V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration [1. Aufl.] 9783839425756

Nanna Heidenreich sets the history-making power of film and the art of migration against the apparent ahistoricity with

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German Pages 364 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Beredtes Schweigen, sichtbares Reden – die V/Erkennungsdienste des deutschen Ausländerdiskurses
1.1 Sagbares
1.1.1 ›Deutsch‹
1.1.2 ›Ausländer‹
1.1.3 Der deutsche Ausländerdiskurs
1.2 Sichtbares
1.3 Sagbares und Sichtbares
1.3.1 Das ›Drama der Repräsentation‹: Stereotype
1.3.2 Eine andere Schule des Sehens: Film/Kino
Filme sehen
Das Mehr der Filme
Geschichte und Geschichten – Spielfilme
Durcharbeiten
2. Hindurchgehen: Den Erzählungen Raum und Zeit geben
2.1 Die Zeit überwinden wollen und Verbrechen begehen können
2.2 Geschichte(n) erzählen
2.3 Genealogien generieren
2.4 Innenansichten
2.5 Verrückungen/Verrücktheiten
2.6 Zuhause unterwegs
2.7 Fußnoten
3. Un-/Sichtbarkeiten
3.1 Transparenz vs. Schleier. Ein Bilderstreit
3.2 Im Westen nichts Neues? Säkularisierung, die Erste
3.3 Das Kopftuch: Supplement und Mimikry
3.4 Bauchnabel statt Burka? Säkularisierung, die zweite
3.5 Überbelichtung/Unterbelichtung
3.6 Real, authentisch, echt?
3.7 Ins Bild setzen, aus dem Blick nehmen. Die Produktivität des Bilderverbots
3.7.1 Sehen und Gesehenwerden
3.7.2 Dazwischen
4. Oberflächen und Subkutanes: Blut, Sex, Haut(farbe)
4.1 An der Oberfläche
4.2 Unter der Oberfläche
5. Schluss: Die Perspektive der Migration
5.1 Vom Konsens zum Dissens
5.2 Angekommen: Postmigrantisches Kino
5.3 Im Werden
5.3.1 Opazität: Unsichtbar werden
5.4 Die Kunst der Migration
Bibliographie
Literatur
Filme/Video
Dank
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V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration [1. Aufl.]
 9783839425756

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Nanna Heidenreich V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration

Post_koloniale Medienwissenschaft | Ulrike Bergermann | Band 4

Nanna Heidenreich (Dr.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig im Studiengang Medienwissenschaften. Sie ist Ko-Kuratorin des Programms »Forum Expanded« bei der Berlinale. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Politik & Kunst/Kino, Bilderstreite, post_koloniale Medientheorie, Migration sowie Antirassismus.

Nanna Heidenreich

V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der Migration

Gedruckt mit Unterstützung der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig

Die vorliegende Arbeit wurde von der Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Marta Ricci, Manuela Schininá Umschlagabbildungen: Stills aus Cana Bilir-Meiers Film »Semra Ertan« (D/A 2013) Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2575-2 PDF-ISBN 978-3-8394-2575-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt E inleitung  | 9 1. B eredtes S chweigen , sichtbares R eden – die V/E rkennungsdienste des deutschen A usländerdiskurses  | 23 1.1  Sagbares | 23

1.1.1 ›Deutsch‹ | 34 1.1.2 ›Ausländer‹ | 40 1.1.3 Der deutsche Ausländerdiskurs | 45 1.2  Sichtbares | 54 1.3  Sagbares und Sichtbares | 61 1.3.1  Das ›Drama der Repräsentation‹: Stereotype  |  61 1.3.2  Eine andere Schule des Sehens: Film/Kino  |  69 Filme sehen | 70 Das Mehr der Filme  |  73 Geschichte und Geschichten – Spielfilme  |  76 Durcharbeiten | 82



2. H indurchgehen : D en E rzählungen R aum und Z eit geben  | 87

2.1  Die Zeit überwinden wollen und Verbrechen begehen können | 92

2.2  Geschichte(n) erzählen | 99 2.3  Genealogien generieren | 104 2.4  Innenansichten | 132 2.5  Verrückungen/Verrücktheiten | 147 2.6  Zuhause unterwegs | 154 2.7  Fußnoten | 164

3. U n -/ S ichtbarkeiten  | 171

3.1  Transparenz vs. Schleier. Ein Bilderstreit | 178



3.2  Im Westen nichts Neues? Säkularisierung, die Erste | 194



3.3  Das Kopftuch: Supplement und Mimikry | 198



3.4  Bauchnabel statt Burka? Säkularisierung, die zweite | 214

3.5  Überbelichtung/Unterbelichtung | 219

3.6  Real, authentisch, echt? | 229



3.7  Ins Bild setzen, aus dem Blick nehmen.

Die Produktivität des Bilderverbots | 245 3.7.1  Sehen und Gesehenwerden | 247 3.7.2 Dazwischen | 253

4. O berflächen und S ubkutanes : B lut , S ex , H aut ( farbe )  | 263



4.1  An der Oberfläche | 263





4.2  Unter der Oberfläche | 277

5. S chluss : D ie P erspektive

der

M igration  | 291



5.1  Vom Konsens zum Dissens | 291



5.2  Angekommen: Postmigrantisches Kino | 293

5.3  Im Werden | 302

5.3.1 Opazität: Unsichtbar werden | 305 5.4  Die Kunst der Migration  | 314

B ibliographie  | 325 Literatur | 325 Filme/Video | 357 D ank  | 363

Einleitung

No imagination helps avert destitution in reality, none can oppose oppressions or sustain those who ›withstand‹ in body or spirit. But imagination changes mentalities, however slowly it may go about this. Édouard Glissant1 Politische Subversion setzt kognitive Subversion voraus, Konversion der Weltsicht. Pierre Bourdieu2

›Ausländer‹ ist ein gleichermaßen problematischer wie hartnäckiger Begriff. Die zunächst rein juristische Kategorie wird beständig als soziale missverstanden und in Umlauf gebracht. Dieses zirkulierende Missverständnis bildet nun jene Aporie, aus der sich die Logik des ›deutschen Ausländerdiskurses‹ speist. Er ist als Gefüge von institutionellen Regelungen, sprachlichen Konventionen, Alltagspraktiken und Visualisierungen zu beschreiben, als eine Anordnung von Sichtbarkeiten, Unsichtbarkeiten, Sagbarkeiten und Schweigen, die ich mit dem Begriff der V/Erkennungsdienste zusammenfasse3. Die Tatsache, dass mittlerweile eine Reihe von anderen Begriffen in Gebrauch genommen wurden, etwa ›Migrationshintergrund‹, ›migrantisch‹, oder ›türkisch-deutsch‹ und andere sogenannte Bindestrich-Identitäten, spiegelt zwar gewisse Veränderungen im Diskursraum, sie alle tragen jedoch weiterhin die Last des deutschen Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrechts, die beide kontinuierlich auf



1 Édouard Glissant: Poetics of Relation, übersetzt von Betsy Wing, Ann Arbor 1999. 2 Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, übersetzt von Hella Beister, Wien 2005 [1987], S. 131. 3 Siehe auch Nanna Heidenreich: »Von Bio- und Anderen Deutschen. Aspekte der V/Erkennungsdienste des Deutschen Ausländerdiskurses«, in: Martina Tißberger/Gabriele Dietze/Daniela Hrzán, Jana Husman-Kastein (Hg.): Weiß – Weißsein – Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus / Critical Studies on Gender and Racism, Frankfurt/M. 2006, S. 203–218.

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Exklusion abstellen. Dass die Rede vom ›Nichteinwanderungsland‹ durch ›Zuwanderung‹ abgelöst wurde, stellt daher lediglich eine graduelle Verschiebung dar. Migration wird in Deutschland mit der »Suggestion der Geschichtslosigkeit«4 behandelt; so setzt (west-)deutsche Migrationsgeschichte offiziell immer erst mit dem Abschluss des ersten sogenannten Anwerbeabkommens ein, das 1955 mit Italien unterzeichnet wurde, und privilegiert damit unkritisch die Perspektive staatlicher Regu­ lationspolitiken gegenüber existierenden Migrationsbewegungen. Die Vorstellung von Voraussetzungslosigkeit steht dabei in Verbindung mit der vermeintlichen Unaussprechlichkeit von ›Rasse‹ im Deutschen, die eben auch die Sagbarkeit von ›Ausländer‹ begründet und die auch die Verwendung des Begriffs ›Rassismus‹ betrifft. Vor über zwanzig Jahren, kurz nach der deutsch-deutschen Vereinigung und im Kontext wachsender rassistischer Gewalt, den Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien und der anhaltenden ›Asyldebatte‹ nannte Ulrich Bielefeld diese Verbindung aus beständigem Sprechen-über und gleichzeitigem Nicht-Benennen-Wollen ein »beredtes Schweigen«.5 Und auch heute ist, trotz NSU-Morden und UNO-Rügen,6 von Rassismus selten die Rede – dafür umso mehr von Integration, Zuwanderung, deutscher Leitkultur, Ausländerkriminalität etc. Für Bielefeld begründete sich dieses unüberhörbare Schweigen, die verschweigende Geschwätzigkeit, im Gründungsmythos der Bundesrepublik, der auf der Vorstellung der Überwindung von Rassismus und dem Denken von ›Rasse‹ basiert. Diese Analyse wird u.a. durch Ghassan Hages Diagnose einer politischen Kultur ergänzt,





4 Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, S. 339. 5 Ulrich Bielefeld: »Das Konzept des Fremden und die Wirklichkeit des Imaginären«, in: ders. (Hg.): Das Eigene und das Fremde: Neuer Rassismus in der Alten Welt? Hamburg 1991, S. 97–128, hier S. 102. Dass ›Rasse‹ zugleich beredt und verschwiegen verhandelt wird, zeigt sich auch daran, dass ›Rasse‹ zwar im Vergleich zum englischen ›race‹ sprachlich und gesellschaftlich weitgehend delegitimiert ist, dass das Wort jedoch in Gesetzestexten selbstverständlich Einsatz findet, so auch im Grundgesetz. Siehe dazu Siegfried Jäger: »›Rasse‹ und aktuelle Ersatzbegriffe in der deutschen Gegenwarts-Gesellschaft«, Vortrag auf dem Workshop »Rasse«. Historische und diskursive Perspektiven im Zentrum für Literaturforschung der HU vom 4.-6.-11.2005, http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/ sjaeger-rasseersatzbegriffe.htm; zuletzt abgerufen am 25.09.2014. 6 Der ständige Ausschuss der UNO zur Überwachung der Antirassismuskonvention, CERD (Committee on the Elimination of Racial Discrimination), rügte Deutschland im Frühjahr 2013 anlässlich der Entscheidung der Berliner Staatsanwaltschaft, das Verfahren, das gegen Thilo Sarrazin aufgrund dessen rassistischer Äußerungen in einem Interview mit Lettre International 2009 angestrengt wurde, einzustellen. Der CERD empfahl u.a. »that the State party review its policy and procedures concerning the prosecution in cases of alleged racial discrimination« (CERD Communication 48/2010 (04.04.2013) / CERD/C/82/D/48/2010, S. 19, Punkt 14, Dokument zum Download verfügbar unter www2.ohchr.org/English/bodies/ cerd/docs/CERD-C-82-D-48–2010-English.pdf; zuletzt abgerufen am 12.09.2014).

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die er als »phallische Demokratie« bezeichnet. Demokratien werden darin zu einem Besitzstand, der gegen ›die Anderen‹ behauptet werden muss, die als nicht dazugehörig definiert werden7. So lässt sich auch das, was vermeintlich undemokratisch ist, auf jene Anderen auslagern: Rassismus gibt es nicht, nur kriminelle Ausländer (wie im Fall der NSU-Morde), (Homo-)Sexualität und Geschlechterungleichheit sind ebenfalls das Problemterrain ›anderer Kulturen‹ und Feminismus wird so zu einer Art Staatsanleihe, deren Deckung emanzipationsresistenten ›Ausländern‹ aufgebürdet wird. Die bekanntermaßen nicht nur von Herbert und Bielefeld formulierte Diagnose deutscher Geschichtsvergessenheit muss hier konkret um weitere Aspekte ergänzt werden, um die Kontinuitäten in der Migrationspolitik sowie im Staatsangehörigkeitsund Ausländerrecht. So sind sowohl die Regelungsinstrumentarien der Migration in der BRD seit den 1950er Jahren als auch die die ›Ausländer‹ betreffenden Gesetzgebungen durch die Wiedereinsetzung älterer Konzepte und Gesetze charakterisiert, etwa durch die Ausländerpolizeiverordnung von 1938 sowie die Konzepte der Rotation und des vorübergehenden Aufenthaltes, die bereits im Wilhelminischen Reich erprobt worden waren. Auch die Staatsangehörigkeit und damit die gesetzliche Regulierung von Bürgerschaft wird weiterhin durch die Parameter des im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 festgelegten ius sanguinis definiert, wenn auch seit 2000 um Elemente des ius soli erweitert (das sog. Optionsmodell). Vor allem aber hat das, was der Begriff ›Rasse‹ umfasst, die gesellschaftliche Welt nicht verlassen, vielmehr taucht das Wahrnehmungsfeld, an das er appelliert, in anderen Formen wieder auf.8 Diese anderen Formen regulieren unter anderem die Vorstellung einer ›Erkennbarkeit‹, der Sichtbarkeit von ›Ausländern‹. Diese V/Erkennung bildet den Ausgangspunkt meiner Arbeit. Sie lässt sich entlang eines Index verfolgen, der jene scheinbar stets gewussten und doch stets kontingenten Merkmale dieses Rassisierungsprozesses zusammenfasst. Ein Prozess, der mit Bill Nichols als indexical wham9 funktioniert und der beschreibt, dass und wie bestimmte Bildsorten als transparent, als »easily read off their surfaces«10 betrachtet werden. Dieser Index umfasst also jene visuellen (und







7 Ghassan Hage: »Warring Societies (and Intellectuals)«, in: Transforming Cultures eJournal, 1 (2006), http://epress.lib.uts.edu.au/journals/index.php/TfC/issue/view/14, zuletzt abgerufen am 05.10.2014. 8 Vgl. Colette Guillaumin: »Zur Bedeutung des Begriffs ›Rasse‹«, in: Nora Räthzel: Theorien über den Rassismus, Hamburg 2000, S. 34–42, hier S. 36–37. 9 Diesen Begriff hat Nichols in seinem Vortrag »Visible Evidence« bei der Society for Cinema Studies Konferenz in New Orleans am 13. Februar 1993 verwendet; zitiert wird er in Frank P Tomasulo: »›I’ll see it when I believe it‹: Rodney King and the Prison House of Video«, in: Vivian Sobchack (Hg.): The Persistence of History. Cinema, Television and the Modern Event, Abingdon/New York 1996, S. 69–88, hier S. 86, Anm. 10: »the indexical wham creates a strong tendency to assume such visuals are transparent, easily read off their surfaces.« 10 Tomasulo, ›I’ll see it‹, S. 71.

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anderen) markers11, mit denen diese V/Erkennbarkeit organisiert wird. In dieser Arbeit untersuche ich diese Markierungen und ihre Zirkulationen anhand von Spielfilmen. Dabei gehe ich von der (auch unter veränderten Bedingungen weiterhin) wesentlichen Rolle des Kinos für das gesellschaftliche Imaginäre aus; ebenso mache ich mir die intrinsische »Welthaltigkeit« von Film (Gertrud Koch12) zunutze: seine geschichtliche und geschichtsbildende Kraft. Die Welt enthält das Kino also nicht einfach als Abbild, sondern in der Spannung zwischen seiner Funktion als Erinnerungsmedium (als Medium kulturellen Gedächtnisses) und als Medium der Projektion möglicher Zukunft. Beide Funktionen sind nicht zu trennen von der engen Verknüpfung von Medien und Migration: die Konstitution transnationaler Räume ist medial bedingt, nicht nur vermittelt. Migrationsgeschichte ist auch Mediengeschichte (oder wäre als solche zu schreiben), Migrationsbewegungen sind stets auch so etwas wie Bewegungen einer medialen und technologischen Avantgarde gewesen. So waren die ›Gastarbeiter_innen‹ in der BRD mit die ersten, die VHS Rekorder und -Kameras im Gepäck hatten; Satellitenschüsseln zeugen ebenso von transnationaler Audiovisualität wie die Proliferation von DivX & Co, die man auch als eine alternative Form der Filmdistribution bezeichnen kann (und transnationale Kinematografien wie Bollywood und das Honk Kong-Kino sind erst durch Migration zu solchen geworden). Die angeblich ›undokumentierten‹ gefährlichen Passagen über das Mittelmeer werden von Videoclips begleitet, mit Handys und kleinen Kameras aufgenommen, die ihren Eingang wiederum in Musikvideos finden und eine Art eigenes Genre begründet haben (Stichwort: Harragas/Harga13). Aber auch schon die 16mm-Filme in den französischen Scopitones14









11 Ich entlehne den Begriff Gisela Ecker, die damit die Problematik der Un-/Sichtbarkeit des Jüdisch-Seins beschreibt, vgl. dies.: »No one would have guessed her race«: Der Körper als Zeichen in Texten jüdisch-amerikanischer Autorinnen, Paderborn 1994, S. 5. 12 Vgl. Gertrud Koch: »Filmische Welten – Zur Welthaltigkeit filmischer Projektionen«, in: Jo­achim Küpper/Christoph Menke (Hg.), Dimension ästhetischer Erfahrung, Frankfurt/M. 2003, S. 162–175. 13 Harga bezeichnet die Mittelmeerpassage von Nordafrika/dem Maghreb nach Europa. Diejenigen, die sich auf diesen Weg machen, werden Harragas genannt. Siehe dazu u.a. Merzak Allouaches Film Harragas (AL/F 2009), oder Boualem Sansals Roman Harraga (2007). Viele der Handy-Aufnahmen von der Mittelmeerpassage, aus dem Maghreb nach Europa finden wiederum Eingang in Musikvideos, in denen Harga inszeniert, reflektiert, kritisch hinterfragt aber auch dokumentiert und erzählt wird. Siehe dazu Heidrun Friese: »Y’al babour, y’a mon amour. Raï-Rap und undokumentierte Mobilität«, in: Marc Dietrich/Martin Seeliger (Hg.): Deutscher Gangsta-Rap Sozial- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu einem Pop-Phänomen, Bielefeld 2012, S. 231–284, sowie dies: Grenzen der Gastfreundschaft. Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage, Bielefeld 2014, S. 17, S. 183ff. 14 Scopitones waren eine Art Jukebox mit 16mm-Filmen. Auf deren Einsatz in maghrebinischen Cafés in Frankreich in den 1960er und 70er Jahren wurde ich durch die von Brigitta Kuster und Madeleine Bernstorff kuratierte Filmreihe »Kleine Pfade – Verschränkte Geschichten«

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visualisierten den Soundtrack der Migration, erzählten Geschichten der Migration, von Popmusik und Politik. Die ersten Migrationsgeschichten in Deutschland wurden in Romanen, Gedichten, in Pop-Musik15 und in Filmen aufgezeichnet. So rekurriere ich in dieser Arbeit insbesondere auch auf den Zusammenhang von Geschichte und Geschichten.16 Durch die die Migrationspolitik in Deutschland prägende Idee des vorübergehenden Aufenthalts, die Idee der kurzen Dauer (und des langjährigen Konsens des ›Nichteinwanderungslands‹) gab es, so mein Argument, über viele Jahrzehnte einen spezifischen Bedarf an Erzählungen, und einer Partizipation am Schreiben von Geschichte, der aufgrund des Ausschlusses aus der offiziellen Historiographie in Form einer Geschichte im Plural, als Geschichten erzählen realisiert wurde. Daher auch mein Fokus auf erzählte Filme – auf Spielfilme. Auch weil die Geschichten, die in den Geschichtsbüchern nicht auftauchten, anderweitig erzählt werden mussten, bestimmte das Format des Spielfilms die audiovisuelle Auseinandersetzung mit Migration. Umgekehrt werden Migrationsgeschichten filmisch erzählt, mit Bezug auf das Kino17, und es findet gerade im Blick auf das Kino der Migration eine stete Verwechslung von Realismus und Realität statt.18 Migration im Kino wird gerne als die Sache selbst diskutiert. So wird in der Rezeption für die fiktionale Darstellung eines gewalttätigen ›migrantischen‹ Jugendlichen, metaphorisch gesprochen, eine Fallakte angelegt: Die Filmfigur wird jenseits der Leinwand sozialarbeiterisch, juristisch und migrationspolitisch verhandelt, betreut und verurteilt.19 Hier geht es nicht einfach nur um Abbildung oder Dokumentation, Migration und Kino ist nicht nur ›Migration im Kino‹, vielmehr sind Kino und Migration ineinander impliziert. 20





2008 im Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin hingewiesen (http://www.hkw.de/de/ programm/projekte/veranstaltung/p_27171.php, zuletzt abgerufen am 12.09.2014). 15 Siehe die CD-Kompliation »Songs of Gastarbeiter – Vol.1«, zusammengestellt von Imran Ayata und Bülent Kullukcu, München 2013. 16 Siehe u.a. Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986. 17 Siehe u.a. Emine Sevgi Özdamar: »Gastgesichter«, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1 (2012), S. 175–180. 18 Siehe dazu Maja Figges Lektüre von Gertrud Koch: Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt/M. 1992, S. 240. Maja Figge: Zur visuellen Architektur weißer Angst: WUT als Medium der Kritik, erscheint in: Frauen und Film 67 (2015). 19 Siehe dazu Maja Figges Analyse der Rezeption von Züli Aladags Spielfilm Wut (2005) in Figge, visuelle Architektur. 20 Ulrich Meurer und Maria Oikonomou stellen auf eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen Kino und Migration ab und argumentieren: beide seien ›Welt‹, beide seien ›Moderne‹, beide seien Bewegung. Auch ihr Fazit lautet: »Migration ist Kino«. Ulrich Meurer/Maria Oikonomou: »Fremdbilder. Aspekte geographischer und medialer Bewegung«, in: dies. (Hg.): Fremdbilder. Auswanderung und Exil im internationalen Kino, Bielefeld 2009, S. 9–33.

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An dieser Stelle hat innerhalb des letzten Jahrzehnts jedoch auch eine signifikante Verschiebung eingesetzt, auf die ich in dieser Arbeit ausblickend eingehen werde. Sie ist im Zusammenhang mit Veränderungen im politischen und gesellschaftlichen, aber auch im theoretischen Gefüge zu sehen, die zum Teil mühsam erkämpft wurden: Die Politik des Nichteinwanderungslands Deutschlands hat sich zur – wenn auch nur in ökonomischen Parametern geäußerten – Erkenntnis eines Migrationsbedarfs gewandelt, Migrationsgeschichte(n) wird/werden vereinzelt in die offizielle Historiographie eingespeist,21 die nationale Fokussierung wird zunehmend durch das Migrationsregime der EU abgelöst, die transnationalen Gefüge neuerer Migrationsbewegungen lösen den Blick vom Fokus auf die west- wie ostdeutsche sogenannte Arbeitsmigration und das Denken in ›nationalstaatlichen Containern‹ und eröffnen neue Perspektiven; aus der Ausländerforschung wurde Migrationsforschung und aus dieser ging wiederum die kritische Migrations- und Grenzregimeforschung hervor; endlich hat sich auch eine deutschsprachige post_koloniale Kritik und Reperspektivierung entwickelt, die zum einen die deutsche koloniale Vergangenheit wieder einblendet, und deren kolonialrassistische Erbschaften thematisiert, und zum anderen auch eine andere Perspektive auf Geschichte und Gegenwart der Migration einfordert,22 indem sie u.a. die kolonialen Genealogien des Kapitalismus aufzeigt und nach- und neokoloniale Gefüge aufspürt, die heutige Migrationsbewegungen auslösen und konfigurieren. Dies alles scheint nun einherzugehen mit einer veränderten Bilderproduktion. Während noch vor gut einem Jahrzehnt im deutschsprachigen Raum23 die Zahl experimenteller Film- & Videoarbeiten, die sich mit Migration befassen, die Migration erzählen, zeigen, inszenieren oder denken, deutlich überschaubar war, hat sich die ›Kunst der Migration‹24







21 So z.B. 2009 in München mit dem Recherche- und Ausstellungsprojekt Crossing Munich, (http://www.crossingmunich.org/) oder den Routen der Migration 2012 in Berlin (http://kunstprojekte.de/vergangene-projekte/ausstellungsprojekte/route-der-migration/). Siehe dazu auch die Diskussionen um die »Musealisierung« von Migration, u.a. Joachim Baur: Die Musealisierung von Migration, Bielefeld 2009. 22 Vgl. Encarnación Gutiérrez Rodríguez: »Das postkoloniale Europa dekonstruieren. Zu Prekarisierung, Migration und Arbeit in der EU«, in: Wiederspruch 48 (2005), S. 71–83; sowie dies.: »Postkolonialität übersetzen. Über postkoloniale Verschränkungen und transversales Verstehen«, in: Transversal (06.2006), http://eipcp.net/transversal/0606/gutierrez-rodriguez/ de; zuletzt abgerufen am 15.09.2014. Nicht umsonst lautet auch der Untertitel des für post_ koloniale Kritik im deutschsprachigen Raum wegweisenden Bandes Spricht die Subalterne Deutsch? (Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Hito Steyerl (Hg.), Münster 2003): »Migration und postkoloniale Kritik«. 23 Dies ist zugegeben eine unbeholfene verbale Hilfskonstruktion. Es wäre unsinnig, hier von ›deutschen‹ Filmen und Videos zu sprechen, da der Korpus, auf den ich mich beziehe, in keiner Hinsicht national zu vereindeutigen ist, weder hinsichtlich der Finanzierungen und Produktionsbedingungen und -kontexte noch hinsichtlich der Sprache, des Rezeptionsraums und schon gar nicht hinsichtlich der Nationalität der Künstler_innen und Filmemacher_innen.

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in Form und Inhalt einzelner Arbeiten wie in Ausstellungsprojekten sichtlich vervielfältigt. Diese Verschiebung ist hierzulande jedoch nicht ohne die Narrativierung und Fiktionalisierung der Thematik durch und in den Spielfilme der vorausgehenden Jahrzehnte zu denken und steht zugleich im Kontext eines neuen postmigrantischen Kinos (und teilweise im Kontrast dazu). Die (Spiel-)Filme inszenieren einerseits die Logik des Ausländerdiskurses und machen sie damit sichtbar, das hierfür spezifische Verhältnis von Sag- und Sichtbarkeit also beschreib- und analysierbar. Filme verfügen aber stets über einen Überschuss, eine Unbestimmtheit, die die Grenzen dieser Logik überschreiten, auch dann, wenn es sich um genrekonforme, um konventionelle Filme handelt. Die Beschreibung von Film ausschließlich als Medium der Repräsentation greift stets zu kurz: Filme sind nicht nur ›Produktionen‹, sie werden nicht nur produziert, sie produzieren auch, sie sind im wesentlichen Sinne produktiv: Sie partizipieren an der Herstellung eines kulturellen Bilderrepertoires und damit auch an dessen Überschreibung, Neubespielung, Umformatierung, und sie ermöglichen eine andere als die vorgeschriebene Verschränkung von Denken und Wahrnehmen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Film sich erst im Gesehen-Werden ereignet, lässt er sich nicht so einfach eingrenzen, dingfest machen, wobei hier nicht nur das Auge der Betrachter_in eine Rolle spielt, sondern auch die Kontextualisierung von Projektion, Abspielen, Zeigen, Sehen: vom Großen (Das geopolitische Wo? und das historische Wann?) zum Kleinen, oder Kleineren: von der jeweiligen konkreten Aufführungssituation bis zu den jeweiligen persönlichen Umständen und zufälligen Details. Filme sind als Teil des Gesamtsystems Kino zu denken (im Sinne des französischen cinéma), welches mehr als die Summe seiner Teile – aller Filme/Videos – ist und auch deswegen inhärenter Bestandteil des Verhandlungsraums ›Migration‹ ist und nicht dessen Bebilderung. So changieren die besprochenen Filme zwischen Einschreibungen und dem Verfehlen von Festschreibungen, welches auch das notorische Sprechen vom beziehungsweise über ›den Ausländer‹ kennzeichnet. Wie Manuela Bojadžijev argumentiert hat, eröffnet eine Analyse, die den Rassismus von den (migrantischen) Kämpfen her denkt, neue Perspektiven, deren Stärke nicht zuletzt in ihrer Dynamik liegt.25 Auch die Übereinkunft, nach der die Geschichte der Migration in der BRD von den jeweiligen Regulationsinstrumentarien bestimmt wurde, ist mittlerweile zumindest in der Forschung revidiert worden: Nicht die Anwerbeverträge markieren den Beginn der Migration in das westdeutsche Nachkriegsdeutschland, sondern diese stellten vielmehr den Versuch dar, existierende Migrati



24 Siehe u.a. Marie-Hélène Gutberlet/Sissy Helff (Hg.): Die Kunst der Migration. Aktuelle Positionen zum europäisch-afrikanischen Diskurs. Material – Gestaltung – Kritik, Bielefeld 2011; FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Schwerpunkt: Visuelle Migrationen. Bild-Bewegungen zwischen Zeiten, Medien und Kulturen, 51 (2011). 25 Vgl. Manuela Bojadžijev: Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008.

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onsbewegungen zu kanalisieren und zu kontrollieren.26 Wie Homi K. Bhabha in »The Other Question«27 beschrieb, ist auch die »fixity« des kolonialen Stereotyps nur als ständig zu erbringende gewaltvolle Anstrengung von Seiten der Kolonisatoren herstellbar gewesen, und wie neue kritische Blicke in die Archive zeigen, ist diese Anstrengung nicht immer gelungen und die Gewalt nicht unwidersprochen geblieben.28 Entsprechend gilt für die Vereindeutigungen des sogenannten Ausländerdiskurses: Sie scheitern stets im gleichen Ausmaß, in dem sie gelingen und sie bleiben nicht unwidersprochen. Auch mit dieser Arbeit lege ich gewissermaßen Widerspruch ein. Den ›Index‹, das V/Erkennen als Ausgangspunkt nehmend, lasse ich mich so von den Filmen in verschiedene Bereiche und durch bestimmte Anordnungen und Fragen führen: Geschichte und Geschichten, die Zeitgefüge von Genealogie, Alltag, the metacinematic, Innenräume und Außenansichten, Verrückungen/Verrücktheiten, Bilderstreite, Transparenz und Schleier, Authentizität, Säkularisierung, Blut, Ikonoklasmus, Sex, Ökonomie, Haut(farbe). Die Kategorie Geschlecht spielt dabei eine zentrale Rolle. »Geschichten über Türken in Deutschland [arbeiten] sich häufig an den Geschlechterbeziehungen ab«29, schrieb Deniz Göktürk 1998 im Sammelband Globalkolorit und brachte damit in einem für die mittlerweile proliferierende deutschsprachige oder den deutschsprachigen Raum in den Blick nehmende Forschung zu Kino und Migration30





26 Vgl. Serhat Karakayalı: Gespenster der Migration. Zur Genealogie illegaler Einwanderung in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2008, S. 97–98 und S. 100–101. 27 Homi K. Bhabha: »The Other Question: Stereotype, discrimination and the discourse of colonialism«, in: Screen 6 (1983), S. 18–36. 28 Wegweisend hier die Auseinandersetzung Ann Laura Stolers mit dem ›archival turn‹: Along the Archival Grain. Epistemic Anxieties and Colonial Common Sense, Princeton 2008. Der ›archival turn‹ ist gerade auch in zeitgenössischer künstlerischer und kuratorischer Praxis relevant. Siehe dazu exemplarisch Hal Foster, »An Archival Impulse«, in: October 110 (Fall 2004), S. 3–22; Okwui Enwezor: Archive Fever. Uses of the Document in Contemporary Art, New York 2008 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im International Center of Photography, New York/NY, 18.01.-04.05.2008, http://www.icp.org/museum/exhibitions/archive-fever-uses-document-contemporary-art: zuetzt abgerufen am 10.09.2014). Mit dezidiert post_kolonialer Perspektive siehe u.a. die Forschungsgruppe CARGO, Contemporary Art and the Archive Research Group an der Monash University in Melbourne (http://www.artdes. monash.edu.au/aca/cargo.html; zuletzt abgerufen am 10.09.2014), oder das Global Art Archive an der Universität von Barcelona (http://globalartarchive.com/project/; zuletzt abgerufen am 10.09.2014), dort v.a. die Arbeiten von Anna Maria Guasch. Mit Perspektive auf das (fehlende) Archiv der ›Gastarbeiter’Migration, siehe z.B. Margareta Kerns Recherche- und Ausstellungsprojekt GUETSures/GOSTikulacije (http://guestworkerberlin.blogspot.de/; zuletzt abgerufen am 10.09.2014). 29 Deniz Göktürk: »Verstöße gegen das Reinheitsgebot: Migrantenkino zwischen wehleidiger Pflichtübung und wechselseitigem Grenzverkehr«, in: Ruth Mayer/Mark Terkessidis (Hg.): Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur, St. Andrä-Wördern 1998, S. 99–114, hier S. 108.

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wegweisenden Text auf den Punkt: Geschlecht ist ein zentraler Ort der Aushandlung von Migration im (deutschen) Kino. Geschlecht ist ein mehrdeutiger Begriff, er steht beispielsweise auch für Herkunft und Abstammung, also Genealogie31. Die Bewegungen der Migration sind Neukonfigurationen von Genealogien, es sind Unterbrechungen und Verrückungen von Traditionen, die territorial und national festzuschreiben suchen, und die Einführung von Überlieferung, die nicht geradlinig verlaufen (eine Unterscheidung, die Jacques Hassoun trifft32). Der Ort von Mutter(sprache) und Vater(land) wird so zum Gegenstand der filmischen (Aus-)Handlungen. Einer der bekanntesten und umkämpften visuellen marker des Ausländerdiskurses ist das Kopftuch und der eingeschlossene Raum der Frau, die beide, Stoff und space, eine unendliche Projektionsfläche zu bieten scheinen. Ich führe diese Auseinandersetzung weiter als einen (filmischen) Bilderstreit um das Verhältnis von Transparenz und Schleier und verschiebe damit die Perspektive: von der Idee, genauer der über die Filme vermittelten Zumutung der Authentizität, zum Recht auf Opazität (Édouard Glissant33), also dem Recht darauf, nicht identifizierbar und nicht identisch sein zu dürfen, sondern widersprüchlich, multiperspektivisch.34 Opazität oder Undurchsichtigkeit ist dabei nicht etwa als Unsichtbarkeit zu verstehen, sie gehört vielmehr zur Kategorie der Sichtbarkeit.35 Unsichtbarkeit ist eine der prekären Bedingungen der illegalisierten





30 U.a. das Forschungsprojekt Migrant and Diasporic Cinema in Contemporary Europe unter der Leitung von Daniela Berghahn (http://www.migrantcinema.net/, zuletzt abgerufen am 10.09.2014), Sabine Hake/Barbara Mennel (Hg.): Turkish German Cinema in the New Millennium: Sites, Sounds, and Screens, Oxford 2012; Christopher Hall/Guido Rings (Hg.): Themenschwerpunkt GFl 03 (2010); Jochen Neubauer: Türkische Deutsche, Kanakster, Deutschländer, Würzburg 2011; Hülya Özsari: ›Der Türke‹, Die Konstruktion des Fremden in den Medien, Berlin 2010; Dagmar Brunow: »Film als kulturelles Gedächtnis der Arbeitsmigration: Fatih Akins ›Wir haben vergessen zurückzukehren‹«, in: Seyda Ozil/Michael Hofmann/ Yasemin Dayioglu-Yücel (Hg.): 50 Jahre türkische Arbeitsmigration in Deutschland. Göttingen 2011. S. 183–204; Ulrich Meurer/Maria Oikonomou (Hg.): Fremdbilder. Auswanderung und Exil im internationalen Kino, Bielefeld 2009; Christine Bischoff/Francesca Falk/Sylvia Kafehsy (Hg.): Images of Illegalized Immigration. Towards a Critical Iconology of Politics, Bielefeld 2010; Bettina Dennerlein/Elke Frietsch (Hg.): Identitäten in Bewegung. Migration im Film, Bielefeld 2011; Özkan Ezli (Hg.): Kultur als Ereignis. Fatih Akins Film ›Auf der anderen Seite‹ als transkulturelle Narration, Bielefeld 2010; Tim Bergfelder/Erica Carter/ Deniz Göktürk (Hg.): The German Cinema Book, London 2002. 31 Siehe z.B. Sigrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kulturund Naturwissenschaften, München 2006. 32 Vgl. Jacques Hassoun: Schmuggelpfade der Erinnerung, übersetzt von Anna Katharina Ulrich, Frankfurt/M. 2003. 33 Glissant, Poetics, S. 189 ff. 34 Glissant zufolge ist das Recht auf Opazität bedeutsamer noch als das Recht auf Differenz, vgl. Glissant, Poetics, S. 190. 35 Nach Gilles Deleuze, so Lorenz Engell, gehören das Undurchsichtige und das Durchsichtige

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oder klandestinen Migration. Opazität zu ermöglichen bedeutet daher nicht, genau dieses prekäre Verhältnis zu romantisieren. Vielmehr soll damit eine auch dezidiert mediale Antwort auf die Realität des gegenwärtigen Migrationsregimes36 gefunden werden, die sich nicht in den Fallen einer Repräsentationslogik verfängt: Die Unsichtbarkeit illegalisierter Migration wird nicht zuletzt über Visualisierungen als zu kontrollierende Bewegung (mit) hergestellt; die zahlreichen Bilder der Boote, Todesopfer und bildlich auf das nackte Leben reduzierten Überlebenden der Passage über das Mittelmeer und den Atlantik37 sind nicht die Ausnahme, sondern im Fotojournalismus, in Dokumentationen, in ›Aufklärungs‹-Kampagnen und Filmen (in allen Formaten) ein präsenter Topos, der diese sichtbare Unsichtbarkeit inszeniert. In diesem Sinne – dem Recht auf Opazität – endet diese Arbeit mit einem ›Anfang‹, mit den (stets) im Entstehen begriffenen Film- & Videobildern, die die Perspektive der Migration einnehmen. Migration wird in Filmen und Videos nicht erst abgebildet, vielmehr formatieren Bilder Migration,38 und eine der gängigsten Formatierungen ist die Erstarrung, die illustrative Artikulation eines Sprechens über Migration. Nimmt man Migration hingegen als soziale und politische Bewegung ernst, als eine Bewegung, die das Politische grundsätzlich rekonfiguriert, und begreift Migration nicht als etwas Abzubildendes, sondern als Ereignis,39 so eröffnet sich damit ein anderer Bildraum, ein anderer Raum des Zeigens (auch des Zirkulierens), Sehens und Wahrnehmens. Die Perspektive der Migration einnehmen bedeutet in diesem Sinne: einen Möglichkeitsraum zu betreten.40







gleichermaßen in den Bereich des Sichtbaren, »und der Film kann sich frei auf die eine oder die andere Seite stellen«, Lorenz Engell: »Affinität, Eintrübung, Plastizität. Drei Figuren der Medialität aus der Sicht des Kinematographen«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt/M. 2008, S. 185–210, hier S. 201. 36 Zum Begriff des Migrationsregimes siehe Vassilis Tsianos: »Zur Genealogie und Praxis des Migrationsregimes«, in: Bildpunkt, »Regimestörungen« (Frühling 2010), http://www. igbildendekunst.at/bildpunkt/2010/regimestoerungen/tsianos.htm; zuletzt abgerufen am 10. 09.2014. 37 Siehe Michael Willenbücher: Das Scharnier der Macht. Der Illegalisierte als homo sacer des Postfordismus, Berlin 2007. 38 Vgl. Brigitta Kuster: »Die Grenze filmen«, in: Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.), Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld, S. 187–202, hier S. 187. 39 Vgl. Maurizio Lazarato: »Kampf, Ereignis, Medien«, in: Transversal (Mai 2003), http://eipcp. net/transversal/1003/lazzarato/de, zuletzt abgerufen am 10.09.2014. 40 Siehe dazu auch das serielle Projekt Möglichkeitsraum der Videokünstlerin Angela Melitopoulos, das sie seit 2009 u.a. im Skulpturenpark Berlin, beim Berlin Documentary Forum, dem Festival TEMPS D’IMAGES im tanzhaus nrw in Düsseldorf und im Rahmen von Living Archive, Arsenal – Institut für Film und Videokunst, Berlin, beim Ausstellungs- Recherche und Archivprojekt re.act.feminism und weiteren Orten realisiert hat und das sich mit dem Archiv, Erinnerung und (performativer) Montage auseinandersetzt.

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Diese Neuperspektivierung von Migration auch in Filmen und Videos, in Aktivismus, Kunst und Kino bedeutet auch, dass an die Stelle des deutschen Ausländerdiskurses und des »methodologischen Nationalismus«41 die politischen und rechtlichen Konfigurationen der EU (u.a. als suprastaatliche, rechtsfreie oder das Recht suspendierende Praktiken und Räume) und transnationale Beziehungsgeflechte treten.42 Demgegenüber findet im deutschsprachigen Kino – wie in der Forschung zu diesem Kino – zugleich eine Affirmation der Ankunft statt, die all die Bemühungen, Keineinwanderungsland sein zu wollen, als völlig unrealistisch vorführt und einen erweiterten Filmkorpus hervorgebracht hat (explizit auch quantitativ), der als postmigrantisch beschrieben werden kann. Die Forschung ist sich heute weitgehend einig, dass die deutschen »Problemfilme« der 1970er und 1980er Jahre (Teils auch der 1990er) mit ihrem »humanistisch-pädagogischen Impuls«43 und ihrer »subnationalen Mitleidskultur«44 als ›überholt‹ gelten können und durch ein neues »Kino der Métissage«45, des »wechselseitigen Grenzverkehrs«,46 der Vielfalt, der Souveränität, der Normalität und der Kontinuität47 ersetzt worden sei. Diese Lesart beinhaltet jedoch eine problematische Fortschrittslogik, die die konservativen (konservierenden) Elemente dieses Kinos – das nicht umsonst auch als neues Heimatkino auf den Plan tritt48 – nicht zu erfassen vermag, zumal ein Großteil dieses Kinos mit dem Label ›türkisch-deutsch‹ zu einem beschreibbaren, einem ›ethnisch‹ zuschreibbaren Korpus verdichtet wird. Ich gehe hier vielmehr davon aus, dass, wie Cindy Patton für die US-amerikanischen problem films der 1940er und 1950er Jahre beschrieben hat, die Sozialdramen der ›frühen Jahre‹ trotz ästhetischer und politischer Stereotypisierungen Grundlagen gelegt und







41 Ulrich Beck/Edgar Grande: »Jenseits des methodologischen Nationalismus. Außereuropäische und europäische Variationen der Zweiten Moderne«, in: Soziale Welt 61 (2010), S. 187 – 216. 42 Siehe hierzu die Forschungsarbeiten des Netzwerks Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (http://kritnet.org; zuletzt abgerufen am 15.09.2014). 43 Georg Seeßlen: »Menschenbilder der Migration im Film. Wie das Kino das Leben in zwei Kulturen zugleich beschreibt«, in: Der Überblick 3 (2002), S. 72–78, hier S. 77. 44 Deniz Göktürk: »Beyond Paternalism: Turkish German Traffic in Cinema«, in: Tim Bergfelder/Erica Carter/Deniz Göktürk (Hg.): The German Cinema Book, London 2002, S. 248–256 hier S. 332. 45 Georg Seeßlen: »Vertraute Fremde«, in: Der Freitag 21 (17.05.2002), http://www.freitag.de/ autoren/der-freitag/vertraute-fremde, zuletzt abgerufen am 15.01.2014. 46 Siehe Göktürk, Verstöße. 47 So einige der Stichworte, die im Themenschwerpunkt »Kino und Migration« auf filmportal. de zu finden sind. Das Portal wird vom Deutschen Filminstitut/DIF e.V. betrieben. http:// www.filmportal.de/thema/kino-und-migration, zuletzt abgerufen am 25.09.2014. 48 So bezeichnete Fatih Akın seinen Film Soul kitchen (D 2009) als einen Heimatfilm der neuen Art. Siehe das Interview von Dirk Steinmetz mit Akın »Heimat ist ein Zustand im Kopf« in Merkur Online (29.12.2009), http://www.merkur-online.de/aktuelles/kultur/interview-fatih-akin-heimat-zustand-kopf-566587.html; zuletzt abgerufen am 20.09.2014.

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Vorarbeit geleistet haben »for a shift in popular understandings of social identity that was essential to the subsequent feasibility of identity-based claims to civil redress.«49 Das heißt, das einerseits der Abstand zwischen dem Problemkino von ›damals‹ und dem ›heutigen‹ angekommenen Kino gar nicht so groß ist, wie zumeist angenommen wird, und dass sie beide in repräsentationspolitische Logiken impliziert sind, die sich im postmigrantischen Kino auch als identity-based claims manifestieren. Auch Barbara Mennel argumentiert für einen Perspektivwechsel jenseits des etablierten Narrativs vom cinema of duty hin zu den pleasures of hybridity, um »beyond a theoretical impasse between identity politics and anti-essentialist deconstruction«50 zu gelangen. Denn natürlich sind die repräsentationspolitisch artikulierten Ansprüche auf Teilhabe und Anerkennung notwendig und legitim. Heute über Migration zu sprechen, Migration in und mit Film und Video zu denken, bedeutet jedoch, Migration als fundamentale Herausforderung von Repräsentation – sowohl als Vorstellung, Darstellung als auch als Vertretung – zu begreifen und transnational zu konfigurieren. Kino ist eben nicht einfach als Abbildungsapparat von Migration oder Postmigration zu verstehen, als Identifizierungs- und Identitätsmaschine, sondern als Verhandlungsraum. In diesem Sinne begreife ich in dieser Arbeit Migration als (politische und soziale) Bewegung, die auch auf Leinwänden, Displays und anderen Screens zur Verhandlung gebracht wird, sich in und mit Filmen und Videos formiert und ereignet. Migration artikuliert und erfordert nicht nur neue Formen repräsentativer Politik, sondern auch neue Politiken der Repräsentation. Es gilt nun die Diagnose, dass Migration in »das Auftauchen einer postrepräsentationalen Politik eingewebt«51 ist, nicht nur politikwissenschaftlich weiter zu denken, sondern auch medien-, kultur- und filmwissenschaftlich: Es geht darum, sich der Frage zuzuwenden, welche politischen und ästhetischen Perspektiven der Nexus von Film/Video und Migration eröffnet.



49 Cindy Patton: Cinematic Identity. Anatomy of a Problem Film, Minneapolis/London 2007, S. 4. 50 Barbara Mennel: »The Politics of Space in the Cinema of Migration«, in: gfl-Journal 3 (2010), S. 40–55, hier S. 44. 51 Dimitris Papadopoulos/Vassilis Tsianos: »Die Autonomie der Migration. Die Tiere der undokumentierten Mobilität«, in: Translate (15.09.2008), http://translate.eipcp.net/strands/02/ papadopoulostsianos-strands01en/?lid=papadopoulostsianos-strands01de; zuletzt abgerufen am 10.09.2014.

1. Beredtes Schweigen, sichtbares Reden – die V/ Erkennungsdienste des deutschen Ausländerdiskurses

Die ersten Gesichter, die zwischen den Ländern ausgetauscht wurden, waren die Filmgesichter. Emine Sevgi özdamar, Gastgesichter1

1.1 S agbares Das Problem sind die Ideen im System: Ein echter Deutscher muss auch richtig deutsch aussehn! Advanced Chemistry, Fremd im Eigenen Land2

Im November 1970 veranstaltete der WDR ein Preisausschreiben. Gesucht wurde ein »anderes, treffenderes Wort«,3 das ›Gastarbeiter‹ ersetzen sollte. Über 32.000 Vorschläge gingen ein,4 unter ihnen eine erschreckend hohe Zahl an unverhohlen rassistischen Vorschlägen.5 Die Jury konnte sich auf keine der Einsendungen einigen, stattdessen 1 http://www.bosch-stiftung.de/content/language1/html/14844.asp; zuletzt aufgerufen am 28. 08.2014. 2 12″/MCD 1992. 3 Aus dem Pressetext der Jury, abgedruckt in: Ernst Klee (Hg.): Gastarbeiter. Analysen und Berichte, Frankfurt am Main 1975, S. 149. 4 Darunter solche Wortschöpfungen wie: ausländische Dauergäste, Auslandsmitmenschen, Bedarfskollege, Besuchstätige, Bundesrepublikvergrößerer, Devisenboy, Deutschwerker, Engpasshelfer, Erlaubtarbeiter, Eurodiener, Existenzsucher, Exoten, Fremdbürger, Fristworker, gute Geister, Hilfsdeutsche, Immigrant, Integras, Kollege Europa, Konjugierender, Leiharbeiter, Lohndeutsche, Menschen, die es einmal besser haben wollen, Menschen wie wir, Mitbürger, Mitdeutsche, Okzidente, Opfer deutscher Gastfreundschaft, opferwillige Arbeiter, Parias, praktizierende Europäer, Söhne des Südens, Teilbürger, Universali, Vertragsbürger, Werktainer, Wirtschaftsgast, Zubringer, Zugereiste; vgl. Klee, Gastarbeiter: S. 149–150.

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wählten sie eine der damals bereits in Umlauf befindlichen Bezeichnungen, die des ›ausländischen Arbeitnehmers‹, weil diese »schöner und angemessener«6 und vor allem »am wenigsten missverständlich«7 sei. Das Preisausschreiben fand nur wenige Jahre vor der Verabschiedung des Anwerbestopps von 1973 statt. Dieser zeitgeschichtliche Kontext verdeutlicht, dass der Ausgangspunkt für den Wettbewerb, der ja durchaus als kritische Auseinandersetzung mit dem seltsam euphemistischen Begriff Gastarbeiter zu begreifen ist, nicht sosehr der Erkenntnis geschuldet war, dass es sich um eine pejorative Wortschöpfung handelte. Anstatt also aus einer kritischen Reflexion der Parameter – und der Einstellungen –, für die der Begriff beredt Auskunft gab, hervorzugehen, war das Preisausschreiben vielmehr der Tatsache geschuldet, dass trotz des migrationspolitischen Leitkonzepts des vorübergehenden Aufenthaltes8 die sogenannten Gastarbeiter_innen Familienangehörige nachholten, Kinder bekamen, sich niederließen und damit zu einem gesamtgesellschaftlichen Faktor geworden waren. Dieser Faktor wurde aber keineswegs als das anerkannt, was er war: Immigration. Gegen die Anerkennung der faktischen Einwanderung wehrte sich die Bundesrepublik9 damals und in den folgenden Jahr-









5 »[D]arunter waren aber auch Benennungsvorschläge wie ›Arbeitsplatzräuber‹, ›Judensäue‹, ›Dreckschweine‹, ›Zuhälter‹, ›Makkaronifresser‹, ›Kameltreiber‹ und ›Bärenführer‹. Die Aktion hatte, so resümierte der Leiter der Sonderprogramme für Gastarbeiter beim WDR-Fernsehen, Friedhelm Porck, ›im ersten Anlauf ein erschreckend negatives Echo‹.« Meldung in: Der Spiegel 51/1970 vom 14.12.1970, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43822419.html; zuletzt aufgerufen am 28.08.2014. 6 So der Wortlaut in der Rheinischen Post vom 09.12.1970, zitiert in: Georg Stötzel/Martin Wengeler (Hg.): Kontroverse Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/New York 1995, S. 711–748, hier S. 719. 7 Klee, Gastarbeiter, S. 149; Hervorh. N. H. 8 Genau hierfür steht auch der Begriff ›Gastarbeiter‹: »Der Terminus Gastarbeiter gibt Auskunft über die institutionalisierten Kompromisse zwischen Unternehmen, Gewerkschaften und Staat. Im Zentrum steht der Modus der Temporalisierung bei gleichzeitiger Unterschichtung.« Serhat Karakayalı/Vassilis Tsianos: »Mapping the Order of New Migration. Undokumentierte Arbeit und die Autonomie der Migration«, in: Peripherie 97/98 (2005), http://www. linksnet.de/de/artikel/19249; zuletzt abgerufen am 27.08.2014. 9 Ich fokussiere in dieser Arbeit ausschließlich den westdeutschen Kontext bzw. den der Bundesrepublik, d.h. auch nach der Vereinigung 1990. Für eine Auseinandersetzung mit (Arbeits-) Migration in der DDR siehe beispielsweise Heike Kleffner: »Nicht mehr gebraucht. Die vietnamesischen DDR­VertragsarbeiterInnen in der BRD«, in: BUKO-Arbeitsschwerpunkt Rassismus und Flüchtlingspolitik (Hg.): Zwischen Flucht und Arbeit. Neue Migration und Legalisierungsdebatte, Hamburg 1995, S. 133­146; Marianne Krüger­Potratz: Anderssein gab es nicht. Ausländer und Minderheiten in der DDR, Münster/New York 1991; Jan C. Behrends/Thomas Lindenberger/Patrice G. Poutrus (Hg.): Fremde und Fremd­Sein in der DDR: Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003..Für beide Systeme, BRD und DDR, galten jedoch interessante Parallelen in der Vorstellungswelt

Beredtes Schweigen,

sichtbares

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zehnten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.10 Nichtsdestotrotz wandelte sich der Sprachgebrauch in den folgenden Jahren: Die Rede von den ›Ausländern‹ setzte sich durch und löste damit den ›Gastarbeiter‹ ab.11 Damit wurde ein Begriff ersetzt, der selbst zuvor eine andere Begriffskarriere abgelöst hatte, nämlich den, in den beiden Jahrzehnten zuvor gängigen, Begriff des ›Fremdarbeiters‹ – ein Begriff, der aus dem Sprachgebrauch des Nationalsozialismus übernommen worden war, und der damit Auskunft gab über die Kontinuität, mit der die Ausländerpolitik der Bundesrepublik an rechtliche Maßnahmen der Nationalsozialisten anknüpfte. Seit dem offiziellen Beginn12 der westdeutschen Nachkriegs(arbeits)migration haben sich die Wörter, mit denen diese verhandelt wurde, immer wieder verändert. Neben den alltagssprachlichen Begriffseinbürgerungen stehen die Wortschöpfungen verschiedener innen- und migrationspolitischer Konjunkturen, Begriffe, die durch die graue und die offizielle Forschungsliteratur geisterten, und schließlich die Umdeutungen oder Aktualisierungen durch den Austausch von Redewendungen und Benennungsweisen zwischen diesen Feldern: Migranten, Gastarbeiter, Fremde, Andere, türkische Deutsche, andere Deutsche, ausländische Mitbürger/Arbeitnehmer/Arbeiter, Kanaken, Menschen mit Migrationshintergrund/Migrationsvordergrund, Deutsch-Türken, Illegale, Wanderarbeiter, Zuwanderer, Einwanderer, Fremdarbeiter, aber auch Vertragsarbeiter, sowie Asylanten, Asylbewerber, Wirtschaftsflüchtlinge, Scheinasylanten, Flüchtlinge und, nicht zu vergessen: die erste, zweite, dritte Generation. Während die Veränderungen im Sprachgebrauch als signifikant für Diskursverschiebungen – worüber wird jeweils wie gesprochen? Was wird damit als intelligibel oder (vermeintlich) selbstverständlich in den Diskursraum eingebracht? Was wird zur Verhandlung gestellt, und was wird damit jeweils vorausgesetzt? – zu begreifen sind und Anzeichen für die Reorganisation und Transformation von Rassismus13 darstellen, gehe ich hier von einer, meiner Ansicht nach entscheidenden semantischen, rechtlichen und politischen Referenz der verschiedenen Begriffskonjunkturen aus, gewissermaßen einem gemeinsamen Nenner, einem verbindenden Moment dieser Konjunktu-



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und den rechtlichen/politischen Koordinaten, die natürlich auch Ausdruck ihrer gemeinsamen Geschichte sind. So existierte in der DDR ebenfalls kein offizielles Konzept für Einwanderung. Dennoch galt auch dort: (Im-)Migration fand statt. Politisch und rechtlich vorgesehen war Einwanderung weder in der DDR noch in der BRD. Dabei taucht, wie Karl-Heinz Meier-Braun hervorhebt, ›Einwanderung‹ sogar als Aufgabenbereich im Grundgesetz auf, in Artikel 73 (allerdings nur als einer von zahlreichen Bereichen, über den der Bund die alleinige Gesetzgebung innehat); vgl. Karl-Heinz Meier­Braun: Deutschland, Einwanderungsland, Frankfurt/Main 2002, S. 149. Martin Sökefeld (Hg.): Jenseits des Paradigmas kultureller Differenz. Neue Perspektiven auf Einwanderer aus der Türkei, Bielefeld 2004, S. 12. Der durch den Abschluss des ersten Anwerbeankommens 1955 zwischen Italien und der Bundesrepublik markiert ist. Vgl. Bojadžijev, Die windige Internationale, S. 26.

26 | V / E r k e n n u n g s d i e n s t e

ren: Ausländer, bzw. genauer: die Dichotomie Deutsche-Ausländer. Damit nehme ich eine juristische Kodifizierung zum Ausgangspunkt, und zwar das deutsche Staatsangehörigkeitsgesetz sowie das ehemalige Ausländergesetz, das 1965 die Ausländerpolizeiverordnung von 1938 ›aktualisierte‹ und zum 01.01.2005 in das neue ›Zuwanderungsgesetz‹ (vielsagend: ›Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern‹) überging. Warum dieser Bezug, wenn doch, wie ich im Folgenden argumentieren werde, der Gesetzestext nicht mit den Praktiken und Institutionen des deutschen Ausländerdiskurses14 synonym ist? Und vor allem, wenn jede Auseinandersetzung mit Rassismus, jede Rassismustheorie und -analyse, sollen diese präzise und wirkmächtig sein, die genaue Betrachtung der Konjunkturen des Rassismus voraussetzt?15 Die hier vorgenommene Zusammenfassung verschiedener Begriffe und damit auch verschiedener Zeitlichkeiten (Gastarbeiter_innen, Migrant_innen, Fremdarbeiter_innen, Ausländer_innen etc.) liegt zum einen darin begründet, dass die juristische Kodifizierung mit der juridischen Praxis korreliert, das heißt mit der Anerkennung und Befolgung des als Gesetz festgelegten Rechts durch den/die Einzelne/n, im Alltag sowie in den Institutionen, bzw. die Realisierung des Geistes dieses Gesetzes nicht nur in dessen Aushandlungen, sondern in einem Denken und Handeln, das maßgeblich in diesem Gesetz Ausdruck findet und umgekehrt durch dieses Gesetz bestimmt wird.16







14 Diesen Begriff habe ich in meiner Diplomarbeit im Studiengang Sozialwissenschaften entwickelt, um damit, ausgehend vom Sprechen von – über – ›Ausländer(n)‹ ein Set von Institutionen und Praktiken zu bezeichnen, die sowohl sprachlich als auch nicht-sprachlich sind. Nanna Heidenreich: Race, Rasse, Rassismus. Analyse eines theoretischen Perspektivwechsels, unveröffentlichte Diplomarbeit, Göttingen 1997. 15 So der Titel eines von Manuela Bojadžijev und Alex Demirović herausgegebenen Bandes. Rassismus ist ein umkämpfter Begriff. Die Auseinandersetzungen beziehen sich u.a. auf die Frage seiner Zeitlichkeit. Eine überhistorische Perspektive – Rassismus als ubiquitär, als universell gedacht, z.B. als anthropologische Konstante – verleiht vor allen Dingen moralisches Gewicht (zumal, wenn Rassismus damit als nicht weiter zu erläuternde Anklage vorgetragen wird). Das andere Extrem ist wiederum ebenso problematisch: Diese Zeitlichkeit des Verhandelns von Rassismus basiert auf dem Argument, die verschiedenen Ausprägungen seien so vielfältig, dass man kaum für alles denselben Begriff, also Rassismus, verwenden könne. Damit wiederum wird generell das Sprechen von Rassismus abqualifiziert, es ist ein beliebtes Abwehr- bzw. Abwiegelungsargument. Gegen beide Zeitgefüge – das ›Ewiggleiche‹ gegen das absolut gesetzte ›unvergleichliche‹ Hier und Jetzt – gilt es Rassismus als »soziale Auseinandersetzung« zu begreifen. Alex Demirović/Manuela Bojadžijev: »Vorwort«, in: dies. (Hg.): Konjunkturen des Rassismus, Münster, 2002, S. 7–27, hier S. 25. 16 In einem kritischen Beitrag zur kritischen Weißseinsforschung (diese Dopplung von Kritik ist hier intendiert!) setzt sich Isabell Lorey mit dem Einsatz des ›Juridischen‹ bei Foucault auseinander, mit der darin artikulierten Verbindung von Norm und Gesetz, und schließlich mit der Differenzierung von Norm(ativität), Normalisierung und Normation, die Foucault in seiner ersten Vorlesung zu Gouvernementalität von 1978, Sicherheit, Territorium, Bevöl-

Beredtes Schweigen,

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Die Gesetzestexte indizieren außerdem eine Kontinuität in den Normen und Gesetzen, die das Juridische informieren. So bestand das Staatsangehörigkeitsrecht bis zu seiner Modifizierung im Jahr 2000 bereits seit 1913, also seit dem Wilhelminischen Kaiserreich und während der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus, der beiden Weltkriege, in der Bundesrepublik sowie nach der deutsch-deutschen Einigung. Und das Ausländergesetz von 1965 basierte, wie bereits erwähnt, auf der Ausländerpolizeiverordnung des Nationalsozialismus.17 Signifikante Kontinuitäten bestanden auch in der Ausländerpolitik, wie im Konzept des vorübergehenden Aufenthaltes, des Rotationsprinzips und des ›Inländerprimats‹.18 Diese Kontinuitäten zu thematisieren, widerspricht dem nationalen historio-





kerung, entwickelte. Mit juridisch ist danach ein »Denken in Bezug auf Gesetzessysteme, die mit Normen in Beziehung stehen, sich auf ein System von Normen beziehen« (Isabell Lorey: »Weißsein und Immunisierung. Zur Unterscheidung zwischen Norm und Normalisierung«, in: translate (21.06.2007), http://translate.eipcp.net/strands/03/lorey-strands01de; zuletzt abgerufen am 26.08.2014) gemeint. Normalisierung dagegen konstituiert »sich in den ›Spielräumen‹ der Gesetzes- und Normsysteme« und läuft ihnen »nicht selten zuwider. Normalisierungstechniken sind also Prozeduren und Praktiken, die durch normative Regelungen nicht abgedeckt und gerade in ihren normalisierenden Effekten durch Normen oft nicht erfasst werden« (ebd.). Mit Normation hingegen bezeichnet Foucault etwas, was gewöhnlich unter Normalisierung mitgemeint, also missverstanden wird, aber für ihn davon zu unterscheiden ist. Normation ist »davon gekennzeichnet, dass sie nicht von der Norm loskommt und in der Logik des Gesetzes und des Rechts verbleibt. Das Charakteristische einer solch juridischen Logik sind binäre Grenzziehungen zwischen Souverän und Untertan, Gesetz und Rechtssubjekt, kurz: zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Deshalb nennt Foucault diese Normation zugleich ›disziplinarisch‹. Denn die Disziplin zergliedert und teilt Individuen auf, um sie einerseits wahrzunehmen und andererseits zu modifizieren. Ebenso klassifizieren Disziplinierungstechniken nach bestimmten Zielen und zu bestimmten Nutzen, sie optimieren und kontrollieren.« (Ebd.) Wie Lorey gegen Ende ihres Textes jedoch ausführt, sind alle drei Vorgänge bzw. Bereiche, Norm, Normalisierung und Normation, miteinander verwoben, genauer: »Trotz der in diesem Text vorgeschlagenen analytischen Trennung gibt es keine normfreie Sphäre der Normalisierung und genauso wenig umgekehrt.« Sie schließt jedoch: »Dennoch geht es um zwei unterschiedliche Paradigmen.« (Ebd.) Diese ›Unterscheidung ohne Trennung‹ wird im Weiteren auch in meiner Arbeit eine Rolle spielen, insofern die Wirkungsweisen des Ausländerdiskurses immer auch durch einen Exzess, einen Überschuss gebunden sind, der sich jenseits der Dichotomie Ausländer-Deutsche oder der Einteilungen des Gesetzes bewegt (wie die Normalisierung). Insbesondere hinsichtlich der Filme, die ich in den Blick nehme, ist dieses Moment des Darüberhinaus, des (noch) nicht Gewussten oder nicht Benannten von entscheidender Bedeutung. An dieser Stelle jedoch spreche ich vom Juridischen ohne weitere Differenzierung. 17 1990 wurde das Ausländergesetz durch eine neue Fassung ersetzt, die wiederum am 31. Dezember 2004 außer Kraft trat. Das Ausländergesetz wurde zum 1. Januar 2005 durch das neue Aufenthaltsgesetz (Artikel 1 Zuwanderungsgesetz) ersetzt. 18 »Die fünf Elemente der ›Gastarbeit‹ (zentrale Rekrutierung, Inländerprimat, Tarifgleichheit,

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grafischen Mythos der Bundesrepublik, wonach Migration – als Arbeitsmigration (die ›Unmissverständlichkeit‹ des ausländischen Arbeitnehmers spricht tatsächlich Bände) – erst mit dem Abschluss des ersten Anwerbeabkommens 1955 begann. Serhat Karakayalı hat hingegen überzeugend dargelegt, dass dieses Abkommen vielmehr als Reaktion auf die vorhandenen Bewegungen der Migration zu begreifen ist.19 Karin Hunn analysiert das Abkommen zudem als Ergebnis außenpolitischer und gerade nicht arbeitsmarktpolitischer Konstellationen.20 Auch Ulrich Herbert hat in seinem Standardwerk Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland, das er erneut 2001 als modifizierte Neuauflage (unter dem Titel Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland) herausbrachte, das Ausblenden von Geschichte thematisiert. Darin kritisiert er die »Fiktion des voraussetzungslosen Neuanfangs«21 und die »Suggestion der Geschichtslosigkeit«,22 die die Verhandlungen über Migration in Deutschland bestimme. Ähnlich auch Ulrich Bielefeld, der von »ungelösten ›Altlasten‹« spricht, auf die neue »Wanderungsbewegungen« träfen.23 Als Erster hat Knut Dohse sich mit den Kontinuitäten befasst und sie als solche thematisiert, wobei er sie im Kontext der im Grundgesetz verankerten Rechtskontinuität verortet, wonach gemäß Art. 123 Abs. 1 GG weiterhin das Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages gilt, soweit es dem Grundgesetz nicht widerspricht. So wurde zwar die Ausländerpolizeiverordnung von 1939 als verfassungswidrig erklärt, das restriktive Regulierungsinstrument der Ausländerpolizeiverordnung hingegen wurde übernommen, wodurch, so Dohse, »das klassische Kontrollinstrument über Ausländer rekonstruiert« wurde, »die freie Befugnis zur Ausweisung von Ausländern, die nunmehr – anders als in der Weimarer Republik und im Kaiserreich – nicht mehr auf die Landesverweisung begrenzt war, sondern sich auf das gesamte Bundesgebiet bezog.«24 Dass das Kontinuitätsprin-



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Rotationsprinzip und permanente Kontrolle) wurden ohne große Diskussion aus der Vorkriegszeit in die Bundesrepublik übernommen.«,Cord Pagenstecher: Ausländerpolitik und Immigrantenidentität. Zur Geschichte der ›Gastarbeit‹ in der Bundesrepublik, Berlin 1994, S. 142. Vgl. Karakayalı, Gespenster, S. 97–98 und S. 100–101. Karin Hunn: ›Nächstes Jahr kehren wir zurück ...‹ Die Geschichte der türkischen ›Gastarbeiter‹ in der Bundesrepublik, Göttingen 2005, bes. S. 29–70. Herbert, Geschichte, S. 211. Herbert, Geschichte, S. 339. Bielefeld, Konzept des Fremden, S. 101. Knut Dohse: Ausländische Arbeiter und bürgerlicher Staat. Genese und Funktion von staatlicher Ausländerpolitik und Ausländerrecht. Vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik Deutschland, Königstein im Taunus 1981, S. 141/142. Klaus J. Bade, ein zentraler Protagonist der ehemals als ›Ausländerforschung‹ bezeichneten akademischen Agenda, die heute vor allen Dingen als ›Migrationsforschung‹ firmiert (von der die kritische Migrationsforschung sich abgrenzt), den Ulrich Herbert gar als »Pionier der historischen Migrationsforschung« bezeichnet (Herbert, Geschichte, S. 12), insistiert hingegen darauf, dass »die ›Fremdarbeiter-

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zip im Hinblick auf die Ausländerpolitik greifen konnte, liegt wiederum, so Dohse, an der mangelnden gesellschaftlichen Politisierung des Themas, in der sich die (von ihm konstatierte und durchaus zu hinterfragende) geringe Präsenz von »Ausländerbeschäftigung« mit dem »Fehlen öffentlicher Sensibilität für die Gesamtproblematik staatlicher Ausländerregulierung« vereine.25 Außer von Dohse wurde die Frage der Kontinuitäten vor allem in Forschungsarbeiten thematisiert, die in der DDR zur Geschichte der nationalsozialistischen ›Fremdarbeiter‹-Politik (also Zwangsarbeit) veröffentlicht wurden. Diese wurden allerdings in der BRD so gut wie nicht rezipiert, wie auch der ganze Themenkomplex ›Fremdarbeit‹ bzw. ›Ausländereinsatz‹ bis in die späten 1970er Jahre fast komplett aus der westdeutschen Historiographie ausgespart wurde. Als Oskar Lafontaine beim Parteitag der WASG 2005 von ›Fremdarbeitern‹ sprach (womit er den Zwangscharakter neuer Formen ›illegaler Migration‹ benennen wollte), löste dies heftige Diskussionen aus. Ulrich Herbert, Autor unter anderem von Fremdarbeiter. Politik und Praxis des ›Ausländer-Einsatzes‹ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reichs,26 wurde aus diesem Anlass von der FAZ zur Frage, wer denn nun von Fremdarbeitern gesprochen habe, interviewt. Auf die Frage »[i]st es ein Begriff der Nationalsozialisten?« antwortet Herbert: Nein. Das ist ein traditioneller deutscher Begriff für ausländische Arbeiter und schon seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert in Gebrauch. In anderen deutschsprachigen Ländern, vor allem in der Schweiz, ist er das bis heute. In der Bundesrepublik war er noch in den fünfziger Jahren üblich für Ausländer – in bedenkenloser Aufnahme des Sprachgebrauchs der Zeit vor 1945.27

›Fremdarbeiter‹ sei auch kein offizieller Begriff des Nationalsozialismus gewesen, er entstamme vielmehr »dem Volksmund«28. Genau hierin liege auch der eigentliche Skandal, so Herbert, der argumentiert, wie er auch in der eben genannten Monographie ausführt, dass »(d)as Bemerkenswerte daran ist, daß der Begriff ›Fremdarbeiter‹ nach 1945 ohne schlechtes Gewissen weiterbenutzt wurde, weil der sogenannte



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frage‹ im Dritten Reich und insbesondere im Zweiten Weltkrieg mit der in Kaiserreich und Weimarer Republik vorausgegangenen ›Wanderarbeiterfrage‹ ebensowenig vergleichbar [ist] wie mit der ›Gastarbeiterfrage‹ in der Bundesrepublik.« Klaus J. Bade: Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880 1980, Berlin 1983, S. 52–53. Dohse, Ausländische Arbeiter, S. 141. Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des ›Ausländer­Einsatzes‹ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999. Ulrich Herbert/Ulrich Platthaus: »Wer sprach vom ›Fremdarbeiter‹? Ein Gespräch mit Ulrich Herbert«, in: Frankurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Nr. 153 vom 05.07.2005, S. 31, http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/interview-wer-sprach-vom-fremdarbeiter-1255581. html, zuletzt abgerufen am 28.08.2014. Herbert/Platthaus, Wer sprach, o.S.

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›Ausländereinsatz‹ im Krieg von den Deutschen nicht als sensationelle Besonderheit wahrgenommen worden war.«29 Das heißt: Einerseits war es tatsächlich ein Begriff, der längst (bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs) gebräuchlich war,30 andererseits war es ein Begriff, der gerade für die allgemeine Beteiligung und das Alltagswissen der deutschen Bevölkerung am bzw. vom Nationalsozialismus steht. ›Fremdarbeiter‹ als Begriff steht damit nach dem NS für die Verdrängungsleistung in der BRD, und im NS für die Alltäglichkeit, unter der die ›Fremdarbeit‹ rubriziert wurde, und für ihre Ubiquität.31 In jüngerer Zeit wurde die Problematik der ›Stunde Null‹-Narration im Kontext postkolonialer Kritik erneut thematisiert, im deutschsprachigen Raum beispielsweise von Kien Nghi Ha, der den »historische(n) Reduktionismus« in der Ausländerpolitik und der entsprechenden Forschungsliteratur auf den Kolonialismus fokussiert und die »Erinnerungsabwehr« als »sekundären Kolonialismus« versteht.32 Während ich Kien insofern zustimme, als die Verdrängung der kolonialen Vergangenheit und die subkutane Präsenz dieser Vergangenheit – und ihrer Ausblendung – konstitutiver Bestandteil der Gegenwartsgesellschaft ist,33 halte ich eine solche Argumentation dennoch für







29 Herbert/Platthaus, Wer sprach, o.S. 30 Herbert, Fremdarbeiter, S. 437 Anm.1. 31 Erschütternd ist in diesem Kontext der kaum erwähnte Umstand, dass es zudem Zwangsarbeiter_innen gab, die (aufgrund ökonomischer Zwänge) als Gastarbeiter_innen erneut nach Deutschland kamen, siehe dazu Angela Melitopoulos: »Passing Drama. Eine experimentelle Dokumentation auf Video«, in: Beatrice von Bismarck (Hg.): Grenzbespielungen. Visuelle Politik in der Übergangszone, Leipzig/Köln 2005, S. 38–49. 32 Kien Nghi Ha: »Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik«, in Encarnación Gutiérrez Rodríguez/Hito Steyerl (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003, S. 56­–107, hier S. 57. 33 Das »deutsche Erschauern vor Fremden wurde nie auch nur aus der Entfernung von einem dekolonisierten Gedanken angeweht«, wie Diedrich Diederichsen 1996 so schön zugespitzt hat (Diedrich Diederichsen: Politische Korrekturen. Köln 1996. S. 101–102). Auch Sara Friedrichsmeyer, Susanne Zantop und Sara Lennox beschreiben Ende der 1990er Jahre, wie nachhaltig die koloniale Vergangenheit auch die deutsche Selbstwahrnehmung im 20. Jahrhundert beeinflusste. Insbesondere wichtig erscheint mir ihr Hinweis auf die zeitliche Verschränkung kolonialer Fantasien mit dem Drang zur Gründung der deutschen Nation. Die Autorinnen resümieren: »To date, and despite constant reminders that colonialist-­ racist thinking has not abated in German lands, a critical interrogation of the colonial and imperial fantasies that have populated them, has otherwise not been undertaken.« (Sara Friedrichsmeyer/Sara Lennox/Susanne Zantop: »Introduction«, in: dies. (Hg.): The Imperialist Imagination: German Colonialism and Its Legacy, Ann Arbor 1998, S. 1–32, hier S. 25). Sie schließen jedoch mit der konkreten Hoffnung, »that this amnesia will be soon overcome« (ebd.). Tatsächlich gab es seit dieser Diagnose eine Reihe von Interventionen, die die Ausblendung der kolonialrassistischen Vergangenheit und Erbschaften thematisiert haben. So fand bei­ spielsweise im November 2004 die Antikoloniale Afrikakonferenz statt, die den 120-jährigen

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problematisch, insofern die Kontinuitätsthese in den Dienst einer hermetischen und absoluten Rhetorik gestellt wird. Die notwendige Kritik wird durch ungenaue überhistorische Verallgemeinerungen verstellt. Achille Mbembe argumentiert beispielsweise (mit Fokus auf ›Afrika‹) für »multiple temporalities«.34 Er konstatiert zwar explizit: »As far as Africa is concerned, colonialism is over«, aber dies »does not mean to negate history or to erase memory.« Für Mbembe this means is that the ›post‹ in ›postcolony‹ does not refer at all to the idea of a regulated transition from one form to another form or duration. We cannot think in terms of a mechanical succession of ages. But in our attempt to create an impression of continuity, we cannot refer to the present and to its actors as simply shadow puppets of something or of somebody else. In my



›Geburtstag‹ der Berliner ›Afrikakonferenz‹ von 1884–85 zum Anlass nahm, um auf die verdrängte Bedeutung deutscher Kolonialgeschichte hinzuweisen. Auf dieser Konferenz unterzeichneten die Vertreter der 14 teilnehmenden Staaten die sogenannte Kongoakte, womit die internationale Krise um das Kongobecken beendet wurde. Auf der Konferenz wurden außer­ dem allgemeine Richtlinien und Spielregeln für den Erwerb von Kolonien aufgestellt; sie löste einen regelrechten Wettlauf um koloniale Besitzungen aus. Aus der Antikolonialen Afrikakonferenz, die dezidiert nicht nur die koloniale Vergangenheit in den Blick nahm, sondern auch die Gegenwart von Migration und Rassismus adressierte, ging zeitweilig auch die Film-Gruppe Remember Resistance (Enoka Ayemba, Brigitta Kuster, Julia Hohenfels, Jochen Becker) hervor. Die verhaltene Rezeption solch kritischer Projekte, die beständige Weigerung deutscher Politiker_innen, die Gräueltaten deutscher Kolonialherrschaft anzuerkennen, aus Angst ›Entschädigungsrelevantes‹ zu äußern, der Unwille, Straßennamen zu ändern, mit denen bis heute in vielen deutschen Städten Kolonialverbrecher gewürdigt werden, steht für die massive Nachhaltigkeit ebenjener gegenwärtigen, aber nicht vergegenwärtigten Kolonialgeschichte, die Friedrichsmeyer, Zantop und Lennox beschreiben. Nichtsdestotrotz hat im letzten Jahrzehnt die Zahl der Forschungen und Publikationen sowie künstlerischer und filmischer Auseinandersetzungen zu und mit deutscher Kolonialgeschichte stetig zugenommen. Für ersteres stehen insbesondere die Arbeiten von Birthe Kundrus, Joachim Zeller, Sebastian Conrad, Jürgen Zimmerer, Larissa Förster, Henning Melber, Siehe außerdem die Forschungsund Bildungsprojekte, die sich, vergleichbar zur Arbeit der Geschichtswerkstätten, seit Mitte der 2000er Jahre in einer Reihe von deutschen Städten, meist unter dem Signum ›postkolonial‹ gegründet haben, exemplarisch www.freiburg-postkolonial.de (zuletzt abgerufen am 05.09.2014). Für letzteres sei exemplarisch auf die gemeinsamen Videoarbeiten von Brigitta Kuster und Moïse Merlin Mabouna verwiesen, so z.B. 2006–1892=114 Jahre (D 2007, 7min, Loop), À travers l›encoche d›un voyage dans la bibliothèque coloniale. Notes pittoresques (D 2009, 25min) und *N dana ! (D 2014, 40min), Siehe dazu auch die »Note d’intention« von Kuster auf translate.eipcp.net vom 26.06.2006 (http://translate.eipcp.net/ strands/03/kuster-strands01de, zuletzt abgerufen am 05.09.2014); sowie die Filme von Martin Baer wie Weisse Geister (D 2004) und Befreien Sie Afrika! (D 1999) 34 Christian Höller/Achille Mbembe: »Africa in Motion. An interview with the post-colonialism theoretician Achille Mbembe«, in: Springerin 03 (2002), http://www.springerin.at/dyn/ heft_text.php?textid=1195&lang=en; zuletzt abgerufen am 05.092014.

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mind, the notion of the ›postcolony‹ refers to a timescape which is simultaneously in the process of being formed and of being dissolved through a movement that brings both the ›being formed‹ and the ›being dissolved‹ into collision. The term ›postcolony‹ indicates my desire to take very seriously the intrinsic qualities and power of ›contemporaneousness‹ while firmly keeping in mind the fact that the present itself is a concatenation of multiple temporalities.35

Mbembe bringt die »multiple temporalities« auch in Anschlag, um damit die Dominanz der Viktimisierungs- und Ressentimentsdiskurse zu durchbrechen.36 Es ist die Genauigkeit gegenüber den jeweiligen Dispositiven, die politisch zu ermächtigen vermag, nicht zuletzt, weil damit überhaupt erst Veränderung gedacht werden kann, und weil nur so »Migrantinnen und Migranten nicht als naive Opfer und Objekte von [als unentrinnbar gesetztem] Rassismus oder Migrationspolitiken reduziert und stigmatisiert werden.«37 Hito Steyerl argumentiert daher für eine Verbindung aus Verwandtschaft und Differenz im Blick auf die Resonanzen von Geschichte in der Gegenwart in der BRD.38 So seien in den fünf Formen politischer Herrschaft, die Deutschland seit seiner Nationengründung 1871 erfahren hat, »einerseits extrem verschiedene, andererseits aber auch wieder miteinander verwandte Formen biopolitischer Praxen«39 ausgeübt worden, ebenso wie es auch jeweils unterschiedliche »Economies of Otherness«40 gegeben habe. Auch Étienne Balibar notiert zur Frage von (rassistischen) Kontinuitäten und Brüchen, dass »die Gegenwart […] mit den besonderen Spuren der Vergangenheit verbunden [ist].«41 Kontinuitäten reichen dabei zur Charakterisierung der heutigen Situation nicht aus: »Sie sind dadurch vermittelt (wie Sartre sagen würde) oder überdeterminiert (wie Althusser sagen würde), daß sich globalere historische Ereignisse und Tendenzen im nationalen Raum widerspiegeln.«42 Er fasst zusammen: »eine sich endlos fortsetzende Ablagerung und ein relativ schneller, aber keineswegs eindeutig bestimmbarer Bruch.«43 Balibar thematisiert außerdem die ambivalenten Konsequenzen des (ethi-





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Höller/Mbembe, Africa, o.S. Vgl. Höller/Mbembe, Africa, o.S. Bojadžijev, Die windige Internationale, S. 13. Hito Steyerl: »Postkolonialismus und Biopolitik. Probleme der Übertragung postkolonialer Ansätze in den deutschen Kontext«, in: dies./Encarnacíon Gutiérrez-Rodriguez (Hg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003, S. 38–55, hier S. 40. 39 Steyerl, Postkolonialismus und Biopolitik, S. 41. 40 Bill Nichols, zitiert in Steyerl, Postkolonialismus, S. 41. 41 Étienne Balibar/Immanuel Wallerstein: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Hamburg 1990, S. 54. 42 Balibar/Wallerstein, Rasse, S. 54.

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schen und juristischen) Verbots, das als Folge des Nationalsozialismus ausgesprochen wurde, wie beispielsweise der »Zwang für den heutigen rassistischen Diskurs, die typischen Aussagen des Nazismus zu vermeiden.«44 Dieser Zwang dient als Garant für »die Möglichkeit, sich selbst im Hinblick auf den Nazismus als das Andere auszugeben, das mit Rassismus nichts zu tun hat«,45 also jene Konfiguration, die so offensichtlich in den Gründungsmythos der Bundesrepublik eingelassen ist. Obgleich ich in dieser Arbeit den Begriff ›Ausländer‹ also als zentral annehme, was unter anderem dem Wissen um Kontinuitäten und der Erkenntnis der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Geschichte(n) geschuldet ist, ist dies insofern zu qualifizieren, als ›Ausländer‹ für mich eine diskursive Anordnung – wozu auch Visualisierungen gehören – zuspitzt, der Begriff aber im Grunde eine Leerstelle darstellt. ›Ausländer‹ bzw. der Ausländerdiskurs stellen an sich bereits eine Aporie dar: Als rassenbezogenes Konstrukt gibt es ›Ausländer‹ nur als Effekt dieser Prozesse; politisch und rechtlich gibt es ›Ausländer‹ nur als Effekt einer konsistenten Politik gegen Einwanderung. Ich mache also die Iterationen des Gesetzes und des gesellschaftlichen Imaginären zu meinem Ausgangspunkt und iteriere sie damit. Damit gehört es zu den Aufgaben dieser Arbeit, mich mit den Gesetzen der Wiederholung und der Möglichkeit von Verschiebung darin, von Differenz und Wiederholung,46 auseinanderzusetzen. Zunächst geht es in dieser Arbeit also um das Sprechen von ›Ausländern‹ und ›Deutschen‹. Wenn es um die Subjekte geht, die mit der Rede von ›Ausländern‹ gemeint sind, spreche ich jedoch von Migrant_innen. Für beide Begriffe gilt: Es gibt sie »nur unter Verhältnissen, die sie zu […] solchen machen.«47 Die diese Gruppen erzeugende rassistische Subjektivierung findet immer in einem doppelten Sinn statt: als Subjektwerdung (subjectivation) und als Unterwerfung (subjection/assujettissement).48 Das heißt zum einen, dass die/der Einzelne dieses Verhältnis auch durch Formen der Selbstthematisierung in Institutionen verinnerlicht, zum anderen aber bedeutet es, Rassismus als soziale Auseinandersetzung zu begreifen, für die die Kämpfe der Migration konstitutiv sind. Diese These für eine relationale Theorie des Rassismus entwickelt Manuela Bojadžijev in ihrer Monographie Die windige Internationale. Rassismus und Kämpfe der Migration, in der sie schreibt: »Konjunkturen des Rassismus bestimmen, organisieren und reorganisieren sich in Kämpfen, das heißt in sozialen und politischen Auseinandersetzungen, die ihre Opponenten (die vielfältige



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Balibar/Wallerstein, Rasse, S. 54. Balibar/Wallerstein, Rasse, S. 53. ›Balibar/Wallerstein, Rasse, S. 53. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1997 Bojadžijev, Die windige Internationale, S. 15. Siehe dazu auch Judith Butler: Psyche der Macht, Frankfurt/M. 2001.

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sein können) erst in ihrer Identität und Formation hervorbringen, reproduzieren und transformieren.«49 Das heißt, Rassismus ist »[i]n der Art seines Vorkommens wie in seiner Entwicklung […] als solcher auch bestimmt von denen, die in verschiedenen Formen sich gegen ihn wehren.«50 Bereits 1980 hat Stuart Hall in »Rasse«, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante formuliert, dass Rassismen widersprüchliche Strukturen [sind], die zugleich als Vehikel für die Durchsetzung d­ ominanter Ideologien und als elementare Form von Kulturen des Widerstands dienen können. Jeder Versuch zur Beschreibung der Politiken und Ideologien des Rassismus, der diese konstanten Merkmale des Kampfs und Widerspruchs wegläßt, fällt bei seinem Erklärungsversuch auf einen untauglichen Reduktionismus zurück.51 1.1.1 ›Deutsch‹

Wir sind wieder wer. Aber wer? Und vor allem wieder? Und wieso immer wir? Graffiti52 Zentraler Ausgangspunkt für das Begriffspaar Deutsche-Ausländer ist die Anlage des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts (StAG) nach dem Prinzip des ius sanguinis,



49 Bojadžijev, Die windige Internationale, S. 46. 50 Demirović/Bojadžijev, Vorwort, S. 25. 51 Stuart Hall: »›Rasse‹, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante« [eine gekürzte Version von »Race, Articulation and Societies structured in Dominance« (1980), übersetzt von Ulrich Mehlem], in: Stuart Hall. Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, hg. von Ulrich Mehlem et al, Hamburg 1994, S. 89–136, hier S. 136. Der Text wurde auf deutsch genau zu dem Zeitpunkt publiziert, als die Verhandlungen über die Zulässigkeit und die (Wieder-)Verwendung des Begriffs ›Rassismus‹ in Deutschland Hochkonjunktur hatten. Bis weit in die 1990er Jahre hinein war ›Rassismus‹ ein delegitimierter Begriff, nicht nur im Rahmen politischer Auseinandersetzungen (zu Zeiten massiver Zunahme rassistischer Gewalt, wie z.B. in Mölln, Solingen oder Rostock seit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung), in der die ›freundliche Zivilgesellschaft‹ sich mit Lichterketten gegen die Behauptung, Rassismus sei Teil ihrer selbst, zur Wehr setzte, sondern auch innerhalb akademischer Debatten. Nichtsdestotrotz setzte gerade zu der Zeit, allerdings erst auf Druck selbstorganisierter Migrant_innengruppen, eine breitere Rezeption internationaler Rassismustheorien ein, wobei ein bedeutender Teil der Theoriearbeit nicht innerhalb der Universitäten bzw. wenn, dann an ihren Rändern, geleistet wurde.

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dem Recht des Blutes, also der Abstammung. Als zentrales Ordnungsprinzip bestimmt dieses Prinzip seit der Einführung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes 1913 (RuStAG) bis heute, also auch in der Neubestimmung von 2000 (durch die erstmalig ius-solis-Elemente in das Gesetz eingeführt wurden), die Vorstellungen vom Deutschsein als Abstammungsgemeinschaft. Die Frage, wer deutsch ist, wird im Grundgesetz Artikel 116, Abs. 1, geregelt. Darin heißt es unter anderem, dass Deutscher ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.53 Durch diese Verknüpfung von Deutschsein mit dem Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit ist die Definition des Grundgesetzes somit eigentlich eine rein staatsrechtliche und keine ethnische.54 Der Begriff des ›Deutschen‹ im Sinne des Grundgesetzes deckt sich – rechtstheoretisch – nicht völlig mit dem Begriff der deutschen Staatsangehörigkeit.55 Das Grundgesetz regelt nicht, wer unter den Begriff fällt, sondern delegiert es an das Staatsangehörigkeitsrecht. Das Grundgesetz schiebt dieser Delegierung jedoch voraus, dass – nach Art. 116 Abs.1 GG – ein Rechtsanspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft nur für solche Personen besteht, die die deutsche Staatsangehörigkeit schon besitzen, ferner für die Nachkommen der im Gebiet des Deutschen Reiches vom 31. Dezember 1937 bereits Ansässigen sowie für Flüchtlinge



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Der genannte Text von Stuart Hall erschien bei Argument, die seit 1989 ausgewählte Schriften Halls in bislang 5 Bänden publiziert haben. Die vom selben Verlag herausgebrachte Zeitschrift Das Argument war damit in dieser Zeit – den 1990er Jahren – ein wichtiges Publikationsorgan für Beträge zu den sogenannten neuen Rassismusdiskussionen (wie dem Rassismus ohne Rassen, den Antirassismusdiskussionen etc.). 1996 wurden dort (in der Ausgabe 215) auch (erstmalig) Texte postkolonialer Kritik in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Die spannendere Rezeption und Übersetzung postkolonialer Kritik fand jedoch in der (mittlerweile eingestellten) Zeitschrift Die Beute statt, zuerst in der Ausgabe Nr. 14 vom Sommer 1997. Ohne genaue Zeit-/Ortsangaben als Illustration abgedruckt in Annita Kalpaka/Nora Räthzel (Hg.): Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, Leer 1990, S. 28. Die Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft ist eine deutsche Besonderheit. Im Alltag meistens synonym gebraucht, ist der Unterschied jedoch signifikant. Staatsbürgerschaft steht im Sinne von citizenship oder dem französischen citoyen in einer bürgerlich-republikanischen Tradition und bezeichnet Rechte und Pflichten der Bürger_innen eines Staates. Staatsbürgerschaft bringt damit ein politisches Verhältnis zum Ausdruck. Staatsangehörigkeit hingegen bezeichnet eine rein rechtliche Institution, einen Rechtsstatus, und zwar die formale Mitgliedschaft in einem Staat, konkret also zunächst im Deutschen Reich, heute dann in der Bundesrepublik. (Siehe dazu genauer, besonders zur Geschichte, Theresa Wobbe: Soziologie der Staatsbürgerschaft. Vom Gehorsam zur Loyalität, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 2/8 (1997), S. 205­227.) Vgl. Lutz Hoffmann: »Nationalstaat, Einwanderung und ›Ausländerfeindlichkeit‹«, in: Manfred Heßler (Hg.): Zwischen Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft, Berlin 1993, S. 29–52, hier S. 40. Vgl. Konrad Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20., neubearbeitete Auflage, Heidelberg 1995, S. 129; Rn. 284.

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oder Vertriebene »deutscher Volkszugehörigkeit«. Volkszugehörigkeit wird im BVFG (Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge – Bundesvertriebenengesetz) geregelt, danach ist laut § 6, Abs. 1 »deutscher Volkszugehöriger […], wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.«56 Diese eindeutig ethnisch-völkische Definition des ›Deutschen‹ im BVFG findet sich aber auch als Prinzip im Grundgesetz. Dies wird am deutlichsten in dem Widerspruch, der zwischen jenen Grundrechten besteht, die allen vorbehalten sind, und solchen, die nur für Deutsche gelten.57 Das Grundgesetz spricht von ›Deutschen‹, wenn es die Inhaber_innen von Bürgerrechten bezeichnen will, und reflektiert so, durch die Unterscheidung von Deutschenrechten und Menschenrechten,58 die deutsche Staatstradition, die der Einheit der Deutschen Vorrang vor der Freiheit der Bürger gibt. So gibt es auch im neu geregelten StAG aus dem Jahr 2000 die Kategorie der Statusdeutschen, also Deutsche ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die sich aber über die ›deutsche Volkszugehörigkeit‹ als solche qualifizieren. Wichtig ist allerdings anzumerken (und zwar hinsichtlich des alten RuStAG ebenso wie des neuen StAG bzw. der aktuellen Rechtsprechung), dass Abstammung gemäß patriarchalen und rassistischen Leitlinien qualifiziert wird, so werden sogenannte ›Mischlingskinder‹, also Kinder deutscher Kolonialisten und ›einheimischer Frauen‹, von diesem Prinzip ausgeschlossen. Ebenso alle vor 1975 geborenen Personen, deren ›deutsche‹ Mütter mit einem ›Ausländer‹ verheiratet waren. Für diese galt bis dahin § 4 des RuStAG von 1913,









56 BVFG, Ausfertigungsdatum: 19.05.1953. Vollzitat: »Bundesvertriebenengesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. August 2007 (BGBl. I S. 1902), geändert durch Artikel 19 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2840)«. Neugefasst durch Bek. v. 10.8.2007 I 1902; Stand: geändert durch Art. 19 Abs. 1 G v. 12.12.2007 I 2840. Der Begriff ›völkisch‹ tauchte Ende des 19. Jahrhunderts als deutsche Ersetzung des Begriffs ›national‹ auf, und steht damit für einen ethnisch konstruierten Nationalismus. 57 Vgl. Dieter Oberndörfer: »Vom Nationalstaat zur offenen Republik – Zu den Voraussetzungender politischen Integration von Einwanderung«, in: Manfred Heßler (Hg.): Zwischen Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft, Berlin 1993, S. 53–66, hier S. 59. 58 »›Menschenrechte‹ sind diejenigen Grundrechte, die nicht nur einem bestimmten Personenkreis zukommen […]. ›Bürgerrechte‹ sind die Grundrechte, die ›allen Deutschen‹ gewährleistet werden (z.B. Art.8, 9, 11 GG).« (Hesse 1995: 129; Rn 284). Vgl. zu den Begriffen auch Michael Wollenschläger: Rechtsfragen eines Konzeptes gegen Ausländerdiskriminierung, in: Klaus Barwig et al (Hg.): Vom Ausländer zum Bürger, Baden-Baden 1994, S. 299–315, S. 300. 59 Wie beispielsweise im Falle Michael Samir al-Ayash, der 1974 in Hamburg als Sohn einer deutschen Mutter und eines irakischen Vaters geboren wurde. Al-Ayash sollte in den Irak ausgewiesen werden – eine Folge der Nachlässigkeit, mit der die Gültigkeit des grob verfassungswidrigen § 4 des RuStAG, das Ehefrauen als Anhängsel der Ehemänner behandelt,

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wonach mit einem ›Ausländer‹ verheiratete deutsche Frauen ihre Staatsangehörigkeit nicht an ihre Kinder vererben konnten.59 Dass das Staatsangehörigkeitsrecht aus dem Jahre 2000 nicht von der völkischen Definition des Deutschseins abgelöst ist, zeigt sich vor allem in der Praxis seiner Umsetzung. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Diskussion um die doppelte Staatsangehörigkeit: 1998 war die rot-grüne Koalition den Regierungswechsel unter anderem mit dem Versprechen angetreten, ein neues Einbürgerungsrecht und eine einwanderungsfreundliche Politik zu schaffen. Nach der von CDU und CSU 1998/99 initiierten Anti-Doppelpass-Kampagne fielen die Versprechungen allerdings rassistischen Polemiken und einer populistischen Politik zum Opfer. So wurde zwar das sogenannte Optionsmodell eingeführt, wonach jedes nach dem 1. Januar 2000 in Deutschland geborene Kind automatisch auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhält, vorausgesetzt ein Elternteil hat zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren seinen gewöhnlichen, rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland und besitzt ein unbefristetes Aufenthaltsrecht (§ 4 Abs. 3 StAG). Allerdings mussten sie zwischen dem 18. und 23. Lebensjahr gemäß § 29 StAG gegenüber der Staatsbürgerschaftsbehörde erklären, ob sie die deutsche Staatsangehörigkeit behalten wollen oder die andere Staatsangehörigkeit vorziehen (Erklärungspflicht). Die weitverbreitete Praxis der doppelten Staatsangehörigkeit wurde mit diesem Gesetz ausgehebelt. Im Ergebnis verloren zahlreiche junge Menschen durch die Optionsregelung ihre rechtliche Zugehörigkeit zu dem Land, in dem sie geboren und aufgewachsen waren. Wer sich gegen die deutsche Staatsangehörigkeit entschied oder schlicht die Entscheidungsfrist versäumte, was ebenfalls negativ ausgelegt wurde, also zum Verlust des Rechts auf die deutsche Staatsangehörigkeit führte, verlor auch den Aufenthaltstitel.60 Das



erst mit Jahrzehnten Verspätung, nämlich 1975, geändert wurde. Die Änderung war dabei außerdem halbherzig, da sie die vorher geborenen Kinder aus Ehen deutscher Mütter und ›ausländischer‹ Väter nicht automatisch zu Deutschen machte. Stattdessen mussten sie innerhalb einer Frist von drei Jahren eine förmliche Erklärung abgeben, in der der Wunsch zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit zum Ausdruck gebracht wurde. Allerdings erfuhren die meisten Betroffenen niemals von dieser Frist, was durchaus bekannt und vermutlich auch erwünscht war, wie Stefan Buchen beschreibt (vgl. Stefan Buchen: »Unerwünscht im Mutterland«, in: Zeit Online vom 13.05.2009; http://www.zeit.de/online/2008/16/unerwuenscht_im_mutterland; zuletzt abgerufen am 05.09.2014.). Michael Samirs Fall ist kein Einzelfall. Auch heute kämpfen eine Reihe von Betroffenen um ihr Aufenthaltsrecht, teilweise geht es sogar um ein Einreisevisum (wie im Falle von Ralph Ben Nira, der von seinem Vater 1979 nach Tunesien entführt wurde; seine Mutter lebt in Lüneburg). 60 Seit Einführung der Optionspflicht 1999 bis zur Revision der Optionspflicht im Sommer 2014 verloren zahlreiche Jugendliche, die mit zwei Pässen aufgewachsen sind, ihre deutsche Staatsbürgerschaft (nach Auskunft der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen in 2013 hochgerechnet ein_e Jugendliche_r alle drei Tage, vgl. Daniel Bax: »Alle drei Tage eine Ausbürgerung«, in: taz (12.06.2013), http://www.taz.de/!117963/; zuletzt abgerufen am 05.09.2014). Die Jugendlichen müssen sich zwischen dem 18. und dem 23. Lebensjahr für

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2000 reformierte Staatsangehörigkeitsgesetzt richtete sich aber auch in allen anderen Fällen dezidiert gegen doppelte Staatsangehörigkeiten. Es legt fest, dass demjenigen, der nach seiner Einbürgerung als Deutscher erneut seine frühere Staatsangehörigkeit erwirbt, der deutsche Pass wieder entzogen werden darf. Nicht nur, dass dieser Passus eine Zäsur markiert, die das bis dato jahrzehntelang gültige Recht zum Führen von zwei oder mehreren Staatsangehörigkeiten (vorausgesetzt, es besteht dauerhafter Aufenthalt im Inland) abgeschafft hat, also die sogenannte ›Inlandsklausel‹ aus dem ansonsten so erstaunlich beständigen (nach seiner Formulierung im Wilhelminischen Kaiserreich bestand es, wie bereits erwähnt, während der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der Bundesrepublik) Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 (RuStAG § 25 Abs. 1), eine genehmigungsfreie Ausnahmeregelung, kippt. Die Neuregelung war entsprechend auch vielen Betroffenen nicht geläufig – und die Art der Einführung hatte wohl auch etwas von einer Gesetzesfußnote, die nicht besonders bemerkt werden sollte. Sie fand dann auch Anwendung auf diejenigen, die das Prozedere für den Erwerb einer zweiten Staatsangehörigkeit nach vollzogener Einbürgerung bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes in Gang gebracht, aber eben die zweite Staatsangehörigkeit erst nach 2000 erhalten hatten. In einem solchen Fall entschied das Bundesverfassungsgericht, dass zwar das Grundgesetz den Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft grundsätzlich untersage (ein Passus, der eingeführt wurde, um Ausbürgerungen zu verhindern, wie sie die Nationalsozialisten praktiziert hatten, mit denen Menschen – als Juden – in einen rechtsfreien Raum überführt wurden, wo sie der bürokratisch organisierten Willkür ausgesetzt werden konnten61), die Neuregelung dennoch zumutbar sei, da es in der Hand der Betroffenen läge, die deutsche Staatsangehörigkeit zu behalten. Interessant ist in dieser Hinsicht, dass die daraufhin erfolgte massenhafte Ausbürgerung so gut wie ausschließlich Personen mit deutschem und türkischem Pass betraf.62 Dies mag verschiedene Gründe haben,63 nichtsdestotrotz ist



eine der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. Tun sie dies nicht, verlieren sie automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, sie werden faktisch ausgebürgert. Wer so sein Anrecht auf den deutschen Pass verloren hat, muss bei der Ausländerbehörde einen neuen Aufenthaltstitel beantragen – eine absurde bürokratische Posse, die, so Miltadis Oulios, deutlich den Unterschied zwischen dem Prinzip der Staatsangehörigkeit und dem der Staatsbürgerschaft markiert. (vgl. Miltadis Oulios: »Warst Du auch mal Deutscher?«, in: Zeit Online, 03.08.2009, http://www.zeit.de/2009/08/OpEd-Doppelpass; zuletzt abgerufen am 05.09.2014). Vgl. außerdem Hesse, Grundzüge, S. 309. 61 Die Einführung von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG geht auf den Bundestagsabgeordneten von Mangoldt zurück, der im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates auf Art. 13 der UN-Menschenrechtserklärung verwies: »Niemand kann willkürlich seiner Staatsangehörigkeit oder des Rechtes beraubt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln.« (siehe Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24.05.2006 zu einem Fall von »erschlichener Einbürgerung«, 2 BvR 669/04, C II, RN 36, http://www.bverfg.de/entscheidungen/ rs20060524_2bvr066904.html; zuletzt aufgerufen am 05.09.2014).

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signifikant, dass sich sowohl die Doppelpasskampagne als auch die Ausbürge­rungen gegen gerade ›die Türken‹ richtete.64 Dass Doppelstaatlichkeit, wie bereits bemerkt, eine jahrzehntealte Praxis ist (die im Übrigen auch weiter besteht), wurde dabei aus der öffentlichen Diskussion ausgeklammert. Angesichts der Diskussion um den Doppelpass vor der Bundestagswahl 1998 wie angesichts der Rechtsauslegung nach der Verabschiedung des neuen StAG gilt festzuhalten: Wer Deutsche_r sein kann und darf, ist eben auch weiterhin nicht nur eine rein staatsrechtliche Frage, sondern eine ›ethnische‹ Deutsche_r zu sein, bestimmt sich also durch drei Aspekte: zum einen durch die Zugehörigkeit zu einer ›ethnischen‹ Gruppe (dem deutschen Volk), dann durch den Status, Subjekt des Staates zu sein (als Staatsangehörige_r), und schließlich durch das Recht, an der politischen Willensbildung teilzuhaben (als Staatsbürger_in). In der Bundesrepublik sind die beiden letzten Punkte an die Erfüllung des ersten Merkmals gebunden. Es herrscht die Vorstellung eines ethnisch homogenen Volkes, das zudem Staat und Nation vorausgeht, bzw. die Vorstellung, dass diese notwendig aus jenem Volk erwachsen: Ethnos und Demos werden in der deutschen Nationalstaatstradition gleichgesetzt, nach der der demokratische im genealogisch-nationalen Mythos aufgeht.







62 Die verschiedenen anderen Doppelpass-Konstellationen werden zumeist davon verschont. Interessanterweise wurden jedoch gerade israelisch-deutsche Doppelpass-Inhaber_innen ebenfalls Opfer der deutschen ›Ausbürgerungen‹ (die offiziell ja so nicht genannt werden sollen). Infolge eines Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts in München 2001 verloren zahlreiche deutsch-israelische Doppelpass-Inhaber_innen ihren deutschen Pass. Allerdings wurde dieses Vorgehen schließlich doch im Kontext der besonderen historischen Konstellation, aus denen diese Doppelpässe hervorgegangen waren (nämlich der Alija Bet – also die Flucht jüdischer Deutscher vor dem Nationalsozialismus und deren Einwanderung nach Palästina bzw. Israel), skandalisiert, und das Bundesinnenministerium und das Auswärtige Amt bemühten sich umgehend um eine Lösung. Israelis können seither ihre deutschen Pässe behalten. Vgl. »Deutschland: Doppelpass bei Israelis erlaubt«, in: Migration und Bevölkerung, Eintrag vom 10.10.2005, Ausgabe 8 (2005), http://www.migration-info.de/artikel/2005–10–10/deutschland-doppelpass-israelis-erlaubt; zuletzt abgerufen am 05.09.2014. 63 So zum Beispiel der relativ größere Anteil türkischer Deutscher an der Gesamtbevölkerung als andere Mehrstaatler_innen. Dazu kommt, dass EU-Ausländer zur doppelten Staatsbürgerschaft berechtigt sind (ebenso wie Kinder aus binationalen Ehen sowie Menschen aus Ländern wie dem Iran oder Syrien, die Menschen generell nicht aus ihrer Staatsangehörigkeit entlassen). 64 Mark Terkessidis hat mich auf Gaby Straßburgers »Statement zum Sachverständigengespräch des Landtags Nordrhein-Westfalen zum Thema ›Zwangsheirat‹ am 15.02.2005« hingewiesen. Straßburger, Professorin für Sozialraumorientierte Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin zeigt darin den (vermeintlichen) Lapsus auf, dass die von der nordrhein-westfälischen CDU damals lancierte Zahl von 30.000 jährlichen bundesweiten Zwangsehen identisch ist mit der Zahl aller Eheschließungen zwischen türkischen Migrant_innen (vgl. Gaby Straßburger: »Arrangierte Ehen sind keine Zwangsehen!«, als pdf zum Download verfügbar unter: http://www.gaby-strassburger.de/publikationen.php; zuletzt abgerufen am 14.10.2014).

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1.1.2 ›Ausländer‹

Amin Farzanefar: Herr Schreckenberg, der ›Ausländer‹, dessen filmische Darstellung uns im Folgenden beschäftigen wird, ist nicht der Schweizer oder Schwede. Herr Schreckenberg: ›Ausländer‹ ist zunächst einmal der, der anders aussieht, sofort qua Physis als solcher zu identifizieren ist. In Deutschland, das kein Einwanderungsland war wie etwa Frankreich oder England, fand die erste Konfrontation mit ›richtigen‹ Ausländern Ende der 50er Jahre mit italienischen Arbeitsimmi­gran­ ten statt.65 Der Begriff ›Ausländer‹ bezeichnet die Kategorie derjenigen, die nicht Deutsche sind (bzw. sein dürfen). In einem formalen Sinn sind damit Personen gemeint, die nicht die inländische Staatsangehörigkeit besitzen.66 Ausländer sind also alle Nicht-Deutschen; das heißt, nach dem Gesetz ist Ausländer jeder, »der nicht Deutscher im Sinne des Artikels 116 GG Abs. 1 des Grundgesetzes ist.« (AufenthG § 2 Abs. 1), ergo Personen ohne deutschen Pass (und ohne die Option der Statusdeutschen), die sich im Inland aufhalten, unabhängig von Geburtsort oder Aufenthaltsdauer. Wer jedoch als Ausländer_in angerufen (mit Louis Althusser: interpelliert) wird, ist jedoch nicht notwendiger­weise kein_e deutsche_r Staatsbüger_in.67 Der Begriff ›Ausländer‹ verweist immer auch







65 Amin Farzanefar/Ernst Schreckenberg: »Eine entspannte Entwicklung? Kultur, Konstruktion, Klischee – die filmische Darstellung des ›Ausländers‹ im Wandel« Interview mit Ernst Schreckenberg. in: blimp, 42 (2000), S. 71­83, hier S. 72 (Hervorh. i.O.) 1999 hielt der damalige Leiter der VHS Dortmund, Ernst Schreckenberg, auf der ersten Ausgabe des Kölner Mittelmeer-Filmfestivals (das, so scheint es, nur wenige Jahre existierte) einen Videovortrag zum Thema »Kultur, Konstruktion, Klischee – die filmische Darstellung des ›Ausländers‹ im Wandel«. Amin Farzanefar führte auf diesem Festival ein Interview mit Schreckenberg, dessen Eröffnungsfrage ich hier zitiert habe. Veröffentlicht wurde das Interview im österreichischen Filmmagazin blimp, dessen Erscheinen 2001 eingestellt wurde. 66 Siehe dazu auch: Nanna Heidenreich: »Ausländer_in, Ausländer_innendiskurs«, in: Adibeli Nduka-Agwu/Antje Lann Hornscheidt (Hg.): Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen, Frankfurt/M. 2010, S. 93–101. 67 Ich wähle die männliche Form ›Ausländer‹ und ›Ausländerdiskurs‹ gezielt immer dann, wenn es um die Setzungen dieses Diskurses geht, da die problematische Geschlechterpolitik dieses Diskurses und die Problematik eines schwierigen Begriffs, um die es in dieser Arbeit ja gerade geht, nicht beschönigt werden sollen. Immer dann, wenn es um diejenigen geht, die von diesem Diskurs als ›Ausländer_innen‹ angerufen werden, verwende ich den Unterstrich/gender gap, um auf die sprachliche Verfassung von Zweigeschlechtlichkeit zu verweisen.

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auf ein erkennungsdienstliches System, wonach der Begriff eine Vorstellung zum Ausdruck bringt: Seine Realisierung im gesellschaftlichen Gefüge beinhaltet ein Moment der V/Erkennung,68 in der von Althusser beschriebenen Anrufung vollzieht sich die Unterordnung des Subjekts durch die Sprache, und zwar als Wirkung der autoritativen Stimme (der Polizist), von der das Individuum angerufen wird: »He, Sie da!«69 Und tatsächlich spielt die polizeiliche Anrufung im Ausländerdiskurs eine zentrale Rolle. Kontrollen durch Polizei und Grenzschutz tragen wesentlich zur Herstellung von ›Ausländern‹ mittels Prozessen der Rassisierung bei. Dies belegt die Praxis des racial profiling, die wiederum nicht zu trennen ist von der Illegalisierung von Migration, da die – eigentlich unzulässige – Praxis der rassistischen Personenkontrolle durch polizeiliche Befugnisnormen wie § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz (BPolG) ermöglicht wird, die verdachtslose Personenkontrollen zum Zweck der Migrationskontrolle vorsehen.70







68 Althusser stellt in Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung) die Gleichung »Ideologie = Wiedererkennung / Verkennung« auf (Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, übersetzt von Rolf Löper, Klaus Riepe und Peter Schöttler, Hamburg/Westberlin 1977, S. 149). Er beschreibt damit die spiegelhafte Wiedererkennung, durch die Individuen als Subjekte angerufen (interpelliert) werden, welche zum einen »ganz von alleine« (ebd., S. 128) funktioniert – sie ist evident – und zum anderen alle Individuen erfasst bzw. alle Individuen in Subjekte »transformiert« (ebd., S. 142). »Die Wirklichkeit, um die es bei diesem Mechanismus geht und die in den Formen der Wiedererkennung notwendig verkannt wird (Ideologie = Wiedererkennung / Verkennung), ist in der Tat letzten Endes die Reproduktion der Produktionsverhältnisse und der aus ihnen abgeleiteten Verhältnisse.« (ebd., S. 149; Hervorh. i.O.) 69 Eigentlich wiederhole ich hier einen verbreiteten Fehler: Es ist nicht der Polizist, der bei Althusser zuerst ruft, sondern die Freundin (!) oder der Freund, der zu Besuch kommt und anklopft. Erst auf die eigene Frage »Wer ist da?« antwortet sie (oder er – Althusser unterscheidet hier tatsächlich): »Ich bin’s!«, und tatsächlich, »wir erkennen dann in der Tat wieder, daß ›sie es ist‹ oder ›er es ist‹. Wir öffnen die Tür und sehen, ›sie ist es wirklich‹.« (Althusser, Ideologie, S. 141) Was wäre aus dieser Anordnung zu schlussfolgern? Vielleicht an dieser Stelle nur dies: Subjektivation findet nicht nur in Anrufungsverhältnissen zwischen Staat(smacht) und Individuum statt, sondern auch im Privaten, Persönlichen, zwischen Freund_innen, an der eigenen Wohnungstür. Es unterstreicht im Grunde nur Althussers Argument, das eben bei Foucault und später u.a. bei Judith Butler weiterentwickelt wird: Subjektivierung und Unterwerfung sind nicht voneinander zu trennen. Was möglicherweise bedeutender ist: Wieso wird nur der Ruf des Polizisten rezipiert (u.a. auch bei Butler)? 70 Vgl. die vom Deutschen Institut für Menschenrechte herausgegebene Studie von Hendrik Cremer: ›Racial Profiling‹ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1a Bundespolizeigesetz. Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei, Berlin 2013. Zumal die Grenze längst nicht mehr nur den Außenraum markiert, sondern auch den Innen­raum durchzieht, wie die Ausweiskontrollen an Bahnhöfen und anderen neuralgischen Punkten belegen, mit denen vor allen Dingen nach Personen ohne Aufenthaltsgenehmigung gefahndet wird, natürlich nach dem Prinzip des racial profiling. Siehe dazu Sebastian Sedlmayer: »Die Grenze ist überall. Ein Interview mit Hagen Kopp, einem Aktivisten der­­Organisation No Bor­-

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Diesen polizeilichen Aspekt greife ich auf, indem ich von den V/Erkennungsdiensten des Ausländerdiskurses spreche. Wer also als Ausländer_in angerufen wird, entscheidet sich nicht mittels der Passfrage, als die eine solche Entscheidung per definitionem präsentiert wird, sondern über eine Anordnung von Oberflächenlektüren, von ›Evidenzen‹71 und ›Gewusstem‹, in denen Haut- und Haarfarbe, Physiognomie, Sprache, Nach- oder Vorname, Habitus und andere typische Momente – von ›Körper‹ und ›Kultur‹72 –, die das Unterfangen der Rassisierung ausmachen, zum Einsatz kommen.73 Es ist eine Frage des Passings bzw. gerade des ›Nicht-Passierens‹ der Grenze.74





der, und Thomas Berthold vom Antirassismusbüro Bremen«, in Jungle World 33 vom 06.08. 2003, http://jungle-world.com/artikel/2003/32/11128.html; zuletzt aufgerufen am 05.09.2014. Eine theoretische Reflektion der Vermehrung von Grenzen (und ihrer Fassung nicht nur als Analyseobjekt, sondern als Methode und als epistemischer Perspektive) findet sich bei Sandro Mezzadra/Brett Neilson: Border as Method, or, the Multiplication of Labor, Durham 2013. 71 Wie John Rajchman ausführt, stammt das Wort ›Evidenz‹ vom lateinischen videre, d.h. sehen: »Im Lauf seiner Geschichte hat das Wort die Bedeutung von Beweis, Zeugnis und Klarheit oder Unzweifelhaftigkeit für den Verstand angenommen« (John Rajchmann: »Foucaults Kunst des Sehens«, in: Tom Holert (Hg.): Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln 2000, S. 40–63, hier S. 44). Evidenzen beschreibt Althusser als primäre ideologische Effekte (vgl. Althusser, Ideologie, S. 141). Althussers Konzept der Ideologie kann durchaus als Grundstein für den Diskursbegriff seines Schülers Michel Foucault verstanden werden, wie Althusser überhaupt als eine Art Mittler zwischen marxistischer Theorie und Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus gesehen werden kann. 72 Vgl. Jost Müller: Mythen der Rechten: Nation, Ethnie, Kultur. Berlin/Amsterdam 1995, S. 96. 73 Wobei es eine Art ›Hierarchie‹ gibt; Eckhardt Dittrich nennt sie gar »Ausländerhierarchie« (vgl. Eckhard J. Dittrich: Das Weltbild des Rassismus, Frankfurt/M. 1991, S. 52). In ihrem Klassiker Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein formulieren Annita Kalpaka und Nora Räthzel wie folgt: »Es gibt […] nicht die gleichen Vorbehalte und nicht die gleiche Ablehnung z.B. gegen Engländer, Amerikaner, Schweden usw. wie z.B. gegen Afrikaner, Türken, Spanier, Griechen« (Kalpaka/Räthzel, Die Schwierigkeit, S. 12). Teil der ›Ausländerhierarchie‹ sind neben Rassisierungsprozessen aber auch die Ausdifferenzierung in den Gesetzen (die verschiedenen Formen von ›Legalität‹, also des Aufenthaltsstatus‹), die wiederum Resonanzen finden in dem, was als ›antirassistische Arbeitsteilung‹ thematisiert wurde. Diese ist auch das Ergebnis einer an den vom Ausländergesetz diktierten Trennungslinien entlang organisierten Politik. Die Kritik an dieser Art von Arbeitsteilung war einer der Ansatzpunkte für das Bündnis Recht auf Legalisierung (www.rechtauflegalisierung. de; zuletzt aufgerufen am 05.09.2014). Siehe auch die kritische Reflexion der GfL (Gesellschaft für Legalisierung) von Frank John/Efthimia Panagiotidis/ Vassilis Tsianos (PRECLAB Hamburg): »Die Angst vor dem Elfmeter. Vom Versuch eine andere Gesellschaft zu realisieren«, in: transversal 07 (2007), http://eipcp.net/transversal/0707/preclab/de; zuletzt abgerufen am 05.09.2014. Kanak Attak äußerte sich zur Frage der ›antirassistischen Arbeitsteilung‹ unter anderem in einem Gespräch mit den Subtropen (in der Wochenzeitung Jungle World im November 2001) wie folgt: »Die Arbeitsteilung zeigt sich darin, dass die verschiedenen Gruppen je-

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weils ihre Spezialthemen haben. Sie beschäftigen sich mit Asylpolitik und Asylbetreuung, mit den Flüchtlingsregimes und der Deportationspraxis, mit der Selbstorganisation von Flüchtlin­ gen, mit linker Antirassismusarbeit oder mit Antifaschismus. Alle beschäftigen sich mit dem rassistischen Regime, oder besser, mit einzelnen seiner Aspekte. Hier hat sich eine Struktur der Arbeitsteilung ergeben, in der die Kompetenzen und Zuständigkeiten festliegen, eine S ­ truktur, die unangreifbar scheint. Für uns ist diese verfestigte Arbeitsteilung selbst Ausdruck der Krise der antirassistischen Szene. Sie schleppt diese Struktur seit ungefähr zehn Jahren mit. Schon vorher hatte sich diese Arbeitsteilung herausgebildet, wenn man an die Wohlfahrtsverbände denkt. Die Linke hat diese Struktur in gewisser Weise übernommen. Damit sind aber auch bestimmte Politikformen wie Non-Government-Organization oder Selbstorganisation festgelegt, verbunden mit einer politischen Praxis, die auf Betreuung oder Selbstverteidigung ausgerichtet ist. Wir kritisieren nicht die einzelnen Elemente dieser Politik, sondern ihre Strukturierung. In ihrer Struktur ist die Defensive schon eingeschrieben. Der entscheidende Punkt unserer Kritik ist der, dass die antirassistische Arbeit nicht über ein reaktives Verhältnis zu den gesellschaftlichen Transformationen hinauskommt. Jede Verschärfung eines Gesetzes ruft eine kalkulierbare Gegenreaktion hervor. Die Formen der Politik entsprechen immer noch denen von Wohlfahrtsverbänden. Sie hinken der Initiative der Herrschenden hinterher, weil es nicht möglich scheint, die verschiedenen Elemente der Aktivitäten zusammenzudenken.« (Kanak Attak: »Legalisierung statt Rasterfahndung. Migration, rassistisches Regime und linker Antirassismus. Kanak Attak im Gespräch mit Subtropen«, Jungle World 46 (07.11.2001), http://jungle-world.com/artikel/2001/45/24943.html, zuletzt abgerufen am 05.09.2014). 74 Passing bedeutet soviel wie ›Durchgehen als‹ (etwas anderes als das, was jemand vermeintlich ›ist‹), zum Beispiel als Mann durchgehen (aber Frau ›sein‹) oder für heterosexuell gehalten werden, aber lesbisch ›sein‹. Oder für weiß gehalten werden, aber Schwarz sein. Passing kann sowohl eine intendierte Praxis als auch ›Fehllektüre‹ sein. Seit der Veröffentlichung von Nella Larsons Roman Passing (1929) ist Passing ein immer wiederkehrendes Thema in den USA, insbesondere in Filmen, wie in Pinky (Elia Kazan, USA 1949) oder Imitation of Life (Douglas Sirk, USA 1959). Zu Passing siehe u.a. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übersetzt von Karin Wördemann, Frankfurt/M. 1995, Amy Robinson: »It Takes One to Know One: Passing and Communities of Common Interest«, in: Critical Inquiry 4/20 (Summer 1994), S. 715­736, Adrian Piper: Passing for Black, Passing for White, Passing for Black, zuerst veröffentlicht in Transitions (1992), wieder abgedruckt in: Adrian Piper: Out of Order, Out of Sight, Volume I. Selected Essays in Meta-Art 1968– 1992, Cambridge/Mass. 1996, online verfügbar unter http://www.adrianpiper.com/autobiography.shtml; zuletzt abgerufen am 05.09.2014, Aischa Ahmed: ›Na ja, irgendwie hat man das ja gesehen‹. Passing in Deutschland – Überlegungen zu Repräsentation und Differenz, in: Maureen Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte: Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, S. 270–282. Die Grenze passieren bedeutet unter dem Signum des gegenwärtigen Migrationsregimes (also vor allem illegalisierter Migration) auch eine stete Praxis des Passing, was hier heißt: des Unauffälligseins, sich den Grenzkontrollen, die nicht mehr (nur) am Außenraum stattfinden, entziehen, also aus dem Aufmerksamkeitsraum der Grenze, die mittlerweile ›überall‹ ist, verschwinden. John/Panagiotidis/Tsianos bezeichnen das mit Deleuze und Guattari als »Unwahrnehmbar-Werden«, dies., die Angst, o.S. Siehe dazu auch Dimitris Papadopoulos/ Niamh Stephenson/Vassilis Tsianos: Escape Routes. Control and Subversion in the Twenty-First Century, London 2008.

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Diesen Zusammenschluss von Wahrnehmen und V/Erkennen mit dem englischen Begriff race zu beschreiben, wird vermutlich keinen Widerspruch hervorrufen. Im Deutschen ist ›Rasse‹ hingegen (vermeintlich) unaussprechlich. Das Wort ist vor allem als nationalsozialistisches Konzept delegitimiert, genauer: Die Argumentation gegen die weitere Verwendung des Begriffs basiert auf Verweisen auf dem Nationalsozialismus.75 Wie Colette Guillaumin jedoch überzeugend argumentiert hat, ist mit dem Wort der Begriff, also die Vorstellung, keineswegs verschwunden. Was der Begriff ›Rasse‹ umfasst (und das in seiner, so Guillaumin, semantischen Grenzlosigkeit76), hat die gesellschaftliche Welt nicht verlassen, das Wahrnehmungsfeld, an das er appelliert, taucht in anderen Formen wieder auf, in anderen Worten oder in Umschreibungen oder Äquivalenzen (wie z.B. dem ›Volk‹), die den ideologischen Gehalt des verworfenen Wortes ›Rasse‹ wieder aufnehmen.77 Diese Weitergabe des semantischen Kerns bringt uns wiederum zum Gesetzestext zurück: Das Fundament des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts ist das Abstammungsprinzip.78 Von Deutschen und Ausländern zu sprechen, bedeutet daher immer









75 Wie bereits in Anmerkung 51 erwähnt, war in die Delegitimierung von ›Rasse‹ lange Zeit auch das Sprechen von ›Rassismus‹ eingebunden. Beide Begriffe galten als nur zulässig zur Beschreibung eines Außen, zeitlich oder geografisch (der Rassismus in den USA, die Rassepolitik der Nationalsozialisten usw.). Zum geteilten Gründungsmythos von BRD und DDR gehörte die Überzeugung, dass der Rassismus überwunden sei. In der Bundesrepublik setzte sich stattdessen die Rede von der Ausländerfeindlichkeit und von der Fremdenfeindlichkeit durch. Im Sommer 2008 kritisierte die UNO die Bundesrepublik unter anderem dafür, dass sie Verpflichtungen aus der Internationalen Konvention zur Beseitigung jeder Form von Rassismus bislang nicht erfüllt habe. Teil der Kritik des gleichnamigen Ausschusses (CERD) war der Umstand, dass in der deutschen Gesetzgebung Rassismus oder ›rassistische Diskriminierung‹ nicht definiert sind (Zumach 2008). Daraus ergibt sich die paradoxe Situation, dass einerseits das ›Ausländerthema‹ von breitenwirksamer Öffentlichkeit ist (wie beispielsweise die unsäglichen Integrationsdebatten), dass es aber trotz massiver rassistischer Gewalt (beispielsweise die NSUMorde, Angriffe auf Flüchtlingsheime u.v.m.) keine breite öffentliche Rassismusdiskussion gibt (vgl. Bielefeld, Das Konzept des Fremden, S. 101 sowie Manuela Bojadžijev« »Wer von Rassismus nicht reden will. einige Reflexionen zur aktuellen Bedeutung von Rassismus und seiner Analyse«, in: Imke Schmincke/Jasmin Siri (Hg): NSU Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse, Bielefeld 2013, S. 145–154.). Die Kritik daran fand daher den treffenden Slogan »Das Problem heißt Rassismus«: Es geht auch darum, zu benennen. 76 Vgl. Colette Guillaumin: »RASSE. Das Wort und die Vorstellung«, übersetzt von Eva Groepler, in: Uli Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt?, Hamburg 1991, S. 159–173, hier S. 162. 77 Vgl. Guillaumin, RASSE, S. 80. Guillaumin konstatierte bereits Anfang der 1990er Jahre treffend, dass zunehmend die ›Kultur‹ als Begriffssurrogat für den Wesenskern ›Rasse‹ zu dienen scheint, vgl. Guillaumin, RASSE, S. 171. 78 Und es ist gerade das Gesetz, das das Weiterleben des Worts und des Begriffs anerkennt und damit zugleich tradiert. Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes stellt beispielsweise fest: »Nie-

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auch, ›Rasse‹ zu evozieren, also eine Erbschaft zu verwalten, die nicht zur Sprache, aber zum Tragen kommt. Dieser Aspekt der semantischen Erbschaft, der unaussprechlichen, verborgenen Wirkungsweisen, ist ein zentraler Antrieb für diese Studie. 1.1.3 Der deutsche Ausländerdiskurs

›Ausländer‹ ist also zunächst ein juristischer Begriff. Der Bedeutungszusammenhang, der durch ihn aufgerufen wird, ebenso wie die Praxis seines Einsatzes verweisen jedoch auf ein Gefüge, das mit der Geschichte und den Bewegungen der Migration in (West-)Deutschland ebenso wie mit den Konjunkturen des Rassismus verknüpft ist, und das sich zwischen Sagbarkeiten und Unsagbarkeiten, Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten, also den Gefügen von Sprache, Vorstellung, Imagination, von (staatlichen) Institutionen und (gesellschaftlichen) Praktiken in steter Bewegung befindet. Die (imaginäre und reale) Relation Deutsche-Ausländer wird als Sagbarkeit behauptet, aber wesentlich über Sichtbarkeit verhandelt. Die Idee dieser Differenz basiert auf V/Erkennung: Ausländer werden eben nicht erkannt, sondern grundsätzlich

mand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« (Hervorh. N.H.) Aber auch im sogenannten »Zuwanderungsgesetz«, auch »Zuwanderungsbegrenzungsgesetz« genannt (korrekt: »Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet, kurz Aufenthaltsgesetz, AufenthG, dem Nachfolger des Ausländergesetzes), sowie allgemein in juristischen Texten zum EU-Antidiskriminierungsgesetz wird ›Rasse‹ verwendet, grundsätzlich ohne in Anführungszeichen gesetzt zu werden. Das Gesetz und das Internet, so Siegfried Jäger, stellen die beiden signifikanten Ausnahmen des ansonsten allgemein konstatierten Verschwindens des Wortes ›Rasse‹ dar (siehe Jäger, ›Rasse‹, o.S.). Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat daher auch »den Parlamenten und Regierungen auf Bundes- und Landesebene« empfohlen, auf die Verwendung des Begriffs ›Rasse‹ zu verzichten, und zwar gerade auch in Gesetzestexten: »Dies soll bereits bestehende Bemühungen im Kampf gegen Rassismus unterstützen. Die Empfehlung beinhaltet eine Änderung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes und des deutschen Grundgesetzes. Der Begriff ›Rasse‹ ist historisch extrem belastet und enthält rassistische Implikationen. Theorien und gedankliche Konstrukte, die Menschen in unterschiedliche ›Rassen‹ einteilen, waren und sind schon immer rassistisch. Sie schreiben Menschen pauschal bestimmte Eigenschaften zu und gipfeln in der Annahme höher- und minderwertiger ›Rassen‹. Dennoch wird bis heute in rechtlichen Bestimmungen, die eigentlich der Bekämpfung rassistischer Diskriminierung dienen, der Ausdruck ›Rasse‹ verwendet. In einigen anderen europäischen Ländern ist es bereits üblich, in Gesetzestexten von dem Begriff Abstand zu nehmen. In Deutschland ist dieser Schritt längst überfällig.« (aus einer E-Mail des Instituts vom 5. September 2008, siehe dazu auch www.institut-fuer-menschenrechte.de/sl.php?id=309, wo das Policy Paper als pdf zum Download erhältlich ist; zuletzt abgerufen am 05.09.2014).

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verkannt. Das bedeutet, dass eben gerade nicht von Morphologie, Somatik, Sprache, Namen usw. auf einen rechtlichen Status oder auch auf eine nationale Zugehörigkeit geschlossen werden kann. Die grundsätzliche Verkennung indiziert ebenjenes, bereits häufig formulierte Spannungsverhältnis zwischen der Nichtexistenz von ›Rasse‹ (›Rassen‹ gibt es nicht) und ihrer tatsächlichen materiellen Realität, den nicht wegzudiskutierenden Effekten von ›Rasse‹. So steht das Insistieren auf der Substanzlosigkeit von ›Rasse‹79 immer gegen die Auseinandersetzung mit dem Vorgang der ›Rassisierung‹, also des Prozesses der Herstellung und Realisierung der Idee und der Vorstellung von ›Rasse‹, welcher ebenjene materiellen Effekte zeitigt, die wiederum Ausgangspunkt bzw. Bestandteil des Vorgangs des Sehens, Wahrnehmens und V/Erkennens sind, die ›Ausländer‹ überhaupt erst zu solchen machen. Bevor ich auf diese Verknüpfung von Sagbarkeiten und Sichtbarkeiten komme, setze ich jedoch erneut am Sprechen von bzw. dem Sprechen über ›Ausländer‹ in der Gegenübersetzung zu ›Deutschen‹ an. Dies habe ich bereits in früheren Arbeiten als deutschen Ausländerdiskurs bezeichnet.80 Der Begriff taucht regelmäßig sowohl in akademischen Publikationen, anderer Literatur sowie den Medien auf und indiziert das genannte Sprechen von bzw. über. Ich verwende diesen Begriff nun ausgehend von ebendiesem sanktionierten Sprachgebrauch, um damit – zugleich darüber hinaus­weisend – im klassisch foucaultschen Sinne eine regulierte Praxis zu beschreiben, die jeweils festlegt, was und von wem in welchem Zusammenhang und in welcher materiellen Form geäußert werden kann: Die Macht, die der Diskurs besitzt, trennt das Sagbare vom Nichtsagbaren.81 Einen Diskurs zu analysieren, heißt daher nicht, die Aussagen in erster Linie nach ihrer Abbildungsfunktion zu befragen – also nicht: Wie geben Aussagen die Realität wieder, richtig, falsch, verschleiernd, adäquat? Vielmehr wird das Verhältnis von Aussage und Realität in ›umgekehrter Richtung‹ betrachtet: Wie wird Realität durch Aussagen und Begriffe geschaffen?82







79 Andererseits scheint auch der biologische Rassebegriff von erstaunlicher Beständigkeit. Siehe zu seiner Virulenz sowie allgemein zur Diskrepanz zwischen der wissenschaftlichen Widerlegung des Konzepts ›Rasse‹ und seinem Fortbestehen AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (Hg.): Gemachte Differenz Kontinuitäten biologischer »Rasse«­Konzepte, Münster 2009. 80 Vgl. Heidenreich, Race, Rasse, Rassismus; dies., »Ausländer_in«, dies., Von Bio- und Anderen Deutschen, sowie dies.: »Zuhause in den Unterschieden? Implikationen des Ausländerdiskurses für feministische Theoriebildung«, in: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung, Heft 2 (1999), S. 6–20; und dies.: »Deutsche Un/Sichtbarkeiten«, in: Eva Lezzi/ Monika Ehlers (Hg.): Fremdes Begehren. Transkulturelle Beziehungen in Literatur, Kunst und Medien, Köln/Weimar/Wien, 2003, S. 307–319. 81 Vgl. Gilles Deleuze: Foucault, übersetzt von Hermann Kocyba, Frankfurt/M. 1992., S. 71 82 Angelika Magiros: Foucaults Beiträge zur Rassismustheorie, Berlin 1995, S. 153, FN7; Hervorh. i.O.

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Der Ausländerdiskurs als solcher legt nicht nur die Zweiteilung in Deutsche und Ausländer fest, er impliziert Diskriminierung. Der Konsens, wonach es Ausländer und Deutsche gibt – und zwar als sich wechselseitig ausschließende Kategorien –, stellt immer auch einen Konsens über die Präferenz des Deutschen dar. Rassismus – in der Sprache des Ausländerdiskurses: ›Ausländerfeindlichkeit‹ – kann als Konsequenz dieses gesellschaftlichen Konsens immer schon vorausgesetzt werden. Die (vermeintliche) Unaussprechlichkeit von ›Rasse‹ (und die Weigerung, von Rassismus zu sprechen), die erstaunliche Sprechbarkeit von ›Fremdarbeitern‹, die Trope ›Wir‹ bzw. ›Uns‹, das Verschwinden der Rede von der Republik seit der deutsch-deutschen Vereinigung und eben auch die stete Rede von Ausländer_innen bzw. heute vor allem Migrant_innen: Stets sind diese Sagbarkeiten voraussetzungsreich, genauer: Sie gelten als vorausgesetzt. Gesprochen wird hier das scheinbar Selbstverständliche. That goes without saying – die englische Paraphrasierung des sogenannten gesunden Menschenverstands, des common sense, trifft es ebenso wie das deutsche selbstverständlich, also: Es versteht sich von selbst – und es muss nicht benannt werden, um gemeint zu sein. Was gesagt wird und zum Ausdruck kommt, muss voraussetzungsreich sein, um zu gelingen. Vorausgesetzt wird all das, was nicht gesagt wird, was also als immer schon gewusst angenommen wird, ebenso das, was nicht gewusst, aber wirksam ist, und schließlich das, was mit einem Tabu belegt, also unsagbar ist. Pierre Bourdieu bezeichnet solche ›gemeinsamen‹ Anschauungen, die auf impliziten Annahmen und Werten basieren, mit dem Begriff der Doxa: »Die Doxa ist eine besondere Sichtweise […], die sich als die allgemeine Sichtweise darstellt und durchsetzt.«83 Es gebe einen »politische[n] Urglaube«, so Bourdieu weiter, die genannte Doxa sei »eine rechte, eine herrschende Sicht, die sich nur über den Kampf gegen konkurrierende Sichtweisen durchsetzen konnte.«84 Das heißt, dass die Erfahrung des common sense »genau wie die Wahrnehmungskategorien, durch die sie möglich wird, ein politisch konstruiertes Verhältnis ist.«85 Bourdieu hebt also hervor, dass das, was zu einer Zeit als selbstverständlich gilt, auch als Ergebnis von Kämpfen gesehen werden muss. Eine zu einer bestimmten Zeit gegebene Selbstverständlichkeit war nicht immer selbstverständlich, und das Verschwinden anderer denkbarer Möglichkeiten ist als Effekt der geschichtlichen Entwicklung zu sehen, der »in der Abschaffung der Geschichte durch Verdrängung der parallel gegebenen, aber verworfenen Möglichkeiten«86 besteht. Das heißt: Die Sichtweisen und die Sprache des Ausländerdiskurses sind gerade als vermeintliche Selbstverständlichkeiten

83 Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, übersetzt von Hella Beister, Frankfurt/M. 1998 [1994], S. 121. 84 Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 120. 85 Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 120. 86 Bourdieu: Praktische Vernunft, S. 120.

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nicht unwidersprochen als solche instituiert worden. Und es gilt daher, beständig neuen Widerspruch zu erheben, unter anderem auch durch erneutes geschichtliches Denken. Zunächst gilt es, die diskursiven Anordnungen zu verkomplizieren. Von V/Erkennung zu sprechen, verweist (wie bereits benannt) auch auf Louis Althussers Konzept der Anrufung. In diesem Moment der Anrufung sind sowohl ›Subjekt‹ als auch ›Objekt‹ des Diskurses in einen Prozess der Subjektivation verwickelt: Den Neologismus der Subjektivation führt Reiner Ansén in seiner Übersetzung von Judith Butlers Psyche der Macht ein. Das englische subjection bedeutet im alltäglichen Gebrauch zwar ›Unterwerfung‹ und ›Abhängigkeit‹, »erinnert aber durch die lateinische Wurzel auch an das subjectum und damit an den Prozeß der Subjektwerdung.«87 Subjektivation gibt diese doppelte Bedeutung des Wortes wieder, ebenso wie es den englischen Neologismus subjectivation evoziert, der im Zuge der Auseinandersetzung mit den beiden Aspekten von ›Subjektwerdung/Unterwerfung‹ entstanden ist. Subjectivation wiederum diente als Übersetzung des französischen assujettissement bei Foucault. Die Vorstellung eines Subjekts (als Sprecherposition des Ausländerdiskurses) und eines Objekts (als Gesprochenes des Diskurses) muss in diesem Sinne aufgegeben werden: Die Anrufungen als ›Deutsche‹ bzw. ›Ausländer‹ finden durch die Institutionen des Staates statt.›Deutschsein‹ ist dabei in diese Institutionen des Staates eingelassen, schließlich geht es um die Aufrechterhaltung ebenjenes Gefüges und seiner Grenzen. Allerdings muss für den Ausländerdiskurs eine Unterscheidung zwischen den Denkfiguren und den Individuen getroffen werden, oder vielmehr: ein steter Exzess, der dem Prozess der Subjektivation innewohnt, gedacht werden; was auch heißt, dass die Denkfiguren immer von den ›Verunreinigungen‹ ihrer scheinbar absoluten binären Opposition heimgesucht werden. Hier finden sich Anschlüsse an die produktive Kritik an Edward Saids Klassiker von 1978, Orientalism,88 an dem u.a. problematisiert wurde, dass in dieser wegweisenden Analyse des Orient-Diskurses der ›Westen‹ und der ›Orient‹ nur als Gegenpole figurierten. Beide würden monolithisch gedacht, wobei das strukturalistische Konzept der binären Opposition, das den Orientalismus als okzidentale Denkfigur begründe, in der der Orient nur als Idee und Artikulation des Westens existiere, zu einer ›realen‹ binären Opposition gerinnen würde, geopolitisch wie kulturell.89



87 A.d.Ü in Butler, Psyche, S. 187, Anm.1. 88 Auf deutsch: Edward Said: Orientalismus, übersetzt von Liliane Weissberg, Frankfurt/M./ Berlin/Wien 1981. 89 Einen entscheidenden Beitrag lieferte die feministische Kritik. Siehe hierzu beispielsweise Reina Lewis: Gendering Orientalism: Race, Femininity and Representation, New York 1996; Billie Melman: Women’s Orients. English Women and the Middle East 1718­1918. Sexuality, Religion and Work, London 1995; Meyda Yeğenoğlu: Colonial Fantasies. Towards a Feminist Reading of Orientalism. Cambridge 1998. Für eine Überblicksdiskussion siehe Markus Schmitz: »Orientalismus, Gender und die binäre Matrix kultureller Repräsentationen«, in:

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Das Schweigen des Orients, das sich bei Said, so die Kritik, ausbreite, findet sich im Ausländerdiskurs in der Figur des sprachlosen Migranten, dem Stereotyp des »Arbeitsmigranten«, des »Seventh Man«, wie ihn John Berger und Jean Mohr90 in den 1970er Jahren beschrieben haben. Der Arbeitsmigrant/the Seventh Man ist eine Figur, die eine ganze Tradition antirassistischer Politik fundiert hat und die auch in Homi Bhabhas Artikel DissemiNation91 auftaucht. Deniz Göktürk, die Ende der 1990er Jahre ihre Forschung zu einem Kino des »wechselseitigen Grenzverkehrs« aufnahm und unter anderem in Multicultural Germany Project (einem Forschungsprojekt mit Anton Kaes) bis heute fortsetzt, kommentierte dies mit den Worten: »Der türkische Gastarbeiter tritt selbst bei Bhabha – in Anlehnung an John Berges A Seventh Man – als geradezu mythisch stumme Figur in Erscheinung, inkommensurabel, sprachlos und unfähig zu jeglicher Kommunikation.«92 Sie schließt daran die Ausgangsfrage ihres Artikels an, ob »diese stumme Figur mittlerweile sprechen gelernt hat.«93 Die Frage ›Wer spricht?‹ wendet sie auf den Bereich der Filmproduktion an: Was ist mit der kulturellen Produktion von Migrant_innen, wer macht welche Filme, und wer kommt darin wie zur Sprache? Fragen also, die auch für die vorliegende Studie von Bedeutung sind. Was hier zunächst festzuhalten ist: Wenn die Frage ›Wer spricht?‹ nur mit der Figur des stummen ›siebten Mannes‹ beantwortet wird (von der ›Frau‹ mal ganz abgesehen),





Alexandra Karentzos/Regina Göckede (Hg.): Der Orient, die Fremde. Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur, Bielefeld 2006, S. 39–66, hier S. 46–52. Die Kritik an Saids Orientalismus enthält auch eine gute Portion Fehllektüren. Diese Fehlektüren sind aber nicht einfach ›falsch‹ und als Irrtümer richtig zu stellen, sie sind auch produktiv. ›Orientalismus‹ ist nicht nur eine Studie von Said, sondern bezeichnet auch eine facettenreiche Rezeptionsgeschichte, deren Lektüren des Ausgangstextes diesen verändern, fortschreiben und sich in ihn einschreiben. Dies ist hier (auch inhaltlich) vergleichbar mit den Auseinandersetzungen um Gayatri Chakravorty Spivaks Frage »Can the Subaltern Speak?«. Siehe zur Geschichte einer produktiven Re-/Lektüre Alexander Joskowicz/Stefan Nowotny: »Editorische Nachbemerkung der Übersetzer. Zur Zweiten Fassung von ›Can the Subaltern Speak‹«, in: Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008, S. 149–159. 90 Der vollständige englische Titel lautet: A Seventh Man. A Book of Images and Words about the Experience of Migrant Workers in Europe, auf Deutsch: Arbeitsemigranten. Erfahrungen, Bilder, Analysen (übersetzt von Nils Thomas Lindquist, Reinbek 1976). Von John Berger stammt auch der Klassiker Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt (Reinbek 2000 [1974]), der 1972 erstmalig (auf Englisch) erschien, und in dem Gedanken aus der BBC Fernsehserie Ways of Seeing ausgeführt wurden. Das Buch geht einerseits davon aus, dass Sehen dem Sprechen vorgängig ist, und wir uns die Welt daher sehend erschließen, dass aber andererseits die Art unserer Wahrnehmung durch unser Wissen »beziehungsweise unseren Glauben« beeinflusst wird, S. 8. 91 Homi K. Bhabha: »DissemiNation. Time, narrative and the margins of the modern nation«, in: ders.: The Location of Culture, New York 1994, S. 139–170, hier S. 165 92 Göktürk, Verstöße, S. 102.

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findet eine doppelte Entsubjektivierung statt: die der Sprachlosigkeit und die der Handlungsunfähigkeit. Weder kann so Rassismus im Hinblick auf den immer konstitutiven Widerstand dagegen gedacht werden, noch kann Diskurs als reines Herrschaftsverhältnis gedacht werden, in dem die produktive Seite der Macht nicht reflektiert wird. Hier kommt wieder der Begriff der Subjektivation ins Spiel, der, wie Judith Butler ausführt, »den Prozeß des Unterworfenwerdens durch Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung« bezeichnet: »Ins Leben gerufen wird das Subjekt, sei es mittels Anrufung oder Interpellation im Sinne Althussers oder mittels diskursiver Produktivität im Sinne Foucaults, durch eine ursprüngliche Unterwerfung unter die Macht.«94 Das heißt, Subjektivation besteht in einer »grundlegenden Abhängigkeit von einem Diskurs, den wir uns nicht ausgesucht haben, der jedoch paradoxerweise erst unsere Handlungsfähigkeit ermöglicht und erhält.«95 Wie bereits erwähnt, gibt es ›Migrant_innen‹ bzw. ›Ausländer_innen‹ »nur unter den Verhältnissen, die sie zu […] solchen machen.«96 Während Berger und Mohr mit ihrem (Bild-)Band die schlechten Verhältnisse – »das Thema ist Unfreiheit«97 – der sogenannten Gastarbeitermigration dokumentieren und ihnen ein ›Gesicht geben‹98 wollen, bedienen sie sich einer Bildpolitik und Rhetorik der Viktimisierung, die zu hinterfragen besonders im Zusammenhang mit illegalisierter Migration und den Fragen von Subjektivität und Handlungsfähigkeit höchste Aktualität besitzt. Wie Serhat Karakayalı zu Viktimisierung ausführt, ist diese zum modus operandi im Umgang mit Migration allgemein geworden,99 wobei dies im jüngeren Kontext besonders deutlich im Feld des Anti-Trafficking ausformuliert ist: Mit dem Bild der Frau, die sich in die Hände von Schleppern und Schleusern begibt und dann in der Zwangsprostitution landet, werden Politiken der Migrationsverhinderung begründet.100 Auch deshalb, weil Migration »durch die Brille des Trafficking nicht als Strategie, sondern nur als Verbrechen imaginiert werden [kann], die subjektive Seite der Migration wird reduziert auf die kriminologischen Figuren von victims und villains.«101 Karakayalı verweist auf Jo Doezemas Arbeit, die zeigt, wie der moderne Trafficking-Diskurs elementare Strukturen des White Slavery-Diskur



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Göktürk, Verstöße, S. 102. Butler, Psyche, S. 8. Butler, Psyche, S. 8. Bojadžijev, Die Windige Internationale, S. 15. Berger/Mohr, Arbeitsemigranten, S. 7. Zum Topos des Gesichtgebens bzw. -zeigens siehe Kap. 3. Vgl. Karakayalı, Gespenster, S. 250. Ein gemeinsam mit Serhat Karakayalı verfasster Text beschäftigt sich ebenfalls – zumindest in Teilen – mit Opferdiskursen: Nanna Heidenreich/ Serhat Karakayalı: »Besitzstand und Behauptung. Die phallische Demokratie«, in: Gabriele Dietze/Claudia Brunner/ Edith Wenzel (Hg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 117–126. 100 Siehe dazu auch Kap. 2 und 4. 101 Karakayalı Gespenster, S. 242.

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ses wiederholt, der Ende des 19. Jahrhunderts in Europa aufkam.102 Die Figur des Menschenhandels tauchte explizit aber auch bereits im Kontext der Gastarbeiter_innen-Rekrutierung auf, wo ›Illegale‹ regelmäßig als Sklaven und Opfer von Ausbeutern bezeichnet wurden. Diese »Politik der skandalisierenden Bezeichnungen«103 wurde jedoch auch von Migrant_innen selbst eingesetzt. Der Unterschied beider Praktiken liegt auf der Hand: »Während die einen den Begriff der Sklaverei dazu benutzten, konkrete Arbeitsbedingungen anzugreifen, beschworen die anderen ein allgemeines Elend, das sie kausal mit der Migration in eins setzten.«104 Nichtsdestotrotz waren die Kämpfe der Migrant_innen unter diesem Signum ebenso sehr in die »widersprüchlichen Effekte der Sklaverei-Rhetorik«105 verwickelt. Dennoch, so argumentiert Karakayalı überzeugend, ist Viktimisierung nicht einfach nur ein perfider Plan zur Beherrschung und Kontrolle von Migrationen. Darauf deutet die bedeutsame Rolle feministischer Organisationen innerhalb des Trafficking-Diskurses hin. Ähnlich wie im Kontext des Schmuggelns ist die diskursive Transformation der MigrantInnen-Subjekte in Opfer die Bedingung für eine Allianz, in der auch die Position der MigrantInnen verhandelbar wird. Der Opferstatus ist Ausdruck eines asymmetrischen Kompromisses: Als Opfer muss der oder die MigrantIn ihre agency verleugnen und die politischen und ökonomischen Ursachen der Migration als reine Push-Faktoren – ausgenutzt von mafiösen Banden – darstellen. Nur unter diesen Bedingungen gelingt eine Integration in den Verhandlungsraum über Migrationsverhältnisse. Die Viktimisierung ist demnach ein Prozess der Gouvernementalisierung: Die Anrufung der Subjekte der Migration stellt zugleich einen Akt der Unterwerfung dar. Die MigrantInnen müssen, wenn sie als ›Opfer‹ sprechen, die gesellschaftlichen, politischen Bedingungen anerkennen, die es unmöglich machen, ihre grenzüberschreitenden Handlungen als subjektive Strategien darzustellen. […] Diese Unmöglichkeit, transnationale migratorische Praxis politisch zu artikulieren, hängt damit zusammen, dass der Akt der unerlaubten Überschreitung der Grenze mehr als ein Rechtsverstoß ist. Illegale Migration unterläuft vielmehr den gesellschaftlichen Kompromiss des ›national-sozialen Staates‹. Der tendenziell subversive Aspekt der Handlung wird mit dem Opfersubjekt abgespalten und externalisiert.106

Karakayalıs und Bojadžijevs Monographien sind in diesem Sinne Beiträge zu einer neuen kritischen Migrationsforschung und -theorie,107 in der Migration als soziale Bewegung begriffen wird, und die unter dem (gerne missverstandenen) Stichwort ›Auto-



102 103 104 105 106 107

Vgl. Karakayalı Gespenster, S. 246. Karakayalı Gespenster, S. 235. Karakayalı Gespenster, S. 235. Karakayalı Gespenster, S. 236 Karakayalı Gespenster, S. 249–250 Siehe hierzu u.a. das Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung, http://kritnet.org/; zuletzt abgerufen am 05.09.2014.

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nomie der Migration‹108 die Praktiken und Kämpfe von Migrantinnen und Migranten fokussiert, damit ihre Subjektivität ebenso anerkennt wie ihre (politische) Handlungsmacht, wie sie vom Ausländerdiskurs eben nicht artikuliert wird. Nach Said ist Orientalismus »auf Exteriorität gegründet, d.h. auf der Tatsache, daß der Orientalist, Dichter oder Wissenschaftler den Orient sprechen lässt.«109 Wobei »das Hauptprodukt dieser Exteriorität […] natürlich Repräsentation [ist].«110 Diese Exteriorität der Repräsentation wird immer durch eine Version der Wahrheit geleitet, die lautet, dass der Orient vertreten werden muss.111 Said zitiert hier Karl Marx’ Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: »Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden.«112 Es ist diese Denkweise, die beispielsweise Berger und Mohr zu der Aussage verleitet, dass nur eine sehr geringe Zahl von Emigranten politisch denken würde.113 Im Gegensatz dazu können (vielmehr: müssen) die Kämpfe der Migration und ihre Wege, gerade auch die des »vierten Wegs«114, also der sogenannten illegalisierten Migration, zum Ausgangspunkt für eine Umschrift der Vorstellungen von Subjekt, agency und dem Projekt des Politischen überhaupt genommen werden. Wie die australische Aktivistin und Theoretikerin Angela Mitropoulos konstatiert: »At stake in every politics of border controls is control over the border of politics.«115 Und: In a more specific sense, then, in discussions of migration the notion of autonomy comes to imply both an analytical proposition and a political disposition. First, it not only suggests the political-strategic precedence of the movements of people over those of capital and, not least,







108 Den Begriff hat der französische Wirtschaftswissenschaftler Yann Moulier Boutang geprägt, der damit die Irreduzibilität der Bewegungen der Migration auf Versuche ihrer Kontrolle und die sozialen und subjektiven Aspekte von Migrationsbewegungen hervorhob. Yann Moulier Boutang: De L’esclavage au salariat, Paris 1998. Sowie Yann Moulier Boutang : »Nicht länger Reservearmee. Thesen zur Autonomie der Migration und zum notwendigen Ende des Regimes der Arbeitsmigration«, in: Subtropen Nr. 12. Jungle World vom 03.04.2002, http:// jungle-world.com/artikel/2002/14/24171.html; zuletzt abgerufen am 05.09.2014. 109 Said, Orientalismus, S. 30. 110 Said, Orientalismus, S. 30. 111 Vgl. Said, Orientalismus, S. 30. 112 Dieses Zitat führt ein eigentümliches Eigenleben, da es in vielen Zusammenfassungen von und Kommentaren zu Orientalismus erwähnt wird und oft dazu dient, Marx implizit in eine Reihe mit den von Said zitierten Orientalisten zu stellen. Warum Said nicht erwähnt, dass Marx in diesem Text nicht über den ›Orient‹, sondern über Fragen der Repräsentation der französischen Bauern im Kontext der revolutionären Erhebungen 1848/49 spricht (wobei er für die Parzellenbauern diagnostiziert, dass diese sich nicht als Klasse begreifen und organisieren könnten), bleibt unklar. Für eine differenzierte Diskussion von Marx‹ Schreiben über den Orient aus postkolonialer Perspektive siehe u.a. Aijaz Ahmad: In Theory. Classes, Nations, Literatures, London 1992. 113 Vgl. Berger/Mohr, ArbeitsemigrantenS. 144. 114 Vgl. Karakayalı, Gespenster, S. 99.

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the state’s policies which give strategic and subjective form to capital […]. It also involves an insistence that migration is a strategy —a strategy, that is, undertaken in and against the cramped spaces of the global political economies of work, gender and desire, among other things, but a strategy for all that.116

Yann Moulier-Boutang, dem wir die These von der ›Autonomie der Migration‹ verdan­ ken, hat dies 1999 um die Beschreibung »the art of flight«, die Kunst des Exodus, erwei­tert,117 welche die Verweigerung, die Flucht, nicht als passive, sondern als aktive politische Artikulation versteht.118 In der Folge hat sich so das wichtige Diktum entwickelt, Migration müsse als politische und soziale Bewegung verstanden werden. Migrant_innen als Akteur_innen und Handelnde der Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft statt als ihr konstituierendes ›Außen‹ zu sehen, stellt, so Rutvica Andrijašević, eine Herausforderung für »die das Feld des Politischen bestimmende Grenze dar«.119 Und auch heute, mehr als eine Dekade später, geht es darum, die refugee-Proteste überall in Europa (und nicht nur dort) als Ausdruck einer Neuformierung politischer Subjektivität zu begreifen. Exemplarisch hierzu Ilker Ataç: Die Proteste dienen nicht nur dem Sichtbarwerden bislang politisch unsichtbar gemachter Subjekte, sondern lassen auch den Willen erkennen, dass es sich diese nicht mehr gefallen lassen, räumlich, sozial und rechtlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Im Zentrum der Bewegung stehen dabei selbstartikulierte Forderungen, die mit ihrem Kampf um die Konstituierung als politisches Subjekt einhergehen. […] In vielen Fällen ist […] bereits der Grund für die Flucht ein politischer Akt, die Entscheidung zur Flucht wird zu einem politischen Akt und auch die Reisebedingungen sowie die Notwendigkeit, sich im Hinblick auf die Schutzsuche in einem anderen Land zu organisieren, sind politische Akte.120







115 Angela Mitropoulos: »Autonomy, Recognition, Movement«, in: the commoner 11 (2006), S. 5–14, hier S. 9. 7–8. 116 Mitropoulos, Autonomy, S. 7–8; Hervorh. N.H. 117 Stanley Grelet/Yann Moulier Boutang: »The Art of Flight. An Interview with Yann Moulier Boutang”, in: Rethinking Marxism 3/4 (2001), S. 227–235. 118 Zum Exodus siehe auch: Papadopoulos/Stephenson/Tsianos, Esacpe Routes; zur Analyse so genannter sozialer Nicht-Bewegungen als politisch siehe Asef Bayat: Leben als Politik, übersetzt von Karl Hoffmann, Berlin 2012, der hierfür urbane subalterne Bewegungen im Iran untersucht. 119 Rutvica Andrijašević: »Der Wandel von Souveränität und BürgerInnenschaft in Europa, in«: Kulturrisse, 01 (2009), http://kulturrisse.at/ausgaben/012009/oppositionen/der-wandel-vonsouveraenitaet-und-buergerinnenschaft-in-europa; zuletzt abgerufen am 05.09.2014. Siehe hierzu auch das Unterkapitel »The Subject of Politics« in Mezzadra/Neilson, Border as Method, S. 251–257. 120 Ilker Ataç: »Die Selbstkonstituierung der Flüchtlingsbewegung als politisches Subjekt«, in: Transversal 03 (2013), http://eipcp.net/transversal/0313/atac/de; zuletzt abgerufen am 05.09. 2014.

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Die Doxa des deutschen Ausländerdiskurses ist, wie gesagt, als Ergebnis politischer Kämpfe zu betrachten: Dessen Verschränkungen von Sag- und Sichtbarkeiten sind nicht ohne Widerspruch zur scheinbaren Selbstverständlichkeit des V/Erkennens geworden. Diese Widerstände waren und sind vor allen Dingen in den Kämpfen der Migration zu sehen. Dem, was der deutsche Ausländerdiskurs sprachlich und visuell einzuzäunen versucht, steht die »windige Internationale«121 der Migrant_innen entgegen: »Es sind gerade die unsteten, temporären und flüchtigen Aspekte ihrer Organisierung, die ein anderes Verständnis sozialer Kämpfe, ihrer Geschichte und Zukunft zu denken ermöglichen.«122

1.2 S ichtbares Geglaubt wird nur, was gesehen wird. Michel de Certeau123 Seeing is a great deal more than believing these days. Nicholas Mirzoeff124 Den Begriff des Diskurses verwende ich, gerade weil damit das Sprachliche Ausdruck findet, und obwohl ich damit Gefahr laufe, anzudeuten, dass es sich darin erschöpft. Anders gesagt, findet darin gerade das Aporetische des von mir beschriebenen Zusammenhangs – des Ausländerdiskurses – seinen Ausdruck. Die Sprache des Ausländerdiskurses reguliert die Ausblendungen des Visuellen, die Implikation und Voraussetzung des Visuellen ermöglichen wiederum die Sprache des Ausländerdiskurses. Gerade weil nicht von ›Rasse‹ und ebenso regelmäßig nicht von Rassismus gesprochen wird, wird der Prozess der Rassisierung, der sich als V/Erkennen ereignet, als Wahrnehmungsvorgang, der entscheidend im Visuellen angesiedelt ist, ausgeklammert. Der Ausländerdiskurs funktioniert so als evidente Anordnung: Das sieht man doch! Sichtbarkeit und Sagbarkeit, Sprache und Sehen – hier bietet es sich an, Gilles Deleuze zu lesen, der Michel Foucault liest: Wissen (von, also über etwas) entsteht in einem historisch bedingten Zusammenspiel von Sichtbarem und Sagbarem: »Eine Art des Sagens und eine Weise des Sehens, Diskursivität und Evidenzen: jede Schicht besteht aus einer Kombination beider, und von einer Schicht zur anderen findet eine Va

121 122 123 124

Bojadžijev, Die Windige Internationale. Bojadžijev, Die Windige Internationale, S. 19. Michel de Certeau: Kunst des Handelns, übersetzt von Ronald Vouillé, Berlin 1988, S. 330. Nicholas Mirzoeff: »What is Visual Culture«, in: The Visual Culture Reader, 1998, S. 3–13, hier S. 3.

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riation der beiden und ihrer Verbindungen statt.«125 Wissen ist also der Link zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, und Wissen ist mit Macht verknüpft. Die Frage, wie genau Sichtbarkeit und Sagbarkeit korrelieren, ist damit zuallererst eine politische. Voraussetzung ist dabei, die entgegen ihrer Verschaltung existierende Disjunktion von Sehen und Sprechen mitzudenken.126 »Solange man bei den Dingen und den Wörtern stehen bleibt, kann man glauben, von dem zu sprechen, was man sieht, und das zu sehen, wovon man spricht, und daß beides sich miteinander verkettet: man verbleibt damit bei einem empirischen Unterfangen.«127 Das Sichtbare und das Sagbare nehmen sich gegenseitig in Anspruch, umklammern sich und sind doch zugleich wesentlich heterogen.128 Bevor ich jedoch auf diese wesentliche Heterogenität zu sprechen komme (wozu ich ins Kino gehe), soll es um den gegenseitigen Anspruch, die Umklammerung von Sichtbarkeit und Sagbarkeit gehen. Eine Trope des deutschen Ausländerdiskurses, der die Verbindung von Sichtbarkeit und Sagbarkeit zu garantieren versucht, ist die Frage (nach) der Herkunft: »Woher kommst Du?« Sie wird beharrlich an diejenigen gerichtet, die nach den Regeln des Diskurses nicht als Deutsche, sondern als ›Ausländer‹ v/erkannt werden. Die Frage wird auch dann mit Insistenz gestellt, wenn die Antwort beispielsweise lautet, »aus Mannheim«: »Ja, aber eigentlich, ich meine: ursprünglich?« Diese Frage adressiert weder Lebensgeschichte, noch ist es tatsächlich die berühmte Passfrage, sie steht vielmehr paradigmatisch für eine Art Alltagshermeneutik, mit der Oberfläche und Substanz durch ›Wahrheit‹ verbunden sind (und sie bezieht ihre Logik aus der nationalen Narration der Deutschen, die sich vor allen Dingen genealogisch artikuliert, in der ethnischen Vorstellung vom Volk129). Dazu gehört beispielswei-



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Deleuze, Foucault, S. 71. Vgl. Deleuze, Foucault, S. 92. Deleuze, Foucault, S. 93–94. Vgl. Deleuze, Foucault, S. 97. Am 31.Oktober 1990 lehnte das Bundesverfassungsgericht einstimmig die Rechtmäßigkeit des kommunalen Wahlrechts für ›Ausländer‹ ab. Die Begründung lautete, dass die Verfassung die Rolle des demokratischen Souveräns ausschließlich dem deutschen Volk reserviere. Dennoch schloss das Gericht sich zumindest nicht dem Vertreter der Bundesregierung an, Dr. Hans-Jürgen Papier, welcher formulierte, das deutsche Volk sei eine durch gemeinsame Herkunft, Kultur und Geschichte geprägte unentrinnbare ›Schicksalsgemeinschaft‹, die in ihrer Substanz nicht verändert werden dürfe (vgl. Josef Isensee/Edzard Schmidt­-Jortzig (Hg.): Das Auslanderwahlrecht vor dem Bundesverfassungsgericht: Dokumentation der Verfahren, Heidelberg 1993, S. 421 und S. 528). Im Gegenteil stellte es fest, dass es dem Gesetzgeber freistehe, den hier lebenden Ausländern den Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft zu erleichtern (vgl. ebd., S. 676). Die Frage nach der »künftigen Gestalt des deutschen Volkes« (Funk 1995: 313) wurde so an das Parlament rückverwiesen. 1994 wurde in der EU das

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se, dass »schwarze Deutsche gewöhnlich als ›Ausländerinnen und Ausländer‹ betrachtet«130 werden. ›Ausländer‹ appelliert somit an das gleiche Wahrnehmungsfeld wie das üblicherweise verworfene Wort ›Rasse‹. Dieses Wahrnehmungsfeld wird von den erkennungsdienstlichen Klassifikationssystemen des Ausländerdiskurses organisiert. Der Ausländerdiskurs als rassisierendes Klassifikationssystem funktioniert also (auch) im Feld des Sichtbaren, wobei dies vom Diskurs selbst ausgeblendet wird: ›Rasse‹ und damit Rassisierung gibt es vermeintlich nicht, und ›Ausländersein‹ wird als reine Passfrage behauptet. Genau dieses Moment des Sehens und Erkennens wird von dieser Arbeit in den Blick genommen, also wieder eingeblendet. Es ist jedoch immer als eine Verfehlung zu begreifen, da rassisierende Zuschreibungen nie ›wahr‹ sind. Es gibt keinen realen Referenten für die Konstruktionen des Ausländerdiskurses. Es gibt zwar Menschen mit verschiedenen Pässen, aber die Konstruktion des ›Ausländers‹ verweist auf ein Mehr als das: Es ist eine naturalisierende Kategorie, die sich ähnlich wie ›Rasse‹ auf Oberflächeneinschreibungen bezieht. Die Formierung von ›Rasse‹ ist – auch unter dem Signum von Kultur oder Ethnizität – untrennbar mit dem Visuellen verbunden. Von sichtbaren Charakteristika wird auf unsichtbare Eigenschaften geschlossen: »Race is a regime of looking that moves from surface to depth.«131 Diese Verbindung von Visualität und Rassismus, die Einschreibung einer fiktiven Differenz in eine sichtbare – oder als sichtbar angenommene – Differenz findet im Begriff der Rassisierung einen expliziten Ausdruck. Der Begriff taucht nach Robert Miles zuerst bei Frantz Fanon auf, der in Die Verdammten dieser Erde von der »Rassisierung des Denkens«132 spricht. Das regime of looking der Rassisierung hat seinen wohl meistzitierten Ausdruck in Fanons Eröffnung des Kapitels Die

kommunale Wahlrecht für alle EU-Bürger eingeführt, sodass EU-Ausländer in Deutschland an Kommunalwahlen teilnehmen dürfen, und zwar bereits 3 Monate nach ihrer Einreise. Bis heute gibt es regelmäßige Vorstöße in verschiedenen Bundesländern, das kommunale Wahlrecht auch für Nicht-EU-Ausländer einzuführen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1990 steht dem allerdings weiterhin entgegen. 130 May Ayim: »Die afro-deutsche Minderheit«, in: Susan Arndt (Hg.): AfrikaBilder. Studien zu Rassismus in Deutschland, Münster 2001, S. 71–86, hier S. 71. 131 Liz Philipose: »The Politics of Pain and the Uses of Torture«, in: Signs: Journal of Women in Culture and Society, 4/32 (2007), S. 1047­–1071, hier S. 1052. Philipose bezieht sich hier auf Sheshadri Crooks und Laura Ann Stoler. Zur Geschichte von ›Rasse‹ siehe u.a. Christian Geulen/Theodore Allen/David Bindman: Ape to Apollo, Aesthetics and the Idea of Race in the 18th Century, Ithaca 2002; Theodore W. Allen: The Invention of the White Race, Bd. 1. Racial Oppression and Social Control, London/New York 1994. 132 Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde [1961], übersetzt von Traugott König, Frankfurt/M. 1968, S. 162. Diese historische Setzung von Miles wurde zwar bereits korrigiert, so Karim Murij und John Solomon, dies stellt jedoch Miles‹ eigene einflussreiche Konzeptualisierung des Begriffs nicht in Frage. Vgl. Karim Murij/John Solomon: Racialization: Studies in Theory and Practice, New York 2005, S. 5, sowie Robert Miles: Racism, London 1989.

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erlebte Erfahrung des Schwarzen in seinem Klassiker Schwarze Haut, weiße Masken gefunden: »Sieh mal, ein Neger!«133 Mit dieser Exklamation bringt Fanon die Erfahrung einer »erdrückenden Objektivität«134 zum Ausdruck135, der Überdeterminierung von außen, die sich im Blick konstituiert (nicht irgendein Blick: »Schon sezieren mich die weißen Blicke«136) und ihn in dieser Visualität einschließt: »Ich bin fixiert.«137 Sieh mal! Das Evidente, der Imperativ und das Ausrufungszeichen: Diese ­Verbindung steht auch bei Althusser für die V/Erkennung: Evidenzen sind primär, schreibt er, wir können nicht umhin, sie anzuerkennen bzw. wiederzuerkennen, wie beispielsweise die Evidenz – die Annahme, dass es so sei – sprachlicher ›Transparenz‹. In der Reaktion des Ausrufens bei Althusser: »Das ist evident! Genau so ist es! Das ist wahr! […] findet die Funktion der ideologischen Wiedererkennung/Anerkennung (reconnaissance) ihren Ausdruck«, deren Gegenstück das der »Verkennung (méconnaissance)« 138 ist. Für das mit einem Ausrufezeichen und als Aufforderung sich präsentierende Evidente entleihe ich nun einen Begriff, der eigentlich aus der Dokumentarfilmtheorie stammt, nämlich den des indexical wham.139 Als indexikalisch beschreibt Charles Sanders Peirce diejenigen Zeichen, deren zeichenkonstitutive Beschaffenheit in einer Zweitheit oder in einer existentiellen Relation zu seinem Objekt liegt. […] Das indizierte Objekt muß tatsächlich vorhanden sein: dies macht den Unterschied zwischen einem Index und einem Ikon aus. […] So ist ein Foto ein Index, weil die physikalische Wirkung des Lichts beim Belichten eine existentielle eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fotos und den Teilen des Objekts herstellt, und genau dies ist es, was an Fotografien oft am meisten geschätzt wird.140







133 Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken [1952], übersetzt von Eva Moldenhauer, Wien 2013, S. 101. 134 Fanon, Schwarze Haut, S. 101. 135 Die französische objectivité écrasante wurde in der englischen Erstübersetzung von Charles Lam Markman zu »crushing objecthood«. Ich erwähne dies deshalb, weil der größte Teil der rassismustheoretischen Fanon-Rezeption sich auf die englische Übersetzung bezieht und meiner Ansicht nach in erdrückender Objektivität die Geste des Zum-Objekt-der-Anschauung-gemacht-Werdens nicht so deutlich zum Ausdruck kommt wie im englischen »crushing objecthood«. 136 Fanon: Schwarze Haut, S. 107–108. 137 Fanon: Schwarze Haut, S. 108. 138 Althusser, Ideologie, S. 141. 139 Der Begriff verweist auch auf die Figur der Authentizität, die die Filme, die ich betrachte, regelmäßig im Kontext des deutschen Ausländerdiskurses heimsucht, und die ich in Kap. 3 näher diskutiere. 140 Charles Sanders Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, hg. und übersetzt von Helmut Pape, Frankfurt/M. 1983, S. 65. Zu Pierce und zu indexikalischen Bildern siehe auch: Sigrid Weigel: Grammatologie der Bilder, Frankfurt/M. 2015, S. 138 ff.

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Die Vorstellung, dass die Fotografie indexikalisch ist, dass sie Spuren desjenigen in sich trägt, was es zeigt (wie auch der Fingerabdruck oder das Röntgenbild), während beispielsweise das Gemälde lediglich referentiell ist, ist hinlänglich in Frage gestellt worden, sowohl praktisch (durch digitale Fotografie und Bildbearbeitung) als auch theoretisch.141 Nichtsdestotrotz gibt es Bildtypen oder visuelle Genres, die weiterhin und gewissermaßen wider besseren Wissens indexikalisch wahrgenommen werden: Sie werden geglaubt. Die vermeintlich zwingende Logik des Indexikalischen ist natürlich die des ›echten Bildes‹, das, wie Hans Belting darlegt, eine Frage des Glaubens ist.142 Es sind genau diejenigen Bilder, die für ›echt‹, authentisch und abbildend gehalten werden – und die (fotografischen und filmischen) Bilder des Ausländerdiskurses gehören dazu. Peirce beschreibt Indexikalität zum einen als materiale oder direkt ursächliche Verbindung zwischen Zeichen und Bezeichnetem (als Spur, Abdruck usw.), aber auch als Modus des Zeigens und Blickausrichtens.143 Der indexical wham findet so auch



141 Zum »Gespenst der Indexikalität« im postphotographischen Zeitalter und zum Traum vom natürlichen Zeichen siehe Vinzen Hediger: »Illusion und Indexikalität. Filmische Illusion im Zeitalter der postphotographischen Photographie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, ZPhil, Berlin 54 (1/2006) S. 101–110, hier S. 101. 142 Vgl. Hans Belting: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München 2005. Michel de Certeau spricht vom »Wert des Realen«, auf dem der Glauben beruht (de Certeau, Kunst, S. 332); auf ›Glaubensfragen‹ werde ich in Kap. 3 und 4 noch genauer zu sprechen kommen. Die Glaubwürdigkeit verschiedener Visualisierungstechniken (wie besonders der Neuroscience-Bilder, der bildgebenden Verfahren, der Infografiken, sowie der Fotografien und Diagramme, die eine Politik des Beweises – also eine Politik, die wie Polizei funktioniert – fundieren) sind oft Ausgangsmaterial für das vielfältige Nachdenken über Evidenzen. So fragt Tom Holert, wie »Evidenz-Effekte« erzeugt werden, wie also Bilder, die eigentlich nichts zeigen (bezeugen), dennoch überzeugen. Die Rechtsprechung, so Holert, ist zunehmend spektakularisiert worden, zumindest in den USA ist der »Gerichtssaal zum Multimedia-Eventtheater« mutiert (Tom Holert: »Evidenz­Effekt. Überzeugungsarbeit in der visuellen Kultur der Gegenwart«, in: Matthias Bickenbach/Axel Fliethmann (Hg.): Korrespondenzen. Visuelle Kulturen zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart, Köln 2002, S. 198­225, hier S. 201). Interessant ist, dass viele der visuellen Materialien, die dabei zum Einsatz kommen, nicht »als ›evidence‹, als Beweismittel, sondern nur im Zusammenhang mit Zeugenaussagen zugelassen« werden, dass sie also weniger beweisen als bezeugen (ebd., S. 202). In Deutschland gelten elektronische Beweismittel ebenfalls als zulässig, »sie unterfallen dem Augenscheins- und Sachverständigenbeweis« (ebd.). »Die Beglaubigung der visuellen Beweismittel führt das rohe Bildmaterial, das unergänzt, selbsterklärend überzeugt, zurück in den Raum der Diskursivität.« (Ebd.) Bereits Ende der 1970er Jahre hat Rosalind Krauss in ihren beiden, heute als Klassiker geltenden Texten zum Index, die in October veröffentlich wurden, dargelegt, dass Indexikalität nicht einfach als Referenz auf eine physische Präsenz zu verstehen ist, sondern als die komplexe Sprache ästhetischer Konventionen, »and the kind of history which they encode« (Rosalind Krauss: »Notes on the Index. Seventies Art in America«, in: October 3 (Spring 1977), S. 68–81, hier S. 81).

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im Imperativ und im Ausrufezeichen des V/Erkennens seinen Ausdruck: »Look!«, schreibt auch Mieke Bal zu den Gesten des Zeigens/Enthüllens (gestures of exposing): in gestures that point to things and seem to say: ›Look!‹ – often implying: ›That’s how it is‹. The ›Look!‹ aspect involves the visual availability of the exposed object. The ›That’s how it is‹ aspect involves the authority of the person who knows: epistemic authority. The gesture of exposing connects these two aspects.144

Mit dem indexical wham meine ich aber auch das Prinzip des Indizierens selbst: Ein Index ist ein Register, eine Kennzahl, ein Ordnungs- und Verweissystem, ein Inhaltsverzeichnis bzw. ein Nachschlagesystem, das kategorisiert, zuordnet und strukturiert. Der Index steht aber nicht nur für Kennzeichnung und Einordnung, etwas ›auf den Index zu setzen‹ bedeutet auch, dass etwas – oder jemand – auf eine Negativliste, eine sogenannte ›Schwarze Liste‹ gesetzt wird. Für die vorliegende Arbeit beschreibt der Index damit ebenjenen visuelle Aspekt der Rassisierungen, die ich mit dem Begriff des Ausländerdiskurses belegt habe bzw. mit dem ihm zugeordneten Satz: ›Das sieht man doch!‹. Die Erkennungsdienste dieses Diskurses funktionieren mittels Indizien – keine Beweise, aber in der Summe behaupten Indizien das Vorliegen einer Tatsache –, die das Wissen des Diskurses als Indizes katalogisieren und es in seine Praxen des Sehens transponieren. So bemisst sich für Pierre Bourdieu die »Lektüre eines Kunstwerks« und generell »die Fähigkeit des Sehens [...] am Wissen, oder wenn man möchte, an den Begriffen, den Wörtern mithin, über die man zur Bezeichnung der sichtbaren Dinge verfügt und die gleichsam Wahrnehmungsprogramme erstellen.«145 Und Sander Gilman fragt





143 Vgl. Bernhard Langer: »Enleerte Bilder. Indexikalität und Buchstäblichkeit«, in: Der Architekt 5 (2007), S. 63–69, sowie Mirjam Wittmann: »Die Logik des Wetterhahns. Kurzer Kommentar zur Debatte um fotografische Indexikalität«, in: kunsttexte.de 1 (2010), http://www. kunsttexte.de/index.php?id=711&idartikel=30638&ausgabe=30634&zu=121&L=1; zuletzt abgerufen am 05.09.2014. Guido Kirsten legt mit seiner Arbeit zum filmischen Realismus eine komplexe Auseinandersetzung mit dem Konzept der Indexikalität und insbesondere eine interessante Kritik der verkürzten Rezeption der Pierceschen Zeichenphilosophie in Fotografie- und Filmtheorie vor, vgl. Guido Kirsten: Filmischer Realismus, Marburg 2013. 144 Mieke Bal: Double Exposures. The Practice of Cultural Analysis, New York 1996, S. 2. 145 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Frankfurt/M. 1982 [1979]. Oder wie Maurice Merleau-Ponty in seinem unvollendeten Werk Das Sichtbare und das Unsichtbare schreibt: »Auf der einen Seite ist die Welt das, was wir sehen, und auf der anderen Seite müssen wir dennoch lernen, sie zu sehen. In diesem Sinne müssen wir das Sehen zunächst in Wissen überführen, wir müssen es in Beschlag nehmen und sagen, was dieses wir, dieses Sehen heißt.« (Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, übersetzt von Regula Giuliani/Bernhard Waldenfels, München1986, S. 18). Wobei es Bourdieu hier um die Ökonomie kultureller Gü-

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in Rasse, Sexualität, Seuche. Stereotypen aus der Innenwelt der westlichen Kultur146 danach, was wir sehen, wenn wir andere Menschen betrachten. Und antwortet: »Wir sehen, was wir zu sehen gelernt haben.«147 ›Wie wir sehen‹ ist sowohl für Gilman als auch für Bourdieu das Resultat von Geschichtlichkeit, wobei Geschichte als (je spezifischer) ›Bildungsprozess‹ zu begreifen ist, der Sehen und Wissen miteinander verschaltet: »Das ›Auge‹ ist ein durch Erziehung reproduziertes Produkt der Geschichte« heißt es bei Bourdieu148 Und für Gilman benötigt es zwar keinen Katechismus, »den man herunterleiern lernt, um die zu kategorisieren, die man als anders zu erkennen hat.«149 Und doch, so Gilman, lernen wir, »und zwar recht gut, so daß wir ›instinktiv‹ und auf den ersten Blick ›wissen‹, wer anders ist.«150 Wir lernen dies im Klassenzimmer unserer Gesellschaft, so Gilman, und mit Hilfe der Lehrmittel Kunst, Comics, Fernsehen – und Film bzw. Kino. Zumal das Aufkommen der technischen Sehgeräte historisch eng verknüpft ist mit der Erschaffung von ›Rasse‹: »Schuf Gott im Menschen sein Ebenbild, so definiert das sehende Subjekt durch den Blick der technischen Sehgeräte den Körper des Anderen: nicht nur den des ›Weibes‹, auch den des ›Juden‹, des ›Schwarzen‹ oder des Homosexuellen.«151



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ter geht – um die Relation von ästhetischem (Wert-)Urteil, Geschmack und sozialer Herkunft. Auch wenn Bourdieus Habitus-Begriff gerade für seine vermeintliche Statik kritisiert wurde, so ist die Relation zwischen Sehen und Wissen auch für ihn eine spezifische und also auch veränderliche. Bourdieus Analyse in Die feinen Unterschiede widmet sich jedoch vor allem der Frage nach der Stabilität von Herrschaft und den Beharrungskräften des Sozialen. Siehe dazu u.a. Jens Kastner: »Gramsci und Bourdieu. Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Herrschaftskritik«, in: ak – analyse und kritik 573 (Juni 2012), S. 23. Die Monographie basiert auf Gilmans berühmt-berüchtigtem Artikel »Black Bodies, White Bodies: Toward an Iconography of Female Sexuality in Late Nineteenth-Century Art, Medicine, and Literature«, der in der einflussreichen, von Henry Louis Gates herausgegebenen »›Race‹, Writing, and Difference« Ausgabe von Critical Inquiry erschienen ist (in: Critical Inquiry 1/12 (1985), S. 204–242) und den Mieke Bal in In Double Exposures einer kritischen Lektüre unterzieht, die sich vor allen Dingen Gilmans Wahl der Illustrationen widmet und dem Verhältnis von Bild und Text sowie der Macht der Bilder, die dem Text einen Subtext beigibt (vgl. Bal, Double Exposures, S. 199–203). Sander Gilman: Rasse, Sexualität, Seuche. Stereotypen aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek 1992, S. 119. Hier ist auch an Norman Brysons Unterscheidung zwischen vision und visuality, die er in den späten 1980er Jahren getroffen hat, zu erinnern: »Between the subject and the world is inserted the entire sum of discourses which make up visuality, that cultural construct, and make visuality different from vision, the notion of unmediated visual experience. Between retina and world is inserted a screen of signs, a screen consisting of all the multiple discourses on vision built into the social arena.« (Norman Bryson: »The Gaze in the expanded field«, in Hal Foster (Hg.): Vision and Visuality, Seattle 1988, S. 87­108, hier S. 91.) Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 20–21. Gilman, Rasse, S. 119. Gilman, Rasse, S. 119, Hervorh. N.H.

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Es liegt also nahe, für die Frage danach, wie die Erkennungsdienste des Ausländerdiskurses funktionieren, die visuellen Lehrmittel, von denen Gilman spricht, in den Blick zu nehmen. Und zwar einmal im Hinblick auf die, mit Gisela Ecker, visuellen (und akustischen) markers, also sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, an denen sich die V/Erkennung von Innen und Außen festmacht.152 Zum anderen muss es dabei immer um jene Heterogenität gehen, die Deleuze in seiner Foucault-Lektüre betont: »Es besteht eine Disjunktion zwischen Sprechen und Sehen […]. Das audio-visuelle Archiv ist disjunktiv.«153 Mit Sander Gilman lernen wir das Sehen im Klassenzimmer unserer Gesellschaft, mit den darin eingesetzten audiovisuellen Unterrichtsmaterialien, also auch im Kino154. Dieser Gedanke des ›Kinos als Schule‹ findet ebenfalls Ausdruck in aktuelleren Thesen zur Film-/Kino-Bildung, wie Titel wie Der Kinematograph als Zeigestock oder Film-Bildung im Zeichen des Fremden155 belegen. Auch hier lautet das Argument, dass Kino uns zu sehen lehrt, allerdings als Möglichkeit eines »Anderssehen[s]« und »Andersdenken[s]«156. Und um diese Möglichkeit geht es mir hier.

1.3 S agbares

und

S ichtbares

1.3.1 Das ›Drama der Repräsentation‹: Stereotype

Was ›Text‹ und ›Bild‹ jeweils sind, wird schluß­ endlich – Sie sehen es – durch das bestimmt, was Begegnung und Entgegnung ermöglicht. Die Begegnung setzt Wiedererkennung und Austausch voraus, einen Verkehr von Zeichen, von gegenseitigem Vertrauen und Mißtrauen. Die Entgegnung ist widerständig und hält den Gang inne. Jean-Luc Nancy157



151 Christina von Braun: »’Ceci n’est pas une pute‹. Über das Verhältnis von Blick und Berührung«, in: Lettre Internationale (Juni 1994), S. 80–84, hier S. 82. 152 Vgl. Ecker, No one would have guessed, S. 5. 153 Deleuze, Foucault, S. 92. 154 Kino meint im Deutschen vor allen Dingen den Ort (also das Kino, in das man geht). Im Sinne des französischen le cinéma umfasst der Begriff aber auch die Gesamtheit aller Filme und Videos, dazu die Praxis des Sehens und Zeigens, die Orte nicht nur der Exposition und Rezeption, sondern auch der Herstellung. Kurz: die Gesamtheit aller Aspekte, die um Film (und Video) kreisen. 155 Winfried Pauleit: »Der Kinematograph als Zeigestock. Zum ästhetischen Erziehungsanspruch von Kino und Schule«, in: Ästhetik & Kommunikation. Ästhetische Erziehung im Medien-

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Wie du mich siehst, so bin ich nicht – Ben gördüğün gibi değilim.158 Entgegnung und Begegnung sind miteinander vermischt und zwar in alldem, was man gewöhnlich als ›Bild‹ oder ›Text‹ bezeichnet. Jean-Luc Nancy159 Auch John Rajchman argumentiert in seiner Foucault-Lektüre, in der er diesen als Denker des Visuellen beschreibt, dafür, den Diskursbegriff seiner sprachlichen Reduktion zu entheben und den Aspekt des Tuns, also die aktive Praxis (auch des Sehens), zu fokussieren. Foucault, so Rajchman verbindet Sehen und Tun über den Begriff der Evidenz: »Sehen› ist in diesem Sinne Teil des Tuns. Wir können nicht sehen, was zu tun ist, weil wir in der Selbstverständlichkeit einer Weise des Sehens, was zu tun ist, ›gefangen‹ sind. […] Daher ist in Foucaults Idiom évidence mit der Akzeptabilität einer Praktik verknüpft.«160 Und es ist gerade diese Verbindung, die einerseits machterhaltend wirkt und andererseits die Möglichkeit, anders zu sehen und anderes zu tun, beherbergt: Wir beteiligen uns, wir leisten unseren Anteil an den Praktiken, die jene Sehweise für uns selbstverständlich machen – eine Beteiligung oder Akzeptanz, die wir verweigern können. […] Die Ereignisse zu sehen, durch welche die Dinge selbstverständlich werden, heißt deshalb zu sehen fähig zu sein, in welcher Weise diese möglicherweise unerträglich oder unakzeptabel sind. Es heißt zu sehen versuchen, wie wir auf das einwirken könnten, was in unserem Tun noch nicht gesehen werden kann. Kurz, es ist eine ›kritische‹ Kunst.161

Hieran lässt sich mit Kaja Silvermans Entwurf einer Ethik des Sehens bzw. des Sichtbaren anknüpfen, wie sie sie vor allem in The Threshold of the Visible World162 entwickelt hat. Darin betont sie ebenfalls, dass unser Sehen163 kulturellem Anpassungsdruck



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zeitalter, 125/35 (Sommer 2004), S. 13–20; Hanne Walberg: Film-Bildung im Zeichen des Fremden. Ein bildungstheoretischer Beitrag zur Filmpädagogik, Bielefeld 2010. Walberg, Film-Bildung, S. 10. Jean-Luc Nancy: Am Grund der Bilder, übersetzt von Emmanuel Alloa, Berlin 2006, S. 129. So der Titel einer Ausstellung mit Arbeiten von Künstlerinnen aus der Türkei in der Kommunalen Galerie in Berlin, 13.05.-17.06.2001. Nancy, Am Grund der Bilder, S. 130. Rajchman, Foucaults Kunst, S. 44–45; Hervorh. i.O. Rajchman, Foucaults Kunst, S. 44–45; Hervorh. i.O. Kaja Silverman: The Threshold of the Visible World, New York/London 1996. Im Englischen ist der Begriff hier in Anlehnung an Lacan look. Gaze wird hier, den Überset-

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unterliegt, demzufolge unsere Wahrnehmung von einem vor-gesehenen Standpunkt aus zu erfolgen hat. Unser Sehen ist dabei jedoch ein zeitliches, d.h., es ist veränderlich und damit auch veränderbar. Wobei für Silverman die Möglichkeit des Veränderns im ›Einspielen‹ von Bildern liegt, die als neue, andere unbewusste Erinnerungen unseren Blick mit neuen Möglichkeiten versehen. Für dieses ›Einspielen‹ bedürfen wir ästhetischer – besonders visueller – ›Texte‹, weil diese dort ansetzen können, wo uns der bewusste, aktive Zugriff verwehrt bleibt. Darüber hinaus sind sie zugleich der bewussten Lektüre und Analyse zugänglich. Silverman greift Lacans Begriff des (Bild) Schirms (écran) auf, den er zwischen uns und das Bild (image) positioniert. Der Bildschirm, das ist, wie Silverman in Male Subjectivity at the Margins164 ausführt, das kulturell erzeugte Bilderrepertoire, über das sich Subjekte nicht nur konstituieren, sondern auch im Hinblick auf Klasse, ›Rasse‹, Sexualität, Alter und Nationalität unterscheiden (lassen).165 Die Möglichkeit, so Silverman, mit diesen Bildern zu ›spielen‹, ist somit von besonderer Wichtigkeit, da sie eine Arena für politische Infragestellung eröffnet. Der Bildschirm – oder eben das kulturelle Bildrepertoire – ist jedem von uns eigen, ähnlich wie die Sprache. In diesem Sinne sind wir auch kollektiv mitverantwortlich für die Art, in der das Blickregime die Welt ›fotografiert‹. Unsere Wahrnehmung folgt zunächst bestimmten Darstellungsparametern. Diese legen fest, was und wie in einer bestimmten Kultur gesehen wird, wie Sichtbares bearbeitet wird, welche Bedeutung es bekommt. Als das Vor-Gesehene bezeichnet Silverman dabei mit Lacan diejenigen Darstellungsparameter des kulturellen Bildrepertoires, die sich fast unvermeidlich aufdrängen. Aber, so betont Silverman eindrücklich, der Blick ist nicht nur normativ bestimmt. Er kann ›schöpferisch sehen‹, einen anderen als den ihm zugedachten Blickwinkel einnehmen, wobei sich diese Möglichkeit in der Regel erst im Nachhinein erschließt, als Nachträglichkeit oder verschobene Reaktion. Dabei hat, so Silverman, das Moment der Nachträglichkeit wichtige Konsequenzen für unser Unbewusstes, denn es ermöglicht uns, erneut hinzusehen, von einem veränderten Blickwinkel aus, wodurch es möglich werden kann, sowohl den ursprünglichen Wahrnehmungsakt zu hinterfragen als auch das Objekt nach anderen Darstellungskriterien zu betrachten.166 Wenn wir also ansetzen wollen, das kulturelle Bildrepertoire umzugestalten und damit andere Sicht- und Sehweisen zu ermöglichen, dann müssen wir uns immer auch innerhalb dieses Repertoires bewegen, denn es ist, wie Silverman formuliert,



zer_innen von Silvermans Text (Natascha Noack und Roger M. Buergel), »Dem Blickregime Begegnen« folgend, als Blickregime übersetzt (vgl. Kaja Silverman: »Dem Blickregime Begegnen«, in: Christian Kravagna (Hg.): Privileg Blick. Kritik der Visuellen Kultur, Berlin 1997, S. 41–64, S. 62, Anm.1). 164 Silverman, Kaja: Male Subjectivity at the Margins, New York/London1992. 165 Vgl. Silverman, Male Subjectivity, S. 150. 166 Vgl. Silvermann, Blickregime, S. 59.

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imperative that we keep in mind […] that the subject can only be ›photographed‹ through the frame of culturally intelligible images. Those attempts at a collective self-redefinition which rely upon masquerade, parody, inversion, and bricolage will consequently be more successful than those aimed at the ex nihilo creation of new images, since they work upon the existing cultural imaginary.167

Die Frage, wie die Umgestaltung unseres Sehens sowie des kulturellen Bildrepertoires möglich sein kann, führt so zu dem, was Gertrud Koch in Die Einstellung ist die Einstellung168 als das Drama der Repräsentation bezeichnet hat, nämlich jenes Problem, »wie sich Vorstellungen mit Vorstellungen im Sinne von Inszenierungen im filmischen Bild niederschlagen sollen, ohne selbst teilzuhaben an der Bildung des Vorurteils.«169 Ähnlich fragt Georg Seeßlen, der in zahlreichen Beiträgen und Filmreihen seine These von einem Kino der Métissage ausgearbeitet hat (das andernorts als Kino des wechselseitigen Grenzverkehrs, als transnational oder postmigrantisch beschrieben wurde), wie ein filmisches Subjekt konstruiert werden kann, das verschiedene Bildund Blicktraditionen zum Ausdruck bringt. Dieses Problem, so Seeßlen, beginnt mit dem Stereotyp, das man weder einfach nur ›vermeiden‹ kann (denn es ist Teil der Wirklichkeit), noch ebenso einfach ›bedienen‹, wie es die Hersteller von mehr oder minder wohlmeinenden Fernsehserien tun (in denen, zum Beispiel, türkische Väter immer Gemüsehändler und türkische Gymnasiastinnen immer Einser-Schülerinnen sind). Auch wenn er es geradezu panisch vermeiden will, entwickelt der Film seine Bilder (gerade aus dieser Grammatik heraus) zum Klischee.170

Manchmal, so Mieke Bal, hilft es, »to let images expose themselves.«171 Das Vorurteil kann sich selbst ausstellen und damit enthüllen. Damit knüpfe ich an Homi Bhabhas Analyse des Stereotyps an, das hier an die Stelle des Vorurteils bei Koch tritt. Bhabha zufolge sind Stereotype keine falschen oder unangemessenen Repräsentationen (das



167 Silverman, Male Subjectivity, S. 150. 168 Gertrud Koch: Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums, Frankfurt/M. 1992. Die Einstellung als Einstellung taucht bereits bei Béla Balázs auf. In Der Geist des Films, seinem zweiten Band von Artikeln und Aufsätzen von 1926–31, findet sich ein Aufsatz von 1929 mit dem Titel »Einstellung zur Einstellung«, der wie folgt beginnt: »Es wurde schon gesagt, daß jede Anschauung der Welt eine Weltanschauung enthalte, daß jede Einstellung der Kamera eine Einstellung des Menschen bedeute und daß es demgemäß nichts Subjektiveres gäbe als das Objektiv.« (Béla Balázs: ›Der Geist des Films‹. Schriften zum Film Band 2, Artikel und Aufsätze 1926–1931, herausgegeben von Helmut H. Diederichs/ Wolfgang Gersch, München/Wien/Budapest/Berlin 1984, S. 239) 169 Koch, Die Einstellung, S. 63. 170 Seeßlen, Vertraute Fremde, o.S. 171 Bal, Double Exposures, S. 287.

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betrifft im Übrigen sowohl die ›schlechten‹ als auch die ›guten‹ Bilder), sondern sie sind die zentrale diskursive Strategie dessen, was er als »Festgestelltheit« 172 (im Original: fixity) bezeichnet. Bhabha führt den Begriff der ›Fixiertheit‹ oder Festgestelltheit als wichtiges Kennzeichen des kolonialen Diskurses an (und ich füge hinzu: des Ausländerdiskurses). Es ist das gleiche Zeichen für kulturelle/historische und ›rassische‹ Differenz in diesem Diskurs, das auch bei Fanon zum Ausdruck kommt: »Ich bin fixiert.«173 Bhabha konzeptualisiert Stereotype in funktionaler und struktureller Äquivalenz zu Freuds Fetischismustheorie. Beide beruhen auf der Verleugnung von Differenz, und sowohl Fetischismus als auch Stereotyp oszillieren zwischen der Annahme von Ganzheit und Unversehrtheit und den Ängsten, die mit Mangel und Differenz verbunden sind: Das Stereotyp als Ausgangspunkt der Subjektifizierung sowohl für den Kolonialherrn als auch den Kolonisierten im kolonialen Diskurs ist dann die Szenerie einer ähnlichen Phantasie und Abwehr – des Verlangens nach einer Ursprünglichkeit, die hier wiederum durch die Unterschiede von Rasse, Hautfarbe und Kultur bedroht ist.174

Das Stereotyp ist also immer paradox und ambivalent. Indem Bhabha sich nun genau der Ambivalenz des Stereotyps widmet, eruiert er die Grenzen des kolonialen Diskurses und damit die Möglichkeit der Übertretung dieser Begrenzung vom Ort des Anderen aus. Zusammengefasst heißt dies: Stereotype sind nicht als falsche Repräsentationen problematisch, sondern als eine »arretierte, fixierte Form der Repräsentation«175, die das Spiel der Differenz(en) verweigert. Stereotype sind somit aufgrund ihrer Einengung problematisch. Umgekehrt stehen sie als Symptome für eine Verdrängungsleistung, wie sie Gertrud Koch in ihrer Analyse von Antisemitismus bzw. der Inszenierung jüdischer Figuren im bundesrepublikanischen Kino als symptomatisch für bundesdeutsche Geschichte beschreibt.176 Die folgende Beobachtung lässt sich auch auf den filmischen Umgang mit Migration übertragen: Dieses Kino ist geprägt von einem Missverhältnis zwischen einer Vorliebe für die realistische Form (oder Gesten des Realismus) in Verbindung mit »erfahrungsloser Stereotypisierung von Figuren und Handlungsschemata«,177 wobei das entsteht, was Alexander Kluge einmal den »mittleren Realismus« genannt hat: »Wenn die Kostüme handgenäht sind, aber die Figuren



172 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, übersetzt von Michael Schiffmann/Jürgen Freudl, Tübingen 2000, S. 97. 173 Fanon, Schwarze Haut, S. 108. 174 Bhabha, Verortung, S. 111. 175 Bhabha, Verortung, S. 111. 176 Vgl. Koch, Die Einstellung, S. 254. 177 Koch, Die Einstellung, S. 241.

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von der Stange kommen.«178 Die Ausgrenzung aus dem Alltagsbewusstsein lagert sich dann in den Figuren ab, die so nur zu Klischees werden können. Dass die Figuren dennoch mit (hyper)realistischen Erwartungen konfrontiert werden – also nicht im Sinne von angemessenen Erwartungen, sondern im Sinne ihrer Funktion als Garanten für Authentizität –, führt umgekehrt zu einer Fixierung der Geschichten der Migration auf die vermeintlichen Protagonist_innen. Mit Fokus auf die sogenannte Migrantenliteratur spricht Zafer Şenocak von einem fragwürdigen Realismus, in dem »Ahnungen und Vorstellungen zum Wissen mutieren«179, für das die Autor_innen als Kronzeugen einbestellt werden. Es »hat sich eine Sehweise etabliert, die aus einzelnen Biografien heraus eine Typisierung des Türken destilliert. Die Unterscheidungskriterien sind nicht mehr individuell, sondern gruppenspezifisch. ›Der Türke‹ oder ›die Türkin‹ kommt von der Stange, er oder sie ist Massenware geworden.«180 Und: »Die Bilder in den Köpfen produzieren Bilder in den Texten und umgekehrt. Ein Absicherungs- und Bestätigungsmuster verdrängt das Überraschende, das Unbekannte. Das vermeintlich so Fremde ist in Folge dessen nichts anderes als das, was schon längst bekannt ist.«181 Er fordert daher von der Literatur – was sich auch auf das Kino übertragen lässt – eine Erweiterung des Realitätssinnes, zumal »sich literarische Figuren nicht beim Einwohnermeldeamt registrieren lassen.«182 Die Ausblendung dieser Geschichte(n) findet auch als Auslagerung statt, worauf Şenocaks Bild vom Autor als Kronzeugen hinweist. Die Fixiertheit des Stereotyps zeigt sich beispielsweise auch darin, dass türkisch-deutsche Schauspieler_innen auf sogenannte ›Türkenrollen‹ fixiert werden.183 Oder dass Migrant_innen (wenn der Begriff

178 Michael Kohler: »Laienspiel mit Hakenkreuz«, in: Frankfurter Rundschau (07.10.2009), http://www.fr-online.de/film/filmbesprechung--unter-bauern--laienspiel-mit-hakenkreuz,1473350,2836138.html ; zuletzt abgerufen am 05.09.2014. 179 Zafer Şenocak: »Authentische Türkinnen«, in: taz (10.6.2006), http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2006/06/10/a0321; zuletzt abgerufen am 05.09.2014. 180 Şenocak, Authentische Türkinnen, o.S. 181 Şenocak, Authentische Türkinnen, o.S. 182 Şenocak, Authentische Türkinnen, o.S. 183 »Es gibt […] im deutschen Film nur Türkenrollen, aber keine Rollen für Türken. Das heißt: Türken tauchen im deutschen Film meist nur als Türken […] auf«, schreibt Stefan Reinecke 1995 in seinem Artikel »Projektive Übermalungen. Zum Bild des Ausländers im deutschen Film« (in: Ernst Karpf/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.): ›Getürkte Bilder.‹ Zur Inszenierung von Fremden im Film, Marburg 1995, S. 9–19, hier S. 9). Die Dominanz dieser Besetzungslogik zeigt sich auch in den Ausnahmen, genauer, dass diese als solche benannt werden, wie die Beschreibung von Mehmet Kurtuluş auf filmportal.de. Dort steht neben seinem Geburtsdatum und den Verweisen auf seine wichtigsten Rollen zu lesen, dass Kurtuluş in Dories Dörries Film Nackt (D 2002) »als erster Türkischstämmiger im deutschen Film eine Hauptrolle ohne Referenz auf seine Herkunft« spielte (http://www.filmportal.de/person/ mehmet-kurtulus_fbc3e7f063cf4a3abca84c62c989006c , zuletzt abgerufen am 05.09.2014).

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für die sogenannte zweite/dritte Generation überhaupt als zutreffend erachtet werden kann) als Filmemacher_innen nur für Migrationsthemen Filmförderung erhalten. Seit Deniz Göktürk 1998 zu Recht moniert hat, dass ein Film über Türken in Deutschland nicht auch als ein Film über Deutschland gesehen wird,184 haben sich zumindest graduelle Veränderungen eingestellt. Von der Verkündung, dass der neue deutsche Film türkisch sei (die Problematik der ›ethnischen‹ Implikationen dieser Aussage sei hier dahingestellt) zu der Tatsache, dass Fatih Akıns Dokumentarfilm Wir haben vergessen zurückzukehren (D 2001) in der Reihe Denk ich an Deutschland … vom Bayerischen Rundfunk und dem WDR koproduziert wurde, also seine Familiengeschichte, genauer die Migrationsgeschichte der Eltern, Tanten und Onkel als Teil deutscher Gegenwartsgeschichte begriffen wurde, hin zur Produktion von thematisch nicht mehr Migration zuzuordnenden Filmen von ›nicht biodeutschen‹185 Filmemacher_innen. In dieser Be-



Unter anderem aus diesem Grund – in einer zugleich affirmativen wie kritischen Geste – gründete der Schauspieler Tayfun Bademsoy (Bruder der Filmemacherin Aysun Bademsoy) 1998 die Schauspielagentur Foreign Faces, der er bis 2004 als Geschäftsführer vorstand, und die ›ausländische‹ Schauspieler_innen jedweder Herkunft an deutsche Produktionen vermittelte. Anliegen der Agentur war auch eine Stärkung der Lobby migrantischer Schauspieler_innen, d.h. auch in Auseinandersetzung mit den Rollenentwicklungen der Regisseur_innen wurde auf Vermittlung gesetzt, nicht nur im Sinne von Rollenbesetzungen. Die Agentur hat mittlerweile den Namen gewechselt und heißt heute International Actors und wird von Rudolf Oshege geleitet (http://www.international-actors.de; zuletzt aufgerufen am 05.09.2014). Ein ähnliches Lobbyprojekt war der (lose) Zusammenschluss Kanakwood. Unter diesem Namen fanden ab Oktober 2003 zahlreiche Veranstaltungen, Film- und Videovorführungen und Partys statt – Salons für die »urbanen Postmigranten Vibes« (siehe www.kanakwood.de; zuletzt abgerufen am 05.09.2014) –, bei denen ›migrantisches‹ (zumeist türkisch-deutsches) Netzwerken betrieben und zugleich Öffentlichkeit und Präsenz erzeugt wurde (u.a. mit fulminanten Berlinale-Partys). Kanakwood wurde von Gió Di Sera, Ipek Ipekçioğlu, Jale Arikan, Nermin Ucar und Shermin Langhoff organisiert. Shermin Langhoff zeichnete auch für die mehrjährige Reihe Beyond Belonging. Migration² am HAU (Hebbel-Theater am Ufer) in Berlin verantwortlich, hat dann als künstlerische Leiterin des Ballhaus Naunynstrasse postmigrantisches Theater fest in der kulturellen Landschaft verankert und ist heute Intendantin des Maxim Gorki Theaters (ebenfalls in Berlin). 184 Göktürk, Verstöße, S. 113. 185 Den Begriff ›biodeutsch‹ entlehne ich dem Kanak TV-Video Das Weisse Ghetto (D 2001). In diesem Video befragten Kanak Attak-Aktivist_innen in Köln-Lindenthal Passant/innen, wie es sich denn lebe »im weißen Ghetto«. Die Befragten konnten mit der Kategorie ›weiß‹ nichts anfangen, wie zu erwarten sahen sie sich (und das Stadtviertel) als ›unmarkiert‹. »Die sind doch alle hier so biodeutsch«, stellt die Interviewerin fest und bekommt unter anderem die folgenden Reaktionen (die Passant_innen werden von ihr angehalten, über den Begriff ›biodeutsch‹ nachzudenken): »Die Deutschen sind die Primärgesellschaft«; »Biodeutsch, das sind die richtigen Deutschen«; und: »Biologisch heißt ursprünglich. Biologisch rein ist ursprünglich. Biodeutsch ist dann ein Uraltdeutscher, und … Türkischdeutsche sind dann die anderen Deutschen?!«

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obachtung schwingt allerdings auch die Frage nach all den nicht gemachten Filmen mit – all jene Treatments und Anträge auf Filmförderung, die aus dem spezifischen Grund ethnischer Schubladenzuordnung nicht realisiert wurden und genau dort gelandet sind: in der Schublade (wie Filmgeschichte auch als Geschichte von Auslassungen, Scheitern, Misserfolgen und Verschüttungen zu schreiben ein lohnendes Unterfangen wäre). Vor allem aber bleibt die ethnische Eigentümlichkeit bestehen: Für den vierten Spielfilm des »Altonaer Regisseurs«186 Fatih Akın, Gegen die Wand (D 2004), ein Melodrama, das Akın selbst als Tragikomödie bezeichnet, in der die stürmische Lebens- und Liebesgeschichte zwischen der jungen Sibel (Sibel Kekilli), die der Enge ihres Elternhauses entkommen will, und dem runtergerockten Cahit (Birol Ünel), den sie (zunächst nur zum Schein) heiratet, erzählt wird, erhielt Akın bei der Berlinale 2004 den Goldenen Bären. Diesen Film (der eine Menge Aufruhr erzeugte – durch seinen Erfolg ebenso wie durch den ›Sexskandal‹ um die ›enthüllte‹ Vergangenheit in der Pornoindustrie der ›rassigen‹ Hauptdarstellerin Sibel Kekilli187) und seine Auszeichnung verhandelte das Feuilleton abwechselnd als ›deutsch‹ und dann wieder als ›türkisch‹ (den Goldenen Bären gerne als Ersteres), dann wieder als Import ›frischen Bluts‹ für die deutsche Kinolandschaft, aber vor allem als authentische Darstellung türkischen Lebens in Deutschland. Wie ich bereits erwähnt habe, beschreibt Edward Said Repräsentation als das Hauptprodukt der Exteriorität des Orientalismus. In anderen Worten: Der Diskurs, also auch der Ausländerdiskurs, erzeugt vor allen Dingen Repräsentation. Das heißt, jede Intervention steht per se mitten im Drama der Repräsentation. Das Zur-Verhandlung-Stellen der Aporien des Ausländerdiskurses, schon alleine das Sprechen von ›Ausländern‹ und ›Deutschen‹, die Formulierung meiner Fragestellung, bewegt sich also stets auf dem dünnen Grat zwischen Affirmation (oder tendenzieller Apologetik) und Auflösung bzw. Umschrift.





186 So in der taz vom 16.2.2004 zu lesen (http://www.taz.de/pt/2004/02/16/a0064.nf/textdruck; zuletzt aufgerufen am 05.09.2014). Vor dem Erfolg von Gegen die Wand hat Akın den Fragen nach ›dem Türkischen‹ seiner Person, und wo er sich ›zwischen den Stühlen‹ p­ ositioniere, gerne die kleinräumige Lokalisierung in Hamburg-Altona entgegengestellt. Altona, dem ›multikulturellen‹ Stadtteil, dem Kreuzberg Hamburgs, wo ein gewisser Konsens vorauszusetzen ist, dass die Frage nach der Herkunft überflüssig ist. Später situiert sich Akın jedoch vor allem als deutsch (so z.B. auf stern.de: »Ich verstehe mich auf jeden Fall als deutscher Filmemacher« http://www.stern.de/id/unterhaltung/film/520290.html; zuletzt aufgerufen am 05.09.2014). 187 Schon kurze Zeit nach dem Berlinale-Erfolg wurde Das Buch zum Film veröffentlicht (Fatih Akın: Gegen die Wand. Das Buch zum Film, Köln 2004): »Drehbuch/Materialien/Interviews« bietet es, so heißt es, und enthält neben einem Vorwort de Koproduzenten Andreas Thiel und einem ›Nachwort‹ des Regisseurs v.a. eine Zusammenstellung der Zeitungsreaktionen, wobei die Skandalisierung durch BILD nicht direkt abgedruckt wurde, sondern indirekt durch andere Artikel, die diese kommentierten. Zum Skandal um Kekili siehe besonders S. 216.

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1.3.2 Eine andere Schule des Sehens: Film/Kino

Der Ausländerdiskurs ist Teil eines bestimmten kollektiven Imaginären. Das kollektive Imaginäre sind Bilder, so Christina von Braun, die historische Wirkungsmacht entwickeln, die vergesellschaften und medial bedingt sind: Mit dem kollektiven Imaginären ist keine unfaßbare, abstrakte oder gar transzendente Wirkungskraft gemeint, sondern jene Macht, die die westliche Gemeinschaft zusammenhält und den Konsens herstellt, der das Zusammenleben von vielen Individuen sichert. Die Form, die der Konsens annimmt, entspricht keiner bewußten Bestimmung. Dennoch steht sie unter dem Einfluß von Technik und Wissenschaft. Sie entspricht den medialen Bedingungen jedes Zeitalters. Das heißt, sie verdankt sich einem Netzwerk, das durch die verschiedenen Medien gebildet wird, über die ein Zeitalter verfügt.188

Die Frage der Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten des Ausländerdiskurses wird hier mit dem Medium Kino verfolgt, als wichtigem Teil der ›medialen Bedingungen unseres Zeitalters‹, welche das kollektive Imaginäre beeinflussen. Kino ist unter dem Aspekt der Migration selbst als mediales Netzwerk zu verstehen, als Medium auch transnationaler Vergesellschaftungsprozesse, wie sie beispielsweise Randal Halle unter dem konkreten Aspekt von Produktion, Distribution und Aufführungspraxis beschreibt: As the emergence of print culture facilitated the emergence of the nation-state, contemporary communications media are facilitating the current transnational shift. In this process, film is the most significant marker of the simultaneous economic and cultural transformations. Film is the so-called ›software‹ in the rapidly transforming audio-visual media.189

Kino und Migration werden aber nicht nur von einer konkreten (Medien-)Praxis als aufeinander bezogen thematisiert, sondern auch metaphorisch und teils auch (medien-) ontologisch. Hier möchte ich zunächst nur hervorheben, dass Migration selbst auch als ein anderes, oftmals dereguliertes transnationales mediales Distributionssystem begriffen werden kann: Mit den Bewegungen der Migration zirkulieren Videos, DVDs, Dateien im DivX-Format, VCDs, Kopien und Originale. Home movies und Satellitenschüsseln zeigen Himmels- und Blickrichtungen an. Phänomene wie Bollywood und Nollywood konnten erst durch Migration zu transnationalen popkulturellen Phänomenen werden. Migration ist somit konstitutiver Bestandteil jener »scapes«, mit denen Arjun Appadurai transnationale Bewegungen konzeptualisiert hat: post-terri

188 Christina von Braun: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht. Zürich 2001, S. 10. Hervorh. N.H. 189 Randal Halle: German Film, Aufgehoben: Ensembles of Transnational Cinema, in: New German Critique, 87 (Autumn 2002), Special Issue on Postwall Cinema, S. 7–46, hier S. 7.

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toriale ›Landschaften‹ – ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, financescapes und ideoscapes190 –, die miteinander verwoben und in steter Bewegung sind. Besonders hervorheben möchte ich hier die ethnoscapes, »who make up the shifting world in which we live: tourists, immigrants, refugees, exiles, guest-workers and other groups and persons [that] constitute an essential feature of the world and appear to affect the politics of and between nations to an unprecedented degree.«191 Die ›Zwillingskräfte‹ von Medien und Migration erschaffen dabei »new resources for the work of the imagination as social practice«192. Die entstehenden mediascapes stellen umfassende und komplexe Bilderrepertoires und Narrative zur Verfügung, »accounts of strips of reality«, die als Ressourcen für »scripts« dienen, eine Art Drehbücher des Imaginären: »These scripts can and do get disaggregated into complex sets of metaphors by which people live as they help to constitute narratives of the Other and proto-narratives of possible lives, fantasies which could become prolegomena to the desire for acquisition and movement.«193 Kino als Teil migrantischer Bewegungen zeichnet in diesem Sinne nicht nur faktische Bewegungen nach, sondern andere, mögliche Wege vor. Filme sehen

Mit dem Abschluss dieses ersten Kapitels lasse ich nun die Rede von ›Ausländern‹ und den ›Ausländerdiskurs‹ (mehr oder weniger) hinter mir, verlasse das Sprechen über und beginne eine Reihe von Filmsichtungen und damit ein Sprechen mit,194 mit den Filmen, den Themen, den Indizierungen, den Verstellungen, den Rezeptionen. Ausgestattet mit all jenen Techniken des hyperspectators, die/der mittels Video und digitaler Technologien die Möglichkeit besitzt, einzugreifen, anzuhalten, im fast forward zu sehen, zu verlangsamen und wiederzusehen, durch die es den Film, wie Klaus Theweleit formuliert, heute als Bibliothek gibt: »[M]an kann in Filmen blättern […] wie in Büchern; mehrmals sehen, wiederfinden, neuentdecken.«195 Als jene_r Zuschauer_in, die/den Raymond Bellour als nachdenkliche_n und Laura Mulvey als possessive spec-







190 Vgl. Arjun Appadurai: »Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy«, in Patrick Williams/Laura Chrisman (Hg.): Colonial Discourse and Post­Colonial Theory. A Reader, New York 1994, S. 324­–339, hier S. 328. 191 Appadurai, Disjuncture, S. 328. 192 Arjun Appadurai: Fear of Small Numbers, Durham 2006: ix; Hervorh. N.H. 193 Appadurai, Disjuncture, S. 331. 194 Und nicht etwa in guter humanistisch-aufgeklärten Manier des mit ›dem Islam‹, ›den Migranten‹ usw. Sprechen. Die sogenannte Dialogkultur ist auch nur eine ›Zoogeste‹: kategorisieren, eingrenzen, umzäunen, benennen, ausstellen. 195 Klaus Theweleit: Deutschlandfilme. Godard, Hitchcock, Pasolini. Filmdenken & Gewalt, Frankfurt/M. 2003, S. 24.

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tator, als besitzergreifend und aneignend, thematisiert haben.196 Dazu gehören schließlich all jene Zirkulationen des Materials, das durch andere Kanäle erfolgt: Rezensionen, movie talks, DVD-extras usw., aber auch das Übergreifen auf andere Bereiche, wie sie Anton Kaes in Deutschlandbilder als »diskursives Feld« oder »übergreifende Diskussionszusammenhänge« 197 beschreibt. Wenn vom Filmsehen gesprochen wird, wird immer ein_e Filmsehende_r mitgedacht. Außerhalb der spectatorship studies, der Medienwirkungsforschung und Rezeptionsanalysen, die das Filmsehen zumeist als Gruppenprozess und erfahrung analysieren, wobei dessen empirische Zusammensetzung, Veränderung und deren Praktiken im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, bleibt das Subjekt des Sehens jedoch meistens vorausgesetzt, also voraussetzungsvoll.198 Die Zuschauerschaft ist hier jedoch nicht empirisches Forschungsobjekt wie in den Spectatorship Studies, wenngleich ich an dieser Stelle zumindest auf die im Kontext meines Themas relevanten Aspekte solcher Forschung hinweisen möchte: So ist zum Beispiel die Frage nach dem Publikum, der Körperschaft des Kinos insofern bedeutsam, als das Kino als Raum, als Ort, als Institution eine wichtige Rolle in den Konfigurationen der Migration spielt, z.B. in den Kinos der Diaspora-Communities.199 An die Stelle der oft impliziten Behauptung eines empirisch bestimmbaren, im Grunde homogenen Zuschauersubjekts (z.B. das ›deutsche Publikum‹), auf das Filme in







196 Vgl. Raymond Bellour: »Der nachdenkliche Zuschauer«, in: Eikon – Internationale Zeitschrift für Photographie und Medienkunst, 7/8 (1993), S. 62­–66; Laura Mulvey: Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image, London 2006. 197 Anton Kaes: Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München 1987, S. 6. 198 Für Tom Holert ist die Frage nach den Zuschauer_innen ein spezifischer Ansatzpunkt für die noch relativ jungen Disziplin der Visual Culture Studies bzw. der »interdisziplinären Kultur­ wissenschaft des Visuellen« (Tom Holert: Kulturwissenschaft/Visual Culture, in: Klaus SachsHombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt/M. 2005, S. 226–235, hier S. 229), mit der ein eigener Zugang entwickelt werden kann, »der von bestehenden Forschungsperspektiven […] profitiert, aber auch abweicht« (ebd.). Beispielhaft untersucht er Minority Report (Steven Spielberg, USA 2001) und fragt danach, um was für eine »Ereignisform« es sich hierbei überhaupt handle (er spricht nicht von einem Film, sondern von einem »Medienpaket«, ebd., S. 232). Wo verläuft zwischen dem Trailer, der heruntergeladen wird, über den Film, den man im Multiplex-Kino sieht, bis zum Heimgebrauch der DVD mit ihren Extras und dem Making-of »die Grenze zwischen sozialen und subjektiven Erfahrungen eines massenkulturellen Bildprodukts?« (ebd., S. 231) Holert schlägt vor, die Rolle der Zuschauer_innen und User_innen beim Zustandekommen dieses ›Produkts‹ zu untersuchen. 199 Nirmal Puwar hat sich in Videoarbeiten, Ausstellungsprojekten und Publikationen mit den Kinos der südostasiatischen Migrant_innen in England auseinandergesetzt, deren Funktion als soziale Orte, als Orte der Grenzüberschreitungen, Neuverhandlungen und, ganz konkret, eben als selbst organisierte Orte eines ›eigenen Kinos‹, siehe v.a. ihre Videoarbeit Coventry Ritz (GB 2007), siehe http://www.darkmatter101.org/site/2007/03/12/coventry-ritz-cinema/ und http://www.gold.ac.uk/sociology/staff/puwar/; beide zuletzt abgerufen am 05.09.2014.

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einer bestimmten Weise wirken müss(t)en, oder anstelle der Annahme einer m ­ echanisch verfassten Filmerfahrung, setze ich nun eine Verbindung aus der Erörterung von spectatorship und (m)einem dezidiert subjektiven, investierten, interessegeleiteten Sehen. Spectatorship ist mit Irit Rogoff ein »Bedeutungsfeld zwischen ›Zuschauerschaft‹, ›Beobachterhaltung‹, ›Blickkultur‹«.200 Der Gegenstand von »Spectatorship und der (richtiger: in der) kulturellen Differenz«,201 ist Intelligibilität im Sinne Michel de Certeaus, welche sich »im Verhältnis zum Anderen« herstellt: »[S]ie bewegt sich (oder ›schreitet‹) fort, indem sie das verändert, was sie aus ihrem ›Anderen‹ – dem ­Wilden, der Vergangenheit, dem Volk, dem Wahnsinnigen, dem Kind, der Dritten Welt – macht.«202 Indem ich dies explizit mit (m)einer subjektiven Sichtweise verbinde, wende ich mich gegen die Fiktion des Identitären, mit der Filme nur als reine Abbildungsapparate erscheinen können. Jeder (Spiel-)Film, also auch die Filme, die ich im Laufe dieser Arbeit betrachte, ist mehr als ein reines Abbildungsverhältnis, und sei er auf den ersten Blick noch so konventionell: »Jedes Bild und jeder Text sind jeweils potentiell Text und Bild. Diese Potenz aktualisiert sich im Blick oder im Lesen. […] Unzählig sind diese Aktualisierungen: kein Text hat sein Eigenbild, kein Bild seinen Eigentext.«203 In diesem Sinne versuche ich hier, Kritik mit (den) Filmen zu entwickeln: Ich schalte mich ein in ihre Verhandlungen – um Teil davon zu sein, und nicht nur deren Protokollantin. Meine Sichtweise hat sich auch durch die Arbeit mit diesen Filmen verändert. Nicht nur ich habe diese Filme gesehen, sie haben auch ›zurückgeblickt‹, wie Laura U. Marks es mit Bezug auf Vivian Sobchacks phänomenologischer Filmtheorie formuliert, indem sie von der »tactile and contagious quality of cinema«204 spricht und vom interaktiven Charakter des Filmsehens einer aktiven, produktiven Zuschauerin ausgeht.205 Ebenjener nachdenklichen (Raymond Bellour) oder possessiven (Laura

200 Wie die nicht benannte Übersetzer_in von »Die Anderen der Anderen. Spectatorship und Differenz« anmerkt; Irit Rogoff: »Die Anderen der Anderen. Spectatorship und Differenz«, in Jörg Huber/Alois Martin Müller (Hg.): Die Wiederkehr des Anderen. Interventionen, Basel/ Zürich 1996, S. 63–82, hier S. 63. 201 Rogoff, Die Anderen, S. 63; Hervorh. i.O. 202 de Certeau, zit. in Rogoff, Die Anderen, S. 65. 203 Nancy, Am Grund, S. 118. 204 Laura Marks: The Skin of the Film. Intercultural Cinema, Embodiment and the Senses, Durham/NC 2000, S. xii. 205 Siehe zur Beteiligung des Zuschauers am interpretativen Prozess der Wahrnehmung, zum involvierten, aktiven Zusehen seit der sog. kognitivistischen Intervention in die Filmwissenschaften u.a. Robin Curtis: »Deixis, Imagination und Perzeption. Bestandteile einer performativen Theorie des Films«, in: Horst Wenzel/Ludwig Jäger (Hg.): Deixis und Evidenz, Freiburg i.B. 2008 S.S. 241–260. Einen Überblick über die Relation von ›spectator‹ und Filmtheorie bzw. – wissenschaften liefert Vinzenz Hediger im Kontext seiner Auseinandersetzung mit dem Zuschauer als Setzung, historischem Objekt und als Figur: »The Existence of the Spectator«, in: Alberto Beltrame/Giuseppe Fidotta/Andrea Mariani (Hg.): At the Borders of

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Mulvey) Zuschauerin, die im Kino, am Rechner, im Netz, auf dem Bildschirm sich die Filme, die sie affizieren – was auch heißen kann: verärgern, stören, langweilen oder aufregen – ansieht. Das Mehr der Filme

In dieser Arbeit gehe ich von einer grundsätzlich exzessiven Qualität des Filmischen aus. Sigfried Kracauer hat Film als ein Medium bezeichnet, das alle anderen »an Einschließlichkeit«206 übertrifft, Christina von Braun bezeichnet Film als multisensorisches, immersives Environment,207 und Mieke Bal begreift Filme als »wesentlich gemischt-medial[e] Text[e]«.208 Filme sind eben nicht einfach bewegte Bilder, sondern audiovisuelle Medien, die in Zeit und Raum stattfinden: Filme müssen (auf eine Leinwand) projiziert oder (auf dem Rechner, DVD-Player, VHS-Rekorder etc.) abgespielt werden und sind wesentlich auf ihre Wahrnehmung in der Zeit angewiesen. Sie sind von (ihrer jeweiligen) Dauer einerseits, und andererseits sind sie immer im Hier und Jetzt, sie sind präsent(isch), sie vergegenwärtigen jene vergangene Zeit, die die der Geschichte ist und dessen, was gefilmt wurde, und zwar in der ihnen eignenden Zeit. Jedes Filmsehen ist eine Aktualisierung von und damit ein Beitrag zur Filmgeschichts(um)schreibung (wie Filmgeschichte überhaupt als Rezeptionsgeschichte zu begreifen ist209). Filme sind außerdem multisensorische Anordnungen, die verschiedene Räume aufspannen: Immersionsräume, den Raum der Wahrnehmung, die Anordnungen auf der Leinwand, also den Filmraum, schließlich den Kinoraum oder ebenjene anderen, neuen Räume wie das ›Heimkino‹, die zahlreichen Projekträume und alternativen Orte, in denen zumeist mit Videoprojektoren projiziert wird, aber auch



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(Film) History,Temporality, Archaeology, Theories, Undine 2015, im Erscheinen. »The spectator whose existence we all agree on is simultaneously everyone and nobody in particular. Anyone can be a spectator, and many people have been spectators throughout history, but to be a spectator is to assume a position that appears to have no history of its own. The position of the spectator is always there. It is available for anyone but it appears to have neither an ontological substance nor any kind of historical specificity. At first, then, the figure of the spectator appears to be not so much an empirical entity as a concept.« (o.S.) Zur Frage der Involvierung als geteiltes Tun, als Mithandeln von Film und Zuschauer_innen, als kollektives Moment siehe Chris Tedjasukmana: »Die Öffentlichkeit des Kinos. Politische Ästhetik in Zeiten des Aufruhrs«, in: montage/av 23 (2014), S, 13–34. Siegfried Kracauer: Von Caligari bis Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films [1947], übersetzt von Ruth Baumgarten und Karsten Witte, Frankfurt/M. 1979, S. 12. Vgl. von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 227ff. Mieke Bal: Kulturanalyse, übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt/M. 2002, S. 23. Oder als Bewegungsgeschichte, wie Lorenz Engell ausführt: Film und Geschichte sind intrinsisch miteinander verwoben, siehe ders: Bewegung Beschreiben. Theorie zur Filmgeschichte, Weimar 1995.

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die Räume des Expanded Cinema, die Überschneidungen von Kunst und Kino in der Black Box und dem White Cube und an anderen (noch) nicht institutionalisierten Orten. Filme sind also nicht nur die Zusammensetzung von Bild und Ton, sie erzeugen ein Darüberhinaus, ebenjenes, das die Filmtheorie seit ihrer Formierung zu fassen versucht. Die Frage, wie Filme wirken, ist und bleibt offen. Das zeigt sich auch in dem Problem des Schreibens über Filme, in dem schwierigen Unterfangen, sie durch Sprache anwesend zu machen, und in dem dabei so häufigen Effekt des Inhaltismus: Es geht mir darum, über den Inhaltismus hinauszukommen. Wenn von einem Film die Rede ist, wenn man ihn kritisiert oder untersucht, dann spricht man meistens vom Sujet und vom Verhalten der Filmpersonen. Es ist sehr schwer, von etwas anderem zu handeln, weil man es ja mit Sprache erst anwesend machen muß.210

So gibt es in der (deutschsprachigen) Rezeption vieler Filme, die ich im Weiteren ›sehen‹ werde, regelmässig das Bestreben, die Filmfiguren mit der Realität abzugleichen. Oder, kritisch gewendet, es wird die negative Darstellung von ›Ausländern‹ thematisiert. Anstelle solcher Stereotypenforschung bzw. kritik und der Forderung nach ›guten‹ Bildern gehe ich davon aus, dass das »Drama der Repräsentation« (Gertrud Koch) einen anderen Ansatz erfordert. Das bedeutet zunächst, die Ambivalenzen (des/der Stereotypen) wahrzunehmen, wie Bhabha das im Hinblick auf den kolonialen Diskurs exemplarisch vorgeführt hat. Die Verdrängungsleistung, die der Ausländerdiskurs grundsätzlich darstellt, die ›Unsichtbarmachung‹ seiner visuellen Fundierung werden in ebenjenen Stereotypen greifbar gemacht, in den Überdeterminierungen, Einengungen und Klischees, die den Ausländerdiskurs und seine erkennungsdienstlichen Logiken bestimmen und überfrachten. Gewöhnlich ist das Stereotyp traurig, weil es aus einer Nekrose der Sprache besteht, einer Prothese, die ein Loch im Schreiben zustopft, aber gleichzeitig kann es nur ein gewaltiges Gelächter auslösen: es nimmt sich ernst; es glaubt sich der Wahrheit näher, weil seiner sprachlichen Natur gegenüber indifferent: es ist zugleich abgedroschen und gravierend.211

Die (stereotypen) Bilder durchlaufen dabei zitatförmige Verschiebungen. In Differenz und Wiederholung beschreibt Gilles Deleuze, wie Veränderung innerhalb des Gleichen stattfindet. Er setzt darin die Begriffe der Differenz und der Wiederholung an die

210 Harun Farocki: Bilderschatz, 3rd Internationational Flusser Lecture, Köln 2001, S. 19. 211 Roland Barthes: Schriftsteller, Intellektuelle, Professoren, in: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt/M. 2006, S. 339–362, S. 347. Die Einführung des Begriffs des Inhaltismus wird i.allg. Bertold Brecht zugeschrieben, der ihn in den 1950ern im Gegensatz zum Formalismus eingeführt haben soll. Allerdings werden seither immer wieder diverse andere Autor_innen mit dem Begriff in Verbindung gebracht.

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Stelle des Negativen und des Identischen. Differenz ist in diesem Sinne wesentlich dezentriert, d.h., es geht dabei nicht mehr um Differenz als etwas Anderes gegenüber einem normativen Eigentlichen und Eigenen. Die Idee eines originalen, ursprünglichen Bezugspunktes wird aufgegeben.212 In Poetics of Relation entwirft Édouard Glissant ein relationales Konzept von Identität.213 Darin setzen sich in der Wiederholung des commonplace, also des Selbstverständlichen, des allgemein Vorausgesetzten, kleine Widerhaken fest, renitente und beharrliche Momente, seien sie auch noch so klein: This flood of convergences, publishing itself in the guise of the commonplace. No longer is the latter an accepted generality, suitable and dull – no longer is it deceptively obvious, exploiting common sense – it is, rather, all that is relentlessly and endlessly reiterated by these encounters. On every side the idea is being relayed. When you awaken an observation, a certainty, a hope, they are already struggling somewhere, elsewhere, in another form. Repetition, moreover, is an acknowledged form of consciousness both here and elsewhere. Relentlessly resuming something you have already said. Consenting to an infinitesimal momentum, an addition perhaps unnoticed that stubbornly persist in your knowledge.214

Auch Deleuze geht davon aus, dass Subversion durch verschiebendes Zitieren und Wiederholen möglich ist, dass die Ordnung des Gesetzes durch übergenaue Unterwerfung usurpiert werden kann. Auch er, wie Barthes, findet darin Grund zum Gelächter: »Die Wiederholung ist Sache des Humors und der Ironie; sie ist ihrer Natur nach Überschreitung, Ausnahme und behauptet immer eine Singularität gegen die dem Gesetz unterworfenen Besonderheiten, ein Universales gegen die Allgemeinheiten, die als Gesetz gelten.«215 Maha El Hissy geht daher davon aus, dass karnevaleske Stilmittel wie »groteske, satirische, ironische, parodistische und komische Elemente«216 kennzeichnend sind für kulturelle migrantische Produktionen (sie nennt Theater, Kabarett, Film) seit 1990, die damit den Modus der Sozialarbeit und der »subnationalen Leidkultur«217 hinter sich gelassen hätten, eine These, die mit den meisten Publikationen zu (deutschsprachigem)



212 Vgl. Deleuze, Differenz . 213 Ausgehend vom konkreten Erfahrungsraum der Karibik, den er in einen transformierenden Modus von Geschichte übersetzt. Édouard Glissant: Poetics of Relation, übersetzt von Betsy Wing, Ann Arbor 1997. 214 Glissant, Poetics, S. 45. 215 Deleuze, Differenz, S. 20. 216 Maha El Hissy: Getürkte Türken. Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler, Bielefeld 2012, S. 10. 217 Deniz Göktürk: Jenseits der subnationalen Leidkultur. Transnationale Rollenspiele im Kino, in: Transversal 01 (2000), http://eipcp.net/transversal/0101/goektuerk/de; zuletzt abgerufen am 05.09.2014.

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Kino der Migration d’accord geht. Auch die auffallend hohe Zahl von Komödien im postmigrantischen Kino und TV-Produktionen sowie die Popularität ›migrantischer‹ Comedy-Personae scheint dies zu belegen. Zu fragen ist jedoch, ob die Grenzen des Gelächters, die Frantz Fanon durch die Erfahrung des Rassisiertwerdens, des Rassismus, demarkiert – »Ich wollte mich amüsieren, […] doch das war mir unmöglich geworden.«218 –, in der Tat verschoben wurden. Oder ob nicht zwischen dem Anarchismus in Hussi Kutlucans Filmen und einer Komödie wie beispielsweise Süperseks (Thorsten Wacker, D 2004), an deren Ende das privatisierte Kino der (Exil-)Träume (türkische Melodramen der 1970er Jahre in »Tariks Süpersinemakks«) zum Ort der Vergemeinschaftung wird, der das zuvor am selben Ort florierende türkisch-deutsche Telefonsexunternehmen familienfreundlich ersetzt, eine weitere Demarkationslinie besteht, die in der Problematisierung konservativer (und konservierender) Elemente im postmigrantischen Kino auszumachen wäre. Geschichte und Geschichten – Spielfilme

Für das Visuelle des Ausländerdiskurses gilt jedoch zunächst: Es gibt keinen wahren, realen Referenten (den ›Ausländer‹), dessen ›falsche‹ Abbildung geradegerückt werden müsste. Ebenso gibt es eben keine ›Authentizität‹, keine ursprüngliche Ethnizität, kein eigentliches ›Türkischsein‹ oder ›Deutschsein‹. Der Einsatz von Bildmaterial, das stereotyp ist, ist immer ein Zitat und kann als solches subvertiert, parodiert, auseinandergenommen, deplatziert oder maskiert werden.219





218 Fanon, Schwarze Haut, S. 103. Zum »Gelächter gegen den Rassenwahn« siehe das gleichnamige Kapitel 3 in Bernhard Spies, Die Komödie in der deutschsprachigen Literatur des Exils, Würzburg 1997, S. 63–82. 219 An dieser Stelle sei auf Jörg Schweinitz‹ Habilitationsschrift hingewiesen: ders.: Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie, Berlin 2006. In Kapitel 7 bringt er das Stereotyp als »intelligible Form« zur Sprache. Autoren aus den Reihen der franzö­ sischen Filmologie interessierten sich gerade für die Konventionalität der Stereotype »als produktive Größe der Filmkomposition« (S. 197). Gilbert Cohen-Séat, Edgar Morin und andere wendeten sich dem Stereotyp als Voraussetzung für die Intelligibilität des Mediums zu, ebenjene Intelligibilität, die die Filme, mit denen ich mich beschäftige, funktionieren lassen, die das V/Erkennnen garantiert. Sprache spielte dabei eine zentrale Rolle als Analogie: Die Filmologie war daran interessiert, eine Art »wortloses ›Wörterbuch‹ der Bilder« (Cohen-Séat, zit. In Schweinitz, Stereotyp, S. 201) zu schaffen, das Stereotyp fungierte darin als »fixe semantische Größe«, als »entfernte Verwandte des Wortes« und damit als »produktiver Baustein für die Ausdrucksfähigkeit des Films« (ebd.). Cohen-Séat, so Schweinitz, ging es dabei nicht um konkrete Bilder, sondern um »schematisch-strukturelle Phänomene […], die als Wiederholung eines Einfalls im einzelnen Film ihre jeweilige Aktualisierung erleben.« (S. 204) Das heißt: »Wiederholung fasste er also nicht als Reproduktion des Gleichen, sondern als Produktion von Ähnlichem.« (Ebd.)

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Der bereits konstatierte »Inhaltismus« äußert sich auch in den Authentizitätsan­for­ derungen an die Filme. Dem steht der Versuch einer Annäherung an das Exzessive des Filmischen gegenüber. Dazu gehört auch »Überinterpretation« im Sinne Harun Farockis: »Ich versuche stets, Interpretationen zu vermeiden, bei denen der Film in der Deutung – sozusagen rückstandslos – aufgeht. Eine meiner Strategien ist, dass ich einen Film über- oder fehlinterpretiere. Vielleicht ist mit Übertreibung etwas zu retten.«220 Gertrud Koch führt aus, wie Filme zwar in einem nahen, mimetischen Verhältnis zur Welt stehen, aber gerade kein Abbildungsverhältnis darstellen: Filme […] sind in ihrer Gegenständlichkeit welthaltig. Sie stellen in ihrer projizierten ästhetischen Illusion aber je eigene Welten vor, die zwar in einer mimetischen Beziehung zur vorfilmischen Welt stehen, aber in keinem Abbildungsmechanismus. Die Benjaminische Formel von der ›unähnlichen Ähnlichkeit‹ trifft das Verfahren der Filmästhetik.221

Der Film stellt uns also weniger die Welt, wie sie ist, vor Augen, sondern das Verhältnis selbst, »das wir als denkende und sehende Wesen zur Welt einnehmen.«222 Daher liegt »[d]ie ästhetische Beunruhigung des Films […] genau in seiner Autonomie, den ›Strom des Bewusstseins‹, der uns mit der Welt verbindet, zu unterbrechen und zu negieren.«223 Diese Kapazität des Films verbindet sich mit der Fähigkeit des Kinos, uns ein Archiv möglicher Zukunft zur Verfügung zu stellen, ebenso wie es verschiedene Vergangenheiten zu vergegenwärtigen vermag. Kino/Film sind also Orte der Verhandlungen der Beziehungen zwischen Selbst und Welt, des kulturellen Imaginären, von Geschichte und Zukunft. Sie sind dies auch im Kontext der Allpräsenz neuer Medien und digitaler Technologien. Thomas Elsaesser hat dies im Kontext der Diskussion um den deleuzeschen Begriff des ›cinema effect‹ auf den Punkt gebracht: »The cinema is part of us, it seems, even when we are not at the movies, which suggests that in this respect, there is no longer an outside to the inside: we are already ›in› the cinema with whatever we can say ›about› it!«224



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Die Filmologen griffen in ihrer Arbeit eine bereits seit den Anfängen des Kinos bestehende Metapher auf, diejenige von der ›Sprache des Films‹ (allerdings deuteten sie sie neu). Die umfangreichen Diskussionen um Filmsprache, Film als Text, die Sprache des Films usw. werden erstaunlicherweise in den Bildwissenschaften und den darin geführten Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Bild und Text bzw. Sprache nicht rezipiert. Siehe exemplarisch die Ausgabe von montage/av zu »Film als Text: Bellour, Kuntzel«, 1 (1999). Farocki, Bilderschatz, S. 19. Gertrud Koch: »Motion Picture. Bausteine zu einer Ästhetik des Films«, in: Ludwig Nagl et al (Hg.): Film Denken / Thinking Film, Wien 2004, S. 51–65, hier S. 58. Koch, Motion Picture, S. 64. Koch, Motion Picture, S. 64.

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Wenn Elsaesser von einer »archaeology of possible futures and of the perpetual presence of several pasts«225 spricht, als die Kino/Film begriffen werden können, dann steht dies auch für einen Begriff von lebendiger Filmgeschichte: Jedes Filmsehen findet in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort statt, und entsprechend unterschiedlich sehe ich, was ich sehe; ein und dieselbe Arbeit erscheint jedes Mal neu. Filmgeschichte wird in jedem Moment des Filmsehens geschrieben und damit auch umgeschrieben. Sie konstituiert sich als Seh- bzw. Rezeptionserlebnis, und je nachdem, in welches Verhältnis ein Film gebracht wird, was danach, dazu, im Kontext gezeigt wird, in welchem Kontext er gesehen wird, ergibt sich ein neuer Faden, eine neue Anordnung der Geschichte und des Films. Den Begriff der Geschichte habe ich hier hervorgehoben, weil es im Folgenden vor allem um Geschichten gehen wird – in Form von Spielfilmen, also Filmen, die erzählen. Spielfilme, wenn man von dieser Filmform als Genre sprechen will226, sind als solche dem Mainstream verhaftet, in dem Sinne, dass sie, wenn sie ihr Publikum erreichen wollen, intelligibel sein müssen. Filme, die nun das kulturelle Bilderrepertoire und die Geschichten des Ausländerdiskurses herstellen oder zitieren, beziehen ihre Intelligibi­ lität eben gerade aus diesem Diskurs. Das, was der Diskurs ausblendet, also seine Er­kennungsdienste, die ›Ausländer‹ v/erkennbar machen, blenden die Filme (wieder) ein. In Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien erörtert Jacques Rancière die These, wonach literarische Aussagen Auswirkungen auf die Wirklichkeit haben. Die Verbindung von Realismus mit Künstlichkeit in der poetischen ›Geschichte‹ bedeutet die Verbindung von »der Wirklichkeit direkt eingeschriebenen Spuren mit der Konstruktion komplexer Maschinen des Verstehens.«227 Das heißt, dass »die Fiktion des ästhetischen Zeitalters Modelle geschaffen hat, die es erlauben, die Darlegung von Fakten mit Formen des Verstehens zu verbinden, die die Trennung zwischen der Ratio der Fakten und der Ratio der Fiktion gerade aufgehoben haben.«228 Diese Verbindung, so Rancière, ist von der Literatur zur »neuen Erzählkunst – dem Kino – übergegangen.«229 Wobei das Kino »jene beiden Mittel, die stumme und vielsagende Spur und die Konstruktion, die die Bedeutungsmacht und den Wahrheitswert berechnet, auf die Höhe ihrer Möglichkeiten«230 führt. Interessanterweise sieht Rancière dieses Potential stärker im Dokumentarfilm realisiert, da



224 Thomas Elsaesser: »The New Film History as Media Archaeology«, in: Cinémas, 2/3 (2004), S. 75­–117, S. 76. 225 Elsaesser, New Film History, S. 113. 226 Genre gilt mir hier vor allem als architextuelle Referenz im Sinne Gérard Genettes. 227 Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, übersetzt von Maria Muhle et al, Berlin 2006, S. 60. 228 Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 61. 229 Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S 60. 230 Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 60.

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dieser »sogar eher zu einer stärkeren fiktionalen Erfindung fähig« sei als das »Kino der ›Fiktionen‹«, weil dieses »leicht einer gewissen Stereotypie von Handlung und Charakteren unterliegt.«231 Ich würde sagen, dass die Fähigkeit zu fiktionalisieren, die Rancière beschreibt, damit (auch das Reale) gedacht werden kann, unabhängig von der Genrezuordnung eine Frage des Filmischen ist, d.h. von der jeweiligen filmischen Arbeit abhängt, und wie es gelingt, darin Form, Ästhetik, Inhalt und Medium zu verbinden. Aber nochmals: Nichtsdestotrotz setze ich hier einen Genrebegriff voraus, den des Spielfilms, mit dem ich arbeite – und zwar zunächst nicht wegen seines Potentials, sondern wegen seiner Nähe zur Sinnhaftigkeit, zur Intelligibilität. Wie Anton Kaes in seiner Studie Deutschlandbilder schreibt: Spielfilme – anders als Reden oder wissenschaftliche Abhandlungen – sind aufgrund ihrer mehrfach kodierten Materialität aus Bildern, Texten und Tönen komplexe ästhetische Gebilde, die es sich erlauben, mit Ambivalenzen, Assoziationen und Identifikationen zu spielen und dem Zuschauer mehrere Bedeutungen zugleich zu suggerieren. Damit gelingt es fiktionalen Filmen (öfter als dokumentarischen), im Zuschauer verborgene Wünsche und Ängste zu aktivieren, Phantasien freizusetzen, kollektive Stimmungslagen anzusprechen und Meinungen zu katalysieren.232

Ein Argument, das (wenn auch nicht explizit, aber doch naheliegend) an Siegfried Kracauer anschließt, an seine in Von Calgari zu Hitler vertretenen These, dass »die Filme einer Nation […] ihre Mentalität unvermittelter [reflektieren] als andere künstlerische Medien«,233 und zwar aus zwei Gründen. Der eine steht in einer gewissen Nähe zu dem von mir mit Intelligibilität beschriebenen Aspekt, nämlich dass sich der Film »an die anonyme Menge [richtet] und sie anspricht.«234 Der andere Grund ist, dass »Filme niemals das Produkt eines Individuums«235 sind.





231 Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, S. 61. 232 Kaes, Deutschlandbilder, S. 6. Dass der Spielfilm gelegentlich das Potential zu größerer Komplexität besitzt, scheint auch Jan Schütte gemeint zu haben, als er seinen Film Drachenfutter (BRD 1987) realisierte. Schütte hatte zuvor einen Dokumentarfilm mit demselben Titel gemacht, in dem er einen pakistanischen ›Blumenverkäufer‹ porträtierte, einen Asylbewerber, der nachts in Kneipen und Bars Blumen verkauft. Wolfram Schütte notierte damals, der Spielfilm sei entstanden, weil der Dokumentarfilm »hinter den Erkenntnissen seiner [Schüttes, N.H.] Recherchen« zurückblieb (Schütte 1987). Einen anderen pragmatischen und politischen Grund für das Format Spiel- statt Dokumentarfilm gibt Yilmaz Arslan an, der bei der Pressekonferenz zur Premiere seines Films Brudermord/Fratricide (D/LX/F 2004/05) in Locarno seine ursprünglichen Pläne für einen Dokumentarfilm zur Situation minderjähriger (kurdischer) Flüchtlingskinder beschrieb. Für ihn war dann das Problem der Anonymisierung, also des Schutzes der Kinder, so dominant, dass Arslan sich für das Format Spielfilm entschied (siehe Extra/Pressekonferenz auf der von Alive vertriebenen, 2007 erschienenen DVD). 233 Kracauer, Von Caligari bis Hitler, S. 11. 234 Kracauer, Von Caligari bis Hitler, S. 11.

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Den Aspekt des gemeinschaftlichen Arbeitens an Filmen, wie ihn Kracauer hervorhebt, möchte ich hier nun um einen Punkt ergänzen, den wiederum Anton Kaes angesprochen hat: den der Filmförderung. Kaes schreibt: »Was den Jungen deutschen Film und den ihm ab Mitte der siebziger Jahre nachfolgenden Neuen deutschen Film (im Prinzip bis heute [also 1987, N.H.]) eint und vom internationalen Kino unterscheidet, sind die Produktionsbedingungen, unter denen er entstand bzw. entsteht.«236 Diese Produktionsbedingungen sind die der Unterstützung durch staatliche Gelder in Form von »Krediten, Vorschüssen, Preisen und Prämien«237, wozu seit den siebziger Jahren noch das »öffentlich-rechtliche Fernsehen als Co-Produzent« 238 kommt. Die Filme sind damit in gewisser Weise als Teil einer sich selbst inszenierenden Öffentlichkeit zu sehen, womit ich wieder bei dem Punkt der Sinnerzeugung, genauer der Umsetzung und Inszenierung der Erkennungsdienste des Ausländerdiskurses wäre. Allerdings gelingt diese Inszenierung nur bedingt, oder sagen wir: Sie gelingt, aber sie enthüllt stets mehr, als sie beabsichtigt, weil dem Film nun einmal eigen ist, dass er zwar an der Oberfläche stattfindet, aber sich ausbreitet: Verdrängtes, Verhülltes, Verschüttetes werden durch das Auge der Kamera wahrnehmbar, wobei dies wiederum nicht gleichzusetzen ist mit intendierten Enthüllungen (die in diesem Kontext oft wörtlich zu verstehen sind, als gelüfteter Schleier, als abgelegtes Kopftuch). Filme affizieren nicht mittels geradliniger Gefühlslenkung, sondern durch Verstörungen und Unruhen, für die im Übrigen irrelevant ist, ob sie intendiert sind.

235 Kracauer, Von Caligari bis Hitler, S. 11.Ich kann hier zwar nicht die ausführliche Kritik zu und Auseinandersetzung mit Kracauers opus magnum (und dessen spannender und enthüllender Rezeptions-, vielmehr Publikations- und Zensurgeschichte, die Karsten Witte in seinem Nachwort des Herausgebers in der Taschenbuchausgabe von 1984 beschreibt) diskutieren. Ein zentrales Argument sei jedoch genannt, der Einwand nämlich, dass Kracauer die Filme zugleich als Folge und Ursache beschrieben hat, als Ausdruck der psychischen Disposition der Deutschen, die zugleich den Aufstieg Hitlers beförderten. Thomas Elsaesser wendet dagegen ein, dass »Kracauer, in fact, had recognized a problem that is still with us, even though he perhaps foreshortened its inherent dialectic, namely the historical agency not so much of the films but of the cinema, of which the films are both representations and products. Kracauer, in his essay from the 1920s, was one of the first to articulate that as a mass medium and a creation of capitalism, the cinema is indeed a historically ambiguous phenomenon in that it is both effect and cause, effect without cause. With Lukacs one could even say that it is an ensemble of reality effects that annihilates causality and by that fact threatens the concepts at the heart of Western notions of reality and history« (Thomas Elsaesser: »The New German Cinema’s Historical Imaginary«, in: Bruce A. Murray (Hg.): Framing the Past. The Historiography of German Cinema and Television, Carbondale/Edwardsville 1992, S. 280­–307, hier S. 292; Hervorh. N.H.). Das Kino stellt somit fundamentale (westliche) Vorstellungen von Temporalität, Präsenz und Geschichte in Frage. Elsaessers Argument eröffnet hier auch interessante Perspektiven auf die Auseinandersetzung mit Geschichte und Film, Geschichte und Kino, nämlich: »the history of cinema as the cinema in history« (S. 305). Oder anders ausbuchstabiert: Das Zusammendenken von Geschichte im Film, Filmgeschichte und Geschichte und Film.

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An dieser Stelle noch ein kleiner Einschub zur Rolle des Fernsehens: Zahlreiche der in dieser Arbeit genannten Filme sind vom WDR oder ARTE koproduziert oder im Auftrag des Kleinen Fernsehspiels (ZDF) entstanden. Auch heute noch entstehen viele Filme, die sich im weitesten Sinne mit ›Migration‹ beschäftigen, mit Fernsehgeldern. Beispiele für die Produktionsgeschichte des Kleinen Fernsehspiels sind, um nur einige zu nennen: Shirins Hochzeit (Helma Sanders-Brahms, BRD 1976), Auslandstournee (Ayşe Polat, D 1999), E n G arde (Ayşe Polat, D 2004), L uks G lück (Ayşe Polat, D 2013), Aprilkinder (Yüksel Yavuz, D 1998), Anam (Buket Alakuş, D 2000/01), Drei gegen Troja (Hussi Kutlucan, D 2004/05) Geschwister – Kardeşler (Thomas Arslan, D 1996/97), Dealer (Thomas Arslan, D 1998/99), Der schöne Tag (Thomas Arslan, D 2000/01). Allerdings haben sich die Bedingungen geändert. Im Vergleich zu den Produktionen des Kleinen Fernsehspiels in den 1980er Jahren, die Filme entstehen ließen, deren Experimentierfreudigkeit und ästhetischer wie inhaltlicher Wagemut aus heutiger Perspektive nur staunen lassen,239 werden heute sehr viel glattere Spielfilme realisiert. Viele Filme werden inzwischen nicht nur vom Fernsehen koproduziert, sie haben auch über Fernsehausstrahlungen ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden. Eine große Zahl an Filmen, die ich für diese Arbeit gesichtet habe, habe ich nie im Kino, sondern ausschließlich auf dem (TV)Monitor gesehen, als VHS, DVD, Blueray oder als Videodatei, wobei hinzuzufügen ist, dass die Arbeit des Wieder-Sehens grundsätzlich in diesen Formaten stattfindet. Ich erwähne dies zum einen aus Genauigkeit gegenüber der Praxis dessen, was ich hier einfach als Filmsehen beschrieben habe, zum anderen gibt es hier durchaus produktive gedankliche Anknüpfungspunkte an die andere Art der Distribution, die die Migration darstellt. Die sogenannte Gastarbeiterära war begleitet von zahlreichen Medien und immer den neuesten Technologien (die ersten VHS-Rekorder beispielsweise), dem Entstehen von Videotheken, die später gefolgt wurden von Satellitenschüsseln und den deregulierten Raubkopie-Märkten, mit DivX, usw.

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Kaes, Deutschlandbilder, S. 28. Kaes, Deutschlandbilder, S. 28. Kaes, Deutschlandbilder, S. 28. Mit dem Kleinen Fernsehspiel hatte das ZDF in den 1970er Jahren »eine der langlebigsten und im deutschen Fernsehen einmalige Nische für junge Studio- und Autorenfilme, Filmund Videoexperimente erfunden […]. Für das Westberliner Filmschaffen der 1980er Jahre kam dem kleinen Fernsehspiel eine nicht zu unterschätzende Rolle zu; nicht nur dffb-AbsolventInnen, auch unabhängige FilmemacherInnen, die kaum mehr Erfahrungen als mit der Super-8-Kamera hatten, konnten durch eine Koproduktion mit dem ZDF ihren oft ersten größeren Film realisieren und ausstrahlen.« (Florian Wüst: »Ernstfall in Echtzeit. Atomare Bedrohung, Computerangst, Telekommunikation und Videokultur«, in: Florian Wüst/Stefanie Schulte Strathaus (Hg.): ›Wer sagt denn, dass Beton nicht brennt, hast Du’s probiert?‹ Film im West­Berlin der 80er Jahre, Berlin 2008, S. 148­–171, hier S. 162).

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Das Kino der Migration ist wieder ein anderes Thema. Natürlich geht es zunächst um die Filmproduktionen der Herkunftsländer (so diese existieren bzw. zirkulieren), aber es gibt auch dezidiert transnationale Phänomene, wie Bollywood oder Nollywood oder das Hongkong-Kino, allen voran die Filme mit Bruce Lee: Nicht umsonst taucht Bruce Lee als Zitat auch in einigen der Filme, die ich in dieser Arbeit bespreche, auf, z.B. im Namen des Thaiboxers ›Bruce Yildiz‹ in Schattenboxer (Lars Becker, D 1992), als Videoprogramm und Identifikation von Erol in Geschwister – Kardeşler und als Projektionsraum des Möchtegern-Kung-Fu-Filmemachers Ibo in K ebab Connection (Anno Saul, D 2004) – die aus der Tiefe des Kühlschranks erscheinende »Erleuchtung«, die Ibo im Parkhaus den »Weg« erklärt.240 Durcharbeiten

Auf filmportal.de, der vom Deutschen Filminstitut – DIF e.V. in Zusammenarbeit mit CineGraph – Hamburgisches Centrum für Filmforschung e.V. betriebenen (und unterstützt von den anderen Mitgliedern des deutschen Kinemathekverbundes und den Verbänden der Filmwirtschaft) Internetplattform für den ›deutschen Film‹, gibt es den Themeneintrag »Kino und Migration«.241 Der größte Teil der darin besprochenen Filme sind Spielfilme. Es ist zwar anzunehmen, dass zahlenmäßig mehr dokumentarische Produktionen zum Thema Migration existieren (zumal als Reportagen für das Fernsehen), dass der Fokus auf Spielfilme jedoch motiviert ist. Bei filmportal.de mag das daran liegen, dass Kino vor allem als Ort der Spielfilme zu gelten scheint. Aber auch schon der 1995 erschienene Sammelband Getürkte Bilder: Zur Inszenierung von Fremden im Film thematisiert fast ausschließlich Spielfilme,242 ebenso Deniz Göktürk, die sich seit 1998 auf die Suche eines Kinos des »wechselseitigen Grenzverkehrs«243 gemacht hat, oder Georg Seeßlens Besprechung eines Kinos der Métissage in Deutschland, womit er das »türkisch-deutsche Kino« meint, welches »so präzise wie zärtliche Einblicke in die soziale Realität des Landes« 244 ermögliche, sowie aktueller im





240 Zu Bruce Lee als postkolonial-medialem Phänomen siehe die Arbeiten von Paul Bowman, u.a. Paul Bowman: »Sick Man of Transl-Asia. Bruce Lee and Queer Cultural Translation«, in: Social Semiotics 4 (September 2010), S. 393–409. sowie ders.: Theorising Bruce Lee, Amsterdam/New York 2010 und ders.: Beyond Bruce Lee, London/New York 2012. 241 http://www.filmportal.de/thema/kino-und-migration-in-der-brd; zuletzt abgerufen am 05.09. 2014. 242 Karpf, Ernst/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.): ›Getürkte Bilder‹. Zur Inszenierung von Fremden im Film, 12. Arnoldshainer Filmgespräche, Marburg 1995. Die klassisch repräsentationskritische Herangehensweise, die die meisten der Beiträge in diesem Sammelband charakterisiert, findet sich auch in neueren Studien wie die von Jochen, ders, Türkische Deutsche. 243 Göktürk, Verstöße, dies., Jenseits der subnationalen Leidkultur, dies.: »Migration und Kino Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?«, in: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart/Weimar 2000, S. 329–344.

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Forschungsprojekt »Migrant and Diasporic Cinema in Contemporary Europe« unter der Federführung von Daniela Berghahn und Claudia Sternberg:245 Überall sind es vorwiegend Spielfilme, die in den Blick genommen werden. Auch ich beginne meine Arbeit mit Spielfilmen, mit erzählten Filmen. Diesen Fokus setze ich, weil ich davon ausgehe, dass die Spielfilme sich durch eine »Erzählfläche« durchzuarbeiten haben, jene Erzählfläche, die in Kapitel 2 durch Alexander Kluge mit der Geschichte eines Landes in Verbindung gebracht wird. Migrationsgeschichte ist in Deutschland zuallererst und weiterhin eine noch zu erzählende Geschichte, das »beredte Schweigen« gilt nicht nur für die Dethematisierung von Rassismus, sondern auch für die Nichterzählungen eines Einwanderungslandes, das keines sein möchte, eines Nichteinwanderungslandes. Jan Motte und Rainer Ohliger schreiben 2004: »In der Erinnerungslandschaft und im historischen Gedächtnis der deutschen Gesellschaft ist das Thema Migration nur ungenügend verankert. Das Geschichtsbild wird immer noch von blinden Flecken dominiert.«246 Ein konkretes Beispiel hierfür findet sich in der Einleitung von Étienne François und Hagen Schulze zu ihrem dreibändigen Werk Deutsche Erinnerungsorte, in dem sie schreiben, dass sie das kollektive Gedächtnis von Migranten (»der jungen Deutsch-Türken« und »der Asylanten« [sic!]) in Deutschland nicht berücksichtigen konnten, da dieses noch »im Entstehen«247 sei. Geschichten und Geschichte der Migration wurden erst im Verlauf des letzten Jahrzehnts zum einem öffentlichen Thema, beispielsweise in den Performances und Interventionen von Kanak Attak, dem Forschung, Ausstellung, Produktion umfassenden Projekt Migration, den Diskussionen um die Musealisierung der Migration, den Migration lokalgeschichtlich aufbereitenden und als Stadtgeschichte thematisierenden Forschungs- und Ausstellungsprojekten wie Crossing Munich in München, Movements of Migration in Göttingen und Route der Migration in Berlin.248 Das Durcharbeiten in diesem Sinne haben auch die Kuratorinnen der Filmreihe Familienbande im Projekt Migration, Marion von Osten und Madeleine Bernstorff, angesprochen. Sie schreiben: »Eine ganze Serie von Filmen musste etwas sympto 244 Seeßlen, Vertraute Fremde, o.S. 245 www.migrantcinema.net; zuletzt aufgerufen am 05.09.2014. 246 Jan Motte/Rainer Ohliger: »Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft. Einführende Betrachtungen«, in: dies. (Hg.): Geschichte und Gedächtnis in der Einwanderungsgesellschaft: Migration zwischen historischer Rekonstruktion und Erinnerungspolitik, Essen 2004, S. 7–16, S. 9. 247 Zitiert in Mathilde Jamin: »Migrationsgeschichte im Museum«, in:. Motte/Ohliger, Geschichte und Gedächtnis, S. 145­157, hier S. 148, Anm. 8. 248 Zu Crossing Munich siehe http://www.crossingmunich.org/, zu Movements of Migration siehe http://www.movements-of-migration.org/cms/, zu der Route der Migration in Berlin siehe http://kunst-pr-ojekte.de/vergangene-projekte/ausstellungsprojekte/route-der-migration/ (alle zuletzt abgerufen am 05.09.2014). Siehe dazu auch die Diskussionen um die »Musealisierung« von Migration, u.a. Baur, Musealisierung.

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matisch ›durcharbeiten‹, bevor andere visuelle Subjektivierungsstrategien möglich wurden.«249 Ähnlich auch Hans Andreas Guttner, der zwischen 1979 und 1996 fünf Dokumentarfilme realisierte, die Migrationsgeschichten aufzeichnen (er nennt die Serie Europa – ein transnationaler Raum), und der die Widerstände beschreibt, mit denen er zu kämpfen hatte. Diese bezogen sich sowohl auf das Sujet als auch auf seine kinematografischen Entscheidungen. Guttner lässt in seinen Filmen migrantische Perspektiven zu Wort kommen und setzt dabei auch die Kraft der Narration ein, entgegen der lange Zeit bevorzugten ›Authentifizierung‹ des Dokumentarischen (er nennt das »Abbildrealismus«): Während ich mich in den 80er Jahren mit meinen Filmen zwischen alle Stühle setzte und jeder einzelne Film gegen größte Widerstände durchgesetzt werden musste, weil es Ablehnungsfronten gab, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann, können Filme über die Migration mittlerweile in allen möglichen Varianten erzählt werden.250

Dieser Blick spiegelt die Analyse wieder, die so auch auf filmportal.de und im größten Teil der (noch ziemlich jungen) Forschung251 dargelegt wird, nämlich die Idee einer Progression von Form und Inhalt, einer Entwicklungslinie, die sich von dem ersten Erscheinen eines sogenannten ›Gastarbeiters‹ auf einer Leinwand in der Bundesrepublik über die Hymnen an ein ›türkisch-deutsches‹ Kino bis zur Konstatierung eines transnationalen und/oder postmigrantischen Kinos spannt. Diese Diagnose ist nicht falsch und dennoch problematisch. Zwar sind viele dieser Spielfilme tatsächlich ein Ab- oder Durcharbeiten (eines Themas, bestimmter Aspekte) und darin, wenn man so will, begrenzt. Es ist ihnen genau diese Arbeit, die sie leisten, abzuringen, aber sie betreiben selbst »Inhaltismus«. Die auch im Hinblick auf die Logik des deutschen Ausländerdiskurses problematische Logik des Fortschritts wird hier daher auch (im Kleinen) wiederholt und bestätigt, wie mit Thomas Arslans Berlin-Trilogie, in der sich jeder Film aus dem anderen ergab, aus den offenen Enden. Entscheidend ist dabei jedoch, dass jeder Film sich auf den jeweils vorherigen bezieht, ohne dabei Fortset-





249 Siehe http://koelnischerkunstverein.net/wp/familien-bande/, zuletzt aufgerufen am 05.09.2014. 250 Hans Andreas Guttner: Filmische Geschichten der Migration, in: Julia Bayer/Andrea Engl/Melanie Liebheit (Hg.): Strategien der Annäherung. Darstellungen des Fremden im deutschen Fernsehen, Bad Honnef 2004, S. 62–77., als pdf zum Download verfügbar unter www.guttner. de unter ›filmische geschichten‹, zuletzt abgerufen am 05.09.2014. 251 Und überschaubar. So hielt Barbara Mennel vor gerade mal einer Dekade fest: »In contrast to the extensive body of work on Turkish-German literature, the number of studies on Turkish-German film or other minority cinemas in Germany is limited to a small number of texts«, die sie in ihrem Artikel auflistet. Barbara Mennel: »Bruce Lee in Kreuzberg and Scarface in Altona: Transnational Auteurism and Ghettocentrism in Thomas Arslan’s Brothers and Sisters and Fatih Akin’s Short Sharp Shock«, in: New German Critique, 87 (2002), S. 133–156.

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zung zu sein. Und dennoch: Formal wie inhaltlich entfernt sich jeder der Teile immer weiter von einer bestimmten Wiedererkennbarkeit, und diese Entfernung setzt in der Tat den jeweils vorherigen Film voraus. Ähnliches lässt sich auch in der (zumindest vorübergehenden) zunehmenden Erweiterung des Erzählraums in Fatih Akıns Filmen erkennen.252 Oder eben in der Tatsache, dass es immer mehr Filme von Filmschaffenden gibt, die keine ›biodeutschen‹ Namen haben, in denen sie keine ›migrantische Themen‹ aufgreifen (müssen). Der entscheidende Punkt ist meiner Ansicht nach, dass es in der Tat der Arbeit der vorherigen Generationen bedurfte, die dazu beigetragen hat, dass es heute eine wachsende Zahl künstlerischer Arbeiten gibt, die ein anderes Kino erschaffen, und die nicht nur andere Räume bespielen (die der Kunst zum Beispiel) und anders, sondern auch Anderes, erzählen. Und dieses Andere findet sich gerade nicht in den neokonservativen Familienidyllen, die auch (aber keinesfalls nur) das postmigrantische (deutschsprachige) Kino kennzeichnen. Es findet sich eher in einem weiterhin migrantischen Kino (das sich auch in der Kunst findet, in Videos und Installationen), das die Perspektive der Migration als eine stets aktualisierende einnimmt und nicht nur die Geschichte(n) der Migration ›seit 1955‹ erzählt, sondern Illegalisierung, Schengen-Europa, transnationale Migrationsbewegungen, refugee-Kämpfe zum Ausgangspunkt nimmt. Zu diesen Aspekten komme ich – nach meinem erneuten Durcharbeiten durch die Erzählfläche der Spielfilme253 – am Ende dieser Studie.

252 Der sich unter anderem auch in der größeren Entfernung zeigt, die die Kamera zu seinen Figuren in Auf der Anderen Seite (D/TR/I 2006/07) einnimmt. Eine Entfernung vom Melodrama, welches Hatice Ayten in ihrer Besprechung von Gegen die Wand (D 2004) auch als Anzeichen einer typischen ›Retro‹-Haltung eines migrantischen Standpunkts analysiert hat (d.h. kein gewagtes neues Kino mit Gegen die Wand, kein Aufnehmen von Anstößen des zeitgenössischen türkischen Kinos, sondern eher eine Referenz an das Yeşilçam-Kino, seinen Pathos und seine Geschlechterdynamiken). Siehe zu Aytens Argumentation auch Kap. 3. 253 Der Begriff des ›Durcharbeitens‹ ist hier im Sinne von Filmarbeit zu verstehen, wie sie meine Kolleg_innen an der HBK Braunschweig, Heike Klippel und Florian Krautkrämer, vertreten. Sie meinen damit weniger die ausführliche Filmanalyse beispielsweise im Sinne Thierry Kuntzels als vielmehr die Arbeit mit dem Film sowie die Arbeit des Films an der/dem Rezipient_in.

2. Hindurchgehen: Den Erzählungen Raum und Zeit geben Jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht […]. Die Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar. Siegfried Kracauer1 Die Architektur der vorliegenden Arbeit steht in der Zeitlichkeit. Jedes menschliche Problem muss von der Zeit her betrachtet werden. Frantz Fanon2 Ich bin da eher an Verlangsamungen interessiert. Die geben einem die Möglichkeit, sich ̓ner Sache zu nähern, die einen nicht so anspringt. Sondern der man sich als Zuschauer ein bißchen nähern muß. Und nicht umgekehrt eben. Thomas Arslan (zu Der schöne Tag)3 Die Wege sind keine tote Zeit. Thomas Arslan (zu: Geschwister – Kardeşler)4



1 Siegfried Kracauer: Über Arbeitsnachweise, in: ders.: Straßen in Berlin und Anderswo, Berlin 1987, S. 52–59, hier S. 52. 2 Fanon, Schwarze Haut, S. 13. 3 Interview mit Gabriela Seidel zu Der schöne Tag, erhältlich auf der Webseite zum Film von Peripher Filmverleih, http://www.peripherfilm.de/derschoenetag/dst2.htm#Interview, zuletzt aufgerufen am 08.10.2014.

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Abb. 1 Herkunft unklar. Verpixelte Familienbilder in Kleine Freiheit (Yüksel Yavuz, D 2003)

Sie kamen scheinbar alle aus einem einzigen anatolischen Dorf, die türkischen Migrant_ innen der ›ersten Generation‹. Das in Zeitungsartikeln, Romanen und im Kino heute ubiquitäre Bild der ›türkischen‹5 Dorfbewohner_innen bildet eine projektive Überlagerung, die das komplexe Zusammenspiel von Klassenkräfteverhältnissen und Ethnisierung/Rassisierung verdeckt und damit die Effekte des Migrationsregimes naturalisiert. Die sogenannte ›ethnische Unterschichtung‹ – Migrant_innen übernahmen in den 1960er und 1970er Jahren unabhängig von ihren Qualifikationen schlecht bezahlte, oft gesundheitsgefährdende Tätigkeiten und ermöglichten damit einen deutschen Klassenaufstieg – wird zu einer weiteren Ableitung von Herkunft. Die Naturalisierung von/durch Herkunft bewirkt, dass Denkfiguren wie ›Integrationsdefizite‹, ›Parallelgesellschaften‹ und ›Ausländer-Ghettos‹ an die Stelle einer fruchtbaren Analyse des institutionellen Rassismus treten. Die Resonanzen des ›anatolischen Dorfes‹ finden sich daher selbst in Argumentationen, die versuchen, sich der Einwanderung zu ver4 Zitiert in Katja Nicodemus: Cruising Kreuzberg, in: TIP Magazin 25 (1997), http://www.filmportal.de/node/23645/material/646950; zuletzt abgerufen am 08.10.2014. 5 Türkisch ist hier in Anführungszeichen gesetzt, weil es sich – u.a. in Abb. 1 – bei den Figuren in den Filmen, die in der deutschsprachigen Rezeption im allgemeinen als ›türkisch‹ rezipiert werden, oftmals um Kurd_innen handelt, oder um andere ›ethnische‹ Minderheiten in der heutigen Türkei.

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schreiben. So formuliert beispielsweise Claus Leggewie im Sammelband 50 Jahre türkische Arbeitsmigration in Deutschland: »Der deutsch-türkischen Geschichte fehlt die urbane Dimension, die sich nicht an ein ominöses Herkunftserbe klammert, sondern reale Marginalität produktiv macht.«6 Leggewies launiger Beitrag, den er in einer kürzeren Version auch als »Integrationsexperte«7 in der Frankfurter Rundschau publizierte, strotzt nur so vor übergriffigen Anzüglichkeiten, vermischt mit Momenten luzider Kritik. So kritisiert Leggewie zu Recht den verbreiteten Unwillen, sich in Deutschland mit der Türkei und mit der eng verwobenen gemeinsamen Geschichte auseinanderzusetzen, zu der auch der »gemeinsame Ethnozentrismus«8 gehört (in Deutschland angeführt von den »Sarrazinisten«9). Von Rassismus will Leggewie aber nicht sprechen – dafür lässt er Rassismus sprechen. Er vermisst eine urbane Geisteshaltung, aber nicht nur bei denjenigen Migrant_innen, die sich geweigert hätten, aus Dorfbewohner_innen zu »Edge People« zu werden, sondern auch bei den »Einheimische[n]«, die jetzt »ebenso zu, pardon, Kaffern regredieren.«10 Mit dem Begriff der Edge People zitiert Leggewie Tony Judt, der damit Menschen wie sich selbst meint, die sich nicht nur einer Herkunft, einer Identität (national, politisch, religiös), zuordnen lassen wollen: »I prefer the edge: the place where countries, communities, allegiances, affinities, and roots bump uncomfortably up against one another – where cosmopolitanism is not so much an identity as the normal condition of life.«11 Judt ist jedoch klar, dass »there is something self-indulgent in the assertion that one is always at the edge, on the margin.« Denn die Basis hierfür sind bestimmte Privilegien, die in Judts ambivalentes Resümee einfließen: »But if you are born at intersecting margins and – thanks to the peculiar institution of academic tenure – are at liberty to remain there, it seems to me a decidedly advantageous perch.«12 Leggewie hingegen ist sich seiner Sache so sicher, dass er den Klassen-bias, der in seinem Ruf nach kultivierter Fremdheit mitschwingt,





6 Claus Leggewie: Unsere Türken. Eine gemischte Bilanz, in: Şeyda Ozil/Michael Hofmann/ Yasemin Dayıoğlu-Yücel (Hg.): 50 Jahr türkische Arbeitsmigration in Deutschland, Göttingen 2011, S. 11–16; hier S. 14. 2011 wurden 50 Jahre Anwerbeabkommen gefeiert: mit Ausstellungen, Festakten, Publika­tionen. Das Theater Ballhaus Naunynstraße hat dieses dubiose Jubiläum treffend mit dem Festi­val 50 Jahre Scheinehe gewürdigt. Positiv an der Feier dieses Datums war, dass damit Deutschland als Einwanderungsland adressiert wurde. Problematisch ist die damit erneut vorgenommene Synchronisierung von Migrationsgeschichte mit staatlichen Regulierungsmaßnahmen. 7 http://www.fr-online.de/kultur/gastarbeiter-unsere-tuerken,1472786,9539390.html; zuletzt aufgerufen am 03.10.2013. 8 Leggewie, Unsere Türken, S. 12. 9 Leggewie, Unsere Türken, S. 12. 10 Leggewie: Unsere Türken, S. 14. Hervorh. N. H. 11 Tony Judt: Edge People, in: The New York Review of Books, 23.02.2010, http://www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2010/feb/23/edge-people/; zuletzt abgerufen am 03.10.2014. 12 Judt, Edge People, o.S.

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nicht bemerkt. Ihm fehlen Kosmopoliten, die den Kulturbetrieb und transnationale Unternehmen bereichern könnten.13 Stattdessen: Einheimische, die wie die anatolischen Dorfbewohner zu Kaffern regredieren.14 Ein Gedanke, direkt aus jener Klimazone, »die nie auch nur im entferntesten von einem dekolonisierenden Gedanken angeweht«15 wurde. So wie irische Immigrant_innen in den USA erst ›schwarz‹ waren und durch einen rassistisch organisierten Klassenaufstieg zu ›Weißen‹ wurden,16 werden bei Leggewie Stadtteile wie das Gallusviertel in Frankfurt/Main und Neukölln (die er explizit benennt), so lässt sich schlussfolgern, zu ›schwarzen Ghettos‹. Das Ghetto17 ist auch Kino-Ort. Ed Guerrero beschreibt in den frühen 1990er Jahren ein neues Genre afro-amerikanischen Filmschaffens, das »male-focused, ›ghettocentric‹, action-crime-adventure vehicle.«18 Barbara Mennel greift Guerreros Begriff ghettocentric auf und analysiert ihn für ein deutsches Kino der Migration im Kontext des Filmschaffens junger migrantischer Filmemacher_innen in Europa, »which focus on urban space defined as ghetto or ethnic enclave« sowie dem »ghetto as a phantasmatic site for the negotiation of resistance« als »transnational cinematic phenomenon«.19 Auch ein deutsches Kino der Migration setzt, so Mennel, Genrekonventionen des Ghettofilms ein: als Zitate, als Material, das angeeignet und umgearbeitet wird. Das Ghetto als Zeichen für urbanen Raum, für die Stadt an sich, ist, so Werner Schiffauer, Ort der Identifikation für junge Migrant_innen.20 Die Großstadt ersetzt die Nation als Ort der Zugehörigkeit, zumal diese sich ja so erfolgreich und beständig verweigert. Auch Fatih Akın hat sich in zahlreichen Interviews immer wieder als Altonaer oder als Hamburger identifiziert, eben auch, um Fragen nach seinem Türkisch







13 Judt, Edge People, o.S. 14 Zum kolonialrassistischen Begriff der ›Verkafferung‹ siehe u.a.: Felix Axster: Die Angst vor dem Verkaffern – Politiken der Reinigung im deutschen Kolonialismus, in: Werkstatt Geschichte 39, Essen 2005, S. 39–53. 15 Diederichsen, Politische Korrekturen, S. 101–102. 16 Vgl. Noel Ignatiev: How the Irish Became White, Oxon/New York 1995. 17 Ich verwende den Begriff hier nicht als korrekte stadtsoziologische Beschreibung, sondern eher metaphorisch. Zu den Spezifika von Ghetto und banlieues siehe das Interview »Die Banlieus sind keine Ghettos« von Louis Weber mit dem französischen Soziologen Loïc Wacquant in der Jungle World Nr. 22, 30. Mai 2007, http://jungle-world.com/artikel/2007/22/19759. html; zuletzt aufgerufen am 04.10.2014. Zur Sprache der banlieues siehe die Ausgabe vom Juni 2013 von Transversal: http://eipcp.net/transversal/0513/editorial/editorial; zuletzt aufgerufen am 04.10.2014. 18 Ed Guerrero zit. in Barbara Mennel: »Bruce Lee in Kreuzberg and Scarface in Altona. Transna­tional Auteurism and Ghettocentrism in Thomas Arslan’s Brothers and Sisters and Fatih Akins Short Sharp Shock«, in: New German Critique 87 (Autumn 2002), S. 133–156, hier: S. 138. 19 Mennel, Bruce Lee in Kreuzberg, S. 141. 20 Vgl. Werner Schiffauer: Das Integrationspotential von Städten, in: Begleitbroschüre »Heimat Kunst. Kulturelle Vielfalt in Deutschland«, ein Projekt des Haus der Kulturen der Welt Berlin 2000, S. 15.

Hindurchgehen: Den Erzählungen Raum

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oder seinem Deutschsein entgehen zu können. Anlässlich seines Films Soul Kitchen (D 2009), der auch als neuer Heimatfilm rezipiert (und beworben) wurde, sagte Akın in einem Interview: »Hamburg ist eindeutig meine Heimat.«21 Für Giovanella Rendi stellt diese Art von urbaner Lokalisierung und Identifizierung eine statische Dimension dar, »namely the identification of characters with circumscri­ bed metropolitan neighbourhoods in order to get around or avoid the limits imposed by their ethnic ›otherness‹.«22 Ebenso wie Mennel das Ghettozentrische als ›male focused‹ diagnostiziert, als »thoroughly gendered genre [which] relies on a structure of static femininity and dynamic masculinity«,23 stellt auch Rendi Geschlecht ins Zentrum ihrer Analyse, wobei für Rendi die Vergeschlechtlichung des Filmraums – die Reise ist weiblich, die lokale Beheimatung männlich – mit dem Geschlecht der Filmemacher_innen korrespondiert: »Instead of the journey, a subject frequently analysed by their female colleagues, the male directors generally prefer to focus on a centripetal movement.«24 Angesichts der wenigen Filmbeispiele, die Rendi heranzieht, ist eine solche Schlussfolgerung zumindest gewagt. Für Deniz Göktürk steht dagegen im Vordergrund, dass sich die Filme seit den 1990er Jahren räumlich vom Kammerspiel des Problemfilms entfernt und auf die Straßen der Stadt begeben haben: »This shift in the representation of migrants corresponds with recent trends in theory. We have come to appreciate the migrant as ›the modern metropolitan figure‹ – not dwelling worlds apart from modernity, but moving right at its center. Cities today […] suggest a ›multiform‹ heterotopic, diasporic reality.«25 Und dieser urbane (Film-)Raum wird, so Göktürk, von Frauen und Männern gleichermaßen eingenommen. Auch für Barbara Mennel wird aus dem diagnostizierten Einschluss der frühen Jahre vor allem zunehmend ein transnationaler Raum, der sich auch in anderen Filmbildern niederschlägt. Dazu kommt, dass für Mennel der Fokus auf Raum als Analysekategorie selbst neue Räume eröffnet: An approach that emphasizes cinematic space […] provides us with tools to account for the contemporary changes under globalization. This scholarly attention to space enables the reconstruction of the history of Turkish, German, and Turkish-German cinema based on the intersection of aesthetics and politics beyond identity categories.26





21 Jürgen Ziemer: »Migrant mit Hintergrund«, Interview mit Fatih Akın, veröffentlich in Rolling Stone 12 (2009), verfügbar auf Ziemers Blog Kunst und Künstlichkeit, http://www.juergen-ziemer.de/texte/fatih-akin/; zuletzt aufgerufen am 05.10.2014. 22 Giovanella Rendi: Kanaka Sprak? German-Turkish women filmmakers, in: gfl-journal, 3 (2006), S. 78–93, hier S. 83–84. 23 Mennel, Bruce Lee in Kreuzberg, S. 146. 24 Mennel, Bruce Lee in Kreuzberg, S. 146. 25 Deniz Göktürk: »Turkish Women on German Streets: Closure and Enclosure in Transnational Cinema«, in: Myrto Konstantarakos (Hg.): Spaces in European Cinema, Exeter/Portland 2000, S. 64–76, hier S. 65.

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Gemeinsam ist allen diesen Ansätzen und Zeitdiagnosen, dass sie im (deutschsprachigen) Kino

der/über Migration Geschlecht mit Raum verknüpft sehen und dies jeweils mit einer timeline verbinden: Die Herleitung einer Genealogie der Filme bildet dabei Interferenzen mit den Genealogien, die die Filme erzählen: Migration als zeitliche und räumliche Erzählung von Herkunft (Stichwort ›Familie‹) und Ankunft (Stichwort ›Bewegungsraum‹) – darum wird es in diesem Kapitel gehen.

2.1 Die Zeit

überwinden wollen und

Verbrechen

begehen können

Räume sind Orte, mit denen man etwas macht, schreibt Michel de Certeau.27 ›Gemacht‹ wird unter anderem durch die Aktivität des Gehens und Begehens: »So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt.«28 Diese Möglichkeit von Gestaltung durch Handlung setzt de Certeau in Entsprechung zur narrativen Bewegung, zur Erzählung: »Ebenso ist die Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes – bildet.«29 Die Geschichten und die Wege (das Gehen), beides sind Formen der Aneignung, »die sich dem einzelnen Ort und den jeweils dort gültigen Codes gegenüber als respektlos erweisen, die dem Zustand den Prozess vorziehen und sich damit der Fixierung und Kontrolle entziehen.«30 In Thomas Arslans Film Dealer (D 1999, der zweite Teil seiner Trilogie, die ich im letzten Teil dieses Kapitels genauer diskutieren werde) lässt die Hauptfigur Can (Tamer Yiğit) die Ereignisse Revue passieren. Wir sehen ihm bei seinem alltäglichen Tun zu, einer Abfolge von Regelmäßigkeiten: erst bringt er seine Tochter zur Tagesmutter und dann verkauft er bis in die Nacht Drogen. So lautet Cans erster Satz im Film, der auch der erste Satz des Films ist: »Gegen Mittag begann mein Arbeitstag.« Diesem alltäglichen Arbeiten sehen wir also zu: stehen, beobachten, die Gegend scannen, abchecken, den Ort, die Lage. In statischen Einstellungen einer Großstadt, darin relativ beliebig, aber doch genau: Berlin, aber ein Berlin der einzelnen, der nahen Einstellungen, kein Kontext, keine spezifisch aufgeladene Wiedererkennung. Can



26 Barbara Mennel: »The Politics of Space in the Cinema of Migration«, in: gfl-journal, No. 3/2010, S. 40–55, hier S. 42. 27 de Certeau, Kunst des Handelns, S. 218. 28 de Certeau, Kunst des Handelns, S. 218. 29 de Certeau, Kunst des Handelns, S. 218. 30 Beatrice von Bismarck: »Hoffnungsträger – Foucault und de Certeau«, in: Aufräumen: Raum-Klassiker Neu Sortiert, Texte zur Kunst 47 (2002), https://www.textezurkunst.de/47/ aufraumen-raum-klassiker-neu-sortiert/; zuletzt abgerufen am 09.10.2014.

Hindurchgehen: Den Erzählungen Raum

und

Abb. 2 & 3 Die Zeit, die sich ereignet. Dealer (Thomas Arslan, D 1998/99)

Zeit

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also, zwischen Kleinfamilie und dem ewig gleichen Kreislauf, denselben Wegen, Gesten, Handlungen, erinnert sich. Das wissen wir, weil er in der Vergangenheit von sich spricht. Spärlich, diese Kommentarfunktion, die in der Zeit seltsam unbestimmt bleibt, denn der Film scheint jetzt zu passieren, weil er sich so viel Zeit lässt für jede Geste, in ›Echtzeit‹, echte Zeit, ein ewiger loop der Gegenwart. Nichts wird sich ändern, auch wenn Can das seiner Freundin Jale (İdil Üner) so gerne verspricht. Am Ende gibt es aber keine Gegenwart, von der aus die Vergangenheit der Erzählung verortet werden könnte. Nur eine weitere Unbestimmtheit, ein offenes Ende. Man sieht noch einmal dieselben Orte, die Orte des Geschehens des Films, die locations, von außen nach innen angeordnet: erst der Park, dann die Ecke, der Hauseingang, die Küche des Restaurants, wo Can kurzzeitig versucht, zur Normalität seines Alltags das wahre ›Normale‹ eines geregelten Jobs hinzuzufügen, dann die Wohnung, am Ende das Hochhaus, in dem sich die Wohnung befindet, eine zwischen anderen, eine von vielen, in der blauen Stunde zwischen Nachmittag und Abend, erleuchtete Fenster, das dunkle Blau des Himmels, auch das der Architektur, irgendwie verweht. Jede Ansicht menschenleer, nur noch die Bewegung des Winds – und Cans Kommentar: »Seltsam, wie sich alles ändert.« Und wir wissen: Er sitzt im Knast, für die nächsten vier Jahre (danach vermutlich Abschiebung, dazu komme ich noch). Eigentlich ändert sich aber nichts, das Einzige, was sich ereignet, ist die Zeit. Und darin liegt die Hoffnung: sich die Zeit aneignen können, wie die Räume. »Can, der von seinem Leben als Dealer berichtet, erinnert sich. Das ist wichtig, nehmen wir doch die Erinnerung, wie die Hoffnung, als Zeiterlebnisse wahr, die zugleich Überwindungen der Zeit sind.«31 Ein bekanntes indexikalisches Zeichen für die Anordnungen des Ausländerdiskurses – hier könnte man auch sagen: ein Indiz – ist die Figur des kriminellen Ausländers. Sie bildet eine der »Tautologien für die Mehrheitsgesellschaft«:32 Der Ausländer ist kriminell, weil er Ausländer ist, und er ist Ausländer, weil er kriminell ist. Das eine wird auf das andere bezogen, jeweils miteinander begründet. Damit schafft diese zirkuläre Logik ihre eigenen Wahrheiten: Die Aussonderung durch die Ausländergesetzgebung erschafft Tatbestände, die Kriminalität und ›Ausländer‹ aufeinander beziehen (wie beispielsweise im Fall des illegalen Aufenthalts). Diese Tatbestände stehen zugleich für Prozesse der Entrechtung, wie in der verfassungsrechtlich bedenklichen, gängigen Praxis der Abschiebehaft33 sowie in der Praxis der doppelten Bestrafung,







31 Peter Nau: »Der Can, der kann. Kleiner Film, ganz groß: Dealer von Thomas Arslan erinnert an Bresson«, in: Süddeutsche Zeitung 132 (12.06.1999) (Pressearchiv der Bibliothek der Deutschen Kinemathek). 32 Agnes Krol: Weiße Deutsche und türkische Machos – Tautologien für die Mehrheitsge­sell­ schaft, in: Migazin (17.02.2010), http://www.migazin.de/2010/02/17/weise-deutsche-und-turk ische-machos-tautologien-fur-die-mehrheitsgesellschaft/; zuletzt abgerufen am 10.10.2014. 33 Regelmäßig werden Minderjährige inhaftiert, was gegen geltendes Recht verstößt, die Höchstdauer der Abschiebehaft von bis zu 18 Monaten gegenüber Migrant_innen (§ 62 Abs. 3 Auf-

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die auf die Verurteilung und Inhaftierung in Deutschland zusätzlich die Abschiebung folgen lässt.34 Der ›kriminelle Ausländer‹ ist auch Teil einer Ökonomie des Begehrens, das in ghettozentrischen Filmen wie beispielsweise Schattenboxer (Lars Becker, D 1992), Kurz und Schmerzlos (Fatih Akın, D 1998), Elefantenherz (Züli Aladağ, D 2002), Kanak Attack (Lars Becker, D 1999/2000), Chiko (Özgür Yıldırım, D/I 2008) Ausdruck findet. Karl Marx schrieb über den Verbrecher in seiner Abschweifung über produktive Arbeit, dass dieser die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens [unterbricht]. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde. Er gibt so den produktiven Kräften einen Sporn. Während das Verbrechen einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen andern Teil derselben Bevölkerung. Der Verbrecher tritt so als eine jener natürlichen ›Ausgleichungen‹ ein, die ein richtiges Niveau herstellen und eine ganze Perspektive ›nützlicher‹ Beschäftigungszweige auftun.35

Dass dieses Zitat in der von Filmkritiker_innen gegründeten Zeitschrift Cargo Film/ Medien/Kultur abgedruckt wurde, spricht sicher für sich. Marx hatte das affektive Potential der Narrativierungen und Inszenierungen des Verbrechers erkannt: »Der Verbrecher produziert einen Eindruck, teils moralisch, teils tragisch, je nachdem, und leistet so der Bewegung der moralischen und ästhetischen Gefühle des Publikums einen ›Dienst‹.«36 Daher produziert der Verbrecher nicht nur die Wissenschaften, die ihn erforschen, sondern auch Kunst und Literatur37 – und: Filme.



34



35



36 37

enthG), die sich keiner Straftat schuldig gemacht haben, verstößt gegen die Fortbewegungsfreiheit der Betroffenen (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) sowie gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Hinzu kommen regelmäßige Verstöße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. »Das geltende deutsche Recht betont, dass die Ausweisung wie die ihr folgende ­Abschiebung keine Strafe sei, sondern eine ordnungsrechtliche Maßnahme, eigentlich dem Polizeirecht zugehörig. So auch das Bundesverfassungsgericht. Diese Rechtsauffassung ignoriert die einschneidenden menschlichen Folgen von Ausweisung oder Abschiebung und statuiert die Abschiebung als Verwaltungsakt.« Christian Semler: Abschreckende Heimat, in: taz (26.01.2008), http://www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=me&dig=2008%2F01%2F26%2Fa0156&cHash=083e80b51976e6ebb5feb52d587fb325; zuletzt abgerufen am 10.10.2014. Karl Marx: »Abschweifung über produktive Arbeit«, abgedruckt in: Cargo 18 (Juni bis August 2013), S. 46. Marx, Abschweifung, S. 46. Vgl. Marx, Abschweifung, S. 46.

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Dass sich in diesem Marx-Zitat das Wort ›Verbrecher‹ auch durch ›Ausländer‹ oder ›Migrant‹ ersetzen ließe, verdeutlicht die tautologische Anlage des kriminellen Ausländers: In der gesetzlichen Sonderstellung durch das Ausländerrecht ist das Verbrechen bereits enthalten. Can aus Arslans Dealer ist auf den ersten Blick also eine altbekannte Figur: der drogendealende Kanake,38 der sein Leben nicht im Griff hat, der im Gegenteil von seinem Leben halb überholt, halb an einer Haltestelle in ewigem Warten auf Veränderung stehengelassen wird, ein Bild, das in Dealer mit geringer Schärfentiefe inszeniert wird: Can an der U-Bahn-Station auf der Bank sitzend, wartend (oder an der Straßenecke zwischen den Autolichtern, in der Wohnung usw.), was ihn gewissermaßen ›freistellt‹, um hier einen technischen Ausdruck der Fotografie zu verwenden. Einerseits verschwimmt der Kontext (nur Can ist scharf gestellt), das Bild um ihn herum bleibt Andeutung und suggeriert so Haltlosigkeit, andererseits bedeutet es auch, dass Can jemand ist, er ist weder Kategorie noch Klischee, genau davon ist er freigestellt: »Gleichwohl ist ihm [Thomas Arslan, N. H.] klar, daß die Thematik durch eine Vielzahl von Klischees, insbesondere dem Bild des ›kriminellen Ausländers‹ verstellt ist: natürlich wird es wohl nicht möglich sein, sich völlig über diese Zuschreibungen hinwegzusetzen«, schreibt Moritz Dehn39 und fährt fort: »[D]och ›man kann vielleicht versuchen‹, so seine [Thomas Arslans, N. H.] Hoffnung, ›durch sie hindurchzugehen‹, das heißt von ihnen auszugehen, sie zu benutzen, um sie dann nach und nach aufzulösen, so daß anderes sichtbar werden kann.«40 Nicht nur lässt Arslan in seiner Trilogie seine Figuren ›hindurchgehen‹ (durch den Raum, die Geschichten, auch die Klischees, den Alltag), er nimmt dabei auch die Erzählung der Ordnung auseinander: die Ordnung, die das Gesetz formuliert, die Ordnung, die Normalität und Normativität erzeugt. Das gibt jener anderen Erzählung Raum, die sich gegen die der Ordnung zu behaupten sucht. Die Erzählungen der Migration werden regelmäßig von der Grenzpassage und deren Intelligibilitäts bzw. Legitimitätsmaschinen in bestimmte Muster gepresst. So wird nur als Flüchtling anerkannt, wer sich plausibel als Opfer präsentieren kann. Und zwar als Opfer von wiederum anerkannten Bedrohungen.41



38 Zum Begriff und seiner Kritik Murat Güngör/Hannes Loh: Fear of a Kanak Planet. HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap, St Andrä/Wördern 2002, S. 27–32. 39 Moritz Dehn: »Die Türken vom Dienst«, in: Der Freitag (26.03.1999), https://www.freitag.de/ autoren/der-freitag/die-turken-vom-dienst; zuletzt abgerufen am 10.10.2014. 40 Dehn, Die Türken vom Dienst, o.S. 41 So wurde seit der faktischen Abschaffung des Asylrechts 1993 bis zur Einführung des sog. »Zuwanderungsgesetzes«, das eine Anpassung an die Genfer Flüchtingskonvention vorgenommen hat (§ 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz), nur staatliche Verfolgung anerkannt, was beispielsweise geschlechtsspezifische Verfolgung ausschloss. Siehe dazu: Marei Pelzer/Alison Pennington: »Geschlechtsspezifische Verfolgung: Das neue Flüchtlingsrecht in der Praxis, in: »Asylmagazin 5 (2006), S. 4–8.

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Hinzu kommt die Erzählung einer Migrationsroute, die jeden Zwischenstopp in sogenannten sicheren Drittstaaten auslöschen muss (wie das auch Berivan [Pinar Erincin] in Ayşe Polats En Garde tun muss). Die Strategien der Migration sind jedoch erfinderisch, so verschwinden Papiere,42 entstehen neue Herkunftsorte,43 neue Professionen,44 neue Identitäten, wie in Fremde Haut (Angelina Maccarone, D/A 2005) und Ich Chef, Du Turnschuh (Hussi Kutlucan, D 1998).45 Nochmals de Certeau: Wenn der Verbrecher nur überleben kann, indem er sich von Ort zu Ort begibt, wenn es seine Eigenart ist, nicht am Rande, sondern in den Zwischenräumen der Codes zu leben, die er außer Kraft setzt und verändert, und wenn er durch den Vorrang des Weges gegenüber dem Zustand







42 Seit Mai 1991 besteht in Spanien für Einreisende aus dem Maghreb Visumspflicht. Seitdem sammeln sich in Tanger (und an anderen Orten Marokkos) Menschen aus verschiedenen Ländern Afrikas, die ›klandestin‹ über die Meerenge ausreisen wollen, die bereits genannten harragas oder brûleurs. Eine verschobenes filmisches Zitat findet sich in Die Fremde (D 2010, Feo Aladağ) in einer Szene, in der Umay (Sibel Kekili) ihre Papiere in der Wohnung ihrer Eltern in Berlin verbrennt, als nachdrückliches Zeichen dafür, dass sie auf keinen Fall wieder zu ihrem Mann in die Türkei zurückkehren wird. 43 Siehe dazu Eve Oishi: The Memory Village. Fakeness and the Forging of Family in Asian American Literature and Film, Durham/NC, in Vorbereitung. 44 Berühmte Beispiele hierfür sind die Affaire Ngulu um den kongolesischen Musikstar Papa Wemba sowie der Fall der sri-lankischen Handball-Nationalmannschaft. Der Ausdruck ›Ngulu‹ ist eine Referenz an den Begriff ›Bangulu‹ (in Lingála), der einen blinden Passagier bezeichnet. Die ›Affaire‹, genauer: die Strategie, wird seit Jahrzehnten erfolgreich von Bandleadern und Musiktruppen eingesetzt und involviert auch Botschaftsangehörige und Einwanderungsbehörden. Sie ermöglicht Personen den Grenzübertritt, indem diese als Band- oder Crewmitglieder ausgegeben werden. Papa Wemba, mit bürgerlichem Namen Jules Shungu Wembadio Pene Kikumba, »König der kongolesischen Rumba« und Führer der Sapeurs, der Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes, und ausgestattet mit einem belgischen Pass und einem Pass der Demokratischen Republik Kongo, kam oftmals mit mehr als 40 Bandmitgliedern nach Europa und reiste regelmäßig mit nur einigen wenigen zurück. Er wurde schließlich 2003 von der französischen Polizei festgenommen und als ›Schlepper‹ vor Gericht gestellt. Aufgrund des Eingreifens der Regierung der Demokratischen Republik Kongo wurde er relativ schnell wieder freigelassen. Die verhängte Freiheitsstrafe von vier Monaten galt als durch die Untersuchungshaft abgegolten. Im Sommer 2004 verschwand das gesamte Team der sri-lankischen Handball-Nationalmannschaft während eines internationalen Austauschbesuchs nach Deutschland. Alle 23 Männer, inklusive Trainer und Manager, verließen das Trainingslager des TSV Wittislingen bei Nacht und Nebel und setzten sich, so die Gerüchte, nach Italien ab. Es stellte sich heraus, dass es in Sri Lanka gar keine Handball-Nationalmannschaft gab, dass die Männer also erfolgreich ihre Passage als Passing organisiert hatten. Beide Geschichten entnehme ich dem Recherchearchiv von Kanak Attak. 45 Zu weiteren Maskeraden, zu ethnic drag, siehe Kapitel 3.

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charakterisiert wird, dann ist die Erzählung verbrecherisch. Eine soziale Delinquenz bestünde darin, die Erzählung wörtlich zu nehmen und sie dort zum Prinzip der körperlichen Existenz zu machen, wo eine Gesellschaft den Subjekten und Gruppen keine symbolischen Auswege und Raumerwartungen mehr bietet, also dort, wo es nur noch die Alternative von disziplinierter Anpassung oder illegaler Abweichung gibt, das heißt die eine oder andere Form von Gefängnis oder des draußen Umherirrens.46

Auch Can bewegt sich zwischen der einen oder anderen Form von Gefängnis oder dem Draußen-Umherirren – und hier taucht noch ein anderer Aspekt auf: der der anderen Ökonomien, der ›illegalen‹ (genauer: illegalisierten), hier nicht der Migration, sondern der Kreisläufe des Drogenhandels; ein Handel, der in letzter Instanz auch nur Arbeitsalltag ist, prekär zwar, aber darin nichts Besonderes. Nichts Ungewöhnliches, nicht das Jenseits der Ordnung, sondern integraler Bestandteil – wie auch jene anderen bekannten Ökonomien, die kriminalisiert werden: schleppen und schleusen, Grenzen überschreiten, Sexarbeit, Schwarzarbeit usw.47

46 de Certeau, Kunst des Handelns, S. 237/238; Hervorh. i.O. 47 Das Stichwort ›Ökonomien‹ verdient eigentlich eine längere Betrachtung (ich komme Ansatzweise in Kapitel 4 darauf zurück). An dieser Stelle nur dies: Einer der Filme, die in der Betrachtung der Verbindung von Kino und Migration in Deutschland stets als Ausnahme innerhalb der 1980er Jahre – die sonst als Zeit des »notorischen Kino[s] der Betroffenheit« (Wolfgang Brenner: Der Rosenkavalier, in: TIP Magazin 6 (1988), http://www.filmportal.de/node/36493/ material/724234; zuletzt abgerufen am 10.10.2014.) im Hinblick auf diesen Themenbereich beschrieben wurden – hervorgehoben wird, ist Jan Schüttes Drachenfutter. Die Rezensen­ ten betonen allesamt das ›Gefühl‹ und die ›Wärme‹ des Films, dass er »erzählt, ohne zu politisieren, aber er hält sich nicht raus« (Ebd.) Meiner Ansicht nach ist der entscheidende Beitrag von Drachenfutter weniger die Mischung aus Sozialrealismus (in Schwarzweiß gedreht und auf der Basis der Recherchen eines vorangegangenen Dokumentarfilms) und Erzählkraft, die auch »den Bauch« und »das Herz« (Helmut Schmitz: Ja, wo sind wir denn?, in: Frankfurter Rundschau (11.02.1988), http://www.filmportal.de/node/36493/material/724232; zuletzt abgerufen am 10.10.2014) anspricht, sondern die Tatsache, dass der Film ebenjene Ökonomien ins Bild setzt und würdigt. Die informellen, deregulierten (›illegalisierten‹) Ökonomien der nächtlichen Rosenverkäufer, des Kleinhandels mit Bier und anderen Lebensmitteln im Flüchtlingswohnheim, den Traum vom Unternehmertum und Unabhängigkeit, dann die Ökonomien von Bürokratie und Polizei, Anwälten und Verwaltungsgerichten und deren inoffiziellen Filialen, den ›Schleppern und Schleusern‹, dann die legalen Ökonomien des Multikulturalismus und seiner Marktnischen (hier die Chiffre des ›Chinarestaurants‹), aber vor allem die transnationalen Netzwerke, die die Bewegungen der Migration spinnen, und die in diesem Film nicht nur Herkunftsländer und Deutschland, sondern auch Mexiko und die USA umfassen. Dass Schütte sich im Übrigen dafür entschied, keine Untertitel in den Szenen einzusetzen, in denen u.a. Urdu, Mandarin, Suaheli, Sanskrit, Gujarati gesprochen werden (und zwar nicht, um damit eine Atmosphäre der ›Kommunikationslosigkeit‹ herzustellen oder ›Parallelgesellschaften‹ zu inszenieren), sehe ich als Anzeichen eines Transnationalismus, den in Drachenfutter bereits zu einer Zeit aufschien, als der Begriff noch gar nicht Teil des Diskurses war.

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Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird es also um Geschichte und Geschichten gehen – und um Räume: Die Geschichten machen aus den Räumen »Sätze und Wegstrecken. Sie sind Durchquerungen des Raumes.«48 Die Erzählungen machen aus Orten (also aus Ordnungen, aus festen Konstellationen) Räume (also ein Geflecht von beweglichen Elementen), man könnte auch sagen: Sie ermöglichen, sie erschaffen Möglichkeitsräume. De Certeau stellt das Erzählen wie das Gehen in den Kontext von Transgression und Veränderung. Mehr noch: Beide haben das Potential, Verbrechen zu begehen. Wie de Certeau fragt: Es wäre zu erforschen, »welche tatsächlichen Veränderungen diese verbrecherische Narrativität in einer Gesellschaft hervorruft.«49 Oder mit anderen Worten: Welches Potential haben die filmischen Erzählungen, den ›Ausländerdiskurs‹ umzuschreiben? Mit Jacques Rancière würde die Antwort lauten: genau dasjenige, auf das es ankommt. Denn »das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann.«50 Er begründet dies damit, dass die ›Ratio der Geschichten‹ und die Fähigkeiten, als historischer Akteur zu handeln, zusammengehören. Politik, Kunst, Wissen – sie alle konstruieren ›Fiktionen‹, das heißt materielle Neuanordnungen von Zeichen und Bildern, und stiften Beziehungen zwischen dem, was man sieht, und dem, was man sagt, zwischen dem, was man tut und tun kann.51

2.2 Geschichte(n)

erzählen

Zum Beispiel ist die Visage des Ausländers das visuelle Minimum arabischer Präsenz in Frankreich. Aber über dieses ›Gesicht‹ hinaus ist niemand fähig, die besondere Geschichte eines Ausländers aus der ersten oder zweiten Generation zu erzählen. Serge Daney52 Geschichte schreiben und Geschichten schreiben gehören zu demselben Wahrheitsregime. Jacques Rancière53

48 49 50 51 52

de Certeau, Kunst des Handelns, S. 215. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 238. Rancière, Die Aufteilung, S. 61. Rancière, Die Aufteilung, S. 62. Serge Daney: »Vor und nach dem Bild«, in: Politics-Poetics. Das Buch zur documenta X, Ostfildern-Ruit 1997, S. 610–620, hier S. 614. Serge Daney macht seine bekannte Unterschei-

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Im Oktober 2001 wurde in der Philharmonie Köln »40 Jahre Migration« gefeiert, weitere 10 Jahre später wurde das 50-jährige Jubiläum bundesweit zelebriert. In beiden Fällen wurde damit auch die Vorstellung der Voraussetzungslosigkeit gefeiert: Migration in die Bundesrepublik Deutschland fängt in dieser Historiografie erst mit dem Abschluss des ersten Anwerbeabkommens an, zudem wurde jeweils nur das deutsch-türkische Abkommen von 1961 gewürdigt, obwohl die erste Vereinbarung 1955 mit Italien geschlossen wurde. Ausgeblendet wird in jedem Fall, wie bereits ausgeführt, dass diese Abkommen als Antwort auf zuvor existierende Migrationsbewegungen zu verstehen sind. In Köln fand sich 2001 also eine ganz bestimmte Zeitlichkeit in Szene gesetzt und mit Sekt begossen: die der kurzen Dauer.54 Die ›nur‹ 40-jährige Migrationsgeschichte

dung zwischen dem Bild und dem Visuellen, die er anlässlich der TV-Bilder aus dem Golfkrieg vornimmt, hier auch an der Abwesenheit von Geschichten der ›Ausländer‹ in Frankreich fest. Er adressiert im selben Text aber auch die »Sackgassen der Identität«, wovon er »die Araber« (S. 615) in Frankreich und deren Gruppenidentifikation nicht ausnimmt. 53 Rancière, Die Aufteilung, S. 61, Hervorh. i.O. 54 Kanak Attak hat den Event einer – angesichts des Unwillens der deutschen Gegenwartsgesellschaft, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen, dubiosen – (deutschen) Selbstbeweihräucherung zum Anlass für die Produktion eines Kanak-TV-Videos genutzt, Philharmonie Köln – 40 Jahre Einwanderung (2001, 9 min), siehe http://www.kanak-tv.de/volume_1.shtml; zuletzt abgerufen am 10.10.2014. Zugang erhielten die mit Digitalkamera und Kanak-TV-TShirts ausgestatteten Kölner Kanak-Attak Aktivist_innen, weil sie für Journalist_innen eines türkischen Fernsehsenders gehalten wurden. Sie befragten Gäste der Feierlichkeiten nach bestimmten Klischees, die üblicherweise an ›Ausländer‹, insbesondere muslimische oder muslimisch konnotierte Migrant_innen, gerichtet werden, indem sie diese Klischees – wie beispielsweise Geltungsanspruch und Verfassungswidrigkeit von Religion – auf ›Deutsche‹ anwendeten. Sie ließen Besucher_innen der Feierlichkeiten vor der Kamera aus der Bibel vorlesen und baten um Kommentare zu den Themen Gewalt gegen Frauen und Drogenhandel. Sie baten in improvisiertem Englisch um Stellungnahmen zu aktuellen Ereignissen, so zu dem Vorwurf von Dieter Bohlens Exfreundin, er habe sie geschlagen oder Christoph Daums Kokskonsum. Diese Ereignisse wurden dann verallgemeinert und mit der Frage verbunden, ob so etwas in Deutschland üblich sei. Die Antworten erfolgten zumeist in reichlich hilflosem Englisch (eine interessante Strategie der ›Enthüllung‹, in der Sprache der Globalisierung zu kommunizieren, die beide Parteien nicht als ›Muttersprache‹ sprechen): »It gives in all cultures!«, versucht eine Befragte zu relativieren. In der Schlusssequenz wurden die Gäste dann damit konfrontiert, dass sich offensichtlich nichts geändert habe, die Arbeit werde immer noch, mit Verweis auf das überall präsente Servicepersonal, »von Kanaken gemacht«. Die vor der Kamera derart vorgeführten Befragten wehrten sich – gegen die Benennung, gegen die Verwendung des Worts »Kanaken«. Wie alle kurzen Kanak-TV-Videos ist auch dieses Agitprop, es trifft die neuralgischen Punkte einer bestimmten Zeit und ihrer Verfassung im Modus der Polemik. Der Schnitt der Aufnahmen ist darauf angelegt, vorzuführen, zu pointieren. Das gelingt dem Video auch ausgesprochen gut, es trifft. Außen vor bleiben dabei natürlich ethische Aspekte des Dokumentarischen.

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korrespondierte darin mit der – bis weit in die 1990er Jahre dominierenden – Vorstellung von einer lediglich ephemeren Anwesenheit, eben der vorübergehenden. Die von der offiziellen – nationalen – Narration der deutschen ›Nichteinwanderungsgesellschaft‹ erzeugte Zeitlichkeit ist dabei intrinsisch mit den nicht erzählten Geschichten der Migrationen verwoben, die wiederum die Zeitlichkeit(en) der Erinnerung, der Diskontinuitäten und biographischen Brüche, der Übersetzung wie der Unübersetzbarkeit beinhalten: Migration verweist auf die »Pflicht zu vergessen«,55 sowohl die eigene Geschichte als auch die der ›Anderen‹, und auf die »doppelte und gespaltene Zeit«56 der nationalen Narration. Homi Bhabha spricht von der Narration der Nation,57 um damit die lineare Gleichwertigkeit von Ereignis und Idee, die der Historismus propagiert, infrage zu stellen, die »gewöhnlich ein Volk, eine Nation oder eine nationale Kultur als eine empirische soziale Größe bezeichnet.«58 Er betont dagegen die Ambivalenz der Nation »als einer narrativen Strategie.«59 Mit Ambivalenz meint Bhabha die ambivalente Zeitlichkeit des Raumes der Nation: »Die Sprache der Kultur und der Gemeinschaft schwebt über den Rissen der Gegenwart, die zu den rhetorischen Figuren einer nationalen Vergangenheit werden.«60 Was hinterfragt werden soll, ist die »progressive Metapher von der modernen sozialen Kohäsion«,61 die beispielsweise ›Rasse‹ oder Geschlecht als soziale Größen behandelt, »welche einheitliche kollektive Erfahrungen ausdrücken«.62 Die rhetorischen Strategien, die die Nation erzählen, erzeugen vor allem »die homogene, sichtbare Zeit der horizontalen Gesellschaft«,63 der gegenüber Bhabha die Sprache der Migration ins Spiel bringt, genauer bedient er sich Edward Saids Phrase von »der nicht-sequentiellen Energie gelebter historischer Erinnerung und Subjektivität«,64 der es narrative Autorität zu verleihen gilt: Der Diskurs der Minorität läßt die nicht zu beseitigende Ambivalenz offenbar werden, die die mehrdeutige Bewegung der historischen Zeit strukturiert. Wie begegnet man der Vergangenheit als einer Vorzeit, die ständig eine Andersheit oder Alterität in die Gegenwart einführt? Wie erzählt man dann die Gegenwart als eine Form der Gleichzeitigkeit, die weder punktuell noch



55 Bhabha, die Verortung, S. 246. 56 Bhabha, die Verortung, S. 215. 57 So auch der Titel seines 1990 erschienenen Bandes Nation and Narration. Hiermit natürlich Benedict Andersons »imagined communities« zitierend. 58 Bhabha, die Verortung, S. 209. 59 Bhabha, die Verortung, S. 209. 60 Bhabha, die Verortung, S. 212. 61 Bhabha, die Verortung, S. 213. 62 Bhabha, die Verortung, S. 213. 63 Bhabha, die Verortung, S. 211. 64 Said zit. in Bhabha, die Verortung, S. 211.

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synchron ist? In welcher historischen Zeit nehmen solche Konfigurationen kultureller Differenz Formen kultureller und politischer Autorität an?65

Die Ambivalenz der Nation artikuliert sich in ihrer Narration, die auf Homogenität und Horizontalität zielt und dabei nie vor den Einbrüchen ihrer eigenen Zeitlichkeit und ihrer Verwerfungen, die ihrer Fundierung innewohnen, gefeit ist. Von der Narration der Nation zu sprechen, bedeutet also auch, wie das letzte Zitat deutlich macht, diesen Einbrüchen narratives Gewicht zu verleihen, also der Verteilung (nicht punktuell) und der Asynchronität (nicht synchron), die die Bewegungen der Migration charakterisieren. Es gibt also zweierlei Gründe, zu erzählen. Zum einen gegen die ›Abwesenheit‹, gegen das diskursive Schweigen, welches das Resultat des Selbstverständnisses der Nicht-Einwanderungsgesellschaft ist, darin vergleichbar mit Alexander Kluges an die Nachkriegsgeneration gerichteter Aufforderung zum Erzählen (und zum Filmemachen): »Es geht darum, daß wir anfangen, an unserer Geschichte zu arbeiten. Etwas sehr konkretes stelle ich mir darunter vor, es kann auch damit anfangen, daß man sich wechselseitig Geschichten erzählt.«66 Die Geschichten der Migration, insbesondere der Kämpfe der Migration, zu sammeln und (weiter) zu erzählen, war daher ein wichtiger Aspekt des antirassistischen Netzwerks Kanak Attak.67 Zum anderen geht es um die Autorisierung ebenjener narrativer Strategien, die die Horizontalität der Nation als solche infrage stellen. Ich habe im ersten Kapitel bereits begründet, warum ich Spielfilme fokussiere. Im Englischen werden Spielfilme üblicherweise als fiction films bezeichnet: als Fiktionen. Beide Begriffe werden als Bezeichnungen eines erzählten, eines narrativen ›Genres‹ verstanden (wobei der Begriff ›Spielfilm‹ vor allem die Inszenierung, das Schau-Spielen, benennt). Deshalb auch die weitverbreitete Vorstellung, ›Experimentalfilm‹ wäre auf den Nenner ›nicht narrativ‹ zu bringen. Aber auch Spielfilme können sich der Erzählung verweigern, sich der narrativen Geschlossenheit entziehen. Nichtsdestotrotz gibt es so etwas wie eine architextuelle Referenz (Gérard Genette) sowohl des Filmemachens als auch des Sehens, die sich auf die Idee des Genres des Spielfilms bezieht: eine bestimmte Länge, eine bestimmte Weise der Distribution, einen bestimmten Ort



65 Bhabha, Die Verortung. S. 234–235. 66 Kluge zit. in Kaes, Deutschlandbilder, S. 45. 67 Zur Geschichte von Kanak Attak insbesondere unter dem Blickwinkel eines ›visuellen‹ Aktivismus siehe Nanna Heidenreich/Vojin Saša Vukadinović: »In Your Face. Kanak Attak and Visual Activism«, in: Randal Halle/Reinhild Steingröver (Hg.): After the Avant-garde. Contemporary German and Austrian Experimental Film, Rochester/New York 2008, S. 131–156 und Nanna Heidenreich: »Die Kunst des Aktivismus. Kanak Attak revisited«, in: Burcu Dogramaci (Hg.): Migration und künstlerische Produktion. Aktuelle Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 347–360. Sowie die Webseite von Kanak Attak: www.kanak-attak.de.

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des Sehens (Kino, zumindest Filmfestival, im Falle deutscher Produktionen ziemlich sicher auch TV). In dieser Arbeit also: Spielfilme.68 Weil sie erzählen, die nationale Narration und ihre Ambivalenzen, weil es eine Notwendigkeit gibt, zu erzählen, in der Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart eines Landes: »[U]nd was ist die Geschichte eines Landes anderes als die weiteste Erzählfläche überhaupt? Nicht eine Geschichte, sondern viele Geschichten.«69 Und nicht zuletzt, weil das Narrative eine »kulturelle Kraft« darstellt, die lebendig ist und aktiv, wie Mieke Bal formuliert; weil also das Narrative keine Gattung, sondern ein Modus ist; […] weil es ein vorrangiges Reservoir unseres kulturellen Gepäcks ausmacht, welches uns dazu befähigt, aus einer chaotischen Welt und den in ihr stattfindenden unverständlichen Ereignissen Sinn herauszuholen; und letztlich, aber nicht letztrangig, weil das Narrative zur Manipulation benutzt werden kann. Kurz, es ist eine kulturelle Kraft, mit der man rechnen muß.70

Die zentralen Koordinaten der Erzählungen der Migration – einer kulturellen Kraft, mit der man rechnen muss – sind die des Raumes und die der Zeit: ebenjene, die auch das Kino bestimmen. Welche Raumanordnungen, welche Zeitlichkeiten finden sich nun in der Begegnung zwischen Kino und Migration speziell für den deutschen Kontext? Ich beginne im Folgenden mit dem Nachdenken über Aspekte der Genealogie, um darüber zu Fragen des Geschlechts zu gelangen. Dabei geht es zunächst um den geschlechtlich codierten Raum des Ausländerdiskurses, dessen zentraler marker der eingeschlossene Raum der ›Frau‹ ist, der als Chiffre an den Transitraum erinnert, da beide von Stillstand und Bewegungslosigkeit gekennzeichnet sind, also von einer bestimmten Zeitlichkeit (die Erscheinung einer endlosen Gegenwart). Es geht um die stillgestellte Mobilität und die Ausbrüche daraus (Shirins Hochzeit, 40 qm Deutschland, Abschied vom falschen Paradies) in Form von Verrücktheiten/Verrückungen (wie in Yara) bzw. um die Inszenierung des Unterschieds zwischen Tradition und Überlieferung, die Untersuchung, Durchbrechung oder Neukonfiguration von generationaler Abfolge, von Genealogie – wie in Aprilkinder, Kleine Freiheit, Auslandstournee,





68 Spielfilme, und nicht geschriebene Erzählungen, denn: »Bilder sind die paradigmatischen Gedächtnismedien«, wie Martin Rapp und Aytaç Eryılmaz in »Geteilte Erinnerung« mit Bezug auf Aleida Assmann postulieren (Aytaç Eryilmaz/Martin Rapp: »Geteilte Erinnerungen«, in: Kölnischer Kunstverein et al (Hg.): Projekt Migration, Ausstellungskatalog, Köln 2005, S. 578­597, hier S. 581). Zu Film als Medium der Erinnerung der Migration siehe auch Brunow, Film als kulturelles Gedächtnis. 69 Kluge, zit. in Kaes, Deutschlandbilder, S. 46. 70 Bal, Kulturanalyse, S. 9.

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Brudermord oder Happy Birthday, Türke! –, wozu auch Köpenickiaden und Umkehrgeschichten wie Polizei und Berlin in Berlin gehören. Statt Roadmovies Roommovies: Die Inszenierung des Innenraums, zentral für die filmischen Auseinandersetzungen mit dem ›Ort der Frau‹, zeigt sich auch als Möglichkeit, Kammerspiele zu inszenieren, die nicht als Einschluss funktionieren, sondern den Blick nach innen richten können, sich der Komplexität von Gefühlen und Geflechten (von Gefühlen und Beziehungen und Konstellationen) widmen, die im Sinne des Ausländerdiskurses der Logik des Stereotyps anheimfallen, in der Figuren nur Chiffren sind und keine Personen (Gölge). Die Bedeutung von Räumen und Konfigurationen werde ich schließlich kurz über die melodramatischen (Angst essen Seele auf) und tableauhaften (Katzelmacher ) Bilder von Fassbinder in den Blick nehmen. Am Ende werde ich dann Thomas Arslans Trilogie, die Filme Geschwister – Kardeşler, Dealer und Der schöne Tag, diskutieren, deren Kartografien von urbanem Raum und Alltag und Alltäglichkeit (auch durchaus im Sinne des Einlösens der Forderung nach repräsentativer ›Normalität‹). Alle drei Filme geben den zurückgelegten Wegen zwischen den Ereignissen Raum, ebenso wie der Zeit des ›Abhängens‹, in der wiederum die sozialen Gefüge ›vermessen‹ werden. Das Flanieren der Protagonisten, das Erlaufen/Erfahren einer urbanen Geografie, eröffnet dabei den Blick auf ein Kino, das Repräsentation oder Authentizität »wie der Teufel das Weihwasser«71 fürchtet.

2.3 Genealogien

generieren

Aus der Frauenforschung wurde nur vorübergehend Geschlechterforschung. Weitgehend durchgesetzt hat sich die Verwendung des Begriffs gender: »Der Vorteil des aus dem Englischen entlehnten Begriffs Gender besteht darin, dass er weniger mehrdeutig angelegt ist als der deutsche Terminus ›Geschlecht‹«, schreiben die Herausgeberinnen von Gender als interdependente Kategorie72 und führen in einer Fußnote diese Bedeutungsvielfalt aus: »Im Deutschen bezeichnet Geschlecht zugleich Abstammung (Genus), Biologie (Hormone, Geschlechtsorgane, Gene) und Geschlechtsidentität (soziale Dimension).«73







71 Wie ein Rezensent von Der schöne Tag unfreiwillig treffend bemerkt hat. Thomas Fizel: Derridada und Lacancan. Thomas Arslans ›Der schöne Tag‹, in: Die Welt (18.10.2001); http:// www.welt.de/print-welt/article481999/Derridada-und-Lacancan-Arslans-Der-schoene-Tag. html; zuletzt abgerufen am 10.10.2014. 72 Katharina Walgenbach/Gabriele Dietze/Antje Hornscheidt/Kerstin Palm: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen/Farmington Hills 2007, S. 15–16. 73 Walgenbach et al, Gender als interdependente Kategorie, S. 15–16.

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Die Vieldeutigkeit von Geschlecht, die den Autor_innen hier als Negativbegründung gilt (und die etymologisch allerdings auch auf gender zutrifft), ist meiner Ansicht nach jedoch gerade plausibel, wenn es um die Knotenpunkte mit ›Rasse‹ geht. Wie bereits zitiert, schrieb Deniz Göktürk 1998, dass »sich Geschichten über Türken in Deutschland häufig an den Geschlechterbeziehungen abarbeiten.«74 Eine treffende Beobachtung (wobei ich hier ›Türken‹ als Chiffre begreife, teils für die ›Migrant_innen‹ im Allgemeinen – ein gebräuchlicher Kurzschluss –, teils für ›den Islam‹), die ich hier über die Vieldeutigkeit des Begriffs ›Geschlecht‹ erweitern möchte: Geschichten über ›Migrant_innen‹ arbeiten sich nicht nur an der Geschlechterfrage an sich ab, sondern auch an Geschlecht im Sinne von Abstammung, an der Genealogie. Migration ist ein genealogisches Unterfangen, es geht dabei um Unterbrechungen, Neuzusammensetzungen und schließlich um die Schmuggelpfade der Erinnerung,75 in anderen Worten um die komplexen Aushandlungen von Herkunft und Gedächtnis. Konkrete Denkfiguren, Rechtsverordnungen und Konzepte, mit denen Migration in Deutschland verhandelt (und bevölkerungspolitisch reguliert) werden (soll), sind beispielsweise: Familienzusammenführung, Zwangsheirat, Traditionen (die Ehrverletzung als Traditionsverletzung), die Generationen (im Sinne der ersten, zweiten, dritten), Sippen und Verwandtschaftssysteme, community, Vaterland und Muttersprache. Wie Sigrid Weigel in ihrer Studie Genea-Logik76 ausführt, hat der Generationsbegriff einen zentralen Stellenwert in der deutschen Vergangenheitspolitik, wobei Generation als »Medium der Gedächtnispolitik«77 funktioniert. Mit Karl Mannheim, der im Allgemeinen als Begründer der Generationstheorie gilt, wurde, so Weigel, das Kohortenkonzept eingeführt, welches anstelle der Generationenfolge die Gemeinsamkeit einer altersspezifischen Gruppe (die Jahrgangsverwandtschaft im Gegensatz zur familialen) fokussiert. Dadurch wird ein Perspektivwechsel vollzogen: von der genealogischen Sichtweise auf die synchrone. Problematisch wird generationale Synchronizität im deutschen Kontext, weil damit die Unterbrechung gegen das Erbe ausgespielt wird (oder zumindest das Erben anders konfiguriert wird): Das Selbstverständnis, Vertreter oder Angehöriger einer bestimmten Generation zu sein, ersetzt oder überlagert nämlich durchweg das Paradigma von Opfern und (Mit-)Tätern. Insofern stellt sich der Generationendiskurs nicht selten als ein verdeckter nationaler Diskurs dar, in dem sich Schuldabwehr und Reinheitsbegehren artikulieren.78



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Göktürk, Verstöße, S. 108. Hassoun, Schmuggelpfade. Weigel, Genea­Logik. Weigel, Genea-Logik, S. 97. Weigel, Genea-Logik, S. 97. Ein Beispiel für dieses Phänomen ist die Diskussion um die Eröffnung der Friedrich Christian Flick Collection in Berlin. Nachdem die Platzierung dieser Sammlung in Zürich an der Ablehnung der Stadt gescheitert war, wurde diese in Deutschland

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Während nun die deutsche nationale Identität über einen synchronen Generationsbegriff verhandelt wird, gilt für die Bilder der Migration in Deutschland ein stetes Oszillieren zwischen der Macht der genealogischen Generationenfolge (die Familie als Traditionssystem, aus dem es kein Entrinnen gibt) und der Vorstellung jeglicher genealogischer Losgelöstheit: ohne soziale Gefüge, ob als Familie oder andere Formen der Verbundenheit verstanden. So waren die Wohnheime, in denen ein Großteil der ersten ›Gastarbeiter‹ untergebracht wurden (die Unternehmen mussten nach einem bestimmten Quadratmeterschlüssel Wohnraum vorweisen, um von den Vermittlungsstellen Arbeitnehmer_innen zugewiesen zu bekommen), geschlechtersegregiert organisiert und sahen keinen Familienzusammenhang vor (geschweige denn gelebte Sexualität oder andere als die ›ethnischen‹ bzw. über die Arbeit vermittelten sozialen Zusammenhänge). Heute ist es vor allem der Generalverdacht ›Zwangsheirat‹, mit dem die sogenannte Familienzusammenführung erschwert wird. Außerdem ist das gängige Bild zeitgenössischer Migration das von einzeln, genauer: vereinzelt agierenden Personen. Die Realität liegt anderswo: in der Komplexität des gelebten Lebens verborgen – oder gerade dort sichtbar, je nachdem, wie der Blick gerichtet ist. Die filmische Indexierung von Migration und Genealogie entfaltet sich auf verschiedene Art und Weise. Das »Rätsel der Ankunft«79 informiert zumeist die früheren Filme, seit den 1990er Jahren scheint es hingegen längst vollzogen, wobei viele Filme den (erneuten) Aufbruch inszenieren, in Form eines ungewissen Endes, häufig als prekäre Ungewissheit und als Abbruch konfiguriert, zumeist als Abschiebung in der Schlussszene wie beispielsweise in Drachenfutter (Jan Schütte, BRD 1987) und in Abschied vom falschen Paradies (Tevfik Başer, BRD 1989).80 In letzterem Film aber nur als implizierter nächster Schritt (Schnitt), ebenso wie in Dealer: als hors-champ, Fortsetzung, Andeutung, vermutete Konsequenz, als gewusstes Wissen über die rechtliche und politische Konstellation ›Deutschland‹ – und in Fremde Haut (Angelina Maccarone, D 2005), wo sich in der Flugzeugtoilette, im Prozess der Abschiebung,



unter anderem von der damaligen Staatsministerin Christina Weiss mit den Worten begrüßt, dass die Flick Collection »einen Teil der Wunde« schließe, »die in Berlin durch die Nazi-Zeit gerissen wurde«. Im Rahmen der Veranstaltung Heil dich doch selbst! Die Flick Collection wird geschlossen fand eine kritische Auseinandersetzungen mit dieser ›Heils und Vergessensgeste‹ statt. Unter anderem thematisierte Gertrud Koch die neue Schichtung des historischen Gedächtnisses, die hier zum Ausdruck kommt (wie immer eine Sache gegenwärtiger Entscheidungen), und Peter Kessen sah hier einen neuen Phänotyp der Erzählung von der Kunst des deutschen Erbens (beide Texte waren unter www.flickcollection.de zu finden; zuletzt abgerufen am 24.09.2008 und heute nicht mehr einsehbar. Siehe zur Veranstaltung: http:// www.b-books.de/flick/; zuletzt abgerufen am 10.10.2014). 79 So der Titel eines Romans von V.S. Naipaul, übersetzt von Sabine Roth, München 2005 [1987]. 80 Anders jedoch die ›postmigrantischen‹ Familienkomödien, die eine andere Form der Ankunft als Stillstellung im Privaten zelebrieren und in denen es v.a. ums Heiraten und Kinderkriegen geht. Siehe dazu Kapitel 5.2.

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zugleich die zweite geschlechtliche Transformation der Hauptfigur vollzieht (siehe dazu auch Kapitel 3). Gelegentlich deutet sich auch die Multiplizität der Migrationsbewegungen an: Migration ist weder Sache Einzelner noch eine unidirektionale Bewegung, die die Grenzpassage einmal vollzieht und, sollte sie scheitern, dann nie wieder stattfindet. Das wissen sogar schon die kleinen Kinder im Wohnheim für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in Hamburg in Brudermord/Fratricide (Yılmaz Arslan, D/F/LUX 2004/05). Zilan (Taies Farzan), die sowohl als Vertreterin eines unerbittlichen kurdischen Nationalismus erscheint – einer Forderung, der alles andere untergeordnet wird –, die aber auch Fürsorge, Beratungsarbeit und community building leistet, besucht die Kinder regelmäßig. Als sie bei einem solchen Besuch den Kindern und Jugendlichen im Heim erst den Schulbesuch nahelegt (»ohne Bildung werdet ihr mit Haut und Haar gefressen«) und ihnen dann rät, sich nicht beim Arbeiten erwischen zu lassen (»sonst werdet ihr des Landes verwiesen«), meint einer der kleinen Jungen lachend: »Ja und?! Ich wäre am nächsten Tag wieder da!« Die Reise selbst, wie sie beispielsweise Michael Winterbottom in In This World (GB 2002) ins Bild setzt,81 wird in deutschen Filmproduktionen oftmals allegorisch verschoben als Roadmovie-Zitat verhandelt82 oder als (erläuternder) Rückblick erzählt, oder aber – und darum geht es mir hier – sie wird über Brüche und Linearitäten in der Familienanordnung thematisiert. Zunächst sind da die Bilder von der Zwangsläufigkeit von Familie oder vielmehr der Zwangsläufigkeit von Heirat und Reproduktion: So steht am Anfang der Geschichten von 40 qm Deutschland und Abschied vom falschen P aradies sowie S hirins H ochzeit (den paradigmatischen ›Problemfilmen‹ der 1980er Jahre) die Zwangsheirat oder zumindest die arrangierte Heirat – und die Geschichte des Ausbruchs daraus.83



81 Auch dies eine nicht unproblematische Inszenierung, vor allen Dingen durch die Verbindung von Dramatisierung und ›Authentifizierung‹ mit Nachtsichtbildern und anderen Visualisierungen der Grenze, die damit migrantische Sichtbarkeit »in die Nähe zur visuellen Ökonomie ihrer Kriminalisierung, Regulation und Kontrolle« (Kuster, Die Grenze, S. 188) rücken und eine bestimmte polizeiliche Logik reproduzieren. 82 So zum Beispiel in Im Juli von Fatih Akın (D 2000) oder Drei gegen Troja oder in Momenten, die Glück und Freiheit suggerieren, wie die Fahrsequenzen in Fremde Haut oder auch die subjektive Kamera in Kleine Freiheit, die Barans Wahrnehmung beim Fahrradfahren durch Hamburg ›aufzeichnet‹. In Nicht Fisch, nicht Fleisch (Matthias Keilich, D2001/02) ist die Fahrt – die Flucht vor dem Zusammenbruch der Familie – im alten VW-Bus seines Adoptivvaters für Michael (Ill-Young Kim) der Roadtrip zu seinem ›Koreanischsein‹, was hier auch gleichbedeutend ist mit Urbanität, mit Großstadt. Abschied vom falschen Paradies basiert auf einer Geschichte von Saliha Scheinhardt: Frau 83 en, die sterben, bevor sie gelebt hätten, Berlin 1983. Die Literaturkritikerin und Literaturwissenschaftlerin Karin E. Yeşilada hat für die Art von Literatur, für die Scheinhardt paradigmatisch ist, den Begriff der »geschundenen Suleika« geprägt. Siehe dazu Karin E. Yeşilada: »Die

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40 qm Deutschland wurde am 31. Juli 1986 uraufgeführt. Die gesamte (Low-Budget-)Produktion fand im Jahr 1985 in nur zehn Wochen statt, davon 21 Tage Drehzeit und sieben Wochen für Schnitt und Postproduktion. Einziger Schauplatz ist eine 40 Quadratmeter große Hamburger Altbauwohnung. Neben Kameramann Izzet Akay, der zuvor regelmäßig mit Yılmaz Güney zusammengearbeitet hat, gewann Başer den Kirchenmusiker Claus Bantzer für die Filmmusik, die Schauspieler Yaman Okay, der ebenfalls zuvor mit Güney gearbeitet hatte, und natürlich die Jazzsängerin Özay Fecht, mit der die Hauptrolle besetzt wurde. Başer realisierte mit dem Film ein Projekt, an dem er jahrelang gearbeitet hatte. Der Film wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Silbernen Leoparden beim Internationalen Filmfest von Locarno und dem Preis für das beste Regiedebüt auf dem Internationalen Filmfest von Rotterdam. Beim Deutschen Filmpreis erhielt der Film eine Nominierung als »bester Film«, Özay Fecht wurde der deutsche Filmpreis als »beste Schauspielerin« verliehen. Neben der zu erwartenden Beschreibung des Films als »eine Studie des Gastarbeiterlebens« wurde er allerdings auch als »existentielles Drama« verstanden, »das unter jeweils veränderten Vorzeichen sich in jedem Kulturkreis vollziehen könnte.«84 Der Film wird oft als Beginn eines ›deutsch-türkischen Kinos‹ beschrieben, was im Sinne der Aufmerksamkeit, die der Film erhielt, auch zutrifft. Allerdings realisierte Sema Poyraz bereits einige Jahre zuvor den Film Gölge (BRD 1980),85 der relativ unbemerkt blieb und erst heute, viele Jahrzehnte später, wieder gewürdigt wird. Ich werde auf diesen Film zurückkommen.86





geschundene Suleika – Das Bild der Türkin in der deutschsprachigen Literatur türkischer Autorinnen«, in: Howard, Mary (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen. Zur deutschsprachigen Erzählliteratur von Autoren nichtdeutscher Herkunft, München 1997, S. 95–114. 84 Hans­Dieter Seidel: »Sein kostbarster Besitz. Ein bemerkenswertes Filmdebüt: ›Vierzig Quadratmeter Deutschland‹ von Tevfik Baser«, in: FAZ 185 (13. August 1986) (Pressearchiv der Bibliothek der Deutschen Kinemathek). 85 Alternative Titel: Gölge – Zukunft der Liebe und Gölge – Schatten. 86 Eine erste Wiederentdeckung/Würdigung erfuhr der Film in Madeleine Bernstorffs wegweisender Filmreihe Ohneland oder Die andere Seite der anderen Seite/No(womans)land or the other side of the other side – Filme von Immigrantinnen und Filmemacherinnen der 2. Generation/Films by women film makers and migrant women from the second generation, im Rahmen von »...es kommt darauf an, sie zu verändern. Filme, Festivals, Feminismus« im Kino Arsenal, 19.9.-25.9.1997. Erneut gezeigt wurde der Film im Rahmen des von Stefanie Schulte Strathaus und Florian Wüst kuratierten Programms Wer sagt denn, dass Berlin nicht brennt, hast Du’s probiert? Film im West-Berlin der 80er Jahre, 8.10.2006–7.11.2006, Kino Arsenal Berlin (http://www.arsenal-berlin.de/kino-arsenal/programmarchiv/einzelansicht/ article/649/2804//archive/2006/october.html; zuletzt abgerufen am 10.10.2014). Siehe dazu auch Nicole Wolf: »Weg in Berlin – Aber Echt! Dokumentarisch­fiktionale Randnotizen«, in: Florian Wüst/Stefanie Schulte Strathaus (Hg.): Wer sagt denn, dass Beton nicht brennt, hast Du’s probiert? Film im West­Berlin der 80er Jahre, Berlin 2008, S. 36­49.

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Shirins Hochzeit wurde für das Fernsehen produziert und erstmalig im WDR ausgestrahlt.87 Der Film wurde ebenfalls zu einer Chiffre, einerseits wegen seiner ›Einstellung‹, andererseits aber auch, weil er der erste Film war, der in der Öffentlichkeit umstrittene Fragen von Migration, Rassismus, Nationalismus und Repräsentation zur Verhandlung brachte (andere Filme, die derart in die Schlagzeilen gerieten, sind Gegen die W and , W ut und W em E hre gebührt , ein Tatort von Angelina Maccarone, D 2007). Die Erstausstrahlung von Shirins Hochzeit löste massive Proteste rechter Kreise in der Türkei aus und führte auch zu Protestkundgebungen türkischer Nationalisten vor dem WDR-Funkhaus in Köln. Zu diesen Protesten gesellten sich ebenfalls ›deutsche‹ Ressentiments, wie sie u.a. in der Hörzu publiziert wurden.88 Annette Brauerhoch beschreibt Shirins Hochzeit als einen Film, der Geschichte enteignet.89 Brauerhoch meint damit die Aneignung der Erzählung durch die Filmemacherin: Helma Sanders teilt sich das voice-over mit ihrer Filmfigur Shirin, aber es ist keine geteilte Erzählung, sondern ein zweites voice-over, eine voice-over-Hierarchie. Sanders‹ Stimme ist die auktoriale, sie ist flüssig, kohärent, nachhakend, die Geschichte wissend, kommentierend und erläuternd, jene Geschichte, die Shirin in mangelhaftem Deutsch nur als subjektiv Erlebtes ausschnitthaft berichten kann.90 Shirin trägt in der Tat »filmisch eine schwere Last«,91 wie Annette Brauerhoch schreibt. Brauerhoch meint damit, dass sie »das allgemeine, soziale Leid biologischer Frauen und das spezifisch nationale Glück wie Unglück türkischer Frauen zu repräsentieren«92 habe. Das Problem in Brauerhochs – hinsichtlich der Funktion von Sprache und Stimme durchaus konziser – Analyse (und der Verortung dieses Anliegens im feministischen Projekt der 1970er Jahre) liegt meines Erachten darin, dass sie Shirins









87 Die vom WDR produzierten ›fremdsprachigen‹ Sendungen gehören ebenfalls zur Geschichte der Migration. In den 1960er Jahren begann der öffentlich-rechtliche Rundfunk damit, Sendungen für ›Gastarbeiter‹ auszustrahlen; die Programme erreichten im Allgemeinen hohe Einschaltquoten. Regelmäßig waren die Sendungen und ihre Ausrichtung auch Anlass für politische Debatten und außenpolitische Spannungen. Siehe dazu Roberto Sala: »›Gastarbeitersendung­en‹ und ›Gastarbeiterzeitschriften‹ in der Bundesrepublik (1960–1975) – ein Spiegel inter­na­tiona­ler Spannungen«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3 (2005), http://www.zeithistorische-forschungen.de/3–2005/id%3D4672; zuletzt abgerufen 10.10.2014. 88 Siehe dazu auch Kapitel 3 Anm. 20. 89 Vgl. Annette Brauerhoch: »Die Heimat des Geschlechts – oder mit der fremden Geschichte die eigene erzählen. Zu Shirins Hochzeit von Helma Sanders-Brahms«, in: Getürkte Bilder. Zur Inszenierung von Fremden im Film, Marburg 1995, S. 109–115, hier S. 115. 90 Annette Brauerhoch benennt in ihrer interessanten Lektüre des Films neben dem Einsatz des Tons als weitere Strategien der filmischen ›Authentifizierung‹ (der Figuren, der Erzählung, die »Geschichte zur Metaphysik« macht; Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 115) den an Cinéma Vérité erinnernden Kamerastil und das grobe Schwarzweißmaterial, vgl. ebd., S. 109. 91 Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 115. 92 Brauerhoch, Die Heimat des Geschlechts, S. 115.

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Geschichte als eine türkische begreift, als national, nicht als eine der Migration, als transnational. Shirin macht sich förmlich ›vom Acker‹, sie flieht vor der arrangierten Ehe mit dem Gutsverwalter, quer über die Felder der kargen Landschaft, in der sie aufgewachsen ist, und durch die sie mit dem Lkw zu ihrem zukünftigen Ehemann gefahren werden soll, singend auf der Ladefläche stehend (und dabei vom steten voice-over der Filmemacherin kommentiert93). Sie schafft es zur nächsten Bushaltestelle und von dort aus nach Deutschland, auf der Suche nach ihrer Jugendliebe Mahmud, dem sie eigentlich versprochen war. Sie wird ihn wiederfinden, aber er wird sie nicht wiedererkennen; sie, die mittlerweile als Prostituierte in den Gastarbeiterwohnheimen arbeitet. Sie haben Sex, aber es ist kein ›Erkennen‹ mehr (ein interessanter biblischer ›Schmuggelmoment‹), weil der Akt zu einer ökonomischen Transaktion geworden ist. Shirin wird dem Film auch nicht lebend entkommen: Am Ende liegt sie erschossen im Staub der Straße, ein Blutfleck bildet sich auf ihrem Rücken: eine zweite ›Entjungferung‹, ein zweites ›Blutbild‹ (siehe dazu auch Kapitel 4, Abb. 29), von der Kamera aus sicherer Entfernung festgehalten. Das erste dieser Bilder zeigt sie unter der Dusche, Blut und Wasser vermischen sich, nachdem sie von ihrem betrunkenen Arbeitgeber, der sie gerade erst entlassen hat, vergewaltigt und damit entjungfert wurde – eine symbolträchtige Inszenierung der Ineinssetzung der Ware Arbeitskraft und der Ware Frau. 40 qm Deutschland (Tevfik Başer, BRD 1986) ist auch mit seinem Titel zum paradigmatischen Film geworden, der die Geschichte des reduzierten, eingeschlossenen Raums der ›anderen‹ Frau in Deutschland erzählt. Die Bildmächtigkeit des Films, die Sprachlosigkeit der Figuren stehen in diesem Kontext für die »Zwangsläufigkeit«,94 die Evidenz der »beredten«95 Bilder. Er ist zu Zitat und Referenz gleichermaßen geworden. So finden sich Verweise beispielsweise in Filmtiteln wie 36m² Stoff (Neco Çeliks ›Fake-Doku‹ von 1997) oder in Überschriften wie »Vier Quadratmeter Türkei«, wie Stefan Reinecke seine Rezension von Sinan Çetins Berlin in Berlin (D/TR



93 Hier empört sich Brauerhoch über die Darstellung, die sie an einen Viehtransport erinnert, gefolgt von dokumentarisierend eingestreuten Fotos des Anwerbeprozesses und anderer Stationen der sogenannten Gastarbeit. Brauerhoch kann sich auch mit der Darstellung der Wohnheimsituation (mit Hausordnung, Überwachung und einer Verwalterin, die nur herumschreit) nicht abfinden. Obwohl sie recht hat – Sanders erzählt tatsächlich eine Opfergeschichte, und diese viktimisierende Perspektive ist kritisch zu reflektieren –, verpasst sie hier die ›Spur des Realen‹ in den Fotos und Beschreibungen aus den Anfängen der Gastarbeiterzeit. Zu fragen ist eher, warum der Fokus auf der Macht der Verwaltung und Regulation liegt, nicht auf der Subjektivität der Figuren. Aber auch hier würde ich die Macht der Perspektive, des Blickwinkels, einfordern: Auch diesem Film sind exzessive Momente eigen, die sich gegen die Präsenz Sanders‹ richten. 94 Seidel, Sein kostbarster Besitz, o.S. 95 Birgit Galle: »Aufbruch nach langer Zeit der Einsamkeit«, in: Neues Deutschland 163 (12. Juli 1988) (Pressearchiv der Bibliothek der Deutschen Kinemathek, Berlin).

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1993) in der Frankfurter Rundschau betitelte (auch auf diesen Film komme ich noch zurück). In 40 qm Deutschland geht es um ein Ehepaar in einer Zweizimmerwohnung in Hamburg. Der etwas ältere Ehemann Dursun (Yaman Okay) hat gerade seine junge Frau Turna (Özay Fechts erste große Rolle), die er ganz traditionell zuhause im Dorf von ihrem Vater ›erhalten‹ hat – also gegen Bezahlung eines Brautpreises –, nach Deutschland gebracht, wo er schon länger lebt. Başer eröffnet den Film wie auch seinen späteren Film Abschied vom falschen Paradies mit einer den Raum erfassenden Kamerafahrt, vermisst damit die Abstände und zeigt die Gegenstände, die diesen Ort kennzeichnen, tastet sie ab. Hier sehen wir eine klassische ›Junggesellenwohnung‹, unordentlich und unaufgeräumt. Dann die Ankunft des Ehepaars, die freudige Erwartung Turnas. Die Diskrepanz, die diese Unordnung im Verhältnis zu ihren Hoffnungen zeichnen soll, wird aber nicht weiter vertieft. Stattdessen eignet sich Turna die Räume sogleich an, räumt auf, dekoriert um. Dabei kommen zahlreiche Tücher und Schals zum Einsatz. Während dieser Inbesitznahme – Turna schrubbt den Boden, während Dursun arbeiten geht – entdeckt sie zufällig, dass die Wohnungstüre verschlossen ist. Dursun erklärt ihr dann, er wolle sie vor der schlechten Moral des Außen schützen, ein Außen, das ihr fremd und unverständlich sei. Turna widerspricht erst, fügt sich dann aber. Die Isolation setzt ihr dann aber so sichtlich zu, dass Dursun ihr Ausflüge nach draußen verspricht, es bleiben aber leere Versprechungen. Die Tage sind eine Aneinanderreihung von Alltagshandlungen: kochen, waschen, putzen – und träumen. Die einzige Kommunikation mit der Außenwelt findet über die Fenster statt: Mit einem Mädchen in einer Wohnung gegenüber winkt sie sich zu, beide halten ihre Puppen hoch. Aber auch das Mädchen wird von ihrer Mutter vom Fenster weggeholt. Nachts verlangt Dursun regelmäßig Sex. Als Turna jedoch nicht schwanger wird, wird ein Hodscha (Demir Gökgöl96) herbeigezogen, der ihr den Bauch beschreibt.97 Als Turna tatsächlich schwanger wird (wobei sich das Zeitgefühl im Film ebenso aufgelöst hat wie das Turnas in ihrer Isolation. Wird sie gleich darauf schwanger? Oder sind doch Monate vergangen?) –teilen beide die Freude darüber. An der Situation ändert sich jedoch nichts. Den Wendepunkt bringt erst ein dramatischer Einschnitt: ein epileptischer Anfall Dursuns, den er unter der Dusche erleidet, und an dem er stirbt. Nachdem Turna eine letzte Nacht mit ihm in der Wohnung verbringt, weil der nackte Leichnam





96 Diese Rolle gilt als erste Gökgöls in deutschen Filmproduktionen. Gökgöl spielte später diverse Vaterfiguren, so in Gegen die Wand und in Wut (Züli Aladağ, D 2006). In Soul Kitchen (Fatih Akın, D 2009) gab Gökgöl den griechischen Onkel Sokrates. 97 Von Braun und Mathes zitieren Peter Heine, der dieses ›Heilmittel‹ in einem Vortrag beschrieben hat: Die Inkorporierung der Schrift spiegelt das enge Verhältnis von Koran und ›körperlichem Glauben‹ wieder, d.h. Inkorporation bzw. Inlibration statt Interpretation. Vgl. Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin 2007, S. 123.

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vor der Tür ihr den Weg versperrt (erstaunlich, dass diese ungewöhnliche Folge von Einstellungen frontaler männlicher Nacktheit in keiner Rezension und keinem Artikel bislang Erwähnung gefunden hat), vollbringt sie, hochschwanger, schließlich doch den höchst symbolischen Kraftakt und wagt den Weg nach draußen. Dieser Weg findet in Form eines Abstiegs durch das Treppenhaus statt, wovon es in dem Film bereits eine frühere Variante gibt: Dieser erste ›Abstieg‹ findet statt, als Dursun Turna einen Sonntagsausflug versprochen hat, dann aber alleine ausgeht, weil er sich mit seiner, die Festlichkeit des Anlasses missverstehenden, bunt dekorierten Frau nicht sehen lassen will, und dabei die Tür unverschlossen lässt. Turna entdeckt dies und tastet sich durch das Dunkel der Unkenntnis von Elektrizität und Flurbeleuchtung (Abb. 4). Diese Unternehmung endet abrupt mit dem Erschrecken der Protagonistin vor Erleuchtung und Ankunft (jemand öffnet die Haustür, sie fällt laut ins Schloss, das Licht geht an), sie flüchtet sich zurück in die Wohnung (durch das bemerkenswert ornamentale Setting des Treppenhauses). Der zweite Abstieg wird dann zum Aufbruch ins Ungewisse, aber Helle, Erleuchtete: Die hochschwangere Turna geht barfuß dem Licht, das durch die Haustüre fällt, entgegen, während die Kamera hinter ihrem Rücken am Treppenansatz zurückbleibt (Abb. 5). Dann rollen die Credits über das angehaltene Bewegungsbild. Der Weg nach draußen verbleibt darin Andeutung und Hoffnung, eine Geste, mit der Başer auch Abschied vom falschen Paradies beendet, die Hoffnung auch hier auf ein Draußen gerichtet, in diesem Falle wissen wir aber, dass der Entlassung vermutlich die Abschiebung folgen wird: ein angehaltener Weg, eine innegehaltene Erzählung, eine Zäsur. Eine Zäsur, die ganz Melodrama ist, weil sie Widersprüche sichtbar macht, weil sie selbst widersprüchlich ist,98 aber auch, weil sie sich konkret der Ikonografie des Melodramas bedient: Der freeze frame, über den der Abspann läuft, wird hier zur Fensterscheibe, durch die zum Beispiel Cary Scott (Jane Wyman) in Douglas Sirks All That Heaven Allows (USA 1955) mit der Welt draußen verbunden, aber eben vor allem von ihr getrennt ist. Etwas schiebt sich dazwischen, zwischen die Figur und das Außen, das sowohl wir als Zuschauer_innen (vor der Leinwand) sind als auch das Licht, das Turna entgegengleißt. Wie eine Fensterscheibe ist dieses Dazwischen durchsichtig, aber es markiert auch die Trennung, das Pathos des Einschlusses in Konventionen. Irgendwo in jeder dieser Geschichten von der Zwangsläufigkeit der genealogischen Erzählung von Tradition und Familie taucht immer ein Ein oder Umbruch auf. Damit werden sowohl die Brüchigkeit des Erzählmusters deutlich – die Hilflosigkeit der Frauenfiguren lässt sie als reine Allegorien erscheinen; da sie aber im Zentrum des Filmgeschehens und im Zentrum des filmischen Raumes stehen, entsteht so eine Leerstelle, die nur durch etwas anderes gefüllt werden kann – als auch jene tatsächlichen



98 Siehe zum Melodrama auch die Ausführungen im folgenden Abschnitt (2.4 zu »Innenansichten«).

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Abb. 4 & 5 40 qm Deutschland (Tevfik Başer, BRD 1986)

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Brüche, die Teil jeder Migrationsgeschichte sind: Abbrüche in der generationellen Abfolge, Aufbrüche in neue Anordnungen und Gefüge. So reagiert die von Jakob Arjouni geschaffene Figur des Privatdetektivs Kemal Kayankaya (Hansa Czypionka), der in Frankfurt/Main zwischen Bier, Kettenrauchen, Alltag im Bahnhofsviertel und dem ewigen Graublau urbaner Trostlosigkeit zuhause ist, geradezu allergisch auf das Stichwort Familie: »Familie, da krieg ich das Kotzen.« Doris Dörrie hat mit Happy Birthday, Türke! (D 1991) den ersten der Kayankaya-Kriminalromane von Arjouni verfilmt. Happy Birthday, Türke! fällt als Film aus den meisten Texten zu Kino und Migration heraus, er erhält in diesem Kontext (aber auch sonst) relativ wenig Aufmerksamkeit, zumindest im Vergleich zu Schattenboxer oder D rachenfutter , um nur zwei thematisch verwandte Filme aus der gleichen Zeit zu nennen, die ebenfalls von ›biodeutschen‹ Filmemachern realisiert wurden. Ich halte ihn jedoch für einen zu Unrecht übersehenen Film. Auch wenn die Scharfzüngigkeit der Hauptfigur, die pointierte Beschreibung von Alltagsrassismen letztlich vor allem auf das Buch Arjounis zurückzuführen sind,99 beweist Dörrie in der filmischen Umsetzung ein feines Gespür für das Sujet. Ich widme mich diesem Film nun im Kontext der Frage der Genealogie, die darin so etwas wie das eigentliche Thema darstellt, das die verschiedenen Orte, Figuren und Handlungsstränge verbindet. So ist die eigentliche ›kriminalistische‹ Arbeit das Aufspüren und Entschlüsseln von verwickelten, verdeckten, verlorenen, problematischen Familiengeschichten, die vordergründig über Parameter des Ausländerdiskurses verhandelt werden, über Drogen, Prostitution, Ghetto, Frankfurter Bahnhofsviertel, Tradition und ›moderne‹ Verlockungen (wiederum Drogen, aber vor allem Sex). Das heißt nicht, dass die Lösung des Falles in einem heilen Familiengefüge besteht. Kayankaya wird zwar für sich behalten, dass es sich um einen Brudermord handelte – durchaus eine Geste der Zuneigung zu seiner Klientin und ihren Angehörigen –; aber nicht, weil er denkt, es wäre ›für die Familie‹ gewesen: »Jetzt kommen sie mir nicht mit dem Quark: Familie über alles!«,

99 Jakob Arjouni ist im Sinne einer umgekehrten Logik im Übrigen ein Paradebeispiel dafür, wie nicht-deutsche Autor_innen zu Vertreter_innen ihrer Herkunft gemacht werden, wie also bestimmte Themen nur über die Idee der Authentizität gedacht werden: Der Erschaffer einer Figur wie Kayankaya kann demnach nur aus der Authentizität eigener Erfahrung schöpfen. Immer wieder wird der Sohn eines (deutschen) Dramatikers und einer (deutschen) Diogenes-Lektorin, der unter anderem deshalb unter dem Namen seiner damaligen Frau – Arjouni – »Happy Birthday, Türke!« (1985) bei Diogenes publizierte, mit einer adäquaten ­Migrationsgeschichte versehen. So steht im CD-Booklet des Hörspiels »Happy Birthday, Türke!« (Hörverlag), Arjouni sei als Sohn türkischer Gastarbeiter in Frankfurt geboren; Gleiches ist im Juli 2003 im Kulturbrief der Zeit zu lesen, siehe http://www.zeit.de/feuilleton/kulturbrief/kulturbrief_070203 (zuletzt abgerufen am 05.10.2014). Die ›Verwechslung‹ von Autor und Figur, die Einschreibung einer Migrationsgeschichte (die wenn überhaupt die von Arjouni nach Frankreich war), wurde erst anlässlich seines frühen Todes im Jahr 2013 thematisiert, u.a. hier http://www. dw.de/arjouni-und-sein-held-kayankaya/a-16533220; zuletzt abgerufen am 05.10.2014.

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sagt er zu dem Mörder, nachdem dieser den durch einen Gipsfuß behinderten Kayankaya huckepack bis in den sechsten Stock getragen hat. Neben Özay Fecht, die mit Hilmi Sözer zu den vermutlich meistbesetzten Schauspieler_innen in den hier besprochenen Filmen gehört – in anderen Worten: als Türken in deutschen Filmen100 –, treffen wir in Happy Birthday, Türke! auch die ›Mutter aller Filmtürken‹,101 die Autorin und (Theater-)Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar. Hier sitzen sie nun gemeinsam in einem Wohnzimmer, auf zwei Sofas, wörtlich auf verschiedenen Seiten, und damit die tiefen Risse symbolisierend, die diese Familie durchziehen, und die aufzuspüren letztlich die eigentliche Detektivarbeit der Geschichte ist. Eine wahre Herausforderung für Kayankaya, der im Alter von drei Jahren erst den Vater, dann mit fünf die Mutter verlor und bei deutschen Pflegeeltern aufgewachsen ist, und der permanent mit V/Erkennungen zu tun hat: von Deutschen als ›Ausländer‹ adressiert, von Türken als ›einer von ihnen‹ auf Türkisch angesprochen. Diese Sprache spricht er aber nicht, wie er seiner Auftraggeberin erläutert: »Das einzig Türkische an mir ist mein Name. Und mein Gesicht. Zufrieden?« Weiter verliert er über beide Familien, die Geburtsfamilie und die der Pflegeeltern, kein Wort. Seine ›Ortlosigkeit‹ (und Bindungsunfähigkeit) wird erst die Begegnung mit der von Özay Fecht gespielten Ilter Hamul an die – verbalisierte – Oberfläche holen. Ilters Mann Ahmed (Emin Boztepe) ist vor vier Wochen verschwunden, seit dem Tag, als ihr Vater Vasif bei einem dubiosen Autounfall verunglückte: Auf gerader Strecke fuhr er gegen einen Strommast. Einziger Zeuge am Unfallort ist die Tochter eines Bauern (dieser gespielt von Christian Petzold102), die dann ebenfalls durch einen zweifelhaften Unfall ums Leben kommt. Ilter wohnt mit Mutter, Schwester, ihren drei Kindern und ihrem Bruder zusammen. Eine Familienaufstellung, die das filmisch-ge-

100 Angefangen hat Özay Fechts Präsenz in diesen Filmen, als die in Berlin lebende Jazzsängerin die Rolle der Turna in 40 qm Deutschland übernahm, dann folgten unter anderem (neben zahlreichen Fernsehrollen) Happy Birthday, Türke!; Yara (Yılmaz Arslan, D/TR/ CH 1998); Ich Chef, Du Turnschuh; Kanak Attack; Auslandstournee; Kleine Freiheit (Yüksel Yavuz, D 2003); Meine verrückte türkische Hochzeit (Stefan Holtz, D 2005) und Dreiviertelmond (Christian Zübert, D 2011). 101 Siehe dazu auch das Theaterstück von Brigitta Kuster, Renate Lorenz und Pauline Boudry: Die Deutschlandtür geht auf und gleich wieder zu, eine fiktive Biographie – nach Gesprächen mit Emine Sevgi Özdamar (Berlin, Prater der Volksbühne am Rosa-Luzemburg-Platz, 2002). 102 Christian Petzold, der mit Jerichow (D 2009) eine Dekade später postmigrantisches BerlinerSchule-Kino (das Label ist hier als zuspitzender Hilfsbegriff gemeint, um etwas von der Qualität des Films greifbar zu machen) realisierte, das die Großstadt, den urbanen Raum, verlassen konnte in Richtung Land, in die Prignitz hinaus und an die Ostsee, aber unter anderen Vorzei­ ­ chauspieler chen. Jerichow zeigt darüber hinaus einmal mehr, wie vielseitig Hilmi Sözer als S ist. Siehe dazu auch: Jaimey Fisher: »Calling All Migrants: Recasting Film Noir with TurkishGerman Cinema in Christian Petzold’s Jerichow« (2009), in: gfl-journal 3 (2010), S. 56–74.

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›Migrationshintergrund‹ als Bildzitat.

»An meine Mutter kann ich mich kaum noch erinnern.« Abb. 6–8 Happy Birthday, Türke! (Doris Dörrie, D 1991)

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»Gell, das erinnert Sie an Ihre Heimat!«

nealogische Universum nicht passender verkörpern könnte: Die Mutter (Emine Sevgi Özdamar) als Matriarchin, die die Wahrheit nicht wissen oder sehen will, sich mit Ilters Bruder Yılmaz (Ömer Simsek) verbündet, der jetzt den Patriarchen gibt und Kayankaya das Gespräch mit der anderen Schwester (Şiir Eloğlu) verbietet, die offensichtlich wegen ihrer Drogenabhängigkeit im Haus festgehalten wird (»Depressionen« ist hier die vom Bruder vorgebrachte Chiffre für Heroinabhängigkeit). Yılmaz gibt an seinem Arbeitsplatz, der Kantine des Hessischen Rundfunks, den ›Giovanni‹, wie Kayankaya ätzend feststellt, wobei seine ethnic-drag-Performance103 sich zur wenig glaubwürdigen Patriarchen-Performance gesellt, und beides ergänzt wird durch die stimmliche geschlechtliche Ambivalenz des Darstellers Ömer Simsek. Dazwischen sind die Kinder, die das Empfangskomitee stellen, draußen, auf den Freiflächen zwischen der Hochhaussiedlung, in der die Familie wohnt. Jenes Hochhausviertel, das vorgestellt wird mit einem goldgerahmten Türkeizitat, ein großformatiges Kitschbild, das über die Straße und quer durch das Bild getragen wird, als Kayankaya dort das erste Mal eintrifft. Gefolgt von Aufnahmen von einem bezopften Kanaken mit Bomberjacke und Kampfhund, dann von spielenden Kindern zwischen Hochhäusern. ›Ghetto‹ scheint als Überschrift über dem Blick auf die Hochhäuser und Brachfelder



103 Siehe dazu auch Kapitel 3.

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zu stehen. Äußerlich nicht anders als die Hochhaussiedlung, in der Kayankaya wohnt (nur dass da der Aufzug funktioniert), aber hier gibt es Familien, Kinder, die spielen. Auch das ein Klischee: die Familienfähigkeit, die Großfamilie. Das golden gerahmte Türkeizitat wird ergänzt durch den Blick ins Wohnungsinnere, durch den Türrahmen, ein Stück Vorhang (Schleier!) rechts im Bild, ornamentale Tapeten und Teppiche, barocker Kitsch – ›Türkenwohnung‹ eben. Aber wie das gerahmte Bild wird auch hier etwas zitiert, die Türkei als Zitat, nurmehr als Verweis. Das hier ist nicht die Türkei, es ist eine diasporische Anordnung mit allen Effekten von Verfestigung in der Tradierung und Selbstethnisierung und mit den Brüchen, den Aufbrüchen, die am Anfang der Migrationsgeschichten stehen, aber auch denen, die etwas nach oben holen, die die Familienkonstellation umkrempeln. Am Ende lauten die Familienkonstellationen dann auch wie folgt: Nicht Ahmed,104 dem dies von Mutter und Bruder unterstellt wird, ist Ursache des Zerfalls, es ist der Vater, Vasif, dessen schnauzbärtiges, gerahmtes Foto bei Kayankayas Besuchen in der Familienwohnung ihm in der Kadrierung immer wieder zur Seite gestellt wird. Ein Foto, das das klassische Bildgenre des schmückenden Atatürk-Fotos zitiert – wie überhaupt die kemalistische legacy als Zitat über den ganzen Film verteilt ist. Von Kayankayas Vornamen Kemal, den am Anfang jemand auf seinem Büroschild zu ›Kamel‹ entstellt hat, zu den falschen Schnäuzern, seinem ethnic drag. Der Vater ist hier ein Foto, ein Bruch, auch er nur Zitat, wie das Türkische. Den ersten Schnäuzer malt sich Kayankaya im Übrigen auf, als die Kinder sagen, er dürfe nicht mehr zu ihnen nach Hause, er sei kein echter Türke – und tatsächlich öffnet ihm diese Performance schließlich die Türe zu, natürlich, Emine Sevgi Özdamar (die ihm dann aber erklärt, dass er sich nicht nur an Oberflächen, am Visuellen orientieren soll). Dann sitzen sie sich gegenüber, der falsche Kemal und die Literatin in Kopftuchdrag, und er verfällt in ›Ausländerdeutsch‹, doppelt so laut und stetig sich wiederholend, dazwischen ›nix‹ und Zeichensprache. Als ob er wüsste, dass sie ihn versteht und sie durch Übertreibung zum Sprechen bringen möchte. Oder ist es die Frustration über die eigene (türkische) Sprachlosigkeit? Dass er »nur mit den Augen« sieht? Den zweiten Schnäuzer wird er sich zum Schluss ankleben. Dieses Haarteil ist das Gast und Abschiedsgeschenk der Familie, zusammen mit dem blauen Schal/Kopftuch, das Ilter gleich zu Anfang bei ihm zurücklässt und im Laufe des Films zweimal zurückweist, immer mit dem Kommentar: »Jetzt nicht«. Am Ende wird er also wieder an der Trinkbude stehen, Jägermeister kippen, der Fall gelöst, die Familie entschlüsselt, aber deswegen ist noch lange nichts anders (oder richtig). Aber er sieht immerhin »so viel besser aus«, wie die Budeninhaberin sagt, »irgendwie sexy!« Die aber dann, als er den Schnäuzer abnimmt (nach dem ›Kopftuch‹, Ilters blauen Schal) erstaunt meint, »sie hatten doch immer so einen dicken Schnurrbart – aber wissen Sie, ohne



104 Der, kurz nachdem ihn Kayankaya im Frankfurter Bahnhofsviertel tatsächlich gesehen hat, erstochen wird.

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Abb. 9 & 10 Ethnic Drag. Happy Birthday, Türke! (Doris Dörrie, D 1991)

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steht Ihnen so viel besser!« Regelmäßig wird, wie bereits erwähnt, auch das Foto des Vaters, Vasif, von der Kamera ins Zentrum des Bildes geholt oder visuell als Zitat an die Seite einer der Figuren gestellt: eine Chiffre, die kommentiert, aber dadurch selbst kommentiert wird. Es zeigt ja nicht mehr den Patriarchen, sondern das Bild eines Mannes, dessen junge, drogensüchtige Geliebte Hanna Hecht (Meret Becker) und dessen enorme Spielschulden (»Das Leben hier, das hat ihn überwältigt«) zur Auflösung der Familienstruktur geführt haben. Ahmed war derjenige, der das Geld für die Schulden mit seinem Drogenhandel verdiente. Und er wollte die drogensüchtige Schwester ins Sanatorium und die Familie an einen anderen Ort bringen. Dazu kommt es jedoch nicht, weil die Korruptionsmaschine, die eigentlichen Drahtzieher, Hauptkomissar Futt (Lambert Hamel) und sein Mitarbeiter Eiler (Ulrich Wesselmann), ihr eigenes Skript verwirklichen wollen und erst Vasif, dann die Zeugin und schließlich Ahmed umbringen. Am Ende ist es Futts ›ehebrechende‹ Frau (Doris Kunstmann), die ihren Mann verraten wird. Als Futt versucht, den Staatsanwalt, der mit Kayankaya und dem in Fell gehüllten Liebhaber Horst (Matthias Scheuring) in der Wohnung der Futts auf dem Sofa sitzt,105 davon zu überzeugen, dass ihm nichts anzulasten sei, liefert er dabei auch gleich seine Frau mit aus (hier: an die Lieblosigkeit). Auch hier eine desolate Familienanordnung, keine Überraschung, aber vielleicht ein notwendiges Gegengewicht gegen jede ethnisierende Interpretationstendenz. Am Ende tritt Frau Futt den Fernseher ein, in dessen Inneren Heroin und Goldbarren lagern: das im wörtlichen Sinne mediale Bild der Ausländerkriminalität, Goldkettchen und Drogen, auf dem Präsentierteller dargeboten.106 Happy Birthday, Türke! ist ein augenkritischer Film: Dem Sehsinn ist nicht zu trauen, das wird gleich zweimal ausbuchstabiert. Ilters Mutter kritisiert Kayankaya: »Sie sind nicht sehr klug. Sie sehen nur mit den Augen.« Später dann wird Futts Frau zu ihm sagen: »Man darf seinen Augen nicht trauen.« Im Hintergrund die Skyline von Frankfurt. Die Stadt, die in diesem Film als Serie von Nicht-Orten erscheint und damit als Atopie – nur noch als ›hier‹. Sogar die bäuerliche Landschaft (der Ort des Unfalls) ist nurmehr Durchgangsstadium und Endpunkt zugleich. Gleichzeitig entsteht ein filmischer Verweis: »Als er von seiner schäbigen Wohnung zu seinem schäbigen Büro rund um Frankfurt fährt, das ausschaut wie alle Großstädte mit Ring und Ausfallstraßen, hört man Musik von Peer Raben. Da denkt man natürlich unwillkürlich an





105 Die dritte Innenraum-Beziehungskonstellation des Films. Die erste ist in der Wohnung von Ilter und ihrer Familie angesiedelt, die zweite findet in der hessischen Provinz statt, bei dem väterlichen Freund Kayankayas, dem pensionierten Polizisten Löff (Stefan Wigger), dessen Frau (Helen Vita) den kleinbürgerlichen Orientalismus vor der Schrankwand tanzt, während Löff seine ›unschuldige‹ Schuld im Nationalsozialismus in einen Eierdieb-Schwank verpackt. 106 Eine andere gelungene mediale Kommentierung des Drogensujets findet sich in Kanak Attack . Als Ertan (Luk Piyes) nicht auf den großen Deal, den Süleyman Bey aus Istanbul (Hussi Kutlucan) anbietet, eingehen will, meint der: »Dann geh doch Filme gucken!«

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Rainer Werner Fassbinder, der in Frankfurt seine eigenwilligsten Filme dreht.«107 Man hört aber auch diegetisierte Schlager (erstaunliche Momente: Was macht man mit diesem seltsamen Musikgeschmack Kayankayas?), die sich mit Rabens Sound verbinden. Schlager, die immer auch die Träume von ›Amerika‹ als Chiffre für ebenjenes Anderswo, das wahre Mekka der Auswanderung, erklingen lassen, und sich so mit dem Zitat, das Kayankaya selbst ist, verbinden: eine deutsche Version von Sam Spade oder Philip Marlowe, trinkend, kettenrauchend, Zynismus verstreuend und Frauen verbrauchend. Ein einsamer Wolf, der Schläge einsteckt, es sogar darauf anzulegen scheint, denn eigentlich ertrinkt, nein: ertränkt er (in) zu viel Gefühl; das kann man nur fühlen im Schmerz, und ertragen nur, wenn man nichts mehr spürt. Doris Dörrie ist für ihre vorherigen Filme oftmals für deren Dialoglastigkeit (als ›unfilmisches Arbeiten‹) kritisiert worden, hier jedoch hat Sprache die Funktion eines »durchkonturierten Individualismus«,108 der verortet, aber nie verallgemeinert, wie Peter Buchka in seiner Rezension beim Kinostart in der Süddeutschen Zeitung schreibt: Entscheidend ist nämlich nicht, wie über den Dialog die Handlung vorangetrieben wird, sondern wie Sprache eingesetzt wird: als Klangfarbe, als Lokalkolorit, als Klassen und Rassendefinition [sic!]. Der visuellen Unbestimmtheit, die als Zustandsbeschreibung der Realität sehr wohl beabsichtigt ist und darum nicht einmal den Vorwurf der Künstlichkeit scheut, setzt Dörrie genüßlich einen durchkonturierten Individualismus der Sprache entgegen. Erst durch die Dialekte und die Sprechmelodien entfalten die Personen in ihrer verlotterten Unbehaustheit oder spießigen Selbstgefälligkeit die wahren Charaktereigenschaften von Einzelwesen.109

Als Ilter und Kayankaya sich in seinem (mittlerweile von den korrupten Polizisten durchsuchten und zerlegten) Büro treffen, und er versucht, sie zu mehr Preisgabe zu bewegen, weil es doch um sie ginge, da verneint sie, es gehe um die Familie. »Ich bitte Sie! Ich kann das Wort nicht mehr hören!«, lautet seine angewiderte Reaktion, er spuckt das Wort förmlich aus. Sie hakt ein: »Weil Sie keine Familie mehr haben?« Und tatsächlich, er öffnet sich – und symbolisch untermalend eine Schreibtischschublade, aus der er ein Bild seiner leiblichen Eltern hervorholt und zu erzählen beginnt, von ihnen und von seinem schwierigen Verhältnis zu seinen Pflegeeltern, die er enttäuscht hat, weil er Privatdetektiv und kein »guter deutscher Polizist« geworden sei. Sein Idealismus, die Hoffnung darauf, als Privatdetektiv wie ein Hausarzt für manche »einen Unterschied zu machen«, erklärt er schließlich selbst für gescheitert. Daraufhin sie: »Ich glaube, ich würde Sie gerne in den Arm nehmen. Meinen Sie, es wäre möglich?« Eine Berüh 107 Peter Buchka: »Man darf nicht glauben, was man sieht. Doris Dörries neuer Film ›Happy Birthday, Türke‹«, in: Süddeutsche Zeitung 7 (10. Januar 1992) (Pressearchiv der Bibliothek der Deutschen Kinemathek, Berlin). 108 Buchka, Man darf nicht glauben, o.S. 109 Buchka, Man darf nicht glauben, o.S.

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rung, die aus dem Konjunktiv geboren wird, eine Nähe im Abstand, eine gegenseitige Würdigung, die die formale Adressierung – »Sie« – vielleicht am besten ausdrückt. Sie wird ihn dann auch in den Arm nehmen, sie werden miteinander schlafen, und man ahnt, sich tatsächlich berühren, aber eine Romanze wird es nicht werden, das ist nicht der Ausdruck für die Berührung in dieser Begegnung. Und doch scheint am Ende die Möglichkeit einer solchen auf, nicht mit Ilter, sondern in der blumigen Lautverschiebung von der Topfpflanze (Margeriten) zur Frau in der Stripbar (Margarete, gespielt von Nina Petri). Erst als Kayankaya seine unterbrochene Familiengeschichte benennen kann, wird er die Lösung finden, wird die Familie fragil neu konfiguriert – nachdem sie gleich zu Anfang auf den Müllhaufen der Geschichte befördert wurde. Als Kayankaya nach einem Foto von Ahmed fragt, erhält er von Ilter deren Hochzeitsfoto. »Haben sie keines von ihrem Mann alleine?« Sie zerreißt daraufhin das Bild kurzerhand (die Nahaufnahme scheint anzuzeigen: Der Riss ist ohnehin schon da, er muss nur sichtbar werden), dann folgt ein Schnitt zur Müllverbrennungsanlage, wo Ahmed früher gearbeitet hat, Müll rieselt von der Decke und türmt sich zu einem Berg auf, ein Bild, das den Dreck zeigt, in dem Kayankaya wühlen und aufzuräumen versuchen wird, und der sich dennoch endlos weiter anhäuft. Taumelnd verschwimmen die Filmgenealogien in endlosen Kreisläufen, wie der Erzähler Ertan (Luk, eigentlich Haluk, Piyes) in Kanak Attack in der Eröffnungssequenz aus dem Off feststellt: »Und das ist unsere Geschichte, eine Geschichte ohne Anfang, ohne Ende, alles dreht sich im Kreis, alles kehrt wieder. Eigentlich keine Geschichte, sondern ein Zustand. Ein Ausnahmezustand.« Das Bild dazu liefert die letzte Einstellung von Aprilkinder, als Cem die Cousine (İdil Üner110) aus dem türkischen Kurdistan heiratet, obwohl er sich in Kim (Inga Busch) verliebt hat, die Frau, die im Bordell des Zeki-Müren-Verschnitt-Zuhälter-Schlepper-›Onkels‹ arbeitet. Der



110 Ihr Auftritt in Aprilkinder zählt neben Kurz und schmerzlos zu den ersten Filmrollen der Schauspielerin, Musikerin, Film und Theatermacherin. In Das Geheimnis von Rudolf Thome (D 1994/95) spielte Üner die Figur der Sarah – was einerseits belegt, dass auch schon vor Mehmet Kurtuluş‹ Rolle in Dörries Nackt eine Besetzung ohne Verweis auf die ›türkische Herkunft‹ einer Schauspieler_in möglich war (siehe dazu Kapitel 1, Anm. 183), andererseits aber noch andere Verwicklungen hinzufügt: Die Figur der Sarah in Thomes Film ist jüdisch. Sie ist eine der beiden weiblichen Hauptrollen in Das Geheimnis, die zweite, Lydia, wird von Adriana Altaras gespielt, die wiederum selbst jüdisch ist (aber ihre Filmrolle nicht). Altaras, die auch in vielen anderen Thome-Filmen zu sehen ist, wurde im ehemaligen Jugoslawien geboren und wuchs in Italien und der Schweiz auf. Ihre Eltern sind Thea und Jakob Altaras, die ehemals der jüdischen Gemeinde in Gießen vorstanden. Thea Altaras war Architektin und für ihre Forschungen zu jüdischen Bauwerken und jüdischem Leben in Hessen berühmt. Noch eine kleine Randnotiz: In Das Geheimnis hat Marquard Bohm – der in Angst essen Seele auf (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1973/74) ebenso als Schauspieler zu sehen war wie in den hier relevanten Filmen seines Bruders Hark Bohm, Tschetan, der Indianerjun-

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›Onkel‹, der Cem, seine Mutter und den kleinen Mahmoud nach Deutschland ›begleitet‹ hat (denn männliche Begleitung muss sein), mit anderen Worten, über die Grenze gebracht hat. Aprilkinder ist der zweite Film von Yavuz, nachdem er zunächst einen Dokumentarfilm über seinen Vater gedreht hatte: Mein Vater, der Gastarbeiter. Sein Vater, so Yavuz, habe ihn auch auf das Thema von Aprilkinder gebracht (ihm ist der Film gewidmet), erzählt habe er in dem Film aber die Träume seiner Mutter.111 Das Drehbuch schrieb Yavuz zusammen mit Britta Ohm und Henner Winckler. Yavuz’ Eltern lebten während der 16 Jahre, die sein Vater als sogenannter Gastarbeiter in Deutschland verbrachte, in getrennten Ländern, die Mutter im türkischen Kurdistan, wo sie den Hof der Familie alleine betrieb, der Vater in Deutschland. Sie sahen sich jedes Jahr nur für ein paar Wochen während der deutschen Sommerferien. Der Titel Aprilkinder basiert auf den Resultaten solcher oder ähnlicher Familienschicksale: Die Kinder solcher Familien wurden in den wenigen Sommerwochen gezeugt – und kamen dann im April zur Welt.112 Yavuz’ eigener Vater Cemal spielt in Aprilkinder auch den durchscheinend wirkenden Filmvater, den durch jahrelange schwere Arbeit kranken und verbrauchten Mann, der für (s)eine Generation steht, die als solche im Verschwinden begriffen ist, die Gastarbeitergeneration, und der zugleich das Oberhaupt einer Familie ist, die sich ebenfalls in Auflösung befindet. Erst am Ende scheint sich alles zu fügen, der vernünftige große Bruder wird heiraten. Und was sehen wir, nachdem der Brautschleier gelüftet wurde? Den ersten Tanz, der sich im Kreis dreht, die Familie, die den Kreis stellt, den Rahmen vorgibt, aber es dreht sich alles weiter, immer schneller, bis die Details sich auflösen, keine Gesichter, keine Körper, nur ein Kamerablick im Taumel der Geschwindigkeit der verschwimmenden Konturen. Diese mediale Auflösung der Familie stellt auch Anfang und Ende von Yavuz’ zweitem Spielfilm Kleine Freiheit,113 in dem Baran (Çağdaş Bozkurt), gerade 16 ge-

ge (BRD 1972) und N ordsee ist M ordsee (BRD 1976) sowie später in D ealer (Thomas Arslan, D 1998) – einen seiner seltsamsten Auftritte: als eine Art Jesusfigur sucht er Sarah in der Uckermark heim, wo er sie in die Geheimnisse der Liebe einweiht und außerdem weiß, wann die Spaghetti gar sind, die dann mit Butter und Käse gegessen werden – ein Verweis auf Jean-Marie Straub, wie Thome ausführt, »der war für uns Filmemacher wirklich so etwas wie der liebe Gott. Dieses Essen hat deshalb für mich, wenn man so will, einen religiösen Beigeschmack.« Thome zit. in Peter Zander: »Spaghetti vom Messias«, in: Berliner Zeitung (20.07.1995), http://www.berliner-zeitung.de/newsticker/rudolf-thome-und-sein-neuer-mysterioeser-liebesfilm—das-geheimnis--spaghetti-vom-messias,10917074,8977836.html; zuletzt abgerufen am 06.10.2014. Diese Randnotiz soll auch einen ersten Hinweis auf Kapitel 3 liefern: Religion als Kino-Substanz. 111 Siehe http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/specials/37604/index.html, zuletzt abgerufen 28.09.2008 und heute nicht mehr einsehbar. Siehe auch die Filmkritik zu Aprilkinder auf http://www.kino.de/kinofilm/aprilkinder/51329; zuletzt abgerufen am 06.10.2014. 112 Siehe dazu auch Kapitel 3.

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Abb. 11 Aprilkinder (Yüksel Yavuz, D 1998)

worden, seinen Aufenthaltsstatus verliert, aber im Land bleibt (ein klassischer Prozess der Illegalisierung114), sich seiner Umwelt durch seine kleine DV-Kamera vergewissert – während sich der Film seiner Figur über eine subjektive Kamera nähert, vor allem bei seinen Lieferfahrten auf dem Fahrrad. Der Film eröffnet mit den in Barans Kamera gespeicherten Bildern vom Großvater und der Tante oder Großmutter, die über den Garten, den Hund und andere Alltäglichkeiten sprechen, auf dem Dorf vermutlich, aber das spielt keine Rolle, denn »meine Zeit ist vorbei«, sagt der Dede (siehe Abb. 12). Und tatsächlich, am Ende wird Baran verhaftet, wie wir schlussendlich wissen. Die Vorspultaste, die die Anfangssequenz immer wieder durchbricht, wird von einem der Polizisten bedient. Baran wurde erwischt, als er versuchte, seinen Freund Chernor (Leroy Delmar) vor der Abschiebung zu bewahren. Die Einzigen, die sich diese persönlichen, nahen, vertrauten Familienbilder ansehen, sind also die beiden rabiaten



113 Auch dieses Drehbuch hat Yavuz mit Henner Winckler verfasst. 114 Helen Schwenken weist darauf hin, dass der Großteil der Illegalisierten in der EU die Grenze nicht illegal überschritten haben, sondern aus verschiedenen Gründen ihren Aufenthaltstitel verloren haben. Vgl. dies.: Rechtlos, aber nicht ohne Stimme. Politische Mobilisierungen um irregularre Migration in die Europäische Union, Bielefeld 2006, S. 13. Zum Begriff Illegalisierung (anstelle von Illegaler oder undokumentierter Migration) siehe ebd., sowie S. 19 und Willenbücher, Das Scharnier der Macht, S. 31ff.

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Abb. 12 Kleine Freiheit (Yüksel Yavuz, D 2003)

Hamburger Polizisten, die das Einfangen der beiden Jungs eher wie einen Sport betreiben, als klassisches Schema von Gut und Böse, Räuber und Gendarm – und wir sehen sie mit ihnen. Das Zusehen stellt die Aufgabe, diese Familienbilder zu ›lesen‹, sie zu verstehen und zu entschlüsseln. Vorspulend die Suche nach clues, nach Hinweisen oder nach Bedeutung? Am Ende also: Was die beiden Polizisten sehen, verstehen sie nicht (sprechen sie Türkisch? Eher nicht. Die deutschen Untertitel werden für uns, die wir der Staatsgewalt beim Sichten zusehen, ins Bild gesetzt), daher die Vorspultaste, die die Bilder verpixelt und damit zusätzlich unleserlich macht (siehe Abb. 1). Sicher auch, weil sie nach Beweisen oder Belegen für weitere Straftaten suchen. Statt illegalen Handlungen aber eben nur: eine im Kontext der Migrationsverweigerung (Nichteinwanderungsland) und Migrationsverhinderung unverständliche Familiengeschichte, die Familie eine undeutbare Chiffre von Herkunft und Genealogie.115 Die eigentliche Antriebskraft in Kleine Freiheit ist die der Zuneigung zwischen Baran und Chernor, dem gleichaltrigen, blondgefärbten Flüchtling aus Ghana,116 der



115 Die mediale Präsenz im Film ist auch ein typisches Zeichen für Migration. Wie in Kleine Freiheit sind die low-res-Videoaufnahmen auch in Ghetto Kids (Christian Wagner, D 2002) Zeichen einer Vergangenheit (daher auch die visuelle Differenz, zum eigentlichen Filmbild, die Markierung als home movie), die für heile Familie und Herkunft stehen.

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nach Australien will. Ein Reiseziel, das er mit Carlos in Lost Killers (Dito Tsintsadze, D 1999/2000) teilt (wo die Familie in Gestalt der untoten Mutter Brankos bei jedem Trinkspruch seines verhinderten Killerkollegen ins Zimmer gewankt kommt – gespielt vom Regisseur Dito Tsintsadze selbst). Kleine Freiheit erzählt so von den anderen sozialen Netzen, denjenigen der gewählten Familie, von den Ver-/Bindungen, die die Netzwerke der Migration spinnen. Encarnación Gutiérrez Rodríguez thematisiert diese Netzwerke mit Bezug auf den Begriff der »transculturation« als »minor intimacies« in »constrained spaces«.117 Die Überlebensnotwendigkeit, aber auch Menschlichkeit dieser minor intimacies von Freundschaften und anderen Allianzen werden zu einem Motor der Unausweichlichkeit, besonders dann, wenn es um die Regeln einer community geht, von deren Unterstützung der Vorgang der Illegalisierung besonders abhängig macht; eine Geschichte, die Yılmaz Arslans Film Brudermord/Fraticide erzählt. Brudermord/Fraticide ist Arslans dritter Film (nach Langer Gang (D 1992) und Yara) auch hier mit der Kamera von Jürgen Jürges und der Musik Rabih Abou-Khalils. Es ist die Geschichte zweier kurdischer Jungen, eines Kindes und eines jungen Erwachsenen, Teenager eigentlich, aber die Verantwortung eines Erwachsenen tragend, die in Hamburg in einem Heim für minderjährige Flüchtlinge aufeinandertreffen. Eigentlich, so Arslan, habe er einen Dokumentarfilm darüber machen wollen, was hierzulande an diesen Kindern verbrochen wird, aber dann aus Gründen des Schutzes und der Anonymisierung einen Spielfilm gemacht. Azad (Erdal Çelik) steht auf der Ladefläche des Lkws, der ihn auf den Weg nach Deutschland mitnimmt, eine Reise, die mit dem Geld seines Bruders Semo (Nurettin Çelik) bezahlt wurde, der es in Hamburg als Zuhälter verdient hat (was zu dem Zeitpunkt im Film noch nicht klar ist, den Filmfiguren nicht und auch nicht für das Publikum). Ein anderer junger Mann mit Stock, er scheint blind zu sein (die Augen sind abgewandt), eben ein Seher, fragt: »Darf ich dir einen Rat geben? Du wirst einen Bruder verlieren, aber dafür einen anderen finden! Komm bald in das Land deiner Lieben zurück.« – »Ja, ja«, antwortet Azad und wendet sich ab. Und so ist sie erzählt, die Geschichte. Und geht dennoch weiter: ein Schnitt, jetzt blickt die Kamera nicht mehr nach hinten, auf das, was zurückgelassen wird, sondern nach vorne, sie fährt durch einen Tunnel, das Grünbraun der weiten Landschaft wird zum Graugrün einer Fluchtpunktperspektive. Wieder die Stimme des Jungen, des Kommentators, der den Film eröffnet, und dessen weise Stimme (es ist die Seele des Großvaters, so beginnt sein voice-over, die alt sei und seine junge Seele sehen gelehrt



116 In beiden Fällen bestätigt der Hamburger Zungenschlag die Absurdität dieser Herkunftsverortung – eigentlich leben sie beide in Hamburg, sind hier zuhause, nur eben als Illegalisierte. 117 Encarnación Gutiérrez Rodríguez: »Transculturation in German and Spanish Migrant and Diasporic Cinema. On Constrained Spaces and Minor Intimacies in Princesses and A Little Bit of Freedom«, in: Daniela Berghahn/Claudia Sternberg (Hg.): European Cinema in Motion. Migrant and Diasporic Film in Contemporay Europe, Hampshire/New York 2010, S. 114–131. Ein weiteres Filmbeispiel ist hier Ayşe Polats En Garde.

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habe) dann verkörpert wird im kleinen Jungen Ibo (Xewat Geçtan), den Azad unter seine Fittiche nehmen wird. Er spricht: »Am Ende dieses Tunnels scheint das Licht des Geldes. Wenn du es erreichst, wirst du langsam sterben. Die Menschen sterben, selbst wenn ihre Körper weiterleben. Es gibt sogar Menschen, die das Wort ›Exil‹ flüstern.« Dann folgt eine Sequenz, in der Semo gemeinsam mit seiner Freundin eine Frau (eine Freundin der Freundin) einer Art Casting als Prostituierte unterzieht: »Im Exil spielt es keine Rolle, wie man seinen Verwandten hilft, im Heimatland zu überleben. Ob man totes Fleisch in Kebabs verkauft oder lebendiges Fleisch in einem Hotel. Hauptsache, es bringt Geld. Das haben die Europäer gelernt: Geld stinkt nicht«, so die Stimme des Jungen aus dem Off. Wieder ein Schnitt, zu einer weiteren Straße, diesmal der Blick von außen auf ein Auto, den BMW einer der beiden Söhne des ›türkischen Gemüsehändlers‹, der sterben wird, infolge einer Art sozialer Zwangsläufigkeit. Und nun folgt die paradigmatische Sequenz, erneut die Stimme des Jungen aus dem Off: »Und die Söhne dieser von Geld Träumenden tragen die Last eines schweren Schicksals. Ihre Seelen schwimmen im Niemandsland. Sie schwimmen oben oder ertrinken. Das Einzige, was ihnen Halt gibt, sind ihre Familien und ihre Freunde. Für sie würden sie alles opfern.« (Hervorh. N. H.) Und tatsächlich: Es sterben alle vier Brüder, Ahmet und Zeki, Azad und Semo, aus Loyalität, aus Zuneigung, aus Liebe und aus einer Zwangsläufigkeit heraus, die nicht einfach nur als Folge archaischer patriarchaler Regeln begriffen werden darf. Die Zwangsläufigkeiten ergeben sich vielmehr aus Abhängigkeiten und Unbedingtheiten, die die Situationen, in denen die Protagonisten stecken, erschaffen. Es ist aber kein sozialarbeiterischer Opferduktus, mit dem der Film Fatalität zeigt, im Gegenteil: Jeder der Betei­ ligten wird sich entscheiden, selbst entscheiden, und sogar der kleine Ibo ist nicht einfach Kind, sondern eine Persönlichkeit, die sich ihrer Umwelt stellt. Aber zwischen Nationalismus (dem türkischen, dem kurdischen und dem deutschen, der hier derjenige des europäischen Grenzregimes ist), dem de facto nicht mehr existenten Asylrecht (das Kinder nicht besser behandelt als Erwachsene, sie zu Erwachsenen macht vor dem Gesetz) und der andauernden Übersetzungsarbeit, die das Urteilsvermögen der Kinder und Jugendlichen verkompliziert; zwischen sozialen Netzen und der Enge des Familiengewebes, das von Eltern, die nicht sehen wollen oder können, geknüpft wird; zwischen all dem also wird die Idee, die die Geschichte des Erzählkinos zumindest im klassischen Hollywoodkino geprägt hat, nämlich die Idee der freien Entscheidung, der Handlungsfähigkeit des Einzelnen, als Phantasma vorgeführt. Hier aber ist es nicht die Gegenüberstellung der Handlungsfähigkeit des Westens, des Okzidents, von Europa,118 mit den sozialen, familiären, traditionellen Zwängen des Orients, des Anderen.



118 Auf Ibos Kapuzenpulli ist auf dem Rücken das Emblem eines Unternehmens gedruckt: ›Fus Europ‹, umgeben vom Kreis der EU-Sterne, weiß auf blauem Hintergrund. Eine zynische

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Hier wird nur das gezeigt, was man auch als Realität bezeichnen kann, als die Wahrheiten der Umstände; gezeigt werden aber auch die Grenzen, die nur allzu menschlich sind, und die Grenzen der Menschlichkeit, wie sie das Gesetz zieht.119 Und dennoch wird den Figuren agency, Handlungsspielraum, zugestanden. Die Geschichte also: Azads Bruder Semo greift ein, als Azad und der kleine Ibo von den Söhnen des Gemüsehändler-Paares (Necmettin Çobanoğlu und – Özay Fecht!) Ahmet (Oral Uyan) und Zeki (Bülent Büyükaşik) und deren geliebtem Pitbull (»eine Queen!«) bedrängt werden, sticht zu, mit einem Messer, der Hund beißt in die heraus­ quellenden Eingeweide Ahmets, er kennt ja tatsächlich nur den Geruch des Blutes, und Ahmet stirbt. Dem Vater, der vorher noch um Traditionsfolge und den Respekt seiner Söhne kämpfen musste – die beiden sind nicht gewillt, sich im Laden der Eltern abzurackern, das Selbständigkeitsprojekt der Eltern haben sie gegen das Geld der Straße eingetauscht –, erscheint das Familiengefüge erst durch Ahmets Tod zerrüttet, und er heißt Zekis Rachepläne gut. Als dieser Ibo vergewaltigt, um aus Azad herauszube­kommen, wo Semo ist, platzt die Blase des Familiengefüges. So wird Zeki, als Azad bei dessen Eltern um Vergebung für Ahmets Tod bittet und gleichzeitig von der Vergewaltigung berichtet, von diesen verstoßen. Auch Azad wird sein Glaube an die Rechtmäßigkeit des Brauchs schließlich zum Verhängnis. Er wird seinen eigenen Bruder der Polizei ausliefern, um Sühne zu leisten, den Kreislauf der Vergeltung zu beenden. Aber die Rache Zekis reicht bis ins Gefängnis, Semo wird erstochen, dessen Eingeweide lässt er herausschmuggeln, um sie an seinen Hund zu verfüttern, den er dann erschießt. Bei Semos Beisetzung verliert Azad die Fassung – wie zuvor Ibo, der auf keinen Fall will, dass jemand von der Vergewaltigung erfährt, und bei einer Auseinandersetzung mit einem anderen Zeitungsjungen haltlos auf diesen einprügelt, bahnen sich die unterdrückten Gefühle, die gesammelten Erfahrungen von Hilflosigkeit und Ungerechtigkeit ihren Weg in Gewaltausbrüche. Azad verlässt die Trauerfeier, um Zeki im Laden der Eltern mit seinem Rasiermesser die Kehle durchzuschneiden. Damit wird Zeki doch wieder zu einem Sohn, der gerächt werden muss; die Mutter



visuelle Fußnote, ein leeres Zeichen, das für ein Versprechen steht, das für Ibo und die anderen minderjährigen Migrant_innen nicht eingelöst wird. 119 Hannah Arendt hat in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft dargelegt, dass Menschenrechte nur dann überhaupt Bestand haben, wenn sie an eine Staatsangehörigkeit geknüpft sind, dass also der universelle Geltungsanspruch, der im Konzept der Menschenrechte formuliert wird, im Grunde eine Leerstelle darstellt. Sie führt dies insbesondere im Kapitel »Der Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte« (Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1995 [1951], S. 422–270) am Beispiel der Staatenlosigkeit (die im Grund eine Chiffre für die Entrechtung in der Migration darstellt, also für illegalisierte Migration) aus: »Der Verlust der Menschenrechte findet nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verlorengeht, sondern nur wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann […].« (S. 461–462).

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Abb. 13 Brudermord/Fratricide (Yılmaz Arslan, D/F/LUX 2004/05)

schickt dem fliehenden Azad Männer hinterher, die ihn mit einem Schuss verletzen. Am Ende sitzt Azad mit seiner neuen kleinen Wahlfamilie, Ibo und seiner Freundin Mirka (Xhiljona Ndoja), im Bus nach Albanien. Diesmal blickt die Kamera ihn an, setzt die zusammengewürfelte Gruppe als ›heilige‹ Familie auf der Rückbank ins Bild, die zurückgelegte Wegstrecke, der in Lichtpunkte sich auflösende Asphalt im Hintergrund. Azad stirbt, die Wunde geheim gehalten bis zum Schluss: rechts Ibo, links Mirka, jeweils (symbolisches Gewicht) auf seiner Schulter ruhend, dazwischen in einem Tuch: das abgetrennte mit zahlreichen Ringen geschmückte Ohr Zekis als Zeichen der erfolgten Blutrache. Auslandstournee wiederum erzählt vom Potential der Neukonfiguration von Genealogie und beinhaltet auch fundierte Kritik an Biologismus und Familienmythos, wobei der Weg, den der Film nachvollzieht, schmerzhaft bewusst macht, welche Macht Verwandtschaftslinien haben, und welche Kraft es kostet, von ihnen (oder den Vorstellungen davon) zu lassen. Ayşe Polat (Jg. 1970) drehte bereits als Teenagerin kurze Filme auf Super 8 und Video und erhielt 1991 den Förderpreis beim Bundeswettbewerb Jugend und Video für ihren Kurzfilm Entfremdet (D 1991), gefolgt von weiteren Kurzfilmen wie Fremdenacht (D 1992), E in F est für B eyhan (D 1994) und G räfin S ophia H atun (D 1997), dem bislang einzigen Kostüm bzw. Historienfilm in Deutschland, der sich mit Migration beschäftigt und damit in die Tiefenzeit der Geschichte einschreibt. 1999 realisiert sie ihren ersten langen Spielfilm Auslandstournee, der vom ZDF/Kleines Fernsehspiel koproduziert und wie Gräfin Sophia Hatun beim Internationalen Filmfestival in

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Ankara ausgezeichnet wurde. Nach Auslandstournee folgte 2004 En Garde, für den sie in Locarno den Silbernen Leoparden erhielt, sowie 2010 Luks Glück.120 In Auslandstournee begeben sich der schwule Sänger Zeki (eine wunderbare Referenz an Zeki Müren, gespielt von Hilmi Sözer) und die elfjährige Senay (Özlem Blume), die Tochter seiner ehemaligen Kollegen Çiçek und Mahmut, auf eine Reise durch Frankreich, Deutschland und die Türkei, auf der Suche nach Versatzstücken einer durchbrochenen Familiengeschichte, einer coming-of-age-Geschichte und dem coming to terms mit anderen als den Blutsbanden. Als Zeki in Istanbul vom Tod Mahmuts in Hamburg erfährt, reist er zu dessen Beerdigung, wo er nicht nur skeptische Nachbarinnen vorfindet, die mit Argusaugen in der Änderungsschneiderei über den rechten Gang der Dinge wachen, sondern auch einen abgeklärt-geschäftsmäßigen Freund (wie immer gleichzeitig desolat und präsent: Birol Ünel) und zudem die kleine Senay, die ihm unversehens anvertraut wird: ›Richtige‹ Familie gibt es nicht, und er gehört offensichtlich zu derjenigen ›alternativen‹ Familie, die sich damals in den 1980ern als Künstlergruppe nach Deutschland aufmachte. Zeki ist von dieser Zuständigkeit und der stummen Senay wenig entzückt, das Mädchen reagiert auf seine Kommandozeilen mit bockigem Trotz, er nimmt sie (und ihre beleuchteten Kakteen) aber dennoch mit, in Mahmuts altem Mercedes, und in diesem Zitat der alten Gastarbeiterroadtrips & routen begeben sie sich also auf die Suche nach ›Tante Çiçek‹ in Istanbul. Dazwischen liegen Stationen in Frankreich und erneut in Deutschland. Zeki tritt auf, und Senay wird ihre erste Periode haben. Sie begreift nicht, was mit ihr geschieht, und glaubt, todkrank zu sein. Zeki sucht also eine Frau (in Paris), die dem Kind die Geschichte des Frauwerdens erzählen möge: Erst versucht er es bei einer türkischen Französin im Fastfood-Joint, dann wird er bei einer deutschsprachigen Hure im Rotlichtviertel fündig. Diese präsentiert er Senay als Ärztin, und sie klärt das Kind auf, kurz und bündig; auch sie scheint, wie die Frau im Fastfood-Laden, das Gefühl zu haben, etwas Perverses zu tun, etwas, was sie eigentlich nicht will: nämlich zur Stimme der Überlieferung zu werden und dabei anzuerkennen, dass die Tradition zu ersetzen ist (die Eltern, die Mutter, stünden hier für den angebrachten, den korrekten Ort der Enunziation). Diese Unterscheidung zwischen Tradition und Überlieferung trifft der in Ägypten geborene, französische, jüdische Psychoanalytiker Jacques Hassoun (1953– 99) in seinem Buch Schmuggelpfade der Erinnerung.121 Darin entwickelt er eine Ethik der Überlieferung, die sich so zusammenfassen lässt: Die Dinge müssen zur Sprache gebracht werden. Überlieferung, das ist das, was »sowohl von der Vergangenheit und der Gegenwart Rechenschaft abgibt«,122 Tradition hingegen übe extreme Konformi



120 Wie so viele andere Filmemacher_innen der Gegenwart hat auch Polat ihre Praxis ›erweitert‹, in ihrem Fall begann sie auch im Theater zu arbeiten: 2004 nahm sie an dem Theater-/Performance-Projekt X-Wohnungen teil, 2006 inszeniert sie ihr erstes Theaterstück Otobüs, beides im Theater Hebbel am Ufer in Berlin. 121 Im Untertitel: »Muttersprache, Vaterwort und die Frage der kulturellen Überlieferung«.

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tät aus, den Zwang zur exakten Reproduktion, zur Wiederholung des Immergleichen, ist »im Grunde nichts anderes […] als Aufforderungen zum Verrat (trahison) an der Wahrheit des Subjekts.«123 Sigrid Weigel schreibt dazu in Genea-Logik: Das Phantom der Tradition ist also Produkt einer naturgeschichtlichen Variante des Erbes, einer genealogischen Vorstellung, in der Geschichte nach dem Modell familialer Erbschaft gedacht wird: ein Kontinuum von Geschlechtern, Völkern, Nationen. Dagegen werden mit den Praktiken des Überlieferns die Kulturtechniken von Weitergabe, Übersetzung, Kommentierung und Lektüre betont, die Tatsache, daß die Überlieferung zwischen Subjekten und Gruppen ihren Weg nimmt, der über verschiedene Sprachen, unterschiedliche Schriften, verstreute Archive und unterschiedliche Medien verläuft.124

In Istanbul angekommen, freundet sich Senay mit einem anderen Mädchen in ihrem Hotel an, ein Ort, der von den nächtlichen Schreien des Vaters des Mädchens heimgesucht wird, der an den traumatischen Folgen von Militärgewalt und Folter leidet. Es ist eine kurdische Familie, der das Hotel gehört, eine Geschichte, die eigentlich nicht ans Licht kommen soll, und die sich daher umso gewaltsamer ihren Weg nach draußen bahnt. In Istanbul schafft es Zeki, Çiçek, die ›Tante‹ (gespielt von Özay Fecht, eine Figur, die sie bereits in Yara spielt, sogar mit ähnlicher Frisur – eine Mutter, die die Tochter verleugnet) gegen alle Widerstände mit ihrer Tochter zu konfrontieren, und begreift schließlich, dass es zwei verschiedene Dinge sind, die biologische Mutter und ›Mutter‹ zu sein. Keine leichte Erkenntnis, bedeutet sie für Çiçek doch die gewaltsame (wenn auch gewollte) Trennung von einem Bild, einer Realität, und auch von zwei Menschen, Mahmut und Senay. Nachdem Zeki, Çiçek und Senay also festgestellt haben, dass die legalistischen Koordinaten nicht deckungsgleich sind mit denen ihrer drei Leben, werden Senay und Zeki nach Deutschland gehen und dort tatsächlich so etwas wie eine Familie bilden. Auslandstournee ist ein Roadmovie durch die Genealogie, es gibt auch eine Ankunft am Ende, aber der Weg ist für alle Beteiligten ein mühsamer, unbequemer und schmerzvoller.125



122 123 124 125

Hassoun, Schmuggelpfade, S. 14. Hassoun, Schmuggelpfade, S. 90. Weigel, Genea-Logik, S. 83; Hervorh. i.O. Daniela Berghahn setzt den Begriff der ›transgenerationalen Phantome‹ ein. Sie argumentiert für Lola und Bilidikid (Kutluğ Ataman, D 1997/98), dass darin homosexuelles Begehren »is rendered as a narrative about the transgenerational transmission of shameful and traumatic family secrets«, und sieht dies in dem Film kongenial verknüpft mit dem deutschen transgenerationalen Phantom des Nationalsozialismus: »Transgenerational phantoms do not only haunt individual and familial memory but also the collective memory of nations«, Daniela Berghahn: »Queering the family of nation: Reassessing fantasies of purity, celebrating hybridity in diasporic cinema«, in: Transnational Cinemas 2/2 (2011), S. 129–146, hier: S. 135–136.

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2.4 Innenansichten Nach Diana Fuss ist Raum (space) einer der »chief signifier of racial difference […]: under colonial rule, freedom of movement (psychical and social) becomes a white prerogative«126. Koloniale Herrschaft beschränkt die Freiheit der Bewegung: Resonanzen dieser Verordnungen finden sich in der heute für Asylbewerber gültigen Residenzpflicht, die ihren Bewegungsradius auf den jeweils zugewiesenen Landkreis einengt. Mit dieser räumlichen Begrenzung geht eine bestimmte Zeitlichkeit einher: »the static ontological space of the timeless ›primitive‹«.127 Zur Logik des Ausländerdiskurses gehört die Besitzstandbehauptung von Fortschritt, Emanzipation usw., ebenjener Versatzstücken einer »phallischen Demokratie«: Demokratie ist, anstatt gelebt zu werden, zum Besitzstand (des Westens) geronnen, wie Ghassan Hage argumentiert128. So werden demokratische Werte wie Meinungsfreiheit, freie demokratische Wahlen und demokratische Ordnung zum Symbol moralischer Überlegenheit, die man gegen den ›Anderen‹, den Barbaren, in Anschlag bringt. Um also die eigene demokratische, emanzipatorische, liberale Haltung zu behaupten, wird als Gegenstück die Folie der Differenz aufgespannt und die Bringschuld an die ›Anderen‹ delegiert, die Beweislast den ›Ausländern‹ aufgebürdet, die in sogenannten Gesinnungstests abgefragt und auch vor dem Horizont der Filmerzählung unter Beweis stellen müssen, dass sie nicht – so die Unterstellung – ›zurückgeblieben‹ sind. Die eigene Progressivität ist dagegen Voraussetzung. Einer der chief signifier rassisierter Differenz im Kontext des Denkens in ›Deutschen‹ und ›Ausländern‹ ist nun der eingesperrte Raum der Frau als Konsequenz und Ausdruck archaischer Sitten und patriarchaler Zustände.129 Ich habe ihn bereits mit 40 qm Deutschland thematisiert, dem vielbeachteten Erstlingsfilm von Tevfik Başer, einem Meister der metaphorisch-dichten Bildsprache, des sprachlosen Bedeutens, dessen Faible für die Schwere und das Pathos ihm allerdings auch regelmäßig zur Opferperspektive gerinnt. Er beginnt 40 qm Deutschland mit einer inventarisierenden



126 Diana Fuss: Identification Papers. Readings on Psychoanalysis, Sexuality, and Culture, New York/London 1995, S. 143. 127 Fuss, Identification Papers, S. 143. Ann Laura Stoler betont ebenfalls, »wie das Denken in Rassekategorien sich einerseits verschiedenen progressiven Projekten andient und andererseits die sozialen Taxonomien überformt, die definieren, wer davon ausgeschlossen wird.« (Ann Laura Stoler: »Foucaults ›Geschichte der Sexualität‹ und die koloniale Ordnung der Dinge«, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hg.) »Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts­und Kulturwissenschaften«, Frankfurt/M./New York 2002, S. 313–­334, hier S. 322. 128 Hage, Warring Societies, o.S. Siehe dazu auch Heidenreich/Karakayalı, Besitzstand. 129 Siehe dazu auch: Özgür Yaren: »Die Fremde: Det europæiske rum og indvandrerkvinder som ofre« [Die Fremde: European Space and Women Victims in Migrant Films], in: Kosmorama – Tidsskrift for filmkunst og filmkultur 247 (2011), S. 55–64.

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Abb. 14 Die Frau am Fenster. 40 qm Deutschland (Tevfik Başer, BRD 1986)

Kamerafahrt, eine Eröffnungssequenz, die er in Abschied vom falschen Paradies wiederholt. Die Kamera steckt das räumliche Universum ab, in dem die Geschichte des Films entfalten wird, erfasst Gegenstände, Details, Oberflächen, und scheint dabei doch nur auf ein Innen, eine Einschließung zuzusteuern: Am Ende dieser langen Fahrt, dieses Blicktunnels, werden die kleine Mietwohnung in Hamburg (40 qm Deutschland ) bzw. die Gefängniszelle im Frauengefängnis, ebenfalls in Hamburg (A bschied vom falschen P aradies ), zu sehen sein. Hier wird die Einstellung statisch. In Abschied vom falschen Paradies befreit sich eine (türkische) Frau durch Totschlag von ihrem gewalttätigen (türkischen) Ehemann, den sie sich nicht gewählt hat, und der sie offensichtlich ferngehalten hat von allem, denn sie hat zwar zwei Kinder, die bereits ein paar Jahre alt sind, aber sie spricht kein Deutsch und versteht auch zunächst keine der Vorgänge und Begegnungen im Gefängnis, wo die eigentliche Handlung des Film stattfindet. Hier, im Gefängnis, wird sie schließlich zu sich finden, zu einer Sicherheit, die in Rückblenden parallelisiert wird mit Bildern eines anderen homosozialen Raums, den der Frauengemeinschaft in ihrem Dorf (ähnlich verfährt auch Helma Sanders in Shirins Hochzeit). Sie lernt Deutsch, freundet sich an, flirtet sogar mit einem Mann aus dem benachbarten Männerknast. Sie entfaltet sich also in der Enge und Beschränkung der Zelle, symbolisiert auch dadurch, dass sie sich die Haare kürzer und kürzer schneidet, und am Ende wird sie vorzeitig entlassen, was aber auch heißt: Sie soll abgeschoben werden. Die doppelte Bestrafung durch das Ausländerge-

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setz greift auch hier, und dazu sind es immer die Frauen, die doppelt bezahlen, wie die Zellennachbarin Marianne (Brigitte Janner) feststellt, die ihrem schwerkranken Mann mit Arsen Sterbehilfe geleistet hatte und dafür mit dem Urteil lebenslänglich bestraft wurde. Başer geht es um Gefühle, darum, Bilder zu finden, die den Seelenzustand seiner Figuren ausdrücken. Die Kamera führt in beiden Filmen Izzet Akay, der zuvor regelmäßig mit dem verstorbenen Yılmaz Güney zusammengearbeitet hat.130 In beiden genannten Filmen stehen die Protagonistinnen, Turna und Elif (Zuhal Olcay), am Fenster, wird die eine sich erst nicht in den Hof trauen, später das Fenster im Gefängnis als Tor zu einer anderen Welt wahrnehmen; während die andere möchte, aber nicht kann, sich ebenfalls nicht traut und in der Isolationshaft, die der Ehemann verhängt hat, eingeht. Das Bild der Frau am Fenster, den Fensterblick, der eigentlich kein Blick durch das Fenster, sondern auf die Frau-am-Fenster ist, bezeichnet Jörg Schweinitz als prototypische Stereotypik,131 als eine Typisierung, die besonders melodramatisch ist, also dem Bildkosmos des Melodramas angehört. Es ist das »kinematographische Emblem für die ›Idee der Einsamkeit‹.«132 In Gesicht hinter der Scheibe bezeichnet er das Bild der Frau am Fenster als Fotogramm, das in Spielfilmen »überdurchschnittlich oft und ganz unabhängig vom Charakter des Werkes«133 gewählt wird. Was für dieses Bild spricht,





130 Neben Ayşe Polat sind auch Yüksel Yavuz, Tefvik Başer und Yılmaz Arslan (türkisch)kurdischer Herkunft. In einer Rezension auf Qantara.de zu Polats Film En Garde schreibt Ariana Mirza: »Der 1984 verstorbene Güney gilt als der ›Vater des kurdischen Films‹, seine Filme sind jedoch außerhalb der Türkei weitgehend unbekannt geblieben. ›Ein Volk, dessen Sprache so lange Zeit verboten war, hat sicher einen anderen Zugang zu Bildmethaphern‹, erklärt Ayşe Polat die Besonderheit ›kurdischer‹ Filme.« (Ariana Mirza: »Vorurteilsfreie Sicht über Grenzen hinweg. ›En garde‹ von Ayşe Polat«, in: Qantara.de (06.01.2005), http://de.qantara. de/inhalt/en-garde-von-ayse-polat-vorurteilsfreie-sicht-uber-grenzen-hinweg, zuletzt abgerufen am 10.10.2014) Die Bildgewalt Başers und Yılmaz Arslans, ihr filmisches Pathos, wäre tatsächlich lohnend mit der ›Erbschaft‹ Yılmaz Güneys in Verbindung zu bringen. Dies findet sich erstmalig bei Barbara Mennel, die 40 qm Deutschland ebenfalls neu betrachtet. Sie schreibt: »Thus, when Başer employs entrapment in a confined space as a result of migration in 40 m2 Germany and Farewell to False Paradise, he not only comments on the social reality of experience of Turkish migrants in Germany, but he also continues a Turkish filmic tradition steeped in left politics. In that context, the imprisonment not only critiques the Turkish patriarch but also situates the film in a filmic tradition of class analysis. This kind of discursive apparatus was neither visible for a West German audience at the time, nor has it been reflected by contemporary scholarship so far.« (Mennel, The Politics of Space, S. 49) Eine umfassendere Untersuchung der kurdischen Präsenz bzw. Bedeutung für das bislang nur als türkisch-deutsches Kino beschriebene Filmschaffen steht jedoch weiterhin aus. 131 Schweinitz, Film und Stereotyp, S. 224. 132 Schweinitz, Film und Stereotyp, S. 224. 133 Christine Noll Brinckmann: »Das Gesicht hinter der Scheibe«, in: Dies.: Die antropomorphe Kamera und andere Schriften zur filmischen Narration, Zürich 1997, S. 200–213, hier S. 201.

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so Christine Noll Brinckmann, ist seine unmittelbare Verständlichkeit, »es braucht keinen Kontext«, »es ruht in sich selbst wie ein Porträt«.134 Was sie ebenfalls gleich zu Anfang ihres Textes bemerkt, ist die Dopplung der Rahmung – es ist »doppelt kadriert sozusagen«.135 Es ist also die Dopplung einer Einstellung.136 Dass die Chiffre, die die andere Frau (am Fenster) im Rahmen des Ausländerdiskurses darstellt, für Vereinzelung steht, ist ebenfalls nicht zu übersehen: Weil sie abgeschnitten ist von jeder Sozialität, ist sie nurmehr Opfer.137 Ich möchte jetzt diese Vereinzelung auf seine Kapazität für die Darstellung des Individuellen, des Innenlebens und damit einer Komplexität von Figuren als Personen hin befragen: »Der Blick nach außen erweist sich zugleich als Blick nach innen.«138 Und ich möchte zeigen, wie eine solche Introspektion wiederum das Außen reflektiert.





134 Brinckmann, Das Gesicht, S. 201. 135 Brinckmann, Das Gesicht, S. 201. 136 In ihrer Filmtheorie. Zur Einführung führen Malte Hagener und Thomas Elsaesser eine Unterscheidung zwischen Fenster und Rahmen ein: »Zwar kommen beide Konzepte im Kompositum ›Fensterrahmen‹ zusammen, zugleich deuten die Metaphern jedoch auf unterschiedliche Qualitäten: Man schaut durch ein Fenster, aber man schaut auf einen Rahmen. (...) Das Fenster steht im Zeichen der Transparenz, während (...) der Rahmen – man denke an klassische Bilderrahmen, ihre Ornamentik und Opulenz, ihre Auffälligkeit und ihren ostentativen Zeigegestus – die Aufmerksamkeit auf den Artefaktstatus und den Bildträger als solchen [lenkt].« (Thomas Elsaesser/Malte Hagener: Filmtheorie. Zur Einführung, Hamburg 2007, S. 25, Hervorh. i.O.) Fenster und Rahmen (im Kino) vereint jedoch, dass sie die Wahrnehmung auf das Sehen ausrichten und dass sie denselben Zuschauertypus konstruieren: als körperlosen Betrachter, als idealtypisches Konstrukt der Theorie, der sich in klar definierter Relation zu Leinwand, zum Bild, zur Ganzheit des Werkes befindet (vgl. S. 26–27). Interessanterweise finden Rahmen und Fenster in Form dieses Zuschauertypus bei Elsaesser und Hagener am Ende doch unter dem Signum der Transparenz zusammen und zwar in dem ihm entsprechenden sogenannten klassischen Filmstil: »Dieser Filmstil hält den Zuschauer körperlich auf Distanz und hat es vor allem auf die Wirkung der Transparenz abgesehe[n].« (S. 29) Diese Wahrnehmung ›auf Abstand‹ verknüpfen die Autoren mit der Tradition und der Genealogie der Zentralperspektive in der Malerei seit der Renaissance. Siehe dazu auch Kapitel 3 insb. 3.7.2 An dieser Stelle noch ein Hinweis auf das, wie Ulrike Haß argumentiert, mit dieser ›Wahrnehmung auf Abstand‹ verknüpfte Prinzip der Frontalität, das in der Renaissance Verbreitung findet und das das »Gesicht-gegenüber« einführt, welches »mit dem Imperativ, es zu lesen und zu vereindeutigen« verschwistert sei (Ulrike Haß: Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, München 2005, S. 158). Transparenz, Distanz, Frontalität & Gesicht, Lesbarkeit und Identifizierung: die polizeilichen Aspekte des V/Erkennungsdienstes werden hier nicht nur aufgerufen, sondern explizit als Bestandteil des europäischen Wahrnehmungsund Repräsentationsraums begreifbar. 137 Vgl. dazu auch Göktürk, Turkish Women on German Streets. 138 Brinckmann, Das Gesicht, S. 204.

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Tevfik Başer gab als Beweggrund für 40 qm Deutschland an, die Situation der Menschen »von innen heraus«139 zeigen zu wollen. Dieses Innen setzt er in eins mit persönlicher Erfahrung, die zugleich verallgemeinerbar ist, er spricht ›für die Türken‹: »Wenn deutsche Regisseure Filme – auch sehr gute Filme – über Türken machen, dann erzählen sie immer Geschichten drumherum, mit ihren Gefühlen, aber nicht aus der Mitte des Erlebens der Betroffenen heraus.«140 Das Innen hingegen, um das es hier geht, ist das der Spezifik, des Genauen. Es geht um Gefühlsgeflechte und um Beziehungsgeflechte, die sich genau jenseits des pars pro toto, des Einstehens für die Gruppe ›der Türken‹ oder ›der türkischen Frauen‹, befinden. Gölge ist der eigentliche Anfangspunkt eines türkisch-deutschen Kinos, lange Zeit jedoch unbeachtet. Der Film ist Sema Poyraz’ Abschlussfilm an der Deutschen Film und Fernsehakademie Berlin (DFFB), wo sie 1973 zu studieren begann. Poyraz wurde 1950 geboren und emigrierte 1961 in die BRD. Sofoklis Adamidis, der an der Produktion mitwirkte, arbeitete in Griechenland zunächst als Seemann und studierte dann Bühnenkunst an der Kunstakademie Düsseldorf sowie Philosophie, Theaterwissenschaft und Philologie an der Universität Köln. Er begann im selben Jahr an der DFFB wie Poyraz. Gölge vermisst Räume: den Innenraum der Wohnung, in der der größte Teil des Films stattfindet, den Stadtraum, die Wege, die die Figuren in den Straßen zurück legen, und den Beziehungsraum von Familie, Schule, Freundschaften, Sexualität, Erwartungen, zwischen Deutschland und der Türkei als Realität, Reibungsund Projektionsflächen. Die 18-jährige Gölge (Semra Uysal) lebt mit ihrem Vater (Yüksel Topçugürler), der Mutter (Birgül Topçugürler) und ihrer jüngeren Schwester (Fatos Alkan) in einer Zweizimmerwohnung in einem Hinterhaus in Berlin. Gölge und ihre Schwester teilen sich das Wohn und Esszimmer als Schlafzimmer, die Eltern das andere Zimmer als Schlafzimmer. Im Wohnzimmer hat sich auch die Kamera positioniert, die die Auftritte und Abgänge der Figuren in den langen Sequenzen des Innen, des Kammerspielteils des Films, festhält. Gölge geht aufs Gymnasium und träumt davon, Schauspielerin zu werden. In der Enge der Wohnung schaffen sich alle Beteiligten mediale Raumtrennungen: Der Vater hört türkische Musik im WDR, die jüngere Tochter sieht ständig fern, und ab und an versenkt sich die ganze Familie in abendliche Abenteuer und Liebesfilme. Weil die Wohnung zu wenige Wände hat, um die Privat­sphären





139 Zit. in Heike Mundzeck: »40 m2 in Deutschland. Ein türkischer Regisseur dreht in H ­ amburg einen Genre-Film über eine Gastarbeiter-Ehe«, in: Frankfurter Rundschau (18.01.1986), http:// www.filmportal.de/node/32135/material/633332, zuletzt abgerufen am 10.10.2014. »Was die meisten Deutschen über die Türken wissen, ist nur das, was sie draußen sehen, auf der Straße, in den Parks (...) oder am Arbeitsplatz. Aber wie sieht es bei ihnen zu Hause aus? Ich habe mit gutem Willen einen ehrlichen Film gedreht, ein Fenster geöffnet zu den Wohnungen der Türken, die hier leben«, Baser im Presseheft auf der DVD von 40 qm Deutschland (Kinowelt Home Entertainment GmbH (Studiocanal GmbH), Arthaus, Filmverlag der Autoren Edition, 2009). 140 Mundczeck, 40 m2 Deutschland, o.S.

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zu trennen, wird dies im Film über den Ton ausgehandelt: Wir sehen den Fernseher nicht, wir hören ihn. Meistens gleichzeitig mit der Musik aus dem Radio. Der multime­ diale Raum, der sich da aufspannt, ist vor allem ein soundspace. Ebenjener Raum der Anwesenheit gerade auch von Migrant_innen, auf den Kodwo Eshun in seiner ­Lektüre des britischen Dokumentarfilms Listen To Britain (Humphrey Jennings/Stewart McAllister, GB 1942) hingewiesen hat141: Selbst wenn migrantische Anwesenheit vi­su­ell nicht stattfindet, hinterlässt sie auf der Tonebene ihre Spuren. Der Fernseher signi­ fiziert dabei auch weniger Entfremdung (die klassische Funktion), sondern ein verbindendes Moment (trotz des Konflikts mit Gölges Versuchen, in Ruhe Hausaufgaben zu machen und zu lernen). Diese auditive Anwesenheit verweist auch auf das Charakteristikum des soundspace: Seine Grenzen sind seine Reichweite, nicht die nationalen Grenzen. Gölges kleine Schwester sieht nachmittags deutsches Kinderfernsehen, ihr Vater hört nach Feierabend WDR und andere Quellen türkischer Musik142 (die Musik wird zum neuen Soundtrack für das deutsche TV-Programm), und abends sitzt die Familie zusammen aufgereiht vor dem Fernseher, von dessen Standort aus gefilmt. Sehen kann man das TV-Bild nie,143 umso erstaunlicher die starke Präsenz der Tonebene, die Anwesenheit der Erzählstimmen des Kinderfernsehens, die auch durch verschiedene Akzente markiert sind, die die Geschichte vom kleinen Fisch sprechen, der vom Peli­ kan gefangen wird und in die unbekannten Weiten des Ozeans entkommt. Gerade weil das Bild fehlt, bekommt der Ton mehr Raum, gewinnen die abendlichen Audio-Er­lebnisse von Küssen und Liebesschwüren und die latenten Sexualisierung des ganzen Szenarios, die unbequeme Einbettung in das Familienensemble, Gewicht. Nicole Wolf schreibt in Weg in Berlin – Aber echt! Dokumentarisch-fiktionale Randnotizen über den Film: »[D]as Aneinanderreiben unterschiedlicher Lebensvorstellungen wird […] eher fragmentarisch und singulär als definierend und kategorisch.«144 Gölge zeigt, wenn man so will, auch eine ›typische‹ Geschichte, die aber typisch ist für die 1970er Jahre überhaupt: Die erwachende Sexualität eines Mädchens, die Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern über ›vernünftige‹ Berufe, erwachendes Selbstbewusstsein der Frauen, die sich über Sex, Ehe, die Pille, Geschlechterverhältnisse und ihre Träume austauschen. Hier gehören zu den verschiedenen Konfliktlinien auch Diskussionen über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Deutschen und Türken.





141 Im Rahmen eines Seminars am Goldsmiths College London. Mein Dank an Nicole Wolf für diesen Hinweis. 142 Der hohe Musikanteil im Radio steht für den Versuch, die Sendungen auch im Sinne der guten Verhältnisse mit den Regierungen der ›Anwerbeländer‹ möglichst unpolitisch zu halten (hier auch stets die Sorge über den möglichen ›kommunistischen Einfluss‹, siehe dazu Sala, Gastarbeitersendungen, o.S. 143 Zweimal fällt der Blick doch auf den Fernseher, das Bild ist aber nur blau. Eine Art symbolischer Bluescreen. 144 Wolf, Weg in Berlin, S. 40.

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Gölge träumt sich weg, vor dem Spiegel, auf dem Bett ihrer Eltern. Sie träumt sich in den Wald, in eine Begegnung mit einem ›Traummann‹ (eben wörtlich), vor die Kamera, auf das Totenbett des inszenierten Selbstmordes, ein Traum, den wohl alle Jugendlichen (tag)träumen, denn dann werden sie schon sehen, die Eltern, was sie jetzt nicht wahrhaben wollen! Tränen werden fließen, wie sich eben auch das Pathos der Pubertät ergießt. Immer wieder bricht die Realität in Gölges Träume ein – sie wird ruppig unterbrochen von Aufforderungen zur Hausarbeit oder erschrickt vor den Bildern ihrer eigenen Träume. Ein Schal wird zur Schlange, der ›Traummann‹ kommt zu nahe. Gölge hat ihre eigenen Bedenken gegenüber Sex; es sind aber nicht die ihrer Eltern. Im Laufe des Films gibt es immer mehr ›Außen‹, dessen Räume, »die Schule, die Cafés, die Partys, die Freunde, […] Möglichkeiten [bieten], zu entfliehen.«145 Am Ende schleicht sich Gölge nachts aus der Wohnung, unvermittelt, und es bleibt offen, wohin der Weg geht. Nicole Wolf betrachtet Gölge im Zusammenhang mit der Befindlichkeit, dem Ort West-Berlin, einer Insel, und der Frage: Was passiert mit der Sehnsucht in West-Berlin? Wohin wendete sie sich in den 1980ern? Wohin flüchtete sie? Wo fand sie Orte? Entstanden tatsächlich besondere Fluchtlinien, die sich aus der historischen, politischen und kulturellen Situation, der Gleichzeitigkeit des Innen und Außen, des Offenen und Geschlossenen, der Möglichkeit und der Grenze ergaben? Führt die Konzentration auf die Inselstadt zu einem neuen Raum an Denkmöglichkeiten, an Fluchtoptionen, des Sich-Entziehens aus dem an-sich? Oder gibt es erträumte und gefilmte Wirklichkeitsvorstellungen, die der Stadt angedichtet werden? Und dann doch wahr werden?146

Interessant ist hier vielleicht, eine Besonderheit anzumerken, auf die auch in einer der Schlüsselszenen in Drachenfutter verwiesen wird: Bis zur Einführung einer Visumspflicht 1986 bestand nämlich ein ›Schlupfloch‹ für die Einreise von Migrant_ innen in die Bundesrepublik via Ost-Berlin. In Drachenfutter übernimmt Shezad (Bashker) die ›Einschleusung‹ einer neuen Gruppe von Flüchtlingen aus Pakistan für den korrupten Hausmeister des Flüchtlingswohnheims, Herder (Wolf-Dietrich Sprenger), über den S-Bahnhof Friedrichstraße. Die Szene zitiert auch die Durchlässigkeit der Grenze von West-Berlin nach Ost-Berlin (mithilfe sogenannter Tagesvisa), die auch für Migrant_innen bestand, und die die besonderen Geschichten türkisch-deutscher Ostberliner_innen zeitigte.147

145 Wolf, Weg in Berlin, S. 40. 146 Wolf, Weg in Berlin, S. 42. 147 Diese spezifische Durchlässigkeit der Grenze ermöglichte zumindest für einige Migranten die Option eines klassischen Doppellebens mit einer Geliebten in Ost-Berlin (und natürlich auch andere Konstellationen, verschiedenster sexueller und geschlechtlicher Varianz – hier geht es mir jedoch um heterosexuelle Beziehungen, aus denen in der DDR geborene Kinder

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Das Innen zu betrachten, muss nicht, wie Başer argumentiert, zum Allgemeinen führen, es kann auch das Innen für das Außen stehen lassen, ohne zu definieren oder zu kategorisieren. Die Einengungen, die das Inseldasein West-Berlins kennzeichnen, und die Träume von einem anderen Leben spiegeln sich in den von Wolf untersuchten (Dokumentar)Filmen; also Filmen, die sich dokumentarischer Strategien bedienen, auch wenn sie ›erzählen‹, oder die fiktionalisieren, obwohl sie ›dokumentieren‹. Der Aspekt des ›authentischen‹, des Realen, wird im nächsten Kapitel noch genauer zur Sprache kommen, als problematische Erwartungshaltung und als Investiertheit in eine Bilderpolitik der Transparenz. Hier stellt sie jedoch insofern auch eine Möglichkeit dar, als ein Film wie Gölge mit seinem, wenn auch als Kammerspiel angelegten, sozialen Realismus, dokumentarische Strategien einsetzt, und zwar solche »des detektivischen Blicks in Innenräume.«148 Damit können sie zugleich »ein Hinführen zu den oft extrem prekären Lebensrealitäten der Stadt« sein und genauso »ein ›Ganzweitwegdenken‹«.149 Das genaue Hinsehen auf Gölges Träume, der Raum, der ihnen gegeben wird, bewirkt so »einen Entzug des Repräsentativen und führt zur Konfrontation mit stereotypen Vorstellungen der ›Anderen‹.«150 Nicht die Repräsentation wird also gesucht, sondern genaues Hinsehen, um dann doch damit ›weg’zusehen, wie Wolf das formuliert, »vielleicht sogar ins Weite blicken zu können.«151 Ein Kennzeichen des Kammerspiels ist die konsequente Einheit des Ortes, die unter anderem als Kommentar auf ›das Rätsel der Ankunft‹152 verstanden werden kann. Sie signifiziert aber auch eine Statik, welche wiederum die (west-)deutsche Nachkriegsgesellschaft beschreibt und ihre Unfähigkeit, sich als Einwanderungsgesellschaft zu



hervorgehen konnten). Durch die zeitliche Begrenzung – die Tagesvisa gaben die Dauer vor – bestand auch nicht die Gefahr, dass die Geliebten im Osten zeitlich größere Ansprüche stellen konnten. Zu den verschiedenen Arrangements gehörten natürlich auch Geschenke aus West-Berlin. Eine immer noch kaum beachtete Gemengelage, auf deren Spuren sich jetzt ein Dokumentarfilmprojekt von Galip İyitanır begeben will. Im November 2007 veröffentlichte die Berliner Zeitung eine Meldung, in der der Kölner Filmemacher nach »Ost-Berlinern mit türkischen Vätern« suchte, die bereit seien, ihre Geschichte zu erzählen (https://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2007/1122/berlin/0108/index.html; heute nicht mehr einsehbar). Yadé Karas‹ Erstlingsroman Selam Berlin (Zürich 2003) erzählt die Geschichte solch eines ›türkischen‹ Ostberliners – der Roman wurde wegen seines Sujets viel beachtet, war aber leider sehr schlecht lektoriert. Es gab natürlich auch weibliche (türkische) Ost-West-Pendlerinnen. Berühmtes Beispiel: Emine Sevgi Özdamar, die an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Theater machte, aber in West-Berlin wohnte. 148 Wolf, Weg in Berlin, S. 42. 149 Wolf, Weg in Berlin, S. 42. 150 Wolf, Weg in Berlin, S. 42. 151 Wolf, Weg in Berlin, S. 47. 152 Manuela Bojadžijev, Serhat Karakayalı, Vassilis Tsianos: »Das Rätsel der Ankunft. Von Lagern und Gespenstern. Arbeit und Migration.«, in: Kurswechsel 3 (2003), S. 39–52.

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begreifen, wie beispielsweise in Katzelmacher (R. W. Fassbinder, BRD 1969), den Thomas Elsaesser als »Studie einer Gemeinschaft« bezeichnet.153 Hier wird die Statik des Ortes noch zusätzlich durch die Statik der Kamera verstärkt. Die Figuren, die noch relativ jungen Bewohner_innen eines Mietshauses in München, hängen auf der Straße, dem Hof rum, in der Gastwirtschaft, in ihren Wohnungen. Einzeln, zu zweit, in Gruppen, manchmal in zwei Lager geteilt, immer jedoch von Unbeweglichkeit gekennzeichnet und in genau austarierten Tableaus in verschiedenen Beziehungsgeflechten angeordnet. In Gölge gibt es ähnliche, tableauhafte Momente, insbesondere, wenn ›Familienaufstellungen‹ gezeigt werden, im Wohnzimmer oder auch als zu viert die Straße entlanggehende Reihung. In Katzelmacher nun ist alles Innenraum. Selbst als sich Peter (Peter Moland) von einer wohlhabenden jungen Frau in ihrem Auto ins Grüne mitnehmen lässt, sitzen die beiden nur im Auto, denn sie mag zwar die Städte nicht, aber was sie sucht, sind Straßen, nicht die Natur: »Ich fahre Auto. […] Die Autobahn. Das Leben. Da lernt man sich kennen. Da denkt es in einem.« Die Gruppe junger Erwachsener, die den Kosmos des Münchner Hinterhofs bevölkert, sich langweilt, demütigt, sich finanziell und sexuell ausbeutet (ausbeuten lässt) und gegenseitig beim Zusehen und ›Ausschauen‹ in den Blick nimmt (also beim Ausschauhalten und beim jeweiligen Aussehen), stellt eine homogene Anordnung dar. Sie bewegen sich weder vorwärts noch rückwärts, die immer wieder ausbrechende Brutalität wird weggesteckt, fast ignoriert. Lediglich die Hoffnung auf Veränderung besteht. Hoffnung auf die Dauer der Liebe, das Geld, auf das, was man noch machen wird, ein anderes Leben. Bis Jorgos erscheint, der »Griech‹ aus Griechenland«, der als Ausländer, Gastarbeiter, Fremdarbeiter und Italiener bezeichnet wird. Er taucht in einer der frontal von der Kamera aufgezeichneten Gruppenposen auf, jenem Hinterhofabhängen, das Diedrich Diederichsen mit Bandfotos der späten 1960er Jahre vergleicht.154 Als Einziger im ganzen Film von hinten aufgenommen, wird Jorgos zugleich umgehend visuell seziert. Er steht zwar als Betrachter im Bild, wird aber stattdessen zur Projektionsfläche, den die Gruppe zu identifizieren versucht: »Schau ihn an, wie der schaut! Ein Ausländer!« (Denn, wie immer wieder von einer der Figuren geäußert wird: »Wie einer schaut, das hat einen Grund.«) Weil Jorgos »nix« Deutsch spricht, zeigt die Szene in ihrer Kompaktheit unmittelbar die Logik dessen, was ich mit dem Ausländerdiskurs und seinen V/Erkennungsdiensten beschrieben habe. Später wird Jorgos verprügelt. Alle aus der Gruppe scheinen glücklich, denn: »Eine Rache muss sein.« Als würden Fassbinders Figuren versuchen, Pasolinis Boten



153 Thomas Elsaesser: Der Neue Deutsche Film. Von den Anfängen bis zu den neunziger Jahren, München 1994, S. 195. 154 Vgl. Diedrich Diederichsen: Verfolger, Opfer und schöne Seelen: Fassbinders Gastarbeiter und ihre Deutschen, in: Kölnischer Kunstverein et al (Hg.): Projekt Migration, Ausstellungskatalog, Köln 2005, S. 598–­629, hier S. 599. 155 Diederichsen, Verfolger, S. 600.

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in Teorema (I 1968) wieder zu finden: Sex (sie wollen alle mit ihm ins Bett) und hier auch noch Gewalt, sollen eine für das Gruppengefüge kathartische Situation erzeugen. Aber hier wird der Racheakt nur zum Aktionismus. Aktivität kann sich nicht entfalten, die Gruppe begreift auch durch Jorgos nicht, um welche Leerstelle sie sich anordnet, und wie diese möglicherweise zu füllen wäre. Die Nicht-Thematisierung von historischer Schuld und Verantwortung, das unhinterfragte Selbstverständnis einer in sich geschlossenen »völkisch-volksgemeinschaftlichen Nation«155 führt zur Implosion, für die die Gewaltförmigkeit aller Beziehungen in der Gruppe steht: »Die Deutschen können nicht unter sich sein, sie können aber auch nicht mit anderen sein.«156 Sowohl als Opfer von Ausbeutung und Rassismus als auch als exotische Projektionsfläche (seine Heimat wird zum »Paradies«) signifiziert Jorgos diese Leerstelle. Nicht mit ihm, über ihn wird gesprochen. So zum Beispiel darüber, dass das jetzt nicht mehr Fremdarbeiter heißt, »das ist ein Gastarbeiter!«, wie Elisabeth verkündet, die ihm zu horrenden Preisen ein Zimmer untervermietet. Dass das jetzt anders heißt, bedeutet eben nicht, wie Diederichsen überzeugend argumentiert, dass sich an der Substanz etwas geändert hätte: nicht die Einstellung, sondern das strategische Kalkül ist nun ein anderes.157 Statt Roadmovies also room movies, wie ein Rezensent von Berlin in Berlin in der Stuttgarter Zeitung schreibt: Hier findet das wahre Abenteuer statt.158 Auch Berlin in B erlin (zu dem ich erneut in Kapitel 3 kommen werde), eine türkisch-deutsche Koproduktion von Sinan Çetin, lässt den entscheidenden Teil der Handlung als Kammerspiel ablaufen, was hier wörtlich zu verstehen ist: Aus 40 m² werden 4 m². Eine Umkehrgeschichte – Asyl im eigenen Land, aber in einem fremden Territorium. Der Protagonist Thomas (Armin Block) gerät nach einer chaotischen Verfolgungsjagd ausgerechnet in die Wohnung der Familie, deren Söhne ihn aus Rache für den von ihm verursachten Tod des älteren Bruders umbringen wollen. Es stellt sich heraus, dass er nur dort den Schutz der Gastfreundschaft genießt, über deren Einhaltung die Großmutter als Matriarchin wacht. Die Wohnung zu verlassen, bedeutet für Thomas den Tod – und so bleibt er. In der Wohnung entspannt sich ein immer aufgeladeneres Beziehungsgeflecht, in dem Thomas zum ungläubigen Thomas wird (der ›begreifen‹ muss, um ›(ein)sehen‹ zu können), eine Dreiecksgeschichte von Liebe und Eifersucht bildet sich, und die Figuren toben sich immer wieder vor/in der Fischaugenlinse der Kamera aus, als ob sie durch sie hindurch woandershin gelangen wollen, verzerrt von lauter Gefühlen, die in der Kreuzberger Mietwohnung zu implodieren drohen. Am Ende verlassen Thomas und die Ehefrau des Verstorbenen, Dilber (Hülya Avşar), ge-



156 Diederichsen, Verfolger, S. 600. 157 Vgl. Diederichsen, Verfolger, S. 600–601. 158 Thomas Klingenmaier (tkl): »Hinter Schleiern«: in: Stuttgarter Zeitung 91, (21.April 1994) (Pressearchiv der Bibliothek der Deutschen Kinemathek).

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meinsam die Wohnung. Aus dem Krimi wurde erst ein Kammerspiel und am Ende ein Melodrama. Thomas und Dilber gehen, Koffer in der Hand, gemeinsam die Straße entlang, eine letzte verzweifelte Begegnung mit dem Widersacher in Liebesdingen, Mürtüz (Cem Özer), dem Bruder des Toten, und dann werden wir in ein zweifelhaftes Happy End entlassen, das natürlich mehr Fragen aufwirft, als es beantwortet: Die beiden verstehen sich nicht, es gibt keine gemeinsame Sprache, von Liebesgeschichte kann keine Rede sein, die ist bereits anderswo verortet, nämlich zwischen Dilber und ihrem verstorbenen Mann, und sie scheint Thomas weder zu vertrauen noch ihn zu mögen – also: Was macht diese letzte Einstellung da eigentlich? Die Ambivalenz des Melodramas ist vor allem der Ansatzpunkt für die feministischen Filmwissenschaften gewesen, durch den dieser filmische Modus aus der Schublade eines auf die Tränendrüsen drückenden Subgenres der women’s films herausgeholt wurde.159 Das Melodrama erfuhr so als produktive, weil ambivalente filmische Form (des Ausdrucks, des Erzählens, des Ins-Bild-Setzens) eine Neubewertung – ebenjene Ambivalenz, die ein Schlussbild wie in Berlin in Berlin überdeterminiert. Seither hat das Thema des Melodramas die Film und Kulturwissenschaften nicht mehr verlassen. 2004 hat Hermann Kappelhoff eine Studie vorgelegt, die das Melodrama zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung der Matrix der Gefühle im Kino gewählt hat.160 Linda Williams analysiert in Playing the Race Card161 den Modus des Melodramas als zentrale Funktion in den Aushandlungsprozessen von race in den USA. Das Melodrama, oder auch das Melodramatische, ist in der Lage, von Medium zu Medium, durch Genres und Zeiten zu ›springen‹. Nicht nur im Kino spielt es eine Rolle, auch im Gerichtssaal, im Fernsehen, von der Sportberichterstattung über die Nachrichtensendung zu Soaps und Talkshows, auf der Bühne, in der Literatur. Das Melodrama ist ein »broadly important cultural mode«.162 Williams’ Ansatz ist nun insofern besonders, als sie von einem weitreichenden US-amerikanischen Modus des Melodramatischen ausgeht, der nicht nur den Bereich tearjerker oder women’s films oder überhaupt das Kino adressiert, sondern eine Allpräsenz im Gesellschaftlichen zeigt, die es zu analysieren gilt, will man die Beständigkeit rassistischer Stereotype und Wahrnehmungsstrukturen begreifen: To understand racial melodrama is to see why repeated calls for more accurate, or more ›realistic‹, representations of racially marked characters are powerless to overturn deeply em3edded racial stereotypes that seem hopelessly outmoded yet live on in the culture.162



159 Vgl. vor allem Christine Gledhill (Hg.): Home is Where the Heart Is: Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London 1987. 160 Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle: Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004. 161 Linda Williams: Playing the Race Card. Melodramas of Black and White from Uncle Tom to O. J. Simpson, Princeton/NJ 2001.

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Der kulturelle Modus des Melodramatischen ist aber nicht nur ein US-amerikanisches Phänomen, er zeitig auch andernorts Wirkungen, so z.B. im zunehmenden Rekurs auf einen Opferdiskurs, der auch im Bereich Migration (jedenfalls in der EU) dominant ist, wenn es um das Einfordern (oder Zugestehen) von Rechten geht: The study of melodrama has the potential to explain why it is that in a democracy ruled by rights, we do not gain the moral upper hand by saying simply that rights have been infringed. We say, instead, much more powerfully: ›I have been victimized; I have suffered, therefore give me my rights.‹164

Die Figuren des filmischen Melodramas leiden im Allgemeinen an ihrer emotionalen Beengtheit, die den Verhältnissen, den Regeln und Codes bestimmter Moralvorstellungen entspringt, die sie zu leidender Passivität verurteilt oder zu großen Gesten anleitet, die aber immer auch solche des Leidens sind. Die Figuren arbeiten sich an ihnen ab, sie scheitern an ihnen, auch wenn sie sich selbst darin eingerichtet haben. Die Akteure eines Melodramas sind Opfer, deren Leiden unser Mitleiden erzeugt und gegebenenfalls unsere Tränen fließen lassen. Die Moralvorstellungen finden auch in den Räumen ihren Ausdruck, besonders in den »Innenräumen«, zu denen R. W. Fassbinder im Hinblick auf deren Präsenz in seinen Filmen in einem Interview gesagt hat: Also, ich würde sagen, daß die Räume, die ich in den Filmen herstelle, daß das die Räume sind, die irgendwas mit dem Besitz zu tun haben, die auf ganz bestimmte Leute ausgerichtet sind, in denen auch nur ganz bestimmte Leute sich wohlfühlen und leben können, die auch was mit der Engheit der Phantasie dieser Menschen, um die es da geht, zu tun haben. […] Wenn ich Geschichten von Menschen erzähle, wo ich von vorneherein mal sagen will, daß ich traurig darüber bin, daß sie auf diese Art und Weise leben müssen, auf die sie leben, muß ich das irgendwie zeigen. Ich zeige es anhand von Räumen […].165

Viele Filme, die ich im Laufe dieser Arbeit näher betrachte (oder zumindest erwähne), sind Melodramen oder haben eine stark melodramatische Akzentuierung. Das Melodrama kann vielleicht als das genealogische Genre schlechthin bezeichnet werden. Es ist derjenige kulturelle Modus, über den das Intrinsische verhandelt wird: der Innenraum, die Familie, die Codes der sozialen Zugehörigkeit und die dazugehörigen inneren Widersprüche, die an die Oberfläche geholt, ästhetisch und formal sichtbar gemacht werden: »Melodrama can be seen as having a ideological function in wor-



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Williams, Playing, S. 17. Williams, Playing, S. 9. Williams, Playing, S. 9. Fassbinder in einem Interview mit Peter W. Jansen; Peter W. Jansen: »Interview 2«, in: Peter

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king certain contradictions through to the surface and re-presenting them in an aesthetic form«,166 so Laura Mulvey. In der mise-en-scène des Melodramas werden so die psychischen und sozialen Dispositionen ausgedrückt, das heißt deren Konflikthaftigkeit und Widersprüchlichkeit. Wie Mulvey argumentiert, ist das Melodrama einer der »outlets« für die »inconsistencies« von Ideologien,167 besonders der Ideologien von sexueller und geschlechtlicher Differenz. Mulveys Text verweist darauf, dass der melodramatische Fokus auf die Familie, auf Sex und vor allem Geschlecht (auch im Sinne von Genealogie) zwar einerseits lange der Grund dafür war, dass diese (filmische) Form nicht als progressiv wahrgenommen wurde, dass aber gerade der Blick auf die darin enthaltenen Widersprüche das Melodrama »in the context of wider problems«168 platziere. Dieser Kontext »of wider problems«, diese räumliche Erweiterung, wird für mich durch die Bewegungen der Migration vollzogen. Melodrama als Form des Ausdrucks, die inhärente Widersprüche sichtbar macht, drängt sich also für die Verhandlungen der Parameter des deutschen Ausländerdiskurses geradezu auf. Die bevorzugten Themenfelder des Melodramas sind die Familie, Sex, Geschlecht und Genealogie; es sind die Aushandlungsorte von Migrationsgeschichten, Geschichten von Aufbruch und Ankunft. Kurz gesagt: Melodrama ist die filmische Form des Durcharbeitens. Dies auch, und hier zitiere ich wieder Mulvey, weil »in the absence of any coherent culture of opression, the simple fact of recognition […] aesthetic importance«169 besitzt. Mit anderen Worten: Gerade die auf das Subkutane verlegte, weil de-thematisierte Präsenz von Rassismus in Deutschland, das Unausgesprochene, findet eine Ausdrucksmöglichkeit im Melodrama. So sind viele der hier behandelten Filme selbst dann, wenn sie beispielsweise als Komödien angelegt sind, melodramatisch.170 Berlin in Berlin inszeniert, wie bereits erwähnt, eine Umkehrgeschichte. Er kehrt die Logik des Einschlusses (der ›Migrantin‹) um und setzt den ›Deutschen‹ an ihre



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W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.): Rainer Werner Fassbinder, Frankfurt/M. 1992, S. 95–­118, hier S. 103f. Laura Mulvey: »Notes on Sirk und Melodrama«, in Christine Gledhill (Hg.) Home is Where the Heart Is. Studies in Melodrama and the Woman’s Film, London 1987, S. 75­82, hier S. 79. Mulvey, Notes, S. 75. Mulvey, Notes, S. 75. Mulvey, Notes, S. 75. In Yılmaz Arslans Film Langer Gang thematisiert die Figur von Juana (Juana Volkers), die Tochter eines afro-amerikanischen G.I.s, der in Süddeutschland stationiert ist, die Unterschiede zwischen dem expressiven, ›offenen‹ Rassismus in den USA und dem Rassismus in Deutschland, den sie als »Faschismus im Rücken« empfindet. In seiner Studie des zeitgenössischen italienischen Kinos spricht Jörg Metelmann ebenfalls von einer ›Melodramatisierung von Migration‹, vgl. Jörg Metelmann: The Cinemas of Italian Migration. European and Transatlantic Narrative, Newcastle 2013. Siehe auch Catherine L. Benamou: »Televisual Melodrama in an Era of Transnational Migration. Exporting the Folkloric Nation, Harvesting the Melancholic Sublime«, in: Darlene Joy Sadlier (Hg.): Latin American Melodrama: Passion, Pathos, and Entertainment, Illinois 2009, S. 139–172.

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Stelle. Es ist aber auch in anderer Hinsicht ein ›Umkehrfilm‹ oder vielmehr ein Film, der doppelt funktioniert: in der türkischen Fassung als Spektakel um die Hauptdarstellerin Hülya Avşar, die in einer skandalträchtigen Masturbationsszene zu sehen ist,171 und als klassische Dreiecks-Liebesgeschichte und Meldodrama. In der deutschen Fassung dagegen vor allem als klassische ›Ausländerdiskursgeschichte‹ – statt Liebesdrama also ein ›ethnisches‹ Drama. Diese Zweiseitigkeit funktioniert auch über die visuelle Ähnlichkeit der beiden Liebeskontrahenten, Thomas und Mürtüz, beide dunkelhaarig, beide etwa gleich groß und bärtig. Eine Ähnlichkeit, die auch in anderen Kontexten dazu führt, dass die rassisierende Komponente, die Positionierung der Figuren anhand der Logik des Ausländerdiskurses, sich nicht ereignet (was nicht heißt, dass sie übersehen würde – das Sehen, wenn es stattfindet, stellt dies erst her). So wurden bei einem Vortrag in den USA, bei dem ich Ausschnitte des Filmes zeigte, die beiden Hauptdarsteller vom Publikum schlicht als ›weiß‹ gesehen. Die Positionierung im (Film)Raum, die im Sinne des Ausländerdiskurses verstanden werden kann, findet in Berlin in Berlin so vor allem über das Verhältnis zur Kamera statt. Thomas ist passionierter Hobbyfotograf, der mit seiner Kamera und einem Teleobjektiv seine Umwelt dokumentiert. Der Auslöser der Kamera wird auf der Tonebene als Schuss inszeniert, die Alltagsszenen werden so bereits in das Drama, das folgen wird, eingeordnet. Thomas schießt dann Bilder von Dilber, der Frau eines Arbeiters, heimlich, aus der Ferne, als diese zusammen Mittagspause machen. Er fängt durch das Teleobjektiv die Intimität einer Nähe ein, die ihm eigentlich nicht zusteht. Dieser gestohlene Moment bringt die Tragödie dann ins Rollen (zu der ich in Kapitel 3 noch komme). Thomas ist hier derjenige, der die Macht des Sehens (ohne selbst gesehen zu werden) innehat. Es ist seine Subjektivität, die den Film eröffnet, es ist seine Kamera, die beobachtet und festhält. Im Laufe des Films wird genau dies, seine mit dem Sehsinn verknüpfte Macht, dekonstruiert. Entscheidend ist hier der Verweis auf die Rolle des Raums in der Indexierung des Ausländerdiskurses: Thomas sieht zwar aus wie Mürtüz, aber bevor auch nur einer der Beteiligten ein Wort gesprochen hat, wissen wir (zumindest im ›Wissens‹-Kontext der Bundesrepublik), wer hier ›Deutscher‹ ist und wer ›Ausländer‹. Die Macht des Sehens, die bessere Positionierung in der Arbeitshierarchie und schließlich die Obsession mit Dilbers Kopftuch: alles visuelle marker im Sinne des Diskurses.



171 Nicht etwa, weil die Szene wirklich so spektakulär wäre, sondern weil sie aufgeladen ist durch Kino-gossip: Hülya Avşar ist in der Türkei ein Superstar. Mit 19 wurde sie erst zur Schönheitskönigin gewählt und dann entthront, weil sie noch verheiratet war, was den sittenstrengen Reglementierungen weltweiter Miss-Wahlen als Zeichen mangelnder Jungfräulichkeit gilt. Der Titel wurde ihr also aberkannt – aber damit fing ihr Ruhm eigentlich erst an. Zunächst als Schauspielerin, später als Sängerin und mittlerweile als Unternehmerin (Fernsehproduzentin, Moderatorin, Herausgeberin, als Namensgeberin eines Parfums), ist Avşar seit Jahrzehnten höchst erfolgreich im Geschäft. Siehe dazu auch: Göktürk, Turkish Women, S. 70.

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Abb. 15 & 16 Un-/Ähnliche Gegenspieler. Mürtüz (links) und Thomas (rechts) mit ihren ›Schusswaffen‹. Berlin in Berlin (Sinan Çetin, D/TR 1993)

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2.5 Verrückungen / Verrücktheiten Tevfik Başer lässt seine Figuren in den bereits erwähnten Filmen 40 qm Deutschland und Abschied aus dem falschen Paradies aus expressivem Schauspiel entstehen, er ringt sie nicht den Dialogen ab. Immer latent, kurz vor dem Ausbruch, in die Gesichter eingezeichnet, in die Körper, die mit sich, mit den Grenzen, die ihnen gesetzt werden, der Last, die sie tragen, ringen, ist der drohende Wahnsinn. Jener Wahnsinn, der als Schizophrenie (in Neco Çeliks Kreuzberg-36-Film Alltag, D 2002) oder Depression (in Lars Beckers Kanak Attack) – als jeweilige Alternative zur Drogensucht einer anderen Hauptfigur – thematisiert wird, als Fluchtversuch, der sich nach innen richtet, und der nicht auf die Straße führt, zu den Drogen und deren Ökonomie. Eine besondere Geschichte über die Verrückungen/Verrücktheiten in Verbindung mit den Bewegungen der Migration erzählt Yılmaz Arslan in Yara, der auch unter dem Titel Seelenschmerz veröffentlicht wurde. Es ist sein zweiter Film nach Langer Gang, in dem er Jugendliche mit Behinderung zeigt (die eben auch deutsch-türkisch sind oder deutsch oder afro-amerikanisch), die in einem Heim in Süddeutschland leben. Langer Gang zeigt ihren Kampf um Selbstbestimmung und das Recht auf eigene Sexualität, zeigt die Gewalt, die von der Institutionalisierung, dem Weg- und Einschließen, ausgeht.172 Auch Arslan ist wie Başer ein ausgeprägt bildhafter, allegorischer Erzähler, wo die Bilder selbst oft die Handlung erzählen, nicht die Figuren, sondern Kameraeinstellungen, die das Innere nach außen kehren (die Kamera für Yara führte Jürgen Jürges,173 bekannt unter anderem durch seine Arbeit an Fassbinders Angst essen S eele auf ). In Y ara leidet Hülya (Yelda Reynaud),174 eine Hamburger Teenagerin,





172 Der Film erfuhr in der Rezeption jene Besonderung, die mit der Subsumtion unter ein ›Thema‹ einhergeht. Er wurde nur als Illustration (für eine Aussage, einen Zustand) bzw. als Dokument behandelt, das etwas zeigt – als Thema, aber nicht als Film. Und da Behinderung in der deutschen Gegenwartsgesellschaft fast ausschließlich als Besonderung behandelt wird (mit getrennten Schulen, Werkstätten, Heimen), wird den Figuren in Langer Gang entsprechend sowohl das ›Allgemeine‹, also dass es Geschichten sind, die sich nicht nur mit ›Behinderung› beschreiben lassen, als auch das ›Besondere‹, und zwar im Sinne von Individualität und Singulärsein, vorenthalten. Dem Film ist das allerdings nicht vorzuhalten, er nimmt im Gegenteil die Position der Jugendlichen ein, er führt sie nicht und damit auch keine Thesen über ›Behinderung‹ vor, er verändert vielmehr die Perspektive. Yılmaz, der selbst eine Gehbehinderung hat, tritt in dem Film als Heimbewohner auf, der einen anderen jungen Mann mit spastischer Lähmung vergewaltigt. Kameramann bei Langer Gang war Izzet Akay, der auch für Tevfik Başers Filme die Kamera führte. 173 Genauer: Jürges begann den Film, beendet wurde die Kameraarbeit von Jean-François Hensgens. 174 Yelda Reynauld spielt auch die Rolle der Emine in Auf der anderen Seite von Fatih Akın. Als Querverweis interessiert mich Reynaulds süddeutsch klingender Zungenschlag, der für

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die alleine mit ihrem Vater lebt, an Depressionen und jenem Seelenschmerz, der dem Film den deutschen Titel gegeben hat. ›Yara‹ heißt ›die Wunde‹ und steht für eine Lücke, die für die Tochter die Abwesenheit der Mutter (die mit ihrem neuen Mann in der Türkei lebt) und für den Vater (Necmettin Çobanoğlu, der Selim in Kleine Freiheit von Yüksel Yavuz spielt) die Diskrepanzen darstellt, die er im prekären Gefüge der Arbeit ›in der Fremde‹ erlebt. Eine ›Fremde‹, die aber längst sein Zuhause ist. Es wird auch die Wunde sein, die der Vater durch die Rückverpflanzung Hülyas in die Türkei, an den Ort der Herkunft, der intakten Familie (zu Onkel und Tante, nicht etwa zur Mutter), erst öffnet – Hülya ist dort vollkommen desorientiert und will nur zurück nach Deutschland –, aber doch eigentlich zu schließen versucht. Hülya hat eine verwundete Seele, und weil eine psychische Krankheit für Angehörige so schwer zu begreifen ist, weil die Krankheit unsichtbar ist (sie ist nur sichtbar in den Schnittwunden, die sie sich zufügt, ansonsten aber ist Hülya einfach eine gesund scheinende Teenagerin, die das Gymnasium besucht und sich mit Freund_innen trifft), kann der Vater sie nur als Folge der Migration begreifen.175 Etwas ist schiefgegangen, es muss der Weg nach Deutschland gewesen sein. Hülya wird also ›zurückgeschickt‹. Sie nimmt dort ihre Tabletten nur noch sporadisch, läuft schließlich davon. Verwirrt umherirrend, versucht sie abwechselnd, Zigaretten und Mitfahrgelegenheiten zu bekommen – »nach Deutschland!« –, und landet bei freundlichen Fremden, bei ihrer Mutter, die sie verleugnet und als Nichte ausgibt, bei einer Gruppe von Straßenkindern und schließlich in der Psychiatrie, zwangseingewiesen von brutalen Polizist_innen, die sie zwischen Zuggleisen aufsammeln. Arslan stellt auch hier wie in Langer Gang die Gewalt der Psychiatrie aus, die Misshandlung durch Institutionalisierung von Menschen mit sogenannten geistigen und körperlichen Behinderungen und seelischen Erkrankungen, und die Entrechtung, die damit verbunden ist. Hülya wird jedoch herauskommen aus diesem Gefängnis (die Gitterstäbe sprechen eine eindeutige Sprache), ihre Odyssee wird ein Ende haben, die Verrückung, die ihr Vater als Antwort auf ihre Verrücktheit vollzogen hat, wird wieder geradegerückt: Hülya wird von ihrer Freundin Neriman wieder nach Hamburg geholt. Aber die Verschiebung lässt sich nicht rückgängig machen.



mich auch auf eine Migrationsgeschichte verweist, nämlich die von Westdeutschland nach West-Berlin. Ähnlich auch der Tonfall von Armin Block, der den Thomas in Berlin in Berlin spielt. Berlin als Stadt der ›Exilschwaben‹ ist mittlerweile ein bekannter und umstrittener Topos. 175 Eine Fehllektüre, die sich in einigen Rezensionen wiederholt. So begreift Susanne Kusicke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Hülyas Krankheit definitiv als Folge von »Heimatlosigkeit«, als »Schicksal der zweiten und dritten Einwanderergeneration in Deutschland« (Susanne Kusicke: »Am Glimmstengel. Odyssee ohne Wiederkehr: Yilmaz Arslans Film ›Yara‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 143 (24. Juni 1999) (Pressearchiv der Bibliothek der Deutschen Kinemathek). Sie wundert sich dann aber, warum Arslan diese für sie unzweifelhafte Diagnose nicht erläutern will und den Zuschauern nur als Vermutung überlässt.

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Hülya kommt zurück, aber nicht an, jedenfalls nicht in einer Normalität. Sie wohnt bei ihrer Freundin, klaut dann aber den Schmuck der Mutter, die beiden Mädchen streiten sich, und Hülya verabschiedet sich in eine andere Welt. Sie sieht Gestalten, denen sie nachläuft, sie hört und sieht nichts mehr von der Welt ihrer Freundin, die sie zu erreichen versucht. Hier endet der Film. Hülya träumt immer wieder von Weite, und sie träumt Muster der Anordnung. Männer und Frauen stehen in flatternden Gewändern im gleißenden Licht – ist es die Sonne, die flirrt, sich im Wasser spiegelt, oder ist es der gleißende Sand, der sich mit dem Himmel zu einem endlosen Horizont verbindet? Diese Bilder kehren regelmäßig wieder. Zwischendurch taucht ein Käfig in der Landschaft auf – in Hülyas innerer Landschaft. Roger Caillois beschrieb einen bestimmten Zustand psychischer Erkrankung als legendäre Psychasthenie. In Anlehnung an die Beobachtung, dass Insekten sich in Objekte ihrer Umwelt (Zweige, Blätter, Blüten) ›verwandeln‹ – und zwar entgegen der landläufigen Vorstellung nicht, um sich zu verstecken, weil die meisten karnivoren Räuber nicht nach Sicht, sondern nach Geruch jagen.176 Sie ist also nicht zweckmäßig, sondern erfolgt, mit Caillois, weil es »eine Versuchung durch den Raum«177 gibt. Caillois diagnostiziert hier eine Sehnsucht nach der Entgrenzung, nach der Auflösung im Raum, der Auflösung der Unterscheidung von Subjekt und Umwelt. Er liest diesen Zustand aber auch als Ergebnis einer »Herausforderung durch den Raum«.178 In diesem Sinne könnte man sagen, dass sich Hülya und ihr Vater gleichermaßen vor der »Depersonalisierung durch die Angleichung an den Raum«179 fürchten. In Hamburg wollte Hülya nur ein ganz normaler Teenager sein, aber sie wurde krank. Ihr Vater diagnostiziert dies als Effekt der Assimilation, einer Auflösung im Raum, die er als unangemessen, als ›nicht richtig‹ diagnostiziert. Er versucht daher, richtig zu stellen, sie an den richtigen Ort zu bringen. Aber Hülya wird dort (bei den Verwandten, in der Türkei) nicht gesund, und sie kann sich dort auch nicht einfügen, anpassen – im Gegenteil, jede Annäherung empfindet sie als Aggressivität. Sie fühlt sich bedrängt, auch räumlich. Sie erträumt sich daher Weite und will zurück, ›nach Hause‹. Aber der Weg zurück ist auch kein ›Aufdröseln‹. Hülya kommt in Berlin an, kommt bei ihrer Freundin unter, geht in die Schule, und am Ende ist die Psychose (die aber eben nicht die der Auflösung im Raum ist) doch da, nie weg gewesen. Sie sieht ein letztes Mal eine Fata Morgana, den Puppenspieler, den alten Mann, ein kleines Mädchen, mit dem Bild verschwindet der Ton des sie umgebenden Raumes. Neriman versucht, sie noch ›herauszuholen‹ aus ihrem geschlossenen Kosmos, ihr Gesicht ist

176 Vgl. Roger Caillois: Meduse & Cie: Die Gottesanbeterin – Mimese und legendäre Psychastenie, übersetzt von Peter Geble, Berlin 2007 [1960], S. 32. 177 Caillois, Meduse, S. 35. 178 Caillois, Meduse, S. 35. 179 Caillois, Meduse, S. 37.

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ganz nahe vor Hülya, der offene Mund ist zu sehen, sie scheint laut zu schreien, aber die Kamera hat sich schon ganz in Hülyas Welt verzogen, es ist nichts mehr zu hören. Am Ende ein Blick auf die Marionette, den turbantragenden Märchen-Orientalen, den einzigen Kommunikationsweg, den Hülya auf ihrer Reise ›nach Hause‹ vom Ort der ›Herkunft‹ und der väterlichen Zugehörigkeit gefunden hat, die kaputt auf der Straße liegt. Dann endet der Film. Der Puppenspieler war der Einzige, der erkannt hatte, woran Hülya leidet (und es ist nicht so, dass sie sonst auf kein Mitgefühl stößt; im Gegenteil, aber Hülya steckt fest, in Angst und Halluzinationen). Er lässt seine Puppe mit ihr sprechen, denn Hülya braucht einen anderen Kosmos als den der anderen Menschen, einen kleineren, der ihr aber auch nicht zu nahe tritt. Er lässt die Marionette fragen: »Weißt Du, wie groß die Welt ist?«, und erklärt ihr: Sie passt in die Kiste der Marionette. Das ist die ganze Welt. Er ist der Einzige, der begreift, dass Hülyas Suche durchaus die nach einem Ort ist, nach Zuhause, aber dass sie nicht in der Logik des ›hier‹ oder ›dort‹ begründet liegt. Wie in Auslandstournee ist es erneut Özay Fecht, die eine Mutter spielt, die ihre Tochter verleugnet. In Yara verkörpert sie eine ungelöste Diskrepanz zwischen der Idee der Moderne und Freizügigkeit und der, ihr ebenfalls innewohnenden, bürgerlichen Familienideale, die Schweigen bringen, wo sie aussprechen sollten. Die Mutter lebt mit zweitem Mann und Kindern in Sultanhanı bei Aksaray (an der historischen Seidenstraße), trägt Leggings und eine glänzende, rote Perücke. Sie fällt heraus aus dem ländlichen Setting, in dem sie den Filmraum betritt. Aber sie ist auch nicht in der Lage, zu sagen: Das hier ist meine Tochter! Sie nennt sie Nichte, denn: »Was sollen denn die Leute denken?« Die Entfernung, die die Mutter hier einnimmt, von der die Tochter dieses Mal allerdings weiß (im Gegensatz zu Auslandstournee), vermisst die Diskrepanz, die Hülya zwischen sich und der Welt empfindet. Und die auch ihr Vater zu sehen scheint. Dabei passt alles in den Koffer der Marionette – eine Erkenntnis, die von einem ›Ortlosen‹, einem umherziehenden Puppenspieler, ausgesprochen wird. Hülya erkrankt nicht an der Migrationsgeschichte ihrer Eltern, sie erkrankt an der Familiengeschichte (ein Urteil sei hier dahingestellt).180 Die Verrückungen, die in der Folge von Migrationsbewegungen entstehen oder als solche wahrgenommen werden, gerinnen filmisch oftmals in der Statik der Verhältnisse. In der Enge des ›Kiezes‹, der zur lokalen Heimat geworden ist. »Sie wollen



180 Dass die Verhältnisse in Deutschland, die Bedingungen der Migration, durchaus Grund sind, um krank zu werden, lässt R. W. Fassbinder wiederum in Angst essen Seele auf am Ende des Films festhalten. Ali, der ›Gastarbeiter‹ aus Marokko, bricht mit einem Magengeschwür zusammen. Das wird ihn und seine Frau Emmi wieder zusammenbringen, aber für wie lange, bleibt dahingestellt. Denn, wie Marquard Bohm (der auch den Kneipeninhaber in Dealer spielt) als Arzt feststellt: »Das kommt wieder.« Weil den Gastarbeitern kein Kuraufenthalt gewährt wird und wegen des für sie fremden Essens. Ich komme in Kapitel 4 erneut zu Angst essen S eele auf .

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raus aus ihrem Alltag, aber weiter als bis zum Kotti schaffen sie es nicht«, wie Neco Çelik die Protagonisten seiner »Heimatfilme«181 (Alltag und Urban Guerillas, D 2003) beschreibt. Sie sind zu Hause in »Berlinistan«, wie der Vater der Hauptfigur Ali Ekber seinem Besuch aus der Türkei in Şerif Görens Köpenickiade Polizei (BRD/ TR 1988) mitteilt.182 Polizei ist eine deutsch-türkische Koproduktion, die es in einer deutschen und einer türkischen Sprachfassung gibt183, wobei in der deutschen Fassung die Figuren selbst im türkischen Kaffeehaus Deutsch sprechen und dabei auch oft

181 Celik zit. in Marin Majica: »Kreuzberger ›Alltag‹. Regisseur Neco Çelik dreht einen Film für den Bayerischen Rundfunk vor seiner Haustür«, in: Berliner Zeitung (25. Mai 2002), http://www.berliner-zeitung.de/archiv/regisseur-neco--elik-dreht-einen-film-fuer-den-bayerischen-rundfunk-vor-seiner-haustuer-kreuzberger--alltag-,10810590,9998662.html; zuletzt abgerufen am 10.10.2014. 182 Gören wurde 1944 in Xanthi in Griechenland geboren. Er ging mit einem Stipendium für seine höhere Schulbildung in die Türkei, wo er durch Zufall mit dem Filmemachen in Berührung kam. Berühmt wurde er mit Yol (TR 1982), bei dem er zusammen mit Yılmaz Güney Regie führte, und der 1982 in Cannes mit der goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Gören hat außer in Polizei auch in Almanya acı vatan (TR 1979) die Migrationsbewegungen Türkei/Deutschland zum Thema gemacht. Der Titel (auf Deutsch: Deutschland, bittere Heimat) stammt von einem Lied, das zu den Klassikern türkischer Musik in Deutschland zählt; zahlreiche Interpret_innen haben Versionen des von Haydar Gedikoğlu verfassten Liedes aufgenommen, u.a. Ruhi Su und Selda; es zählt zur Musikrichtung der Gurbet Türküleri, oder auch Gurbetçi-Lieder auf deutsch etwa ›türkische Lieder aus der Fremde‹ beziehungsweise ›Lieder der Gastarbeiter‹, die damit auch ein Stück oral history türkischer Migrationsgeschichte darstellt (siehe dazu auch Ali Osman Öztürk: Alamanya Türküleri. Türk Göçmen Edebiyatının Sözlü/Öncü Kolu, Ankara 2002. Sowie das großartige nicht akademische Forschungsprojekt Songs of Gastarbeiter, das der Autor, DJ, Politikwissenschaftler, Kanak Attak Mitbegründer und Geschäftsführer einer Kommunikationsagentur, Imran Ayata, und der Künstler und Galerist Bülent Kullukcu 2013 als CD und auf Vinyl mit einem ausführlichen Booklet veröffentlicht haben und seither auf einer Art Lese-/Auflege-/Vortragstour präsentieren. Auf dem Tonträger ist auch Seldas Version von ›Almanya Aci Vatan‹ zu finden: »Songs of Gastarbeiter – Vol.1« hg. von Imran Ayata und Bülent Kullukcu (AYKU), Trikont US-0453, München 2013). »The antonym of ›memleket‹, the equivalent of the German ›Fremde‹, is expressed by the word ›gurbet‹. In the Turkish context, ›gurbet‹ describes a sense of separation from one’s homeland. German captures this meaning in two distinct terms: exile, ›Exil‹, and the place away from home, ›Fremde‹. […] The term is emotionally charged, and does not refer solely to the place away from home. Being in ›gurbet‹ […] is associated with a sense of displacement and uprootedness, and frequently with feelings of nostalgia: of longing for what has been left behind or lost. One can be ›gurbet‹ in a foreign country […]; but also within one›s home country […]. For these reasons, ›gurbet‹ has been thematized in various different contexts within literature and music.« Ela Gezen: »›Heimisches‹ Berlin: Turkish-German Longing and Belonging«, in: Şeyda Ozil/Michael Hofmann/Yasemin Dayıoğlu-Yücel (Hg.): 50 Jahr türkische Arbeitsmigration in Deutschland, Göttingen 2011, S. 143–164, hier S. 145. 183 Die Erstausstrahlung in Deutschland fand erst Ende der 1990er Jahre im ZDF statt. Die deutsche Fassung ist um fast 10 Minuten gekürzt.

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wirken, als ob sie ›gesprochen werden‹, weil die Rollen zu einem großen Teil mit türkischen Schauspielern besetzt waren, die gar kein Deutsch sprachen. Besonders die Hauptfigur des Ali Ekber. Dieser wird von Kemal Sunal gespielt, einem der wohl berühmtesten türkischen Filmkomiker und Volksschauspieler, der für eine besondere Verbindung aus derber Umgangssprache (gerne mit zahlreichen Schimpfwörtern verziert) und Sozialkritik steht. Viele der Filme, in denen Sunal mitwirkte, gelten als Klassiker, und er war als Darsteller bereits in früheren türkischen Komödien über die ›Deutschländer‹ beteiligt, wie in Gurbetçi Şaban (TR 1985) von Kartal Tibet, in der die Hauptfigur aus der Türkei nach Deutschland kommt, im ›Asylantenheim‹ wohnt, sich auf großartige Weise Kindergeld erschleicht, einen Tirolerhut kauft, vor der Polizei flieht und unwürdige Arbeiten bei einer deutschen Familie verrichten muss. Alle ›Deutschen‹ werden in Gurbetçi Şaban nicht nur von blondierten Türken dargestellt, sondern auch gesprochen. In Polizei spielt Sunal den naiven Straßenkehrer Ali Ekber, der mit seinem Kanarienvogel Garip zusammenwohnt, ständig ins Hintertreffen gerät oder übervorteilt wird, gerne ein Frauenheld wäre oder wenigstens mehr zu sagen hätte. Er kümmert sich in einem Kreuzberger Theater um die Kostüme, macht kleine Botengänge und ist auch hier für die Reinigung zuständig. Weil Ali den Regisseur der Theatergruppe so perfekt nachahmt, lässt dieser ihn schließlich als Polizist in einer Szene auftreten. Als er Ali, noch im Kostüm, zu einem Botengang schickt, und Ali im kleinen Lebensmittelladen nicht nur nicht erkannt, sondern sogar umgehend bedient wird, ergreift dieser die Gelegenheit und schlüpft vollständig in die neue Rolle. Ali Ekber wird zu einem Kreuzberger Hauptmann von Köpenick. Bis heute wird darüber gemutmaßt, ob es dem falschen Hauptmann Friedrich Wilhelm Voigt bei seiner Performance um Papiere (er hatte seine Aufenthaltsgenehmigung verloren) oder um das tatsächlich erbeutete Geld ging; Ali Ekber geht es jedenfalls um Anerkennung. Und das Geld nimmt er auch noch mit: Er lässt sich für sein Wegsehen bestechen. Die Referenz an die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick liegt aber auch im Medium selbst, in der Verbindung von Theater, Film und (filmischer und anderer) ›Wirklichkeit‹: Die zu Zeiten des Hauptmanns von Köpenick junge Medienindustrie hatte sich sofort seiner Geschichte bemächtigt, eine erste Theateraufführung fand noch während des Prozesses gegen Voigt statt. Ganz typisch für einen Film mit Kemal Sunal ist Polizei nicht nur Komödie, sondern auch ein kritischer Film. Gleich zu Anfang wird das deutsche Ausländergesetz thematisiert, dann die Bigotterie der älteren Männer vorgeführt, die immerzu lauthals Ehre und Anstand einfordern und doch nur jeder Frau hinterherstarren; oder wie der Onkel aus der Türkei, der ohnehin nur eins sehen möchte: Sexshops. Auch Ali Ekber wird zu weit gehen – am Ende beschimpft er eine junge türkische Frau, die ›abtrünnige‹ Tochter eines seiner Freunde, die mit ihrem deutschen Freund die Straße entlanggeht. Sie macht ihm klar, wie falsch er liegt (die Polizei hat sie aus ihrem Elternhaus geholt, weil sie dort immer geschlagen wurde), und am Ende entledigt er sich in einer Art öffentlichen Striptease vor seiner Angebeteten Babett (Babett Jutte) dann auch der

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Uniform. Polizei ist auch ein umherstreifender Film – durch Kreuzberg, die immer wiederkehrenden Orte, die die Eckpunkte sind, die das Zuhause abstecken. Tom Holert und Mark Terkessidis untersuchen in Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen184 die Kreuzungspunkte der Pfade der M ­ igration und der Routen des Tourismus und zeigen erstaunliche Parallelen und Übergänge auf.185 Wie schon in ihrem Beitrag für den Katalog des Projekt Migration setzen sich die Autoren darin mit der Frage der Mobilität und ihrer Ambivalenz auseinander. Einerseits besteht Mobilität aus massiver Anforderung und Druck (mobil sein!), andererseits ist Mobilität auch mit Begehren verbunden. Darüber hinaus strukturiert sich Gesellschaft immer stärker entlang des Zugangs zu Mobilität: »Die Bewegung der Menschen ist eine Fliehkraft, die unsere Vorstellungen von Demokratie radikal infrage stellt.«186 Wie Kreuzberg nicht der Ort der Urbanität Berlins ist, sondern ein Dorf (wie Altona ein Dorf in Hamburg ist), sind auch die Figuren in Alltag, Kanak Attack, Süperseks, Kurz und schmerzlos, Kebab Connection sowie in der Trilogie von Thomas Arslan nicht mehr Migrant_innen, deren Wege in Richtung der urbanen Zentren ausgerichtet sind, sie sind nicht mehr in Bewegung, sondern angekommen. Sie träumen zwar (oder noch) von andernorts, aber es sind Kanaken, keine transnationalen Migrant_innen. Was sie aber mit den heutigen Transiträumen teilen, die zu den Orten der Migrationsbewegungen gehören, ist der Zustand der ›erstarrten Bewegung‹.187 Das heißt, einerseits sind sie längst angekommen, dennoch stecken sie fest bzw. driften, sei es, weil sie immer noch um ihre Anwesenheit kämpfen müssen (die rechtlichen Koordinaten haben sich ja nicht geändert – Abschiebung ist nicht nur in Dealer eine reale Bedrohung), sei es, weil sie in Entscheidungslosigkeit verharren, die auch dadurch hervorgerufen wird, dass es einen Ort der ›Eigentlichkeit‹ gibt, das Herkunftsland der Eltern, welches oft die Projektionsfläche für einen besseren Ort ist,188 im Generationskonflikt aber auch verloren geht und dann eine Leerstelle hinterlässt, zumal es







184 Vgl. Tom Holert/Mark Terkessidis: Fliehkraft: Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Köln 2006 und dies.: »Was bedeutet Mobilität?«, in: Kölnischer Kunstverein et al (Hg.): Projekt Migration, Ausstellungskatalog, Köln 2005, S. 98­–110. 185 Wie eng Tourismus und Migration schon seit langem miteinander verbunden sind, beweist unter anderem die Erfolgsgeschichte von Vural Öger, SPD-Abgeordneter, ehemaliges Mitglied des Europaparlaments und Gründer und langjähriger Geschäftsführer von Öger Tours GmbH sowie Träger des Bundesverdienstkreuzes für seine »interkulturellen Verdienste«. Er begann seine Karriere als Geschäftsmann mit Reisebussen, die als Transportmittel des Tourismus ›illegale‹ Einwanderung beförderten. Der Weg solcher overstayer, die als Touristen einreisen und nach Ablauf des Visums dableiben, ist auch heute eine weit verbreitete Strategie. Sie verweist aber auch darauf, dass illegalisierte Migration nicht erst ein Phänomen der letzten zwei Jahrzehnte darstellt. Ich verdanke diesen Hinweis Serhat Karakayalı. 186 Holert/Terkessidis, Fliehkraft, Klappentext. 187 Vgl. Holert/Terkessidis, Mobilität, S. 103–104. 188 Holert/Terkessidis, Fliehkraft, S. 103.

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auch die Projektionsfläche ist, in die die Figuren im Kontext eines ›Nichteinwanderungslandes‹ regelmäßig befördert werden. Durch Fragen nach der Herkunft, durch die Fragen nach der Bedeutung der Namen, durch das damit verbundene Wegbeamen. Sie stecken fest in einer ewigen Gegenwart, die gekennzeichnet ist vom Vergessen der Vergangenheit189 und damit dem Verlust einer Zukunft, die geträumt werden kann. Die Entscheidungslosigkeit, die Erstarrung werden regelmäßig überkompensiert, in dramatischen Akten und dem Willen, notfalls ›gegen die Wand‹ zu fahren (um einen Titel Fatih Akıns auszuleihen). Wie in Berlin in Berlin changieren die Filmfiguren stets zwischen den Überzeichnungen von Komödie, Tragödie und Melodrama. Das Tempo wird vom Klischee vorgegeben – schnelles Leben, schnelle Autos. Und doch bleibt alles beim Alten. Der Zustand der erstarrten Bewegung des Transitraums wurde (und wird) vorgezeichnet vom eingeschlossenen Raum der Frau. Als Ort der Tradition oder des ›Islam‹ imaginiert, verfehlt diese Narration den eigentlichen Gehalt, der den Zustand der Entschleunigung erzeugt. Nicht die ›Vormoderne‹ greift in die (zeitliche) Logik des Fortschritts ein, sondern die konsequente Entrechtung der Migrantinnen, ohne die patriarchale Zwänge, die (aufenthaltsrechtlichen) Abhängigkeiten von Ehe und Familie, die Abhängigkeiten von community und sozialem Netz nicht gleichermaßen wirkmächtig wären. So wird heute, statt ein von der Ehe unabhängiges Aufenthaltsrecht einzuführen, auch um Zwangssituationen wie arrangierten Ehen entgegenzusteuern, wegen des Generalverdachts der Zwangsehe nach Einreiseverboten gerufen.190 Anstatt also migrantisch-feministischen Forderungen nach Stärkung der Rechte der Frauen nachzukommen, wird in derselben Logik, die eigentlich kritisiert wird (die Frau als Zeichen, das im Namen der Ehre gehandelt wird), die Frau zur Statthalterin von Tradition und auch Islam gemacht.

2.6 Zuhause

unterwegs

Die Geschichten der Migration sind Geschichten in Bewegung und Geschichten der Bewegung. Die Geschichten, die in Deutschland so lange nicht erzählt wurden, sind jedoch die der Ankunft, des Daseins. Ebenjenes Dasein, das als Ankunft in der »Normalität«191 begriffen wird. Wie ich bereits erwähnt habe, findet die Verbindung von Reise und Ankunft ihren Ausdruck in Roadmovie-Zitaten, manchmal auch ganz in der



189 Vgl. Bhabha, Die Verortung, S. 246. 190 Vgl. Esra Erdem: »In der Falle einer Politik des Ressentiments: Feminismus und die Integrationsdebatte«, in: Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hg.): No Integration ?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld 2009, S. 187­–202. 191 Reinecke, Projektive Übermalungen, S. 9.

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Form des Genres (wie bei Im Juli von Fatih Akin), oder als Versatzstück, wie in den Glücksmomente signalisierenden Fahrten im geklauten Auto oder auf dem Roller in Fremde Haut oder dem Radfahren in Kleine Freiheit. Es kann aber auch dazu dienen, die Idee der ›Eigentlichkeit‹ des Herkunftslandes aufzulösen, wie in Drei gegen Troja, wo zwischen der lauten (und falschen) Lektüre griechischer Mythologie und erzwungenen Deutschstunden die eigentlich umwerfende (anatolische) Landschaft – ihre Weite, die Linie des Horizonts, die Berggipfel – zu einer Art Dekozitat werden, in der die drei Hauptfiguren herumtaumeln: An der Leine einer Erzählung geführt, die Hasan (Hilmi Sözer) in der Badewanne in Berlin, in den Fängen von drei Schlägern, entspinnt, um damit seine Haut zu retten. Auch sonst findet ›das Land‹ als Projektionsfläche seinen Ausdruck: Migration ist die Bewegung in die Urbanität, in die Städte. Wenn die Figuren ›aufs Land‹ fahren, dann, um es als backdrop für die Aushandlung ihrer Probleme aus/in der Stadt heranzuziehen, die sie immer wieder einholen (Lebewohl , F remde Tevfik Başer, D 1990/91 und E in E ngel schlägt zurück , Angelina Maccarone, D 1997). Landschaft figuriert aber auch als Retrospektive, als Herkunft, als verlorenes Glück, wobei das Glück nur als Ort der Familie gezeigt wird. Die Kargheit, der Staub deuten stets an: Etwas fehlt, und dieses Etwas, der Traum von einem besseren Leben, das ist der Antrieb für das Sich-auf-den-Weg-Machen, wie in Brudermord /F raticide ausbuchstabiert. Hier beginnt der Film mit der Ankunft ›Europas‹ oder ›Deutschlands‹ als gesichts und körperlosem Briefboten, mit dessen Augen wir, aus dem Inneren des Autos blickend, uns auf die Suche machen nach dem Nächsten, der sich auf die Reise machen wird: Das Auto, der Fahrer, bringen den Brief und das Geld, mit dem Azad sich auf den Weg nach Hamburg begibt. Wie aber sieht es mit dem Dasein aus, wenn es zwar mit den Bewegungen der Migration verknüpft, aber doch eben da ist? Thomas Arslan hat genau diesen Zustand in drei Filmen vermessen: Er lässt ihn die Protagonist_innen durchlaufen, ablaufen, erlaufen. Thomas Arslan, in Berlin lebender Filmemacher, hat mit Geschwister – Kardeşler (1996), D ealer (1998) und D er schöne T ag (2001) eine Trilogie über »junge Berliner türkischer Herkunft«192 realisiert.193 Arslans eigene deutsch-türkische Abstammung gehört dabei zu den paratextuellen Verflechtungen, die den Blick auf diese Filme informieren, und die, gemäß den Logiken des Ausländerdiskurses, immer die Gefahr der Bedeutungsstillstellung signalisieren, wobei es Arslan immer wieder gelingt, diese Logiken zugleich zu thematisieren und zu de-thematisieren. Alle zentralen

192 Thorsten Wahl: »Die Leichtigkeit kostet viel Mühe. Thomas Arslan sucht ­Authentizität und setzt beim Dreh Schauspieler schon mal an die frische Luft«, in: Berliner Zeitung (15. 08.2000), http://www.berliner-zeitung.de/archiv/thomas-arslan-sucht-authentizitaet-und-setztbeim-dreh-schauspieler-schon-mal-an-die-frische-luft-die-leichtigkeit-kostet-viel-muehe,10810590,9824702.html; zuletzt abgerufen am 10.10.2014. 193 Zu den Filmen, die Arslan seither realisiert hat, zählen Aus der Ferne (D 2006), Ferien (D 2007), Im Schatten (D 2010) und Gold (D 2013).

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Figuren in seiner Berlin-Trilogie gehören der sogenannten zweiten (und dritten) Generation an, was in jedem Film durch die Familien, genauer: durch Begegnungen mit den Eltern, gekennzeichnet wird. Aber die familiären Auseinandersetzungen haben hier reichlich wenig mit einer Genealogie der Migration zu tun, es geht vielmehr um die jeweilige Spezifik eines Lebens, um die Verhältnisse, in die sie verwoben sind, und in denen sie sich positionieren, was in den drei Filmen vor allem anhand der Geografien passiert, dem mapping des Raumes, der (durch die) Figuren nachvollzogen wird. Arslan selbst wurde und wird regelmäßig in Interviews und Filmgesprächen mit der Frage der ›Herkunft‹ konfrontiert.194 Der Regisseur forderte hingegen wiederholt ein, dass die Aufmerksamkeit stattdessen dem Filmischen gelten solle, dass formale Aspekte gegenüber einer inhaltlichen Fixierung in den Vordergrund rücken sollten (also nicht nur, was ein Film erzählt, sondern wie, mit welchen Mitteln er erzählt). In allen drei Filmen realisiert Arslan genau dies: die Abwendung vom soziologischen Inszenierungs und Interpretationsrahmen, in der der Blick in die Tiefe geht, quasi hinter die Leinwand, die in dieser Sichtweise als transparente Schicht den Blick zum realen Raum dahinter, zu der Echtheit des Geschehens, zu einem empirischen Verständnis der Figuren (und der Schauspieler_innen) lenkt. Bei Arslan wird der Film wieder zur Fläche, er zeigt The Skin of the Film, wie eine Monografie von Laura Marks zum interkulturellen Kino betitelt ist.195 Allerdings ist das filmische Geschehen gerade nicht abhängig von der Haut, sondern, wie Simon Rothöhler zu Der schöne Tag schreibt, vom Herzen: »confrontation not of the skin but of the heart.«196 Um beschreiben zu können, wie Arslan in diesen Filmen die Problematik der Bedeutungsfestschreibung vermeidet, wie er eine andere Form des Realismus entwickelt, und wie er evoziert statt zu definieren, bieten sich Deleuzes Thesen zum Zeit-Bild bzw. zur Krise des Aktionsbildes an, die er besonders an den Filmen der Nouvelle Vague und am italienischen Neorealismus festmacht. Diese Verknüpfung bietet sich auch deshalb an, weil Arslan sich explizit auf das französische Autorenkino beruft (seine eigene Produktionsfirma beispielsweise heißt Pickpocket, nach einem Film von Robert Bresson). Gilles Deleuze konstatiert für das Aktionsbild, das den klassischen narrativen Zusammenhang kennzeichnet, den logischen Zusammenhang von Situation und Aktion, die Geschlossenheit der Handlung, eine Krise, die durch die Erfahrungen des Krieges (des zweiten Weltkrieges) und die sozialen, politischen, künstlerischen Umbrüchen





194 So beispielsweise bei der Eröffnung der Filmreihe im Rahmen von Space Hotel/Heimat-Kunst im Haus der Kulturen der Welt in Berlin im April 2000, wo er gefragt wurde, welcher Teil von ihm deutsch sei und welcher türkisch. Arslan weigerte sich, die Frage zu beantworten. 195 Marks, The Skin. 196 Simon Rothöhler: »Confrontation not of the skin but of the heart«, erschienen in: wortlaut. de, 2001, die Onlinezeitschrift ist nicht mehr verfügbar (Text ohne URL als Ausdruck im Privatarchiv N.H.).

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der Folgezeit ausgelöst wurde, besonders auch durch »das neue Selbstverständnis der Minoritäten«.197 An die Stelle einfacher Sinnzusammenhänge, der sensomotorischen Verbindungen von Reiz und Antwort, tritt nun ein neuer Bildtypus, für den Deleuze u.a. die folgenden Merkmale anführt: »die dispersive Situation, die absichtlich schwachen Verbindungen, die Form der ›balade‹, die Bewußtwerdung des Klischees«.198 Ich werde diese Merkmale und Arslans Filme im Folgenden miteinander verknüpfen. In allen drei Filmen sind die Figuren unterwegs. Anstelle die Ereignisse selbst zu fokussieren, lässt die Kamera sich auf die Bewegung der Figuren zwischen den verschiedenen Punkten ein, lassen die Filme sich auf die eigene Zeitlichkeit des Ortswechsels ein, die für das Kino der perfekten Auftritte und Abgänge eigentlich ›tote‹ Zeit ist. Es sind drei Filmbal(l)aden im Sinne von Deleuze, mehrstrophig erzählt, umherstreifend, flanierend, spazierend (se balader). Die Figur des Flaneurs bei Walter Benjamin steht für die Mobilisierung des Blicks, und es ist der Habitus des Flaneurs, der »auf dem Asphalt botanisieren«199 geht, der auch den Arslans Figuren eignet. Der erste der drei Filme, Geschwister – Kardeşler von 1996, inszeniert die Figur des Flaneurs noch im eigentlichen Sinn, umgeben von den Menschen der Großstadt, eingetaucht in eine Menge von Begegnungs-Potentialitäten, möglichen Nähen und noch viel mehr Entfernungen. Erol (Tamer Yiğit), Ahmed (Savaş Yurderi) und Leyla (Serpil Turhan) leben mit ihrem türkischen Vater (Faszli Yurderi) und der deutschen Mutter (Hildegard Kuhlenberg) in Kreuzberg. Erol, der Älteste, hat die Schule abgebrochen, macht Kampfsport und borgt sich überall Geld; er wird in wenigen Wochen nach Istanbul aufbrechen, um dort seinen Militärdienst zu leisten. Ahmed geht noch zur Schule, steht kurz vor dem Abitur, weiß nicht so recht, warum er noch mit seiner Freundin zusammen ist (sie wird ihn ob seiner Unentschlossenheit verlassen), und Leyla, die Jüngste, macht eine Schneiderlehre und ist fast ständig bei ihrer besten Freundin Sevim (Mariam El Awad), mit der sie Platten kaufen und tanzen geht, und die auch dabei sein wird, wenn Leyla sich, wenn auch skeptisch, auf den Flirt mit Cem (Erhan Emre) einlässt. Die drei treiben durch den Film, in Reminiszenz an Maurice Pialats Film À Nos Amours (F 1983), der in Der schöne Tag später eine Art Cameo-Auftritt haben wird. Erol verkörpert dabei das »Überborden über den sozialen Rand«, das ›Unberechenbare‹ und ›Passionierte‹ »für unstillbare Wunden«,200 wie es Karsten Witte einmal für Pialat formuliert hat. Sie scheinen realistisch, dem Leben entsprungen, und sind doch 197 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, übersetzt von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, durchgesehen von Karsten Witte, Frankfurt/M. 1998 [1983], S. 276. 198 Deleuze, Bewegungs-Bild, S. 281. 199 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Frankfurt/M. 1983, S. 470. 200 Karsten Witte: Ein Lichtblick, in: Die Zeit 25 (12.6.1992), http://www.zeit.de/1992/25/einlichtblick; zuletzt abgerufen am 10.10.2014.

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nur Silhouetten, scharf umrissene Skizzen ohne biografische Tiefe oder Perspektive. Sie sind in Konstellationen gefangen, die sowohl auf Unausweichlichkeit als auch auf völlige Offenheit des Geschehens hin angelegt sind.201 Der Film besteht aus Momenten, Augenblicken und längeren Verweildauern, wobei – wiederum die Erinnerung an À Nos Amours – die Zeitlichkeit keine regelmäßig chronologische ist. Die latente Aggression, die in Geschwister – Kardeşler, anders als bei Pialat, immer noch vor der Eskalation abbricht, selbst als sich Erol und seine Kumpel mit zwei Naziskins anlegen, gibt dem Film dabei ein relativ schnelles Tempo vor, das in den beiden folgenden Filmen einer Ruhe und Langsamkeit weichen wird, in der sich die Figuren, wie es bei Deleuze heißt, ›verdoppeln‹202 können. In Geschwister – Kardeşler dagegen wird der Flaneur Erol selten kontemplativ, sondern angespannt auf der Suche sowohl nach Anonymität als auch nach Sinn gezeigt, nach einem Ort der Zugehörigkeit, denn: »Kein Mensch gibt hier einen Fick auf mich!«,203 wie er zu seinem Bruder sagt. Benjamin verknüpft den Flaneur, das Inkognito des Beobachters und den Wunsch nach Verschwindenwollen, dem Untertauchen in der Menge, historisch mit administrativen und technischen Kontroll und Überwachungssystemen, die in Geschwister – Kardeşler einerseits – wie in einer direkten Referenz an Baudelaires stete Flucht vor seinen Gläubigern – von etwas dümmlichen Schuldnern aus dem Kleinkriminellen-Milieu verkörpert werden, und andererseits in Form von willkürlichen Polizeikontrollen, die in Geschwister den Generalverdacht der Ausländerkriminalität ins Spiel bringen, und in Form von Abschiebungen eine Rolle spielen, wie in Dealer. Deleuze schreibt: »Das Umherziehen ist zur urbanen Wanderung geworden und hat jede aktivistische oder affektive Struktur, die es vorher trug, die es anleitete und ihm, wenn





201 In der Anlage der drei Geschwisterfiguren erinnert Aprilkinder an Geschwister – Kardeşler : Jedes der drei Geschwister steht in beiden Filmen für eine paradigmatische Verwerfung innerhalb der Genealogie, für ein bestimmtes Spannungsverhältnis im Gefüge der Migration. In beiden Filmen ist es jeweils die Schwester, die Jüngste von den jeweiligen dreien, die für die Imagination eines anderen Ortes steht. Obwohl sie am stärksten in die familiären Abläufe eingebunden sind (die Jüngste, das Mädchen), scheinen sie am wenigsten davon berührt, am wenigsten greifbar. Ein Kennzeichen hierfür ist der ihnen eigene Soundtrack, diegetisiert durch den jeweiligen Walkman oder einen Kassettenrecorder, mit dem sie sich einen eigenen Kosmos erschaffen. Die beiden Brüder dagegen arbeiten sich am familiären Gefüge ebenso sehr ab wie an der Frage der/ihrer Männlichkeit. 202 Vgl. Deleuze, Bewegungs-Bild, S. 286. 203 Erol, der seiner (deutschen) Mutter gegenüber deklariert, »ich bin Türke mit einem türkischen Pass!«, erhält relativ zu Beginn des Films seinen Einberufungsbefehl in die türkische Armee. Seinem Bruder unterstellt er wenig später, dieser würde sein Türkischsein verleugnen. Mit seinen Freunden versucht er, über »Zigeuner« und »Asylanten« herzuziehen, diese aber halten ihm vor, er sei ja wohl nichts Besseres und außerdem ja selbst ein »Bastard«. Erol steht permanent unter Spannung, die einzige Lesart, die ihm dafür in den Sinn kommt, ist – ganz deutscher Mainstream – eine ›ethnisierende‹.

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auch nur vage, Richtungen gab, abgelegt.«204 Die vielen Gestalten, die in Geschwister den Raum bevölkern – anders als in den beiden nachfolgenden Filmen, wo die Stadt fast menschenleer wirkt – haben nur schwache Berührungspunkte, wie Diego (Bilge Bingül) in Der schöne Tag sagt: »Im Grunde geht eben jeder seiner eigenen Wege.« Es entsteht ebenjenes Bild, das mit Deleuze nicht mehr umgreifend oder synthetisch ist, »sondern auf eine partikularisierende Situation« verweist: »Es gibt viele Gestalten im Film, aber ihre Berührungspunkte untereinander sind nur schwach. […] Die Stadt und die Masse verlieren ihren kollektiven einstimmigen Charakter.«205 Das Bild, das Arslan von Berlin entwirft, ist ein horizontales, »auf gleicher Höhe mit den Menschen, wo jeder seine Angelegenheiten auf eigene Rechnung verfolgt.«206 In Geschwister gibt es noch eine (letzte) Draufsicht, eine Einstellung, die die Stadt erkennbar macht, wie auch in diesem Film der Raum überdeterminiert wird, etwas, was bei Dealer und Der schöne T ag vermieden wird. Dort wird die Kamera näher an den Figuren bleiben, der weitgehen­de Verzicht auf die Totale bezeichnet die Verweigerung soziologischer Erklärungsmuster für Verhaltensweisen. In Geschwister dagegen gibt es sie noch, die Markierungen von Kreuzberg (wo auch die anderen Filme spielen). Hier ist es die Gegend ums Kottbusser Tor, versehen mit folkloristischen Elementen wie runtergerockten Hauseingängen, türkischen Zeitungsständen, pitbullverliebten Jungs mit Zuhälterzöpfen und Ghettostyle. Während die drei Hauptfiguren durch ihre Gegend flanieren, shoppen, Freunde treffen, abhängen und ausgehen, entfalten sie drei Stränge des Möglichen für die sogenannte zweite Generation. Die Selbstethnisierung, der Rekurs aufs ›Türkische‹ – das ist Erol, der Älteste, der zum Militärdienst in die Türkei geht, ein Land, wo er offensichtlich vor ca. 15 Jahren das letzte Mal war, und der sagt: »Ich bin Türke, ich hab einen türkischen Pass, also muss ich auch meinen Militärdienst in der Türkei machen.« (Woraufhin die – deutsche – Mutter entgegnet, er müsse gar nichts), und Erol sich fragt: »Was soll ich denn hier?«207 Erol wird übrigens von Tamer Yiğit gespielt, der in Dealer die Hauptrolle des Can übernommen hat. Dann Ahmed (Savaş Yurderi208),

204 205 206 207

Deleuze, Bewegungs-Bild, S. 278. Deleuze, Bewegungs-Bild, S. 277. Deleuze, Bewegungs-Bild, S. 277. Auch Erol ist ein weiteres Beispiel für einen Bruce-Lee-Charakter (siehe dazu auch Kapitel 1). Erols verzweifelt wirkende Überidentifikation mit dem Türkischsein ist filmisch eher als Kanaken-Identität angelegt: Was er träumt, ist vielmehr das Universum eines Bruce Lee (wenn Erol Bruce-Lee-Filme sieht, füllt das Bild die ganze Leinwand aus, das Bruce-Lee-Video wird zum Film selbst), mit Muskeln, kämpferischem und männlichem Stolz und der Logik eines Plots, an dessen Ende der Held immer siegt. Die türkische Armee ist Erols Version einer Bruce-Lee-Geschichte – mit dem Unterschied, worauf ihn die anderen Familienmitglieder immer wieder hinweisen, dass das Militär nicht der Ort ist (außer im Kino), wo Einzelne zu Helden werden (oder überhaupt ›Einzelne‹ sind), sondern, dass er sich in die Hände einer Autoritätsmaschine begibt, die erstens gewalttätig und auch real in Kriegshandlungen involviert ist.

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der mittlere, der mit seinem Bruder aneinandergerät über die Frage, ob er sich dem Türkischsein entziehe, und der insistiert, dass dieser »hier« ja alles könne: »Du kannst hier alles machen, was du willst« – eine neoliberale Paraphrase des American Dream, die ebenso als Leerstelle entlarvt wird wie Erols Selbst bzw. Re-Ethnisierung. Und schließlich Leyla, die Jüngste, die von diesen Fragen am wenigsten tangiert wird und sich hauptsächlich den ewigen Familienstreitereien entziehen will. Gespielt von Serpil Turhan, die in Der schöne Tag dann Deniz sein wird. Gegenstand aller drei Bal(l)aden ist immer das Alltägliche, wie es auch Deleuze beschreibt. Alle drei Filme sind so von der Ereignislosigkeit, von der ›toten Zeit‹ des Alltags gekennzeichnet. Besonders eindrücklich wird dies in Dealer, dem zweiten Teil der Trilogie, wo es Arslan gelingt, das vollkommen überfrachtete Sujet eines türkisch-deutschen Dealers in Kreuzberg in eine Studie über die Monotonie von Alltag und Arbeit, von Zwängen und Ausweglosigkeiten zu überführen. Es gibt zwar auch in gänzlich minimalistischer Weise Versatzstücke der Typisierung (ein drive-by shooting, dem Hakan (Hussi Kutlucan), der ›Arbeitgeber‹, zum Opfer fällt; Beschaffungsprostitution, Polizeirazzien und Knast), aber nichts davon dient als erzählerische Verschaltung, die die Handlung vorantreibt. Was in Dealer zum Tragen kommt, ist Cans mentaler Zustand der Verwirrung, der es ihm unmöglich macht, eine Entscheidung zu treffen, und der gleich zu Beginn deutlich wird, wenn Can sich der Auseinandersetzungen mit seiner Freundin Jale entzieht, und diese daraufhin mit der gemeinsamen Tochter Meral auszieht (zu ihrer Freundin Eva, gespielt von Angela Schanelec, wie Arslan eine Protagonistin der »Berliner Schule«). Cans kurzer Versuch, aus dem Geschäft auszusteigen und ›normal‹ zu arbeiten, seine Auseinandersetzungen mit einem Zivilpolizisten (Birol Ünel) und schließlich seine Festnahme mit ein paar Gramm Heroin werden gerahmt von einer Stilisierung, die eine Schönheit des Lichts und der Farben erschafft anstelle des Klischees von Verfall und Hässlichkeit des Drogenmilieus, wobei dieser Rahmen die Figuren nicht erdrückt, sondern im Falle Cans dessen Abgetrenntheit betont, was unter anderem durch »›obsessives‹ Kadrieren«,209 wie es bei Deleuze heißt, erreicht wird; also durch das Verweilen der Kamera, auch wenn die Figuren schon wieder den Bildraum verlassen haben. »Can sieht die Dinge um sich herum, begreift aber nichts«,210 so Arslan in einem Interview in der taz. Elke Schmitter, die die Professorin für Alltagsgeschichte in Der schöne Tag spielt – die einzig wirklich schwache Szene des Films, zumindest unfreiwillig komisch –,

208 Auch bekannt als Rapper Kool Savas. 209 Deleuze, Bewegungs-Bild, S. 107. 210 Gudrun Holz: »Kein Zugang zum Glück. Wenn sich alle Konflikte nach innen verlagern: Ein Gespräch mit Thomas Arslan, der in seinem Film ›Dealer‹ den tragischen Niedergang eines türkischen Drogenhändlers nachzeichnet«, in: taz (22.03.1999) (Pressearchiv der Bibliothek der Deutschen Kinemathek, Berlin).

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sagt paradigmatisch in ihrer kleinen, ›spontanen‹ Niklas-Luhmann-Vorlesung: »Wir sind umstellt von Vorstellungen«, woraufhin Deniz entgegnet: »Aber es gibt doch die Gesten, die Blicke, die haben doch etwas Wahres.« Arslans Kino ist – wiederum im Sinne Deleuze‹ – ein Kino des Sehenden (cinéma de voyant), kein Kino der Aktionen. Die Figur (im Film) wird selbst zum Zuschauer.211 In einem Kino, wo sich Wahrnehmungen und Aktionen nicht mehr verketten, sodass sich Räume nicht mehr zusammenfügen und füllen, sind die Figuren zum Umherirren und Schlendern gezwungen. Sie sind »reine Sehende, die lediglich noch im Bewegungsintervall existieren«212 und die der Unerträglichkeit ihres Alltags ausgeliefert sind. Dealer und Der schöne Tag sind langsame Filme, ein Merkmal, das Deleuze vor allem mit der Dekonstruktion des Klischees in Verbindung bring. Sie machen »eine Verdopplung der Gestalten möglich, so als befänden sie sich neben dem, was sie sagen und tun, als wählten sie unter den äußeren Klischees dasjenige, was sie dann, beständig zwischen dem Innen und Außen hin und her wechselnd, auch innerlich verkörpern.«213 Erol, der »jemand sein will, jemand den man respektiert«, oder vor allem Can, der, wie seine ›Kollegen‹ auch, um jeden Preis nicht so aussehen will, als wäre er ein Niemand, einer, der »ganz normal arbeiten« muss, wie ihn Yello, einer der anderen Dealer, verspottet (gespielt von Bilge Bingül, der dann Diego in Der schöne Tag sein wird), während der Film genau die Monotonie und ganz klassisch die Prekarität ihrer vermeintlichen Nichtarbeit zeigt und auch benennt. Cans erste Worte sind: »Gegen Mittag begann mein Arbeitstag.« Gegen die Besonderung der Devianz setzt Arslan die Monotonie der wiederholten Tätigkeit, die Normalität des Alltags. Die Hoffnung – die Suche nach einem Ort für sich selbst – ist im Grunde der Antrieb für alle Figuren in Arslans Filmen. Wenn man so will, genau diejenige Frage, die so gerne über Staatsangehörigkeit und nationale bzw. kulturelle Identität verhandelt wird, und die noch in Geschwister mit der Figur des Erol auch so angesprochen wird. Im letzten der drei Filme, in Der schöne Tag von 2001, ist das längst kein Thema mehr. Deniz, die junge Schauspielerin, die ihr Geld mit Synchronsprechen verdient – wir sehen Szenen aus Conte d’été von Éric Rohmer (F 1996) –, ist auf der Suche nach ›mehr‹; etwas, das ihr Freund Jan in seiner rastlosen Indifferenz nicht begreift, und von dem sie sich schließlich trennen wird in diesen etwas mehr als 24 Stunden, die der Film umfasst. Auch ihre Suche, die von Blicken und Begegnungen begleitet wird, Zufälligkeiten und Möglichkeiten, die hier sonniger sind als in den beiden anderen Filmen der Trilogie, wird kein Ende finden, was aber nur mit der Leidenschaft der Protagonistin fürs Angetriebensein, für die Bewegung korrespondiert, denn, wie



211 Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, übersetzt von Klaus Englert, Frankfurt/M. 1999 [1985], S. 13. 212 Deleuze, Zeit-Bild, S. 60. 213 Deleuze, Bewegungs-Bild, S. 286.

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Abb. 17 Der schöne Tag (Thomas Arslan, D 2000/01)

Deniz zu ihrer Mutter in einem Gespräch über die Liebe und Ehe und Partnerschaft feststellt: »Wenn sich nichts mehr bewegt, dann ist es zu Ende.« Die Bewegungen sind auch hier solche des Alltags. Im Taxi, zu Fuß, in der U-Bahn, S-Bahn, im Bus – eine Rezension nennt den Film »eine unfreiwillige Hommage an die Berliner Verkehrsbetriebe«214 – folgt die Kamera Deniz zu Gesprächen mit Jan, dem Gespräch mit der Mutter, während Deniz ihre Wäsche dort durch die Maschine laufen lässt, einem kurzen Treffen mit ihrer Schwester Leyla, die in Hamburg lebt und arbeitet und nicht so recht weiß, wie sie mit ihrer gerade entdeckten Schwangerschaft umgehen soll, dem Synchronstudio, den wiederholten, ›beäugenden‹ Zufallsbegegnungen mit Diego, einem Musikredakteur, dessen Freundin für ein Jahr in den USA ist, und mit dem sie durch die Nacht schlendert, nachdem sie sich schlussendlich doch gegenseitig angesprochen haben, nur um am Ende weitere Begegnungen wieder dem Zufall zu überlassen, sowie einem Casting – bei dem Deniz Maurice Pialats À nos Amours nacherzählt. Sie erzählt den Film, nachdem sie aufgefordert wird, etwas von sich zu erzählen, »etwas zu zeigen«, von etwas zu berichten, was sie berührt hat. Diese Szene gehört zu den eindrücklichsten, was die formale Strenge von Arslans Filmen angeht, alleine schon der Intensität der Farben wegen, in deren Rahmungen der Mini-



214 Vgl. Fizel, Derridada, o.S.

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malismus des Schauspiels umso deutlicher wirkt: Hier werden Emotionen inszeniert, ohne zu emotionalisieren. Deniz‹ ausdruckslose Erzählweise vor dem blue screen, die an eine Szene in Dealer erinnert, in der Can mit seiner kleinen Tochter im Aquarium unbeweglich vor den durchs Bild schwebenden Quallen steht, wirkt irritierend und gerade dadurch umso eindrücklicher. Während Can der Kamera den Rücken zuwendet und schließlich aus dem Bild verschwindet, konfrontiert Deniz die Kamera, überlässt sich in aller Ruhe deren Zudringlichkeit, während sie nachdenkt (Abb. 17). Ihr Selbstbewusstsein angesichts einer Situation, in der Nervosität und Aufregung erwartet werden – »Es handelt sich um eine Hauptrolle, trauen sie sich das zu?« »Sonst wäre ich nicht hier« –, verstörte das Premierenpublikum bei der Berlinale 2001 nachhaltig. Ihre ›Ausdruckslosigkeit‹ wurde zur Unfähigkeit der Darstellerin erklärt (Thomas Fizel würde Serpil Turhan daher auch »im wirklichen Leben aus dem Studio«215 schmeißen). Es entfaltet sich dabei das »Falschwirken als Zeichen eines neuen Realismus im Gegensatz zum Echttun des Alten«,216 das nach Deleuze alle Bilder als Klischees entlarvt. Der vermeintlichen ›Echtheit‹, an der es nach Thomas Fizel dem Schönen Tag mangelt,217 setzt die Figur der Deniz eine Suche nach den wahren Gefühlen entgegen. Im Café, als sie auf Elke Schmitter als Professorin für die Geschichte des Alltags trifft, sagt sie: »Es ist so schwer, über Gefühle zu reden, immer, wenn ich es versuche, klingt es irgendwie falsch, so abgedroschen, als würde ich mich ständig wiederholen.« Und während Schmitter in ihrer Antwort für Deniz mit Luhmann das Angewiesensein auf Sprache feststellt, zeigt Arslan im Zusammenspiel der drei Filme, wie er Sprache immer weiter zerlegt und nicht nur die Bilder, sondern auch die Texte als immer schon klischeebefrachtet vorführt. Während sich die Dialoge in Geschwister noch – ganz street credibility – durch Berge von »Mann« und »Alter« wühlen, reduziert Arslan den Anteil an Umgangssprache von Dealer bis zu Der schöne Tag zunehmend. Was bleibt, ist die Aneinanderreihung von Aussagesätzen, an deren Nichtkommunikation sich die Figuren abarbeiten. Die confrontation of the heart verwirklicht sich in der Trilogie generell in der Suche nach dem eigenen Ort, in dem Versuch der Annäherung und dem seltsam unerschütterlichen Glauben an die Möglichkeit der Begegnung, auch wenn in allen drei Filmen ihr stetiges Scheitern die Filme bestimmt. In Der schöne Tag wird Liebe dann schließlich explizit zum Thema gemacht, es ist Deniz’ Antriebsmotor; wobei auch hier nicht die großen, pathetischen Gefühlsäußerungen Nähe erzeugen. Es ist eine Nähe, die wenig zu tun hat mit den üblichen Identifikationsstrategien. Arslans Figurenkonzept, die Schauspielführung, erinnert am ehesten an das, was Bresson ›Modelle‹ genannt hat. Wie Simon Rothöhler schreibt: »Zugespitzt bedeutet das, Laien als



215 Fizel, Derridada, o.S. 216 Deleuze, Bewegungs-Bild, S. 286. 217 Vgl. Fizel, Derridada, o.S.

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Textträger, die authentisch sind (in ihrer Körperlichkeit, in kleinen Gesten), und nicht Authentizität im Sinne des psychologischen Realismus über kunstvolles Schauspiel simulieren. […] Sein (Modelle) statt scheinen (Schauspieler), hat das Bresson reichlich pathetisch formuliert.«218 Ebenjene professionellen Laien, von denen auch Deleuze spricht, die eher zu sehen und sichtbar zu machen wissen, als zu agieren. Arslans Schauspieler sind auch zum größten Teil ›von der Straße‹ gecastet, wobei sich einige im Verlauf der Jahre als Schauspieler_innen professionalisiert haben. Aber worauf es Arslan ankommt, ist auch nicht die paratextuell legitimierte street credibility, nach der allerdings große Nachfrage besteht – wie in der Rezeption des Films zum Ausdruck kam, die darauf abhob, dass der eigentlich für den zweiten Teil der Trilogie vorgesehene Schauspieler kurz vor Drehbeginn im Jungendgefängnis landete. Für Arslan ist schlicht die Präsenz der Schauspieler entscheidend. Die Gefühlsreduktion, auch und gerade in der Auseinandersetzung mit Gefühlen – the heart, not the skin –, führt aber zu ›dünnen‹ Bildern, wie Laura Marks das bezeichnet hat, und womit sie Deleuze‹ Konzept des optischen im Gegensatz zum sensomotorischen Bild meint.219 Weil diese Art Bilder uns nicht mit der ›Dicke‹ von Wiedererkennbarkeit und Handlungszusammenhang begegnen und damit weder erklärt noch mobilisiert werden können, wird die Zuschauerin zum Reflektieren gezwungen. Kino als Medium des Erkennens, nicht des Wiedererkennens: »[It] requires the viewer to puzzle over it.«220 Dieser »frustrating effect«,221 von dem Marks im Zusammenhang mit interkulturellem Kino spricht, ist bei der Premiere von Der schöne Tag auf der Berlinale 2001 nur allzu deutlich geworden: Das Publikum konnte mit der anti-identitären Inszenierung von ›Ausländern‹ nichts anfangen – wie Fizel schrieb: »Repräsentativ oder gar authentisch von der jungen Generation türkischstämmiger Berliner erzählen zu sollen, das fürchtet Arslan wohl wie der Teufel das Weihwasser. […] O là là! Derridada und Lacancan! Das Nicht-Identische grüßt.«222 Wen Fizel in seiner launischen Aufzählung zu erwähnen vergessen hat: Deleuze.

2.7 Fussnoten Das, was die Filme verbindet, ist, daß es sich bei den Hauptfiguren jeweils um junge Personen türkischer Herkunft handelt, die in Deutschland aufgewachsen sind. Jeder einzelne der drei Filme ist jedoch eine von den anderen unabhängige, in sich geschlossene Geschichte. Während der



218 219 220 221 222

Rothöhler, Confrontation, o.S. Vgl. Marks, The Skin, S. 42. Marks, The Skin, S. 47. Marks, The Skin, S. 47. Fizel, Derridada, o.S.

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Arbeit an Geschwister standen die Erzählungen der anderen beiden Filme noch nicht fest. Ein Film hat sich aus dem anderen entwickelt. Aus etwas heraus, was in dem vorhergehenden zu kurz kam oder für das es keinen bzw. zu wenig Raum gab. Obwohl die drei Filme der Trilogie sehr unterschiedlich voneinander sind, hat es mir gefallen, kleine Verbindungsglieder und Verweise zwischen ihnen herzustellen. Dazu gehört auch die Anwesenheit einiger Darsteller, die in unterschiedlichen Rollen in mehreren Filmen erscheinen. Die Rollen waren immer so angelegt, daß etwas von den realen Personen, die sie spielen, einfließen konnte.223

Das, was die (Spiel-)Filme verbindet, die ich für diese Arbeit in den Blick genommen habe, ihre kleinen Verbindungsglieder und Verweise, ist auch über Thomas Arslans Trilogie hinaus, die Anwesenheit einiger Darsteller_innen. Diese Verbindungen sind bisher wie kleine Pop-up-Fenster immer wieder in Fußnoten vermerkt worden, wie der Hinweis auf Emine Sevgi Özdamar, die seit Metin als ›Mutter aller Filmtürken‹ zur Ikone wurde.224 Oder auf Özay Fecht, die, nachdem sie das Kammerspiel von 40 qm Deutschland verlassen hatte, immer wieder als ›Rabenmutter‹ – die Mutter, die keine sein will oder kann – besetzt wurde. Und beide sind eben nicht nur Schauspielerinnen, sondern auch anderweitig Kulturproduzentinnen: als Sängerin, Theatermacherin, Autorin. Claudia Sternberg spricht diesbezüglich von einem »metacinematic effect«.225 Metakinematografische bzw. filmische Elemente adress historical and metaphorical connections between migration and the moving image; they furthermore help to constitute migrant or diasporic subjects not only as characters in but also spectators, performers and makers of films, thus defying objectification and foregrounding agency through metareflexive practice. 226

Sternberg verweist damit auf die Vielzahl von Positionen, »occupied by migrant and diasporic subjects in film and cinema, including productive spectatorship and (potential) agency with regard to production and self-representation.227 Der metakinematografische Effekt, den Sternberg als Kennzeichen eines diasporischen Kinos ausmacht, beschränkt sich dabei nicht nur auf Filmemacher_innen ›mit Migra-



223 Thomas Arslan in einem Interview mit Gabriela Seidel, Gabriela Seidel: »Interview mit Thomas Arslan«, online verfügbar auf der Webseite des Films bei Peripher Filmverleih: http:// www.peripherfilm.de/derschoenetag/dst2.htm#Interview; zuletzt abgerufen am 10.10.2014; Hervorh. N. H. 224 Zuletzt in Doris Dörries 6-teiliger ZDF-Wechseljahre-Fernsehserie Klimawechsel (D 2009). Claudia Sternberg: »Migration, Diaspora and Metacinematic Reflection«, in: Daniela Berghahn/ 225 dies. (Hg.): European Cinema in Motion, Hampshire/New York 2010, S. 256–274, hier S. 256. 226 Sternberg, Migration, S. 256. 227 Sternberg, Migration, S. 270.

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tionshintergrund‹, auch Hark Bohms Wechsel von der Rolle des Arztes in Angst essen Seele auf zu seiner späteren Arbeit als Regisseur von Yasemin228 gehört zu den Phänomenen dieses Kinos; ebenso der bedeutungsgeladene cameoartige Auftritts seines Bruders Marquard Bohm als Jesus in Das Geheimnis (Marquard Bohm war zuvor auch in Angst Essen Seele auf zu sehen, sowie in Hark Bohms Tschetan der Indianerjunge und in N ordsee ist M ordsee und später dann auch in D ealer ). Aber es ist in der Tat anders aufgeladen, wenn Tamer Yiğit oder Serpil Turhahn den Wechsel von vor der Kamera hinter die Kamera vollziehen, da schon der erste Schritt, Schauspieler_ in zu werden, nicht vorgesehen oder selbstverständlich war: Dem Dreh von Geschwister – K ardeşler ging ein monatelanger Castingprozess voraus, der umfangreiche Interviews und Recherchen jenseits der offiziellen Agenturen beinhaltete.229 Die exis-



228 Bohms Debüt als Filmemacher war bemerkenswerterweise ein ›Indianerfilm‹: Tschetan, der I ndianerjunge . Für diesen Film, im Übrigen die erste Produktion des Filmverlags der Autoren in München, bekam Bohm enthusiastische Kritiken, unter anderem wurde Tschetan als »erster Autoren-Western« (Joe Hembus: Western­Lexikon. 1272 Filme von 1894­1975, München/Wien 1977, S. 630) bezeichnet. Bohm arbeitete mit Kollegen, die ihm von den Fassbinder-Produktionen vertraut waren, wie Michael Ballhaus (Kamera) und Peer Raben (Musik). Gedreht wurde der in den Bergen Montanas angesiedelte Film in Bayern. Das Genre der west und ostdeutschen Indianerfilme böte sich im Kontext dieser Arbeit eigentlich auch zur Betrachtung an – zumal im Hinblick auf Geopolitiken und Geschichten der Migration. So wurden beispielsweise sowohl die Indianerfilme der DEFA bzw. die ›roten Western‹ als auch die westdeutschen Winnetou-Filme (und andere Karl-May-Verfilmungen) in Jugoslawien gedreht. Und der große DDR-Star vieler Indianerfilme, Gojko Mitić (der ebenfalls aus Jugoslawien stammte – wie überhaupt die Besetzungspolitik der DDR und der BRD-Filme eine interessante eigene Geschichte von Transnationalität, Migration und einer spezifischen Form des Internationalismus schreibt) war zunächst als Schauspieler in den bundesrepublikanischen Winnetou-Filmen aufgetreten. Die zahlreichen Projektionen die sich in diesen Filmen und an den Drehorten entfalteten – von der Liaison zwischen dem ›guten Weißen‹ (Old Shatterhand) mit den ›Indianern‹, wie sie in den westdeutschen Filmen inszeniert wurde, über die Idee historischer ›Genauigkeit‹ gegenüber den Kämpfen des ›guten Kollektivs‹ der Indianer der DEFA-Filme –, zeigen trotz der signifikanten Unterschiede zwischen DDR und BRD-Produktionen und den in den Filmen propagierten Ideologien eine signifikante Gemeinsamkeit im Hinblick auf ›Indianerromantik‹, über die zentrale gesellschaftliche Selbstverhältnisse ausgehandelt wurden: »Defizite, Verluste, Verdrängungen ebenso wie Ideale und Träume« (Klaus Wischnewski: »Phänomen Indianerfilm«, Auszug aus: ders.: Das Zweite Leben der Filmstadt Babelsberg 1946–1992, Berlin 1994, S. 220–223, online verfügbar auf: http://www. filmportal.de/material/klaus-wischnewski-ueber-den-defa-indianerfilm; zuletzt abgerufen am 10.10.2014). »Begeisterung für Indianer schien wertfrei, grenzen und folgenlos« (ebd.). Hier kann nicht weiter auf diese Fragen eingegangen werden – aber die west wie ostdeutsche, bis heute andauernde (nicht nur filmische) Investition in ›Indianerbilder‹ (und die damit verbundenen Bilderproduktionen) mit Fragen der Migration zu verbinden, stellt definitiv ein spannendes Forschungsfeld dar. Im Hinblick auf das Phänomen des ethnic drag siehe Katrin Sieg: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor 2002.

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tierenden Schauspielagenturen hatten schlicht so gut wie keine entsprechenden Schaupieler_innen unter Vertrag. Auch heute noch dominiert ethnisierendes/rassisierendes Casting,230 wofür auch die verschiedenen Namenseindeutschungen von Schauspieler_ innen und Filmemacher_innen Anzeichen sind,231 und auch Filmförderpolitiken sind nicht frei sind von Zuschreibungen. Auch wenn sich hier eindeutig Veränderungen vollzogen haben: Thomas Arslans letzter Film war ein Western (Gold), und auch Angelina Maccarone macht längst ›nichtmigrantische‹ Filme, um nur zwei Beispiele zu nennen. Diese Veränderungen sind unter anderem auch metacinematic-Einsätzen zu verdanken, zu denen auch Cameo-Auftritte anderer ›Kulturproduzent_innen‹ gehören, wie die des Autoren, DJs und PR-Spezialisten İmran Ayata in Neco Çeliks Alltag, wo er in einer Szene Flugblätter gegen Abschiebung verteilt. Diese Auftritte verweisen auf eine migrantische community, auf Verbindungen und Netzwerke, wie sie Kanakwood 232 gezielt sichtbar gemacht hat. Daneben kommt es auch bei Kamera, Schnitt und Filmmusik zu Verweisen und Referenzen, allen voran auf aus der ›Fassbinder-Familie‹ bekannten Personen wie Per Raaben, Jürgen Jürges und Hark Bohm. Manchmal erzeugen diese Strategien in Verbindung mit den Sujets ›Migration‹ bzw. ›Ausländer‹ und dem darauf projizierten Authentizitätsanspruch auch aussagekräftige Verwechslungen. So meinte beispielsweise Thomas Elsaesser sich bei Katzelmacher zu erinnern, dass Jorgos (gespielt von Fassbinder), der »Griech‹ aus Griechenland«, selbst zum Rassisten wird, als ein türkischer Arbeiter auftaucht.233 Die Figur des anderen Arbeiters und die Szene gibt es im Film aber gar nicht – lediglich im Bühnenstück

229 In den Extras der DVD von Geschwister – Kardeşler (Filmgalerie 451, Berlin 2011) fängt Thomas Arslan seinen Kommentar zum Film genau damit an, von der schwierigen, monatelangen Suche nach den Darstellern zu erzählen. Ausserdem enthalten die Extras einen Auszug aus den »Casting Tapes«. 230 Siehe dazu u.a. Sieg, Ethnic Drag. Aktueller siehe dazu auch die Arbeiten der Plattform »Bühnenwatch«, insbesondere zu den ewigen Blackface-Praktiken auf deutschen Theaterbühnen: http://buehnenwatch.com/blackface-in-germany-eine-kurze-geschichte-der-ignoranz-oder-der-anfang-von-buhnenwatch/; zuletzt aufgerufen am 10.11.2014. 231 Die natürlich auch andere Gründe haben, so z.B. Eheschließungen, oder die Verwendung von existierenden Spitznamen oder Namensteile, aber eben durchaus ihren Grund darin haben, dass die V/Erkennungsdienste des deutschen Ausländerdiskurses dann nicht so leicht greifen, siehe z.B. Mimi Fiedler (geb. Miranda Condic-Kadmenovic, später Miranda Leonhardt), oder Verena S. Freytag (Sülbiye V. Günar) sowie Luk (Haluk) Piyes oder das Beispiel der Theatermacherin Shermin Langhoff (geb. Özel). Es gibt natürlich auch ›umgekehrte‹ Phänomene: Feo Aladag zum Beispiel (Feodora Schenk), oder das des Autors Raul Zelik, des Filmkritikers Toby Ashraf (geb. Tobias Rauscher), der Migrationsforscherin Juliane Karakayali (geb. Schmidt) oder, wie bereits in Anm. 96 ausgeführt, Jakob Arjouni (geb. Bothe). Die jeweiligen Gründe mögen komplex und sehr unterschiedlich sein, im Kontext des deutschen Ausländerdiskurses sind sie jedoch nie ohne Bedeutungsaufladung; sie zeitigen stets Effekte. 232 Siehe Anm. 183 in Kapitel 1. 233 Vgl. Thomas Elsaesser: Fassbinder’s Germany. History, Identity, Subject, Amsterdam 1996, S. 31.

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(das Fassbinder ein Jahr vor dem Film in München inszenierte), in dem Elisabeth auch nicht Zimmerwirtin ist, sondern Arbeitgeberin. In Elsaessers ›Fehllektüre‹ verbinden sich verschiedene Schichten miteinander und setzen sich neu zusammen. So taucht in Elsaessers Blick auf Katzelmacher vermutlich auch die ebenfalls von Fassbinder in Angst essen Seele auf gespielte Figur als Handlungsträger auf, der rassistische Schwiegersohn, der gegen Ali (El Hedi ben Salem), den jungen Liebhaber und späteren Ehemann seiner Schwiegermutter, wettert. Ali ist zwar aus Marokko, andererseits basiert der Film auf einer Geschichte, die bereits in Der amerikanische Soldat (BRD 1970) erzählt wird, und in der es um den Türken Ali geht. Der ursprüngliche Arbeitstitel von Angst essen Seele auf war lange Zeit auch Alle Türken heissen Ali, was als Referenz auch heute noch im englischen Titel des Films auftaucht: Ali. Fear Eats the S oul 234 Elsaessers ›Irrtum‹ steht meines Erachtens zum einen für die inhaltliche Klammer zwischen Katzelmacher und Angst essen Seele auf. Beides sind Filme, die ›Gastarbeiter‹ in Spielfilmen auf die Leinwand der Bundesrepublik brachten.235 Zum anderen steht er für die Involvierung Fassbinders, seine Präsenz vor der Kamera und dafür, dass Fassbinder auch zu einer Chiffre geworden ist für die Anderen, die Differenz: Frauen, Schwule, Transsexuelle, Migranten. Aber vor allem ist es ein ›Irrtum‹, der daran erinnert, dass es beim Filmesehen nicht darum geht – auch wenn Video und DVD und Festplattenspeicherplatz heute die stete Überprüfung ermöglichen –, ›richtig‹ zu sehen oder ›korrekt‹ zu erinnern. Vielmehr geht es gerade um solche Fehl

234 Die seltsame Szene im Amerikanischen Soldaten beginnt mit einem Zitat von Godard aus Vivre sa vie (F 1962): »Das Glück ist nicht immer lustig«; dasselbe Zitat, das auch in Angst essen S eele auf als Texttafel eröffnend eingeblendet wird. Während Ricky (Karl Scheydt), der amerikanische Soldat und Berufskiller, mit Rosa (Elga Sorbas), die ihm von seinen Auftraggebern geschickt wird, weil er »eine Frau will«, bewegungslos im Bett liegt, sitzt das Zimmermädchen (Margarethe von Trotta) auf der Bettkante und erzählt, der Kamera zugewandt, die folgende Geschichte, zu der Fassbinder durch eine Zeitungsmeldung inspiriert wurde: »In Hamburg gab’s ’ne Putzfrau, die hieß Emmi und war schon so 60 oder 65 … Sie kommt eines Tages in eine Gastarbeiterkneipe, wird dort von einem jungen, großen und unheimlich breitschultrigen Mann zum Tanzen aufgefordert. Sie findet ihn schön und tanzt halt mit ihm. Er geht mit ihr nach Hause, sie werden ein Paar, und dann ham sie halt geheiratet, und plötzlich wurde Emmi ganz jung. Von hinten sah sie aus wie 30 oder so. Und ein halbes Jahr haben sie gelebt wie wild und waren unheimlich glücklich […] Dann wird eines Tages Emmi tot aufgefunden, auf ihrem Hals eine Siegelringabdruck mit einem A. Ihr Mann heißt Ali, er wird verhaftet. Der Polizei sagt er, dass er noch viele Freunde hat, die Ali heißen. Und alle haben einen Siegelring. Da ham sie alle Türken verhört in Hamburg, die Ali hießen. Aber viele waren wieder zurück in die Türkei, und die anderen haben nichts verstanden.« 235 Und: »Bei keinem deutschen Regisseur oder Künstler dieser Zeit wird die rassistische Benachteiligung so klar beim Namen genannt wie bei Fassbinder. Vorwerfen lässt sich ihm von der Höhe heutiger Debatten aus eher die Stereotypie, mit der seine Migranten-Charaktere ihre Menschlichkeit fast ausschließlich als gedemütigte Opfer erweisen. So ergeht es aber allen Figuren, die seiner zentralen Obsession nachgebildet sind.« Diederichsen, Verfolger, S. 598.

Hindurchgehen: Den Erzählungen Raum

und

Zeit

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lektüren, um die »Über und Fehlinterpretationen«, von denen Harun Farocki als produktivem Potential spricht.236 Und es geht auch darum, dass das Filmesehen einen eigenen Erinnerungskosmos bildet: Verknüpfungen, Relationen, Ähnlichkeiten und Neu-Zusammensetzungen. Montage und Erinnerung weisen zahlreiche Parallelen und Zusammenhänge auf. Das ändert sich auch nicht durch die Präsenz von ›Überprüfungstechnologien‹, die ja selbst ermöglicht haben, dass das Sehen von Filmen und Videos zur Neuzusammensetzung wird, zur Montage after the fact. Die intertextuelle Verbindung der Filme – the metacinematic – hat auch Bedeutung für die Frage der Vergangenheit (der Filme): Je älter die Filme sind, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie etwas erzählen, etwas zeigen können, was heutige Filme nicht mehr sichtbar machen können. Entgegen dem Konsens, mit dem die 1980er Jahre und ihr ›Problemblick‹ im Hinblick auf die Verbindung von Migration und Kino freudig als ›überwunden‹ angesehen werden, würde ich die Fortschrittslogik selbst in Frage stellen. Dies zum einen im Kontext des deutschen Ausländerdiskurses, der voller Projektionen auf vermeintlich unterentwickelte Migrant_innen steckt (ich erinnere: die alle aus einem anatolischen Dorf zu stammen scheinen), zum anderen aber auch, weil Migration eben nicht gleichzusetzen ist mit den Effekten des Gastarbeiter-Migrationsregimes oder mit deutsch-türkischem Leben; die Beschwörung einer transnationalen Erweiterung des Filmraumes sich aber dennoch statt auf aktuelle Konfigurationen von Migration auf repräsentationspolitische Fragen, die postmigrantische Situation betreffend, bezieht. In den ›alten Problemfilmen‹, so würde ich argumentieren, scheint etwas auf, das erst heute sichtbar werden kann, wo die Vergangenheit nicht nur die ist, die jedem Film inhärent ist, sondern die, deren Koordinaten dessen, was für selbstverständlich gehalten wird, dessen, was vorausgesetzt wird, uns in Vergessenheit geraten sind. Sie zeigen sie uns, und sie zeigen sie natürlich anders als damals, anders, als vielleicht beabsichtigt, weil sich auch das Zusehen in der Zeit ändert. Die Kopräsenz verschiedener Darsteller_innen oder Filmemacher_innen, die intertextuelle/metacinematic Verwobenheit der Filme, ihre Verbindungsglieder und Verweise, stehen auch für diese Vergangenheit und deren Gegenwart im Heute. Sie stehen für vieles: für community, für Netzwerke (und damit sinnbildlich für die Bewegungen der Migration), aber eben auch für die Tatsache, dass Filmemachen, wie Kracauer betont hat, keine Sache eines Einzelnen ist. Sie stehen eben auch für eine eigene Genealogie, einen generationalen Zusammenschluss, eine Möglichkeit, Verbindungen herzustellen zur Vergangenheit, die damit immer schon ein Zeichen der Zukunft ist.



236 Farocki, Bilderschatz, S. 19.

3. Un- /Sichtbarkeiten

Einer der wohl präsentesten visuellen marker des Ausländerdiskurses ist das Kopftuch (der Schleier, der Hijab, die Burka etc.). Die Auseinandersetzungen, die hierzulande um das Kopftuch geführt werden,1 begreife ich neben ihrem Einsatz in den Neuformatierungen eines spezifisch antimuslimischen Rassismus2 als Ausdruck eines Bilder



1 Mit dem Fall der Lehrerin Fereshta Ludin, die 1998 in Baden-Württemberg aufgrund ihres Kopftuchs nicht in den Schuldienst übernommen wurde, und die daraufhin den Rechtsweg einschlug, begann der so genannte Kopftuchstreit in der Bundesrepublik. Er erreichte seinen (vorläufigen) Höhepunkt erst im Jahr 2003, als das Bundesverfassungsgericht die Frage des Kopftuchs zur Sache der Bundesländer erklärte und dann 2015, als das Gericht das Urteil insofern revidierte, als es das pauschale Kopftuchverbot für Lehrerinnen, das seit 2003 in den Schulgesetzen verschiedener Bundesländer bestand, für nicht verfassungskonform erklärte. Auch in anderen Ländern wird über das Kopftuch und verschiedene Verschleierungsverbote diskutiert, so in den letzten Jahren in Belgien, in Frankreich, in der Schweiz, in der Türkei und in den USA. Das Thema Kopftuch bleibt aber auch in Deutschland aktuell, wobei der Antagonismus, den der deutsche Ausländerdiskurs zum Islam perpetuiert, zunehmend über Moscheebauten, Terrorismus/Islamismus sowie Ehrenmord und Zwangsheirat ausgehandelt wird. Interessant ist, dass die Kopftuchstreite fast alle als Rechtsstreite geführt wurden und sehr häufig im Zusammenhang mit Bildungsinstitutionen. So geht es in Frankreich meistens um verschleierte oder kopftuchtragende Schülerinnen, nicht um Lehrerinnen. In der Türkei begannen die Auseinandersetzungen um das religiöse Kopftuch (den türban) an den Hochschulen bereits in den 1980er Jahren und haben seit dem Wahlsieg der AKP mit Ministerpräsident Erdoğan 2003 ebenfalls eine Aktualisierung erfahren. Zuletzt bildete der Krieg in Afghanistan eine Art Rahmen für die überall in Europa geführten Kopftuchdebatten. Die Burka als Emblem der Unterdrückung diente zentral zur Legitimierung der militärischen Intervention. 2 Cengiz Barskanmaz verweist auf die rassistische Aufladung des Kopftuchverbots anhand der Unterscheidung zwischen dem Fall Fereshta Ludin, und einer ›biodeutschen‹ kopftuchtragenden Lehrerin, einer Konvertitin, der das Gericht (das VG Lüneburg) zusprach, dass ihr die mit dem Kopftuch assoziierte fundamentalistische Einstellung als »Deutsche mit evangelisch-lutherischer Erziehung fern liegen dürfte.« (zit. in Cengiz Barskanmaz: »Rassismus, Postkolonialismus und Recht – Zu einer deutschen Critical Race Theory?«, in: Kritische Justiz 3 (2008), S. 296–302, hier S. 299). Siehe dazu auch Iman Attia (Hg.) : Orient- und Islambilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antntimuslimischen Rassismus, Münster 2007; Gökce Yurdakul: »Governance Feminism und Rassismus. Wie führende Vertreterinnen von Immigranten die antimuslimische Diskussion in Westeuropa und Nordamerika beför-

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streits. Ein Bilderstreit, der zwischen zwei visuellen Regimes geführt wird, zwischen dem des ›Schleiers‹ und dem der ›Transparenz‹ – zwischen Opazität, Anikonizität und der Logik der Evokation und des Verweises sowie des Ornaments auf der einen und der Logik der Illustration, der Kongruenz, des Figurativen sowie der Wahrheit der Präsenz auf der anderen Seite. Die Frage der Perspektive spielt darin eine zentrale Rolle: Das visuelle Regime des Abendlands, des Okzidents, das ich hier unter dem Stichwort ›Transparenz‹ zusammengefasst habe, ist geprägt von der Zentralperspektivierung von Blicks, Bildraum und Wahrnehmung. Als künstlerische Strategie in der Renaissance entwickelt, gilt die Zentralperspektive auch als Ursprungsort des Kinos (und anderer technischer Sehgeräte). Wie Erwin Panofsky deutlich gemacht hat, entspricht die Zentralperspektive keineswegs unserem natürlichen Sehen, sie erschafft vielmehr eine bestimmte Betrachter_innenposition (im Raum). In jüngster Zeit wurde der Wissenstransfer zwischen Orient und Okzident neu in den Blick genommen. So hat beispielsweise Hans Belting in Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks3 die Erfindung der Perspektive und die epochale Wende, für die sie steht (handelt es sich doch nicht nur um eine Kunst- und Bildfrage, sondern auch um eine Kulturtechnik, die eine bestimmte Subjektposition hervorgebracht hat), auf ihre Grundlagen in der arabischen Sehtheorie zurückgeführt4 und damit die Abendländischkeit der (Zentral-)Perspektive einem Blickwechsel (auf »Augenhöhe«5) unterzogen. Bei anderen (früheren) Gelegenheiten habe ich den Kopftuchstreit in Deutschland vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner Investiertheit (des ›Warum‹) betrachtet.6





dern«, in: Gökce Yurdakul/Y. Michal Bodemann: Staatsbürgerschaft, Migration und Minderheiten. Inklusion und Ausgrenzungsstrategien im Vergleich, Wiesbaden 2010, S. 111–126; Juliane Karakayali: Rassismus in der Krise. in femina politica 1 (2012), S. 99–107. 3 Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München 2008. Zu diesem neu erwachten Interesse am Resonanzraum Orient/Okzident (oder arabisch-islamischer ›Raum‹ vs. ›Europa‹ – es handelt sich immer um ›aufgeladene‹ Begriffe), siehe auch: Siegfried Zielinski/Eckhard Fürlus (Hg.): Variantology 4. On Deep Time Relations of Arts, Sciences and Technologies in the Arabic-Islamic World and Beyond. Köln 2010. 4 Belting greift hierfür die Forschungsergebnisse Georg Salibas auf, wonach der »Kunst der Perspektive eine Theorie arabischen Ursprungs zugrunde lag« Belting, Florenz und Bagdad, S. 9). 5 Belting, Florenz und Bagdad, S. 13. 6 So zum Beispiel: in einer Reihe von Vorträgen: 27.06.2004, Kunstraum Kreuzberg, Bethanien. Diskussion zur Kopftuchdebatte (u.a. mit Sabine Kebir) im Rahmen der Ausstellung Schwestern im Westen; 06.06.2003 Crossroadz (Antirassistische Filmreihe) in Hamburg (06.08.06.03): Der Prophet und die Madonna im deutschen Kino; 10.09.2005 Deutsche Nabelschau & Christliches Enthüllungsfieber. Oder: Hausaufgaben machen. Panel: Hegemonic Feminism – New European Occidentalism and Muslim Diasporas, Tagung Femme Globale Heinrich Böll Foundation/Center for Transdisciplinary Gender Studies, Humboldt Universität Berlin (8.-10.09.2005); 01.04 2005 The Navel of the Moving Image: Considering Iconoclasm Conference Society for Cinema and Media Studies, London (31.3.-3.4.2005); 06.05.2006 The Aporias of In/visibility: Unveiling (in) Germany. International Cross-Disciplinary Conference

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Mich hat dabei interessiert, warum das Kopftuch, wenn es doch eigentlich eine Marginalie darstellt (schon allein quantitativ, aber auch qualitativ: Meistens werden kopftuchtragende Lehrer_innen, von Kolleg_innen und Schüler_innen nicht als Problem wahrgenommen), mit solcher Heftigkeit umkämpft wird. Ich habe den Kopftuchstreit als Ausdruck der Verhandlungen eines Selbstverhältnisses begriffen (wie auch zuvor den Ausländerdiskurs). Es geht darin also nicht um die Muslima, so meine Diagnose, sondern um ein christliches Ins-Bild-Setzen. Den (deutschen) Streit um das Kopftuch verstehe ich damit, wie auch Christina von Braun und Bettina Mathes ausgeführt haben, als ein Symptom des Westens: »[V]iele aktuelle Aussagen und Texte« lassen sich als Schriften lesen, »die etwas über das Begehren, die Wünsche und Ängste ihrer Verfasser und ihres Zeitalters erzählen.«7 Eine solche rein diskursanalytische Perspektive vermag jedoch nicht mitzuerfassen, dass das Kopftuch nicht nur Gegenstand obsessiver Enthüllungsfantasien, sondern auch Gegenstand komplexer Verhüllungspolitiken ist8. Und obwohl ich das Kopftuch im Weiteren erneut als Projektionsfläche analysieren werde – und so mit von Braun und Mathes (das Kopftuch scheint »zur Leinwand einer Vielzahl von Projektionen des westlichen Ichs geworden zu sein«9) d’accord gehe –, möchte ich an dieser Stelle auf einige Aspekte eingehen, die dieses Vorgehen kritisch rahmen. So ist zumindest auf die Gefahr der doppelten Stillstellung der kopftuchtragenden Frau hinzuweisen, sowohl in den neoorientalistischen und antimuslimischen Diskursen als auch in deren kritischer Analyse. Die Vielschichtigkeit der Kopftuchpraktiken von jugendlichen Mädchen (noch nicht einmal notwendigerweise Muslimas10) in Deutschland findet nur in wenigen Beiträgen Berücksichtigung, genauso wenig wie die Frage, welche Rolle das Kopftuch beispielsweise in Generationenkämpfen und Gruppenstrukturen und einer veränderten sozialen Landschaft spielt11. Aber auch die Reflexion globaler his-





›Racism, Postcolonialism, Europe‹, May 15–17 2006, University of Leeds. Siehe auch Nanna Heidenreich: »Deface the Gaze«, ein Gespräch mit Natascha Sadr Haghighian, Katalogbeitrag, in: No Matter How Bright the Light, the Crossing Occurs at Night, Kunst-Werke Berlin 2006, S. 66–100. 7 Von Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 18. 8 Und läuft damit Gefahr, kulturrelativistisch zu verklären. 9 Von Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 19. 10 Darauf hat mich Ja-El Jank 2004 bei der Sommerakademie der Rosa-Luxemburg-Stiftung hingewiesen, bei der sie aus ihrer Praxis als Sozialarbeiterin und Künstlerin in einem Mädchenzentrum in Hamburg berichtete. So legten viele Mädchen, die das Zentrum besuchten, während der Hochzeiten der Kopftuchdebatten ein Kopftuch an, weil sie wussten, dass es um sie ging, und zwar nicht als Muslimas, sondern als die Anderen, als ›Ausländerinnen‹. Das Kopftuch ist in diesem Sinne auch eine symbolische Reaktion auf Ungleichheitserfahrungen, ein Verweis auf die Nichteinlösung des Versprechens universaler Rechte. 11 Einige Gegenbeispiele: Sigrid Nökels empirische Studie: Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam. Zur Soziologie alltagsweltlicher Anerkennungspolitiken. Eine Fallstudie, B ­ iele­feld

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torischer Veränderungen, wie des Verhältnisses von politischem Islam und Moderne bzw. Modernisierung sowie der Kopftuchkämpfe in anderen Ländern, bleibt in meiner Arbeit unberücksichtigt.12 Generell ist jedoch hervorzuheben, dass in der Gemengelage aus antimuslimischem Rassismus einerseits, zu dem auch der in den letzten Jahren zum Staatsprogramm erklärte ›Feminismus‹ zählt (als Besitzstand und Behauptung einer phallischen Demokratie13), und neuem Forschungsinteresse an Kopftuchdebatten und der Entwicklung eines kritischen Okzidentalismus14 andererseits, migrantische feministische Positionen nur zu oft ausgeblendet werden. Im Falle der Staatsprogrammatik ›emanzipierte Frau‹ ist diese Ausblendung systematisch, um den Authentizitätsanspruch der »muslimischen Kronzeuginnen«15 wie Necla Kelek, Seyran Ateş oder Serap Çileli nicht zu unterlaufen; und um einerseits die speziellen Rechte von Frauen als Wesensmerkmal der deutschen Gesellschaft behaupten zu können, während andererseits gerade kein Beitrag zum Schutz migrantischer Frauen geleistet wird. So liegt der Schwerpunkt der Forderungen weder in dem Bereich der Effektivierung des Opferschutzes noch in der Verbesserung des Zugangs von Migrantinnen zu Frauenhäusern und Beratungsstellen und auch nicht in der Anprangerung von Rassismen innerhalb der Anti-Gewalt-Bewegung oder dem Ausbau interkultureller Anti-Gewalt-Strategien. Sie zielen vielmehr auf einen Einsatz des Rechtsapparats des Migrationsregimes zur Bestrafung und Abschreckung gewalttätiger Migranten.16



2002, ging es dezidiert darum, die subjektiven Deutungspraktiken und die Lebensgeschichten kopftuchtragender Frauen und Mädchen zu Wort kommen zu lassen. Generell besteht jedoch ein eher mangelhaft ausgeprägtes (Forschungs)Interesse an den Stimmen der Mädchen (gleich ob Kopftuch oder ›Porno-Chic‹ tragend oder beides oder weder noch), wie auch Linda Duits und Liesbet van Zoonen in »Headscarves and porno-chic. Disciplining girl’s bodies in the European multicultural society«, in: European Journal of Women’s Studies 2 (2006), S. 103–117, kritisieren. Die Autorinnen notierten darin eine seit Jahrzehnten stetig abnehmendes Interesse an Alltagserfahrungen und strategien von Mädchen sowie an deren (eigenen) Deutungen. Daran änderte auch das großangelegte, interdisziplinäre, europäische Forschungsprojekt VEIL (Values, Equality and Differences in Liberal Democracies. Debates about Female Muslim Headscarves in Europe, 2006–2009) nicht viel, dessen Ergebnisse in Sabine Berghahn/Petra Rostock (Hg.): Der Stoff, aus dem die Konflikte sind. Debatten um das Kopftuch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2009 veröffentlicht wurden. 12 Siehe hierzu die mittlerweile zum Klassiker avancierte Studie Nilüfer Göles: Republik und Schleier. Die muslimische Frau in der modernen Türkei, übersetzt von Pia Angela Lorenzi, Berlin 1995, sowie ihr neuerer Band Anverwandlungen. Der Islam in Europa zwischen Kopftuchverbot und Extremismus (2008). Ebenfalls hervorzuheben ist der von ihr gemeinsam mit Ludwig Ammann herausgegebene Band Islam in Sicht. Der Auftritt von Muslimen im öffentlichen Raum, Bielefeld 2004. Ludwig Ammann betreibt im Übrigen auch einen Filmverleih: die Kool Filmdistribution in Freiburg i.Breisgau, die u.a. »Filme über die islamische Welt« zum Schwerpunkt hat. Siehe http://www.koolfilm.de/koolshop/ueberuns.php4; zuletzt abgerufen am 20.01.2015.

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Im Falle neuer Forschungsansätze ist die Ausblendung teils der überkompensatorischen, kritischen Selbstuntersuchung geschuldet, in der die projektive Übermalung der kopftuchtragenden Frau kritisiert und affirmiert wird,17 teils aber auch jenen Diskontinuitäten und Rezeptionslücken zwischen einer nicht-akademischen oder sich nur an den Rändern der Akademie befindlichen feministischen antirassistischen Kritik und Theoriebildung früherer Jahre und Jahrzehnte und ihrer aktuellen und immer noch vergleichsweise neuen Institutionalisierung (der Gender Studies zum einen und kritischer Migrationsforschung, post_kolonialer Theoriebildung und Rassismusforschung andererseits, die zwar auch an deutschen Universitäten nicht unbedingt neu sind, aber erst in der letzten Dekade vermehrt Aufmerksamkeit in Stellenbesetzungen, Forschungsprojekten, Publikationen und Tagungen erfahren haben und heute insgesamt weniger randständig innerhalb der Akademie zu verorten sind).18







13 Siehe Hage, Warring Societies; Heidenreich/ Karakayalı, Besitzstand und Behauptung; Erdem, In der Falle. 14 Siehe z.B. Gabriele Dietze/Claudia Brunner/ Edith Wenzel (Hg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009. 15 Erdem, In der Falle S. 189. 16 Erdem, In der Falle, S. 189. Siehe dazu auch Birgit Rommelspacher: »Islamkritik und anti­ mus­limische Positionan am Beispiel Necla Kelek und Seyran Ates«, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.): Islamfeindlichkeit Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2009, S. 433–456. 17 Vergleichbar zur Problematik narzisstischer Selbstbespiegelung (und bespielung) in den Critical Whiteness Studies. Siehe u.a. Sara Ahmed: »Declarations of Whiteness: The Non-Performativity of Anti-Racism«, in: Borderlands, e-journal, 2 (2004), http://www.borderlands. net.au/vol3no2_2004/ahmed_declarations.htm; zuletzt abgerufen am 29.10.2014. 18 Encarnacion Guttierez Rodriguez beispielsweise hat zu Recht immer wieder von einer akademischen ›Exil’Situation intellektueller Migrant_innen gesprochen. Nicht-›biodeutschen‹ Wissenschaftler_innen wie ihr selbst waren akademische Karrieren oft nur im Ausland möglich, während in Deutschland Rassismus auch die Stellenbesetzungspolitiken in Bildungsinstitutionen beeinflusst (wieso sollte das an den Institutionen höherer Bildung auch plötzlich anders sein, wenn zahlreiche ›migrantische‹ Akademiker_innen davon berichten, dass ihnen in der Grundschule trotz hervorragender Noten häufig der Hauptschulbesuch nahegelegt wurde und sie sich die Gymnasialempfehlung regelrecht erkämpfen mussten). Rodriguez selbst war lange Jahre in Großbritannien tätig und wurde 2013 auf eine Professur an der Justus-Liebig Universität Gießen berufen. Es ist aber sicherlich auch nicht zufällig, dass generell Theoretiker_innen, oft mit kleinem i, auch ›biodeutsche‹, die sich mit schwarzer deutscher Geschichte, Rassismus und Migration befasst haben, vor allen Dingen in den USA einen Ort für diese Themen gefunden haben: u.a. Fatima El Tayeb, Katrin Sieg, Barbara Wolbert, Barbara Mennel. Natürlich ist in all diesen Fällen nicht einfach oder eventuell auch gar nicht von einem akademischen ›Exil‹ zu sprechen. Es geht aber dennoch darum, deutlich zu machen, welche Geschichte – und sei es die ihrer Abwesenheit – solche Themen (und Personen) in der deutschen Universitätslandschaft haben. Dazu zählt beispielsweise auch die Geschichte des Orlanda Frauenbuchverlags, dessen Publikationen im Bereich Antirassismus/Feminismus

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An dieser Stelle analysiere ich das Kopftuch also vor allem als Projektionsfläche, als christliche Projektionsfläche in Deutschland. Allerdings betrachte ich den Kopftuchstreit/Bilderstreit als einen ›Kreuzungspunkt‹. Daraus ergibt sich für mich ein wesentlicher Unterschied: Auch wenn der Kopftuchstreit ein Sprechen über ist (zum Zwecke der Aushandlungen eines Selbstverhältnisses), welches sich in der Analyse dieses Sprechens über fortsetzt, behaupte ich eine Präsenz, ebenjene migrantische Perspektive, auf die ich mit dem Fokus auf das Beziehungszeichen hinweise.19 Diese Präsenz zeigt sich vor allem in den Widersprüchen, die in die Selbstbezüglichkeit des Diskurses interveniert. Ein Beispiel: Regisseurin und Hauptdarstellerin von Shirins Hochzeit, Helma Sanders-Brahms und Ayten Erten, sahen sich Protesten und Morddrohungen von türkischen Rechten (den sogenannten ›Grauen Wölfen‹) ausgesetzt, die auch vor dem WDR in Köln anlässlich der Erstausstrahlung demonstrierten.20 Brahms





für eine Theoriebildung an der Grenze / jenseits der Akademie stehen. Siehe auch: Nanna Heidenreich: »Die Kunst der Migrationen«, in: Annika McPherson et al (Hg.): Wanderungen. Migrationen und Transformationen aus geschlechterwissenschaftlicher Perspektiven, Bielefeld 2013, S. 217–230. 19 Ich maße mir jedoch nicht an, »für die stummen Zeugen zu sprechen ohne für sie zu sprechen«, wie Jacques Derrida die Abwesenheit eines »Moslems«, »Vertreter anderer Kulte« sowie einer »Frau« in der illustren Versammlung auf Capri 1994 kommentierte, aus der der bei Suhrkamp als Taschenbuch veröffentlichte Band Die Religion hervorging (mit Beiträgen von Gianni Vattimo, Derrida, Eugenio Trias, Aldo Giorgio Gargani, Vincenzo Vitiello, Maurizio Ferraris und Hans-Georg Gadamer). Jacques Derrida/Gianni Vattio: Die Religion, Frankfurt/M. 2001, hier S. 14. 20 Zum Ausmaß der Proteste und Drohungen findet sich auf der Verlagswebseite von Zweitausendeins, wo der Film in der Reihe Edition Deutscher Film als DVD erschien, der folgende Hinweis: »[D]ie rechtsgerichtete türkische Tageszeitung ›Tercüman‹ machte unverblümt Hatz auf Hauptdarstellerin und Regisseurin, selbst das türkische Parlament diskutierte über ›Shirins Hochzeit‹ und 1980 tauchte Protagonistin Ayten Erten unter« (http://www.zweitausendeins.de/shirins-hochzeit-zweitausendeins-edition-deutscher-film-5–1976.html, zuletzt abgerufen am 29.10.2014). Die Behauptung, Ayten Erten wäre untergetaucht, oder, wie es im deutschen Wikipedia-Eintrag bis Dezember 2013 hieß, dass sich ihre Spur verliere (http:// de.wikipedia.org/wiki/Ayten_Erten; siehe dazu die Versionsgeschichte; diese Stelle wurde am 16.12.2013 um 18.21h von der Userin »Nicola« korrigiert), ist ebenfalls aufschlussreich: Eine einfache Internetrecherche ergibt einen Hinweis auf ein Panel in Istanbul, an dem sie am 18.04.1987 im Rahmen der Internationalen Kino-Tage neben John Berger, Jo Schaefer, Erik Clausen und Aras Ören teilnahm, im Atatürk-Kulturzentrum. Thema war »Avrupa’da Yedinci Adam« (Der siebte Mann in Europa), Moderator Yavuzer Çetinkaya (http://www.cumhuriyetarsivi.com/…/sayfa/1987/4/18/4.xhtml; zuletzt aufgerufen am 29.09.2013; heute nicht mehr einsehbar). Mein Dank gilt Koray Yilmaz-Günay, der meinen Zweifeln am Wikipedia-Eintrag nachging und dies für mich herausfand. Zülfukar Çetin schließlich hat die Recherche zu den Protesten in der Türkei weitergeführt und den Protokollen des Cumhuriyet Senatosu, des Senats der Republik (der damaligen kleineren Kammer der Großen Nationalversammlung der Türkei mit Sitz in Ankara), wie folgt

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beschreibt, wie auch die Hörzu gegen den Film polemisierte, und parallelisiert diese Polemik mit der türkischer Nationalisten.21 Deutsche und türkische reaktionäre Stimmen hatten sich zu einem Bündnis formiert gegen die Kritik an patriarchalen Verhältnissen und sexueller Gewalt. In dieser Erzählung geht jedoch ein weiterer Protest unter: In einem Interview mit Volker Canaris beschrieb Ayten Erten, dass es mit den türkischen Komparsen bei der Massenszene im Düsseldorfer Flughafen (inszeniert wurde die Ankunft eines Flugzeugs mit türkischen ›Gastarbeiter_innen‹) ihrer »Dörflichkeit« wegen Ärger gab: »Sie waren böse, dass ich als Shirin ein Kopftuch getragen haben (sic).«22 Ihre Analyse: »Sie wollten im Kino keine Frauen sehen, wie sie wirklich sind. Ich war so wirklich.« (Hervorh. N. H.) Die Proteste gegen die ›Dörflichkeit‹ der Filmfigur markiert meiner Ansicht nach eine entscheidende Differenz zu den Protesten der ›Grauen Wölfe‹ (auch wenn es sich in beiden Fällen um Repräsentationskritik handelte). Im Fluss der Darstellung der Rezeptionsgeschichte von Shirins Hochzeit wird jedoch beides zusammengefasst. Erst die Re-Lektüre eröffnet den Blick auf die Irritation, den Widerspruch in der Beschreibung der Standpunkte von Film, Regisseurin, Schauspielerin und der ›Wirklichkeit‹, die die türkischen Migrant_innen angeblich ›nicht sehen wollten‹. In diesem Sinne werde ich also auch den Bilderstreit als Kreuzungspunkt begreifen. Es sind die Berührungspunkte, die den Konfrontationen entstammen, die mich interessieren. So betrachte ich im Folgenden Fragen des Verhältnisses von Islam und Christentum in der Entwicklung des Bilderverbots auf der einen Seite und der





entnommen, dass im März 1976 dort Fragen des Senats an die türkische Botschaft in Bonn und das türkische Außenministerium zum Film verhandelt wurden. Der Senat stellte fest, dass der Film die Ehre, Stolz und Moral der Türken verletze und zur Verachtung der türkischen Bevölkerung im Ausland beitrage und wollte wissen, wie die Botschaft und das Außenministerium zu intervenieren gedächten. Die Botschaft antwortete, dass sie den deutschen Medien mitgeteilt habe, dass eine zweite Präsentation inakzeptabel sei, eine entsprechende Pressemitteilung sei veröffentlicht worden. Die Botschaft habe aber auch versucht, die türkischen Bürger_innen in der BRD zu beruhigen, und diese gebeten, sich nicht provozieren zu lassen. Vgl. CUMHURİYET SENATOSU TUTANAK DERGİSİ, 45 nci Birleşim, 11.3.1976 Perşembe. (Protokoll des Senats der Republik, 45. Sitzung. 11.03.1976, Donnerstag). Die Wikipedia-Userin »Nicole« gibt außerdem in der Versionsgeschichte des deutschen Wikipedia-Eintrags zu Protokoll, dass Ayten Erten mit ihrer Heirat den Nachnamen Uncuoğlu angenommen hat und unter diesem Namen weiterhin erfolgreich als Schauspielerin gearbeitet hat, nicht nur in der Türkei, sondern auch in SOKO Leipzig Folgen sowie im Fernsehfilm Zeit der Wünsche (Rolf Schübel, D 2005). Siehe dazu auch den entsprechenden IMDB Eintrag http://www.imdb.com/title/tt0446513/?ref_=nm_flmg_act_15; zuletzt abgerufen am 10.12.2014. 21 Siehe die Webseite des Deutschen Filmhauses: http://www.deutschesfilmhaus.de/filme_einzeln/s_einzeln /sanders_helma/shirins_hochzeit.htm, zuletzt aufgerufen am 19.09.2008; heute nicht mehr einsehbar. 22 Zitiert ebd.

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Verbildlichung auf der anderen, betrachte die verschiedenen Formen und Folgen der (christlichen) Säkularisierung und die An und Abwesenheiten des Kopftuchs. Am Ende dieses Teils der Arbeit werde ich dann über die Möglichkeiten eines produktiven Ikonoklasmus bzw. Anikonismus nachdenken. Dabei fokussiere ich unter anderem das Ornamentale sowie eine ganz bestimmte Einstellung, den, wie ich es nenne, Maschrabiyya-shot, mit dem ich Aspekte des Fensterblicks weiterdenke, und der als Burka-shot zwar Einschluss signalisieren soll, aber eine andere Art des Sehens signalisiert.

3.1 Transparenz

vs .

Schleier. Ein Bilderstreit Visibility is a complex system of permission and prohbition, of presence and absence, punctuated alternately by apparitions and hysterical blindness. Laura Kipnis, Ecstasy Unlimited. On Sex, Capital, Gender and Aesthetics23

Das Blickregime des Abendlands ist auf die Enthüllung gerichtet, sein visuelles Register ist das der Transparenz. Sichtbarkeit bedeutet darin, dass das, was zu sehen ist, eindeutig ist, wahr und deckungsgleich. Der christlichen Vorstellung von der Wahrheit des Bildes steht das Prinzip des Anikonismus, der Nichtdarstellbarkeit und des Verweises gegenüber. Der Antagonismus von Christentum und Islam (oder von Okzident und Orient) aktualisiert sich auch heute v.a. als Bilderstreit, wie in den Auseinandersetzungen um das Kopftuch (und allem, was darunter und dahinter projiziert wird: die entrechtete Frau, Zwangsheirat, Ehrenmorde etc.). Sinan Çetins Film Berlin in Berlin kann als eine vielschichtige Inszenierung des ›westöstlichen Blicks‹ betrachtet werden. Der Film beginnt, wie bereits erwähnt, mit einer ganzen Reihe von Hin und Verweisen im Sinne des Ausländerdiskurses: auf die Macht der Kamera, auf Hierarchien im Arbeitsalltag (die Verbindungen von Klasse und ›Rasse‹), auf die Positionierung im Verhältnis zur Kamera (sowohl diejenige, die die Filmaufnahmen macht, als auch die, die die Aufnahmen im Film macht) und damit zum Filmraum. Dazu kommt noch das Zitat des Umbaus der Bundesrepublik, der Großbaustelle Berlin. Eine Baustelle, die die letzten beiden Jahrzehnte bevölkert war (und ist) von transnationalen Migrant_innen, illegalisierten wie ›legalen‹, zumeist jedoch jenseits der national definierten Arbeitnehmerrechte, deren Vertretungsinstrumentarien (allen voran die Gewerkschaften) sich auf die Praxis des Subunternehmertums erst in den letzten Jahren einzustellen begannen.24



23 Kipnis zit. in Avery Gordon: Ghostly Matters. Haunting and the Sociological Imagination, Minneapolis 2004, S. 15.

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Thomas, der Bauingenieur und Hobbyfotograf, arbeitet auf einer solchen Großbau­ stelle. Die Eröffnungssequenz macht sofort die Dramatik des Films greif-, genauer: hörbar, durch den Klang der Kirchenglocken und die dramatisch nachhallenden Schuss-Analogien des Auslösers der Fotokamera. Thomas‹ Stills, die Fotografien, die als Einschnitte im Bilderfluss erscheinen und als gejagte und erbeutete Bilder, zeigen die Stadt von oben, durch einen Maschendraht vermittelt, Menschen auf einem Platz sitzend, Punks vor einer alten Mauer, ein Straßenmusiker, ein Mann mit Schnauzbart und Hut, neben einem MAX-Plakat mit einem lächelnden Model, im Hintergrund ein Volksmusikplakat (ein erster Hinweis auf ein ethnisch definiertes und geschlechtlich codiertes Thema) und dazwischen Thomas mit der Kamera, der Einstellungen ins Auge fasst und dann hinter dem Objektiv verschwindet. Dann löst der Film sich von dieser Verkörperung, der Ton wird ›naturalisiert‹, es sind Geräusche von der Straße zu hören, die Kamera schwenkt nach oben, erfasst die enorme Größe des unfertigen Gebäudes. Dann wieder ein Blick von oben, auf Dilber (Hülya Avşar) und Mehmet (Zafer Ergin), wie sie langsam über die Baustelle gehen. Ein großes Kameraobjektiv schiebt sich ins Bild, von rechts, auf die beiden Personen gerichtet, es folgt ein Schnitt, und wir sehen Thomas, der die Kamera in der Hand hält. Er verbirgt sich hinter einer Betonbrüstung und beginnt, Bilder zu machen, erneut von einem erhabenen Standpunkt, von einem weiter oben liegenden Stockwerk. Von Dilber und Mehmet, wie sie zusammen Mittagspause machen. Das Teleobjektiv fängt Momente ein, in denen Dilber scheinbar direkt in das Auge der Kamera, also auch des Betrachters, zu blicken scheint. Für das letzte Foto erfasst die Kamera sie alleine, sie hat gerade das Kopftuch zurechtgerückt, zieht kurz die Zipfel des, aus heutiger Sicht altmodisch, schlicht unter dem Kinn zusammengebundenen, Stoffquadrates zusammen, die Hände lösen sich, und genau in dem Moment schießt Thomas ein – das – Foto, ihre Hände angehalten in der Bewegung, die so den Kopf rahmen, die Finger auf der Höhe der Augen betonen diese und scheinen den nach vorne gerichteten Blick zu unterstreichen. Ein Bild von großer Intensität – und voller (Be-)Deutungsmacht, das in Berlin in Berlin beständig wiederkehren wird, als Foto im Filmbild und in den Kadrierungen von Dilber. Darauf folgt ein Schwarzbild mit der Einblendung von Sinan Çetins Namen, dem Regisseur und Produzenten, und dann wieder ein Draufblick, von dramatischer Musik unterlegt, die das ›Einläuten‹ des Kirchturms und Bilderschießens aufgreift. Thomas‹ und Dilbers Wege kreuzen sich auf der noch im Rohbau befindlichen Treppe. Jetzt ›sieht‹ die Kamera des Regisseurs und setzt uns ins Bild. Der Draufblick dient bereits als Verweis auf Thomas‹ Arbeit, auf die Bau und Aufrisszeichnungen, die in seinem Büro hängen. Seine eigentlichen Bilder, die er ebenfalls in seinem Büro aufhängt, mit denen er die Wände schmückt, sind aber die, die er fotografiert. Nachdem Dilber und er sich auf



24 Beispielhaft siehe hierzu die Filme Un Monde Moderne (Sabrina Malek/Arnaud Soulier F 2005) und Die Polen vom Potsdamer Platz (Kornel Miglus/Dorothee Wenner D 1998).

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der Treppe begegnet sind, wo er ihr seinen Blick aufdrängt, geht das Beobachten und Bildereinfangen weiter. Durch gestapelte Rohre, die Ausschnitte und Perspektive produzieren, Thomas auf der einen, Dilber auf der anderen Seite. Er verliert sie zwischen Betonsäulen aus den Augen, fängt an zu rennen, sie hat ihn längst entdeckt, spürt die (visuelle) Verfolgung, verbirgt sich hinter einer Säule und tritt hervor, um ihn zu konfrontieren: wortlos, nur mit der Intensität ihrer Augen, auf die die Kamera zoomt, der Blickwechsel ein klassisches Schuss-Gegenschuss-Szenario, wobei durch die Betonung und Dynamisierung im Blick auf Dilber (durch den Zoom) Thomas‹ Blick quasi zur Kamera wird: Thomas ist die Kamera. Die entscheidenden Bilder, die Thomas von Dilber aufgenommen hat, sind Bilder des Blicks und Kopftuchbilder. Kurz darauf werden sie von Dilbers Mann Mehmet in Thomas‹ Büro entdeckt. Die Aufnahmen sind zahllos, er erkennt Thomas‹ Obsession und missversteht sie dennoch. Er konfrontiert Dilber, beschimpft sie; Thomas fotografiert die beiden aus sicherem Abstand, immer schneller löst er die einzelnen Bilder aus, dann schließlich greift er ein, will Mehmet festhalten, drückt ihn gegen eine Wand und dabei seinen Hals auf einen aus der Mauer ragenden Nagel; er stirbt. Und wie als Hinweis auf die eigentliche Todesursache ist dabei Thomas‹ Fotoapparat daneben im Bild zu sehen, auf die das Blut spritzt. Ein Drama wird in Gang gesetzt, in dessen Folge Thomas eine Art Update-Version des ungläubigen Thomas durchlaufen wird, auf die ich später noch genauer eingehen werde. Bevor ich mich jedoch zunächst mit dem Kopftuch beschäftige und dann mit der Frage des Blicks, möchte ich einige Grundlagen legen für eine genauere Auseinandersetzung mit diesem ›Stück Stoff‹. Dazu komme ich zunächst etwas ausführlicher auf den Antagonismus von Christentum und Islam zu sprechen, den ich als eine Komponente des deutschen Ausländerdiskurses begreife, was wiederum umgekehrt bedeutet, dass dieser Diskurs als einer der umstrittenen Bilder zu begreifen ist. Der Antagonismus begründet sich, wie ich zeigen werde, von Anfang an in einem Bilderstreit. Und er ist zugleich von höchster Aktualität, was die gegenwärtigen Konjunkturen des Rassismus angeht und die globalen Verschiebungen in den (Geo-, Bild und anderen) Politiken seit dem 11. September 2001. Um das Kopftuch und den Schleier und um die Rolle und den Ort des Islam wird zwar nicht erst seit diesem Datum gestritten, man kann aber zweifellos von einer Zuspitzung sprechen. Wie Bazon Brock bereits 1973 mit Blick auf den damaligen ›Bilderkrieg‹, dem Streit um das Verhältnis von Kunst und Welt sowie der Diskussion um den Wirklichkeitsbeweis des Bildes, festgestellt hat, kann »unsere Problemlage noch immer mit jenen historischen Positionen verdeutlicht werden«25, wie sie im byzantinischen Bilderstreit ausformuliert wurden. Der im Folgenden ebenfalls vorgenommene Blick



25 Bazon Brock: »Der byzantinische Bilderstreit«, in: Martin Warnke (Hg.): Bildersturm, die Zerstörung des Kunstwerks, München 1973, S. 30–39; hier S. 30.

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Abb. 18 & 19 Berlin in Berlin (Sinan Çetin, D/TR 1993)

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Abb. 20 & 21 Berlin in Berlin (Sinan Çetin, D/TR 1993)

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auf den byzantinischen Bilderkrieg dient auch mir als hilfreicher Bezugspunkt in der Analyse der aktuellen Auseinandersetzungen. Denn wir können uns »über die Macht der Bilder und ein Ethos der Bildlichkeit nur unter der Voraussetzung Gedanken machen […], dass wir die historischen Grundlagen einbeziehen, auf denen die Macht der Bilder errichtet ist.«26 Zumal das (bildpolitische) Verhältnis von Islam und Christentum, wie Micha Brumliks Ausführungen nahelegen,27 entscheidend im byzantinischen Bilderstreit des 8. und 9. Jahrhunderts28 bestimmt wurde, an dessen Ende das Christentum sich für die Bilder entschied.29 Entscheidend ist hierfür, dass die Frage des Bilderverbots oder vielmehr des Bildergebots von nun an unauflöslich verknüpft ist mit der Frage nach der Wahrheit des Christentums. Wie Micha Brumlik festhält: »Wie ein Christentum, das sich im 8. Jahrhundert zur radikalen Bilderlosigkeit bekehrt hätte, heute aussehen würde, wissen wir nicht.«30 Aber: Daß es dem Islam sehr ähnlich sähe, scheint gewiss. Mehr noch, erst der Ausgang des byzantinischen Bilderstreits zugunsten der Ikone hat jene historische Gestalt geschaffen, die wir als Christentum, als christliche Kultur kennen. Das Auseinandertreten von Christentum und Islam und damit beider Konstitution als eigenständige religiöse Kulturen hat sich erst damals ereignet.31

Auch Mazhar Şevket İpşiroğlu datiert den Beginn der Entstehung der christlich-abendländischen Kultur auf das Ende des byzantinischen Bilderstreits.32 Das heißt: Erst ab dem 7. Jahrhundert wurde Bilderverehrung zu einem breiten Phänomen im Christentum – und das im selben geographisch-politischen Raum, in dem der Islam seinen Siegeszug antrat.33 Allgemein als ›Auftakt‹ des byzantinischen Bilderstreits gilt die Entfernung des Christusbildes von der Bronzetür des kaiserlichen







26 Christina von Braun: »Bilderverbot, Bilderverehrung und Geschlechterbilder«, in: Richard Schröder/Christina von Braun/Johannes Zachhuber (Hg.): Was hat uns das Christentum gebracht? Versuch einer Bilanz nach zwei Jahrtausenden: Eine interdisziplinäre Vorlesungsreihe, Münster 2003, S. 181–201; hier S. 199. 27 Siehe Kapitel 2, »Vom theologischen Sinn des Bilderverbots«, in: Micha Brumlik: Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot, Frankfurt/M. 1994. 28 Ich verwende hier ebenso wie in den folgenden Zeitangaben die christliche Zeitrechnung, wie ich sie aus den zitierten Quellen übernommen habe. 29 Und seither die ikonoklastischen Argumente dieser Zeit nur in den Polemiken der Bilderfreunde tradiert werden, vgl. Metzler 1988: 28. 30 Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 54. 31 Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 54. 32 Vgl. Mazhar Şevket İpşiroğlu: Das Bild im Islam. Ein Verbot und seine Folgen. Wien/München 1971, hier S. 22. İpşiroğlu (1908–1985) studierte in Hamburg, Berlin und Bonn, wo er 1933 promovierte. Er lehrte Philosophie und Kunstgeschichte in Tübingen und Istanbul und ist eine wichtige Figur der modernen türkischen Kunstgeschichte. 33 Vgl. Brumlik , Schrift, Wort und Ikone, S. 48–49.

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Palastes in Byzanz (und dessen Ersatz durch ein schlichtes Holzkreuz) im Jahr 726 durch Kaiser Leon III.,34 der 717 gekrönt worden war (ein im Übrigen sehr erfolgreicher Feldherr im Kampf gegen die Araber35). Vor dem Hintergrund der Präsenz des Islam kam seine Tat einem Skandal gleich. Umso mehr, als Kalif Jezid II. das um ca. 700 ausgesprochene Bilderverbot von den Moscheen auf die im muslimischen Bereich liegenden Kirchen ausgedehnt hatte.36 Aufgrund seines Anbringungsortes musste diese Ikone, so Christian Hecht, als Staatsikone angesehen werden.37 Auch wenn der Beginn des byzantinischen Bilderstreits sich anders zugetragen haben sollte (»die politischen und sozioökonomischen Hintergründe des Ausbruchs des byzantinischen Bilderstreits sind bis heute nicht eindeutig geklärt«38), die Entfernung des, sich höchster Verehrung erfreuenden, Christusbildes (das danach mehrfach ersetzt und wieder abgenommen wurde) wurde in der byzantinischen Geschichtsschreibung zum Symbol des Streits. Heute liegt an der Stelle des Baus die Haltestelle der Busse, die Touristengruppen zur Hagia Sophia bringen.39 Der Islam selbst, so İpşiroğlu, kannte historisch keinen Bilderstreit wie das Christentum, nur den Streit um die Bilder der Christen.40 Dennoch verwendet Almir Ibric für die Eroberung Mekkas durch Mohammed im Jahr 630 die problematische Beschreibung eines ersten »islamischen Bildersturm[s]«.41 Damals zerstörte Mohammed die um die Kaaba aufgestellten Götzenbilder und entfernte dann die in ihr befindlichen Bilder, u.a. mit Darstellungen aus dem Leben Abrahams (der die Kaaba nach der Sintflut wiederaufgebaut haben soll und im Islam nicht nur als Prophet anerkannt ist, als Hanif, als monotheistischer Gottsucher und heiliger Mann, gilt, sondern auch als ›erster Moslem‹). Auf einem der Bilder war Maria mit dem Jesuskind abgebildet, vor dieses soll sich Mohammed schützend gestellt haben. Das Bild fiel später einem Brand zum Opfer; aber zunächst, wie der islamische Rechtsgelehrte Mohammad Hashim Kamali es ausdrückt, umarmte der Prophet die Madonna,42 worin eine bemerkens-





34 Vgl. Christian Hecht: »Das Christusbild am Bronzetor. Zum Bilderstreit als theologischem Phänomen«, in: Karl Möseneder (Hg.): Streit um Bilder: von Byzanz bis Duchamp, Berlin 1997, S. 1–25, hier S. 2. 35 717 schlug er sie vor Konstantinopel zurück, vgl. İpşiroğlu, Das Bild im Islam, S. 21. 36 Vgl. Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 49. 37 Vgl. Hecht, Das Christusbild, S. 2. 38 Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 49, sowie Hecht, Das Christusbild, S. 2. 39 Vgl. Hecht, Das Christusbild, S. 2. 40 Vgl. İpşiroğlu, Das Bild im Islam, S. 23. 41 Almir Ibric, Das Bilderverbot im Islam, Marburg 2004, S. 97. Belting insistiert m.E. zu Recht darauf, die Frage des Bilderverbots nicht als eine des Bildersturms zu begreifen bzw. beide voneinander zu trennen. Auch er analysiert Bilderstürme im Zusammenhang mit christlichen Bildern (vgl. Belting, Florenz und Bagdad, S. 69). Dennoch beschreibt Belting Mohammeds Eroberung Mekkas und die Zerstörung der Idole als »ikonoklastischen Gründungsakt der Religion« (ebd.).

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werte Verbindung von Islam und Christentum zum Ausdruck kommt, im Bild oder vielmehr im Verhältnis zum Bild, eine Umarmung, die sich allerdings im Verlauf der Geschichte ins Gegenteil verwandelte.43 Belting datiert den ersten Streit um Bilder im islamischen Raum auf die Zeit des Kalifen ʿAbd al-Malik (685–705), dessen Bruder als Gouverneur in Ägypten regierte, die dortigen Christen aufgrund ihrer Bilderpraxis mit Drohungen bedachte und ein Marienbild in einem koptischen Kloster bespuckte. Weiterhin wird als historischer Ausgangspunkt (bei Belting, İpşiroğlu und Ibric mit Verweis auf André Grabar) Kalif Yazid II. erwähnt, der im Jahr 721 ein ikonoklastisches Edikt erließ und in der Folge Kreuze und Bilder in den Kirchen zerstören ließ.44 Von letzterem Bildersturm heißt es laut Rudi Paret in K. A. C. Creswells Studie von 1946, The Lawfulness of Painting in Early Islam, dass dieser von einem Juden angeregt worden sei;45 eine These, die sicherlich auch mit dem ubiquitären Antijudaismus in den Texten der christlichen Bilderverehrer in Verbindung zu bringen ist. Denn, wie Micha Brumlik betont, »haben seit Johannes Damaszenus beinahe alle christlichen Befürworter der Bilderverehrung ihre Praxis mit einem antijudaistischen Argument«46 un





42 Vgl. Mohammad Hashim Kamali: »Der Prophet umarmt die Madonna«, in: Berliner Zeitung (10.03.2001), http://www.berliner-zeitung.de/archiv/mit-ihrem-bildersturm-berufen-sich-dietaliban-zu-unrecht-auf-den-islam-der-prophet-umarmte-die-madonna,10810590,9884042. html; zuletzt abgerufen am 10.11.2014. 43 Laut Ibric wird die Beschreibung der Bilder unterschiedlich bewertet (siehe ders., Das Bilderverbot, S. 97, wo dieser auf Rudi Paret verweist). An dieser Stelle halte ich es jedoch nicht für notwendig, die ›Wahrheit‹ bezüglich der Bilder herauszufinden. Vielmehr ist, denke ich, relevant, dass es die narrative Tradierung einer ›Umarmung‹ der Madonna durch den Propheten gibt. Kamalis Formulierung von der »Umarmung« verweist auf die enge Beziehung zu Judentum und Christentum, die den Islam von Beginn an kennzeichnet. Diese beruht zunächst auf dem Selbstverständnis als Menschen des Buches, zu denen auch die Christen und Juden gezählt werden (vgl. Ibric, Das Bilderverbot, S. 35, und Markus Hattstein: »Der Islam – Weltreligion und Kulturmacht«, in: Markus Hattstein/Peter Delius (Hg.): Islam: Kunst und Architektur, Köln 2000, S. 9–33., hier S. 18). 44 Vgl. Belting, Florenz und Bagdad, S. 71, Ibric, Das Bilderverbot, S. 100. 45 Rudi Paret: Schriften zum Islam. Volksroman, Frauenfrage, Bilderverbot (Hg. von Josef van Ess), Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1981, S. 213. Vom Islamwissenschaftler Rudi Paret (1901–1983) stammt die 1962 erstmalig erschienene deutsche Koranübersetzung, die bis heute gleichermaßen als maßgeblich und umstritten gilt. Sir Keppel Archibald Cameron Creswell (1879–1974) gilt als Begründer der Wissenschaftsdisziplin Islamischer Kunst und Architektur (und es versteht sich im Kontext dieser Arbeit hoffentlich von selbst, dass ich diese Fundierungsbehauptung kritisch zitiere. Auch und gerade Wissenschaftsgeschichte ist einer postkolonialen, kritischen Betrachtung zu unterziehen). Creswells umfangreiche Sammlung an Büchern und Fotografien gehört heute zur Bibliothek der Amerikanischen Universität in Kairo. Siehe dazu den Eintrag im Islamic Art Network, ein Projekt der Thesaurus Islamicus Foundation: http://www.islamic-art.org/CreswellExhibition/Creswell.asp; zuletzt aufgerufen am 30.09.2014.

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termauert. Umstritten ist nun, wann genau sich das islamische Bilderverbot entwickelt hat, da es zu Zeiten Mohammeds noch nicht bestand und auch im Koran nicht explizit enthalten ist: Die dortigen Textbelege beziehen sich nur auf den Götzendienst.47 Ibric geht dennoch davon aus, dass Mohammeds Zerstörung der Götzenbilder in Mekka für ein praktisch existierendes Bilderverbot steht, auch wenn um 630 noch kein formales (theoretisches) Bilderverbot kodifiziert gewesen sei. Genauer begreift er dies als Ausdruck des für die Fundierung des Islams zentralen Polytheismusverbots, welches Ibric generell mit dem Bilderverbot gleichsetzt: Er begreift das Bilderverbot ausschließlich als Polytheismusverbot und bezeichnet es daher auch nur als »sogenanntes«.48 Der Streit um die Datierung des islamischen Bilderverbots lässt sich auch durch den Blick auf die Kodifizierung des Bilderverbots in der Sunna, also der Gesamtheit der Hadithe, der Überlieferungen der Handlungen, Taten und Reden des Propheten, nicht schlüssig beilegen, da die ältesten Glieder der Überlieferungsketten (arabisch: Isnad), also der Bezug auf die jeweiligen Gewährsmänner, die ›Stützen‹, in den meisten Fällen »aufgestockt«49 wurden. Die Frage der Datierung ist jedoch insofern interessant, weil damit versucht wird, den Islam zum Bilderstreit von Byzanz ins Verhältnis zu setzen. Wer hat hier nun wen beeinflusst? Dass Kaiser Leon III. 726 mit der Zerstörung einer Christusikone am Palasttor von Konstantinopel – bezeichnend: des heutigen Istanbuls50 – den Bilderstreit begann, kann alleine schon als bemerkenswert gelten. Brumlik spricht sogar von einem Skandal, da Leon III. sich damit zum Islam







46 Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 51. So war beispielsweise Bildfrevel »ein beliebter Vorwurf in der antijüdischen Propaganda« (Belting, Das echte Bild, S. 175). Zu den Anschuldigungen von Ritualmorden und Hostienfrevel siehe auch: Anne von der Heiden: »Blutiger Mord. Absolutes Bild und Transformation«, in: Anja Lauper (Hg.): Transfusionen: Blutbilder und Biopolitik in der Neuzeit, Zürich/Berlin 2005, S. 51–70. 47 Vgl. Dieter Metzler: »Bilderstürme und Bilderfeindlichkeit in der Antike«, in: Martin Warnke (Hg.): Bildersturm, die Zerstörung des Kunstwerks, Frankfurt/M. 1988, S. 14–29, hier S. 28, sowie İpşiroğlu, Das Bild im Islam, S. 22 und Ibric, Das Bilderverbot, S. 33. 48 Ibric, Das Bilderverbot, S 102, siehe auch S. 33, 97–99. Hier bezieht sich Ibric auf den Titel eines Vortrags von Joseph Karabacek, damals Professor an der Universität Wien, den dieser am 07.02.1876 im Bayerischen Gewerbemuseum in Nürnberg gehalten hatte: »Das angebliche Bilderverbot des Islam«. In diesem Vortrag argumentierte Karabacek, dass es kein Bilderverbot im Islam gebe, weil dieses nicht im Koran kodifiziert sei, und die Hadithe für ihn unglaubwürdige Überlieferungen darstellten; siehe Joseph Karabacek: Das angebliche Bilderverbot des Islam, Nürnberg 1876. 49 Paret, Schriften zum Islam, S. 238. 50 Der Name Istanbul, so Peter Weibel, soll sich vom Griechischen eistenpolin ableiten, was ›zur Stadt‹ bedeutet. Die Wegweiser um Konstantinopel wurden angeblich von den Osmanen missverstanden. Offiziell gab Mustafa Kemal Atatürk 1930 der Stadt Konstantinopel den neuen Namen Istanbul (vgl. Peter Weibel: »Istanbul – Spiegel von Europas Zukunft?«, in: Roger Conover/Eda Cufer/Peter Weibel (Hg.): Call me Istanbul ist mein Name. Kunst und urbane Visionen einer Metapolis, Tübingen/Berlin 2004, S. 13–25, hier S. 13).

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positionierte bzw. in seine Nähe rückte. Über dieses Näherrücken wurde (und wird) auch deshalb spekuliert, da Leon III. auch den Bau der ersten Moschee in Byzanz genehmigte.51 Es gibt allerdings auch Forschungsliteratur, die die Ausbildung des islamischen Ikonoklasmus auf das Ende des byzantinischen Bilderstreits datiert, also erst, nachdem das Christentum sich für die Bilder entschieden hatte (so zum Beispiel K. A. C. Creswell und Oleg Grabar, wie Paret ausführt52). Für die dem byzantinischen Bilderstreit vorgängige Kritik am Bild im Islam spricht jedoch auch die Münzreform des umayyadischen Kalifen ʿAbd al-Malik (dessen Bruder, wie schon erwähnt, bereits früher im Zentrum von Auseinandersetzungen bezüglich der christlichen Bilderpraktiken gestanden hatte), mit der von 696 an keine Herrscherbildnisse, wie in Byzanz oder bei den Sassaniden üblich, auf den Münzen mehr zugelassen wurden, sondern nur noch arabische Schriftzeichen.53 Die Münzreform wird zwar auch damit begründet, dass mit ihr die Arabisierung des arabischen Reiches durchgesetzt wurde. Aber wie auch immer man diesbezüglich urteilen möchte, es scheint überzeugend, die Entwicklungen im byzantinischen Reich und im Islam als miteinander verknüpft zu betrachten und die entscheidenden Entwicklungen des islamischen Bilderverbots nicht erst auf das Ende des 8. Jahrhunderts zu datieren, als in Byzanz der Bildersturm schon auf seinem Kulminationspunkt angekommen war. Paret nimmt daher entgegen anderer Forschungen, wie denen von Creswell und Grabar, die ex negativo durch die Abwesenheit eines Bezugs auf ein islamisches Bilderverbot (bei gleichzeitiger Polemik gegen den Islam als solchen) in den Schriften von Johannes von Damaskus, also dem Verfasser der bedeutsamsten christlichen Theologie des Bildes,54 argumentieren, ein gemeinsames ›Erbgut‹ an – auch wenn sich dieses dann in den verschiedenen theologischen Systemen unterschiedlich entwickelt haben mag.55



51 Vgl. Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 49 und Metzler, Bilderstürme, S. 2. Leon III. wurde allerdings auch immer wieder jüdischer Einfluss oder die Zugehörigkeit zu einer häretischen Strömung unterstellt, vgl. Hecht, Das Christusbild, S. 6. 52 Vgl. Paret, Schriften zum Islam, S 249–250. 53 Siehe Ibric, Das Bilderverbot, S. 100 und Paret, Schriften zum Islam, S. 267 sowie Belting, Florenz und Bagdad, S. 72–73. 54 Johannes von Damaskus’ Vater und Großvater hatten hohe Ämter am Kalifenhof inne. Johannes folgte den beiden, wurde aber unter Ummat II., einem strenggläubigen Muslim, seines Amtes enthoben: »Die Arabisierung der Verwaltung schloss einen griechischen Christen aus. Johannes zog sich in das griechische Sabas-Kloster bei Jerusalem zurück, wo er jahrzehntelang mit dem Wort für die Bilder und den christlichen Glauben kämpfte.« (Belting, Florenz und Bagdad, S. 70–71) Seine Bildertheologie richtete sich jedoch gegen Byzanz; er reagierte auf die bilderfeindliche Politik Kaiser Leons III. Seine »Reden gegen die Bilderschmäher« verfasste er vermutlich im Jahre 730 (vgl. Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 50). In seinen Texten kommen, wohl aus Vorsicht, wie Belting mutmaßt, die Bilder selbst nicht vor. Aber die Fleischwerdung des Wortes zog darin dessen Darstellbarkeit nach sich (vgl. Belting, Florenz und Bagdad, S. 71).

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In der Folge von Byzanz hat sich das Christentum also ins Bild gesetzt, und zwar auf eine Weise, die dann später durch die ›Entdeckung‹ der Natur und die Entwicklung der Zentralperspektive weitere Ausformungen fand. Und zu dieser Ins-Bild-Setzung gehörte nicht nur von Anfang an der bereits genannte explizite Antijudaismus, sondern auch die Grenzziehung zum Islam.56 Nun aber zum Bilderverbot selbst. Wie im Judentum gilt im Islam ein strenges Bilderverbot. Im Gegensatz zum Christentum offenbart sich Gott – Allah – nicht in der Fleischwerdung des Wortes, sondern im Koran selbst, in der Heiligen Schrift.57 Für das »Bild im Islam« heißt dies laut İpşiroğlu in seinem eponymen Band:







55 Vgl. Paret, Schriften zum Islam, S. 267–268. Dieses geteilte Erbschaft, so Silvia Naef, drückt sich weniger in einer »Verwandtschaft« aus als vielmehr »in einer parallelen Entwicklung in einem vergleichbaren kulturellen Kontext, in dem auch andere Kulturen […] bilderlose Kulte […] praktizierten.« (Silvia Naef: Bilder und Bilderverbot im Islam. Vom Koran bis zum Karikaturenstreit, Übersetzt von Christiane Seiler, München 2007, hier S. 32) Sie bezieht sich für ihre Argumentation zum einen auf Oleg Grabar, demzufolge die Festlegung eines Bilderverbots der Praxis des Verzichts auf bestimmte Darstellungen nicht vorausging, sondern erst danach instituiert wurde, sowie auf Trygge Mettinger, der das Fehlen figürlicher Darstellungen als Gemeinsamkeit vieler semitischer Völker des Orients konstatiert, sowie nicht zuletzt auf den Orientalisten Gustave E. von Grunebaum und dessen These, dass byzantinischer und islamischer Ikonoklasmus sich nicht gegenseitig beeinflusst hätten, sondern »zu einem gemeinsamen Gedankengut [gehören], das im Vorderen Orient herrschte.« (ebd.) 56 Umso deutlicher wird, dass der heutige Bilderstreit um das Kopftuch sowie die neuen Formen des Rassismus, die sich gegen ›den Islam‹ richten, gemeinsam betrachtet und in ihrer Historizität analysiert werden müssen. Dass in diesem Komplex auch Antisemitismus eine Rolle spielt, zeigt beispielsweise der Skandal um den ehemaligen Direktor des Zentrums für Türkeistudien in Essen, Faruk Şen, der im Sommer 2008 in einer türkischen Zeitschrift den jüdischen türkischen Unternehmer Ishak Alaton adressierte, der öffentlich über seine Erfahrungen mi Antisemitismus gesprochen hatte. Şen bezeichnete in seinem Kommentar, der als Solidarisierung gemeint war, die Türken in Europa (damit meint er auch die türkischen Migrant_innen z.B. in Deutschland) als die neuen Juden – bezugnehmend auf Erfahrungen mit einem neuen antimuslimischen Rassismus. In der Folge der Diskussion um seine Äußerungen musste Şen zum Ende des Jahres 2008 seinen Leitungsposten aufgeben. 57 »Das arabische Wort Qur’an leitet sich von dem Verb ›lesen‹ oder ›vorlesen‹ ab, denn Gottes Wort musste den Gläubigen vorgelesen werden, damit sie es auswendig lernten. […] Dazu bedurfte es des Mediums der Schrift, in der das Wort fixiert und geschützt war.« (Belting, Florenz und Bagdad, S. 80) Der Koran umfasst die Sammlung der an Mohammed ergangenen Offenbarungen. Die in Reimform gehaltenen 114 Abschnitte (Suren) von unterschiedlicher Länge wurden nach Mohammeds Tod als mündliche Überlieferungen gesammelt und aufgeschrieben. Begonnen hat damit der erste Kalife Abu Bakr, die bis heute als kanonisch geltende Fassung geht auf den dritten Kalifen Uthman zurück. Die heilige Schrift, der Koran, die »Mutter des Buches«, gilt als Niederschrift des bereits seit Anbeginn aufgezeichneten Urschrift, sie ist also die Verschriftlichung von Wort und Wahrheit (vgl. Hattstein, Der Islam, S. 16–18).

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Das ideelle Wesen des Göttlichen ist nach islamischem Glauben bildlich nicht erfassbar und die Sinnenwelt, die von der göttlichen Wahrheit durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt wird, ist bloßer Schein und der Darstellung nicht wert. Daher bleiben Gott und die Wirklichkeit, die beiden voneinander nicht zu trennenden Grundthemen der christlich-abendländischen Malerei, der islamischen Bildkunst durchaus fremd. Der Islam kennt also nicht nur kein Gottesbild, er kennt auch keine getreue Nachahmung der diesseitigen Welt.58

In der Sprache des Korans gibt es keine Unterscheidung zwischen bilden, nachbilden und gestalten, und Gott (Allah) wird nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Maler bezeichnet.59 So ging es im Bilderstreit der orientalischen Christen um die Verehrung der Bilder, die zeitgenössischen Muslime sprachen dagegen dem Bild als solchem die Daseinsberechtigung ab und stellten demjenigen, der Bilder herstellte, die Höllenstrafe in Aussicht, wie es in einem Hadith heißt.60 Dabei ging es spezifisch um Bilder von Lebewesen – Menschen und Tieren –, also um anthropomorphe Bilder, da zu diesen nicht nur die äußere Form, sondern auch der Lebensodem gehören. Ein solches Bild herzustellen, bedeutete, dem Schöpfer »ins Handwerk zu pfuschen«,61 denn nur dieser allein kann den gestalteten Wesen das dazugehörige Leben einhauchen.62 Das Bilderverbot bezieht sich vermutlich deshalb auch auf Tiere (und nicht auf Pflanzen), so Paret, weil beide (Tiere und Menschen) sich frei bewegen können, Pflanzen dagegen an ihren Standort gebunden sind.63 Es ist also verboten, etwas Bewegliches festzulegen, zu fixieren – hierin gleicht diese Auslegung des islamischen Bilderverbots dem alttestamentarischen, zumindest, wenn man die englische Übersetzung zum Vergleich



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Die »Verankerung der Wahrheit in der Materialität der Schrift« zeigt sich auch daran, »dass der Koran in anderen Sprachen als dem Arabischen nur Interpretation ist und Mohammed ummî, d.h. des Lesens und Schreibens ›unkundig‹ (im Sinne von ›unberührt‹ oder ›jungfräulich‹) ist.« (Dorothée Kreuzer: »Die Kollision von Transparenz und Schleier«, in: Joachim Valentin (Hg.): Weltreligionen im Film. Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus, Buddhismus, Marburg 2002, S. 89–98. hier S. 97) Hier ist auch auf die Bedeutung des gesprochenen, des rezitierten Wortes im Islam hinzuweisen, also auf den zentralen Stellenwert der Oralität. Die Suren geben meist die an Mohammed gerichtete, direkte Rede Gottes wieder, daher wird auf deren mündlichen Vortrag im Islam sehr viel Wert gelegt, und die Koranrezitation folgt diffizilen sprachlichen und formellen Regeln (vgl. Hattstein, Der Islam, S. 18). Wie von Braun und Mathes schreiben, ist das Übersetzungsverbot (das allerdings nicht strikt eingehalten wird) auch Ausdruck dafür, die »›körperliche‹ oder orale Qualität des Koran zu erhalten« (von Braun/ Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 131). İpşiroğlu, Das Bild im Islam, S. 9. İpşiroğlu, Das Bild im Islam, S. 22. Vgl. Paret, Schriften zum Islam, S. 240. Paret, Schriften zum Islam, S. 241. Siehe dazu auch Belting, Florenz und Bagdad, S. 76; Naef, Bilder und Bilderverbot, S. 25. Vgl. Paret, Schriften zum Islam, S. 241.

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heranzieht: »Thou shalt not make any graven image onto thee« (Exodus 20,4; Hervorh. N. H.; im Deutschen dagegen: »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen«64). Nur wenn der Kopf vom Rumpf getrennt wird, darf auch ein Lebewesen dargestellt werden, denn dann »werden sie wie Bäume. Und was Bäumen gleicht, ist wie Schrift und Ornament«,65 und zu Schrift und Ornament als wichtigen Bestandteilen sogenannter islamischer Kunst komme ich am Ende dieses Kapitels noch. Belting interpretiert die erlaubte Kopflosigkeit vor allem als Ausdruck des islamischen Bilderverbots als Blickverbot: Bilder »durften den Betrachter nicht zu einem Blicktausch verführen, wie man ihn nur mit lebenden Personen wechseln konnte.«66 Lebewesen können demnach auch dann dargestellt werden, wenn sie sich auf Teppichen oder Sitzkissen befinden, weil, so Belting, dann der Blick nicht verführt werde, wie es bei der Wandhängung der Fall sei. Paret argumentiert hier über den Wert, der etwas beigemessen werde. Bodenbilder sind demnach erlaubt, da »das, worauf man tritt, […] nicht wie ein Götze (der angebetet sein will) [ist], denn es ist nicht hochgeschätzt.«67 Immer wieder taucht jedoch als zentrale Frage die nach der Macht der Bilder auf, nach den Effekten, die Bilder zeitigen können, sowie nach der in der Visualisierung zum Ausdruck kommenden Verehrung. Letztlich, so mein Argument, ist genau diese Frage, also die nach der Macht der Bilder, aus der Perspektive eines Potentials, einer Möglichkeit, die eigentlich relevante Frage in der Diskussion um das Bilderverbot. Eine Frage, die wiederum engzuführen ist mit dem Aspekt der Verantwortung, also einer Ethik des Bildes, die sowohl ästhetische Strategien wie den Ort der Bilder (ihren Einsatz) als auch ihre Rezeption betrifft. Für Gott, Allah, selbst, so Ibric, gilt zunächst, dass er zwar darstellungswürdig ist – jede Darstellung kommt einer Erhöhung im göttlichen Sinne gleich –, aber deshalb





64 vgl. Adam Lowe: »To See the World in a Square of Black«, in: Bruno Latour/Peter Weibel (Hg.): ICONOCLASH: Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art, Cambridge (MA)/London 2002, S. 544–568, hier S. 553. 65 Paret, Schriften zum Islam, S. 242. 66 Belting, Florenz und Bagdad, S. 77. 67 Paret, Schriften zum Islam, S. 242, siehe auch Naef, Bilder und Bilderverbot, S. 17). Hier sei an das Mosaik mit dem Gesicht des damaligen Präsidenten der USA, George H. W. Bush, im Al-Rashid-Hotel in Bagdad erinnert, das den Boden des Eingangsbereichs bildete. Während der US-Invasion 2003 zerstörten amerikanische Soldaten das Mosaik und ersetzten es durch ein Bild Saddam Husseins; beide Bilder sollten jeweils mit Füßen getreten werden. Die US-Soldaten übernahmen damit die Logik der irakischen Schöpfer des Mosaiks, im Gegensatz beispielsweise zur Logik des Walk of Fame in Los Angeles. Er enthält zwar nur Namen und keine Bilder, aber interessant ist, dass Muhammad Ali sich gegen seinen Stern wehrte. Er empfand das Herumlaufen auf seinem Namen – zumal, wenn es Personen sein sollten, die keinen Respekt vor ihm hätten – als Herabwürdigung. Sein Stern ist der einzige, der nicht auf einer Gehwegplatte eingelassen ist, sondern 2002 an der Wand des Kodak Theatres (heute: Dolby Theatre) angebracht wurde.

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nicht dargestellt werden kann, weil er sich den raumzeitlichen Koordinaten entzieht: Nichts ist mit ihm vergleichbar, wie es Sure 42:11 formuliert. Mohammed dagegen ist insofern nicht darstellbar, als er, so Ibric, »nur« Mensch sei und damit eben nicht »darstellungswürdig« (in ebenjenem erhöhenden Sinn).68 Nun ist gerade die bildliche Darstellung Mohammeds in den letzten Jahren zum Ausgangspunkt heftiger Auseinandersetzungen geworden. Der sogenannte Karikaturenstreit um die im September 2005 in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten veröffentlichten Mohammed-Karikaturen (die Serie wurde unter dem Titel Muhammeds ansigt, Mohammeds Gesicht, publiziert) hatte massive Auseinandersetzungen zur Folge, in deren Verlauf zahlreiche Menschen starben. Der Karikaturenstreit (oder auf Dänisch: die Muhammedkrisen, die Mohammedkrise) wird seither immer wieder neu aufgegriffen und weitergeführt, wie beispielsweise mit dem Protest des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdoğan Ende März 2009 gegen die geplante Ernennung des dänischen Ministerpräsidenten Anders Fogh Rasmussen zum künftigen Nato-Generalsekretär. Die Darstellung sämtlicher Details dieses ›Streits‹ bzw. dieser ›Krise‹ würde hier zu weit führen.69 Festzuhalten ist jedoch, dass es sich dabei selbstverständlich nicht um eine religionsimmanente Auseinandersetzung über die Auslegung des Bildverbotes handelt. Die Verbindung von politischen Auseinandersetzungen mit Bildern steht für das, was Tom Holert, ausgehend von der tendenziellen Ununterscheidbarkeit von Bild-Ereignis und historischem Ereignis, Regieren im Bildraum70 nennt. Der Karikaturenstreit ist insofern ein besonderer Fall, als das Ereignis in diesem Fall das Bild (die Bilder) selbst zu sein scheint, genauer die Karikaturen, dass das Zentrum, dass sie besetzen, jedoch eine Leerstelle aufweist. Sie sind zu einem Referenzsystem geworden, innerhalb dessen der Bildinhalt zwar zunächst Auslöser war, aber zugleich von Anfang an niemals ausreichte. So spricht die Tatsache, dass weitere Zeichnungen in der Zirkulation zu den ›ursprünglichen‹ zwölf hinzugefügt wurden, gegen die Zentralität des Bildinhalts; auch war teilweise von bis zu hundert Karikaturen die Rede, außerdem fanden Proteste und Ausschreitungen statt, ohne dass die Beteiligten die Bilder tatsächlich selbst gesehen hatten. Weitaus wichtiger als der Bildinhalt war der Zeigegestus geworden, der Verweis und die Bezugnahme selbst. Teil einer solchen Bilderpolitik oder Politik um/mit Bildern ist auch die regelmäßig damit verbundene Praxis der Aufklärung und geschichtlichen Kontextualisierung sowie der religionshermeneutischen Auslegungen





68 Ibric, Das Bilderverbot, S. 42. 69 Die Karikatur hat im Übrigen eine lange Geschichte in den Bilderstürmen und Bilderstreiten des Christentums. In Das echte Bild beschreibt Hans Belting beispielsweise die Karikatur als Bildpolemik im Bilderstreit der Reformation, siehe ebd., S. 198ff. Sigrid Weigel legt dar, dass der sogenannte Karikaturenstreit eher auf Traditionen aus den europäischen Religionskriege zurück verweist und dass es sich dabei eigentlich nicht um einen Streit um Karikaturen handelt, vgl. Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 233ff. 70 Tom Holert: Regieren im Bildraum, Berlin 2008.

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des »sogenannten Bilderverbots«, wie Ibric es nennt. So finden sich insbesondere im Internet71 zahlreiche Bilder- und Textsammlungen zur Geschichte und Gegenwart der Darstellungen Mohammeds, die von Mohammedbildern in der Geschichte islamischer Kunst (mit und ohne Gesicht) über die Illustrationen von Dante Alighieris Göttlicher Komödie, in der Dante von Virgil durch die Hölle geführt wird, wo er auch den Propheten Mohammed zu sehen bekommt, der zur Strafe für das Herbeiführen von Uneinigkeit in zwei Teile geteilt wird, bis zur Verfilmung des Lebens Mohammeds durch Moustapha Akkad (Al-Risȃla, GB/MA/LY/USA 1976, in den USA 1977 unter dem Titel The Message herausgebracht) reichen. Der letztgenannte, epische Film ist ein besonders bemerkenswertes Beispiel, das trotz großangelegter production values und Stars wie Anthony Quinn sagenhaft scheiterte. Der Regisseur (der 2005 Opfer der Al-Qaida-Anschläge in Amman, Jordanien, wurde und vor diesem Film als Produzent der Halloween-Filme bekannt geworden war) versuchte, dem Gebot der Nichtdarstellung des Propheten vollständig gerecht zu werden und setzte deshalb eine konsequent subjektive Kamera ein.72 Wir, das heißt: die Kamera, sehen mit den Augen des





71 Islam, Islamismus und Internet bilden ein neues Forschungsfeld. So untersucht Ibric das islamische Bilderverbot im Verhältnis zum Internet, wobei er auch – ziemlich knapp – das Thema islamische Netzästhetik anspricht (vgl. Almir Ibric: Islamisches Bilderverbot. Vom Mittel- bis ins Digitalzeitalter, Wien 2006). Eine deutlichere These führt der Autor, Kurator und Künstler Sven Lütticken ins Feld, der auch eine Ausstellung zur Produktivität des Bilderverbots (The Art of Iconoclasm, BAK Utrecht, 30.11.2008 – 1.3.2009) als Teil eines umfassenden Projekts mit dem Titel The Return of Religion and Other Myths realisierte (siehe dazu: http://svenlutticken.blogspot.de/2008/12/until-first-of-march-2009-bak-basis.html; zuletzt aufgerufen am 30.09.2014. Lütticken zitiert den Künstler Sean Snyder, der von einer gewollten Ästhetik der verpixelten Bilder in den Al-Qaida-Videos, die ins Netz gestellt werden, spricht; die schlechte Bildqualität ist für Snyder Ausdruck einer dezidiert ikonoklastischen Haltung (vgl. Sven Lütticken: »Art and the New Image Wars«, in: Rosi Braidotti/Charles Esche/Maria Hlavajova (Hg.): Citizens and Subjects: The Netherlands, for example, Zürich/Utrecht 2007, S. 158–173, hier S. 171. Eine verwandte Ausstellung – wesentlich größeren Maßstabs, von Lütticken allerdings als Negativ-Folie zur eigenen Ausstellung herangezogen – wurde von Peter Weibel, Bruno Latour, Adam Lowe, Hans-Ulrich Obrist, Dario Gamboni, Peter Galison und Joseph Leo Koerner im ZKM in Karlsruhe 2002 ausgerichtet: Iconoclash. Jenseits der Bilderkriege/ Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art (vgl. Bruno Latour/Peter Weibel: ICONOCLASH. Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art, Cambridge (MA)/London 2002). Für weitere Auseinandersetzungen mit Islam und Internet siehe beispielsweise: Gary Bunt: Virtually Islamic: Computer-mediated Communication & Cyber Islamic Environments, Cardiff 2000; ders: Islam in the Digital Age. E-Jihad, Online Fatwas and Cyber Islamic Environments, London 2003 und zu Schnittstellen digitaler Ästhetiken, New Media Art und islamischer Bildtraditionen Laura U. Marks: Enfoldment and Infinity. An Islamic Genealogy of New Media Art, Cambridge/MA 2010. 72 Zumindest Naef behauptet, die Einhaltung des Darstellungsverbots sei nicht vom Filmemacher selbst gewählt worden, er sei vielmehr auf Grund negativer Reaktionen bereits im Vor-

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Propheten, ohne dass diese Konstellation filmisch jemals aufgelöst wird. Mohammed ist in der Tat im ganzen Film sehend, aber nicht zu sehen. Seine Präsenz wird, wenn nicht durch die subjektive Kamera, durch leise Orgelmusik angedeutet (Maurice Jarres Soundtrack wurde 1977 für einen Oscar nominiert). Da auch seine Stimme dem ›Abbildungsverbot‹ unterliegt, werden die Worte des Propheten, wenn nötig, von anderen Figuren, wie dem von Anthony Quinn gespielten Onkel Mohammeds, wiederholt. Wie Naef betont, geht es in den meisten vergleichbaren Auseinandersetzungen weniger um die Frage des Bilderverbots selbst, als vielmehr um das, »wofür es steht«,73 also um die Botschaften, »die transportiert werden sollen«.74 Naef fragt daher ähnlich wie Ibric, ob überhaupt von einem islamischen Bilderverbot gesprochen werden kann. Für Naef kommt dabei die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum sowie zwischen religiöser und profaner Bildpraxis bzw. Kunst zum Tragen. Wie sie betont, war für die islamische Religion von Anfang an entscheidend, dass Bilder nicht als Kultgegenstände zugelassen wurden, da sie als unrein galten. Die Trennung zwischen profan und heilig wird im Islam über die Unterscheidung zwischen rein und unrein vermittelt.75 Das heißt, dass das Bild zwar im religiösen Kontext nicht zulässig war, aber »von Anfang an seinen Platz im privaten und profanen Leben der Menschen«76 hatte, ebenso, wie es in der Volkskunst auch im öffentlichen Bereich seinen Ort fand. Auch Oleg Grabar betont diesen Unterschied zwischen der Entwicklung des Bildes im Christentum und im Islam und schreibt: »[Z]u Zeiten, wo andernorts die religiöse Kunst dominierte, war das im islamischen Raum v.a. die profane Kunst und das Kunsthandwerk. […] Der Ausdruck des Glaubens spielt in der islamischen Kunst, abgesehen von der Architektur und der Kalligrafie, keine bedeutende Rolle.«77 Daher hält auch Naef es für ungenau, von einem Bilderverbot im Islam zu sprechen. Darin käme eine Sichtweise zum Ausdruck, die von der christlichen Praxis der Bilderverehrung beeinflusst sei. Sie schlussfolgert daher: »Statt von einem ›Bilderverbot‹ sollte man vielleicht besser von dem Umstand sprechen, dass dem Bild im Islam bestimmte Funktionen zukommen, die sich von denen unterscheiden, die das Christentum kannte und immer noch kennt.«78



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feld der Produktion dazu gezwungen worden (vgl. Naef, Bilder und Bilderverbot, S. 108). Der Film wurde dennoch massiv kritisiert, in Ägypten kam er daher nie in die Kinos, und in den USA gab es eine blutige Geiselnahme durch Black Muslims, die in Washington die Vorführungen unterbinden wollten (vgl. ebd.). Naef, Bilder und Bilderverbot, S. 136. Naef, Bilder und Bilderverbot, S. 136. Vgl. Naef, Bilder und Bilderverbot, S. 26–27. Naef, Bilder und Bilderverbot, S. 131. Oleg Grabar: The Mediation of Ornament, Princeton/NJ 1992, S. 39. Naef, Bilder und Bilderverbot, S. 137.

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3.2 Im Westen

nichts

Neues? Säkularisierung,

die

Erste

Bevor ich auf islamische Bildstrategien im Kontext der Frage nach dem produktiven Potential des Bilderverbots zurückkomme, werde ich zunächst den Widerhall des byzantinischen Bilderstreits, die Wendung des Christentums zum Bild, thematisieren und damit auch die Sedimentierungen des Christentums in der heutigen Gesellschaft. Dieser Blickwinkel schließt an Paul Giles‹ Argument an, dass »critics of contemporary art have too often neglected the significance of ways in which religious forces operate in a culturally materialist (rather than theological) sense«;79 eine These, die er in seinem Artikel zum »Cinema of Catholicism« von Robert Altman und John Ford formuliert hat. Giles richtet den Blick dabei weniger auf die offensichtlichen Auseinandersetzungen mit religiösen Inhalten und Fragen, sondern auf das, was er als »residual cultural determinant«80 bezeichnet und als religiöse Transformationen bzw. Transformationen des Religiösen untersucht.81 Dies ruft unmittelbar das Konzept der Säkularisierung auf, auf das ich im Folgenden (sowie auch in 3.4) näher eingehen werde. Das Christentum hat sich im Gegensatz zu den beiden anderen monotheistischen Buchreligionen für das Bild entschieden.82 Dieses Ins-Bild-Setzen wurde mit der Fleischwerdung des Wortes durch Jesus Christus als Sohn Gottes begründet. Der für die Bilderfreunde entscheidende Bezugspunkt war dabei die Festlegung auf die Formel der doppelten Natur Christi, als Mensch und Gott, wie sie auf dem Konzil von Chalcedon 451 festgeschrieben wurde.83 Auszuhandeln war allerdings noch die Frage des Verhältnisses dieser beiden Naturen. Hecht interpretiert den byzantinischen Bilderstreit daher als einen Streit um den Stellenwert oder die Bewertung von Materie und damit der menschlichen Natur Christi. Seit dem Konzil von Chalcedon ging es in den christlichen Theologiedebatten immer wieder um die orthodoxe Bilderlehre. Auf dem siebten





79 Paul Giles: »John Ford and Robert Altman. The Cinema of Catholicism«, in: Lester D. Friedman (Hg.): Unspeakable Images. Ethnicity and the American Cinema, Champaign/IL 1991, S. 140–166, hier S. 140. 80 Paul Giles: American Catholic Arts and Fictions. Culture, Ideology, Aesthetics, Cambridge 1992, S. 1. 81 So der Titel des ersten Kapitels: »Tracing the Transformation of Religion, Giles, American Catholic Arts, S. 1–31. 82 Hier muss eigentlich genauer unterschieden werden. Diese Entscheidung für das Bild hat sich mit der Teilung in Ost und Westkirche mit dem großen morgenländischen Schisma 1054 und der Reformation und ihren Bilderstürmen weiter ausdifferenziert. 83 Vgl. beispielsweise Hecht, Das Christusbild, S. 7. Bereits der byzantinische Bilderstreit, so Hecht, muss als christologische Auseinandersetzung betrachtet werden. Schließlich, so sein Argument, ließ Leon III. ja eine Christus-Ikone zerstören, obwohl auch zahlreiche andere Ikonen vorhanden gewesen waren (vgl. Ebd., S. 8).

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Konzil in Nicäa (787), einberufen von der eigentlich bilderfeindlichen Kaiserin Irene, wurde schließlich die Verehrung der Bilder beschlossen (nicht jedoch deren Anbetung) und Johannes von Damaskus heiliggesprochen. Das siebte Konzil war auch das letzte gemeinsame Konzil von West und Ostkirche (auch wenn das große – morgenländische – Schisma erst auf 1054 datiert). In den christlichen Bilderstreiten ging es vor allem darum, das Verhältnis von Urbild und Abbild auszuloten (also um die Frage, ob diese wesensgleich seien, oder ob nur ein Verweisungszusammenhang zwischen beiden bestehe). Es ging damit um die Relation von Wirklichkeit und Ähnlichkeit, also um jenes bereits erwähnte »Realismusproblem«,84 das nicht nur in den Auseinandersetzungen um den Status des Bildes auch heute noch relevant ist, sondern besonders in den Enthüllungsobsessionen, die auf die ›fremde Frau‹ gerichtet sind, höchst aktuelle Brisanz besitzt. Im Streit um das Kopftuch geht es stets darum, die Wahrheit zu enthüllen – es geht um die »nackten Tatsachen«,85 die »nackte[] Wahrheit«,86 das heißt darum, Bild und Abbild in ein transparentes Verhältnis zu bringen. Mit anderen Worten: auf christliche Art sichtbar zu machen. Der Kopftuchstreit ist in diesem Sinne auch als ein Streit um Vorstellungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Zur Debatte um die kopftuchtragende Lehrerin im Staatsdienst gehören auch die Blindheit gegenüber anderen Kopftüchern (nur das den Islam kennzeichnende Kopftuch wird überhaupt als solches wahrgenommen) und die Geschichtsvergessenheit gegenüber dem Schleier im Christentum.87 Auch die Geschichte der Wahrheit der Bilder im Christentum wird durch das Stück Stoff einer Frau markiert, das Sudarium der heiligen Veronika. Sie soll Jesus auf seinem Weg nach Golgota ihr Tuch dargeboten haben, damit er sich Blut und Schweiß abwischen konnte. Der Abdruck seines Gesichts, der auf dem Tuch, dem Sacra Sindone (vom griechischen sindon: Umhüllung), erhalten geblieben sein soll, wird vera ikon genannt, das wahre Bild. Es gilt als Acheiropoieton, als nicht von Menschenhand geschaffenes Bild.88 Im Fall des Turiner Leichentuchs, ebenfalls ein vera ikon, auf dem der Leib Jesu



84 Brumlik, Schrift, Wort und Ikone, S. 53; siehe dazu auch III.6. 85 Kreuzer, Die Kollision, S. 96. 86 Christina von Braun: »Scham und Schamlosigkeit«, in: Tobias G. Natter/Max Hollein (Hg.): Die Nackte Wahrheit, München 2005, S. 43–53, hier S. 53. Die nackte Wahrheit war auch der Titel des Ausstellungskatalogs, in dem dieser Artikel von Christina von Braun erschien. Die von Tobias G. Natter kuratierte Ausstellung widmete sich skandalträchtigen Bildern von Klimt, Schiele, Kokoschka u.a., und wurde 2005 in Frankfurt in der Schirn-Kunsthalle und im Leopold Museum Wien gezeigt. 87 Wie Kreuzer in Erinnerung ruft, ist der weibliche Körper in »beiden Kulturen« (also: Orient und Okzident, Christentum und Islam) jeweils als »Schauplatz des Symbolischen konstruiert« (Kreuzer, Die Kollision, S. 89). Siehe dazu vor allen Dingen auch Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, sowie Katalog und Begleitbuch der Ausstellung Das Kopftuch – Nur ein Stückchen Stoff in Geschichte und Gegenwart von 1987 (vgl. Meral Akkent/Elisabeth Bala/ Gaby Franger (Hg.): Kopftuch-Kulturen, Nürnberg 1999).

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sich abgezeichnet haben soll, funktioniert dies dabei wie ein fotografisches Negativ: Als es 1898 vom Turiner Ratsherrn und Rechtsanwalt Secondo Pia zum ersten Mal fotografiert wurde, soll sich ein deutliches Positiv auf der Platte gezeigt haben, dessen Bildinhalte wiederum als Grund für die wissenschaftlich-technische (geradezu forensische) Beweisführung für den Status des non manufactum herangezogen wurden.89 Umgekehrt wird in modernen Theorien zur Fotografie, wie bei Roland Barthes und André Bazin, das technisch erzeugte Bild in Analogie zum vera ikon gesetzt: »[D]ie Einprägung des Lichtes, das vom Objekt ausgeht, auf dem lichtempfindlichen Film deutete Barthes als Emanation, das heißt im bilderkultischen Sinn als ein sich selbst Machen des wahren Bildes, dessen Referent im Bild selbst anwesend ist.«90 Das fotografische Bild wird so mit demselben ontologischen Gewicht versehen wie das wahre Bild, das vera ikon des Christentums. Ich komme noch darauf zurück. Hier möchte ich zunächst nur festhalten, dass am Anfang christlicher Sichtbarkeit das Tuch einer Frau, ihre Umhüllung, stand. Die heutige Organisation von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die anhand des Kopftuchs zur Debatte steht, reiht sich ein in eine lange Tradition eines Kampfes um Bilder und um Abbildung und Blickkultur. Dass der Kopftuchstreit eine Aktualisierung des christlichen Bilderverhältnisses darstellt, hat die baden-württembergische Lehrerin Fereshta Ludin mit Nachdruck kenntlich gemacht. 1998 wurde Frau Ludin nach ihrem Referendariat aufgrund ihres Kopftuchs nicht in den Schuldienst übernommen. Ihr Weg durch die Instanzen endete 2003 mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, es nicht zu entscheiden: Die Frage des Kopftuchs wurde zur Ländersache erklärt, was auch bedeutet, dass das Gericht deutlich machte, dass es sich um ein Politikum handelt. Dass eigentlich die Säkularität bzw. Nicht-Säkularität des Staates zur Debatte stand und steht, wurde damit weiterhin in einem unartikulierten Schwebezustand belassen. Bilderstreit wird heutzutage gerne zu einer Sache ausschließlich des Islam gemacht. Eine der eindrücklichsten ›Ikonen des Ikonoklasmus‹ ist die Zerstörung der Buddhastatuen in Bamiyan durch die Taliban,91 wie man auch in dem bereits erwähnten Katalog des ZKM zur Ausstellung Iconoclash in Karlsruhe sehen kann. In der Thematisierung







88 Die Reliquie befindet sich heute in einem Tresor im Petersdom in Rom. Mit großen zeitlichen Abständen und zu bestimmten Anlässen wird sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Siehe zum Acheiropoieton auch das Kapitel »›Nicht von Menschenhand gemachte‹ Bilder«, in Belting: Das echte Bild, S. 56–62. 89 Vgl. Stefanie Diekmann: »Aus der Ferne. Über Umstände und Rezeption einer fotografischen Offenbarung«, in: Petra Löffler/Leander Scholz (Hg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation, Köln 2004, S. 31–48. 90 Hartmut Böhme: »Der Wettstreit der Medien im Andenken der Toten«, in: Hans Belting/Dietmar Kamper (Hg.): Der Zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, S. 23–43, hier S. 34.

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der islamistischen Bilderstürme geht es vorrangig immer wieder um die mangelnde Trennung von »Thron und Altar«, wie Josef Joffe in einem der vielen Post-9/11 Artikel in der Zeit polemisierte.92 Demgegenüber stellt sich die Frage des Kopftuchstreits eher als eine der Nähe von Kirche und Staat in Deutschland. Heide Oestreich beschreibt in ihrem Buch zum Kopftuchstreit, wie Frau Ludin jahrelang versuchte, auf den Mythos der säkularen Verfasstheit der deutschen Gesellschaft hinzuweisen und damit die Ungleichbehandlung von Islam und Christentum zu thematisieren.93 Es dauerte mehr als sechs Jahre, bis das dominierende Begründungsmuster – die Rede vom Neutralitätsgebot des Staates – durchbrochen wurde, und zwar in einer Rede des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, der sich in einer Rede zum Festakt anlässlich des 275. Geburtstags von Gotthold Ephraim Lessing am 22.01.2004 eindeutig zur ›Nicht-Säkularität‹ bekannte. Rau machte deutlich, dass in der BRD tatsächlich kein Laizismus gewollt sei, und dass daher dem Kopftuch Raum gegeben werden müsse, zumal die Bundesrepublik schließlich auch ihre christlichen Symbole und Äußerungen unbedingt beibehalten wolle.94 Damit schien die selbstverständliche Behauptung,







91 Das ikonische Zeichen eines bilderproduzierenden Bildersturms findet sich mittlerweile in den videodokumentieren Zerstörungsorgien der ISIS vervielfältigt. Neben der Zerstörung von Gräbern, Schreinen, Denkmälern in den von ihr kontrollierten Gebieten im Irak seit Sommer 2014 (und der Aufruf, auch die Kaaba zu zerstören) hat vor allen Dingen die Vernichtung von jahrtausendealten assyrischen Skulpturen und anderen Bildwerken im Museum von Mossul und der Grabungsstätte Ninive im Februar 2015 international Aufsehen erregt und explizit mit der Zerstörung in Bamiyan verglichen. Seltener werden strukturelle Vergleiche zwischen Tali­ban und ISIS angestellt. Erstere werden i.allg. als ›afghanisch‹ beschrieben, während ISIS klar als spezifisches Geflecht aus transnationaler Rekrutierung in Verbindung mit einer vermeintlich regionalen Retraditionalisierungsbehauptung (als Globalisierungskritik) beschrieben wird. Die Beschreibung des Vorgangs der Zerstörung in Bamiyan belegt hingegen sehr viel mehr Ähnlichkeiten: lokale Einwohner wurden von vermeintlichen Wächtern der Tradition terrori­ siert und zur Zerstörung der Statuen gezwungen – die Aufseher waren dabei offensichtlich keine Afghanen: »Eventually he was employed to take part in the demolition, which he says was overseen by foreigners who spoke ›Arabic, or perhaps Chechen.‹«, so zitiert die internationale afghanische Onlineplattform Bamyan Times einen der Dorfbewohner, Marza Hussain; http:// www.bamyantimes.net/haunted-by-the-bamiyan-buddhas/; zuletzt abgerufen am 12.03.2015. 92 Josef Joffe: »Das Weltgericht der Hundert Tage. Der 11. September, der Krieg gegen den Fanatismus und die Wiederentdeckung des Besten am Westen«, in: Die Zeit (09.11.2009), http:// www.zeit.de/2001/01/Das_Weltgericht_der_Hundert_Tage; zuletzt abgerufen am 10. 12.2014. 93 Vgl. Heide Oestreich: Der Kopftuch-Streit. Das Abendland und ein Quadratmeter Islam, Frankfurt/M. 2004. 94 Siehe »Religionsfreiheit heute zum Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland«, Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt zum 275. Geburtstag von Gotthold Ephraim Lessing in der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel, http://www.bundespraesident.de/ SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2004/01/20040122_Rede.html; zuletzt aufgerufen am 30.09.2014.

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die Bundesrepublik sei ein säkularer Staat, als ›Verstellung‹ entblößt. Tatsächlich ist die Trennung von Kirche und Staat bis heute nicht vollzogen. Dennoch hält sich dieses Phantasma hartnäckig. Obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits 1975 von der kulturellen Prägung Deutschlands durch das Christentum sprach,95 grenzte es sich in seinem damaligen Urteil von ›Glaubenswahrheiten‹ ab.96 Damit hat das Gericht genau das formuliert, was heute den Kopftuchstreit ausmacht: Es geht gerade nicht um die Neutralität des Staates, sondern um seine säkulare Verfasstheit, die gerade keine ist, oder die vielmehr christlich-säkular ist. Bevor ich erneut auf die Spezifik des christlichen Säkularisierungsbegriffs zu sprechen komme und damit auch auf die (Zentral-) Perspektive, möchte ich mich zunächst genauer mit dem Kopftuch auseinandersetzen.

3.3 Das Kopftuch: Supplement

und

Mimikry97

Das Kopftuch verhüllt nichts; im Gegenteil, es verweist auf etwas, das abwesend ist: »Infolgedessen musste man sich wohl eingestehen, dass es kein Zentrum gibt, dass das Zentrum nicht in der Gestalt eines Anwesenden gedacht werden kann, dass es keinen natürlichen Ort besitzt, dass es kein fester Ort ist, sondern eine Funktion, eine Art von Nicht-Ort«,98 formuliert Jacques Derrida und stellt damit eine Möglichkeit zur Verfügung, ›Rasse‹ bzw. deren visuelle Inszenierungen zu erfassen.99 ›Rasse‹ ist wie eine »zentralen Präsenz«, wie sie Derrida beschreibt, die »niemals sie selbst gewesen [ist], sie ist immer schon in ihrem Substitut über sich selbst hinausgetrieben worden. Das Substitut ersetzt nichts, das ihm irgendwie präexistiert hätte.«100 Für das Substitut – die visuellen marker von ›Rasse‹ – bringt Derrida den Begriff des Supplements ins Spiel, welches das repräsentativ[e] Bild bestimmt […]. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle von; wenn es auffüllt, dann so, wie man eine Leere füllt.



95 96 97 98

Vgl. Oestreich, Der Kopftuch-Streit, S. 42ff. Vgl. Oestreich, Der Kopftuch-Streit, S. 44. Siehe hierzu auch Heidenreich, Deutsche Un/Sichtbarkeiten. Jacques Derrida, Grammatologie, Übersetzt von hans Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/M. 1994 [1967], S. 424. 99 Auch Christine Hanke zieht Derridas Supplementtext zur Auseinandersetzung mit ›Rasse‹ heran; ihr Fokus liegt dabei jedoch auf der Rassenanthropologie. Christine Hanke: »Zwischen Evidenz und Leere. Zur Konstitution von ›Rasse‹ im physisch-anthropologischen Diskurs um 1900«, in: Hannelore Bublitz /Christine Hanke/Andrea Seier: Der Gesellschaftskörper. Zur Neuordnung von Kultur und Geschlecht um 1900, Frankfurt/M. 2000, S. 179–235. 100 Derrida, Grammatologie, S. 424.

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Wenn es repräsentiert und Bild wird, dann wird es Bild durch das vorangegangene Fehlen einer Präsenz. Hinzufügend und stellvertretend ist das Supplement ein Adjunkt, eine untergeordnete, stellvertretende Instanz. Insofern es Substitut ist, fügt es sich nicht einfach der Positivität einer Präsenz an, bildet kein Relief, denn sein Ort in der Struktur ist durch eine Leerstelle gekennzeichnet. Irgendwo kann etwas nicht von selbst voll werden, sondern kann sich nur vervollständigen, wenn es durch Zeichen und Vollmacht erfüllt wird.101

Indem es die Mängel des Ursprungs verdeckt, macht das Supplement diesen überhaupt erst möglich und schafft so die Gleichzeitigkeit von Über-Präsenz und Abwesenheit von ›Rasse‹, die Elaine Scarry auch als Überbelichtung und Unterbelichtung bezeichnet,102 und die Tobias Nagl für die Geschichte schwarzer Filmschauspieler in Deutschland beschrieben hat, und die im deutschen Ausländerdiskurs weitertradiert und aktualisiert wurde bzw. wird.103 Der Ausländerdiskurs wird durch jene Logik des Ein und Ausschlusses bestimmt, die nach Meyda Yeğenoğlu die Supplementarität konstituiert.104 Die visuellen (und narrativen) marker des Diskurses verdecken als Supplemente die mangelnde Präsenz der Kategorie ›Ausländer‹ als Zentrum oder Ursprung. Zu den Versatzstücken des Diskurses zählt auch die gebräuchliche Synonymisierung von ›Ausländer‹ und ›türkisch‹ und die Aushandlung des Verhältnisses von christlicher und islamischer Blick und Bildkultur. Dem Kopftuch als umkämpftem und polysemen Bedeutungsträger kommt dabei eine wichtige Rolle zu: The headscarf can effectively illuminate some of the facets of the encompassing foreigner problem, for in many respects what we find embedded in the ›headscarf debate‹ is its (i.e ›the problem’s‹) crystallization. What I call the ›headscarf debate‹ does not simply represent dichotomous views and practices, one German and one Turkish. Instead, a more nuanced reading demonstrates the ways on which identity and inequality are structured. The discourse surrounding and defining the multiple meanings of the headscarf reveals a complex set of markers.105





101 Derrida, Grammatologie, S. 250. 102 »Die Türken in Deutschland können unterbelichtet sein, unterbelichtet durch Namenlosigkeit, und zugleich überbelichtet wie im Bauchtanz, für den sie bei den Deutschen bekannt sind.« (Elaine Scarry: »Das schwierige Bild der Anderen«, in: Friedrich Balke/Rebecca Habermas/ Patrizia Nanz/Peter Sillem (Hg.): Schwierige Fremdheit: über Integration und Ausgrenzung in Einwanderungsländern, Frankfurt/M. 1993, S. 229–263, hier S. 242. 103 Vgl. Tobias Nagl: Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino, München 2002. 104 Vgl. Yeğenoğlu, Colonial Fantasies, S. 77. 105 Ruth Mandel: »Turkish Headscarves and the ›Foreigner Problem‹. Constructing Difference through Emblems of Identity:, in: New German Critique 46 (Winter 1989), S. 27–46, S. 29.

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Indem die Frau ihren Schleier ablegt bzw. ihr Kopftuch abnimmt, wird sie in eine spezifische Sichtbarkeit überführt. Dabei haben die Arbeiten u.a. von Nilüfer Göle, Ruth Mandel und Meyda Yeğenoğlu gezeigt, dass das Kopftuch nicht einfach den Blick verstellt oder freigibt. Was es ent bzw. verhüllt – (nicht) zu sehen gibt –, ist, wie unter anderem das Zitat von Ruth Mandel verdeutlicht, stetigen Verschiebungen ausgesetzt. Das Kopftuch erweist sich als wahres Supplement. Es bezeichnet ›alles‹ (es füllt die Leerstelle des Zentrums) und verhüllt ›nichts‹ (es verweist auf die mangelnde Präsenz des Zentrums). »Mit dem Schleier klären und ordnen sich die Dinge«, heißt es in Fanons Algerien legt den Schleier ab.106 Der Schleier (den ich hier synonym setze mit dem Kopftuch) funktioniert als sichtbare Evidenz. Sichtbarkeit ist, wie ich im Kapitel 1 ausgeführt habe, mit Foucault als dasjenige Schema zu begreifen, »das bestimmt, was überhaupt gesehen werden kann«,107 das also etwas als evident und selbstverständlich erscheinen lässt. Daher heißt es bei Fanon auch, dass der Schleier der arabischen Frau »vom Touristen unmittelbar wahrgenommen«108 wird. Er ist »ein so konstantes Merkmal, dass er im allgemeinen zur Charakterisierung der arabischen Gesellschaft ausreicht«,109 schreibt Fanon weiter und bestätigt damit die Allpräsenz dieses markers auch in seiner Abwesenheit, denn schon in der zweiten Fußnote dieses Textes schreibt er über all jene Frauen in Algerien, die – auch traditionell – keinen Schleier tragen. Der Schleier kennzeichnet so stellvertretend das Ganze der algerischen Gesellschaft, wie Fanon richtig festhält, wobei damit auch jede andere islamisch konnotierte Gesellschaft oder Bevölkerungsgruppe gemeint sein kann, also auch die ›Türken in Deutschland‹: »The reference of the veil thus exceeds its sartorial matter, it is in everything that is Oriental or Muslim«, so Yeğenoğlu.110 Damit markiert der Schleier auch dann, wenn er gelüftet wurde, wenn er nicht (mehr) da ist: »The Western eye sees it everywhere, in all aspects of the other’s life.«111 Die Algerierin ist diejenige, schreibt Fanon, die sich hinter dem Schleier verbirgt. Was wird dann aber sichtbar, wenn der Schleier gelüftet wird, wenn er nicht mehr da ist? Malek Alloula hat gezeigt, dass auf den Kolonialpostkarten, auf denen ›Algerierinnen‹ abgebildet sind, die sich dem Blick des Fotografen darbieten, sich sexuelle mit visuellen Eroberungsfantasien vermischen. Die Frauen, die hier den Schleier lüften, sind nicht einfach algériennes, sondern die Visualisierungen des Phantasmas der Al-



106 Frantz Fanon: »Algerien legt den Schleier ab«, in: ders.: Das kolonisierte Ding wird Mensch. Ausgewählte Schriften, Übersetzt von Rainer Arnold, Leipzig 1986, S. 100–123, hier S. 101. 107 Tom Holert: »Macht der Evidenz«, in: ders. (Hg.): Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Köln 2000, S. 39, hier S. 39. 108 Fanon, Algerien, S. 100, Anm. 34; Hervorh. N.H. 109 Fanon, Algerien, S. 100, Anm. 34; Hervorh. N.H. 110 Yeğenoğlu, Colonial Fantasies, S. 47. 111 Yeğenoğlu, Colonial Fantasies, S. 47.

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gerierin, das »Leitmotiv der Aktion«112 für den französischen Kolonialismus, in Szene gesetzt im Fotostudio mit bezahlten Modellen.113 Mit diesen setzt sich der, durch »die Frau, die sieht, ohne selbst gesehen zu werden«,114 in seiner Wahrnehmung eingeschränkte, Europäer wieder als gazing gaze in Position. Die ›andere‹ Frau entzieht sich doppelt der Wahrnehmung: Ist sie verschleiert, bleibt sie unsichtbar in ihrer Sichtbarkeit; ist sie unverschleiert, also ohne die Markierung durch den Schleier, entzieht sie sich möglicherweise den Erkennungsdiensten. So schreibt Fanon in einer beredten Fußnote über die »entschleierten Algerierinnen«, dass »sie in erstaunlicher kurzer Zeit und mit einer ungeahnten Leichtigkeit ein westliches Aussehen an[nehmen]«,115 wodurch die Europäerinnen116 doppelt unter dem Gefühl der Ohnmacht litten: sowohl »vor dem Schleier« als auch »vor dem enthüllten Gesicht, dem kühnen, von jeglichem Zögern befreiten, geradezu offensiven Körper.«117 Die Praxen der Ver/Entschleierung, so stellt Yeğenoğlu treffend fest, »go beyond their simple reference and become tropes of the European text in Hayden White’s sense: ›the data resisting the coherency of the image which we are trying to fashion of them.‹«118 Die Kämpfe um den Schleier und das Kopftuch sind in jeder Form unauflöslich mit dem orientalistischen hegemonialen Projekt verbunden.119 Die als Signum der Emanzipation im deutschen Ausländerdiskurs ebenso wie in der französischen Kolonialherrschaft in Algerien prominente Forderung nach dem Abnehmen des Schleiers bzw. des Kopftuchs korrespondiert so mit der (Wieder)Verschleierung und dem (Neu) Einsatz des Kopftuchs.120 Schleier und Kopftuch werden so zum double bind, die Frau unauflöslich darin in Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit verknüpft: »In the battle between nationalism and imperialism, it is the question of woman, which is ›doubly in shadow‹, as Spivak puts it.«121





112 Fanon, Algerien, S. 102. 113 Vgl. Malek Alloula: »From The Colonial Harem«, in: Nicholas Mirzoeff (Hg.): The Visual Culture Reader, London/New York 1998, S. 317–322, hier S. 322. 114 Fanon, Algerien, S. 107. 115 Fanon, Algerien, S. 318, Anm.5. 116 Fanon, Algerien, S. 318, Anm.5. Fanon spricht in dieser Fußnote tatsächlich ausnahmsweise nur von den Europäerinnen. Zu Fanons Umgang mit und Einsatz von Geschlecht siehe: Udo Wolter: Das obskure Objekt der Begierde. Frantz Fanon und die Fallstricke des Subjekts der Befreiung, Münster 2001, insbesondere die Kapitel 2.3, 4.6 und 4.7. sowie Rey Chow: »The Politics of Admittance: Female Sexual Agency, Miscegenation, and the Formation of Community in Frantz Fanon, in: dies.: Ethics After Idealism. Theory, Culture, Ethnicity, Reading, Bloomington/IN 1998, S. 55–73. 117 Fanon, Algerien, S. 318, Anm.5. 118 Yeğenoğlu, Colonial Fantasies, S 39. 119 Yeğenoğlu, Colonial Fantasies, S. 121ff. 120 Vgl. Göle, Republik und Schleier. 121 Yeğenoğlu, Colonial Fantasies, S. 122.

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Welchen Ort des Sprechens hat die Frau also vor oder hinter dem Schleier bzw. Kopftuch, welche Subjektposition steht ihr zur Verfügung, wenn sowohl Verhüllung als auch Enthüllung Ergebnis von Orientalismus und Kolonialismus sind?122 Die Frauen des algerischen Befreiungskampfes geben Yeğenoğlu zufolge eine Antwort: Der situativ-strategische Einsatz des Schleiers, die stete Bewegung zwischen Ablegen und (Wieder)Anlegen, verweist auf die Möglichkeit der Mimikry, die zeigt, »that there was nothing but the veil behind the veil.«123 So figuriert das Kopftuch in vielen der Filme, die ich für diese Arbeit gesehen habe, als Mimikry oder drag, als Verkleidung, Provokation und Übertreibung. Drag ist die theatralische und damit als sichtbar markierte Performance eines ›Andersseins‹ (darin im Unterschied zum passing). Zumeist wird drag mit der Inszenierung einer anderen Geschlechtszugehörigkeit (bis hin zur Verdopplung und mehrfachen Verschiebung wie bei der ›Bio-Dragqueen‹, also der Performance einer Frau als Dragqueen) in Verbindung gebracht. Allerdings kann Drag auch als ethnic drag bzw. racial drag figurieren, wie beispielsweise in Form des blackfacing. Ethnic drag, wie Katrin Sieg beschreibt, ist die »performance of ›race‹ as masquerade.«124 Der Fokus ihrer 2002 erschienenen Studie liegt auf Westdeutschland, wo ethnic drag, wie sie beschreibt, eine bemerkenswert normative Praxis darstellt, die zudem als »utterly unremarkable« (nicht) wahrgenommen wird.125 Mit ihrer Studie zeichnet sie verschiedene »performances of race« nach, in einem Land, »whose history embodies racism’s worst excess«,126 und in dem zugleich der Gebrauch des Begriffs ›Rasse‹ aus dem öffentlichen Sprachgebrauch ebenso wie aus politischen Analysen entfernt wurde »Ethnic drag reveals what this linguistic break conceals, namely the continuities, permutations, and contradictions of racial feelings in West German culture.«127







122 »Zwischen Patriarchat und Imperialismus, Subjektkonstituierung und Objektformierung, verschwindet die Figur der Frau, und zwar nicht in ein unberührtes Nichts hinein, sondern in eine gewaltförmige Pendelbewegung, die in der verschobenen Gewaltwerdung der zwischen Tradition und Modernisierung gefangenen ›Frau der Dritten Welt‹ besteht.« Gayatri Chakravorty Spivak: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, übersetzt von Alexander Joskowicz/Stefan Nowotny, Wien 2008 [1988], S. 101. 123 Yeğenoğlu, Colonial Fantasies, S. 66. 124 Sieg, Ethnic Drag, S. 2. In einem früheren Text spricht Sieg von »ethnic others« (Katrin Sieg: »Ethnic Drag and National Identity: Multicultural Crises, Crossings, and Interventions«, in: Sara Friedrichsmeyer/Sara Lennox/Susanne Zantop (Hg.): »The Imperialist Imagination: German Colonialism and Its Legacy«, Ann Arbor, S. 295–319, hier S. 297). Sie fügt jedoch keine Erklärung an, warum sie den Begriff verwendet, und warum sie sich für ihre Monografie doch für »racial other« (vgl. 2002: 2ff) entscheidet. Allerdings macht meines Erachtens nach dieser fließende Übergang zwischen ›race‹ und ›ethnicity‹ im deutschen Kontext durchaus Sinn. 125 Sieg, Ethnic Drag, S. 2. 126 Sieg, Ethnic Drag, S. 2. 127 Sieg, Ethnic Drag, S. 2.

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Mit ethnic drag meint Sieg the impersonation of ethnic others by a subject that stages and conceals dominance. This performative practive enacts the terms of multiculturalism in the form of a series of displacements. It both excludes material bodies of cultural others, and subsumes the markers of difference (turban, skin color) under ›universal meanings‹ whose aesthetic and metaphysical dimensions can be adequately expressed by ›German‹ bodies.128

Die migrantische Geschichte gewinnt also erst in ihrer deutschen impersonation Gewicht, zum Beispiel in Form von Günter Wallraffs ›Türken‹ Ali Levent Sinirlioğlu, ›dessen‹ Geschichte er in seinem Mitte der 1980er Jahre erschienenen Buch Ganz unten beschrieb.129 Entsprechend auch die irritierende Qualität bestimmter ›deutscher‹ Kopftuch-dragMomente: Etwas wird sichtbar, ohne verstanden zu werden oder benannt werden zu können: Das Kopftuch wird zum Symptom des deutschen ›Nicht-Aussprechens‹ (von Migration, von Projektion, von Rassismus usw.). So zum Beispiel in Berlin in Berlin, als Thomas‹ Freundin Bea (die im Film namenlos bleibt, obwohl Thomas, wie sich später zeigt, ein Foto von ihr in seiner Brieftasche hat. Bildern gilt Thomas‹ wahre Wertschätzung) sich über dessen mangelnden Sextrieb beschwert, dies auf seine Fixierung auf ›den Unfall‹ zurückführt und versucht, ihm ihre (im Grunde genau den Punkt treffende) Interpretation vor Augen zu führen, indem sie sich ein Tuch um den Kopf schlingt (sie ist ansonsten nackt, die beiden liegen zusammen im Bett) und ein Polaroid von ihm macht »Jetzt kannst Du Dich mal als Türke sehen!« (Abb. 22 & 23) Es ist das Kopftuch, die kopftuchtragende Dilber, die ihn besetzt hält. Solange Thomas nicht zum ›gläubigen‹ Thomas geworden ist, was in diesem Fall bedeutet, den drängenden Enthüllungswunsch aufzugeben, kann er nicht ›geheilt‹ werden, also seine sexuelle Potenz wiedergewinnen. Auch in Angelina Maccarones Fremde Haut (D/A 2005) findet sich ein solcher Versuch, eine (sexuelle) Reaktion zu provozieren. Annes (Anneke Kim Sarnau) Arbeitskollege und Exfreund Uwe (Hinnerk Schönemann) bemerkt ihre wachsende Faszination für Fariba/Siamak (Jasmin Tabatabai) und will sie aber doch für sich gewinnen. Siamak, das ist in diesem Fall die Geschlechter-drag-Performance von Fariba (Tabatabai), die die Identität von Siamak (Navid Akhavan) angenommen hat, der im



128 Sieg, Ethnic Drag and National Identity, S. 297. 129 Günter Wallraff: Ganz unten. Mit einer Dokumentation der Folgen, Köln 1985. Siehe dazu auch Brigitta Kusters Video S. – Je suis, je lis à haute voix [passing for] (D 2005, 17‹), in der sie sich unter anderem mit der ›Passing‹-Geschichte der französischen Journalistin Anne Tristan als ›sans papiers‹ befasst, die Tristan in ihrem Buch Clandestine (Paris 1993) beschrieben hat. Siehe auch den ›Klassiker‹ dieser ›investigativen‹ racial passing Reportagen-Literatur: John Howard Griffin: Black Like Me, Boston 1961.

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Transit Suizid begangen hat, dabei auch dessen Anerkennung als Asylsuchender übernehmend. Uwe also persifliert ein Kopftuch und performt dabei genau die geschlechtliche und sexuelle Vielschichtigkeit des Plots, wobei diese ihm aber vollkommen unverständlich bleibt: Fariba lebt als Siamak verkleidet, und das nicht nur in einem anderen Geschlecht, sondern auch in einem anderen Klassenhabitus: altmodischer, weniger gebildet. Sie hat den Iran verlassen, wo sie wegen ihres Lesbischseins in Gefahr war, was sie wiederum den deutschen Behörden verschweigt, weil es nicht auszusprechen ist. Wie auch ihr fließendes Deutsch nicht auszusprechen ist. Sie tauscht es gegen ein ›Ausländerdeutsch‹ ein. Als sich die Arbeitskollegin Anne in sie verliebt, spitzt sich die Situation zu. Uwe wird Fariba/Siamak zwingen, in ein Bordell mitzukommen, eine weitere sexuelle Provokation, der verzweifelte Versuch, etwas zu enthüllen – wobei er eben nicht weiß, was das ist, jenes verhüllte Geheimnis, das nicht einmal sichtbar ist. Ethnic drag kann aber auch eine andere Funktion haben – nämlich dann, wenn es zur Doppelung der ›ethnischen‹ Markierung dient. In Süperseks kennzeichnet das Kopftuch zum Beispiel die Renitenz einer Tochter, die sich ihrem Vater widersetzt. Anstatt dessen Wünschen (Tayfun Bademsoy als Dr. Kemal Tuncay) Folge zu leisten und süperdeutsche Ärztin zu werden, folgt Anna (Marie Zielcke) ihrer Leidenschaft für den Bauchtanz und leitet entsprechende Tanzkurse. Bei einem repräsentativen Empfang, bei dem ihr Vater sie mit dem ebenfalls repräsentativen Sohn eines Kollegen verkuppeln möchte, taucht sie als »Schleiereule«130 auf, komplett mit Kopftuch und bombastischem, hellblauem Lidschatten. Im Schlepptau Elviz (Denis Moschitto), der sich ihr zuliebe als »echter Türke« ausgibt (wie Anna am Telefon denjenigen beschreibt, den sie braucht, um ihren Vater so richtig »irrezumachen«, einen, »der nicht so gut Deutsch und so, weißte?«). Das vermutlich erste Beispiel von Kopftuchdrag stammt jedoch aus Metin (BRD 1979) von Thomas Draeger.131 Dieser bezaubernde, im Auftrag des ZDF für die Vorschulsendereihe Rappelkiste produzierte Kinderfilm wurde mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, unter anderem als einziger deutscher Kinderfilm mit dem Grimmepreis in Gold. Darin befreunden sich der 6-jährige Metin und die gleichaltrige Anna,

130 Elviz‹ älterer Bruder Tarek (gespielt vom allpräsenten Hilmi Sözer), dessen Tochter Canan (Jenny Ostermann) Bauchtanz-Unterricht bei Anna nimmt, soll, wie er findet (weil die Kurse ihm zu viel Geld kosten), stattdessen lieber in die Koranschule gehen. Seine Frau droht ihm umgehend: »Wehe, wenn du sie nur einmal zu den Schleiereulen schickst.« Tarek versucht sich selbst gerne in der (drag-)Rolle des ›echten Türken‹, hier des Patriarchen, um die Kraft des Performativen gegen die Kraft des Faktischen auszutesten: In Wahrheit dominiert ihn seine Mutter vollständig, und auch seiner Frau kann er nicht das Wasser reichen. 131 In Metin hat Emine Sevgi Özdamar im Übrigen ihren ersten Auftritt als ›Mutter‹. Weitere Informationen zum Film in Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz (KJK) 3 (1980), http:// www.kjk-muenchen.de/archiv/index.php?id=617; sowie in der KJK 7 (1980), unter der Rubrik »Film in der Diskussion«, www.kjk-muenchen.de/archiv/index.php?id=628&abc=A; beide zuletzt aufgerufen am 02.11.2014.

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Abb. 22 & 23 Berlin in Berlin (Sinan Çetin, D/TR 1993)

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Abb. 24 Süperseks (Thorsten Wacker, D 2004)

Abb. 25 Fremde Haut (Angelina Maccarone, D/A 2005)

als diese mit ihrer Familie ins selbe Haus in Kreuzberg zieht. Der Film überlässt sich ganz der Perspektive der Kinder, was auch heißt, dass weder die deutschen Dialoge noch die türkischen untertitelt werden: Sich tatsächlich einzulassen ist hier ausnahmsweise eine reale (Kino-)Möglichkeit. Nachdem sich beide über den Namen des jeweils anderen köstlich amüsiert haben – Anne versteht Metin nicht, sondern hört erst Mädchen, und für Metin ist anne natürlich Mama und kein Vorname –, sind weitere sprachliche Verwicklungen kein Problem für die beiden, sie lernen sich kennen und erweitern ihren Radius und dabei auch ihr jeweiliges Vokabular. Weil Metin fürchtet,

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Abb. 26 Yara (Yılmaz Arslan, D/TR/CH 1998)

dass Anne nicht mit den anderen türkischen Kindern spielen darf, weil diese schlechte Erfahrungen mit deutschen Kindern gemacht haben, verkleidet er sie für einen Ausflug zum Holzsammeln auf einer Abrissbaustelle als Türkin: ein Hängerkleidchen über der Hose, ein Kopftuch – und Anne kann mitkommen. Auf dem Heimweg verstellen ihnen die ›deutschen‹ Kinder aus der Nachbarschaft den Weg und behaupten, das Holz gehöre ihnen, weil sie von hier seien. Anne hält dagegen, dass sie schließlich auch deutsch sei. Keines der Kinder will ihr glauben, das würde man ja sehen, sie sei Türkin. Anne schließt eine Wette ab – die sie gewinnt, indem sie ihre Hose auszieht (erstaunlicherweise nicht das Kleid darüber, dass sie extra angelegt hat) und das Kopftuch ablegt. Und plötzlich sehen es alle: Anne ist keine Türkin. Plausibel ist die Szene natürlich nur als Behauptung – die behauptete visuelle Differenz bedarf der Kleidung als Markierung, ansonsten würde das eben nicht so einfach funktionieren, die Rassisierung. Der einsetzende Sommerplatzregen löst die feinsäuberliche Trennung auf, die – so legt die Szene nahe – die Kinder ohnehin nur zitieren, einüben, ein Ausländerdiskurs-enactment: Sie drängeln sich alle in die nächste Hofeinfahrt und beginnen dann, abwechselnd im Regen herumzuhopsen. So endet der Film – als hoffnungsfrohe Gemengelage. Siegs Studie zu ethnic drag, die von »jewish impersonations« wie Lessings Nathan über Hobby-Indianer_innen bis zu Ulrike Ottingers Filmen reicht, adressiert das Zusam­ menspiel von Präsenz und Absenz (von ›Rasse‹), von historischen Kontinuitäten und

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Brüchen sowie von Singularität und Simultaneität im Verhältnis zu anderen europäischen Ländern.132 Ethnic drag, so ihr Argument, entfaltet eine Ebene der Repräsentation, auf der ›Rasse‹ und nationale Identität im westdeutschen Kontext paradigmatisch artikuliert wurden und werden (können). Ihre Studie beschreibt daher nicht nur problematische Verdrängungsleistungen, seltsame Vereinnahmungsstrategien und Anverwandlungen, sondern auch das entessentialisierende Potential solcher Performances: As a figure of substitution, ethnic drag both disavows traumatic holes in the social fabric, and facilitates both historical denial and collective mourning. As a crossing of racial lines in performance, ethnic drag simultaneously erases amd redraws boundaries posturing as ancient and immutable. As a pedagogy, it promises to reveal the dark inside of ›Germanness‹ by taking up an outsider’s perspective. As a technique of erstrangement, drag denounces that which dominant ideology presents as natural, normal, and inescapable, without always offering another truth. As a ritual of inversion, it purports to master grave social contradictions, yet defers resolution through compulsive repetitions. As a symbolic contact zone between German bodies and other cultures, ethnic drag facilitates the exercise and exchange of power. And as a simulacrum of ›race‹, it challenges the perceptions and privileges of those who would mistake appearances for essence.133



132 Hier zitiert Sieg anlässlich der Debatten um die 1988 geplante Inszenierung des Theaterstücks »Le Retour au Desert« von Bernard-Marie Koltès am Hamburger Thalia-Theater (der Autor wollte die Aufführungen aufgrund der Besetzungspolitiken des Regisseurs Alexander Lang – weiße Deutsche spielen die postkolonialen ›Anderen‹ in ethnic drag – unterbinden) den Theaterkritiker Michael Merschmeier, der betonte, dass es ja gut wäre, mehr türkische und arabische Schauspieler_innen einzusetzen, es aber hierzulande einfach nicht genug gebe für das Stück, weil Deutschland – ›leider‹ – nicht auf der französischen Gesellschaft vergleichbare Multikulturalität und ›andere‹ Präsenz zurückgreifen könne: »Hier macht sich der Mangel an ehemaligen Kolonien eben doch bemerkbar.« (Merschmeier, in: Bernard-Marie Koltès/ Alexander Lang/Brigitte Landes/Michael Merschmeier/Simon Werle/Klaus Pierwoß: »Dramaturgischer und szenischer Umgang mit Texten von Bernard-Marie Koltè«, in: FiT: Mordsweiber. Tanztheater und Dramaturgie. Dramaturgischer und szenischer Umgang mit Texte von Bernard-Marie Koltès, Schriften der Dramaturgischen Gesellschaft, Bd. 23, Berlin 1990. S. 61–79, hier S. 69; Hervorh. N.H.). Diese Apologetik (im Modus des Selbstmitleids) ist ein interessantes Phänomen, welches regelmäßig im Zusammenhang von Begründungen für die verspätete Auseinandersetzung mit post_kolonialer Kritik (oder dann, wenn es eigentlich um Rassismusanalyse gehen sollte) auftaucht: Es wird geradezu bedauert, dass Deutschland nicht auf eine ebenso ›bereichernde‹ Kolonialgeschichte zurückgreifen kann. Beispielhaft sei der Verlagstext genannt, mit dem der Stauffenburg-Verlag den Band Hybride Kulturen bewirbt, der 1997 von Elisabeth Bronfen et al. herausgegeben wurde, und in dem Texte von Homi Bhabha, Ian Chambers, Stuart Hall und anderen zum Teil erstmalig auf Deutsch erschienen. Die ›Verspätung‹ und das Fehlen deutschsprachiger Beiträge zu diesen Debatten kommentierte der Verlag unter anderem lapidar mit dem Satz: »Deutschland hatte kaum Kolonien, die heute das öffentliche Klima mitbeeinflussen und beleben könnten.« (http://www.

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So markiert das Kopftuch in Yara sowohl den Prozess der Rassisierung als auch das V/Erkennen der Grenzpassage, durch die das Kopftuch hier erst auf den Plan tritt: Nachdem Neriman (Miranda Condic)134 es geschafft hat, ihre Freundin Hülya aus der Psychiatrie in der Türkei zu holen, und diese sich von ihren Mitinsassinnen verabschiedet hat (die Anstalt erscheint als Gefängnis), folgt eine Einstellung mit einem landenden Flugzeug (die Umkehrung der Abschiebe-Ikonografie) und im nächsten Schnitt dann das Close-up eines Passes, eines Fotos von Hülya, mit Brille und Tuch. »Können Sie sich noch anders ausweisen?«, fragt der Grenzbeamte zweifelnd. Daraufhin Neriman: »Was gibt’s denn da nicht zu erkennen?!« Sie greift sich die sediert wirkende Hülya, drückt die dunklen Gläser aus einer Sonnenbrille, setzt sie ihr auf und hängt Hülyas Jeansjacke mit Blumenstickerei über deren Kopf, drückt die Zipfel unterm Kinn zusammen – und die impersonation des ›Selbst‹ ist perfekt: »Und so?!« – so dürfen sie passieren. Und wer genau hinschaut, sieht, dass der türkische Pass als Hülyas Geburtsort Heidelberg ausweist; ein kleiner, aber umso treffender Kommentar auf die deutsche Vorstellung von Staatsangehörigkeit. In dieser Szene macht erst die Verhüllung das Passfoto für den deutschen Beamten kenntlich.135

stauffenburg.de/german/html/fs/fs_24990540.htm, zuletzt aufgerufen am 06.11.2014). Oder nochmals Merschmeier: »[F]esthalten kann man, daß Afrika für uns nicht so naheliegend ist.« (ebd.: 63) Eine solche Argumentation blendet zum einen die Tatsache vieler Dekaden Einwanderungsgeschichte aus und zum anderen die koloniale Vergangenheit Deutschlands und deren Wirkmächtigkeit auch für die Gegenwartsgesellschaft. 133 Sieg, Ethnic Drag, S. 2–3. 134 So der Eintrag in der International Movie Database. Der Geburtsname der 1975 im ehemaligen Jugoslawien geborenen deutschen Schauspielerin lautete Čondić-Kadmenović, durch Heirat änderte sie ihn zu Miranda Leonhardt; die Namensänderung war für sie aber auch – sicherlich zu Recht – strategisch begründet, um ihre Chancen bei Rollenbesetzungen zu erhöhen und nicht nur für ganz bestimmte Rollen gecastet zu werden. Zwischenzeitlich war auch der Nachname Toma in Gebrauch. Nach ihrer Scheidung möchte die Schauspielerin nun als Mimi Fiedler bekannt werden, mit dem Nachnamen ihres neuen Ehemannes. Vgl. dazu ein Interview mit der Schauspielerin in respect tv, http://www.respekt.tv/botschafter/ neuigkeiten/%C2%BBrespekt-100-menschen-100-geschichten%C2%AB-heute-botschafterin-miranda-leonhardt/ sowie ein Interview in der Welt: http://www.welt.de/print/welt_kompakt/frankfurt/article116193938/Ich-habe-mich-quasi-resetted.html; beide zuletzt abgerufen am 10.11.2014. 135 In Fremde Haut gibt es eine wunderbare Szene, die ich auch als ethnic drag begreife: Als sich Fariba/Siamak und ihr weißrussischer Kollege Maxim (Jevgenj Sitochin) die beide illegalerweise in der örtlichen Sauerkrautfabrik arbeiten, vor einer Polizeikontrolle verstecken müssen, tun sie das, indem sie kurzerhand in einen der Container springen, in den das kleingehäckselte und bereits anfermentierte Weißkraut aus einem darüber befindlichen Rohr hineingeblasen wird. Sie werden also von einem Berg deutschen Sauerkrauts unsichtbar gemacht – auch ihre Grenzpassage (die eine zeitgenössisch verstetigte ist, die Grenze ist mittlerweile überall) erfordert ein Unkenntlichmachen, hier als weißer Filderkrautberg.

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Wie das Kopftuch als Übertreibung und Zuspitzung fungieren kann, gilt umgekehrt: »The veiled woman is not necessary for the employment of the veil as a rhetorical figure«,136 wie Yeğenoğlu schreibt. Das Kopftuch ist daher auch dann ›im Einsatz‹, wenn es nicht zu sehen ist. Im Folgenden möchte ich hierfür einige Enthüllungs-/ Verhüllungsszenarien in Hark Bohms Film Yasemin (BRD 1988) in den Blick nehmen. Dieser Film gilt als ein typischer Vertreter eines ›Ausländerfilms‹ der 1980er Jahre und basiert, wie die credits gleich zu Anfang erläutern, auf den »Tagebüchern von S. A.«. Er erzählt die Geschichte von Yasemin (Ayşe Romey137), einer 17-jährigen, türkischen Deutschen der sogenannten zweiten Generation, die mit ihren Eltern in Hamburg-Altona lebt, wo diese einen Obst und Gemüseladen betreiben. Sie macht Judo im Verein, wo das neueste Mitglied Jan (gespielt von Hark Bohms Adoptivsohn Uwe Bohm) beginnt, ihr Avancen zu machen. Nach anfänglichen Widerständen Yasemins entwickelt sich ein Flirt zwischen den beiden. Jans ignorant-naive Nachstellungen, der Druck ausübende, humorlose und konservative Onkel und die Schmach des nichterbrachten Jungfräulichkeitsbeweises vor der Hochzeitsnacht ihrer älteren Schwester Emine (Nursel Köse138) gefährden Yasemins Freiräume und ihren Wunsch, Abitur zu machen. In Verbindung mit ihrem Widerspruchsgeist und verschiedenen innerfamiliären Übersetzungsproblemen, bei denen abwechselnd die eine oder andere Sprache verweigert oder ›zu wörtlich‹ genommen wird, eskaliert die Situation. Der Vater versucht (wie in Yara), die ›Verrücktheiten‹ von Tochter und deutschem Umfeld dadurch wieder ins Lot zu bringen und zurechtzurücken, indem er Yasemin in die Türkei schicken will. Inmitten der dafür angeheuerten Männer droht sie mit Selbstmord; in dem Augenblick, in dem der Vater entscheidet: »Lasst sie gehen«, taucht auch Jan auf seinem Motorrad auf. Mit ihm verschwindet Yasemin dann in die Nacht. Yasemin war zwar nicht der erste Film, der eine Geschichte zwischen ›deutscher‹ Moderne und ›türkischer‹ Tradition, vermittelt über Geschlechterverhältnisse, erzählt, aber man kann sagen, dass er sie für deutsche Leinwände tradiert hat. Sein Publikums­



136 Yeğenoğlu, Colonial Fantasies, S. 49. 137 Eine kleine Randnotiz – passend zu Anmerkung 228 in Kapitel 2: Romeys Vater ist Native American, oder, wie es im Deutschen so gerne heißt, Indianer. Ihre Mutter ist Birsel Lemke, eine in der Türkei geborenen Politikwissenschaftlerin und Bürgerrechtlerin, die 2000 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Intime biographische Details über Lemke und ihre Tochter waren der Grund für die erfolgreiche Durchsetzung eines Unterlassungsanspruchs Romeys gegenüber Maxim Billers Roman Esra (2003), der seither verboten ist. Der Fall hatte zu anhaltenden Diskussionen über Kunstfreiheit vs. Persönlichkeitsrechte geführt. 138 Die wiederum die kopftuchtragende Hauptfigur in Anam spielt, eine Mutter, die um ihren drogenabhängigen Freund kämpft und dabei vor allem an eigener Stärke gewinnt – und das Kopftuch im Laufe des Films voraussehbar absetzt. Nursel Köses Filmfiguren spiegeln das ganze Spektrum des Diskurses rund um Film und (in Deutschland lebende bzw. geborene) ›Ausländerin‹ wieder: große Schwester, Braut, Prostituierte, Putzfrau, Mutter (mit und ohne Kopftuch), Chefin, erfolgreiche Geschäftsfrau.

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erfolg und seine Rezeptionsgeschichte – zu der auch gehört, dass der Film in den 1990er Jahren häufig im Unterricht an deutschen Schulen (zum Thema culture clash) und umgekehrt als deutscher Film in der ›Kulturvermittlung‹ über das Goethe-Institut weltweit zur Aufführung gebracht wurde – haben den Film zum Klassiker gemacht.139 Karsten Visarius schreibt, dass Yasemin im Verlauf des Films zum Kopftuch »verurteilt«140 wird. Aber welches Kopftuch? Wie Nilüfer Göle bereits in ihrem mittlerweile als Klassiker anzusehenden Band Republik und Schleier141 ausgeführt hat, ist das Kopftuch ein immer wieder neu geschaffenes Zeichen. Der Schleier ist, so Claudia Knieps, »ein nur sehr schwer zu fassendes Gewebe, das stetigen gesellschaftlichen Einflüssen und Änderungen unterworfen war und immer noch ist, der auch Ausdruck einer sozialen und psychischen Verfassung einer Gesellschaft ist.«142 So ist die vermeintliche ›Rückkehr‹ zu vormodernen Traditionen in der Türkei tatsächlich kein einfaches Wiederfinden, sondern deren (Neu-)Erfindung. Die Kopftuchkämpfe islamistischer Studentinnen, die in den 1980er Jahren begannen, zeichnen sich gerade durch die Abgrenzung vom traditionellen Kopftuch der Elterngeneration aus. Das Tragen von Çarşaf (die türkische Version des Tschador) und/oder Türban, also nach islamistischer Art getragenem Kopftuch,143 markiert gesellschaftlichen Aufstieg, Urbanität und Bildung gegenüber dem zumeist ländlichen, traditionellen Kopftuch, das v.a. von den unteren und mittleren Gesellschaftsschichten getragen wird, und das nicht daran gemessen wird, wie viel es bedeckt.144 In Yasemin tragen v.a. die älteren Frauen





139 Der Film erhielt viele Auszeichnungen, u.a. erhielten die Hauptdarstellerin sowie der Film das Goldene Band des Deutschen Filmpreises 1988. Außerdem wurde Yasemin für den Goldenen Bären bei der Berlinale nominiert sowie für den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. 140 Karsten Visarius: »Ehrenrettung um jeden Preis. Zu ›Yasemin‹ von Hark Bohm«, in: Ernst Karpf/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.): ›Getürkte Bilder‹. Zur Inszenierung von Fremden im Film, 12. Arnoldshainer Filmgespräche, Marburg 1995, S. 117–123, hier S. 121. 141 Göle, Republik und Schleier. 142 Claudia Knieps: Geschichte der Verschleierung der Frau im Islam, Würzburg 1993, S 182. 143 Vgl. Göle, Republik und Schleier, S. 14, 107, 113ff. 144 Vgl. Göle, Republik und Schleier, S. 111–115, siehe außerdem Nilüfer Göle: Anverwandlungen. Der Islam in Europa zwischen Kopftuchverbot und Extremismus, übersetzt von Ursel Schäfer, Berlin 2008. Die Transformation von Öffentlichkeit, die mit den modernen islamischen Kopftuchstrategien und trägerinnen einhergeht, beschreiben die Beiträge in Ammann/ Göle, Islam in Sicht. Interessant ist zum einen die signifikante Verschiebung im Hinblick auf die Verknüpfung von Verschleierung mit Klassenzugehörigkeit sowie mit dem Leben in der Stadt bzw. auf dem Land. Ammann zitiert Nikki R. Keddie, die 1991 ausführt, dass Verschleierung sich in vorislamischer Zeit im Nahen Osten als Kennzeichen städtischer Frauen der Ober und Mittelschicht entwickelte: »Von Anfang an war die Verschleierung ein Statuszeichen, ein Vorrecht der Frauen aus der Oberschicht, während es Sklavinnen und Prostituierten manchmal verboten war, den Schleier zu tragen.« (Ludwig Ammann: »Privatsphäre und Öffentlichkeit in der muslimischen Zivilisation«, in: Ammann/Göle, Islam in Sicht, S. 69–117, hier S. 107.) Ebenso Knieps: »Die freie Frau hatte das Recht, den Schleier zu tragen und

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Kopftuch – und ein Blick auf deren Stil zeigt: Hier handelt es sich um letztere Version, also ein ländlich-traditionelles Kleidungsstück, das eine Altersgrenze demarkiert, aber nicht um ein spezifisch religiöses Kennzeichen. Darüber hinaus tauchen ebenso viele Frauen auf, die trotz ihres ›passenden‹ Alters keine Kopftücher tragen. Hier erweist sich Fanons Wahrnehmung als zutreffend, dass für den westlichen Blick die arabische (hier: türkische) Frau immer den Schleier (hier: das Kopftuch) trägt – sogar, wenn sie es nicht tut. Auch in diesem Film wird das Kopftuch zur widerspenstigen Überinszenierung, zur Mimikry. Es taucht auf, nachdem die Situation zu eskalieren beginnt, und der Vater Yasemin vom weiteren Schulbesuch abhält. Sie setzt das Kopftuch auf, nachdem er sie aufgefordert hat, sich anständig anzuziehen. Aus den vorhergegangenen Szenen ist deutlich geworden, dass damit eigentlich ein Rock anstelle der Jeans gemeint ist. Yasemin übertreibt also bewusst, und ihr Folgeleisten ist in Sarkasmus gebettet. Die kleine Schwester reagiert auf ihren Anblick entsprechend prompt mit: »Wie siehst Du denn aus?!« Zeitgleich zu den Kopftuchkämpfen an türkischen Universitäten wird auch in Yasemin das Kopftuch zum Spielball zwischen Moderne und Tradition bzw. Laizismus und Islamismus. Nachdem Yasemin versucht hat, die Ehre ihrer Schwester wiederherzustellen, indem sie nachfragt, was eigentlich wirklich geschehen ist in dieser Nacht, und dann feststellen muss, dass die Nachricht über die Impotenz des Schwagers nichts besser macht, sondern alles nur noch schlimmer, sitzt sie, zum Hausarrest verdammt, in ihrem Zimmer am Schreibtisch und sinniert wütend vor sich hin. Ihr Blick fällt auf ein großes, gerahmtes Schwarzweiß-Foto auf ihrem Schreibtisch. Es zeigt Mustafa Kemal Atatürk, dessen Adoptivtöchter als kopftuchlose Musterbeispiele die Modernität der türkischen Republik zu repräsentieren hatten.145 Als Folge dieses Blicks zieht



sich zu verhüllen. Sie lebte in der Abgeschlossenheit. Dagegen nahm die Sklavin wesentlich mehr am öffentlichen Leben teil, aber rechtlich war sie in einer völlig anderen Situation als die verschleierte freie Frau.« (Knieps, Geschichte der Verschleierung, S 175) Verschleierung und Präsenz im öffentlichen Raum schließen sich also zunächst aus – und für beide, die sogenannte ›freie Frau‹ und die ›Sklavin‹ war das jeweilige ›Privileg‹ ein zweischneidiges. Auch heute haben die beiden Bezüge von Verschleierung zu Stadtleben und zu gehobenem Status Bestand, mit dem entscheidenden Unterschied, dass die moderne Muslima, wie beispielsweise in dem von Nilüfer Göle untersuchten Fall der türkischen Parlamentsangehörigen Merve Kavakçı, die 1999 als erste Abgeordnete für einige Stunden mit Kopftuch im türkischen Parlament saß, das Kopftuch auch als Zugangsmittel zur Partizipation an der Herstellung von öffentlichem Raum nutzen (z.B. in der Politik, in Schulen, Universitäten usw.). Spannend wäre es, den historischen Link von Verschleierung und Rechtsstatus, die Funktion des Schleiers als Markierung der Grenze des Gesetzes im Kontext zeitgenössischer Debatten um die wachsenden Zonen des Ausschlusses vom Zugang zur Sphäre des Rechts, weiterzuführen; z.B. in Bezug auf aktuelle Debatten zu Illegalisierungsstrategien und dem Status Illegalisierter. 145 Zum Rolle des Kopftuchs in der Gründung der türkischen Republik siehe: von Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 340ff.

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Yasemin das Kopftuch von ihrem Kopf und wirft es mit Nachdruck von sich. Unterstrichen wird dieses Statement noch durch das Öffnen ihres Fensters: Aufbruchs und Fortschrittsrhetorik der türkischen Republik treffen hier mit der Figur der eingesperrten türkischen Frau im deutschen Ausländerdiskurs zusammen, die nicht nur enthüllt, also von hinter/unter dem Kopftuch in die Sichtbarkeit überführt werden soll, sondern auch ›nach draußen‹, in die Freiheit/Freizügigkeit der deutschen Gesellschaft. Christina von Braun hat festgestellt, dass parallel zur Entwicklung der technischen Sehgeräte und der Schaffung von ›Rasse‹ eine »Entkleidung des weiblichen Körpers stattfand«.146 Auch Yasemin wird ›entkleidet‹ – enthüllt –, allerdings im Blick auf den Film und nicht im Film selbst. Zunächst wird das Kopftuch in der (deutschen) Lektüre des Films sichtbarer als im Film selbst – es taucht zwar auf in der Ausstattung, aber es spielt eigentlich keine Rolle. Es wird, außer von der kleinen Schwester Yasemins, von keiner der Filmfiguren gesehen. Es tragen eben nicht alle (›türkischen‹) Frauen ein Kopftuch, und doch wird es in der Rezeption allpräsent ›wahrgenommen‹. In dieser Wahrnehmung verknotet sich das Kopftuch mit der »fehlenden Logik«147 und der fehlenden »Glaubwürdigkeit«,148 die Heike Kühn (auf die ich noch im Zusammenhang mit einer Diskussion des Authentizitätsparadigmas zurückkomme) an dem Film so verärgert, und die sie am Körper der »halbnackt[en]«149 Yasemin festmacht. Der orientalistischen Logik des Ausländerdiskurses zufolge signifiziert ein Weniger an Bekleidung Emanzipation und Selbstverwirklichung. Daher irritiert der »waghalsige Ausschnitt«150 von Yasemins rotem Kleid, das sie zur Hochzeit ihrer Schwester trägt, Kühn nachhaltig. Für sie visualisiert dieses Kleid die »Gesetz[e] der liberaler werdenden Erziehung«,151 und sie fragt daher, wie es dennoch zum Konflikt zwischen Vater und Tochter kommen kann. Keine_r der Hochzeitsgäste scheint das Kleid jedoch als freizügig wahrzunehmen, es gibt offensichtlich nichts zu sehen. Dieses Kleid mit seinen Taftrüschen dient höchstens dazu, die 1980er Jahre modisch zu markieren. Ansonsten enthüllt es nichts: Es gibt den Blick nicht frei auf den mahrem, den durch die Grenze des Schleiers geschützten Bereich des Intimen, Privaten, Verbotenen.152 Obwohl der ›Schleier‹ sich gelüftet hat, tritt sie – die andere Frau, die ›Türkin‹ – nicht daraus hervor und ins Bild; sie wird nicht ›freigegeben‹. Weil sie in diesem Sinne nicht





146 Von Braun, Ceci n’est pas, S. 82. 147 Heike Kühn: »›Mein Türke ist Gemüsehändler‹. Zur Einverleibung des Fremden in deutschsprachigen Filmen«: In Karpf, Ernst/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.): ›Getürkte Bilder‹. Zur Inszenierung von Fremden im Film, 12. Arnoldshainer Filmgespräche, Marburg 1995, S. 41–62, hier S. 50. 148 Kühn, Mein Türke, S. 46. 149 Kühn, Mein Türke, S. 51. 150 Kühn, Mein Türke, S. 48. 151 Kühn, Mein Türke, S. 48 152 Vgl. Göle, Republik und Schleier, S. 16 und 118.

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sichtbar wird, kann sie auch nicht gemäß der (orientalistischen) Logik des Ausländerdiskurses – der dem mit ›türkisch‹ assoziierten »Diktat der Verhüllung«153 das Diktat der Enthüllung gegenüberstellt – ›befreit‹ sein (von den patriarchalen Traditionen).154 Was Yasemin (auch in der und durch die Rezeption) sichtbar macht, ist eben nicht ›die Türkin‹, sondern sind die (visuellen) Kodierungen des Ausländerdiskurses.

3.4 Bauchnabel

statt

Burka? Säkularisierung,

die zweite

Zum Christentum gehört das Beleibungsdogma (die Menschwerdung Gottes, Transsubstantiation, Dreieinigkeit). Damit erscheint auch die Forderung »bauchfrei statt Burka«, die Josef Joffe in einem der zahlreichen Post-9/11-Artikel in der Zeit aufstellte, in einem anderen Licht. Joffe möchte enthüllen, weil »der knappe Pulli höchstens ästhetische Probleme aufwirft, aber ansonsten die Freiheit der Frau symbolisiert«.155 Die verschleierte Frau wird so zur Projektionsfläche verdrängter (Todes-)Ängste: Die Bauchfreiheit macht nämlich den Nabel sichtbar, also dasjenige Zeichen, das, so Elisabeth Bronfen, Sterblichkeit markiert.156 Wie sehr die Verletzlichkeit aus dem Selbstentwurf des Westens verdrängt wurde, hat der 11. September 2001 in der Tat vor Augen geführt. Die Enthüllungsobsessionen verweisen also auch auf das Begehren, so Bronfen: »[D]ie Schuld und die Faktizität unserer historischen Situation auszulöschen, um die Illusion, wir seien unschuldig oder könnten unschuldig bleiben, festzulegen.«157 Die Last der Schuld und der Versuch, ihr zu entkommen, ist eine der zentralen Triebfedern des Christentums, so Christina von Braun. Die Erbsünde als unentrinnbare Last aller Christ_innen, die zudem noch in der Schuld eines Gottes stehen, der sich für sie geopfert hat, ist einer der »Motoren des christlichen Emanzipationsdrangs, der seinerseits einen wichtigen Säkularisierungsprozess ausübte.«158 Teil dieses Emanzipations

153 Kühn, Mein Türke, S. 52. 154 »The metonymic association between the Orient and its women, or more specifically the representation of woman as tradition and the essence of the Orient, made it all the more important to lift the veil, for unveiling and thereby modernizing the woman of the Orient signified the transformation of the Orient itself. It is this metonymical association between tradition and woman that can explain the continual obsession and the fundamental weight given to woman’s unveiling as the privileged sign of progress.« (Yeğenoğlu, Colonial Fantasies, S. 99. 155 Josef Joffe: »Das Weltgericht der Hundert Tage: Der 11. September, der Krieg gegen den Fanatismus und die Wiederentdeckung des Besten am Westen«, in: Die Zeit (01/2002), http:// www.zeit.de/2001/01/Das_Weltgericht_der_Hundert_Tage; zuletzt abgerufen am 10.11.2014. 156 Vgl. Elisabeth Bronfen: »Vom Omphalos zum Phallus. Weibliche Toderepräsentanzen als kulturelles Symptom«, in: Wolfgang Müller-Funk (Hg.): Macht – Geschlechter – Differenz. Beiträge zur Archäologie der Macht im Verhältnis der Geschlechter, Wien 1994, S. 128–151. 157 Bronfen, Vom Omphalos, S. 128.

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drangs ist der Versuch, die Abhängigkeit zu überwinden, also der Fortschrittsdrang. Nicht umsonst wird das Feld, auf dem das Kopftuch zum umkämpften Bedeutungsträger wird, von den Eckpunkten ›Rückschritt‹ (gerne wird von ›Mittelalter‹ und mittelalterlichen Praktiken gesprochen) und ›Fortschritt‹ bzw. Emanzipation abgesteckt. Der andere Teil dieser Erbsündenproblematik »ist die ›Zuweisung‹ der Schuld an die anderen«,159 eine Strategie, die gerade in Deutschland eine besondere Wirkung entfaltet hat, wie ich bereits im Zusammenhang mit der Frage von Generationalität und Genealogie thematisiert habe (2.3). Säkularisierung, so Richard Schröder, muss tatsächlich als ›Verweltlichung‹ übersetzt werden, obwohl der lateinische Ursprung saeculum – Zeitalter eher ›Verzeitlichung‹ nahezulegen scheint. Ihm liegt eine spezifisch christliche Bedeutungsverschiebung zugrunde, die zwischen der Welt-Zeit (dem irdischen Hier und Jetzt) und der Zeit der Ewigkeit zu unterscheiden beginnt.160 Verweltlichung macht als Konzept nur Sinn, so Schröder, wenn eine Unterscheidung zwischen Weltlichem und Geistlichem getroffen wird. So ist der Begriff im europäischen Raum im 16. Jahrhundert im Kontext kirchenrechtlicher Debatten und Vorgänge aufgetaucht; er bezeichnete eine Verschiebung, Übertragung oder auch Enteignung aus dem Bereich des Kirchenrechts in das des Staatsrechts, also den Übergang kirchlichen Eigentums oder Güter in weltlichen Besitz.161 Erst ab dem 19. Jahrhundert beschreibt Säkularisierung, so Schröder, einen Prozess kultureller Transformation (der die europäische Neuzeit und die Moderne hervorgebracht hat). Schröder äußert sein Erstaunen darüber, dass dennoch bis in das 20. Jahrhundert hinein die rechtliche Definition in Lexikoneinträgen dominierte. Meines Erachtens liegt gerade hier ein Schlüssel zum Verständnis heutiger Diskussionen über den Islam, dem es im Vergleich, so seine Kritiker, angeblich an Säkularisierung und Aufklärung mangele. Nicht nur, dass Säkularisierung eine Kategorie europäischer Selbstdeutung darstellt, die als solche nicht einfach übertragen werden kann;162 Säkularisierung funktioniert auch in dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit von Andauern





158 Christina von Braun: »Gen und bit als Gestalten des corpus Christi mysticum«, Vortrag gehalten an der Humboldt-Universität Berlin am 07.11.2000 im Rahmen der Ringvorlesung »Religion und Moderne«, 16 Seiten, als pdf zum Download verfügbar unter: http://www.cul ture.hu-berlin.de/cvb/_pdf/genwissenschaft.pdf; zuletzt abgerufen am 11.12.1014, hier S. 3. 159 Von Braun, Gen und bit, S. 3. 160 Richard Schröder: »Säkularisierung. Ursprung und Entwicklung eines umstrittenen Begriffs«, in: Christina von Braun/Wilhelm Gräb/Johannes Zachhuber (Hg.): Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, Berlin 2007, S. 61–73, hier S. 61. 161 Vgl. Schröder, Säkularisierung, S. 63–64. 162 Siehe dazu neben Schröder (Säkularisierung, S. 72) auch Peter Heine: »Islam und Säkularisierung«, in: Christina von Braun/Wilhelm Gräb/Johannes Zachhuber (Hg.): Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, Berlin 2007, S. 193–204, hier: S. 195, sowie José Casanova: »Westliche christliche Säkularisierung und Globalisierung«, in: ders. (Hg.): Eropas Angst vor der Religion, Berlin 2009, S. 85–119, hier bes. S 85.

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und Als-überholt-Gelten, von Thematisieren und Dethematisieren. Säkularisierung ist in diesem Sinne ein entpolitisierender und enthistorisierender operativer Vorgang der »Ent-Nennung«, also ein klassischer moderne Mythos im Sinne Roland Barthes.163 Dies schwingt auch in von Brauns, Gräbs und Zachhubers Begriff der Säkularisierungsthese mit. Sie argumentieren, dass Säkularisierung lange als »Postulat religionstheoretischer Forschung« galt, deren »Prämissen und Geltung« keiner kritischen Reflektion unterzogen wurden. Demgegenüber setzen sie Säkularisierung als These, um den zunehmenden Meinungsverschiedenheiten über Geltung, Berechtigung und Bedeutung von Säkularisierung gerecht zu werden.164 Das Neutralitätsgebot des Staates, auf das abgestellt wurde, um eine Lehrerin mit Kopftuch (Fereshta Ludin) vom Staatsdienst auszuschließen, ist nicht nur eine rechtliche Argumentationsfigur, sie macht auch deutlich, dass die Vorstellungen von der Trennung von Thron und Altar im Kontext christlicher Säkularisierung neu betrachtet werden müssen: Nicht für Trennung nämlich steht der Prozess, sondern für Übertragung. Und es ist genau dieser Vorgang der Übertragung, der nicht im Gegensatz zur Idee der Säkularisierung als kultureller Transformation steht, sondern in ihr enthalten ist. In diesem Sinne ist, wie Max Webers bekannte Ausführungen darlegen, das (protestantische) Christentum Motor der Aufklärung. Anders formuliert: Aufklärung (die kulturelle Transformation) ist untrennbar mit Säkularisierung (die Verweltlichung des Geistlichen, auch und gerade in rechtlicher Hinsicht) verbunden. Aus diesem Grund bezeichnet Christina von Braun Säkularisierung als eine realitätsverändernde Macht. Dazu zählt die Übertragung religiöser Denkstrukturen in den weltlichen Raum, die sie in Versuch über den Schwindel anhand moderner Sichtbarmachungstechnologien exemplifiziert. Von Braun legt auch dar, dass und wie sich die christliche Form der Säkularisierung grundlegend von anderen, wie z.B. der des Judentums, unterscheiden. So wird im Christentum zwischen Glauben und Vernunft unterschieden, wodurch das dringliche Problem des Glaubenszweifels erzeugt wird, den es zu verhindern gilt. Sie schreibt: Eben weil Wissenschaft (oder Logik) und Religion als Gegensatz betrachtet wurden, entwickelte das Christentum ein mächtiges Bedürfnis, die weltliche Wirklichkeit den Glaubensgrundsätzen

163 Roland Barthes: Myhthen des Alltags, übersetzt von Horst Brühmann, Frankfurt/M. 1996 [1957], S. 125. 164 vgl. von Christina von Braun/Wilhelm Gräb/Johannes Zachhuber (Hg.): Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, Berlin 2007, S. 8. Die Autor_innen differenzieren dabei im Gegensatz zu José Casanova nicht zwischen Säkularisierung, Säkularismus und dem Säkularen. Siehe José Casanova: »The Secular, Seculaizations, Secularisms«, in: Craig Calhoun/Mark Juergensmeyer/Jonathan VanAntwerpen (Hg.): Rethinking Secularism, Oxford/New York 2011, S. 54–74.

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anzupassen. Für das christliche Denken stellt die Veränderung der Welt, der psychisch wahrnehmbaren Wirklichkeit, eine religiöse Notwendigkeit dar. Nur so ließ sich der Abgrund zwischen Logik und Leben, zwischen Berechenbarkeit und Natur überbrücken. […] Es zeigte sich aber auch daran, dass keine andere Religion der Welt eine derartige Wirkungsmacht gegenüber der ›Wirklichkeit‹ entfaltete, was sich nach innen als Prozess der Verweltlichung und ›Naturalisierung‹ – der Verlagerung von der Kirchengemeinschaft zur nationalen Gemeinschaft – und nach außen als Christianisierung und Kolonialisierung fremder Kulturen zeigte.165

Der christliche Säkularisierungsprozess ist in diesem Sinne tatsächlich ›Fortschritt‹, wie er ja gerade als Entschleierungsbegründung ins Feld geführt wird. Unausgesprochen bleibt, was dieser Fortschritt, der interessanterweise in dieser Hinsicht als emanzipatorisches Geschlechterverhältnis projiziert wird, beinhaltet. Noch einmal von Braun: Durch die Verwandlung der Kirchengemeinschaft in einen Nationalstaat wurde aus den kirchlichen Feiertagen ganz selbstverständlich der staatlich vorgeschriebene Ruhetag; die Ideale des christlichen Ehe und Familienlebens gingen ins Ehe und Familienrecht ein; und christliche Heilslehren prägten die medizinischen Vorstellungen über den menschlichen Körper und die biologische Beschaffenheit der Geschlechter.166

Säkularisierung wird, so von Braun, durch die, das Denken des Abendlands kennzeichnende, »Neu-Gier« und das »dem Christentum inhärente Konzept der ›Schuld‹«167 repräsentiert. In diesem Sinne ist Aufklärung – wie im englischen enlightenment, im französischen lumières – als Säkularisierung tatsächlich Erleuchtung. Und Fortschritt ist eben auch der Glaube168 daran: Fortschrittsglauben kann so zu den christlichen



165 Von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 437. 166 Von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 438. Stuart Hall verwendet zwar das Wort Säkularisierung nicht, verweist aber auf die Verkettung von Diskursen: »So baute der Diskurs von ›Europa‹ auf dem früheren Diskurs über das ›Christentum‹ auf, indem er dessen Bedeutung veränderte oder übersetzte. Spuren vergangener Diskurse bleiben in späteren Diskursen des ›Westens‹ eingebettet.« (Stuart Hall: »Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht«, in: ders.: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, herausgegeben und übersetzt von Ulrich Mehlem et al, Hamburg 1994, S. 137–179, hier S. 151.) 167 Von Braun, Gen und bit. S. 1. 168 Der britische Philosoph Simon Critchley denkt in Der Katechismus des Bürgers. Politik, Recht und Religion in, nach, mit und gegen Rousseau (übersetzt von Christian Strauch, Zürich 2008) über den Zusammenhang von Sakralisierung und Säkularisierung nach, also inwiefern Säkularisierung immer mit der Verschiebung des Religiösen in den Bereich des Politischen einhergeht. Er schreibt, dass die Säkularisierung, »welche die moderne Politik zu bestimmen scheint«, ein Moment anerkennen muss, »das Emilio Gentile Sakralisierung nennt. Dies bezeichnet die Transformation einer politischen Einheit (eines Staats, einer Nation, einer Klasse, einer Partei) in eine sakrale Einheit und bedeutet, dass diese Einheit transzendent, unanfecht-

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Sedimentierungen in der ›weltlichen‹ Verfasstheit unserer Gegenwartsgesellschaft gezäht werden. Daher tritt Turna am Ende von 40 qm Deutschland nicht nur in ein Fluchtpunkt-Setting (der Hausflur als zentralperspektivische Anordnung), sondern in das Licht. Dem Projekt der Aufklärung eignet auch, dass aus ihm, so Ann Laura Stoler, »Rasse, Rassismus und ihre Repräsentationen« hervorgegangen sind. Sie sind »strukturierte Folgeerscheinungen eines nachaufklärerischen Universalismus, als formgebende Elemente der Moderne, die tief im bürgerlichen Liberalismus verankert sind, und nicht etwa als Irrläufer und abwegige Nebenerscheinungen.«169 ›Rasse‹ kommt im Zusammenhang mit der Ideologie des Fortschritts eine besondere Bedeutung zu, als »das Denken in Rassenkategorien sich einerseits verschiedenen progressiven Projekten andient und andererseits die sozialen Taxonomien überformt, die definieren, wer davon ausgeschlossen wird.«170 Die Selbstinszenierung des Okzidents, konkret hier Europas, als fortschrittlich und progressiv im Gegensatz zum ›mittelalterlichen‹ Orient, sprich: Islam, ist damit auch auf seine Funktion in der Aktualisierungen des Rassismus als antimuslimisch, als islamophob zu befragen. Diese Aktualisierung ist insbesondere im Kontext der Bilder wiederum mit der spezifischen jüngeren deutschen Geschichte aufgeladen, genauer mit der Abendland-Debatte nach 1945, die dazu diente, die ›Katastrophe‹ als Folge der Moderne zu ›entschulden‹, der überhaupt das Abendland zum Opfer gefallen sei: »Das Abendland wurde im Widerstand gegen die Moderne ebenso wie in der erneuten Suche der Deutschen nach ihrer Identität zum zeitgemäßen Mythos, der den unzeitgemäß gewordenen Mythos der Nation beerbte«, schreibt Hans Belting in Die Deutschen und ihre Kunst. Ein schwieriges Erbe.171 Mit der Abendland-Debatte verband sich das Versprechen auf »die Entlastung in der Schuldfrage und eine Chance zur Verdrängung der Vergangenheit.«172 So wurden »Religion und Kunst […] die Sinnbilder einer unbeschädigten Tradition«,173 wobei die Kunst nunmehr für die Reli-



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bar und ungreifbar wird.« (S. 13) Critchley fragt sich nun, ob ein politisches Kollektiv ohne »ein Moment des Heiligen, ohne Religion, ohne Rituale, ohne etwas, was wir nur als Glaube bezeichnen können«, Bestand haben kann, und meint: »[I]ch glaube es nicht.« (Ebd.) Säkularisierung sei als zentrales Moment der Moderne mit der »Idee einer modernen Politik, die sich als eine Metamorphose der Sakralisierung begreift, zusammenzubringen.« (Ebd.) Politik und Religion stellt er so gleichermaßen als eine Fiktion dar, an die geglaubt werden muss, damit sie möglich ist, und damit sie funktioniert. Ann Laura Stoler: »Foucaults ›Geschichte der Sexualität‹ und die koloniale Ordnung der Dinge«, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeira (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M./New York 2002, S. 313–334, hier S. 322. Stoler, Foucaults ›Geschichte der Sexualität‹, S. 322. Hans Belting: Die Deutschen und ihre Kunst. Ein schwieriges Erbe, München 1992, S. 50. Belting, Die Deutschen und ihre Kunst, S. 50. Belting, Die Deutschen und ihre Kunst, S. 50.

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gion zeugte wie vormals für die Nation. Die »›innere Einheit der christlichen Kunst‹« wiederum diente zur Begründung der neuen »Europa-Idee«.174

3.5 Überbelichtung / Unterbelichtung Das Abendland hat sich also ins Bild gesetzt. Jenes Bild, das mit Christina von Braun den christlichen Kulturfortschritt markiert.175 Nicht umsonst geht es im Streit um das Kopftuch als aktuellem Bilderstreit immer auch um die Rückschrittlichkeit, den mangelnden Fortschritt der kopftuchtragenden Frau und mit ihr – als symbolischer Bedeutungsträgerin – auch um die angebliche Rückschrittlichkeit des Islam als solchem. Die Idee des Fortschritts dagegen ist dabei dem christlichen Säkularisierungsdrang, dem Drang zur Weltwerdung des Glaubens, immanent. Mit der Entwicklung der Zentralperspektive kommt die christliche Ikonophilie schließlich zu ihrer vollen Entfaltung, stellt sie doch, wie von Braun argumentiert, eine Vorform des immersive environments dar.176 Im Kino schließlich werden die imaginären Qualitäten der zentralperspektivischen Immersion realisiert, sie werden »durch ›reale‹ ersetzt«.177 Das Kino ist die Verräumlichung und Weiterentwicklung der Zentralperspektive – zumindest lautet so das Argument der Apparatustheorie. Zu Recht wird Kritik an der Ausschließlichkeit dieser Perspektive, dieser Perspektivierung des Filmischen, geübt (siehe auch 3.7).178 Nichtsdestotrotz gehören zur Erbschaft des Kinos sowohl die Weltwerdung des Christentums als auch die Zentralperspektive und deren für das Kino wesentliche und höchst fruchtbare Verschaltungen. Ich gehe daher zunächst den Implikationen dieser These nach, um schließlich dem in der Zentralperspektive eingebauten Blick auch andere Blickwinkel hinzuzufügen. Die Verbindung von Kino und Religion ist vielfach thematisiert worden. So postulieren die Herausgeber_innen des 2007 erschienenen Sammelbands Ästhetik und Religion, dass »[d]ie Gegenwartskultur und besonders die audiovisuelle Medienkultur […] wichtige Funktionen der traditionellen Religionskultur übernommen [haben].«179



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Belting, Die Deutschen und ihre Kunst, S. 50. von Braun, Versuch, S. 206. Vgl. von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 213. Von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 213. Siehe zur Zentralperspektive, zum Film und zur Apparatustheorie Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. ›Apparatus‹ – Semantik – ›Ideology‹, Heidelberg 1992. 179 Wilhelm Gräb/Jörg Herrmann/Lars Kulbarsch/Jörg Metelmann/Birgit Weyel (Hg.): Ästhetik und Religion. Interdisziplinäre Beiträge zur Identität und Differenz von ästhetischer und religiöser Erfahrung, Frankfurt/M. 2007, S. 11. Allgemein steht die wachsende Zahl der Publikationen im Kontext der vielbeschworenen Wiederkehr des Religiösen. Ein weiteres

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Umgekehrt bezeichnet Hartmut Böhme die christliche Kirche als »gigantische Bilderfabrik«, die sich zu einem »umfassenden Medienverbund«180 entwickelt hat. Die Vielfalt theologischer und kirchlicher Beiträge zum Film und zum Kino belegt dies nachhaltig.181 Schließlich besteht das »größte Missionsunternehmen aller Zeiten«182 aus einem Film (und den dazugehörigen medialen Disseminations- und Marketingstrategien: Internet, Trailer, Vielsprachigkeit): Im Zentrum des JESUS Film Project (Eigenschreibweise) steht der Jesus-Film, der 1979 auf der Grundlage des Lukas-Evangeliums mit US-Finanzierung vor allen Dingen in Israel gedreht (Regie: John Krish/Peter Sykes) und seither in unzähligen Sprachen weltweit zur Aufführung gebracht wurde. Mit dem Ziel, »to bring god’s light into the darkness«, sieht man im Werbetrailer einen Filmprojektor, der sich so lange dreht, bis er die Zuschauer_in direkt anstrahlt, der eigene Blick ins Licht fällt, in dem dann das Wort »JESUS« im Lichtkegel erscheint, umrahmt von »the film«. Jesus ist Licht, ist the film, der Film schlechthin, das Licht, und unser Blick gehört integral dazu: »Help give ›Jesus‹ to Everyone, Everywhere … because Seeing is Believing«183, wie der Trailer auf der Website umrahmt wird. Das



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Beispiel für die neuen Forschungen zu den Verbindungen von Religion, Medien, Kunst und Kino ist das multidisziplinäre Forschungs und Ausstellungsprojekt Global Prayers (http:// globalprayers.info/global-prayers/; zuletzt aufgerufen am 01.10.2014). Es findet sich auch eine zunehmende Zahl von Publikationen zu Religion und Kino, die sich nicht nur mit der Darstellung religiöser Inhalte befassen, sondern auch theologische Fragen als filmästhetische verhandeln. Siehe beispielsweise: Peter Hasenberg/Reinhold Zwick/Gerhard Larcher (Hg.): Zeit, Bild, Theologie. Filmästhetische Erkundungen, Marburg 2011. Mit Casanova wäre jedoch zu fragen, was das ist, ›das Religiöse‹, und auf welchen Voraussetzungen die Annahme einer Wiederkehr beruht; vgl. Casanova, Westliche christliche Säkularisierung, bes. S 85. Böhme, der Wettstreit, S. 30. Beispielhaft seien hier die Namen dreier Theolog_innen genannt, evangelischer und katholischer, deren Publikationslisten zahlreiche Beiträge zum Thema liefern: Jörg Herrmann, Inge Kirsner und Reinhold Zwick. Siehe aber auch das auflagenstarke Magazin epd Film, die Filmzeitschrift des Evangelischen Pressedienstes (www.epd-film.de); das Magazin erscheint monatlich mit einer Auflage von ca. 10.000. Ober auch das kleinere, online erscheinende Magazin für Theologie und Ästhetik, www.theomag.de (beide zuletzt aufgerufen am 30.09.2014). Weiterhin herausragend sind die filmtheoretischen und filmkritischen Beiträge der Evangelischen Akademie Arnoldshain, deren Reihe »Filmgespräche« (u.a. eben auch der bereits mehrfach erwähnte Sammelband »Getürkte Bilder«. Zur Inszenierung von Fremden im Film (1995) sowie Martin Ammon/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.): Vor dem Gericht. Kino und Bilderverbot, Schmitten 1994) eine rege Veranstaltungs- und Publikationstätigkeit belegt. Die Katholische Akademie Schwerte arbeitet ebenfalls zu Film und Kino, beispielsweise mit Kinoprogrammen und den Publikationen der Schriftenreihe Film und Theologie, zu der auch der in bereits genannte Sammelband Zeit, Bild, Theologie gehört, siehe http://www.akademie-schwerte.de/schwerte/index.phtml; zuletzt aufgerufen am 01.10.2014. Belting, Das echte Bild, S. 33. Siehe dazu http://www.jesusfilm.org/, zuletzt aufgerufen am 01.10.2014. Eine kleine Unterscheidung zwischen Jesus, dem Film und Jesus Christus wird auf der Website jedoch getrof-

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an die New York University angegliederte Center for Religion and Media hatte, wie Belting beschreibt, vor einigen Jahren auf der Homepage des Zentrums eine Fotografie des Jesus-Films ›in Aktion‹, also eine Aufnahme einer der Vorführungen.184 Der Kinosaal, so Belting, wird hier zum sakralen Raum, die Filmvorführung zum Gottesdienst, das Film-Sehen zur Eucharistie: Jesus wird vom Lichtstrahl auf der Leinwand verkörpert.185 Das Kino ist in diesem Sinn eine Ikone: Die Vergegenwärtigung des Heiligen, die die Ikone kennzeichnet, ist dem Kino in der Rezeption immanent. So bringt das Kino, wie Christina von Braun ausführt, die Zeitwahrnehmung zum Verschwinden und parallelisiert damit das ›Jetzt‹ des Heilsgeschehens im heiligen Abendmahl. Kino, als Medium der Zentralperspektive gedacht, welches die mittelalterliche Kathedrale ablöst,186 setzt den Betrachter in Position, und zwar als die Verkörperung des Filmgeschehens. Wenn, wie im Falle des Jesus-Films, der Film selbst auch noch den Sohn Gottes ›verkörpert‹, dann überrascht der ungeheure Erfolg dieses missionarischen Unternehmens keineswegs.187



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fen: Der Film wird meistens in Anführungszeichen gesetzt. Oder in Versalien. Es überrascht vielleicht nicht, dass Jesus ist in diesem Film weiß ist. Er wird vom britischen Schauspieler Brian Deacon dargestellt, der für seine ›Fähigkeit, Jesus darzustellen‹ ausgewählt wurde, wie es auf der Webseite unter den FAQ zum Stichwort »Casting ›Jesus‹« heißt. Gefolgt von den Informationen: »did not have British accent« und »all other cast from the Middle East« (http:// www.jesusfilm.org/questions-answers/making-the-film/casting-jesus, zuletzt abgerufen am 01.10.2014. Den Trivia zum Film bei IMDB lässt sich entnehmen, dass die meisten anderen Darsteller_innen Israelis waren und dass Deacon sowohl eine Perücke trug als auch seine Nase in der Maske für den Film verändert wurde: »to look more Mediterranean«. Bis auf Deacons Stimme wurden sämtliche anderen Darsteller_innen mit den Stimmen unbekannter britischer Schauspieler_innen nachsynchronisiert. Siehe http://www.imdb.com/title/tt0079368/ trivia; zuletzt abgerufen am 01.10.2014. Das Bild ist heute nicht mehr auf der Webseite zu finden; es scheint einer alten Arbeitsgruppe zu »Christianity in New and Old Media« zugeordnet gewesen zu sein, die 2004–05 u.a. zum Jesus-Film geforscht hat, vgl. http://www.crmnyu.org/past-working-groups/, zuletzt abgerufen am 01.10.2014. Vgl. Belting, Das echte Bild, S. 33. Vgl. von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 214. Und begründet meiner Ansicht nach auch den enormen Erfolg von Mel Gibsons The Passion of the C hrist (USA/I 2004) auch in arabischsprachigen, islamisch geprägten Ländern. Der Erfolg wurde zumeist auf das im Film gesprochenen Aramäisch zurückgeführt, das angeblich für arabischsprachige Personen zugänglich sein soll. Er hat aber sicherlich auch damit zu tun, dass Jesus als Prophet im Islam anerkannt – und damit als Erzählfigur bekannt – ist. Und nicht zuletzt spielt sicher auch der Antisemitismus des Films im Kontext des anwachsenden Islamismus eine Rolle (ebenso wie dieser in den USA im Kontext des dort massiv präsenten evangelikalen christlichen Fundamentalismus zum Erfolg des Filmes beigetragen hat). The Passion of the Christ ist meiner Ansicht nach aber vor allem deshalb so erfolgreich, weil der Film die Zuschauer_innen, egal welchen Glaubens, sich am Ort des Märtyrers behaglich einrichten lässt. Ein affektiver Effekt des Films, der in den – hauptsächlich auf den unverstellten

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Gertrud Koch hat sich mehrfach mit der religiös aufgeladenen Filmtheorie André Bazins befasst, wie dieser den Moment der Offenbarung im fotografischen Bild ansiedelt (über den auch Roland Barthes in Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie geschrieben hat), wobei Bazin das bewegte Bild, den Film, nicht durch eine Wesensdifferenz zur Fotografie gekennzeichnet sieht, sondern gerade im Film die »ideale Vervollkommnung des photographischen Vermögens«188 sieht. In Bazins Theorie wird das (fotografische/filmische) Bild als Reliquie verstanden, als Realpräsenz. Für Bazin wie für Barthes ist die Fotografie eine »Emanation des Referenten«,189





Antisemitismus Gibsons und seines Films zielenden – Kritiken unbeachtet blieb. Unabhängig davon, ob ein Publikum dem evangelikalen Christentum des Films Glauben schenken oder Folge leisten mag, bietet der Film eine Tour de Force der Entschuldung des Selbst, der Selbstgerechtigkeit, und dies als stets reproduzierbare Auferstehung: Jesus Christus ist hier das paradigmatische Opfer, und das Filmsehen besteht darin, sich genau darin wiederzufinden. Der Film ist so etwas wie die Inszenierung des Fundamentalismus an sich und zwar mittels der Erfahrbarmachung der Idealisierung des Martyriums, hier zwar spezifisch für das Christentum, aber eben im Erleben des Filmsehens für alle (oder keine Religionen) verallgemeinert. Die Überwältigung der Zuschauer_innen in diesem fast zweistündigen Splatter-Epos mit Bildern und Tönen des Grauens funktioniert auch dann, wenn dem ›Plot‹ jenseits des Films kein Glauben geschenkt wird. Zum christlichen »Behagen in der Schuld« und der Selbstermächtigung des Subjekts im Spannungsfeld Schuld-Opfer siehe: von Braun, Versuch über den Schwindel, Kapitel VII (S. 521–550). 188 Gertrud Koch: »Das Bild als Schrift der Vergangenheit«, in: Birgit Erdle/Sigrid Weigel (Hg.): Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 7–22, hier S. 13. Siehe zu Bazins Essay »Ontologie des photographischen Bildes« von 1945, das 1975 erstmals auf Deutsch übersetzt erschienen ist (in André Bazin: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, mit einem Vorwort von Eric Rohmer und einem Nachwort von François Truffaut, herausgegeben von Hartmut Bitomsky/Harun Farocki/Ekkehard Kaemmerling, übersetzt von Barbara Peymann, Köln 1975) und dem darin figurierenden Turiner Grabtuch u.a. auch Vinzenz Hediger, der argumentiert, dass die Wirklichkeitsübertragung bei Bazin als Transsubstantiation und diese wiederum als medientheoretische Kategorie zu verstehen sei; vgl. Vinzenz Hediger: »Das Wunder des Realismus. Transsubstantiation als medientheoretische Kategorie bei André Bazin«, in: montage/av 1 (2009), S. 75–107. 189 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie, übersetzt von Dietrich Laube, Frankfurt/M. 1989 [1980], S. 90. Hartmut Böhme stellt die christliche Fundierung der Emanationsthese in Frage und führt diese mit Verweis auf Bernd Busch auf heidnisch-antike Ursprünge zurück: Fotografien sind Selbstabbildungen der Dinge nicht »im Sinne des christlichen vera ikon, sondern des heidnisch-antiken Konzepts der emanierenden Bilderflut, wonach von den Dingen sich ununterbrochen feine Bildchen (eidola) abheben, welche sich im Auge als Wahrnehmungsbild realisieren – oder eben auf dem Film der Kamera.« (Böhme, der Wettstreit der Medien, S. 35) Böhme vergisst jedoch, das ›gnostische Bindeglied‹ zwischen Christentum und Antike, das u.a. Christina von Braun untersucht hat (vgl. Braun, Versuch über den Schwindel, S. 144ff), zu berücksichtigen.

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es ist also, im Sinne der Lichtmetaphysik, »in der Spur des Lichts ein Schöpfungsmoment«190 verortet. Diese Lichtmetaphysik ist, so Koch, eher gnostisch inspiriert und weniger dem Katholizismus Bazins (bzw. Barthes’) zuzuschreiben. Christina von Braun macht jedoch deutlich, dass und wie untrennbar Gnosis und Christentum gerade im Hinblick auf das (Film-)Bild zu denken sind, denn »[d]as Christentum hat mit einer ›neuen Bildlichkeit‹ […] auf das ›gnostische Begehren‹ geantwortet«.191 So zeigt die Eröffnungsszene von Yasemin ein auratisches Lichtszenario: Durch die Fenster der Sporthalle, in der die Protagonist_innen – Yasemin, ihre Schwester Emine, ihre Freundin Susanne (Katharina Lehmann), ihr Vetter Dursun und Jan – zusammen Judo machen, dringt ein diffuses, goldenes Licht, das die Köpfe der in weiß gekleideten Körper erleuchtet, Strahlenkränze zaubert und nach der Einblendung der Textquelle des Films – die Tagebuchaufzeichnungen von S. A. (auf diese Authentifizierungsgeste komme ich im nächsten Abschnitt zurück) – die andere Quelle des Films kenntlich macht: das Licht. Damit wird auch die Verbindung von beidem beleuchtet: Dieser Film, soviel scheint von Anfang an deutlich, ist wahr. Als dieser spezifische Film, der eine wahre Geschichte (nach)erzählt, sie darin auferstehen lässt, und eben als religiös fundiertes Medium, als Film selbst. So liegt die eigentliche Schlüsselszene von Yasemin meiner Ansicht nach nicht, wie sonst meist in den Mittelpunkt der Kritik gestellt, in der Hochzeitsnacht, der Kopftuchszene oder im Showdown am Ende, sondern gleich zu Beginn in der Kirchenszene, in der Yasemin in eine ›echte‹ Kathedrale gerät. Auf der Flucht vor den Nachstellungen Jans und zugleich der Überwachung ihres Vetters Dursun öffnet sie, von einem auf dem Bürgersteig quer geparkten Auto verdeckt, eine Türe und findet sich in einem Kirchenraum wieder. Yasemin wird hier ihre Schultern bedecken, ihren umgehängten Pullover zurechtrücken, also die Kleidungsregeln des sakralen Raumes berücksichtigen – sie, die sich sonst doch gerade widersetzt, den väterlichen Kleidungsregeln, also Kopftuch statt Rock statt Hose, oder zumindest Strategien einsetzt, die verheimlichen, aber nicht anerkennen (der Rock wird in der Schule hochgerafft und gekürzt und auf dem Heimweg wieder heruntergelassen). Sie mustert die in der Kirche befindliche Marienfigur – strahlengekrönt auch sie –, ein Moment des filmischen Verweilens, das seltsam unmotiviert scheint in dieser ansonsten so geradlinig angelegten Erzählung: Die Szene zeigt uns den Yasemin-Part, der die Moral der Geschichte kennzeichnet. Yasemin als die christliche Heilige, was sie nur sein kann, wenn sie säkularisiert ist, säkularisiert hinsichtlich des Islam und der damit markierten Traditionen. Und vielleicht liegt hier ebenso wie in Berlin in Berlin der Grund für die wenig überzeugende, aber vermeintlich zentrale Liebesgeschichte. Weder Yasemin noch Dilber scheinen von ihren Verehrern Jan bzw. Thomas besonders berührt. Sie sind von unberührter Jungfräulichkeit auf der einen Seite – ihre filmische



190 Koch, Das Bild als Schrift, S. 12. 191 Von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 162.

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und christliche Seligpreisung, ganz im Sinne der Bergpredigt: Selig sind die nach Gerechtigkeit Dürstenden, um Christi Willen Verfolgte (was hier heißt: im Sinne der christlichen Säkularisierung Verfolgte), die Leidtragenden (usw.) – und andererseits gerade durch Sexualität markiert, eine Sexualität, die für den Bruch mit der muslimischen Tradition steht. Es gibt in Yasemin dann noch eine zweite, ähnlich seltsame Szene, in der die Filmhandlung von einem bildlichen Moment angehalten wird: Die Einblendung der Aufnahmen der ›Überwachungskamera‹, die Jan an seinem Vogelkäfig installiert hat. Die Videokamera als Realitätseffekt, als Enthüllung, Verdopplung und Bewahrung des Vor-Filmischen. Die Szene scheint direkt auf die Entschleierung des Hochzeitsgeschenks für Emine und Hasan (Nedim Hazar) hinzuführen: Jan ist bei jener Vogelsequenz gerade dabei, seinem Vater einen Anzug zu klauen, um zu ebendieser Hochzeit zu fahren (angesichts seiner Eile ist der Ruhepunkt der Einblendung umso erstaunlicher). Dort erhält das Brautpaar, von Dursun überreicht und in einer großen Geste enthüllt, einen TV-Tower samt Videorecorder. Auf dem Fernsehbildschirm während der Enthüllung zu sehen: Videoaufnahmen von Yasemin beim Judo, wie sie bei einem Wettkampf einen Jungen besiegt und stolz in die Kamera lächelt. Die säkulare Kathedrale (die Sporthalle) im ›Auferstehungsmedium‹ des bewegten technischen Bildes, als insert in die Hochzeit, und natürlich: Der Onkel moniert Yasemins Freizügigkeit in diesem Bild (»Das ist unanständig!«: ein Religions-clash. Yasemins Auftritt als ›Strahlengekrönte‹ in der säkularen Kapelle (der Sporthalle) wird hier wiederholt. Und die christlichen Metaphoriken setzen sich fort: in ebenjener beschriebenen Kirchenszene und in einer Art Adam-und-Eva-Sequenz, in der Yasemin Jan einen Apfel überreicht, auf dem Boot, der Hafenrundfahrt, auf der sie sich davongestohlen haben. Aber seltsam: Jan begreift dennoch nicht. Yasemin ist in der Tat Symbolträgerin der Religion an sich, beider Religionen, der Schauplatz, auf dem der Film, der Regisseur und die Rezeption den vermeintlichen Clash of Civilizations inszenieren. Noch paradigmatischer als Yasemin inszeniert Berlin in Berlin die Verbindungen von Glauben, Kino und Kulturkampf – oder mit anderen Worten: das Wechselspiel von Transparenz und Opazität, von Über- und Unterbelichtung, von Bilderstreit und Religion. An dieser Stelle soll nochmals betont werden, dass ich auch in diesem Film nicht von einer bewussten Inszenierung, sondern vom Aufscheinen des (kollektiven) Imaginären sprechen will: Weder Bohm noch Cetin sind Regisseure des Religiösen per se – aber die genannten Filme enthüllen nichtsdestotrotz dessen Sedimentierungen. Diese Filme nehmen Teil am (historischen wie aktuellen) Bilderstreit. Auch in Berlin in Berlin eröffnet der Film geradezu kathedral: eingeläutet von Kirchenglocken, über die sich der Sound der ›Schüsse‹ der Kamera, des Fotoapparats, legt. Dazu die bereits beschriebene Serie von ›Einstellungen‹ (hier wörtlich und filmtechnisch zugleich gemeint – die Einstellung ist die Einstellung192), nicht wirklich stills, aber dennoch sind im Verweilen der Filmkamera die Einzelbilder zu sehen, die Thomas, der Ingenieur, mit seiner Kamera macht. Die erste Einstellung: ein

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Aufblick auf die Stadt, Berlin, vor die sich jedoch ein seltsam schwebender Schleier legt. Wie sich zeigen wird, ist es das Drahtgeflecht am Kirchturm, das vor dem Herabstürzen schützen soll, hier aber den Blick vermittelt, sich dazwischenschiebt, als Medium in Erscheinung tritt (und damit vergleichbar dem Maschrabiyya-shot, (siehe dazu 3.7.1). Das nächste Bild zeigt ebenfalls eine Kirche (dieselbe Kirche?), dann die Kamera (Thomas beim Fotografieren), dann verschiedene Stadtszenen, öffentliche Räume, und schließlich das letzte Bild: ein schnauzbärtiger, dunkelhaariger Mann mit Schlapphut, vor einer Plakatwand. Ein Poster der Zeitschrift Max und eines mit einer Volksmusikveranstaltung – deutscher Sex und deutsche Gemütlichkeit – und vor Letzterem, emblematisch, ›der Ausländer‹, die Differenzfolklore. Thomas – der Protagonist, der in Liebesdreieck und Melodram verstrickte Gegenspieler von Mürtüz im Kampf um die Aufmerksamkeit Dilbers nach dem Tod ihres Mannes Mehmet, den Thomas im Streit um Bilder (seine Bilder von Dilber) verschuldet hat – spielt in Berlin in Berlin auch noch eine andere Geschichte durch, nämlich die des ungläubigen Thomas: »Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben.« So spricht Jesus im Johannesevangelium zu Thomas, jenem Jünger, der nicht glauben wollte, ohne zu sehen und zu fühlen. Erstaunlicherweise, wie Hartmut Böhme notiert, wird hier das Anfassen als Sehen begriffen. Nicht George Berkeleys esse est percipi, hier ist es vielmehr das Sein, das ertastet, gespürt, gefühlt wird.193 Während das Christentum die Privilegierung des Sehsinns betreibt, ist darin jedoch immer auch Verkörperung angelegt: Das Wort wurde Fleisch, der Leib Gottes ist real präsent in Wein und Brot des Abendmahls – und das Bild erlangt seine Wirklichkeit im Blick des Betrachters. Die Geschichte vom ungläubigen Thomas steht also für die Relation von Tastsinn und Sehsinn und das Spannungsverhältnis, welches darin angelegt ist. Und so lernt Thomas, der Ingenieur, seinen Sehsinn auch als Berührung zu begreifen und als solches bedeutend und nicht unschuldig, worauf er zunächst besteht, und er lernt sukzessive, seine Distanzierung mittels Sehsinn und technischer Bilder aufzugeben zugunsten eines Eintritts in eine andere Logik, hier die der oralen Tradition (aber auch im Sinne der Worten Jesu: glauben, ohne zu sehen). Wie Christina





192 So der Titel von Gertrud Kochs Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen der Judentums (Frankfurt/M. 1992). Die Einstellung als Einstellung taucht aber bereits bei Béla Balázs auf, in Der Geist des Films, dem zweiten Band seiner Aufsatzsammlung: »Einstellung zur Einstellung« lautet der Titel eines Aufsatzes von 1929, der wie folgt beginnt: »Es wurde schon gesagt, daß jede Anschauung der Welt eine Weltanschauung enthalte, daß jede Einstellung der Kamera eine Einstellung des Menschen bedeute und daß es demgemäß nichts Subjektiveres gäbe als das Objektiv.« (Balázs, Der Geist des Films, S. 239). Von der Einstellung als theologischer sprechen auch die Herausgeber von Zeit, Bild, Theologie. 193 Vgl. Hartmut Böhme: »Der Tastsinn im Gefüge der Sinne. Anthropologische und historische Ansichten vorsprachlicher Aisthesis«, in: Gunter Gebauer (Hg.): Anthropologie, Leipzig/ Stuttgart 1998. S. 214–225, hier S. 215.

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von Braun in Scham und Schamlosigkeit beschrieben hat, steht der Tastsinn für die »Erfahrung, zu berühren und berührt zu werden […]. Diese Berührung setzt die Bereitschaft voraus, das Ich einer Erfahrung von Ohnmacht und Abhängigkeit auszusetzen.«194 Aber auch für den Sehsinn – jenen im christlichen Abendland so privilegierten Sinn, mit Johannes von Damaskus der höchste Sinn – gilt, dass das Ich jederzeit damit rechnen muss, selbst zum Objekt der Betrachtung zu werden, »dann, wenn das andere Auge zurückblickte.«195 Von Braun legt nun dar, wie sich dies mit den technischen Sehgeräten fundamental änderte: Das Sehen entfernte sich von der Berührung und inkorporierte diese, insbesondere sexuelle Berührungen: Voyeurismus und Pornografie. In Berlin in Berlin wird Dilbers Fähigkeit, zurückzublicken, den Blick zu erwidern, zu Thomas Einstieg in die Entmachtung im Feld des Sichtbaren. Bereits auf der Baustelle, als Thomas versucht, ihr unauffällig zu folgen, weitere Bilder als die von der Mittagspause zu erbeuten, spürt Dilber seine Blicke und konfrontiert ihn, wortlos. Sicher, beide teilen keine gemeinsame Sprache. Aber die zahlreichen Blickkonstellationen, die im Laufe des Films durchgespielt werden, zwischen allen Figuren, verweisen auf etwas anderes: auf eine Relation, die im Sehen angelegt ist, und die nicht in Dialoge zu übersetzen ist. Nach dem Tod Mehmets verliert Thomas das Interesse an Sex – seine Freundin beschwert sich: »Mit dir ist ja wirklich nichts mehr los. Der Unfall ist schon drei Monate her und immer noch denkst du daran!« In Thomas‹ Schlafzimmer hängen überall Fotos von Dilber, insbesondere die Kopftuch-/Auge-/Zeige-Aufnahmen. Thomas‹ Freundin diagnostiziert hier ganz richtig die Ursache für Thomas‹ Impotenz: Irgendwo zwischen Teleobjektiv und Tod, Schuldgefühlen und erwidertem Blick ist Thomas die Potenz des Blickes, der sieht, ohne selbst wahrgenommen zu werden, abhandengekommen. Ebenjenes Blickes, den auch die verschleierte Frau signalisiert. Thomas‹ Freundin ergreift ein Tuch und wickelt es ihm um den Kopf, sie schießt ein Polaroid – Thomas, mit Kopftuch (»Jetzt kannst du dich mal als Türke sehen!« siehe Abb. 22 & 23): Thomas ist die Sicht verstellt worden. Später, als ›Gast‹ in der Wohnung von Mehmets Familie, erwischt Thomas Mürtüz an Dilbers Schlüsselloch. Dahinter, so zeigt uns die Kamera, Dilber bei jener berühmten Masturbationsszene. Und wir sehen Thomas, wie er Mürtüz sieht, wie er Dilber beobachtet. Ein klassisches Moment der Erkenntnis der Subjektkonstitution im Feld des Sichtbaren: Ich muß, für den Anfang, auf dem einen Punkt bestehen – auf dem Felde des Sehens ist der Blick draußen, ich werde erblickt, das heißt ich bin Bild/tableau. Dies ist die Funktion, mit der sich die Institution des Subjektes im Sichtbaren zuinnerst erfassen läßt. Von Grund auf bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außen ist. Durch den Blick trete ich ins Licht, und über den Blick werde ich der Wirkung desselben teilhaftig. Daraus geht hervor, daß der Blick das Instrument



194 Von Braun, Scham, S. 51. 195 Von Braun, Scham, S. 52.

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darstellt, mit dessen Hilfe das Licht sich verkörpert, und aus diesem Grund auch werde ich – wenn Sie mir erlauben, daß ich mich, wie so oft, eines Wortes bediene, indem ich es in seine Komponenten zerlege – photo-graphiert.196

Thomas, der ungläubige Thomas, hat begriffen: Anstatt Mürtüz zu stellen, schleicht er sich ungehört davon und begibt sich erneut in die Hände seiner neuen ­Lehrmeisterin, der Großmutter (Aliye Rona). Eingeführt wird die Subjektivierungs-Voyeurismus-Szene durch Yüksel (Emrah Aydemir), der zusammen mit dem jüngsten Bruder Yücel (Volkan Akabali) und dessen Freundin Diana (Sarah Chaumette) eine Leichtigkeit des Seins markiert, die in starkem Kontrast zu den Parametern stehen, die Mürtüz in sein melodramatisches Leiden einsperren. Yücel macht sich gerade auf den Weg zu einem Peepshow-Kino, Show und Life stehen außen in Leuchtschrift zu lesen: Sex als visueller Akt, der die (echte = life!) Berührung im Auge lokalisiert. Der turning point für Thomas und Dilber liegt vermutlich gerade deshalb nicht in einem sexuellen Akt und auch in keinen Blickwechseln mehr (Thomas lernt Scham und den Blick zu senken), sondern in der vorsichtigen Berührung der Hände am Ende; und das gerade in der ganzen Ambivalenz dieses vermeintlichen Happy Ends. Thomas, der sich also anfangs intime Momente erlauert, mithilfe des Teleobjektivs eine unvermittelt scheinende Nähe heranholt, Dilbers Blick als an sich gerichtet fotografiert, ist sich zunächst keiner Schuld bewusst. »Ich hab nur Bilder von ihr gemacht, einfach stinknormale Bilder!«, bricht es in einer der letzten Konfrontationsszenen in der Wohnung der Familie aus ihm heraus, in deren Folge er dann jedoch Ekber, dem Vater der vier Brüder (Eşref Kolçak), seine Kamera überreichen wird. Thomas bringt die ganze Geschichte mit seinen, für ihn unerträglichen, Schuldgefühlen ins Laufen: Er sitzt über einem türkischen Wörterbuch im Café gegenüber der Wohnung der Familie, auf eine Gelegenheit wartend, Dilber um Absolution zu bitten. Dazu kommt es nicht, seine Entschuldungsstrategie geht nicht auf, er landet stattdessen im Asyl der Gastfreundschaft in ebendieser Wohnung. Wo er, von Kalligrafie, Ornamentik und Genealogie umgeben, lernt, anders wahrzunehmen, und, wenn auch diffus, die Verbindung von Schuld und Bild im Christentum zu ›begreifen‹. Kaum dass die Großmutter (die Büyükanne, Aliye Rona) ihm das Leben gerettet hat, indem sie ihn in der eigenen Wohnung für unverletzbar erklärt, wird Dilber ihm seine Kamera, die er bei ihr im Zimmer verloren hatte bei seiner nächtlichen Odyssee, zurückgeben. Thomas, auf dem Fußboden sitzend, zu ihr aufblickend, wird auf die, im Übergabemoment drohend riesig kadrierte, Fotokamera starren, ein erstes Erkennen der Gewalt, die im Bildermachen angelegt sein kann. Er erfasst die Kamera, kontrolliert die Einstellungen, reinigt die Linse, und dann lässt er den Blick schweifen: auf eine gerahmte Kalligrafie, eine



196 Jacques Lacan: »Was ist ein Bild/Tableau«, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild, München 1994, S. 75–89, hier S. 76; Hervorh. i.O.

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Abrahamsdarstellung, wie sie üblicherweise zu Ehren eines heimkehrenden Pilgers (hier: der Großmutter?) aufgehängt wird – also die Illustration der abrahamitischen Stiftung des Opfers bzw. des Opferfestes, dem ʿĪdu l-Aḍḥā oder türkisch Kurban Bayramı (Abraham will Gott seinen Sohn opfern und wird von einem Engel daran gehindert; geopfert wird schließlich ein Schaf bzw. ein Widder) –; und am Ende fällt sein Blick auf eine schwarzweiße Aufnahme der ganzen Familie. Er fokussiert Dilber auf dem Bild durch seine Kamera, senkt dann aber den Blick, die Kamera, als er Dilbers Sohns Mustafa (Mustafa Portakal) gewahr wird, der ihn anstarrt, wortlos, untermalt von plötzlich dramatischer Musik: Thomas wird selbst erblickt, photo-graphiert. Anstelle der christlichen Ikonophilie steht am Ende das orale Rezitieren und Singen mit der Großmutter (jener Matriarchin, deren Machtwort er sein Leben zu verdanken hat, und die als Bewahrerin des Wortes immer wieder koranlesend gezeigt wird). Er lernt, el öptüm, den Handkuss der Ehrerbietung, die Berührung von Handrücken und Stirn, an die Stelle von Blickwechseln zu setzen, an die Stelle seiner Blicke von oben, von Überblick und Einsicht als Enthüllung. Als Thomas als ungläubiger Thomas am Ende begreift, ist er in der Lage, der Großmutter auf Türkisch (wenn auch radebrechend und nicht korrekt) zu sagen: »Ben gitmek«, ›ich gehen‹. Um anzufügen: »Gavur evladı« – was so viel bedeutet wie ›Kind (oder Sohn) des Ungläubigen‹. Sie lacht. Und während Thomas sich einschreibt in die orale Tradition, die Muttersprache, die Genealogie – er darf sie ja auch nach Hause führen, die Schwiegertochter Dilber –, muss sie, Dilber, auf den Familienzusammenhang verzichten. Ihr Sohn, Mustafa, verweigert sich, »ben gelmem«, ›ich gehe nicht‹. Die letzte Kamerafahrt in der Wohnung führt durch die rechts und links im Flur aufgereihte Familie, am Ende die zappelnden Fische aus dem kaputten Aquarium, das Mürtüz in seinem Liebeskummer zerschmettert hat, ein Bild der Auflösung am Ende dieses Spaliers. Auch in diesem Film wird der Frau als Symbolträgerin keine Wahl gelassen, eine Wahl zwischen zwei Nicht-Orten (hier die Enge der Spannungen in der Familie, dort Thomas, den sie weder kennt noch versteht). Dilbers ›Migrationsgeschichte‹ nach Deutschland beginnt erst hier, so signalisiert der Film. Und, wie bereits in Kapitel 2 ausgeführt, bedeutet dies wie so oft die Unterbrechung, die Zäsur in der genealogischen Geschichtsschreibung. Die »Katholizität des Kinos«,197 von der Deleuze spricht – neben André Bazin der andere wesentliche ›Filmtheoretiker des Glaubens‹ –, steht also zum einen für die mediale Nähe von Kino und Kathedrale, vor allem wollte Deleuze damit aber auch die Verbindung von Glauben und Sehen zum Ausdruck bringen. Beiden, Kino und Christentum, eignet also ein ontologischer Realismus (auch wenn es für das Kino noch andere Optionen der Rezeption gibt), der im Glauben begründet ist:198 die Wahrheit,

197 Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 223. 198 Vgl. Koch, Das Bild als Schrift, S. 15. Gertrud Koch hat auch über den katholischen Piktorialismus geschrieben, womit sie Religion als ›Stil‹ beschreibt. Damit versucht sie, die

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die untrennbar mit dem Bild verwoben ist, und die ich im nächsten Abschnitt genauer betrachten werde, und an die geglaubt werden muss, damit sie wahr ist.199 Koch kritisiert hier zwar treffend eine »extrem voraussetzungsvoll[e] eurozentrisch[e] Perspektive«,200 aber um genau diese extrem voraussetzungsvolle Perspektive geht es mir hier auch. Jene Perspektive, die die theologische Fundierung bei Barthes und Bazin begründet, aber eben auch jene Perspektive, die in den Fällen, in denen die religiöse Einbettung nicht bewusst erzählt wird (wie beispielsweise in Berlin in Berlin oder Yasemin), eine zentrale Rolle für die Verschaltung von Kinematografie, Erzählung, Filmbild, Leinwand und Film-Sehen spielt.

3.6 Real,

authentisch , echt ?

This, then, is realism: the unreflected appeal to ›common sense‹ judgments. Mieke Bal201 Authentizität, so habe ich im ersten Kapitel dieser Arbeit postuliert, ist eine der großen Heimsuchungen202 des deutschen Ausländerdiskurses und seiner Bilder. Sie präsentiert sich als Anforderung, die sowohl an die Bilder (genauer: die Figuren und ihre Geschichte(n)) wie an ihre Produzent_innen gerichtet wird, aber auch als Rezeptionshaltung, die wiederum mit dem korrespondieren, was Harun Farocki als ›Inhaltismus‹ bezeichnet hat, sowie mit dem, was ich als Investiertheit in eine Bilderpolitik der Transparenz begreife.



auffällige Häufung religiöser Motive im neuen europäischen Film als weder zufällig noch buchstäblich zu begreifen. Mit Blick auf Lars von Trier und Tom Tykwer versucht sie so, eine filmische Ausdrucksform zu beschreiben, »mit de[r] noch einmal die Macht des Glaubens an die ästhetische Illusion des Films beschworen wird.« (Koch, Filmische Welten, S. 167) »›Katholizismus‹ ist hier der Name für einen piktorialen Stil. Ein Stil, der es ermöglicht in Bildern zu leben«. (S. 168) 199 Zu Illusion, Glauben und Film siehe u.a. den Sammelband: Gertrud Koch/Christiane Voss (Hg.): ...kraft der Illusion, München 2006. 200 Koch, Das Bild als Schrift, S. 15; dies bezieht sie hier auch auf Roland Barthes‹ Die helle Kammer. 201 Bal, Double Exposures, S. 260. 202 Ich verwende diesen Begriff gerade wegen seiner (etymologischen) Aufladung mit einem christlichem Bedeutungsgehalt: Sowohl der Besuch ›daheim‹ ist darin enthalten, also die Verbindung mit Zuhause, Verwandtschaft und Zugehörigkeit (wie im Fest Mariä Heimsuchung, das »ursprünglich … wohl aus dem Orient [stammt]«, http://www.katholisch.de/de/ katholisch/glaube/unser_kirchenjahr/zeit_im_jahreskreis/mariae_heimsuchung.php (zuletzt abgerufen am 01.10.2014), und das sich auf eine Episode im Lukas-Evangelium bezieht, in

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2006 dekonstruierten Georg Seeßlen und Markus Metz (in einem taz-Artikel unter der Überschrift Fucking Identity) Authentizität im Hinblick auf post- und polymigrantische Filmproduktionen der letzten Jahre als deutsches Märchen von der Identität. Die Autoren beobachteten eine vermehrte Hinwendung nicht-migrantischer Filmemacher_innen zu Geschichten der Migration und vermuteten, dass die »ursprüngliche Geschichte der Fremdheit […] unter den Bedingungen der sozialen Verschärfung zu ihrem eigenen Gegenteil [wird], nämlich zum tröstenden Märchen der Identität.«203 Sie konstatieren angesichts »der arbeitslosen Gesellschaft des Neoliberalismus, in der ›Mainstream‹ und ›Normalität‹ keine Garantien mehr für soziale Sicherheit sind«, eine direkt aus dem Mainstream erwachsende »Sehnsucht nach der Nestwärme des migrantischen Hinterhofs.«204 So wurde aus ebendieser »Geschichte der Fremdheit«, die noch die ›migrantischen‹ Filme der 1970er und 80er (und teilweise auch das Kino der métissage der 1990er Jahre) gekennzeichnet hatte, eine »Erzählung der Identität« und damit ein Genre, »dessen emotionaler Ökonomie man nicht mehr unbedingt trauen kann.«205 Zu fragen wäre zwar, inwiefern diesem Genre jemals ›zu trauen‹ war (also wie die emotionale Ökonomie der andernorts als sozialarbeiterische Problemfilme beschriebenen Filme einzuschätzen wäre), oder was diesem Genre denn zuzutrauen wäre, zumal es durchaus irritiert, wenn Seeßlen und Metz deswegen so misstrauisch sind, weil nunmehr Filmemacher »ohne migrantischen Hintergrund«206 sich so sehr für Migrationsgeschichten interessieren. Dennoch treffen ihre Beobachtung angesichts aktueller filmischer Migrationsgeschichten, die sich in den 2000er Jahren zu häufen begannen, einen zentralen Punkt: Diese funktionieren »nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer ›Detailauthentizität‹ viel eher als Migrationsmärchen denn als wirkliche Zeitbilder.«207 Da siegt die »Identifikation über die Identität, wenn auch aus einem mehr oder weniger guten Willen heraus. Einem genaueren kritischen Blick offenbart sich in Produktionen wie dieser viel weniger von migrantischer Lebenswirklichkeit als von sehr, sehr deutschen Träumen.«208



203



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208

der Maria sich im Anschluss an die Verkündigungsszene zu ihrer (schwangeren) Cousine Elisabeth begibt), sowie der heimsuchende, also strafende Gott. Markus Metz/Georg Seeßlen: Fucking Identity, in: taz (07.01.2006), http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2006/01/07/a0242; zuletzt abgerufen am 01.10.2014. Metz/Seeßlen, Fucking Identity, o.S. Metz/Seeßlen, Fucking Identity, o.S. Metz/Seeßlen, Fucking Identity, o.S. Metz/Seeßlen, Fucking Identity, o.S. Das erinnert an Getrud Kochs Ausführungen zum ›mittleren Realismus‹ (Alexander Kluge) des bundesdeutschen Kinos (siehe Kapitel 1), nämlich die Verbindung von hyperrealistischer Ausstattung und völlig klischeehaften Figuren als ein Ergebnis von Geschichtsverdrängung (auch dann, wenn, wie z.B. in Die Zeit der Wünsche (dem TV-Mehrteiler von Rolf Schübel, D 2004) die Filme gerade bemüht sind, endlich Geschichten der Migration zu erzählen). Metz/Seeßlen, Fucking Identity, o.S., Hervorh. N.H.

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So ist auch das Yasemin vorangestellte Authentizitätsversprechen (»nach den Tagebüchern von S. A.«) tatsächlich ein sachdienlicher Hinweis, aber eben einer, der auf ein deutsches Märchen von der Identität und weniger auf die Wahrheit einer migrantischen Befindlichkeit gerichtet ist, einer Befindlichkeit, die zudem unter jenes Signum ›Authentizität‹ als paradigmatisch anstatt als symptomatisch (für die deutsche Gegenwartsgesellschaft und ihre Auslassungen, Dethematisierungen usw.) projiziert wird. Deniz Göktürk sieht in Sinan Cetins Berlin in Berlin einen Vorboten einer Entwicklung, die für sie im Übergang zum 21. Jahrhundert zur vollen Blüte kommt, unter anderem in den Filmen Fatih Akıns. Sie konstatiert optimistisch, dass Filme über Migrant_innen nun endlich auch als Filme über Deutschland gelten können, dass sie die »territorial und puristisch definierten nationalen Kulturen«209 herausfordern (hierfür steht ihr Begriff eines Kinos des »wechselseitigen Grenzverkehrs«210) und nun auch die »deutsche Diskussion um Multikulturalität und Minderheitenkulturen allmählich über ihre Provinzialitäten«211 hinauswachse. Weitere drei Jahre später scheint Akıns Erfolg mit Gegen die Wand Göktürk eines verfrühten Optimismus zu überführen, zumindest wirft die Rezeptionsgeschichte einige Fragen auf hinsichtlich ihrer Hybridisierungsthese aus dem Jahr 2001. Während der Erfolg, der Goldene Bär der Berlinale, zumeist eingedeutscht wurde (›unser Bär‹, ein deutscher Gewinnerfilm), musste der Regisseur sich immer noch als »Gastarbeitersohn« bezeichnen lassen und sich der Schublade »Gastarbeiterkino« erwehren.212 Auch Gegen die Wand wird ›authentifiziert‹, in eine Herkunft (natürlich die türkische) ›rücküberführt‹. So schreibt Hatice Ayten in epd medien unter der Überschrift Was sie schon immer über die Türken wissen wollten … Zur Rezeption des Films ›Gegen die Wand‹: Niemand würde auf die Idee kommen, einen deutschen Film als repräsentativ für ganz Deutschland oder gar alle Deutschen zu sehen. Die Erwartung der Medien, einen authentischen Film gefunden zu haben, wird durch den türkischen Hintergrund von Fatih Akin erfüllt, auch wenn dieser sich selbst als einen deutschen Regisseur bezeichnet. Hier wird eine Verbindung zwischen der realen Situation der türkischen Migranten mit der biografischen Erfahrung des Regisseurs und der Geschichte des Films hergestellt, um das Hier und Jetzt des Films zu bestätigen.213

209 Deniz Göktürk: »Migration und Kino: Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?«, in: Springerin 2 (2001), S. 42–47, hier S. 47. 210 vgl. Göktürk, Verstöße. 211 Göktürk, Migration und Kino, S. 47. 212 So z.B. in einem Interview mit Die Welt am 16. Februar 2004. Die Welt: »Sie haben g­ esagt, das Wort ›Gastarbeiter‹ könnten Sie nicht mehr hören. Akın: Es sollte eigentlich seit zehn Jahren aus dem Sprachgebrauch verschwunden sein. Türken, die bis dahin geblieben sind, gehen nicht mehr zurück. Meine Eltern sind deutsche Staatsbürger geworden, und ich bin ein deutscher Regisseur. Der Begriff ›Gastarbeiter‹ dient heute nur noch zur Abgrenzung.« »Ich bin ein deutscher Regisseur. Interview mit Berlinale-Sieger Fatih Akin«, in: Die Welt (16.02.2004), http://www.welt.de/data/2004/02/16/238248.html; zuletzt abgerufen am 11.10.2014.

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Außerdem wird in der Rezeption von Gegen die Wand ein Lehrstück für ›die Türken‹ visioniert. Zwar schrieb Jan Schulz-Ojala im Tagespiegel, dass das deutsche Kino durch den Film verändert worden sei – aber im selben Atemzug behauptete er fundamentale Auswirkungen auf das Selbstverständnis der »türkischen Zwei-Millionen-Gemeinde in Deutschland«.214 Wie Ayten zeigt, wird der Film ganz offiziell als Aufklärungsmaterial beworben: Auch von boxfish films, dem Büro für Film und Kommunikation, das die Pressearbeit übernommen hat, wird der Film in der Pressemappe als ›ein energisches und überzeugendes Portrait der zweiten türkischen Einwanderer-Generation‹ vorgestellt. ›Gegen die Wand‹ sei zu einem ›wunderbar freien Blick auf die eigene Community gelangt‹, feierte dann die ›Zeit‹ unter dem Titel ›Ankunft in der Wirklichkeit‹ den deutschen Kinotriumph.215

Der Filmemacher sieht seine Figuren ebenso wie sich selbst nicht als Migrant_innen, sondern als Deutsche. Selbstverständlich sei sein Background anders als der von »Durchschnittsdeutschen«, und er hofft, dass »endlich diese gewisse Exotik und Etikette gesprengt wird«.216 Am liebsten lese er, so Akın, ohnehin in der internationalen Presse über sich, da er dort in keine ethnischen Schubladen gesteckt werde: »Herkunft und alles andere seien Schall und Rauch.«217 Ganz ähnlich formuliert dies der Schriftsteller Feridun Zaimoğlu, der das Verhältnis von Einordnung und (Selbst-)Positionierung in einem Interview mit dem Berliner tip folgendermaßen kommentiert: Erst hat er den Goldenen Bären der zweiten Generation in Deutschland geschenkt, dann hat er seine Frau mit diesem Preis bedacht, dann widmet er diese goldene Trophäe den Völkern in der Türkei und in Deutschland. Das alles stimmt und ist richtig, und dann sagt er wiederum bei der Berlinale-Pressekonferenz, als er darauf angesprochen wurde, ob er auch in Zukunft Gastarbeiterfilme drehen will, er sei Deutscher und dies sei ein deutscher Film – was ja eine Art Standortbestimmung darstellt. Es ist gut, dass es zu diesen Missverständnissen kommt und klar wird, dass diese ganzen eindeutigen Zuschreibungen einfach nicht hinhauen.218







213 Hatice Ayten: »Was Sie schon immer über die Türken wissen wollten... Zur Rezeption des Films ›Gegen die Wand‹«, in: epd medien (24.04.2004), S. 3–6, http://www.epd.de/medien_ index_27924.html: zuletzt abgerufen am 10.09.2009, heute nicht mehr einsehbar; hier o.S. 214 Jan Schulz-Ojala: »Enthüllung. Der Goldene Bär der Berlinale – ein Skandälchen und ein Schock, in: Der Tagesspiegel (17.02.2004), http://www.tagesspiegel.de/kultur/enthuellung/ 491522.html; zuletzt abgerufen am 11.11.2014. 215 Ayten, Was sie schon immer, o.S. 216 Akın zit. in Holger Mehlig: »Porträt Fatih Akin: ›So sehen Gewinner aus‹«, in: in Spiegel online Kultur (15.02.2004), http://www.spiegel.de/kultur/kino/portraet-fatih-akin-so-sehengewinner-aus-a-286519.html; zuletzt abgerufen am 11.11.2014. 217 Mehlig, Porträt Faith Akin, o.S. 218 Feridun Zaimoğlu: »Lebenswut, Herzhitze«, in: Der Tagesspiegel (10.03.2004), http://www.

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Auch der Hauptdarsteller Birol Ünel meinte, wenn eine Herkunftsdiskussion geführt werden müsse, dann nur mit allen Uneindeutigkeiten: »Ich nenne das kontrollierte Konfusion.«219 Hinsichtlich des ›Aufklärungsauftrags‹ des Films wünschte Akın sich tatsächlich, er möge konservative Familien zur Diskussion anregen. Allerdings: »Er habe in seinem Werk jedoch nicht die ältere Generation der Türken in Deutschland denunzieren wollen, sie seien auch Opfer der Tradition. Nach seiner Einschätzung seien die Türken in Istanbul aber moderner als die Türken in Deutschland.«220 Was er an anderer Stelle treffend als das Phänomen der Retraditionalisierung analysiert: »In der Diaspora ist man viel konservativer als in den Motherlands.«221 Interessanterweise erkennt Ayten dies auch in dem Film selbst: Tatsächlich findet man aber eine völlig konventionelle Geschichte im Film. So hat der türkische Filmkritiker Atilla Dorsay wohl Recht, wenn er den Film gerade nicht als kulturrevolutionär sieht, wie die deutsche Rezeption, sondern vielmehr das Yeşilcam-Kino in ›Gegen die Wand‹ durch die ganze Bandbreite der klassischen Melodramatik und Erzeugung von überzogenen Klischees auferstanden sieht.222

Das erfolgreiche Yeşilcam-Kino, so schreibt Ayten weiter, entstand ab 1952 und feierte sein goldenes Zeitalter in den 60er und 70er Jahren. Pro Jahr wurden fast 300 Filme produziert, die von melodramatischen Geschichten der Frauen erzählten, die in tagesspiegel.de/kultur/lebenswut-herzhitze/497810.html; zuletzt abgerufen am 11.11.2014; Hervorh. N.H. Im selben Interview sagt Zaimoğlu aber auch: »Das ist fast schon ein Aufruf an all die herkunftsfremden Deutschen da draußen, sie mögen bitteschön endlich den Mut haben, sich als das auszuweisen, was sie in Wahrheit sind, nämlich als Deutsche. Schluss mit den Verstellungskünsten, Schluss mit den Ängsten, hin zum hochprozentigen Deutschen – denn das sind sie, sie sind hochprozentige Deutsche. Das bedeutet wirklich nicht, dass man seine Eltern und das Alte verrät, aber das Neue ist so was von überwältigend, die Gegenwart ist so berauschend, dass man es sich nicht leisten kann, nicht erlauben darf, sich mit irgendwelchen Identitätsmodellen und Sozialdramen abzugeben. Das ist vorbei. Over. Jetzt ist German Art angesagt.« (ebd.) 219 Ünel zitiert in Marin Majica: »Kontrollierte Konfusion«, in: Berliner Zeitung (11.03.2004), http:// www.berliner-zeitung.de/archiv/birol-uenel-ist-der-maennliche-star-im-berlinale-sieger-gegen-die-wand----jetzt-ist-der-film-im-kino-kontrollierte-konfusion,10810590,10159164. html; zuletzt abgerufen am 11.11.2014. 220 Akın zit. in: »Goldener Bär für ›Gegen die Wand‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.02.2004), http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/berlinale-2009/berlinale-2004-goldener-baer-fuer-gegen-die-wand-1147554.html; zuletzt abgerufen am 11.11.2014. 221 http://www.espace.ch/medien/archiv/details.asp?vID=402150&newspaper=bz; zuletzt aufgerufen am 25.02.2004; heute nicht mehr einsehbar. 222 Ayten, Was sie schon immer, o.S.

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einer grausamen Welt verstoßen, verraten und vergewaltigt werden. Frauen, die sich gegen die Zwangsehe auflehnten, nach deren Widerstand gegen die traditionelle Familie der Verlust der Ehre und der Ausschluss aus der Gemeinschaft folgte.223

Die Ära des Yeşilcam endete in den 1980er Jahren mit dem Entstehen des Autorenfilms, »der sich kritisch mit aktuellen Themen wie Geschlechterbeziehung, Sexualität der Frauen und sozialpolitischen Themen auseinander setzte.«224 Entsprechend, so Ayten, erkannte die türkische Filmkritik in den Protagonisten des jetzigen Akin-Filmes vor allem die zweite und dritte Generation der in Deutschland lebenden Migranten. Diese Geschichte handelt also von den ›Anderen‹, den ›Deutschländern‹ oder den vergessenen Söhnen und Töchtern, die zwischen allen Stühlen der Welt stehen, die weder mit der heutigen fortschrittlichen noch mit der traditionellen Kultur der Einheimischen etwas gemeinsam haben. Nicht das Eigene, sondern das vom Ursprung Entfremdete projiziert sich so auf die Leinwand der Kinos im türkischen Raum. Für türkische Zuschauer bietet der Film kaum Identifikationsmöglichkeiten, auch wurde keine Wand berührt.225

Wie stark der Wunsch der ›Rückprojektion‹ auf die Fiktion der Herkunft und des Anderen, auch des anderen Ortes, im deutschen Ausländerdiskurs ist, zeigt sich daran, dass in Deutschland selbstverständlich davon ausgegangen wurde, dass der Film in der Türkei einen Skandal auslösen müsse. Nochmals Ayten: Doch die Euphorie einiger deutscher Filmkritiker mag auch daher rühren, dass der Film angeblich die konservativen türkischen Familien – sowohl hier im Lande als auch in der Türkei – wegen der freizügigen Sexszenen provoziere. Zu lesen war dies im ›Spiegel‹ und in einigen Tageszeitungen. Man hätte es wohl gern gesehen, wenn Türken die Kinos gestürmt, die Filmplakate von den Wänden gerissen und mit Kopftüchern gegen den Film protestiert hätten. Wenn dem nicht so ist, dann muss man da ein wenig nachhelfen, so darf man nachträglich spekulieren – wie die ›Berliner Morgenpost‹, die von angeblichen Protesten in der Türkei sprach, die es gar nicht gegeben hat.226

Diesen Wunsch nach Protest als Projektionsfläche, in Verbindung mit den Konzepten von ›wahr‹ und ›wirklich‹, hatte ich bereits im Kontext von Shirins Hochzeit angesprochen. In der Folge von Gegen die Wand galt Sibel, die Filmfigur und die Schauspielerin, der deutschen Rezeption als ›wahr‹, als echte Türkin, insofern die ›Enthüllung‹ ihrer Arbeit als Pornofilmdarstellerin – als Antipodin zur Kopftuchfrau, als deren

223 224 225 226

Ayten, Was sie schon immer, o.S. Ayten, Was sie schon immer, o.S. Ayten, Was sie schon immer, o.S. Ayten, Was sie schon immer, o.S.

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Vergleichsfolie – für die Verkörperung befreiter Sexualität steht. Weshalb Hatice Ayten auch von »umgekehrten Haremsfantasien«227 spricht, die, wie ich für den Film Yasemin gezeigt habe, das Phantasmatische des Ausländerdiskurses ›enthüllen‹.228 Authentizität als Paradigma der Wahrnehmung von Filmen, in denen Migration erzählt, inszeniert oder zitiert wird, steht meiner Ansicht nach in einem engen Zusammenhang mit der Idee einer bildlichen Transparenz, die die christlichen Vorstellungen des Bildes charakterisieren. Hatice Ayten hat in ihrer Auseinandersetzung mit Gegen die W and daher auch genau den Punkt getroffen: »Hier wird eine Verbindung zwischen der realen Situation der türkischen Migranten mit der biografischen Erfahrung des Regisseurs und der Geschichte des Films hergestellt, um das Hier und Jetzt des Films zu bestätigen.«229 Die Idee der Enthüllung erfährt dabei eine Neubewertung: bis zur Kenntlichkeit entstellt. Authentizität, so führt Thomas Noetzel in seiner Studie Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung in der Moderne aus, ist eine relativ junge Wortschöpfung, im deutschen Sprachraum etwa seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar: »Seitdem verbindet sich mit dem lateinischen ›authenticus‹ der Begriff des Echten, Eigenhändigen, Verbürgten.«230 Authentisch ist so zunächst ein Begriff, der zur Autorisierung von Dingen und Texten verwendet wird, also im Sinne von Geltung und Glaubwürdigkeit. Im 18. Jahrhundert kommt dann die Übereinstimmung mit der Realität hinzu, der Begriff bezeichnet seitdem etwas, das ›wahr‹ ist. Die Frage der ›Wahrheit‹ bzw. Echtheit ist wiederum eine, die die Ins-Bild-Setzung des Christentums von Anfang an begleitete. Andere Aspekte, die von der Frage der Authentizität ebenfalls berührt werden, können hier jedoch nicht bearbeitet werden. Es sei hier nur einerseits auf das umfassende Forschungsfeld des ›Realismus‹ verwiesen, welches den Bereich des kinematographischen Realismus in Bezug auf verschiedene Genres des fiktionalen Films (und damit auch wieder die Debatte des grundlegenden Verhältnisses zwischen Film und Realität) eröffnet, andererseits auf das Feld der Dokumentarfilmtheorie und dessen Aktualisierungen im Bereich der Kunst.231 227 Ayten, Was sie schon immer, o.S. 228 Die Auseinandersetzung mit der Springer-Presse wurde vor Gericht fortgesetzt. Und zwar, so Akın, weil er sich gegen den Rassismus zur Wehr setzen wolle. Nicht etwa, weil Kekillis Arbeit als Pornodarstellerin falsch dargestellt sei, sondern weil die Konstruktion der ›rassigen Türkin‹ eindeutig rassistisch sei (siehe »Rassismus und Volksverhetzung in ›Bild‹«, in: Stern (09.03.2004), http://www.stern.de/unterhaltung/film/:Berlinale-Sieger-Fatih-Akin--Rassismus-Volksverhetzung-Bild/521298.html; zuletzt aufgerufen am 07.10.2014). 229 Ayten, Was sie schon immer, o.S.; Hervorh. N.H. 230 Thomas Noetzel: Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung in der Moderne, Berlin 1999, S. 18. 231 Die Aktualität dieser Diskussionen, besonders im Bereich der Dokumentarfilmtheorie, bezieht sich einerseits auf die Präsenz von reality shows und anderen verwandten zeitgenössischen TV-Formaten sowie auf die Popularität des Dokumentarfilms im Mainstream-Kino

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Kritische Arbeiten zur Repräsentation haben gezeigt, dass es nicht darum geht, nach der Wahrheit hinter der Repräsentation zu suchen – es gibt kein Jenseits von Repräsentation.232 Repräsentationskritik reflektiert in diesem Sinne (und nicht im Sinne einer Kritik der unangemessenen Darstellung) die Angewiesenheit des Wissens auf die Vorstellung. Bilder, die den Ausländerdiskurs inszenieren, Filme, die Migrant_innen auf die Leinwand bringen, werden ungeachtet dessen stets von der Idee begleitet, es (Filme von Michael Moore bspw.) und andererseits auf das Interesse der Kunstwelt, -kritik und -theorie an den diversen dokumentarischen Modalitäten, die die Filmgeschichte von Anfang an mitbegleiteten und momentan unter Einfluss aktueller Medienlandschaften und Bild-Erstellungstechniken neu bearbeitet und überbedacht werden. Siehe beispielsweise die zweite Ausgabe des Online-Filmmagazins Nach dem Film von Dezember 2000: »show reality – reality shows« (http://www.nachdemfilm.de/content/no-2-show-reality-reality-shows; zuletzt abgerufen am 11.10.2014), in der auch erstmalig Roland Barthes’ Text L’éffet de réel ins Deutsche übersetzt als Der Real(itäts) Effekt« erschien. Zu kontextuell geprägten ›visuellen Evidenzen‹ siehe bspw. Jane Gaines/Michael Renov: Collecting Visible Evidence, Minneapolis 1999, oder Brian Winston: Claiming the Real: the Documentary Film Revisited, London 2008 [1995]. Zum Dokumentarischen im Kunstbereich siehe bspw. Holger Kube Ventura et al: »Umfrage: Dokumente sprechen nicht. Stimmen zu alten und aktuellen Dokumentarismen in der Kunst«, in: Texte zur Kunst 51 (2003), https://www.textezurkunst.de/51/umfrage-dokumente-sprechen-nicht/; zuletzt abgerufen am 11.11.2014, Hito Steyerl: Die Farbe der Wahrheit, Wien 2008 und Maria Lind/Hito Steyerl: The Greenroom No.1. Reconsidering The Documentary and Contemporary Art, Berlin 2008; Dirck Linck et al (Hg.): Realismus in den Künsten der Gegenwart, Zürich 2010, sowie mit Blick auf Prozesse der Alterität und der Marginalisierung; Angelika Bartl: Andere Subjekte. Dokumentarische Medienkunst und die Politik der Rezeption, Bielefeld 2012. Sowie neue Ausstellungs-/Festivalformate wie das Berlin Documentary Forum (zur Ausgabe von 2014 siehe http://hkw.de/de/programm/projekte/2014/berlin_documentary_forum_3/start_berlin_documentary_forum_3.php; zuletzt abgerufen am 11.11.2014); Letzteres wurde instituiert u.a. in der Folge von Diskussionen, die zu einem großen Teil durch den Stellenwert des Dokumentarischen innerhalb der von Okwui Enwezor und seinem Team kuratierten documenta XI (2002), aber auch bereits durch Catherine Davids documenta X (1997) angestoßen worden waren. 232 Vgl. Astrid Deuber-Mankowsky: Repräsentationskritik und Bilderverbot, in: Textual Reasoning (deutsch) (Mai 2000), http://www.bu.edu/mzank/tr-deutsch/archiv/index.html; zuletzt abgerufen am 11.10.2014. Deuber-Mankowsky führt dies anhand der Kerubenthrons aus, mit dem sie den von ihr postulierten Zusammenhang zwischen Repräsentationskritik und jüdischem Bilderverbot exemplifiziert: »Eine angemessene und für den hier postulierten Zusammenhang zwischen Repräsentationskritik und Bilderverbot sinnfällige Form wird im Tempelaufbaubericht im ersten Buch der Könige erwähnt, in dem von einem Kerubenpaar im Innern des Tempels die Rede ist. Die Keruben sind die Träger der Gottheit, sie bilden den Thron des unsichtbaren Gottes. Im Bild des leeren Kerubenthrons findet nicht nur die Forderung von Jakob Taubes einen angemessenen Ausdruck, nach der die Gewaltentrennung von weltlich und geistlich aufrechtzuerhalten sei. Es entspricht desweiteren der Einsicht der Repräsentationskritik, wonach es zwar einen starken Impuls gibt, der Repräsentation zu entkommen, dieses Entkommen jedoch nie gelingen kann.« (ebd.)

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handle sich dabei um authentische Darstellungen des beispielsweise deutsch-türkischen Lebens. Die jeweilige Angemessenheit ist dabei Gegenstand zahlreicher Debatten, die als solche wiederum an den alten byzantinischen Bilderstreit erinnern, an das Ringen um das Verhältnis von Wirklichkeit und Ähnlichkeit. Im Bilderstreit von Byzanz wurde so bereits dasjenige Problem verhandelt, welches auch heute noch in der Theorie des Bildes aktuell ist: Mit Micha Brumlik lautet das »Realismusproblem«: »Was ist ein Bild, und was heißt es, etwas, das nicht im Bild ist, abzubilden?«233 Dieses Realismusproblem ist eben auch jenes, das die filmischen Inszenierungen des Ausländerdiskurses und den an diese herangetragenen Authentizitätsan­ forderungen betrifft. Darin scheint zwar auch die Referenzialität des Filmischen auf die Wahrheit des Vorfilmischen auf, die Sorge gilt aber auch einem Verdacht, der sonst im Zusammenhang mit digitalen Bildbearbeitungen auftaucht, nämlich, dass die Bilder getürkt seien könnten.234 Daher ja auch, wie ich bereits erörtert habe, die Kritik an der ›fehlenden Logik‹ und der mangelnden ›Glaubwürdigkeit‹ eines Films wie Yasemin. Als echter Ausländerfilm (die Echtheit wird hier vom Verweis auf die Tagebuchaufzeichnungen garantiert, die die fehlende migrantische Markierung des Regisseurs kompensieren sollen) entgeht Yasemin also nicht dem Authentizitätsanspruch, der die filmische Darstellung auf die Abbildung der ›realen Verhältnisse‹ von ›Türken in Deutschland‹ hin überprüft. Karsten Visarius beispielsweise sieht in diesem Film »das Reale geopfert«, wenngleich er erkennt, dass dieses Opfer im Namen der »Wiedererkennbar­ keit« und des »Publikums«235 erfolgt. Diese eigentlich als Kritik formulierte Beobachtung ist meines Erachtens der eigentliche Erkenntnisgewinn: Der Film ist die Inszenierung des deutschen Ausländerdiskurses – ein deutsches Märchen (von der Identität) – und nicht die fehlgeleitete deutsche Sicht auf ein »türkisches Problem«,236 wie Heike Kühn schreibt. Wenn Visarius bemängelt, dass »das türkische Familienmilieu, das der Film für uns entfaltet«, hier nicht »Gegenstand, sondern […] Funktion der Erzählung«237 sei, dann trifft er damit im Grunde genau den Punkt. Es geht eben gerade nicht um die Angemessenheit der Darstellung, sondern um deren Funktion. Die von Kühn und Visarius kritisierten dramaturgischen Unzulänglichkeiten und die »fehlende Logik«238 des Films verstehe ich daher als produktive Hinweise darauf, was der Film denn jenseits der erwarteten ethnischen Stringenz ›echter türkischer Verhältnisse‹ zu sehen gibt, nämlich eben genau die Reibung, die aus der Projektion einer Projektion





233 Brumlik, Bild, Schrift und Ikone, S. 53. 234 Siehe der Titel des bereits erwähnten, von der Evangelischen Akademie Arnoldshain herausgegebenen Bandes Getürkte Bilder. Zur Inszenierung von Fremden im Film. Sowie El Hissy, Getürkte Türken.s 235 Visarius, Ehrenrettung, S. 123. 236 Kühn, Mein Türke, S. 50. 237 Visarius, Ehrenrettung, S. 123. 238 Kühn, Mein Türke, S. 50.

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entsteht sowie die ›Enthüllung‹ der Parameter eines christlichen Bildraums. Dass Authentifizierung gerade solche Filme betrifft, die Migrationsgeschichten erzählen oder Migration als hors-champ in das Feld des filmischen Imaginären einbinden (und sei es über die Rezeption vermittelt – weil ein nicht-deutscher Name beispielsweise immer noch als Zeichen einer Herkunft und nicht eines Angekommenseins verstanden wird), ist, so würde ich argumentieren, auch deren religiöser Aufladung geschuldet. Die Kultur(en), die hier inszeniert werden (als interkulturelles Verhältnis, als clash der Kulturen, als Stühle, zwischen denen die migrantischen Protagonist_innen sitzen), sind immer die der Religion; so geht es bei den ›türkischen‹ Geschichten immer auch um ›den Islam‹. Die Frage nach der Wirklichkeit der Bilder und ihrer Glaubwürdigkeit führt also direkt in den »Bannkreis der Religion«,239 wie Hans Belting formuliert. Bildfragen sind Glaubensfragen, und im Christentum sind Glaubensfragen umgekehrt vor allem Bildfragen. Die Frage nach dem »echten Bild« treibt das Christentum, so Belting, seit der Hinwendung zu den Bildern immer wieder an und um.240 Am Anfang stand dabei das echte Bild Christi, das vera ikon, von dem bereits die Rede war, und damit die Verkörperung der Glaubenswahrheit im Fleisch, welches sich wiederum im Bild wiederfindet. Die Gleichsetzung von Körper und Bild führte teilweise, so Horst Bredekamp, sogar dazu, dass in Anwendung der Transsubstantiationslehre das Abbild Christus zum Ersatz des Brotes als Leib des Sohn Gottes wurde: »Beim Abendmahl wurden Farbpartikel von Christusbildern in den Wein gemischt, um die Lehre zu nutzen, dass im Bild der Körper Christi real repräsentiert war.«241 Wie das Schweißtuch der Veronika soll auch das Volto Santo – das Heilige Antlitz, ein dünner Schleier, der wie das Leichentuch, das sich in Turin befindet, dem Grab Jesu nach dessen Auferstehung entnommen worden sein soll – das Antlitz Christi zeigen, auch dieses ein Acheiropoieton, nicht von Menschenhand geschaffen, sondern eine wahre Spur des Realen, zugleich Bild und Beweis, »ein Zwitter aus Bild und Index«.242 Es ist somit das Gesicht, das den Anfang der christlichen Bildwerdung des Glaubens markiert: Die Suche nach dem echten Gesicht Jesu war Antrieb und zugleich Problem der ­frühen Bildgeschichte im Christentum geworden. Die Antworten wurden zu einer Hypothek in der westlichen Kultur, da sie das menschliche Gesicht ganz allgemein als ein schwer lösbares Rätsel erscheinen ließen und es von jeder Körperlichkeit als solcher so vollständig isolierten, dass der Körper gegenüber dem Gesicht in das Hintertreffen geriet.243



239 Belting, Das echte Bild, S. 7. 240 Vgl. Belting, Das echte Bild, S. 45ff. 241 Horst Bredekamp: »Bilderkult aus Bildkritik«, in: Richard Schröder/Christina von Braun/Johannes Zachhuber (Hg.): Was hat uns das Christentum gebracht? Versuch einer Bilanz nach zwei Jahrtausenden: Eine interdisziplinäre Vorlesungsreihe, Münster 2003, S. 201–218, hier S. 203.

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Jenes Gesicht, das auch Gilles Deleuze und Felix Guattari in Tausend Plateaus analysieren als das schwarze Loch der Subjektivität, das es »als Bewußtsein oder Passion« bildet, »die Kamera, das dritte Auge«.244 Das Gesicht ist das des weißen Mannes, so Deleuze/Guattari, vielmehr ist es »der Weiße [sic]Mann selbst«,245 der typische Europäer. Und: »Das Gesicht ist Christus«. Jesus Christus wiederum »erfindet die Vergesichtlichung des ganzen Körpers«,246 jene Vergesichtlichung, die auch Belting thematisiert, allerdings ohne dabei Deleuze/Guattari im Sinn zu haben.247 Das Gesicht ist damit eine ganz spezielle Vorstellung, die eine allgemeine Funktion übernommen hat, nämlich diejenige, »binär zu machen«.248 Die Gesichtsbilder dienen also auch der Instituierung eines Entweder-oder-Schemas: Entweder Mann oder Frau (so Deleuze/ Guattari) und eben auch: entweder ›deutsch‹ oder ›Ausländer‹: Wenn das Gesicht tatsächlich Christus ist, also ein weißer Durchschnittsmann, dann werden die ersten Abweichungen, die ersten Abweichtypen durch die Rasse bestimmt: der gelbe Mann, der schwarze Mann, Menschen zweiter oder dritter Klasse. Auch sie werden auf der Wand festgeschrieben und durch das Loch verteilt. Sie müssen christianisiert werden, das heißt, ein Gesicht bekommen. […] Der Rassismus besteht in der Festlegung von Abweichungsgraden im Verhältnis zum Gesicht des Weißen [sic] Mannes.249

Der Kult des echten Bildes fokussiert also das Gesicht (Jesu). Das Gesicht, seine Lektüre, steht auch am Anfang der Ausbildung der Physiognomie, wie die Faszination des Gründungsvaters dieser Theorie der Oberflächenhermeneutik, des Schweizer Pfarrers Johann Caspar Lavater, für diesen Kult, also für das Christusbild, zeigt.250 Anders formuliert: Die Verbindung von Wahrheit/Echtheit/Glauben und Gesicht respektive ›Oberfläche‹ stellt einen Dreh- und Angelpunkt in der Ausbildung des Konzepts ›Rasse‹ dar. Die Physiognomie schließt vom Äußeren auf das Innere, verbindet Wesen und Erscheinung:

242 Belting, Das echte Bild, S. 57. 243 Belting, Das echte Bild, S. 45. Siehe zum Gesicht auch Hans Belting: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013. 244 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie, übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992 [1980], S. 230. 245 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 242. 246 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 243. 247 Vgl. Belting, Das echte Bild, S. 45. 248 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 242. 249 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 244. 250 Vgl. Belting, Das echte Bild, S. 45. Zu Lavaters Obsession mit den Christusbildern siehe auch: Gerhard Wolf: »‹... sed ne taceatur.‹ Lavaters ›Grille mit den Christusköpfen‹ und die Tradition der authentischen Bilder«, in: Claudia Schmölders (Hg.): Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin 1996, S. 43–76.

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Der Mensch […] besteht aus Oberfläche und Inhalt. Etwas an ihm ist äußerlich, und etwas innerlich. Dies Äußerliche und Innere stehen offenbar in einem genauen unmittelbaren Zusammenhange. Das Äußerliche ist nichts als die Endung, die Gränzen des Innern – und das Innere eine unmittelbare Fortsetzung des Äußeren.251

Die Physiognomie speiste sich aus den Sehgewohnheiten, die die kirchliche Kunst zuvor ausgebildet hatte, wie Peter Martin ausführt.252 Die »Differenzierung der Menschen nach biologischen Unterscheidungsmerkmalen« entsprang damit nicht erst dem Kolonialismus, »[s]ie war vielmehr das schon in Konventionen der kirchlichen Kunst und in den Voraussetzungen und Verfahren der bürgerlichen Neuordnung des Universums angelegte Resultat.«253 Im 20. Jahrhundert schließlich, so Wolfgang Kabatek, »erhält die Physiognomie eine besondere Bedeutung im analytisch-visuellen Körperdiskus des Kinos«,254 insbesondere in der Filmtheorie Béla Balázs’, der die Physiognomie mit seiner Utopie einer neuen visuellen Kultur verbindet. Die Kinematografie wird für ihn zu einem weiteren, einem neuen Sinnesorgan des Menschen. Film als »die Volkskunst unseres Jahrhunderts«255 ist für Balázs das Versprechen auf universelle Kommunikation aller Menschen jenseits der Spezifik der verschiedenen Sprachen: »Denn auf der Leinwand der Kinos aller Länder entwickelt sich jetzt die erste internationale Sprache: die der Mienen und Gebärden.«256 Balázs’ Internationalismus ist jedoch der des »weißen Normalmenschen«, »der als Synthese aus den verschiedenen Rassen und Völkern einmal entstehen wird.«257 Ich verweise hier nur kursorisch auf den Zusammenschluss von Bild, Angesicht, Physiognomie und ›Rasse‹







251 Lavater, zit. in Wolfgang Kabatek: »Physiognomie und Ikonographie. Berührungspunkte zweier Lesbarkeitskonzepte«, in: Heinz-B. Heller/Matthias Kraus/Thomas Meder/Karl Prümm/ Harmut Winkler (Hg.): Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwis­ senschaft, Marburg 2000, S. 117–136, hier S. 120. Auch Sigrid Weigel verbindet in der Ideengeschichte christlicher (bei ihr: ›europäisch‹) Bildlichkeit bzw. Bildgebung das vera ikon mit Physiognomie: »Kann die Entstehung eines ›wahren Bildes‹ als Urszene der europäischen Ikonographie gelesen werden, so liegt eine vergleichbare Konstellation auch aller Physiognomie zugrunde: Verwandlung leiblicher Spuren in eine (de) codierbare mimische Ikonographie.« Weigel, Grammatologie der Bilder, S. 110. 252 Vgl. Peter Martin: Schwarze Teufel, edle Mohren: Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen, Hamburg 2001, S. 218f. 253 Martin, Schwarze Teufel, S. 219. 254 Kabatek, Physiognomie, S. 126. Siehe auch Hermann Kappelhoff: »Unerreichbar, unberührbar, zu spät. Das Gesicht als kinematografische Form der Erfahrung«, in: montage/av 2 (2004), S. 29–53. 255 in seinem Text »Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films« von 1924, in: ders., Der Geist des Films, S. 43–143, hier S. 46. 256 Balázs, Der sichtbare Mensch oder, S. 57. 257 Balázs, Der sichtbare Mensch oder, S. 58.

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in Balázs’ filmtheoretischen Überlegungen, um auf den zentralen Ort des Kinos darin, gerade des deutsch(sprachig)en, hinzuweisen. Insbesondere, weil sich auch bei Balázs die rassisierte Authentizität im Text breitmacht: Da der Filmschauspieler alles, Rassencharakter sowie individuellen, mit seinem Äußeren darzustellen hat, muß sein Spiel dadurch entlastet werden, daß man einen Schauspieler wählt, der den Rassencharakter nicht erst zu spielen braucht, sondern ihn von vornherein besitzt und sich ganz und unbefangen auf das persönliche Detail konzentrieren kann.258

Die Fundierung des Zusammenhangs von Erkenntnis, die von einer ›Oberflächenlektüre‹ ausgehend auf das Wesen schließt, also der Augenschein als »tiefenhermeneutisch angelegte Dechiffrierung der Oberfläche«259 in der christlichen Bildkunst, die dabei außerdem das Gesicht ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt, findet auch heute, im 21. Jahrhundert, ihre Aktualisierung; interessanterweise gerade dann, wenn es darum geht, Rassismus zu begegnen. Die im Jahr 2000 von Uwe-Karsten Heye, Paul Spiegel und Michel Friedman gegründete, bundesweite Aktion »Gesicht zeigen!« beispielsweise begreift sich als Kampagne gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und rechtsextreme Gewalt. Der namensgebende Slogan des umtriebigen Vereins (zu den zahlreichen Aktivitäten zählen Aktionswochen, Filmprogramme, Ausstellungen, Workshops, Konzerte, Kindertheater u.v.m.) zieht seine Logik dabei direkt aus den Erkennungsdiensten, die ›Ausländer‹, ›Rasse‹ und ›Ethnizität‹ im Feld der Wahrnehmung platzieren – womit er sich als Aporie enthüllt. Was nämlich gezeigt werden soll, also welches Gesicht da in die Sichtbarkeit überführt wird, setzt exemplarisch die Lektüre des Tagesspiegels vom 05. Juni 2001 anhand des italienischen Fußball-Zweitligisten Treviso in Szene.260 Um gegen den Rassismus besonders der Fans aus den eigenen Reihen anzugehen, traten die (weißen) Spieler von Treviso am Pfingstsonntag in blackface zum Spiel gegen Genua an. Sie zeigten, so die Überschrift des Tagesspiegels, »Gesicht« und bekannten »im wahrsten Sinne des Wortes Farbe gegen Rassismus«.261 So lief »nicht nur der Nigerianer Akeem Omolade mit schwarzem Gesicht auf«,262 wie es in der Bildunterschrift hieß. Der Blick auf die mediale Präsentation der erfolgreichen Aktion (die Botschaft erreichte die Adressaten – die Fans reagierten mit Pfiffen)





258 Balázs, Der sichtbare Mensch oder, S. 71. Siehe auch Rey Chows Ausführungen zum »internationalen Typus«, in: Rey Chow: »Anti-dokumentarische Bestrebungen, akusmatische Komplikationen«, in: Volko Kamensky/Julian Rohrhuber (Hg.): Ton. Texte zum Akustischen im Dokumentarfilm, Berlin 2013, S. 194–211, hier S. 202f. 259 Kabatek, Physiognomie, S. 125. 260 Das folgende Beispiel/die folgende Argumentation habe ich auch in Heidenreich, Deutsche Un/ Sichtbarkeiten dargelegt. 261 »Gesicht zeigen«, in: Berliner Tagesspiegel 17427 (05.06.2001), S. 24. 262 »Gesicht zeigen«, in: Berliner Tagesspiegel 17427 (05.06.2001), S. 24.

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enthüllt nicht nur ›schwarze Gesichter‹, sondern sie wird auch als epistemologische Fehllektüre sichtbar. Im blackface der Spieler, an diesem Tag nicht nur Fußball, sondern auch Schauspieler, treffen antirassistisches Bekenntnis und rassisierende Erkennungsdienste aufeinander und garantieren zugleich die Intelligibilität der Performance, ihr Funktionieren, aber auch ihre Verfehlung. Indem dieses Szenario verdeutlicht, dass der Aufruf, Gesicht zu zeigen, das rassisierte (schwarze, fremde, andere) Gesicht anruft (interpelliert), wird das Grundproblem von ›Rasse‹ ausformuliert: ›Rasse‹ wird erst durch den Prozess der Rassenkonstruktion zur Kategorie der Differenz, wobei schwarze Hautfarbe ihr ›offensichtlichster‹ visueller marker ist (ich komme in Kapitel 4 auf die Frage der Haut/Farbe zurück). Die Verschaltung von Oberfläche und Tiefe, von Bild und Wahrheit, tritt beispielsweise dann ein, wenn (Spiel)Filme von Filmemacher_innen »mit Migrationshintergrund« als authentische Ausdrücke des beispielsweise türkisch-deutschen Lebens (wie im Fall von Gegen die Wand) gesehen werden, wenn also aus den Spielfilmen Dokumentarfilme werden. Die Heimsuchung der Authentizität tritt aber auch umgekehrt ein: So wird aus der gelungenen Erzählung einer Migrationsgeschichte (oder einer Geschichte mit Migrationshintergrund) notwendigerweise auf die/den Autor_in geschlossen, wie eben im Falle von Jakob Arjouni. So lässt sich Homi K. Bhabhas Analyse des Kolonialismus auch auf den Ausländerdiskurs übertragen: »Er verwendet ein System der Repräsentation, ein Wahrheitssystem, das strukturell dem Realismus ähnlich ist.«263 Auch Mieke Bal verbindet Realismus und Kolonialismus: deren Koinzidenz im 16. und 17. Jahrhundert sowie erneut im 19. Jahrhundert ist für sie mindestens »suspicious«264, verdächtig. Ihre Komplizenschaft, so Bal, zeigt sich in der Ästhetik des Pittoresken, »the representation of details connoting otherness in terms of derogatory and then idealized categories such as poverty.«265 Für den ›Ausländerdiskurs‹ findet sich diese Komplizenschaft zum Realismus erneut in bestimmten (film) ästhetischen Strategien und Bildpräferenzen, für die ebenfalls der Begriff des Pittoresken treffend scheint: Hinterhofidylle und ›Ghetto‹ zum einen und zum anderen die Beopferung, die Darstellung von ›Ausländern‹ als Opfer der Verhältnisse, der Strukturen, der Kultur(en). Das bedeutet noch heute: Armut als beliebtes Sujet, wenngleich eher im Zusammenhang mit dem Elend der Verhältnisse und deren Unausweichlichkeit, beispielhaft in 40 qm Deutschland, aber auch in Shirins Hochzeit. Die Diagnose und Kritik der Filme vor allem der 1970er und 80er Jahre als ›sozialarbeiterisch‹, als ›Problemfilme‹, ist im Hinblick auf das Authentizitätsparadigma insofern von notwendiger Schärfe, als in der Verschaltung von ›wahr‹ und ›echt‹ mit Opferbildern immer

263 Bhabha, Die Verortung der Kultur, S. 105. 264 Bal, Double Exposures, S. 270. 265 Bal, Double Exposures, S. 270. Bal schreibt weiter: »The interest in the pituresque colludes with the rise of ethnography as a discipline that is predicated upon the destruction of the cultures it studies.« (S. 270–271)

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bereits die Geste des Paternalismus, des Regiertwerdens, der Rezeption im »Zeichen der Sozialfürsorge«266 enthalten ist; ein Konnex, den Hito Steyerl mit dem Begriff des ›Dokumentarismus‹ zu beschreiben sucht267. Das Authentizitätsparadigma zu reflektieren, ist aber nicht nur im Hinblick auf Rassisierungsprozesse und die Über- bzw. Unterbelichtung von Fragen der Migration bzw. des Rassismus erhellend, sondern auch hinsichtlich des deutschen Umgangs mit Geschichte. Von Béla Balázs stammt der Begriff des »Tatsachenfanatismus«. Er beschreibt damit Filme, die in einer Fülle von Tatsachen ihren Sinn verbergen.268 Die Detailversessenheit, die ich bereits erwähnte, generiert dabei eine spezifische Form von Geschichtsvergessenheit. Wie Anton Kaes zu den Filmen der ›Hitlerwelle‹ in den 1970er Jahren schrieb: »Durch ›authentische‹ Rekonstruktion zeigten sie die Vergangenheit als abgeschlossen, sie waren narrativ gegen die Gegenwart des Betrachters abgeschottet. Niemand mußte davon betroffen sein.«269 Zusammenfassend lässt sich mit Michel de Certeau sagen: Das Reale ist auf dem soziokulturellen Terrain der Moderne zu einem Postulat der Sichtbarkeit geworden – in seinen Worten: Es ist »geschwätzig«270 geworden. Erneut also: Sagbarkeit und Sichtbarkeit. Im Paradigma der Authentizität wird das Sichtbare der Spielfilme zum Aussageterrain des Ausländerdiskurses. Die vermeintliche Erkennungsleistung des Sehens, der im Bild verkörperte Blick, der das Gesicht als Antlitz des Echten, das Bild wiederum als verkörperte Spur des Realen ansieht, ist jedoch, das sollte bis hierher deutlich geworden sein, ein historisch gewordenes Koordinatensystem, zumal eines, das im Religiösen verankert ist, das also geglaubt werden muss. Jedoch kann Sehen, genauer eigentlich: Wahrnehmen, ebenso wie das Bild in zahlreichen Varianten auftreten. Wie Martin Jay betont hat, kann »the scopic regime of modernity [may] best be understood as a contested terrain, rather than a harmoniously integrated complex of visual theories and practices.«271 Jay betont die Koexistenz verschiedener visueller Subkulturen, deren hierarchische Anordnung, in



266 Göktürk, Verstöße, S. 103. 267 Hito Steyerl: »Dokumentarismus als Politik der Wahrheit«, in: Transversal 05 (2003), http:// eipcp.net/transversal/1003/steyerl2/de; zuletzt aufgerufen am 08.11.2014. 268 Balázs, zit. in Kracauer, Von Caligari zu Hitler, S. 200. 269 Kaes, Deutschlandbilder, S. 30. Und es könnte nicht zutreffender formuliert worden sein für Filme auch der jüngeren Zeit, wie beispielsweise den vor allen Dingen wegen seiner Authentizität so gefeierten Spielfilm Der Untergang von Oliver Hirschbiegel (D 2004; das Drehbuch b­ asiert größtenteils auf Joachim Fests gleichnamigem Buch), der mit 4,5 Millionen Zuschauern alleine in Deutschland und zahlreichen Auszeichnungen ausgesprochen erfolgreich war. In den USA und Kanada wurde Der Untergang von Newmarket Films in die Kinos gebracht, derselbe Verleih, der auch für Mel Gibsons The Passion of the Christ die Kinoauswertung übernommen hatte. 270 de Certeau, die Kunst des Handelns, S. 327, 330. 271 Martin Jay: »Scopic Regimes of Modernity«, in: Hal Foster (Hg.): Vision and Visuality, Seattle 1988, S. 3–27, hier S. 4.

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nerhalb derer die Zentralperspektive (hier: cartesian perspectivalism) als die moderne ›Sichtweise‹ gilt, zu hinterfragen sei, wobei Jay als gegenläufiges visuelles Regime vor allem den Barock anvisiert, auf den ich noch zurückkommen werde (in 3.7.1). Die Kritik an der Zentralperspektivierung der Zentralperspektive, an der bildtheoretischen Wiederholung der Subjektzentrierung im Bild, ist natürlich kein Alleinstellungsmerkmal bei Jay. Schon Erwin Panofsky hat die Zentralperspektive als symbolische Form und damit als eine mögliche Form unter anderen beschrieben,272 viel zitiert ist auch Norman Brysons The Gaze in the Expanded Field, in dem das westliche Subjekt des Sehens mittels japanischer Lektüren westlicher Philosophie dezentriert und das Nachdenken darüber in neue Bahnen gelenkt wird.273 Vor allem auf die französische Wissenschaftsgeschichte abstellend, hält Thomas Macho in Narziß und der Spiegel. Selbstrepräsentation in der Geschichte der Optik wiederum fest, dass Sehen […] vielmehr als eine historisch-kulturelle Praxis gedeutet werden [kann], die in zahlreichen Varianten aufzutreten vermag: daraus ergibt sich, daß es keine prinzipiell ›richtigen‹ oder ›falschen‹ Sehtheorien gibt, sondern lediglich Sehtheorien, die bestimmte Praktiken und Techniken des Sehens – von religiösen Ritualen bis zu optischen Geräten – ermöglichen oder ausschließen. Einfacher gesagt: Wer sein Sehen anders denkt und anders regelt, wer gelernt hat, sein Sehen anderen Modellen oder Regeln zu unterwerfen, ›sieht‹ eben wahrscheinlich anders, und zwar sogar unter ähnlichen physiologischen Bedingungen (was immer das heißen mag).274

Im selben Text bringt Macho ausblickend den Drang zum Bild (wäre das nicht eigentlich auch Bilderwut?) sowie Bilderzerstörung bzw. -kritik nicht in ein Gegensatzverhältnis, sondern in eines der gegenseitigen Korrespondenz. Vergleichbare (wenn auch jeweils dezidiert unterschiedliche) Nahverhältnisse behaupten auch die Ausstellungsmacher_innen von Iconoclash und von The Art of Iconoclasm275 sowie die Autor_innen von Vor dem Gericht. Kino und Bilderverbot und einer ganzen Reihe weiterer Beiträge insbesondere aus dem Bereich der Visuellen Kultur und der Bildwissenschaften. Für Macho verbindet sich die Wendung zum Bild hin und die von dem Bild weg in einer







272 Michaela Ott zufolge findet dies jedoch »in den Bildwissenschaften nach wie vor wenig Beachtung«, Michaela Ott: »Historischer Diskurs zum Bildraum«, Eintrag im Glossar der Bildphilosophie (zusammengestellt von dem von 2009–2012 von der DFG-geförderten Netzwerk Bildphilosophie) http://www.gib.uni-tuebingen.de/netzwerk/glossar/index.php?title=Theorien_des_Bildraums; zuletzt aufgerufen am 02.10.2014. 273 Norman Bryson: »The Gaze in the Expanded Field«, in: Hal Foster (Hg.): Vision and Visuality, Seattle 1988, S. 87–108. 274 Thomas Macho: »Narziß und der Spiegel. Selbstrepräsentation in der Geschichte der Optik«, in: Almut-Barbara Renger (Hg.): Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace, Stuttgart/Weimar 2002, S. 13–25, hier S. 13. 275 siehe Anm. 71.

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gemeinsamen Voraussetzung, nämlich in der Annahme, dass das Bild zu erkennen gibt. In Machos Worten: Einer latenten Ikonomanie korrespondiert ein latent ikonoklastischer Affekt. Ikonomanie wie Ikonoklasmus nähren sich aber aus demselben epistemologischen Apriori der Optik, das als eine zweite Schwierigkeit moderner Erkenntnis und Bewußtseinstheorien charakterisiert zu werden verdient. Wenn es nämlich beim Sehen – und zwar sowohl beim Blick auf die äußere Welt, als auch beim Blick auf das eigene Ich – um Erkennen (und zwar um ein wahrheitsfähiges Erkennen) geht, dann steigt das Risiko der (optischen) Täuschung in ganz erheblichem Ausmaß.276

Ich werde im Folgenden den Wahrheitsanspruch des Bildes, des zentralperspektivischen zumal, re-framen, neu kadrieren, mit anderen Einstellungen konfrontieren. Bilderverbot und Bildergebot werden dabei in der Tat in ein Nahverhältnis gebracht, das beide an einer neuen Blickachse auszurichten versucht. Das Risiko einer (optischen) Täuschung nehme ich dabei bewusst in Kauf: Wenn der Erkenntnisgewinn, den das Pathos des Bildglaubens verheißt, in der Tat zu hinterfragen ist, dann genau durch diejenigen Bilder, die (noch) nicht gemacht sind, die von anderen infrage gestellt werden, die ausgeblendet werden, die noch im Werden sind, die aus dem Augenwinkel aufscheinen, die sich entziehen – und vor allem diejenigen Bilder, die niemals nur Bilder sind, sondern Kino: Raum, Ton, Gefühl, Zeit, Erzählung, Einlassung, Auslassung, Institution, kollektives Erleben, Affekt, Projektion, subjektive und ästhetische Erfahrung, Schnittstelle, Ewigkeit, Moment und all das mehr, was das Darüberhinaus dieses nie ganz beschreibbaren Gebildes ausmacht.

3.7 Ins Bild setzen, aus des B ilderverbots

dem

Blick

nehmen .

Die Produktivität

Die Zentralperspektivierung des Kinos hat ihre Grenzen, wie unter anderem die Kritik an der Apparatustheorie hinlänglich deutlich gemacht hat. Beispielsweise in ihrer Ahistorizität (also der generalisierenden Überhistorizität), aber vor allem in der »Ignoranz gegenläufiger Strategien bzw. Arten der Präsentation«.277 Das Kino eröffnet eben auch andere Räume (die zum Teil auch jenseits des Kinos zu finden sind) als die durch die Zentralperspektive definierten. Bereits Panofsky habe es versäumt, argumentiert Anne Friedberg, seine Überlegungen zum bewegten Bild mit im Grunde



276 Macho, Narziß, S. 17, Hervorh. N.H. 277 Anne Friedberg: »Die Architektur des Zuschauens«, in: Gertrud Koch (Hg.): Umwidmungen. Architektonische und kinematographische Räume, Berlin 2005, S. 100–117, hier S. 105.

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naheliegenden epistemologischen Behauptungen zu beschließen, so wie dieser ja auch die Analyse der (Zentral)Perspektive mit einem neuen Raum und Weltverhältnis in Verbindung gebracht habe.278 Panofsky habe, so Friedberg, das Kino als »Verräumlichung der Zeit« und als »Dynamisierung des Raums« begriffen, also als Aspekte, »die er durchaus dafür hätte verwenden können, um das Kino als neues Weltgefühl […] zu beschreiben, welches das visuelle Regime der Perspektive ersetzte oder zumindest veränderte.«279 Das Kino hat also einerseits die Zentralperspektive verinnerlicht, ist die Zentralperspektive eine der Weisen der Wahrnehmung, aus denen das Kino hervorgegangen ist – das Kino ist aber auch ein Schlüssel zu einer anderen Art der Wahrnehmung, zur Transformation dieser ein-deutigen Blickverhältnisse. Dieser Zugang findet eine fruchtbare Erweiterung, wenn er zusammengedacht wird mit jener Spannung, die der Ins-Bild-Setzung des Christentums von Anfang an eigen ist: Das Christentum war zunächst auch als bilderfeindliche Religion angelegt. Aus der Entscheidung für das Bild entsprang daher eine Friktion, die bis heute Quelle bilderpolitischer Verstrickungen ist: »Die Verwandlung einer Geist- in eine Bildreligion hat ein schier unabsehbahres Konfliktpotential aufgebaut«.280 Dieses Spannungsverhältnis ist historisch vom Beginn des byzantinischen Bilderstreites markiert, in dessen Folge das Christentum zum Bild und dem visuellen Regime der Transparenz fand. In der fortgesetzten Auseinandersetzung mit dem Bilderverbot lässt sich nun ein Blick werfen in den »Tiefenraum der gemeinsamen Geschichte«,281 der christlichen, der jüdischen und der islamischen. Ich konzentriere mich hier auf das islamische Bilderverbot. Jenes Bilderverbot also, das eigentlich nur ein sogenanntes ist, das nämlich nicht einfach Bilderlosigkeit oder Bilderzerstörung bedeutet, sondern eine andere Bilderpraxis, sowohl im Umgang mit Bildern als auch in deren ästhetischen Strategien. Das ›Bilderverbot‹ ist in diesem Sinne nicht destruktiv, sondern produktiv. Dass und wie (jüdisches) Bilderverbot und Film zusammengedacht werden können bzw. sollten, wurde bereits 1994 in dem von der Evangelischen Akademie Arnoldshain herausgegebenen Tagungsband Vor dem Gericht. Kino und Bilderverbot thematisiert. Darin formuliert beispielsweise Dietrich Neuhaus in einem Gespräch mit Micha Brumlik: »Im Bereich der Bildproduktion steckt schon ein Ikonoklasmus. Etwas ins Bild zu setzen bedeutet anderes zu negieren, das man nicht ins Bild setzt.«282 Indem Film also die Grenze der Bilder aufzeigt283 und damit das dritte Bild, »das selbst nicht



278 Panofskys filmtheoretische Überlegungen werden generell wesentlich seltener rezipiert als seine kunstwissenschaftlichen Schriften; siehe Thomas Y. Levin: »Iconology at the Movies: Panofsky’s Film Theory, in: The Yale Journal of Criticism 1 (Spring 1996), S. 27–55. 279 Friedberg, Die Architektur, S. 104; Hervorh. N.H. 280 Bredekamp, Bilderkult, S. 201. 281 Belting, Florenz und Bagdad, S. 15.

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materiell ist«, und »das in der Schnittstelle steckt«,284 erzeugt, wie Alexander Kluge andernorts im Gespräch mit Gertrud Koch festgestellt hat, wird jenes Bild gerade als die Verwirklichung des Bilderverbots begriffen, das dem bekannten Diktum aus der Dialektik der Aufklärung entspricht, nachdem das Bild gerettet wird durch die treue Durchführung seines Verbots.285 Indem so das Wesen des Bilderverbots zum Ausdruck gebracht wird, nämlich »daß das Wesentliche an den Bildern unsichtbar bleibt«,286 realisiert sich im Film grundsätzlich ein utopisches Moment, »welches in jedem Film steckt, sei er noch so konfektioniert und trivial.«287 Film kommt zwar »nie über das Goldene Kalb hinweg«, wie Herbert Hrachovec in einem Gespräch mit Gertrud Koch im selben Band äußert, aber das Goldene Kalb ist zu verstehen als »das Abbild des Unvermögens […], das Grenzenlose in ein Bild zu fassen.«288 Weil das Filmbild also niemals nur es selbst ist, weil es nur in der Vielzahl einzelner Bilder (eben der Einzelbilder) entsteht, und dazu eben auch das Dazwischen der Bilder gehört, ebenso wie der Filmschnitt, die Montage sowie die Kadrierung der Welt – das heißt die Rahmung durch den Kameraausschnitt, die Einstellung eben, die auch die Einstellung ist –, ist es immer ebenso sehr vom Abwesenden wie vom Anwesenden gekennzeichnet. 3.7.1. Sehen und Gesehenwerden

Der Rahmen der Einstellung und der Kasch(ierung) im Kino, welcher die Leinwand rahmt, sie alle scheinen zu insinuieren: ein Fenster! Jenes Fenster, durch das der Blick hindurchsieht und damit den Fensterblick konstituiert, auf den sich die Idee der per-



282 Micha Brumlik/ Dietrich Neuhaus: »Ververfungen. Zur kulturellen Produktivität des Bilderverbots. Ein Gespräch zwischen Micha Brumlik und Dietrich Neuhaus«, in: Martin Ammon/ Doron Kiesel/Karsten Visarius: Vor dem Gericht. Kino und Bilderverbot, Schmitten 1994, S. 13–28, hier S. 28. 283 Vgl. Werner Schneider: »Bildersturm – ›...denn was verboten ist, macht uns gerade scharf‹«, in: Martin Ammon/Doron Kiesel/Karsten Visarius: Vor dem Gericht. Kino und Bilderverbot, Schmitten 1994, S. 29–36, hier S. 35. 284 Alexander Kluge/Gertrud Koch: »Die Funktion des Zerrwinkels in zertrümmernder Absicht. Ein Gespräch zwischen Alexander Kluge und Getrud Koch«, in: Rainer Erd/Peter Noller/ Dietrich Hoß/Otto Jacobi (Hg.): Kritische Theorie und Kultur, Frankfurt/M., S. 106–124, hier S. 115. 285 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 2001 [1969], S. 30. 286 Schneider, Bildersturm, S. 34. 287 Gertrud Koch/Herbert Hrachovec: »Film als Prozeß. Die Exekution der Bilder in den Filmen von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Gespräch zwischen Gertrud Koch und Herbert Hrachovec«, in: Martin Ammon/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.): Vor dem Gericht. Kino und Bilderverbot, Schmitten 1994, S. 45–56, hier S. 56; Hervorh. N.H. 288 Koch/Hrachovec, Film als Prozeß, S. 56.

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spectiva naturalis bezieht, »als wäre es natürlich, die Welt durch ein Fenster zu betrachten«.289 Der Fensterblick ist, zusammen mit dem Horizont, jene zentrale Metapher, die, so Belting, die Bildkultur der Perspektive »auf den Punkt«290 bringt. Dieser Fensterblick konfiguriert die Positionierung des Subjekts, und die symbolische Form der Zentralperspektive ist damit auch die Visualisierung einer Subjektposition: »Die Fenstersituation lässt sich als eine ontologische Sicherung des Blicks verstehen, der zu seinem eigenen Bild wird.«291 Bevor man der Welt also die Kamera ansehen konnte,292 wurde sie durch die Zentralperspektive zu einer »gesehenen Welt, die sich hinter einem symbolischen Fenster öffnete.«293 Der Fensterblick der Renaissance, den Belting als Metapher für die Perspektive beschreibt, ist nicht gleichbedeutend mit dem Fensterblick, mit dem ich die Frau, die am Fenster steht, beschrieben habe. Es ist damit nicht der Blick auf eine am Fenster stehende Person gemeint, sondern der Blick durch das Fenster, der selbst impliziert, aber nicht gezeigt wird, und der für die Distanz zur Welt und die Orientierung im und durch den Blick steht. Den Fensterblick als Blick auf eine Person am Fenster hingegen, die durch das Fenster blickt, bezeichnet Belting als Inversion294. Diese Inversion, die sich dem Innenraum, dem Interieur, zuwendet, war das Ergebnis der »barocken Fensterkrise«,295 die letztlich auch das Subjekt betraf: »Die Option für das Interieur lässt auf eine Krise des Fensterblicks schließen, die auch den Begriff vom Subjekt unterhöhlt. Es gibt im Interieur keinen privilegierten Standort und auch keinen gerahmten Blick. Das Subjekt bleibt bei sich, ohne mit dem Blick aus sich herauszugehen.«296 Bevor ich (wenn auch knapp) auf den barocken Widerstand gegen die Perspektive zurückkomme, möchte ich hier kurz auf das Verhältnis innen/außen eingehen, welches immer Thema des Fensterblicks ist, gleich ob durch das Fenster, auf das Fenster oder vom Fenster weg betrachtet. In seiner Auseinandersetzung mit dem Fensterblick der Renaissance schreibt Belting, dass darin erstens ein »Angelpunkt in der ›Geschichte‹ des westlichen Blicks besteht«, und weiter: »Im Widerspruch von Innen und Außen liegt geradezu ein Gesetz der westlichen Bildgeschichte.«297 Das Innere ist dabei der symbolische Ort des Ich, welches das Außen mittels des (zentrierten) Blicks als Bilder erfasst. Die Sichtbarkeit der Welt entsteht in diesem Blick, »der von innen nach außen geworfen wird«.298 Hans Belting setzt diesem Weltbild ein ebenfalls durch das Fenster



289 290 291 292 293 294 295 296 297

Belting, Florenz und Bagdad, S. 263. Belting, Florenz und Bagdad, S. 257. Belting, Florenz und Bagdad, S. 264. Kluge/Koch, Die Funktion des Zerrwinkels, S. 116. Kluge/Koch, Die Funktion des Zerrwinkels, S. 116. Vgl. Belting, Florenz und Bagdad, S. 268. Belting, Florenz und Bagdad, S. 269. Belting, Florenz und Bagdad, 268. Belting, Florenz und Bagdad, S. 263.

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vermitteltes entgegen, das des arabischen Raums, welches er als die symbolische Form der Maschrabiyya bezeichnet. Die Maschrabiyya, ein ornamentales Gitter, das oftmals in der Architektur in islamischen Ländern Verwendung findet, wird in Fenster- und Türöffnungen eingesetzt, um innen und außen bzw. Frauen- und Männerräume zu trennen,299 und um, so Belting, das Licht zu inszenieren. Auch dieses Fenster trennt innen und außen, öffentlich und privat (und darin liegt zunächst kein Unterschied zum abendländischen Fenster), aber es verhindert den Einblick in das Innere, wobei es zugleich den Blick nach außen freihält. In diesem Sinne funktioniert es als Schleier, als Medium der Vermittlung und der Positionierung im Feld des Sichtbaren als Ort des Sehens, ohne selbst gesehen zu werden,300 ebenjenem Ort, der ansonsten hinter der Kamera angesiedelt ist, und der eine der Triebfedern des Enthüllungsparadigmas darstellt, welches gerade mittels der technischen Bilder zur Ausführung gelangt. Dieses Fenster nun dient nicht als Öffnung, sondern als »Lichtschranke«, in der sich »die Allianz von Lichtstrahlen und Sehstrahlen«301 auflöst. Wenn das Kino nun als immersive environ

298 299 300 301

Belting, Florenz und Bagdad, S. 273. Vgl. von Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 67. so Fanons Worte zur Beschreibung der verschleierten Algerierin, Fanon, Algerien, S. 107. Belting, Florenz und Bagdad, S. 274. An dieser Stelle möchte ich nochmal auf die Bezeichnung Maschrabiyya- bzw. Burka-shot zu sprechen kommen. Mohsen Makhmalbafs Reise nach K andahar /S afar e G handehar (I/F 2001) beginnt und endet mit einer Lichtinszenierung, mit Bildern von der Sonnenfinsternis in Verbindung mit einem Blick auf eine Burka, eine Nahaufnahme des Sehschlitzes, dessen Muster sich, als die Burka angehoben wird, als Schattenmuster – wie von einer Maschrabiyya – auf dem Gesicht (der Protagonistin, Nafas, einer Journalistin) abzeichnet. Am Ende des Films kommt noch eine zusätzliche Aufnahme hinzu, in der die Kamer durch das Netzmuster des Sehschlitzes ›blickt‹, sodass sich auf die umgebende Landschaft, den atemberaubenden Sonnenuntergang, ein ornamentales Muster legt. Diese Einstellung als Ort eines eingeschränkten Blickes wird in diesem Film durch eine Fülle von Hinweisen ergänzt, die diesen Einschluss komplizierter machen und die Frau hinter/unter der Burka als komplexes Subjekt und nicht nur als eben dies, als Burka-Trägerin, zeigen. Die Burka ist in diesem Film beispielsweise ein Medium des geschlechtlichen drag, eine Möglichkeit, als Frau verkleidet oder als zugehörige Verwandte unerkannt zu bleiben. Die Burka ist in Reise nach Kandahar in gewisser Weise eine Geschlechterprothese, nicht etwa das Alleinstellungsmerkmal der diffizilen, in vielerlei Hinsicht von Gewalt geprägten Situation in Afghanistan, sondern Teil eines Gefüges, zu dem auch die zahlreichen Minenverletzungen gehören, für die in diesem Film Prothesen vom Himmel schweben. Hinzu kommt der Bart, den der Doktor, den die Hauptfigur, die aus Afghanistan stammende, kanadische Journalistin Nafas, auf ihrer Reise aufsuchen muss, als Burka des Mannes bezeichnet (der US-Amerikaner kann nur mit einem angeklebten Bart als Afghane passen, also ›durchgehen‹ im Sinne von passing). Eine weitere Variante des Maschrabiyya-shots gibt es auch in Ayşe Polats En Garde: Alice (Maria Kwiatkowsky) und Berivan (Pinar Erincin), die sich im katholischen Mädchenkinderheim angefreundet haben, wählen Fechten als Freizeitgestaltung. In den Fechtstunden kommt es immer wieder zu subjektiven Kameraeinstellungen, die die begrenzte Sichtweise

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ment ein Innen darstellt, in das das Außen hereingeholt wird, so stellt das Kopftuch eine Verlagerung des Inneren in den Außenraum dar.302 Aber nochmals zurück zur Frage des Blicks, welcher sich den, vom zentralperspektivischen Bild simulierten, Raum aneignet. Der Blick ist in diesem Bild angelegt, er ist zum Teil des Bildes geworden. Das zentralperspektivische Bild inkorporiert das Subjekt und erzeugt es damit als Betrachter_in: »Im Bild manifestiert sich mit Sicherheit immer ein Blickhaftes«, formuliert Jacques Lacan in Linie und Licht.303 Aber für das Subjekt, das sich vor bzw. in dem Bild konstituiert, das sich im Blick das Recht nimmt, »die Welt gleichsam von einer externen Position aus zu sehen«,304 gilt: Kein Sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Ebenso Lacan, wie bereits zitiert: »Von Grund auf bestimmt mich im Sichtbaren der Blick, der im Außen ist«.305 Auch Gottfried Boehm weist auf diesen »Widerspruch in der kopernikanischen Wende«306 hin: »Wer sehend sein eigenes Sehen mitreflektiert, mag man den Herrn seines Blicks nennen. Er muss gleichzeitig aber seine Ohnmacht einbekennen. Denn was auch immer er sieht, er kann die Grenzen seiner Wahrnehmung sehen. Die Welt des Auges schattet sich ab, das Unsichtbare ist ihr sichtbarer Horizont.«307 Auch Christina von Braun hat in ihren Überlegungen zum Tast- und Sehsinn über die Verletzlichkeit des begehrenden Blicks geschrieben. Allerdings, so von Braun, zielt der Blick im technischen Bild auf die Rückeroberung der Distanzierung, die ihn scheinbar von ebendieser Gefahr abschottet: das bewegte Bild als virtuelle, als safe reality. Aber diese Illusion geht in der großen Illusionsmaschine ausnahmsweise nicht auf: Im Kino teilen sich Ohnmachts und Allmachtserfahrung gleichermaßen das Feld. Christina von Braun beschreibt exemplarisch die Auflösung der Geschlechtergrenzen und spricht von einer »doppelten Subjektbildung«.308 Es ist eben auch jenes Subjekt – gleich ob aufgelöst, gedoppelt oder eindeutig – gedacht, welches notwendig ist für die Aktualisierung des

und die körperliche Erfahrung von Maske, ›Rüstung‹, Kampfsituation und massiver körperlicher Befangenheit einfangen. 302 Insbesondere das Kopftuch als Einsatz im ›modernen‹ islamischen und islamistischen Kontexten steht für spezifische zeitgenössische Transformationen des Verhältnisses von Öffentlichkeit/Privatheit, die Nilüfer Göle und Ludwig Amman in ihrem Sammelband mit Fokus auf die Türkei, Iran und ›Europa‹ (wobei sich Europa hier lediglich auf die Buchkapitel zu Deutschland und Frankreich bezieht) beschrieben haben, vgl. Ammann/Göle, Islam in Sicht. 303 Jacques Lacan: »Linie und Licht«, in: Gottfried Boehm (Hg.): Was ist ein Bild, München 1994, S. 60–74, hier S. 70. 304 Belting, Florenz und Bagdad, S. 35. 305 Lacan, Was ist ein Bild/Tableau, S. 76. 306 Boehm, zit. in Belting, Florenz und Bagdad, S. 292, Anm. 34. 307 Gottfried Boehm: »Eine kopernikanische Wende des Blickes«, in: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Sehsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung, Göttingen 1995, S. 25–34, hier S. 28; Hervorh. N.H. 308 Von Braun, Scham, S. 52.

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Gesehenen, die die Nicht-Eindeutigkeit des Bildes realisiert. Jean-Luc Nancy nennt die sich ereignende Aktualisierung auch Interpretation, die er als (und hier wird wieder die Erbschaft christlicher Bildpraxis deutlich) »Beseelung kraft Fleischwerdung und Fleischwerdung kraft Beseelung«309 definiert. Bilder sind, wie Belting an anderer Stelle (an der er über TV-Bilder und Bilder, die das Leben simulieren, nachdenkt) formuliert, »auf unsere Loyalität und unseren Bildglauben angewiesen, der allein sie legitimieren kann. Wir leihen ihnen das Leben, das wir selbst besitzen.«310 Ohne das Zu-Sehen also keine Bilder, die geglaubt werden können, und auch keine Bilder, die nicht geglaubt werden. Und umgekehrt kein Subjekt im Kino, das sich seiner Position im Blick und im Bild selbstgewiss sein kann. So blieb bereits das Subjekt der Perspektive, welches im Fensterblick symbolisiert ist, nicht unwidersprochen. Belting beschreibt beispielhaft die barocke Fensterkrise, eine Krise des Fensterblicks, »die auch den Begriff des Subjekts unterhöhlt.«311 Der Blick wendet sich nach innen, dem Interieur zu, wo es weder einen »privilegierten Standort« noch einen »gerahmten Blick«312 gibt. Belting zieht das Beispiel des Barocks heran, um damit zu einem anderen Fensterblick, dem genannten Fenster (im islamischen Raum) als ›Lichtschranke‹, zu kommen. Stärkeres Gewicht wird dem barocken Blick(winkel) von Martin Jay eingeräumt, der es als »alternative scopic regime« bezeichnet, »that may be understood as more than a subvariant of Cartesian perspectivalism«.313 Anders als die Klarheit und Verortetheit der zentralperspektivischen Kunst ist das Barocke »painterly, recessional, soft-focused, multiple, and open«, eine Feier des »dazzling, disorienting, ecstatic surplus of images«,314 die Rezeption durch die Betrachter_in ist stärker haptisch oder taktil und damit eine Gegenbewegung zum Okularzentrismus der Renaissance. Zugleich visuelles Pathos und voller Allegorien der Opazität, dient der Barock Jay der Erkenntnis, das anderes Sehen möglich ist: »We may learn to wean ourselves from the fiction of a ›true‹ vision und revel instead in the possibilities opened up by the scopic regimes we have already invented and the ones, now so hard to envision, that are doubtless to come.«315 Mieke Bal fokussiert das Barocke daher sowohl als ein Phänomen der Vergangenheit (der historische Barock) als auch als eines, das in der Gegenwart zu Anwendung kommt, und zwar nicht als Stil, sondern »as perspective, a way of thinking which flourished during a specific period and which now functions as a meeting point whose traffic lights make us halt and stop to think about (the culture of ) the present and (some elements of) the past.«316



309 310 311 312 313 314 315

Jean-Luc Nancy: Am Grund der Bilder, übersetzt von Emmanuel Alloa, Berlin 2006, S. 118. Belting, Florenz und Bagdad, S. 101. Belting, Florenz und Bagdad, S. 268. Belting, Florenz und Bagdad, S. 268. Jay, Scopic Regimes, S. 11. Jay, Scopic Regimes, S. 16; Hervorh. N.H. Jay, Scopic Regimes, S. 20.

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Eine Bewegung, die in Édouard Glissants Poetics of Relation eine besondere Qualität gefunden hat: das Barocke als »Abroad in the World«, ein »rerouting«, welches das etablierte Wissen und Erkennen, »the so-called natural order, naturally fixed as the obvious fact«,317 zur Zeit seines Entstehens als künstlerische Ausdrucksform nachhaltig irritiert hat und sich schließlich darüber hinaus (in der Zeit ) ausdehnt in das, was Glissant »Relation« nennt: [T]he baroque has undergone a naturalization, not just as art and style but as a way of living the unity-diversity of the world. This process of naturalization prolongs the baroque and recreates it, beyond the flamboyant realms of a Counter-Reformation, to extend it into the unstable mode of Relation; and once again in this full-sense, the ›historical‹ baroque prefigured, in an astonishingly prophetic manner, present-day upheavals of the world.318

Im Barock oszillieren Subjekt und Objekt: Anstatt (wie in der Zentralperspektive) fixiert zu sein, sind es hier bewegliche Positionen. Ähnlich dem gedoppelten Subjekt im Kino bei von Braun: »Der Zuschauer identifiziert sich einerseits mit dem betrachtenden Auge der Kamera und andererseits mit dem Objekt der Betrachtung, den auf der Leinwand agierenden Darstellern, die jedoch nicht als Objekt, sondern als Subjekt ihres Handelns wahrgenommen werden.«319 Für Bal stellt das Barocke einen Modus des »entanglement«320 dar, der darauf hinweist, dass das, was wir sehen, »only comes to life – or rather to light, to visibility – for us through our point of view, which itself is molded by it, folded in it.«321 Bals Wortwahl – etwas wird lebendig, »comes to life«, durch/in »our point of view« – evoziert in diesem Kontext unmittelbar wieder die christliche Ins-Bild-Setzung und damit auch die Zentralperspektive und den vom/ im Bild erzeugten Betrachter. Bals zentrales Objekt der Analyse ist nicht ohne Grund Caravaggios Gemälde Der ungläubige Thomas – das Barocke ist damit nicht als das absolute Andere der Zentralperspektive zu begreifen, sondern als jene andere Perspektive, die die (vermeintliche) Eindeutigkeit irritiert. Die Rezeptionshaltung, vielmehr die Perzeption an sich, faltet die Betrachterin hier in das Bild hinein.322 Letztlich, so mein Argument, kann das Barocke (jenseits eines bestimmten Stils) als Störmoment begriffen werden. Störmomente sind beispielsweise im Kino solche



316 317 318 319 320 321

Mieke Bal: Quoting Caravaggio. Contemporary Art, Preposterous History, Chicago 1999, S. 16. Glissant, Poetics, S. 77–78. Glissant, Poetics, S. 79. Von Braun, Scham, S. 52. Bal, Quoting Caravaggio, S. 25. Bal, Quoting Caravaggio, S. 27. Hier greift Bal Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock, Ulrich Johannes Schneider, Frankfurt/M. 2000 auf. 322 Zur Falte in der barocken Kunst sowie in Leibniz‹ Philosophie als Beziehung ohne Zentrum siehe: Deleuze, die Falte.

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Momente, die die Zuschauer_in hineinfalten, involvieren, verwickeln – Momente, die Bal auch mit dem Nabel assoziiert, jenem Zeichen der Verletzlichkeit, auf das ich in 3.4 bereits eingegangen bin.323 Ich greife die Idee einer barocken Sichtweise hier aber nicht nur auf, weil damit eine unabgeschlossene (und das Subjekt engagierende) Weise der Wahrnehmung gedacht werden kann, sondern durchaus auch deswegen, weil in der Rede von einem mit dem (Neo-)Barock assoziierten Stil etwas angelegt ist, das meiner Ansicht nach zu aktivieren wäre für ein (bewegtes) Bildermachen – so paradox es klingen mag – im Sinne eines produktiven Bilderverbots: Die melodramatische Übertreibung, Pathos des Schauspiels, der herausreichende Blick (in Berlin in Berlin beispielsweise die seltsamen Froschaugenaufnahmen der Figuren, die in besonders dramatischen Momenten in die Kamera hineinzukriechen scheinen, und die dadurch wie in barocken Zerrspiegelportraits die Ironisierung der Spiegelperspektive aufrufen,324) die Üppigkeit von Farbe (wie in Yasemin325) und die Opulenz des Bildes, malerische Kompositionen (wie beispielsweise die tableau vivant-Anordnungen in Angst essen Seele auf) und eine multifokale, nicht-narrative Erzählweise entsprechen beispielsweise den nicht zentralperspektivisch angelegten, osmanischen Buchillustrationen. 3.7.2 Dazwischen

Welches sind nun Ansatzpunkte dafür, wie das (islamische,326 sogenannte) Bilderverbot für die (Film)Bilder produktiv gedacht werden kann? Nicht nur, dass das Bilderverbot mit Ikonoklasmus, also der Bilderzerstörung, unzureichend gleichgesetzt wird, auch der Begriff des Anikonismus, also der Bilderlosigkeit, trifft hier nicht den Kern.327







323 Vgl. Bal, Quoting Caravaggio, S. 31. 324 Vgl. Belting, Florenz und Bagdad, S. 254. 325 Vgl. Michael Althen: »Schwarz und Weiß in Farben. ›Yasemin‹, ein Film von Hark Bohm«, in: Süddeutsche Zeitung, 17. Mai 1988 (Pressearchiv der Bibliothek der Deutschen Kinemathek, Berlin). 326 Für die Erörterung des Verhältnisses von jüdischem und islamischem Bilderverbot siehe u.a. Christina von Braun: »Einführung«, in: dies./Eva-Maria Ziege (Hg.): Das bewegliche Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg 2004, S. 11–42, hier S. 27. 327 Der Begriff des Anikonismus wird als Ersatz für die oftmals fälschliche Verwendung des Begriffs Ikonoklasmus verwendet. Allerdings ist auch dieser nicht unumstritten, vgl. z.B. Kreuzer 2002: 95, die darin Ikonizität als anthropologische Konstante erhalten sieht. In The Artless Jew wendet sich Kalman P. Bland gegen die These des Anikonismus der Juden, die dafür verwendet werde, um »authentic Jewish traditions in painting, sculpture, and architecture« (Kalman P. Bland: The Artless Jew. Medieval and Modern Affirmations and Denials oft he Visual, Princeton 2000, S. 3) in Abrede zu stellen. Möglicherweise gäbe es hier interessante Parallelen zu Debatten über ›islamische Kunst‹ (und die Tendenz, diese als einheitlich zu behandeln, wie Mohamed Scharabi kritisiert (vgl. Mohamed Scharabi: »›Islamische‹ Architektur und darstel­ lende Kunst der Gegenwart«, in: Werner Ende/Udo Steinbach (Hg): Der Islam in der Gegen­

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Vielmehr steht das Bilderverbot für einen anderen Bildbegriff ebenso wie für eine andere Bildpraxis. Sowohl Bilderverbot als auch Bilderstreit müssen als Bildquellen begriffen werden. So führte Bruno Latour auch den Begriff des Iconoclash ein, um jene Bilderzerstörungen zu benennen, für die nicht entscheidbar ist, ob sie destruktiv oder konstruktiv sind. Die teleologische Eindeutigkeit, die Latour dem Begriff Ikonoklasmus zuweist, halte ich zwar für fragwürdig, aber egal, ob von Bilderstreit, Ikonoklasmus oder Iconoclash die Rede ist, zeigt das bis zu den Zerstörungsorgien durch ISIS-Kämpfer im Irak seit Sommer 2014 bekannteste Beispiel der 2000er Jahre – die Zerstörung der Buddhastatuen in Bamiyan durch die Taliban 2001 (mit der die jüngeren Aktionen der ISIS stets verglichen werden): Bilderzerstörung bringt immer neue Bilder hervor. Die Taliban hatten nicht umsonst ihr eigenes TV-Verbot für den letzten Schritt in diesem massiven Unterfangen aufgehoben und ein Kamerateam von Al Jazeera (aus Qatar) eingeladen328 und die ISIS agiert ohnehin erfolgreich mittels Sozialer Medien, erstellt eigene Videodokumentationen ihrer Hinrichtungen und Vernichtungsaktionen und lässt diese zirkulieren.329 Erst das Bild der Zerstörung selbst bedeutet den erfolgreichen Iconoclash. Aber auch ältere Beispiele belegen die Bildlichkeit der Bil-





wart – Entwicklung und Ausbreitung, München 1991, S. 837–860). Zumal, wie ich im Weiteren ausführen werde, Bilderverbot, Ikonoklasmus und auch Bilderzerstörung eben nicht Bilderlosigkeit bedeuten. Andererseits ist Blands Unbedingtheit, mit der er das Judentum auch als visuelle Kultur beschreiben will, seltsam voraussetzungsreich: Als würden nur darin Wert und Anerkennung liegen. Horst Bredekamp hat versucht, den Begriff Anikonismus neu zu definieren (meiner Ansicht nach jedoch nicht überzeugend). Er meint damit einer Art Seh-Analphabetismus, also die Unfähigkeit, Bilder angemessen zu interpretieren (vgl. Horst Bredekamp: »Das Bild als Leitbild. Gedanken zur Überwindung des Anikonismus«, in: Ute Hoffmann/ Bernward Joerges/Ingrid Severin (Hg.) LogIcons: Bilder zwischen Theorie und Anschauung, Berlin 1997, S. 225–245, siehe auch das Interview von Gudrun Mayer mit Bredekamp: »Der Bann des Visuellen«, in: FOCUS Magazin 4 (2004), http://www.focus.de/kultur/medien/kultur-der-bann-des-visuellen_aid_200726.html; zuletzt abgerufen am 09.11.2014). 328 Vgl. Pierre Centlivres: »Life, Death, and Eternity of the Buddhas in Afghanistan«, in: Bruno Latour/Peter Weibel (Hg.): ICONOCLASH: Beyond the Image Wars in Science, Religion and Art, Cambridge (MA)/London, S. 75–77, hier S. 75. Und nicht nur das: die Entfernung der Statuen hat ein neues Bild erzeugt: wo die Statuen befindlich waren, ist nun der gigantische ›Rahmen‹, der tief in den Sandstein eingegrabene Umriss der Figuren zu sehen, der aufgrund seiner Höhe und Tiefe ständig als figürlicher dunkler Schatten, als unübersehbare Präsenz einer Abwesenheit, erst recht sichtbar ist. 329 Insbesondere die Aufnahmen von Hinrichtungen (u.a. durch Enthauptung) hat zu einer intensiven bilderpolitischen Diskussion geführt, die sich ganz kurz mit der Frage ›zeigen oder nicht zeigen?‹ zusammenfassen lässt. Zu den digitalen Strategien der ISIS siehe u.a. Katharina Pfannkuch: »Der digitale Dschihad«, in: Cicero. Magazin für Politische Kultur (09.07.2014), http://www.cicero.de/der-digitale-djihad/57902; sowie Florian Rötzer: »’Cyber-Kalifat‹: Kommt jetzt der Cyberterrorismus?«, in: Telepolis (14.01.2015), http://www.heise.de/tp/artikel/43/43845/1.html; beide zuletzt abgerufen am 20.1.2015.

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derzerstörung, so zum Beispiel das der Wiedertäufer in Münster, die den Bildern die Augen ausstachen, um damit einen bildlichen Ausdruck zu schaffen für die von ihnen so heftig kritisierte »Fixierung der katholischen Kirche auf den Visus«.330 Aus dem Bilderstreit von Byzanz ging daher auch nicht einfach Bilderlosigkeit auf der einen Seite und Bilderfülle auf der anderen hervor – die ausgeprägte visuelle Opulenz der Ostkirche/der Orthodoxie ist hierfür hinreichend Beleg.331 Vielmehr sind die Bilder, die aus der Tradition des Bilderstreits bzw. des Bilderverbots entstehen, wie Christian Hecht ausführt, unähnliche Bilder.332 Im Westen hingegen (und hier irrt Hecht meiner Ansicht nach, der diese Bildpraxis als von der Erfahrung des Bilderstreits unberührt begreift333) ist die Ähnlichkeit von Bild und Abbild zentral. Idolatrie, so lehrt uns das (jüdische) Bilderverbot, ist das Für-real-Halten eines Symbols, wie Bob Brecher im Jahrbuch politische Theologie zum Bilderverbot schreibt.334 Das Bild, das dem Bilderverbot gerecht wird, widersetzt sich also dem Für-wahr-Halten – worin sich eine Lösung des Problems der Repräsentation gerade im Fall von ›Rasse‹ andeutet, wo die Wahrheit der Erkennbarkeit regiert. Sicherlich auch in diesem Sinne begreift Adam Lowe den Islam als möglicherweise »profoundly iconophilic«.335 Für seine Beweisführung bezieht er sich (wie auch Belting sechs Jahre später) auf Orhan Pamuks Roman Benim Adım Kırmızı (Rot ist mein Name).336 In diesem polyphon erzählten Roman, einer Mischung aus historischem Krimi und luzider Bildtheorie, führt die Auseinandersetzung mit der Zentralperspektive zu Morden im Buchmalermilieu: Ermordet wird derjenige Buchmaler, der den heimlichen (allerdings vom Padischah begehrten) Einsatz der Perspektive verraten wollte. Durch die Vielzahl der Sichtweisen, der erzählerischen Perspektiven, konjugiert Pamuk den Bilderstreit in seinen vielen Facetten durch und lässt dabei ein komplex gewobenes Bild entstehen, anhand dessen sich die Kraft (und Macht) des Bildes, insbesondere der Zentralperspektive, die Rolle der Farben, sowie der Ort der Auslassung und der Blindheit, oder anders gesagt: der Bildkritik, durchdenken lassen. Die Kritik an der Perspektive der italienischen Renaissancemalerei wird in dem Roman anhand des Betrachterstandpunkts ausgeführt: Diese Art der Bilder ermächtigt den Menschen – das abendländische Subjekt –, die Welt als Sein zu sehen, während

330 Bredekamp, Bilderkult, S. 202. 331 Zum Einfluss und den Resonanzen ostkirchlicher Ikonenkultur auf das Kino siehe: Hans-Joachim Schlegel: »Ikone und Filmbild. Folgen des byzantinischen Bildverständnisses im russischen und sowjetischen Film«, in: Hasenberg/Zwick/Larcher (Hg.): Zeit, Bild, Theologie, Marburg 2011, S. 33–49. 332 Vgl. Hecht, Das Christusbild, S. 16ff. 333 Vgl. Hecht, Das Christusbild, S. 17. 334 Vgl. Bob Brecher: »Liberalismus als Idolatrie«, in: Michael J. Rainer/Hans-Gerd Janßen (Hg.): Bilderverbot. Jahrbuch Politische Theologie 2, Münster 1997, S. 54–66, hier 58ff. 335 Wenn nicht durch Fundamentalisten usupiert. Lowe, To See the World, S. 555. 336 Orhan Pamuk: Rot ist mein Name, übersetzt von Ingrid Iren, München 2001 [1998].

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sie doch nur Schein ist. Allahs Werk wird dabei auf den Blick eines Straßenköters, einer Sellerie und eines Vagabunden heruntergeholt, wie der ›Storch‹ genannte Illustrator formuliert.337 Die Kritik am Betrachter und am Standpunkt – der Perspektive – der Bilder bezieht sich auch auf die Autorenschaft: Es sind immer mehrere Maler an einem Bild beteiligt, und die Frage nach Individualität und Stil wird insofern mit großem Argwohn betrachtet. Denn letztlich ist es Gott, der erschafft, ›bildet‹ und auch abbildet, ebenso wie der souveräne Blick vor seiner Aneignung in der Renaissance »das Privileg Gottes des Allsehenden und Körperlosen«338 gewesen war. Das Bilderverbot ist so auch als Mimesisverbot ausgelegt worden, da die ähnlichen Bilder als ›lebendige‹ Bilder eine Konkurrenz mit dem Leben eingehen.339 Daher İpşiroğlu: »Die Kunst, die aus dem Weltbild des Islam hervorging, war ihrem Wesen nach nicht nur wirklichkeitsfern, sondern auch wirklichkeitswidrig.«340 Kunst ist daher »Ornamentik, d.h. Gleichnis und Vision, hinweisendes Zeichen und Formenspiel.«341 In Rot ist mein Name beschreibt der »Meister der Meister, der Erste Illustrator Osman«,342 daher auch die Blindheit als die höchste Stufe der Meisterschaft. Und der, den sie ›Olive‹ nennen, erzählt schließlich drei illustrierende Fabeln von der Blindheit, denn: Es gab eine Dunkelheit vor dem Illustrieren, und es wird nach dem Illustrieren eine Dunkelheit geben. […] Erinnern ist wissen, was man sah. Wissen ist sich erinnern an das, was man sah. Sehen ist wissen, ohne sich zu erinnern. Das bedeutet, illustrieren ist, sich der Dunkelheit zu erinnern.343

In der Blindheit findet die Abkehr vom äußerlichen Schein ihre Perfektion. Und die Bilder finden dann Zugang zur Sphäre des Göttlichen, wenn sie sich den Parametern von Raum und Zeit entziehen, wie eben auch Gott, Allah, nicht in diesen Koordinaten darstellbar ist. Dieses Konzept von Bildlichkeit verweist zugleich auf die Aktivierung durch Kontemplation, jene Involviertheit des Zu-Sehens, die ich wiederholt betont habe: »Das Bild appelliert nicht, wie das Abbild, an die Gefühle, es erfordert vielmehr von dem Betrachter eine innere Kontemplation, eine geistige Teilnahme, die mit ungeahnter Suggestionskraft der Phantasie wachgehalten und erhöht wird.«344 Belting wie Lowe geht es mit ihrer Lektüre von Pamuks Roman auch darum, vom islamischen ›Bilderverbot‹ zu lernen. Wie das im Zusammenhang mit Film zu denken



337 338 339 340 341 342 343 344

Vgl. Pamuk, Rot, S. 98. Belting, Florenz und Bagdad, S. 229. Vgl. Belting, Florenz und Bagdad, S. 78. İpşiroğlu , Das Bild im Islam, S. 14. İpşiroğlu , Das Bild im Islam, S 168. Pamuk, Rot, S. 87. Pamuk, Rot, S, 106–107; Hervorh. N.H. İpşiroğlu, Das Bild im Islam, S. 168.

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ist, wird bei Kreuzer ansatzweise konkretisiert, die schreibt, dass der Islam, als »eine Zivilisation, deren theologischer Kern in der Offenbarung als Wieder-Schriftwerdung einer im Himmel vorgeschriebenen Schrift und einer lediglich in der Annäherung über seine 99 Namen erfahrbaren radikalen Alterität Gottes liegt, […] als symbolischen Ort den Schleier und als Motor die Proliferation der Schrift«345 habe. Der Verkettung von Transparenz und Wahrheit setzt Kreuzer so »die Dekonstruktion der filmischen Abbildlichkeit zum ›als ob‹ entgegen« – und macht »die Sinnbildung durch Wiederholung und Variation« explizit zur Sache der Zuschauer, zu deren Lektüre.346 Inlibration statt Inkarnation also, um einen Begriff, den Harry Austryn Wolfson geprägt hat, ins Spiel zu bringen.347 Damit wird auch die zentrale Rolle der Schrift angedeutet. Wenn man beispielsweise in Betracht zieht, dass die Einlösung des (jüdischen) Bilderverbots im Film bei Gertrud Koch zunächst über die Verschriftung der (Einzel-)Bilder formuliert wird, zugleich aber die technischen Bilder ohnehin als ›Schriftbilder‹ zu begreifen sind (Vilém Flusser), zeigt sich die Bedeutsamkeit der Frage, die auch die Spezifik der arabischen Schrift bzw. des arabischen Alphabets zu berücksichtigen hätte bzw. die auch die Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem jüdischen und dem islamischen Bilderverbot betrifft. Für ersteren Aspekt verweise ich auf Das Kreuz mit dem Kopftuch von Christina von Braun und Bettina Mathes, die darin die drei alphabetischen Schriftsysteme und das Verhältnis von Schrift und Körper in den drei Religionen des Buches348 untersucht haben. Sie verweisen insbesondere auf die Charakteristika einer oralen Sprachkultur im arabischen/islamischen Raum und rezipieren die Studien Sadiq al-Azms, der die Zentralität des Verbs in der arabischen Sprache gegenüber dem Hauptwort in den meisten westlichen Sprachen betrachtet und zu dem Schluss kommt, dass das Arabische als eine Sprache des Prozesses und damit auch des Wandels und der Innovation zu begreifen sei349. Entgegen der These vom Rückschritt des Islams findet sich hier auch ein Ansatz zur Erklärung der Ausbreitung des Islams bzw. der zunehmenden Islamisierung, also der Globalisierung des Islams (auch in der dominanten globalisierungskritischen Geisteshaltung): Arabisch ist eine Sprache, so lässt sich schlussfolgern, die ein besonderes diasporisches Potential in sich birgt. So fragen sich von Braun und Mathes, ob sich die hohe Wertschätzung der Oralität im Islam nicht heute als ein Vorteil im Transformationsprozess erweisen könnte, den die Globalisierung mit sich bringt: ein Prozeß, der die islami-



345 Kreuzer, Die Kollision, S. 96. 346 Kreuzer, Die Kollision 97. 347 Vgl. Belting, Florenz und Bagdad, S. 83. Auch Kreuzer verwendet den Begriff Inlibration; der Veweis auf Wolfsohn fehlt allerdings. Vgl. Kreuzer, Die Kollision, S. 96. 348 Von Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 121–140. 349 Vgl. von Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 133.

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sche Gesellschaft zum ersten Mal mit der Möglichkeit der Diaspora konfrontiert, ob nun durch die Emigration in andere Kulturräume oder durch den Import anderer kultureller Produkte und Techniken.350

In den meisten (im ›Westen‹ publizierten) Abhandlungen über die islamische Kunst351 gilt die Kalligrafie als die Form, in der diese Kunst zu ihrer Meisterschaft gelangte. Es ist also gerade das Schriftbild, welches paradigmatisch für das Bild, welches nicht verboten ist (das Bild des sogenannten Bilderverbotes), steht, jenes Schriftbild, welches im Kino als Filmbild projiziert wird. Zusammen mit der Kalligrafie wird die Ornamentik oft als repräsentative Formensprache der islamischen Kunst bezeichnet.352 Bereits bei der Frage der unähnlichen Bilder ist die Ornamentik aufgetaucht. So definiert İpşiroğlu sie als Gleichnis und Vision.353 Nun sind die Frage, was unter dem Ornamentalen verstanden wird, und die kunsthistorische, architekturhistorische, kulturtheoretische und philosophische Auseinandersetzung mit dem Ornament so komplex und vielfältig, dass ich an dieser Stelle nur darauf hinweisen kann. Von Bedeutung ist jedoch sicherlich, dass und wie eine ästhetische Strategie als ornamental bezeichnet wird, bereits auf einer Vorstellung von Repräsentation und Darstellung beruht, die höchst voraussetzungsvoll ist. Oleg Grabars bemerkenswerte Monografie The Mediation of Ornament macht dies nachhaltig deutlich. So stellt er auch den Begriff der Kalligrafie für verschiedene Koran-Ausgaben in Frage, wie damit auch Koranzitate in Illustrationen wie der in Berlin in Berlin beschriebenen Abrahamszene bezeichnet werden (so auch von mir). Kalligrafie begreift Grabar als Schreiben um des Schreibens willens und damit mit einer rein ästhetischen Absicht verbunden.354 Solches Schreiben jedoch, des Korans und einzelner Suren und Abschnitte von Suren, ist immer mit einem darüber hinausreichenden Sinn verbunden. Die geschaffene sinnliche, auch visuelle Wahrnehmung ist durchaus auch als bildlich zu beschreiben (daher wiederum die Infragestellung des Begriffs ›islami



350 Von Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 133.; siehe auch S. 350 ff. 351 Zu einer kritischen Würdigung des Begriffs ›islamische Kunst‹ siehe u.a. Oleg Grabar: The Formation of Islamic Art, New Haven/London 1973, insbes. Kapitel 1: »The Problem«, S. 1–18. Sowie: Susan Kamel: »Répresentation de L’Ègypte«, in: Lidia Guzy/ Rainer Hatoum/ Susan Kamel: Museumsinseln/Museum Islands. Berlin 2009, S. 138–205, besonders S. 162– 173, sowie dies.: The »Making of Islam? Über das Kuratieren islamischer Kunst und Kulturgeschichte in Ägypten«, in: Detlev Quintern,Verena C. Paulus (Hg.): Entführung in den Serail. Interdisziplinäre Beiträge zum Orientalismus, Berlin 2008, S. 185–210, sowie dies.: »Vorsicht: frisch gestrichen! Museen islamischer Kunst zwischen postkolonialer Kritik und Orientalismus, in: Heidenreich/Bergermann (Hg.): total. Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie, Bielefeld 2015, S. 291–306. 352 Vgl. İpşiroğlu, Das Bild im Islam, S. 170. 353 Vgl. İpşiroğlu, Das Bild im Islam, S. 168. 354 Vgl. Grabar, The Mediation, S. 76.

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sches Bilderverbot‹), als »visuelle Meditation besonderer Art«.355 Grabar kritisiert zu Recht die Perspektive, mit der die Ornamentik wahrgenommen wird. So werden die in der Folge des byzantinischen Bilderstreits, also im 9. Jahrhundert und danach entstehenden, nicht-mimetischen Formen heute zumeist »in mimetic terms«356 beschrieben. Grabar führt für das Ornamentale, welches eben nicht nur Zusatz und Dekoration, aber eben auch nicht immer notwendigerweise Bildinhalt bedeutet, den Begriff des Dazwischen, des intermediary ein, etwas, das, »while necessary to the comprehesion of a work of art«, nicht (bis auf wenige Ausnahmen) »the work of art itself«357 ist. Diese intermediaries (Grabar beschreibt beispielhaft das Schreiben, die Architektur, die Natur und die Geometrie) dienen als Medien der Vermittlung, der Übertragung und des Verstehens. Zu Letzterem tragen sie aus dem einfachen Grund bei, weil, wie Grabar schreibt, sie das sinnliche Vergnügen des Betrachtens steigern.358 Er bezeichnet diese Qualitäten als »terpnopoietic, bringers of pleasure«.359 Das sinnliche Vergnügen, so würde ich hier einschieben, führt wiederum direkt ins Kino, jenen multisensorischen Erfahrungsraum: Auch hierin liegt sein Potential für die Verbindung von ästhetischer Wahrnehmung und anderer Wahrnehmung. Das, was jeweils das Mehr-als-nur-bewegte-Bild des Kinos ausmacht (Ton, Raum, Stimmen, Zeit etc.), was aber bei der rein inhaltistischen Beschreibung (des Plots, der Geschichte) außen vor bleibt, als nicht notwendig the thing itself (wenngleich vielleicht gerade the work of art itself), ist das, was die eigentliche Erfahrung dieser Bilder vermittelt. Grabar besteht ganz generell auf der Notwendigkeit des ›Dazwischen‹ für die ästhetische Wahrnehmung eines Kunstwerks – wenngleich die Art des Dazwischen im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausprägungen erfahren haben mag. Das Ornament strukturiert damit Sichtbarkeit, wie das – vom NFS Bildkritik – eikones in Basel, der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe »Kosmos/Ornatus« und weiteren Kooperationspartnern betriebene – Forschungsnetzwerk zum »Ornament« formuliert: »So können Ornamente als Ausweis eines Potentials von Bildern begriffen werden, das nicht primär in ihrer abbildenden Kapazität liegt. Dieser Ansatz knüpft an jüngere Debatten an, die dem Ornament als Parergon eine dezidierte Wirkmacht zuschrieben.«360 Diese vermittelnde Funktion – mit Derrida das Parergon als das, was weder innen noch außen ist, was dazwischen liegt und das Werk (ergon) zur Krise bringt361 – habe



355 356 357 358 359 360

Belting, Florenz und Bagdad, S. 88. Grabar, The Mediation, S. 20. Grabar, The Mediation, S. 45. Vgl. Grabar, The Mediation, S. 230. Grabar, The Mediation, S. 231. http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/kosmos_ornatus/netzwerk/index.html; zuletzt abgerufen am 25.04.2009; Inhalt nicht mehr verfügbar. 361 Vgl. Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei, übersetzt von Michael Wetzel, Wien 1992 [1978], S. 74, 80, 88.

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ich bereits im Hinblick auf den Schleier und die Maschrabiyya thematisiert, jene eher »vermittelnde« denn »abschließende«362 Funktion, mit der sich auch von Braun und Mathes in ihrem Buch Verschleierte Wirklichkeit auseinandersetzen. Ähnlich wie Grabar den mit dem Gestus des Universalen auftretenden (taxonomischen), westlichen Blick auf das Ornament(ale) kritisiert, fragt (wenn auch in der Dimension des Unterfangens wesentlich kleiner angelegt) Ludger Schwarte in seinem Artikel Die Kunst, das Unvernehmen anzuerkennen. Bemerkungen über die Arabeske363 hinsichtlich der Arabeske als bestimmtem Typ des Ornaments, ob das, was darunter gemeinhin begriffen werde (nämlich ein Ornament in der islamischen Kunst, so beispielsweise bei Annemarie Schimmel, die die Arabeske als typischen »Ausdruck islamischen Weltgefühls«364 bezeichnet, aber interessanterweise, so Schwarte, eben auch bei Edward Said365), nicht eher ein europäischer Ausdruck und ein europäisches Phänomen sei.366 Für Schwarte ist die Arabeske daher Ausdruck dessen, was er mit Jacques Rancière als »Unvernehmen« bezeichnet: Das Unvernehmen beschreibt demnach eine Sprechsituation, und zwar »jene, bei der einer der Gesprächspartner gleichzeitig vernimmt und auch nicht vernimmt, was der andere sagt«.367 Hinzukommt, dass nur das eine als Rede, das andere jedoch als »Lärm«368 wahrgenommen und damit nicht wahrgenommen wird, nicht zählt. Die Arabeske ist so ein Beispiel (oder wenn man so will: islamische Formensprache und Kunst im Allgemeinen). Schwarte schreibt: »Das Beispiel der Arabeske rührt aus einem Unvernehmen, in dem die einen nicht verstehen, was die anderen ihnen zeigen, weil in diesem ästhetischen Regime diese anderen nicht zählen.«369 Für ihn ist damit die Arabeske das, was er ein »Lärm-Bild«370 nennt, also etwas, »das der Kategorisierung entgleitet, etwas, das sich an mehrere Sinne richtet, und zumal an die Intelligenz. Das Lärm-Bild richtet einen leeren Platz ein, der von

362 Von Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 67. 363 Ludger Schwarte: »Die Kunst, das Unvernehmen anzuerkennen. Bemerkungen über die Arabeske« in: Christoph Wulf/Jacques Poulain/Fatih Triki (Hg.): Die Künste im Dialog der Kulturen. Europa und seine muslimischen Nachbarn, Berlin 2007, S. 116–128. 364 Annemarie Schimmel: »Die Arabeske und das islamische Weltgefühl«, in: Markus Brüderlin (Hg.): Ornament und Abstraktion, Köln 2001, S. 30–35, hier S. 31. 365 Vgl. Schwarte, Die Kunst, S. 119. 366 Schwarte, Die Kunst, S. 117ff. 367 Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, übersetzt von Richard Steurer, Frankfurt/M. 2002, S. 9) Interessant ist die Wahl der Konkretisierung, anhand deren Rancière das Unvernehmen beschreibt: »Das Unvernehmen ist nicht der Konflikt zwischen dem, der weiß und jenem, der schwarz sagt. Es ist der Konflikt zwischen dem, der ›weiß‹ sagt und jenem, der auch ›weiß‹ sagt, aber keineswegs dasselbe darunter versteht bzw. nicht versteht, dass der andere dasselbe unter dem Namen der Weiße sagt.« (Rancière, Das Unvernehmen, S. 9/10. 368 Rancière, Das Unvernehmen, S. 41. 369 Schwarte, Die Kunst, S. 126. 370 Schwarte, Die Kunst, S. 126.

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den Kräften des Imaginären und der Aneignung durchzogen wird.«371 Die Arabeske ist damit nicht etwa das Bild der ›anderen Kultur‹ oder Ausdruck der »wahren islamischen Kunst«, sondern vor allem ein Störmoment, sie ist »die Sichtbarkeit des Unvernehmens«.372 Über die Reflexion des Unvernehmens, das generell in den heutigen Bilderstreiten zwischen Christentum und Islam, zwischen Transparenz und Schleier, zum Ausdruck kommt, des ›Lärms‹, der gehört, aber nicht verstanden wird, kann daher, so meine ich, eine neue Aushandlung des Verhältnisses von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ihren Ausgangspunkt nehmen. Bevor ich zum Schluss zu Beispielen solcher neuen Aushandlungen komme, unternehme ich zunächst einen Exkurs entlang der und unter die Oberfläche: Haut, Blut und Sex, die als super signifiers in jedem Diskurs über ›Rasse‹ in Erscheinung treten, auch dann wenn sie unausgesprochen, nicht sagbar bleiben.



371 Schwarte, Die Kunst, S. 126/127. 372 Schwarte, Die Kunst, S. 127.

4. Oberflächen und Subkutanes: Blut, Sex, Haut(farbe) 4.1 An

der

Oberfläche Frau Karges: Stellen sie sich vor, die Kurowski hat einen Ausländer dabei! Frau Ellis: Was?! Frau Karges: Ja, einen Schwarzen! Frau Ellis: ’N Neger?! Frau Karges: Naja, nicht ganz schwarz, aber ziemlich schwarz ist er doch.

Dieser Wortwechsel stammt aus Rainer Werner Fassbinders Film Angst essen Seele auf . Die beiden Nachbarinnen der Protagonistin Emmi Kurowski (Brigitte Mira), Frau Ellis (Anita Bucher) und Frau Karges (Elma Karlowa), die gerade beobachtet haben, wie diese ›Ali‹ zu sich nach Hause eingeladen hat, bringen es auf den Punkt: ›Ausländer‹ ist ein Begriff, der Rassisierung beinhaltet. ›Rasse‹ wiederum verweist auf Oberflächenlektüren und damit verbundene, subkutane Hermeneutiken, die immer mitschwingen, die aufgerufen und aktualisiert werden. Dies bleibt auch von der Tatsache unberührt, dass Rassismus sich höchst flexibel stets neu und um-konfiguriert und damit nicht auf eine Frage der Hautfarbe reduziert, als schwarz-weißes Problem begriffen werden kann. Eine solche Reduktion, also das, was Gayatri Spivak als chromatism1 bezeichnet hat, ist genau eine jener Funktionen des ›Ausländerdiskurses‹, der ›Rasse‹ sowohl affirmiert als auch verleugnet. ›Hier‹ gibt es demnach keinen Rassismus (mehr), weil zum einen von ›Rasse‹ nicht mehr die Rede sei, und zum anderen, weil es ›hier‹ ja auch – gerne im Vergleich zu den USA – keinen, keinen nennenswerten, schwarzen Bevölkerungsanteil gebe.2 Mit chromatism bezeichnet Spivak

1 Gayatri Chakravorty Spivak: The Post-Colonial Critic. Interviews, Strategies, Dialogues, herausgegeben von Sarah Harasym, New York 1990, S. 62. 2 Um nur ein Beispiel zu nennen (allerdings aus den Hochzeiten der Debatten über die Zulässigkeit des Rassismusbegriffs): Ursula Birsl, Joachim Bons, Svenja Ottens und Katrin Sturhan schreiben in einer Forschungsprojektbeschreibung zum Thema Ethnisierung sozialer Kon-

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spöttisch (und ähnlich wie ihr Konzept des genitalism) ein Vorgehen, bei dem alles auf Hautfarbe zurückgeführt wird. Sie attestiert rassistischen Gesellschaften selbstverständlich ein »orderly instituted color system«,3 antirassistische Theorie sei jedoch dazu angehalten, dieses System epistemischer Gewalt nicht zu reproduzieren. Jenes institutionalisierte (Haut-)Farben-System, das sich anhand von Un-/Sichtbarkeiten, Sagbarem und Nicht-Sagbarem organisiert. In Angst essen Seele auf geht das Treppenhausgespräch weiter. Das Treppenhaus als ikonischer Ort des Melodramas ist in diesem Film einer der Orte, an dem die Frauen – Emmis Nachbarinnen, Emmi und ihre Kolleginnen – zu Wort kommen. Und ein Ort, an dem die Konstellationen des Rassismus zur Sprache gebracht werden:4 Frau Ellis: Aber die ist doch selbst keine richtige Deutsche, Kurowski, wer heißt denn schon so? Frau Karges: Eben. Sitten sind das. Was die wohl will mit dem? Frau Ellis: Keine Ahnung. Vielleicht ’nen Teppich kaufen? Frau Karges: Abends? Um halb zehn? Frau Ellis: Wer weiß … Nacht, Frau Karges. Frau Karges: Gute Nacht.

Die Geschichte, die der Film erzählt, spielt im München der 1970er Jahre. Emmi Kurowski, die Protagonistin, eine ältere Putzfrau, deren Mann vor vielen Jahren verstorben ist, und deren erwachsene Kinder kaum Kontakt zu ihr haben, flüchtet vor einem plötzlichen Regen und angelockt von der »fremden Musik«, wie sie der Wirtin erläutert, entgegen ihren sonstigen Alltagswegen in eine Kneipe, in der sie vom wesentlich jüngeren Stammpublikum, der (deutschen5) Kneipenwirtin und einer Gruppe marokkani-

flikte unter geschlechtsspezifischen Aspekten, dass »der Begriff Rassismus […] hier nicht umfassend genug [ist], da die Gruppenbildungen nicht hauptsächlich entlang einer Rassenkonstruktion verlaufen, wie z.B. im Dualismus von ›schwarz‹ und ›weiß‹ in den USA« (Textvorlage zu einem Forschungskolloqium an der Georg-August-Universität Göttingen 1997, Privates Archiv N.H.). 3 Spivak, The Post-Colonial Critic, S. S. 124. Angst essen Seele auf markiert Fassbinders Hinwendung zum Melodrama, ausgelöst durch 4 die Filme Douglas Sirks. So ist Angst essen Seele auf ein Remake von Sirks All That Heaven A llows (USA 1955). Die melodramatische Treppe, auf der bei Fassbinder die zentralen (besonders die weiblichen) Figuren häufig beim Hinauf- und Herabgehen gezeigt werden, setzt hierarchische Beziehungsverhältnisse gezielt in Szene. Zu den Treppenszenen gehören auch die Rahmungen durch Treppengeländer, ebenfalls ein ästhetisches Stilmittel des Melodramas. 5 Das heißt: Als solche erscheinen sie gemäß der Logik des deutschen Ausländerdiskurses, die die Frauen in der Kneipe in Relation zu ›den Arabern‹ als ›weiße Deutsche‹ positioniert. ›Die Araber‹ werden gleich im ersten Dialog des Films, zwischen Emmi und der Wirtin, so benannt und als ›die‹ anderen kenntlich gemacht (Emmi fragt die Wirtin: »Was ist das für eine Sprache, die die da singen?« – »Das ist Arabisch.« – »Ah, Arabisch, soso.« – »Ja, aber wir haben auch

Oberflächen

und

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scher ›Gastarbeiter‹ misstrauisch beäugt wird: »Die Alte hat ’ne Macke.« ›Ali‹, gespielt von El Hedi ben Salem, fordert sie – angestachelt von der ironischen Herablassung eines anderen weiblichen Gastes, der in der Musikbox dazu das Lied Du schwarzer Zigeuner, komm spiel mir was vor auswählt6 – zum Tanzen auf. Die beiden kommen



deutsche Sachen in der Musikbox, fast die Hälfte, aber die hören natürlich lieber Sachen aus ihrer Heimat.«), die beiden Frauen werden dagegen zum Teil des ›wir‹, also zu Deutschen. Fassbinder stellt Intelligibilität im Sinne des deutschen Ausländerdiskurses in diesem Film u.a. durch den Einsatz eines ziemlich unerträglichen ›Gastarbeiterdeutschs‹ her, das er zuvor auch schon in Katzelmacher eingesetzt hatte. Die Artifizialität allen Sprechens in beiden Filmen – es besteht vorwiegend aus Floskeln und Sinnsprüchen, Klischees und leeren Sätzen – sowie die Tatsache, dass in Angst essen Seele auf alle Dialoge nachsynchronisiert sind, ändert meiner Ansicht nach nichts daran, dass das Sprechen von Ali spezifisch reduziert erscheint. Dass ich diese filmische Entscheidung für problematisch halte, und dass ich beispielsweise auch Kaja Silverman in einigen Punkten ihrer Analyse des Films (als gelungener Dekonstruktion des Phantasmas eines ›unversehrten‹ Subjekts, also auch des dominanten männlichen, vgl. Silverman, Male Subjectivity, S. 125–156) widersprechen würde (v.a. im Hinblick auf die Inszenierung von ›Alis‹ Körper), heißt aber nicht, dass ich den Film deshalb in einer repräsentationskritischen Geste einfach für ›schlecht‹ erklären würde. Ich sehe hier vielmehr ein Experiment mit den Abgründen vor allem zwischen vernakularer und vehikularer Sprache. Fassbinder scheint zu sagen, dass in diesem Film in dem von den Figuren geteilten Raum aus Transnationalität, (ökonomischer) Marginalität und Kleinbürgerlichkeit keine minoritäre, keine kleine Sprache möglich ist, zumindest nicht in Worten (der Gastarbeiter taucht nicht umsonst auch in Gilles Deleuze‹ und Felix Guattaris Kafka-Buch auf. Er signifiziert darin die Suche nach einer kleinen Literatur, siehe Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, übersetzt von Burkhart Kroeger, Frankfurt/M. 1976 [1975], S. 28–29). Dennoch ist Ali ein typisches Beispiel für die Figur des ›stummen Gastarbeiters‹, der nicht übersetzt werden kann, wie Leslie Adelson bei Bhabha kritisiert, der »›the turkish Gastarbeiter‹ as an icon for ›the radical incommensurability of translation‹ in modern narratives of Europe« einsetze (Leslie A. Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature: Toward a New Critical Grammar of Migration, New York 2005, S. 86). 6 Der Einsatz dieses Liedes erzeugt zahlreiche Bedeutungsschichten: Zunächst wird mit der Wahl des Musikstücks in der Musikbox der Wechsel von der arabischen Musik zur deutschen markiert – schließlich ist der Text deutschsprachig. Es handelt sich dabei aber um einen europäischen Tango, ein Stück des böhmischen Komponisten Karel Vacek, hier in der Aufnahme des Harry Hiller Tanzorchesters von 1933 mit der deutschen Textversion des jüdischen, österreichischen Autors, Librettisten und Schlagertexters Fritz Löhner-Beda, gesungen von einem der berühmtesten Sänger der Weimarer Zeit, Leo Monosson, der seine Stimme auch Filmschauspielern lieh, die selbst nicht singen konnten, und der selbst auch singend als Schauspieler auftrat (unter anderem neben Heinz Rühmann, Willy Fritsch und Lilian Harvey in Die Drei von der Tankstelle (D 1930)). Monosson kam 1897 in Moskau zur Welt und floh 1918; über Stationen in Warschau, Wien und Paris gelangte er nach Berlin, wo er ab 1923 lebte. Er war gezwungen, Deutschland zu verlassen, nachdem er als Jude ab 1933 aufgrund der rassistischen Berufsverbote keine Engagements mehr bekam – die Aufnahme ist damit vermutlich eine seiner letzten –, zunächst Richtung Frankreich und von dort aus, nach dem

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ins Gespräch, zunächst eine Mischung aus Floskeln, Sinnsprüchen und freundlich-respektvollen Höflichkeiten, dann führt das Gespräch direkt zu einer Beschreibung der rassistischen Verhältnisse, wozu unter anderem gehört, dass ›Ali‹ erläutert, dass sein Name gar nicht Ali sei, sondern El Hedi ben Salem M’Barak Mohammed Mustafa, der aber von »allen« (alle – das ist das implizierte ›wir‹ des Deutschseins) nur ›Ali‹ genannt werde; also: »Jetzt bin ich Ali«, eine Paraphrase für das ›Ausländersein‹ und eine Referenz an den bereits genannten, signifikanten ursprünglichen Arbeitstitel des Films, der Alle Türken heißen Ali lautete. Als Emmi gehen möchte, wird Ali – ganz Gentleman – sie nach Hause begleiten. Der Regen hört nicht auf, das Gespräch setzt sich in ihrem Hauseingang fort, schließlich bittet sie ihn mit zu sich hinauf, zu einem Kaffee und Cognac, bis der Regen sich vielleicht gelegt haben möge. Während Emmi und Ali von den Blicken, Anspielungen und Provokationen in der Bar, den Ein- und Zuordnungssystemen, scheinbar nicht berührt werden, sind die Nachbarinnen, die das Blicksystem in Worte fassen, nicht weit – siehe der oben zitierte Dialog. In Angst essen Seele auf wird Haut(farbe) vor allem in einer zentralen Sequenz – als Spektakel – in Szene gesetzt. Emmi, von der zunehmenden Anfeindung ihrer Beziehung zu Ali durch ihr gesamtes Umfeld und ihre eigenen Kinder ausgelaugt und auf der Suche nach Anerkennung, lädt ihre Kolleginnen zum Kaffee und zur Planung eines Arbeitskampfes ein. Nachdem Emmi von ihren Kolleginnen zunächst auch wegen ihrer Beziehung zu Ali ausgeschlossen worden war, wendet sich die Situation für sie. Das Paar geht auf Hochzeitsreise, eine Reise, deren Ende von vornherein als Kehrtwende von Emmis Situation antizipiert wird: »Und wenn wir zurückkommen, dann hat sich alles verändert. Und alle Leute sind gut zu uns. Ganz bestimmt!« Und in der Tat, Emmi wird als nützliche Nachbarin, babysittende Oma und kaufkräftige Kundin wiederent-

Einmarsch der Deutschen 1941, in die USA, wo er allerdings als Sänger verstummte. In seinem Antrag auf Wiedergutmachung an die Berliner Entschädigungsbehörde formulierte er dies so: »Es gelang mir nach 1933 nie mehr, durch Gesang Geld zu verdienen. Meine Vortragsart war durch deutsche Kultur entwickelt und woanders fremdartig und unpopulär.« (Monosson, zitiert in: Daniel Gritz: »Was wurde aus Leo Monosson«, in: Brigitte 09 (04.04.2007), http://www.brigitte.de/kultur/lifestyle/typberatung-ulrich-tukur-558951/; zuletzt abgerufen am 10.11.2014) Du schwarzer Zigeuner, komm spiel mir was vor wurde 1953 in der Interpretation durch den Schweizer Schlagersänger Vico Torriani erneut populär (zu Torrianis Hits zählen so ›aussagekräftige‹ Titel wie Capri Fischer, Café Oriental, Schön und kaffeebraun, Ananas aus Carracas, Gefangen in maurischer Wüste), und der Liedeinsatz markiert damit auch jene Gemengelage in der Bundesrepublik der 1950er bis 1970er Jahre aus ›Gastarbeitermigration‹ einerseits und den touristischen Hinwendungen (in Form von echten Reisen und exotistischen Fernwehträumen) zu anderen Ländern andererseits. Die Wahl des Liedes in der Musikbox funktioniert aber nicht zuletzt wie eine Art Drehbuchanweisung und als erste Vorführung von Ali durch die Frauen in diesem Film: »Du schwarzer Zigeuner, komm spiel mir was vor«, singt Monosson, und Ali wird aufgefordert, mit Emmi zu tanzen.

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Abb. 27 Angst essen Seele auf (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1973/74)

deckt. Bei ihrer Arbeit schließlich wurde eine Kollegin gefeuert und durch ­Yolanda (Helga Ballhaus) »aus Jugoslawien« ersetzt, der nun Emmis Außenseiterposition zuge­wiesen wird. »Die werden schon wissen, oben, wie so was läuft«, kommentiert Emmi Yolandas wesentlich geringeren Stundenlohn und ist sich mit ihren deutschen Kollegin­ nen schnell einig, dass die neue Kollegin nicht in die Forderungen nach der längst überfälligen Lohnerhöhung eingeschlossen werden soll: »Ach wo – die ist doch in einer ganz anderen Lohngruppe, ist doch gar nicht nötig.« Die Kolleginnen (außer eben Yolanda) treffen sich zur Planung ihres Arbeitskampfs in Emmis Wohnung. Bei diesem Anlass ›stellt‹ diese ihren Ehemann ›aus ‹; sie lässt ihn seine Muskeln herzeigen, und die Frauen dürfen ihn gar anfassen, seine Haut befühlen: »Der sieht aber gut aus, Emmi, wirklich. Und so sauber!« – »Der wäscht sich, der duscht sogar, jeden Tag!« – »Und die Muskeln, die der hat!« – »Mach mal, fass ihn mal an.« – »Toll! Und die Haut ist so zart.« – »Er ist ja auch noch so jung. Aber er ist ein guter Kerl, wirklich, ein guter Kerl.« Erst lässt Ali die Prozedur über sich ergehen, in der Mitte des Raumes stehend, wie meistens im Film mit einem leuchtend weißen, engen T-Shirt und ebenso engen Jeans bekleidet, statuesk inmitten des kleinbürgerlichen Ambientes von Emmis guter Stube ausharrend. Dann aber bricht er wortlos aus der Situation, aus dem Kreis der ihn umgebenden Frauen aus, und beendet diese Ausstellung, diese Exposition als sexuali­ sierte und rassisierte Oberfläche des Begehrens: »Was hat er denn jetzt?« – »Tja – manchmal hat er eben seinen eigenen Kopf. Das macht die fremde Mentalität.« Ali flüchtet (nicht zum ersten Mal) zur Wirtin der Kneipe, Barbara (Barbara Valentin), mit

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der er bereits vor seiner Ehe ein einverständliches Verhältnis hatte. Barbara bietet ihm Couscous an, jenes Essen, das Emmi ihm nicht zubereiten will (»Du musst Dich doch langsam an die Verhältnisse hier gewöhnt haben!«), und muss dann zur Arbeit. Ali bleibt zurück, auf dem Bett sitzend, vom Türrahmen und dem roten Vorhang gerahmt, der bereits in einer früheren Szene ein markantes tableau vivant eingefasst hatte. In diesen ­ arbara, der Sequenzen buchstabieren der rote Vorhang am Fenster, das rote Kleid von B rot gerahmte Spiegel im Flur, Farbe gewissermaßen aus; ebenso führen sie die für den Film so prägende, vermittelnde Kadrierung buchstäblich vor Augen. Die Vermittlung durch Rahmen, Spiegel, ornamentale Architekturteile (Treppengeländer, Gitter) spielen eine wichtige Rolle als ästhetische Mittel des Melodramas und damit in dem, was die ›Negativität‹ von Fassbinders Politik ausmacht.7 Heute steht der Vorwurf der Negativität im Zentrum einer produktiven Lektüre der politischen Ästhetik Fassbinders, die sich gerade seiner Identitätsdekonstruktion widmet. Der Vorwurf der Negativität bezog sich zunächst darauf, dass seine Filme keine positiven Bilder zur Verfügung stellen. Seine Ästhetik des Pessimismus, ein Begriff, den Fassbinder selbst verwendete,8 wurde von vielen Kritikern als politische Ausweglosigkeit, als politisch deprimierend interpretiert, weil es darin nur Opfer, keine Revolution gebe. Prominent ist Richard Dyers Vorwurf, Fassbinder sei ein linker Melancholiker.9 Seine Filme würden zwar aus einer linken Perspektive gesellschaftliche Missstände aufzeigen, aber zugleich auf ihnen beharren. Es gäbe keine Versuche der marginalisierten Charaktere, sich zu emanzipieren: »Fassbinder’s films are politically depressing, not only because the characters are defeated but because, since we are to see them as beautiful victims, they don’t even try.«10 Einer der wenigen zeitgenössischen Kritiker, der, auf eine Art seiner Zeit voraus, die Wirksamkeit eines solchen Standpunkts erkannte, war Wilfried Wiegand, der 1974 Fassbinders Filme als ›nachrevolutionär‹ bezeichnete. In Wiegands Worten: nachrevolutionär [bedeutet] in einem ganz bestimmten Sinn auch […]: utopisch. Eine Utopie, die nicht mehr den naiven vorrevolutionären Traum einer besseren Welt ansteuert, sondern die Gebrochenheit einer negativen geschichtlichen Erfahrung in sich aufgenommen hat. Sie ist nicht irgendwo außerhalb unserer Welt, sondern sie steckt […] tief im Inneren unserer Welt.11







7 Mit Blick auf die Ausführungen in Kapitel 3 ist hier nochmal kurz auf die Unterscheidung von Fenster und Rahmen hinzuweisen, die Thomas Elsaesser und Malte Hagener für den Film vornehmen: »Das Fenster steht im Zeichen der Transparenz« während der Rahmen »die Aufmerksamkeit auf den Artefaktstatus und auf den Bildträger als solchen« lenkt (dies., Filmtheorie, S. 25). Der Rahmen erzeugt damit Opazität. Siehe auch Anm. 136 in Kapitel 2. 8 Vgl. Silverman, Male Subjectivity, S. 125. 9 Ein Begriff, den er selbst Walter Benjamin entlehnt, der diesen wiederum zur Beschreibung der Arbeiten von Erich Kästner und der Neuen Sachlichkeit nutzte (vgl. Richard Dyer: The Culture of Queers, London 2001, S. 176, Anm. 3. 10 Dyer, The Culture, S. 181.

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Aus heutiger Perspektive bedeutet gerade diese Infragestellung eines ›Außerhalb‹ die Plausibilität des Politischen bei Fassbinder. So betont Kaja Silverman gerade die Infragestellung von Identität bei Fassbinder, wie sie auch von Thomas Elsaesser notiert wurde. Fassbinder verweigert, so Silverman, jede Affirmation, jegliche Positivität und damit ganz grundsätzlich die Stabilität von Identität.12 Elsaesser sieht in Fassbinders Filmen Identität als »a movement, an unstable structure of vanishing points, encounters, vistas, and absences. […] It appears negatively, as nostalgia, deprivation, lack of motivation, loss.«13 Daher scheint auch die Einbindung von Modellen des Widerstands und der Subversion, wie Dyer sie bei Fassbinder vermisst, keine Alternative im Sinne des politischen Potentials seiner Filme.14 Das Politische wird hier nicht vorgegeben, vorgedacht oder vorge›spielt‹, und Identität wird bei Fassbinder nicht naturalisiert, in den Körper hinein verlagert, internalisiert und damit essentialisiert. Im Gegenteil, die imaginäre Basis von Identität und ihre Bedingtheit durch externe Strukturen werden vorgeführt – und zwar genau durch jene exzessive Rahmung, die in Angst essen Seele auf die Bildkomposition bestimmt. Die Kamera blickt, wann immer möglich, durch Fenster und Türrahmen, durch Gitter und Treppengeländer, Figuren blicken in Spiegel oder werden nur als Spiegelbild gezeigt.15 Die Kamera scheint so darauf hinzuweisen, dass es keinen direkten Zugang gibt zu den Objekten, die sie aufnimmt: Es sind im Grunde Maschrabiyya-shots, also Einstellungen, die die Vorstellung von Unmittelbarkeit ›brechen‹, so wie sie das Licht brechen und dirigieren. Fassbinder lenkt damit die Aufmerksamkeit auf die Künstlichkeit der Repräsentation – während er zugleich einen kritischen Kommentar abgibt zu der klaustrophobischen, einengenden, kleinbürgerlichen Welt, in der seine Figuren gefangen sind.16







11 Wilfried Wiegand: »Die Puppe in der Puppe. Beobachtungen zu Fassbinders Filmen«, in: Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.): Rainer Werner Fassbinder, Frankfurt/M. 1992, S. 29– 62, hier S. 59. 12 Vgl. Silverman, Male Subjectivity, S. 126. 13 Thomas Elsaesser zit. in Silverman, Male Subjectivity, S. 125f. 14 Vgl. Dyer, The Culture, S. 182. Dyer verweist hier gleichermaßen auf das Fehlen von Handlungsmöglichkeiten der Arbeiterklasse (›working class‹) wie auch auf Geschlechterpolitiken, die er innerhalb seines Kapitels zu »Reading Fassbinder’s Sexual Politics« fokussiert, einer unveränderten Neuauflage eines Artikels von 1979. Dyer relativiert seine Kritik an Fassbinders Filmpolitik und der, von ihm als geschlossen bezeichneten, Repräsentation von Opfern, die nicht handlungsfähig sind, indem er unter anderem darauf hinweist, dass Fassbinders Filme bessere Diskussionen hervorrufen als solche, die zunächst ›ideologisch akzeptabler‹ erscheinen (S. 184), was im Hinblick auf das politische Potential des Films interessant ist. 15 Vgl. dazu: Elsaesser, Fassbinder’s Germany, S. 58–59. 16 Vgl. Elsaesser, Fassbinder’s Germany, S. 58–59. Fassbinder wurde zu Angst essen Seele auf auch vorgeworfen, seine Figuren seien zu ›simpel‹, was so viel bedeutet wie: zu wenig ›real‹. Die Filmbewertungsstelle in Wiesbaden konnte sich aus diesem Grund nur mit Mühe zum Prädikat ›wertvoll‹ für den Film durchringen: Der psychologische Umriss der Figuren bliebe

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Zentral für Fassbinders Filme und ganz besonders auch für Angst essen Seele sind das Gesehenwerden – und das Sehen: »[T]o be, in Fassbinder’s world, is to be perceived, esse est percipi.«17 Die Figuren in Angst essen Seele auf sind allesamt darauf angewiesen, gesehen zu werden. Wie Kaja Silverman argumentiert, zeigt Fassbinder damit einen Grundbestandteil menschlicher Subjektivität auf.18 Selbst an den Stellen, an denen einzelne Figuren oder Gruppen von Figuren versuchen, sich den machtvollen Blick der Kamera anzueignen, also für das Blickregime (gaze) zu stehen, wird vorgeführt, dass dies nur eine Maskerade ist. So wird beispielsweise das Starren der Kneipenbesucher in der Eröffnungssequenz von Angst essen Seele auf von der Kamera nicht wiederholt, sondern in epischer Breite vorgeführt. Zuschauer werden dabei nicht in die sichere Position des »›on top of the action‹«19 befördert. Die visuelle Paranoia, die nach Elsaesser entsteht, weil zwei Strukturen, »the viewer/film relation and the relation of the characters to the fiction itself«,20 sich endlos gegenseitig spiegeln und verunsichern, wird bei Fassbinder bewusst aufrechterhalten.21 Fassbinder selbst spielt übrigens in mehreren seiner Filme Figuren – unter anderem auch in Katzelmacher –, die von Blicken verfolgt werden. Damit stellt er seine eigene Macht über die Kontrolle des Gesehenen in Frage, die er ja als Regisseur (vermeintlich) innehat. Im klassischen mainstream-Erzählkino wird die Differenz zwischen gaze (Blickregime) und look (der Blick als das verkörperte Sehen des Subjekts, von Mangel und Begehrensstrukturen geprägt) zumeist dadurch unkenntlich gemacht, dass der männliche Blick als Blickregime posiert, und Mangel auf das weibliche Subjekt – auf auf



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zu undeutlich. Michael Töteberg kommentiert hierzu, dass Fassbinder soziale Stereotypen ausstellt, ohne sie psychologisch abzuleiten oder explizit zu kommentieren (vgl. Michael Töteberg: Rainer Werner Fassbinder, Reinbek b. Hamburg 2002, S. 61). Fassbinder selbst hat sich gegen einen einfachen Realismus verwahrt; er wollte einen ›offenen Realismus‹, einen, der den Zugang nicht versperrt. Und das hieß für ihn: schöne und gemachte und inszenierte und hingetrimmte Filme, denn diese seien umso freier und befreiender (vgl. Michael Töteberg: Rainer Werner Fassbinder. Filme befreien den Kopf. Essays und Arbeitsnotizen, Frankfurt/M. 1984, S. 8). Dennoch hat er einen Verfremdungseffekt erzeugt, der in die Tradition Brechts gestellt wird (wie beispielsweise durch die Künstlichkeit der Sprache, oft noch gedoppelt durch die Nachsynchronisierung, wie auch in Angst essen Seele auf). Fassbinder formuliert dieses Zusammenspiel von Inszenierung und Verfremdung in seinen Filmen so: »Inszenierung soll so sein, dass sie einen Abstand hat und dass darüber eine Reflexion möglich ist.« (Fassbinder zit. in Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.): Rainer Werner Fassbinder, Frankfurt/M. 1992, S. 92) Und: »Aber da bin ich der Ansicht, dass jeder Zuschauer sie selbst mit seiner eigenen Realität auffüllen müsste. Und die Möglichkeit hat er halt auch, wenn eine Geschichte so einfach ist.« (Fassbinder zitiert in Töteberg, Rainer Werner Fassbinder, S. 81). Elsaesser, Fassbinder’s Germany, S. S. 64. Vgl. Silverman, Male Subjectivity at the Margins, S. 125–156. Elsaesser, Fassbinder’s Germany, S. 59. Elsaesser, Fassbinder’s Germany, S. 59. Vgl. Elsaesser, Fassbinder’s Germany, S. 59–60.

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Abb. 28 Angst essen Seele auf (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1973/74)

die Frau im Film – projiziert wird. Silverman führt nun aus, dass Fassbinder in seinen Filmen den Unterschied zwischen Blick und Blickregime kenntlich macht. Die Implikation des Blicks – gleich ob männlich oder weiblich – in Begehrensstrukturen wird dadurch vorgeführt, so Silverman, dass in Angst essen Seele auf Figuren solcherart als blickend inszeniert werden, dass sie eben nicht für das Blickregime, welches die Identität des anderen bestätigt oder negiert, stehen (auch wenn sie dies verschiedentlich versuchen), sondern für den libidinös investierten Blick, für erotisches Verlangen. Silverman bezieht sich exemplarisch auf eine Szene, in der Emmi und Ali im Bad sind. Ali ist gerade dabei, zu duschen. Wir sehen Ali als Reflexion im Spiegel, dann betritt Emmi das Bad und blickt auf das Spiegelbild, holt damit unseren Blick (den der Kamera) ein und führt beide damit parallel; sie hält inne und sagt zu ihm: »Du bist sehr schön, Ali.« Silverman betont, dass hier wichtig sei, dass nicht Ali selbst gezeigt wird, sondern sein Spiegelbild. Dies verdeutliche, dass es weniger der Körper selbst ist, der das erotische Spektakel darstellt, sondern seine Repräsentation. Silverman liest diese Szene auch als Umkehrung klassisch weiblicher Kodierung. Der aufgrund seines ›Andersseins‹ ohnehin nicht-phallische Körper Alis sei nicht nur der Ort, auf den das Blickregime gerichtet wird, sondern eben auch der Blick – der verkörperte, begehrende Blick.22 Silverman betont in ihrem, in dieser Hinsicht natürlich datierten,



22 Vgl. Silverman, Male Subjectivity, S. 138–140.

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Text, dass die feministische Filmtheorie zu erkennen habe, dass das Problem nicht sei, das Frauen zu ›Objekten des Begehrens‹ gemacht werden – denn jedes Subjekt ist auch immer Objekt des Begehrens –, sondern dass der männliche Blick versucht, sich sowohl als gaze, also als das Blickregime auszugeben, und zugleich seinen eigenen Mangel auf das weibliche Subjekt überträgt.23 Fassbinder zeige nun, dass auch das männliche Subjekt Objekt des Begehrens ist, sowie, dass es nicht im Besitz des gaze, des Blickregimes, ist. In dieser Lesart bleibt ›Rasse‹ jedoch der Funktion von Geschlecht subsumiert: Der Filmraum, die Beziehung zwischen Leinwand und Zuschauer_innen wird damit nur als vergeschlechtlicht, nicht auch als rassisiert, gedacht. Ali wird zwar in der Tat nicht im Sinne einer heilen Identität privilegiert, er trägt jedoch eine doppelte Last, die der Dekonstruktion von Männlichkeit und die des rassisierten ›Spektakels‹. Als Barbara nach ihrer Arbeit in der Kneipe wieder nach Hause kommt, liegt Ali zunächst bekleidet auf dem Bett, sie fragt ihn, was er tun möchte, und bittet ihn, zu bleiben (»Ich schlaf doch so schlecht alleine«). Während sie sich noch kurz im Bad frisch macht, verweilt die Kamera auf Ali, der sich auszieht und dann nackt im Zimmer steht, vor dem parallel zum Bildstrich ausgerichteten Bett, umrahmt von Vorhang und Tür, der Kamera frontal, und wie immer in stoischer Ruhe, zugewandt. Barbara kommt dazu, sie umarmen sich und fallen aufs Bett; ruhige verschlungene Körper, nunmehr von Dunkelheit umrahmt, nur zurückhaltende Bewegungen der Arme – und Abblende. Silverman erkennt hier sehr wohl, dass Ali als spectacle ausgestellt wird, allerdings wird für sie der Blick der Kamera auf den nackten Körper El Hedi ben Salems, zum Zeitpunkt des Entstehens des Films im Übrigen auch Fassbinders Liebhaber, die fortgesetzte Exposition also, im Blick Barbaras aufgelöst, ›redefiniert‹, der gaze verwandelt sich in ihren begehrenden und akzeptierenden Blick.24 Meiner Ansicht nach löst Barbara den Blick der Kamera jedoch nicht auf, sie tritt lediglich hinzu. So wie wir als Zuschauer ebenfalls hinzutreten.25 Ali ist derjenige, dem das Ausgestelltsein gegenüber den Blicken gilt, eine Erfahrung, die Emmi erst dann macht, als sie sich mit ihm zusammen in der Öffentlichkeit zeigt. Während alle Figuren des Films in der Tat nur in und durch Blicke konstituiert werden, ist nur Ali dem Blick als Gezeigter,



23 Vgl. Silverman, Male Subjectivity, S. 143–145. 24 Vgl. Silverman, Male Subjectivity, S. 143. 25 Wie auch in der Szene, die sich nach der ersten gemeinsam verbrachten Nacht von Emmi und Ali vor dem Haus abspielt. Sie verabschieden sich zunächst förmlich, geben sich die Hand und wünschen sich jeweils einen guten Tag, dann gehen sie in verschiedene Richtungen los, um sich kurz darauf zeitgleich nochmals zueinander umzudrehen. Dieser schüchterne Blickwechsel der beiden wird durch einen Kameraschwenk nach oben, zu der aus dem Fenster gelehnten Nachbarin aufgelöst: Deren Beobachtung markiert so den Eintritt der Zuschauer_in in den Film. Das eigene Zusehen wird durch die Nachbarin parallelisiert, wir werden gewissermaßen ertappt beim Zusehen. Auch Elsaesser hebt diese Szene hervor, vgl. Elsaesser: Fassbinder’s Germany, S. 60.

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als Ausstellungsobjekt ausgesetzt. Kurz vor der vermeintlichen Zäsur durch die Hochzeitsreise sitzen sie zusammen im Biergarten, umgeben von leeren Stühlen und dem, als beobachtendem Chor aufgestellten, Personal. »Alles kucken«, meint Ali. Emmi wehrt zunächst noch ab: »Mach dir nichts draus, sind bloß neidisch«, um dann in Tränen auszubrechen und hinzuzufügen: »Alle, alle, die sind alle bloß neidisch!«, und: »Aber natürlich macht es mir was aus, es macht mich kaputt«, und schließlich, an den ›Zuschauerchor‹ gerichtet: »Glotzt doch nicht so, ihr blöden Schweine! Das ist mein Mann! Mein Mann!« Nach der Rückkehr des Paares wird sich, wie bereits erwähnt, in der Tat einiges ändern. Emmi darf ihren Platz im sozialen Gefüge aus Nachbarschaft, Familie, Arbeitsplatz wieder einnehmen. Die Last des »Angeglotztwerdens«, des »Alles kuckt«, trägt ab jetzt Ali ganz alleine. Gerade weil die Geschichte des Films so komplex aufgeladen ist mit den Verwerfungen und Gefügen, den Intersektionalitäten von Alter, Sex, Geschlecht und ›Rasse‹, liegt es nahe, hier erneut auf Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken zurückzukommen, einen Text, dessen schwierige und widersprüchliche Einlassungen zur Sexualität der »farbigen« und der »weißen Frau«26 Rey Chow so luzide analysiert hat.27 Fanon beschreibt darin, wie er sich besonders im Kino als Objekt der Anschauung heimgesucht fühlt: I cannot go to a film without seeing myself. I wait for me. In the interval, just before the film starts, I wait for me. The people in the theater are waiting for me, examining me, waiting for me. A Negro groom is going to appear. My heart makes my head swim.28





26 Die aus heutiger Sicht zum Teil schwer zu ertragende Wortwahl wurde in der neueren englischen Übersetzung an vielen Stellen angepasst. Ich halte das jedoch nicht nur für historisch ungenau, sondern auch für kontraproduktiv. Siehe dazu Sunit Singhs Buchbesprechung, in: Platypus Review 21 (March 2010), platypus1917.org/2010/03/15/book-review-frantz-fanonblack-skin-white-masks; zuletzt aufgerufen am 27.09.2014. Die deutsche Neuauflage liegt weiterhin in der Übersetzung von Eva Moldenhauer aus dem Jahr 1980 vor und wurde im Sprachgebrauch nicht revidiert. 27 Chow, The Politics of Admittance. 28 Da in der deutschen Übersetzung ein ganzer Satz verloren gegangen ist – »Ceux qui sont devant moi me regardent, m’épient, m’attendent«: »The people in the theater are waiting for me, examining me, waiting for me« –, zitiere ich hier die englische Übersetzung, auch weil dieser Text (in der ersten Übersetzung von Charles Lam Markmann von 1967) die Grundlage für einen Großteil der Fanon-Rezeption bildet. Allerdings geht auch im Englischen einiges verloren: die Verräumlichung/Hierarchisierung (»ceux qui sont devant moi«) und das Überwachen/Ausspionieren (»épier«, wobei »examiner« zwar eher medizinisch-sezierend klingt, aber nicht weniger aggressiv). In der deutschen Übersetzung von Eva Moldenhauer von 1980 lautet dieser Absatz wie folgt: »Ich kann nicht ins Kino gehen, ohne mir selbst zu begegnen. Ich warte auf mich. In der Pause, kurz vor dem Hauptfilm warte ich auf mich. Ein Neger-Groom wird auftreten. Das Herz verdreht mir den Kopf.« (Fanon, Schwarze Haut, S. 130–131) Ein weiteres Problem stellt der Begriff »entracte« dar, »the interval« – in der deutschen Version die Pause vor dem Hauptfilm. Mit dem im Französischen verwendeten

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Der schwarze Entertainer/Bräutigam/Diener/Knecht,29 der auf der Leinwand erscheinen wird – so wie Ali –, macht aus Fanon, dem Kinogänger, dem Zuschauer, selbst das Objekt der Anschauung. Was ich mit Fanon ins Spiel bringen will, ist, dass schwarze Männlichkeit in einem rassisierenden Kontext immer schon den Objektstatus innehat (der nicht phallische, aber durch den Penis markierte Körper – »Schwanz kaputt«, wie Ali einmal in der Bar auf eine eindeutige Avance reagiert), der Silverman zufolge die fehlschließende Identifizierung von Blickregime und Männlichkeit entlarvt: The Negro groom is going to appear: Ali. Der ›nicht ganz schwarz, aber doch schwarz genug‹ ist, ›aber er wäscht sich, der gute Kerl‹. Für Silverman wird die Tatsache, dass Ali zum erotisierten ›Spektakel‹ gemacht und zudem feminisiert wird (als Objekt auf dem Markt des Begehrens), dadurch filmisch entgegnet, dass Alis Verortung im Begehren »through the agency of the look«30 stattfindet. Katja Diefenbach hat die Sache so auf den Punkt gebracht: »Kein Ausländerfilm, sondern der Migrant als Liebesobjekt, den die Leute kaputt machen wollen […], was tendenziell doof gelaufen ist, weil damit eine herrschende Metapher verdoppelt wurde.«31 Aber eben nur tendenziell, das Ganze ist eben kompliziert. So fragt Diefenbach auch: »Oder beginnt hier der Hass gegen das Bestehende? Mit der Verdopplung des Unerträglichen?«32 Den schwarzen Körper als ›site of the look‹ und damit des Begehrens zu inszenieren, ist jedenfalls nicht so voraussetzungslos, wie es bei Silverman den Anschein hat, zumindest nicht als Objekt des Begehrens der weißen Frauen in Angst essen Seele auf. Denn wie Kobena Mercer in seiner wegweisenden Lektüre und Relektüre von nackten schwarzen Körpern, Penissen und Blickverhältnissen ausgeführt hat,33 in



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»l’entracte« ist vermutlich eher ein Pausenfilm gemeint, also das Genre der kurzen Unterhaltungsfilme, voller Klischees wie eben dem negro groom, dem schwarzen Entertainer. Groom bedeutet Stallbursche, Knecht, Diener, Kammerdiener, aber auch Bräutigam. Hier ist vermutlich der schwarze Minstrel-Entertainer gemeint, jene Witzfigur, die mit einem Blumenstrauß in der Hand versucht, der (weißen) Frau schöne Augen zu machen, und sich damit der Lächerlichkeit preisgibt (Dank an Astrid Kusser und Tobias Nagl für diese Hinweise). Auf die Figur des Ali / die Vorführszene passt dieses ganze Bedeutungskonglomerat jedenfalls perfekt. Silverman, Male Subjectivity, S. 143. Katja Diefenbach: »Einführung: Verrat«, in: b_books magazin, Ausgabe 1, Berlinale 2007, http:// www.b-books.de/magazin/fassbinder/fassb-einlei-katja.html; zuletzt abgerufen am 11.11.2014. Diefenbach, Einführung: Verrat, o.S. Die vielleicht bekannteste Lektüre und Relektüre des ›schwarzen Penis‹ und des ›weißen Blicks‹ stammt aus Kobena Mercers Auseinandersetzung mit den Fotografien Robert Mapplethorpes (vgl. Kobena Mercer: »Imagining the Black Man’s Sex«, in: Patricia Holland/ Jo Spence/Simon Watney (Hg.): Photography/Politics: Two, London 1987, S. 61–69, ders.: »Reading Racial Fetishism: The Photographs of Robert Mapplethorpe«, in: Emily Apter (Hg.): Fetishism. Gender, Commodity, Vision, Ithaca/NY 1993, S. 307–329, ders.: »Skin Head Sex Thing. Racial Difference and the Homoerotic Imaginary«, in: Bad Object-Choices (Hg.): How Do I Look? Queer Film and Video, Seattle 1991, S. 169–210.

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der er sich selbst als genießenden (und zugleich mit Ängsten beladenen) Zuschauer zulässt, ermächtigt, in den Blick nimmt, wäre dieses Blick- und Begehrensverhältnis zumindest um eine homoerotische Komponente zu erweitern. So impliziert Mercer sich beispielsweise als aktiv Blickender im Verhältnis zu Mapplethorpes Fotografien schwarzer nackter Männer, als schwules, als begehrendes Subjekt. Aber es wäre zu einfach, darüber wiederum Parallelen zu Fassbinder zu ziehen, zu dessen Begehren nach seinem Hauptdarsteller, mit dem er mehrere Jahre liiert war, aber es zeichnet sich natürlich doch ab, dieses Begehren, in der, wie bei Mapplethorpe, statuesken Inszenierung seines nackten Körpers.34 Der Film bringt mit Alis Ausgestelltsein also einen weiteren zentralen marker ins Spiel: Sex. Sex und Haut(farbe) sind gewissermaßen key oder super signifiers von ›Rasse‹, die sich markierend in, auf und unter Oberflächen einschreiben. Als key signifiers bezeichne ich sie deswegen, weil sie für eine massive Überdeterminierung stehen, die sich auch in jenen komplizierten schwarz-weißen, hetero- und homosexuellen Ökonomien ausdrückt, wie sie neben Angst essen Seele auf auch in Fassbinders Whity (BRD 1970) und in (unter anderem deshalb höchst umstrittenen) Filmen wie Berlin-Harlem (Lothar Lambert, BRD 1975), Baby, I Will Make You Sweat (Birgit Hein, D 1995), Fremd gehen. Gespräche mit meiner Freundin (Eva Heldmann, D 2000), Vers le sud (Laurent Cantet, CA/F 2005), Paradies: Liebe (Ulrich Seidl, A/D/F 2012), aber auch in Videoinstallationen wie White Women (Loulou Cherinet, S 2002) thematisiert wird, und in denen es oft, wie in Angst essen Seele auf, um die Erfahrung weißer Frauen mit Desexualisierung im Prozess des Alterns geht und um eine spezielle Form weiblichen Sextourismus. Über die Verbindungslinien von Sex(ualität), jenem »besonders dichte[n] Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen«,35 und ›Rasse‹ wurde bereits umfassend geforscht und publiziert.36 Ich möchte hier lediglich



34 Siehe zur Geschichte von El Hedi ben Salem: Viola Shafiks Dokumentarfilm Ali im Paradies (D/EG 2011). 35 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen, übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/M. 1992, S. 125. 36 U.a. Laura Ann Stoler: Race and the Education of Desire. Foucaults History of Sexuality and the Colonial Order of Things, Durham/London 1995; Anne MacClintock: Imperial Leather. Race, Gender and Sexuality in the Colonial Contest, New York 1995; Gilman, Rasse, Sexualität, Seuche; Robert C. Young: Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture and Race, London/New York 1995; siehe auch Fatima El-Tayeb: Schwarze Deutsche und der Diskurs um ›Rasse‹ und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt/M./New York 2001, S. 148ff, Alexandra Przyrembel: »’Rassenschande‹: Sexualität, ›Rasse‹ und das ›Jüdische‹ vor NS-Gerichten in den Jahren 1935 bis 1945«, in: Historische Anthropologie 3 (Dez 2004); von Braun/Wulf, Mythen des Blutes; Annette Dietrich: Weiße Weiblichkeiten. Konstruktionen von ›Rasse‹ und Geschlecht im deutschen Kolonialismus, Bielefeld 2007; Ina Kerner: Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus, Frankfurt/M. 2009; Eva Blome, Reinheit und Vermischung. Literarisch-kulturelle Entwürfe von Rasse und Sexualität (1900–1930), Köln

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erneut hervorheben, dass (Haut-)Farbe auch im Ausländerdiskurs eine Rolle spielt. So werden schwarze Deutsche regelmäßig durch die so typische Frage »Wo kommst Du eigentlich her?« in diesem Diskurs explizit als nicht zugehörig, nicht deutsch, adressiert.37 Und, wie »Akay, 29, vom Flohmarkt« in Feridun Zaimoğlus Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rand der Gesellschaft es ausgedrückt: Honey, ich liefer dir den rechten zusammenhang, du willst es wissen, ich geb dir das verschissene wissen: wir sind hier allesamt nigger, wir haben unser ghetto, wir schleppen’s überall hin, wir dampfen fremdländisch, unser schweiß ist nigger, unser leben ist nigger, die goldketten sind nigger, unsere zinken und unsere fressen und unser eigner stil ist so verdammt nigger, daß wir wie blöde an unsrer haut kratzen, und dabei kapieren wir, daß zum nigger nicht die olle pechhaut gehört, aber zum nigger gehört ne ganze menge anderssein und andres leben. [W]as auch immer du anstellen magst, den fremdländer kannst du dir nimmer aus der fresse wischen.38





2011; Gabriele Dietze: Weiße Frauen in Bewegung. Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken, Bielefeld 2013. 37 Vgl. dazu Ayim, Die afro-deutsche Minderheit, S. 71. Sowie außerdem die Arbeiten von Peggy Piesche, Tobias Nagl, Tina Campt und Fatima El-Tayeb, die auch als Co-Drehbuchautorin an Angelina Maccarones Alles wird gut mitgearbeitet hat, einer Komödie, in der Schwarzsein, Deutschsein und Lesbischsein zusammenkommen. Maccarones filmisches Oeuvre ist gekennzeichnet von der Frage, wie mit Mitteln des Spielfilms und des Fernsehfilms Fragen des Rassismus gerade in Verbindung mit Sexualität einerseits mainstreamtauglich, andererseits kritisch inszeniert und angegangen werden können. So gelangte die sehr produktive Regisseurin in die Schlagzeilen, als sie einen Tatort (Wem Ehre gebührt) realisierte, in dem es um einen Mord infolge von Inzest in einer ›türkischen‹ Familie ging und nebenbei noch um die Frage des Verhältnisses von Sexismus und Rassismus (Opferkonkurrenz, Hierarchie oder komplexe Überschneidungen?), um die aktuellen Diskussionen über Ehrenmord, die Komplexität von Kopftuchstrategien und die Ubiquität von sexueller Gewalt sowie schließlich um Vorstellungen von Familie und Reproduktion. Massiv kritisiert wurde Maccarone dafür, dass sie die Familie, in der der Inzest stattfindet und der Mord sich ereignet, als Aleviten in ihre Geschichte geschrieben hat, und Inzest zu den klassischen rassistischen Vorurteilen gehört, die sunnitische Muslime gegen Aleviten ins Spiel bringen. Was meiner Ansicht nach den Diskussionen um den Film gefehlt hat, war eine Auseinandersetzung mit einer filmischen Form, die das dezidierte antirassistische Anliegen der Regisseurin (die von den Reaktionen vollkommen überrascht wurde) scheitern ließ: Rassismus wird hier anhand von Kategorisierungen durchgearbeitet, Antirassismus als reine Repräsentationsaufgabe betrachtet. Das heißt, dass die Problemfelder eines nach dem anderen ›angekreuzt‹ werden, aber in der Strategie wird immer etwas übersehen werden müssen. Rassismus wird so nur von seinen Effekten her gedacht (siehe kritisch dazu Bojadžijev, Die windige Internationale). 38 Feridun Zaimoğlu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rand der Gesellschaft, Hamburg 1995, S. 25–26.

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Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, das die Frage nach der Herkunft weiterhin zulässt und informiert, bringt den nächsten super signifier ins Spiel: Blut.39 Auch heute noch ist das Staatsangehörigkeitsrecht weitgehend vom ius sanguinis, dem Recht des Blutes, bestimmt; und seine Geschichte berichtet von vielzähligen Verknüpfungen von Blut und ›Rasse‹ und Sexualität. Die Weitergabe des Rechtes, deutsch zu sein, erfolgt durch Reproduktion, also durch Sexualität und Blutkreisläufe. Wobei davon ausgeschlossen wiederum jene sind, die innerhalb der Logik des kolonialen Rassismus nicht dazu gezählt werden: Das ›schlechte schwarze Blut‹, welches das ›weiße Blut‹ kontaminiert, stellt auch einen zentralen antisemitischen Topos dar, in dem die Gefahr der Verunreinigung durch das giftige jüdische Blut imaginiert wird. Der Topos der Rassenschande wiederum zeigt, dass die Bilder des ›bösen Blutes‹ sexuell aufgeladen sind,40 oder allgemeiner, dass die auf ›Rasse‹ bezogene Blutsmetaphorik stets sexuell konnotiert ist.41 Beides, Blut und Sex, spannen weitreichende Themenfelder auf, aus denen ich hier nur einige Aspekte herausgreife, um ihre Virulenz in dem, was ich in dieser Arbeit in den Blick zu nehmen versucht habe, deutlich zu machen. Shirins Hochzeit ist bereits als Titel höchst beredt. Shirins (Ayten Erten) Geschichte ist nicht die ihrer Migration, sondern eine der (Geschlechter-)Verhältnisse: des Verhältnisses zu einem Mann, dann zu einem anderen, in einem Land, dann in einem anderen – getrieben von nur einem Wunsch, dem, eins zu werden mit Mahmud (Aras Ören), der Jugendliebe, dem Versprochenen. Als sie Mahmud schließlich trifft, als Prostituierte, die im Gastarbeiterwohnheim ihre Dienste anbietet, werden sie Sex haben, aber er wird sie nicht erkennen. Er erkennt sie nicht aufgrund der Verfremdung in/durch die Fremde (Shirin hat sich äußerlich ›assimiliert‹: vom Kopftuch zur blondierten Sexarbeiterin). Vor allem aber kommt hier meiner Ansicht nach der christliche Erkenntnisbegriff ins Spiel, den ich bereits in 2.3 erwähnt hatte: Erkennen steht hier für den Akt der geschlechtlichen Vereinigung. Mahmud erkennt sie also nicht mehr, weil





39 Die Bedeutungsvielfalt von Blut, seine mediale Funktion, seine Wirkmacht in Vorstellungen von Natur und Kultur, sein Ort in Religion, Literatur, den Künsten, den Wissenschaften – und zwar in allen Kulturen – macht es zu ebenjenem super signifier und zu einem fait social total (Marcel Mauss), wie auch die Herausgeber des Sammelbandes Mythen des Blutes (Frankfurt/M. 2007, S. 17), Christina von Braun und Christoph Wulf, formulieren. Siehe zu den Blutkreisläufen und der Blutmetaphorik auch Anja Lauper (Hg.): Transfusionen. Blutbilder und Biopolitik, Zürich/Berlin 2005. 40 Vgl. Christina von Braun: »Blut und Tinte«, in: dies./Christoph Wulf (Hg.): Mythen des Blutes, Frankfurt/M. 2007, S. 344–362, hier S. 344. 41 Vgl. El-Tayeb, Schwarze Deutsche, S. 150, Anm. 172.

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die Geschichte sie ihrer Jungfräulichkeit beraubt hat, und weil die Voraussetzung für die christliche Vereinigung nicht mehr gegeben ist. Mahmud war Shirin versprochen gewesen, ein Versprechen, das, wie es scheint, von den Umständen gebrochen wurde (Mahmud muss ins Ausland, nach Deutschland, zum Arbeiten), aber Helma Sanders-Brahms‹ Shirin besteht auf der Unanfechtbarkeit dieses Versprechens auf Einheit. Darin kommt die christliche Vorstellung vom Sakrament der Ehe zum Vorschein, von der Geschlechterdifferenz als »Schließen der Wunde«.42 Christina von Braun führt mit Bezug auf Micha Brumlik die Differenz zwischen jüdischem und christlichem Denken und der symbolischen Geschlechterordnung anhand des Begriffs der Erkenntnis aus. Im alten Testament bezeichnet Erkenntnis zum einen Geschlechtsakt und Zeugung, zum anderen die Kenntnis der Unterscheidung der Geschlechter.43 Mit der christlichen Geschlechterordnung »trat das Ideal der Symbiose, die Aufhebung der Unterscheidung zunehmend in den Vordergrund.«44 Dieses Ideal fällt zeitlich mit der Etablierung der Kirche und dem Auftauchen von Bildern in den Gotteshäusern zusammen.45 Der Erkenntnisbegriff wird zu einem Synonym für »›Identifizierung‹ im Sinne von ›identisch sein‹«.46 Wie Christina von Braun ausführt, ist dieses Ideal nicht von der christlichen Ikonophilie zu trennen, von der Verehrung des Bildes, welches eine integrale Funktion in der Vereinigung mit Gott spielt: »Ein solcher Begriff von ›Erkenntnis‹, der ›Ähnlichkeit‹, ›Wesensverwandtschaft‹ und ›Bildgemäß­heit‹ bedeutet, entspricht dem Heilsgeschehen beim Heiligen Abendmahl, wo ebenfalls eine Umgestaltung des Menschen durch die ›vereinigende Erkenntnis‹ stattfindet.«47 Shirin ist also nicht mehr identisch, sie hat ihre Ähnlichkeit eingebüßt (jene ›Wirklichkeit‹, für die Schauspielerin und Regisseurin so angegriffen wurden48). Anstatt Shirin also ›zu erkennen‹, hat Mahmud nurmehr Sex mit ihr, wodurch der Film den ›ursprünglichen‹, die Geschichte in Bewegung setzenden Verlust Shirins betont, nämlich den der Ehe als unauflösbarer Einheit. Die Brüche und Verluste, die Shirin in ihrer Migrationsgeschichte erleidet, werden auf diesen einen entscheidenden Verlust zurückgeführt, der letztlich, so die Logik, aus der die Migration auslösenden, patriarchalen Situation, die sich hier wie dort wiederholt, entspringt: die Differenz des ›Orients‹ als Auslöser für den Verlust der christlichen Einheit. Nebenbei wird Migration in diesem Film nur als Verlustgeschichte erzählbar imaginiert. Die Religiosität in Shirins Hochzeit, die auch in diesem Film weder eine buchstäbliche noch eine zufällige ist (um Gertrud Kochs Worte auszuleihen49), ermöglicht interessanterweise



42 43 44 45 46 47 48

Von Braun, Bilderverbot, S. 183. Vgl. von Braun, Bilderverbot, S. 183. Von Braun, Bilderverbot, S. 184. Vgl. von Braun, Bilderverbot, S. 184. Von Braun, Bilderverbot, S. 185. Von Braun, Bilderverbot, S. 185. Siehe 2.3.

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jedoch ebenfalls ein affirmatives Verhältnis zur ›anderen‹ Religion, zum Islam. Die Trennlinie zwischen profan und heilig wird im Islam anhand der Unterscheidung rein/ unrein gezogen, die sich wiederum in der Regulierung von innen und außen wiederfindet. Die auch in diesem Sinne als unrein bzw. entheiligt markierte Shirin trifft sich hier mit der Idee der Unreinheit im Sinne des christlichen Erkenntnis- und Ehebegriffs.50 Die blutig inszenierte Entjungferung durch den Chef parallelisiert die öffentliche Zurschaustellung des Blutes (wie jenes Blut, dessen Ausbleiben bei Yasemin – nach der Hochzeit der älteren Schwester – den dramatischen Wendepunkt markiert), das in islamischem Brauchtum für die »Verletzung des Unverletzlichen« steht, die beweist, »dass die Schwelle des heiligsten/privatesten Raumes, den es im menschlichen Körper gibt, nicht schon zuvor unrechtmäßig überschritten wurde.«51 Das durchstoßene Jungfernhäutchen, so Ludwig Ammann, wird daher auch sinnfällig als ḥiǧȃb bezeichnet, »es handelt sich um den letzten, entscheidenden ›Vorhang‹«.52 Jacques Derrida hat den Begriff des Hymens für eines seiner zahlreichen liminalen Konzepte herangezogen. In seiner Mallarmé-Lektüre Die zweifache Séance führt Derrida den Begriff des Hymens (gr.-lat.: Häutchen) als einen anderen Namen für das ›Zwischen‹ ein: »[D]as Hymen, Vereinigung zwischen dem Gegenwärtigen und dem Nicht-Gegenwärtigen«53 steht für grundsätzliche Unentscheidbarkeit (weder Vereinigung noch Trennung, weder innen noch außen): Dazwischen (entre), nicht Zentum (centre). Seine Etymologie verweist auf weben und flechten, auf (Spinn-)Gewebe, Netz und auf grundsätzliche Unabschließbarkeit: »[E]s macht allen Ontologien […] einen Strich durch die Rechnung.«54 Als Begriff soll das Hymen daher auch die Vielfältigkeit der Geschlechterdifferenz simulieren. Innerhalb feministischer Kritik ist er jedoch umstritten, da der (heute) immer weiblich konnotierte Begriff Gefahr läuft, ›die Frau‹ als Metapher der Unentscheidbarkeit zu vereinnahmen – die Frau bzw. »der weibliche





49 Vgl. Anm. 198 in 3.5. 50 Ich beziehe mich nur auf das im Islam wie im Christentum gleichermaßen geteilte Jungfräulichkeitsideal. Von Braun und Mathes führen hingegen die jeweils unterschiedliche kulturelle Logik aus, wonach das Hymen im Christentum als Mittel des Zugangs zum Göttlichen steht, im Islam hingegen für dessen Unzugänglichkeit (vgl. dies, Verschleierte Wirklichkeit, S. 191). Wie die beiden Autorinnen ausführen, begegnet der Westen im Schleier – und im Hymen und den Szenen seiner blutigen Zurschaustellung auch in den Filmen (vgl. ebd., S. 190) – seiner eigenen Vergangenheit. Auf diese ›Schnittstelle‹ kommt es mir hier an, trotz der Ungenauigkeit gegenüber den Unterschieden. Zum heiligen (unverletzlichen) Charakter der Frauen und des Hauses im Islam, der darin gründenden Separierung und der wiederum damit verbundenen Macht der Fortpflanzung, die als heilig gilt, siehe Ammann, Privatsphäre. S. 90/91. 51 Ammann, Privatsphäre, S. 91. 52 Ammann, Privatsphäre, S. 91. 53 Jacques Derrida, Dissemination, übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Wien 1995 [1972]. 54 Derrida, Dissemination, S. 241.

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Körper […] als Schauplatz des Symbolischen« in »beiden Kulturen«.55 Und so taucht auch bei Derrida und/mit Mallarmé die Gleichsetzung von Hymen und Schleier auf, jene imaginäre Gleichsetzung, durch die sich, so von Braun und Mathes, das westliche Subjekt vor der Begegnung mit dem tatsächlich Geheimen schützt, »einem Geheimnis, das nicht immer schon der Definitionsmacht des Subjekts entspringt«:56 Das Hymen, Verzehrung der Unterschiedenen, Kontinuität und Vereinigung (confusion) des Koitus, Heirat, vereinigt sich mit dem, von dem es abzustammen scheint: das Hymen als Schutzschirm (écran protecteur), Schmuckkästchen (écrin) der Jungfräulichkeit, als vaginale Wand, als äußerst feiner und unsichtbarer Schleier, der […] sich zwischen dem Drinnen und dem Draußen der Frau und folglich zwischen dem Wunsch und der Erfüllung hält. […] Mit der ganzen Unentscheidbarkeit seines Sinns findet das Hymen nur statt, wenn es nicht stattfindet, wenn nichts wirklich geschieht, […] wenn der Schleier zerrissen wird, ohne es zu sein/ohne das Sein […].57

Die Parallelisierung von heilig/unheilig, rein/unrein im christlichen und im islamischen Sinn, die in Shirins Hochzeit stattfindet, erlaubt daher auch nur einen Ort für Shirin, den des Opfers, auf beiden Seiten. Shirins Opferstatus wird in dem Film vor allem durch die beiden Blutbilder gekennzeichnet. Das eine zeigt das Rinnsal des Blutes nach der Vergewaltigung durch ihren Noch- oder Gerade-nicht-mehr-Arbeitgeber, wie es mit Wasser vermischt in den Abfluss der Dusche läuft, das zweite markiert das Ende des Films, welches auch Shirins Ende ist: Sie wird erschossen, von ihrem neuen Zuhälter, und liegt im Staub der Straße, dahingestreckt mit ausgebreiteten Armen und mit einem Blutfleck, der wie eine Mischung aus der Wunde des Gekreuzigten (die Wunder der Erkenntnis des ungläubigen Thomas) und einer zweiten Entjungferung erscheint. Shirin wird aber auch geopfert, weil damit im christlichen Sinne ein ›Gewinn‹ steht. Eine Vorstellung, die eine wichtige Funktion im Victim Feminism des Second-wave-Feminismus der 1970er Jahre einnahm, welcher wiederum eine wichtige Rolle in der Herausbildung der Identitätspolitiken spielte, wie Gabriele Dietze in Weiße Frauen in Bewegung ausführt. Im deutschen Wort Opfer, so Dietze, ist die doppelte Bedeutung von sacrifice und victim unsichtbar, aber nichtsdestotrotz darin aufgehoben. Die Heiligung ist damit das große Versprechen des Opferseins: »Die abendländischen Opferlogik sieht Reziprozität vor. Das Opfer in der Antike wurde durch ein Geschenk der Götter belohnt.«58 Denn: »In der Aufklärung säkularisiert sich die Opferlogik in eine Vertragslogik des Tausches oder in eine instrumentelle Logik des Tausches.«59 Genau auf dieser Logik basiert auch der Victim Feminism, eine der unglücklichen

55 56 57 58 59

Kreuzer, Die Kollision, S. 89; Hervorh. N.H. Von Braun/Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 186. Derrida, Dissemination, S. 237/238; Hervorh. N.H. Dietze, Weiße Frauen, S. 347. Michael Reiter, zit. in Dietze, Weiße Frauen, S. 347, Anm. 73.

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Nachfolgerinnen des radikalen Feminismus in den 1970er Jahren, in dem der Körper zum strategischen Terrain, zum Hebel künftiger Identitätspolitik wurde: Wendy Brown hat in ihrer Analyse moderner Identitätspolitik, States of Injury (1995), darauf hingewiesen, dass jede politisch ausrichtbare Opfererzählung auf dem verletzten Körper basiert […]. Die neu geschaffenen ›Identitäten‹ aber, die in ihrer Entstehung ursprünglich mit Machtansprüchen und Women’s Power konnotiert waren, wandeln sich nun in Opferidentitäten, die ihre politischen Ansprüche aus dem Ausmaß der wehrlosen Objekthaftigkeit gegenüber fremden Übergriffen ableiteten. Die Skala der Leiden und damit auch der Ansprüche an die Gesellschaft bemisst sich nach dem Grad der Verletzung. Eine ›Kultur der Klage‹ […] bedient sich einer Sprache des Schmerzes.60

Auch heute scheinen im Opferstatus »die stärksten Subjekt-Effekte«61 zu liegen, wie Thomas Elsaesser mit Blick auf Fassbinders Filme formuliert hat. Jenes Opfer, das auch so zentral in den vielen Diskursen zur Migration figuriert, paradigmatisch im Diskurs der Zwangsprostitution und des Trafficking, wie ich bereits ausgeführt habe. Viktimisierung hat darin die Funktion, zu ›entschärfen‹, genauer: zu entpolitisieren. Zugleich findet damit eine Einschreibung in Hegemoniefähigkeit statt. Das Bild des Opfers ist (be)greifbar/beschreibbar, von links wie rechts gleichermaßen: Der humanitäre Diskurs der Migration(sverhinderung) wird in einer bestimmten Konstellation damit hegemoniefähig62. Mahmud erkennt Shirin also nicht, und das, obwohl sie Opfer ist und Opfer bringt. Er erkennt sie nicht zuletzt auch deswegen nicht, weil der sexuelle Akt als ökonomische Transaktion stattfindet (und eben nicht als Geschlechtsakt im religiösen Sinne). Wie Turna in 40 qm Deutschland wird auch Shirin zu Beginn des Films im Kontext der ländlichen Türkei einem Ehemann gegen Bezahlung des Brautgeldes quasi ›verkauft‹. Die deutlich als archaisch und patriarchal konnotierte Szene (für das Archaische steht die ländliche Umgebung, die altmodische, traditionelle und dörfliche Kleidung, für das Patriarchale der Ausschluss der zukünftigen Braut aus den Verhandlungen) steht am Anfang des Dramas, das mit Shirins Tod endet, die zudem als Kreuzigungszitat ins Bild gesetzt wird: Neben ihrer Leiche wird der Filmtitel eingeblendet. Shirins Tod ist ihre Hochzeit (siehe Abb. 29). Aber wie auch der Verlust der Jungfräulichkeit, das verletzte Hymen, Shirin in christlicher und muslimischer Hinsicht unrein werden lässt – das Hymen in der Tat als Zeichen des Weder-noch, aber eben auch des Sowohl-als-auch –, ist auch die Transaktion, die die Zirkulation Shirins in Gang setzt, Ausdruck sowohl des einen wie auch

60 Dietze, Weiße Frauen, S. 342. 61 Vgl. Thomas Elsaesser: »Der nicht versöhnte Sohn«, in: taz (31.05.2005), http://www.taz.de/ 1/archiv/?%252520id=archivseite&dig=2005/05/31/a0179; zuletzt abgerufen am 10.11.2014. 62 Vgl. Karakayalı, Gespenster, S. 228.

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Abb. 29 Shirins Hochzeit (Helma Sanders-Brahms, BRD 1976)

des anderen religiösen Kontextes. Wie Christina von Braun ausführt, funktioniert die Ikone innerhalb der christlichen Ikonophilie als »zirkulierende Münze, die dem abstrakten Gottesbild seine notwendige Glaubwürdigkeit und ›Deckung‹ verleiht.«63 Ebenso ist das Geld ein Zeichensystem, »das nur dann funktioniert, wenn alle daran glauben.«64 Der Einführung des Geldes (in den Ländern des Christentums) zur Regelung von Tauschgeschäften (Transaktion und Zirkulation) geht die Transsubstantiationslehre voraus. Das Geld bedarf des menschlichen Leibs als Deckung, also jener »höchste[n] und kreditwürdigste[n] Ware, die der Mensch zu bieten hat. […] Der geopferte Leib Christi ist ein Ausdruck für diesen Zusammenhang, der nicht nur in der Ikone, sondern auch im Geld selbst seinen Zusammenhang findet.«65 In dieser Verquickung von Geld und menschlichem Körper liegt auch, so von Braun, »der Grund für die sexuelle Aufladung des Geldes«,66 für die sich zahlreiche Belege in der Literatur finden lassen. So verweist von Braun auch auf Georg Simmels Philosophie des Geldes. Darin vergleicht Simmel die Zirkulation des Geldes mit der Prostitution. Interessanter



63 Christina von Braun: »Incognito Ergo Sum, Die Kunst, Grenzen zum Verschwinden zu bringen«, in: Christoph Wulf/Jacques Poulain/Fatih Triki (Hg.), Die Künste im Dialog der Kulturen. Europa und seine muslimischen Nachbarn, Berlin 2007, S. 207–219, hier S. 213. 64 Von Braun, Incognito Ergo Sum, S. 213; Hervorh. i.O. 65 Von Braun, Incognito Ergo Sum, S. 214. 66 Von Braun, Incognito Ergo Sum, S. 214.

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weise begreift er die Prostitution dabei nicht als Beispiel für die monetären Kreisläufe, sondern als metaphorische Parallele, als Ähnlichkeitsverhältnis: »Nur die Transaktion um Geld trägt jenen Charakter einer ganz momentanen Beziehung, die keine Spuren hinterläßt, wie er der Prostitution eigen ist.«67 Da die Prostitution gerade auf dem Transfer einer (körperlichen) Leistung gegen Geld beruht,68 wäre es im Grunde naheliegend, sie für die Funktion des Geldes an sich stehen zu lassen, stattdessen kann auch Simmel sie nur jenseits der anderen monetären Kreisläufe ansiedeln, jenseits der offiziellen Ökonomien – genau wie auch Sexarbeit heute zumeist nur als das Außerhalb der Migration, als falscher (und gefährlicher) Weg innerhalb der migratorischen Streckennetze imaginiert wird, wie Rutvica Andrijašević in ihrer Dissertation belegt.69 Die Migrantin, die als Prostituierte arbeitet, muss gezwungen worden sein, womit die Tatsache, dass Sexarbeit auch Teil eines (legitimen) »migratory projects« sein kann, aus dem Rahmen der Repräsentation herausfällt, wie Andrijašević exemplarisch anhand der 2001/02 durchgeführten IOM-Kampagne70 gegen Menschenhandel ausführt, auf deren Postern Frauen als wehrlos verschnürte Pakete erscheinen: »You will be sold like a doll.«71 Natürlich gehört die Politik gegen Zwangsprostitution im Zusammenhang mit Migration in den größeren Rahmen der Illegalisierung von Migration. Umso perfider, dass gerade die ökonomischen Beweggründe für Migration eine wichtige Rolle in der Delegitimierung von Migration in Deutschland gespielt haben. Die rassistischen Figuren des ›Wirtschafts-› und des ›Scheinasylanten‹ spielten für die faktische Abschaffung des Asylrechts in Deutschland 1993 eine wichtige Rolle. An dieser Stelle möchte ich kurz eine Szene in Aprilkinder aufgreifen, die das Thema Legalität/Illegalität in Verbindung mit den Zirkulationen von Geld und Migration auf eine besondere Art und Weise thematisiert. Cem (Erdal Yıldız), der älteste Sohn einer türkisch-kurdischen Familie in Deutschland, wird von einem Arbeitskolle-









67 Simmel, zit. in von Braun, Incognito Ergo Sum, S. 215. 68 Siehe zum Verhältnis von Geld und Prostitution auch: Christina von Braun: »Das Geld und die Prostitution«, in: Sabine Grenz/Martin Lücke (Hg.): Verhandlungen im Zwielicht. Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart, Bielefeld 2006, S. 23–42. 69 Rutvica Andrijašević: Trafficking in Women and the politics of mobility in Europe, PhD Dissertation, Utrecht 2004, http://dspace.library.uu.nl/handle/1874/1730; zuletzt abgerufen am 11.10.2014. 70 Zur 1951 gegründeten Internationalen Organisation für Migration (IOM) als suprastaatlicher Einrichtung und als ›Warnsystem Migration‹ sowie zur ›Migrationsverhinderung‹ siehe u.a.: http://www.noborder.org/iom/index.php, sowie die Akteurskartografie von »MigMap« http:// www.transitmigration.org/migmap/map1_d.html (beide zuletzt aufgerufen am 03.11.2014); siehe auch die offizielle Webseite der IOM, http://www.iom.int. 71 Rutvica Andrijašević: »Schöne tote Körper. Gender, Migration und Repräsentation in Kampagnen gegen Menschenhandel«, in: Moving On. Handlungen an Grenzen. Strategien zum antirassistischen Handeln, Ausstellung NGBK Berlin, Berlin 2005, S. 29–34, hier S. 31; vgl. auch dies. Trafficking, Chapter 1 und Chapter 5.

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gen aus der Wurstfabrik mit in Palas Bar genommen. Pala (Hasan Ali Mete), der sein Bordell auch als Bühne für seine Auftritte als Sänger nutzt, war auch derjenige ›Begleiter‹, der Cems jüngeren Bruder Mehmet (Bülent Esrüngün) und seine Mutter (Şerif Sezer) nach Deutschland brachte, also der »Schlepper« war, wie Kim (Inga Busch), die für Pala arbeitet, ungläubig feststellt. Kim trägt wie Ayşe (Jale Arikan) in Angelina Maccarones Ein Engel schlägt zurück und Yeter (Nursel Köse) in Fatih Akıns Auf der anderen S eite als Sexarbeiterin stets eine blonde Perücke (Shirins Blondwerden – sie färbt sich die Haare – ist auch ihr erster Schritt zur Sexarbeit). Alle drei verbergen ihre dunklen Haare darunter, alle drei inszenieren sich im Sinne von ethnic drag damit als ›extradeutsch‹, wenn auch Kim in der Tat als eine der letzten ›Deutschen‹ in Palas Etablissement arbeitet, das heißt, damit nicht besser passt (im Sinne auch von passing), sondern heraussticht, während Ayşe als Gabi und Yeter als Jessie in der Tat durchgehen, wobei Yeter von zwei, vom Missionsdrang erfüllten, Muslimen durchschaut wird, nachdem sie sich gegenüber einem Kunden, Ali (Tuncel Kurtiz), ›als Türkin‹ zu erkennen gegeben hat. Kim erzählt nun Cem, der mit ihr aufs Zimmer geht, allerdings zu schüchtern ist, um mit ihr Sex zu haben, die Geschichte vom Gebetsteppich, die zugleich auch die titelgebende Geschichte ist. Die Szene erinnert an Fassbinder, an das Einfügen von kleinen Erzählungen, die, während sie den Erzählfluss des Films anhalten, ein Verweissystem aufmachen, den Film öffnen, in verschiedene Richtungen, und Schichten der Vertiefung und Ausdehnung in Momenten hinzufügen, die diegetisch als Verlangsamungen präsentiert werden. Kim erzählt also, nachdem Cem erstaunt den Teppich entdeckt hat, die Geschichte seines ursprünglichen Besitzers. Es war ein Kunde, der sie wöchentlich besuchte, dabei sowohl von Liebe sprach als auch von seiner Familie und seinen neun Kindern in der Türkei, die alle im April geboren wurden, weil er seine Frau jeweils nur im Juli während seines Jahresurlaubs sehen konnte: Aprilkinder. Den Teppich habe er zurückgelassen, er habe vor dem Sex immer erst gebetet. Als er irgendwann nicht wiederkam, habe sie den Teppich nicht weggeschmissen, »weil er so praktisch ist« – denn es »ist ja nicht so leicht mit der Orientierung hier drin«. Kims Gebetsteppich-Geschichte ruft unter anderem die orientalistische Figur des ›Tauschhandels‹ auf – der Kunde konnte am Ende nicht mehr zahlen, und der Teppich wird, nachdem er ihr Vertrauen erbeten hatte, zur Währung72 – wie ja auch die ganze Geschichte Cems als die zweier konfligierender Ökonomien inszeniert wird. Auf der einen Seite die Liebesgeschichte von Cem und Kim, die mit der Prostitution verbunden ist, auf der anderen Seite die arrangierte Ehe von Cem und seiner Cousine. Beide Ökonomien werden parallelisiert; so gehen beide auch nicht gut aus: Cem ist nicht in der Lage, Kim von der anstehenden Hochzeit zu erzählen, beide

72 Ich erinnere hier auch an die Nachbarinnen in Angst essen Seele auf, die als Beweggrund für Alis späten Besuch bei Emmi Sex annehmen und doch kichernd von ›Teppichverkauf‹ sprechen: Die Altersdifferenz erlaubt Sex nur als monetäre Transaktion. Emmi ahnt das selbst, daher lehnt sie auch Alis Geld ab: »Mit Geld geht doch jede Freundschaft kaputt.«

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können im jeweils ungewohnten Kontext des anderen nicht zueinanderstehen. Als er schließlich heiratet, bedeutet das zugleich sein eigenes Verschwinden. Kaum in der Lage, bei der eigenen Hochzeit den Blick zu heben, löst er sich am Ende des Films im Taumel der kreisenden (subjektiven) Kamera auf, umgeben von einer verschwommenen, amorphen Familienmasse (siehe auch 2.3). Die eingeschobene Erzählung von den Aprilkindern im Film Aprilkinder verweist auch auf die Praxis der mutaa, die von den Schiiten anerkannte Rechtsform der Zeitehe, in der eine Ehe auf eine im Voraus begrenzte Zeit (von einer Stunde bis zu 99 Jahren) gegen ein festgesetztes Entgelt für die Frau und ohne weitere Verpflichtungen geschlossen wird. Die Schiiten berufen sich hierbei auf die Koransure 4:24; von den Sunniten wird der Koranvers jedoch anders interpretiert. Nichtsdestotrotz ermöglicht (oder verdeckt, je nach Standpunkt) die mutaa eine Art legalisierte Form von Prostitution (und macht damit zugleich deutlich, dass auch andere Rechtsformen der Ehe durch den Aspekt der sexuellen Arbeit gekennzeichnet sind73), wie sie beispielsweise in dem kurzen Dokumentarfilm Juste une femme von Mitra Faharani (I/F 2002), dem Porträt einer transsexuellen Frau in Teheran, gezeigt wird, und zwar auf interessante Weise ›nebenbei‹: Prostitution findet in diesem Film innerhalb einer anderen Sichtbarkeit statt. Die Darstellung von Frauen als Opfern der Migration, die für eine Politik der Migrationsverhinderung eingesetzt wird, lässt sich auch auf die Angst vor der Vermischung von ›Rassen‹ respektive Blut beziehen, auf die Angst vor der miscegenation. Der Anti-Trafficking-Diskurs greift elementare Strukturen des historischen white slavery-Diskurses wieder auf, wie Serhat Karakayalı mit Bezug auf Jo Doezema ausführt. Dazu gehört auch die Bedrohung jungfräulicher Reinheit durch ›fremdrassige‹ Männer,74 was wiederum die Metaphorik der ›Rassenschande‹ aufruft – und mich zum Thema des Blutes zurückbringt. Das ius sanguinis, das Recht des Blutes, das im Kern auch heute das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht bestimmt, steht nicht nur für eine Vorstellung von Zugehörigkeit, die die Idee von ›Rasse‹ mit sich trägt, sondern es ist auch Ausdruck der religiösen Sedimentierungen in der deutschen Gegenwartsgesellschaft, also der christlichen Säkularisierung als Weltwerdung des Religiösen: Die Verlagerung von der Kirchengemeinschaft zum säkularen Staat vollzog sich in Deutschland spät, dafür aber umso deutlicher. Nicht nur ist die Trennung von Kirche und Staat bis heute nicht vollzogen; darüber hinaus erscheint die noch immer geltende Definition nationaler Zugehörigkeit durch das ius sanguinis wie eine Verweltlichung der Symbolik der Kommunion, die u. a. die Bildung einer Blutsgemeinschaft bedeutet.75

73 Siehe zum Begriff der sexuellen Arbeit auch Pauline Boudry/Brigitta Kuster/Renate Lorenz: Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit & Zuhause, Berlin 1999. 74 Vgl. Karakayali, Gespenster, S. 246. 75 Von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 438.

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Blut spielt in der Konfiguration des Deutschseins also auch deswegen eine wichtige Rolle, weil es die »Grundmaterie der christlichen Heilsvorstellung«76 ist. Das aus der Seitenwunde Jesu austretende Blut und Wasser stehen für die nährende Brust, für Reinigung und vor allem für die Geburt der Kirche. Das Blut ist jene aus den Wunden Jesu tretende Flüssigkeit, aus der das Christentum hervorgeht, die Schnittwunde an Jesu Seite bildet die Geburtsöffnung der Kirche (»ecclesia ex utero Christi«77). Hinzu kommt das Blut Christi, das, so die Lehre von der Transsubstantiation, in der Eucharistiefeier konsumiert wird: Die Lehre von der Transsubstantiation beschreibt die Wandlung von Wein und Brot im Abendmahl in das Blut und den Leib Christi: »[D]as Blut wird zur vollplastischen Weintraube, deren Saft im Abendmahl die Erlösung gestattet.«78 Die Transsubstantiation ist einer der zentralen Riten der römisch-katholischen Kirche, und wie Regina Ammicht Quinn ausführt, dienen diese Riten der Ausformung eines Gedächtnisses sowie der Aktualisierung der darin erinnerten Ereignisse, zumal im Zusammenspiel mit den Bildern, die das Christentum so zahlreich hervorgebracht hat.79 Quinn bringt es unverbrämt auf den Punkt: »Das Christentum ist eine blutige Religion.«80 Blut, das ist derselbe Lebenssaft, der als frisches Blut neues Leben in die deutsche Kinolandschaft gebracht haben soll (wie sich die Rezensenten spätestens anlässlich des Erfolgs von Gegen die Wand hinsichtlich des ›türkisch-deutschen‹ Kinos einig waren,81 der als roter Fleck das doppelte Opfer der Protagonistin in Shirins Hochzeit markiert, und dessen Fehlen andernorts wiederum handlungsanweisend ist (in Yasemin ), und schließlich all jenes Blut, welches, wie in G egen die W and , symbolisch vergossen wird. Das Blut steht hier vor allem für die Figur des Opfers. So stürmt Cahit als Inkarnation eines Büßers bei einem Konzert mit zerschnittenen Händen auf die Bühne. Sein Auftritt erinnert sowohl an die kollektiven Selbstgeißelungsszenarien im schiitischen Islam, wie den Ashura Ritus, der, wie Angelika Neuwirth ausführt, mit dem höchsten Bußtag im Judentum, mit Jom Kippur zusammenfällt,82 als auch an



76 Bredekamp, Bilderkult, S. 214. 77 Regina Ammicht Quinn: »Blut Christi und christliches Blut. Über die Verfestigung einer Kategorie der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte«, in: Christina von Braun/Christoph Wulf (Hg.): Mythen des Blutes, Frankfurt/M. 2007, S. 43–61, hier S. 54. 78 Bredekamp, Bilderkult, S. 214. 79 Vgl. Quinn, Blut Christi, S. 54. 80 Vgl. Quinn, Blut Christi, S. 43. 81 Josef Engels verwendete den Ausdruck der »Frischzellenkur«, ders.: »Die seltsame Rückkehr des Berlinale-Siegers Fatih Akin«, in: Die Welt (08.03.2004), http://www.welt.de/print-welt/ article298454/Die-seltsame-Rueckkehr-des-Berlinale-Siegers-Fatih-Akin.html; zuletzt abgerufen am 11.10.2014. Allerdings hat bereits Ende der 1990er Jahre der Kulturproduzent, Übersetzer und Autor Tunçay Kulaoğlu danach gefragt, ob der neue deutsche Film nicht türkisch sei: ders.: »Der neue ›deutsche‹ Film ist ›türkisch‹? Eine neue Generation bringt Leben in die Filmlandschaft«, in: Filmforum 16 (Februar/März 1999), S. 8–11.

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die Figur des Liebesmärtyrers – schließlich zerschneidet Cahit sich absichtlich die Hände, als er seinem Freund Seref (Güven Kıraç) von seiner Liebe zu Sibel erzählt, ein blutiger Ausdruck für die Größe des Gefühls.83 Sibels Selbststigmatisierung mit den ›Selbstmord‹-Schnitten am Handgelenk signifizieren wiederum das Opfer, das erbracht wird, um eingetauscht zu werden. Und es steht für ihren Lebenswillen: Ich werde auferstehen! Sicherlich markiert beider Blut auch die Unbedingtheit der Gefühle, arabeske84 Leidenschaftlichkeit vermutlich, kara sevda.85 Es scheint jedoch, als würde gerade anhand des Blutes das, die Bilderstreite des Ausländerdiskurses informierende, Religiöse nicht zwischen den Stühlen platziert, sondern im Gegenteil als gemeinschaftsstiftendes Moment transportiert: Das heraustretende Blut ist hier nicht nur Grenzüberschreitung und Zeichen eines somatischen Kinos (das Blut des Splatterkinos funktioniert auch als »Vortäuschung von Wirklichkeit«86), es ist auch das Medium des Religiösen an sich. Cahits blutige, ausgebreitete Arme, die auch das Cover der DVD zieren, zitieren damit Kreuzigung und den Märtyrerglauben der Shi’a sowie gleichermaßen den sunnitischen (mystischen) Liebesmärtyrer87. In Cahits und Sibels Blutvergießen findet sich das Selbstopfer als Sühneopfer ebenso wie das (selbst)heiligende Opfer des Abendlandes sowie das christliche Opfer, das der Vergemeinschaftung dient. Beide durchlaufen eine Transformation, die im Falle von Cahit durch den Mord an Nico (Stefan Gebelhoff) ausgelöst wird und im Falle von Sibel durch die Vergewaltigung und später folgende Schlägerei am Ende einer drogentaumelnden Nacht in Istanbul, in der sie sich so lange ihren Angreifern aussetzt, sie quasi herbeiruft, bis ihr Gesicht jeder Kenntlichkeit entstellt, aufgelöst wie eine einzige Wunde erscheint, und sie blutüberströmt zusammenbricht. Gegen die Wand ist ein blutiger Film, aber im Sinne beider, im Ausländerdiskurs so gerne gegeneinander ausgespielter, Religionen, Islam und Christentum. In der Tat eine hybride »Frischzellenkur«, oder, wenn







82 Angelika Neuwirth: »Blut und Mythos in der islamischen Kultur«, in: Christina von Braun/ Christoph Wulf (Hg.): Mythen des Blutes, Frankfurt/M. 2007, S. 62–90, hier S. 75. 83 Vgl. Neuwirth, Blut und Mythos, S. 78/79. 84 Im Sinne der Musikrichtung mit ihren Texten über unerfüllte Liebe, Sehnsucht, die Kälte der Großstadt, Verzweiflung. Vgl. Maria Wurm: Musik in der Migration. Beobachtungen zur kulturellen Artikulation türkischer Jugendlicher in Deutschland, Bielefeld 2006, S. 16ff., S. 30ff. Siehe besonders auch: Martin Greve: Die Musik der imaginären Türkei. Musik und Musikleben im Kontext der Migration aus der Türkei in Deutschland, Stuttgart 2003. 85 Feridun Zaimoğlu bezeichnet den Ausdruck auch als »Katastrophensucht«: »Alle Morgenländer dieser Welt kennen die Katastrophensucht (türkisch: kara sevda), die mehr ist als Melancholie und die Trauer darüber, dass man die Geliebte, die Unschuld, den schönen Augenblick verloren und versäumt hat. Wer in diesem paradoxerweise berauschenden Elend steckt, kann nicht anders, als das böse Blut ausfließen zu lassen.« Zaimoğlu, Herzhitze, o.S. 86 von Braun/Wulf, Mythen des Blutes, S. 10/11. 87 Nicht umsonst ist die Shi’a derjenige Zweig des Islams, der eine prägnante Ikonografie – also Bilder – entwickelt hat. Siehe dazu auch: Paret, Schriften zum Islam, S. 226ff.

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man so will, »ein ›Blickwechsel‹ auf Augenhöhe«.88 Das allerdings nur unter der Voraussetzung, dass um die subkutanen Religiositäten, die zusammen mit dem Blut in dem Film nach außen dringen, gewusst wird. Im Sinne der verschiedenen Transaktionen verknüpft Christina von Braun ihre Ausführungen zu Geld und Christentum im Rahmen ihrer Überlegungen zum Buchstaben M mit Migration: »Wir sollten heute mehr über das Verhältnis von Geld und Migration unter historischer Perspektive nachdenken«, schreibt sie, denn: »Geldströme und Menschenströme sind untrennbare Bestandteile ein und derselben Entwicklung.«89 Und hier treffen sich interessanterweise die kulturtheoretische und historische Perspektive von Brauns und die politikwissenschaftliche Andrijaševićs in einer gemeinsamen Klammer, dem Bezug auf die These von der Autonomie der Migration, oder einfacher, der Perspektive der Migration. Diese wird zwar nur bei Andrijašević so benannt, deren Anliegen es ist, die Frauen in der Migration als Subjekte mit Handlungsmacht anzuerkennen, anstatt sie lediglich als Opfer darzustellen, womit sie konträr gegen eine Politik des Migrationsregimes Position bezieht, in der die Viktimisierung der Frauen als Opfer des Trafficking und der Zwangsprostitution zum »Instrument der Migrationsverhinderung«90 wird. Aber ebenso explizit fokussiert von Braun jene transkulturelle Bewegung der Migration, »die vom Geld ermöglicht wird. Incognito ergo sum: Das Geld funktioniert nach dieser Parole. Es lässt sich weder territorial noch kulturell binden.«91 Das Geld »mag die Menschen zur Ware machen. Aber es ermöglicht auch ihre Zusammenführung.«92 Die Anerkennung des Geldes als Mittel für Migration evoziert auch insofern die Autonomie der Migration, als sie die Kriminalisierung des sogenannten Schlepperwesens (aus dem ehemals so gepriesenen Fluchthelfer ist der kriminelle Schleuser geworden93) infrage stellt. Wie das aktivistische Kunstprojekt Bundesverband Schleppen & Schleusen auf seiner Webseite formuliert: Die Zuwanderung von ökonomisch als verwertbar erklärten Menschen wird gefördert, diejenige von angeblich unnützen Menschen wird unterbunden, oder, da sie letztlich nicht unterbindbar ist, illegalisiert. […] Die eben skizzierte Ökonomisierung prägt auch die Symbolproduktion: Der Personenverkehr des dokumentierten Sektors wird z.B. mit ›Spass‹ und ›Lebensfreude‹ verbunden (Tourismus) oder mit ›Weltbürgertum‹ und ›Zukunft‹ gleichgesetzt; der Sektor des undokumentierten Reisens hingegen wird kriminalisiert und zynisch sogar als menschenverachtender Schmuggel diskreditiert.94



88 89 90 91 92 93

Belting, Florenz und Bagdad, S. 38. Von Braun, Incognito Ergo Sum, S. 217. Karakayalı, Gespenster, S. 242. Von Braun, Incognito Ergo Sum, S. 217. Von Braun, Incognito Ergo Sum, S. 218; Hervorh. N.H. Diese Umdefinierung wurde im Rahmen des sogenannten Budapester Prozesses, der 1993 begann, offiziell.

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Der Bundesverband wählt auch aus diesem Grund die Form der Symbolproduktion mit künstlerischen Mitteln. Mit dem Slogan »Wir fördern Mobilität!« präsentiert schleuser. net als erklärtes Ziel die »Verbesserung des Images von ›SchlepperInnen und SchleuserInnen‹, die Richtigstellung der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit und ›politisch‹ letztlich die Abschaffung des Verbandes, indem durch Anpassung der Gesetze an die Realität jegliche Personenbeförderung legal wird.«95 Auch Christina von Braun kommt am Ende von Die Kunst, Grenzen zum verschwinden zu bringen vom Geld zur Kultur und damit zur Kunst, ebenjener Kunst der Grenzüberschreitung, die die Migration selbst darstellt, aber auch zur Kunst als wesentlichem Medium (in) der Migration: »›The art of making borders disappear‹ heißt: der Kunst die Möglichkeiten zu geben, Grenzen – kulturelle und nationale Grenzen – zu überschreiten, ohne dabei unterzugehen.«96 Zu diesem Potential der Kunst der Migration komme ich nun abschließend und ausblickend.



94 http://www.schleuser.net/de/p1_1.php; zuletzt aufgerufen am 10.11.2014. 95 Ebd. 96 Von Braun, Incognito Ergo Sum, S. 219

5. Schluss: Die Perspektive der Migration To put it yet another way, once the subject of a representation is identified on a given image, that particular image is no longer the only possible way for the subject to be represented. Oleg Grabar1 The difficulty: to keep this growing pile of common places from ending up as a dispirited grumbling – may art provide! Édouard Glissant2

5.1 Vom Konsens

zum

Dissens

»Das Reale muss zur Dichtung werden, damit es gedacht werden kann.«3 So lautet das bereits in Kapitel 2 vielzitierte Diktum Jacques Rancières4 aus Die Aufteilung des Sinnlichen. Und in der Tat wurde Migration in Deutschland zunächst nur als Dichtung



1 2 3 4

Grabar, The Mediation, S. 18–19. Glissant, Poetics, S. 45. Rancière, Die Aufteilung, S. 61. Rancières Arbeiten haben in den letzten zehn Jahren eine enorme Popularität erlangt, wie die Geschichte seiner Übersetzungen ins Deutsche belegt. Diese ist bis auf wenige Ausnahmen (u.a. zwei Merve-Bände in den 1970er Jahren – Der Begriff der Kritik und die Kritik der politischen Ökonomie, übersetzt von Eva Pfaffenberger, Berlin 1972 [1965] und Wider den akademischen Marxismus, übersetzt von Wolfgang Hagen et al., Berlin 1975 sowie Die Namen der Geschichte, übersetzt von Eva Moldenhauer, Frankfurt/M. 1994 (erscheint 2015 als überarbeitete Neuauflage im August Verlag in Berlin)) erst seit den 2000er Jahren erfolgt. Den Anfang machte der Suhrkamp Verlag mit Das Unvernehmen, wobei die größte Zahl der Bände seither vom österreichische Passagen Verlag herausgebracht wurde. Dabei wurde Rancière zunächst vor allen Dingen als politischer Philosoph und als Philosoph der Kunst rezipiert und diskutiert, als Filmphilosoph wird er erst seit wenigen Jahren wahrgenommen.

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erzählt, gehört und gesehen, in Musik, Gedichten und Romanen und in Filmen, bevor ihre Geschichten Eingang in die offizielle Geschichtsschreibung finden durften. Für Rancière sind hierbei die Ratio der Fakten und die der Fiktion im – heute noch aktuellen – ästhetischen Zeitalter eng verknüpft: »Geschichte schreiben und Geschichten schreiben gehören zu demselben Wahrheitsregime«,5 und Fiktionen sind als »materielle Neuanordnungen von Zeichen und Bildern«6 zu begreifen, die neue Unterteilungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sagbarem und Nichtsagbarem (bei Rancière: die Rede und der Lärm) hervorbringen.7 Dieses »Reale der Fiktion« 8 ist für Rancière nun aber auch Ansatz für Kritik: Darin begründet sich nicht nur die Möglichkeit zur Erzeugung materieller Neuanordnungen, sondern es ist auch Teil dessen, was er den sozio-fiktionalen Kompromiss nennt, welcher das konsensuelle Kino kennzeichnet: Es ist das Reale der Fiktion, das »Politik und fiktionale Erzählung zu einer konsensuellen Zirkelstruktur [verknüpft], in der sie einander permanent ihren Realitäts- und Bedeutungsgehalt bestätigen.«9 Konsensuelles Kino ist ein Kino der Evidenz und der Wiedererkennbarkeit – jenes Kino also, das die Logiken (und Aporien) des deutschen Ausländerdiskurses ins Bild gesetzt hat, auch in seiner sozialkritischen Form. »Es ist eine anti-fiktionale Fiktion, die sich selbst direkt mit dem Realen idenifiziert«, fasst Sulgi Lie Rancières Argumentation zusammen.10 Diese Identifikation betrifft hier besonders auch die Rezeption dieses Kinos (die ja nicht etwa Zusatz, sondern integraler Bestandteil von Kino in seiner Gesamtheit ist): Es ist die Heimsuchung von Authentizität – Authentifizierung und Identifizierung – und durch die V/Erkennungsdienste. Letztlich ist es jedoch nicht das Für-wahr-Halten der Fiktion im Blick auf die Inszenierungen des deutschen Ausländerdiskurses im Kino das Problem, sondern die vom deutschen Ausländerdiskurs behauptete und erzeugte Realität, wonach es ›Ausländer‹ gibt, die über gemeinsame, beschreibbare und wiedererkennbare Merkmale verfügen, und die komplette Synchronisierung von Realität und Fiktion in jener Projektion, die den Begriff des ›Ausländers‹ kennzeichnet: das voraussetzungsvolle Wissen der Rassisierungsprozesse, die sich selbst bestätigen und ›Ausländer‹ beständig wieder-/erkennen, im Realen ebenso wie in der Fiktion, mit dem Ergebnis der Verwechslung der juridischen und auf der Idee des Nationalstaats gründenden Idee des





5 6 7 8

Rancière, Die Aufteilung, S. 61. Rancière, Die Aufteilung, S. 62. Vgl. Rancière, Die Aufteilung, S. 26. Jacques Rancière: Und das Kino geht weiter. Schriften zum Film, hg. von Sulgi Lie und Julian Radlmeier, übersetzt von Julian Radlmaier, Berlin 2012, S. 141. Rancière bezeichnet es auch mit anderen Begriffen wie u.a. Infra-Fiktion, kleine Fiktion, familiaristische Fiktion oder eben auch soziale Fiktion, vgl. Sulgi Lie: »Die widerständige Fiktion«, Nachwort, in: Rancière, Und das Kino, Berlin 2012, S. 199–215. 9 Rancière, Und das Kino, S. 141. 10 Lie, Die widerständige Fiktion, S. 199.

Schluss: Die Perspektive

der

M i g r at i o n  | 293

›Ausländers‹ mit einer sozialen Realität – und deren Wiedererkennung in der sozialen Fiktion der Filme. Die Filme sind in diesem Sinne in der Tat repräsentativ: Sie inszenieren die Logik des deutschen Ausländerdiskurses, wenn auch in verschiedenen Modi und unterschiedlich komplex, mal affirmativ, mal kritisch, mal als zentrale Geschichte, mal eher ›nebenbei‹. Rancière setzt nun dem konsensuellen ein dissensuelles Kino entgegen – das der politischen Fiktionen des Realen, in der das Reale nicht mehr wiederzuerkennen ist.11 An die Stelle der Fixierung einer aus der Fiktion von ›Rasse‹ erwachsendem Realität und einer mit dieser Realität verbundenen Fiktionalisierung soll nun also eine andere Verknüpfung von Realität und Fiktion treten, die etwas Neues entstehen lässt, eine Fiktion, die Ausdruck des und Öffnung hin zum »politischen Möglichkeitssinn«12 des Kinos ist und die damit »ihres Namens würdig wäre«.13 Ich werde im Folgenden argumentieren, dass ein gegenüber dem ›deutschen Ausländerdiskurs‹ dissensuelles Kino die Perspektive der Migration einzunehmen hat und in diesem Sinne von der Kunst der Migration sprechen. Von der ›Würdigkeit‹ von Fiktion zu sprechen birgt natürlich die Gefahr eines (platten) ästhetischen Werturteils, im Sinne von: dem Mainstream die anspruchsvolle Kunst entgegensetzen. Darum kann es hier jedoch nicht gehen. Es geht vielmehr darum, mit den Möglichkeiten des Kinos (im weitesten Sinn) den Konsens des Ausländerdiskurses aufzukündigen, jene diskursive Anordnung aus Rassismus, Identifizierung, V/Erkennung, Ausstellung, aus Diskriminierung, Vorenthaltung von Rechten und Nichteinlösen des universalistischen demokratischen Gleichheitsversprechens, und stattdessen Neukonfigurationen zu schaffen.

5.2 Angekommen: Postmigrantisches Kino Der enorme Erfolg von Gegen die Wand vor gut zehn Jahren – vor allen Dingen die Auszeichnung mit dem Goldenen Bären bei der Berlinale 2004 – wird in der Forschungsliteratur gerne als finale Markierung jenes vielbeschworenen Umschlagpunktes zu einem anderen, dem angekommenen Kino gesetzt. Ein Teil der Aufregung um den Film bestand darin, dass seit 18 Jahren ›endlich‹ wieder ein deutscher Film auf dem Festival ausgezeichnet wurde und dass die Frage der Einordnung des Regisseurs Fatih Akın so heftig debattiert wurde: Ist er deutsch? Türkisch? Ist er ›dazu‹ zu zählen, oder ist er doch ein ›Ausländer‹?14 Gehört Migration also ›dazu‹, zum Deutsch-Sein, oder ist der ›Migrationshintergrund‹, einer der vermeintlich moderneren Neologismen

11 12 13 14

Vgl. Rancière, Und das Kino, S. 142. Lie, Die widerständige Fiktion, S. 199. Lie, Die widerständige Fiktion, S. 203. Siehe dazu auch Anmerkung 186 in Kapitel 1 sowie Kapitel 3.3.

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des Ausländerdiskurses, nicht doch vor allen Dingen ein ›Vordergrund‹? Der Film und seine Rezeption partizipierten damit an einer Aushandlung, die in der Frage, welcher Nationalität denn der Berlinalegewinner zuzuordnen sei, in der massenmedialen Öffentlichkeit zwar vor allem innerhalb der altbekannten Entweder-Oder-Koordinaten des deutschen Ausländerdiskurses formuliert wurde, der für die Forschung jedoch besser mit dem Begriff des Postmigrantischen zu beschreiben ist. Die Lancierung dieses Begriffs in den deutschsprachigen Diskursraum ist der Theatermacherin und heutigen Intendantin des Maxim Gorki Theaters in Berlin, Shermin Langhoff, zu verdanken, die damit die Arbeit des Ballhaus Naunynstraße (ebenfalls in Berlin) unter ihrer Leitung in den Jahren 2008–2012 beschrieb. Es ging ihr damit zum einen darum, der Spezifik der Geschichten der sogenannten zweiten und dritten Generation Rechnung zu tragen, zum anderen für den durch Migration gekennzeichneten geteilten Raum (ein transnationaler Raum anstelle der Trope des ›Nationalstaats‹) entsprechende kulturelle Artikulationen zu schaffen. 15 Eine erste wissenschaftliche Thematisierung stammt von dem in Österreich lehrenden Soziologen Erol Yıldız, der 2010 einen Artikel zur »Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe« veröffentlichte, gefolgt von einem Sammelband zu Postmigrantischen Perspektiven, den er 2014 mit Marc Hill herausgegeben hat.16 Auch Naika Foroutan, die als stellvertretende Direktorin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) für die beiden Studien »Deutschland postmigrantisch« mitverantwortlich zeichnete,17 möchte mit dem Begriff zum einen auf die nachhaltige Veränderung aller Lebensbereiche durch Migration hinweisen und damit Migration als wesentlichen Faktor auch im Leben von Menschen ohne biographischen ›Migrationshintergrund‹ kenntlich machen, und zum anderen eben jenen ›Migrationshintergrund‹ seiner dubiosen Besonderungsfunktion von Biographien und Identitäten entheben, der über Generationen hinweg als scheinbar konstantes Merkmal im deutschen Ausländerdiskus figuriert. Langhoff, die 2009 von Andreas Fanizadeh in der taz zu ihrer postmigrantischen Theaterarbeit interviewt wurde (damals wurde der Begriff noch in Anführungszeichen gesetzt),18 macht den Begriff zunächst am Kino fest, dabei dezidiert jene These vom Umschlagpunkt zitierend, für den das Filmschaffen Fatih Akıns zum Synonym geworden ist:





15 Siehe das Interview von Andreas Fanizadeh mit Shermin Langhoff: »Wir inszenieren kein Getto-Theater«, in: taz (18.04.2009), http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digiartikel/?ressort=ku&dig=2009%2F04%2F18%2Fa0036&cHash=e75e8d7fc2; zuletzt abgerufen am 20.1.2015. 16 Erol Yıldız: »Öffnung der Orte zur Welt und postmigrantische Lebensentwürfe«, in: SWSRundschau 2010 (3), http://www.sws-rundschau.at/html/archiv_heft.php?id=62; zuletzt abgerufen am 15.01.2015 und Erol Yıldız/Marc Hill (Hg.): Nach der Migration. Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft, Bielefeld 2015. 17 Zu den beiden Studien siehe http://www.bim.hu-berlin.de/de/deutschland-postmigrantisch-2/ sowie https://junited.hu-berlin.de/deutschland-postmigrantisch; beide zuletzt abgerufen am 20.01.2015.

Schluss: Die Perspektive

der

M i g r at i o n  | 295

Ästhetisch war die alte migrantische Kulturproduktion sehr mit dem Begriff der Betroffenheit verbunden, mit Filmen wie ›40 Quadratmeter Deutschland‹ von Tevfik Baser [sic] oder Helga Sander-Brahms‹ [sic] ›Shirins Hochzeit‹. Es war oft ein Erzählen über das Ankommen in der neuen Umgebung und die Traumata der Migration. Für die zweite und dritte Generation stellt sich vieles heute anders dar und manches ist teilweise überwunden. Dafür stehen Fatih Akins [sic] Filme, die universell und transkulturell wirken.19

Und Gegen die Wand ist in der Tat durch die selbstverständliche und damit in gewisser Weise nebensächliche Inszenierung der Faktizität der Migration gekennzeichnet, die für ein postmigrantisches Selbstverständnis steht. Ich zitiere exemplarisch einen Beitrag von der Kanak Attak-Mailingliste aus dieser Zeit: Der Film hat mich gegen die Wand gedrückt, mich vollkommen überfahren mit seiner Hemmungslosigkeit, mit seiner Spielfreude, mit seiner Respektlosigkeit, wie er nach allen Seiten austeilt ohne Rücksicht auf falsche Loyalitäten, wie er Almanya darin kaum erwähnt, einfach links liegen lässt, kaum beachtet, scheiße uninteressant Almanya, die Akteure ihr verzweifeltes Leben bis an die Kante leben lässt, und darin einen unglaublichen subtilen Humor zeigt für die Kleinigkeiten und den Witz und die Karikatur, Superdetails, angefangen damit, dass die Szenen unterbrochen werden von einer Musikgruppe, die türkische klassische Musik spielt am Goldenen Horn in Istanbul, und über dem Wasser sieht man den Stadtteil FATIH aufragen: Fatih Baba hat sich selbst ein kleines Denkmal gesetzt damit, alles auf eine Karte und gewonnen: Super Respekt!!! und ich saß wirklich drin in dem Film und habe geweint vor Berührung, vor Wut, vor Schönheit! 20

»Scheiße uninteressant Almanya« bringt die Verweigerung, das Bedürfnis der deutschen Mehrheitskultur nach ›Einblicken‹ in die Differenz zu bedienen, zum Ausdruck. Zum Beispiel erhalten bei der Hochzeit von Cahit und Sibel beide ›nebenbei‹ die deutsche Staatsangehörigkeit: Sie gehen zwar eine Scheinehe ein,21 aber nicht, wie vielleicht zu erwarten wäre, weil eine/r von beiden Papiere bräuchte, sondern als eine Art moralisches ethnic passing, das wiederum spezifisch auf die Parameter der migrantischen ›Diaspora‹ ausgerichtet ist. Der Film wischt dem ius sanguinis damit quasi eins aus. Der Standesbeamte spricht – wie alle biodeutschen Institutionenvertreter des Films – Cahits Namen falsch aus (das C als K), was Cahit nicht im Geringsten interessiert. Er hat es nicht nötig, sich zu erklären oder sich in Diskussionen über seinen Namen verstricken zu lassen, die im/vom Ausländerdiskurs ebenso gerne geführt werden,

18 19 20 21

Siehe Fanizadeh/Langhoff, Wir inszenieren, o.S. Fanizadeh/Langhoff, Wir inszenieren, o.S. Privates Archiv, N.H. Passender wäre der Ausdruck Funktionsehe – um auf ein Kontinuum funktionaler Heiratsentscheidungen hinzuweisen, zu dem u.a. Steuerersparnis und Ehegattensplitting zählen.

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wie die Frage nach der Herkunft. Als Cahit nach seinem selbstmörderischen Unfall in der Klinik zum Therapeuten Dr. Schiller (!) muss, der ihn natürlich auch falsch aus- und anspricht, entspannt sich ein typischer Dialog: »Woher kommt der Name Tomruk?« »Aus der Türkei.« »Was bedeutet er?« »Keine Ahnung.« »Die Namen haben doch immer eine so schöne Bedeutung. Vielmehr als bei uns.« Cahit quittiert dies mit Schweigen. Er kündigt damit exemplarisch die sogenannte Dialogkultur auf, die auf den Parameter des deutschen Ausländerdiskurses basiert (›bei uns‹). Auch die Szene im Taxi in Istanbul gehört dazu. Cahits Türkisch, das er, wie er in einer früheren Szene erzählt, »auf den Müll geschmissen hat«, reicht nicht aus zur Kommunikation, woraufhin der Fahrer ihn als Deutschen erkennt, vielmehr als Hamburger. Der Fahrer ist aus München, »ein Bayer!«, dessen Enthusiasmus über das gegenseitige Erkennen auch von folgendem Wortwechsel nicht beeinträchtigt wird: »Sie haben mich rausgeschmissen«, sagt er, und: »Jetzt bin ich halt hier« – wegen Drogen. Der Taxifahrer erwartet hier gar keinen weiteren Kommentar, wohl wissend, dass er seinem Fahrgast die deutsche Abschiebepolitik im Konnex mit dem Konstrukt Ausländerkriminalität nicht zu erklären braucht. In dieser Hinsicht – auf der rein narrativen Ebene – steht der Film also in der Tat für ein angekommenes, ein transnationales, ein postmigrantisches Kino im Sinne Deniz Göktürks oder Georg Seeßlens. Bereits in Kapitel 3 habe ich jedoch anhand von Hatice Aytens Kritik auf die neokonservativen Elemente des Films hingewiesen, die auch Akın selbst adressiert hat, wenngleich er sie vor allen Dingen mit der diasporischen Situation in Verbindung bringt. Die Beobachtung von Verfestigungen und Verselbständigungen von Traditionen in diasporischen Communities ist zwar nicht falsch, geht aber eine unschöne Allianz mit dem Fortschrittsnarrativ des Ausländerdiskurses ein, in der die ›Anderen‹ – die Moslems, die Türken, die Ausländer – den Inbegriff von Rückschrittlichkeit, archaischen Geschlechterverhältnissen, Modernitäts-, Bildungsund sonstigen Entwicklungsdefiziten verkörpern. Andererseits steht das Ringen um die Einschreibung in Traditionen – wessen Geschichten und welche Geschichte? –, das sich u.a. bei Feridun Zaimoğlu darin äußerte, dass er die melodramatische Unbedingtheit des Films, seine »Lebenswut, Herzhitze«,22 dezidiert nicht als postmigrantisches Kino verstanden wissen wollte, sondern in dem Liebesepos die, wenn auch »entschlackt[e]«, Wiederbelebung der deutschen Romantik zu erkennen meinte, in die sich zugleich »die orientalische Herzhitze eingebrannt«23 habe, eben gerade für die Herausforderung der Selbstverständlichkeiten, der Distributionen von Sagbarkeiten in und durch den deutschen Ausländerdiskurs. Bereits in Kapitel 1 habe ich gefragt, ob die vielbeschworene Einkehr eines postmigrantischen Kinos der Selbstverständlichkeiten nicht auch durch konservative und



22 Zaimoğlu, Lebenswut, o.S. 23 Zaimoğlu, Lebenswut, o.S.

Schluss: Die Perspektive

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konservierende Elemente gekennzeichnet ist, und ob die ausgerufene Wende nicht eher übersieht, dass, wie bereits erwähnt, der anarchistische Humor eines Hussi Kutlucan mittlerweile durch eine scheinbar endlose Serie deutscher (und ›deutsch-türkischer‹) Komödien ersetzt wurde, deren Pointen eher deutsche Verträglichkeiten bestätigen24 und postmigrantische Faktizität dazu nutzen, über Rassismus dann doch lieber nicht zu reden25. Die These von der Wende in der Relation von (deutschem) Kino und Migration hin zum Postmigrantischen, die die in der Tat dringend überfällige Affirmation von Migration als Tatsache der Gegenwartsgesellschaft zum Ausdruck bringt, reproduziert die Fortschrittslogik des Ausländerdiskurses auch hinsichtlich dessen Geschichtsvergessenheit. So wird zwar Migration mittlerweile als Teil deutscher Geschichte betrachtet, aber deren vorherige Ausblendung verstellt den Blick auf jene Geschichten, die schon früh einen kritischen, ironischen, selbstverständlichen Blick auf die deutschen Verhältnisse geworfen haben und in Formen und Formaten (und Sprachen) erzählt wurden, die von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und damit auch der Forschung lange Zeit schlicht übersehen wurden. Darauf verweist beispielsweise die Kompi-





24 Auch daher äußerten (wie bereits in Kapitel 3 erwähnt) Metz und Seeßlen Misstrauen gegenüber der emotionalen Ökonomie dieses neuen Filmschaffens (sie nennen es auch ein Genre), das, so ihr Argument, die Fremdheit durch Identität ersetzt hat und in dem sich »viel weniger von migrantischer Lebenswirklichkeit als von sehr, sehr deutschen Träumen« offenbart, Metz/ Seeßlen, Fucking Identity, o.S. 25 Dazu zählt leider auch Züli Aladağs jüngster Film, 300 Worte Deutsch (D 2015), der als »Integrationskomödie« bezeichnet wird. Der Regisseur selbst sieht in der Komödie ein besonders geeignetes Genre für den Prozess des Durcharbeitens: »Komödie ist ein sehr schönes Format, Konflikte oder schwierige Themen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Es ist vielleicht im Film manchmal leichter, etwas zu bewirken und ein Vorurteil aufzubrechen als über ein langes Gespräch, bei dem man versucht, Menschen zu überzeugen. Der Versuch, mit dem Thema nicht politisch korrekt umzugehen, bewirkt etwas Befreiendes, auch bei Menschen, die selbst diese Vorurteile haben.« (Suzanne Cords: Interview mit Züli Aladağ, »Lachen gegen Vorurteile«, in Deutsche Welle (02.02.2015), http://www.dw.de/z%C3%BCli-alada%C4%9F-lachen-gegen-vorurteile/a-18228851; zuletzt abgerufen am 20.03.2015.) Aladağ sieht mit dem Film Rassismus und Vorurteile direkt angesprochen – eine Einschätzung, die ich nur bedingt teile. So greift der Vorspann Material aus seiner Videoinstallation Die Anderen (D 2011) auf und legt eine ganz andere (im positiven Sinne postmigrantische, polemische und kritische) Spur zum Thema, die der nachfolgende Film dann jedoch fast vollständig ignoriert und Alltagsrassismus und die Arbeit deutscher Ausländerbehörden geradezu verniedlicht. Der Film stellt den »man wird ja noch mal sagen dürfen«-Konsens des Ausländerdiskurses zwar aus, aber er lässt ihn darin im Grunde unberührt. (Die Installation wurde in der Ausstellungsreihe Labor Berlin im Haus der Kulturen der Welt in Berlin vom 06.11.2010–09.01.2011 gezeigt, http://www.hkw.de/de/programm/projekte/veranstaltung/p_52451.php; zuletzt abgerufen am 20.03.2015.)

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lation Songs of Gastarbeiter von Bülent Kullukcu und Imran Ayata,26 die mit ihre (nicht akademischen) jahrelangen Forschungsarbeit ein immenses Archiv der Musik der ersten Gastarbeiter_innengeneration erstellt haben, das von »subtilem Aufruhr«, von Sehnsucht, von Alltag, Subversion, Aneignung und wilder Vermischung zeugt und »damit auch ein Stück unsichtbar gemachter Geschichte wieder sichtbar«27 macht. Die These vom neuen Kino der Ankunft, der Métissage, des wechselseitigen Grenzverkehrs übersieht die Bedingungen ihres ›mehrheitsfähigen‹ Auftauchens, d.h. ihre eigene Geschichtlichkeit: »›Uns war es aber auch wichtig, einige Dinge klarzustellen‹, sagt Ayata. ›All diese türkischen Kabarettleute, die im Fernsehen gefeiert werden, sind nicht vom Himmel gefallen. Es gibt eine Vorgeschichte. Man tut oft so, als seien die erfolgreichen Migranten, die in die Vitrine gestellt werden, Teil der zweiten Generation. Die werden ganz schnell eingemeindet, weil sie erfolgreich sind. Für Bülent und mich ist es aber wichtig zu betonen, dass es immer Leute vor uns gab, die Pionierarbeit geleistet haben. Es ist im Filmbereich genauso wie in der Literatur und der Musik, deshalb ist die Vielfalt auf dem Album so wichtig.‹«28 Für Hengameh Yaghoobifarah legt Songs of Gastarbeiter daher auch eine »neue Rezeption migrantischer Geschichte in Deutschland nahe«,29 eine Rezeption, zu der auch die spät erfolgte deutsche Untertitelung und Vorführung von Filmen wie Almanya aci vatan (TR 1979) von Şerif Gören zählt, dessen Titel auch ein Tribut an die migrantische Musikproduktion ist.30 Der Film markierte bereits vor vierzig Jahren einen ›Umschlagpunkt‹, »da das Bild vom Migranten eine Umkehrung erfährt. Hier ist es Güldane (Hülya Koçyiğit), eine junge Frau, die nach Deutschland geht, in einer Frauen-WG lebt und in der Fabrik arbeitet.«31 Und die mit einem Mann aus ihrem Ort (Rahmi Saltuk als Mahmut) eine





26 Siehe dazu auch Anmerkung 181 in Kapitel 2. 27 Hengameh Yaghoobifarah: »Und es kamen Menschen«, in: Migrazine 1 (2014), http://www. migrazine.at/artikel/und-es-kamen-menschen; zuletzt abgerufen am 20.03.2015. 28 Yaghoobifarah, Und es kamen, o.S. 29 Yaghoobifarah, Und es kamen, o.S. 30 Siehe dazu auch Anmerkung 181 in Kapitel 2. Interessanterweise werden im deutschsprachigen Wikipedia-Eintrag zu Gören mehrere seiner Filme nicht aufgelistet, u.a. auch Almanya Aci Vatan. 31 So der Programmtext zum Film in der Reihe »Kino aus der Türkei von den 60ern bis heute« im Kino Arsenal in Berlin im Dezember 2008, http://www.arsenal-berlin.de/kino-arsenal/programmarchiv/einzelansicht/article/1385/2804//archive/2008/december.html; zuletzt abgerufen am 20.03.2015. Auch in der Ankündigung zur Reihe »Gegen die Leinwände – 50 Jahre 50 Filme!«, die im Kontext des Festivals »Almancı! – 50 Jahre Scheinehe« stattfand, das von August bis Oktober 2011 anlässlich des 50. Jubiläumsjahres des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik und der Türkei vom/im Ballhaus Naunynstraße in Berlin ausgerichtet wurde, heißt es, dass der Film mit seinen alternativen Erzählbildern neue Maßstäbe in der filmischen Erzählung der Arbeitsmigration setzt (siehe http://gegen-die-leinwaende. de/?page_id=679; zuletzt abgerufen am 20.03.2015).

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Scheinehe eingeht, die ihm die Migration in die BRD ermöglicht und die sie sich bezahlen lässt. Für Güldane handelt es sich bei der Eheschließung um eine (zunächst) komplett affektfreie und rein ökonomische Transaktion, die vertraglich festgehalten wird. Der Film formuliert eine dezidierte Kritik an den Arbeits- und Lebensverhältnissen der Arbeiter_innen, vor allem der ›Gastarbeiter‹, der Gurbetçiler, wozu auch eine bewegende und kritische Rede über die Verhältnisse in Almanya gehört. Die Rede, die zusammen mit Güldanes »Nein« zum weiteren Akkordschuften in der Fabrik32 das Ende des Films ankündigt, wird von einem Müllmann (dem Güldane Fotos von seinen Kindern und seiner Frau in der Türkei mitgebracht hat) bei einer Veranstaltung, bei der er mit einer »Reinigungsmedaille« ausgezeichnet wird, auf Türkisch gehalten und von den deutschen Honoratioren bezeichnenderweise nicht verstanden. Als er auf die Frage, was er nach seiner Rückkehr in die Türkei tun wird, antwortet: »Dann werde ich sterben«, und der Übersetzer ihn bittet, lieber etwas Schönes zu sagen, setzt der deutsche Politiker, der die Medaille verleiht, einfach zum Applaus an – völlig egal, was hier gesagt wurde, es geht um den äußeren Anschein für die deutschsprachige Öffentlichkeit. Den Film gibt es erst seit 2007 in einer deutsch untertitelten Version. Erstmalig wurde diese im Rahmen des Festivals Beyond Belonging – Migration2 im HAU Theater (Theater Hebbel am Ufer) in Berlin vom Verein Kultursprünge e.V. gezeigt.33 Im türkischen Filmschaffen gab es in den 1970er und 80er Jahren aber auch eine ganze Reihe von Komödien, die sich über deutsche Behörden, Gesetze, Geschlechterverhältnisse und vieles anderes lustig machten und Geschichten von Aneignung und Ins-Recht-Setzen erzählten. Dazu zählt u.a. Gurbetçi Şaban (Kartal Tibet, TR 1985) mit dem bekannten türkischen Komiker Kemal Sunal in der Hauptrolle (der wie erwähnt auch in Görens Polizei die Hauptrolle spielt), dem es gelingt in jeder Hinsicht Kapital aus den Verhältnissen zu schlagen und sie umzudrehen. Mit einem Tiroler Hut geschmückt erläutert er dem ›deutschen Hans‹, dass in zwanzig Jahren Türkisch die offizielle Sprache in Deutschland sein wird.34 Natürlich haben auch andere Autor_innen solche ›frühen‹ Filme wie die von Şerif Gören ebenfalls als kritische, renitente und eigensinnige Artikulationen gewürdigt, wenngleich innerhalb der beschriebenen generellen Entwicklungserzählung, in der diese als Ausnahmen erscheinen.35 Martina Priessner hebt in einem Text, der vor gut





32 In der wie so oft in solchen Geschichten (nicht nur im Film) Medientechnologien hergestellt werden, in diesem Fall: elektrische Schreibmaschinen. 33 Für das Filmprogramm verantwortlich waren damals neben Shermin Langhoff die Filmemacherin, Kuratorin, Autorin und Kulturwissenschaftlerin Martina Priessner und der Dramaturg, Übersetzer und Kurator Tunçay Kulaoğlu, von dem auch die Untertitel stammen. Sie haben auch dafür gesorgt, dass der Film seither vom Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. in Berlin in deutschsprachigen Ländern verliehen wird. 34 Siehe dazu Özsari, Der Türke, S. 39f. 35 Siehe z.B. Göktürk, Beyond Paternalism, S. 251f.

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einer Dekade verfasst wurde und dort auch von einem sich abzeichnenden neuen Filmschaffen spricht, jedoch hervor, dass solche ›anderen‹ Beispiele wie Polizei oder Berlin in B erlin nicht ohne Grund »außerhalb der deutschen Förderstrukturen entstanden sind«.36 Postmigrantische Perspektiven, also solche, die der Faktizität von Migration Ausdruck verleihen, so liegt die Schlussfolgerung nahe, wurden in Deutschland lange Zeit schlicht nicht finanziert. Zu fragen wäre also (wie ich schon in Kapitel 1 formuliert habe), ob der Blick auf das Kino, auf Migration, Rassismus und den deutschen Ausländerdiskurs, nicht eigentlich auf die Produktionsgeschichten gerichtet werden müsste: Welche Filme wurden wie finanziert, von wem produziert, welchen Einfluss hatten Fernsehredakteur_innen, welche Produktionen haben sich radikal (und wie?) verändert, von der Idee und dem Treatment über das Drehbuch bis hin zum finalen Schnitt? Welche Filme wurden welchen Regisseuren zugestanden, welche Projekte konnten nie realisiert werden, welche Geschichten schlummern immer noch in Schubladen, welche Filme wurden zwar gemacht, kamen aber nie ins Kino und wurden auch nicht auf Video, DVD oder Blu-ray veröffentlicht? Wie verlief also Rezeptionsgeschichte unter ökonomischen Gesichtspunkten? Und was hat sich in der letzten Dekade seit der euphorischen Verkündung eines Umbruchs verändert? Während das Filmschaffen Fatih Akıns, Mennan Yapos oder Thomas Arslans nahezulegen scheint, dass manchen zugestanden wurde, die ›Migranten‹-Schublade zu verlassen (zumindest teilweise, zumindest für manche Produktionen, wobei, wie im Fall von Arslans Western Gold natürlich dennoch von einem deutsch-türkischen Regisseur gesprochen und die Thematik deutscher Auswanderung zur besonderen Pointe erklärt wird),37 wäre zu fragen, wie viel sich mit Blick auf die Ökonomien von Produktion und Rezeption/Distribution tatsächlich geändert hat. Welche Themen, welche Figurationen finden Zugang zu den großen Leinwänden? Mein Unbehagen an der Fortschrittserzählung beinhaltet noch weitere Aspekte. Einer davon betrifft die unheimliche Art und Weise, mit der die aus der westdeutschen ›Ausländerforschung‹ so bekannte Logik der Phaseneinteilung reproduziert wird, in der die Stichworte politischer Entscheidungen gegenüber den Bewegungen



36 Martina Priessner: »Verworfene Realitäten. Neue Bilder, Transkulturalität und Repräsentation der Filmkunst in der BRD«, in: interface (Hg.): WiderstandsBewegungen. Antirassismus zwischen Alltag und Aktion, Berlin/Hamburg 2005, S. 239–246, hier S. 241. 37 Der Eintrag zu »Kino und Migration« auf filmportal.de erklärt unter der Zwischenüberschrift »Migration ist kein Pflichtthema mehr«: »Andere transnationale Regisseure sind über die Frage nach ›Ausländer‹- oder ›Migranten‹-Themen sowieso schon hinweg. Mennan Yapo beispielsweise hat mit Lautlos (2004) einen waschechten Thriller um einen (deutschen) Profikiller inszeniert.« Zu fragen wäre, wieso Yapo seither keinen Film mehr in Deutschland hat realisieren können (aber durchaus beachtliche Erfolge in den USA hat). Produziert werden hierzulande vor allem solche Filme wie die von Sinan Akkuş – Evet, ja ich will! und 3 Türken und ein Baby (D 2015) – oder Meine verrückte türkische Hochzeit von Stefan Holtz, der mit dem Grimme-Preis und dem deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde.

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der Migration privilegiert wurden.38 Einen weiteren Aspekt stellt der Umstand dar, dass die letzten Jahre gezeigt haben, dass den positiven diskursiven Verschiebungen wie der Anerkennung von Migration als Teil deutscher Geschichte weiterhin eine Politik der Dethematisierung von Rassismus in Verbindung mit massiver rassistischer Gewalt gegenübersteht, die nicht etwa weniger geworden ist, sondern offensichtlich zunimmt: von den Tausenden von Toten, die das europäische Grenz- und Migrationsregime zu verantworten hat, bis hin zur Zunahme rechter Gewalt und den Verstrickungen von Polizei, Geheimdienst und rechter Gewalt wie im Zusammenhang mit den sogenannten NSU-Morden, die nur mühsam und allmählich ins Licht der Öffentlichkeit finden. Insbesondere der Fall des NSU (des »Nationalsozialistischen Untergrunds«) zeigt, dass der Unwille, von Rassismus zu reden, in Verbindung mit rassistischen Konstrukten wie der Hypervisibilität des ›kriminellen Ausländers‹ von eigentlich unfassbarer Beständigkeit ist. So richteten sich im Falle der NSU-Morde die polizeilichen Ermittlungen stets zunächst gegen die Opfer selbst. Es wurden Bandenkriminalität oder Familienstreitigkeiten unterstellt und die unsägliche Metapher der »Döner-Morde« kreiert. Dies alles macht nur allzu deutlich, wie beharrlich der ›deutsche Ausländerdiskurs‹ ist.39





38 Wie überhaupt dieser Forschungszweig »bis weit in die 1980er Jahre hinein in einem direkten Dienstleistungsverhältnis zur staatlichen ›Ausländerpolitik‹ stand« (Mathias Rodatz: »Produktive ›Parallelgesellschaften‹. Migration und Ordnung in der (neoliberalen) ›Stadt der Vielfalt‹«, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (2012), S. 70–103, hier S. 74, Anm. 3). Auch Ulrich Herbert formuliert sehr deutlich: »Zwar ist die Ausländerpolitik seit Anfang der 70er Jahre zu einem der bevorzugten Gegenstände sozialwissenschaftlicher Analysen geworden, allerdings folgten diese Arbeiten selbst in zum Teil frappierender Weise den jeweils vorherrschenden Ansätzen der Ausländerpolitik.« (Herbert, Geschichte, S. 9.) 39 Siehe dazu die Beiträge in Imke Schmincke/Jasmin Siri (Hg): NSU-Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund. Ereignis, Kontexte, Diskurse, Bielefeld 2013. Die seit 2002 von der Friedrich-Ebert-Stiftung alle zwei Jahre durchgeführten »Mitte-Studien« belegen, »dass rechtsextremes Denken in allen Teilen der Gesellschaft in erheblichem Maße verbreitet ist.« (Oliver Decker/Johannes Kiess/Elmar Brähler: Die Mitte im Umbruch. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2012, Bonn 2012, S. 7.) Die Studie von 2012 verzeichnet außerdem einen bedenklichen Anstieg rechtsextremer Überzeugungen. Die Studie von 2014 stellt wiederum eine Abnahme rechtsextremer Einstellungen fest, aber auch deren Credo lautet, dass chauvinistische, ausländerfeindliche, rassistische, rechtsextreme Einstellungen in der Gesellschaft weit verbreitet sind (vgl. das Presse-Handout vom 20.11.2014 mit der Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse, http://www.fes-gegen-rechtsextremismus.de/; zuletzt abgerufen am 20.03.2015, sowie Andreas Zick/Anna Klein: Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Bonn 2014.). Die Polizeiliche Kriminalstatistik für 2014 registrierte hingegen einen sprunghaften Anstieg rechter Gewalt, insbesondere zeigt sich eine massive Zunahme von Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte (›Asylbewerberheime‹). Siehe auch die entsprechenden Ergebnisse der von 2001 bis 2011 durchgeführten Langzeitstudie von Wilhelm Heitmeyer Deutsche Zustände (die jährlichen Bände sind alle

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Dennoch stellt sich die Frage, wo postmigrantische Perspektiven zu finden wären und wie sie aussehen könnten – jenseits von neokonservativen Elementen in ›Türkenkomödien‹, von beständig aufs Heiraten, auf die Familie ausseienden seichten Liebesdramoletten, in denen migrantische Ankunft lediglich im Privaten stattfindet.40 Es gibt ja nicht nur die ›großen Leinwände‹ und auch andere Ausstrahlungsorte als das deutsche Fernsehen (wörtlich verstanden sowieso). Ein Film wie Almanya Aci Vatan ist beispielsweise im Kontext einer die Koordinaten deutscher Kulturproduktion herausfordernden Theaterarbeit ›entdeckt‹ worden, was einerseits sicherlich auch ein Zeichen für die Veränderungen der Praktiken und Räume des Kinos ist und andererseits aber vor allen Dingen darauf verweist, dass die Suche nach anderen Bildern der Migration eine Perspektivenverschiebung auch hinsichtlich der Orte der Produktion und Rezeption bedeutet. Auch in dieser Hinsicht möchte ich im Weiteren von der Perspektive der Migration – auch anstelle des Prädikats ›postmigrantisch‹41 – sprechen.

5.3 Im Werden Begonnen habe ich diese Arbeit damit, den Blick auf den ›Mainstream‹ zu richten, auf Spielfilme und deren Intelligibilität im Sinne des Ausländerdiskurses. Spielfilme, die die Markierungen dieses Diskurses und gesellschaftlich Unausgesprochenes in Szene setzen und jene Fiktionalisierung leisten, durch die nach Rancière das Reale ›gedacht werden kann‹. Spielfilme sind aber auch dasjenige Genre, in dem der deutsche Ausländerdiskurs vorwiegend verhandelt wurde – und sie als authentisch, als ›Dokumente‹ imaginierte. Sie tragen zu dem bei, was ich als Durcharbeiten bezeichnet habe. Sie erzählen Geschichten, wo eben jene Verhandlungen aus der offiziellen Geschichte



bei Suhrkamp erschienen), in der auch der etwas krude Neologismus »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« geprägt wurde, den auch die FES-Studie verwendet und in dem Rassismus nur ein Teilphänomen darstellt. Zum NSU siehe außerdem Bodo Ramelow (Hg.): Schreddern, Spitzeln, Staatsversagen. Wie rechter Terror, Behördenkumpanei und Rassismus aus der Mitte zusammengehen, Hamburg 2013 sowie Dostluk Sineması (Hg.): Von Mauerfall bis Nagelbombe. Der NSU-Anschlag auf die Kölner Keupstraße im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre, Berlin 2014 und Stefan Aust/Dirk Laabs: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, München 2014. 40 Diese Filme verweisen jedoch auf die Zentralität von Genealogie als zentrale Kategorie des deutschen Ausländerdiskurses. Siehe dazu Kapitel 2, insbes. 2.3. 41 Es wird sich zeigen, ob sich der Begriff »postmigrantisch« vergleichbar zu »postkolonial« theoretisch stark, aber auch konkret forschungspraktisch operationalisierbar machen lassen wird, oder ob sich hier nicht doch die missverständliche Reduktion auf ein zeitliches Danach durchsetzen wird, wonach sich Postmigration nur auf das Angekommen-Sein der ehemaligen Gastarbeitsmigration bezieht und quasi gegen aktuelle Migrationsbewegungen ausgespielt wird.

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herausfallen (Migration) oder nicht adressiert werden (›Rasse‹ respektive Rassismus). Eben jene Geschichten, deren Erinnerung, wie Manuela Bojadžijev ausführt, entscheidend sind für eine Rassismustheorie, die die Kämpfe zu ihrem Ausgangspunkt macht: Eine relationale Theorie des Rassismus muss sich die Situation der Überdeterminierung in Europa, der Verschränkung von unterschiedlichen Zeitlichkeiten und Räumlichkeiten, vergegenwärtigen und sie konzeptualisieren. Einem Antirassismus müsste es gelingen, die unterschiedlichen ›nationalen Situationen‹ in Europa in Kommunikation zu bringen und sich die darin enthaltenen Widersprüche im Sinne einer entidentifizierenden Taktik zunutze zu machen. Die in einem solchen Prozess zu entwickelnden offenen Subjektivitäten können nicht auf ein Subjekt der Geschichte rekurrieren […] aber die Subjekte der Geschichte, ihre Geschichte und ihre Geschichten der Kämpfe der Migration müssen sie kennen.42

Wenn Spielfilme nun also einerseits Kluges ›weiteste Erzählfläche‹ aufspannen, so tun sie dies jedoch zumeist innerhalb bestimmter Konventionen der Darstellung/der Repräsentation, die mit Bojadžijev die Geschichte/n zum Prozess nur eines – des – Subjekts gerinnen lassen. Eine »entidentifizierende Taktik«, die »die Geschichte konsequent als einen ›Prozess ohne Subjekt‹« denkt, bedarf jedoch notwendigerweise auch anderer visueller Strategien. Wie Deleuze in seinem zweiten Kino-Band Das Zeit-Bild schreibt: »Um das Klischee zu überwinden, genügt es nicht, es zu parodieren, es zu durchlöchern oder zu entleeren.«43 Mit von Osten und Bernstorff 44 gehe ich davon aus, dass das symptomatische Durcharbeiten, welches unter anderem durch die Filme, die ich in dieser Arbeit in den Blick genommen habe, geleistet wird, Raum schafft für jene anderen visuellen Subjektivierungsstrategien, die auch die Überwindung des Klischees darstellt. Laura Marks hat solche Strategien als ›interkulturell‹ bezeichnet und definiert den Begriff wie folgt: Intercultural cinema is characterized by experimental styles that attempt to represent the experience of living between two or more cultural regimes of knowledge, or living as a minority in the still majority white, Euro-American West. The violent disjunctions in space and time that characterize diasporan experience – the physical effects of exile, immigration, and displacement – also, I will argue, cause a disjunction in notions of truth. Intercultural films and videos offer a variety of ways of knowing and representing the world. To do this they must suspend the representational conventions that have held in narrative cinema for decades, especially the ideological presumption that cinema can represent reality […]. Formal experimentation is thus not incidental but integral to these works.45



42 Bojadžijev, Die windige Internationale, S. 282. 43 Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 37. 44 Siehe dazu der Abschnitt »Durcharbeiten« in Kapitel 1.

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›Interkulturell‹ ist nun im deutschen ein nicht unproblematischer Begriff, weil er bereits fest etabliert ist in Konzepten wie der Interkulturellen Pädagogik, die meistens nur eine semiologische, aber keine semantische Verschiebung vom Begriff des Multikulturalismus beinhalten: Kulturen sind hierin abgegrenzte Entitäten, die miteinander in Kommunikation gebracht werden, überlappen, sich begegnen, sich konfrontieren, Konflikte auslösen, aber in ihrer jeweiligen Einheit unhinterfragt bleiben. Marks selbst führt einige mögliche Einwände gegen ihre begriffliche Konzeptualisierung aus und will »interkulturell« daher auch nur pragmatisch verwendet wissen, was vor allen Dingen bedeutet, den Begriff gerade nicht mit besonders viel konzeptuellem Gewicht auszustatten, jenem Gewicht, das andere im Diskurs etablierte Begriffe mit sich tragen – wie hybrid oder postkolonial (oder auch das Gewicht der theoretischen Unschärfe wie im Fall von postmigrantisch) – und die sie gerade deshalb nicht einsetzt: Sie bringen zu viel ›theoretisches Gepäck‹ mit.46 Daher lautet die Frage nicht so sehr, wie es zu nennen ist, dieses ›Kino‹, sondern welches denn nun die »emerging forms of expression, that are doubtless to come«47 wären, wie sie die kanadische Filmwissenschaftlerin Marks vorwiegend für den nordamerikanischen Kontext in The Skin of the Film untersucht hat – und zwar im Hinblick auf meine Fragestellung. Denn, wie bereits zitiert, die formalen Experimente sind für Marks hier nicht zufällig, sondern wesentlich: not incidental but integral. Marks’ Argument lässt sich an Rancières dissensuelles Kino anschließen, mit dem das ›Reale der Fiktion‹ und die ewige Wiedererkennbarkeit beschädigt werden können. Das dissensuelle Bild ist in der Lage, einen Umbruch zu erzeugen »im Verhältnis von Realem und Fiktionalem, von Vergangenheit und Gegenwart, von Geschichte und jenen Geschichten, die gleichzeitig die Trennung und die gegenseitige Unterstützung dieser verschiedenen Domänen regelten.«48 Rancière verwehrt sich dabei gegen die pessimistische Beschwörung einer Herrschaft des (disjunktiven) Bildes, in dem sich einerseits das Reale aufgelöst habe und das andererseits zugleich im unendlichen Datenstrom des Virtuellen weggeschwemmt wird49 und konstatiert vielmehr eine dynamische Relation von Nähe und Distanz: Etwas ist mit dem Realen geschehen. Es hat sich in die Tiefe des Bildes zurückgezogen. Es hat sich verdoppelt. Einerseits hat es sich in seine bilderlose Singularität zurückgezogen, scheint fern und opak. Andererseits hat es sich uns angenähert, in den gegenwärtigen Bildern, die diesen Prozess in Szene setzen.50



45 46 47 48 49 50

Marks, The Skin, S. 1; Hervorh. N.H. Vgl. Marks, The Skin, S. 6. Marks, The Skin, S. XVI. Rancière, Und das Kino, S. 145. Vgl. Rancière, Und das Kino, S. 142. Rancière, Und das Kino, S. 144.

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Die Opazität, die Rancière jenseits des Bildes verortet, möchte ich nun in einem nächsten Schritt auch als eine mögliche Qualität jener ›nahen‹ und › gegenwärtigen‹ Bilder betrachten, die ein Kino im Dissens mit dem deutschen Ausländerdiskurs auszumachen vermögen. 5.3.1 Opazität: Unsichtbar werden

Der Blick auf das sogenannte islamische Bilderverbot im Kapitel 3 hat gezeigt, dass es in diesem nicht um ein Verbot von Bildern per se geht, sondern um die Infragestellung von Abbildlichkeit, also der Problematisierung der Deckungstreue von Darstellung und Dargestelltem. Wie İpşiroğlu schreibt, kennt der Islam »keine getreue Nachahmung der diesseitigen Welt.«51 So wird das ›Verbot‹ auch immer wieder mit der Kunst der Moderne in Verbindung gebracht. Markus Brüderlin, Kurator der Ausstellung Ornament und Abstraktion, die er 2001 in der Fondation Beyeler in Basel präsentiert hat, sieht als »Angelpunkt zwischen den reich dekorierten islamischen Objekten […] und den reduzierten Bildern der westlichen Abstraktion […] das in vielen Kulturen vorkommende Bild- oder Abbildverbot.«52 Die moderne Abstraktion ist für ihn »säkularisierte Bilderfeindlichkeit«.53 Bilderfeindlichkeit halte ich hier zwar für einen irrtümlichen Begriff; worauf Brüderlin jedoch zu Recht verweist, ist die Infragestellung von Abbildungstreue durch das Bilderverbot. Dieser Kritik an einer bestimmten Bildlichkeit kommt im Verhältnis zu dem, was ich als Ausländerdiskurs beschrieben habe, eine wesentliche Rolle zu. Das abbildende Verhältnis zur Welt hat in der Zentralperspektive seinen signifi­ kantesten Ausdruck – seine symbolische Form – gefunden. Der darin gründende konventionelle Bildbegriff begreift den Sinn eines Bildes nicht in sich selbst liegend, sondern in seinem Inhalt. Dieser Inhalt liegt wiederum nicht im Bild selbst, sondern dieses spiegelt ihn wider, das Bild ist in diesem Sinne immer ein Bild von etwas. Diese Vorstellung beinhaltet die Idee der Transparenz: das Bild als Durchsicht (auf etwas). Dem (zentral-)perspektivischen Bild wurde in diesem Sinne Realismus als Movens unterstellt. Jedoch, so Gottfried Boehm, liegt im Transparenzgedanken ein grundsätzlicher Fehlschluss. Wäre das Bild in der Tat darauf aus, sich von der Realität nicht (mehr) zu unterscheiden,





51 İpşiroğlu, Das Bild im Islam, S. 9. 52 Markus Brüderlin (Hg.): Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, Köln 2001, S. 82. Laura Marks erörtert in »Taking a Line for a Walk« (in: Third Text 3 (May 2009), S. 229–240) nicht nur die Verbindungslinien zwischen klassischer islamischer Kunst und Europäischer Moderne, sondern erweitert dies auch auf ein Weiterdenken islamischer ästhetischer Theorie – konkret dem Atomismus – in zeitgenössischer digitaler Kunst. 53 Brüderlin, Ornament, S. 82.

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das Bild würde sich mit der Erreichung dieses Ziels selbst aufheben. Man müßte sagen: Bild soll nicht sein, Realität soll sein, genauer: das Bild soll Realität werden. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, stellt man überrascht fest, daß die vollendete Abbildlichkeit, d.h. der Illusionismus, mit der perfekten Ikonoklastik konvergiert. Mitten im gelungenen Abbild nistet eine bildaufhebende Kraft.54

Auch Stefan Majetschak verweist auf die dem Bild – jedem, insbesondere aber eben auch dem zentralperspektivischen – eignende Opazität: Ein in aller Bilderfahrung aufweisbares Moment, das eine nicht unerhebliche Differenz zwischen Bild und Sprache bezeichnet, ist zweifellos das, was man gelegentlich die ›Opazität‹ des Bildes genannt und von seiner Transparenzdimension, seiner eigentümlichen Fähigkeit, Durchblick auf etwas in ihm Sichtbar-Werdendes zu eröffnen, unterschieden hat. Die Rede von der ›Opazität‹ des Bildes meint dabei, dass jedes Bild mit allem Sichtbar-Machen von etwas stets auch sich selbst zeigt – sozusagen seine medialen Eigenschaften als solche in den Blick rückt – und in dieser Hinsicht gerade nicht transparent und durchblickseröffnend, sondern für das Betrachterauge opak, d.h. durchblicksverweigernd, erscheint.55

Die Bildtheorie hat sich, so Majetschak, insgesamt relativ wenig für die Opazitätsdimension in der Bilderfahrung (die »stets kopräsent ist mit der Transparenz des Bildes«56) interessiert, obwohl sie eine Voraussetzung jeder Bildlichkeit ist. Denn wenn reine Transparenz erreicht wird, wäre von Bildwahrnehmung nicht mehr zu sprechen.57







54 Gottfried Boehm: »Die Bilderfrage«, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, München 1994, S. 325–343, hier S. 336. Mit André Bazin wäre Film, nach Vinzenz Hedigers Lektüre, allerdings weniger als zentralperspektivisches Medium, das auf Illusion als Pseudorealismus abzielt, sondern eher als Medium eines ›kosmologischen Realismus‹ zu begreifen. Die Zentralperspektive ist mit Bazin dann auch weniger Erfüllung eines christlichen Bildbegriffs als dessen Sündenfall. Für Bazin, so Hediger, findet mit Film eher eine Wirklichkeitsübertragung im Sinne von Transsubstantiation statt: Film ist damit Realpräsenz – der Welt und des Lebens. Genauer: Das ist der Idealfall des Kinos, den es für Bazin zu erreichen gibt und der daher beim Filmemachen zwischen einem Glauben an das Bild und einem an die Realität unterscheidet (und um letzteren geht es ihm): »Man könnte, Bazin fortschreibend, zwischen dem Bild als Aufnahme und dem Bild als Darstellung unterscheiden: dem Bild, das die Dinge als solche in sich aufnimmt, und dem Bild, das Ergebnis der Abstraktionen der künstlerischen Subjektivität ist und sich zwischen die Dinge und ihre Wahrnehmung schiebt.« (Hediger, Das Wunder, S. 78–79). 55 Stefan Majetschak: »Opazität und ikonischer Sinn. Versuch, ein Gedankenmotiv Heideggers für die Bildtheorie fruchtbar zu machen«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft zwischen Reflexion und Anwendung, Köln 2005, S. 177–194, hier S. 178–179. 56 Majetschak, Opazität, S. 180. 57 Majetschak, Opazität, S. 181.

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In diesem Sinne kann auch Deleuzes Wendung vom Klischee zum Bild an sich verstanden werden: das Bild, das zeigt und sich zeigt.58 Damit erfährt die Infragestellung der Zentralperspektivierung der Welt, wie sie beispielsweise im Barock stattfand, eine Erweiterung auf das dem Bild an sich Mögliche. Entsprechend beschließt Martin Jay in diesem Sinne auch seine Ausführungen zum Barock als alternatives »scopic regime«: We may learn to wean ourselves from the fiction of a ›true‹ vision und revel instead in the possibilities opened up by the scopic regimes we have already invented and the ones, now so hard to envision, that are doubtless to come.59

Die Wendung, mit dem Bild gegen den Inhaltismus zu denken und auf die grundsätzliche Opazität des Bildes zu bestehen, ruft auch jenes Recht auf Opazität auf, das Édouard Glissant in seinem Entwurf eines relationalen Denkens bzw. Seins als Weltverhältnis entwirft: Agree not merely to the right to difference but, carrying this further, agree also to the right to opacity that is not enclosure within an impenetrable autarchy but subsistence within an irreducible singularity. Opacities can coexist and converge, weaving fabrics. To understand these truly one must focus on the texture of the weave and not on the the nature of its components. For the time being, perhaps, give up this old obsession with discovering what lies at the bottom of natures.60

Opazität bedeutet hier, sich der Vereindeutigung zu widersetzen, die sich auch in Sichtbarkeitsvorstellungen ereignet. Deutlich wird dies besonders an zwei Figuren beziehungsweise umkämpften Feldern, mit denen ich mich in dieser Arbeit bereits auseinandergesetzt habe: dem Schleier (dem Kopftuch) und der illegalisierten Migration. Beide tragen dazu bei, die Weise, in der die Dinge zu sehen gegeben sind, zu rekonfigurieren. Der Schleier ist, wie ich in Kapitel 3 ausgeführt habe, »weniger [als] Kleidungsstück denn Schnittstelle«61 zu begreifen. Er ist »im elementaren Sinne eine Anschauungsform. Der Blick auf den Gegenstand bricht sich an dem Widerstand seiner Textur und erschafft ein Bild aus Wahrnehmung, Wahrnehmungsirritationen und imaginären Supplementen der entzogenen Wahrnehmung«, wie Patricia Oster in Der Schleier im Text ausführt. Der Schleier gehört zu jenen Gewebemetaphoriken, die den »Text als Textur fruchtbar machen«.62 Der Schleier als Anschauungsform heißt demnach, die



58 59 60 61

Vgl. Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 36. Jay, Scopic Regimes, S. 20; Hervorh. N.H. Glissant, Poetics, S. 190; Hervorh. N.H. Barbara Wahlster: »Die Kamera und der Schleier«, in: Helga Gläser/Bernhard Groß/Hermann Kappelhoff (Hg.): Blick Macht Gesicht, Berlin 2001, S. 248–282, hier S. 260. 62 Patricia Oster: Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, München 2002, S. 9.

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Wahrnehmungsform des Schleiers mit dem Prozess der Lektüre an sich zu vergleichen, die Aktualisierung des Textes durch den/die Leser_in: Denn der Leser wird durch ein Textgewebe konditioniert, das ihn anregt, imaginäre Projektionen erst zu erzeugen. Insofern kann der Schleier als ein Bild für den Text und seine Aktualisierung durch den Leser interpretiert werden. Der literarische Textbegriff wird dabei um das Moment des Imaginären und dessen ästhetische Realisierung erweitert.63

Oster bezieht sich hier dezidiert auf Bildtheorien, die das Bild in struktureller Nähe zur Vorstellung des Schleiers beschreiben.64 Der Schleier verweist damit auf jene Aktualisierung durch das Sehen, das Zu-Sehen, das Filme-Sehen, das An-Sehen, welches Dorothée Kreuzer im Sinne des islamischen Bilderverbots als »Dekonstruktion der filmischen Abbildlichkeit zum ›als ob‹« und »Sinnbildung durch Wiederholung und Variation«65 entworfen hat. In diesem Sinne sind visuelle Strategien der Unsichtbarkeit, der Opazität, der Vermitteltheit im Bild zu denken, die sich bereits in den Maschrabiyya-shots bzw. -Einstellungen, die in den hier besprochenen Filmen auftauchen, andeuten. Es geht also um Bilder, die an die Stelle von Inhaltismus und Illustration (Ins-Bild-Setzen) etwas vorenthalten. Anstatt den Schleier als das zu denken, welches die Wahrheit verdeckt, »die erst entschleiert werden muß«,66 steht er so für das »Inbild eines durch die Vorstellungskraft geweckten Imaginären, in dem sich über jede Realität hinausreichende Vollkommenheit konkretisieren kann.«67 Die (vermeintlich) unsichtbare Migration, die sogenannte irreguläre, klandestine (heimliche, verborgene) oder ›illegale‹ Migration, gilt als deren prekärste Form. Ich verwende hier den Begriff der illegalisierten Migration, um deutlich zu machen, dass die ›Illegalität‹ das Ergebnis eines bestimmten Grenz- und Migrationsregimes ist und eben gerade nicht eine konstitutive Qualität von Bewegungen der Migration.68 Diese stellt nun die Konzeptionalisierung des Politischen als Raum der Repräsentation per se in Frage. Die illegalisierte Migration setzt zunächst als Bedingung ihrer Möglichkeit ihre (bedingte) Unsichtbarkeit69 voraus – eine problematische Bedingung, die jedoch nicht, wie so oft imaginiert, durch Sichtbarmachung überwunden werden kann. Ille-



63 64 65 66 67 68 69

Oster, Der Schleier, S. 9–10. Vgl. Oster, Der Schleier, S. 14. Kreuzer, Die Kollision, S. 97. Oster, Der Schleier, S. 19. Oster, Der Schleier, S. 19. Siehe dazu auch Kapitel 2, v.a. Anm. 113. Tatsächlich geht es bei dieser Unsichtbarkeit nur um das Nicht-Entdeckt-Werden: sich den Kontrollradaren entziehen, um die Grenzpassagen zu schaffen und den jeweiligen Aufenthalt nicht zu gefährden. Illegalisierte Migration als Thema, als Politikum, als Konstrukt, ist in Bildern wie dem der ›Flüchtlingsströme‹ hingegen hypersichtbar.

Schluss: Die Perspektive

der

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galisierung ist als Zustand der Entrechtung zu politisieren und nicht als Jenseits der Repräsentation zu problematisieren. Repräsentation in diesem Sinne setzt Repräsentation als Darstellung mit Repräsentation als Vertretung gleich. Sichtbarmachung gilt so als Transfer in den Raum des Politischen und wird als Strategie gegen Illegalisierung imaginiert. Brigitta Kuster beschreibt daher in »Die Grenze filmen« als (negative) medienpolitische Lehre aus einer Politik der Sichtbarmachung – man muss das Elend sehen können, um es zu erfassen – die Überführung des »›Ereignisses Migration‹ in ein rezentriertes ›Bild der Migration‹«.70 Sie greift exemplarisch die Aktion der Cap Anamur vom Sommer 2004 heraus, bei der die Rettung von zwischen Malta und Lampedusa havarierten Bootsflüchtlingen als Medienspektakel der Aufklärung inszeniert wurde, bei dem es unter anderem darum ging, so Cap-Anamur-Chef Bierdel, »Europa auf das tägliche Elend vor seiner Haustür aufmerksam zu machen«.71 Anstatt das (von Maurizio Lazzarato formulierte) videophilosophische Versprechen von Einmischung und von Ereigniszeit als Bewegungsraum einzulösen, haben sich die Direktübertragungen von der ›Cap Anamur‹ in der Konfrontation mit dem geballten Machtapparat des Fernsehdispositivs als bloße Bilder der Migration erwiesen: Statt dass sie eine Position in der zugespitzten Dynamik zu besetzen vermochten, gerieten die aus Seenot Geretteten im Fokus der permanent auf sie gerichteten Kameras in das Bild jener dokumentarischen Realisierungen, das sie Abend für Abend in Fernsehwohnzimmern als potenziert hilflose, als immobilisierte und schlecht soufflierte Spielbälle der Macht porträtierte.72

Auch Brigitta Kuster geht es um die Auslotung des Verhältnisses von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit und darum, die scheinbare Notwendigkeit eines Auftauchens oder Erscheinens in einer »reterritorialisierten Sichtbarkeit« ›nach‹ der Migration (lediglich als Grenzpassage, als Bewegung von A nach B gedacht) zu hinterfragen und sich stattdessen auf die Bedingungen der Wahrnehmung zu konzentrieren, jener Wahrnehmung beispielsweise, wie sie für Illegalisierte unabdingbar ist.73 Wenn ich nun davon spreche, dass es sich um Bilder handelt, die im Werden sind, dann meine ich zum einen das stets im Entstehen begriffene, mögliche andere Bild als Denkfigur, ebenso wie ich damit offene Bilder meine, die jenseits des Zwangs zur Repräsentation und der Viktimisierung agieren, aber eben auch zukünftige ›emerging forms of expression, that are doubtless to come‹, die im doppelten Wortsinn nicht feststellen (nicht indizieren, nicht fixieren). Dieser Blick auf die Zukunft war im Be-



70 71 72 73

Kuster, Die Grenze filmen, S. 190. Zit. in Kuster, Die Grenze filmen, S. 189, Anm. 4. Kuster, Die Grenze filmen, S. 189–190. Vgl. Kuster, Die Grenze filmen, S. 200–201.

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griff des Durcharbeitens bereits enthalten, was auch ganz konkrete Gründe hatte. Seit den 2000er Jahren lässt sich eine beständig wachsende Zahl von Arbeiten beobachten, die nicht in konventionellen Formen der Erzählung organisiert sind, sondern sich an jene formal experimentations wagen, die Laura Marks adressiert hat und die damit ein anderes Denken als das der Logik des Ausländerdiskurses sichtbar machen, ein anderes Sehen denkbar. Dies ist unter anderem auch darin begründet, dass das Geschichtenerzählen zunächst eine notwendige Voraussetzung geschaffen hat, Migration anwesend zu machen. Arbeiten also, die, anstatt das Klischee »zu parodieren, zu durchlöchern, zu entleeren«,74 Nicht(s) Zeigen,75 d.h. im Sinne des Ausländerdiskurses sich nicht über V/Erkennbarkeit organisieren. Diese Arbeiten – und ich spreche hier von Arbeiten, weil es sich nicht nur um Filme und Videos handelt, sondern auch um Installationen und andere, auf das Kinematografische zurückgreifende, es aber stets erweiternde Formen des (künstlerischen) Ausdrucks – bilden nun jenes Darüberhinaus, das nicht mehr der Indexikalität des Ausländerdiskurses verschrieben ist, sondern ein mögliches Anderes projiziert. Ich möchte an dieser Stelle einige konkrete Beispiele herausgreifen, die nicht nur in ihrer filmischen Ästhetik, sondern auch als Produktionen auf eine Verschiebung hinweisen. Während deutsche (Spiel-)Filme natürlich auch international organisiert sein können (beispielsweise durch Produktionsgelder aus verschiedenen Ländern), beginnt mit Videoproduktionen und der Videokunst die Benennung als ›deutsch‹ komplizierter zu werden. Die Arbeiten, die ich hier bespreche, sind inhaltlich und formal als Herausforderungen des deutschen Ausländerdiskurses zu verstehen, und sie entziehen sich auch selbst einer Zuordnung. So werden für viele der hier relevanten Arbeiten keine Produktionsländer genannt (was natürlich teils schlicht den anderen ›Credits‹-Konventionen der Kunst geschuldet ist), manchmal ersetzt der konkrete Ort den nationalen Container (z.B. Berlin statt ›D‹). Diejenigen, die die Filme/Videos realisieren, haben möglicherweise einen deutschen Pass, leben vielleicht in Deutschland, vielleicht aber auch weder noch. Es entsteht eine zunächst rein deskriptiv verstandene Transnationalität, die sich auch im Einsatz von Englisch als Lingua franca insbesondere der Globalisierung (von oben und von unten) und auch des globalisierten Kunstmarkts äußert. Die in Brasilien geborene Künstlerin Maria Thereza Alves (die heute in Berlin und manchmal auch in Rom lebt, oder, wie sie selbst formuliert, in Europa) hat das Video Bruce Lee in the Land of Balzac (F 2007, 2min) während eines Stipendienaufenthaltes in Frankreich realisiert. Sie beschreibt dieses wie folgt:

74 Deleuze, Das Zeit-Bild, S. 37. 75 So der Titel eines Videoprogramm-Projekts, das ich 2007 begonnen habe und bislang im Kontext eines Kunstraums, einer Tagung, zweier Workshops, einer universitären Lehrveranstaltung und eines Kinos in einem Theatergebäude gezeigt habe.

Schluss: Die Perspektive

der

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What does a Brazilian artist do when confronted with the vast beauty of the French landscape? A beauty which the French writer, Honoré de Balzac, wrote exactly and precisely about. In particular, he wrote about this area, Saché, and human nature as bent by the structures of the local society’s ›normality‹.76

In diese Landschaft setzt sie nun »the ›Other‹« ein, »removed but now replaced within the context – and there is no return«.77 Es gibt kein Zurück hinter die Anwesenheit der/des Anderen, es gibt kein Zurück in die ›Normalität‹. Was wir sehen: eine statische Kameraeinstellung, die den Nebel einer Flusslandschaft einfängt, Himmel, Horizont, Fluss, Wald verschwimmen zu einer einzigen blaugrau wabernden Wolkenformation. Darüber, plötzlich, Bruce Lees Kampfschrei, eine ansteigende Tonfolge, dann im Rhythmus mit Schlägen Zäsuren setzend, in tieferen Registern. Ein Soundtrack, den man erkennt, selbst wenn man kein Bruce-Lee-Fan ist und sich weder in Details zu den Spekulationen um seinen frühen Tod noch zu seiner ebenso sagenumwobenen Kampfkunst, dem Jeet Kune Do, ergehen kann (oder mag). Bruce Lee ist eine Ikone des transnationalen Kinos, ein Kino, das unser kulturelles Imaginäres formt, auch dann, wenn wir es gar nicht selbst gesehen haben.78 Das System der ›Residencies‹ ist heute eine typische Form, mit der Künstler_innen ihr Leben organisieren (finanzieren) können (und es trägt zu einer Parallelisierung von Migration und Kunst bei, vergleichbar zum Verhältnis von Migration und Tourismus, allerdings noch nicht ausreichend theoretisch erfasst79). Ausstellungsprojekte sind oft mit Arbeitsaufenthalten verbunden, aus denen wiederum häufig ortsspezifische Projekte hervorgehen, die, selbst wenn sie nicht als Auftrag an das jeweilige Stipendium geknüpft sind, der Selbst-/Verortung dienen, der Auseinandersetzung mit der Frage der Lokalität und der eigenen steten Relokalisierung. Bruce Lee in the Land of Balzac ist auch ein Kommentar zur Suche nach dem Ort des Sprechens, der Artikulation eines transnationalen Selbst, und die in ihrem Fall damit verbundene Kritik am weißen



76 Filmbeschreibung der Künstlerin auf der Webseite ihres deutschen Verleihs, dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst: http://films.arsenal-berlin.de/index.php/Detail/Object/ Show/object_id/9266; zuletzt abgerufen am 20.03.2015. 77 Ebd. 78 Siehe dazu auch Kapitel 1, Anm. 240. 79 Siehe zu Tourismus und Migration Holert/Terkessidis, Fliehkraft. Zum Reisen als konstitutives Element in der heutigen künstlerischen Praxis und zur Rolle des Reisens in den neuen Verbindungen von Ethnografie und Kunst sowie zu einigen künstlerischen Arbeiten, die Migration als reisendes Projekt inszenieren siehe den Eintrag »Reisen« im »Alphabet der transdisziplinären Forschung« des seit 2012 an der HafenCity Universität Hamburg angesiedelten Graduiertenkollegs »Versammlung und Teilhabe. Urbane Öffentlichkeiten und performative Künste«, http://www.versammlung-und-teilhabe.de/cms/; zuletzt abgerufen am 30.03.2015.

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Europa, am kolonialen Inbesitznehmen anderer Welten, wie sie Alves auch in anderen Arbeiten formuliert.80 Das nächste Beispiel ist Oliver Husains Video Green Dolphin (CDN 2008, 15min). Husain ist in Offenbach aufgewachsen, hat dort an der Hochschule für Gestaltung Experimentalfilm studiert und ist mit Musikvideos, Installationen und Arbeiten zwischen Performance und Film bekannt geworden. Er lebt heute vor allem in Toronto.81 In Green Dolphin erschafft Husain ein nahtloses Kontinuum zwischen Malaysia und Kanada, indem er die philippinisch-kanadische Amateurtänzerin Carmencita Hill Lana Turner channeln lässt. Hill, Husains Protagonistin, erzählt die Geschichte aus dem titelgebenden Filmdrama Green Dolphin Street von 1947 als ihre eigene, wobei der Konflikt zweier Schwestern um einen Mann und die Perspektive kolonialen Siedlertums in Neuseeland zu einem postkolonialen Beziehungsgeflecht zwischen Neufundland und Kuala Lumpur, zwischen Toronto und Jakarta wird. Transnationales Kino ist hier ganz konkret die subjektive Aneignung eines US-amerikanischen Hollywoodfilms als eigene Biographie. Green Dolphin setzt dabei transnationale Ökonomien wie christliche Missionen, Heiratsmärkte, postalische Kommunikation und nicht zuletzt das Kino ins Bild. Verwoben wird das Ganze mit Texturen wie einem grünen Kopftuch, einem roten Tanzkleid, einem Nonnenschleier und der schieren Kraft der (fiktiven? echten? was macht hier den Unterschied?) Erzählung, in der Zeit und Ort vollständig diasporisch werden. Husain ist dabei nicht einfach ein ›indisch-deutscher Videokünstler‹, in dessen Arbeiten sich Biografisches ausdrückt, das dann genau darin aufgehoben ist. Er ist aber auch nicht nicht ein indisch-deutsch-kanadischer Videokünstler, dessen Arbeiten unabhängig von eben jenem Erfahrungsraum abgekoppelt sind. Green Dolphin ist vielmehr eine jener Arbeiten, die die Perspektive der Migration einnehmen. Was hier heißt: Migration entfaltet sich als Erzählraum. Anders als das Narrativ des deutschen Ausländerdiskurses dienen die Erzählungen der Migration nicht der Verfestigung, sie kennzeichnen vielmehr Auslassungen, Entfernungen82 und Destabilisierungen, die sich zu den bekannten Narrativen von Ursprung, Gerichtetheit und Ankunft hinzufügen:



80 Alves, die sich auch politisch betätigt und seit vielen Jahren an indigenen Kämpfen beteiligt ist (u.a. begann sie 1979 für den International Indian Treaty Council in New York City zu arbeiten und ist/war auch in Brasilien aktiv), setzt dabei oft ethnografische Strategien ein, so z.B. in Male Display among European Population (2008, 2min), oder in What is the Color of a G erman R ose ? (2005, 6min). Einen Überblick über einen Teil ihrer Arbeiten findet sich bei der sie vertretenden Galerie Michel Rein (Paris), http://michelrein.com/en/artistes/ portfolio/34/Maria%20Thereza%20Alves; zuletzt abgerufen am 25.03.2015. 81 Mehr Informationen zu seinen Arbeiten finden sich auf der Webseite von Oliver Husain, www. husain.de; zuletzt abgerufen am 25.03.2015. 82 Z.B. das Verbrennen der Papiere, wie die jungen Brûleurs aus dem Maghreb, die, seit Spanien 1991 Schengen beigetreten ist, auf die Visumspflicht mit dem Auslöschen des Nachweises ihrer Herkunft im Versuch, nach Europa zu gelangen, reagiert haben.

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I often begin with a portrait of a person or place. The outcome is a video or film, a text or a textile; something foldable that can be stored away easily, or something standing on thin chopstick legs. Something that might collapse under the eyes of the viewer – in a film, this could be its fragile narrative structure. The viewers are left with holding up their side by themselves. In this way, I am constructing attractive traps.83

Aus Verunsicherungen werden visuelle Verlockungen für das Zusehen, aus denen nicht nur das Eine (das Identitäre), sondern auch das Un-/Mögliche hervorgehen kann. Husains Arbeiten spielen oftmals mit Schichtungen und Texturen: Stoffe, Rahmen, Federn, Perlen, Glasornamente. Leona Alone (2009, 6min) kann wie eine Studie in Maschrabiyya-shots gelesen werden – gedreht wurde jedoch in Willowdale, einem Vorort von Toronto. Und in Purfled Promises (2009, 10min) öffnet sich Vorhang nach Vorhang, eine verhüllende Schicht gibt den Blick jeweils auf die nächste frei, bis am Ende lediglich ein Rahmen verbleibt, dann Schwarzbild und Filmton, wobei in der Live-Performance-Version dann auch eine papierene Leinwand in den Zuschauerraum hineingetragen wird und am Ende einige der Zuschauer_innen bedeckt: hier wird der Blick nicht etwa auf etwas freigegeben, sondern das Bild sowohl üppig, farbig und doch zugleich leer und opak gehalten. Husains ›attractive traps‹ irritieren insbesondere Vorstellungen von Authentizitiät: »We are led to expect a performance of exotic cultural authenticity, only to realize that we have been put on display instead«,84 schreibt Jon Davies zu Husains Video Squiggle (2005, 22min). Darin dekonstruiert Husain nicht nur das Genre des Tagebuchfilms und der Erzählungen von Migration so dominierenden US-amerikanischen ›finding your roots‹-Geschichten. Der ›Ich‹-Erzähler, vermeintlich Husain selbst, aber englisch mit einem ›indischen Akzent‹ sprechend (die erste Einstellung zeigt auch die Quelle für den folgenden Voice Over: Wir sehen den Sprecher in einem Tonstudio, vor einem Mikrofon, mit dem Text in den Händen), berichtet von einer von Selbstzweifeln ausgelösten Krise (»I squiggle around the question: Do I want to be an artist?«), die ihn nach Gujarat bringt. Ein Familienbesuch, der diesmal mehr sein soll: »I want to find my place.« An einer Kunsthochschule wird er einem rigidem Zeichendrill unterworfen, verliebt sich in einen anderen Studenten, um dann seine Erfüllung in ›ursprünglicher‹ Lehmarchitektur zu finden. Der Film endet mit einem Tanz um das fertiggestellte Lehmarchitekturgebäude, wobei dem westlichen Auge die Kostüme der Tänzer_innen ebenso wie die Musik als ›original indisch‹ erscheinen mögen, tatsächlich aber Hybride aus hessischen Trachten und eben gerade nicht typischen Klängen sind (Abb. 30).



83 Artist Statement, Webseite des Künstlers, http://www.husain.de/cv.html; zuletzt abgerufen am 22.8.2012. 84 Jon Davies: »Hybrid Hijinks«, in: Canadian Art (Summer 2012), http://canadianart.ca/features/2012/07/26/oliver-husain-hybrid-hijinks/; zuletzt abgerufen am 30.03.2015.

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5.4 Die Kunst

der

Migration

Bilder formatieren Migration, sie leisten einen konstituierenden Beitrag zum Migrationsregime und somit dazu, wie Migration gesellschaftlich, politisch, rechtlich, polizeilich verhandelt wird. Dieses Argument von Brigitta Kuster in ihrer Analyse von Dokumentarfilmen zu Migration85 dreht gewissermaßen die Beweislast um: Nicht die Angemessenheit der Repräsentation, das Verhältnis vom Abbild zur vorgängigen Realität gilt es zu betrachten, sondern die auch von anderen Theoretiker_innen beschriebene geschichtsbildende Kraft von Filmen und Videos. Zugleich ist wichtig, dass es immer eine Frage der Perspektive ist, dass und wie Migration gesehen wird. So haben auch die Kurator_innen der Ausstellung des Projekts Migration, Aytaç Eryılmaz, Marion von Osten, Martin Rapp, Kathrin Rhomberg und Regina Römhild, argumentiert, die 2005 im Kölnischen Kunstverein gezeigt wurde: »Der Blick entscheidet darüber, ob und wie wir Migration sehen.«86 Bislang war dieser Blick, der Migration (nicht) wahrnimmt, vor allen Dingen am und auf den deutschen Ausländerdiskurs ausgerichtet. An dessen Stelle wird nun die Perspektive der Migration gesetzt, die nicht etwa deckungsgleich ist mit den Sichtweisen der je einzelnen Migrant_innen. Sie bedeutet vielmehr, Migration als soziale und politische Bewegung zu begreifen und, wie dies auch mit dem Begriff des Postmigrantischen verhandelt wird, Migration als gesellschaftsverändernde Kraft zu begreifen. Der Wechsel vom Spielfilm zur Videokunst, wie ich ihn im letzten Unterpunkt vollzogen habe, ist dabei nicht zufällig. Migration ist seit über einer Dekade ein ›hot topic‹ im Kunstkontext: in einzelnen Arbeiten,87 kuratierten Ausstellungen,88 Verbindungen von





85 Kuster, Die Grenze filmen, S. 187. 86 Kölnischer Kunstverein et al. (Hg.): Projekt Migration, Ausstellungskatalog, Köln 2005, S. 16. 87 Um nur einige wenige zu nennen: Loop von Francis Alÿs (1997), Christian Philipp Müllers Green Border (1993), Heath Buntings BorderXing-Projekt (2002–2003), Tania Brugueras Die Migranten (2008/09; http://www.hkw.de/de/programm/projekte/veranstaltung/p_23043. php) sowie Immigrant Movement International (2010–2015; http://www.taniabruguera.com/ cms/486–0-Immigrant+Movement+International.htm), GUESTures/GOSTIkulacije von Margareta Kern (http://guestworkerberlin.blogspot.co.uk/), Arbeiten von Ursula Biemann (http://www.geobodies.org/ ), von Petja Dimitrova (http://www.petjadimitrova.net/) und zahlreiche Arbeiten von Tanja Ostojić (http://www.van.at/see/tanja/). Alle URLs zuletzt abgerufen am 30.03.2015. 88 Von den wirklich zahllosen Beispielen will ich hier nur 2Move hervorheben. Das von Mieke Bal und Miguel Ángel Hernández Navarro kuratierte Projekt umfasste neben der Ausstellung, die in Spanien, den Niederlanden, Norwegen, Großbritannien und Irland gezeigt wurde (2007–2008), auch Workshops und Publikationen. Die Ausgangsthese von 2Move war die konstitutive Gemeinsamkeit von Bewegung, von movement, für Video und Migrati-

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der

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Kunst, Forschung und Aktivismus,89 Interventionen bzw. sozialen Plastiken,90 Theaterbzw. Performanceprojekten91 sowie eben auch in/mit Filmen und Videos (sowie Installationen). Während Angela Melitopoulos‹ vielfach ausgezeichnetes Video Passing Drama (D 1999, 66min), in dem sie das in ihrer »Familie weitergegebene Hörbild einer Migration beschreibt, die zuletzt in der Gastarbeit in Deutschland mündet, zuvor die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus durchläuft und zuerst den Exodus der Griechen aus Kleinasien«92 erzählt, lange ein relatives Alleinstellungsmerkmal besaß,93 haben sich seither die ›emerging forms of expression‹ exponentiell vervielfältigt.94













on. Das Projekt lancierte auch das viel diskutierte Konzept der Migratory Aesthetics. Siehe dazu http://www.miekebal.org/research/curating/2move/ (zuletzt abgerufen am 30.03.2015) sowie die Publikationen: Mieke Bal/Miguel Ángel Hernández Navarro: 2Move. Video, Art, Migration, Spanien 2008 und dies. (Hg.): Art and Visibility in Migratory Culture: Conflict, Resistance, Agency, Amsterdam/New York 2011. 89 Wie in dem von der Kulturstiftung des Bundes als Initiativprojekt geförderten 5-jährigen transdisziplinären Projekt Migration (2002–2006), http://www.kulturstiftung-des-bundes.de/cms/ de/projekte/trans_und_inter/archiv/projekt_migration.html; zuletzt abgerufen am 30.03.2015. 90 Wie beispielsweise »Arbeit ohne Beschäftigungsbewilligung« von der Gruppe WochenKlausur im Rahmen des Steirischen Herbsts 1995 (http://www.wochenklausur.at/projekt. php?lang=de&id=6) oder der temporäre Aktionsraum EcoFAVELA Lampedusa Nord auf Kampnagel im Winter 2014/15 (http://www.kampnagel.de/de/programmreihe/ecofavela-lampedusa-nord/?programmreihe=11); alle URLs zuletzt abgerufen am 30.03.2015. 91 Wie Identitäten dehnen (Premiere Sept. 2014 auf Kampnagel, Hamburg) von Gintersdorfer/Klaßen (http://www.gintersdorferklassen.org/projekte/identitaeten_dehnen/identitaeten_ dehnen.html) oder die gemeinsamen Arbeiten von Schwabinggrad Ballett und Lampedusa in Hamburg, wie We Are the Evidence of War, der Gesang der Ablehnung oder platz der unbilligen lösungen II. europa der kommenden. how to arrive to stay (http://schwabinggrad-ballett. org/html/aktuelles.html); alle URLs zuletzt abgerufen am 30.03.2015. 92 Siehe den Eintrag in der Filmdatenbank des Arsenal-Instituts in Berlin: http://films.arsenal-berlin.de/index.php/Detail/Object/Show/object_id/10259/lang/de_DE; zuletzt abgerufen am 30. 03.2015. 93 Hier möchte ich zumindest Hatice Aytens Videoporträt ihrer Mutter erwähnen: Gülüzar (Hatice Ayten, D 1994, 8min). Aytens Video wurde sehr häufig kritisch rezipiert. Die Darstellung eines Lebens, »das aus wenig mehr als Arbeit besteht« (http://werkleitz.de/guluzar; zuletzt abgerufen am 30.03.2015), galt als zu negativ, zu sehr dem vermeintlich abgelegten Problemfilmgenre zuzuordnen. Die Einwände erscheinen seltsam: Ayten gibt dem Leben ihrer Mutter und deren eigenen trockenen Beschreibungen relativ affektfrei Raum. Der Vorwurf der Negativität erscheint wie das gewollt enthusiastische Unterbrechen des Berliner Politikers, der dem Straßenreiniger in Almanya acı vatan nicht zuhört, als dieser vom schwierigen Leben unter den Bedingungen der Gastarbeitsmigration berichten will. 94 Auch hier nur eine Auswahl: Rien ne vaut que la vie, mais la vie même ne vaut rien [Nichts ist wie das L eben , aber das L eben selbst ist nichts ] (Brigitta Kuster/Moise Merlin Mabouna, D 2002/03, 24min), Staatsbürgerschaft?/Nationality? (Petja Dimitrova, A 2003, 8min.), Ben Kimim? (Canan Yilmaz, D 2003, 4min), Timescapes (Angela Melitopoulos/Hito

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Abb. 30 Squiggle (Oliver Husain, 2005, 22min)

Mit dieser Formulierung, ebenso wie mit dem dissensuellen Kino, sind aber nun nicht etwa einfach Videokunst oder Filme im Kunstkontext gemeint (was ja schlicht auch Markt- und Diskursmacht von Kunst ignorieren würde), sondern vielmehr ›kleine‹ oder ›minoritäre‹ Formen und Formate im Sinne Deleuzes/Guattaris, die sich eher jenseits von Filmförderung realisieren lassen, oft mit kleinen digitalen Kameras gedreht. Dass diese Formate nicht nur ›Kunst‹ sind, sondern eben auch die Bildproduktionen der Migrationsbewegungen, belegen die Harraga-Videos, aber auch die Videodokumentationen von Flüchtlingen, die mittlerweile auch auf den digitalen Plattformen von Steyerl/Dragana Zarevac/VideA/Freddy Vianellis, 2003ff. www.videophilosophy.de; zuletzt abgerufen am 30.03.2015), Zwei Monate sein (Azin Feizabadi, D/IRN 2005–2006, 19min), Après le Maquis (Maya Schweizer, AL 2005, 3:40min), Lerne Deutsch mit Petra von Kant (Ming Wong, SIN 2007, 10min), 2006–1892=114 Jahre/ans (Brigitta Kuster/Moise Merlin Mabouna, D 2007, 7min, Loop), Angst Essen/Eat Fear (Ming Wong, D 2008 22min), From the Classroom (Maya Schweizer, D/F 2008, 6min), Green Dolphin (Oliver Husain, D/CDN/PHI 2008, 15min), Purfled Promises (Oliver Husain, D/CDN 2009, 8min), À travers l ’ encoche d ’ un voyage dans la bibliothèque coloniale . N otes pittoresques (Brigitta Kuster/Moise Merlin Mabouna 2009, 25min), Entkolonisierung (Brigitta Kuster, CH 2010), A Tale of Two Islands (Steffen Köhn/Paola Calvo, D 2012, 16min), Ach du heilige Scheisse! (Oh Holy Shit!) (Kate Hers Rhee, D 2012, 2min), Erase them! – the image as it is falling apart into looks (Brigitta Kuster 2013, D/A, 8min), O ff W hite T ulips /K ırık Beyaz Laleler (Aykan Safoǧlu TR/D 2013, 24min), Semra Ertan (Cana Bilir-Meier, A 2013, 7:30min).

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Zeitungen wie dem Guardian oder der Süddeutschen Zeitung publiziert werden.95 Dies verweist auch auf den bereits in der Einleitung postulierten intrinsischen Zusammenhang von Medien und Migration: »Die Bildproduktion ist ein vitaler Mechanismus der Migration, denn über sie wird Bewegung kommuniziert und sie ist für die Raumbeziehungen der Diaspora konstituierend«,96 formuliert so auch Angela Melitopoulos. Die konstitutiven Effekte der durch die Migration erzeugten transnationalen Räume transformieren nicht nur Ideen von (National-)Staat und citizenship, sie affizieren auch den Bildraum (des Kinos) und damit die Idee des Sehens und Gesehen-Werdens – und dies untrennbar von den Veränderungen, die das Kino durch das Netz erfährt, wo die Bilder »zu streunen anfangen«.97 Migrant_innen als »early adopters«98 von Medientechnologien wahrzunehmen verschiebt hier auch die an und für sich korrekte These von Alisa Lebow, die ebenfalls konstatiert, dass »the very act of video-taping has come to be thoroughly integrated into the migratory experience«, dass jedoch »those with the privilege to document are usually also those priviledged with documents«99 seien. Weniger die Bilderproduktion, sondern Rezeption attribuiert jene Wertigkeiten, die Lebow hier mit dem Begriff des Privilegs zum Ausdruck bringt. Die Frage ist also vielmehr, welche Bilder ›gesehen‹ werden (und wann, wo und von wem). Ich habe mich an anderer Stelle bereits mehrfach kritisch mit dem Phänomen ›Kunst und Migration‹ und der problematischen Generierung kulturellen Kapitals und politischer Relevanz in der Kunst mittels Themen wie Migration und der Kämpfe der Refugees auseinandergesetzt100 und vor allen Dingen die problematischen Anverwand-



95 Siehe beispielsweise http://www.theguardian.com/world/video/2014/oct/20/death-sea-syrianmigrants-film-europe-video?CMP=embed_video und http://www.sueddeutsche.de/panorama/ flucht-aus-syrien-fuenftausend-kilometer-angst-1.2262533; beide zuletzt abgerufen am 30.03. 2015. 96 Angela Melitopoulos: »Timescapes. Die Logik des Satzes«, in: translate.eipcp.net (01/2007), http://eipcp.net/transversal/0107/melitopoulos/de; zuletzt abgerufen am 30.03.2015. 97 Ute Holl: »Vom Kino-Eye zur You-Tube«, in: Cargo Film/Medien/Kultur 03 (2009), S. 72–74, hier S. 72. Siehe dazu auch Thomas Elsaessers ›cinema effect‹-Argument, Elsaesser, The New Film History. 98 Steffen Köhn: »Migrantische Medien – Medien der Migration«, in: Frauen und Film 67 (2015), im Druck. 99 Alisa Lebow: »The Camera as Peripatetic Migration Machine«, in: dies. (Hg.): The Cinema of Me. The Self and Subjectivity in First Person Documentary, London/New York 2012, S. 219– 232, hier S. 220. 100 Heidenreich, Die Kunst des Aktivismus; dies., Die Kunst der Migrationen; dies.: »Die Perspektive der Migration aufzeichnen/einnehmen/ausstellen/aktivieren«, in: Doris Guth, Alexander Fleischmann (Hg.): Kunst, Theorie, Aktivismus. Strategische Verbindungen für antidiskriminatorische Praxen (AT), Bielefeld 2015 (im Druck; erscheint auf Englisch als: »Mapping/ Assuming/Exhibiting/Activating the Perspective of Migration«, in: Sten Moslund, Anne Ring

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lungen künstlerischer und kuratorischer Praxis als politischer Avantgarde kritisiert. An dieser Stelle geht es mir daher vielmehr um die Kunst der Migration, darum, die Findigkeiten, die Netzwerke, das Wissen, die Potentialität/das Vermögen von Refugees, Flüchtlingen, non citizens und Migrant_innen zu betonen. Kunst kann in diesem Sinne eine der vielen Strategien (in) der Migration sein, wie beispielsweise im Falle von Petja Dimitrovas Staatsbürgerschaft/Nationality«,101 die ihren Kampf um einen legalen Aufenthaltsstatus in der EU als künstlerischen Prozess inszeniert, realisiert und dokumentiert hat. Sie hat dabei die Kunst als Institution und (ökonomisches) System für Migrationszwecke in Dienst genommen (und gleichzeitig kritisch dekonstruiert) und die Listen und Findigkeiten migrantischer Strategien als Kunst (als kunstvoll) und in der Kunst kenntlich gemacht, kurz: die Kunst der Migration wörtlich genommen. Künstlerische Strategien sind natürlich auch nicht gleichzusetzen mit den Institutionalisierungen von Kunst, sondern stellen Verfahrensweisen dar, mit denen die Aussagekraft geschlossener (bzw. ab- und ausschließender) Narrative wie die des deutschen Ausländerdiskurses unterbrochen werden können und dabei auch als kritische Interventionen in etablierten Formen der Wissensproduktion fungieren können. So ist beispielsweise das Recherche-, Ausstellungs- und Videoprojekt zu jugoslawischen ›Gastarbeiterinnen‹ in der BRD der in England lebenden (und auch aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden) Künstlerin Margareta Kern, GUESTures/GOSTIkulacije ,102 sowohl ein Archiv im Entstehen und eine künstlerische Arbeit als auch eine Auseinandersetzung mit diesen jeweiligen Disziplinen und Technologien. Es handelt sich daher nicht einfach um so etwas wie die Illustration, Visualisierung oder Übersetzung von Recherche und theoretischen Ausarbeitungen, sondern ist vielmehr selbst als originärer Beitrag zur kritischen Migrationsforschung zu begreifen. Um Grenzen zu überschreiten, bedarf es unter anderem der Macht der Erzählung. Die Grenzpassage wird ermöglicht durch die ›richtige‹, die passende Geschichte. Es geht dabei höchst selten um die tatsächlich gelebte Erfahrung, um das eigene Leben, darum, die richtigen Worte für das Erlebte, die eigene Wahrnehmung, die eigenen Gefühle zu finden. Vielmehr geht es darum, dass die Erzählung den Erfordernissen der Gesetzesparagraphen und ihrer Auslegungen entspricht, was meistens heißt: dass sie das Ohr der-/desjenigen erreicht, die/der zuhört. Die Erzählung muss also dem entsprechen, was das Ohr, das zuhört, in der Lage (oder willens) ist, zu hören. Es geht um





Petersen, Moritz Schramm (Hg.): Migration and Culture. Politics, Aesthetics and History, London 2015; im Druck); dies.: »Bilder die die Körper bewegen: Neue Perspektiven auf Migration«, Sammelrezension, Zeitschrift für Medienwissenschaft 05 (2/2011), S. 68–172. 101 Siehe http://www.petjadimitrova.net/works/Staatsbuergerschaft.html; Petja Dimitrova gehört auch zum künstlerischen und geschäftsführenden Leitungsteam des Festivals Wienwoche (http://wienwoche.org/de/wienwoche/), das sich vor allen Dingen der Kunst der Migration widmet; beide zuletzt abgerufen am 30.03.2015. 102 http://guestworkerberlin.blogspot.co.uk/; zuletzt abgerufen am 30.03.2015.

Schluss: Die Perspektive

der

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Übersetzung, um Einfallsreichtum. Neue Herkünfte, Identitäten, Biographien werden geschaffen: Fiktionen zu Fakten transformiert. Wenn die Fakten, die ›wahre Geschichte‹ nicht interessiert, nicht zählt, nicht gehört werden soll, dann gilt es, eine Geschichte zu erzählen, die die Grenze zu überschreiten ermöglicht. Jemand ist beispielsweise Mitglied in der Handballnationalmannschaft von Sri Lanka? Ein/e Musiker_in in Papa Wembas Crew?103 Selbstverständlich ist sie/er das. Um das Wissen zu bekommen, mit dem die Passage gelingt, der Passierschein ausgestellt wird, muss anderen Geschichten zugehört werden. Die Geschichte/n der Migration bildet/n Verbindungen, Spinnweben aus Routen, Umwegen, Ankünften, Möglichkeiten, Abwegen, Kreuzungen, Beziehungen. Und es gibt immer eine Geschichte, die parallel zur Grenzpassage verläuft. Es ist diejenige Geschichte, die zumeist nur mit denen geteilt wird, die sie auch hören können – mit ›Mitreisenden‹, Freund_innen, Familie –, jenen, die nahe sind und ähnliche Erfahrungen teilen. Diese Geschichten sind nicht ›wahrer‹ als die ›erfundenen‹, aber sie finden in einem anderen Modus statt, sie werden in einem anderen Register erzählt. Sie füllen das ›Innen‹ aus, während die anderen Geschichten das ›Außen‹ erzeugen. Die Geschichten aus dem Innen (nicht im Sinne einer wahren Identität, sondern weil sie Vertrauen voraussetzen, Nähe) bestehen aus Erinnerungen, Gefühlen, Eindrücken, aus Gerüchen und Geräuschen. Sie bedürfen anderer Weisen der Kommunikation als nur der Sprache, sie werden nicht nur ›erzählt‹ und ›(an)gehört‹. Diese Geschichten bilden (auch) ein Archiv. Im Video von GUESTures werden solche Geschichten – hier die der ehemaligen jugoslawischen Gastarbeiterinnen – von Erinnerungsgegenständen in Bewegung gesetzt: einer Lampe, einer Katze, einem Wandteppich, mit Kreide auf eine Tafel gemalt. Die Geschichten sind persönlich und damit sehr spezifisch, im Re-enactment durch die Schauspielerin Adna Sablych werden sie jedoch zu einer kollektiven Erfahrung. Erinnerung ist ein aktiver Prozess (in) der Gegenwart. Sich erinnern ist immer auch ein Palimpsest. Es besteht aus Schichten des Vergessens, des Hervorbringens, aus Variationen, die sich hier in den Resten von Wasser und Kreide auf der Tafel ablagern. Der split screen des Videos verweist dabei auf den Dialog zwischen Allgemeinem und Partikularem und auf den Dialog zwischen der Künstlerin und den Frauen, die sie interviewt hat, zwischen Zuhören und Sprechen, zwischen Ab- und Anwesenheit. Es entsteht ein Projektionsraum der Imagination, der zugleich Zeugnis ablegt von den Biographien dieser Frauen. Dadurch, dass sich die BRD bis 1998 offiziell als ›Nichteinwanderungsland‹ verstanden hat, sind wir heute mit der Aufgabe betraut, die dadurch ausgeblendete Geschichte wiederzugeben, mitzuteilen, zu sammeln. Zwei Archive sind entstanden: die Erinnerungen (und aktuellen Erzählungen) der Migrant_innen, die endlich gehört wer-

103 Zum strategischen Auftauchen und Verschwinden der vermeintlichen Handballnational-

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den müssen, und die Eintragungen und Statistiken des Staates, die das Ergebnis der steten Arbeit an der Migrationskontrolle sind. Diese beiden Archive entsprechen sich nicht. Das eine beinhaltet diskontinuierliche Geschichten, Unterbrechungen, Schweigen und unendlich viele Details. Das andere die klaffenden Auslassungen statistischer und bürokratischer Gewalt. Die Differenz zwischen diesen beiden Archiven zu schließen ist zwar ziemlich sinnlos, aber darüber zu spekulieren macht durchaus Sinn: Daraus können spekulative Archive hervorgehen, indem das Geschichtenerzählen sich akkumulieren und im Sinne von Édouard Glissant Beziehungen eingehen kann,104 wie in GUESTures, aber auch in den bereits genannten Arbeiten von Oliver Husain, wie Squiggle, aber auch in Cana Bilir-Meiers Film über ihre Tante Semra Ertan, die sich 1982 aus Protest gegen den Rassismus in der BRD selbst verbrannt hat (Semra Ertan, D/A 2013, 7:30min), und Aykan Safoǧlus Off White Tulips/Kırık Beyaz Laleler (TR/D 2013, 24min), der darin James Baldwins Aufenthalte in der Türkei mit seiner Familiengeschichte, der Migration in die Städte, Haar- und Hautfarben, Popmusik und seiner eigenen Migrationsgeschichte nach Deutschland verknüpft. Diese spekulativen Archive sind dabei alles andere als nostalgische Vergangenheitsbezüge, ›wiederentdeckte‹ Wurzeln der Herkunft und ähnliche rückwärtsgewandte, letztlich stillstellende Artikulationen, wie sie in den konservativen und konservierenden Varianten postmigrantischer Filme verwaltet werden. Sie sind vielmehr im Sinne von Maurizio Lazzarato Ausdrücke einer »Nostalgie der Zukunft«.105 Für Lazzarato ist dies unmittelbar mit Video verknüpft. Video ist für ihn kein Repräsentationsmedium, sondern eine Technologie der Zeit, der Subjektivierung, des Werdens: »Es handelt sich nicht mehr einfach um ein Bild, das gesehen werden soll, sondern um ein Bild, in das man sich einmischt, mit dem man arbeitet (eine Zeit des Ereignisses).«106 Für Angela Melitopoulos, deren Videoarbeiten wie Passing Drama wesentlichen Einfluss auf Lazzaratos Thesen hatten, ist Video ein wesentliches Medium der Migration.107 Mikropolitische Strategien von Migrant_innen werden von ihr als eine Art nicht-linearer Montage begriffen, die darin besteht, im »Denken und Handeln



104 105



106 107

mannschaft aus Sri Lanka im Jahr 2004 siehe u.a. http://de.indymedia.org/2004/09/93693. shtml (zuletzt abgerufen am 30.03.2015). Die Geschichte wurde auch von Uberto Pasolini in Machan verfilmt (SRL 2008). Zu den zahlreichen Geschichten um Papa Wembas erfolgreiche Grenzpassagenpraxis siehe u.a. Mathias Neske: »Der Fall Papa Wemba«, in: Monika Eigmüller, Georg Vobruba (Hg.): Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes, Wiesbaden 2006, S. 259–266. Vgl. Glissant, Poetics. Maurizio Lazzarato, Videophilosophie, übersetzt von Stephan Geene und Erik Stein, Berlin 2002, S. 81. Lazzarato, Videophilosophie, S. 79. Ebenso wie für Mieke Bal im Kontext ihres vieldiskutierten Begriffs der Migratory Aesthetics, vgl. Bal/Hernández-Navarro, 2Move.

Schluss: Die Perspektive

der

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heterogene Elemente zu verknüpfen, die man normalerweise als widersprüchlich betrachten würde.«108 Für Melitopoulos ist daher die wesentliche Funktion des Bildes […] hier nicht die passende Repräsentation einer vorgegebenen Realität oder die Hervorhebung einer Korrespondenz zwischen einem realen Objekt und unserem Gedächtnis, sondern das Bild (und die Idee) ist das, wodurch sich unser Bewusstsein orientiert, den Denk- und Bildfluss lenkt, den es kreuzt.109

Das Videobild ist in diesem Sinne aktivierend, es ist »ein Bild, in das man eingreifen kann [und weniger] ein Bild, das man anschaut.« 110 Das Problem oder vielmehr der entscheidende Faktor liegt daher grundlegend nicht in der Repräsentation, sondern darin, dass die Macht der Bildbearbeitung der gesellschaftlichen Praxis entzogen wird.111 Ich kann Lazzaratos und Melitopoulos‹ Medienontologie nicht ganz teilen (wie auch Brigitta Kuster deren »Technodeterminismus« kritisiert112), da sie den Anteil, den die kapitalistische Logik der Marktfähigkeit einer Technologie in der Geschichte und Praxis von Video hat, ignoriert. Ihre Ausführungen würden demnach auch bedeuten, dass zu Zeiten, in denen Video eine andere (oder zumindest zu Zeiten des analogen Videos: keine) Geschichte im Kontext politischen Filmschaffens hatte, das Bild sich nicht als Ereignis artikulieren konnte, sondern lediglich als Abbild.113 Dennoch kann ihr Ansatz hier als ein mögliches Beispiel für die notwendige Umkehrung des repräsentationspolitischen Paradigmas in der Perspektive der Migration in Hinblick auf konkrete Praktiken im Zusammenhang mit Video dienen, die, wie bereits formuliert, nicht nur im Feld der Kunst relevant sind. Wie die Debatten um das Verhältnis von (sozialen) Medien und politischen Bewegungen als Henne-Ei-Frage deutlich gemacht haben: Medien partizipieren, sie produzieren aber keinen Aktivismus, oder auch: Keine Revolution ohne Medien, aber Medi-



108 109 110 111 112 113

Melitopoulos, Timescapes, o.S. Melitopoulos, Timescapes, o.S. Lazzarato, Videophilosophie, S. 174. Vgl. Lazzarato, Videophilosophie, S. 78. Kuster, Die Grenze filmen, S. 190. Ein gutes Gegenbeispiel ist hier die Arbeit der indischen Gruppe Yugantar um die Filmemacherin Deepa Dhanraj, deren Filme wie Molkarin (Maid Servant, IND 1981) der den Kampf der sog. Maidservants in Pune gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen dokumentiert beziehungsweise Teil dieser Kämpfe gewesen ist, auf damals für die Gruppe verfügbarem 16mm-Material gedreht wurde. Video war aus geopolitischen Gründen, so Deepa Dhanraj bei einem von mir und Nicole Wolf organisierten Workshop zu kollektiver Film- und Videopraxis im Juni 2013, keine Option. Die Kameraarbeit dieser Filme befindet sich dennoch nahe an Lazzaratos und Melitopoulos‹ bildpolitischer Argumentation. (http://www.kw-berlin.de/en/ events/509_living_archive_engaging_cinema_reviewing_collective_practices_44; zuletzt abgerufen am 25.03.2015.)

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en alleine machen natürlich keine Revolution.114 So gilt ebenso schlicht für die Kunst: Sie kann partizipieren und Möglichkeitsräume eröffnen (oder denkbar machen), aber die Kämpfe der Migration brauchen mehr als eine Bühne, eine Leinwand oder einen Ausstellungsraum. Kunst – und Kino – bieten jedoch als Denk-, Verhandlungs- und Imaginationsräume die Möglichkeit, die Rolle der Kamera, insbesondere der digitalen (Handy-) Kameras und die neuen (›vernetzten‹) Bilder zu begreifen, die in den politischen Kämpfen der Gegenwart entstanden sind und entstehen, zu denen zentral auch die aktuellen migrantischen beziehungsweise die Refugee-Proteste überall (aber nicht nur) in Europa zählen.115 Politische Subjektivierungsprozesse finden heute meist mit und im (Video-)Bild statt – um sich zu ereignen, brauchen sie die Kunst und das Kino nicht. Aber in den ästhetischen Reflexionsprozessen künstlerischen Arbeitens können diese weitergedacht, archiviert und in andere Räume projiziert werden.116 Nimmt man Migration als soziale und politische Bewegung ernst, als eine Bewegung, die das Politische grundsätzlich rekonfiguriert, und begreift man Migration nicht als etwas Abzubildendes, sondern als Ereignis, so eröffnet sich damit auch für die Frage der Relation von Kunst beziehungsweise Kino und politischen Kämpfen eine andere Perspektive. Diese – die Perspektive der Migration – ist bereits im Bilde. Es gilt jedoch, sie wahrzunehmen und ästhetisch und politisch zu aktivieren.





114 Vgl. Simanowski, Roberto: »Regenschirm, Facebook und Mikrofon: Die Medien der Hongkonger Proteste«, in: Web-Extra der Zeitschrift für Medienwissenschaft, http://zfmedienwissenschaft.de/online/regenschirm-facebook-und-mikrofon-die-medien-der-hongkonger-proteste; zuletzt abgerufen am 02.04.2015; siehe auch Reichert, Ramón: Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung, Bielefeld 2013; oder auch Britta Ohm: »A publicfordemocracy:overcomingmediatedsegregationinTurkey«,in:OpenDemocracy,22.Juli2013, http://www.opendemocracy.net/britta-ohm/public-for-democracy-overcoming-mediatedsegregation-in-turkey; zuletzt abgerufen am 02.04.2015. 115 Ebenso wie die ›Grüne Revolution‹ im Iran 2009, der sogenannte Arabischen Frühling, die Ägyptische Revolution, die Gezi-Park-Protesten in der Türkei usw. 116 Wie in Rabih Mroués Arbeit Pixelated Revolution zu Handy-Videos aus Syrien, die auch konkretes Erfahrungswissen um politische Kameraarbeit vermittelt. Mroué präsentiert die Arbeit sowohl als Performance-Lecture als auch als Installation. Zur Performance-Lecture siehe u.a. https://www.hkw.de/de/programm/projekte/veranstaltung/p_76790.php; zuletzt abgerufen am 30.03.2015. Die Installation (begleitet von mehreren Performances) wurde u.a. bei der dOCUMENTA (13) in Kassel 2012 gezeigt. Siehe zu Mroué auch Florian Krautkrämer: »Revolution Uploaded. Un/Sichtbares im Handy-Dokumentarfilm«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2 (2014), S. 113–126; Siehe auch das Interview von Ulrike Bergermann und Kathrin Peters mit Florian Ebner, dem Kurator der Ausstellung Kairo. Offene Stadt (2013, http://www.mkg-hamburg.de/de/ausstellungen/archiv/2013/kairo.html; zuletzt abgerufen am 30.03.2015) zu ›vernetzten Bildern‹ und der ägyptischen Revolution: Ulrike Bergermann/Kathrin Peters/Florian Ebner: »Kairo. Offene Stadt. Neue Bilder einer andauernden Revolution«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 10 (01/2014), S. 97–109.

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Filme / Videos *Ndana! (Brigitta Kuster/ Moise Merlin Mabouna, D 2014, 40 min) 2006–1892=114 Jahre (Brigitta Kuster/Moise Merlin Mabouna, D 2007, 7 min, Loop) 3 Türken und ein Baby (Sinan Akkuş, D 2015) 36m² Stoff (Neco Çelik, D 1997) 40 qm Deutschland (Tevfik Başer, BRD 1986) 300 Worte Deutsch (Züli Aladağ, D 2015), À Nos Amours (Maurice Pialat, F 1983) A Tale of Two Islands (Steffen Köhn/Paola Calvo, D 2012, 16 min) À travers l›encoche d›un voyage dans la bibliothèque coloniale. Notes pittoresques (Brigitta Kuster/Moise Merlin Mabouna, D 2009, 25 min) Abschied vom falschen Paradies (Tevfik Başer, BRD 1989) Ach du heilige Scheisse! (Oh Holy Shit!) (Kate Hers Rhee, D 2012, 2 min) Ali im Paradies (Viola Shafiks, D/EG 2011) Al-Risȃla (The Message) (Moustapha Akkad, GB/MA/LY/USA 1976) All That Heaven Allows (Douglas Sirk, USA 1955) Alles wird gut (Angelina Maccarone, D 1997/98) Alltag (Neco Çeliks, D 2002) Almanya acı vatan (Şerif Gören, TR 1979) Anam (Buket Alakuş, D 2000/01) Angst Essen / Eat Fear (Ming Wong, D 2008, 22 min) Angst essen Seele auf (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1973/74) Après le Maquis (Maya Schweizer, AL 2005, 3:40 min) Aprilkinder (Yüksel Yavuz, D 1998) Auf der Anderen Seite (Fatih Akın, D/TR/I 2006/2007) Aus der Ferne (Thomas Arslan, D 2006) Auslandstournee (Ayşe Polat, D 1999) Baby, I Will Make You Sweat (Birgit Hein, D 1995) Befreien Sie Afrika! (Martin Baer, D 1999) Ben Kimim? (Canan Yilmaz, D 2003, 4 min)

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Berlin-Harlem (Lothar Lambert, BRD 1975) Berlin in Berlin (Sinan Çetin, D/TR 1993) Bruce Lee in the Land of Balzac (Maria Thereza Alves, F 2007, 2 min) Brudermord/Fratricide (Yılmaz Arslan, D/F/LUX 2004/05) Chiko (Özgür Yıldırım, D/I 2008) Conte d’été (Éric Rohmer F 1996) Coventry Ritz (Nirmal Puwar GB 2007) Das Geheimnis (Rudolf Thome, D 1994/95) Das Weisse Ghetto (Kanak TV, D 2001, 8 min) Dealer (Thomas Arslan, D 1998/99) Der amerikanische Soldat (R.W. Fassbinder, BRD 1970) Der Untergang (Oliver Hirschbiegel, D 2004) Der schöne Tag (Thomas Arslan, D 2000/01) Die Anderen (Züli Aladağ, D 2011) Die Drei von der Tankstelle (Wilhelm Thiele, D 1930) Die Fremde (Feo Aladağ, D 2010) Die Polen vom Potsdamer Platz (Kornel Miglus/Dorothee Wenner D 1998) Die Zeit der Wünsche (Rolf Schübel, D 2004) Drachenfutter (Jan Schütte, BRD 1987) Drei gegen Troja (Hussi Kutlucan, D 2004/05) Dreiviertelmond (Christian Zübert, D 2011) Ein Engel schlägt zurück (Angelina Maccarone, D 1997). Ein Fest für Beyhan (Ayşe Polat, D 1994) Elefantenherz (Züli Aladağ, D 2002) En Garde (Ayşe Polat, D 2004) Entfremdet (Ayşe Polat, D 1991) Entkolonisierung (Brigitta Kuster, CH 2010) Erase them! – the image as it is falling apart into looks (Brigitta Kuster D/A 2013, 8 min) Ferien (Thomas Arslan, D 2007) Fremd gehen. Gespräche mit meiner Freundin (Eva Heldmann, D 2000) Fremde Haut (Angelina Maccarone, D/A 2005) Fremdenacht (Ayşe Polat, D 1992) From the Classroom (Maya Schweizer, D/F 2008, 6 min) Gegen die Wand (Fatih Akın, D 2004) Ghetto Kids (Christian Wagner, D 2002) Geschwister – Kardeşler (Thomas Arslan, D 1996/97) Gölge (Sema Poyraz/Sofoklis Adamidis, BRD 1980) Gold (Thomas Arslan, D 2013) Gräfin Sophia Hatun (Ayşe Polat, D 1997) Green Dolphin (Oliver Husain, CDN 2008, 15 min)

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Gülüzar (Hatice Ayten, D 1994, 8 min) Gurbetçi Şaban (Kartal Tibet, TR 1985) Happy Birthday, Türke! (Doris Dörrie, D 1991) Harragas (Merzak Allouache, F/AL 2009) Ich Chef, Du Turnschuh (Hussi Kutlucan, D 1998) Imitation of Life (Douglas Sirk, USA 1959) Im Juli (Fatih Akın, D 2000) Im Schatten (Thomas Arslan, D 2010) In This World (Michael Winterbottom, GB 2002) Jerichow (Christian Petzold, D 2009) Jesus (John Krish/Peter Sykes, USA/ISR 1979) Juste une femme (Mitra Faharani, I/F 2002) Kanak Attack (Lars Becker, D 1999/2000) Katzelmacher (R. W. Fassbinder, BRD 1969) Kebab Connection (Anno Saul, D 2004) Kleine Freiheit (Yüksel Yavuz, D 2003) Klimawechsel (Doris Dörrie, 6-teilige Serie (ZDF), D 2009). Kurz und Schmerzlos (Fatih Akın, D 1998) Langer Gang (Yılmaz Arslan, D 1992) Lebewohl, Fremde (Tevfik Başer, D 1990/91) Leona Alone (Oliver Husain, 2009, 6 min) Lerne Deutsch mit Petra von Kant (Ming Wong, SIN 2007, 10 min) Listen To Britain (Humphrey Jennings/Stewart McAllister, GB 1942, 19 min) Lola und Bilidikid (Kutluğ Ataman, D 1997/98) Lost Killers (Dito Tsintsadze, D 1999/2000) Luks Glück (Ayşe Polat, D 2013) Machan (Uberto Pasolini, SRL 2008) Male Display among European Population (Maria Thereza Alves, 2008, 2 min) Meine verrückte türkische Hochzeit (Stefan Holtz, D 2005) Metin (Thomas Draeger, BRD 1979) Molkarin (Maid Servant) (Yuganyar, IND 1981) Nackt (Dories Dörrie, D 2002) Nicht Fisch, nicht Fleisch (Matthias Keilich, D2001/02) Nordsee ist Mordsee (Hark Bohm, BRD 1976) Off White Tulips / Kırık Beyaz Laleler (Aykan Safoǧlu TR/D 2013, 24 min) Paradies: Liebe (Ulrich Seidl, A/D/F 2012) Pinky (Elia Kazan, USA 1949) Philharmonie Köln – 40 Jahre Einwanderung (Kanak TV, D 2001, 9 min) Polizei (Şerif Gören, BRD/TR 1988) Purfled Promises (Oliver Husain, 2009, 10 min) Reise nach Kandahar/Safar e Ghandehar (Mohsen Makhmalbaf, I/F 2001)

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Rien ne vaut que la vie, mais la vie meme ne vaut rien [Nichts ist wie das Leben, aber das L eben selbst ist nichts ] (Brigitta Kuster/Moise Merlin Mabouna, D 2002/03, 24 min) S. – Je suis, je lis à haute voix [passing for] (Brigitta Kuster, D 2005, 17 min) Schattenboxer (Lars Becker, D 1992) Semra Ertan (Cana Bilir-Meier, D/A 2013, 7:30 min) Shirins Hochzeit (Helma Sanders-Brahms, BRD 1976) Soul Kitchen (Fatih Akın, D 2009) Squiggle (Oliver Husain, 2005, 22 min) Staatsbürgerschaft? / Nationality? (Petja Dimitrova, A 2003, 8 min) Süperseks (Thorsten Wacker, D 2004) Teorema (Pier Paolo Pasolini, I 1968) The Passion of the Christ (Mel Gibson, USA/I 2004) Timescapes (Angela Melitopoulos/Hito Steyerl/Dragana Zarevac/VideA/Freddy Vianellis, 2003ff. www.videophilosophy.de) Tschetan, der Indianerjunge (Hark Bohm, BRD 1972) Un Monde Moderne (Sabrina Malek/Arnaud Soulier F 2005) Urban Guerillas (Neco Çelik, D 2003) Vers le sud (Laurent Cantet, CA/F 2005) Vivre sa vie (Jean-Luc Godard, F 1962) Weisse Geister (Martin Baer, D 2004) Wem Ehre gebührt (Angelina Maccarone, D 2007) What is the Color of a German Rose? (Maria Thereza Alves, 2005, 6 min) White Women (Loulou Cherinet, S 2002) Whity (Rainer Werner Fassbinder, BRD 1970) Wut (Züli Aladağ, D 2006) Yara (Yılmaz Arslan, D/TR/CH 1998) Yasemin (Hark Bohm, BRD 1988) Yol (Şerif Gören, TR 1982) Zeit der Wünsche (Rolf Schübel, D 2005) Zwei Monate sein (Azin Feizabadi, D/IRN 2005–2006, 19 min)

Dank

Diese Studie hat einen langen Weg zurückgelegt, den viele Personen und Institutionen begleitet haben. Mein Dank gilt zuallererst Prof. Dr. Ulrike Bergermann, die das Buch in die Reihe »Post_koloniale Medienwissenschaft« aufgenommen und damit überhaupt erst möglich gemacht hat. Zu den fundamentals zählt auch die Zusammenarbeit mit ihr an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig (HBK), insbesondere im Rahmen ihres Forschungsschwerpunkts zu diesem Thema – ohne ihren Rat und ihre Unterstützung wäre das Buch so vermutlich nie zustande gekommen. Die HBK hat die Drucklegung großzügig aus Mitteln der Kommission für Forschung und künstlerische Entwicklungsvorhaben gefördert. Den Anfang hat die Studie im Rahmen des DFG geförderten Graduiertenkollegs »Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität« (Universität Trier) genommen. Ich danke ebenfalls dem Berliner Programm zur Förderung der Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre sowie dem Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« (Humboldt-Universität zu Berlin) für ihre Unterstützung. Vor allem aber danke ich meinen Betreuer_innen, Prof. Dr. Christina von Braun und Prof. Dr. Martin Loiperdinger, die meine Arbeit von Anfang an unterstützt und ausdauernd begleitet haben. Ich danke auch allen Filmemacher_innen und Künstler_innen, deren Arbeiten die Substanz dieses Buches ausmachen. Und natürlich danke ich allen Weggefährt_innen, Genoss_innen, meiner Familie und Freund_innen, ohne die sowieso gar nichts möglich gewesen wäre. Und schließlich bedanke ich mich bei Cana Bilir-Meier – und bei Madeleine Bernstorff, die den Kontakt zwischen uns hergestellt hat –, die mir für die Umschlaggestaltung Stills aus ihrem beeindruckenden Film über ihre Tante Semra Ertan zur Verfügung gestellt hat (Semra Ertan, D/A 2013, HD Video, 16:9, 7:30 min). Semra Ertan wurde 1956 in der Türkei geboren und zog 1972 zu ihren Eltern in die BRD. Sie war Dichterin, technische Bauzeichnerin und Dolmetscherin. 1982 hat sie sich aus Protest gegen den Rassismus in Deutschland mit nur 25 Jahren in Hamburg selbst verbrannt. Ihren Suizid kündigte sie mit einem Anruf beim NDR an. In einem ihrer Gedichte schrieb sie »mein Name ist Ausländer«. Das vorliegende Buch ist auch der Versuch, Rassismus und den Widerstand dagegen zur Sprache zu bringen.

Post_koloniale Medienwissenschaft Felix Axster Koloniales Spektakel in 9 x 14 Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich 2014, 248 Seiten, kart., farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2209-6

Ulrike Bergermann, Nanna Heidenreich (Hg.) total. – Universalismus und Partikularismus in post_kolonialer Medientheorie Januar 2015, 356 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2766-4

Maja Figge Deutschsein (wieder-)herstellen Weißsein und Männlichkeit im bundesdeutschen Kino der fünfziger Jahre Mai 2015, 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2538-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de