschaft, ca. 405, eine radikale Bekehrung zur Philosophie erlebt habe, die ihn zum Rückzug aus der Reichspolitik geführt habe. Da in einigen Briefen an Herkulianos (ep. 144 und 146) Synesios mit Berufung auf die Philosophie eine politische Karriere ablehnt, würde eine Frühdatierung dieser Briefe seine These in Frage stellen. Seine Argumentation basiert auf einer an STRAUSS226 orientierten Hermeneutik, dessen Prinzipien er auf die gesamte antike Literatur ausweitet. So geht er davon aus, daß das Werk und die Briefe des Synesios zumindest partiell als „Niederschlag verhüllter Kommunikation“ anzusehen seien.227 Der Interpret müsse somit versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen und eventuelle hintergründige Aussagen durch die Kontextualisierung der vordergründigen Aussagen herauszuarbeiten.228 Diese Herangehensweise, die für die Texte, welche STRAUSS im Auge hatte – Texte, die in einer tatsächlich gegebenen Unterdrückungssituation geschrieben sind – absolut notwendig ist, birgt die Gefahr einer petitio principii des Vorhandenseins eines von der äußeren Textebene verschiedenen eigentlichen Sinnes sowie einer spekulativen Rekonstruktion desselben, wenn sie zum allgemeinen Interpretationsprinzip für alle Texte der Spätantike erhoben wird, ohne im Vorfeld zu klären, ob für den betreffenden Autor in seinem konkreten Kontext tatsächlich eine solche Einschränkung der freien Meinungsäußerung besteht.229 Während sich z. B. für Julian eine solche heikle Lage bis zum Tod des Konstantius durchaus eine Phase der Bedrohung festhalten läßt, gibt es keine Hinweise, daß Synesios unter solchen Problemen zu leiden hatte. Von einem Klima der Verfolgung und Zensur unter Theophilos von Alexandrien kann nicht ohne weiteres pauschal gesprochen werden;230 genausowenig ist Synesios Vorsicht gegenüber dem
222 223 224 225 226
227 228 229 230
ROQUES, Anm. 1 zu ep. 140 in GARZYA, ROQUES 2000, 404. GARZYA 1999, 343, 348f und 352f. T. SCHMITT 2001, 514–518. T. SCHMITT 2001, 549. STRAUSS 1973, 22–37 entfaltet eine Hermeneutik für Texte, die in Situationen der Verfolgung und geistigen Unterdrückung entstanden sind. „Persecution, then, gives rise to a peculiar technique of writing, and therewith to a peculiar type of literature, in which the truth about all crucial things is presented exclusively between the lines” (25). Um dieses Axiom für die historische Textinterpretation nützlich zu machen, legt er klare Regeln fest, wann und wie zwischen den Zeilen zu lesen sei (30). T. SCHMITT 2001, 64. T. SCHMITT, ebd 65. Eine solche Situation wäre z. B. für Julian bis zu seiner Erklärung zum Kaiser gegeben; nichts spricht dafür, daß Synesios in einer ähnlichen Lage gewesen wäre. Ein solches Klima postuliert HARICH-SCHWARZBAUER 2001, 116f und 2002, 103, ohne diese Ansicht zu begründen.
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kaiserlichen Hof zu unterstellen.231 Bei aller Härte des Theophilos im origenistischen Streit und der Zerstörung des Serapeions muß beachtet werden, daß unter seinem Regiment Hypatias floruit fällt, deren Rolle im intellektuellen und auch im öffentlichen Leben Alexandriens oben besprochen worden ist. Synesios selbst verspürt keine Notwendigkeit, sich etwa von der heidnischen Philosophin vorsichtig zu distanzieren. Er benutzt verbotene Schriften wie die Chaldäischen Orakel und scheut sich nicht einmal davor, offen im Traktat über die Träume von dem „hämischen Staat“, der βάσκανος πολιτεία, zu sprechen.232 Von einer Strausschen Unterdrückungssituation kann somit bei ihm nicht gesprochen werden. Davon sind auch seine expliziten Äußerungen zu unterscheiden, die von den Geheimnissen der Philosophie handeln, welche der Masse verborgen bleiben müssen und nur wenigen Eingeweihten mitgeteilt werden dürfen. Dies entspringt nicht der Vorsicht oder der Angst, sondern reiht sich in die seit Pythagoras greifbare Überhöhung und Elitisierung der Philosophie, die in der pythagoreischen und platonischen Tradition zu einem exklusiven Besitz weniger Ausgewählter wird.233 Wenn Synesios dieser Tradition gemäß doppelbödig schreibt, um in verschlüsselter Form philosophische Lehren zu diskutieren, so sagt er das auch explizit, wie z. B. im Traktat über die Träume.234 Angesichts dieser Lage ist eine Position, die a priori überall einen verfolgungsbedingten verschlüsselten Subtext vermutet, nicht tragbar. Die Probleme dieser Interpretationsmethode zeigen sich in SCHMITTS Interpretation der Herkulianosbriefe, deren Kontext und chronologische Abfolge er oft spekulativ rekonstruiert.235 Für dieses Kapitel wären neben den Briefen 137–140 zusätzlich noch die Briefe 142 und 143 sowie 144 und 146 von Interesse.236 Die ersten beiden behan231 T. SCHMITT 2001, z. B. 117ff, paradoxerweise nachdem er selbst gezeigt hat, wie offen Synesios im Traumbuch mit dem Staat und seiner Gesetzgebung abrechnet. 232 De insomniis 12. 233 Zur identitätsstiftenden Bedeutung des gemeinsamen Geheimnisses siehe BURKERT 1995, bes. 88ff. 234 De insomniis, Proömium, mit ep. 154. 235 Zur Kritik an SCHMITTS Ansatz siehe auch SENG 2003. 236 Der Brief 145 bittet Herkulianos um Hilfe beim Einfangen eines entlaufenen Sklaven, der der Nichte des Synesios gehörte. T. SCHMITTS Hinweis, daß seine Nichte anstandshalber sich nur dann in Synesios’ Haus hätte aufhalten können, wenn dieser verheiratet gewesen wäre, erscheint plausibel, somit auch die Datierung in die Zeit nach 404 (2001, 541f). Seine Behauptung, daß „in ep. 145 kunstvoll ein Subtext verwoben ist, durch den Synesios in einer Entscheidungssituation seine grundsätzliche Einstellung zum philosophischen Lebenswandel darlegt und seinen Freund Herkulianos – und über ihn selbstverständlich auch die übrigen Zuhörer aus dem Hypatia-Kreis – um Rat bittet“ (2001, 542), die auf seine Interpretation der Stelle in T. SCHMITT 1998, 219–227 Bezug nimmt, überzeugt jedoch nicht; Synesios behauptet lediglich, daß er den faulen und frechen Sklaven gerne losgeworden wäre, daß seine Nichte jedoch noch nicht wirklich so tief von den Vorzügen der philosophischen Lebensweise überzeugt sei, daß sie das Unbeständige verachten würde, und daher den Sklaven unbedingt zurückhaben möchte. Dies läßt zwar die Einstellung des Synesios durchblicken – oder zumindest seine Aneignung dieses philosophischen Topos –, mehr aber auch nicht. Im Mittelpunkt steht die Angelegenheit mit dem Sklaven. Der Brief ist daher für die Analyse des Philosophieverständnisses des Synesios nicht sonderlich ergiebig.
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deln das Thema der philosophischen Arkandisziplin, während die letzten für die Frage nach Philosophie und Politik von Bedeutung sind. Die Fragen der Datierung dieser Briefe müssen daher vor der inhaltlichen Analyse noch kurz beleuchtet werden. Der Brief 143 hängt mit dem Brief 141 zusammen, in welchem Synesios von seinem Freund die Abschrift eines eigenen Werkes in Jamben erbittet, das als Inhalt ein Zwiegespräch des Dichters mit der Seele habe. In ep. 143 bestätigt Synesios den Erhalt dieser Abschrift. Am Schluß des Konvolutes befänden sich zwölf Verse, die zu einem einzigen Epigramm zusammengefaßt sind. Synesios macht seinen Freund darauf aufmerksam, daß er nur die ersten acht verfaßt habe, während die letzten vier von einem älteren Autor stammen sollten. SCHMITT schlägt in Anlehnung an ältere Forschungspositionen vor, das in ep. 141 erwähnte lyrische Zwiegespräch des Dichters mit der Seele, von Synesios als τὸ ἐν ἰάμβοις ἐκεῖνο τὸ συνταγμάτιον, τετράς oder βιβλίον bezeichnet, mit dem ersten Hymnus zu identifizieren, der mit einer Anrede an die Seele beginnt und von beträchtlicher Länge ist. Da dieser Hymnus eindeutig nach der Konstantinopelreise verfaßt wurde, müßten die beiden Briefe in die Zeit nach Synesios’ Rückkehr datiert werden. Allerdings spricht dagegen, daß der Hymnus in anapästischen Monometern verfaßt ist. Deshalb entscheiden sich ROQUES und GARZYA gegen die Identifizierung.237 Es wäre tatsächlich befremdlich, wenn sich ein derart gewandter Stilist wie Synesios so ungenau ausdrücken würde. Dagegen weist SCHMITT nach LACOMBRADE auf einen Präzedenzfall bei Athenaios hin, der einen anapästischen Tetrameter als ἰαμβεῖον bezeichnet.238 Dies läßt eine ähnliche Situation für Synesios zwar möglich, aber nicht als bewiesen erscheinen. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Erwähnung der zwölf Verse im Brief 143, die sich mit denen identifizieren lassen, die Synesios an dem Astrolabium hatte anbringen lassen, welches er als Geschenk für Paionios, einem sonst unbekannten Amtsträger bei Hofe, hatte anfertigen lassen. Diese Verse werden in der Begleitschrift zum Astrolabium, De dono, zitiert und kurz erläutert. Dies könnte in der Tat für eine Datierung des Briefes nach der Gesandtschaft sprechen;239 jedoch wäre es denkbar, daß Synesios die Epigramme schon vorher privat im engsten Freundeskreis in Alexandrien hatte kursieren lassen. Davon scheint GARZYA auszugehen, der die Verse zwar mit denen aus De dono identifiziert, den Brief aber trotzdem noch in die Frühzeit vor der Gesandtschaft datiert.240 Es gibt also keinen eindeutigen Beweis dafür, daß die Briefe entweder vor oder nach der Gesandtschaft verfaßt wären. Der Brief 142 enthält in sich keine genauen Angaben über die Chronologie. Synesios reagiert auf einen Brief des Herkulianos, in dem dieser anscheinend ihn
237 GARZYA 1999, 342, Anm. 2, ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 406, Anm 4 zum Brief 143. Es ist zu bemerken, daß auch der Anfang des IX. Hymnus (Verse 1–9) die Existenz anderer verlorener Gedichte von Synesios zu implizieren scheint. 238 T. SCHMITT 2001, 502; LACOMBRADE 1978, 15 mit Anm 5. 239 T. SCHMITT 2001, 503–505. 240 GARZYA 1999, 345 und 349 (Anm. 8).
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mit Proteus und sich mit Odysseus vergleicht.241 Mit ausgesucht höflichen Bescheidenheitsfloskeln bestreitet Synesios jegliche Ähnlichkeit mit den Heroen. Zwar strebe er danach, die Verschwiegenheit des Proteus zu imitieren, aber auch diese habe ihm Herkulianos, einem Menelaos gleich, zunichte gemacht. Dies muß nicht darauf anspielen, daß Synesios entgegen seiner Gepflogenheit philosophische Themen indiskreterweise in einem Brief diskutiert hatte,242 sondern ist vielmehr mit dem Brief 137 zu verbinden, dem ersten Brief zwischen den beiden, in welchem Synesios seine Begegnung mit Herkulianos Revue passieren läßt und betont, daß ihre Freundschaft so schnell gewachsen sei, daß er die proteische Kunst vergessen und ihm gegenüber bald nach ihrer Bekanntschaft schon die Mysterien der Philosophie aufgedeckt habe.243 SCHMITT identifiziert diesen Brief mit demjenigen, der in ep. 141 genannt wird:244 Μὴ θαυμάσῃς, εἰ διακομιστῇ δυοῖν ἐπιστολῶν ἑνὶ χρῶμαι, ἀλλὰ πρῶτον μὲν αἰσθάνου δίκας ὑπέχων ἐγκλήματος ἀκαίρου καὶ ἐμφοροῦ τῆς ἀδολεσχίας ἡμῶν, εἶτα καὶ χρείαν ἑτέραν ἐθέλω μοι πληρῶσαι τὰ δευτέρα γράμματα. Wundere Dich nicht, wenn ich einen einzigen Überbringer für zwei Briefe einsetze, sondern bemerke zunächst, daß Du die Strafe für den unpassenden Vorwurf erleidest, und sättige Dich bis zum Überdruß an unserer Geschwätzigkeit; sodann möchte ich auch, daß mir der zweite Brief einen anderen Dienst erfüllt.
Mit diesem postulierten Zusammenhang zwischen den Briefen 141 und 142 fiele auch der Brief 142 nach SCHMITTS Datierung in die Zeit nach der Gesandtschaft. Um diesen Zusammenhang zu untermauern, liest SCHMITT anstatt des in anderen Editionen und den anderen Übersetzungen eingebürgerten ἐμφοροῦ Imperativ von ἐμφορέομαι, das für das klassische Griechisch im Sinne von „sich mit etwas anfüllen, sich übersättigen“ gut belegt ist,245 ἐμφόρου als Genitiv des in der attischen Literatursprache nicht belegten, wohl aber in Papyri und Predigten auftretenden Adjektivs ἔμφορος (nach der Auskunft des LSJ „productive, profitable, paying rent, one who satisfies“)246. Er bezieht dies auf das vorangegangene ἔγ‐ κλημα und liest damit heraus, daß Herkulianos gegen Synesios in einem Brief ein ἔγκλημα ἔμφορον ἀδολεσχίας erhebe. Dies setzt er in Beziehung zu dem schon erwähnten Passus in Brief 142, in dem Synesios Herkulianos vorwirft, er habe ihm als Menelaos die proteische Kunst der Verschwiegenheit zunichte ge241 Ob dies tatsächlich die „‚Ordensnamen‘ der beiden im Hypatia-Kreis waren, wie T. SCHMITT, 2001, 510 aus dem Vergleich mit anderen Stellen der Korrespondenz erschließt, ist aufgrund der spärlichen Belege nicht zu beweisen. Synesios vergleicht sich zwar gern mit Proteus, da er philosophische Einsichten gegenüber Nichtphilosophen stets verhüllt darstellt (vgl. ep. 137; im Dion 5 stellt er Proteus als Vorbild für den Umgang des Philosophen mit der Menge dar). Diese Belege beweisen nicht, daß Synesios im Kreis der Hypatia als Proteus bzw. Herkulianos als Odysseus bezeichnet wurde. 242 T. SCHMITT 2001, 510f. 243 Ep. 137, GARZYA/ROQUES 332. 244 T. SCHMITT 2001, 511. 245 LIDDELL, SCOTT, JONES 550. 246 Ebd.
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macht. Synesios würde sich somit gegen den Vorwurf des leichtsinnigen Enthüllens philosophischer Geheimnisse zur Wehr setzen.247 Diese komplizierte und spekulative Interpretation ist nicht die einzig mögliche. Im Brief 142 läßt Synesios erkennen, daß sein Freund sein eigenes Ungeschick im Briefeschreiben beklagt, aber von Synesios scheinbar viele Briefe verlangt – eine typische Korrespondenzfloskel. Synesios wirft ihm dort scherzhaft vor, daß dies nicht recht und billig sei – τὴν δὲ ἀνεπιτηδειότητα τοῦ γράφειν μεμψάμενος, οὐκ εἶ δίκαιος ἀπαιτεῖν πλῆθος ἀνιασόντων γραμμάτων. Dies könnte nun tatsächlich in der Eröffnung des Briefes 141 wieder aufgegriffen sein: Synesios kündigt seinem Freund an, daß er nun die gerechte Strafe für seinen Vorwurf (seltenen Schreibens) erhalte und sich an seiner Geschwätzigkeit sättigen solle. Das Ganze kann als harmloser ironischer Schlagabtausch zwischen Briefpartnern angesehen werden, ohne daß man in der ἀδολεσχία gleich den Beigeschmack der aristophaneischen Wolken wittern müßte248 – und ohne die dem Attischen entsprechende und grammatisch wie inhaltlich sinnvolle Lesart aufzugeben. Dies erscheint umso plausibler, als im Proömium des Briefes 148 eindeutig eine ähnliche Situation mit fast den gleichen Termini behandelt wird: Synesios wirft Olympios scherzhaft vor, eine unangebrachte Neugier über seine Angelegenheiten an den Tag gelegt zu haben und droht ihm den langen, geschwätzigen Brief als Strafe dafür an: Ἀλλὰ σὺ γὰρ ἀπαιτεῖς ἕκαστα παρ’ἡμῶν τὰ περὶ ἡμῶν εἰδέναι. Ἀνέχου τοίνυν ἀδολεσχούσης ἐπιστολῆς ἵνα καὶ τῆς ἀκαίρου πολυπραγμοσύνης δῷς δίκην.249 Du aber forderst von uns, unsere Angelegenheiten im Detail zu erfahren. Ertrage also den geschwätzigen Brief, damit Du auch für Deine unpassende Neugier bestraft wirst.
Der Brief 142 wäre somit – obgleich aus anderen Gründen als SCHMITT anführt– plausiblerweise der in ep. 141 erwähnte und somit in die gleiche Zeit zu datieren – allerdings fehlen zu einer Datierung, wie oben angeführt, eindeutige Indizien. Die Briefe 144 und 146 werden von SCHMITT aufgrund ihres Inhalts, der Ablehnung politischer Aktivität im Namen der Philosophie durch Synesios, im Lichte seiner These einer Bekehrung zum privaten philosophischen Leben um 405 in die Zeit danach datiert.250 Er behandelt zuerst den Brief 146. Für dessen Datierung bringt er ein einziges sachliches Argument, ausgehend von folgendem Passus: Τὸν ἀδελφὸν Κῦρον ἔδει κομίσασθαι παρὰ σοῦ γράμματα περὶ ὧν ἐδήλωσας διὰ τὸν ἐκ Πενταπόλεως κόμητα. Χάριν μὲν ἔσχον τῇ προαιρέσει τοῦ συστήσαντος, ἐπελάθου δὲ ὅτι φιλοσοφεῖν πειρῶμαι· καὶ μικρὸν ἡγοῦμαι τιμὴν ἅπασαν, εἰ μὴ ἐπὶ φιλοσοφίᾳ γένοιτο. Dein Bruder Kyros sollte von Dir einen Brief empfangen über die Angelegenheit, die Du wegen des comes aus der Pentapolis erläutert hast. Ich empfand zwar Dankbarkeit gegenüber der Absicht des Empfehlenden; Du hast jedoch vergessen, daß ich zu philosophieren versuche und jegliche Ehre gering schätze, wenn sie mir nicht wegen der Philosophie zuteil wird. 247 248 249 250
T. SCHMITT 2001, 507–511. Ebd. 508. Ep. 148, GARZYA/ROQUES 293. T. SCHMITT 2001, 536f.
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SCHMITT weist zwar zu Recht darauf hin, daß die mediale Form κομίσασθαι Kyros nicht zum Überbringer, sondern zum Empfänger des Briefes werden läßt.251 Jedoch bezieht er dann περὶ ὧν ἐδήλωσας auf die γράμματα und folgert, daß sie „nicht an den Adressaten, sondern an einen Dritten gerichtet waren. Das muß Synesios sein!“252 Dieser Schluß ist nicht einleuchtend, wie auch nicht die Beziehung des Relativpronomens auf die γράμματα. Man könnte auch lesen, daß Kyros von Herkulianos Briefe über die Angelegenheiten hatte bekommen müssen, die dieser Synesios wegen des comes aus der Pentapolis erläutert hatte. Warum die Briefe an einen Dritten gerichtet sein müssten, ist nicht klar. Im folgenden geht SCHMITT noch weiter und schlägt vor, in dem nicht namentlich genannten comes Synesios selbst zu sehen, da dieser im folgenden nur von seinen Angelegenheiten und nicht vom comes sprechen würde.253 Allerdings spielt ein comes, der den Oberbefehl über die libyschen Truppen führt und eindeutig nicht mit Synesios identisch ist, in ep. 144 eine Rolle. Der Kontext ist ähnlich wie der im Brief 146, es geht um die politische Betätigung, die Synesios zwar wegen seines Selbstverständnisses als Philosoph zurückweist, zu der er aber von Freunden gedrängt wird. Herkulianos hatte an Synesios über diesen comes geschrieben und seine Zustimmung verlangt, daß er seine Kontakte spielen lasse und Briefe an den comes wie an den ὀρδινάριον ἄρχοντα schreibe.254 Da sich Synesios von seinen Freunden zur politischen Aktivität gedrängt sieht, gibt er Herkulianos seine Zustimmung, nach seinem Gutdünken zu verfahren. Angesichts dieser Lage ist es plausibler, die beiden comites miteinander zu identifizieren und von Synesios zu unterscheiden,255 was auch dem Text besser gerecht würde. Erst die Identifizierung des comes als Synesios ermöglicht SCHMITT die chronologische Einordnung des Briefes. Er zieht den Fall des Symmachus heran, der nach erfolgreicher Überbringung des aurum oblaticium an den Kaiser in Trier den Rang eines comes tertii ordinis erhielt. Daraus folgert er, daß Synesios nach der Gesandtschaft den Rang des comes erhielt und daß somit der Brief in die Zeit nach seiner Rückkehr aus Konstantinopel gehört.256 Da die Identifikation des comes mit Synesios auf tönernen Füßen steht, ist dieses Argument jedoch hinfällig. Die weiteren Kriterien, die SCHMITT zur Datierung heranzieht, ergeben sich aus seiner These, daß eine Bekehrung des Synesios um 405 anzusetzen ist. Demnach müßte der Brief, in dem Synesios den Gegensatz zwischen Philosophie und politischer Betätigung so stark hervorhebt, aus dieser Zeit stammen.257 Dies ist allerdings nur eine petitio principii, da nicht unabhängig davon bewiesen werden konnte, daß der Brief nicht schon aus Synesios’ Frühzeit stammt.
251 252 253 254 255
Gegen die bisherigen Übersetzungen. T. SCHMITT 2001, 524. T. SCHMITT 2001, 525f. T. SCHMITT 2001 vertritt eine andere Interpretation dieser Angelegenheit (vgl. 534–536). So CAMERON, LONG 1993, 86f. Ob der „wunderbare comes”, den Synesios im Brief 142 an Herkulianos anführt, mit diesen beiden comites identisch ist, ist nicht zu belegen. 256 T. SCHMITT 2001, 527f. 257 Ebd. 533f.
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Angesichts dieser Sachlage ist es ratsamer, mit CAMERON/LONG festzuhalten, daß die Herkulianosbriefe zuwenig Anhaltspunkte bieten, um eine feste absolute Chronologie zu erstellen.258 Im folgenden soll daher noch von der bisher in der Forschung gängigen Datierung für die relevanten Briefe ausgegangen werden, wobei die Briefe 137–140, bei denen Einigkeit herrscht, als sichere Grundlage der Analyse angenommen und die anderen Briefe als zumindest mögliche Zeugnisse dieser Zeit diskutiert werden sollen. 4.3.2.2. Die Philosophie in den Briefen an Herkulianos Als Ausgangspunkt für die Analyse der Herkulianosbriefe bietet sich ep. 137 an, welcher die Eröffnung der Korrespondenz des in die Kyrenaika zurückgekehrten Synesios mit dem in Alexandrien verbliebenen Herkulianos darstellen könnte. Dies legt jedenfalls der Inhalt nahe. Synesios evoziert ihre Begegnung in Alexandrien, das Philosophiestudium, das sie miteinander verbunden hatte, die gemeinsame Erörterung verschiedener Fragen, und verleiht seinem Wunsch Ausdruck, daß sie beide weiterhin trotz der räumlichen Trennung philosophieren und in philosophischer Freundschaft verbunden bleiben mögen. Der Brief beginnt mit einer Anspielung auf die Odyssee, die kunstvoll zu den gemeinsamen Studien in Alexandrien überleitet: Wenn Homer als Gewinn der Irrfahrt des Odysseus anführt, er habe die Städte vieler Menschen gesehen und ihren Sinn erkennen können, und dies, obwohl er nicht bei angenehmen Männern landete, sondern bei den Lästrygonen und Kyklopen, dann hätte die Dichtung sicherlich meinen und Deinen Aufenthalt in der Fremde wundersam besungen, da er uns den Zugang zur direkten Erfahrung von Dingen ermöglichte, die von Hörensagen unglaublich waren. Denn wir haben die rechtmäßige Führerin der Mysterienfeiern der Philosophie selbst gesehen und gehört. Wenn auch menschliche Bedürfnisse diejenigen verbinden, die aufgrund ihrer inneren Stimmung Gemeinschaft pflegen, so befiehlt uns, da wir entsprechend des Nous, des Edelsten in uns, zusammengekommen sind, ein göttliches Gesetz, einander zu ehren.259
Das Studium in Alexandrien erscheint als das non plus ultra, das an Erfahrungsund Wissenszuwachs die sagenhaften Reisen des Odysseus übertrifft.260 Hypatias 258 CAMERON, LONG 1993, 86: „The letters’ tone is generally consonant with a recent separation and fresh enthusiasm for studies recently shared, but the evidence is too lacunose to link up into a firm absolute chronology.” 259 Ep. 137, GARZYA/ROQUES 275–276: Εἰ τῆς Ὀδυσσέως πλάνης κέρδος ἔφησεν Ὅμη‐ ρος πολλῶν ἀνθρώπων ἰδεῖν τε ἄστεα καὶ γνῶναι τὸν νόον, καὶ ταῦτα τῆς προσ‐ ορμίσεως αὐτῷ γενομένης οὐ πρὸς ἄνδρας χαρίεντας, ἀλλὰ πρὸς Λαιστρυγόνας καὶ Κύκλωπας, ἦπου θαυμαστῶς ἂν ἡ ποίησις ὕμνησε τὴν ἐμήν τε καὶ σὴν ἀπο‐ δημίαν, παρασχοῦσαν ἡμῖν εἰς πεῖραν ἐλθεὶν τῶν καὶ διὰ φήμης ἀπιστουμένων. Αὐτόπται γάρ τοι καὶ αὐτήκοοι γεγόναμεν τὴς γνησίας καθηγεμόνος τῶν φιλο‐ σοφίας ὀργίων. Εἰ δὲ καὶ ἀνθρωπικαὶ χρεῖαι τοὺς κοινωνήσαντας διαθέσει συνδέ‐ ουσιν, ἡμᾶς κατὰ τὸν νοῦν τῶν ἐν ἡμῖν τὸ ἄριστον συγγενομένους θεῖος ἀπαιτεῖ νόμος ἀλλήλους τιμᾶν. 260 Mythologische Anspielungen gehörten zum Standardrepertoire des spätantiken und byzantinischen literarischen Briefes. Vgl. GARZYA 1992, 231 sowie HUNGER 1978, 214 und 226f. Diese Anspielungen waren als Kommunikation bzw. Verstärkung der Zusammengehörigkeitsge-
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Unterricht wird zusätzlich durch die Anwendung von Mysterienterminologie überhöht, so wie auch Julian sein Philosophiestudium bei Maximus als Einweihung beschrieben hatte. Auch Hypatias Bezeichnung als καθηγεμών entspricht Julians Beschreibung seines Lehrers. Wie dieser erscheint Hypatia in den Augen des Synesios als spirituelle Führerin;261 das Beiwort γνησία, „rechtmäßig“, unterstreicht diese Bedeutung und könnte auch eine Abgrenzung zu anderen philosophischen Kreisen bzw. Lehrern implizieren. Eine unter diesen Umständen geschlossene Freundschaft, die nicht durch menschliche Bedürfnisse, sondern gemäß dem νοῦς zustande kommt, steht nach Synesios unter einem „göttlichen Gesetz“. Im Fortgang des Briefes erinnert Synesios an die Begegnung in Alexandrien und macht Gott dafür verantwortlich: Wenn ich aber den Blick auf die Gemeinschaft in der Philosophie und auf jene Philosophie richte, über welcher wir lange zusammen gebeugt saßen, schreibe ich, wenn ich in meinen Überlegungen an diesen Punkt komme, unsere Begegnung Gott als dem Spielordner zu. Denn von keiner geringeren als einer göttlichen Ursache getrieben hätte ich, Synesios, der ich die Sache unter keinen Umständen öffentlich machte und zwar mit vielen Umgang pflegte, aber nur im Zeichen menschlicher Gemeinschaftsbeziehungen die Zusammenkünfte gestaltete, die Philosophie hingegen unter die allergeheimsten Dinge rechnete, mich und meinen Besitz so bereitwillig einem Manne enthüllt, der erst allmählich mein Gesprächspartner wurde. Da sich nun ein solcher fand, demgegenüber ich das bislang Verborgene heraustanzte und der weisen Kunst des Proteus vergaß (diese ist keine andere als mit den Menschen nicht auf göttliche, sondern auf politische Weise zu verkehren), da dies also geschehen ist, ohne daß ich diese Absicht gehegt hätte, sondern indem es plötzlich unvorbereitet eintrat, halte ich Gott für den Urheber der paradoxalen Situation.262
Die Rede von Gott oder von dem „göttlichen Gesetz“ muß nicht unbedingt auf tatsächliches religiöses Empfinden hinweisen; ein Blick in den Anfang des Briefes 138 zeigt, daß Begriffe wie θεός oder ἱερός einfach als Floskeln benutzt werden können.263 Allerdings wird hier die Beschreibung der Philosophie als Mysterifühls zwischen Teilhabern an der klassischen Bildung gedacht, „ihnen sollte die Auflösung der Zitate und das Wiedererkennen der exempla ein sublimes Vergnügen bereiten“ (HUNGER 1978, 214). 261 S. DZIELSKA 1998, 47 mit Anm 52. 262 Ep. 137, GARZYA/ROQUES 276f.: Ὅταν δὲ πρὸς τὴν ἐν φιλοσοφίᾳ κοινωνίαν ἀπίδω καὶ φιλοσοφίαν ἐκείνην περὶ ἧς πολλὰ συγκεκύφαμεν, ἐνταῦθα ἤδη τοῦ λογισ‐ μοῦ γινόμενος, θεῷ βραβευτῇ τὴν ἐντυχίαν ἡμῶν ἀνατίθημι. Οὐ γὰρ ἂν ἀπ’ ἐλάττονος ἢ θείας αἰτίας Συνέσιος, ὁ τὸ πρᾶγμα ἥκιστα δημοσιεύων καὶ πλείσ‐ τοις μὲν συνών, ἐπ’ ἀνθρωπικαῖς δὲ κοινωνίαις τὰς συνουσίας ποιούμενος, φιλο‐ σοφίαν δ’ ἐν ἀρρήτων ἀρρητοτάτοις ἔχων, οὕτω προχείρως ἐμαυτόν τε καὶ τὰ ἐμ‐ αυτοῦ κτήματα ἀνεκάλυψα ἀνδρὶ κατὰ βραχὺ δόντι μοι καὶ λαβόντι τὸν λόγον. Ἐπεὶ δ’ οὖν γέγονέ τις οὗτος πρὸς ὃν ἐξωρχησάμην τὰ τέως ἀνέκπυστα, καὶ τῆς σοφὴς τοῦ Πρωτέως ἐπελαθόμην τέχνης (οὐ γὰρ ἄλλη τις ἦν ἢ συνεῖναι τοῖς ἀνθρώποις οὐ θείως, ἀλλὰ πολιτικῶς), ἐπεὶ γέγονε τοῦτο, οὐ προθεμένης μοι τῆς γνώμης, ἀλλ’ ἀκατασκεύαστον ἄφνω παρελθόν, ἐγὼ θεὸν ἡγεμόνα τοῦ παρα‐ δόξου λογίζομαι (...). 263 Dies muß im Kontext des byzantinischen Briefstils gesehen werden, der sich nach ZILLIACUS 1949, 4 durch „Wortreichtum, Weitschweifigkeit und mangelndes Gefühl für die Präzision des einfachen Begriffswortes“ auszeichnet. Synesios’ Briefe zeigten deutlich den Übergang
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um weiter ausgebaut. Synesios habe die bislang verhüllten Geheimnisse Herkulianos gegenüber „herausgetanzt“. In seiner Schrift über den Tanz erklärt Lukian, daß die Enthüllung des eleusinischen Mysteriengeschehens als „Heraustanzen“ bezeichnet wurde, da die Initiation in die Mysterien einen pantomimischen Tanz beinhaltete.264 Von diesem Tanz der Einweihenden um die Einzuweihenden spricht auch Dio Chrysostomos.265 Die Gemeinschaft in der Philosophie, in der Synesios und Herkulianos verbunden sind,266 wird den zwischenmenschlichen Beziehungen gegenübergestellt. Synesios stilisiert sich selbst als treuen und wachsamen Hüter dieser Mysterien: sie sind für ihn höchstes Geheimnis und somit von dem Umgang mit den Durchschnittsmenschen ausgenommen. Vorbild ist dabei für ihn Proteus, dessen Kunst lehrt, „mit den Menschen nicht auf göttliche Weise zu verkehren, sondern auf ‚politische‘ Weise“. Zum Verständnis dieser programmatischen Äußerung muß zum einen die Entwicklung von πολιτικῶς seit der klassischen Zeit beachtet werden. Seine Rolle als terminus technicus der Rhetorik kann hier unbeachtet bleiben; wichtig ist, daß der Begriff im Hellenismus neben der klassischen Bedeutung als „bürgerlich, staatlich, öffentlich“, „was den Bürger angeht“, eine neue Bedeutungsdimension bekommt: die bürgerliche Elite der Poleis, nunmehr ihrer außenpolitischen Bedeutung enthoben, definiert sich zusehends über soziale und kulturelle Aktivitäten in und zugunsten der Polis, so daß πολιτικός als Gegensatz zu ἄγροικος die zivilisierte Lebensform des Städters bezeichnet, die durch Bildung, Kultur, soziale Gewandtheit und gute Umgangsformen charakterisiert ist, im Unterschied zur unzivilisierten, grob bäurischen Lebensweise der Landbewohner.267 Gerade die „Verhaltensweise im zwischenmenschlichen Bereich“ ist ein Punkt, an dem dieser Unterschied besonders akut gespürt wird.268 Daß Synesios’ Aussage in diesen Kontext eingeordnet werden kann, zeigt ein Vergleich mit dem Dion, wo er die Forderung aufstellt, daß der Philosoph keinesfalls ἄγροικος sein dürfe, sondern mit allen Menschen richtig verkehren können müsse.269 Als Vorbild für den richtigen Umgang mit den Mitmenschen, der weder in vulgärer Lästerei noch in hochmütig-untätiger Zurückgezogenheit ausartet, nennt er wiederum die Kunst des Proteus, der es verstanden habe, die Wahrheit hinter einem „sophistischen Redefeuerwerk“ zu tarnen und so seine Besucher zu unterhalten,
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zwischen den klassischen Anredeformen, die bei ihm noch zahlreich präsent sind, und spätantiken Epitheta (ebd. 61). Anders BREGMAN 1982, 25, der die oben zitierte Stelle als ernsthafte religiöse Äußerung ansieht. Lukian, De Saltationibus 15; vgl. auch Dio Chrysostomos, Or. 12, 33. Vgl. dazu ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 399, Anm. 12 zu ep. 137. Or. XII 33. Aufschlussreich ist der Hinweis bei GARZYA 1992, 233, auf einen Passus in ep. 133 des Basilios, den GARZYA mit ep. 140 von Synesios vergleicht, der aber von der Terminologie her auch mit dieser Stelle gut vergleichbar ist. Dort betont Basilios, daß die ἕνωσις mit seinem Freund sich ἐκ τῆς κατὰ τὴν πίστιν κοινωνίας vollziehe. Der Unterschied zwischen der Welt des Kirchenmannes und des Philosophen wird hier besonders gut deutlich. Vgl. dazu SCHOTTEN 1966, 112–118. SCHOTTEN 1966, 118ff. Dion 4,4.
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ohne das Heilige preiszugeben.270 Nach Synesios ist also der Philosoph gehalten, mit den Nichtphilosophen als Mitbürger und Mitträger der menschlichen Zivilisation zu verkehren, wie sie sich in den Poleis äußert. Synesios predigt also keine Absonderung von der Alltagswelt. Wohl aber impliziert dies, daß im Bereich der Philosophie das Menschliche transzendiert wird und eine Annäherung bzw. Assimilation an das Göttliche stattfindet. Die philosophische Basis für diese Einstellung kann in Porphyrios’ Stufenmodell der Tugenden gesehen werden, welches Synesios in einem anderen Brief aus der Frühzeit an Herkulianos erwähnt.271 Schon Plotin hatte aufgrund der Exegese verschiedener Platonstellen eine Zweiteilung der Tugenden in „politische“ Tugenden, die das zwischenmenschliche Verhalten regeln, und Tugenden, die nach Platons Phaidon272 als Reinigung des Menschen vom Materiellen zu betrachten seien.273 Porphyrios systematisiert diese Unterscheidung und entfaltet ein Schema von vier Tugendgraden: die politischen Tugenden (πολιτικαὶ ἀρεταί), die das menschliche Verhalten nach dem Prinzip der μετριοπάθεια regeln, die kathartischen Tugenden (καθαρτικαὶ ἀρεταί), die der Seele zukommen, die im Prozeß der Abwendung vom Körperlichen und Hinwendung zum wahren Seienden begriffen ist, und zur ἀπάθεια führen, die Tugenden, die der schon vollkommen vom Körperlichen abgewandten Seele entsprechen, sowie deren Urbilder im Nous, die παραδειγματικαὶ ἀρεταί.274 Porphyrios betont, daß diese Tugendgrade aufeinander aufbauen und somit jeder, der die höheren besitzt, auch die niederen verwirklicht.275 Das philosophische Leben spielt sich nach diesem Modell vor allem auf der zweiten Stufe ab;276 das richtige zwischenmenschliche, „politische“, Verhalten wäre aber dennoch ein notwendiger Teilaspekt. Synesios’ Gegensatz zwischen der profanen Alltagswelt und der Welt der Philosophie, die diese transzendiert und in den Bereich des Göttlichen führt, entspricht dem porphyrischen Tugendverständnis. Auf diesem Hintergrund erhält auch seine Verwendung von Mysterientermini für die Philosophie zusätzliches Gewicht: sie ist nicht bloße Übernahme eines Topos, sondern entspricht der religiösen Zielsetzung der Philosophie. Es ist sicherlich zu beachten, daß der Passus dazu dient, seine Freundschaft und schnelle Vertrautheit mit Herkulianos noch stärker hervorzuheben;277 allerdings bleibt die explizite religiöse Bestimmung der Philosophie festzuhalten. Diese wird nun im weiteren ausgeführt. Synesios betont die Notwendigkeit philosophischer Diskretion bzw. Arkandisziplin: er habe zwar 270 271 272 273 274 275 276 277
Dion 5,4 (Übersetzung von TREU). Ep. 140. Phaidon 67b. Vgl. z. B. Plotin, Enn. I 2,3. Zu den neuplatonischen Tugendgraden seit Plotin vgl. SAFFREY, SEGONDS 2001, LXIX–LXXII. Porph. Sent. 32 LAMBERZ 22–29. Porph. Sent. 32 LAMBERZ 24 und 29f. Porph. Sent. 32 LAMBERZ 31–35. Zur Freundschaft als zentralem Thema spätantiker und byzantinischer literarischer Briefe vgl. HUNGER 1978, 222ff sowie SIMEON 1933, 7–9, der zu dem Schluß kommt, daß „die überschwenglichen Freundschaftsbeteuerungen nicht ohne weiteres die wahren Gefühle des Schreibers erkennen lassen, vielmehr zum epistolographischen Stil gehören (...)“ (S.9).
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neue Ansätze zu den zusammen behandelten Problemen entwickelt, die er gerne brieflich übermitteln möchte, könne dies aber aufgrund der freien Zugänglichkeit des Briefes nicht tun, da es sonst jeder beliebige lesen könnte.278 Der Schlußabschnitt des Briefes enthält eine kurze Skizze der philosophischen Lebensweise. Eingeleitet wird er durch eine formula valetudinis, die in Anlehnung an die platonische Tradition Herkulianos wünscht, er möge weiterhin philosophieren und nicht aufhören, das verschüttete Auge im Menschen auszugraben.279 Das Bild der Sehkraft der Seele wird bei Platon in der Politeia ausgehend vom Höhlengleichnis entwickelt und steht im engen Zusammenhang mit der paideia, die notwendig ist, damit sich die Seele vom Irdischen zum Geistigen, zu den Ideen, aufschwingen kann.280 Das im Schlamm versunkene Auge kann nur durch die Beschäftigung mit geeigneten Wissenschaften ausgegraben bzw. nach oben gelenkt und somit philosophietauglich werden: durch Arithmetik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie, Harmonielehre und die Dialektik.281 Dieser Kontext könnte die Benutzung des Bildes als Anspielung auf den Unterricht der Hypatia, in dem gerade die exakten Wissenschaften eine wichtige Rolle spielten, erscheinen lassen. Jedoch hat es losgelöst vom Kontext in platonischen und neuplatonischen Schriften eigene Karriere gemacht,282 so daß Synesios es einfach als gängiges Bild ohne Bezug zum Kontext in der Politeia gebrauchen könnte. Dieses legt sich aufgrund des Fortgangs des Briefes näher, in dem von dem richtigen Lebenswandel als Vorstufe und Vorbereitung des φρονεῖν gesprochen wird.283 Synesios greift ein anderes geflügeltes Wort der „göttlichen Stimme“ Platons auf: dem Unreinem sei es nicht erlaubt, das Reine zu berühren. Das richtige Leben ist somit nicht für sich allein, sondern nur als Reinigung und Vorbereitung auf das Reine zu erstreben. Auch dies könnte als Anspielung auf Porphyrios’ Tugendgrade gelesen werden.284 Synesios distanziert sich bewußt von der großen Masse (οἱ πολλοί), die darin schon das Ziel sehen – schließlich gebe es Tiere, die sich ohne jeglichen Verdienst auf278 Zudem war, wie GARZYA 1992, 231 festhält, die Erörterung philosophischer Themen in privaten Briefen eine Verletzung der Gesetze der antiken Epistolographie. Zwar setze sich in der Spätantike die Tendenz durch, diese Regeln aufzulockern, dennoch halte Ps.-Proclus (4.–6. Jh. n. Chr.) fest, daß philosophische Themen zwar erwähnt, nicht aber nach Art philosophischer Abhandlungen diskutiert werden dürfen. 279 Ep. 137, GARZYA/ROQUES 277: ἔρρωσο καὶ φιλοσόφει καὶ διατέλει τὸ ἐν ἡμῖν κατα‐ κεχωσμένον ὄμμα ἀνορύττων. 280 Das Motiv der Sehkraft der Seele ist entscheidend für das Höhlengleichnis; vgl. z. B. 515c– 516b, 516e–517a. Als Folgerung weist Platon darauf hin, daß jeder Mensch dieses Auge besitze, es aber in die richtige Richtung „herumgelenkt“ werden müsse, damit es richtig sehen lerne (518c–519a). Da die ausgebildeten Philosophen im Staat zu herrschen haben (519c– 521b), legt er dann die Künste bzw. Wissenschaften dar, durch welche das innere Auge nach oben gelenkt und gestärkt werden könne (521c–533d). 281 518c–533d. 282 S. dazu BREGMAN 1982, 26 mit Anm. 32. 283 Ep. 137, GARZYA/ROQUES 277: Τὸ γάρ τοι βιοῦν ὀρθῶς, ἅτε ὄν, οἶμαι, προοίμιον τοῦ φρονεῖν, ὑπὸ τῶν ἀρχαίων καὶ φρονίμων ἀνδρῶν σπουδάζεσθαι κατεδείχθη. 284 Es könnte neben der inhaltlichen Übereinstimmung auch eine parallele Formulierung vorliegen: Synesios bezeichnet das moralisch richtige Leben als προοίμιον τοῦ φρονεῖν, Porphyrios die politischen Tugenden als πρόδρομοι τῶν καθάρσεων (Sent. 32 LAMBERZ 24).
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grund ihrer Natur z. B. des Fleisches enthalten. Die Bestimmung des Menschen sieht er im vernunftgemäßen Leben: Ἡ δὲ κατὰ νοῦν ζωὴ τέλος ἀνθρώπου∙ ταύτην μετίωμεν, θεόθεν αἰτοῦντες θεῖα φρονεῖν καὶ αὐτοὶ τὸν δυνατὸν τρόπον τὸ φρονεῖν ἁπανταχόθεν συλλέγοντες. Das Leben gemäß dem Intellekt ist das Ziel des Menschen. Laß uns diesem nachgehen, indem wir von Gott erbitten, Göttliches zu denken, und auch selbst nach Möglichkeit das Denken von überallher sammeln.
Diese Definition ist fast wörtlich Porphyrios’ De abstinentia entnommen.285 Porphyrios betont dort, daß die Philosophie sich nicht im bloßen Nachdenken erschöpfe, sondern eine Lebensweise sui generis beinhalte, die durch den Nous gesteuert sei.286 Dies bedeutet für Porphyrios die Abwendung der Einzelseele von der irdischen Welt mit ihrer Vielheit und die Rückkehr zur Kontemplation des Seienden und Göttlichen sowie die Rückkehr zur ungeteilten Weltseele.287 Synesios bewegt sich im selben Vorstellungsrahmen: man müsse einerseits von Gott erbitten, Göttliches zu denken, und zugleich selbst versuchen, das Denkvermögen von überall her zu sammeln und zu konzentrieren.288 Dies bestätigt die Annahme, daß der Bezug zum Göttlichen, zu einer höheren, die rein menschliche Sphäre transzendierenden Wirklichkeit, in Synesios’ Verständnis konstitutiv für die Philosophie ist.289 Die Anspielung auf die οἱ πολλοί kann zunächst als typische elitäre Haltung des Philosophen zur Masse gelesen werden, wie sie gerade bei Platon dezidiert zu hören ist. Aufgrund einer Parallelstelle bei Synesios sind jedoch auch weitere Schlüsse möglich. Im Dion vergleicht Synesios den „hellenischen“ Weg des Philosophen zu Gott mit dem der Mönche. Dabei greift er dasselbe Platonzitat in einem ähnlichen Kontext auf. Sowohl die hellenische Philosophie als auch die barbarische Philosophie der Mönche betonen die Notwendigkeit der kathartischen Tugenden als Bollwerk gegen die Angriffe der Natur. Nur würden die Mönche dabei die φρόνησις als Tugend ausschließen und sich mit der – unbegründeten, nur als Gebot empfangenen – σωφρωσύνη zufriedengeben. Die hellenischen Philosophen, zu denen sich Synesios selbst zählt, würden hingegen die Tugenden nur 285 Vgl. De abstinentia I 28,3; 29,3–4; 48,1 sowie ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 400, Anm. 28, der die Formulierung eine „expression èminement porphyrienne“ nennt. 286 De abstinentia I 29. 287 De abstinentia 30–31. 288 So fasse ich die Wendung θεόθεν αἰτοῦντες θεῖα φρονεῖν καὶ αὐτοὶ τὸν δυνατὸν τρόπον τὸ φρονεῖν ἁπανταχόθεν συλλέγοντες auf; es handelt sich um eine Anspielung auf den Selbstverlust der wesenhaft einfachen Seele an die Vielheit der sichtbaren Welt. Vgl. dazu die Empfehlung des Porphyrios an seine Frau, zu sich selbst zurückzukehren: (...) εἰ μελετώῃς εἰς ἑαυτὴν ἀναβαίνειν συλλέγουσα ἀπὸ τοῦ σώματος πάντα τὰ δια‐ σκεδασθέντα σου μέλη καὶ εἰς πλῆθος κατακερματισθέντα ἀπὸ τῆς τέως ἐν με‐ γέθει δυνάμεως ἰσχυούσης ἑνώσεως. (Brief an Markella 10). Anders ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 277: „demandons à Dieu des méditations divines et allons nous-mêmes, dans la mesure du possible, chercher partout matière à méditer“. 289 Vgl. BREGMAN 1982, 25, der zu dieser Stelle bemerkt: „philosophy is the highest possible way to the divine.”
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als Elemente des großen Ganzen der Philosophie betrachten, nach Platons Ausspruch, daß es dem Unreinen nicht erlaubt sei, das Reine zu berühren. Die Nähe dieser Stellen legt nahe, daß auch im Brief 137 die christlichen Mönche als Exponenten der ungebildeten großen Masse anvisiert sind.290 Die Analyse dieses Briefes zeigt, daß die Philosophie für Synesios eine religiöse Dimension besitzt. Sie bildet eine Sphäre für sich, die dem Menschen den Kontakt mit dem Göttlichen ermöglicht. Sie prägt das gesamte Leben des Menschen und verhilft ihm zur Erfüllung seiner höchsten Bestimmung, einem Leben gemäß dem Nous. Der rechte Lebenswandel erscheint somit als notwendige, aber untere Stufe der Philosophie, die den Aufstieg zum „Denken göttlicher Dinge“ ermöglicht. Auf dieser höheren Stufe gilt es, das Denkvermögen zu „sammeln“, d. h. die Einzelseele von der Fixierung auf die Vielheit der Welt abzuwenden und sich nach innen, zur Einheit der Weltseele, zu kehren. Gerade die Abgrenzung des philosophischen Lebens und Strebens von den Ansichten der christlichen Mönche, die der unphilosophischen Masse zugerechnet werden, läßt den lebenspraktischen und religiösen Charakter der Philosophie noch deutlicher hervortreten. Auch die Verwendung von Mysterienterminologie hat dieselbe Wirkung. Sie unterstreicht zugleich aber auch den elitären Charakter der Philosophie. Diese muß der Masse verborgen bleiben; der Philosoph hat sich im Umgang mit den Mitmenschen lediglich als Mitbürger zu verhalten und höhere Einsichten durch die „weise Kunst des Proteus“ verhüllen. Hypatia selbst, die „rechtmäßige Führerin zu den Mysterien der Philosophie“ erscheint als charismatische Persönlichkeit, deren Unterricht ein außergewöhnliches Privileg ist. Dies verstärkt konkret den Zusammenhalt des Schülerkreises um Hypatia und dient dazu, die alten Schulbeziehungen und philosophischen Freundschaften auch in Zeiten der Trennung aufrechtzuerhalten. Das aus dem Brief 137 gewonnene Bild der Philosophie läßt sich auch in den anderen Herkulianosbriefen erkennen. Im Brief 138 klagt Synesios über Herkulianos’ Schweigen. Dies könnte aber unterschiedlich ausgelegt werden: Dieses richtet sich noch an einen Menschen, und die Vorwürfe sind menschlich. Wenn Du aber durch die Philosophie das hier Getrennte vereint hast und den Ausspruch des Gottes beherzigt hast, daß das Schöne lieb ist, das Schöne aber das Selbige, dieses aber Eins ist, dann verurteilen wir Dein Schweigen uns gegenüber nicht länger als Verachtung, sondern freuen uns zusammen mit dem Philosophierenden. 291
Wieder erscheint hier der Gegensatz zwischen dem menschlichen Bereich und dem der Philosophie. Bei den als göttlichen Ausspruch zitierten Versen handelt es sich um einen delphischen Spruch, der zuerst bei Theognis erwähnt und dann durch seine lange Zirkulation in der Literatur zum Sprichwort abgeschliffen
290 So ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 400, Anm. 26 zu ep. 137 sowie GARZYA 1999, 332– 333, Anm. 7. 291 Ep. 138, GARZYA/ROQUES 278: Ταῦτα πρὸς ἄνθρωπον ἔτι, καὶ ἀνθρωπικὰ τὰ ἐγκλή‐ ματα. εἰ δὲ ἥνωσας διὰ φιλοσοφίας τὰ δεῦρο διεστῶτα καὶ φίλον μὲν τὸ καλόν, καλὸν δὲ τὸ αὐτό, τοῦτο δὲ ἓν ὂν τοῦ θεοῦ λέγοντος ἤκουσας, οὐκέτι κρίνομεν ὑπεροψίαν τὴν πρὸς ἡμᾶς σιωπὴν, ἀλλὰ συνηδόμεθα φιλοσοφοῦντι.
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wird.292 Synesios bezieht den Spruch auf die Philosophie. Philosophieren bedeutet somit zu erkennen, daß das Schöne dem Menschen lieb und erstrebenswert sei, schön aber das sich selbst Gleiche, und dieses schließlich Eins sei. Die drei Schlüsselbegriffe spielen eine prominente Rolle in der Metaphysik Plotins – sie charakterisieren den Bereich der oberen Hypostasen.293 Der Philosoph wird wieder, hier halb im Scherz, halb im Ernst, dem menschlichen Bereich und seinen Verpflichtungen enthoben. Der Brief 139 lädt Herkulianos nach Libyen ein und betont die Sehnsucht nach dem gemeinsamen Philosophieren. Die formula valetudinis am Schluß dieses Briefes greift die von Porphyrios überlieferten letzten Worte Plotins auf: Bleibe gesund und philosophiere und führe das Göttliche in Dir zum erstgeborenen Göttlichen hinauf.294
Die Philosophie erscheint wiederum als eine tiefreligiöse Angelegenheit: es geht darum, das göttliche Wesen des Menschen zum „erstgeborenen Göttlichen“ hinaufzuführen. Was mit dem „erstgeborenen Göttlichen“ gemeint sein könnte (Porphyrios hat τὸ ἐν τῷ παντὶ θεῖον), ist in der Forschung nicht eindeutig entschieden. ROQUES plädiert für die neuplatonische Weltseele295 – aber die ist keineswegs „erstgeboren“, ihr geht ja noch der Nous voraus. LACOMBRADE weist darauf hin, daß Πρωτόγονος als Gottheit in verschiedenen spätantiken religiösen Strömungen eine Rolle spielte, so z. B. in orphischen Spekulationen, in hermetischen Texten oder in den Zauberpapyri, und vermutet, daß diese Einflüsse sich auf Synesios’ Rezeption des Plotinworts ausgewirkt haben könnten.296 Angesichts der Bedeutung, welche die orphische Dichtung für das neuplatonische philosophische curriculum hatte,297 erscheint es plausibel, daß Synesios’ Formulierung orphische Reminiszenzen aufweist. LIZZI sieht im Πρωτόγονος einen christlichen terminus technicus für die zweite Hypostase der Trinität.298 Wenn Synesios tatsächlich den christlichen Gottessohn damit bezeichnen möchte, wäre die Formulierung im Neutrum auffällig; sie entspricht hingegen genau dem Duktus neuplatonischer Metaphysik.299 Falls Synesios hier einen christlichen Terminus aufgreift, so fügt er ihn in einen neuplatonischen conceptual frame ein. Es ist daher insgesamt eher anzunehmen, daß Synesios an dieser Stelle den Nous, der als erstes Sei292 Theognis, Elegien 17. Vgl. dazu GARZYA 1999, 138, Anm. 3 zu ep. 138, sowie ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 401, Anm. 12 zu ep. 138 für andere Parallelen. 293 Vgl. z. B. Enn. I 6. 294 Ep. 139, GARZYA/ROQUES 280: Ἔρρωσο καὶ φιλοσόφει καὶ τὸ ἐν σαυτῷ θεῖον ἄναγε ἐπὶ τὸ πρωτόγονον θεῖον. Vgl. dazu Porphyrios, Vita Plotini 2. 295 Vgl. ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 403, Anm. 22 zu ep. 139. 296 LACOMBRADE 1951b, 58f. Protogonos erscheint entweder als eigenständiger Gott oder als Beiname des Dionysos in den orphischen Hymnen. Siehe dazu MORAND 2001, 164f. 297 Zusammen mit den Chaldäischen Orakeln galten die orphischen Dichtungen als göttlich inspiriert. Ihre Auslegung war den Fortgeschrittenen im letzten Stadium des Philosophiestudiums vorbehalten (siehe z. B. Marinus’ Schilderung über Proklos’ Studium in seiner Vita Procli). 298 LIZZI 2002, 391. S. dazu das Patristic Greek Lexicon von LAMPE, Art. Πρωτόγονος, 1199. 299 S. z. B. Plotin V 1,7 über die Geburt des Nous aus dem Einen. Der Nous ist τὸ γεγεννη‐ μένον, das Eine τὸ γεννῆσαν.
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endes aus dem Einen hervorgeht,300 meint, da in neuplatonischen Texten gerade die Einswerdung des menschlichen Intellekt mit dem göttlichen Nous angestrebt wird.301 Dies wird dadurch untermauert, daß πρωτόγονος im II. Hymnus den Sohn, die dritte Hypostase der Trias, bezeichnet, die in ihrer Funktion dem neuplatonischen Nous gleichkommt.302 Was sich auch immer hinter dem „erstgeborenen Göttlichen“ verbirgt – die Stelle zeigt deutlich, daß die Philosophie für Synesios in der Tradition Plotins ein Mittel zur Vereinigung der menschlichen Seele mit dem Göttlichen ist. Auch der Brief 140 ist von der neuplatonischen literarischen Tradition und dem neuplatonischen Philosophieverständnis geprägt. Zu Beginn greift Synesios auf Platons Symposion zurück und charakterisiert seine Freundschaft mit Herkulianos wie in ep. 137 als gottgewirkte Liebe, die aus zwei Hälften ein Wesen zusammenschweißt.303 Eine solche Liebe übertrifft bei weitem die bloß menschliche Liebe, die nur durch die konkrete Anwesenheit der Freunde bestehen könne; die in ihr verbundenen Seelen könnten auf „unaussprechlichen Wegen“ zueinander finden und sich einander vergegenwärtigen. Ihre Freundschaft habe sich im Zeichen der gemeinsamen philosophischen Bildung auf dieser höheren Ebene abzuspielen. Die Anwendung des Symposion-Bildes auf die Freundschaft hatte schon Plotin vorgenommen,304 der auch betont hatte, daß die Seele als Einheit und Vielheit, als Individualseele und zugleich Teil der Weltseele die Möglichkeit habe, mit anderen Seelen durch die Kontemplation zu verschmelzen;305 er könnte eine Vorlage des Synesios sein. Allerdings könnten hier auch andere, nichtphilosophische Motive des antiken Freundschaftsdiskurses sowie der Brieftheorie verwoben sein, nach welcher der Brief dazu dient, die körperliche Trennung zu überwinden.306 Daher tadelt er Herkulianos’ Klagen über seine Abwesenheit. Diese Haltung sei eines Philosophen unwürdig. Er sei davon ausgegangen, daß Herkulianos schon längst das Stadium der dieser Welt zugewandten Tugenden abgeschlossen habe und sich nun ganz der Betrachtung des Seienden widme.307 Daher habe er im Präskript seiner Briefe nicht banale Standardformulierungen wie χαίρειν oder εὖ 300 Vgl. dazu Plotin V 1,7, das Eine zeugt den Nous, und dieser seinerseits die intelligiblen Ideen und Götter in sich und dann die Seele als distinkte Hypostase. 301 Vgl. etwa Plotin, Enn. V 8,9.11 oder Porphyrios, De abstinentia I 29,3–4 Eine andere Möglichkeit wäre nach ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 403, Anm. 22 zu ep. 139 die Konjektur πρωτογόνον (erster Zeugender), womit die Kontemplation des Einen gemeint wäre. 302 Vgl. H. II 88. 303 Symposion 192e. 304 I 1,5,2; 7,20; 10,14ff. 305 IV 9,2,26. Vgl. dazu GARZYA, 1985b, 132. 306 Vgl. dazu GARZYA 1992, 232–235. Freundschaftsdiskurs und Brieftheorie waren eng verbunden; die Grundlage dazu lieferte die aristotelische Vorstellung von der Freundschaft, für die die Gegenwart und der Verkehr der Freunde miteinander die Quelle waren, aus der sich die Freundschaft speiste. Somit wird der Brief als Mittel verstanden, die Bewahrung der Freundschaft trotz räumlicher Trennung zu ermöglichen. S. dazu SIMEON 1933, 7–9 sowie GARZYA 1985b, 141 oder KOSKENNIEMI 1956, 35–42. 307 Ep. 140, GARZYA/ROQUES 281: Ἐγὼ τὴν ἱερὰν κεφαλὴν Ἑρκουλιανὸν ἠξίουν ἄνω βλέπειν καὶ ὅλον εἶναι θεωρόν τῶν ὄντων καὶ τῆς τῶν θνητῶν ἀρχῆς, τὰς ἀρετὰς διαβάντα καὶ πάλαι τὰς ἀπεστραμμένας καὶ κοσμούσας τὰ δεῦρο.
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πράττειν gebraucht, sondern den philosophischen Wunsch πολλὰ φρονεῖν. Mit der Verwendung solcher philosophischer Präskripte reiht sich Synesios in eine lange, seit Platon datierende Tradition ein und betont, daß er und Herkulianos beide zum Kreis der Philosophen gehören.308 Dementsprechend ermahnt er ihn, sich in der Tapferkeit zu üben, und zwar nicht in der Tapferkeit der ersten, weltlichen Tugendgruppe, sondern in den entsprechenden Tugenden der dritten und vierten Stufe.309 Damit ist eindeutig auf die Ethik des Porphyrios und deren Klassifizierung der Tugenden angespielt;310 die erste Stufe, die πρώτη καὶ περίγειος τετρακτὺς τῶν ἀρετῶν des Synesios, entspricht den πολιτικαὶ ἀρεταὶ. Die Philosophie hat nach Synesios die Erlangung der Affektfreiheit, der apatheia, als Ziel. Sie bewirkt in der Seele des Philosophierenden eine unerschütterliche Heiterkeit und Glückseligkeit.311 Das philosophische Leben erscheint in diesme Brief also als eine schrittweise Abwendung der Seele von der materiellen Welt und Hinwendung zur Betrachtung des Seienden auf dem porphyrischen Stufenweg der Tugenden. Die Befolgung dieses Weges beinhaltet die Mäßigung und letztendliche Auslöschung der Leidenschaften; sie bewirkt somit einen Zustand der inneren Heiterkeit, die der Transzendierung der materiellen Welt entspricht. Die religiöse Dimension der Philosophie, die schon in den Briefen 137–140 an den Tag getreten war, wird in der knappen formula valetudinis des Briefes 142 prägnant ausgedrückt: Mögest Du gesund und heiter leben, indem Du die Philosophie als Führerin zum Göttlichen gebrauchst, Du Bewundenswerter.312
Die Philosophie ist für ihn Führerin zum Göttlichen, eine Methode, welche den Weg zum Göttlichen weist. Somit ist sie mehr als bloße intellektuelle Spekulation; sie erfüllt eine religiöse Funktion, nämlich den Menschen zur Vereinigung mit dem Göttlichen zu führen.313 Der Mysteriencharakter der Philosophie, der schon im Brief 137 angeklungen war, beherrscht den Brief 143, in dem Synesios Herkulianos wegen der Diskussion philosophischer Themen mit Nichtphilosophen tadelt und ihm den Bruch der zwischen ihnen bestehenden Vereinbarung, μὴ ἔκπυστα ποιεῖν τὰ ἄξια κρύπ‐ τεσθαι vorwirft. Erfahren habe er davon dadurch, daß Boten von Herkulianos, Nichtphilosophen, sich noch an einige Begriffe erinnern und nach ihrem Sinn fra308 Zur Tradition des philosophisch abgewandelten Präskriptes vgl. KOSKENNIEMI 1956, 163, der auch auf den vorliegenden Brief des Synesios verweist. 309 Ep. 140, GARZYA/ROQUES 281f. 310 Vgl. dazu GARZYA 1992, 236. 311 Ep. 140, GARZYA/ROQUES 282. Nach GARZYA 1992, 237f. lasse Synesios seine Stellungnahme zwischen der rigoristischen Auffassung der Philosophie, welche die Affektlosigkeit anstrebt, und einer moderaten, welche zunächst die μετριοπάθεια anvisiert, hier in der Schwebe; im späteren Dion rücke er letztere stärker in den Vordergrund. 312 Ep. 142, GARZYA/ROQUES 284: Ἐρρωμένος εὔθυμος διαβιῴης φιλοσοφίᾳ χρώμενος εἰς τὸ θεῖον ποδηγετούσῃ, ἀξιάγαστε. 313 Den religiösen Charakter der Philosophie in den Briefen an Herkulianos halten auch BREGMAN 1982, 25–28 und TINNEFELD 1975, 141f fest.
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gen. Offensichtlich legen sie ihm auch seine eigenen Schriften (συγγράμματα) vor, deren Urheberschaft Synesios allerdings vorsichtig abstreitet.314 Er ermahnt nun Herkulianos eindringlich, dies in Zukunft zu vermeiden. Er möge doch den Brief des Pythagoreers Lysis an Hipparchos oftmals lesen; dann dürfte er seine οὐ δεούση ἔκφανσις bereuen. Der Begriff ἔκφανσις spielt auf die Handlung des Hierophanten an, der bei den Eleusinischen Mysterien die heiligen Gegenstände rituell zeigte.315 Ein Philosophieren vor dem Volk, so Synesios in Anlehnung an Lysis, erzeuge tiefe Verachtung der Menschen für das Göttliche.316 Im folgenden macht er deutlich, welches Publikum er im Auge hat. Es geht um solche Leute, die zu früh bestimmte höhere Dinge gehört und aus purer Überheblichkeit trotz ihrer mangelnden Ausbildung sich das Lehren angemaßt hätten. Ihre Schüler seien geistig gesehen βάναυσοι und hätten teilweise nicht einmal die notwendige Vorbildung genossen: Denn ich kenne bestimmte Menschen, weil ich sowohl vor langer Zeit als dann auch jüngst mit ihnen verkehrte, die, weil sie vorschnell würdigere Sprüchlein vernommen hatten, nicht mehr glaubten, Laien zu sein (was sie tatsächlich waren), und erfüllt von Aufgeblasenheit göttliche Lehren befleckten, indem sie sich die Lehrautorität über Dinge anmaßten, die zu lernen sie nicht das Glück gehabt hatten. Und dennoch gewannen sie drei oder vier Leute zu Anhängern, die sie bewundern sollten, wobei diese vollendete Banausen waren, soweit es die Seele betraf; einige davon waren nicht einmal durch die Vorwissenschaften geführt worden.317
Die Bedeutung der Vorbildung, der Beschäftigung mit den vorbereitenden Wissenschaften, für das Studium der Philosophie, wird hier aufs deutlichste ausgesprochen. Dieses Thema wird später im Dion breit entfaltet. Die Parallelität zum Dion erlaubt es, mit einiger Wahrscheinlichkeit zu bestimmen, was mit den προπαιδεύματα gemeint ist: die wissenschaftliche, literarische und rhetorische paideia, die im Dion als einzig sicherer Weg zur Philosophie gefeiert wird.318 Die Philosophie erscheint somit wie bei Julian als krönender Abschluß der Bildung, was, wie in ep. 137 zu vermuten war, auf Hypatias Unterricht zurückgeht. Synesios bittet Herkulianos, diesen Brief nicht anderen zu zeigen, damit nicht bestimmte Personen aus seiner Umgebung sich darin erkennen und verletzt füh314 Anders LACOMBRADE 1951b, 62, der μεταποιεῖσθαι mit „erkennen“ übersetzt und in den betreffenden συγγράμματα esoterische neuplatonische Literatur wie etwa die Werke des Porphyrios oder die Chaldäischen Orakel sieht. Μεταποιεῖσθαι ist jedoch eher mit „sich zuschreiben“ zu übersetzen; so übersetzen sowohl ROQUES (ROQUES, GARZYA 2000, 285) als auch GARZYA 1999, 344–345. Vgl. dazu auch den Eintrag im LIDDELL, SCOTT, JONES 1116. 315 Vgl. ROQUES in ROQUES, GARZYA 2000, 408f, Anm. 6 zu ep. 143. 316 Ep. 143, GARZYA/ROQUES 285: Τὸ γὰρ δαμοσίᾳ φιλοσοφέν – οὕτω γάρ πως ὁ Λῦσις ὑποδωρίσας λέγει – μεγάλης εἰς ἀνθρώπους ἦρξε τῶν θείων καταφρονήσεως. 317 Ep. 143, GARZYA/ROQUES 285: Ἐπεί τοι συγγεγονὼς ἐγώ τισιν οἶδα καὶ πάλαι μὲν ἀτάρ τοι καὶ ἔναγχος ἀνθρώποις οἳ διὰ τὸ προαλῶς ἀκηκοέναι ῥηματίων σεμνο‐ τέρων, ἠπίστησαν ἑαυτοῖς ὃπερ ἦσαν ἰδιώταις εἶναι, καὶ φύσης ἐμπλησθέντες ἐμόλυναν θεσπέσια δόγματα μεταποιήσει διδασκαλίας ὧν οὐκ εὐτύχησαν μάθη‐ σιν. Καὶ μέντοι καὶ τοὺς θαυμασομένους τρεῖς τινας ἢ τέτταρας οὐδὲν ἀποδέον‐ τας βανάυσους εἶναι τό γε κατὰ ψυχὰς ἀνηρτήσαντο μηδὲ διὰ τῶν προπαιδευ‐ μάτων ἐνίους ἠγμένους. 318 Vgl. ROQUES, in ROQUES, GARZYA 2000, 409, Anm. 11 zu ep. 143.
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len. Auch bei der Beschwörung der Freundschaft, die ihn mit Herkulianos verbindet, schlägt er pythagoreische Töne an und erinnert an die τετρακτύς, die sie mit zwei anderen Freunden in Alexandrien bildeten. Dies bietet ihm die Gelegenheit, zum Ende des Hauptteils des Briefes noch einmal auf die pythagoreische Arkandisziplin hinsichtlich der τετρακτύς anzuspielen.319 Die pythagoreische Färbung des Briefes könnte bewußt eingesetzt sein, um die Notwendigkeit der philosophischen Arkandisziplin nachdrücklich zu unterstreichen.320 Auch die formula valetudinis ist dementsprechend gestaltet: Lebe gesund im reinen und vorsichtigen Streben nach der Philosophie.321
Die Briefe 142 und 143 explizieren somit hinsichtlich der Philosophievorstellung des Synesios nur Themen, die schon in den allgemein als früh anerkannten Briefen enthalten sind. Ihre Einbeziehung an dieser Stelle kann somit das Ergebnis nicht verfälschen, auch wenn sie in eine spätere Zeit gehören sollten. Einen problematischeren Fall bilden die Briefe 144 und 146, die einen neuen Aspekt thematisieren: Synesios’ Einstellung zu einer politischen Laufbahn. Wie oben erwähnt, lassen sich diese Briefe nicht genau datieren. Sie könnten in Synesios’ Frühzeit gehören und sind daher an dieser Stelle zu analysieren. Schon in den bisher behandelten Briefen, auch in jenen, die einhellig in die Zeit nach der Rückkehr aus Alexandrien angesetzt werden, wird die Philosophie als die Sphäre des Geistigen und Göttlichen der Sphäre des normal Menschlichen gegenübergestellt. In ep. 137 hielt Synesios es für die Pflicht des Philosophen, mit seinen Mitmenschen nicht auf göttliche Weise zu verkehren, wohl aber auf politische Weise – als Mitbürger und Mitmensch. Somit ergibt sich schon aus diesem Brief die Annahme, daß die Welt der Politik entsprechend wie bei Plotin und Porphyrios zu den ἀνθρωπικά gehört und somit eine Wirklichkeit zweiten Ranges ist. Allerdings ergibt sich auch die Konsequenz, daß aber der Philosoph nicht ohne weiteres von ihr enthoben ist, da sich die Beziehungen zu seinen Mitmenschen nach ihren Regeln abzuspielen haben. Die Briefe 144 und 146 werden in der Forschung zusammen betrachtet. HER322 MELIN schlug vor, ep. 146 vor ep. 144 anzusetzen. CAMERON/LONG, ROQUES 319 Ep. 143, GARZYA/ROQUES 286. 320 Pythagoreische Studien gehören sowohl bei Jamblich als auch bei Porphyrios zur einführenden Phase des philosophischen Curriculums. Jamblichs Vita Pythagorica ist für den Anfang des Studiums vorgesehen, während Porphyrios während seiner langen Abwesenheit im Dienste der Hellenen (Brief an Markella 4) seine Frau Markella, die vorher lediglich zehn Monate bei ihm Philosophie studieren konnte, ihrer philosophischen Entwicklungsstand entsprechend mit einer Kombination einer Vielzahl von pythagoreischen und pythagoreisierenden Sentenzen zu einem richtigen Leben ermahnt. Dazu gehören auch wiederholte Ermahnungen, nicht mit Unwürdigen bzw. mit der Masse über Gott zu sprechen (Brief an Markella 15), die dem Grundtenor, wenn auch nicht dem Wortlaut nach, den Ausführungen in Synesios’ Brief 143 entsprechen. Synesios greift also in diesem Brief wahrscheinlich auf altbekannte Topoi des Philosophiestudiums zurück. 321 Ep. 143 GARZYA/ROQUES 287: ἐρρωμένος διαβιῴης εὐαγῶς καὶ εὐλαβῶς φιλοσο‐ φίας ἀντιποιούμενος. 322 HERMELIN 1934, 22ff.
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und GARZYA folgen ihr, wenngleich vorsichtiger, während SCHMITT an der chronologischen Anordnung der Briefe festhält und das zeitliche Verhältnis umdreht. Die genauen Details der in ihnen behandelten Angelegenheit sowie die Identität der erwähnten Personen bleiben dunkel; dafür beleuchten die Briefe Synesios’ Verständnis der Beziehung zwischen Politik und Philosophie. Wenn davon ausgegangen wird, daß ep. 146 den Anfang dieser Episode bildet, so kann trotz aller Unklarheiten festgehalten werden, daß Herkulianos versucht, Synesios mittels seiner Beziehungen in einer politischen Karriere zu fördern: Τὸν ἀδελφὸν Κῦρον ἔδει κομίσασθαι παρά σου γράμματα περὶ ὧν ἐδήλωσας διὰ τὸν ἐκ Πενταπόλεως κόμητα. Χάριν μὲν ἔσχον τῇ προαιρέσει τοῦ συστήσαντος, ἐπελάθου δὲ ὅτι φιλοσοφεῖν πειρῶμαι καὶ μικρὸν ἡγοῦμαι τιμὴν ἅπασαν, εἰ μὴ ἐπὶ φιλοσοφίᾳ γένοιτο. Δέομαι οὖν διὰ τὸν θεὸν οὐδέν· οὔτε γὰρ ἀδικοῦμεν, οὔτε ἀδικοῦμεθα. Τὸ δὴ τοιοῦτον ἐκεῖνον μὲν ὑπὲρ ἡμῶν ἔπρεπε ποιεῖν, ἡμῖν δὲ αἰτεῖν οὐ πρέπον. Εἰ γὰρ ἔδει ζητεῖν ἐπιστολὰς, αἰτεῖν ἔδει πρὸς ἐμὲ γενέσθαι (οὕτω γὰρ ἂν ἐπιτιμήθην), οὐχ ὑπὲρ ἡμῶν πρὸς ἕτερον. Dein Bruder Kyros sollte von Dir einen Brief empfangen über die Angelegenheit, die Du wegen des comes aus der Pentapolis erläutert hast. Ich empfand zwar Dankbarkeit gegenüber der Absicht des Empfehlenden; Du hast jedoch vergessen, daß ich zu philosophieren versuche und jegliche Ehre gering schätze, wenn sie mir nicht wegen der Philosophie zuteil wird. Wir bedürfen nun dank Gott nichts; denn weder tun wir Unrecht, noch wird uns Unrecht angetan. Es ziemte sich zwar für jenen, solches für uns zu tun, aber nicht für uns, darum zu bitten. Denn wenn man Briefe hätte anstreben müssen, dann hätte man verlangen müsen, daß jene an mich gerichtet werden (so wäre ich geehrt worden), nicht für uns an einen anderen.
SCHMITT hat gegenüber der bisherigen Forschung zu Recht darauf hingewiesen, daß Kyros nicht als Überbringer, sondern als Empfänger der erwähnten Briefe zu gelten hat.323 Seine Identifikation des Synesios mit dem comes erscheint jedoch, wie oben dargelegt wurde, nicht überzeugend. Dennoch läßt sich mit CAMERON/LONG und SCHMITT als Quintessenz festhalten, daß Herkulianos Synesios den Kontakt zu seinem Bruder eröffnen und ihm damit zu τιμή, zu einer Ehrenstellung, verhelfen wollte. Die Formulierung legt nahe, daß Synesios zumindest von diesem Plan wußte. Er erklärt seine Dankbarkeit für Herkulianos’ Vorsatz, lehnt aber aus zwei Gründen dankend ab. Zum einen habe Herkulianos vergessen, daß Synesios als Philosoph zu leben versuche und jegliche Ehren(stellung) geringschätze, wenn sie nicht im Zeichen der Philosophie stehe. Zum anderen habe die Form der Empfehlung Synesios’ Würde und Rang mißachtet und ihn in einem falschen Licht erscheinen lassen: als politischen Streber niederen Ranges, der auf höhere Kontakte und die Unterstützung des Kyros angewiesen wäre.324 Da nichts ihn dazu dränge, politisch tätig zu werden und nach τιμή zu streben, da er weder Unrecht begehe noch solches erleide, kann er Herkulianos’ Ansinnen stolz zurückweisen.
323 T. SCHMITT 2001, 523f. 324 Vgl. CAMERON, LONG 1993, 86 (die allerdings den comes als Empfänger der Briefe sehen) sowie T. SCHMITT 2001, 525.
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Ep. 144 könnte als späteres Nachspiel zu diesem Brief gesehen werden: „Ep. 144 (p. 254 G) recants just such a proud refusal, apparently this one“:325 Περὶ τοῦ κόμητος ἐγεγράφεις διὰ Οὐρσικίνου (λέγω δὲ τοῦ τυχόντος ἀρχῆς τῶν ἐν τῇ πατρίδι στρατιωτῶν) καὶ ᾔτεις συνθήματα παρ′ ἡμῶν, τοῦ γενέσθαι παρὰ τῶν δυναμένων τοῦτο ποιεῖν σῶν φίλων γράμματα πρός τε αὐτὸν καὶ πρὸς τὸν ὀρδινάριον ἄρχοντα. Τὴν μὲν οὖν προαίρεσιν ἀπεδεχόμην καὶ τότε· τὸ δὲ ἔργον ὡς παρέλκον ἠρνούμην, γυμνὸν ἐμαυτὸν εἰς φιλοσοφίαν ἱστάς. Νῦν δὲ ἀδικού‐ μενοι φίλοι, καὶ ἰδιῶται καὶ στρατιῶται βιάζονταί με βούλεσθαι μεταποιεῖσθαι τῆς πολιτικῆς δυνάμεως πρὸς ἣν ἀποπεφυκώς οἶδα, καὶ αὐτοί μοι τοῦτο συνίσα‐ σιν· ἀλλὰ βιάζονται σφῶν ἕνεκα ποιεῖν τι καὶ ἀκούσιον. Νῦν οὖν εἰ δοκοίη σοι τοῦτο ποιεῖν, ἐπιτρέπω. (...) Προσαγορεύει σε πᾶς μου ὁ οἶκος, προσγενομένου αὐτῷ νῦν καὶ Ἰσίωνος, ὃν ἐπόθεις ἀπὸ διηγημάτων. Ὃς αἴτιός μοι γέγονε τῆς ἀγεννοῦς καὶ ἀφιλοσόφου τῶν γραμμάτων αἰτήσεως πρὸς τοὺς ἄρχοντας, κατα‐ δεηθεὶς τὰ μὲν αὐτοπρόσωπος ὑπὲρ πολλῶν, τὰ δὲ δι′ ὧν ἐκόμισεν ἐπιστολῶν.326 Über den comes schriebst Du mir durch Ursikinos (ich meine aber den, der den Oberbefehl über die im Vaterlande befindlichen Soldaten erlangt hat) und Du verlangtest von mir Zeichen, damit von Deinen Freunden, die solches zu tun vermögen, Briefe sowohl an ihn als auch an den archon ordinarius ergehen. Den Vorsatz billigte ich auch damals, die Ausführung jedoch verweigerte ich als eine überflüssige Ablenkung, da ich mich nackt auf den Boden der Philosophie stellte. Nun aber zwingen mich Freunde, weil sie Unrecht erleiden, Privatmänner und Militärangehörige gleichermaßen, die politische Macht anzustreben, zu der ich weiß, daß ich von Natur aus nicht tauge, und sie selbst sind sich dessen mit mir bewußt. Aber sie zwingen mich, ihretwegen auch gegen meinen Willen in irgendeiner Weise zu handeln. Nun also erlaube ich es, falls es Dir richtig scheint, dieses zu tun. (..) Mein ganzes Haus grüßt Dich, dem sich nun auch Ision dazugesellt hat, nach dem Du aus Erzählungen Sehnsucht verspürtest. Dieser wurde für mich der Urheber der gemeinen und unphilosophischen Bitte um Briefe an die Amtsinhaber, nachdem er einige Bitten von Angesicht zu Angesicht im Namen vieler vortrug, andere aber durch die Briefe, die er brachte.
Wenn diese Ausführungen sich auf ep. 146 und die darin geschilderte Situation beziehen, dann könnte diese daraus rekonstruiert werden. Herkulianos hatte anscheinend Synesios über Ursikinos, der auch im Brief 146 erwähnt wird, um seine Zustimmung gebeten, daß er seine Kontakte einsetze und seine einflußreichen Freunde Briefe an den comes sowie an den ὀρδινάριος ἄρχων schreiben, offensichtlich mit dem Ziel, Synesios damit zu einer politischen Stellung zu verhelfen. Synesios habe zwar den Vorsatz auch damals billigend zur Kenntnis genommen, aber die praktische Umsetzung als überflüssige Ablenkung von der Philosophie verweigert. Die Formulierung ist parallel zu ep. 146 – die Rede vom Vorsatz, der an sich dankbar zur Kenntnis genommen werden könnte, die Erwähnung des Ursikinos als Überbringer von Briefen des Herkulianos an Synesios sowie die Begründung für seine Absage mit dem Vorrang des philosophischen Lebens. Daher erscheint es plausibel, ihn als Nachspiel von ep. 146 zu sehen. Seitdem habe sich die Lage grundlegend geändert. Freunde, denen Unrecht geschehe, Privatleute wie Angehörige des Militärs,327 drängten ihn dazu, politisch aktiv zu werden und sich 325 CAMERON, LONG 1993, 86. Vgl. auch VOGT 1985d, 103. 326 Ep. 144, GARZYA/ROQUES 288. 327 T. SCHMITT 2001, 535 mit Anm. 141 übersetzt als „Privatleute und Funktionäre“, läßt aber auch offen, daß es sich tatsächlich um Soldaten handeln könnte.
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in eine ihm wesensfremde Sphäre zu begeben.328 Dies erinnert an andere Briefe, in denen Synesios die militärische Lage in der Kyrenaika sowie seine Versuche, der Mißstände wie der Barbareneinfälle Herr zu werden, beschreibt. Diese Briefe sind allerdings alle in die Zeit nach 405 zu datieren; dies wäre ein Indiz für eine Spätdatierung von ep. 144329 und somit auch von ep. 146. Allerdings könnten solche Beschwerden auch in die Zeit vor der Gesandtschaft gefallen sein. Hat nun Synesios’ Einlenken greifbare Spuren hinterlassen, und kann es mit einem bekannten Ereignis aus seinem Leben identifiziert werden? HERMELIN wirft daher mit Recht die Frage auf, ob die „Aufforderungen, welchen Synesios zuletzt nachgibt, die Annahme eines Amtes bezwecken“, da die Bekleidung eines Amtes in der Heimatprovinz – Synesios soll sich ja für seine Freunde verwenden, die unter den Mißständen leiden – im Regelfall nicht zulässig war. Somit sieht sie darin weniger ein konkretes Amt gemeint als vielmehr die Gesandtschaft nach Konstantinopel,330 womit die Briefe vor 397 zu datieren wären.331 Bei der Interpretation dieser Briefe ist nicht zu vergessen, daß die Wertschätzung des otium, des kultivierten privaten Lebens, verbunden mit der Distanzierung von der Politik, ein in der spätantiken gesellschaftlichen Elite verbreiteter rhetorischer Topos ist. und somit zum ‚guten Ton‘ gehört.332 Auf diesem Hintergrund wird deutlicher, warum Synesios sich von der Form, in der Herkulianos für ihn eintritt, beleidigt fühlt, da diese suggeriert, daß er ein unkultivierter politischer Karrierist sei. Dementsprechend betont er in ep. 144, daß er nicht aus eigenem Antrieb, sondern nur widerwillig von den Bitten seiner Freunde getrieben sich dazu entschlossen habe, besonders von denen eines gemeinsamen Bekannten na328 T. SCHMITT 2001, 536f verweist darauf, daß „ἀποπεφυκώς kein verbum simplex, sondern ein compositum ist, dessen Präfix eine Veränderung signalisiert. Ein Blick in LIDDELL, SCOTT, JONES lehrt überdies, daß zu ἀποφύομαι ein Perfektstamm im Aktiv mit der Bedeutung „grow afresh“, also „ein neues Wachstum beginnen“ gehört. Es kann demnach keine Rede davon sein, daß Synesios von Anfang an und „natürlich“ diese Haltung zur Politik eingenommen hätte: (...) Im Zusammenhang mit der Philosophie ist hier gewiß die Bekehrung gemeint.“ Wenn man diese Bedeutung hier unterstellt, dann müßte man eher übersetzen, daß Synesios im Hinblick auf die Politik bzw. zur Politik hin ein neues Wachstum hinter sich hätte – was eher das Gegenteil von SCHMITTS Theorie wäre. Die Stelle ergibt auch nur dann im Kontext Sinn, wenn das ἀπό seine volle Bedeutung beibehält und Synesios behauptet, daß er der Politik fremd und für sie untauglich sei. Deshalb ist an dieser Stelle den Ausführungen von HERMELIN 1934 der Vorzug zu geben. Sie weist darauf hin, daß sich bei Synesios wie bei anderen nachklassischen Schriftstellern trotz seines Attizismus, der vor allem Stil und Komposition, weniger aber Formenlehre und Syntax prägt (55), die Verwendung von Wörtern, die im klassischen Griechisch zwar aufgrund ihrer Bildung theoretisch in verschiedener Weise gedeutet werden können, aber faktisch nur in einer bestimmten Bedeutung gebraucht werden, in einem neuen Sinn findet (69). So interpretiert sie das ἀποπέφυκα, wobei sie auf Hesychios und spätere Parallelen verweist, im Sinne von „ ‚(von etwas) fern sein’, ‚unkundig, ungeeignet‘ “. (70). 329 Vgl. dazu T. SCHMITT 2001, 535, Anm. 141. Er widmet ein ganzes Kapitel der Rekonstruktion der militärischen Lage der Kyrenaika (564–710). 330 HERMELIN 1934, 24f. 331 Dieselbe Datierung bei VOGT 1985a, 49. 332 Vgl. BREGMAN 1982, 74 mit Parallelstellen sowie GARZYA 1995, 142.
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mens Ision, der ihn zur „gemeinen und unphilosophischen Forderung nach Empfehlungsbriefen an die Amtsinhaber“ bewogen habe.333 Wenn diese beiden Briefe in die Zeit vor der Gesandtschaft gehören sollten, so unterstreichen sie, daß Synesios den philosophischen Topos des Primates des βίος θεωρετικός über den βίος πρακτικός in seine Selbstdefinition integriert hat. Die Verbreitung des allgemein rhetorischen Topos des otium könnte ihm dies erleichtert haben. Somit gehört für ihn zum einen zur Philosophie im Idealfall die Distanzierung vom politischen Streben. Jedoch ist zu bemerken, daß der Philosoph, wie in ep. 137 schon angeklungen war, der Sphäre der Politik nicht vollständig enthoben ist: wenn äußere Mißstände ihn dazu zwingen – wenn ihm oder seinen Freunden Unrecht geschieht –, muß er auch politisch aktiv werden. Die Briefe markieren also keinen Bruch mit der in ep. 137–140 geäußerten Einstellung zum politischen Leben, sondern führen deren Linie fort und konkretisieren sie. Wenn sie ebenfalls in der Zeit unmittelbar nach dem Studium entstanden sind, lassen sie sich als weitere Zeugnisse für eine differenzierte Einstellung – und nicht komplette Ablehnung – der Politik lesen; wenn sie später entstanden sind, belegen sie, daß Synesios’ Position sich in diesem Punkt nicht grundsätzlich geändert hat. Ein Merkmal, das allen untersuchten Briefen zugrunde liegt, ist das Fehlen christlicher Elemente. Die Präsenz christlicher Studenten wird zwar en passant bezeugt – Herkulianos wird aufgetragen, τὸν ἱερὸν ἑταῖρον τὸν διάκονον zu grüßen.334 Synesios greift jedoch nicht auf den christlichen universe of discourse zurück, zitiert keine christlichen Autoritäten und bezieht sich nicht auf christliche Institutionen und Rituale. Zwar redet er immer von „Gott“ im Singular, aber dies ist für einen Philosophen, noch dazu für einen Platoniker nichts Ungewöhnliches.335 Der Gott, den Synesios in den Briefen an Herkulianos anruft oder erwähnt, trägt ausgeprägte platonisch-philosophische Züge: er unterstützt das philosophische Streben, indem er göttliche Gedanken eingibt, verkündet philosophische Wahrheiten, wacht über philosophische Freundschaften. Der Identifikation mit einem Gott aus einer konkreten religiösen Tradition kommt am nächsten das Theogniszitat, das ihm in den Mund gelegt wird – da es sich um ein delphisches Diktum handelt, könnte am ehesten Apollon in Frage kommen. Als Autoritäten werden neben Theognis hauptsächlich die platonischen Philosophen zitiert bzw. rezipiert – Platon, Plotin, Porphyrios und vielleicht sogar orphische Texte. Die Briefe an Herkulianos zeigen somit deutlich, daß die Philosophie für Synesios religiöse Züge trägt. Es ergibt sich das Bild einer typischen neuplatonischen Schule: eines kleinen Kreises um Hypatia, der weniger durch institutionelle 333 So CAMERON, LONG 1993, 87: „Ep. 144 fills in Ep. 146’s picture of the interplay of power and etiquette in recommendation letters. Synesius heavily stresses his personal lack of interest in the favors to be sought. He acts only on behalf of others. Even this indirect need is demeaning: his mere recantation is an „ignoble and unphilosophic request” for which he has to apologize.“ 334 Ep. 144, GARZYA/ROQUES, 288. 335 Auch Platon oder Plutarch können problemlos von Gott im Singular sprechen (vgl. etwa Politeia 379a–382d und De sera 550d ff.). Vgl. dazu KENNEY 1991. Für monotheistische Tendenzen in der Spätantike vgl. ATHANASSIADI, FREDE (Hg.) 1999.
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Kontinuität als vielmehr durch die Bindung an die Lehrerin und der Schüler aneinander strukturiert und zusammengehalten wird.336 Die Philosophie hat deutlich religiöse Züge: sie führt die Seele hinauf zu Gott. Die zitierten Autoritäten sind allesamt dem neuplatonischen Repertoire entnommen. Spezifisch christliche Motive kommen nicht vor, Synesios benutzt höchstens einen Ausdruck, der sowohl dem heidnischen als auch dem christlichen Bereich geläufig ist, und die Formulierung spricht eher für einen rein neuplatonischen Kontext. Eindeutig christliche Motive kommen nicht vor, obwohl christliche Studenten in Alexandrien bezeugt sind. Die Philosophie erscheint somit als religiöser Sonderweg, parallel zu den bestehenden religiösen Traditionen. 337 Synesios definiert sich demnach in religiöser Hinsicht nicht über das christliche universe of discourse, sondern über das universe of discourse des Neuplatonismus. Sein Bekenntnis zu diesem Weg, der neben einer Ethik und einer Theologie durchaus auch eine Gemeinschaft beinhaltet – die philosophische Gemeinschaft, im engeren Sinne durch die Schule der Hypatia dargestellt, welche im weiteren Sinne alle umfaßt, die durch das Bekenntnis zur Philosophie diese als höchste Bildungs- und Lebensform teilen – könnte durchaus als Resultat einer religiösen Konversion, und zwar zur neuplatonischen Philosophie betrachtet werden. 4.3.3. Der IX. Hymnus Die Ergebnisse der Diskussion der Herkulianosbriefe könnten durch den IX. Hymnus bestätigt und erweitert werden. Seine Datierung ist, wie bei den meisten Fällen, aufgrund des Fehlens äußerer Kriterien nicht eindeutig möglich; die meisten Forscher datieren ihn aufgrund innerer Kriterien in Synesios’ Frühzeit.338 Im ersten Teil des Hymnus erteilt der Dichter dem weltlichen Leben mit seinem Streben nach Kraft, Schönheit, Reichtum und öffentlichen Ehrenstellungen eine radikale Absage zugunsten eines unscheinbaren, ruhigen Lebens, das dem Nachsinnen über Gott gewidmet sein soll. Im zweiten Teil folgt eine geraffte Darstellung der neuplatonischen Theologie, Anthropologie und Soteriologie. Die Betonung der Abwendung vom Streben der Durchschnittsmenschen entspricht der Kontrastierung von menschlicher Sphäre und Sphäre der Philosophie in den Herkulianosbriefen. Wenn eine frühe Datierung angenommen wird, kann der Hymnus als Ausdruck der Bekehrung des Synesios gelesen werden.
336 Zu diesem Thema vgl. LIZZI 2002, bes. 387–396. 337 Vgl. BREGMAN 1982, 28: „It is clear from his correspondence with Herculian that Synesius considered philosophy to be a way of life, a constant, religious, and disciplined search for truth which continued throughout his life to have great appeal for him.“ 338 LACOMBRADE 1951b, 185, datiert ihn zur Zeit der Gesandtschaft oder auch kurz vorher. In seiner Ausgabe der Synesioshymnen plädiert er für „une date très ancienne – voisine du premier séjour d’ études à Alexandrie“ (1978, 99). Ihm folgt BREGMAN 1982, 29. VOLLENWEIDER 1985, 26 sieht ihn zumindest als frühesten Hymnus an und datiert ihn in die Zeit nach der Gesandtschaft.
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In den ersten Versen erklärt Synesios emphatisch in Wendungen, die an Homer und Platon erinnern, seine Absage an die profane Liebeslyrik zugunsten eines neuen, „göttlichen Liedes“.339 Motiviert wird diese Wende mit dem Hinweis auf die „gottschwangere Weisheit“, welche Synesios die Nichtigkeit und „honigsüße Verführung“ irdischer Liebe und darüber hinaus auch aller irdischen Güter gezeigt und ihm das Nachdenken über Gott als höchstes menschliches Ziel gewiesen habe: Auf, meine hellklingende Leier, laß nach dem Lied von Teos und nach dem lesbischen Gesang zu ehrwürdigeren Hymnen eine dorische Weise ertönen (...). Denn die reinen, unbefleckten Geburtswehen der gottschwangeren Weisheit drängen, die Saiten der Kithara zu zu einer göttlichen Liedweise zu schlagen, und befehlen, die süße Verführung irdischer Liebe zu fliehen. Denn was ist Kraft, was Schönheit, was Gold, was schließlich Ansehen und kaiserliche Ehren im Vergleich zum Nachdenken über Gott?340
Die Verse lassen unterschiedliche Interpretationen zu: Synesios könnte sich hier einerseits von eigenen Versuchen in der profanen Liebesdichtung distanzieren oder aber auch die Leier, das klassische Instrument der Dichter, von der profanen Dichtung lösen und ihr eine neue Aufgabe zuweisen wollen.341 GRUBER/STROHM entscheiden sich für die zweite Alternative,342 während LACOMBRADE für die erste plädiert.343 Angesichts des thematisierten neuen Lebensideals erscheint es zumindest möglich, daß die ersten Verse eine conversio poetica von der Liebeslyrik zur theologischen Dichtung ausdrücken.344 Sie bilden nur einen Aspekt einer tiefgrei-
339 Für eine detaillierte sprachliche Analyse, die die homerischen und platonischen Hintergründe herausarbeitet, s. BROGGINI 1999, hier 214–216. 340 H. IX, 1–5 und 10–19: Ἄγε μοι, λίγεια φόρμινξ, / μετὰ Τηίαν ἀοιδάν/ μετὰ Λεσβίαν τε μολπάν, / γεραρωτέροις ἐφ᾽ ὕμνοις / κελάδει Δώριον ᾠδάν, / (...) θεοκύμονος γὰρ ἁγνά / σοφίας ἄχραντον ὠδὶς / μέλος ἐς θεῖον ἐπείγει / κιθάρας μίτους ἐρέσ‐ σειν, / μελιχρὰν δ᾽ ἄνωγεν ἄταν / χθονίων φυγεῖν ἐρώτων. / Τί γὰρ ἀλκά, τί δὲ κάλλος, / τί δὲ χρυσός, τί δὲ φᾶμαι, / βασιλήϊοί τε τιμαὶ / παρὰ τὰς θεοῦ μερίμνας; Die Übersetzung lehnt sich an GRUBER, STROHM 1991 an, verändert diese aber vor allem in V. 10–19, wo θεοκύμων nicht als „von Gott gezeugt“ (GRUBER, STROHM 1991 und LACOMBRADE 1978), sondern mit BROGGINI 1999, 218f. als „von Gott schwanger“ übersetzt wird. 341 Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 232. 342 Ebd. 343 1951b, 183 und 1978, 97. 344 Vgl. dazu CORSINI 1984, 364ff, der den Anfang des IX. Hymnus mit Prudentius’ Praefatio zum Kathemerinon vergleicht. Allerdings ist festzuhalten, daß Prudentius’ praefatio weitaus konkreter ist als Synesios’ Hymnusanfang. Während Synesios doch eher unspezifisch die Wende vom Weltlichen zum Geistigen zum Ausdruck bringt, beschreibt Prudentius in seiner praefatio die verschiedenen Phasen seines bisherigen Lebens, gibt sich als alter Mann zu erkennen, der schon auf den nahen Tod blickt und entscheidet sich, in der ihm verbliebenen Zeit seine Dichtkunst in den Dienst Gottes zu stellen und den katholischen Glauben darzulegen. Gerade das Beispiel des Prudentius zeigt, daß solche dichterischen autobiographischen Reflexionen in erster Linie weniger getreue Wiedergabe der Ereignisse und Gefühle, sondern vielmehr dichterisches Kunstwerk sind: obwohl Prudentius seine praefatio so schreibt, als stellte sie den Ausdruck seines Entschlusses zu einer christlich geprägten Dichtung dar, ist sie tatsächlich erst nach allen anderen erhaltenen theologischen Gedichten geschrieben worden
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fenderen Lebenswende, die im folgenden mit einer anderen Wertepriamel umrissen wird: mögen andere weltlichen Freuden und Beschäftigungen nachgehen, sich sportlich auszeichnen, Reichtum anhäufen oder sich um ihre körperliche Schönheit kümmern – der Dichter wünscht sich im Gegenteil dazu ein ruhiges, unauffälliges Leben, welches sich durch Weisheit auszeichnet.345 Diese Distanzierung vom Streben der Durchschnittsmenschen zugunsten der Reflexion über das Göttliche ist parallel zu Passagen von ep. 137 an Herkulianos. Wie BREGMAN hervorgehoben hat, kann der vorliegende Sachverhalt mit NOCKS Begriff der Konversion zur Philosophie beschrieben werden.346 Der Begriff σοφία könnte christliche Assoziationen mit der alttestamentlichen Weisheit erwecken. Allerdings käme in der christlich-jüdischen Tradition der hypostasierten Weisheit primär eine kosmogonische Rolle zu, die hier nicht gegeben ist. Das von Synesios benutzte Bild der Schwangerschaft der Weisheit hat vielmehr seine Quelle in Platons Symposion, wo Diotima Sokrates die Liebe als Streben nach Zeugung im Schönen erläutert.347 Von Natur aus seien alle Menschen gleichsam schwanger und strebten deshalb danach, zu gebären und gleichsam von der Last ihrer Wehen befreit zu werden.348 Dies gelte zum einen für die körperliche Zeugungskraft, zum anderen aber auch für die geistige Fruchtbarkeit, deren Früchte vernünftiges Denken, Tugenden, literarische Werke oder Gesetze seien.349 Diotima skizziert einen naturgemäßen Weg auf der Suche nach dem Schönen, der ausgehend von der Anziehungskraft schöner Körper in früher Jugend zur allmählichen Reife, zur Bewunderung seelischer und geistiger Schönheit und schließlich zur Schau des Schönen an sich führt.350 Auf diesem Hintergrund könnte auch Synesios’ erklärte Abwendung seiner Dichtung und seines Strebens von den Reizen wohlgestalter Mädchen und Jünglinge und den Freuden der Liebe zu höheren, göttlichen Liedern als Ausdruck des bewußten Übergangs zu einer höheren geistigen Entwicklungsstufe gelesen werden. Seine Weisheit ist von Gott schwanger und läßt ihn darum ein ganz anderes Lied anstimmen bzw. gebären.351 Damit ist der erste große Teil des Hymnus zu Ende, der ganz auf die Persönlichkeit des Dichters, die Wende in seinen Werten sowie sein neues Lebensideal fokussiert war. Das Persönliche tritt im folgenden zurück. Der eigentliche „göttliche Gesang“, der im ersten Teil angekündigt worden war, fängt jetzt an: es handelt sich um eine hymnische Darstellung neuplatonischer Theologie und Anthro-
345 346 347 348 349 350 351
(LAVARENNE 1972, VII). Dennoch synthetisiert sie den Leitgedanken des Werkes und darf somit nicht als bloße Fiktion abgetan werden. H IX, 20–44. BREGMAN 1982, 36–38; anders VOLLENWEIDER 1985, 13 mit Anm. 2. Symposion 206b. Darauf verweist auch BROGGINI 1999, 218, der auch eine eindrucksvolle Liste von Plotinstellen anführt, an denen das Bild der geistigen Geburtswehen aufgenommen wird. Symposion 206 c–d. Symposion 208e–209a. Symposion 210a–211d. Als Parallele für die Schwangerschaft der Seele s. Plotin, Enn. V 3,17, wo der Prozeß der philosophischen Erörterung als Versuch der von Wehen gepeinigten Seele erscheint, das Unsagbare – das Eine – auszudrücken.
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pologie. Ansetzend beim obersten Prinzip des Alls vollzieht der Hymnus eine Abwärtsbewegung: nach der Ur-Monas, dem Einen, wird deren Entwicklung zur Trias in den Blick genommen; dann wendet sich der Dichter dem Nous und dessen „ungeteilter Zerteilung“ in die verschiedenen vernünftigen Wesenheiten des Kosmos bis hin zum irdischen Dasein des Menschen zu. Dann konzentriert sich Synesios auf die menschliche Seele und deren Aufstieg aus der materiellen Welt zurück zu Gott. Der erste Abschnitt des „göttlichen Gesangs“ ist dem Lobpreis des göttlichen Urgrunds des Alls gewidmet. Zunächst beschreibt ihn Synesios als über alles souverän thronende, absolut einfache Entität: Er nun, Ursprung, der sich selbst in Bewegung gesetzt hat, Verwalter und Vater der seienden Dinge, ungeboren thront Gott unerschütterlich über den erhabenen Gipfeln des Himmels, im Vollgefühl seiner unzerstörbaren ruhmvollen Kraft, reine Einheit der Einheiten, erste Monas der Monaden, welche die Einfachheit der höchsten Wesenheiten eint und in überseienden Geburten gebiert.352
Synesios verbindet hier Vokabular der Dichtersprache mit neuplatonischen und chaldäischen termini technici, um den höchsten Gott, den Ursprung des Alls, in seiner Majestät darzustellen. Dieser erscheint als Prinzip aller Dinge353, der sich selbst in Bewegung gesetzt hat – das seltene Beiwort αὐτόσσυτος findet sich bei den Tragikern;354 die Stelle erinnert an Platons Bestimmung des Göttlichen bzw. der unsterblichen Seele als Prinzip der Bewegung im Phaidros und in den Nomoi355 –, als Vater und Verwalter aller seienden Dinge – die Bezeichnung Gottes als Vater hat in der griechischen Literatur eine lange Tradition; schon bei Homer und Hesiod wird Zeus mit der stehenden Wendung πατὴρ ἀνδρῶν τε θεῶν τε charakterisiert. Auch dem Neuplatonismus sowie den Chaldäischen Orakeln ist die Bezeichung des höchsten Prinzips als Vater geläufig356. Gott thront in unerschütterlicher Ruhe – ἔμπεδος ist im platonischen Parmenides ein Attribut des Seienden357 – über den hohen Gipfeln des Kosmos – οὐρανοῦ καρήνων ist homerischen Wendungen nachgebildet.358 In einem zweiten Schritt wird dieser Gott näher charakterisiert: wie das platonische Gute oder das plotinische Eine transzendiert er das Sein.359 Ebenso wie dieses ist er reine Einheit,360 welche für die einfa352 H IX, 52–62: Ὁ μὲν αὐτόσσυτος ἀρχά, / ταμίας πατήρ τ᾿ ἐόντων, / ἀλόχευτος, ὑψι‐ θώκων / ὑπὲρ οὐρανοῦ καρήνων, / ἀλύτῳ κύδεϊ γαίων / θεὸς ἔμπεδος θαάσσει, / ἑνωτήτων ἑνὰς ἁγνά, / μονάδων μονάς τε πρώτα, / ἁπλοτήτας ἀκροτήτων / ἑνί‐ σασα καὶ τεκοῦσα / ὑπερούσιοις λοχείαις. 353 Das Eine als arche z.B. bei Plotin III 8,9. 354 Aischylos, Eum. 170; Sophokles frg. 559 (vgl. GRUBER, STROHM 1991zur Stelle). 355 Phaidros 245b–e; Nomoi X, 894d–899d. 356 Vgl. z.B. frg. 3, 7, 14, 18, 22, 25, 29, 36 DES PLACES und Proklos, Eklogai I, II oder IV (bei DES PLACES 1971, 206–208 und 210). 357 Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 237. 358 Ebd. 359 Platon, Politeia VI 509b. Für das plotinische Eine vgl. etwa Plotin Enn. V 1,8. 360 Die Einfachheit Gottes ist seit Platon, Politeia 380d eine Grundvorstellung des Platonismus. Vgl. zum plotinischen Einen als dem ἁπλούστατον Plotin Enn. III 8,9. Weitere Parallelen finden sich bei GRUBER, STROHM 1991, 238.
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chen vollkommenen Wesenheiten zugleich Quelle und vereinigendes Prinzip ist. Begrifflichkeit wie Gedanke sind neuplatonisch. Als Monas wird die oberste Gottheit schon in den Chaldäischen Orakeln bezeichnet.361 Proklos bezeichnet sie ähnlich wie Synesios als ἑνὰς ἑνάδων.362 Als vollkommene Wesenheiten hypostasiert erscheinen die ἀκροτῆτες in den Chaldäischen Orakeln.363 Hier bezeichnen sie wahrscheinlich die Hypostasen der Trias, welche, wie im folgenden deutlich wird, aus der Monas hervorgehen und in der Verbindung mit ihr ihre Einheit finden.364 Nach diesem Passus, welcher die göttliche Quelle des Seins in ihrer Einfachheit besingt, deuten die nächsten Verse ihre Entwicklung zur Trias an und bewegen sich damit einen Schritt weiter abwärts auf der Seinsskala von der reinen göttlichen Einheit zur Vielfalt der materiellen Welt: ὅθεν αὐτὴ προθοροῦσα / διὰ πρωτόσπορον εἶδος / μονὰς ἄρρητα χυθεῖσα / τρικό‐ ρυμβον ἔσχεν ἀλκάν, / ὑπερούσιός τε παγὰ / στέφεται κάλλεϊ παίδων / ἀπὸ κέντρου τε θορόντων, / περὶ κέντρου τε ῥυέντων.365 Von dort aus sprang die Monas selbst hervor um der erstgesäten Form willen; sie ergoß sich auf unsagbare Weise und gewann eine Macht mit drei Blütentrauben. Und die überseiende Quelle bekränzt sich mit der Schönheit ihrer Kinder, die aus dem Mittelpunkt hervorspringen und um den Mittelpunkt herum fließen.
Um den Zusammenhang von Monas und Trias zu veranschaulichen, greift Synesios zwei Metaphern der neuplatonischen Tradition auf. Zum einen benutzt er das Bild der Quelle366, aus der mehrere Ströme entspringen – die „Kinder“, die um die Urquelle fließen.367 Das Bild der Quelle findet sich sowohl bei Plotin als auch in den Chaldäischen Orakeln.368 Eindeutig auf letztere verweist der Begriff ἀλκὴ τρικόρυμβος. Die Orakel kennen eine ἀλκὴ τριγλωχίς;369 das entsprechende Fragment ist bei Damaskios erhalten. Dieser gebraucht den Begriff als Metapher für den dreifachen Gott.370 Die Monas, die zugleich Trias ist, spielt eine zentrale Rolle in der chaldäischen Tradition. Ein Fragment legt nahe, daß sie aus Vater, Dynamis und Nous besteht, wobei der Nous aus den ersten beiden hervorgeht.371 Andere Fragmente sprechen von einer „dreifachen Monas“, die vom ganzen Kosmos verehrt wird.372 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372
Vgl. frg. 11–12 und 26–27 DES PLACES. Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 237. Vgl. THEILER 1942, 20. Vgl. VOLLENWEIDER 1985, 81f. H. IX, 63–70. Die Übersetzung modifiziert die Übersetzung von GRUBER, STROHM 1991. Vgl. Plotin Enn. III 8,10 oder V 2,1. Das Bild der Quelle für Gott spielt in den Chaldäischen Orakeln eine wichtige Rolle. (vgl. frg. 30 oder 37 und THEILER 1942, 11). Auch im Neuplatonismus ist das Bild geläufig; vgl. etwa Proklos, Hymnus VII an Athene, 1–2. Zur Bewegung der Hypostasen um die Quelle vgl. Plotin V 1,6, wo sich der Nous ständig um das Eine herumbewegt. Frg. 37, 49, 52, 56 DES PLACES. Frg. 2 DES PLACES. Vgl. THEILER 1942, 12. Frg. 4 DES PLACES: ἡ μὲν γὰρ δύναμις σὺν ἐκείνῳ, νοῦς δ᾿ἀπ᾿ ἐκείνου. Frg. 26 und 27 DES PLACES.
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Nach Synesios ergießt sich die das Sein transzendierende Monas um der „erstgesäten Form“ willen zur Trias. Darunter ist wahrscheinlich der Nous zu verstehen, die erste Urform, die dann die übrigen Geistwesen und das All hervorbringt. Das Eine ist in der neuplatonischen Weltsicht absolut einfach und formlos, ἀνείδεον.373 Der Nous ist hingegen die erste Form und enthält in sich alle Formen bzw. Ideen der Dinge.374 Die überlieferte kausale Konstruktion, die in den Übersetzungen zu Kopfzerbrechen geführt hat,375 erscheint durchaus sinnvoll, wenn man den chaldäisch-neuplatonischen Faden weiter verfolgt. Synesios könnte auf eine Tradition zurückgreifen, die von Porphyrios begründet wurde. Laut Augustin habe dieser eine Trias von Vater, νοῦς πατρικός sowie einer Zwischeninstanz zwischen Sohn und Vater vertreten.376 Die Ähnlichkeit mit der Triaslehre der Orakel veranlaßte HADOT zur These, daß Porphyrios die chaldäische Triaslehre zur Erklärung des Prozesses benutzt habe, durch den sich das Eine zum Nous und somit zum Sein und seiner späteren Vielfalt entwickelt.377 Im Vater, im Einen, sind Dynamis und Nous schon präexistent; durch den Drang des Einen zum Nous hin entsteht eine unbestimmte Phase reiner Potentialität und Wirksamkeit, die ganz im Zeichen der Dynamis steht. Diese Phase der Dynamis führt dann zum Hervortreten des Nous. Nach HADOT sind Vater bzw. Hyparxis, Dynamis und Nous für Porphyrios nicht so sehr eigene Entitäten wie vielmehr verschiedene Seinszustände ein und derselben Entität, die je nach Blickwinkel als Eines oder als Nous erscheint.378 Porphyrios’ Trias wäre somit eher prozeßhaft-dynamisch als ontologisch zu denken. Ist im Zustand des Einen das kennzeichnende Merkmal die Existenz, so tritt in der Zwischenphase die Wirkmächtigkeit des Einen in den Vordergrund; im Endzustand dominiert der Nous. Die dunkle Hymnenstelle wird erhellt, wenn angenommen wird, daß sich die Monas um des Nous willen, d. h. in der Absicht, ihn und somit die Vielfalt des Seins hervorzubringen, verströmt habe.
373 Plotin Enn. VI 9,3. Vgl. auch Enn. VI 7, die von den Formen und dem Guten handelt. 374 Vgl. Plotin Enn. VI 7, bes. Kapitel 17, wo der Nous in Anlehnung an Aristoteles als εἶδος εἰ‐ δῶν bzw. einfach als εἶδος charakterisiert wird. Das Verhältnis zwischen dem Guten und dem Nous wird dort folgendermaßen umschrieben: ἐπεὶ δὲ ὁ νοῦς εἶδος καὶ ἐν ἐκτάσει καὶ πλήθει, ἐκεῖνος ἄμορφος καὶ ἀνείδεος· οὕτω γὰρ εἰδοποιεῖ, εἰ δ’ ἦν ἐκεῖνος εἶ‐ δος, ὁ νοῦς ἂν εἴη λόγος. 375 VOLLENWEIDER 1985, 82 und GRUBER, STROHM 1991, 127 übersetzen „durch die ersterzeugte Form“ bzw. „durch die erstgesäte Form hindurch“, was keinen Sinn macht, da sich die Monas durch eine Zwischenhypostase zum Sohn, zur „erstgesäten Form“ als Ziel ergießt. VOLLENWEIDER bezeichnet die Stelle als „wenig klar“. 376 Augustin, De civitate Dei X, 23: Quae autem dicat esse principia tanquam Platonicus, novmus. Dicit enim Deum Patrem et Deum Filium, quem graece appellat paternum intellectum, vel paternam mentem: de Spiritu autem sancto, aut nihil, aut non aperte aliquid dicit: quamvis quem alium dicat horum medium, non intelligo. Si enim tertiam, sicut Plotinus, ubi de tribus principalibus substantiis disputat, animae naturam etiam iste vellet intelligi, non utique diceret horum medium, id est Patris et Filii medium. Postponit quippe Plotinus animae naturam paterno intellectui: iste autem cum dicit medium, non postponit, sed interponit. 377 P. HADOT 1968, 95ff und 255–312. 378 P. HADOT, ebd. 245f und 1977, 216–219 und 222–228. Vgl. auch VOLLENWEIDER 1985, 106– 113.
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Die „Kinder“ – die Hypostasen der Trias, die aus der Monas hervorgegangen sind379 – bleiben mit ihrem Ursprung eng verbunden: sie kreisen um ihn als Mittelpunkt. Damit spielt Synesios auf das plotinische Bild vom Einen als Zentrum eines Kreises an, von dem die Radii ausgehen. So, wie die Punkte der Kreisperipherie durch den Radius verbunden sind, sind alle Dinge auf unsagbare Weise mit dem Einen verbunden380. Die Rückwendung der triadischen Hypostasen zu ihrer Quelle entspricht der epistrophe, der Rückwendung des aus dem Einen hervorgehenden Nous und aller anderen nach ihm kommenden Wesenheiten zum Einen.381 Synesios’ Beschreibung Gottes als Urgrund des Alls steht somit ganz in der Tradition des späteren, den Chaldäischen Orakeln zugewandten Neuplatonismus. Spezifisch christliche Elemente lassen sich nicht feststellen – die Rede von der Trias oder die Bezeichnung Gottes als Vater sind keinesfalls christliche Unika,382 und die Terminologie, welche Synesios verwendet, verweist vielmehr auf die neuplatonische Tradition.383 Nach dieser Darstellung der obersten Seinsbereiche hält der Dichter gleichsam erschrocken über seine eigene Kühnheit inne: er gebietet nun seiner Leier Einhalt, um den uneingeweihten Volksmassen die Mysterien nicht zu zeigen und diese damit nicht zu entweihen.384 Hier begegnet wieder der bekannte Topos der Philosophie als Mysterium, der schon in den Herkulianosbriefen begegnete. Im Hymnus markiert sie die Ebene zweier Seinsbereiche, der Sphäre der triadischen Monas einerseits und der aus ihr entsprungenen Vielfalt von Geistwesen andererseits. Im folgenden wendet sich Synesios dem Nous und dessen Erscheinungsformen zu. Diesem obliegt die Sorge um die Geistwesen des Kosmos.385 In ihm liegt die Quelle des menschlichen Geistes, welche sich „auf unteilbare Weise“ teilt. Der Nous taucht zum einen als ganzer ins Ganze des Kosmos ein und belebt und verwaltet diesen; andererseits ist er für die einzelnen Teilen des Kosmos jeweils in geteilter Weise gegenwärtig – als Stern, Engel oder auch als Menschenseele. Diese Wirkungsweise des Nous entspricht genau der platonischen Beschreibung der Weltseele im Timaios, deren Natur als Mischung aus der unteilbaren und der teilbaren Substanz charakterisiert wird.386 Diesen Passus kommentierend beschreibt Plotin das Wesen der Seele folgendermaßen: Die Natur aber, welche zugleich teilbar und unteilbar ist, von der wir natürlich sagen, sie sei Seele, ist nicht so beschaffen, als wäre sie vom Zusammenhang her eine einzige und hätte unterschiedliche Teile. Sondern sie ist teilbar, weil sie sich in allen Teilen dessen befindet, in dem sie ist, unteilbar aber, weil sie in allen als Ganze ist, auch in jedem beliebigen Teil als Ganze anwesend. (...). So ist sie geteilt und wiederum nicht geteilt, genauer gesagt, sie ist 379 380 381 382 383 384 385
Vgl. VOLLENWEIDER 1995, 82. Vgl. etwa Plotin Enn. IV 1,16; V 1,11, VI 8,18. Vgl. auch GRUBER, STROHM 1991, 151. Vgl. VOLLENWEIDER 1985, 82. Gegen ROQUES 1987, 303. Vgl. BREGMAN 1982, 30–32. H. IX, 71–75. Ich folge hier der Lesart und Übersetzung von GRUBER, STROHM 1991. Anders LACOMBRADE 1978, 103. 386 Timaios 35a.
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike nicht geteilt und ist auch nicht geteilt entstanden. Denn sie bleibt ganz bei sich, um die Körper herum ist sie aber geteilt, weil die Körper aufgrund des ihnen wesenseigenen Geteiltseins nicht fähig sind, sie auf ungeteilte Weise aufzunehmen.387
Daß Synesios dem Nous die Funktionen der Weltseele zuweist, erklärt sich aus einer nachplotinischen Entwicklung der Hypostasenlehre. Waren die Hypostasen bei Plotin noch klar geschieden, so rückt sie Porphyrios enger zusammen und läßt sie miteinander verschmelzen.388 Auf diesem Hintergrund kann Synesios beschreiben, wie der Nous im Kosmos die verschiedenen Geistwesen entstehen läßt. Als solche nennt er hier Sterne, Engel und Menschen. Die ἄγγελοι könnten auf den ersten Blick christlich anmuten; jedoch spricht schon der Mittelplatoniker Kelsos, der bekanntlich aufs schärfste gegen das Christentum polemisiert, von Engeln als einer Ordnung von Wesenheiten, die zwischen Göttern und daimones angesiedelt sind.389 Auch in den Chaldäischen Orakeln werden sie genannt.390 Schließlich wehrt sich der Neuplatoniker Proklos entschieden gegen die Behauptung, daß die Lehre von den Engeln barbarischen Ursprungs sei: auch Platon nenne ja Iris und Hermes Götterboten (ἄγγελοι).391 Das Hauptaugenmerk richtet sich auf den als Menschenseele auftretenden Nous, dem die Verse 78–84 sowie 93ff. gelten. Es wird betont, daß die menschliche Seele göttlicher Herkunft ist – sie ist nichts anderes als in die Materie herabgestiegener unvergänglicher Nous, ein – wenngleich geringer – Sproß der „göttlich-herrscherlichen“392 Eltern. Die Göttlichkeit des menschlichen Nous wird durch die Verwendung von καταιβά‐ τας unterstrichen, welches ein „altes Kultwort für den in Blitz und Donner niederfahrenden Zeus“ ist.393 Synesios beschreibt die Entstehung der menschlichen Seele mit düsteren Bildern: sie ist aufgrund einer sie nach unten zerrenden Fessel in eine irdische Form geraten; sie hat sich von ihren Eltern losgesagt und dunkles Vergessen geschöpft. Der Grund für diesen Fall ist, daß sie sich von der – eigentlich absolut reiz- und freudlosen394 – Erde hat bezaubern lassen. Sie, die eigentlich 387 Plotin Enn. IV 1,1: ἡ δ’ ὁμοῦ μεριστή τε καὶ ἀμέριστος φύσις, ἣν δὴ ψυχὴν εἶναί φα‐ μεν, οὐχ οὕτως ὡς τὸ συνεχὲς μία, μέρος ἄλλο, τὸ δ’ ἄλλο ἔχουσα· ἀλλὰ μεριστὴ μὲν, ὅτι ἐν πᾶσι μέρεσι τοῦ ἐν ᾧ ἔστιν, ἀμέριστος δὲ, ὅτι ὅλη ἐν πᾶσιν καὶ ἐν ὁτῳ‐ οῦν αὐτοῦ ὅλη. (...) ὥστε μεμερίσθαι καὶ μὴ μεμερίσθαι αὖ, μᾶλλον δὲ μὴ μεμερί‐ σθαι αὐτὴν μηδὲ μεμερισμένην γεγονέναι∙ μένει γὰρ μεθ’ ἑαυτῆς ὅλη, περὶ δὲ τὰ σώματά ἐστι μεμερισμένη τῶν σωμάτων τῷ οἰκείῳ μερισμῷ οὐ δυναμένων αὐ‐ τὴν ἀμερίστως δέξασθαι. Eine Zusammenfassung findet sich bei Porphyrios, Sent. 5 LAMBERZ 2. 388 Für diese Zusammenschau der Hypostasen hat LLOYD den Terminus „telescoping of the hypostases“ geprägt (1990, 138).Vgl. dazu BREGMAN 1982, 83 und I. HADOT, 2004, 28 mit Anm. 100, wo betont wird, daß bei Porphyrios der Demiurg zwischen Nous und überweltlicher Seele schillert. 389 Vgl. Origenes, Gegen Kelsos VII 68. 390 Vgl. frg. 137–138 DES PLACES. 391 Zitat aus dem Politeia-Kommentar bei GRUBER, STROHM 1991, 162. 392 Übersetzung von GRUBER, STROHM 1991. 393 GRUBER, STROHM 1991, 240. 394 Es liegt eine Reminiszenz an ein Empedoklesfragment vor (VS 31B 121,1); das Zitat wird in De Providentia ausführlicher zitiert. Das Zitat wurde von Neuplatonikern rezipiert. (vgl. GRUBER, STROHM 1991, 242).
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ein Gott ist, hat ihren Blick fest auf das Sterbliche gerichtet und bewundert es mit „blindäugigen Sorgen“ – blind für dessen eigentliche Natur. Die benutzten Bilder muten fast gnostisch an – der Fall eines göttlichen Wesens, seine Abwendung vom Göttlichen aufgrund eines Blickes zur Materie, welches Verlangen dazu zeitigt, sodann das Vergessen und die Blindheit finden sich in gnostischen Texten wie z. B. im Poimandres. Dieselben Bilder finden sich auch in neuplatonischen Texten. Porphyrios beschreibt wie jener Teil der Seele, der sich zur Materie neigt – τὸ πρὸς ὕλην ῥέψαν, dieselbe Begrifflichkeit wie bei Synesios – aufgrund seiner Bereitschaft, mit ihr zu verkehren, in deren Gewalt gerät und eine ‚Kenosis‘ seiner spezifischen Kräfte erleidet.395 Daß die Seelen Gott, ihren Vater, vergessen, beklagt Plotin in Enn. V 1,1; daß sie sich von ihm lossagen in Enn. V 4,1. Gnostiker und Neuplatoniker teilen hinsichtlich der Anthropologie dieselben Vorstellungen.396 Die Nähe zu Porphyrios’ Formulierungen legt nahe, daß Synesios seine Vorstellungen aus der neuplatonischen Tradition schöpft; ein gnostischer Einfluß kann aber nicht ausgeschlossen werden. Eine Lektüre des Poimandres oder verwandter hermetischer Texte mit gnostischer Färbung ist für den neuplatonischen Philosophiestudenten in Alexandria durchaus denkbar – auch Jamblich hatte, wie oben dargelegt, in De mysteriis hermetische Vorstellungen verarbeitet, die inhaltlich dem Poimandres nahe stehen. Das wichtigste Merkmal der Anthropologie, wie Synesios sie hier skizziert, ist die nachdrückliche Betonung der Göttlichkeit der menschlichen Seele397 – er bezeichnet sie dezidiert als θεός – und der Tatsache, daß das irdische, der Materie zugewandte Leben ihrer wahren Natur widerstreitet. Nachdem in der Abstiegsbewegung mit der menschlichen Seele die letzte Stufe des Nous erreicht worden ist, wendet sich Synesios ihrem Aufstieg zurück zu Gott zu. Auch für die so tief gesunkene Seele, die ihre Herkunft gänzlich vergessen hat, besteht eine Chance zur Rettung: ihre Blindheit ist nicht vollständig und irreversibel: Noch ist ein Lichtglanz in den verborgenen Pupillen; auch denen, die hierher gefallen sind, wohnt eine nach oben führende Kraft inne, wenn sie den Lebenswogen entronnen sorglos heilige Pfade zum Allerheiligsten des Vaters einschlagen.398
Auch hier erscheint das in den Herkulianosbriefen benutzte platonische Bild vom inneren Auge der Seele; Synesios hatte es dichterisch schon durch die Hinweise auf das „finstere Vergessen“, die „blinden Sorgen“ und den unentwegten Blick der Seele auf das Sterbliche vorbereitet.399 Dieses innere Auge gibt noch schwache Lebenszeichen; in der Seele ist noch eine Kraft, die sie nach oben führen kann, wenn sie sich entschließt, sich vom materiellen Leben abzuwenden und den Weg zum Vater einzuschlagen. Mit ἀνάκτορον greift Synesios ein altes Wort 395 Porphyrios, sent. 37 LAMBERZ 42–45. 396 Für einen Vergleich der gnostischen und neuplatonischen Anthropologie und Kosmologie s. ELSAS 1975, bes. 256–283. 397 Vgl. BREGMAN 1982, 34. 398 H. IX, 100–106: ἔνι μάν, ἔνι τι φέγγος / κεκαλλυμέναισι γλήναις / ἔνι καὶ δεῦρο πεσόντων / ἀναγώγιός τις ἀλκά, / ὅτε κυμάτων φυγόντες / βιοτησίων, ἀκηδεῖς / ἁγίας ἔστειλαν οἴμους / πρὸς ἀνάκτορον τοκῆος. 399 H. IX, 96–99.
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der Kultsprache auf, vor allem aus Eleusis bekannt, wo es den heiligsten Raum im Telesterion bezeichnete. Das Thema des Aufstiegs zu Gott wird in den folgenden Versen mittels verschiedener neuplatonischer und chaldäischer Bilder umschrieben. Synesios spricht vom „gefräßigen Gebell“ der Materie, der die Seele entfliehen muß, um auf dem „Weg des Nous“ den „gottglänzenden Abgrund“ (βυθὸς θεολαμπής) zu erreichen.400 Der Abgrund als Bezeichnung für die Gottheit erscheint in den Chaldäischen Orakeln, wo vom „überweltlichen väterlichen Abgrund“ (ὁ ὑπερκόσμιος πατρικὸς βυθός)401 gesprochen wird. Von da aus hat der Begriff in den späteren Neuplatonismus Eingang gefunden – so bezeichnet z. B. Proklos damit das gesamte Intelligible.402 Auch das „gefräßige Gebell“ der Materie ist chaldäisch: die Orakel vergleichen die Dämonen der Materie, die die Seele vom Aufstieg abhalten, mit Hunden.403 Der Aufstieg zu Gott ist beschwerlich; an den Phaidros anknüpfend spricht Synesios von der Anstrengung, die es kostet, das Herz mit den Flügeln der „aufwärts führenden Liebe“404 ganz auszubreiten. Die Seele soll ihr Streben nach oben mittels „Gesängen, die zur Wirklichkeit des Geistes führen“405 nähren; wenn sie bei ihrem Vorsatz beharrt, wird Gott, ihr Vater, ihr beim Aufstieg helfen.406 Interessant ist die Rolle der Gesänge. Sie führen zum Nous empor und bestärken die Seele in ihrem Vorsatz, sich von der Materie abzuwenden. Damit bekommt Synesios’ eigene Dichtung soteriologischen Charakter: die Hymnen sind nicht nur durch ihr Thema, sondern auch durch ihre Funktion religiöse Werke. Der Hymnus schließt mit einem Anruf an die eigene Seele, der die bisherigen Ausführungen über das Wesen und Schicksal der menschlichen Seele in einer direkten Anwendung auf die Person des Dichters zusammenfasst. Das letzte Ziel der Seele ist entsprechend der neuplatonischen Soteriologie die wesenhafte Vereinigung mit dem Vater: Steige hinauf, zögere nicht, der Erde das Ihre zurückzulassen, denn bald wirst du vermischt mit dem Vater als Gott in Gott den Reigen tanzen. 407
400 H. IX, 107–115. 401 Frg. 18. S. auch Psellos, PG 122, 1149, der davon spricht, daß die Chaldäer nach dem Einen den „väterlichen Abgrund“ verehren, der aus drei Triaden besteht, welche ihrerseits aus Vater, Dynamis und Nous zusammengesetzt sind. Vgl. THEILER 1942, 10. 402 Vgl. DES PLACES 1971, Anm. 3 zu frg. 18 (126f.) sowie THEILER 1942, 10. 403 Vgl. frg. 90–91; 135 mit den dazugehörigen Anmerkungen von DES PLACES. 404 H. IX, 118. Das Bild von den Flügeln der Seele wird im Phaidrosmythos 246a–249d entwikkelt. 405 H. IX, 121 (Übersetzung von GRUBER, STROHM 1991). 406 H. IX, 120–127: μόνον ἐμπέδωσον ὁρμὰν / νοερηφόροισιν ὄιμαις· / ὁ δέ τοι πέλας φανεῖται / γενέτας, χεῖρας ὀρεγνύς· / προθέοισα γάρ τις ἀκτὶς / καταλάμψει μὲν ἀταρπούς / πετάσει δέ τοι νοητὸν / πεδίον, κάλλεος ἀρχάν. 407 H. IX, 131–134: ἀνάβαινε, μηδὲ μέλλε / χθονὶ τὰ χθονὸς λιποῖσα· / τάχα δ’ ἀμμι‐ γεῖσα πατρὶ / θεὸς ἐν θεῷ χορεύσεις. Zur unio mit dem Nous vgl. Plotin, Enn. V 3,4. 8,11 oder VI 7,34–36; zur Erfahrung des Einen Enn. V3, 14 und 17 sowie VI 9,7–11. In VI 7,34–36 sind unio mit dem Nous und Erfahrung/Schau des Einen verbunden. Zur unio als
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Die im IX. Hymnus skizzierte Weltanschauung bewegt sich somit ganz in den traditionellen Bahnen des späteren Neuplatonismus. Die Ur-Monas, das Eine, entwickelt sich über die Trias408 zur Vielheit. Der Nous, der hier in porphyrischer Manier mit der Weltseele zusammengesehen wird, beseelt und verwaltet als ganzer den ganzen Kosmos, und tritt zugleich dessen einzelnen Teilen in geteilter Form zur Seite. Dadurch entstehen die verschiedenen Geistwesen im Kosmos, zu denen auch der Mensch gehört. Dessen Seele ist eigentlich göttlich, hat sich aber von der Materie, in der sie lebt, betören lassen und hat somit ihren wahren Ursprung aus dem Blick verloren. Die Rettung aus diesem Zustand besteht in der Abwendung von der Materie und der Hinwendung zu Gott, dem Vater der Seele. Diese Abwendung geschieht zunächst aus eigener Anstrengung heraus; wenn die Seele ihrem Vorsatz treu bleibt, wird ihr göttliche Hilfe zuteil. Das Ziel wird neuplatonisch als das „geistige Gefild, Ursprung der Schönheit“409 – was an Plotins Enn. I 6 und das dort gepriesene νοητὸν κάλλος erinnert – oder als Vereinigung mit Gott bestimmt. Es stellt sich nun die Frage, ob christliche Elemente im Hymnus feststellbar sind. Vor allem einige Vertreter der neueren italienischen Forschung haben dafür plädiert und den Hymnus als Werk eines Christen angesehen, der sich der neuplatonischen Ausdrücke lediglich bedient, um christliche Theologoumena auszudrücken. Nach CORSINI bemühe sich Synesios in diesem Hymnus um die Darlegung des christlichen Trinitätsdogmas.410 Allerdings wird das lediglich behauptet und dient als Voraussetzung der Interpretation, wird aber nicht begründet.411 BROGGINI interpretiert den Hymnus ebenfalls als Werk eines Christen. Sein Argument ist die Verwendung des Begriffes θεοκύμων, der eine synesianische Neuschöpfung und ein hapax legomenon in den Hymnen ist. Trotz der platonischen Parallelen für die Metaphorik der Schwangerschaft und des Gebärens für den Prozeß der philosophischen Reflexion und Kontemplation, die er selbst anführt, weist er auf ein christliches Epigramm der Anthologia Palatina hin, wo der Terminus für Maria gebraucht wird;412 daraus schließt er, daß Synesios den Prozeß des Hymnendichtens mittels der Gebärmetaphorik mit der Geburt Christi durch Maria parallelisiere.413 Dies überzeugt nicht, da es nicht gerechtfertigt erscheint, den
408 409 410 411 412
413
letztes Ziel der neuplatonischen Philosophie vgl. Porphyrios, Vita Plotini 23. Zur Kontemplation des Einen als Reigentanz und Chorgesang vgl. Plotin Enn. VI 9, 8–9. Synesios’ Vorstellung von der Trias entspricht dem von den Chaldäischen Orakeln beeinflußten nachplotinischen Neuplatonismus (vgl. dazu den nächsten Abschnitt). Plotin würde von einer „vertikalen“ Trias Eines – Nous – Seele ausgehen (vgl. etwa Enn. V 1). H. IX, 127. CORSINI 1984, 367. S. ebd. 366. Es handelt sich um A. P. I, 50 PATON. Das Epigramm ist eine ὑπόθεσις eines Homercentos, das ein gewisser Bischof Patricius als Christusepos zusammengestellt hatte. Laut EBENERS Einleitung zu der Übersetzung der Anthologia von 1981, LVIII stammen die meisten Epigramme des I. Buches „in der Mehrzahl“ aus dem 5. und 6. Jh. sowie vereinzelt aus dem 7– 10. Jh. Das Epigramm kann somit frühestens in das 5. Jh. n. Chr. datiert werden. BROGGINI 1999, 218f.
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neologismo sinesiano von späteren Verwendungen her zu interpretieren und nichts im Text explizit auf christliche Themen oder Bilder hinweist. Auf dem Hintergrund dieser Weltanschauung erhält auch der erste Teil, in dem die Abwendung vom Profanen verkündet worden war, sein wahres Gewicht. Die Absage an die irdischen Freuden und der Vorsatz, ein ruhiges, dem Nachsinnen über das Göttliche gewidmetes Leben zu führen, erscheinen jetzt als Entschluß, sich von der Materie abzuwenden und sich zu Gott hinzuwenden, als ἐπι‐ στροφή, ähnlich wie Julian in dem Hymnus auf die Göttermutter seine Konversion vom Christentum zum Heidentum mittels der Philosophie in den kosmischen Zusammenhang der Rückwendung zur eigenen Natur und zum Göttlichen integriert hatte. Synesios beschreibt somit in seinem Hymnus paradigmatisch eine neuplatonische Konversion zur Philosophie, die neben einer bestimmten Lebensweise Einsicht in das Wesen des Göttlichen, des Alls und der Menschen bietet, auf der eine klare Soteriologie beruht. Die im Hymnus beschriebene Konversion trägt religiöse Züge, die in ihrer Vergeistigung der Religiosität Plotins nahe kommen. Jeder Kult erscheint überflüssig; das einzige Hilfsmittel für die Seele auf den Weg zu Gott sind die Hymnen. Bezeichnend ist, daß alte Termini des heidnischen Kultes wie etwa ἀνάκτορον spiritualisiert werden, indem sie auf geistige Realitäten bezogen werden. Es liegt keine Abmilderung der neuplatonischen Weltsicht, keine Anpassung an christliche Weltvorstellungen, vor; im Text sind hingegen verschiedene Anspielungen auf platonische Schlüsseltexte dicht verwoben. Daß die hier beschriebene Konversion, die alle Züge einer idealen Hinwendung zur Philosophie vereint, wie sie etwa von den großen Altmeistern Plotin, Porphyrios und Jamblich bekannt war, als konkreter Ausdruck von Synesios’ eigenen Erfahrungen anzusehen sei, ist damit nicht gesagt. Synesios spricht zwar in der ersten Person, aber dies könnte auch nur ein dichterischer Kunstgriff sein. Es gelingt ihm, alle Facetten der neuplatonischen Philosophie in diesem Hymnus darzustellen und die Abwendung von der weltlichen Dichtung des Anakreon oder der Sappho sogar noch durch die Verwendung von Anakreonteen als Versmaß auf die Spitze zu treiben. Ob der Hymnus rein literarische Betätigung oder darüber hinaus auch Ausdruck tatsächlicher lebensverändernder Entscheidungen ist, muß letztlich offen bleiben. Da inhaltlich eine deutliche Nähe zu den Briefen an Herkulianos feststellbar ist, erscheint letzteres zumindest sehr wahrscheinlich.
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4.4. DIE BEDEUTUNG DER PHILOSOPHIE FÜR SYNESIOS IN SEINEN SPÄTEREN WERKEN UND BRIEFEN BIS ZUR BISCHOFSWAHL Wie im Falle Julians muß auch an Synesios’ Schriften die Frage gestellt werden, inwiefern die Identität als Philosoph für ihn auch nach dem Überschwang der frühen Studienjahre relevant bleibt. In diesem Kapitel sollen daher zunächst seine Schriften bis zur Bischofswahl daraufhin analysiert werden, um im nächsten Kapitel zu fragen, welche Veränderungen die Annahme der Bischofswürde mit sich bringt. 4.4.1. Philosophie als religiöse Lebensform in den späteren Schriften Auch in den späteren Schriften behält Synesios dieselbe Auffassung von der Philosophie als Weg zum Göttlichen bei. Dies wird besonders in seiner Schrift „Dion“ aus dem Jahr 405 und dem dazugehörigen Begleitbrief an Hypatia (Ep. 154) deutlich. Um den Vorwurf zu entkräften, daß er aufgrund seines Interesses an schöngeistiger Literatur und Rhetorik kein wahrer Philosoph sei, skizziert er darin seine Auffassung von der Philosophie und ihrem Verhältnis zur literarischen Bildung.414 Seine These ist, daß die Beschäftigung mit der Literatur und den Wissenschaften von höchstem Wert für das philosophische Leben sei. Seinen Gegnern, die gefordert hatten, der Philosoph solle sich nur mit göttlichen Dingen beschäftigen, gesteht Synesios zu, daß das Göttliche tatsächlich das Ziel ist, zu dem die Philosophie führe. Dieser wird die Funktion zugeschrieben, dem Menschen den richtigen Umgang mit sich selbst und mit Gott zu ermöglichen: Auch unser Idealphilosoph wird zum einen mit sich selbst und mit Gott durch die Philosophie verkehren, mit den Menschen aber durch die untergeordneten Fähigkeiten der Rede.415
Das letzte Ziel, zu dem die philosophische Kontemplation führe, „das Heilige“ (τὸ χρῆμα ἱερόν),416 liege jenseits der diskursiven Vernunft (ἐπέκεινα λόγου) und sei nicht durch den Verstand, durch rationales Denken, zu erfassen, da es alle Differenzierungen übersteige. Synesios spielt auf Aristoteles’ Charakterisierung der Mysterien an: die Erfahrung des Heiligen geschehe nicht durch Lernen (μα‐ θεῖν) sondern durch ein Erleiden und die Versetzung in einen bestimmten Zustand (παθεῖν καὶ διατεθῆναι).417 Der hellenische Philosoph,418 wie ihn Syne414 Für eine Analyse des Dion im Kontext der Auseinandersetzungen um die Bildung im vierten Jahrhundert siehe GARZYA 1974. 415 Dion 5,1: καὶ ὁ καθ’ ἡμᾶς φιλόσοφος συνέσται μὲν ἑαυτῷ τε καὶ τῷ θεῷ διὰ φιλο‐ σοφίας, συνέσται δὲ τοῖς ἀνθρώποις διὰ τῶν ὑφειμένων τοῦ λόγου δυνάμεων. 416 Dion 8,6. 417 Dion 8,6. Zur Überlieferungsgeschichte des Aristoteles-Wortes vgl. TREU 1958, 74f. Synesios’ Beschreibung des χρῆμα ἱερόν mutet wie ein antiker Vorgriff auf die Beschreibung des Numinosen bei OTTO an. (OTTO 1963, 5–7). 418 Dion 9,1: ὁ ἡμεδαπὸς φιλόσοφος im Gegensatz zu den βάρβαροι, den christlichen Mönchen.
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sios versteht, versuche nun, die die Vernunft übersteigende Gotteserfahrung mittels der Vernunft soweit wie möglich vorzubereiten. Echt hellenische Philosophie zeichne sich dadurch aus, daß sie die Wissenschaften und Künste integriere und somit einen geordneten, strukturierten Weg zum Göttlichen biete. Auf diesem Weg könne sich der menschliche Geist allmählich weiterbewegen.419 Die erste Stufe dieses Weges stellten die Tugenden dar.420 Synesios erklärt, daß diese lediglich „Bausteine der ganzen Philosophie“421 und den Anfang des Aufstiegs bilden, obwohl sie von manchen schon für das Ziel gehalten werden.422 Es reiche aber nicht, daß die Seele durch die Tugenden vom Schlechten gereinigt werde, sondern sie bedürfe noch der Hinwendung zum Guten und Göttlichen, welche sich schrittweise durch die Vernunft vollziehe.423 Dieser Gedankengang entspricht dem Schluß von ep. 137; ähnlich wie dort spielt Synesios wieder auf Platons Bild des inneren Auges an, das er mit der Vernunft gleichsetzt.424 Sie sei der einzige Teil des Menschen, der Gott aufnehmen könne.425 Dieses innere Auge könne durch die Beschäftigung mit Literatur und mit den Wissenschaften gereinigt werden.426 Man solle daher auf dem Weg zum Göttlichen die Philosophie zur Hilfe nehmen und den schier endlosen, mühevollen Weg durch alle „niedrigeren und höheren Stufen der Bildung und Erziehung“427 durchschreiten, bevor man die tieferen, göttlichen Geheimnisse in rechter bzw. rechtmäßiger Weise erfassen könne – Theologen könnten nie und nimmer wie die Sparten des Kadmos plötzlich aus dem Boden schießen: Wie man erzählt, soll nun die Saat der Kadmos am selben Tag ausgesäte Hopliten hervorgebracht haben; ausgesäte Theologen hat noch kein Märchen widernatürlicherweise ausgemalt. Denn die Wahrheit ist nicht etwas, was frei daliegt oder achtlos hingeworfen oder mit links zu ergreifen wäre. Was nun? Hier rufe man die Philosophie als Verbündete herbei, und sie sollen sich wappnen, jenen ganzen unermesslich langen Weg zu ertragen, indem sie sich bilden und vorbilden. Denn zuerst muß man die Ungeschliffenheit ablegen und die kleinen Mysterien vor den größeren schauen und im Reigen tanzen, bevor man die Fackel trägt, und die Fackel tragen, bevor man als Hierophant auftreten darf.428
419 420 421 422 423 424 425 426 427 428
Vgl. Dion 9. Vgl. Dion 9,5–10,1. Dion 9,6 (Übersetzung von Treu). Dion 9,6–7. Dion 9,8. Dion 9,8. Dion 9,4. Vgl. dazu auch ep. 151, GARZYA/ROQUES 300. Dion 8,3. Dion 10,6 (Übersetzung von TREU). Dion 10,5–6: Ὁ μὲν οὖν Κάδμου σπόρος αὐθήμερον ὁπλίτας, φησίν, ἀνεδίδου σπαρτούς· σπαρτοὺς δὲ θεολόγους ούδείς πω μῦθος ἐτερατεύσατο. Οὐ γάρ ἐστιν ἡ ἀλήθεια πρᾶγμα ἐκκείμενον, οὐδὲ καταβεβλημμένον, οὐδὲ θατέρᾳ ληπτέον. Τί οὖν; Ἐνταῦθα καλείσθω φιλοσοφία σύμμαχος, καὶ παρασκευαζέσθωσαν ἀνεξό‐ μενοι πάσης ἐκείνης τῆς διεξόδου, μῆκος ἐχούσης μυρίον, παιδευόμενοι καὶ προ‐ παιδευόμενοι. δεῖ γάρ τοι πρῶτον ἀποδῦναι τὴν ἀγροικίαν, καὶ τὰ μικρὰ ἐποπ‐ τεῦσαι πρὸ τῶν μειζόνων καὶ χορεῦσαι πρὶν δᾳδουχῆσαι καὶ δᾳδουχῆσαι πρὶν ἱεροφαντῆσαι.
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Wie aus der vorliegenden Stelle zu ersehen ist, gebraucht Synesios weiterhin Mysterienterminologie zur Beschreibung der Philosophie.429 Seine Verteidigung der Literatur und der Wissenschaften ist bis in die Formulierungen hinein parallel zu Julians Position. Auch dieser hatte die Bildung in den Mysterienweg der Philosophie integriert430 und ihre Bedeutung für die Reinigung des Seelenauges und damit für die bessere Erkenntnis des Göttlichen gesprochen.431 Wie Synesios über die ungebildeten Mönche abschätzig urteilt, so Julian über die Propheten des Alten Testaments, die ihre Seele eben nicht durch die klassische Bildung gereinigt und ihren Gott deswegen nicht richtig erkannt hätten.432 Auch beim Abstieg von der Schau erweist sich die Bildung als äußerst wertvoll. Der Mensch besteht ja nicht aus reinem Nous, dem es möglich wäre, nach Belieben in der philosophischen Kontemplation Gottes zu verweilen, sondern er ist zusammengesetzt aus Nous, Seele und Körper und steht somit zwischen den Sphären des Geistes und der Materie.433 Seine Kräfte lassen bald nach, und er fällt aus diesen Höhen. Wer dem Weg der hellenischen Philosophie gefolgt ist, stürzt nicht jäh ins Bodenlose, sondern kann allmählich auf demselben Weg absteigen – zunächst zu der Wissenschaft, dann zu den anderen Stufen literarischer Bildung. Diese fangen den Menschen sozusagen rechtzeitig auf und ermöglichen es ihm, in einer dem Geist nahen Sphäre zu bleiben und sich dort durch reine, leidenschaftslose Freude an schönen Werken zu erholen, um alsbald wieder den Aufstieg zu wagen. Damit wird verhindert, daß der Mensch so tief sinkt, wie er aufgrund seines materiellen Körpers sinken könnte.434 Die griechische paideia erhält somit eine religiöse Funktion.435 Sie gehört zum bios des Philosophen untrennbar dazu, 429 Andere Stellen, an denen Mysteriensprache im Zusammenhang mit der Philosophie verwendet wird, sind Dion 4; 5,1.3–5; 6,1; 8,6; 11,4. Vgl. auch den Brief 151 an Pylaimenes, der wahrscheinlich aus dem Jahr 406 stammt. 430 Or. VIII 235a–d. 431 Contra Galilaeos 229c–d und ep. 89b, 295d–296a. 432 Contra Galilaeos 229c–d. 433 Zur Mittelstellung des Menschen zwischen Materie und Geist, die die Kombination von Bildung und Philosophie als einzig sinnvollen, d.h. dem Wesen des Menschen entsprechenden Weg zum Göttlichen erscheinen läßt, vgl. VOLLENWEIDER 1985, 189f. 434 Dion 6,3ff. 435 Vgl. dazu BREGMAN 1982, 136f. CAMERON, LONG 1993, 67f hingegen behaupten, daß Synesios’ Hellenismus, der sich in der Wertschätzung der griechischen Bildung äußert, eine rein kulturelle Angelegenheit sei. Synesios benutze den Begriff „Hellene“ bzw. „hellenische Lebensweise“ nicht in der in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts gängigen Bedeutung als „Heidentum“ – wie er sich etwa bei Julian findet – sondern ausschließlich auf die griechische Bildung und Kultur bezogen. Sein Hellenismus sei daher kein religiöses, sondern ein kulturelles Ideal. Dem ist mit BREGMAN entgegenzuhalten, daß dies eine Übervereinfachung des Sachverhaltes darstellt. Synesios benutzt den Begriff „hellenisch“ zwar nicht im religiösen Sinn als terminus technicus für das Heidentum, sondern bezieht ihn auf die griechische Bildung. Diese versteht er aber als Etappe des philosophischen Weges zu Gott. Die „hellenische Lebensweise“, das Hellenentum ist für ihn nicht etwa ausschließlich kulturell als Beschäftigung mit der griechischen Kultur gemeint, sondern bezeichnet den Weg des Philosophen über die griechische Bildung zum Göttlichen im Gegensatz zum Pseudo-Weg der christlichen Mönche (vgl. Dion 8–9). Somit versteht Synesios Hellenismus nicht im Sinne eines
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bereitet ihn auf die Schau des Göttlichen vor und bietet ihm beim Abstieg von der Kontemplation menschenwürdige Zerstreuung und Erholung, die ihn alsbald wieder den Aufstieg zu Gott antreten läßt. Von Bedeutung für Synesios’ Philosophieverständnis ist die Tatsache, daß er die Philosophie, wie er sie versteht, die ἑλληνικὴ διαγωγή,436 dem christlichen Mönchtum gegenüberstellt.437 Der Philosoph strebt nach demselben Ziel wie die barbarischen Mönche, nämlich nach der Schau Gottes. Was sie unterscheidet, ist lediglich der Weg dorthin: die Mönche haben keine Methode, keinen sinnvollen Stufenweg zu Gott entwickelt; sie bleiben mehr oder weniger passiv und lassen sich vom Göttlichen ergreifen und in Ekstase versetzen.438 Ihr Fall stürzt sie denn auch bis zu niedrigen Daseinsformen – sie beschäftigen sich dann mit Flechtarbeiten, um nicht durch Untätigkeit Anlaß zur Entstehung problematischer Seelenregungen bzw. Triebe zu geben:439 Das Ziel und der Ort, an den man gelangen muß, ist zwar beiden gemeinsam, und wenn wir es erreicht haben, dann dürften wir uns in keinem Punkt unterscheiden. Die mittlere Wegstrecke aber hat unser Philosoph besser bedacht, denn er bereitete einen Weg und steigt Stufe um Stufe hinauf, so daß er auch von sich aus etwas tun kann. 440
Die Auseinandersetzung mit dem Mönchtum entspricht teilweise wörtlich der Distanzierung von „den Vielen“ in ep. 137, die die Tugenden als Zweck an sich ansehen, und von den ignoranten Pseudophilosophen von ep. 143, so daß angenommen werden kann, daß Synesios hier wie dort Mönche im Visier hatte. Von größerer Bedeutung aber ist die explizite Parallelisierung von Philosophie und Mönchtum, welche unterstreicht, daß für ihn Philosophie eigentlich eine religiöse Lebensform ist. Sie findet sich auch in einem Brief an einen Bekannten, der Mönch geworden war. Der Brief ist auf jeden Fall später als der Dion entstanden – GARZYA setzt ihn ca. 408 an,441 ROQUES sogar 411442 (was in die Zeit nach der Bischofswahl fallen würde). In dem Brief lobt Synesios den Entschluß seines Freundes, Mönch zu werden. Allerdings, fügt er hinzu, wäre es mindestens genausogut gewesen, anstelle des schwarzen Mantels des Mönchs den weißen des Philosophen zu wählen. Nichtsdestotrotz lobe er alles, was nur aus ehrlichem Eifer um das Göttliche geschieht. Auch nach dem „Dion“, bis kurz vor der Bischofswahl, oder sogar noch danach, bleibt die Philosophie für Synesios demnach eine religiöse Angelegenheit.443
436 437 438 439 440
441 442 443
Bekenntnisses zur traditionellen griechischen Form der Gottesverehrung, sehr wohl aber als konstitutives Element der echten philosophischen Religiosität. Dion 9,3. Vgl. Dion 7–9. Vgl. Dion 8,5–7. Dion 7,4 und 8,7. Dion 8,7–9,1: Τὸ μὲν οὖν τέλος καὶ οὗ δεῖ γενέσθαι κοινὸν ἀμφοῖν, καὶ τυχόντες οὐδὲν ἀλλήλων ἂν διαφεροῖμεν. Τἀν μέσῳ δὲ ὁ ἡμεδαπὸς φιλόσοφος ἄμεινον ἔσκεπται· ὁδὸν γὰρ παρεσκευάσατο καὶ κλιμακηδὸν ἄνεισιν, ὥστε καὶ παρ’ ἑαυ‐ τόν τι ποιῆσαι. GARZYA 1999, 355. ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 413, Anm. 1 zu ep. 147. Vgl. TINNEFELD 1975, 141f.
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Schließlich sei noch auf einige Stellen in dem mit dem „Dion“ etwa zeitgleichen De insomniis verwiesen. Dort erscheint die Philosophie als die Instanz, die allein die Beschaffenheit und den jeweiligen Zustand des Pneumas – des Zwischenglieds zwischen Nous und Körper – beurteilen kann und Richtlinien bereitstellt, wie man sich um dieses kümmern sollte, damit es nicht irregehe.444 Wenn man das eigene Pneuma so reinigen möchte, daß es zum Empfang göttlicher Visionen in Träumen fähig sei, sei der beste Weg ein philosophisches Leben, welches die diesen Seelenteil bedrohenden Affekte besänftige.445 Auch hier geht die Funktion der Philosophie über das bloße Ansammeln von Kenntnissen hinaus. Sie impliziert eine Lebensform, welche die menschliche Seele bei ihrem Streben nach religiösen Zielen, wie etwa göttlichen Visionen, fördern soll. 4.4.2. Synesios’ Weltbild Wenn der IX. Hymnus als Dokument von Synesios’ Bekehrung zur Philosophie gelesen wird, so tritt dem Leser in ihm eine ausgefeilte Wiedergabe neuplatonischer Theologie, Kosmologie, Anthropologie und Soteriologie als neues Weltbild des Konvertiten entgegen. Dieses Ergebnis soll nun mit seinen anderen Werken verglichen werden. Als sicherer Ausgangspunkt bietet sich dafür seine Schrift De insomniis an. Wie aus dem Begleitbrief an Hypatia und aus dem Vorwort ersichtlich, ist sie dezidiert als philosophisches Werk konzipiert, das unter dem Vorwand einer Apologie der Traummantik die Natur der εἰδωλικὴ ψυχή, des Zwischenglieds zwischen Nous und Körper, untersucht.446 Sie bietet Aufschluß über Synesios’ Anthropologie und Kosmologie. Sodann lassen sich im politischen Pamphlet De providentia bestimmte Elemente der neuplatonischen Weltsicht finden, die ebenfalls untersucht werden müssen. Schließlich dürfen die Hymnen trotz der eingangs erörterten interpretatorischen Probleme an dieser Stelle nicht ausgeblendet werden, da in ihnen Synesios detailliert ein kohärentes Weltbild entfaltet, welches auch christliche Aspekte einbezieht. Sie werden daher an letzter Stelle einbezogen, und es wird zu diskutieren sein, welche Aspekte sich aus ihrer Interpretation ergeben und in welchem Verhältnis sie zu dem aus den Prosawerken gewonnenen Bild stehen. Aus De insomniis lassen sich drei zentrale Aspekte von Synesios’ Kosmologie herausarbeiten. Der erste Punkt ist die von der Stoa entwickelte und dann zu einer Zentrallehre des Neuplatonismus gewordene Lehre von der sympatheia, die das All, das als ein großes beseeltes Ganzes gedacht wird, durchwaltet.447 Nach 444 445 446 447
De insomniis 10. De insomniis 16. Vgl. Synesios’ Proömium zu De Insomniis. und ep. 154, GARZYA/ROQUES 305. De insomniis 2, 2: Ἔδει γάρ, οἶμαι, τοῦ παντὸς τούτου συμπαθοῦς τε ὄντος καὶ σύμ‐ πνου τὰ μέρη προσήκειν ἀλλήλοις, ἅτε ἑνὸς ὅλου μέρη τυγχάνοντα. Zu der Geschichte dieser Idee bei Stoikern und Neuplatonikern sowie einer detaillierten Untersuchung der möglichen Vorlagen des Synesios vgl. LANG 1926, 36–45, der vor allem die Abhängigkeit von Plotin und Porphyrios betont.
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Synesios können die einzelnen Teile auf vielfältige Weise miteinander in Beziehung treten: manche sind einander besonders verwandt, manche stehen im Widerstreit, aber auch diese Dissonanzen haben ihren Platz in der Harmonie des Kosmos: Denn das All ist nicht das auf einfache Weise Eine, sondern das aus Vielen bestehende Eine. Und in ihm gibt es Teile, die einander entsprechen, und Teile, die im Widerstreit liegen, wobei ihr Streit einen harmonischen Beitrag zur Eintracht des Alls liefert, wie auch die Leier ein System harmonierender und gegensätzlicher Töne ist. Das, was aus den Gegensätzen entsteht, ist aber Eins, eine Harmonie der Leier, beziehungsweise des Alls.448
Synesios verbindet hier verschiedene philosophische Ideen. Die Definition des Kosmos als Harmonie aus verschiedenen Teilen geht auf pythagoreische Traditionen zurück.449 Der Vergleich mit der Leier und der Gedanke, daß auch aus den Gegensätzen Harmonie im Kosmos entsteht, erinnert an Heraklit.450 In dieser Harmonie haben auch verschiedene Klassen von Göttern ihren festen Platz; Synesios unterscheidet inner- und außerweltliche Götter: Sogar einem der Götter innerhalb des Alls entspricht hier ein Stein und eine Pflanze; da er ähnlich wie diese affiziert wird, weicht er der Natur und läßt sich verzaubern (...). Und alles Göttliche, das außerhalb des Alls ist, ist dem Zauber entzogen. (...) Denn das Wesen des Nous ist nicht beeinflussbar; dasjenige aber, was Affekte zulässt, wird verzaubert.451
Die Einteilung in innerweltliche und überweltliche Götter geht im Kern auf Platons Timaios zurück, der den überweltlichen Demiurgen die innerweltlichen Götter, die Gestirnsgötter und die übrigen traditionellen Gottheiten, erschaffen läßt.452 Sie wurde im Neuplatonismus ausgebaut und systematisiert, wobei Jamblich eine bedeutende Rolle in der Festlegung der Terminologie zukam. Er benutzt für die Charakterisierung der zwei Hauptklassen verschiedene Prädikate – ὑλαῖος/ἀ‐ ΰλος,453 πρώτεροι θεοί/δεύτεροι θεοί,454 ἀσώματοι θεοί/θεοὶ ἔχοντες σῶ‐ μα ἐν τῷ οὐρανῷ, aber auch schon die späteren termini technici περικόσμιοι und ὑπερκόσμιοι.455 Saloustios spricht in seinem „paganen Katechismus“ De diis et mundo456 von θεοὶ ἐγκόσμιοι und ὑπερκόσμιοι. Im späteren Neuplatonismus systematisiert Proklos die verschiedenen Götterklassen und widmet ein gan448 De insomniis 2,3: οὐ γὰρ ἐστιν ὁ κόσμος τὸ ἁπλῶς ἕν, ἀλλὰ τὸ ἐκ πολλῶν ἕν. Καὶ ἔστιν ἐν αὐτῷ μέρη μέρεσι προσήγορα καὶ μαχόμενα, καῖ τῆς στάσεως αὐτῶν εἰς τὴν τοῦ παντὸς ὁμόνοιαν συμφωνούσης, ὥσπερ ἡ λύρα σύστημα φθόγγων ἐστὶν ἀντιφώνων καὶ συμφώνων· τὸ δ’ ἒξ ἀντικειμένων ἕν, ἁρμονία καὶ λύρας καὶ κόσ‐ μου. 449 S. z. B. Philolaos frg. 44 B6 DIELS/KRANZ. 450 Frg. 22 B 8 und 51 DIELS/KRANZ. 451 De insomniis 2–3: Καὶ δὴ καὶ θεῷ τινι τῶν εἴσω τοῦ κόσμου λίθος ἐνθένδε καὶ βοτά‐ νη προσήκει, οἷς ὁμοιοπαθὼν εἴκει τῇ φύσει καὶ γοητεύεται, (...) Καὶ ὅσον γὰρ ἔξω τοῦ κόσμου θεῖόν ἐστιν, ἅπαν ἐστίν ἀγοήτευτον·(...). Ἡ γὰρ νοῦ φύσις ἀμεί‐ λικτος∙ τὸ δὲ παθητικόν ἐστι τὸ θελγόμενον. 452 Timaios 39e–41d. 453 De mysteriis V, 14. 454 De mysteriis I 19. 455 De mysteriis I 19. 456 Saloustios, De diis et mundo VI,1–5.
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zes Buch den Unterklassen der θεοὶ ὑπερκόσμιοι.457 Synesios selbst benutzt für die innerweltlichen Götter an einer anderen Stelle der Schrift auch den terminus technicus θεὸς ἐγκόσμιος.458 Hauptkennzeichen der innerweltlichen Götter ist ihre Einbindung in den Kosmos und somit ihre Beeinflußbarkeit. Sie sind nicht frei von Affekten, während die außerweltlichen Götter ganz im Bereich des Nous stehen.459 Ein dritter Punkt ist schließlich die negative Konnotation des irdischen Bereichs, der Materie, die von der Physis regiert wird. Diese versucht, die aufwärts strebenden Seelen zu verfolgen und ihren Aufstieg zu vereiteln.460 Damit wäre die Frage nach Synesios’ Anthropologie erreicht. Das Hauptaugenmerk gilt in dieser Schrift der Natur der Einbildungskraft (φαντασία) des Menschen. Sie hat ihren Sitz in einer Zwischenseele zwischen der eigentlichen göttlichen Seele und der Materie, die als εἰδωλικὴ ψυχή, φανταστικὴ ψυχή oder als πνεῦμα bzw. πνευματικὴ ψυχή bezeichnet wird. Die Notwendigkeit einer solchen Zwischenseele rührt daher, daß sich die Seele nicht unmittelbar mit der Materie verbinden kann; es bedarf des Pneumas als Zwischenglied: Insgesamt ist dieses (sc. das Pneuma) ein Grenzgebiet zwischen Vernunftlosigkeit und Vernunft, zwischen dem Körperlosen und dem Körper, und eine gemeinsame Grenze beider. Und durch dieses kommt das Göttliche mit den äußersten Randbereichen zusammen.461
Dieses Pneuma ist der erste Leib der Seele, welchen sie bei ihrem Abstieg in den Kosmos durch die Himmelssphären von diesen gleichsam borgt. Die pneumatische Hülle, mit der sie sich umgibt, dient ihr als „Schiff“ bzw. „Gefährt“462 im Kosmos: Die erste Seele borgt sich bei ihrem Abstieg diese (sc. die pneumatische Seele) von den Gestirnssphären, und indem sie sie wie einen Nachen besteigt, kommt sie mit der körperlichen Welt zusammen.463
Synesios fasst hier die chaldäische Vorstellung des Seelenpneumas zusammen. Nach den Orakeln sammelt die Seele dieses Pneuma bei ihrem Abstieg durch die 457 Proklos, Theologia platonica VI (SAFFREY, WESTERINK III). Eine Kurzdarstellung der verschiedenen Götterklassen, von den obersten bis zu den innerweltlichen Göttern, findet sich z. B. VI 15 (SAFFREY, WESTERINK III 72f).Zur Begriffsgeschichte von ὑπερκόσμιος vgl. SAFFREY, WESTERINK III, Introduction IX–XIV, deren Fazit lautet: „à partir du philosophe Jamblique, l’ adjectif „hypercosmique“ est passé dans la langue philosophique pour désigner les dieux supérieurs aux dieux encosmiques“ (XIII). 458 De insomniis 14. 459 Ähnlich Proklos Theologia platonica VI 15. 460 De insomniis 8. 461 De insomniis 6,4: Ὅλως γὰρ τοῦτο μεταίχμιόν ἐστιν ἀλογίας καὶ λόγου, καὶ ἀσω‐ μάτου καὶ σώματος, καὶ κοινὸς ὅρος ἀμφοῖν· καὶ διὰ τούτου τὰ θεῖα τοῖς ἐσχάτοις συγγίνεται. Diese Notwendigkeit der Vermittlung zwischen Nous und Körper durch sukkzessive Hüllen des Nous (Seele und Pneuma) findet sich auch in CH X, 16–17; vgl. LANG 1926, 58. 462 De insomniis 6 (πρῶτον αὐτῆς καὶ ἴδιον ὄχημα). 463 De insomniis 7,4: ἣν δανείζεται μὲν ἀπὸ τῶν σφαιρῶν ἡ πρώτη ψυχὴ κατιούσα κἀ‐ κείνης ὥσπερ σκάφους ἐπιβᾶσα τῷ σωματικῷ κόσμῳ συγγίνεται.
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verschiedenen Weltbereiche – es gibt somit eine ätherhafte, eine sonnenhafte, eine mondhafte und eine aus Luft bestehende Komponente des Pneumas.464 Porphyrios greift diese Vorstellung auf, unterscheidet aber das Pneuma ganz streng von der Seele – auch von deren irrationalem Teil. Synesios orientiert sich bei seiner Darstellung des Seelenpneumas zwar eng an Porphyrios,465 wandelt aber im Detail dessen Konzeption ab, indem er dem Pneuma die Funktionen der empfindenden animalischen Seele, vor allem die Vorstellungskraft, zuschreibt. Daher kann er auch von einer regelrechten pneumatischen Seele sprechen und sie als Verbindungsstück zwischen logos und alogia beschreiben. Damit steht er der jamblicheischen Tradition nahe, was unter anderem auf seinen Studienaufenthalt in Athen zurückgeführt werden könnte.466 Die pneumatische Seele findet sich nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei Tieren oder Dämonen. In den Tieren ist es die höchste Seelenkraft und fungiert für sie gleichsam als niedere Art des Verstandes.467 Viele Arten von Dämonen haben eine rein pneumatische Existenz,468 ohne daß sich zum Pneuma eine göttlichere Seele hinzugesellen würde. Zwischen der eigentlichen Seele und dem Pneuma besteht eine enge Verbindung. Der Zustand der Seele wirkt sich auf das Pneuma aus: einer reinen Seele entspricht ein leichtes, trockenes Pneuma; einer Seele im schlechten Zustand ein feuchtes und schweres, erdartiges.469 Somit ist der Zustand der Seele der einzige Faktor, der über ihren Verbleib nach dem Tod entscheidet. Das leichte und ätherische Pneuma guter Seelen erhebt sich dann von selbst aufgrund der Gravitation (ὁλκαῖς φυσικαῖς) zu den höheren kosmischen Regionen. Schwere und feuchte Pneumahüllen sinken hingegen zu den unterirdischen Regionen ab, wo sie für ihre Taten bestraft werden. Im Laufe mehrerer Leben können sie durch solche Strafen gereinigt werden und wieder zu einer höheren Daseinsweise aufsteigen. Je nach dem Zustand der Seele kann der Pneumaleib folglich verschiedene Seinsstufen einnehmen.470 Beim Aufstieg zu ihrem göttlichen Ursprung hebt die Seele den Pneumakörper mit empor und gibt ihn schließlich wieder an die Planetensphären ab, von denen sie ihn erhalten hatte.471 Synesios deutet ein Zitat aus den Chaldäischen Orakeln dahingehend, daß auch gewisse materielle Elemente, die sie gleich nach der Verhüllung mit dem Astralleib von den unmittelbar folgenden materiellen Sphären des Feuers und der Luft angenommen hatte, mit dem Pneuma verbunden bleiben und somit auf eine höhere Stufe versetzt werden, als es ihrer eigentlichen Na-
464 S. MAJERCIK 1989, 31 und 167 (Anm. zu frg. 61). 465 Vgl. dazu LANG 1926, 60–80, der Synesios’ Referat als eine Wiedergabe porphyrischer Ideen ansieht. 466 DEUSE, 1983, 223–229. 467 De insomniis 7. 468 De insomniis 7. 469 Vgl. De insomniis 6 und 7 (im letzteren Kapitel wird Heraklits berühmtes Wort von der trokkenen Seele als der weisen damit in Verbindung gebracht). Vgl. damit Porphyrios, sent. 29 LAMBERZ 18–20. 470 De insomniis 7. Der Gedankengang entspricht Porphyrios’ Sent. 29 LAMBERZ 17–20. 471 De insomniis 7.
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tur entspricht, indem sie in die kyklisch geordneten Himmelssphären eingegliedert werden.472 Der Abstieg der göttlichen Seele zum ersten Erdenleben vollzieht sich aufgrund einer Gesetzmäßigkeit des Seins; sie hat zur Aufgabe, gewisse Hilfe- und Dienstleistungen für den Kosmos zu erfüllen. Dies soll sie aber im Bewußtsein ihrer eigentlichen Herkunft in voller Freiheit tun, um dann nach vollendeter Aufgabe wieder aufzusteigen.473 Aufgrund der engen Verbindung zwischen Seele und Körper mittels des Pneumas besteht jedoch die Gefahr, daß sie den verlockenden Reizen der Materie verfällt; die Lüste, welche diese bietet, können in der Seele Vergessen ihres Ursprungs bewirken, so daß sie mit ihrem irdischen Los völlig zufrieden ist und keinen Gedanken mehr an den Aufstieg verschwendet.474 Synesios benutzt zur Illustration das den Chaldäischen Orakeln entstammende Bild vom Tagelöhner und Sklaven:475 aus einer freien Tagelöhnerin wird die Seele zu einer rechtlosen Sklavin der Materie. Die einzige Chance für sie ist, durch Unglücksfälle und Leiden dazu gebracht zu werden, die Natur der irdischen Welt zu durchschauen und wieder zum wahren Guten zu streben. Allerdings ist die Loslösung und Abwendung von der Materie besonders schwer; Synesios führt seine Metapher der zur Sklavin gewordenen Seele dahingehend fort, daß die Materie ihren Rechtsanspruch nach Vermögen geltend macht und der Seele den Aufstieg erschwert, indem sie ihre Poinai auf deren Spuren hetzt. Um die Materie zu über-
472 De insomniis 9. Eine andere Interpretation bietet LACOMBRADE 1951b, 168, gefolgt von der übrigen französischen Forschung – MARROU 1952, 482 und 1964, 147 sowie AUJOULAT 1984, 38–42 und ROQUES 1987, 307. Nach LACOMBRADE handele es sich um einen Versuch des Synesios, die Frage zu beantworten, inwiefern die individuelle Persönlichkeit des Menschen beim Aufstieg der Seele nach dem Tod überlebt. Unter dem Einfluß christlicher Gedanken schenke Synesios der Reinkarnationslehre keine Beachtung und schlage eine Kompromißlösung zwischen der philosophischen Vorstellung einer unpersönlichen Unsterblichkeit des Nous und der christlichen Vorstellung von dem Überleben der individuellen Persönlichkeit vor, die mit der für neuplatonische Ohren anstößigen Vorstellung der körperlichen Auferstehung verbunden war. Synesios behaupte deshalb eine Weiterdauer zwar nicht des irdischen, wohl aber des pneumatischen Leibes der Seele. Diese Interpretation läßt sich jedoch nicht halten. Synesios insistiert zwar nicht auf dem Thema der Reinkarnation, macht aber in De insomniis 7 und 10 deutlich, daß er diese Vorstellung teilt. Auch was seine Auffassung vom Aufstieg des Pneumas betrifft, kann nicht von einer ewigen Weiterdauer oder gar Auferstehung gesprochen werden. Alles, was er in De insomniis 9 behauptet, ist, daß der feinere, aus Feuer und Luft bestehende materielle Elementarleib, den die Seele nach der Bekleidung mit dem pneumatischen Leib, noch bevor sie sich mit dem groben irdischen Körper bekleidet, annimmt, beim Aufstieg mit dem Pneumaleib zusammen über den Ort hinausgehoben wird, der ihm von Natur aus zukommt, und mit diesem in die himmlischen Sphären integriert wird. Das Pneuma folgt der Seele nur bis zu seinem Ursprungsort, den Himmelssphären, löst sich dort auf und wird seinem Ursprung – von welchem es die Seele ja nur ausgeborgt hatte (De insomniis 7) – zurückgegeben (De insomniis 7 und 10; vgl. auch VOLLENWEIDER 1985, 184– 187). Somit kann man bezüglich der synesianischen Pneumalehre nicht von einer Annäherung an die christliche Auferstehungslehre sprechen. 473 De insomniis 8. 474 De insomniis 8. 475 Vgl. frg. 99 und 110 DES PLACES mit Anmerkungen.
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winden, bedarf die Seele der eigenen Kraft ebenso wie der Hilfe Gottes.476 Den Kampf der Seele gegen die Materie setzt Synesios zu den alten „heiligen Erzählungen“ (ἱεροὶ λόγοι) von den Mühen des Herakles in Beziehung: diese symbolisieren die Anstrengungen, die die Seele durchmachen müsse.477 Das in De Insomniis vorausgesetzte Weltbild wird in De providentia detaillierter entfaltet. An der Spitze des Seinssystems steht die „Quelle“ des überweltlichen Göttlichen478 – der neuplatonische Charakter dieser Metapher für das Eine oder Gute wurde schon im Zusammenhang mit dem IX. Hymnus diskutiert.479 Danach folgen die θεοὶ ὑπερκόσμιοι. Sie befinden sich im Bereich des Nous, der „noetischen Schönheit“,480 die für alle anderen göttlichen Wesen, die schon im Bereich des Kosmos angesiedelt sind, das wichtigste Objekt der Kontemplation bildet. Ihre Wirksamkeit erstreckt sich bis zu den letzten Seinsstufen, und sie halten alles Seiende zusammen. Jedoch tun sie dies nicht direkt; sie selber bleiben stets an ihrem Ort und lassen sich von der Materie überhaupt nicht beeinflussen. Das Gute besteht für sie in der stetigen Kontemplation ihrer Quelle.481 Sodann folgt die θεία μερὶς ἐν τῷ κόσμῳ,482 deren Aktivität zwischen Kontemplation der oberen Wesen und Fürsorge für das Untere geteilt ist.483 Auch die menschlichen Seelen haben eine θεία μοίρα,484 gehören somit zum Bereich des Göttlichen. Über diese Kette abgestufter göttlicher Wesen wirkt das erste Göttliche bis zum äußersten Bereich des Seins, indem jede Klasse von Wesen von den unmittelbar über ihnen befindlichen Seinsstufe geordnet und umsorgt wird und ihrerseits für die unmittelbar nach ihr folgenden Wesen sorgt. Mit dem Abstieg wird die Seinsqualität immer geringer und der Einfluß des Oberen immer schwächer, so daß schließlich auf der letzten Stufe eine Vernachlässigung und Verwirrung der Ordnung stattfindet. Diese markiert das Ende des Seienden. Es handelt sich um den äußersten Bereich der körperlichen Welt, in dem der „daimon in dem wirren Getümmel der Elemente“ herrscht, „eine unbeständige und schamlose Natur, die aufgrund der großen Entfernung von dort (sc. vom göttlichen Urgrund) die göttliche Ordnung nicht begreifen kann.“485 Diese äußerste, schwächste und gebrechlichste Stufe des Körperlichen kann sich nicht aus eigener Kraft Bestand verschaffen: sie ist nicht einmal echten Seins fähig, sondern bringt es allerhöchstens 476 477 478 479 480
481 482 483 484 485
De insomniis 8. De insomniis 8. De providentia 9. Vgl. z. B. Plotin Enn. III 8,10 oder V 2,1. Die Vorstellung von der noetischen – geistigen – Schönheit als der wahren Schönheit ist eine alte platonische Vorstellung, die schon in Platons Symposion 209e–212a entfaltet wird. Für den Neuplatonismus ist Plotin Enn. I 6 bestimmend, wo die verschiedenen Arten der Schönheit erörtert werden und die noetische Schönheit als die höchste und eigentliche Schönheit gepriesen wird. Von noetischen Göttern, die im Nous angesiedelt werden, spricht Plotin Enn. V 8,4.9–12. De providentia 9. Ebd. De providentia 9. Zu Platon s. Politikos 271 d–e und 272e. De providentia 10. De providentia 9.
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zu dessen billiger Imitation im Werden. Sie wird zusätzlich ständig von den wesenhaft zerstörerischen daimones bedroht und kann daher nur durch das periodische Eingreifen der Gottheit am Leben erhalten werden. Dieses wird nach der Vorlage des Mythos in Platons Politikos geschildert: die Gottheit gibt der irdischen Welt periodisch ordnende Impulse, die für eine bestimmte Zeit ausreichen.486 An dieser Stelle wird deutlich, wie Synesios die neuplatonische Wesenshierarchie und den platonischen Politikosmythos für seinen literarischen Zweck einsetzt. Die Betonung der Labilität und Gefährdung des sublunaren Bereiches sowie die Vorstellung periodischer Eingriffe einer rettenden Gottheit angesichts des drohenden Untergangs bereiten die Darstellung der Ereignisse des Jahres 400, der Absetzung und Verbannung des Aurelianos und der Gotenrevolte, als Ergebnis des Wirkens böser, dämonischer Gestalten vor. Die Lage erscheint als derart aussichtslos, daß die Götter selbst wieder eingreifen müssen, um die Ordnung wiederherzustellen.487 Die literarische Darstellung gewinnt durch die Einordnung in diesen kosmischen Zusammenhang an Dramatik und Brisanz. Da eine solche dynamische Konzeption des Alls sonst bei Synesios nicht belegt ist, darf ihr für die Rekonstruktion seiner persönlichen Religiosität kein besonderes Gewicht zugemessen werden. Die neuplatonische Seinshierarchie prägt auch die Hymnen, wobei die verschiedenen Götter- und Geistwesenklassen unterschiedlich bezeichnet werden. Im ersten Hymnus werden nach der göttlichen Trias zuerst die νοεροί genannt. Sodann folgen die mit der Welt verbundenen Götter: die Geister, die die Gestirne beseelen (νόες ἀστέριοι), sodann die μάκαρες, die die verschiedenen Regionen des Kosmos durchwalten. Auf diese folgen die Engel und dann die Heroen. Die letzte Stufe des Göttlichen bildet die Seele.488 Mit ihr ist der Bereich des Seienden abgeschlossen. Es folgt der Bereich der materiellen Welt des Werdens und Vergehens, der Physis.489 Im V. Hymnus folgen auf die Trias die „im Sein befindlichen Seligen“ (ἐνούσιοι μάκαρες), die noch im geistigen Bereich anzusiedeln sind. Sodann folgen die innerweltlichen Götter (ἐγκόσμιοι ἄφθιτοι ἄνακτες), die Engel, die Heroen und schließlich die Welt des Werdens;490 die Seele wird in dieser Aufzählung nicht erwähnt. Im IV. Hymnus werden in einer knappen Aufzählung die Sterne, die Engelschöre, die Phalanx der Dämonen und die Physis genannt.491 Im zweiten Hymnus greift Synesios explizit die neuplatonische Vorstellung der „Seinskette“ (σειρά) auf, der Kette von Wesenheiten abgestuften Seins und somit abgestufter Göttlichkeit, welche vom göttlichen Urgrund bis hinunter 486 De providentia 9: Οὐκ οὔσης οὖν τῆς ὑποστάθμης τῶν ὄντων πρὸς οἰκείαν σωτη‐ ρίαν ἀρκούσης· αὐτή τε γὰρ ὑπορρεῖ καὶ οὐ περιμένει τὸ εἶναι, μιμεῖται δὲ αὐτὸ τῷ γίνεσθαι· καὶ τῶν δαιμόνων, ἅτε συγγενῶν ὄντων τῆς τῇδε φύσεως, ἀφανιστι‐ κὴν οὐσίαν λαχόντων, ἐπεστράφθαι μὲν ἀνάγκη τὸ θεῖον καὶ ἐνδιδόναι τινὰς ἀρ‐ χάς, αἷς ἕπεται τὸ ἐνθάδε καλῶς ἐπὶ χρόνον, ἐφ’ ὅσον ἡ ἔνδοσις ἤρκεσεν. 487 De providentia 18. 488 H. I, 270–300. 489 H. I,301ff. 490 H. V,37–58. 491 H. IV, 17–20.
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zur Materie reicht. Er beschreibt den Sohn, die dritte Hypostase der Trias, als Ursprung und Durchwalter allen Seins. An seiner Seinskette hängen zum einen die Götter und die Menschen, denen er den Nous zuteilt, sodann die vernunftlosen Geschöpfe, die von ihm die Lebenskraft der Seele erhalten, und schließlich sogar die unbelebte Natur, die ihm Form und Zusammenhalt verdankt.492 Die Anthropologie der Hymnen folgt teilweise wörtlich den in De Insomniis entwickelten Vorstellungen. Synesios betont die Göttlichkeit der menschlichen Seele, welche in den Kosmos geschickt wird, sich dort der Materie zuwendet und so ihres wahren Wesens und ihrer Heimat vergißt. Das Ziel der Seele wird in der Befreiung von der Materie und der Rückkehr zu Gott gesehen. Die Göttlichkeit der Seele wird durch verschiedene Bilder hervorgehoben. Sie entsprießt dem Schoß des Sohnes.493 Der Mensch trägt in sich den „Samen Gottes, den edlen Funken des Nous“.494 Die Seele ist als „himmlischer Tropfen“ vom Himmel gefallen495 und strebt nun zurück zu ihrer göttlichen Quelle.496 Im ersten Hymnus wird die Seele mit demselben chaldäischen Bild wie in De Insomniis ausführlich als freie „Tagelöhnerin“ beschrieben, die, von Gott in die Welt geschickt, der Materie als Sklavin verfällt:497 Erbarme dich deiner Tochter, Seliger. Ich stieg von Dir hinab, um der Erde als Tagelöhner zu dienen, aber anstelle einer Tagelöhnerin wurde ich zur Sklavin.498
Andere Bilder für den Selbstverlust der Seele an die Materie sind der Trank des Vergessens499, die Trunkenheit500, die Blindheit501, die Falle502 der Materie. Die Seele erfährt am eigenen Leibe „die Verblendung, die Epimetheus widerfuhr“.503 Sie ist in „sterblichen Gliedern eingekerkert.“504 Ihr bleibt dennoch ein letzter Rest Kraft, mit dem sie den beschwerlichen Aufstieg aus dem „Wogenschwall“505 der Materie antreten kann.506 Zur Durchbrechung der Macht der Materie ist daher – wie in De Insomniis – die Hilfe Gottes gegen die Mächte der Materie und die Physis nötig.
492 H. II,181–196; der Begriff σειρά fällt in Vers 192: ἀλαὸν ψυχᾶς / βλάστημα τεᾶς / κρέ‐ μαται σειρᾶς. Zur Seinskette vgl. auch LACOMBRADE 1951b, 186. 493 H. IV,29f. 494 H. I,559–561. 495 H. I,714ff. 496 H. I,710–717, II,292–295. III,47. 497 Vgl. H. I,662–682. 498 H. I, 569–574: Τὰν σὰν κούραν / ἐλέαιρε, μάκαρ. / Κατέβαν ἀπὸ σοῦ / χθονὶ θητεῦ‐ σαι, / ἀντὶ δὲ θήσσας / γενόμαν δούλα· Derselbe Gedanke auch in H. I 651–656. Vgl VOLLENWEIDER 1985, 160f. 499 H. I,657–669. 500 H. I,678 501 H. I,584; II, 237. 502 H. I, 681 503 H. I,682f. Zur ἄτη vgl. H. I,380, 652 und 729; V,88. 504 H. III,32. Von der „Fessel“ des irdischen Lebens spricht H. VII,43. 505 H. I,583, IV,26f. 506 H. I,577–581. Zum Aufstieg vgl. 586–592, 603–698.
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Wie in den Prosaschriften ist mit der Physis die unterste Region des Kosmos erreicht. Sie hat in den Hymnen einen äußerst ambivalenten Charakter. Dieser tritt im I. Hymnus deutlich hervor: sie kann einerseits positiv als μάκαιρα φύσις507 oder μάτειρα φύσις508 dargestellt werden, welche von der höchsten Gottheit, der Monas, belebt wird und diese durch die große Harmonie preist, die sich aus der Vielfalt ihrer Geschöpfe ergibt.509 Auch ihr wird die göttliche Güte und Fürsorge zuteil, so, wie es ihrer Natur und ihrer niederen Stellung im Kosmos entspricht.510 Im Zusammenhang mit der Anthropologie und Soteriologie erscheint die Physis andererseits als negative Gegenmacht, die den Aufstieg der Seele verhindern will. Synesios bittet darum, zur „Kraft des Lichtes“ erhoben zu werden, wo die Physis ihm nichts mehr anhaben kann: Vater, setze mich auf einen Thron in der Kraft des lebenbringenden Lichtes, wo die Natur ihre Hand nicht an mich legt, woher mich nicht mehr die Erde, nicht das schicksalhafte Spinnen der Notwendigkeit, zurückführt. Verlassen, fliehen möge das listenreiche Werden Deinen Verehrer.511
Diese ambivalente Einstellung zur Physis wird auf dem Hintergrund der Spannung der „zwei Sichtweisen“512 im Platonismus verständlich. Je nach Blickwinkel kann die materielle Welt negativ oder positiv beurteilt werden: wenn man sie wie Synesios in H. I,301ff. als Ausfluß des Göttlichen ansieht, kann man ihre Schönheit bewundern; dabei hat man vor allem den Aspekt der Form und des Lebens, die sich in der Welt befinden, im Blick. Wird sie aus der Perspektive der Seele gesehen, welche wesenhaft göttlich ist und eigentlich in dieser Welt des Werdens in der Fremde herumirrt, erscheint sie in einem negativen Licht: sie erschwert der Seele den Aufstieg zum Geist durch die Bindung an einen materiellen Körper. Dabei steht vor allem der Aspekt der Materie im Vordergrund. Dieser doppelte Blick auf die Welt findet sich bei Platon, der einerseits im Phaidon pythagoreisch vom Körper als Gefängnis der Seele spricht und die Philosophie als Einübung ins Sterben definiert513 und andererseits im Timaios die Schönheit des Kosmos preist, der vom Demiurgen nach dem Vorbild der ewigen Ideen geschaffen wird. Von Platon ausgehend durchzieht er die gesamte platonische Tradition: Plutarch spricht ehrfürchtig vom Kosmos als einem heiligen Bezirk, in dem die Seele in einer immerwährenden Mysterienfeier lebt,514 schildert aber die Verzweiflung derer, die nach dem Tod wieder auf Erden wiedergeboren werden sollen.515 Plotin preist enthusia507 508 509 510 511
512 513 514 515
H. I,301. H. I,335. Vgl. H. I,301–308 und 333–357. H. I,309–332. H. I, 600–611: Θρόνισόν με, πάτερ, / φωτὸς ἐν ἀλκᾷ / ζωηφορίου, / ἵνα χεῖρα φύ‐ σις / οὐκ ἐπιβάλλει, / ὅθεν οὐκέτι γᾶ, / οὐ μοιραία / κλῶσις ἀνάγκας / παλίνορ‐ σον ἄγει. / Λιπέτω, φυγέτω / δολερὰ γένεσις / θεράποντα τεόν· (obige Übersetzung profitiert von der Übersetzung von GRUBER, STROHM 1991). Vgl. dazu VOLLENWEIDER 1985, 96f. Phaidon 63e–67d. De tranquillitate animi 20 (477C–D). Vgl. etwa De genio Socratis 22 (591A).
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stisch das Wirken des Einen im gesamten All516 und verteidigt dessen Schönheit gegenüber den Gnostikern,517 findet aber harte Worte für die materielle Welt, insofern sich die Seele an sie verliert und ihrer selbst vergißt.518 Mit seiner ambivalenten Betrachtung der Natur steht Synesios ganz in dieser Tradition. Unterstellt er die Physis der Fürsorge des Sohnes im IV. Hymnus519 und läßt er sie in ausgedehnten Partien des I. und II. Hymnus der göttlichen Lebenskraft teilhaftig werden,520 so charakterisiert er sie nichtsdestotrotz im V. Hymnus als Gebärerin des „laut lärmenden und listenreichen“ „Schwarmes“ der Dämonen.521 Wie in De Providentia sind diese in den Hymnen äußerst negativ konnotiert. Sie verkörpern die Macht der Materie, welche die Seele an sich zieht und so am Aufstieg zum Göttlichen hindert. Dies wird z. B. im einleitenden Teil des ersten Hymnus deutlich, wo sich der Dichter auf den Preis der Gottheit vorbereitet. Dort gebietet Synesios der „geflügelten Schlange, Dämon der Materie, Wolke der Seele, der auf Gebete seine Hunde hetzt, die sich an bloßen Abbildern freuen“, von seinen Gebeten fernzubleiben und bittet um Befreiung von den „seelenfressenden Hunden“.522 Die Metaphorik ist chaldäisch; die Orakel bezeichnen die Dämonen als unverschämte Hunde, die aus dem Schoß der Erde hervorspringen und die Sterblichen verführen.523 Das Epitheton εἰδωλοχαρής – „sich an leeren Trugbildern erfreuend“ – wird in den Orakeln auf die materielle Welt, den μελαναυγὴς κόσμος angewandt.524 Auch die Verbindung der Dämonen mit der Physis und der Materie könnte auf die Orakel zurückgehen: ein bei Psellos überliefertes Fragment behauptet, daß die Physis dazu verführe, die Dämonen und die Erzeugnisse der bösen Materie als gut anzusehen.525 Ähnlich werden auch im zweiten Hymnus die Dämonen als „Feinde heiliger Hymnen“ charakterisiert, die sich an Höhlen und Gräbern erfreuen.526 Synesios faßt hier die Dämonen zu einer einzigen Macht zusammen, dem Dämon der Materie. Dieser nährt die Affekte, die die Verbindung der Seele zur Materie zementieren, und vereitelt so deren Versuch, zu Gott aufzusteigen.527 Den Dämonen entgegengesetzt wirken die göttli516 Vgl. Enn. III 8,10. 517 Plotin Enn. II 9. Vgl. auch V 8,8, wo Plotin in der Exegese einer Timaiosstelle feststellt: ἐπεὶ καὶ εἰ μὴ ἐκεῖνο (sc. der Nous als Urbild des sichtbaren Kosmos) ἦν τὸ ὑπέρκαλον κάλ‐ λει ἀμηχάνῳ, τί ἂν τούτου τοῦ ὁρωμένου ἦν καλλίον; ὅθεν οὐκ ὀρθῶς οἱ μεμφό‐ μενοι τούτῳ, εἰ μὴ ἄρα καθόσον μὴ ἐκεῖνό ἐστιν. 518 Vgl. etwa Enn. V 1,1. 519 H. IV, 20. 520 H. I, 301–357; II, 186–226. 521 H. V,52–54. 522 H. I,86–99. 523 Vgl. frg. 90 DES PLACES: (…) ἐκ δ’ ἄρα κόλπων / γαίης θρῴσκουσιν χθόνιοι κύνες οὔποτ’ ἀληθὲς / σῆμα βροτῷ δεικνύντες. Vgl. dazu auch frg. 89 und 91 sowie 135. Direkt parallel dazu ist H. I, 622–627. 524 Frg. 163 DES PLACES. 525 Frg. 88 DES PLACES: (ἡ φύσις) πείθει πιστεύειν εἶναι τοὺς δαίμονας ἁγνούς, / καὶ τὰ κακῆς ὕλης βλαστήματα χρηστὰ καὶ ἐσθλά. 526 H. II,44–48. 527 H. II 245–263. Es läßt sich nicht erkennen, warum man mit VOLLENWEIDER 1985, 179f. diese Verdichtung des Dämonischen auf christlichen Einfluß zurückführen und darin den christli-
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chen Zwischenmächte. Sie vermitteln zwischen Gott und den Menschen, indem sie die Gebete zu Gott tragen.528 Wie im IX. Hymnus wird hier die herausragende soteriologische Bedeutung von Hymnen bzw. Gebeten deutlich. Schließlich bleibt noch darauf hinzuweisen, daß die oberen Mächte auch in den Hymnen dezidiert als Götter, als θεοί, bezeichnet werden. So wird der Vater im Eingang der ersten Hymnus als βασιλεὺς θεῶν bezeichnet;529 er thront jenseits der Götter (ἐπέκεινα θεῶν),530 ist ihr alleiniger Schöpfer (αὐτουργὸς θε‐ ῶν)531 und schenkt ihnen als ὀχετηγὸς θεῶν532 Sein und Leben. Die Grundkonzeption ist somit parallel zur Theologie Julians. Der Sohn teilt den Nous Göttern wie Sterblichen zu.533 Auch im „christlichsten“ achten Hymnus wird ganz unbefangen von Göttern gesprochen: der Mond ist „Hirte der nächtlichen Götter“, und Aion „ordnet den Göttern die ewige Bleibe“.534 Allerdings ist zu bemerken, daß die Götterklassen nur abstrakt genannt werden. Als einzelne konkrete Götter werden die Himmelskörper oder Aion erwähnt, nicht die alten Olympier oder andere Götter wie Hekate, die im heidnischen Kult fest verwurzelt sind. Darin besteht ein grundlegender Unterschied zu Julian, der die abstrakte neuplatonische Götterhierarchie mit den traditionellen Göttern füllt. Der Hauptunterschied zwischen Prosaschriften und Hymnen findet sich in der detaillierten Darstellung des höchsten Bereichs des Göttlichen. Wurde dieser in De providentia mit der konventionellen neuplatonischen Metaphorik als Quelle der intelligiblen Götter umrissen, so werden ihm in den Hymnen ausgedehnte Partien gewidmet. Dabei wird nicht nur die triadische Monas besungen; besonderes Augenmerk richtet sich auf deren dritte Hypostase, den Weltschöpfer und –erhalter. Bei der Frage nach Struktur und Entwicklung der Monas in den anderen Hymnen bestätigt sich die aufgrund von Hymnus IX entwickelte Vermutung, daß Synesios in erster Linie von Porphyrios’ Triaslehre abhängig ist. Wie bei diesem erscheint zwischen Vater und Sohn eine weiblich konnotierte Zwischeninstanz, als ἰότας, ὠδίς oder βουλή bezeichnet, durch die der Sohn hervorgebracht wird. Als Illustration sei ein Passus aus dem I. Hymnus zitiert: Ὑμνῶ σε, μονάς / ὑμνῶ σε, τριάς, / μονὰς εἶ τριὰς ὤν, / τριὰς εἶ μονὰς ὤν, / νοερὰ δὲ τομά / ἄσχιστον ἔτι / τὸ μερισθὲν ἔχει. / Ἐπὶ παιδὶ χύθης / ἰότατι σοφᾷ, / αὐτὰ δ’ ἰότας / βλάστησε, μέσα / φύσις ἄφθεγκτος. / (...) Ἄφθεγκτε γόνε / πατρὸς
528 529 530 531 532 533 534
chen Teufel sehen soll; der Charakter des Dämons bleibt ja neuplatonisch. Es liegt näher, an die auch von ihm (180) notierte Gestalt des „Fürsten des bösen Dämonen“ bei Porphyrios, De abstinentia II 40,5 zu denken. Vgl. auch GRUBER, STROHM 1991, 145. Zudem könnte es sich an dieser Stelle auch nur um ein stilistisches Mittel, um eine Synekdoche vom Engeren, handeln (siehe dazu LAUSBERG 1963, 73, §201). H. I, 105ff., II 51ff. H. I,8. H. I,164. H. I,268. H. I,168. H. II,181–183. H. VIII, 48 und 68–71 (Übersetzung von GRUBER, STROHM 1991).
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike ἀφθέγκτου, / ὠδὶς διὰ σέ, / δια δ’ ὠδῖνος / αὐτὸς ἐφάνθης / ἅμα πατρὶ φανεὶς / ἰότατι πατρός· ἰότας σὺ δ’ ἀεὶ / παρὰ σεῖο πατρί.535 Ich besinge dich, Monas, ich besinge dich, Trias. Als Trias bist du Monas; als Monas bist du Trias, doch ein geistiger Schnitt hält das Geteilte noch ungeschieden. Du ergossest dich zum Kinde durch den weisen Willen, der Wille selbst aber blühte als unsagbare mittlere Natur auf. (...) Unsagbarer Sproß des unsagbaren Vaters, die Geburtswehen entstanden deinetwegen, durch die Geburtswehen bist du aber selbst erschienen, erschienen zugleich mit dem Vater durch den Willen des Vaters. Als Wille bist du aber stets bei deinem Vater.
Hier ist der prozeßhafte Charakter der Trias, der bei Porphyrios zentral war, noch spürbar: der Sohn, auf den sie zielt, ist immer schon als Wille beim Vater vorhanden. Dennoch ist Synesios Triasverständnis eher hypostasierend: Vater, Nous und Zwischeninstanz erscheinen als Hypostasen mit eigener ontologischer Realität.536 Der weibliche Charakter dieser Hypostase geht auf die porphyrischen bzw. chaldäischen Vorlagen des Synesios zurück. Schon die Orakel verstehen die Dynamis als weibliche Entität und setzen sie mit Rhea und Hekate gleich.537 Dies schlägt sich in der Triaskonzeption des Porphyrios wie auch der späteren Neuplatoniker nieder.538 Synesios steht Porphyrios darin nahe, daß er ebenfalls den Vater als Monas mit der Trias verschmelzen läßt. Jamblich hingegen setzt in seiner Bestrebung, die Transzendenz des obersten Prinzips hervorzuheben, über der Trias noch zwei Prinzipien an. Andere Neuplatoniker vertreten eine Mittellösung, indem sie nur die Monas als ein Prinzip über die Trias setzen.539 Diese Zwischenhypostase wird von Synesios in den Hymnen II, III und V als ἁγία oder ἄχραντος πνοιά bezeichnet.540 Dies zeigt, daß er seine Trias zumindest in diesen Hymnen mit der christlichen Trias identifiziert. Auch die Darstellung der dritten Hypostase als Sohn und dessen Identifizierung mit Christus im III. Hymnus weist in diese Richtung. Dabei ist es allerdings wichtig festzuhalten, daß die Vorstellung der Trias neuplatonisch geprägt ist, und daß das für ihre Darstellung benutzte Vokabular sich in der Mehrheit ebenfalls aus neuplatonischen und chaldäischen Quellen speist, wie die Untersuchungen zu den jeweiligen Passus belegen.541 Die christlichen Termini „Sohn“ und „heiliger Geist“ tragen inhaltlich nichts zu der Konzeption der Trias bei. Sie unterstreichen höchstens den hypostasierenden Charakter der synesianischen Trias, indem sie die Hypostasen als eigenständige anzubetende Personen hervortreten lassen. Somit erscheinen sie als sekundäre Zusatzbegrifflichkeit für die Umschreibung der sachlich neuplatonisch gedachten Trias. 535 H. I, 210–221, 236–244 (obige Übersetzung profitiert stellenweise von der Übersetzung von GRUBER, STROHM 1991). Die Entfaltung der Trias wird auch in Hymnus II, 87–119 und IV, 1–10 thematisiert. Für die Bezeichnung der mittleren Natur als βουλή siehe z. B. H. II, 96. 536 Vgl. dazu BREGMAN 1982, 82f mit Anm. 21 und VOLLENWEIDER 1985, 127f. 537 Vgl. THEILER 1942, 12. 538 Vgl. HADOT 1968, 474 und THEILER 1942, 12. 539 Diese verschiedenen Positionen werden von Damaskios, De primis principiis II, 1 WESTERINK, COMBÈS skizziert. Vgl. auch HADOT 1968, I,96ff. 540 H. II, 98, III, 64, V,32. 541 Vgl. allgemein zum bestimmenden Einfluß der Chaldäischen Orakel die klassisch gewordene Arbeit von THEILER 1942 sowie GRUBER, STROHM 1991 und SENG 1996.
Synesios
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Ein weiterer Zug der synesianischen Trias könnte christlich geprägt sein. Er betont nachdrücklich, daß die drei Wesenheiten bei aller ontologischen Selbständigkeit untrennbar miteinander verbunden bleiben. Obwohl sich der Vater zum Kind ergießt, bleibt er bei sich; die Geburt vollzieht sich durch „Schnitte, die nicht schneiden“542, durch geistige Scheidung, die dennoch „ungeschieden das Geteilte zusammenhält“.543 Zwischen den drei Hypostasen darf keine Rangordnung aufgestellt werden.544 Dies erinnert an die trinitarischen Streitigkeiten, welche das 4. Jahrhundert prägen. Synesios’ Maßnahmen als Bischof gegen die Eunomianer, eine besonders radikale arianische Sekte, haben manche Forscher vermuten lassen, daß er im ersten Hymnus als orthodoxer Christ gegen arianische, genauer gesagt, eunomianische Positionen polemisiere.545 Gegen wen sich Synesios mit seiner Betonung der Wesenseinheit der Hypostasen und dem Verbot des Zählens richtet, kann schwerlich entschieden werden. Libyen war zwar lange Zeit eine Hochburg des Arianismus gewesen, so daß er deren Positionen kennen und verwerfen mochte.546 Jedoch muß nicht unbedingt die innerchristliche Trinitätsdebatte als Sitz im Leben angenommen werden. Auch heidnische Neuplatoniker wie Damaskios verteidigen die Unteilbarkeit und Einheit der Trias und lehnen sogar genau wie Synesios jegliches Zählen im Bereich des Intelligiblen, des νοητόν, ab.547 Dieses sei substantiell eins und drei: ἓν γὰρ τὸ νοητὸν καὶ αὖ τριχῇ θεωρούμενον, αὐτὸ μὲν ἐν ἑαυτῷ μένον κατὰ τὸ ἕν, αὐτὸ δ’ ἐν ἑαυτῷ καὶ ἀφ’ ἑαυτοῦ προϊόν πως κατὰ τὴν τριάδα.548 Gerade die porphyrische Triaskonzeption, welche im Gefolge der Chaldäischen Orakel Monas und Trias identifiziert und somit als das oberste Prinzip des Alls ansetzt, läßt auf die fundamentale Einheit der höchsten Hypostasen schließen und bewirkt, daß man zu einem der christlichen Orthodoxie nahen Standpunkt gelangt.549 HADOT verweist diesbezüglich auf den höchstwahrscheinlich Porphyrios zuzuschreibenden Parmenideskommentar, wo genau die Konzeption vertreten wird, daß im Bereich der Trias alle Zahl aufgehoben ist.550 Die Position des Synesios zwischen Neuplatonismus und christlicher Tradition zeigt sich an der Darstellung der dritten Triashypostase. Im IX. Hymnus war 542 543 544 545
546 547 548 549 550
H. I, 208f. H. I, 214–216; wörtlich wiederholt in H. II, 120–122. H. I, 254–258. So CAVALCANTI 1976, 116–120. Vorsichtiger VOLLENWEIDER 1985, 74, der es zwar für unwahrscheinlich hält, daß Synesios im I. Hymnus gegen die Eunomianer polemisiert, da er zu der Abfassungszeit des ersten Hymnus „noch kaum über genaue Kenntnis der innerchristlichen trinitarischen Detaildiskussion verfügte”. Allerdings „tendiert er hier deutlich zu einer die Hypostasen im Sinne des kirchlichen Homoousios interpretierenden Trias, die so neuplatonischerseits nicht aufzuweisen ist”. Letztere Behauptung kann angesichts der von THEILER 1942, 11 angeführten Stellen nicht aufrechterhalten werden. Vgl. ROQUES 1987, 326–331. Allerdings scheinen die Eunomianer selbst in der Pentapolis keine Rolle gespielt zu haben. (ebd. 376). Vgl. THEILER 1942, 11 (mit ausführlichen Zitaten). Damaskios, De principiis III 108 WESTERINK, COMBÈS. Vgl. dazu BREGMAN 1982, 87f. HADOT 1968, 470f.
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike
sie noch ganz neuplatonisch als Nous beschrieben, dem die Entfaltung und Erhaltung des Alls obliegt – obwohl inhaltlich eine Verschmelzung der Hypostasen des Nous und der Weltseele stattgefunden hatte. In späteren Hymnen wird sie in persönlichen Begriffen als παῖς, υἱός, κόρος u. ä. beschrieben und teilweise mit Christus identifiziert. Diese Identifikation prägt die Hymnen III und VI–VIII. In den Hymnen I, II, IV und V fehlt diese explizite Identifikation. Sie ist in den Hymnen IV und V indirekt gegeben: in Hymnus IV wird der Sohn gleich zu Beginn als Sohn Gottes bezeichnet, während am Schluß des V. Hymnus die christliche Trinität aus Vater, Sohn und Heiligem Geist begegnet. Diese beiden Hymnengruppen, die „trinitarischen“ und die „christologischen“ Hymnen, sollen nun gesondert betrachtet werden. In den Hymnen I, II, IV und V wird die Rolle dieser Hypostase darin gesehen, daß sie die Welt aus sich hervorbringt und sie erhält. Besonders ausführlich wird dies in den Hymnen I und II dargestellt, aus denen nun einige Stellen zitiert seien: Denn du ergossest dich, Unsagbares Gebärender, um ein Kind zu gebären, die ruhmvolle welterschaffende Weisheit.551 Obwohl er entspringt, bleibt der Sproß beim Erzeuger, und wiederum durchwaltet er außen den Besitz des Vaters, indem er den Welten den Reichtum des Lebens herabbringt von dort, woher er ihn selbst hat, der Logos, den ich zusammen mit dem großen Vater besinge. Der Geist des unsagbaren Vaters bringt dich hervor, und nachdem du geboren bist, bist du der Ausdruck des Erzeugers, als erster der ersten Wurzel entsprungen, Wurzel aber aller Dinge, die nach deiner ruhmvollen Abstammung kommen. Die unsagbare Monas, Same aller Dinge, hat dich als Samen aller Dinge ausgesät.552
Diese Stellen illustrieren die begriffliche Ambivalenz in der Beschreibung des Sohnes und seiner Funktion. Seine Charakterisierung als „ruhmvolle, welterschaffende Weisheit“ könnte sowohl auf den platonischen Demiurgen, dessen Rolle im Neuplatonismus wie in den Chaldäischen Orakeln dem Nous zugeschrieben wird,553 als auch auf die christliche Vorstellung von Christus als der welterschaffenden Weisheit Gottes zurückgehen.554 Die Metapher des „Hervorspringens“ bei der Geburt des Gottes ist eine alte mythische Vorstellung, die sich vom homerischen Hymnus auf Apollon bis zu den Chaldäischen Orakeln und in der ausgehenden Spätantike bei Proklos verfolgen läßt.555 Daß die Verbindung zwischen 551 H. I, 202–206: Σὺ γὰρ ἐξεχύθης, / ἀρρητοτόκε, / ἵνα παῖδα τέκῃς/ κλεινὰν σοφίαν/ δημιοεργόν· (...). Die Übersetzung folgt größtenteils GRUBER, STROHM 1991. 552 H. II, 123–144: προθορὼν δὲ μένει / γόνος ἐς γενέταν·/ καὶ πάλιν ἔξω / τὰ πατρὸς διέπει, / κόσμοις κατάγων / ὄλβον ζωᾶς, / ὅθεν αὐτὸς ἔχει / λόγος, ὃν μεγάλῳ / πατρὶ συνυμνῶ. / Νόος ἀρρήτου / τίκτει σε πατρός, / καὶ σὺ κυηθεὶς / λόγος εἶ γε‐ νέτου, / πρῶτος πρώτας / προθορὼν ῥίζας, / ῥίζα δὲ πάντων / τῶν μετὰ κλεινὰν / τὰν σὰν γένναν. / μονὰς ἄρρητος, / σπέρμα τὸ πάντων, / σπέρμα σε πάντων/ ἐσπέρμηνεν. 553 S. frg. 37 DES PLACES. In Enn. V 8,5 betont Plotin, daß der demiurgische Nous seinem Wesen nach Weisheit (σοφία) ist. Als κοσμοποιὸς σοφία wird der Demiurg bei Hierokles bezeichnet (s. I. HADOT 2004, 30f). 554 Vgl. im NT Paulus, 1Kor 1,24, wo Christus als θεοῦ σοφία bezeichnet wird. 555 Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 188 mit Stellenangaben (Hom. Hymn. 3, 119; Ch. Or. 37.3; Prokl. H. 1,19).
Synesios
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Sproß und Zeuger trotzdem bestehen bleibt, könnte genausogut auf den Prolog des Johannesevangeliums556 wie auf die neuplatonische Vorstellung hinweisen, daß der Nous in der epistrophe sich zum Einen zurückwendet und somit stets mit ihm verbunden bleibt. Die Bezeichnung des Sohnes als Logos im zweiten Hymnus erinnert an die christliche Logostheologie. Jedoch ist der Begriff auch dem Neuplatonismus nicht fremd. Plotin bezeichnet jede Hypostase als Logos der vorangehenden: so ist der Nous der Logos des Einen und die Weltseele der Logos des Nous. Dies hängt mit dem Verweischarakter dieser Hypostase zusammen: der Nous ist direkter Ausdruck bzw. Mitteilung des Einen und verweist darauf; die Seele steht in derselben Beziehung zum Nous.557 Vom Logos sprechen auch die Chaldäischen Orakel, die den Vater δύναμις πρώτη ἱεροῦ λόγου558 nennen, was Proklos im Sinne Plotins dahingehend deutet, daß die Hypostase, welche den Vater, das Schweigen, offenbart, als dessen Wort zu gelten hat.559 In seinem Timaioskommentar läßt er in Anlehnung an ein Orakelwort560 auf das „väterliche Schweigen“ den δημιουργικὸς λόγος folgen.561 Diese Stelle sieht den Sohn zugleich als Logos und als Weltschöpfer und ist somit genau parallel zu dem Bild, welches Synesios im zweiten Hymnus vom Sohn skizziert. Anhand dieses Befundes kann man wie bei der Verwendung des Begriffes σοφία im ersten Hymnus vermuten, daß Synesios bewußt seine Vorstellung des welterschaffenden Sohnes zwischen christlicher und neuplatonischer Theologie entwickelt.562 Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, daß die Entstehung der Welt als eine organische Entfaltung aus dem Sohn beschrieben wird. Er steht ontologisch zur Welt im selben Verhältnis wie der Vater zu ihm; wie der Vater für ihn Same oder Wurzel ist, ist er dies für die Welt.563 Mit diesem Verständnis steht Synesios ganz in der Tradition Plotins; gerade auch die verwendeten Bilder von Wurzel oder Samen finden in der neuplatonischen Tradition Verwendung.564 Hier liegt ein wichtiger Unterschied zur christlichen Kosmogonie, nach der die Schöpfung ein Willensakt Gottes ist, bei dem kein ontologischer Zusammenhang zwischen Gott und Welt existieren kann. Dieser Zusammenhang wird bei Synesios durch das chaldäische Bild des „Kanals des Lebens“, der sich von den „väterlichen Schößen“ der Monas durch den Sohn über die geistigen Welten bis zur sichtbaren Welt hinabsteigt und dieser die „Quelle der Guten“ – die Form, die ihr Sein verleiht – vermittelt: Auch der Sproß ohne Seele hängt an deiner Kette, und alles, was ohne jeglichen Lebenshauch ist, gewinnt aus deinen Schößen ihren Zusammenhalt, der durch deine Kraft geleitet wird aus unsagbaren väterlichen Schößen der verborgenen Monas, von wo der Kanal des Lebens hervorströmt und bis zur Erde geführt wird, durch deine Kraft, durch ungeahnte geistige Welten.
556 557 558 559 560 561 562 563 564
Joh. 1,1–3. Plotin Enn. V 1,6. Frg. 175 DES PLACES. Proklos, Eklogai 4 (bei DES PLACES 1971, 210). So THEILER 1942, 16. In Tim. III 222, 12 bei THEILER 1942, 16. Anders VOLLENWEIDER 1985, 77, der den Begriff als rein christlich auffaßt. Vgl. VOLLENWEIDER 1985, 80. S. z. B. Enn. I 6,8.
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike Von dort empfängt die sichtbare Welt die herabsteigende Quelle der Güter, die Form der geistigen Welt.565
Der Sohn hat auch die Aufgabe, die hervorgebrachte Welt zu erhalten und zu verwalten: In dir bleibt er, obwohl er aus dir entsprungen ist, um alles mit weisem Geisthauch zu regieren, die Tiefe der grauen Äonen zu durchwalten, zu durchwalten die Flügel der felsensteilen Kosmos bis zum letzten Grund des Seienden, dem irdischen Teil, indem er in göttlichen Seelen leuchtet, um die Mühen und Sorgen der schnellebigen Sterblichen zu lösen, als Vollbringer des Guten und Vertreiber der Schmerzen.566
Diese Fürsorge für das All kann als soteriologische Funktion des Sohnes angesehen werden: er bewahrt den Kosmos und speziell die Sterblichen vor Leid und Übel und leuchtet in deren Seelen auf. Seine Funktion ist somit parallel zu derjenigen, die Julian Helios oder aber auch Asklepios zuschreibt. Der Begriff ἐλλάμ‐ πειν ist in diesem Kontext von besonderem Interesse. Zum einen kann er die Vermittlung des göttlichen, lebensspendenden Lichtes an den gesamten Kosmos bezeichnen, welche über Nous und Weltseele vollzogen wird.567 Zum anderen kann es auch im Sinne göttlicher Erleuchtung der Menschenseelen gebraucht werden, welche den Aufstieg zu Gott ermöglicht. Porphyrios verbindet Erlösung und Erleuchtung wenn er die intelligiblen Götter mit der Aufgabe betraut, für das Heil der Menschen zu leuchten (τῇ ἡμετέρᾳ σωτηρίᾳ ἐπιλάμποντες).568 In Jamblichs De mysteriis kann der Begriff wie oben untersucht als terminus technicus für das erlösende Handeln der Götter angesehen werden. 569 Auch Proklos schildert in seinem Kommentar zu den Chaldäischen Orakeln die Hinaufführung der Seele durch die Engel als Erleuchtung.570 Die Funktion des Sohnes bezüglich der Menschen schillert somit zwischen Lebensspender und Erlöser, wobei letztere neuplatonisch gefaßt ist.571 Dieses bewahrende und erlösende Wirken ist kein
565 H. II, 190–212: Ἀλαὸν ψυχᾶς / βλάστημα τεᾶς / κρέμαται σειρᾶς, / χὡπόσα πά‐ σας / στέρεται πνοιᾶς / ἀπὸ σῶν κόλπων / δρέπεται συνοχάν, / πορθμευομέναν / διὰ σᾶς ἀλκᾶς / ἐξ ἀρρήτων / πατρικῶν κόλπων / κρυφίας μονάδος, / ὅθεν ὁ ζω‐ ᾶς / όχετὸς προρέων / φέρεται μέχρι γᾶς, / διὰ σᾶς ἀλκᾶς, / δι’ ἀτεκμάρτων / νοε‐ ρῶν κόσμων. / Ἔνθεν δέχεται / καταβαίνοισαν / ἀγαθῶν κράναν, / νοεροῦ μορ‐ φὰν / κόσμος ὁρατός. Vgl. dazu THEILER 1942, 25–27. Zum chaldäischen Sprachgebrauch vgl. frg. 2, 65–66 und 110 DES PLACES. 566 H. I, 406–427: Ἐν σοὶ δὲ μένει, / σέθεν ἐκπροθορών, / ἵνα πάντα σοφαῖς / ἐφέπῃ πνοιαῖς, / διέπῃ πολιῶν / βάθος αἰώνων, / διέπῃ ταρσοὺς / κραναοῦ κόσμου / μέχ‐ ρι καὶ νεάτου / πυθμένος ὄντων, / χθονίας μοίρας, / ὁσίαις πραπίσιν / ἐλλαμπό‐ μενος, / λύῃ δὲ πόνους / ἠδὲ μερίμνας / διερῶν μερόπων, / ἀγαθῶν κράντωρ, / ἐλατὴρ ἀχέων.Vgl. auch H II, 145–212, IV 16–23. 567 So bei Plotin Enn. II 9,2f. Vgl. VOLLENWEIDER 1985, 139, Anm. 62 und GRUBER, STROHM 1991, 170. 568 De abstinentia II 34, 5. 569 So etwa bei Jamblich, De myst. I, 12, II,6.8.9. DES PLACES spricht von einem jamblicheischen terminus technicus (De myst. 62, Anm. 2). Vgl. dazu auch LACOMBRADE 1978, 57, Anm. 1. 570 Eklogai I (bei DES PLACES 1971, 206). 571 Vgl. VOLLENWEIDER 1985, 139.
Synesios
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einmaliger Vorgang, sondern ein in der Natur der Dinge verankerter ewiger Prozeß.572 Dies wird auch durch den entsprechenden Passus in Hymnus IV deutlich: Du lenkst die weise Wölbung des Himmels; ewig weidest du der Sterne Herde; du, Fürst, herrschst über den Reigentanz der Engel und über die dämonische Phalanx. Du umtanzst auch die vergängliche Natur, teilst unteilbaren Geisthauch um die Erde herum auf und verbindest das Gegebene wieder mit der Quelle, indem du die Sterblichen aus den Zwängen des Todes erlöst.573
Die Erlösung besteht somit in der Rückkehr der Seele aus der irdischen Welt, die notwendigerweise mit dem Tod verbunden ist, zu der göttlichen Quelle, aus der sie stammt.574 Bei der Beschreibung des Sohnes in den Hymnen I, II, IV und V lassen sich somit drei Punkte festhalten. Sein Verhältnis zum Vater wird zum einen mit rein neuplatonischen Motiven beschrieben, zum anderen mit Prädikaten wie Weisheit und Logos, die sowohl der neuplatonischen als auch der christlichen Tradition vertraut sind. Die neuplatonische Vorstellungswelt bestimmt hingegen das Verhältnis des Sohnes zur Welt, das als organisch-ontologischer Zusammenhang gesehen wird. Schließlich wird auch die soteriologische Funktion des Sohnes nicht christlich, als einmaliger Akt der Erlösung, sondern vielmehr im neuplatonischen Sinne als seelische Erleuchtung aufgefaßt, die in den ewigen Prozeß der Welterhaltung eingebettet ist. Wie geht Synesios auf diesem Hintergrund mit der Gestalt des inkarnierten Christus um? Die Inkarnation selbst, ein Dissenspunkt ersten Ranges zwischen Neuplatonikern und Christen,575 wird im dritten Hymnus thematisiert. Die Entstehungszeit des Hymnus kann nicht genau fixiert werden; LACOMBRADE sieht in ihm ein Werk des jungen Politikers vor der Gesandtschaft, GRUBER und STROHM weisen dies jedoch zurück, ohne selbst einen Vorschlag zur Datierung zu machen. Der Jungfrauengeburt sind die ersten neun Verse des Hymnus gewidmet. Sie wird parallel zur Geburt des Sohnes aus dem Vater geschildert: Unsagbare Ratschlüsse des Vaters säten die Abstammung Christi; die heiligen Geburtswehen der Braut ließen den in menschlicher Gestalt erscheinen, der zu den Sterblichen als Vermittler des Lichtes aus der Quelle kam.576
572 Vgl. dazu VOLLENWEIDER, ebd. 573 H. IV 16–23: σὺ μὲν οὐρανοῦ σοφὰν ἄντυγα νωμᾷς, / τὰν δ’ ἄστρων ἀγέλαν ἀεὶ νομεύεις· / σὺ δὲ τᾶς ἀγγελικᾶς, ἄναξ, χορείας / καὶ τᾶς δαιμονίας φάλαγγος ἄρ‐ χεις· / σὺ δὲ καὶ φύσιν φθιτὰν ἀμφιχορεύεις, / ἀμέριστον περὶ γᾶς πνεῦμα μερί‐ ζεις, / καὶ παγᾷ τὸ δοθὲν πάλιν συνάπτεις, / θνατοὺς ἐκ θανάτου λύων ἀνάγκας. 574 Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 205. 575 Die von den Neuplatonikern abgelehnten Hauptpunkte der christlichen Lehre – die Inkarnation des Gottessohnes, sein Kreuzestod und seine Auferstehung finden sich klar artikuliert in Augustins Referat der Position des Porphyrios in De civitate Dei X, 29f. und XIX, 23. 576 H. III, 4–9: Ἄρρητοι πατρὸς βουλαὶ / ἔσπειραν Χριστοῦ γένναν· / ἁ σεμνὰ νύμφας ὠδὶς / ἀνθρώπου φῆνεν μορφάν, / ὃς θνατοῖσι πορθμευτὰς / ἦλθεν φωτὸς πα‐ γαίου· Die Übersetzung basiert auf der Übersetzung von GRUBER, STROHM 1991.
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Wie die ὠδίς des Vaters den Sohn in Erscheinung treten läßt,577 so geht auch hier der Geburtsprozeß vom Vater und seinen unsagbaren Ratschlüssen aus und vollzieht sich über die „heiligen Geburtswehen der Braut“.578 So kann der Sohn, der zu den Menschen als Vermittler des Lichtes des Vaters, des Lichtes aus der Quelle, kommt, in menschlicher Gestalt erscheinen. Daß es sich hierbei um die dritte Triashypostase handelt, machen die folgenden Verse klar, die Christus als „Licht aus der Quelle“ und „Strahl, der zusammen mit dem Vater leuchtet“ bezeichnen und im Gegensatz zu seiner irdischen Geburt von seiner „unsagbaren Geburt“ sprechen, welche „die Wurzel der Äonen“ kennt.579 Nach dem 9. Vers tritt die Jesusgestalt zurück. Der restliche Hymnus beschreibt das ewige Walten des Sohnes als Triashypostase im Kosmos: Du selbst bist das Licht aus der Quelle, da du als Strahl zusammen mit dem Vater aufleuchtest; nachdem du die dunkle Materie zerrissen hast, erleuchtest du die reinen Seelen. Du selbst bist der Begründer des Alls, der du die ruhmreichen Sterne gerundet und die Mittelpunkte der Erde mit Wurzeln versehen hast; du bist aber auch der Retter der Menschen. Für dich stürmt Titan zu Roß dahin, die unauslöschliche Quelle des Morgenlichtes. Für dich löst der stiergesichtige Mond die Finsternis der Nächte; für dich wachsen Früchte und weiden Herden. Indem du aus deiner unaussprechlichen Quelle fruchtspendenden Glanz schickst, nährst Du die Flügel der Welten. Aus deinen Schößen sprossen Licht, Geist und Seele.580
Synesios nennt als Zweck der Inkarnation nicht etwa den Kreuzestod und die Auferstehung, sondern die Vermittlung göttlichen Lichtes an die Menschen. Nach H. III,12 ist der Sohn selbst das Licht des Vaters, welche durch die Inkarnation in einer den Menschen faßbaren Form erscheint. Seine Rolle als Mittler des Lichtes wird in H. III,14–15 dahingehend präzisiert, daß er die Materie durchbricht und in frommen Seelen aufleuchtet. Auch hier verwendet Synesios für das Wirken des Sohnes den neuplatonischen terminus technicus für die göttliche Erleuchtung, welche den Aufstieg zu Gott ermöglicht. Angesichts der Parallelität kann angenommen werden, daß für Synesios die soteriologische Funktion des Sohnes im dritten Hymnus dieselbe wie im ersten Hymnus ist. Das Prädikat σωτήρ in H. III,19 ist in diesem Kontext zu sehen: Errettung ist Befreiung von der Materie.581 Der Gebrauch der Tempora legt es nahe, an einen immerwährenden Prozeß 577 H. I, 240; IV, 8–9. 578 Zur Parallelität von oberer und unterer Geburt des Gottessohnes vgl. BREGMAN 1982, 99 und VOLLENWEIDER 1985, 143f. 579 H. IV, 10–13. 580 H. III, 12–30: Ἀυτὸς φῶς εἶ παγαῖον, / συλλάμψας ἀκτὶς πατρί, / ῥήξας δ’ ὀρφναί‐ αν ὕλαν / ψυχαῖς ἐλλάμπεις ἁγναῖς. / Αὐτὸς μὲν κόσμου κτιστάς, / κλεινῶν σφαι‐ ρωτὰς ἄστρων, / κέντρων γαίας ῥιζωτάς, / αὐτὸς δ’ ἀνθρώπων σωτήρ. / Σοὶ μὲν Τιτὰν ἱππεύει / ἡοῦς ἄσβεστος παγά· / σοὶ δ’ ἁ ταυρῶπις μήνα / τὰν νυκτῶν ὄρφ‐ ναν λύει· / σοὶ καὶ τίκτονται καρποί, / σοὶ καὶ βόσκονται ποῖμναι· / ἐκ σᾶς ἀρρή‐ του παγᾶς, / ζείδωρον πέμπων αἴγλαν / πιαίνεις κόσμων ταρσοῦς· / ἐκ σῶν βλάσ‐ τησεν κόλπων / καὶ φῶς καὶ νοῦς καὶ ψυχά (Übersetzung profitiert stellenweise von der Übersetzung von GRUBER, STROHM 1991). 581 Vgl. auch den Abschluß des Hymnus (III, 31–46). Die gleiche Auffassung von Rettung und Heil ist gegeben, wenn Proklos in seinem Hymnus V, 1–5 die Götter als σαωτῆρες μεγά‐ λοι anruft, da sie die Seelen der Menschen aus der „dunklen Höhle“ zu den Unsterblichen emporziehen.
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zu denken und nicht an einen einmaligen Akt: nur in den Eingangsversen, wo die Jungfrauengeburt geschildert wird, wird der Aorist, welcher punktuelle Ereignisse wiedergibt, verwendet; die Beschreibung des Sohnes ist hingegen wie in den anderen trinitarischen Hymnen im Präsens gehalten. Die Inkarnation erscheint somit weniger als historisches Geschehen als vielmehr ein symbolhafter Ausdruck eines sich immer schon vollziehenden Geschehens582 – vielleicht im Sinne der Mythentheorie des Saloustios: ταῦτα δὲ ἐγένετο μὲν οὐδέποτε, ἔστι δὲ ἀεί.583 In den Hymnen VI und VIII, die metrisch mit dem oben analysierten an den „ruhmreichen Sohn der Jungfrau“ gerichteten VII. Hymnus zusammenhängen, steht die Christusgestalt im Mittelpunkt. Ihre Abfassungszeit und ihre Intention sind nicht erschließbar; sie könnten in dieselbe Zeit wie der VII. Hymnus fallen, könnten aber auch das Werk des Bischofs Synesios sein. 584 Aufgrund des Fehlens persönlicher Elemente, das sie von den anderen Hymnen markant unterscheidet, könnte geschlossen werden, daß sie für ein weiteres christliches Publikum gedacht sind. Dann könnten sie nicht ohne weiteres als direkter Ausdruck der persönlichen Religiosität des Synesios angesehen werden. Der sechste Hymnus konzentriert sich auf die Anbetung der Magier. Synesios will „den Seligen, den Unsterblichen, den ruhmvollen Sohn der Jungfrau, Jesus von Jerusalem“ besingen.585 Dieser wird in einer knappen Verspartie mit dem Gottessohn identifiziert: Wir wollen den unvergänglichen Gott besingen, den großen Sohn Gottes, des die Ewigkeit gebärenden Vaters, den Sohn, der die Welt hervorbringt, die in alles gemischte Natur, die unendliche Weisheit, den, der für die Himmlischen ein Gott, für die Unterirdischen ein Leichnam ist.586
Der Sohn wird hier zunächst wie schon aus anderen Hymnen bekannt, zuerst in seiner Funktion als Weltschöpfer beschrieben Dann wird zu der spezifisch christlichen Sicht des Gottessohnes übergeleitet: der Sohn ist für die Wesen des Himmels ein Gott, für die Unterirdischen ein Leichnam. Mit dieser drastischen Ausdrucksweise faßt Synesios das Paradoxon der Christusgestalt, zugleich Gott und
582 VOLLENWEIDER 1985, 170f. erwägt vorsichtig diese Möglichkeit. 583 Saloustios, De diis et mundo IV 9. VOLLENWEIDER 1985, 170f. weist darauf hin, daß die „neuplatonische Mythentheorie, insbesondere diejenige des Porphyrios, eine Historizität der zu allegorisierenden mythischen Begebnisse keineswegs ausschloß“. Er verweist auf De providentia um zu zeigen, daß sich für Synesios auch Mythen geschichtlich ausprägen können. Der Bezug auf diese Schrift ist jedoch insofern problematisch, als dort Synesios den Osirismythos zur Verschlüsselung der konkreten politischen Ereignisse benutzt und ihn somit als literarisches Mittel und nicht seinen religiösen Gehalt im Blick hat. 584 So etwa LACOMBRADE 1978, 85 und 93. Zu verweisen ist auch auf die Interpretation von SCHMITT 2001, 358–385, der den Hymnus als rein politischen Ausdruck der Parteinahme für Aurelianos auffaßt. SCHMITTS Argumente sind allesamt hypothetisch. Auf seine Interpretation soll hier nicht weiter eingegangen werden. 585 H. VI, 2–4. 586 H. VI, 10–17: Ὑμνήσομεν ἄφθιτον / θεόν, υἷα θεοῦ μέγαν, / αἰωνοτόκου πατρὸς / τὸν κοσμογόνον κόρον, / τὰν παντομιγῆ φύσιν, / σοφίαν ἀπερείσιον, / τὸν ἐπου‐ ρανίοις θεόν, / τὸν ὑποχθονίοις νέκυν.
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am Kreuz gestorbener Mensch, prägnant zusammen.587 Die Verbindung der Prädikate θεός und νέκυς hat eine Parallele in einem bei Hippolyt überlieferten Hymnus der Naassener auf Attis.588 Es wäre zu überlegen, ob sich die Parallelisierung von Christus und Attis in den weiteren Kreisen der gebildeten spätantiken Laienchristen eingebürgert hatte. Dies erscheint insofern plausibel, als auch Augustin berichtet, er habe einen Attispriester sagen hören, daß Attis selbst Christ sei.589 Dieses Paradoxon wird im folgenden anhand der Anbetung der Magier vertieft. Die Geburt Jesu, die wie in Hymnus III parallel zur Geburt des Sohnes aus der Monas als „Ergießen“ dargestellt wird590, versetzt die Magier in ratloses Staunen: Was ist das geborene Kind? Wer ist der verborgene Gott? Ein König, ein Gott oder ein Leichnam?591
Die Jesusgestalt wird hier ganz orthodox erfasst: Gott verbirgt sich und erscheint in menschlicher Gestalt; Christus ist zugleich Gott, König und auch gestorbener Mensch, Leichnam. Synesios greift hier die traditionelle Deutung der Gaben der Magier auf: das Gold deutet auf sein Königtum, der Weihrauch auf seine Göttlichkeit und die Myrrhe auf seinen Tod am Kreuz.592 Nach dieser recht orthodox anmutenden Charakterisierung der Christusgestalt und Deutung des Epiphaniasgeschehens ändert sich die Bildwelt schlagartig: Du hast sowohl die Erde gereinigt, als auch die Meereswogen und die Wege der Dämonen, den beweglichen Strom der Luft und auch die unterirdischen Winkel, als Helfer der Gestorbenen, als Gott in den Hades gesandt.593
Anstelle nun etwa Jesu Wunder oder seinen Kreuzestod zu beschreiben, schildert Synesios sein Wirken parallel zur Deutung der Mühen des Herakles, die sich in der klassischen Tragödie bei Sophokles und Euripides findet.594 Wie Herakles als Helfer der Sterblichen Erde, Wasser und Luft von den verschiedenen Ungeheuern befreit, wie er auch in den Hades hinabsteigt, den Kerberos besiegt und Theseus rettet, so hat auch Christus dieselbe Funktion. Herakles bietet sich als Analogie zu Jesus durchaus an: wie Jesus Sohn des höchsten Gottes ist, ist Herakles Sohn des Zeus, der nach schlimmen Todesqualen in den Olymp entrückt wird. Synesios versteht die Gestalt Christi durch die Analogie zu Herakles. Somit würde die Je587 Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 216. 588 Hippolytus, Ref. V 9,8, publiziert als XLIV 2 in: HEITSCH 1963, 156f. Das Fragment zählt die verschiedenen Bezeichnungen des Attis auf, in Vers 10 heißt es: ποτὲ δὲ νέκυν ἢ θεόν. 589 Tract. in Joh. VII 5. 590 H. VI, 18f. 591 H. VI, 23–25: Τί τὸ τικτόμενον βρέφος; / τίς ὁ κρυπτόμενος θεός; / βασιλεύς, θεὸς ἢ νέκυς; 592 Vgl. BREGMAN 1982, 100f. mit Anm. 31, VOLLENWEIDER 1985, 152f. Diese Interpretation der Gaben findet sich z. B. bei Origenes, Gegen Kelsos I, 60. Synesios könnte in Alexandrien mit origenistischen Ideen, die zu der Zeit besonders aktuell waren, vertraut geworden sein. 593 H. VI, 33–39: Καὶ γᾶν ἐκαθήραο, / καὶ πόντια κύματα, / καὶ δαιμονίας ὁδούς, / ῥα‐ δινὰν χύσιν ἀέρος, / καὶ νερτερίους μυχούς, / φθιμένοισι βοηθόος, / θεὸς εἰς Ἀί‐ δην σταλείς. 594 Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 217, BREGMAN 1982, 101, VOLLENWEIDER 1985, 154.
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susgeschichte auf die Ebene des Mythos gerückt werden.595 Es wäre möglich, daß Synesios dennoch die historische Dimension nicht vollständig ausschaltet und die Jesusgestalt ähnlich konzipiert wie Julian Asklepios, dem er wiederholte Epiphanien zuschreibt.596 Angesichts des sonst vorherrschenden ahistorischen Charakters des Wirkens des Sohnes im All ist dies aber unwahrscheinlich. Eine ähnliche Verschmelzung antiker Mythologie und christlicher Tradition findet sich im VIII. Hymnus, der die Himmelfahrt zum Gegenstand hat. Der Blick richtet sich zunächst auf Christi Sieg über den Teufel, die Schlange, die zur Ursünde verführte: (...) der du die tückische Falle, die irdische Schlange, aus den großen Gärten des Vaters vertriebst, welche die verbotene Frucht, Nährerin widrigen Geschicks, dem Mädchen reichte, die unsere Stammutter wurde.597
Wie SENG in seiner Analyse der Metaphorik des VIII. Hymnus gezeigt hat, verschmelzen hier christliche Tradition und neuplatonisch-chaldäische Begrifflichkeit.598 Auf der Ebene der Erzählung liegt die Geschichte vom Sündenfall vor: die Schlange bietet Eva, der Stammmutter, die verbotene Frucht an, welche für die Menschen zur Quelle des leidvollen irdischen Lebens wird, und wird dann von Christus besiegt. Es treten verschiedene Termini auf, die bei Synesios für die Schilderung des Falls der Menschenseele in die Materie gebraucht werden. Die Schlange wird als „irdisch“ bezeichnet und so mit der materiellen Welt in Zusammenhang gebracht; das Bild der Schlange beschreibt andernorts den Dämon der Materie.599 Dies deutet darauf hin, daß Synesios die Geschichte vom Sündenfall symbolisch auf den Fall der Seele in die Materie bezieht. Auch die „tückische Falle“ ist ein Ausdruck, der andernorts für die Materie verwendet wird.600 Das „bittere Todesgeschick“ könnte als Anspielung auf den körperlichen Tod interpretiert werden; es könnte aber auch das elende Schicksal der unter die Gewalt der Materie geratenen Seele symbolisch andeuten.601 Die Abfolge Frucht-Todesgeschick entspricht der im Traumbuch und im ersten Hymnus entwickelten Vorstellung, daß die göttliche Seele sich von den trügerischen Freuden der Materie ans Irdische fesseln läßt und so der materiellen Welt mit all ihrem Leid verfällt.602 Κόρα erscheint in den anderen Hymnen als Bezeichnung für die Seele.603 Der Sieg Christi
595 Vgl. VOLLENWEIDER 1985, 151, der betont, daß Synesios „die Inkarnation und Hadesfahrt Christi als Ausdruck seiner Weltdurchwaltung verstanden hat.“ 596 Contra Galilaeos 200 a–b. 597 H. VIII, 4–9: ὃς τὰν δολίαν πάγαν, / χθόνιον μεγάλων ὄφιν / πατρὸς ἤλασας ὀρ‐ χάτων. / ὃς καρπὸν ἀπώμοτον, τροφὸν ἀργαλέου μόρου, / πόρεν ἀρχεγόνῳ κόρᾳ. Ich folge hier dem Text von LACOMBRADE 1978, während GRUBER und STROHM WILAMOWITZ’ Konjektur κόρῳ übernehmen; ihre Übersetzung ist hier dementsprechend geändert. 598 SENG 1996, 367–390. 599 H. I, 86–90. 600 H. I, 681. 601 Vgl. SENG 1996, 367f. 602 Vgl. De insomniis 8, H. I, 569–592.646–691. 603 Vgl. H. I, 569.586; III, 31.
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über die Schlange erhält somit eine neue Dimension: durch ihn wird die Macht der Materie gebrochen. Dieser Sieg wird in den folgenden Versen thematisiert: Du stiegst auch hinab bis zur Erde und hieltest dich unter den Eintagswesen in einem sterblichen Leib auf. Du stiegst hinab unter den Tartaros, wo der Tod über unzählige Völker von Seelen herrschte. Damals erschauderte vor dir der alte Hades, der vor langer Zeit Geborene, und der völkerfressende Hund (...), von gewaltiger Kraft, wich von der Schwelle zurück. Nachdem du aber die heiligen Chöre der Seelen von den Leiden erlöst hast, führst du sie als Söhne dem Vater hinauf, mit unbefleckten Scharen.604
Auf der Erzählebene werden hier Inkarnation und descensus ad inferos beschrieben. Christus steigt hinab, weilt im sterblichen Leib als Gott unter den Menschen (ἐπίδημος ist ein altes Kultwort und bezeichnet die Anwesenheit eines Gottes, etwa des Apollon in Delphi);605 er steigt herab in den Tartaros und erlöst die heiligen Seelen. Der descensus greift wiederum auf die Bildlichkeit der antiken Mythologie zurück: im Tartaros thront Hades, und die Schwelle wird vom „völkerfressenden Hund“, dem Kerberos, bewacht. Beide weichen angsterfüllt zurück. Dieses Motiv findet sich auch im Christentum;606 es werden aber zugleich Assoziationen mit den antiken katabaseis, vor allem derjenigen des Herakles erweckt, der in den Hades hinabsteigt, um Theseus zu retten. Ebenso erlöst Christus die heiligen Seelen von Leiden und führt sie zum Vater hinauf.607 In den θιασοί könnte eine Anspielung auf Dionysos gesehen werden.608 Der bisherige Hergang des Hymnus steht im Widerspruch zu der in De Insomniis entworfenen Vorstellung vom Schicksal der Seelen nach dem Tod, nach der gute Seelen aufgrund ihres Pneumas zu höheren Regionen des Alls entschweben. Dies kann verschieden erklärt werden. Der Hymnus könnte später entstanden sein und somit eine Entwicklung des Synesios hin zu christlichen Gedanken dokumentieren.609 Allerdings bekundet Synesios noch bei seiner Bischofswahl große Reserve gerade gegenüber der Auferstehung. Falls der Hymnus vor der Bischofswahl entstanden sein sollte, muß bedacht werden, daß er als lyrisches Werk auf einer anderen Ebene als das philosophische Essay De insomniis liegt. Eine mit Platon ansetzende Tradition interpretiert den Tartaros allegorisch als Symbol der irdischen Welt, in der die Seele gefangen ist.610 Der Kerberos erscheint bei Porphyrios als Sinnbild der drei niederen Elemente;611 das Bild des Hundes wird bei Sy-
604 H. VIII,13–27: Κατέβας μέχρι καὶ χθονὸς, / ἐπίδημος ἐφαμέροις, / βρότεον φορέων δέμας· / κατέβας δ’ ὑπὸ Τάρταρα, / ψυχᾶν ὅθι μυρία / θάνατος νέμεν ἔθνεα· / φρί‐ ξεν σε γέρων τότε / Ἀίδας ὁ παλαιγενής, / καὶ λαοβόρος κύων, (...) ὁ βαρυσθε‐ νής, / ἀνεχάσσατο βηλοῦ. / Λύσας δ’ ἀπό πημάτων / ψυχὰν ὁσίους χόρους, / θιά‐ σοις σὺν ἀκηράτοις / υἱοὺς ἀνάγεις πατρί. 605 Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 225. 606 Etwa im apokryphen Nikodemosevangelium. 607 Vgl. SENG 1996, 373. 608 Ebd. 374. 609 So LACOMBRADE 1978, 92f, der das Werk zeitlich nahe an die Bischofswahl rückt und die christlichen Motive betont. 610 Vgl. SENG 1996, 374, VOLLENWEIDER 1985, 146. 611 Vgl. SENG, ebd. 372.
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nesios in anderen Hymnen für die Dämonen der Materie gebraucht.612 Die Hadesfahrt Christi wäre in dieser Lesart ein Bild für die Befreiung der Seelen aus den Fängen der Materie durch den Gottessohn.613 Das κατέβας δ’ ὑπὸ Τάρταρα, welches für die Christen zeitlich als auf die Inkarnation folgendes Ereignis zu verstehen ist, wäre für Synesios somit eine Explikation des κατέβας μέχρι καὶ χθονός.614 Diese Lesart ist plausibler, da sie dem Anfang des Hymnus entspricht, wo Synesios den Sündenfall durch die angewantde Metaphorik mit dem Selbstverlust der Seele an die Materie gleichsetzt. Nach der Hadesfahrt wird der Aufstieg des Gottessohnes durch die verschiedenen Regionen des Alls geschildert. Bei seinem Aufstieg erzittern die im Luftraum befindlichen Dämonen; die Gestirne – unter welchen der Mond als „Hirte der nächtlichen Götter“615 bezeichnet wird – freuen sich. Die Sonne erkennt in ihm ihr Urbild und Prinzip, den Sohn Gottes, den ἀριστοτέχναν νοῦν.616 Die besondere Rolle der Sonne im Kosmos wird von Synesios wiederholt hervorgehoben;617 wie aus dieser Stelle ersichtlich ist, setzt er die gleiche platonisch-chaldäische Kosmologie wie Julian voraus, die die sichtbare Sonne auf den Nous und diesen wiederum auf das Eine bzw. Gute zurückführt. Der Jungfrauensohn wird somit wie in den anderen Hymnen mit dem Nous, dem Schöpfer des Alls, identifiziert; dies verstärkt die Hypothese eines mythologischen Hymnus. Sein Reich sind die „geistigen Sphären“ des „schweigenden Himmels“ laut dem V. Hymnus der Bereich der νοητὰ καὶ νοερά.618 Dort befindet sich die „Quelle des Guten“, die höchste Gottheit, der absolute Gegenpol zur Materie.619 Die diesen Hymnus prägende Verschmelzung von Motiven aus verschiedensten Traditionen620 zeigt, daß Synesios „die Ausdrucks- und Vorstellungsweisen, die derart verschiedenen Traditionen entstammen, als sachlich übereinstimmend interpretiert.“621 Synesios benutzt den „christlichen Mythos“622 als ein Bild neben anderen, um neuplatonische Grundvorstellungen wie das Schicksal der in der Materie gefangenen Seele oder die demiurgische und soteriologische Funktion des göttlichen Nous623 poetisch darzustellen. „Das poetische Verfahren des Synesios korrespondiert somit einer neuplatonischen Hermeneutik, welche die Texte der 612 In Anlehnung an die Chaldäischen Orakel bezeichnet Synesios die Dämonen als „Hunde“ (vgl. H. I, 93.97, II, 245ff. und das „Gebell der Materie“ in H. IX, 109). 613 Vgl. SENG 1996, 374f. 614 Vgl. SENG, ebd. 373. 615 H. VIII, 48. 616 H. VIII, 52–54. 617 H. I 32–36, ΙΙ 213–226. 618 H. V, 22–24. 619 Vgl. dazu Porphyrios, sent. 40 LAMBERZ. 620 BREGMAN 1982, 102 spricht von der „almost riotous mixture of pagan and Christian imagery“.Eine detaillierte Analyse der zur Schilderung des Aufstiegs verarbeiteten Motive findet sich bei SENG 1996, 377–387. Eine mehr philologisch ausgerichtete Analyse findet sich bei SMOLAK 1971. 621 SENG 1996, 382. 622 Ebd. 389 623 Ebd. 388.
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Dichter als allegorisch auszulegende, im Bild und Mythos verschlüsselte Darstellung dessen versteht, das seinem Wesen nach unaussprechliches göttliches Geheimnis ist.“624 Bezüglich der Christusgestalt läßt sich somit festhalten, daß Synesios die Evangelienüberlieferung auf der Ebene des Mythos ansiedelt. Er nähert sich der Jesusgestalt durch die Analogie zu Attis, Herakles und Dionysos an. Die Jesusgeschichte ist ihm eine symbolische erzählerische Darstellung des ewigen Wirkens des Gottessohnes. Dieser behält in den Hymnen seine neuplatonischen Züge: er ist der Nous, der sich aus dem Vater „ergießt“, um seinerseits die Welt hervorzubringen; er bewahrt die Menschen vor Übel und rettet sie aus der Materie, indem er diese durchbricht und ihre Seelen erleuchtet. Zwischen dem Weltbild, das in den Hymnen gezeichnet wird, und dem Weltbild der Prosaschriften lassen sich somit keine Widersprüche feststellen. Wie in De insomniis erscheinen auch in den Hymnen verschiedene Klassen von Göttern, die ähnlich wie in De providentia einem höchsten Gott, der in neuplatonischer Begrifflichkeit gepriesen wird, unterstehen. Die Christusgestalt wird in dieses neuplatonische Modell integriert und erscheint als mythologisches Sinnbild für das Wirken des Nous im All und im Menschen. Der Abstieg der Seele in die Welt und ihr Aufstieg zu Gott werden analog zu De insomniis geschildert. Die Hymnen explizieren somit das Weltbild der Prosaschriften und erweitern es um neuplatonisch interpretierte christliche Elemente. Synesios bleibt auch in ihnen der Neuplatoniker, der einen hellenisch-inklusivistischen und keinen exklusivistischen christlichorthodoxen Monotheismus vertritt. Welcher Sitz im Leben den Hymnen zukommt kann nur spekulativ erörtert werden. Synesios selbst beschreibt die Hymnendichtung als geistiges Opfer bzw. geistigen Kult625 und Hilfsmittel zum Aufstieg der Seele zu Gott.626 Seiner Behauptung nach sind die Hymnen somit mehr als bloß literarische Werke; sie haben eine wichtige religiöse Funktion inne.627 Darin berühren sie sich mit Julians Prosahymnen, die ebenfalls als geistiger Kult, als geistige Feier der entsprechenden Götterfeste gedacht sind. Der Unterschied zu Julian wäre zumindest für die „trinitarischen“ Hymnen in der viel stärker betonten Individualität und Loslösung von jeglichen kultischen Traditionen zu sehen. Sie erscheinen als einsame Meditationen auf seinem libyschen Landgut, die nicht an einen Festkalender gebunden sind und auch nicht das weitere Ziel einer Belehrung weiterer Kreise verfolgen, wie es der pontifex maximus tut. Mit dessen Intention berühren sich eher die „christologischen“ Hymnen. Sie können bestimmten Festen im Kirchenjahr zugeordnet werden – Weihnachten, Ostern oder Epiphanias. Die Hymnen VI und VIII, die ohne Bezug auf die Persönlichkeit des Dichters sind, könnten vom Bischof für die Gemeinde verfaßt sein und somit eine konkrete Umsetzung seiner programmatischen Formel τὰ μὲν οἴκοι φιλοσοφῶ, τὰ δ’ ἔξω 624 625 626 627
Ebd. 389. H. I, 1–11, 102–107; H. IV, 24; H. V, 75f; H. VI, 7–9; H. VII 48–53. H. II, 281–284, H. IX, 120–123. In dieser Grundannahme ist BIZZOCHI 1951 zuzustimmen. Seine Vorstellung, daß die Hymnen als Meditationsdichtung für den Hypatia-Kreis gedacht waren, ist jedoch spekulativ und schwerlich begründbar.
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φιλόμυθός εἰμι διδάσκων darstellen.628 Es wäre schließlich auch denkbar, daß Synesios, wahrscheinlich aus einer christlichen Familie stammend, sich ohne äußeren Anlaß mit den Motiven seiner Tradition im Lichte der Philosophie befaßt. Dieser kommt eindeutig der Primat zu; die religiöse Tradition wird in ihrem Lichte interpretiert. Insofern sind seine Hymnen, auch die auf Christus bezogenen, formal mit anderen neuplatonischen Hymnen wie etwa die des Proklos vollkommen parallel, nur daß bei ihm auf die christliche „Mythologie“ rekurriert wird.629 4.4.3. Chaldäische Orakel, Mantik und Theurgie Gilt die Theurgie in der Forschung gemeinhin als zentraler Zug der ‚jamblicheischen‘ Religiosität Julians, so wird Synesios meist als Porphyrianer betrachtet, der aus Rationalitätsgründen die jamblicheische Theurgie grundsätzlich ablehne. Als Quelle dafür wird meistens De insomniis herangezogen,630 das vordergründig zumindest als Apologie der Traummantik geschrieben ist. Jedoch sind die darin enthaltenen Ausführungen zur Mantik umständlich und ambivalent, was eine nähere Betrachtung erfordert. Synesios setzt zunächst bei der Mantik allgemein an, die er in Anlehnung an Plotin und Porphyrios aus der universellen sympatheia ableitet. Da alle Dinge miteinander im Zusammenhang stehen, dienen sie gleichsam als Schriftarten, aus denen der Kundige jeweils die Zukunft voraussehen kann: So sehen die Weisen die Zukunft, indem die einen die Sterne kennen, (...), die anderen aber sie in den Eingeweiden lesen, andere aber in den Schreien der Vögel, ihrem Sitzen und ihrem Flug. Für andere stellen auch die sogenannten Symbole ein überaus deutliches Buch der zukünftigen Ereignisse dar, Wörter und Begegnungen, die eigentlich zu einem anderen Zweck geschehen (...).631
Die Nähe der Mantik zur Magie, die ebenfalls auf der sympatheia beruht, erkennt Synesios deutlich. Innerweltliche Götter können durch die ihnen verwandten Steine und Pflanzen beschworen werden. Allerdings führt Synesios die Verbindung 628 Ep. 105, GARZYA/ROQUES 239. 629 Vgl. WILAMOWITZ 1907, 286. 630 Vgl. dazu LANG 1926, 78 und 82–85, BIZZOCHI 1951, 360, LACOMBRADE 1951, 148, VOLLENWEIDER 1985, 192, DI PASQUALE BARBANTI 1998, 179–186, SUSANETTI 1992, 107f, zuletzt auch AUJOULAT in LAMOUREUX, AUJOULAT 2004, 230 (wenngleich zögerlicher als seine Vorgänger; er diskutiert zwar einige Argumente dafür, daß Synesios durchaus theurgische Riten billigen könnte, unterstellt ihm jedoch schließlich „réticences“ gegenüber der Theurgie wegen ihrer Nähe zur Magie, zumal Synesios Christ gewesen sei und die Theurgie christlicherseits missbilligt worden wäre). Gegen dieses schematistische Denken wendet sich FOWDEN 1985, 285f, der vor allem auf die Möglichkeit hermetischer und gnostischer Einflüsse verweist. ATHANASSIADI 1993b, 130 zieht eine Parallele zwischen Synesios’ Theorie der Traummantik und Jamblich. 631 De insomniis 2, 1: οὕτως ὁρῶσι σοφοὶ τὸ μέλλον, οἱ μὲν ἄστρα εἰδότες (..),οἱ δὲ ἐν σπλάγχνοις αὐτὰ ἀναγνόντες, οἱ δὲ ἐν ὀρνίθων κλαγγαῖς καὶ καθέδραις καὶ πτή‐ σεσι· τοῖς δὲ καὶ τὰ καλούμενα σύμβολα τῶν ἐσομένων ἐστὶν ἀρίδηλα γράμματα, φωναί τε καὶ συγκρίσεις ἐπ’ ἄλλῳ γινόμεναι (...).
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zu den magischen Praktiken und Einweihungen, τελεταί, mit Hinweis auf die staatliche Gesetzgebung nicht weiter aus.632 Stehen hier all diese Arten der Mantik gleichberechtigt als anerkennenswerte Arten der Zukunftsdeutung nebeneinander, so distanziert sich Synesios bei der Apologie der Traummantik von der Opferschau. Er visiert dabei eine bestimmte Gruppe an, die aus lauter Hochmut sich über die große Volksmasse erhaben dünke und daher die Traummantik verachte. Stattdessen greife sie zu den verschiedensten mantischen τέχναι und überschritte somit die Vorschriften der Chaldäischen Orakel, die Opferschau verbieten.633 Die Vorzüge der Traummantik gegenüber der θυράθεν μαντική – der Mantik „von außen“, d. h. anhand äußerer Gegenstände – liegen für Synesios klar auf der Hand. Sie komme ohne kostspielige Utensilien und Ingredienzien aus und sei einfach zu bewerkstelligen – ihre ganze τελετή bestehe darin, sich vor dem Schlafengehen fromm die Hände zu waschen und in der Stille um einen geeigneten Traum zu beten. Sie sei nicht so zeitaufwendig wie die anderen mantischen τελεταί und an keine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort gebunden.634 Zur Illustration dieser Vorteile verweist Synesios auf eine unlängst geschehene Razzia, die eine solche τελετή überrascht und unterbrochen habe: die bei dieser Gelegenheit konfiszierten Gegenstände reichten aus, um einen Wagen oder ein Schiff zu füllen. Zudem müsse man bei solchen Riten immer befürchten, ausspioniert und denunziert zu werden: Denn um nichts anderes zu erwähnen: das, weswegen die Gefängnisse neulich aus allen Nähten platzten, machte die Ladung eines Lastwagens oder die Fracht eines ganzen Schiffsladeraumes aus. Dazu kommen noch als weitere Teile der Weihezeremonie die Ankläger und Zeugen. Denn es trifft die Wahrheit ziemlich genau, so zu sprechen, da unsere Zeit viele Dinge durch die Diener der Gesetze deutlich kundgetan hat; da diese sie verrieten, wurden sie den Blicken und Ohren des uneingeweihten Volkes preisgegeben.635
Solche Praktiken würden außerdem dem Göttlichen Zwang antun und seien daher zu verwerfen. Dieses inhaltliche Argument wird jedoch nicht weiter ausgeführt; es folgen hingegen wieder pragmatische Überlegungen hinsichtlich der Gesetze, die sich überraschend bitter ausnehmen: anders als die Anhänger solcher Praktiken ist die Traummantik vor den Gesetzen des „hämischen Staates“ sicher; diese haben gegen ihre Adepten keine Beweise und somit keine juristische Handhabe:
632 633 634 635
De insomniis 2, 2 und 3,2. De insomniis 5,1. De insomniis 11–12. De insomniis 12, 4: Ἵνα γὰρ ἄλλο μηδέν, ἀλλ’ ἐφ’ οἷς πρώην ἐστενοχωρήθη τὰ κο‐ λαστήρια, ἀπήνης ἐστιν ἢ νεὼς κοίλης φορτία, μεθ’ ὧν ἄλλα μέρη τῆς τελετῆς ἀπογραφεῖς ἄνδρες καὶ μἀρτυρες. Οὕτω γὰρ εἰπεῖν ἀληθέστερον, τοῦ καθ’ ἡμᾶς χρόνου πολλὰ διὰ τῶν ὑπηρετησάντων τοῖς νόμοις καταμηνύσαντος, ὑφ’ ὧν ἐξ‐ αγορευθέντα δήμου βεβήλου γέγονεν θεάματά τε καὶ ἀκροάματα.
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Diese verbieten nicht einmal die Gesetze des hämischen Staates, ja, sie könnten es nicht verbieten, selbst wenn sie es wollten. Denn gegen die, die davon Gebrauch machen, haben sie 636 kein Beweismittel.
Dadurch, daß überwiegend pragmatische Gründe für den Vorzug der Traummantik gegenüber der Mantik anhand äußerer Gegenstände ins Feld geführt werden und das einzige inhaltliche Argument nicht näher ausgeführt wird, läßt Synesios, wie schon am Anfang der Schrift, sein Interesse und prinzipielle Anerkennung solcher Praktiken erkennen und gibt seine Ablehnung der staatlichen Gesetzgebung zu verstehen. In der Forschung werden die τελεταί meistens ohne weitere Erläuterung mit der Theurgie gleichgesetzt. Dabei wird vor allem Synesios’ kurzes inhaltliches Argument rezipiert, daß sie zu verwerfen seien, weil sie dem Göttlichen Zwang antun; seine pragmatischen Überlegungen werden hingegen nicht beachtet. So erscheint das Bild eines rationalen Synesios, der wie der Porphyrios des Briefes an Anebo sich gegen das Grundprinzip aller Theurgie wende.637 Jedoch ist zu beachten, daß der Terminus τελεταί in De insomniis nicht nur auf die mantischen Praktiken und die magischen ἰύγγες638 bezogen und somit eher negativ konnotiert ist. Diese Verwendung findet sich in den oben untersuchten Ausführungen zur Mantik, die die Ausführungen über die pneumatische Zwischenseele, laut Synesios das eigentliche Thema der Schrift, umrahmen.639 In diesem mittleren Abschnitt wird der Begriff hingegen wiederholt im Zusammenhang mit der Reinigung der Seele positiv verwendet. So behauptet Synesios in De insomniis 6, daß der Zustand des Pneumas – der ja den Zustand der Seele reflektiert – nur von der „geheimen Philosophie“ eindeutig bestimmt werden könne. Diese könne das Pneuma auch durch ihre τελεταί heilen und vergöttlichen: Welche aber seine (sc. des Pneumas) Krankheit ist und wodurch es triefäugig und fett wird und wodurch es gereinigt und geläutert wird und wieder zu (seiner) Natur aufsteigt, das frage die geheime Philosophie, von welcher es auch durch Weihen gereinigt und von Gott erfüllt 640 wird. Die Einschlüsse verschwinden, bevor die Vorstellungskraft den Gott einführt.
In diesem Kontext könnte man an die gebräuchliche metaphorische Anwendung der Mysterienterminologie auf die Philosophie denken. Synesios verwendet aber sonst τελεταί nie für die Philosophie,641 und der Plural ist auffällig.642 Die Stelle 636 De insomniis 12,6: ταύτην οὐδὲ οἱ νόμοι τῆς βασκάνου πολιτείας κωλύουσιν οὐδ’ ἄν, εἰ βούλοιντο, δύναιντο· κατὰ γὰρ τῶν χρωμένων ούκ ἔχουσιν ἔλεγχον. 637 S. LANG 1926, 77f, LACOMBRADE 1951b, 49 bzw. 166. 638 Zu den ἰύγγες s. GOW 1934, 1–13. 639 De insomniis 1–5 und 11–20. 640 De insomniis 6: ἥτις δὲ αὐτοὐ νόσος, καὶ οἷς λημᾷ καὶ παχύνεται καὶ οἷς καθαίρε‐ ται καὶ ἀπειλικρινεῖται καὶ εἰς τὴν φύσιν ἐπάνεισι, τῆς ἀπορρήτου φιλοσοφίας πυνθάνου, ὑφ’ ἧς καὶ καθαιρόμενον διὰ τελετῶν, ἔνθεον γίνεται. Αἵ τε εἰσκρί‐ σεις, πρὶν τὸν θεὸν ἐπεισαγαγεῖν τὸ φανταστικόν, ἐκθέουσι. 641 In den Briefen an Herkulianos verwendet er ὄργια: ep. 137, GARZYA/ROQUES 276, ep. 143, GARZYA/ROQUES 286. Τελετή bzw. τελεστικός wird sonst nur im Zusammenhang mit dem christlichen Kult gebraucht (ep. 41, GARZYA/ROQUES 44, ep. 42, GARZYA/ROQUES. 85, ep.66, GARZYA/ROQUES 180). 642 S. auch GARZYA 1999, 567 und LAMOUREUX, AUJOULAT 278.
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erinnert an Jamblichs De mysteriis III 31, eine der zentralen Stellen für die Darstellung der Wirkungen der wahren theurgischen Mantik auf die Theurgen: Alle (Erscheinungen), die wahrhaftig Götter sind, sind einzig und allein Geber von guten Gaben und verkehren nur mit den guten Männern und kommen zusammen mit denen, die durch die priesterliche Kunst gereinigt sind, und vertreiben aus ihnen jegliche Schlechtigkeit und jeglichen Affekt. Wenn diese leuchten, verschwindet das Böse und Dämonische durch die höheren Wesen, wie die Finsternis durch das Licht, und belästigt die Theurgen nicht einmal 643 zufällig.
Die Vorstellung der Reinigung durch die Theurgie, die die Seele auf das Göttliche vorbereitet, sowie diejenige des Verjagens negativer Elemente durch die Anwesenheit der Götter lassen vermuten, daß Synesios hier auf jamblicheisches Gedankengut zurückgreift und mit der „geheimen und unaussprechlichen Philosophie“ etwa die Chaldäischen Orakel meint. Angesichts der Nähe seiner Pneumavorstellung zur jamblicheischen Tradition wäre dies nicht verwunderlich. Kurz darauf heißt es, daß die enge Verbindung zwischen Seele und Pneumaleib in ganz besonderen seltenen Fällen schon hier und jetzt aufgelöst werden könnte, nämlich wenn sich das Pneuma absolut widerspenstig erweise und der Seele nicht folge. Dieses geschehe durch die τελετή: Denn es ist zwar sehr schwierig, aber es dürfte möglich sein, daß die Seele das Pneuma zurückläßt, wenn es nicht folgen will. Denn es wäre frevelhaft, es nicht zu glauben, nachdem man die Mysterien erkannt hat. Aber schändlich dürfte der Aufstieg für jene werden, die das Fremde nicht zurückgeben sondern das, was sie von oben geborgt haben, auf der Erde zurücklassen. Und dieses mag zwar dem einen oder einem zweiten zuteil werden als Geschenk des Mysteriums und des Gottes; von Natur aus ist es jedoch so angelegt, daß die Seele, die einmal in dieses eingepflanzt worden ist, entweder mit ihm übereinstimmend rudert oder zieht 644 oder gezogen wird.
In dieser Passage findet sich kein Bezug zur Philosophie. Die Befreiung der Seele vom Pneuma durch die τελεταί ist etwas Außergewöhnliches, das nur im Extremfall durch den Eingriff Gottes und durch die τελετή geschehen kann. Sie kann höchstens eine nicht sonderlich ehrenvolle Notlösung darstellen – eigentlich sollte die Seele das Pneuma nicht zurücklassen, sondern es reinigen und wieder den himmlischen Sphären zurückgeben, denen sie es entlehnt hat. Dies spricht dagegen, in den τελεταί einen metaphorischen Ausdruck für die Philosophie zu sehen, die prinzipiell allen Menschen zugänglich ist, keinen besonderen, die Natur643 Ὅσοι μὲν θεοὶ τῆς ἀληθείας τῶν ἀγαθῶν εἰσι μόνως δοτῆρες, μόνοις τε τοῖς ἀγα‐ θοῖς ἀνδράσι προσομιλοῦσι, καὶ τοῖς διὰ τῆς ἱερατικῆς ἀποκεκαθαρμένοις συγ‐ γίγνονται, ἐκκόπτουσί τε ἀπ’ αὐτῶν πᾶσαν κακίαν καὶ πᾶν πάθος. Τούτων δὲ ἐπιλαμπόντων ἀφανὲς τὸ κακὸν καὶ δαιμονικὸν ἐξίσταται τοῖς κρείττοσιν, ὥσ‐ περ φωτὶ σκότος, καὶ οὐδὲ τὸ τυχὸν παρενοχλεῖ τοὶς θεουργοῖς. Diese Parallele wird weder von ATHANASSIADI 1993b noch von AUJOULAT 2004 erkannt. 644 De insomniis 7, 4: μόλις μὲν γάρ, ἀλλὰ γένοιτ’ ἂν ἀφεῖναι μὴ συνεπόμενον· οὐ γὰρ θέμις ἀπιστεῖν ἐγνωσμένων τῶν τελετῶν· αἰσχρὰ δ’ ἂν ἐπάνοδος γένοιτο μὴ ἀποδιδούσαις τὸ ἀλλότριον, ἀλλὰ περὶ γῆν ἀπολειπούσαις ὅπερ ἄνωθεν ἠρανί‐ σαντο. Καὶ τοῦτο μὲν ἑνὶ καὶ δευτέρῳ δῶρον ἂν γένοιτο τελετῆς καὶ θεοῦ· φύσιν δὲ ἔχει τὴν ἅπαξ ἐγκεκεντρισμένην εἰς αὐτὸ ψυχὴν ἢ ὁμορροθεῖν ἢ ἔλκειν ἢ ἔλκεσθαι·
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gesetze sprengenden göttlichen Eingriff impliziert und die Reinigung des Pneumas durch eine geistige Lebensform anstrebt.645 Die τελεταί müssen daher im eigentlichen Wortsinn als gewisse rituelle Praktiken verstanden werden, welche die Seele vom Pneuma befreien können. Es gibt auch τελεταί, die die Reinigung des Pneumas bewirken können. Dies wird aus einer Stelle im 8. Kapitel deutlich. Synesios weist darauf hin, daß für die Seele im materiellen Kosmos die Gefahr besteht, daß sie in den Freuden und Lüsten der Materie so tief versinkt, daß sie darüber ihren eigentlichen Ursprung vergißt. Für eine solche Seele sei das Umdenken, die μετάνοια, entscheidend, denn ohne sie seien alle kathartischen Riten wirkungslos: Denn wer Unwillen empfindet über die Umstände, in denen er sich befindet, bemüht sich um die Flucht. Und der größte Teil der Reinigung ist der Wille. denn diesem reichen die rituellen Worte und Handlungen die Hand; wenn er aber fehlt, ist die gesamte reinigende Weihe ohne Seele, da sie um das größte Symbol verstümmelt ist.646
Synesios kennt offenbar Riten, die eine Rolle bei der Reinigung und beim Aufstieg der Seele spielen. Diese Riten beinhalten δρώμενα und λεγόμενα, rituelle Handlungen und Formeln; die Formulierung erinnert an die Mysterien von Eleusis. Mit dem Terminus σύνθημα, hier als Symbol übersetzt, greift Synesios eindeutig theurgische Begrifflichkeit auf. Allerdings spiritualisiert er sie und rückt somit wieder näher zu Porphyrios: das wichtigste σύνθημα ist die innere Einstellung der Seele. Somit wird den kathartischen Riten eine sekundäre Bedeutung beigemessen: sie sind eigentlich nur Hilfsmittel und können nicht per se die Reinigung der Seele bewerkstelligen.647 Die Darstellung der Funktionsweise der Traummantik weist Anklänge an Jamblichs Mantiktheorie auf. Auch bei diesem spielt die φαντασία vor allem hinsichtlich der φωτὸς ἀγωγή, der herausragendsten Art der θεία μαντική, die entscheidende Rolle: Das Seelengefährt (αἰθερῶδες καὶ αὐγοειδὲς ὄχημα ψυ‐ χῆς) – der Sitz der φαντασία – wird vom göttlichen Licht erleuchtet und von den Göttern gelenkt, so daß sie göttliche φαντασίαι hat.648 In ähnlicher Weise behauptet Synesios, daß die φαντασία eine göttlichere Art der Wahrnehmung ist, mittels welcher die Menschen den Göttern begegnen können. Das höchste Ziel und schönste Ergebnis der Traummantik sei daher die Offenbarung der höchsten Dinge und die Verbindung der Seele mit dem Intelligiblen: 645 De insomniis 10. 646 De insomniis 8: Ὁ γὰρ τὰ ἐν οἷς ἐστι δυσχεραίνων φυγὴν μηχανᾶται· καὶ καθαρ‐ μοῦ τὸ μέγιστον μέρος ἡ βούλησις· ταύτῃ γὰρ ὀρέγει χεῖρα τὰ δρώμενά τε καὶ τὰ λεγόμενα· ἀπούσης δὲ ἄψυχος ἅπασα καθαρτικὴ τελετή, κόλοβος οὖσα τοῦ μεγίστου συνθήματος. 647 Darin unterscheidet sich Synesios’ Position fundamental von Jamblich, für den die συνθή‐ ματα als göttlich eingesetzte Zeichen immer wirken. Vgl. etwa De mysteriis II 11. Natürlich ist auch für Jamblich die persönliche Heiligkeit wichtig, wie ATHANASSIADI 1993b, 121 oder 123 festhält. Dennoch betont er z. B. in De mysteriis II 11, daß die göttlichen συνθήματα völlig autonom, ohne Beeinflussung durch den inneren Zustand des Menschen wirken. Der Zustand der Seele ist kein σύνθημα, sondern lediglich eine Begleitursache, συναίτια. 648 De mysteriis III 14.
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike (...) aber wenn sie (sc. die Traummantik) einer Seele den Weg zu der vollkommensten Schau des Seienden öffnet, die nie danach gestrebt und an den Aufstieg nicht einmal gedacht hatte, dann dürfte dieses der Gipfel des Seins sein, daß sich derjenige, der sich so gründlich verirrt hatte, daß er nicht einmal mehr wußte, woher er komme, sich über die Natur hinweg neige und mit dem Intelligiblen verbinde. Wenn aber einer die Hinaufführung der Seele zwar für etwas Großes hält, aber der Vorstellungskraft misstraut, daß jemals auch durch sie die glückselige Verbindung verschafft werden könnte, dann soll er hören, was die heiligen Orakel von den unterschiedlichen Wegen sagen.649
Synesios benutzt hier neuplatonische Grundbegriffe für den Heilsweg der Seele: ἄνοδος, ἀναγωγή, συναφὴ τῷ νοητῷ. Diese finden sich bei Plotin für den vergeistigten Aufstieg der Seele durch philosophische Meditation; sie sind bei Jamblich zu termini technici des Seelenaufstiegs durch die Theurgie geworden.650 Die Stelle wird durch ein Zitat aus den Chaldäischen Orakeln abgerundet. Eine weitere Parallele zu Jamblich hält ATHANASSIADI fest: auch bei Synesios werde die Reinheit des Pneumas in De insomniis als Voraussetzung für wahrhaft prophetische Träume angesehen.651 Synesios scheint demnach theurgische Riten zu kennen und ihnen beim Seelenaufstieg eine wichtige Rolle beizumessen. Auf diesem Hintergrund stellt sich erneut die Frage, ob die kostspieligen, mit Tieropfern verbundenen Praktiken, die die Manipulation des Göttlichen bezwecken und von Staats wegen – zu Unrecht? – verfolgt werden, ihrerseits der Theurgie oder vielmehr der Magie zuzuordnen sind.652 Aufgrund der vagen Grenze zwischen diesen beiden Bereichen, die sich Rituale und Terminologie teilen, ist eine sichere Antwort unmöglich. Der Kontext bestimmter Passagen könnte jedoch dafür sprechen, daß zumindest in ihnen vielleicht doch theurgische Praktiken gemeint sein könnten. So z. B. der Abschnitt, in dem sich Synesios über bestimmte Leute ereifert, die sich hochmütig von der Masse distanzieren und aus übergroßer Weisheit heraus gegen die Vorschriften der Orakel verstoßen. Die elitäre Ausrichtung sowie die Verwendung der Orakel als auctoritas könnten vermuten lassen, daß Synesios damit vielleicht theurgisch interessierte Neuplatoniker treffen möchte.653 Sodann die Art, wie er über die Rechtslage und –praxis berichtet: durch diese würden die Mysterien zu einer Schau für das profane, uninitiierte Volk. Dies setzt voraus, daß die betreffenden teletai durchaus im Sinne von ernstzunehmenden Initiationen und nicht va649 De insomniis 4,4–5: (...) ἀλλ’ ὅταν εἰς τὰς τελεωτάτας τῶν ὄντων ἐποψίας ὁδὸν ἀν‐ οίξῃ τῇ ψυχῇ τῇ μὴ ὀρεχθεισῃ ποτὲ μηδὲ εἰς νοῦν βαλομένῃ τὴν ἄνοδον, τοῦτο ἂν εἴῃ τὸ ἐν τοῖς οὖσι κορυφαιότατον, φύσεως ὑπερκύψαι καὶ συνάψαι τῷ νοητῷ τὸν ἐς τοσοῦτο πεπλανημένον ὡς μὴ ὅθεν ἦλθεν εἰδέναι. Εἰ δέ τις μέγα μὲν οἴε‐ ται τὴν ἀναγωγήν, φαντασίᾳ δὲ ἀπιστεῖ μή τοι καὶ κατ’ αὐτήν ποτε πορισθῆναι τὴν εὐδαίμονα συναφήν, ἀκουσάτω τῶν ἱερῶν λογίων ἃ λέγει περὶ διαφόρων ὁδῶν. 650 S. oben, 2.4. 651 ATHANASSIADI 1993b, 130. 652 So ATHANASSIADI 1993b, 130. 653 Dies würde implizieren, daß die Theurgie in Nordafrika (Alexandrien oder Libyen) noch lebendig war. Dies wäre angesichts der späteren alexandrinischen Schule durchaus denkbar: Damaskios beschreibt z. B. den Philosophen Heraiskos als besonderen Kenner geheimer Mysterien und götlich inspiriert (Vita Isidori 72A–C, 76A–E, 120B ATHANASSIADI).
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ge als magische Zeremonien zu verstehen sind. Die anderen Passagen, in denen Synesios über die komplizierten und kostspieligen Erfordernisse der θυράθεν μαντική spricht, können auf nicht-theurgische Praktiken genausogut wie auf theurgische bezogen werden. Somit kennt Synesios verschiedene Arten von theurgischen Riten. Diejenigen, die zur Reinigung des Seelengefährts dienen, billigt er, ordnet sie aber der Willensentscheidung des Menschen unter; den mantischen Praktiken steht er eher distanziert gegenüber. Eine Parallele dazu findet sich im Referat aus Porphyrios’ De regressu animae bei Augustin im X. Buch von De civitate Dei. Dort wirft Augustin Porphyrios eine widersprüchliche Haltung zur Theurgie vor: einerseits warne er vor der Theurgie als einer trügerischen, gefährlichen und obendrein noch gesetzlich verbotenen Kunst, andererseits räume er ihr einen begrenzten Nutzen für die pneumatische Seele ein: diese könne durch gewisse theurgische Weihen, die Porphyrios als teletai bezeichnet, gereinigt und in einen der Schau des Göttlichen günstigen Zustand gebracht werden. Allerdings seien diese Riten zwar hilfreich, aber nicht unentbehrlich. Auf die intellektuelle Seele hätten sie überhaupt keinen Einfluß.654 Auch Porphyrios gibt neben inhaltlichen Argumenten die ungünstige Gesetzeslage als Argument gegen die Theurgie zu bedenken. Seine Vorstellung von den kathartischen teletai geht wahrscheinlich auf die Chaldäischen Orakel zurück: Psellos berichtet in seinem Kommentar zu den Chaldäischen Orakeln, daß diese gewisse Praktiken, teletai genannt, kennen, die das Gefährt der Seele – das Pneuma – reinigen und so den Aufstieg der Seele ermöglichen.655 Angesichts der Parallele zwischen Porphyrios und Synesios erscheint es wahrscheinlich, in den kathartischen teletai des Traumbuches theurgische Praktiken chaldäischen Ursprungs zu sehen. Es wäre somit verkürzend, Synesios’ Ablehnung bestimmter mantischer Riten als Ablehnung der gesamten Theurgie zu verstehen.656 Auch die 654 Porphyrios, De regressu animae bei Augustin, De civitate Dei X, 9. 655 Psellos PG 122, 1131D ( ediert auch bei DES PLACES 1971, Appendice I 162–186, hier 169); vgl. LANG 1926, 76. 656 Unter diesem Problem leidet die Analyse von LANG 1926 (er ist der einzige Forscher bis zu der Ausgabe von LAMOUREUX, AUJOULAT, der auf diese Stelle überhaupt eingeht; die anderen Forscher beziehen sich immer nur auf die Ablehnung der theurgischen Mantik in Kapitel 12 und ignorieren die Kapitel 7 und 8). Er konstatiert die Parallelität zwischen Synesios, Porphyrios und dem Referat des Psellos über die Chaldäischen Orakel und setzt folgerichtig die teletai bei Synesios mit den kathartischen Vorschriften der Chaldäischen Orakel gleich (75f.). Die knappe Behandlung der teletai bei Synesios sowie dessen Akzentsetzung auf das richtige vernunftgemäße Leben sieht er parallel zu der bei Augustin referierten Position des Porphyrios (77). Anstelle nun von einer ambivalenten bzw. diferenzierten Einstellung des Synesios zur Theurgie zu sprechen, führt er Kapitel 12 ins Feld und spricht pauschal davon, daß Synesios die gesamte Theurgie ablehnt: „Theurgische Machenschaften sind dem Synesius im Herzen zuwider; er nennt sie frevelhaftes und gottverhaßtes Unterfangen“ (78). SUSANETTI 1992, 107f und 126 konstatiert lediglich die Parallele zu Porphyrios, ohne sie für die Diskussion von Synesios’ Verhältnis zur Theurgie zu verwenden. AUJOULAT geht zwar einen Schritt weiter und hält fest, daß Synesios bestimmte theurgische Riten billige, bleibt aber in seiner Erklärung merkwürdig widersprüchlich und macht schließlich doch einen Rückzieher: „La frontière entre la magie et la théurgie était fort indécise, et la difference dépendait de la moralité individuelle. On comprend les réticences de Synésios envers le caractére ambigu de telles
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Traummantik kann schließlich in die Theurgie integriert werden, so etwa bei Jamblich, der verschiedene Unterarten identifiziert und einige der menschlichen Mantik, einige sogar der θεία μαντική zuordnet.657 Zu beachten ist auch die bedeutende Stellung, die Synesios den Chaldäischen Orakeln einräumt. Die profunde Kenntnis ihres Weltbildes, die sich in Vorstellungswelt und Terminologie der Hymnen bemerkbar gemacht hatte, wird hier dadurch bestätigt, daß er sie in De Insomniis als wichtigste auctoritas heranzieht und sechsmal daraus im Wortlaut zitiert; dies macht die Schrift zu einer wichtigen Quelle für die Rekonstruktion der Orakel. Da diese seit Konstantin verboten waren und im 4. Jahrhundert sonst nicht von christlichen Autoren – weder polemisch noch konstruktiv – rezipiert wurden, ist es von Bedeutung, daß Synesios die esoterische Hauptschrift der Neuplatoniker verarbeitet; dies unterstreicht seine primäre geistige Verortung in diesem philosophischen Milieu. 4.4.4. Philosophie und Politik – vita activa und vita contemplativa Angesichts der politischen Tätigkeit des Synesios in Konstantinopel stellt sich die Frage, ob und inwiefern sein Selbstverständnis als Philosoph seine Sicht der öffentlichen, vor allem politischen Tätigkeit beeinflußt. Wie bei Julian, der zwar in seinen frühen Jahren dezidiert den Primat der Kontemplation über ein politisches Engagement vertrat, aber später die Kaiserherrschaft anstrebte und diese mit dem philosophischen Ideal zu vereinbaren versuchte, ist auch Synesios’ Einstellung zur Politik komplex. Dies zeigt sich schon an den äußeren Ereignissen seines Lebens. Er reist als Gesandter nach Konstantinopel, wo er sich fast drei Jahre aufhält, während derer er am Hofe Kontakte knüpft und sich einer bestimmten Fraktion – der Entourage des Aurelianos – annähert. Zurück in Nordafrika lebt er meistens zurückgezogen auf seinen Landgütern, nimmt aber regen Anteil an der Provinzialpolitik wie am Reichsgeschehen. Er pflegt seine Kontakte nach Konstantinopel sorgsam658 und ist begierig darauf, über die Entwicklung im Westen auf dem neuesten Stand zu sein.659 Schließlich muß er angesichts des Versagens des kaiserlichen Militärs unter dem dux Kerealios die Verteidigung gegen die Barbaren in der Kyrenaika selbst organisieren.660 Dennoch betont er in seinen Briefen und Werken immer wieder die Notwendigkeit der Muße für das philosophische Leben
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pratiques.“ (LAMOUREUX, AUJOULAT 224–230, Zitat 230). Daß Synesios von der äußeren Mantik vor allem anhand pragmatischer Überlegungen abrät und die staatliche Gesetzgebung scharf verurteilt, diskutiert er nicht. S. o. 2.4. S. z. B. ep. 31 an Aurelianos oder ep. 123 an Troilos, dem Vertrauensmann des späteren praefectus praetorii Anthemios, die beide „nur“ die Absicht verfolgen, an die gute Bekanntschaft in Konstantinopel zu erinnern. Ep. 109, GARZYA/ROQUES 244. Vgl. ep. 130 an Simplikios über das Versagen von Kerealios sowie ep. 104, 107, 108 (an seinen Bruder) oder 133 (an Olympios), die den Kriegszustand schildern.
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und apostrophiert etwa seine Gesandtschaft in Konstantinopel als schwärzeste Zeit seines Lebens.661 Der exponierteste Moment seines öffentlichen Wirkens ist die Gesandtschaft, mit der er die Bühne der Reichspolitik betritt. Sein Auftreten spiegelt sich in den damals entstandenen Schriften De regno und De providentia.662 In beiden spricht Synesios als Philosoph. De regno beginnt mit der Gegenüberstellung von rhetorischer Schmeichelei und philosophischer strenger und göttlich inspirierter Rede.663 Die Philosophie halte nun nach langer Abwesenheit wieder Einzug bei Hofe, und es sei nicht abzusehen, wie sie empfangen werden würde.664 Damit könnte Synesios auf die Zeit nach dem Tod des Themistios 388 anspielen.665 Die Formulierung spiegelt ein Motiv, das sich in verschiedenen Reden des Themistios wiederfindet.666 Seinen Auftrag als Gesandten, der das einst stolze, aber nun daniederliegende Kyrene vertritt, welches auf die Hilfe des Kaisers hofft, verknüpft Synesios mit seinem Anliegen als Philosoph. Kyrene habe ihn geschickt, das Haupt des Kaisers mit Gold, seine Seele aber mit Philosophie zu krönen.667 In der Rede spielt Synesios en passant auf „meine Lehrmeister Aristoteles und Platon“ an668 und stellt sich somit explizit in deren Tradition. Sein Anliegen sei es, als Philosoph den noch jungen und ungefestigten Kaiser dem schändlichen Einfluß seiner nächsten Umgebung zu entreißen, der zu Abschottung von dem Volk, Verweichlichung und Nachlässigkeit in der Regierung geführt habe, und ihm die richtigen Prinzipien für sein Leben und seine Regierung zu vermitteln. Die Analyse von LACOMBRADE zeigt, daß er sich dabei vor allem an Dio Chrysostomos’ Reden an Trajan anlehnt669 und die Bedeutung des richtigen, philosophisch fundierten Verhaltens für den Kaiser betont. Allein dieses unterscheide den Kaiser vom Tyrannen. Die Kaisertumstheorien des 4. Jahrhunderts, besonders die von Eusebios von Caesarea und Themistios, welche die quasi göttliche Erhabenheit des Kaisers und seinen absoluten Herrschaftsanspruch hervorheben, treten in den Hintergrund.670 Allerdings ist Themistios wenngleich nicht konzeptionell, so doch mit verschiede-
661 So in De insomniis 14. Ähnlich dunkel wird sie auch im I. Hymnus gezeichnet (H. I, 428– 503). 662 Beide Schriften sind in der Forschung wiederholt analysiert worden und gaben Anlaß zu unterschiedlichen Interpretationen über ihren Sitz im Leben, ihre Intention und ihren Informationsgehalt. Diese Debatte kann hier nicht aufgerollt werden. Zu De regno vgl. LACOMBRADE 1951a, CAMERON, LONG 1993, 103–142 sowie T. SCHMITT 2001, 282–299. Zu De providentia vgl. CAMERON, LONG 1993, 143–398 (mit einer englischer Übersetzung) und T. SCHMITT 2001, 304–358. 663 De regno 1–2. Dieser Topos könnte auf die Apologie des Sokrates zurückgehen; er findet sich etwa auch in Themistios, Or. I, 1a–3d, oder wie oben besprochen in Julians Reden auf Konstantius. 664 De regno 1. 665 So T. SCHMITT 2001, 289f. 666 Vgl. Or. III, 46c, Or. IV, 54d, Or. V, 63c–64b. 667 De regno 3. 668 De regno 8: (…) Ἀριστοτέλει καὶ Πλάτωνι, τοῖς ἐμοῖς ἡγεμόσιν. 669 Vgl. LACOMBRADE 1951a, 104–106. 670 Zu Dion und den Monarchietheorien des 4. Jahrhunderts vgl LACOMBRADE 1951a, 93–97.
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nen Bildern und Wendungen in der Rede präsent.671 Auch hinsichtlich dieser Gewichtung besteht eine Parallele zwischen Synesios und Julian, der in seinen Reden auf Konstantius oder im autobiographischen Mythos ebenso stark auf Dio Chrysostomos rekurriert und die Bedeutung richtigen Verhaltens für den Kaiser betont.672 Wie CAMERON/LONG und SCHMITT gezeigt haben, kombiniert Synesios hier verschiedene Gattungen. Durch die Länge sprengt er den klassischen Rahmen des στεφανωτικὸς λόγος, wie er etwa bei Menander vorgegeben ist, obwohl er sich streng an die dort angegebenen formalen Aufbauregeln hält.673 Inhaltlich entsprechen seine Ausführungen zur Kaiserherrschaft eher dem Genre der Traktate περὶ βασιλείας.674 Angesichts der scharfen Kritik an den Vertrauten des Kaisers, mit deutlicher Anspielung auf die damalige ‚graue Eminenz‘, den Eunuchen Eutropios, ist es eher unwahrscheinlich, daß die Rede in der vorliegenden Fassung vorgetragen wurde.675 Sowohl CAMERON/LONG als auch SCHMITT sehen die Verfassung der Rede in Zusammenhang mit Synesios’ Bemühungen um Anschluß an Aurelianos und dessen Entourage. Allerdings schreiben sie Synesios unterschiedliche Absichten zu. Während CAMERON/LONG in ihm primär den Gesandten aus Kyrene sehen, der für seine Provinz Steuererleichterungen erwirken will, rückt SCHMITT diesen Aspekt in den Hintergrund676 und betont Synesios’ Streben nach einer Karriere bei Hofe. Mit De regno, in dem er seine literarische Virtuosität und sein philosophisches Können unter Beweis stellte, habe er sich Aurelianos empfehlen wollen, um unter dessen Schutz eine Karriere als „wandering poet“677 zu beginnen. Dabei habe er durch die Anspielungen auf Themistios signalisieren wollen, daß er als neuer Themistios für die schwierigen Aufgaben eines philosophischen Beraters am Hofe bereit sei.678 Die Selbstdarstellung als Philosoph würde somit im Dienst des „brennende[n] Ehrgeiz[es]“679 für die Karriere instrumentalisiert.680
671 Vgl. die Anmerkungen LACOMBRADES zu De regno sowie Τ. SCHMITT 2001, 289 (ohne genauere Angaben). 672 S. o. 113–114 und 117. 673 Vgl. LACOMBRADE 1951a, 83–85, CAMERON, LONG 1993, 128–129, T. SCHMITT 2001, 294. 674 CAMERON, LONG 1993, 129, T. SCHMITT 2001, 294ff. 675 Die Debatte beschäftigte schon die ältere Forschung. LACOMBRADE 1951a entschied sich für die Authentizität der Rede in der vorliegenden Form (79–87, bes. 87). Die moderne Forschung hat sich mit plausiblen Gründen von dieser Interpretation distanziert. Vgl. CAMERON, LONG 1993, 127–132, gefolgt von T. SCHMITT 2001, 283. 676 Dieser Aspekt spiele für Synesios zwar auch eine wichtige, aber der Karriere untergeordnete Rolle. Vgl. T. SCHMITT 2001, 299. 677 CAMERON 1965 geht auf Synesios nur en passant ein und beschreibt ihn als Randfigur dieser Strömung (470), wobei vor allem seine in Konstantinopel verfassten Texte, „highly tendentious propaganda pieces for Anthemius’ predecessor Aurelian“, in diesem Kontext zu sehen wären (505). 678 T. SCHMITT 2001, 289ff. 679 So SCHMITT ebd. 292. 680 Ebd. 299.
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Auch in De providentia stilisiert sich Synesios als strengen Philosophen, von philosophischer Rauheit,681 ernste dorische Weisen zur Leier singend. Aurelianos hatte als Prätorianerpräfekt die erwünschten Steuervergünstigungen für die Pentapolis gewährt und auch ihn selbst von seinen „Leistungsverpflichtung[en]“ befreit.682 Diese Erfolge setze der Philosoph wieder aufs Spiel und trete tapfer vor Typhos-Eutychianos für seinen exilierten Bruder ein. Nach SCHMITT belege die Schrift Synesios’ Erfolg bei Aurelianos. Mit dem ersten Teil, der nach dem Gotenmassaker am 12. Juli 400, aber vor Aurelianos’ Rückkehr geschrieben sei, gebe er seine Loyalität zu erkennen. Das zweite Buch könne als Auftragsarbeit des Aurelianos betrachtet werden, um eine plausible Erklärung zu schaffen, warum dessen „vollständige Restitution“ nach der Rückkehr aus dem Exil vorerst ausblieb.683 Synesios’ Anknüpfungen an Themistios in De regno sprechen für SCHMITTS Interpretation, daß er genau dessen Rolle antreten wollte. SCHMITTS Schluß auf Synesios’ Motivation sowie sein normatives Urteil, es handele sich um eine fragwürdige Instrumentalisierung der Philosophie, erscheinen jedoch problematisch; sie implizieren die Bestimmung dessen, was echte und falsche Philosophie ist. Politische Aktivität wäre falsche, Distanzierung von der Politik richtige Philosophie. Allerdings ist der Rückzug aus der Politik nicht die einzige Option für Philosophen in der Spätantike, wie gerade am Beispiel des Themistios deutlich wird. Seine Einstellung zur Politik war schon oben im Zusammenhang mit Julians Caesaratsantritt beleuchtet worden. Nicht nur in seinem – verlorenen – Gratulationsschreiben an Julian, sondern wiederholt in seinen Reden setzt sich Themistios dafür ein, daß die Philosophie dem Gemeinwesen dienen solle. Konkret setzt er dies im eigenen politischen Engagement um, bemüht sich um den Senat in Konstantinopel, wirkt als Erzieher und Berater zahlreicher Kaiser, wobei er jedoch stets alle ihm angebotenen Ämter, bis auf das des Stadtpräfekten von Konstantinopel im Jahre 384, konsequent ablehnt. Sein politisches Handeln bringt eine Debatte über die Rolle der Philosophie ins Rollen, die in seinen Reden greifbar wird; eine besondere Welle der Entrüstung folgt auf seine Annahme der Stadtpräfektur.684 In seinen Reden wehrt er die Vorwürfe verschiedener Gegner ab, die ihm den Philosophennamen absprechen und ihn als Sophisten bezeichnen.685 Er betont, daß die meisten Philosophen seiner Zeit, die zurückgezogen philosophieren, sich ihrer Aufgabe als Menschenerzieher entziehen.686 In seiner Themistiosdarstellung wendet sich VANDERSPOEL gegen die unkritische Übernahme der Einschätzung des 681 De providentia I 18: ὑπὸ φιλοσοφίας ἀγροικότερον τεθραμμένος καὶ εἰς τὸ ἀστικὸν ἦθος ἀνομίλητος. Ἀγροικία im Sinne der philosophischen unliebsamen Direktheit, die von den Durchschnittsmenschen als ungehobelte Grobheit empfunden werden kann, war schon in Julians Selbstcharakterisierung als Philosoph in der Rede auf Eusebia begegnet (s. o. 3.7.1). 682 De providentia 18. Dazu vgl. T. SCHMITT 2001, 254–257. 683 Vgl. T. SCHMITT 2001, 357f. Eine andere Rekonstruktion der Abfassung und Intention vertreten CAMERON, LONG 1993, bes. 301–336. 684 S. dazu VANDERSPOEL 1995, 208ff und 220. 685 S. Or. 23 und 29. 686 S. Or. 26, 28 und 29.
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Themistios als karrieresüchtigen Pseudophilosophen durch die Forschung. Dies blende dessen lebenslanges Selbstverständnis als politischer Philosoph völlig aus und bleibe somit einseitig. Themistios sei nur als Politiker und Philosoph zu verstehen; er habe versucht, durch sein öffentliches Wirken als Philosoph aktiv auf Kaiser und Gesellschaft Einfluß zu nehmen.687 Seine politischen Reden seien am ehesten mit denen von Dio Chrysostomos vergleichbar, den er auch zu kennen und zu verwerten scheint. Auch die Vorwürfe der Eigensucht und Karrierestrebens teile er mit Dio.688 Themistios’ Beispiel ist zwar aufgrund seines jahrzehntelangen Wirkens bei Hofe singulär. Auch könnte darauf hingewiesen werden, daß er nicht als Neuplatoniker, sondern eher als Peripatetiker anzusehen wäre.689 Dennoch war er nicht der einzige Philosoph jener Zeit, der sich politisch betätigte. Die Untersuchung Julians hat gezeigt, wie dieser auf dem Thron dezidiert die Verbindung von Philosophie und Politik anstrebte. Maximus von Ephesus und Priscus folgten Julians Einladung an den Hof und wurden zu seinen einflußreichsten Beratern.690 Doch hatte nicht erst der Herrschaftsantritt Julians den neuplatonischen Philosophen die Möglichkeit zur politischen Betätigung geöffnet. Eunapius berichtet, daß der Jamblichschüler Sopatros bei Konstantin als Berater in hohem Ansehen gestanden habe.691 Ein weiterer Jamblichschüler, Eustathios, sei von Konstantius als Gesandter zum Perserkönig geschickt worden.692 Schließlich ist auch auf Hypatia selbst zu verweisen, die durchaus zwar indirekten, aber großen politischen Einfluß in Alexandrien besaß.693Aus alledem kann geschlossen werden, daß Neuplatoniker somit nicht a priori aufgrund ihrer Philosophievorstellung von der Bühne der Reichspolitik ausgeschlossen waren.694 Diese Beispiele zeigen, daß Synesios’ Auftritt am Hof – sei er auch nach SCHMITT als Versuch, die Nachfolge des Themistios anzutreten, verstanden – nicht eo ipso eine Entfremdung von der Philosophie implizieren muß. SCHMITTS These hängt mit der Annahme einer Bekehrung des Synesios zur Philosophie im Jahr 405 zusammen. Synesios habe nach 400 zunächst eine Rückkehr nach Konstantinopel und eine Fortsetzung seiner Karriere angestrebt.695 Die politische Ent687 Vgl. VANDERSPOEL 1995, 1–7 und 217–221. 688 Ebd. 7–10. 689 Zu der Diskussion der philosophischen Verortung des Themistios vgl. VANDERSPOEL 1995, 20–22. 690 VS VII 4–6 für Maximus und VII 4, 3–7 für Priscus. 691 VS VI 2,1–12. Siehe dazu auch LANE FOX 2005, 22f und O’MEARA 2005. 692 VS VI 5, 1–10. FOWDEN 1982, 50 hebt hervor, daß gerade die Rolle des Gesandten eine typische Rolle für Philosophen war. 693 Vgl. auch T. SCHMITT 2001, 559. 694 Auch wenn, wie FOWDEN 1982 darlegt, auf längere Sicht die Entwicklung immer stärker zum Rückzug des Philosophen aus der Gesellschaft tendiert haben sollte (51 und 54ff); ähnlich VAN DEN BERG 2005. Die entgegengesetzte Position findet sich bei BROWN 1980, 2–9. Mit LANE FOX 2005, 25 ist festzuhalten, daß im Neuplatonismus verschiedene Einstellungen zur Politik feststellbar sind, die nicht auf einen einzigen Nenner reduziert werden können. 695 Vgl. T. SCHMITT 2001, Kapitel V („Vor der Entscheidung: Der Briefwechsel mit Pylaimenes“), bes. 388–450 und 467–496 sowie Kapitel VII (564–710: „Die militärische Lage und
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wicklung nach 400, die ausbleibende Restauration Aurelians sowie die Übernahme der Prätorianerpräfektur durch dessen Gegner Eutychianos, den Synesios in De providentia als Typhos gezeichnet hatte, hätten diese Hoffnungen zerschlagen; das katastrophale Versagen des Reiches in Kyrene angesichts der Barbarengefahr habe ihn schließlich radikal zur Abwendung von der Reichspolitik bewogen. Dieser Schritt sei als eine Besinnung auf die radikalen Forderungen der Philosophie als Lebensweise und somit als eine Bekehrung zum philosophischen Leben anzusehen. Das Hauptargument für diese These bildet seine Analyse der Anfangskapitel des Dion; er sieht die Parallele zwischen Synesios und Dion gerade in der Erfahrung einer Konversion von der Rhetorik zur Philosophie gegeben.696 Im folgenden wird es daher erforderlich sein, diese Analyse zu prüfen. Der Anfangsteil des Dion geht von Philostrats Darstellung des Dion in seinen Vitae sophistarum aus. Dieser betrachtet Dion als Philosophen, der lediglich aufgrund seines Stils äußerlich unter die Sophisten gerechnet worden wäre. Nach Synesios werde diese Darstellung der Biographie Dions nicht gerecht; dieser habe vielmehr eine durch das Exil bedingte regelrechte Bekehrung von der Rhetorik zur Philosophie erfahren. Was seine Einstellung betrifft, ist Dion nicht ein einziger, und er darf nicht zu diesen gezählt werden, sondern mit Aristokleos, aber mit entgegengesetztem Vorzeichen auch zu diesem. Denn beide haben sicherlich eine Sinnesänderung hinter sich, aber der eine fing als Philosoph an (...) und endete schließlich bei den Sophisten, (...) Dion aber wurde aus einem unreflektierten Sophisten schließlich zu einem vollendeten Philosophen.697
Synesios belegt dies mit dem Hinweis auf verschiedene Schriften Dions, in denen er die rhetorische oder philosophische Grundhaltung heraushebt und deren unterschiedlichen Stil diskutiert. Nach dieser Kurzbetrachtung über Dion leitet er dann zum eigentlichen Thema der Schrift über. Diese Dinge wolle er seinem noch ungeborenen Sohn, dem er gerne seine literarischen Vorlieben vermitteln möchte, über Dion zu beherzigen geben. Dions politische Schriften seien durchaus als Zwischenstufe zwischen den προπαιδεύματα und der Philosophie, als Entspannung nach schwieriger philosophischer Lektüre, die den Geist wiederum dann zu höheren Themen hinaufführen kann, lesenswert. Denn – und damit ist das eigentliche Anliegen erreicht, das den Rest der Schrift beherrscht – der Philosoph dürfe keineswegs ungebildet sein, sondern in der Lage, mit anderen Menschen menschenwürdig zu verkehren, wozu die Kenntnis der guten Literatur befähigt.698 Der Verfassung Libyens und ihre Veränderungen als Voraussetzungen für Synesios’ Bekehrung“). 696 Diese Analyse findet sich in Kapitel II („Die Bekehrung des Synesios“), T. SCHMITT 2001, 67–113. Die daraus gewonnene These bildet den Interpretationshintergrund für alle anderen Quellen, die er für seine Annahme einer Bekehrung heranzieht, u. a. auch für die Datierung und Chronologie wichtiger Briefe. 697 Dion 1,2–3: τὴν δὲ προαίρεσιν οὐχ εἷς ὁ Δίων, οὐδὲ μετὰ τούτων τακτέος, ἀλλὰ μετ’ Ἀριστοκλέους, ἀπ’ ἐναντίας μέντοι κἀκείνῳ. Ἄμφω μέν γε μεταπεπτώκασιν· ἀλλ’ ὁ μὲν ἐκ φιλοσόφου (...) ἐτέλεσεν εἰς σοφιστάς, (...) ὁ δὲ Δίων ἐξ ἀγνώμονος σοφιστοῦ φιλόσοφος ἀπετελέσθη. 698 Dion 4, 4.
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Hauptteil der Schrift (Kap. 4–11) ist dem Verhältnis von Philosophie und Bildung gewidmet. Sodann verteidigt Synesios in Kapitel 12–15 seine persönliche Unabhängigkeit und den Verzicht auf eine Schulgründung mit dem Hinweis auf Sokrates und distanziert sich von den Berufsrhetoren. Damit verteidigt er sich gegen den Vorwurf, ein bloßer Sophist zu sein. Zum Schluß greift er noch einen letzten Vorwurf seiner Gegner auf und erklärt, daß er die Bücher, die er besitzt, nicht korrigiert habe, um den Geist des Lesers zu schärfen und anzuregen.699 In diesen Teilen wird Dion nur en passant erwähnt. Die Frage nach dem Zusammenhang der ersten drei Kapitel, die Dion gewidmet sind, mit dem Rest des Buches ist in der Forschung verschiedentlich behandelt worden.700 Dabei spielt der Untertitel der Schrift, der höchstwahrscheinlich Synesios selbst zuzuschreiben ist,701 eine wichtige Rolle. Er lautet Δίων, ἢ περὶ τῆς κατ’ αὐτὸν διαγωγής und wurde in der Forschung bisher als „Dion, oder vom Leben nach seinem Vorbild“ verstanden und mit unterschiedlichen Akzenten zur Klärung des Zusammenhangs der Schrift verwendet.702 Laut BRANCACCI oder GIANNATTASIO sei dies dahingehend zu verstehen, daß Dion für Synesios ein geeignetes Beispiel biete, um sein Ideal der Verbindung von Philosophie und rhetorischer Bildung zu demonstrieren.703 DESIDERI hebt weniger die Bildung als solche hervor, als vielmehr ihre soziale und politische Funktion. Synesios’ Betonung der Bildung, die den Philosophen in die Lage versetze, mit seinen Mitmenschen im Gemeinwesen richtig umzugehen, hebe die politische Rolle des Philosophen hervor.704 Die postulierte Konversion des Dion vom rhetorischen Leben zu dem eines politischen Philosophen untermauere genau diese Forderung des Synesios an die Philosophie seiner Zeit.705
699 Zur Analyse des Aufbaus vgl. TREU 1958, 7–13 und BRANCACCI 1986, 139–143. 700 GARZYA 1974, 3 erkennt keinen Zusammenhang zwischen den ersten drei Kapiteln, die für sich eine geschlossene „echte, scharfsinnige literaturkritische Abhandlung darstellen“ und dem Rest des Textes. In der Einleitung zu seiner Gesamtausgabe und –übersetzung von Synesios von 1999 nimmt er verschiedene Entstehungsstufen an (17f.). Damit schließt er sich einer Hypothese an, die u. a. von BRANCACCI 1986, 140–144 entwickelt wurde. Dieser betont jedoch, daß dies dem thematischen Zusammenhang der beiden Abschnitte keinen Abbruch tue, da Synesios bewußt auf seine frühere Analyse Dions zurückgegriffen habe, um seinen Entwurf der Beziehung zwischen Philosophie, Rhetorik und Bildung zu verteidigen (144 und 179–189). Anders DESIDERI 1973, 551–539, gefolgt von GIANNATTASIO 1974, 82–90, die die Einheit der Schrift verteidigen. 701 Vgl. dazu TREU 1958, 29 sowie die Ausführungen bei SCHMITT, Bekehrung 67–69. Die Lesart κατ’ αὐτόν scheint die richtige zu sein, wenngleich man dies nach GARZYA nicht mit paläographischen Belegen stützen kann. S. dazu GARZYA 1960, 507, gefolgt von DESIDERI 1973, 559. 702 So die Formulierung von TREU in seiner Übersetzung des Dion (TREU 1959, 9). Vgl. auch GARZYA 1999, 659: „Dione o del viver secondo il suo ideale” oder BRANCACCI 1986, 137: „Dione, ovvero del tipo di formazione conforme al suo modello”. 703 Vgl. BRANCACCI 1986, 179–189 oder GIANNATTASIO 1974, bes. 88–90. 704 Vgl. DESIDERI 1973, bes. 561f. oder 574. 705 Vgl. DESIDERI 1973, bes. 576ff. Ähnlich bestimmt HARICH-SCHWARZBAUER 2001 das Ziel des Dion als Plädoyer für eine adressaten- und situationsgerechte Vermittlung von Wissen. (119 und 123).
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Nach SCHMITT werde diese Übersetzung des Untertitels jedoch dem Problem nicht gerecht. Deshalb schlägt er vor, διαγωγή auf Synesios’ eigenes Leben zu beziehen. Synesios habe damit signalisieren wollen, daß seine Biographie genau wie diejenige Dions eine Konversion zur Philosophie aufweise.706 Die Betrachtung der politischen Schriften Dions als Ergebnis seiner Konversion zur Philosophie diene Synesios zur inhaltlichen Bestimmung der eigenen Konversion. SCHMITT kommt zum Schluß, daß Synesios’ Bekehrung eine Abwendung vom Reich und seiner Politik bedeute.707 Es würde hier zu weit führen, seine Analyse im Detail durchzugehen. Seine These von einer Bekehrung des Synesios beruht auf seiner Interpretation des Titels und des Anfangs des Dion. Es reicht also, diese These auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. Der erste Einwand wäre, daß die Frage, die SCHMITT zu lösen behauptet, nämlich diejenige nach dem Zusammenhang der ersten vier Kapitel mit dem restlichen Teil des Buches, dadurch nicht gelöst wird. Synesios stellt im folgenden nicht seine Lebensgeschichte dar, sondern antwortet auf die Vorwürfe seiner Gegner, die seine Beschäftigung mit der Literatur betreffen, indem er seine Auffassung von der Rolle der Bildung im Leben des hellenischen Philosophen darlegt. Auch würde die Parallele zwischen der Bekehrung Dions und der des Synesios schief liegen: Dion zieht sich ja gerade nicht aus der Reichspolitik zurück, sondern betreibt sie im Geiste der Philosophie. SCHMITTS These widerspricht auch, daß Synesios selbst im Begleitbrief an Hypatia als Zweck des Dion explizit die Verteidigung gegen die oben genannten Vorwürfe angibt. Daher muß er annehmen, daß Synesios hier nur vordergründig spricht, um seine wahre Absicht zu dissimulieren, damit er nicht ins Visier des Reichs gerate.708 Schließlich ist zu beachten, daß seine Interpretation sprachlich problematisch ist. Denn διάγω kann „sein Leben verbringen, leben“ bedeuten, und διαγωγὴ (sc. βίου) folglich „Leben“, aber im Sinne des Prozesses der – zeitlich oder inhaltlich betrachteten – Lebensführung – LIDDELL/SCOTT/JONES geben hierfür als Bedeutungen „passing of life, way or course of life“ an, PASSOW „Leben, Lebensführung, Lebensweise“.709 Διαγωγή als „Leben“ im Sinne von „Lebensgeschichte, Biographie“ ist hingegen nirgendwo belegt. Nach der allgemein akzeptierten Konjektur von TERZAGHI wäre der Begriff nochmals in Kapitel 9,3 zu lesen; auch dort steht die Bedeutung „Lebensweise“ im Vordergrund: Synesios preist die ἑλληνικὴ διαγωγή als besten Weg zu Gott, der auch die Unbegabteren fördere, im Vergleich zum unstrukturierten Weg der Mönche.710 706 707 708 709
T. SCHMITT 2001, 71. Ebd.113–119. Ebd. 138. Siehe auch SENG 2003 und 2006, 107, Anm. 41. LIDDELL, SCOTT, JONES 392, PASSOW 633. LAMPE 346 für den Gebrauch des Begriffes in der christlichen Literatur. Als Beispiele nennen LIDDELL, SCOTT, JONES Platon, Politeia 344e und Theaitetos 177a, wo eindeutig allgemein die Lebensführung und nicht die individuelle Biographie gemeint ist. 710 Hier könnte noch auf GARZYA 1974, 3 verwiesen werden, der Synesios’ Dion in Anlehnung an G. MISCH als „schriftstellerische Autobiographie“ bezeichnet (mit Bezug auf MISCH 1931). Der Terminus „Schriftsteller-Autobiographie“ wurde von MISCH 1974 entwickelt. Ein Blick in die „Geschichte der Autobiographie“, in der MISCH auch Synesios kurz behandelt
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Da SCHMITTS Interpretation des Dion nicht tragbar ist, kann die Vermutung einer Konversion des Synesios in reiferem Alter dadurch nicht bewiesen werden.711 Vielmehr ist festzuhalten, wie sehr Synesios betont, daß der Philosoph sich nicht zurückziehen und sein Leben verborgen in untätiger σχολή vergeuden dürfe, sondern zum angemessenen Umgang mit seinen Mitbürgern verpflichtet sei.712 Die These von DESIDERI, der die im Einleitungsteil postulierte Bekehrung des Dion vom Sophisten zum Politiker gerade als Untermauerung für Synesios’ Ideal des gesellschaftlich und politisch engagierten Philosophen interpretiert,713 trifft Synesios’ Anliegen viel besser. Er verweist auf die frappante Ähnlichkeit der Stellungnahme des Synesios zu den Vorwürfen seiner Gegner und der Position des Themistios.714 Dabei ist allerdings zu beachten, daß Synesios’ Forderung, der Philosoph sollte mittels seiner Bildung fähig sein, mit seinen Mitmenschen nutzbringend zu verkehren, im Dion auf dem Hintergrund des zum Ideal erhobenen freien und unabhängigen Lebens in philosophischer Muße zu sehen ist, welches er im letzten Teil des Buches schildert. Dort malt er sein idyllisches Leben in der Einsamkeit seines Landgutes anschaulich aus.715 Synesios fordert nicht vom Philosophen, systematisch öffentlich zu wirken, wie es Themistios tut. Sein Beispiel ist Sokrates, der sich nicht in die traditionelle Rolle des bezahlten Lehrers drängen läßt, sondern seine persönliche Unabhängigkeit beibehält, die es ihm ermöglicht, zahlreiche Schüler im freien Umgang zu fördern, mit den verschiedensten Leuten richtig zu verkehren und bei Bedarf sich auch mit Rhetorik zu beschäftigen und
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712 713 714 715
(1974, 606–611), zeigt, daß der Terminus sehr weit gefaßt ist. MISCH sieht im Dion nicht eine Biographie im chronologisch geordneten Sinn einer Lebensgeschichte gegeben, sondern eine „Selbstdarstellung“ (608) bzw. ein „Sichdarstellen vor der Welt“ im Hinblick auf seine Lebensführung und seine Ideale (609). HARICH-SCHWARZBAUER 2001, 116f stellt die Unterschiede des Dion zu anderen, im engeren Sinne autobiographischen Schriften der Zeit dar und sieht den Grund für die Unbestimmtheit des Dion darin, daß Synesios im Einflußbereich des alexandrinischen Bischofes, folglich in einer von Zensur und Repression geprägten Situation, schrieb. Allerdings ist diese Einschätzung, wie oben 4.3.2.1. diskutiert wurde, problematisch. Die Frage nach einer besseren Interpretation bleibt offen, ist aber nicht Gegenstand dieser Arbeit. Man könnte den Schlüssel zu einem besseren Verständnis der Dion gewidmeten Abschnitte darin sehen, daß Synesios nach TREU 1958, 21 „sich mit großer Sorgfalt bemüht“ hat, „den Eindruck des Zufälligen, Improvisierten im Inhalt und Aufbau zu erwecken“. Der Anfang könnte als eine solche spielerische Einleitung in das eigentliche Problem angesehen werden. Synesios wirft am Beispiel Dions die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Rhetorik auf und beginnt eine literarische und philosophische Diskussion seiner Schriften. Damit wird der Leser gleich medias in res eingeführt, in Synesios’ Beschäftigung mit der Literatur, mit seinen Lieblingsautoren, in Synesios’ Bibliothek – ein Beispiel für genau jene Haltung und Betätigung, die seine Kritiker ihm vorwerfen. Dies wird danach im Kapitel 4 als Teil eines „Zwiegesprächs“ mit dem noch ungeborenen Sohn kenntlich gemacht, dem er als Vater seine literarischen und philosophischen Vorlieben vermitteln möchte. Nach dieser spielerischen Einleitung in das Problem kann Synesios dann die grundsätzliche Frage nach Literatur und Rhetorik und seine Einstellung diskursiv erörtern. Eine andere Interpretation schlägt SENG 2006 vor. Dion 5,3–6. DESIDERI 1973, 576. DESIDERI 1973, 562–570. Dion 12–13. Zum ländlichen otium bei Synesios vgl. VOGT 1985b.
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wie Aspasia Begräbnisreden vorzutragen.716 Mit dieser Stelle, und überhaupt mit dem ganzen Dion ist eine spätere autobiographische Reflexion aus der Bischofszeit zu vergleichen, in der Synesios sein früheres Leben mit seiner Situation als Bischof kontrastiert. Vor der Wahl habe er in philosophischer Zurückgezogenheit und Unabhängigkeit gelebt, konzentriert auf die Kontemplation, wobei er sich nicht einmal um sein Vermögen gekümmert habe. Dies habe ihn aber nicht daran gehindert, punktuell immer wieder politisch tätig zu werden, wenn die Situation es erforderte, und Privatleuten sowie ganzen Städten zu nutzen – und zwar durch seine gewandte und überzeugende Rede. Hier findet sich die im Dion geforderte Positionierung des Philosophen im Gefüge der Politik, sein Wirken mittels der Rhetorik, noch einmal explizit als autobiographische Erfahrung reflektiert.717 DESIDERIS Vergleich des Synesios mit Themistios bezieht auch den Briefwechsel zwischen Synesios und seinem Freund Pylaimenes718 ein, der ebenfalls erhellend für Synesios’ Konzeption der Beziehung von Politik und Philosophie ist. Pylaimenes ist Synesios’ engster Freund aus der Zeit in Konstantinopel. Von Beruf Anwalt, muß er sich wiederholt Synesios‘ Ermahnungen gefallen lassen, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen und sich ganz der philosophischen Kontemplation zu widmen. Von besonderem Interesse sind dabei die Briefe 101 und 103. Der Brief 101 ist ca. 405 geschrieben worden.719 Synesios berichtet seinem Freund von seinem zurückgezogenen philosophischen Leben in der libyschen Wüste – auf seinem Landgut: Da es für Dich wichtig ist, meine Angelegenheiten zu kennen: wir philosophieren, mein Bester, indem wir die Wüste zur tüchtigen Helferin haben, von den Menschen aber niemanden.720
Pylaimenes soll darum beten, daß Synesios weiterhin der Philosophie treu bleibe und daß er selbst dem unglückseligen öffentlichen Leben entrinnen möge: Bete also mit uns zusammen, für uns, daß wir in der Lage bleiben, in der wir sind; für Dich, daß Du den unglückseligen Marktplatz verlassen mögest, der Du Dein Wesen missbrauchst.721
716 Vgl. Dion 14,3–15,4. Damit schlägt Synesios ein anderes Bild von Sokrates und dessen nutzbringenden Wirken von der Menschheit vor als Julian im Brief an Themistios, der Sokrates als völlig abgelöst von der vita activa schilderte. 717 Ep. 41, GARZYA/ROQUES 44: οὐ μὴν διὰ τοῦτο ἀνθρώποις ἀσυντελῆ με πεποίηκεν ὁ θεός, ἀλλὰ πολλάκις ἡμῖν καὶ ἰδιῶται καὶ πόλεις εἰς δέον ἐχρήσαντο· (...) Τούτων οὐδὲν ἐμὲ τῆς φιλοσοφίας ἀφεῖλκεν οὐδὲ τὴν εὐδαίμονά μοι σχολὴν ὑπετέμνετο. 718 Das Verhältnis zwischen Philosophie und Politik wird in den Briefen 71, 100, 101, 103 und 151 thematisiert. Die Briefe gehören alle in die Zeit zwischen Gesandtschaft und Bischofswahl (vgl. GARZYA, ROQUES 2000 z. St.). 719 Vgl. ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 224, Anm. 1 zum Brief 101. Eine Analyse des Briefes findet sich bei VOGT 1985b, 73f. 720 Ep. 101, GARZYA/ROQUES 225: Ἐπεὶ δὲ διαφέρει σοι τἀμὰ εἰδέναι, φιλοσοφοῦμεν, ὦ’γαθέ, τὴν ἐρημίαν ἀγαθὴν ἔχοντες συνεργόν, ἀνθρώπων δὲ οὐδένα. 721 Ep. 101, GARZYA/ROQUES 225: Σύνευξαι τοίνυν ἡμῖν μὲν ἐν οἷς ἐσμεν εἶναι, σαυτῷ δὲ ἀπολιπεῖν τὴν κακοδαίμονα ἀγοράν, ὦ κακῶς σὺ τῇ φύσει χρώμενος.
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Dem folgt nun eine eindringliche Exhortation, über der Rhetorik die Philosophie nicht zu vergessen. Synesios stellt Pylaimenes seine eigene Lebensweise als Beispiel vor Augen: als einziger in seiner Familie bleibe er Privatmann, obwohl alle Verwandten nach Ämtern streben. Es sei ungleich wichtiger, die eigene Seele mit Tugenden zu bewaffnen als den Körper mit Soldaten zu umgeben, zumal die gegenwärtige Lage es dem Philosophen nicht mehr erlaube, sich um politische Angelegenheiten zu kümmern.722 Diese Position präzisiert Synesios im Brief 103. Pylaimenes scheint sich vor Synesios mit dem Verweis darauf gerechtfertigt zu haben, daß nur die öffentliche Tätigkeit die Möglichkeit eröffne, praktisch für seine Heimatstadt etwas zu bewirken. Er scheint bestimmte Äußerungen des Synesios als Spott darüber aufgefaßt zu haben, so daß sich Synesios nun genötigt sieht, seine Position klarer zu formulieren: Nein, bei meinem und Deinem Freundschaftsgott, nein, Pylaimenes, mit Sicherheit habe ich nicht Deine Zuneigung gegenüber Deiner Geburtsstadt verspottet. Denn ich bin doch nicht derart vaterstadt- oder herdlos.723
Wogegen er sich wende, sei lediglich Pylaimenes’ Vorstellung, daß der Einstieg ins öffentliche Leben die einzige Möglichkeit sei, der Vaterstadt zu nutzen. Die Beschäftigung mit der Philosophie mache den Menschen weitaus nützlicher, im öffentlichen wie im privaten Bereich. Allerdings könne die Philosophie nicht ohne weiteres wirksam werden – die verzweifelte Lage Kyrenes zeige es überdeutlich. Neben der richtigen Einstellung und Kunst, die durch die Philosophie vermittelt werde, müßten günstige äußere Umstände gegeben sein. Die stünden aber nicht in der Macht der Philosophen, sondern hingen vom Zufall ab. Wenn nun die Umstände günstig seien, könne es weder die Rhetorik noch irgendeine andere Kunst mit der Philosophie aufnehmen, was die richtige Ordnung und Verwaltung menschlicher Angelegenheiten betreffe.724 Solange der Lauf der Dinge dem widrig sei, sollte man sich ins Privatleben zurückziehen und politische Ämter nur in Zeiten absoluter Notwendigkeit annehmen: Ein einziges Wort habe ich Dir und allen Städten von der Philosophie zu sagen, daß, wenn nun die richtigen Umstände gegeben sind und die Zeiten sie zu den öffentlichen Angelegenheiten aufrufen, daß es dann keine Kunst, ja nicht einmal alle zusammen es mit der Philosophie aufnehmen können, wenn es darum geht, das angespanntere Staatswesen zu regeln und
722 VOGT 1985b weist u. a. mit Verweis auf ep. 103 zu Recht darauf hin, daß diese radikale Gegenüberstellung von philosophischer Zurückgezogenheit und geschäftigem Treiben der Rhetorik nicht ganz beim Wort genommen werden darf: im Leben des Synesios erscheinen die beiden eng miteinander verbunden: „ Synesios ist Philosoph und Rhetor zugleich, er braucht beides, die Einsamkeit und den Markt“ (74). 723 Ep. 103, p. 228: Οὐ, μὰ τὸν Φίλιον τὸν ἐμόν τε καὶ σόν, οὐκ ἔγωγε, ὦ Πυλαίμενες, ἀπέσκωψά σου τὴν εἰς τὴν ἐνεγκοῦσαν εὔνοιαν· οὐχ οὕτως ἄπολίς εἰμί τις οὐδὲ ἀνέστιος. 724 Im Schreiben an Paionios schildert Synesios einige Fälle aus der Antike, wo Politk und Philosophie verbunden waren – etwa die Pythagoreer. Diese Synthese, welche die ideale Regierungsform hervorbringe, sei mit der Zeit aufgelöst worden und in Vergessenheit geraten (De dono 2).
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umzudisponieren und die Angelegenheiten der Menschen zu verbessern. Wenn aber das Schicksal noch nicht so fließt, ist es höchst vernünftig, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, ohne den Verwalter zu spielen und sich unschicklich zu benehmen, indem man es für gut hält, sich vor dem Amtslokal dessen oder jenen Amtsinhabers zu drängen, wenn man es nicht unbedingt bitter nötig hat. Der Not aber widerstreiten nach dem Sprichwort nicht einmal die Götter.725
Die Zurückgezogenheit halte für den Philosophen weitaus ehrwürdigere und erstrebenswertere Dinge in Bereitschaft: die Kontemplation des Göttlichen. Beide vorgestellten Briefe legen die gleiche Position an den Tag: Synesios stellt sich als Philosoph dar, der nun in stiller Zurückgezogenheit philosophiere. Dies ist jedoch nur ein Aspekt der Philosophie; der andere, die praktisch-politische Betätigung, ist nicht per se ausgeschlossen, sondern lediglich in der gegebenen äußeren Lage sinnlos. Die Philosophie kann zwar unter günstigen Umständen dem Staat optimal dienen und ihn fördern, aber die Gegenwart bietet dafür keinen Platz. In diesem Fall hat sich der Philosoph zurückzuziehen und sich mit der Kontemplation zu beschäftigen, es sei denn, es bestehe unbedingte Notwendigkeit, ein öffentliches Amt anzunehmen. Synesios vertritt also in diesen Briefen die gleiche Position wie in den Herkulianosbriefen. Wie DESIDERI hingewiesen hat, besteht auch darin eine enge Nähe zu Themistios’ Konzeption der politischen Rolle der Philosophie, wie sie in der Rede anläßlich der quinquennalia von Valens deutlich wird.726 Themistios betont, daß die Philosophie nur dann öffentlich wirksam aktiv werden könnte, wenn die Umstände – der καιρός – es zuließen und der Leiter des Gemeinwesens – der Kaiser – den Philosophen dazu berufe. Wenn die Umstände widrig und die Mitmenschen nicht empfänglich für die Philosophie seien, dann solle sich der Philosoph vom Treiben der großen Masse fernhalten.727 Es wäre durchaus wahrscheinlich, daß Synesios, der die Reden des Themistios gut kennt, sich hier ebenfalls an ihn anlehnt. Ein Unterschied könnte darin bestehen, daß Synesios in den zitierten Briefen die Gestalt des Kaisers, die bei Themistios eine wichtige Rolle spielt, ausblendet und sich auf die Rolle der Philosophie als direkte Regentin in den Städten konzentriert. Insofern könnte eventuell mit SCHMITT eine gewisse Abwendung vom Reich und Hinwendung zur Provinz konstatiert werden. Synesios’ Behauptung, daß der καιρός es nicht zuließe, daß Philosophen politisch aktiv werden, könnte ebenfalls im Sinne SCHMITTS gedeutet werden. Spätestens mit der Prätorianerpräfektur seines Gegners Eutychianos müssen eventuelle Absichten des Synesios, wieder an den Hof zurückzukehren, einen empfindlichen Rückschlag erlitten haben. Auch erscheint es plausibel, daß Synesios’ schmerz725 Ep. 103, GARZYA/ROQUES 230: Εἷς οὖν ἐμοὶ πρὸς σέ τε καὶ τὰς πόλεις ἁπάσας περὶ φιλοσοφίας λόγος ὅτι, παρούσης μὲν τύχης καὶ καλεσάντων αὐτὴν ἐπί τὰ πράγ‐ ματα τῶν καιρῶν, οὐδεμιᾶς ἐστι τέχνης, ἀλλ’ οὐδ’ ἅμα πασῶν ἐρίσαι φιλοσοφίᾳ περὶ τοῦ τὴν συντονωτέραν ἁρμόσαι καὶ μετατάξαι καὶ βελτίω τοῖς ἀνθρώποις ποιῆσαι τὰ πράγματα. Τῆς εἱμαρμένης δὲ οὔπω ταυτῇ ῥυείσης, νοῦν ἔχει πολὺν οἰκειοπραγεῖν, ἀλλὰ μὴ παραδιοικεῖν μηδ’ ἀσχημονεῖν ἀξιοῦντας ὠθιζεσθαι πα‐ ρὰ τὸ τοῦ δεῖνος ἀρχεῖον οἷς μὴ πᾶσα ἀνάγκη. Ἀνάγκᾳ δὲ οὐδὲ θεοί φασιν μάχονται. In der Übersetzung ergänze ich τὴν συντονωτέραν durch πολιτείαν. 726 Vgl. DESIDERI 1973, 567 mit Anm 4 und 570. 727 Themistios, Or. 8, 104a–d (DOWNEY 157f).
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liche Erfahrung des Versagens des Reiches angesichts der Barbarenkrise in der Pentapolis zur Konzentration auf die Provinz geführt haben kann. Jedoch wird diese Abwendung vom Reich zur Provinz nicht in den Begriffen einer Konversion zur Philosophie beschrieben; ein Bruch hinsichtlich von Synesios’ Vorstellung von Politik und Philosophie ist nicht belegbar. Er zieht nur die Konsequenzen aus den äußeren Umständen und wechselt seinen „Handlungsraum“.728 Die Jahre in Konstantinopel spiegeln sich auch im Rückblick in verschiedenen Schriften des Synesios; sie erscheinen als Zeit schwerer Anstrengungen im Dienste der Heimat.729 Die ausführlichste Stelle findet sich im ersten Hymnus, den Synesios als Erfüllung eines in Konstantinopel abgelegten Gelübdes präsentiert. Der in sich geschlossene Passus I, 428–504 beschreibt hyperbolisch die unsäglichen Mühen in Konstantinopel; als Motiv des Aufenthaltes wird wiederholt die Bemühung um das darniederliegende Vaterland genannt. Der Abschnitt schließt mit der Bitte, daß Gott die Ergebnisse seiner Gesandtschaft erhalte. Kein Ton der Reue spricht daraus, vielmehr Stolz für das Erlangte.730 Ähnlich die kurze Erwähnung in De insomniis: Mein Lebensinhalt sind nun Bücher und die Jagd, außer als ich einst Gesandter war. Wie sehr wünsche ich mir, daß ich die drei üblen Jahre aus meinem Leben nie gesehen hätte! Aber dennoch habe ich auch damals von ihr (der Traummantik) den häufigsten und größten Nutzen gehabt. Denn sie vereitelte die hinterlistigen Anschläge von Zauberern, die Totenseelen beschwören, indem sie diese sowohl deutlich offenbarte als auch mich aus allen rettete, und die öffentlichen Fragen verwaltete sie mit mir zusammen zum Besten der Städte, und sie ließ mich zum Umgang mit dem Kaiser mutiger als je ein Hellene hintreten.731
Synesios betont hier seine aristokratische Lebensgestaltung: sein Leben habe sich zurückgezogen zwischen Büchern und Jagd abgespielt – mit Ausnahme der Jahre der Gesandtschaft. Durch die Bücher sind Philosophie und Literatur als wichtiger 728 Der Begriff entstammt dem Untertitel von T. SCHMITT 2001. 729 Vgl. z. B. Hymnus I, 428–504, De insomniis 14 oder ep. 123 an den Sophisten Troilos. 730 Der von T. SCHMITT 2001, 129 zur Unterstützung seiner These zitierte Passus H. I, 646–661 steht nicht im Zusammenhang mit der Gesandtschaft, sondern im Kontext der allgemeinen Bitte um Rettung aus der Materie, die sich von H. I, 549–734 erstreckt. Die Seele sei in der Materie mit ihren Verlockungen und Leiden verstrickt; sie sagt sich von deren Herrschaftsbereich ab und bereut das „irdische Leben“ mit ihren Verblendungen: Μετά μοι μέλεται/ χθονίας βιοτᾶς. / Ἔρρετε λῆμαι / ἀθέων μερόπων / πτολίων τε κράτη· / ἔρρετε πᾶσαι / ἄται γλυκεραὶ / ἄχαρίς τε χάρις, / οἷσι ψυχὰν / θωπευομέ‐ ναν / γᾶ λάτριν ἔχει. / Ἁ μέγα δειλὰ / ἰδίων ἀγαθῶν / ἔπιεν λάθαν, / μέχρις ἐγ‐ κύρσῃ / φθονερᾷ μερίδι. Die weltliche Herrschaft gehört zum Repertoire der Versuchungen der Materie. Da im Zusammenhang mit der Gesandtschaft keine Reue bekundet worden war, erscheint es nicht plausibel, diese Stelle auf den konkreten Aufenthalt des Synesios in Konstantinopel zu beziehen und als philosophische Reue über das damalige Streben nach irdischer Macht zu deuten. 731 De insomniis 14,4: Ἐμοὶ μὲν οὖν βίος βιβλία καὶ θηρά, ὅτι μὴ πεπρέσβευκά ποτε. Ὡς οὐκ ὤφελον ἀποφράδας ἰδεῖν ἐνιαυτοὺς τρεῖς ἐκ τοῦ βίου. Καὶ μέντοι τότε πλεῖστα δὴ καὶ μέγιστα ὠνάμην αὐτῆς. Ἐπιβουλάς τε γὰρ ἐπ’ ἐμὲ ψυχοπομπῶν γοήτων ἀκύρους ἐποίησεν, καὶ φήνασα καὶ ἐξ ἁπασῶν περισώσασα, καὶ κοινὰ συνδιῴκησεν ὥστε ἄριστα ἔχειν ταῖς πόλεσι, καὶ ἐς τὴν βασιλέως ὁμιλίαν τῶν πώποτε Ἑλλήνων θαρραλεώτερον παρεστήσατο.
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Aspekt dieses bios gekennzeichnet. Seine Klage über die Gesandtschaft reflektiert wahrscheinlich ebenfalls beides: die aristokratische Wertschätzung der Unabhängigkeit des kultivierten otium sowie die philosophische Zurückhaltung gegenüber politischer Betätigung. Eine „Konversion“ von der Politik zur philosophischen Lebensweise wird hier nicht angedeutet; Synesios portraitiert sich auch hier als verantwortungsbewußten Gesandten, der gegen verschiedenste Angriffe zu kämpfen hat, aber dennoch unerschrocken vor dem Kaiser spricht. Das freie, unbeschwerte, einfache Leben auf seinem Landgut malt Synesios in seinen Briefen aus.732 Am berühmtesten ist sein Brief an Olympios, in dem er es als Idylle à la Homer und Theokrit schildert.733 Auf seinem Landgut herrschen fast paradiesische Zustände; man ist der historischen Zeit fern und gleichsam in eine mythische Zeit – nach Synesios die Zeit Homers und Noahs– entrückt.734 Wenn Synesios in De insomniis oder in einigen Briefen diesen Aspekt seines Lebens fast ausschließlich betont, ist dies eine selektive Darstellung. Denn wie seine Briefe ebenfalls zeigen, ist er stark in der Provinzialpolitik involviert.735 Ein, besser das, Hauptthema ist dabei die militärische Organisation der Kyrenaika, die angesichts der wiederholten Barbareneinfälle von höchster Brisanz war.736 Zusammenfassend läßt sich wohl am ehesten behaupten, daß Synesios hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und ‚weltlichem‘ Leben einen Weg der aurea mediocritas ging. Der philosophische Vorrang der theoria verbindet sich dabei mit dem aristokratischen Drang nach Unabhängigkeit und dem Ideal des kultivierten ländlichen otium. Synesios’ Landleben umfasst nicht nur philosophische Lektüre und Kontemplation des Alls, wie er in den Briefen an Pylaimenes oder dem I. Hymnus nahe legt, sondern durchaus auch den Jagdsport, wie in De insomniis oder ep. 148 deutlich wird. Er lebt in glücklicher Ehe mit drei Kindern – und unterscheidet sich darin stark vom rigoros asketischen Lebensstil Julians. Zwar betont er im Dion, daß er den väterlichen Besitz verringert, die Zahl der Bücher aber verdoppelt habe, aber seine Briefe lassen erkennen, daß er durchaus – ähnlich wie Seneca – das Leben eines wohlhabenden Landedelmannes genießt. Auch bezüglich der Politik, der exponiertesten Sphäre des nichtphilosophischen Alltagslebens, läßt sich bei ihm eine ähnliche Mittelstellung herausarbeiten. Als Parallele erschien besonders Themistios auffällig. Wie Themistios betont Synesios, daß der Philosoph den Kontakt zu seinen Mitmenschen nicht meiden dürfe, sondern sich durch umfassende literarische und rhetorische Bildung in die Lage versetzen müsse, mit ihnen gewandt und geschliffen zu verkehren. Synesios ist 732 Neben ep. 148 s. auch ep. 114 an seinen Bruder mit dem Kommentar von VOGT 1985b, 70. 733 Ep. 148, GARZYA/ROQUES 292–298. 734 Zum Gegensatz von mythischer und historischer Zeit vgl. ELIADE 1957, 40ff. VOGT 1985b, 79–83, bes. 82, hat gezeigt, wie Synesios verschiedene topoi hier verbindet: die hellenistischen Vorstellungen vom ländlichen Leben in der unverdorbenen Natur bzw. Naturmenschen im Gegensatz zum Treiben der Stadt, die sich nicht nur in der Bukolik und den Romanen, oder zuweilen bei den Ethnographen, sondern auch in der Philosophie, etwa im Kynismus oder bei Dio Chrysostomos findet. 735 Vgl. bes. ep. 95, welchen T. SCHMITT 2001, bes. 621–632 interpretiert. 736 Auf dieses Thema kann und muß in dieser Arbeit nicht genauer eingegangen werden; s. dazu die detaillierte Rekonstruktion von T. SCHMITT 2001, 564–710.
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hierbei keine neuplatonische Ausnahmeerscheinung.737 Die Motivation des Synesios während seines Konstantinopelaufenthaltes bleibt letztlich dem Zugriff der Historiker entzogen; das einzig Vorliegende sind die Quellen. Und diese legen es nahe, daß Synesios durchaus im Rahmen des Philosophieverständnisses seiner Zeit in Anlehnung an Themistios die Möglichkeit für den Philosophen reklamierte, politisch tätig zu werden. Dies nicht im Sinne des Strebens nach Ämtern; diesen steht Synesios grundsätzlich ablehnend gegenüber. Der Philosoph muß vielmehr seine Unabhängigkeit bewahren und dann eingreifen, wenn die äußeren Umstände dies verlangen. So gibt Synesios als Grund für seine Gesandtschaftsreise durchgehend die desolate Lage Kyrenes an, die sein Eintreten bei Hofe erfordert. Dies deckt sich mit der in ep. 144 angedeuteten Lage; daher wäre es möglich, daß dieser Brief tatsächlich nach HERMELIN das Vorspiel zur Gesandtschaft ist.738 Diese Einstellung ändert sich in den Briefen und Schriften nach der Gesandtschaft nicht. Die Briefe an Pylaimenes zeigen, daß Synesios theoria und praxis als zwei Aspekte der Philosophie ansieht. Edler sei zwar erstere, und mit ihr habe sich der Philosoph vornehmlich zu beschäftigen und nicht nach weltlichen Ehren und Ämtern zu streben. Wenn aber die Zeit reif ist und die äußeren Umstände dies zulassen, könne und solle die Philosophie einen bedeutenden politischen Beitrag an höchster Stelle leisten. Allerdings sieht Synesios eine solche Zeit in seinem Fall nicht gegeben, was mit SCHMITT auf die Machtkonstellation in Konstantinopel zurückzuführen ist. Daher verlegt er seine Konzentration von der Reichspolitik auf die Pentapolis, ohne daß sich dabei allerdings eine innere (Einstellungs-) Veränderung in seinen Selbstzeugnissen niederschlagen würde. 4.5. PHILOSOPHIE UND ÖFFENTLICHES AMT: SYNESIOS ALS BISCHOF 4.5.1. Die Bischofswahl Synesios’ Annahme des Bischofsamtes kann als direkte Folge dieser Einstellung zum öffentlichen Leben gesehen werden.739 Neben die sozialen Aufgaben, die dem Bischof zukommen – etwa die Armenfürsorge – treten im 4. Jahrhundert vor allem in den Randgebieten des Reiches verstärkt politische und militärische Aufgaben. Der Bischof wird oft zum Vertreter der Zivilbevölkerung und ihrer Interessen gegenüber dem kaiserlichen Militär und der Verwaltung.740 Bei der Bischofswahl treten daher oft religiöse Gesichtspunkte hinter die pragmatischen zurück.741 737 Wie die Ausführungen von FOWDEN 1982, 51ff über die soziale Isolation der neuplatonischen Philosophen suggerieren könnten. Neben der Schilderung des höflichen und leutseligen Umgangs des Aidesios mit seinen Mitbürgern aus allen sozialen Schichten kann auch an Hypatias öffentliche Vorträge gedacht werden. 738 S. o. 211. 739 So etwa DESIDERI 1973, 569–576, bes. 572. 740 Vgl. LACOMBRADE 1951b, 216f, VON CAMPENHAUSEN 1967, 131, LIZZI 1987, 8ff. 741 So etwa bei der Wahl des Ambrosius – damals noch Katechumene – zum Bischof von Mailand. Vgl. dazu LIZZI 1987, 8, Anm. 4.
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Die Mentalität in Libyen spiegelt sich in einem Brief des Synesios. Die Gemeinde von Palaibiska, die ursprünglich zum Bistum Erythron gehörte, hatte sich eigenmächtig einen eigenen Bischof gewählt, da ihr der rechtmäßige Bischof Orion als zu alt und „sanft“ galt. Die Wahl war auf Siderios gefallen, einen tatkräftigen Kriegsveteranen, der unter Valens gedient und in Palaibiska Land erhalten hatte. Er sei bestens in der Lage gewesen, „seinen Freunden zu nützen und seinen Feinden zu schaden.“742 Ein Bischof habe für sie „Vorsteher über die weltlichen Angelegenheiten“ zu sein, geschäftig und aktiv.743 Auch Synesios’ Wahl zum Bischof wird von ähnlichen Erwägungen geleitet worden sein. Er gehörte der alten Aristokratie an, hatte aktiv am politischen Leben der Kyrenaika teilgenommen, hatte zudem die Interessen seiner Heimatstadt am Kaiserhof vertreten, wo er zahlreiche nützliche Kontakte geknüpft hatte. Nicht zuletzt hatte er große Effizienz bei der militärischen Verteidigung gegen die Ausurianer bewiesen, vor denen die kaiserliche Armee unter dem dux Kerealios gescheitert war.744 Die Übernahme des Bischofsamtes bedeutet demnach die Annahme einer exponierten öffentlichen Position, die die Unabhängigkeit des philosophischen Lebens, wie sie im Dion am Beispiel des Sokrates skizziert worden war, stark beeinträchtigt. Dieses Bedenken artikuliert Synesios in seinem berühmten Brief 105, mit dem er auf das Wahlergebnis reagiert. Der Brief ist vordergründig an seinen Bruder Euoptios gerichtet, soll aber dem Patriarchen Theophilos und seinen Anwälten zur Kenntnis gebracht werden;745 Synesios rechnet mit einem zahlreichen Publikum bei der Lektüre.746 Es handelt sich somit um einen programmatischen Brief, in dem er seine Position zur Bischofswahl öffentlich darlegt, um sich so gegen spätere Kritik abzusichern.747 Dieser Brief wurde in der Forschung oft thematisiert, vor allem im Hinblick auf eine etwaige Konversion des Synesios vom heidnischen Neuplatoniker zum christlichen Bischof. Um den Brief richtig zu interpretieren, ist es zunächst wichtig, festzuhalten, daß der christliche Kult bzw. das christliche Priesteramt als selbstverständliche Gegebenheit, die nicht zur Debatte steht, erscheinen. Synesios hebt die fast göttliche Würde des Priesteramtes hervor, betont seine eigene Unzulänglichkeit und die Angst, sich damit frevelhafterweise zuviel anzumaßen.748 Er verweist auf seine Neigung zur Kontemplation und absolute Untauglichkeit für die Politik und befürchtet, daß das Bischofsamt mit seinen öffentlichen Pflichten ihn davon abbringen könnte. Synesios benutzt hier Topoi der antiken Rhetorik,749 die gleichzeitig 742 Zu dieser alten Formel vgl. z. B. Politeia 334b. 743 Ep. 66, GARZYA/ROQUES 175f. Zu diesem Vorfall vgl. BAYLESS 1977, 152 oder LIEBESCHUETZ 1986, 187. 744 Vgl. BAYLESS 1977, 149–152. 745 Vgl. ep. 105, GARZYA/ROQUES 238 oder 241. 746 Ep. 105, GARZYA/ROQUES 238. 747 Vgl. ep. 105, GARZYA/ROQUES 240. 748 Ep. 105, GARZYA/ROQUES 236f. 749 Vgl. dazu GARZYA 1995, 142. Er identifiziert den Topos des δυσέφικτον, der Minimalisierung der eigenen Fähigkeiten bei gleichzeitiger Hervorhebung der Würde des angetragenen Amtes. Auch der Unwille, das otium zugunsten politischer Tätigkeit aufzugeben, wird im Brief ausgestaltet. Vgl. zu letzterem auch BREGMAN 1982, 74.
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im 4. und 5. Jahrhundert Standardmotive der Reaktion auf Bischofswahlen geworden waren.750 Synesios’ Reaktion ist somit in den Kontext des Christentums der damaligen Zeit integriert. Der Brief zeigt, daß die formelle Zugehörigkeit zum Christentum für Synesios zur damaligen Zeit selbstverständlich war. Die Schwierigkeiten, die er in diesem Brief an den Tag legt, liegen auf einer anderen Ebene. Das erste Problem, das Synesios signalisiert, ist der private Charakter seiner Religiosität. Der Einsatz rhetorischer Topoi darf nicht dazu führen, seine Behauptungen als unecht zurückzuweisen; dies wäre ein falscher, moderner Gegensatz. Durch sie unterstreicht Synesios etwas, was sich durch seine Schriften und Briefe angefangen mit den frühen Briefen an Herkulianos über die Hymnen bis zu den Briefen an Pylaimenes oder dem Dion wie ein roter Faden durchzieht:751 Und wenn ich ernsten Dingen nachgehe, dann bin ich ganz für mich allein, besonders, wenn es um das Göttliche geht.752
Das Bischofsamt hingegen fordere ein diametral entgegengesetztes Verhalten: In den Angelegenheiten, die Gott betreffen, dürfte er nicht für sich sein, sondern für alle frei zugänglich, da er ein Gesetzeslehrer ist und Gesetzliches verkündet.753
Die Begriffe νόμος und νενομισμένα verweisen auf den Bereich der gesetzlich bestimmten, althergebrachten Kulte und Bräuche, die die öffentliche religiöse Praxis bestimmen. Mit dem Aufkommen der Philosophie wird diesen Kulten ein niederer Rang zugewiesen; sie werden aufgrund der Tradition von der großen Masse praktiziert, ohne daß diese Einsicht in ihre Bedeutung hätte oder sie rational erfassen würde.754 Dem gegenüber steht die reflektierte, vernunftgemäße Erkenntnis des Philosophen. Seit der Sophistik werden religiöse Gebräuche im Bereich des νόμος angesiedelt und somit relativiert;755 Platon und Aristoteles setzen sich mit den alten Mythen und Kulten auseinander und setzen ihr Gottesbild deutlich von dem der Masse ab.756 Synesios’ Gebrauch dieser Termini verweist darauf, daß der 750 751 752 753
Vgl. LIZZI 1987, 33–55. Vgl. VOGT, 1985d, 102. Ep. 105, GARZYA/ROQUES 236: καὶ σπουδάζων ἴδιός εἰμι, μάλιστά γε τὰ θεῖα. Ep. 105, GARZYA/ROQUES 237: Τὰ δὲ πρὸς τὸν θεὸν οὐκ ἂν ἴδιος, ἀλλὰ κοινότατος ἂν εἴη, νομοδιδάσκαλος ὢν καὶ νενομισμένα φθεγγόμενος. 754 Schon Xenophanes frg. 21 B 10–18 und Heraklit frg. 22 B 5, 15, 42, 57 DIELS/KRANZ kritisieren die Göttervorstellungen der alten Dichter und verschiedene kultische Praktiken. 755 Vgl. z. B. Kritias, frg. 25B DIELS/KRANZ, der die Göttervorstellungen als genialen Einfall ansieht, um den mühsam aufgestellten Gesetzen allgemeine Geltung, auch im Verborgenen, zu verschaffen. Durch die religiösen Gesetze habe der betreffende Erfinder die Gesetzeslosigkeit ausgelöscht: τὴν ἀνομίαν τε τοῖς νόμοις κατέσβεσεν. 756 Platon führt in seinem Euthyphron dem Leser die Unreflektiertheit und Widersprüchlichkeit der nichtphilosophischen traditionellen Religiosität vor Augen, die der philosophischen Untersuchung nicht standhält. Im X. Buch der Nomoi wird vom philosophischen Gesetzgeber das Gesetz der Götterverehrung erlassen und mit rationalen Gottesbeweisen und Argumenten begründet. Gott erscheint als Seele, deren Wesen Selbstbewegung sei und somit den Primat über alle anderen Bewegungsarten innehabe (893–899d). Die überkommene religiöse Praxis erscheint eher als Gefahr und Quelle von Unfrömmigkeit und falschen Ansichten über das Wesen des Göttlichen (885d). Im XII. Buch der Metaphysik skizziert Aristoteles seine Vor-
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Bischof für ihn ein Vertreter des öffentlichen, für die Masse gedachten religiösen Lebens ist, die weit unter der privaten Erhebung der Seele zu Gott durch die Philosophie steht. Christliche Lehren werden somit als νενομισμένα betrachtet und herabgewertet. Eine weitere Schwierigkeit, die im Charakter des Bischofsamtes begründet liegt, sind für Synesios die vielfältigen Pflichten, die mit dem „full-time, lifeconsuming professionalism of the bishop’s office“ verbunden sind. Sie widerstreben dem Aristokraten Synesios und bedrohen die für die philosophische Kontemplation unentbehrliche Muße, so daß er auch dadurch sein religiöses Leben gefährdet sieht.757 Wie er in einem Brief an den Klerus von Ptolemais betont, habe er stets seine politischen Pflichten als Bürger seiner Heimatstadt erfüllt, aber mit der Unabhängigkeit der Philosophen: Denn ich, der ich meine Jugend in philosophiegemäßer Muße und der unbeschwerten Kontemplation des Seienden gelebt habe und mich mit Sorgen nur soviel aufhielt, wie es nötig war, um dem Leben mit einem Körper und meinem Status, als Bürger einer Stadt geboren zu sein, Genüge zu tun – wie soll ich denn unablässige Sorgen ertragen können? Oder wie soll ich noch, wenn ich mich ins Gedränge der öffentlichen Probleme stürze, dann noch zu den Schönheiten des Nous gelangen, die zu pflücken nur der seligen Muße gegeben ist, ohne welche mir und meinesgleichen das gesamte Leben unlebbar ist?758
Diesen Befürchtungen zum Trotz läßt Synesios schon im Brief 105 deutlich werden, daß er das Amt letztlich durchaus anzunehmen geneigt ist.759 Er stellt klare Bedingungen diesbezüglich auf, durch welche er etwaige spätere Disziplinarverfahren vermeiden möchte. Die gewichtigste Schwierigkeit sieht Synesios in der Diskrepanz zwischen christlicher Lehre und philosophischer Erkenntnis in bestimmten Punkten: Es ist sehr schwer, wenn nicht gar absolut unmöglich, daß die Lehrsätze, die durch wissenschaftliche Erkenntnis bewiesen worden sind, erschüttert werden. Du weißt aber, daß die Philosophie diesen Lehrsätzen, die in aller Munde sind, vieles entgegensetzt. Ganz gewiß werde ich es niemals für würdig halten, zu glauben, daß die Seele später entstanden sei als der Körper. Ich werde nicht behaupten, daß das All und die anderen Teile zusammen untergehen. Ich bin fest überzeugt, daß die Auferstehung, für die so viele Anhänger gewonnen sind, etwas
stellung von Gott als dem unbewegten Beweger und distanziert sich von den traditionellen Mythen als Mittel, die unwissende Masse in Schach zu halten (1071b–1074b. bes. 1074 a–b). 757 LIEBESCHUETZ 1986, 185. Vgl. auch VOGT 1985d ,102. 758 Ep. 11, GARZYA/ROQUES 23: Ὁ γὰρ ἐννεάσας τῇ κατὰ φιλοσοφίαν σχολῇ καὶ θεω‐ ρίᾳ τῶν ὄντων ἀπράγμονι καὶ τοσοῦτον ὁμιλήσας φροντίσιν ὅσον ἀφοσιώσασθαι τῷ μετὰ σώματος βίῳ καὶ τῷ πολίτης γεγονέναι πόλεως πῶς ἀρκέσω μερίμναις ἐχούσαις συνέχειαν; Ἢ πῶς ἐμαυτὸν ἐπιδοὺς ὄχλῳ πραγμάτων ἔτι προσβαλῶ τοῖς νοῦ κάλλεσιν, ἃ μόνης ἐστὶ καρποῦσθαι τῆς μακαρίας σχολῆς, ἧς χωρίς ἐμοὶ καὶ τοῖς ὁμοίοις ἐμοὶ ἅπας ὁ βίος ἀβίωτος; 759 Es ist mit VOGT 1985d, 100f. zu überlegen, ob Synesios durch spontane Akklamation ohne sein Wissen gewählt worden ist – wie es etwa bei Augustin der Fall war –, oder ob die Namen der Kandidaten gemäß der im Osten gebräuchlichen Prozedur im voraus bestimmt wurden. In letzterem Fall hätte Synesios durchaus mit der Wahl und dem Amt gerechnet.
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike Heiliges und Unsagbares ist, und bin weit davon entfernt, den Vermutungen der Masse zuzustimmen.760
Die genaue Bedeutung dieser Differenzen kann wegen der Knappheit der Formulierung schwerlich vollkommen erschlossen werden. Hier stehen sich die Positionen von MARROU und BREGMAN gegenüber. MARROU verweist darauf, daß Synesios damit nur Themen anspricht, die zu seiner Zeit noch nicht offiziell geklärt worden waren, offene Fragen, die gerade bei alexandrinischen christlichen Philosophen weiterhin eifrig diskutiert werden sollten.761 Synesios sei somit als Exponent des alexandrinischen christlichen Neuplatonismus anzusehen;762 die Alternative „Philosophie oder Christentum“ sei verfehlt.763 Demgegenüber verweist BREGMAN darauf, daß diese drei Punkte zwar isoliert bei verschiedenen christlichen Autoren auftreten, aber nie zusammen aufgeworfen werden.764 Seine Analyse der einzelnen Punkte führt zum Ergebnis, daß Synesios die Ewigkeit und Göttlichkeit der Seele, die Ewigkeit und Göttlichkeit der Welt sowie die typisch neuplatonische Abwertung der Materie vertrete, die zu einer spiritualisierenden Interpretation der Auferstehung führe.765 Im Zusammenhang gelesen, würden sie die hellenische bzw. neuplatonische Weltsicht artikulieren.766 Synesios selbst gibt wenige Hinweise, die zur Entscheidung dieser Kontroverse beitragen könnten. Seine Behauptungen könnten in der Tradition des Origenes gesehen werden, dessen Schriften gerade solche Fragen aufwarfen und oftmals auch platonische Lösungen vorschlugen. Seine Lehren waren zu Beginn des 5. Jahrhunderts durch die Kontroversen des ersten origenistischen Streites wieder besonders aktuell geworden. Gerade der Vergleich mit dem christlichen Platoniker läßt einen grundlegenden Unterschied deutlich werden: für Origenes hat der Kosmos ganz gewiß ein Ende, wenn alle Geistwesen, zu deren Läuterung er geschaffen wurde, wieder zu ihrer ursprünglichen Reinheit gefunden haben.767 Hin760 Ep. 105, GARZYA/ROQUES 239: Χαλεπόν ἐστιν, εἰ μὴ καὶ λίαν ἀδύνατον, τὰ δι’ ἐπι‐ στήμης εἰς ἀπόδειξιν ἐλθόντα δόγματα σαλευθῆναι· οἶσθα δ’ ὅτι πολλὰ φιλοσο‐ φία τοῖς θρυλλουμένοις τούτοις ἀντιδιατάττεται δόγμασιν. Ἀμέλει τὴν ψυχὴν οὐκ ἀξιώσω ποτὲ σώματος ὑστερογενῆ νομίζειν. Τὸν κόσμον οὐ φήσω καὶ τἄλλα μέρη συνδιαφθείρεσθαι. Τὴν καθωμιλημένην ἀνάστασιν ἱερόν τι καὶ ἀπόρρητον ἥγημαι καὶ πολλοῦ δέω ταῖς τοῦ πλήθους ὑπολήψεσιν ὁμολογῆσαι. 761 MARROU 1952, 481f., 1964, 145–149. 762 MARROU, 1964, 150: „But we must not forget that it was with Synesius, the first baptized Neoplatonist, that the Christian Neoplatonism of Alexandria began”. 763 MARROU 1952, 481. 764 BREGMAN 1982, 161. 765 BREGMAN 1982, 157–161. 766 BREGMAN 1982, 160 und 161. 767 Origenes vertritt dezidiert, daß die Seele, bzw. die Intelligenz, die dann zur Seele wird, dem Körper nicht nur ontologisch sondern auch zeitlich vorangeht (s. z. B. De principiis II 9, 2–3 und 6–7). Die Auferstehung behandelt er in Absetzung von bestimmten allzu wörtlichen Vorstellungen: „nunc vero sermo convertimus ad nonnullos nostrorum, qui vel pro intellectus exiguitate vel explanationis inopia valde vilem et abiectum sensum de resurrectione corporis introducunt“ (De principiis II 10). Es bleibt offen, ob der Auferstehungsleib tatsächlich weiterdauert, oder ob die körperliche Substanz sich schließlich auflösen wird (s. III 6, 1–9). Auch Origenes hält fest, daß die kirchliche Lehre hinsichtlich des Endes der Welt unklar sei: „quid
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zu kommt noch, daß Synesios zwar keine christlichen Zentralfragen als Probleme nennt – etwa die Inkarnation oder das Ostergeschehen –, aber die Behandlung solcher Themen in den Hymnen zeigt, daß seine Interpretation der Trinität oder der Gestalt Christi von neuplatonischen Ideen oder heidnisch-mythischen Vorbildern ausgeht. Dies alles läßt vermuten, daß Synesios den kirchlichen Lehrsätzen, wie sie ihm durch Theophilos von Alexandrien bekannt waren, klassische neuplatonische Ideen entgegensetzt. Was klar hervortritt und festgehalten werden muß, ist die deutliche Relationierung von Philosophie und christlichen Lehren. Der Philosophie kommt der Primat zu; sie allein führt durch Vernunftbeweise zu gesichertem Wissen. BREGMAN bringt dies mit der Umkehrung der scholastischen Formel treffend zum Ausdruck: theologia ancilla philosophiae.768 Da die Philosophie für die Masse nicht nur unzugänglich, sondern auch geradezu schädlich werden könne, erkennt Synesios jedoch in Anlehnung an Platon die Notwendigkeit an, diese mit geeigneten „Lügen“ zu fördern.769 Synesios gedenkt daher, als Bischof seine bisherige Praxis beizubehalten: τὰ μὲν οἴκοι φιλοσοφῶ, τὰ δ’ ἔξω φιλόμυ‐ θός εἰμι διδάσκων.770 Wiederum begegnet auch hier die scharfe Unterscheidung zwischen der – durch Mythen zu verhüllenden und geheimzuhaltenden – philosophischen Erkenntnis und dem Volksglauben, die seit den Briefen an Herkulianos Synesios’ Philosophieverständnis prägt.771 Dieselbe deutliche Artikulation der bestimmenden Bedeutung der Philosophie für Synesios findet sich auch in den anderen Briefen zu der Wahl. Im Brief 96 an seinen Studienfreund Olympios beschreibt er sein monatelanges Zögern. Er wolle das Amt übernehmen, falls es mit seiner „Lebensweise und Lebensprinzip“ nämlich der Philosophie vereinbar sei: Und wenn es mit der Philosophie vereinbar ist, dann will ich die Sache angehen. Wenn sie aber anders geartet ist als es meiner Lebensführung und Grundeinstellung entspräche, was bleibt mir anderes übrig, als geradewegs schnellstens nach dem ruhmreichen Hellas zu segeln? Denn wenn ich das Priesteramt zurückgewiesen habe, dann muß ich mich von dem Va-
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tamen ante mundum fuerit, aut quid post mundum erit, iam non pro manifesto multis innotuit. Non enim evidenter de his in ecclesiastica praedicatione sermo profertur. (De principiis Prooem. 7). Allerdings unterscheiden sich Origenes und Synesios in diesem Punkt erheblich: während Synesios die Vorstellung, daß dieses All dereinst vergehen wird, ablehnt, nimmt Origenes eine Vielzahl von Welten an, im Verlauf derer die Intelligenzen wieder gereinigt und zu Gott zurückgeführt werden. Jede Welt in dieser Reihe hat demnach einen Anfang – den Abfall der Intelligenzen von Gott im Falle der ersten Welt, die Verschiedenheit der Intelligenzen im Falle der darauffolgenden Welten, und ein Ende (De principiis II 3, III 5–6). BREGMAN 1982, 162. Ep. 105, GARZYA/ROQUES 239: Νοῦς μὲν οὖν φιλόσοφος ἐπόπτης ὢν τἀληθοῦς συγ‐ χωρεῖ τῇ χρείᾳ τοῦ ψεύδεσθαι· ἀνάλογον γάρ ἐστι φῶς πρὸς ἀλήθειαν καὶ ὄμμα πρὸς λήμην, οὗ ὀφθαλμὸς εἰς κακὸν ἂν ἀπολαύσειεν ἀπλήστου φωτός. Ἧι τοὶς ὀφθαλμιῶσι τὸ σκότος ὠφελιμώτερον, ταύτῃ καὶ τὸ ψεῦδος ὄφελος εἶναι τίθεμαι δήμῳ καὶ βλαβερὸν τὴν ἀλήθειαν τοῖς οὐκ ἰσχύουσιν ἐνατενίσαι πρὸς τὴν τῶν ὄντων ἐνάργειαν. Ebd. Ep. 105, GARZYA/ROQUES 239: Δήμῳ γὰρ δὴ καὶ φιλοσοφίᾳ τί πρὸς ἄλληλα; Τὴν μὲν ἀλήθειαν τῶν θείων ἀπόρρητον εἶναι δεῖ, τὸ δὲ πλῆθος ἑτέρας ἕξεως δεῖται.
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Konversion zur Philosophie in der Spätantike terland verabschieden, wenn ich nicht unter allen der am meisten Verachtete und Verfluchte sein soll, mich umhertreibend in einer feindseligen Menge?772
Die drastische soziale Ächtung in der Heimatstadt im Falle einer Ablehnung zeigt die Bedeutung des Bischofs – eines starken und gut situierten Bischofs wie Synesios – für die Pentapolis. Die Annahme des Amtes wird somit zur politischen Pflicht gegenüber der Stadt;773 gerade Synesios, der in seinen Briefen an Herkulianos und im Dion forderte, daß sich der Philosoph zu seinen Mitbürgern nach den Regeln der Polis zu verhalten habe, kann es schwerlich zurückweisen. Im 11. Brief teilt er dem pentapolitanischen Klerus seine Annahme der Wahl mit. Er faßt nochmals seine Befürchtungen zusammen, daß sein bisheriges Leben mit den zahlreichen Amtspflichten des Bischofs wenig kompatibel sei, daß letztere ihm den ungehinderten Weg zur Kontemplation des Nous versperren könnten. Dennoch hoffe er, wenngleich sehr skeptisch, daß sich das Priesteramt nicht als Abstieg, sondern als Wiederaufstieg zur Philosophie erweisen könnte.774 4.5.2. Synesios’ Auftreten als Bischof Synesios’ dramatische Bischofszeit ist durch verschiedenste Ereignisse geprägt. Die Barbareninvasionen sind stets eine drohende Gefahr, auch wenn sie kurzzeitig vom dux Anysios zurückgeschlagen werden können. Synesios muß daher wie früher selbst zu den Waffen greifen.775 Verschiedene kirchendisziplinarische Probleme verlangen nach Lösung. Es entwickelt sich ein heftiger Konflikt mit dem Zivilgouverneur Andronikos, der sich vor allem an dessen grausamen Methoden zur Steuereintreibung entzündet.776 Nachdem Synesios’ Versuche, ihn durch seine Kontakte in Konstantinopel zu beseitigen, fehlschlagen, greift er zum Mittel der Exkommunikation nach dem Tod eines gefolterten curialis. Die schließlich verkündete excommunicatio minor hat durchschlagende Wirkung: ein späterer Brief zeigt Andronikos als gebrochenen Mann, für den sich Synesios einsetzt.777 Schließlich bricht das Unglück privat über ihn herein: seine drei Söhne sterben alle binnen eines Jahres. Diese bewegte Zeit spiegelt sich in verschiedenen Briefen, Reden und Predigten, die alle dementsprechend gelegenheitsbezogen sind. Einige Briefe kreisen um den Konflikt mit Andronikos, andere behandeln verschiedene kirchenrechtliche Probleme in der Pentapolis. In den öffentlichen Reden, den 772 Ebd., GARZYA/ROQUES 220: Κἂν μὲν ἐγχωρῇ μετὰ φιλοσοφίας, ἐργάσομαι τὸ πρᾶγ‐ μα· εἰ δὲ ἀλλοῖόν ἐστιν ἢ κατὰ τὴν ἐμὴν ἀγωγήν τε καὶ προαίρεσιν, τί ἄλλο ἢ τὴν εὐθὺ τῆς κλεινῆς Ἑλλάδος ἀποπλέων οἰχήσομαι; Ἀπειπαμένῳ γὰρ τὴν ἱερωσύ‐ νην ἀπογνωστέον ἐστὶ καὶ τῆς πατρίδος εἰ μή με δεῖ πάντων ἀτιμότατον εἶναι καὶ ἐπαρατότατον, ἐν ὄχλῳ μισούντων ἀναστρεφόμενον. 773 Vgl. GRUBER, STROHM 1991, 13–15 sowie WILAMOWITZ 1907, 280. 774 Ep. 11, GARZYA/ROQUES 23. 775 Zum Krieg mit den Barbaren vgl. LIZZI 1987, 62–71. 776 Da der Konflikt mit Andronikos inhaltlich nicht für das Thema dieser Arbeit relevant ist, soll er nicht nachgezeichnet werden. Es sei verwiesen auf den Aufsatz von GARZYA 1986 sowie LIZZI 1987, 85–111. 777 Ep. 90, GARZYA/ROQUES 211.
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sogenannten Katastaseis, spiegelt sich die Lage der Provinz. Diese Briefe und Reden – und auch Synesios’ Selbstdarstellung in ihnen – sind stark von dem jeweiligen Sitz im Leben und den verfolgten Absichten geprägt. Bei all dieser Gelegenheitsbezogenheit kann dennoch konstatiert werden, daß die Identität als Philosoph für Synesios auch nach seiner Wahl zum Bischof bestimmend bleibt. Synesios betont diese Identität dadurch, daß er sich ausdrücklich wiederholt als Philosoph und Priester bezeichnet.778 Diese Doppelidentität wird jedoch oft unterschiedlich akzentuiert. In seiner Katastasis minor, einer öffentlichen Ansprache über die Siege des dux Anysios zu Anfang seiner Bischofszeit – einer noch relativ unbeschwerten Zeit – hebt er die Kontinuität zwischen seiner philosophischen Einstellung und der Rolle als christlicher Priester hervor.779 In einer anderen Situation, im Brief 41, eigentlich einer Ansprache an den Klerus der Pentapolis anläßlich der Exkommunikation des Andronikos, erinnert Synesios an seine vor der Annahme der Bischofswürde geäußerten Bedenken, das Bischofsamt könnte ihm die philosophische Muße rauben.780 Er betont die einschneidenden Veränderungen in seinem Leben: dadurch, daß von ihm Einsatz in den verschiedensten weltlichen Angelegenheiten erwartet werde – die schlimmste darunter das grausame Vorgehen des Andronikos – könne er sich nicht mehr der Kontemplation des Göttlichen widmen. Genau diese sei aber das Ziel des Priesteramtes.781 Er skizziert daher neue Bedingungen für seine weitere Ausübung des Amtes: wie früher, als er als Philosoph über dem politischen Geschehen gestanden und nur punktuell in dieses eingegriffen habe,782 wolle er jetzt ebenfalls nur in einzelnen Situationen eingreifen und verwehrt sich gegen die Aufgaben eines ἱερεὺς δημόσιος: Doch so, wie ich auch kein öffentlicher Philosoph wurde und auch nicht nach Theaterbeifall gestrebt und keine Schule eröffnet habe – und doch war ich um nichts weniger Philosoph und möchte es weiterhin sein – , so will ich auch kein öffentlicher Priester sein.783
Mit der Festlegung der θεωρία als eigentliches Ziel des Priesteramtes gelingt Synesios die Integration dieses Amtes in seine Philosophie. Der Priester habe die Aufgabe, sich in der Abwendung von der Materie zu Gott zu erheben und für seine Mitbürger bei ihm einzutreten. Hier wäre zu überlegen, ob Synesios damit Porphyrios’ Ansicht aufgreift, daß der Philosoph durch seinen Aufstieg den höchsten Gott ehre und somit der Priester des höchsten Gottes sei. Nach Porpyhrios hat nur 778 Ep. 41, GARZYA/ROQUES 45, 51, ep. 62, GARZYA/ROQUES 79. 779 Katastasis I,1: Οὔτε φιλοσοφίαν ἀπολίτευτον προελόμενος, καὶ τῆς φιλανθρωπο‐ τάτης θρησκείας ἐναγούσης εἰς ἦθος φιλόκοινον, ὑπήκουσά τε καλούμενος ὑφ’ ὑμῶν (...). 780 Ep. 41, GARZYA/ROQUES 45. 781 Ep. 41, GARZYA/ROQUES 51: Θεωρία τέλος έστὶν ἱερωσύνης μὴ ψευδομένης τὸ ὄνο‐ μα, θεωρία δὲ καὶ πρᾶξις οὐκ ἀξιοῦσι συγγίνεσθαι. (...) σχολῆς δεῖ τῷ μετὰ φιλο‐ σοφίας ἱερατεύοντι. 782 Ep. 41, GARZYA/ROQUES 52; vgl. auch ep. 41, GARZYA/ROQUES 43–44, wo er die Relation von philosophischer Zurückgezogenheit und politischem Eingreifen in der Zeit vor der Bischofswahl schildert. 783 Ep. 41, GARZYA/ROQUES 52: Ἀλλ’ ὥσπερ οὐδὲ φιλόσοφος ἐγενόμην δημόσιος οὐδὲ θεατροκοπίαις ἐπεθέμην οὐδὲ διδασκαλεῖον ἤνοιξα (καὶ οὐδὲν ἧττον ἦν τε καὶ εἴην φιλόσοφος), οὕτως οὐδὲ ἱερεὺς δημόσιος εἶναι βούλομαι.
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der Philosoph das richtige und vollständige Wissen über den Kult, der den einzelnen Götterklassen entgegengebracht werden sollte.784 Jamblich läßt durch die Einbeziehung der Theurgie in den Weg des Philosophen zum Göttlichen den priesterlichen Charakter des Philosophen deutlicher hervortreten. Synesios’ Verknüpfung der beiden Identitäten hat somit eine starke Tradition im Neuplatonismus; neu wäre nur die Verbindung mit der christlichen Tradition. Dabei scheint Synesios mit der Betonung der θεωρία eher auf die Seite des Porphyrios zu gehören, da er den kultischen Aspekt zurücktreten läßt.785 Darin unterscheidet er sich markant von Julian, der gerade diesen Aspekt zum Mittelpunkt des priesterlichen Lebens erhoben hatte.786 Seine Einstellung zum Kult erhellt aus einem Brief an Theophilos. Ein Bischof hatte einem anderen den Besitz eines Kastells durch die Konsekration einer Kapelle darin streitig zu machen versucht. Die Kleriker der Umgebung sind von diesem procedere skandalisiert, empfinden aber große Scheu davor, die Meßgeräte aus der zwar unrechtmäßig, aber nichtsdestotrotz geweihten Kapelle zu entfernen. Für Synesios ist hingegen der Fall dank der Kriterien der Philosophie klar: Ich halte es für angemessen, daß der Aberglaube von der Frömmigkeit unterschieden werde. Denn er ist ein Frevel, der mit der Maske der Tugend angetan ist, den die Philosophie als dritte Art der Gottlosigkeit aufgespürt hat. Daher bin ich der festen Überzeugung, daß nichts heilig oder fromm ist, was nicht auf gerechte und fromme Weise geschieht. Deswegen also kam es mir überhaupt nicht in den Sinn, vor der genannten Weihe zu erschaudern. Denn die Vorstellungen der Christen sind ja auch nicht so geartet, daß das Göttliche gezwungen wäre, diesen telestischen Stoffen und Stimmen gleichwie irgendwelchen physischen Zugkräften Folge zu leisten (was wohl ein innerweltliches Pneuma erleiden dürfte), sondern so, daß sie den leidenschaftslosen und Gott verwandten Zuständen zu Gebote stehen.787
Die Philosophie bleibt der Maßstab, an dem rituelle Handlungen gemessen werden. Synesios gibt seine Quelle zwar nicht an, seine Ausführungen erinnern vor allem an die Dreiteilung der falschen Ansichten über die Götter in Platons Nomoi.788 Die Einordnung des Aberglaubens als Art der Gottlosigkeit findet sich auch bei Plutarch, jedoch ohne Dreiteilung;789 der Zusammenhang von Gerechtigkeit und Frömmoigkeit wird im Euthyphron790 dargelegt. Die Sprache erinnert 784 Porphyrios, De abstinentia II 49f; vgl. auch II 34. 785 Eher mit dem jamblicheischen Neuplatonismus wäre Ps.-Dionysios Areopagita zu vergleichen, der die Rolle des Sakraments stark in den Vordergrund stellt. Vgl. dazu LOUTH 1986. 786 S. o. 3.8.6. 787 Ep. 66, GARZYA/ROQUES 180: Ἐγὼ δὲ τὴν δεισιδαιμονίαν ἀξιῶ διαστέλλειν ἀπὸ τῆς εὐσεβείας· κακία γάρ ἐστιν ἀρετῆς προσωπεῖον περικειμένη, ἣν φιλοσοφία τὸ τρίτον οὖσαν τῆς ἀθεΐας εἶδος ἐφώρασεν. Ὀυδὲν οὖν ἱερὸν οὐδὲ ὅσιον ἥγημαι τὸ μὴ δικαίως τε καὶ ὁσίως γενόμενον. Οὔκουν ἐπῄει μοι πεφρικέναι τὴν λεγομένην καθίδρυσιν. Οὐδὲ γὰρ ἐστι τὰ τῶν Χριστιανῶν ὡς ἐπαναγκὲς εἶναι ταῖσδε ταῖς τελεστικαῖς ὕλαις τε καὶ φωναῖς ὥσπερ ὁλκαῖς τισν φυσικαῖς ἀκολουθῆσαι τὸ θεῖον (ὅπερ ἂν πάθοι πνεῦμα ἐγκόσμιον), ἀλλ’ ὥστε παρεῖναι ταῖς ἀπαθέσι καὶ ταῖς οἰκείαις τῷ θεῷ διαθέσεσιν. 788 Nomoi X, 885ff. 789 Vgl. ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 316, Anm. 55 zu ep. 66, der als Quellen zu dieser Stelle auf Adulatorius 66 c–d und De superstitione verweist. 790 Vgl. BREGMAN 1982, 170.
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stark an De insomniis.791 Der christliche Kult dürfe nicht so verstanden werden als würde durch das Ritual das Göttliche notwendig herabgezwungen werden. Entscheidend ist nicht das vollzogene Ritual als solches, sondern der Zustand der Seele, die es ausführt.792 Diese Konzeption ist parallel zu der in De insomniis geäußerten Theurgievorstellung, wo die theurgischen kathartischen Riten als sekundär nach der Einstellung der Seele eingestuft wurden.793 Synesios scheint demnach mit dem christlichen Kult ähnlich umzugehen, wie mit der Theurgie: nur richtig verstanden und mit dem richtigen Vorsatz ausgeübt, ist er annehmbar. Ein dritter Aspekt der bischöflichen Tätigkeit, neben Kontemplation und Kult, stellt die Predigt dar. Von Synesios sind zwei Predigten erhalten – die eine nur fragmentarisch. Beide Predigten zeichnen sich durch die Verwendung doppelbödiger Ausdrücke aus, die sowohl christlich als auch neuplatonisch verstanden werden können.794 In ihnen wendet Synesios somit dieselbe Methode an, die er in den Hymnen zur Darstellung der Jesusgeschichte angewandt hatte. Wie die Hymnen können sie als konkrete Umsetzung seines in ep. 105 geäußerten Grundsatzes, als mythologische Belehrung der großen philosophisch unbewanderten Masse, angesehen werden. Synesios übt sein Amt folglich explizit als Philosoph aus. Die Einblicke in sein Privatleben, die seine Briefe gewähren, zeigen ebenfalls die große existentielle Bedeutung der Philosophie für ihn in dieser Zeit. Er versucht weiterhin, die Beziehung zu Hypatia aufrechtzuerhalten und schreibt ihr bis zuletzt enthusiastische Briefe. Sie sei das einzige Gut, das ihm neben der Tugend verblieben wäre: Denn ich zähle Dich freilich zusammen mit der Tugend zu den unverletzlichen Gütern.795
Hypatia hat seine Briefe anscheinend nicht mehr beantwortet; in den Briefen 10 und 16, welche wahrscheinlich kurz vor seinem eigenen Tod geschrieben worden sind, klagt Synesios darüber, daß auch sie sich von ihm abgewandt habe, in der er gehofft hatte, in all seinen Schicksalsschlägen einen letzten Halt zu finden: Nun aber gehört auch das zu den schweren Schlägen, die mich getroffen haben: ich habe zugleich mit den Kindern meine Freunde, das Wohlwollen aller und, was das Größte ist, Deine göttlichste Seele verloren, von der ich hoffte, daß sie mir als einzige bleiben würde, stärker als die dämonische Bedrohung und die Fluten des Schicksals.796
791 Vgl. De insomniis 7 (Bewegungen des Seelenpneumas im All) und 12. ROQUES in GARZYA, ROQUES 2000, 316, Anm 56 zu ep. 66 sieht hier eine Verurteilung der Theurgie, zieht aber nicht die Parallele zum Traumbuch. 792 LACOMBRADE 1951b, 265 unterstreicht, daß diese vergeistigte Auffassung vom Kult letztlich zum Donatismus neigt und in Spannung zur orthodoxen Auffassung von der Wirksamkeit der Sakramente ex opere operato steht. 793 Vgl. De insomniis 8. 794 Vgl. die detaillierte Analyse bei BREGMAN 1982, 165ff. 795 Ep. 81, GARZYA/ROQUES 207: καὶ γὰρ δὴ καὶ σὲ μετὰ τῆς ἀρετῆς ἀγαθὸν ἄσυλον ἀριθμῶ. 796 Ep. 10, GARZYA/ROQUES 22: Νῦν δὲ ἕν τι καὶ τοῦτο τῶν χαλεπῶν ἐστιν ἅ με κατεί‐ ληφεν· ἀπεστέρημαι μετὰ τῶν παίδων καὶ τῶν φίλων καὶ τῆς παρὰ πάντων εὐ‐ νοίας καί, τὸ μέγιστον, τῆς θειοτάτης σου ψυχῆς, ἣν ἐγὼ μόνην ἐμαυτῷ ἐμμένειν ἤλπισα κρείττω καὶ δαιμονίας ἐπηρείας καὶ τῶν ἐξ εἱμαρμένης ῥευμάτων.
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Trotz des Vorwurfs ist ep. 10 in einem hingebungsvollen Ton geschrieben: Hypatia ist die δέσποινα μακαρία, die „glückselige Herrin“, und eine „überaus göttliche Seele“.797 Ein ähnliches Gepräge weist auch ep. 16 auf. Hypatia erscheint dort als μῆτερ καὶ ἀδελφὴ καὶ δισάσκαλε καὶ διὰ πάντων εὐεργετικὴ καὶ ἅπαν ὅ τι τίμιον ὄνομα καὶ πρᾶγμα.798 Synesios klagt ihr sein Leid, die Trauer um seine Söhne, wünscht ihr selbst Gesundheit und trägt ihr Grüße an die ganze Schule auf, auch an alle neu Zugestoßenen. Denn jeder, der Hypatia verehre, sei für ihn ein Freund, und er sei solchen für die Verehrung der geliebten Lehrerin Dank schuldig.799 Eines leisen Anflugs von Bitterkeit und Resignation angesichts ihres Schweigens kann er sich jedoch zum Schluß nicht erwehren: Wenn meine Angelegenheiten Dich etwas kümmern, so tust Du gut daran, wenn nicht, dann kümmert mich dieses überhaupt nicht.800
Die überragende Bedeutung der Hypatia ändert sich für Synesios auch in seiner Bischofszeit überhaupt nicht.801 Diese letzte Brief zeigt, daß er sich immer noch als Mitglied ihres Schülerkreises empfindet; die philosophische Gemeinschaft um die charismatische Persönlichkeit der Lehrerin bleibt für ihn bis zum Tod ein Referenzpunkt. Auch den Tod seiner Söhne versucht er, durch philosophische Überlegungen zu überwinden. Über den Tod seines ersten Sohnes spricht er kurz in der Rede an die pentapolitanischen Bischöfe anläßlich der Exkommunikation des Andronikos. Vor den Vertretern der christlichen Hierarchie bekennt er, daß er den Schmerz nicht einmal durch die Lehren der Philosophie habe besänftigen können.802 Damit läßt er erkennen, daß die Philosophie für ihn nicht nur die höchste Wahrheitsinstanz ist – wie im Brief 105 zur Bischofswahl deutlich geworden war –, sondern auch die wirksamste Trostgeberin.803 Dies zeigt sich in einem weiteren Brief nach dem Tod seines dritten Sohnes. Auch in dieser Situation „hilft ihm kein Bibelwort, sondern er greift nach Epiktet“804 und nach Euripides, um sich Trost zu verschaffen. Er eröffnet den Brief, in welchem er seinem Freund Asklepiodotos diesen letzten Schicksalsschlag mitteilt, mit einem Zitat aus Euripides’ Bellerophon: Weh mir. Warum denn wehe? Wir haben doch Sterbliches erlitten.805
797 798 799 800 801 802 803 804 805
Ebd. Ep. 16, GARZYA/ROQUES 26. Ebd., GARZYA/ROQUES 27. Ebd.: Τῶν ἐμῶν εἴ τί σοι μέλει, καλῶς ποιεῖς· καὶ εἰ μὴ μέλει, οὐδὲν ἐμοὶ τούτου μέλει. Anders VOGT 1985c, 89f: „Daraus ist nicht etwa eine Anwandlung von Trotz zu entnehmen, vielmehr das völlige Aufgehen des Jüngers in den Herzensregungen der Meisterin“. Vgl. BREGMAN 1982, 174. Ep. 41, GARZYA/ROQUES 47: οὔκουν οὐδὲ τοῖς ἐν φιλοσοφίᾳ δόγμασι τοῦ παρόντος πάθους ἐκράτησα (...). Vgl. BREGMAN 1982, 173f. WILAMOWITZ 1907, 288. Ep. 126, GARZYA/ROQUES 259: οἴμοι. Τί δ’ οἴμοι; Θνητά τοι πεπόνθαμεν.
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Synesios’ Verwendung dieses Zitates entspricht genau den Anleitungen, welche Plutarch in seiner Schrift De tranquillitate animi für den Fall des Todes von Freunden oder Verwandten gibt: Gegen das, was von Natur aus zu betrüben scheint, wie zum Beispiel Krankheiten und Mühen und den Tod von Freunden und Kindern (sollte man ) jenes Euripideswort (griffbereit halten): „Weh mir. Warum denn wehe? Wir haben doch Sterbliches erlitten.“806
Angesichts des Kontextes, in welchem das Zitat in De tranquillitate animi steht, wäre es wahrscheinlich anzunehmen, daß Plutarch Synesios’ Vorlage ist. In diesem Fall hätte man eine konkrete Illustration dessen, wie Synesios Trost in der Philosophie sucht: er greift zu philosophischen Werken über den Seelenfrieden, um sich Rat und Anleitung für sein eigenes Verhalten zu holen. Ähnlich paraphrasiert er auch den Grundsatz des Epiktet, daß alles, was nicht in der Macht des Menschen liegt, für diesen indifferent sei: Der dritte und letzte meiner Söhne ist nun dahingegangen. Aber der Lehrsatz davon, daß alles, was nicht in unserer Macht steht, weder gut noch schlecht ist, wird noch bei mir bewahrt, besser gesagt, war er früher zwar etwas theoretisch Erlerntes, nun aber wurde er zu einer festen Überzeugung einer in Notsituationen geübten Seele.807
Synesios’ Reaktion hat eine illustre Parallele in Boethius’ Trost der Philosophie.808 Für beide bleibt im Unglück die Philosophie die tragende Kraft, die zur Leidensbewältigung verhilft. Die religiöse Tradition, in die sie hineingeboren wurden, erscheint irrelevant; weder in Synesios’ letzten Briefen noch in Boethius’ letzten Meditationen treten spezifisch christliche Elemente auf.809 4.6. ZUSAMMENFASSUNG: SYNESIOS’ KONVERSION ZUR PHILOSOPHIE Die Hinwendung zur Philosophie während des Studiums bei Hypatia bewirkt für Synesios eine bleibende Änderung seiner Identität. Die Identität als Philosoph wird für sein weiteres Leben und Handeln zentral; man könnte mit TRAVISANO
806 Plutarch, De tranquillitate 475c: πρὸς δὲ τὰ φύσει δοκοῦντα λυπεῖν, οἷα νόσοι καὶ πό‐ νοι καὶ θάνατοι φίλων τε καὶ τέκνων, έκεῖνο τὸ Εὐριπιδεῖον (sc. πρόχειρον ἔχειν)· οἴμοι. Τί δ’ οἴμοι; Θνητά τοι πεπόνθαμεν. 807 Ep. 126, GARZYA/ROQUES 259: Ὁ τρίτος γε καὶ λοιπὸς οἴχεται τῶν υἱέων. Ἀλλὰ τό γε δόγμα τὸ περὶ τοῦ μηδὲν εἶναι τῶν οὐκ ἐφ’ ἡμῖν ἀγαθὸν ἢ κακὸν ἔτι παρ’ ἐμοὶ σώζεται, μᾶλλον δὲ πάλαι μὲν ἦν μάθημα, νυνὶ δὲ γέγονε δόγμα ψυχὴς ἐγγε‐ γυμνασμένης ταῖς περιστάσεσιν. Vgl. dazu TINNEFELD 1975, 176. 808 Die Rolle der Philosophie als Trostspenderin bei Boethius analysiert GRASMÜCK 1997, XIVff. Er parallelisiert Boethius und Synesios, indem er sein Vorwort mit einem Zitat aus dem IX. Hymnus des Synesios abschließt (XXXII). 809 Zwar spricht GRASMÜCK 1997, XXXI von einer „Symbiose von Neuplatonismus und Christentum“, er kann aber auch keine eindeutig christlichen Motive finden, sondern nur Stellen, die sich christlich wie neuplatonisch lesen lassen (s. XXVI, XXX). So kann mit GEFFCKEN 1920, 222 festgestellt werden: „In der Tat, Boethius ist ganz Neuplatoniker.“
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von einer ‚pervasiven‘ Identität sprechen.810 Diese Identität impliziert eine eigene Form von Religiosität, die als Religiosität der geistigen Elite über den Traditionen der Masse steht; die Philosophie erscheint als einzige Führerin zum Göttlichen. Die Analyse von Synesios’ Weltbild zeigt die Übernahme der neuplatonischen Metaphysik mit ihren verschiedenen Klassen von Göttern unter dem Nous und dem Einen. Anders als Julian schlägt Synesios jedoch nicht über diese Metaphysik die Brücke zu den heidnischen Göttern und ihren Kulten. Er übernimmt die Götterklassen nur als abstrakte, namenlose Prinzipien, nicht als Zeus, Athene oder Apollon. Christliche Elemente des Weltbildes lassen sich nur in den Hymnen finden; sie werden im Lichte der neuplatonischen Metaphysik interpretiert und in sein System eingegliedert. Ihnen kommt somit eine sekundäre Bedeutung zu. Die Bibel zitiert er nur in seiner Rolle als Bischof in öffentlichen Briefen und Predigten; vor der Bischofswahl zitiert er in seinem philosophischem Werk hingegen die Chaldäischen Orakel als göttlich inspirierte Autorität. Falls für ihn eine christliche Sozialisation angenommen wird, so bewirkt die Begegnung mit der Philosophie zwar keine Dekonversion vom Christentum, wohl aber eine markante Verschiebung des Christentums durch die neuplatonische Religiosität auf eine niedere Stufe, diejenige der nenomismena, der fürs Volk gültigen, für den Philosophen aber gleichgültigen und zu transzendierenden religiösen Traditionen. Der christliche Kult wird ähnlich behandelt wie die kathartischen Rituale der Theurgie, welche Synesios kennt und nicht ablehnt: entscheidend ist nicht das Ritual, sondern die Gesinnung. Diese Veränderung im Selbstverständnis und in der Religiosität des Synesios rechtfertigt es, in seinem Falle von einer religiösen Konversion zur Philosophie zu sprechen, die sich nicht nur in der Studierstube, sondern vor allem im Schülerkreis um Hypatia entwickelt, die als charismatische Lehrergestalt für ihn bis zum Tode eine signifikante Beziehungsperson bleibt. Durch die Korrespondenz mit ihr und seinen Kommilitonen behält Synesios seinen Status als Mitglied ihres Kreises und festigt seine Identität als Philosoph. Auch Synesios’ Konversion zur Philosophie kann als Annahme des neuplatonischen universe of discourse verstanden werden, der nicht zum Bruch mit dem christlichen universe of discourse führt, wohl aber dieses für sein religiöses Selbstverständnis und Selbstdarstellung irrelevant werden läßt. Anders als für Julian bedeutet die Bekehrung zur Philosophie für Synesios keine Entscheidung gegen das Christentum. Dieses spielt jedoch für für seine persönliche Identität und Religiosität keine Rolle, sondern wird als sekundär eingestuft, als eine Form der Religiosität, die für die große Masse zwar nützlich, für das philosophische Streben nach Gott und die Vereinigung mit ihm durch die Vernunft jedoch ohne Belang ist.
810 TRAVISANO 1981, 243.
5. SCHLUSSBETRACHTUNG: KONVERSION ZUM NEUPLATONISMUS ALS MÖGLICHKEIT RELIGIÖSER BEKEHRUNG IM 4. JAHRHUNDERT Die Analyse der Biographien von Julian und Synesios unter dem Aspekt der Konversion zur Philosophie hat sich insofern als fruchtbar erwiesen, als der Blick von der üblichen Frage nach der Konversion zum Christentum oder zum Heidentum gelöst wurde und andere Entwicklungen und prägende Identitätsveränderungen sichtbar gemacht werden konnten. Anstelle bei Julian die übliche Frage der Bedeutung und Reichweite seiner Konversion zum Polytheismus und den heidnischen Kulten zu diskutieren oder im Falle des Synesios die Debatte wieder aufzurollen, ob er nun bekehrter Heide oder geborener Christ gewesen sei, konnte gezeigt werden, daß die Beschäftigung mit der neuplatonischen Philosophie sowohl für ihre Religiosität als auch allgemein für ihre Biographie bestimmend war und als zentrale Konstante angesehen werden muss. Ihre Lebensläufe weisen bestimmte gemeinsame Muster auf, die jenseits der Unterschiede in ihrer öffentlichen kultischen Einbindung als Heide bzw. als Christ liegen und es gerechtfertigt erscheinen lassen, sie als Vertreter eines eigenständigen Konversionstypus anzusehen, auch wenn die Dramatik einer Konversion à la Paulus fehlt. Die Philosophie führt sowohl für Julian als auch für Synesios zu einem Bruch mit der Vergangenheit, obwohl dieser Bruch nicht ausgiebig thematisiert wird. Zum einen handelt es sich um eine lebenspraktische Veränderung: Julian spricht davon, daß er bei Maximus erst lernen mußte, seinen Charakter zu disziplinieren und ungeordnete Triebe zu bändigen; Synesios läßt in seinen Briefen deutlich werden, daß er als Philosoph die Ämterlaufbahn ablehnt und so in Kontrast zu seinen Verwandten steht. Im IX. Hymnus findet sich eine Absage an die weltlichen Werte. Am ehesten greifbar ist die Veränderung des Weltbildes und der Religiosität. Die neuplatonische Philosophie bietet ihr besonderes Gottes-, Welt- und Menschenbild; sie gibt Verhaltensweisen und Methoden vor, durch welche ihr Ziel, die Vereinigung mit dem Göttlichen, erreicht werden kann. Dies allein begründet bei Synesios eine eigenständige Religiosität: die Philosophie ist für ihn der direkte Weg zu Gott, der durch Vernunftbeweise zur Wahrheit führt und über den religiösen Traditionen steht. Julians Philosophieverständnis wird durch die verstärkte Einbeziehung der Theurgie erweitert, die Synesios anerkennt, aber als peripher ansieht. Sowohl Julian als auch Synesios gelangen in ihrer Jugend zur Philosophie, als Abschluß des konventionellen Bildungsweges. Die literarische Bildung wird daher nicht negiert, sondern in die Philosophie eingegliedert. Sowohl Julian als auch Synesios vertreten in ihren Werken die Zugehörigkeit von Bildung und Philosophie und verteidigen dieses Modell gegen radikalere Philosophen, welche beide gegeneinander ausspielen, wie etwa die Kyniker oder sogar bestimmte Neuplatoniker.
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Hinsichtlich der Konversion muß die überragende Bedeutung charismatischer Lehrerpersönlichkeiten konstatiert werden. Maximus und Hypatia erscheinen in den Quellen als eindrucksvolle Persönlichkeiten mit besonderer Ausstrahlung, zu denen Julian bzw. Synesios ein enges Verhältnis entwickeln. Die Bedeutung solcher Persönlichkeiten für die Konversion, von RAMBO zu Recht hervorgehoben,1 wird deutlicher, wenn man Julian und Synesios mit Augustin vergleicht. Dieser beschreibt zwar, wie er im jugendlichen Alter durch die Lektüre des Hortensius quasi im Alleingang für die Philosophie begeistert wird und sich zunächst auch autodidaktisch philosophisch weiterbildet, aber er entwickelt in dieser Zeit dennoch keine bleibende Identität als Philosoph. Erst die Begegnung mit den mailändischen christlichen Neuplatonikern läßt ihn den Schritt zur philosophischen Konversion vollziehen und den zehn Jahre früher begonnenen Prozeß vollenden.2 In beiden Fällen erscheint neben der Lehrerpersönlichkeit die Schulgemeinschaft als wichtiger Faktor für die Entwicklung und Konsolidierung der Identität als Philosoph. Julian bzw. Synesios werden durch ihr Studium in diese hineinsozialisiert und entwickeln enge Beziehungen zu verschiedenen Mitgliedern dieser Kreise. Diese Kontakte werden durch Korrespondenz aufrechterhalten; dadurch bestätigen sich die Korrespondenten gegenseitig ihre Identität als Philosophen. Die Philosophen-Netzwerke, die sich daraus ergeben, können bei Bedarf eingesetzt werden: Synesios kann von Herkulianos Hilfe für ein politisches Amt erhalten, Julian bittet Themistios um sein Eintreten vor Konstantius, bestellt Philosophen als Berater an den Hof und setzt sie als Oberpriester ein. Neben der ideellen Zugehörigkeit zur philosophischen Tradition steht immer die Zugehörigkeit zu einer konkreten Gruppe. Die große Rolle, die LOFLAND/STARK3 oder STARK4 sozialen Bindungen für eine Konversion zuweisen, bestätigt sich nicht nur für deviante Randgruppen, sondern auch für diese beiden Fälle der upper class Konversion zur Philosophie. Für Julian wie für Synesios wird in ihrer Selbstdarstellung die Philosophie zur zentralen Identität, von welcher ausgehend die eigene Biographie interpretiert und strukturiert wird, mit TRAVISANO gesprochen, zum informing aspect ihrer Biographie.5 Bei Julian teilt sich die Philosophie diesen Rang mit dem Sendungsbewußtsein als Kaiser und Reformator des Reiches, welches sich in der Auseinandersetzung mit Konstantius entwickelt; sie prägt jedoch seine Konzeption dieser Rollen und erscheint als der eine rote Faden in seiner Biographie von 351 über seinen Aufstieg zur Macht bis hin zum Tode in Persien. Bei Synesios kann die Philosophie allein als informing aspect seines Auftretens angesehen werden. Der verwendete identitätsbezogene Konversionsbegriff, der eine systematische Untersuchung der biographischen Rolle der Philosophie erforderte, konnte die Komplexität dieser Rolle und die vielfältigen Ebenen der Philosophie und ihrer individuellen Aneignung durch Julian und Synesios deutlich werden lassen 1 2 3 4 5
S. RAMBO 1987 und 1993, 66ff. Vgl. Augustin, Confessiones III,4 und De beata vita 4. S. o. 18. S. o. 18. S. o. 19ff.
Schlußbetrachtung
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und somit zu einem tieferen Verständnis ihrer Persönlichkeit führen. Die systematische Analyse der Berichte zum Philosophiestudium und zur Konversion Julians läßt erkennen, daß die Philosophie, so wie sie ihm von Maximus vermittelt wurde, für ihn eine umfassende Bedeutung bekommt, die sich nicht mit PRAECHTER6, BOWERSOCK7 oder ATHANASSIADI8 auf die heidnische Komponente, auf die Entdeckung der heidnischen Götter und ihres Kultes als Substitut für das für ihn seit seiner Kindheit negativ besetzte Christentum reduzieren läßt. Philosophie bedeutet bei Julian mehr als nur die vielbeschworenen ‚neuplatonischen Mysterien‘ der Theurgie. Neben dem richtigen Wissen über die Götter betont er vor allem die Bedeutung der philosophischen Ethik und versucht, diese als Privatmann wie als Caesar und Augustus in seinem Handeln umzusetzen. Jedoch darf auch nicht mit R. SMITH9 im Bestreben, dies zu unterstreichen, ein Gegensatz zwischen ‚abstrusem Neuplatonismus‘, der Julians private Religiosität bestimme, und einer weiteren, die Ethik einbeziehenden, dem common sense der gebildeten Elite des Reiches entsprechenden Philosophiekonzeption, die sein öffentliches Handeln präge, aufgebaut werden: Ethik wie Theologie und Theurgie sind die beiden Seiten derselben Medaille, zwei Aspekte desselben Unterrichtes bei Maximus. Die Untersuchung der synesianischen Schriften im Hinblick auf die Bedeutung und den Inhalt der Philosophie führte ihrerseits dazu, in seinem Leben verschiedene Aspekte der Philosophie zu unterscheiden: neben der philosophischen Theologie bzw. Weltdeutung und Ethik, die Synesios’ Verhalten z. B. hinsichtlich politischer Betätigung regelt, wurde auch deutlich, daß er der Theurgie keineswegs durchweg ablehnend gegenüberstand, sondern sie durchaus zur Kenntnis nahm und ihr sogar, ähnlich wie Porphyrios, eine begrenzte Wirksamkeit und einen gewissen Nutzen zuerkannte. Dies läßt das verbreitete Bild des rationalen porphyrianischen Antitheurgikers wanken und läßt erahnen, daß der Unterricht bei Hypatia neben Mathematik und Astronomie durchaus auch andere, ‚irrationalere‘ Aspekte hatte, wie CAMERON/LONG, wenngleich mit anderen, größtenteils hypothetischen Argumenten, suggerieren.10 Der systematische Vergleich zwischen Synesios und Julian, zweier Exponenten der pergamenischen bzw. alexandrinischen Schule, relativiert grundsätzlich die Antithese, die die Lektüre der jeweiligen Spezialforschung zu Julian bzw. Synesios zwischen diesen Schulen und zwischen ihren Lehrern auf den ersten Blick suggeriert. Die an W. C. SMITH angelehnte Differenzierung zwischen individueller „Religiosität“ einerseits und „religiösen Traditionen“ andererseits11 hat sich als präziseres Instrumentarium für die Analyse bewährt. Insbesondere im Falle des Synesios half dies, das die Forschung prägende Dilemma der Verortung des Synesios zwischen Philosophie und Christentum befriedigend zu lösen. BREGMANS Versuch, Neuplatonismus und Christentum als zwei grundsätzlich verschiedene Religionen 6 7 8 9 10 11
S. o. 27. S. o. 62. S. o. 63f. S. o. 63. S. o. 184. S. o. 16.
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gegenüberzustellen,12 erkennt zwar den religiösen Charakter des ersteren an, sieht sich jedoch vor dem Problem, die christlichen Elemente bei Synesios entweder zu ignorieren oder in komplizierter Interpretation letztlich nur als sekundäre Anpassung an das Christentum zu verstehen. Falls das „Haus des Hesychios“ mit seiner christlichen Inschrift nun doch Synesios’ Familiensitz gewesen sein sollte, würde diese Konstruktion zusammenfallen. Der andere Lösungsweg, den MARROU eröffnet hat,13 versucht, die eigenständige religiöse Relevanz der Philosophie herunterzuspielen und Philosophie immer als untergeordneten Aspekt innerhalb einer „Religion“, im Falle des Synesios dem Christentum, zu verorten. Diese Lösung wurde in der neueren Forschung bevorzugt, da diese von einer christlichen Sozialisation des Synesios ausging und so die christlichen Elemente in seinem Werk befriedigend und vor allem eleganter, weil einfacher, erklären konnte. Sie führt aber wiederum dazu, den Großteil seiner Äußerungen, die ein ‚reines‘ neuplatonisches Weltbild ohne christliche Zusätze und manchmal im Widerspruch zu zentralen christlichen Vorstellungen implizieren, nicht zu beachten. Eine extreme Variante dieser Position ist SCHMITTS Reduktion der Bekehrung zur Philosophie für Synesios auf die Abwendung von der Reichspolitik, bei gleichzeitiger Annahme, daß über Synesios’ Religiosität in der neueren Forschung Klarheit geschaffen worden und seine eindeutig christliche Verortung festgestellt worden sei.14 Wenn nun der Begriff „Religion“ fallen gelassen wird, der verschiedene Bedeutungsebenen – individuelle Religiosität wie überkommene religiöse Systeme und Institutionen – umfaßt und somit die Grenze zwischen ihnen verwischt, dann können verschiedene Komponenten der synesianischen Religiosität herausgearbeitet und vor allem in das richtige Verhältnis zueinander gerückt werden. Es kann dann zum einen mit der neueren Forschung angenommen werden, daß Synesios wahrscheinlich in einem christlichen Milieu sozialisiert ist. Das Christentum wäre die religiöse Tradition, der er angehört. Jedoch impliziert die formelle Zugehörigkeit zu einer Tradition nicht, daß diese die komplette Religiosität des betreffenden Individuums bestimmt. Die überragende Bedeutung der neuplatonischen Philosophie als Weg der Seele zum Göttlichen, als Theologie, Ethik, Soteriologie, die in einer konkreten Gemeinschaft, Hypatias Schule, gepflegt wird, kann als Zeichen einer Konversion zur Philosophie interpretiert werden, die für Synesios’ Religiosität, für seine innersten Überzeugungen und für seine Lebensgestaltung bestimmend wird. Allerdings ist damit eine andere Ebene als die der religiösen Traditionen erreicht: Synesios kann formal Christ bleiben, wobei das Christentum von der neuplatonischen Philosophie an die Peripherie seiner religiösen Identität gerückt wird. So erklärt es sich, daß Synesios auch als Bischof in erster Linie neuplatonischer Philosoph bleibt und keine Bekehrung oder wie auch immer geartete Entwicklung von der Philosophie zum Christentum postuliert werden muß. Τὰ μὲν οἴκοι φιλοσο‐ φῶ, τὰ δ’ ἔξω φιλόμυθός εἰμι διδάσκων, die Formel, die Synesios für seine Einstellung zu den christlichen Dogmen prägt, deutet somit genau diese zwei unterschiedlichen Komponenten seines religiösen Lebens an. 12 S. o. 161. 13 S. o. 161f. 14 S. o. 162.
Schlußbetrachtung
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Diese begriffliche Unterscheidung ermöglicht es auch nicht nur, präzise zu untersuchen, wie die philosophische Religiosität beschaffen ist, sondern vor allem auch, wie sie sich zu den verschiedenen religiösen Traditionen ihres historischen Umfeldes verhält. Auch da wurden verschiedene Varianten festgestellt. Julians Bekehrung zur Philosophie ist mit der Bekehrung zu den heidnischen Kulten verbunden, während Synesios zwar ein neues Welt- und Gottesbild annimmt, aber kein Interesse am Kult hat, so daß er äußerlich durchaus innerhalb der christlichen Tradition bleibt. Deutlich wird dies z. B. an der Theologie ihrer Hymnen und an den Namen, die den göttlichen Wesen verliehen werden. Zwar bleibt das höchste Prinzip bei beiden namenlos, ohne Zuordnung zu einem konkreten Gott, wie etwa Zeus, und wird nur in neuplatonischer Terminologie als das Gute oder Eine beschrieben. Auch die intelligiblen Götter, die sowohl bei Synesios als auch bei Julian erwähnt werden, erhalten keine Namen. Auf der Ebene des Intellektualen, des Nous, werden die Unterschiede deutlich. Der intellektuale Helios, der als Sproß des Guten, des höchsten Prinzips, die intellektuale und materielle Welt formt und regiert und ihr die Wohltaten, die Energie des Höchsten zukommen läßt, der die Welt nicht nur durchwaltend erhält, sondern in einem ewigen Prozeß auch die Seelen wieder in ihre geistige Heimat aufsteigen läßt, hat denselben Charakter und dieselbe Funktion im philosophischen System wie die dritte Hypostase der synesianischen Trias, die bei diesem als „Sohn“ des höchsten Prinzips bezeichnet wird. Beide können als Personifikation des Nous angesehen werden, der auch Funktionen der sowohl bei Julian als auch bei Synesios zurücktretenden Weltseele übernimmt. Nur wird diese Hypostase von Julian als König Helios besungen und in das alte Pantheon eingeordnet, während sie bei Synesios keinen Eigennamen erhält und lediglich über bestimmte Epitheta oder durch Anspielungen auf die Jesusgeschichte mit dem christlichen Gottessohn verbunden wird. Dieser wird allerdings seinerseits durch verschiedene Anspielungen mit mythischen Gestalten des Heidentums, vor allem Herakles, aber auch Attis, gleichgesetzt. Christliche und heidnische Geschichten werden gleichermaßen zu einer einzigen mythologischen Ebene verschmolzen, die der abstrakten philosophischen Entität als mythologisches Pendant gegenübergestellt wird. Auch bei der Darstellung der in die Materie gefallenen Seele entscheidet sich Julian für die explizite Verbindung mit heidnischen Mythen und Kulten, während Synesios die chaldäische Seelenlehre in abstrakter Terminologie gepaart mit Anspielungen auf christliche wie heidnische Mythen präsentiert. Diese unterschiedliche Akzentsetzung läßt sich zum einen aus den unterschiedlichen Spielarten des Neuplatonismus erklären, denen sie begegnen. Zum anderen spiegelt der Anklang, den diese Systeme bei Julian respektive Synesios finden, Unterschiede in der Persönlichkeit wider: Julian reicht die meditative Heilssuche à la Plotin nicht aus, sondern er sucht darüber hinaus das Ritual als Möglichkeit des konkreten Kontaktes mit dem Göttlichen, während Synesios in der Tradition des Porphyrios seine Hymnendichtung als Kult versteht. Daher integriert Julian auch die verschiedenen Traditionen des Heidentums – öffentliches Opfer, Mysterien, Tempel- und Götterbilder – in seine Religiosität, allerdings interpretatione philosophica. Julian und Synesios weisen somit in ihrem Auftreten
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als Priester Gemeinsamkeiten wie entscheidende Unterschiede auf. Beide predigen, indem sie die Traditionen, die sie vertreten müssen, aus philosophischer Perspektive auslegen. Synesios übernimmt das Amt jedoch ungern und sieht eine Diskrepanz zwischen ihm und der Philosophie. Seine Bedenken, daß die politischen und sozialen Aufgaben des Bischofs die für die philosophische Kontemplation notwendige Muße zerstören, sind in seine ambivalente Einstellung zur Politik einzuordnen und sind parallel zu Julians ablehnender Haltung angesichts seiner Ernennung zum Caesar zu sehen. Allerdings gehen Synesios’ Bedenken weiter und betreffen auch die religiöse Seite des Bischofsamtes: anders als der Philosoph müßte der Priester öffentlich die hergebrachten traditionellen Vorstellungen und Kulte verkörpern, die oft im Widerspruch zu den philosophischen Wahrheiten stünden. Daher übernimmt er das Amt nur unter dem Vorbehalt, seine philosophischen Standpunkte weiterhin vertreten zu dürfen. Diese Diskrepanz zwischen heidnischer Tradition und Philosophie fehlt bei Julian völlig; die Priester sollen im Tempel philosophieren und nach den alten Gesetzen die Verehrung der Götter vollziehen. Das Amt des pontifex ist für ihn nicht eine lästige Pflicht, sich auf die mythologisch-kultische Ebene zu begeben, der er privat als Philosoph distanziert gegenüberstehen würde, sondern göttlicher Auftrag, den alten Kult im Reich wiederherzustellen. Der Kult hat nicht sekundäre Bedeutung, sondern ist – im Sinne der Philosophie interpretiert – ein zentraler Bestandteil seiner Religiosität. Das Studium der Philosophie ist für Julian und Synesios somit nicht nur eine weitere Etappe ihrer Sozialisation, sondern führt sie, mit MEAD gesprochen,15 in ein neues universe of discourse ein, welches für sie existentiell bestimmend wird. Ihr verdanken sie einen zentralen Aspekt ihrer Identität; aus ihrer Tradition schöpfen sie Trost in schwierigen Situationen. Die Tatsache, daß sie zur Philosophie nicht aufgrund einer existenziellen Krise, sondern über den normalen Bildungsweg finden und die Kontinuität zu diesem betonen, darf nicht dazu verleiten, im Philosophiestudium nur eine lineare Fortsetzung ihrer vorangehenden Sozialisation zu sehen. Am ehesten könnte man ihre Konversion zur Philosophie mit STENGERS Begriff der „sekundären Sozialisation“ umschreiben.16 Ihre religiösen Biographien weisen den hohen Grad an Individualität und Flexibilität auf, den die von STENGER beschriebenen modernen Konversionen im New-Age-Bereich zeigen. Dies zeigt wiederum, daß individuelle religiöse Konstrukte, die mit den verschiedenen Angeboten religiöser Traditionen souverän operieren, keine Erfindung der Neuzeit, sondern eine Konstante der Religionsgeschichte sind. Die Konversion zur Philosophie, welche NOCK hauptsächlich anhand protreptischer Texte skizziert hatte, erweist sich somit darüber hinaus als brauchbare Kategorie für die Untersuchung spätantiker Religiosität – wenn auch nicht ganz im Sinne NOCKS. Sie eröffnet eine Perspektive, die es ermöglicht, bestimmte Identi15 S. o. 23f. 16 STENGER 1998, 196: „Zum anderen ist eine Konversion als nachhaltiger Wandel der Wirklichkeitsordnung auch ohne existenzielle Erschütterung im angedeuteten Sinne denkbar und soziologisch gesehen sogar die „alltäglichere“ Form, da Konversion in diesem Fall als Prozeß sekundärer Sozialisation zu verstehen ist.“
Schlußbetrachtung
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tätsstrukturen und Mechanismen der Konstruktion von Identität zu beleuchten. Die beiden untersuchten Fälle, die unterschiedliche individuelle Kombinationen von philosophischen Elementen und heidnischen wie christlichen Mythen und Kulten aufwiesen, zeigen, daß die philosophische Religiosität und Identität zu einem eigenständigen universe of discourse gehören, der von den einzelnen religiösen Akteuren auf verschiedene Weise mit anderen Diskursuniversen verbunden werden können. So verbindet Julian die philosophische Religiosität mit den heidnischen Mythen und Kulten, so daß seine Abwendung vom Christentum deutlich markiert wird. Synesios hingegen bleibt auch als Philosoph äußerlich höchstwahrscheinlich Christ, obwohl diese Identität von der philosophischen zunächst getrennt und für seine Religiosität irrelevant bleibt. Erst als Bischof muss er sich mit dem christlichen Kult beschäftigen, und auch da betont er dessen sekundäre Rolle, die ihn als Philosophen in seiner Religiosität nicht tangiert. Konversion als Wandel der religiösen Identität kann sich somit sehr wohl auch ohne äußerlich sichtbaren Bruch mit der alten Tradition vollziehen. Julian und Synesios zeigen, daß die Konversion zur Philosophie, welche NOCK vor allem anhand von Beispielen aus der klassischen, hellenistischen und frühkaiserlichen Zeit untersuchte, auch innerhalb des stetig enger werdenden religiösen Panoramas des vierten nachchristlichen Jahrhunderts eine lebendige mögliche Option bleibt. Sie bietet einen strukturierten Lebensentwurf und eine Religiosität, die nicht nur für professionelle Philosophielehrer sondern auch für weitere Kreise, wie die ‚Laienphilosophen‘ Julian und Synesios, existentiell relevant sind. Die Untersuchung hat gezeigt, daß gerade solche ‚Laienphilosophen‘, die in den Darstellungen zum Neuplatonismus aufgrund ihrer geringen Bedeutung für die inhaltliche Lehrentwicklung eine untergeordnete Rolle spielen, nicht als bloße Dilettanten abgetan werden dürfen, sondern eine wichtige Rolle innerhalb der Philosophen-Netzwerke des Neuplatonismus spielen. Mögen sie für den Philosophen, der an der Entwicklung des neuplatonisches Lehrgebäudes interessiert ist, keine große Bedeutung haben – für den Historiker und besonders für den Religionshistoriker der Spätantike sind sie wichtig, da in ihren Biographien die abstrakten Ideen und Prinzipien des Neuplatonismus individuelle und gesellschaftliche Relevanz bekommen und sie somit einen bedeutenden Aspekt zwar nicht der philosophischen Ideengeschichte, wohl aber der Philosophie als eines konkreten Phänomens der Spätantike darstellen. Bei der religionsgeschichtlichen Untersuchung dieses Phänomens kann die Ausklammerung des Religionsbegriffes zugunsten einer differenzierten Terminologie ein nützliches Instrument sein. Sie öffnet den Blick für die vertiefte Untersuchung der Religiosität einzelner Gestalten, ohne von der selbstverständlich anmutenden überkommenen Grenzziehung zwischen den einzelnen religiösen Traditionen auszugehen und diese gleich in die dadurch vorgegebenen Bereiche einzuordnen. Durch eine solche am Individuum orientierte Arbeitsweise könnte der Komplexität der Spätantike als Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter besser Rechnung getragen werden. Es wäre eine lohnende Aufgabe zu untersuchen, inwiefern die philosophische Religiosität, die hier als explizite oder stillschweigende Alternative zum Christentum im vierten Jahrhundert untersucht wurde, im Laufe der Geschichte in Byzanz und im Abendland weiter-
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lebt oder untergeht. Für die Spätantike wäre als Pendant zu dieser Arbeit die Untersuchung der Rolle der Philosophie im Leben christlicher Neuplatoniker wie etwa Augustin heranzuziehen, um das Bild zu vervollständigen.
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Zum Verhältnis von Staatsgewalt und christlicher Kirche zwischen dem 1. Konzil von Nicaea (325) und dem 1. Konzil von Konstantinopel (381) 2003. 251 S., kt. ISBN 978-3-515-08247-1 Ruth Stepper Augustus et sacerdos Untersuchungen zum römischen Kaiser als Priester 2003. 275 S., kt. ISBN 978-3-515-08445-1 Alessandro Barchiesi / Jörg Rüpke / Susan Stephens (ed.) Rituals in Ink A Conference on Religion and Literary Production in Ancient Rome held at Stanford University in February 2002 2004. VIII, 182 S., kt. ISBN 978-3-515-08526-7 Dirk Steuernagel Kult und Alltag in römischen Hafenstädten Soziale Prozesse in archäologischer Perspektive 2004. 312 S. m. 6 Abb., 26 Plänen u. 12 Taf., kt. ISBN 978-3-515-08364-5 Jörg Rüpke Fasti sacerdotum Die Mitglieder der Priesterschaften und das sakrale Funktionspersonal römischer, griechischer, orientalischer und jüdisch-christlicher Kulte in der Stadt Rom von 300 v. Chr. bis 499 n. Chr. Teil 1: Jahres- und Kollegienlisten Teil 2: Biographien Teil 3: Beiträge zur Quellenkunde und Organisationsgeschichte / Bibliographie / Register 2005. 3 Bde. m. insg. 1.860 S. + CDROM, geb. ISBN 978-3-515-07456-8 Annette Hupfloher (Hg.) Heiligtum und Kultpraxis im kaiserzeitlichen Griechenland [in Vorbereitung] ISBN 978-3-515-08263-1 Dorothee Elm von der Osten / Jörg Rüpke / Katharina Waldner (Hg.) Texte als Medium und Reflexion von Religion im römischen Reich
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2006. 260 S., kt. ISBN 978-3-515-08641-7 Clifford Ando / Jörg Rüpke (Hg.) Religion and Law in Classical and Christian Rome 2006. 176 S., kt. ISBN 978-3-515-08854-1 Corinne Bonnet / Jörg Rüpke / Paolo Scarpi (Hg.) Religions orientales – culti misterici Neue Perspektiven – nouvelles perspectives – prospettive nuove Im Rahmen des trilateralen Projektes „Les religions orientales dans le monde grèco-romain“ hrsg. unter Mitarb. v. Nicole Hartmann und Franca Fabricius 2006. 269 S. m. 26 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08871-8 Andreas Bendlin / Jörg Rüpke (Hg.) Form und Funktion religiöser Diskurse in der lateinischen Literatur des 1. Jahrhunderts v. Chr. 2008. ca. 200 S., kt. ISBN 978-3-515-08828-2 Virgilio Masciadri Eine Insel im Meer der Geschichten Untersuchungen zu Mythen aus Lemnos 2007. 412 S. mit 6 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08818-3 Francesca Prescendi Décrire et comprendre le sacrifice
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Les réflexions des Romains sur leur propre religion à partir de la littérature antiquaire 2007. 284 S., kt. ISBN 978-3-515-08888-6 Dorothee Elm von der Osten Liebe als Wahnsinn Die Konzeption der Göttin Venus in den Argonautica des Valerius Flaccus 2007. 204 S., kt. ISBN 978-3-515-08958-6 Frederick E. Brenk With Unperfumed Voice Studies in Plutarch, in Greek Literature, Religion and Philosophy, and in the New Testament Background 2007. 543 S. m. zahlr. Abb., kt. ISBN 978-3-515-08929-6 David Engels Das römische Vorzeichenwesen (753–27 v. Chr.) Quellen, Terminologie, Kommentar, historische Entwicklung 2007. 877 S., geb. ISBN 978-3-515-09027-8 Ilinca Tanaseanu-Döbler Konversion zur Philosophie in der Spätantike Kaiser Julian und Synesios von Kyrene 2008. 309 S., kt. ISBN 978-3-515-09092-6
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