Ethnographie, Kino und Interpretation - die performative Wende der Sozialwissenschaften: Der Norman K. Denzin-Reader [1. Aufl.] 9783839409039

Norman K. Denzin hat in den letzten Jahrzehnten entschieden dazu beigetragen, dass sich unser Verständnis von qualitativ

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Programmatische Ansprache des Vorsitzenden: Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination«
Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion
Die Geburt der Kinogesellschaft
Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft
Ein Plädoyer für die performative Dimension
Lesen und Schreiben als performativer Akt
Rassendarstellungen auf der Leinwand
Die poststrukturalistische Transformation der Soziologie. Zur kritischen Analyse der Gegenwart im Werk von Norman K. Denzin
Quellennachweise
Auswahlbibliographie
Zum Autor und den Herausgebern des Bandes
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Ethnographie, Kino und Interpretation - die performative Wende der Sozialwissenschaften: Der Norman K. Denzin-Reader [1. Aufl.]
 9783839409039

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Rainer Winter, Elisabeth Niederer (Hg.) Ethnographie, Kino und Interpretation – die performative Wende der Sozialwissenschaften

CULTURAL STUDIES • HERAUSGEGEBEN VON RAINER WINTER • BAND 30

2008-06-09 14-34-30 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 01aa180917032440|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 903.p 180917032448

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) T00_02 seite 2 - 903.p 180917032472

Rainer Winter, Elisabeth Niederer (Hg.)

Ethnographie, Kino und Interpretation – die performative Wende der Sozialwissenschaften Der Norman K. Denzin-Reader

Aus dem Amerikanischen von Henning Thies

CULTURAL STUDIES

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Millenium Park, Chicago 2005, © Rainer Winter Lektorat: Henning Thies, Dortmund & Rainer Winter, Klagenfurt Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-903-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Vorwort | 7 Programmatische Ansprache des Vorsitzenden: Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 11 Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 49 Die Geburt der Kinogesellschaft | 89 Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 137 Ein Plädoyer für die performative Dimension | 169 Lesen und Schreiben als performativer Akt | 203 Rassendarstellungen auf der Leinwand | 239 Die poststrukturalistische Transformation der Soziologie. Zur kritischen Analyse der Gegenwart im Werk von Norman K. Denzin Rainer Winter und Elisabeth Niederer | 271 Quellennachweise | 291 Auswahlbibliographie | 293 Zum Autor und den Herausgebern des Bandes | 297

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Vorwort | 7

Vorwort

Das vorliegende Buch stellt für mich eine besondere Ehre dar, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Nur wenige Forscher erhalten die Gelegenheit, ihre Aufsätze gesammelt in einem eigenen Band herauszubringen. Und ein solches Projekt überdies ins Deutsche übersetzt zu bekommen, ist eine noch größere Ehre. So gilt mein Dank vor allem den wunderbaren Kollegen Rainer Winter und Elisabeth Niederer, dem Übersetzer des Bandes, Henning Thies, und dem transcript Verlag für die Ermöglichung dieses Vorhabens. Die hier versammelten Aufsätze heben jene Schlüsselthemen hervor, die meine Arbeit in den letzten 25 Jahren bestimmt haben. Am Anfang stehen Überlegungen zu C. Wright Mills und seinem epochalen Werk The Sociological Imagination (1959). 1963, vier Jahre nach dem Erscheinen von Mills’ Buch, begann ich mein Graduiertenstudium und für mich und meine Generation kam dieses Buch damals einer Bibel gleich. Mills stand dem Mainstream der amerikanischen Soziologie, den Arbeiten der Funktionalisten und abstrakten Empiriker, kritisch gegenüber. Er wünschte sich eine kritische Soziologie, eine Soziologie im Geiste der großen deutschen Gesellschaftstheoretiker Max Weber, Karl Marx, Karl Mannheim und der Frankfurter Schule. Er drängte die Soziologen, bei ihrer Arbeit von persönlichen Biographien auszugehen und zu untersuchen, wie Biographie, Geschichte, Politik und Sozialstruktur einander überschneiden und beeinflussen. Mills trat nachdrücklich für eine persönliche Soziologie ein – für etwas, das wir heute Autoethnographie aus der Ich-Perspektive nennen würden. Es ist dies eine kritische Ethnographie, geschrieben im Geiste der kritischen Pädagogik und der Arbeiten des großen brasilianischen Pädagogen Paulo Freire. Leider ist es jedoch eine Form der Soziologie, der sich Mills selbst niemals widmete. Darum kehrte ich 1990 mit einer durchaus kritischen Einstellung zu C. Wright Mills zurück. Ich war enttäuscht, weil der Autor mich im Stich

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8 | Ethnographie, Kino und Interpretation gelassen hatte. Er schrieb nicht aus den Räumen seiner eigenen Biographie. Vielmehr hatte er sich von ebenjener Disziplin einfangen lassen, gegen die er sich 1959 gewandt hatte. Als Opfer einer großen Theorie und eines abstrakten Empirismus verfasste er eine Soziologie, die dem Durchschnittsmenschen und dessen Alltag keinen Respekt zollte. Zwar sprach Mills davon, wie die Menschen in den komplexen Strukturen der Medien, der Massenkultur und des militärisch-industriellen Komplexes gefangen seien. Aber er wollte Theoretiker bleiben und nicht für normale Menschen schreiben, sondern über sie. Wie Mills erhielt auch ich eine Ausbildung als Vertreter des Symbolischen Aktionismus, jener einzigartig amerikanischen soziologischen und sozialpsychologischen Perspektive, deren Anfänge bei den frühen Vertretern des amerikanischen Pragmatismus liegen, bei William James, John Dewey, Charles Peirce und George Herbert Mead. Man hat diese Perspektive als loyale Opposition in der amerikanischen Soziologie bezeichnet, als die am stärksten soziologisch orientierte aller Sozialpsychologien. Das »Symbolisch« in »Symbolische Interaktion« bezieht sich auf die fundamentalen linguistischen Grundlagen des Zusammenlebens menschlicher Gruppen, »Interaktion« auf die Tatsache, dass Menschen nicht einseitig auf einander zu agieren, sondern mit einander interagieren. Mit der Verwendung des Begriffs »Interaktion« verpflichten sich Symbolische Interaktionisten, die Entwicklungen von Handlungsverläufen zu untersuchen und zu analysieren, wie sie sich ergeben, wenn zwei oder mehr Menschen (Akteure) mit Handlungsvermögen (Reflexivität) ihr individuelles Handeln zu einer gemeinsamen Aktion zusammenführen. Das menschliche Bewusstsein wird durch Sprache, Symbolik, Medien und die Politik der Repräsentation vermittelt. Wir erforschen nicht Erfahrung, sondern die Darstellungen von Erfahrung, nicht Menschen aus Fleisch und Blut als solche, sondern deren Aufführungen (performances) und symbolische Präsenz in sozialen Texten. Nichts steht außerhalb der Welt der Sprache; hier liegt die linguistische Wende der Gesellschaftstheorie begründet. Gestaltet wurde diese Wende durch Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie, C. Wright Mills’ Herausarbeitung von Motivvokabularien, Alfred Schütz’ Überarbeitung von Max Webers Konzept sinnhaften Handelns, durch Peter Winchs Anwendung von Wittgensteins Erkenntnissen auf die Idee einer Sozialwissenschaft, durch Herbert Blumers von Mead ausgehenden Entwicklung und Konzeption des Symbolischen Interaktionismus, durch Erving Goffmans dramaturgische Soziologie, Harold Garfinkels ethnomethodologisches Projekt, Anthony Giddens’ Strukturierungstheorie, Jürgen Habermas’

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Vorwort | 9 Theorie kommunikativen Handelns und durch diverse feministische Theorien, die Handlung und Handlungsvermögen im Unterbewussten lokalisieren. Bei all diesen Theorien und Formulierungen geht es um Ort und Stellenwert eines autonomen, reflexiven Individuums in der Konstruktion sinnhaften Handelns. Das ethnomethodologische Projekt, wie es von Garfinkel und seinen Kollegen skizziert wurde, setzt einen Menschen aus Fleisch und Blut voraus – jemanden wie Agnes, der ich mich in meinem Aufsatz »Harold und Agnes« widme. Agnes, in ihrem (männlichen) Körper gefangen, hatte durch Interaktionen ihre geschlechtliche Identität manipuliert. Mit dem Instrumentarium einer feministischen narrativen Analyse hinterfrage ich Garfinkels Lesart von Agnes und Agnes’ Selbsterfahrungen und komme zu dem Schluss, dass Garfinkel wissentlich und unwissentlich mit Agnes kollaborierte, um deren Weiblichkeit zu produzieren. In »Die Geburt der Kinogesellschaft« zeige ich, wie das amerikanische Kino den Raum für eine bestimmte Art des öffentlichen Gemeinschafts(er)lebens schuf. Filme und Kinos wurden zu einer Technologie und einem Machtapparat, der das Alltagsleben organisierte und ihm einen Sinn gab. Der Kinoapparat setzte eine realistische Darstellungspolitik um und nahm für sich in Anspruch, durch das Auge der Kamera die Alltagsrealität akkurat erfassen zu können. Für diese Version von Simulakren zahlen wir weiterhin unseren Preis: Film und Fernsehen schaffen Hyperrealitäten, die das Reale simulieren, und als Folge steht die Realität nun gegenüber der Hyperrealität auf verlorenem Posten. Sie kann ihr niemals gerecht werden. In »Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft« wende ich mich der Rolle des Interviews in der Kino-und-Interview-Gesellschaft zu. Wir sind als Nationen von Informationen abhängig geworden, die in Interviews gewonnen wurden. Meine These lautet hier, dass das postmoderne Interview eine Aufführung ist, die Inszenierung einer situierten Identität. Ich verleihe überdies der Hoffnung Ausdruck, dass das reflexive Interview, konsequent gehandhabt, zu einer freien und gerechten Gesellschaft beitragen kann. »Ein Plädoyer für die performative Dimension« treibt meine Agenda weiter voran. Ich vertrete in diesem Aufsatz die These, dass Begriffe wie Biographie, Identität, Geschlecht(srolle), Rasse und Geschichte stets performativ und interaktiv sind. Sie gründen in den konkreten Realitäten von Aufführungen und performativen Ereignissen. Mit dieser »performativen Wende« entfernt sich mein Projekt vom Studium der Texte und einer Darstellungspolitik per se. Im Mittelpunkt stehen nun der Text als Aufführung und die Produktion von aufführungsorientierten Texten.

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10 | Ethnographie, Kino und Interpretation Wir führen Kultur auf, indem wir sie schreiben; die Grenze zwischen Aufführung als Handlung und Aufführung als Resultat ist aufgehoben. Auch der Aufsatz »Lesen und Schreiben als performativer Akt« widmet sich der performativen Wende. Er untersucht verschiedene Ansätze zur Bewertung von Aufführungstexten. Ich behandle feministische, kommunitarische, literarische und ästhetische Kriterien, wobei der Akzent auf einer Politik der Interpretation liegt. Zu erstreben sind stets Aufführungen, die die Menschen zu gerechtem Handeln bewegen. »Rassendarstellungen auf der Leinwand« schließlich rundet diese Aufsatzsammlung ab, indem dieser Beitrag zum Kinoapparat, zur Kinogesellschaft und zum Kino rassischer Gewalt zurückkehrt, das sich in den amerikanischen Medien festgesetzt hat. Indem ich gewissermaßen zu Mills zurückkehre, fordere ich eine Darstellungspolitik, die danach fragt, wie wir Kunst, Kino und eine kritische Sozialwissenschaft einsetzen können, um Kommunikation über die Schranken von Rasse, Klasse, Religion, Hautfarbe und Geschlecht hinweg zu ermöglichen. Können wir uns eine Form der Demokratie erträumen, die weder rassistisch noch gewalttätig noch unterdrückend ist? Hier liegt die Hoffnung einer kritischen Sozialwissenschaft begründet. Und dies ist eine Version von Mills’ soziologischer Vorstellungskraft, für die zu kämpfen sich wirklich lohnt. Norman K. Denzin Urbana, Illinois 21. März 2008

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 11

Programmatische Ansprache des Vorsitzenden: Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« 1

»Das soziologische Denkvermögen hat die Chance, in das menschliche Leben unserer Zeit einzugreifen.« Mills 1959: 226; dt. 1973: 277

Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag geht es um eine kritische Lektüre von C. Wright Mills’ The Sociological Imagination (1959; dt. Kritik der soziologischen Denkweise). Diese Lektüre verdeutlicht die Notwendigkeit einer Neubewertung von Grundlagen, Praxis, Zielen und Auswirkungen der Soziologie. In diesem Sinne wird Interpretationsmaterial aus Geschichten von Alkoholikern und über Alkoholiker sowie aus einer und über eine neue kulturelle Gruppierung, Adult Children of Alcoholics (ACA bzw. ACoA; dt. Erwachsene Kinder von suchtkranken Eltern und Erziehern, EKS), herangezogen, um die Grundlagen einer minimalistischen Soziologie zu verdeutlichen.

Einleitung Mein Ziel im vorliegenden Beitrag ist es, zwei Begriffe zu zerlegen und dann neu zusammenzusetzen: »soziologische Phantasie« (sociological imagination) und »biographische Erfahrung«. Beide Begriffe sind für die »neuen interpretativen Soziologien und Anthropologien« (vgl. etwa Mar-

1 | Veröffentlicht in Sociological Quarterly 31 (1990), S. 1-22.

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12 | Ethnographie, Kino und Interpretation cus/Fischer 1986, Geertz 1973 und 1988, Clifford 1988, Clifford/Marcus 1986; Bertaux 1981; Brown 1987) anscheinend ebenso unverzichtbar wie für jene Wissenschaftstradition, die weiterhin an der Idee einer einzigartigen soziologischen Denkweise festhält, die unser Gebiet von anderen Sozialwissenschaften unterscheide (vgl. Collins 1985, Wiley 1986) und nützliche, sinnvolle Versionen des Forschungsaktes ermögliche (vgl. Couch 1986, Couch 1987: 9).2 Jede Soziologengeneration hat ihr Schlüsselwerk, welches die Phantasie von Neulingen der Zunft beflügelt. In den 1960er Jahren war es C. Wright Mills’ Klassiker The Sociological Imagination (1959; dt. Kritik der soziologischen Denkweise),3 der der Soziologie zu den beiden eingangs genannten Begriffen Wichtiges zu sagen hatte. Mills’ Buch galt lange Zeit als das sozusagen letzte Wort von Amerikas wichtigstem kritischem Theoretiker der Soziologie; es bot zur Jahrhundertmitte eine Zurückweisung der amerikanischen positivistischen, funktional orientierten Sozialtheorie zugunsten einer kritischen Soziologie im Sinne der Frankfurter Schule (vgl. Gouldner 1970: 12, Horowitz 1983, Collins 1981: 315, Coser 1978: 300, Tilman 1984). Auch auf heutige Soziologen wirkt Mills’ Buch noch immer anregend.4 Ich verwende Mills’ Text, um gegenwärtige Schreibweisen und Lesarten der Soziologie zu erkunden. Zwar führte Mills den Begriff »postmodern« in die amerikanische Soziologie ein (1959: 166; dt. 1973: 212), doch ist sein Werk mit seiner Stoßrichtung eindeutig der Moderne zuzurechnen – und damit eigentlich ungeeignet für die Auseinandersetzung mit den Problemen, denen sich die heutige Soziologie gegenübersieht. Mills’ Version der soziologischen Denkweise kann der Soziologie kaum noch als Wegweiser für den »Zusammenhang unserer schrecklichen und großartigen Gegenwart« am Ende des 20. Jahrhunderts dienen (1959: 2 | Mills’ Formulierung »Biographie und Gesellschaft« (1959: 6; dt. 1973: 38) wurde sogar zur Bezeichnung eines neuen Forschungskomitees in der International Sociological Association verwendet (vgl. Bertaux 1984: 8).

3 | Eine ähnlich inspirierende Funktion hatten in den 1970er Jahren Alvin Gouldners The Coming Crisis of Western Sociology (1970), in den 1980er Jahren Giddens, Habermas und die neueren französischen Sozialtheoretiker (Lacan, Derrida, Barthes, Baudrillard u.a.); für frühere Soziologen-Generationen waren es Talcott Parsons und Robert K. Merton. Ist eine solche Soziologen-Generation »volljährig« geworden, so hat sie die Verpflichtung, die Texte, die die Mitglieder der betreffenden Generation in das Gebiet der Soziologie einführten, mit anderen Augen nochmals zu lesen. Zur Frage, wie Texte bei mehrfacher Lektüre ihre Bedeutung ändern, vgl. Denzin 1987c.

4 | Zum Beispiel lautete das Thema der Jahreskonferenz 1988 der Midwest Sociological Society »The Sociological Imagination«.

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 13 225; dt. 1973: 277). Mein Bestreben läuft vielmehr darauf hinaus, aus einer kritischen Mills-Neulektüre die Grundlagen für eine ethisch empfängliche, feministische, minimaltheoretische5 postmoderne Soziologie und Anthropologie der existenziellen Erfahrung aufzubauen. Eine solche Soziologie und Anthropologie muss auf den Tod des »Sozialen« in der Soziologie eingehen6 und sich den Tönen und Stimmen des gegenwärtigen amerikanischen kulturellen Lebens öffnen. Eine grundlegende Frage, auf die ich bei Mills gestoßen bin, soll als Leitfaden meiner Erörterungen dienen: Sind unsere Texte in der Lage, die Biographie, die gelebte Geschichte und die gelebte Erfahrung zu erfassen? Das heißt, können wir als Soziologen je zu den persönlichen Problemen und zu jenen als Offenbarung empfundenen Erfahrungen vorstoßen, die das Leben der Menschen von Grund auf verändern? Ich meine, dass dies nicht der Fall ist. Die Gesellschaft und ihre Glieder existieren, soweit sie bekannt sind, vor allem in den Texten, die wir darüber verfassen (vgl. Brown 1987, Clifford/Marcus 1986, Marcus/Fischer 1986). Diese Texte sind narrativ-fiktionale Hervorbringungen, die auf den Geschichten basieren, welche uns die Leute selbst erzählen oder über die sie uns berichtet haben (vgl. McCall 1990). Alles, was wir besitzen, sind Erfahrungen und Geschichten über diese Erfahrungen, denn signifikante Erfahrungen erhalten in den Berichten der Betroffenen narrative Ausdruckskraft (vgl. Bruner 1986: 5-7). Die »realen« Subjekte 5 | Damit meine ich eine Soziologie, die sich (mit Howard S. Becker 1967) auf die Seite derer schlägt, die in den vorherrschenden Machtverhältnissen der postmodernen Gesellschaften unten stehen. Mit »weiblicher Schreibweise« (écriture féminine; vgl. Clough 1988, de Lauretis 1987) beschreibt eine ethisch minimalistische, existenziell relevante Soziologie (vgl. Kotarba/Fontana 1984) ohne komplexen soziologischen Jargon und ohne komplexe soziologische Theorie die Erfahrungen solcher Personen und kulturellen Gruppierungen. (Vgl. zur Ethik literarischer Texte und zur impliziten Relevanz dieser Diskussion für soziologische Texte Booth 1988, S. 8-9, Kapitel 2 und Epilog.) Diese Art von Diskurs widmet sich den krisenhaften Momenten im Leben von Individuen, und sie privilegiert diese Sprachen der Emotion gegenüber den analytischen Sprachen von Rationalität und Vernunft (vgl. Denzin 1984, 1989a, 1990b; Crapanzano 1980).

6 | Ich entnehme diese Phrase Baudrillard (1983b: 86) und möchte damit zweierlei zum Ausdruck bringen: erstens das Verschwinden des sozialen Lebens als gelebte Erfahrung und als entsprechende Darstellung in soziologischen Texten, und zweitens das Absterben innerhalb der Gesellschaft von jeglichem inneren Zusammenhalt und dem Gefühl, Teil einer sozialen Einheit zu sein, die man Gesellschaft als Ganzes nennen könnte. Somit verbleiben auf einer Ebene nur noch hyperreale Darstellungen des Lebens in der Gesellschaft (vgl. Baudrillard 1983c: 146).

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14 | Ethnographie, Kino und Interpretation und die »realen« Welten interaktionaler Erfahrung existieren allein in den Texten, die wir und unsere Subjekte produzieren. Dabei ist der objektive Wahrheitsgehalt dieser Texte nebensächlich; denn Begriffe wie Verlässlichkeit, Stichhaltigkeit, dokumentarischer Wert und Verallgemeinerungspotenzial stehen lediglich für Bedeutungen, die durch Beobachter hineingetragen wurden, welche an eine objektive Welt glauben – an eine Welt, die akkurat aufgezeichnet werden kann (vgl. Maines 1989). Dementsprechend müssen Soziologen, wenn sie jetzt neue Schreib-, Lese- und Zuhörstile entwickeln (vgl. van Maanen 1988), lernen, auf ein ganzes Arsenal neuer Stimmen zu hören. Diese neue Art zu schreiben muss für ethische Fragen offen sein und gegenüber unseren Lesern und den Menschen, über die wir schreiben, Verantwortung zeigen. Zur Illustration dieser Punkte möchte ich die Geschichten untersuchen, die Alkoholiker einander erzählen (vgl. Denzin 1987a und 1987 b). Außerdem werde ich auf Texte aus einer und über eine neue kulturelle Gruppierung eingehen: Adult Children of Alcoholics (ACA bzw. ACoA; dt. Erwachsene Kinder von suchtkranken Eltern und Erziehern, EKS; vgl. Woitiz 1983, Black 1981, People Weekly 1988). Damit stelle ich mich Mills’ Herausforderung, man müsse untersuchen, »welcherart Männer und Frauen in dieser Gesellschaft und in dieser Periode vorherrschen« (1959: 7; dt. 1973: 39). Mithilfe dieser Geschichten werde ich zeigen, wie sich ein minimaltheoretischer Diskurs über die postmoderne Szene verfassen lässt.7

Mills’ »The Sociological Imagination« Mills’ Buch The Sociological Imagination ist [zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrags] genau dreißig Jahre alt – ein Werk, das von den in den 1960er Jahren ausgebildeten Soziologen eine politisch informierte, für menschliche Erfahrungen methodisch sensible Arbeit fordert, die sich am Werk der von Mills bewunderten klassischen Sozialtheoretiker orientiert (Marx, Mosca, Schumpeter, Veblen, Michels, Pareto, Weber, Durkheim, Freud). Mills forderte seine Kollegen auf, eine soziologische Imagination zu entwickeln, die einer bestimmten Art von Selbstbewusstsein und Selbstbewusstheit förderlich und in der Lage sei, Biographie, Geschichte, Weltpolitik und spezielle Gesellschaften als ineinander verschlungene Totalitäten zu verstehen. Auf diese Weise ließen sich

7 | Als Vorbild für mein Schreiben dient der amerikanische Kurzgeschichtenautor Raymond Carver (vgl. Carver 1982 und 1984, Barthelme 1988).

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 15 dann auch die Fallstricke und persönlichen Probleme ganz normaler kleiner Leute sinnvoll verstehen.8 The Sociological Imagination ist als Werk ganz Ausdruck von Mills’ eigener Phantasie.9 Mills denkt und schreibt selbstherrlich. Er konstruiert in den zehn Kapiteln seines Buches10 Bilder und Abbilder der Gesellschaft, von Männern (seltener Frauen) und der Realgeschichte. Das Buch fasst die Ergebnisse seiner beiden früheren Bücher zur amerikanischen Klassenstruktur, The White Collar (1951; dt. Menschen im Büro: Ein Beitrag zur Soziologie der Angestellten) und The Power Elite (1956; dt. Die amerikanische Elite: Gesellschaft und Macht in den Vereinigten Staaten), zusammen – Werke, in denen Mills seiner selbst gestellten Aufgabe nachgeht, im Sinne Balzacs »alle wichtigen Klassen und Typen jener

8 | Der innere Zusammenhang von persönlichen und öffentlichen Problemen war für Mills’ Argumentation von zentraler Bedeutung (vgl. 1959: 8-13; dt. 1973: 41-47). Doch vernachlässigte er, wie David Altheide und Raymond Schmitt (im persönlichen Gespräch) sagten, jene Art von persönlichen Problemen, die niemals öffentlich thematisiert wurden, und jene Art von öffentlichen Problemthemen, die im Privaten keinen Niederschlag fanden. Zum Beispiel untersuchte Mills – anders, als ich es hier versuche – nicht, wie Probleme entstehen und sich wandeln, wenn sie zu öffentlichen Problemthemen werden. Auch kommen in Mills’ Texten keine biographischen Erzählungen in der ersten Person über das amerikanische Leben in den 1940er und 1950er Jahren vor. Seine Texte enthalten stattdessen Zusammenfassungen von Romanen, populären Kinofilmen, Zeitungsberichten, Regierungsstatistiken und historischen Werken über die amerikanische Klassenstruktur. Gleichwohl sprach Mills als erster ein postmodernes Thema an (siehe unten): die Einebnung der Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten im gegenwärtigen Leben.

9 | Zur sprachlichen Definition: To imagine (»imaginieren, sich vorstellen«) heißt »sich ein Bild machen« oder »sich etwas nur vorstellen« (ohne dass es real wäre). Imaginary (»imaginär«) bezeichnet etwas, das es nur in der Einbildung gibt, das nicht real ist. Imagination (»Vorstellungskraft, Denkweise, Phantasie«) bezeichnet den Akt des Vorstellens ebenso wie das Vorgestellte selbst.

10 | Die Titel der Kapitel lauten: »The Promise« (»Die Verheißung«), »Grand Theory« (»Die große Theorie«), »Abstracted Empiricism« (»Geistloser Empirismus«), »Types of Practicality« (»Formen praktischer Anwendung«), »The Bureaucratic Ethos« (»Das bürokratische Ethos«), »Philosophies of Sciences« (»Vom Wesen der Wissenschaft«), »The Human Variety« (»Menschliche Existenz«), »Uses of History« (»Vom Nutzen der Geschichte«), »On Reason and Freedom« (»Über Vernunft und Freiheit«), »On Politics« (»Über Politik«); der berühmte Anhang trägt den Titel »On Intellectual Craftsmanship« (»Regeln intellektueller Arbeit«).

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16 | Ethnographie, Kino und Interpretation Zeit, die er sich zu eigen machen wollte, zu charakterisieren« (1959: 200; dt. 1973: 250). Wie jedes theoretische Werk ist auch Mills’ Buch rhetorisch stilisiert. Es kommen darin alle von Hayden White (1973) beschriebenen Diskurstropen und Schreibweisen der Metahistorie zum Zug (vgl. auch Marcus/Fischer 1986: 14-16).11 Mills spricht mit vielen Stimmen, mal wie Max Weber, dann wieder wie Karl Marx, der die Menschen drängte, Geschichte nicht nur zu verstehen, sondern zu verändern; und im Anhang schlüpft er in die Rolle des intellektuellen Handwerkers, der »ob er es weiß oder nicht, sich selbst formt, indem er ständig seine Arbeitsweise verbessert« (1959: 196; dt. 1973: 245). Solche Oxymora lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei diesem angeblichen Handwerker um einen Intellektuellen handelt, der der Arbeiterklasse gar nicht angehört.12 Strukturiert wird Mills’ Buch durch das Zusammenspiel von drei Gesprächsebenen und vier Texten. Zu den Gesprächsrollen gehören Mills’ Interaktionen mit sich selbst, seine Interaktionen mit den einflussreichen Theoretikern, die ihm über die Schulter schauen, und der Diskurs zwischen dem Leser und Mills’ Buch (vgl. Mills 1956: 363).13 Die vier Texte umfassen Mills historische Biographie, in der er selbst als Soziologe auftritt, seine Interpretationen der Texte soziologischer Zeitgenossen, seine Interpretationen der Texte jener klassischen Sozialtheoretiker, denen er nacheifert, und den Text der amerikanischen Gesellschaft, die zu verstehen er bestrebt ist. Er macht aus diesen Texten und Gesprächen ein Diskurssystem, das es ihm gestattet, stets das letzte Wort darüber zu behalten, wie seine Vorstellungskraft jene Art von Soziologie hervorbringen kann, die er sich 11 | Es sind dies Komödie, Parodie, Romanze und Tragödie. Mills bietet komische Parodien von Parsons und Lazarsfeld und beklagt andererseits den tragischen Niedergang von Vernunft und Freiheit zu Beginn des postmodernen Zeitalters (vgl. Mills 1959, Kap. 1, 9 und 10).

12 | Diesen Punkt unterstreicht auch Rose Goldsen in ihrem Bericht über Mills’ Engagement bei dem Projekt Puerto Rican Journey (1950). Demnach interviewte Mills dort keine »Migranten, und er versuchte auch nicht, deren Meinung zu teilen. Er interviewte vielmehr englischsprachige Beamte und Intellektuelle« (Goldsen 1964: 90).

13 | Tatsächlich beteiligen sich an diesem Gespräch nicht nur drei, sondern sogar sechs Personen: Mills als unmittelbarer Erzähler der Geschichte; Mills als implizierter Erzähler, der weiß, dass es sich nur um eine fingierte Version der Imagination handelt; Mills, der Autor aus Fleisch und Blut; und dazu die drei entsprechenden Aspekte und Rollen des Lesers (vgl. dazu Booth 1988: 125 und Broyard 1989: 27, der diese Rollen kritisch erörtert).

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 17 zurechtkonstruiert hat. Bei diesem Doppelspiel mit der Imagination stellt sich Mills als Konstrukteur genau jene Texte vor, die er dann vom Standpunkt seiner soziologischen Imagination aus kritisiert. Und auf diese Weise macht er aus der soziologischen Imagination eine Kraft, die die Geschichte verändern kann. Indes, diese Kraft ist nur das Produkt seiner Phantasie und seiner imaginierten Lesarten der von ihm respektierten klassischen Theoretiker. In der aktuellen soziologischen Arbeit ist sie dagegen nirgends anzutreffen. Nur in seiner eigenen Arbeit. Er selbst ist die soziologische Imagination. Diese textuelle Transformation des Selbst gestattet es Mills, sich außerhalb der Geschichte und der Soziologie zu positionieren und so zum objektiven Beobachter der Weltgeschichte und von Amerikas Ort in dieser Geschichte zu werden (vgl. dazu Merleau-Ponty [1964: 109], der zeigt, dass und warum dies unmöglich ist). Mills ist der Held seines eigenen Textes und die Wiedergeburt jener toten Theoretiker, die er so sehr bewundert. Nachdem er sich so als Amerikas selbst ernannter herausragender »klassischer Theoretiker« der Gegenwart etabliert hat, ist er an die Gebote des Empirismus nicht mehr gebunden.14 Er ist an die Stelle von Parsons und Lazarsfeld getreten. Mit dieser Identität kann er die Sozialstruktur mit den Augen seiner Helden lesen, wie umgekehrt auch sie mit seinen Augen, mit seiner soziologischen Imagination gelesen werden. Dementsprechend ist das, was er sich vorstellt, für seine Imagination real und durch seine Erfahrungen verifiziert. Darin übertrifft er sogar noch Balzac. Nachdem er die Klassenstruktur bereits »abgehandelt« hat, schreibt er nun das Buch darüber, wie ihm das gelungen ist. Die Leser müssen nur bereit sein, sich ihm anzuvertrauen und gemeinsam mit ihm zu räsonieren, dann nehmen sie an einem Dialog über die »höheren Kreise in Amerika« und über die Soziologie teil (vgl. Mills 1956: 364). Wie geht Mills dabei vor? Er tut so, als würde er mit dem Leser einen Dialog führen. In Wahrheit haben wir es jedoch mit einem monologischen Erguss über den Zustand des amerikanischen Lebens um die Mitte des 20. Jahrhunderts zu tun, mit einer Tirade, die sich der Sprachen und der großartigen »Metaerzählungen« des klassischen Zeitalters bedient: Vernunft, Freiheit, Demokratie, Aufklärung, und das positive Wissen über den Menschen und seine Probleme (vgl. Lyotard 1984).

Mills’ der Moderne zugehöriger Text Mills’ sorgfältig durch die Sprache der klassischen Sozialtheorie geprägter Dialog ist der Moderne zuzuordnen (vgl. Denzin 1986: 194f.). Es 14 | Er gesteht freimütig: »Ich mache nicht gern empirische Arbeiten, wenn sie irgendwie zu vermeiden sind« (1959: 205; dt. 1973: 255).

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18 | Ethnographie, Kino und Interpretation dominieren Begriffe wie Entfremdung, Anomie, totalitäre, kapitalistische oder feudale Gesellschaft, Klasse, Status, Macht, Schlüsselvariablen oder quantifizierbare Indices.15 Die Worte sind sorgfältig gewählt. Mills hat die klassischen Sozialtheoretiker im Kopf. Sie führen ihm vielstimmig die Feder, wenn er eine theoretische Gesamtschau der frühen postmodernen amerikanischen Gesellschaft verfasst, in der Mikro- und Makroebene der Erfahrungswelt miteinander verbunden sind und bei der letztlich nichts anderes herauskommt als eine weitere Version des Mythos von Gemeinschaft und Gesellschaft, der in den Köpfen dieser klassischen Theoretiker herumspukte. Mills vertritt eine verifizierbare Gesellschaftswissenschaft, die Konflikte und Krisen ins Zentrum der sich herausbildenden spät- und postkapitalistischen Sozialstrukturen stellt. Trotz gelegentlicher Verbeugungen in Richtung des Relativismus, der Biographien und persönlichen Nöte, des Problemkomplexes von Wissen und Macht sowie der Legitimationskrise im Umfeld der modernen Wissenschaften bleibt er in der Rhetorik der von ihm so sehr geschätzten Sozialtheorien gefangen. Er schafft es nicht, seiner eigenen soziologischen Imagination zu folgen. Wie kommt dieses Scheitern zustande? Ich, ein Leser aus Fleisch und Blut, sitze da mit Mills’ Buch in der Hand; er der Autor aus Fleisch und Blut, sieht mich vom Schutzumschlag aus an. Da ist er also. Im schwarzen Hemd und mit dem Daumen am Hosengürtel starrt er in die Ferne. Wahrscheinlich denkt er über die soziologische Imagination nach. Sein Buch dringt in mein außerhalb der Erzählung liegendes Leben ein: Ich möchte Mills glauben, sein wie er, möchte seine soziologische Imagination haben. Und so kommt das Scheitern zustande. Ein einziger Satz, der erste seines Buches, macht den Prozess beispielhaft deutlich: »Manche Menschen haben heute häufig das Gefühl, als sei ihr privates Leben voller Fallstricke« (1959: 3; dt. 1973: 35). Ich gehe als gläubiger Leser an Mills’ Buch heran, und so bin ich schon am Ende des ersten Satzes auf seiner Seite. Wem würde es anders ergehen? Der kleine Mann (und die kleine Frau, an anderer Stelle [Mills 1963: 344] als »liebe kleine Sklavin« [»darling little slave«] oder »Königin der Vorstädte« [»suburban queen«] bezeichnet) dienen Mills als Folie. Er erweckt den Anschein, als spräche er über die existenziellen »Fallstricke« dieser kleinen Leute: über die Sinnlosigkeit ihres Alltagslebens (vgl. 1959: 197; dt. 1973: 245), ihre gescheiterten Ehen, ihre Arbeitslosigkeit (vgl. 1959: 8-10; dt. 1973: 41-43), über die schlecht bezahlten Jobs nonnengleicher Frauen in den Büros der Angestelltengesellschaft (vgl. Mills 1951: 204), über die mechanische 15 | Vgl. Mills 1959: 207-209 (dt. 1973: 257-259), wo spezifische Variablen und quantifizierbare Indices diskutiert werden.

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 19 Arbeit, die auch Roboter verrichten könnten, über ihre Alkohol- und Drogenprobleme, über die verlogenen Traktate, Trivialromane und populären Filme, die sie bei Laune halten sollen (vgl. 1951: 282), und über die schrecklichen, hässlichen Städte, in denen sie leben. Doch nirgends kommen auf den Seiten seiner Werke diese kleinen Leute selbst zu Wort, nirgends ist von ihren persönlichen Problemen die Rede. Denn Mills spricht für sie oder zitiert andere, die ebenfalls über diese Leute geschrieben haben, meistens Romanschriftsteller wie Sinclair Lewis, Booth Tarkington, Christopher Morley oder James M. Cain. Somit spiegelt Mills’ erster Satz nur wider, welches Gefühl seiner Meinung nach Männer (und Frauen) heute mit ihrem Leben verbinden, oder aber was andere über die heutigen Menschen geschrieben haben. Es kann nicht sein, dass Mills hier über ein eigenes Gefühl, in der Falle zu sitzen und ein sinnloses Leben zu führen, schreibt, denn Mills der intellektuelle Handwerker findet ja in seinem Theoretisieren über das Leben der anderen einen Sinn, obgleich seine Texte dieses Leben weder berühren noch diejenigen, die es führen, selbst zu Wort kommen lassen. Sein einleitender Satz ist reine Rhetorik, allein darauf aus, den Leser sofort auf die Seite dieses populistischen emanzipatorischen Textes zu ziehen. The Sociological Imagination ist ein heuchlerischer Text mit zweifelhafter Ethik. Er ist voll von Heuchelei nach oben und nach unten.16 Mills tut so, als wären er und ich (als Leser) wegen des gegenwärtigen Zustands der Soziologie schlechter dran als wir es wirklich sind. Das ist Heuchelei nach unten. Er will mich glauben machen, dass mein Leben in Wirklichkeit nur aus einer Reihe von Fallstricken besteht; er legt sogar den Schluss nahe, dass es auch bei ihm selbst so gewesen sei (vgl. 1959: 201; dt. 1973: 250). Zugleich will er mich durch altruistisch-moralische Entrüstung über die Art und Weise, wie Soziologen wie Parsons und Lazarsfeld soziologisch arbeiten, emotional bewegen. Das ist Heuchelei nach oben. Mills spielt mit mir ein Spielchen, indem er mich erst auf die eine, dann auf die andere Weise bewegt, ohne dass es ihm wirklich um mein Wohlergehen ginge. Er wird mich zugunsten seiner höheren Ziele opfern. Das ist tragisch, denn es schadet meiner früheren oder potenziellen Beziehung zu Mills’ Text: Sein Projekt kann mich nicht mehr moralisch veredeln. Ich traue ihm nämlich nicht mehr. Dass er mich, den Leser aus Fleisch und Blut, für seine eigenen Zwecke manipuliert, nimmt mir das Vertrauen. Sein Buch ist unmoralisch.17 Ich kann in Mills’ Text nicht länger als ein guter Freund zu Hause sein; ich kann seine moralische 16 | Diese Begriffe habe ich bei Booth (1988: 253-256) entlehnt. 17 | Sein Text ist totalitär, weil er mich und alle »heutigen« Personen für seine eigenen Zwecke manipuliert.

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20 | Ethnographie, Kino und Interpretation Vision, wie die die soziologische Imagination funktioniert, wie sie funktionieren sollte, nicht mehr teilen. Unsere Freundschaft ist weder voll entwickelt noch beruht sie auf Gegenseitigkeit (vgl. Booth 1988: 223). Nachdem er uns Parsons ausgeredet und uns zu Dewey, zum Pragmatismus und zum symbolischen Interaktionismus zurückgeführt hat, geht Mills aus dieser Lektüre als angeschlagener Held hervor.18

Welchen Umgang wir pflegen Für uns Soziologen gilt: »Der Umgang, den wir pflegen« (um mit Wayne Booths Buchtitel [1988] zu sprechen) und die Bücher, die wir lesen und schreiben, sagen einiges darüber aus, wer wir sind (vgl. Broyard 1989). Die meisten Soziologen seit Mills haben mit den »großen« Sozialtheoretikern und Empirikern Umgang gepflegt, die gemeinsam jene Vorstellung von Sozialwissenschaften reproduzieren, die vielen viel bedeutet. Wer auf die Liste der »Großen« gehört, hängt ganz davon ab, wem und welcher Schule man sich zugehörig fühlt.19 Jene, die sie propagieren, füllen die Seiten unserer renommiertesten Zeitschriften mit positivistischen und postpositivistischen Versionen von Neuigkeiten über die Gesellschaft (vgl. Maines 1989). Doch selten, wenn überhaupt füllt, wie Mills zu Recht feststellt, die Gesellschaft die Seiten dieser Texte; es dominieren Theorie- und Methodenfragen. Mills pflegte den besten Umgang, doch wohin ist er damit geraten? Er hat einen unaufrichtigen Text verfasst, der nicht auf die Bedürfnisse und Anforderungen eingeht, die er selbst als zentral für das wahrheitsgemäße Funktionieren der soziologischen Imagination erachtet. Sein Projekt ist aus vier Gründen gescheitert: Erstens pflegte er den falschen Umgang. Zweitens schuf er die falsche Version der soziologischen Imagination. Drittens hörte er nicht auf die kleinen Leute. Und viertens hat er, was ich selbst für das Wichtigste halte, ein ethisches Band zu mir, dem Leser geknüpft, dem er später nicht gerecht geworden ist. Er hat das Vertrauen gebrochen. Um zu sehen, wie Mills eigentlich hätte vorgehen sollen, diskutiere ich im Folgenden eine Textart, die ich minimaltheoretisch nenne. Weil Mills solche Texte nicht geschrieben hat, gerieten ihm die Probleme der Biographie und Erfahrung ebenso aus dem Blick wie die Darstellungsweisen von menschlichem Leben in soziologischen Texten. 18 | Das hat auch James W. Carey mir gegenüber deutlich hervorgehoben. 19 | Man wähle aus folgendem Namenkatalog: Marx, Weber, Durkheim, Simmel, Mead, Cooley, Blumer, Parsons, Homans, Merton, Goffman, Garfinkel, Strauss, Becker, Baudrillard, Lyotard, Lacan, Barthes, Sartre, de Beauvoir, Derrida, Blau, Coser, Collins, Giddens, Habermas.

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 21

Was zu einem minimalistischen sozialen Text gehört Die wesentlichen Elemente eines minimaltheoretischen Textes sind Stimmen, Beschreibungen, Plausibilität und Wirklichkeitsnähe, Interpretationen sowie die Unbestimmtheiten von Bedeutung, Gegenstand, Geschichte und Biographie (vgl. Denzin 1989a, Kapitel 7). Ein minimalistischer Text sollte wenigstens zwei Stimmen enthalten: die des Autors und die des Subjekts, von dessen Erfahrungen erzählt wird. Eine Vielfalt von Stimmen auf der unmittelbaren Textebene ergibt sich ganz selbstverständlich, ohne dass sich dabei die Stimme des unmittelbaren oder des implizierten Erzählers in den Vordergrund drängt. Solche Texte beschleunigen eine Situation und sie gestatten dem Leser, stellvertretend an den erzählten Erlebnissen und Erfahrungen teilzunehmen – durch emotionale Identifizierung und emotionales Verstehen der Individuen, wenn diese sich äußern. Zu erstreben sind dichte interaktionale Beschreibungen (vgl. Denzin 1989a, Kapitel 5). Diese sind von unten her geschrieben, aus der Perspektive der betroffenen Individuen; es geht darum, was diese Menschen sehen, fühlen, hören und sagen. Der Text erzählt sich selbst, er ergibt Sinn aus sich selbst und steht als textuelle Darstellung eines signifikanten Erfahrungsaugenblicks für sich. Die hier eingefangene Welt interpretiert sich selbst, denn diese Prosa enthält schon die deutenden Theorien und die soziologische Alltagsimagination, die den Menschen in der betreffenden Situation zu Gebote stehen und mit deren Hilfe diese Menschen dem, was ihnen geschieht, einen Sinn geben. Die Erfahrung und ihre Bedeutungen sind stets unbestimmt, sie verschieben und verändern sich vom einen Augenblick zum anderen. Manche Erfahrungen entziehen sich der Darstellung, doch signifikante Erfahrungsaugenblicke kommen stets in Darstellungen zum Ausdruck, die aus Ereignissen geformte Erzählungen, Geschichten und Fiktionen sind (vgl. Booth 1988: 14-16, Bruner 1986: 6-7 und Denzin 1989a, Kapitel 5). Bedeutung existiert, woran uns Derrida (1981) erinnert, nur als Verschiebungsprozess (vgl. Denzin 1989b, Kapitel 2, und Denzin 1990a). Worte können Bedeutung nicht einfangen, weil Bedeutung in den Zwischen-Räumen existiert. Die Bedeutung einer Erfahrung liegt in ihrer Erzählung, wobei sich der Erzählvorgang dem Erzähler wie dem Zuhörer teilweise wieder entzieht. Was zählt, sind die Erfahrung und das Erzählen, nicht jedoch abschließende, letztgültige Worte. Die Personen, die diese Augenblicke erfahren, sind ganz normale Männer und Frauen der postmodernen Gesellschaft, jene Menschen, die laut Mills in einer Falle gefangen sind. Diese Menschen stellen fest, dass die Geschichte hinter ihrem Rücken weitergeht. Sie ringen darum, ihrem unmittelbaren Leben einen Sinn zu geben, während dieses Leben und die Bedeutung, die sie ihm geben, sich immer weiter von jenen großartigen mythischen

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22 | Ethnographie, Kino und Interpretation Metaerzählungen entfernen, die unsere Kultur ihnen beigebracht hat – den Mythen von Liebe, Ehe, Familie, Selbst, Charakter, Integrität, Ehre und zwischenmenschlichen Beziehungen. Es sind jene Leute, die, wie Barthelme (1988: 26) feststellt, »keine großen Worte machen. [… Sie sind] raffiniert und ruhig, behalten Dinge für sich, konzentrieren sich auf ihre Stärken. Sie sind bescheiden.« Unter der Oberfläche ihres Lebens liegt eine Ebene existenziell problematischer Erfahrungen, die danach schreit, gehört zu werden (vgl. Douglas/Johnson 1977). Genau diese Erfahrungen sind es, die der minimaltheoretische Text zu erfassen versucht. Mills hat keine minimaltheoretischen Texte geschrieben. Sein Kontakt mit den Welten biographischer Erfahrung war durch die von den klassischen Theoretikern ererbten Worte und Begriffe geprägt und daran angepasst. Auf diese Weise leistete auch Mills seinen Beitrag zum Tod des Sozialen. Doch nicht allein er. Die Massenmedien etwa (einschließlich der Tageszeitungen, die Mills häufig als Quellenmaterial heranzog) passen die gelebten Erfahrungen und Nöte von Durchschnittsmenschen routinemäßig an die dramatischen Darstellungserfordernisse der Titelseiten oder an die Sprachgebung der Human-Interest-Storys an (vgl. dazu Carey 1986 und Reisner 1990 mit einem Forschungsbericht zur Nachrichten-Sprachgebung sowie Ericson/Baranek/Chan 1987, Molotch/Lester 1974 und Altheide 1985). Solche Berichte sind selten minimalistisch, denn sie enthalten Arbeitshypothesen zu Ursache und Wirkung, Bedeutung und Interpretation (vgl. Carey 1986). Auch andere Soziologen als Mills rekonstruieren die Geschichten, die sie gehört haben, wenn sie Interviewantworten in Erzählungen über die öffentliche Meinung einpassen; wenn sie Lebensgeschichten über Sträflinge, Prostituierte, Drogenabhängige und Straßenräuber (»Jackroller«) schreiben (vgl. Plummer 1983) oder soziologische Geschichten über Anomie und Entfremdung in postindustriellen Gesellschaften zum Besten geben. So verlassen sie den Minimalismus zugunsten einer dichten Theorie – und geben damit im Namen der Soziologie das Soziale auf.

Die Schaffung des sozialen Textes: Geschichten und ihre Erzähler Die Geschichten, die wir einander erzählen (vgl. Booth 1988: 14), und die Interpretationen, die Durchschnittsmenschen damit verbinden, sind der Gegenstand einer minimaltheoretischen, interpretativen Soziologie. In solchen Geschichten wird das Soziale zum Leben erweckt. Das spürte auch Mills, als er sich Biographien zuwandte. Aber er ging nicht weit genug. Wäre er diesen Weg konsequent zu Ende gegangen, dann hätte er sich den Geschichten selbst und deren Erzählern zugewandt, denn hier liegt die Schnittstelle von Geschichte, Biographie und Gesellschaft.

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 23 Eine Geschichte ist eine »Abfolge von Handlungen oder Ereignissen, die als unabhängig von ihrer Manifestation im Diskurs verstanden wird« (Culler 1981: 169f.). Eine Geschichte hat eine doppelte Logik: Eine Handlungsstruktur (Plot) und eine zeitliche Handlungsabfolge werden mit einem Rechtfertigungssystem verbunden, warum die Geschichte genauso erzählt wird, wie sie erzählt wird (vgl. Labov 1972: 366, Ricoeur 1985: 101, Culler 1981: 171, Scholes 1980: 209-211, Smith 1980: 221, Denzin 1989c: 185). Es gibt keine saubere Trennungslinie zwischen explizit fiktionalen Geschichten und solchen, die angeblich wahr sind (vgl. Booth 1988: 13, Scholes 1980: 211).20 Alle Geschichten sind Fiktionen, narrative Berichte, die aus den realen und imaginierten Erfahrungen des Autors/ der Autorin und jener Personen gestaltet sind, die er oder sie beobachtet hat. Darum sind alle Formen des Lesens, Schreibens, Sprechens und der Darstellung narrative Fiktionen, die sich nur nach ihrem symbolischen Gehalt (Carey 1989: 63 unterscheidet hier »verbal, schriftlich, mathematisch und kinästhetisch«), nach ihrer symbolischen Form (»Kunst, Wissenschaft, Journalismus, Alltagsrede, Religion, Mythologie« [ebd.]) und nach ihrer ideologischen Bedeutung unterscheiden. Darüber hinaus sind Geschichten ein Zugang zum Leben einer Person. Es sind Darstellungen gelebter, emotionaler Erfahrung, angefüllt mit emotionalen Erinnerungen an die Vergangenheit oder Hoffnungen und Träumen für die Zukunft. Sie können rückwärts oder vorwärts gewandt sein. Sie verankern das Selbst des Erzählers im Zentrum der erzählten Geschichte und laden den Zuhörer ein, Teil der »Erzählwelt« (»storied world«) zu werden, die der Erzähler/die Erzählerin schafft.21 Selten gelingt es Menschen, selbst zu den Geschichten, die sie erzählen, zu werden. Denn Geschichten, ob sie nun von persönlichen Erfahrungen (vgl. Dolby-Stahl 1985, Stahl 1977: 19, Denzin 1989b, Kapitel 2, und 1989c: 187) oder vom Selbst handeln, sind kulturelle und Gruppenproduktionen; sie verschmelzen, wenn Menschen zusammenkommen, um ihre persönlichen Probleme und all jene Dinge zu erörtern, die in ihrem Leben wirklich wichtig sind. Wir haben nur Geschichten – Geschichten über Geschichten, Geschichten in Geschichten, Geschichten 20 | Scholes (1980: 211) argumentiert anlässlich eines Vergleichs von historischem und fiktionalem Diskurs: »Der Historiker versichert, dass die in den Text eingegangenen Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben, bevor sie zu einem Text wurden. […] Der Autor fiktionaler Texte tut das nicht.« Allerdings gehen auch die Ereignisse, deren Tatsächlichkeit der Historiker (und der Soziologe) bestätigen, dem Erzählen nicht voran, denn es gibt nichts, das außerhalb von Diskurssystemen existiert oder existiert hat (vgl. Smith 1980: 221 und Clifford 1986: 6).

21 | Viele dieser Punkte verdanke ich Vorschlägen von Raymond Schmitt.

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24 | Ethnographie, Kino und Interpretation über Geschichten in Geschichten, Geschichten über diese Geschichten, und so weiter. In jeder Kultur oder sozialen Gruppe gibt es zwei Kategorien von Geschichtenerzählern: die ganz normalen Menschen, die miteinander sprechen und einander Geschichten erzählen, und die selbst oder von der Gesellschaft ernannten Experten. Dazu gehören Romanautoren, Künstler, Dichter, Musiker, Soziologen, Anthropologen, Historiker, offizielle Biographen, Journalisten, Priester, Politiker und Lehrer, die Geschichten über die Geschichten anderer schreiben und erzählen. Jede Gruppe von Geschichtenerzählern entwickelt ideologisch ihre eigenen Kriterien bezüglich wahrer und falscher, guter und schlechter Geschichten (vgl. Foucault 1980: 151). Diese Kriterien können mit den kanonischen Regeln der positivistischen Wissenschaft ebenso zusammenhängen wie mit diversen Theorien der Interpretation, Ästhetik, Religion, Gesellschaft oder Politik, oder mit den praktischen Problemen, mit denen die betreffende Gruppe konfrontiert ist. Was für die eine Gruppe wahr ist, muss in einer anderen Gruppe noch lange nicht als wahr gelten. Sechs Kategorien von Geschichten beschreiben verschiedene Erfahrungsschichten und sind noch weiter typisiert, je nachdem, wer die Geschichte wem wann wo wie und warum erzählt (die berühmten sechs »Ws« des Journalismus; vgl. dazu McCall/Simmons 1966: 17-19 und Carey 1986). Diese Kategorien bewegen sich von der Oberfläche der Sozialstruktur und deren Texten (den Nachrichten) zu den zwischenmenschlichen Beziehungen der kleinen Innenwelten der Erfahrung; von der Oberfläche zum Zentrum, von äußerlichen, glossierenden Formen des Erfahrungsausdrucks zu den inneren Interpretationen mit eigenen Worten des oder der Betroffenen über das, was ihnen gerade geschieht. Es geht um folgende Typen von Geschichten: 1) Geschichten über Personen, Ereignisse und Begebenheiten, wie sie Tageszeitungen und elektronische Nachrichtenmedien bieten; 2) Geschichten über Personen in Nachrichtenmagazinen wie Time, Newsweek oder People Weekly; 3) Erzählungen in Fernsehspielen, Comedy-Sendungen und Talkshows, in Filmen, Romanen und anderen literarischen Texten sowie heilige und mythische Texte der jeweiligen Kultur; 4) Geschichten, die die Leute einander in sozialen Gruppen erzählen; 5) kulturelle Gruppentexte, die Geschichten enthalten, welche die Gruppenmitglieder lernen; 6) von Soziologen und anderen angeblichen Experten geschaffene Texte und Geschichten über die Gesellschaft (zu dieser letzten Kategorie vgl. Becker 1986, Kapitel 7). Diese Typen privilegieren die gelebten Erfahrungen der Subjekte auf differenzierte Weise, je nach Vorlieben und Absichten der Erzähler sowie jener, die darüber zu entscheiden haben, was erzählt werden soll: der

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 25 Redakteure.22 All diese Geschichtentypen sind Glossen, d.h. Interpretationen von und Kommentare über Erfahrungen.23 Weil ich aus Platzgründen hier nicht alle Typen systematisch behandeln kann, konzentriere ich mich auf jene, die in der Populärkultur am weitesten verbreitet sind und darum den direktesten Einfluss auf das Alltagsleben haben (vgl. de Certeau 1984): Mediengeschichten, Magazingeschichten und die persönlichen Erfahrungsberichte und Identitätsgeschichten, die in Selbsthilfegruppen erzählt werden.

Mediengeschichten und Tagespresse Mit Robert E. Park (1937) und James W. Carey (1989: 20f.) meine ich, dass als erste Materialschicht für eine minimalistische interpretative Soziologie des postmodernen Lebens die Tagespresse dienen sollte – einschließlich der Rubriken »Human Interest«, Sport, Wirtschaft, Politik, Mode, Kunst, Unterhaltung und Nachrufe, auf lokaler und regionaler ebenso wie auf nationaler oder internationaler Ebene und in den Printmedien ebenso wie in den elektronischen Medien. Nachrichten sind unmittelbar und lokal, sie berühren und reflektieren das Leben der interagierenden Menschen (vgl. Park 1937/1950: 63). Auf dieser Oberflächenebene schaffen Nachrichten den sozialen Text, in dem wir alle zu Hause sind und in dem wir alle eine oder mehrere Rollen spielen. Zugleich aber sind die Nachrichten dieser soziale Text. Überdies ist dieser Prozess, bei dem die Form den Inhalt determiniert, von einer Bedeutungsimplosion gekennzeichnet (vgl. Baudrillard 1983a und 1988b). Das tatsächliche Leben, über das berichtet wird, tritt gegenüber dem größeren Projekt, stets

22 | Für die Analyse einer Geschichte ist von zentraler Bedeutung, wie der Text das Subjekt und dessen Erfahrungen in der Erzählung verortet und so für diese Erfahrungen eine Bedeutung konstruiert, beschreibt und verleiht. Das kann je nach der Quelle der Worte auf zweierlei Weise geschehen: Das Subjekt kann sich entweder in direkter Rede äußern, wobei die ihm in den Mund gelegten Worte aus seiner Alltagswelt stammen; oder aber der Erzähler rekapituliert und interpretiert die Erfahrungen des Subjekts offen mit einer anderen kulturellen Stimme. In beiden Fällen vermittelt und schafft Sprache das Subjekt mittels Worten, und zwar mit Worten, die das Subjekt in seiner eigenen Sprache oder in der Sprache eines/einer anderen spricht.

23 | Rose (1988: 1) unterscheidet zwischen primären Glossen (jeder Bemerkung, die irgendjemand macht), sekundären Glossen (Reden über diese Rede) und tertiären Glossen (Reden über diese Rede über diese Rede). Zu den tertiären Glossen gehören auch die wissenschaftlichen Kommentare über die Gespräche und Reden anderer.

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26 | Ethnographie, Kino und Interpretation eine erzählbare Geschichte zu haben, in den Hintergrund (vgl. Ericson/ Baranek/Chan 1987: 335). So fragt zum Beispiel die New York Times am 8. Oktober 1988 in der Überschrift eines Berichtes über mehr als zweihundert Selbsthilfegruppen, die sich dem Suchtverhalten widmen, »Wird Amerika süchtig nach Sucht?« (vgl. Hall 1988).24 Die Erwachsenen Kinder von Suchtkranken Eltern (EKS, im Englischen Adult Children of Alcoholics, ACA oder ACoA) seien, heißt es in diesem Bericht, »eine so große Gruppe, dass sie ihre [gegenüber der Mutterorganisation, den Anonymen Alkoholikern, A.d.Ü.] ganz eigene Terminologie verwenden«. Es werden dann aber keine weiteren Informationen über diese Gruppen gegeben, sondern stattdessen zwei Profile geboten: das einer Frau, die sich einer Selbsthilfegruppen für Ehepartner von Sexsüchtigen (S-Anon) angeschlossen hat, und das eines Psychotherapeuten, der eine Selbsthilfegruppe für Einkaufssüchtige (»Shopaholics«) organisiert hat. In den täglichen Nachrichten, die uns die gedruckten und elektronischen Medien bieten, erzählt man uns, wie Frederick Barthelme (1988: 26) sagt, »die größte jemals erzählte Geschichte«. Wir lesen und sehen etwas über das Leben anderer, aber es berührt unser eigenes Leben nicht, und wir erleben es auch nicht (vgl. jedoch Brozan 1989). Wir müssen nämlich tiefer ins eigentlich Soziale eindringen, um das Leben dieser Menschen, seine in die Form von Geschichten gekleidete Darstellungen und seine Bedeutungen zu finden.

Die Magazingeschichte: Wie man aus Geschichten Waren macht Wöchentlich erscheinende Nachrichtenmagazine erwecken den Anschein, als füllten sie die kommentierten Geschichten der täglichen Nachrichten mit Leben (vgl. Ericson/Baranek/Chan: 2)25 – mit Versio24 | Eine gegenkulturelle Behandlung dieses und verwandter Themen findet sich im Utne Reader (1988).

25 | Magazine wie Time, Life, Newsweek, Reader’s Digest und People Weekly haben, historisch gesehen, die Funktion, »bürgerliche Werte in Lebensstile zu verwandeln« (Bell 1976: 77). Die persönlichen Probleme der Mittel- und Unterschicht werden öffentlich thematisiert, wobei die Öffentlichkeit sowohl unterhalten als auch ideologisch erzogen wird. Bei der Auswahl ihrer Subjekte und Gegenstände verlassen sich die Magazine traditionell auf Tageszeitungen, Nachrichtenagenturen, Pressemitteilungen, Radio und Fernsehen (vgl. Ericson/Baranek/ Chan 1987: 182f.). Der 1989 erfolgte Zusammenschluss von Time Inc. (Eigentümerin von Time, Life, Fortune, Money, Sports Illustrated, People Weekly und Home Box Office) und Warner Communications (fünftgrößter Kabelfernsehbetreiber der USA) wird mit Sicherheit dafür sorgen, dass der Kommodifizierungsprozess,

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 27 nen, die diese Menschen mit anderen Menschen verbinden. Oft geht es in diesen Geschichten um Menschen, und sie entwickeln sich entweder zu (auto-)biographischen Texten oder sind selbst kondensierte Formen solcher Texte. Derartige Magazindarstellungen bringen wertbesetzte Formen der Subjektivität zum Ausdruck. Sie werden in der und durch die politische Ökonomie sowie im kollektiven Bewusstsein des Lese- und Zuschauerpublikums als Waren verbreitet. Auf diese Weise wird das Selbst zur Ware mit einem Tauschwert (vgl. Elbaz 1987: 152f.) und zu einem neuen kulturellen Subjekt. Diese Subjekte dienen anderen Mitgliedern der Kultur als positive wie negative Selbstvorbilder. Diesen Prozess werde ich im Folgenden untersuchen.

Geschichten, die neues Leben schaffen: Adult Children of Alcoholics People Weekly brachte in Heft 15/1988 eine Reihe von Geschichten über erwachsene Kinder von Alkoholikern (ACoA) (vgl. Chu/Johnson/Armstrong/Ash/Gold/Nelson 1988). Ich wähle daraus zwei Personen aus, die Schauspieler Suzanne Somers und Chuck Norris,26 die beide von People Weekly in der Ausgabe vom 18. April 1988 porträtiert wurden.27 Auf dem Titelblatt findet sich ein halbseitiges Foto von Suzanne Somers, neben ihrem Kopf steht in Großbuchstaben »KINDER VON ALKOHOLIKERN«.28 Als Aufmacher zeigt ein ganzseitiges Foto Somers bei einem Strandspaziergang, wobei ein Vater/Tochter-Foto eingefügt ist. Die Bilddurch den aus Geschichten Waren werden (siehe unten), noch weiter voranschreitet (vgl. Norris 1989).

26 | Die Schauspielerin Suzanne Somers spielte einige Jahre in der Erfolgsserie des Fernsehsenders ABC, der Sitcom »Three’s Company« (dt. »Herzbube mit zwei Damen«) eine der Hauptrollen; 1987 war sie Star der Sitcom-Serie »She’s the Sheriff«. Ihre Autobiographie Keeping Secrets (1988) war ein Bestseller. Chuck Norris ist der Action-Star vieler Hollywoodfilme, darunter Braddock: Missing in Action III (1988, dt. Missing in Action 3: Braddock), und Autor der Autobiographie The Secret of Inner Strength: My Story (1987).

27 | Auf diesen Text hat mich David Maines hingewiesen. Auf dem Titelblatt findet sich ein halbseitiges Foto von Suzanne Somers, darin eingefügt Fotos der Stars Louie Anderson, Susan Sullivan und Chuck Norris. Man beachte, wie der Text sorgfältig auf geschlechtliche Ausgewogenheit der Adult Children achtet: zwei Männer und zwei Frauen (vgl. de Lauretis 1987).

28 | Im Inhaltsverzeichnis des Heftes ist über das Titelbild zu lesen: »Als Kinder hatten sie nicht die Macht, dem Trinken ihrer Eltern Einhalt zu gebieten. Als Erwachsene haben Suzanne Somers, Chuck Norris, Susan Sullivan und Louie Anderson wie viele andere Kinder von Alkoholikern noch immer mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen.«

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28 | Ethnographie, Kino und Interpretation unterschrift lautet: »Am Strand in der Nähe ihres Hauses sagt Suzanne Somers über ihren Vater (oben im Jahre 1978) und sein Trinken: ›Jetzt, nachdem ich mich damit auseinandergesetzt habe, verzeihe ich ihm.‹« Die Überschrift des Artikels, »DEN SCHWEIGECODE BRECHEN«,29 wird in der Unterzeile wie folgt erläutert: »Kinder von Alkoholikern, die schon früh mit Angst, Scham und Misstrauen leben mussten, lernen jetzt, in Frieden mit sich selbst zu leben, indem sie Frieden mit ihrer Vergangenheit schließen« (S. 100). Der Leser erfährt, dass schätzungsweise 28 Millionen erwachsene Kinder von Alkoholikern das Erbe von viel zu vielen Elternhäusern in den USA sind, in denen, wie bei Suzanne Somers, »die Düsternis im Innern von dem Schatten herrührt, den der Alkoholismus ihres Vaters warf, der beinahe das Leben ihrer Familie und ihr eigenes zerstört hätte«. Diese Erwachsenen Kinder erfuhren in ihrer Kindheit zu wenig Liebe; sie mussten früh Teile der Erwachsenenrolle übernehmen, die der betreffende Elternteil nicht ausfüllen konnte; sie wuchsen mit einem geringen Selbstwertgefühl und dem immerwährenden Bedürfnis nach Bestätigung auf. Sie neigen zu unglücklichen Partnerschaftsbeziehungen. Ihr Gespür für normales Verhalten ist stark verzerrt. Ihr Risiko, selbst zum Alkoholiker/zur Alkoholikerin zu werden, ist dreieinhalb Mal höher als bei Menschen, die nicht aus Alkoholikerfamilien stammen. »Die Aussichten sind allerdings nicht ganz so düster«, fährt der Text fort: Nahezu 4000 Selbsthilfegruppen unterstützen Alkoholikerfamilien, darunter die Children of Alcoholics Foundation, die National Association for the Children of Alcoholics, Al-Anon und Alateen. Nachdem die »Erwachsenen Kinder« nun als Thema eingeführt sind, stellt der Text fest, dass die Opfer des Alkoholismus Hilfestellung benötigen, um ihre Probleme zu identifizieren. Dazu gehören auch unbewältigte Schamgefühle, die sie zum Teil noch mit sich herumtragen. Diese Menschen müssen die Tür zu ihrer Kindheit noch einmal öffnen. Allerdings wird dieser Befreiungsprozess nicht ohne Schmerzen und Kämpfe abgehen, hat er doch mit Erinnerungen zu tun, die »nicht von fröhlichen Mahlzeiten mit liebevollen Eltern handeln, sondern von erzwungenen Kneipenbesuchen; davon, wie ein liebevoller Vater oder eine liebevolle Mutter sich in ein emotionales Monster verwandelt, das schrecklichen Druck ausübt; von Kämpfen, die nicht selten in offene Gewalt ausarten; und von der ständi29 | So lautet auch der Titel eines Chuck-Norris-Films aus dem Jahre 1985 (Code of Silence; dt. Cusack – Der Schweigsame). Auf diese spielerische, aber zweifellos ernst gemeinte Weise werden Somers und Norris intertextuell miteinander in Verbindung gebracht. Überdies wird so auch die Schlachtfeld-Metaphorik des Artikels unterstrichen (die Alkoholikerfamilie als Schlachtfeld für gewalttätige Kämpfe – wie in einem Chuck-Norris-Film).

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 29 gen Angst davor, die Familie könnte eines Tages endgültig auseinander fallen.«

Der Text als ideologische Erzählung Was sollen wir nun von dieser komplizierten Erzählung halten, die spezielle Bedeutungen verhüllt und verbirgt, während sie andererseits in alltäglicher, verständlicher, faktischer Sprache eine Geschichte erzählt?30 Die Berühmtheiten werden hier zu Waren, zu Vehikeln für das Erzählen einer Geschichte über die Erwachsenen Kinder von Alkoholikern und zu Vehikeln für den Verkauf dieser Nummer von People Weekly.31 Der Text zapft eine bislang unerkannte Schicht des Alltagslebens an, die Welt der Erwachsenen Kinder von Alkoholikern. Er zerstreut das mit dem Alkoholismus verbundene soziale Stigma und macht aus Personen, die sich gegen den Alkoholismus ihrer Eltern wehren, geschätzte kulturelle Subjekte. Er vergegenständlicht bürgerliche Werte bezüglich der Familie und des Familienlebens, indem er auf die Probleme in den Familien von Alkoholikern hinweist. Die Fotos von Somers und ihrem Vater personalisieren die beiden in einer beliebten kulturellen Dyade: Vater und Tochter, Schulter an Schulter, beide lächelnd und einander in Liebe zugetan. Indes, der Text benötigt noch eine weitere Version des Alkoholikers: den alkoholkranken Vater als Elternteil, als schurkischen Zerstörer bürgerlicher Familienträume – diese Rolle übernimmt Suzanne Somers’ Vater. Ohne ihn und seinesgleichen gäbe es keine Erwachsenen Kinder von Alkoholikern; mit ihm kommt die Zerstörung der »normalen« Vater/Mutter-Kind-Beziehung. Er bringt sie hervor; sie vergibt ihm. Dem in einer Alkoholikerfamilie gefangenen Leser wird eine Befreiung in drei Schritten versprochen. Zunächst schafft der Text eine Reihe imaginärer erinnerter Beziehungen (düsteres Familienleben versus Familien mit fröhlichen Tischrunden), welche die Eltern-Kind-Beziehung in amerikanischen Kernfamilien bestimmen; er vermittelt die Hoffnung, dass die idealisierte positive Version des Familienlebens weiterhin anzutreffen ist. Ideologisch definiert und konstituiert dieser Text konkrete Individuen (vgl. dazu Althusser 1971: 171) als Subjekte, die unter der Familienkrankheit Alkoholismus gelitten haben. Der zweite Befreiungs30 | Nach Roland Barthes (1972: 11, 109f.) handelt es sich um einen Mythos, einen Text, der bestimmte Leser voraussetzt – in diesem Fall Leser, die sich mit Somers oder Norris identifizieren können oder selbst Erwachsene Kinder von Alkoholikern sind.

31 | Der Text macht auch die Erwachsenen Kinder von Alkoholikern zu Waren. Der Kauf verspricht den ACoA-Lesern eine größere Selbsterkenntnis. Er schafft – möglicherweise unerkannte – Probleme für die betreffende Person und setzte sie der Öffentlichkeit aus.

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30 | Ethnographie, Kino und Interpretation schritt ist eine »Rede- und Geschichtenerzählkur«, bei der das Subjekt als Geschichtenerzähler(in) seiner/ihrer vom Alkoholismus geprägten Kindheit auftritt.32 Drittens schließlich müssen die Leser ihre eigenen Geschichten (mit)teilen. Sie müssen eine Selbsthilfegruppe der EKS/ ACoA finden. Damit dies geschehen kann, muss der Leser als Erstes das vom Text geschaffene neue kulturelle Subjekt akzeptieren – dieses Subjekt, das gleichzeitig ein (berühmter) Erwachsener und ein Kind ist. Zweitens muss der Leser/die Leserin glauben, dass Erwachsene das sind, was sie als Kinder waren. Drittens, dass Kinder mit Alkoholiker-Eltern in Angst, Scham und Misstrauen aufwachsen, dass sie ein geringes Selbstwertgefühl haben, ständig Bestätigung brauchen und kein Gespür dafür haben, was »normal« ist. Der »Schweigecode«, der eine solche Kindheit umgibt, muss gebrochen werden, damit die Betroffenen über diese Erlebnisse letztlich doch noch triumphieren können. Nachdem der Boden so bereitet ist, schildern vier Geschichten, die auf dem Modell von Krieg und Kampf basieren, die Siege von vier Berühmtheiten und vier (erwachsenen) Kindern. Der Text macht die anscheinend widersprüchliche Doppelnatur Erwachsener/Kind und die dazugehörige Identität dadurch unproblematisch, dass er in jedem Individuum zwei Erwachsenen- und zwei Kindrollen kombiniert: den Erwachsenen, der man jetzt ist, den erwachsenen alkoholkranken Elternteil, den man hatte, das in Scham und Angst aufgewachsene Kind und das Kind, das etwas Anderes und mehr wollte. Diese beiden Kinder müssen erst befreit werden, bevor der wahre Erwachsene in einer jeden derartigen Person zum Zuge kommen kann. Das bedeutet und läuft darauf hinaus, dass die Betroffenen sich mit dem alkoholkranken Erwachsenen auseinandersetzen und ihm/ihr vergeben müssen. Während der Text sich einerseits Somers’ Status als Berühmtheit zunutze macht, stellt er sie zugleich als jemanden hin, der wie alle anderen Erwachsenen Kinder von Alkoholikern ist, und bietet sie dem Leser so als bewundernswertes Vorbild an. Trotz ihrer Erfahrung als Tochter eines Alkoholikers wurde sie zum Star. Mit diesem Schachzug knüpft die Erzählung an eine Version des uramerikanischen Mythos vom Individuum an, das auf dem Weg zum Erfolg alle Hindernisse mit Erfolg überwindet. Wie haben Suzanne Somers und Chuck Norris erreicht, was sie geschafft haben? 32 | Dabei wird die Geschichte zur »Ware«, indem sie das Selbst zu einer Reihe kulturell beschriebener Erfahrungen vergegenständlicht. Dadurch entfernt sich die Geschichte jedoch vom Subjekt und es entsteht ein Vakuum, das nur durch die Geschichten, welche die anderen Gruppenmitglieder beitragen, gefüllt werden kann.

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Jetzt kommen die Geschichten Nachdem der Weg zur Heilung auf diese Weise skizziert wurde, bleibt den Autoren von People Weekly nur noch, die Geschichten der vier Stars anzufügen. Auf Seite 102 der betreffenden Nummer beginnt eine neue Geschichte: »Suzanne Somers: Kindheit und Jugend waren ein emotionales Schlachtfeld«. Nach dem obligatorischen Abriss der Alkoholikerkarriere ihres Vaters folgt eine Geschichte über jenen Vorfall, als der Vater eines Abends betrunken in ihr Zimmer kam und einige ihrer schönen Kleider zerriss. Anschließend wird erzählt, wie Suzanne, als sie noch zur High School ging, heiraten musste, wie sie für Nacktfotos posierte, um die Arztrechnungen für ihren kleinen Sohn bezahlen zu können, und schließlich, wie sie und ihre ganze Familie, am Tiefpunkt angekommen, begannen, Treffen der Anonymen Alkoholiker und von Al-Anon [für coabhängige Familienmitglieder, A.d.Ü.] zu besuchen. Die Geschichte endet mit folgendem Passus: »Es fällt mir nicht leicht, all das zu erzählen, aber ich weiß, dass es da draußen kleine Mädchen gibt, die sich im Kleiderschrank verstecken, und erwachsene Kinder von Alkoholikern, die nicht wissen, was normal ist. Ich hoffe, dass dieses Buch [Somers’ Autobiographie] ihnen dabei behilflich sein kann.«33 Die Botschaft ist einfach: Erzähl deine Geschichte, und wenn du sie gut erzählst, wirst du selbst genesen und zugleich anderen helfen, wie Suzanne Somers.

Chuck Norris Betrachten wir nun die Geschichte von Chuck Norris. Sie wird mit folgender Überschrift eingeleitet: »Chuck Norris: Es kam die Zeit, da er sich der Auseinandersetzung mit seinem Vater stellen musste«. Weiter heißt es: »Chuck Norris hat in seiner Rolle als harter Bursche Karriere gemacht. […] Trotz seines Images sagt Norris in seiner vor kurzem erschienen Autobiographie The Secret of My Inner Strength: My Story, seine Kindheit und Jugend mit einem alkoholkranken Vater habe ihn alles andere als stark und selbstbewusst gemacht. […] Er verkroch sich so sehr, dass seine Schüchternheit zum starken Handicap geriet. Körperliche wie seelische Unsicherheiten machten ihm bis ins Erwachsenenalter schwer zu schaffen.« Auf dieses interpretierende Lebensresümee folgen dann Norris’ Geschichten. Norris berichtet dem Leser: »Das Schreiben meines Buches war wie eine Therapie. Es hat meine Ressentiments gegen mei33 | David Maines erzählt die Geschichte einer Diabetikerin, die ihren Lebensstil und ihr Äußeres mit denen von Mary Tyler Moore, einer der berühmteren Diabetikerinnen aus unserer Kultur, verglich und dabei ungünstig abschnitt. Ich warte noch immer darauf, einem ACoA zu begegnen, der/die sein oder ihr Leben als erwachsenes Kind aus einer Alkoholikerfamilie mit dem von Suzanne Somers oder Chuck Norris vergleicht.

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32 | Ethnographie, Kino und Interpretation nen Vater verringert. […] Ich habe mir gedacht, wenn ich meine Probleme erklären könnte, dann würden Menschen in ähnlicher Situation daraus Ermutigung ziehen, um sich über ihre eigenen Tragödien zu erheben. Wenn ich das kann, kann es jeder.« (In seinem Buch geht es um die Entwicklung eines individuellen Systems der Selbstverbesserung.) In seiner Erzählung finden sich Geschichten über den Alkoholmissbrauch seines Vaters, über die vielen entwürdigenden Jobs seiner Mutter, über den Vorfall, als er nach Hause kam und sich mit seinem Vater fast eine Schlägerei lieferte, über eine Trunkenheitsautofahrt quer durch die Wüste mit seinem Vater und der ganzen Familie, und über seine Wendeerlebnisse bei der Air Force im Koreakrieg, wo er den Kampfsport erlernte. Somers’ wie Norris’ Geschichte weisen auf die mit dem Erzählen einer Geschichte verbundene Erleichterung hin. Wenn Menschen so zu den von ihnen erzählten Geschichten werden, muss kritisch untersucht werden, wie es dazu kommen kann.34 Darum wenden wir uns zunächst noch einmal Suzanne und Chuck zu.

Auf der Suche nach den realen Menschen Somers und Norris Begegnen wir in diesen Texten den biographisch realen Personen Suzanne Somers und Chuck Norris? Nein. Wir treffen nur auf Darstellungen von ihnen, die dem bereits skizzierten ACoA-Konzept des Textes in People Weekly entsprechen. Und dieser Text kreiert lediglich eine Somers und einen Norris, die zehn Seiten der Titelgeschichte in der Ausgabe vom 18. April 1988 füllen. Die tatsächlichen Geschichten, wie sie in den Autobiographien der beiden berichtet werden, sind nur insoweit relevant, wie sie den Zwecken von People Weekly dienen: nämlich den Leser einzuladen, sich einer sozialen Gruppe anzuschließen, in der man sich offenbar Geschichten wie jene erzählt, die auf diesen Magazinseiten ausgebreitet (und verkauft) werden. Vielleicht finden wir dieses ACoA-Subjekt ja in den Geschichten, die in den Selbsthilfegruppen erzählt werden. Dort wird nämlich aus einer weiteren Schicht des normalen postmodernen Erfahrungsschatzes eine andere biographische Version des ACoA-Subjekts kreiert. In diesen Gruppen treffen wir auf persönliche Nöte und schlagartige Erkenntnisse, die dem Leben einen Sinn geben, die ihm Substanz und Gestalt verlei34 | Signifikanterweise hatte Chuck Norris anscheinend keine negativen Sexualerfahrungen, die mit seinem Dasein als Sohn eines Alkoholikers zusammenhängen. Anders war es bei Suzanne Somers, wie die Nacktfotos belegen. So versucht der Text zwar, erwachsenen Kindern von Alkoholikern eine Geschlechtsidentität zu verleihen, doch werden letztlich nur Geschlechtsrollenstereotype reproduziert.

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 33 hen. In diesen Gruppen treffen wir auf die gelebte Geschichte, die Mills gesucht, aber niemals gefunden hat.

Die Geschichten, die man sich in Selbsthilfegruppen erzählt Die Geschichte eines ACoA-Gruppenmitglieds Was halten Sie von folgendem Satz, den ein Mann namens Allen auf seinem ersten AcoA-Gruppentreffen sagte? »Was macht ihr Leutchen denn so? Ich bin Alkoholiker. Meine Mutter ist Alkoholikerin. Heißt das, dass ich einer von euch bin? Was heißt das überhaupt, Erwachsenes Kind?« Zwei Tage später berichtete derselbe Allen über seine Erfahrungen bei seinem ersten AcoA-Gruppentreffen wie folgt: Sie hassen Alkoholiker. Ich bin Alkoholiker. Wie kommen sie dazu, mich zu hassen? Sie hassen ihre Eltern. Ich hasse meine Eltern nicht. Ihre Gruppentreffen laufen nicht so ab wie bei uns [bei den Anonymen Alkoholiker (AA) oder bei Al-Anon]. Entweder reden alle durcheinander oder sie reden über das, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Sie haben keine richtigen Themen. Und dann hat dieser Fuzzy da beschlossen, er wäre jetzt der Gruppenleiter. Er übernahm das Kommando und führte die Gruppe wie eine psychotherapeutische Gruppe. Ich meine, er übernahm die Kontrolle. Ich kann in dieser Truppe keinen Platz für mich finden. Scheiße, ich finde einfach keinen persönlichen Draht zu ihrer Sicht von ACoA-Themen. Was immer das heißen soll. Verdammt nochmal, bei AlAnon kauen sie dasselbe Zeug durch. Sie wissen, wie man vergibt. Sie haben die Zwölf Schritte, genauso wie wir. Diese Scheißer haben einfach kein Programm.

Offenbar musste diese spezielle ACoA-Selbsthilfegruppe noch Suzannes Lektionen zur Vergebungsbereitschaft lernen, hatte dagegen jene Schlachtfeldmentalität gegenüber alkoholkranken Eltern verinnerlicht, die auch die Struktur des Artikels in People Weekly bildet. Darum kann dieser Mann bei ACoA nicht jene Form der Subjektivität verwirklichen, die mit seinem Selbstbild als in der Genesungsphase befindlicher Alkoholiker und als Mitglied von AA und Al-Anon kompatibel ist. Allen findet in der ACoA-Gruppe nicht den Kontext für das Geschichtenerzählen, den er zuvor in den anderen Selbsthilfegruppen erlebt hatte. Doch dieses Thema wird im People Weekly-Artikel ausgespart.

Die Geschichte eines Alkoholikers Vergleichen Sie Allens Erfahrung mit der, die George bei seinem ersten Gruppentreffen der Anonymen Alkoholiker gemacht hat: Ich konnte diesen Treffpunkt einfach nicht finden. Ich bin viermal dran vorbei gerannt, bevor ich das AA-Zeichen auf der Tür entdeckt habe. Hatte Schiss, reinzu-

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34 | Ethnographie, Kino und Interpretation gehen. Ich denke mal, darum bin ich ja hier … denke doch, dass ich Alkoholiker bin. Kann allein einfach nicht mehr aufhören … Rede nicht gern … bin Einzelgänger. Darum gehe ich ja auch in Kneipen. Suche Gesellschaft … Einfach trinken und anderen zuhören (Denzin 1987a: 172).

Zwei Jahre später – George hat gerade die AA-Medaille für zwei Jahre durchgehaltene Abstinenz erhalten – sagt er: Hätte nie gedacht, dass ich das schaffe. Erinnere mich noch, wie ich zum ersten Mal hier ankam. Konnte einfach nicht reden. Zu Tode erschrocken. Allein. Heute ganz anders. Ich kann reden. Ich habe die Zwölf Schritte. Ich habe das Programm. Ich habe meine Gruppentreffen, zu denen ich gehen kann. Ich habe mein Big Book [AA-Handbuch, A.d.Ü.]. Habe meine Geschichte darin gefunden. Rede jetzt mit meiner Mutter. Hab meinen alten Job wieder. Ihr Leute habt mir das Leben zurückgegeben. Danke (Denzin 1987b: 145).

AA und die kulturellen Texte dieser Organisation gehören inzwischen zum festen inneren Erfahrungsschatz dieses Mannes. In seinen Geschichten wimmelt es nun von Begriffen wie Big Book, Programm, Gruppentreffen und Zwölf Schritte. All diese Worte kannte er bei seinem ersten Gruppentreffen noch nicht. Er hat jetzt gelernt, Geschichten über sich selbst zu erzählen, die nach den Normen der AA strukturiert sind. Anders als Allen bei den ACoA hat George bei den AA jene Subjektivität gefunden, nach der er jahrelang gesucht hatte.

Selbst zur Geschichte werden Wenn man zum Selbst der Geschichten werden will, die man erzählt, muss man lernen, ein Geschichtenerzähler zu werden. Das heißt, man muss sich an einen impliziten Kanon halten, der für Selbst-Texte gilt. Dieser Kanon schwankt von Gruppe zu Gruppe. In Biographien, Autobiographien und Magazinartikeln gilt laut Kanon, dass die Identität geschlechtsspezifisch und durch Familien hervorgebracht werden soll, dass sie in Klassenerfahrungen gründen und durch Wendepunkte geformt sein soll, die sich objektiv dokumentieren lassen (vgl. Denzin 1989b, Kapitel 1). Darüber hinaus gilt, wie beispielsweise im People Weekly-Text deutlich zu erkennen ist, dass die Betreffenden als die besten Beobachter ihres eigenen Selbst gelten und Geschichten erzählen können, die ihr Leben akkurat widerspiegeln (vgl. ebd., Kapitel 1 und 2). Es herrscht eine Art kulturelles Einvernehmen, dass Leser von Biographien und Autobiographien diese Ingredienzien erwarten können. Sie sind aber auch die erzähltechnischen Mittel, derer sich Journalisten und

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 35 Redakteure von Nachrichtenmagazinen bedienen, um Geschichten wie die von Suzanne und Chuck zusammenzustellen. Kulturelle Gruppen wie ACoA und AA müssen sich nicht unbedingt an diesen Kanon halten, sie können ihn auch für ihre speziellen Bedürfnisse abwandeln. ACoA benötigt anscheinend, anders als AA, eine familienbezogene Theorie des Selbst, zu der unbedingt ein alkoholabhängiger Elternteil mit seinem/ihrem negativen Einfluss auf das Leben des Gruppenmitglieds gehört. Daraus ergibt sich, dass diese beiden Gruppen sich unterschiedliche Versionen desselben Individuums erschaffen.

Wie das Subjekt eines kulturellen Textes zu lesen ist Das Subjekt wird aus den erzählten Geschichten aufgebaut – Geschichten, die ihrerseits nach einem bestimmten kulturellen Verständnis konstruiert sind. Subjekte sind narrative Konstruktionen. Diese Konstruktionen können auf ihre Darstellungen in den Medien und in der Populärkultur rekurrieren und sie können, müssen aber nicht unbedingt tatsächliche Erfahrungen der Subjekte reflektieren. Wenn Letzteres der Fall ist, wird die Kluft zwischen dem realen und seinen Darstellungen existenziell problematisch. In solchen Augenblicken dringt Ideologie repressiv in die Welten der gelebten Erfahrung ein. Kulturelle Texte wie die Geschichten in People Weekly über die Erwachsenen Kinder von Alkoholikern sind konservative Produktionen.35 Sie eignen sich die Funktionsweisen der soziologischen Alltagsimagination an, umgehen diese oder schüchtern sie ein.36 Sie nutzen die Le35 | Dies widerspricht dem Vorwurf von US-Präsident Reagan, der in seiner Abschiedsrede vom Januar 1989 sagte (vgl. New York Times vom 12. Januar 1989, S. 8), die Schöpfer der Populärkultur hätten es nicht geschafft, durch ihr Wirken den Patriotismus zu fördern; »wohlbegründeter Patriotismus« sei nicht mehr »in Mode«. Der Text in People Weekly macht allerdings aus einem »Kriegshelden« wie Chuck Norris eine neue kulturelle Figur. Indem zwei kulturelle Berühmtheiten in ACoAs verwandelt werden, wird der Leser dazu angeregt, deren frühere Karrieren aus dem Blickwinkel ihrer zuvor unterdrückten ACoA-Erfahrungen neu zu lesen.

36 | Diese Geschichten klingen in der Tat ein wenig nach moralischen Erbauungsgeschichten, die mit Bekehrung und Errettung zu tun haben. Sie schildern Krankheiten, die durch Bekenntnisse zu kurieren sind und die mit einem optimistischen Ausblick enden. »Was indes fehlt, […] ist, was am Morgen nach der Entlassung [aus der Behandlung], im Monat nach der Titelgeschichte, im Jahr nach der Kur geschieht« (Goodman 1989: A-4). Vgl. Goodman 1989 zur Geschichte von Kitty Dukakis, die immer noch weitergeht. Auf diesen Fall machte mich Katherine Ryan-Denzin aufmerksam. [Es handelt sich um die Ehefrau des demokratischen Präsidentschaftskandidaten von 1988, Michael Dukakis, gegen

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36 | Ethnographie, Kino und Interpretation bensgeschichten von Prominenten, die ACoAs sind, als eine Gelegenheit, den Wert von Familienformen, die es vielleicht gar nicht mehr überall gibt, zu propagieren. Sie perpetuieren Werte und Bedeutungen, die für die tatsächlich gelebten Situationen von interagierenden Individuen vielleicht gar nicht mehr angemessen sind (vgl. Krug 1989, Sartre 1976). Sie ändern und rearrangieren die soziologische Alltagsimagination, welche die interpretierenden Theorien enthält, die die gelebten Erfahrungen ganz normaler Individuen strukturieren. Natürlich gibt es keine realen biographischen Subjekte unabhängig von den Geschichten, die über sie erzählt werden, und selbst diese Texte drängen im Erzählvorgang den Erzähler in den Hintergrund. Anders als Mills argumentiert, können wir niemals zum Rohmaterial biographischer Erfahrung zurückkehren. So nahe, wie es überhaupt nur geht, kommen wir ihr, wenn sich ein Subjekt in Augenblicken schlagartiger Erkenntnis von einer sozialen Welt in eine andere bewegt. In diesen Fällen steht das Subjekt zwischen interpretierenden Bezugssystemen. Wenn dies geschieht, wird Erfahrung mit Worten beschrieben, die noch nicht vom kulturellen Verständnis einer neuen Gruppe kontaminiert sind. Darum fehlten beispielsweise George bei seinem ersten Gruppentreffen die Worte, um sich selbst zu beschreiben. Zwei Jahre später sprach AA aus ihm und für ihn.

Jetzt schliesst sich der Kreis Nunmehr ist es möglich, zum Anfang des Beitrags zurückzukehren und die soziologische Imagination klarer zu hinterfragen. Mills richtete sich an eine ältere Generation. Sein Text beeinflusste das Leben von Soziologen und setzte Versionen der soziologischen Imagination in Gang, die jetzt auf ihn zurückfallen. Ein Zeichen für die gute Qualität einer soziologischen Erzählung ist es, wenn diese in der Lage ist, Fragen aufzuwerfen und Herausforderungen zu schaffen. Das hat Mills getan, aber heute müssen wir über ihn hinausgehen. Seine Phantasie stand im Zeichen eines »umgekehrten Orientalismus« (vgl. Said 1978): Er sah normale Menschen als Exoten, als Andersartige an, deren Leben er objektiv beschreiben und mit den Mitteln der klassischen Theoretiker erklären könne. Seine Imagination diente dazu, eine Version institutionalisierter soziologischer Praxis zu legitimieren, mit der sich interpretative Soziolodie wie gegen ihren Mann, den Kandidaten, im Wahlkampf eine Schlammschlacht inszeniert wurde. Einer der Punkte in dieser Kampagne war der (begründete) Alkoholismus-Vorwurf gegen »Kitty« Dukakis, den diese später in ihrer Autobiographie Now You Know (1991) auch detailliert zugab. A.d.Ü.]

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 37 gen heutzutage schwer tun. Diese Version sah in der amerikanischen Gesellschaft ein riesiges Theater, in dem die Aufführungen normaler Menschen aus der privilegierten Perspektive einer bürgerlichen soziologischen Ästhetik zu lesen waren (doch vgl. Peter Hall 1987). Dieses Erbe legitimiert die Theorie und feiert die virtuosen Lesarten des sozialen Textes, die von diesem oder jenem Theoretiker geboten werden. Doch im spätkapitalistischen postmodernen Zeitalter funktioniert dieses Erbe nicht mehr (vgl. Jameson 1983 und 1984, Bell 1976, Stuart Hall 1986). Die großen Metaerzählungen der klassischen Theorie – Vernunft, Rationalität, Logik und Ordnung – sind tot; an ihre Stelle ist ein »Pastiche« neoklassischer Theorien getreten, überwiegend aus europäischen Theoretikern der Zeit von dem Zweiten Weltkrieg abgeleitet.37 Diese Sehnsucht nach der Vergangenheit, eine charakteristisch postmoderne Einstellung, widerspricht manifest der Tatsache, dass sich unsere sozialen Texte heute, wenn sie es überhaupt je taten, nicht mehr auf eine feste Realität beziehen. Unsere theoretischen Zeichen (Signifikanten) haben den festen Bezug zum Bezeichneten verloren. Sie beziehen sich jetzt auf andere Texte, die sich ihrerseits auf wieder andere Texte beziehen (vgl. Jameson 1983, Rabinow 1986: 250). Es gibt keine Außenwelt mehr, die sich durch eine bestimmte Theorie oder Methode objektiv vermessen und verorten ließe. Wir befinden uns in einer Ära, in der nichts mehr verborgen bleibt (vgl. Baudrillard 1988b: 22). Die Trennungslinie zwischen öffentlichen und privaten Leben hat sich verflüchtigt (vgl. Heidegger, Sein und Zeit). Die persönlichen Nöte eines/einer jeden können heute die Titelseiten der Gazetten zieren – im Gewande einer moralischen Geschichte mit gutem Ausgang. Auch darin äußert sich das Erbe der klassischen Theoretiker und das Erbe von Mills, denn diese Gelehrten sahen die Auflösung dieser Trennlinie voraus. Im Zeichen dieser Auflösung treten nun Gruppen wie ACoA (dt. EKS), AA (dt. AA), NA (Narcotics Anonymous, dt. NA [Selbsthilfegruppe für Drogenabhängige]), Adult Children of Sex Addicts (dt. EKS) und Survivors of Incest Anonymous (SIA, dt. SIA) auf und nehmen ihren Platz im brüchig gewordenen Gewebe der amerikanischen Sozialstruktur ein. In diesen Gruppen versuchen die Mitglieder, ihr eigenes Leben zurückzugewinnen und den Erfahrungen, die sie machten, als sie in ihrer speziellen Familienversion des Amerikanischen Traums aufwuchsen, einen Sinn abzugewinnen.38 Sie machten, wenn 37 | Diese Texte waren allerdings oft von einer kolonialen, rassistischen oder sexistischen Tagesordnung bestimmt und entsprechend organisiert (vgl. Clifford 1986: 10).

38 | The Utne Reader (1988) bietet eine ebenso kritische wie einfühlsame Betrachtung all dieser Gruppen. Im Telefonbuch einer jeden durchschnittlichen

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38 | Ethnographie, Kino und Interpretation auch eingeschränkt, ebenjene Geheimnisse öffentlich, die die öffentliche Ordnung ihnen ihrer Meinung nach vorgeworfen hatte. Doch dass dieses Aussprechen die Erzählenden von einer bedrückenden Moral befreit, von der sie zuvor in einer privaten Hölle gefangen gehalten wurden, ist nur die eine Seite. Zugleich werden ihre Geschichten im Akt des Erzählens zur Ware, die auf dem öffentlichen Markt verkauft werden kann. Ende des 20. Jahrhunderts produziert Amerika ganze Kohorten von Gruppenmitgliedern, die nicht länger bereit sind, die Dinge hinzunehmen, wie sie waren. Doch diese Personen riskieren, an einem Ort in eine Falle zu geraten, an dem nichts mehr privat oder heilig ist. Ihre neu gewonnene Freiheit liegt in einer Grauzone, in der die alten Moralvorstellungen nicht mehr gelten und die Zentren persönlicher Existenz, inzwischen dezentriert, nicht mehr standhalten. Es gibt keinen Nullpunkt persönlicher Bedeutung, der sich ohne weiteres in den Bereich der Öffentlichkeit übertragen ließe, und auch im öffentlichen Bereich gibt es keinen Punkt Null. Neben diesen subversiven sozialen Gruppen hält sich hartnäckig eine Gegenbewegung – eine Logik, die Nostalgie, Pastiche und den romantischen Glauben an Patriotismus und den wahren Charakter ebenso kanonisiert wie Oberflächenbilder, Imitationen, Simulationen, Sofortinformationen, Betrug und Repliken (vgl. Baudrillard 1988b: 101). Die »Realität«, wie wir sie einst kannten, »wurde in eine Welt der Hyperkommunikation gestürzt. Geschichte ist jetzt ein Sofortgedächtnis der Medien ohne Vergangenheitsdimension« (ebd.: 22). In diesem Amerika, von dem Mills noch kaum eine Ahnung haben konnte, muss etwas nur glaubwürdig erscheinen, um glaubwürdig zu sein. Das gilt auch für die Soziologie. Eigentlich hätte sie schon lange ihre Glaubwürdigkeit verlieren müssen, aber sie tat es nicht, weil die neuen Herren des soziologischen Denkens gelernt haben, sich in der hyperrealen Welt soziologischer Texte selbst zu reproduzieren – in einer Welt, in der das Reale nur noch in den Worten existiert, die sie darüber schreiben.

Wohin soll der methodische Weg führen? Mills war also im Unrecht. Das »soziologische Denkvermögen« kann niemals »Geschichte und persönlichen Lebenslauf und ihre Verbindungen in der Gesellschaft erfassen« (Mills 1959: 6; dt. 1973: 38). Genau das gelingt jedoch der soziologischen Alltagsimagination mit ihrem minimaltheoretischen Vorverständnis, denn diese Denk- und Vorstellungsweise ist nicht schon im Voraus mit der Obsession belastet, allem einen amerikanischen Großstadt finden sich bis zu zwanzig Einträge von entsprechenden Selbsthilfegruppen.

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 39 größeren, übergreifenden Sinn geben zu müssen. Nein, sie beschränkt sich auf das Leben oder auf das konkrete Problem, um das es gerade geht. Soziologen können niemals so wie ganz alltägliche Menschen auf Biographie, Geschichte oder Gesellschaft zurückgreifen. Denn sobald wir Soziologen diese Begriffe konzeptualisieren, sind sie bereits in unseren Texten gelandet und nicht mehr da draußen, wo man sie erfassen und zusammenfügen könnte. Sind sie indes erst einmal in unseren Texten, so werden sie zu unseren Versionen dessen, was sie sind. Wir können sie nicht, wie es Mills versucht hat, imaginativ in die soziale Welt projizieren. Damit lösen sich unsere soziologischen Methoden in dünne Luft auf (vgl. Garfinkel 1967), weil sie auf dem lange gültigen Mythos beruhen, da draußen existierten in einer »realen Welt« Subjekte aus Fleisch und Blut, die objektiv zu untersuchen seien – mit Fragebogen oder Interviews, Lebensgeschichten, Quasiexperimenten, unaufdringlichen Methoden oder teilnehmenden Beobachtungen, mit Fotos und Videobändern (vgl. jedoch Couch 1986 und Manning 1987). Angeblich machen diese Methoden die Einstellungen, Überzeugungen und Erfahrungen des Subjekts sichtbar und befördern dadurch das soziologische Schreiben über die inneren (und äußeren) Funktionsweisen von Gesellschaft. Doch diese Überzeugungen, Einstellungen und Erfahrungen sind, wie auch die Subjekte, die diese Einstellungen angeblich teilen, vor allem eines: kulturelle, textuelle Schöpfungen. Sie haben außerhalb der Texte, die wir (oder sie selbst) schreiben, keinerlei Autonomie (vgl. Frank 1990). Wie können wir dann aber auf das Soziale zurückkommen, wie können wir das Soziale für die Soziologie zurückgewinnen? Genau darum ging es in den drei Texten über die Adult Children of Alcoholics. Von der New York Times über People Weekly bis zu den Geschichten, die sich die Gruppenmitglieder untereinander erzählen, gibt es nur unterschiedliche Versionen oder kommentierende Glossen biographischer Erfahrungen. Die Texte reflektieren drei Kommentarebenen, von unten nach oben: primäre Glossen gelebter Erfahrung aus erster Hand, sekundäre gedruckte Geschichten, die sich Menschen einander erzählen, und tertiäre Glossen, die entsprechenden Versionen in den Nachrichten. Zugrunde liegt diesen drei Textordnungen jedoch ein Subjekt, das sich der Fixierung stets entzieht: der Mann, die Frau, das Kind, das nach Hilfe ruft und sich manchmal auch Hilfe suchend an andere wendet. Dieses Subjekt hat trotz aller Ambiguität, die es ansonsten umgibt, gelegentlich Zugriff auf seine Identität und seinen zukünftigen Weg. Wir als Soziologen sind hinter den Worten und Geschichten dieser Person her, jedoch im steten Bewusstsein, dass wir, wenn wir ihrer habhaft werden, möglicherweise wie die Autoren von People Weekly einfach nur eine weitere laminierte Version der Identität dieser Person

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40 | Ethnographie, Kino und Interpretation (v)erfassen. Wir riskieren, diese Person aus dem Blick zu verlieren, und sie riskiert, sich selbst aus dem Blick zu verlieren. Ein Subjekt haben wir uns damit nur in unseren eigenen Augen geschaffen. Und weil das so ist, wird die Soziologie jetzt zu einer Disziplin, die nur soziologische Texte studieren und verfassen kann. Doch welcherart Texte? Die Antwort hat natürlich die ganze Zeit schon offen vor uns gelegen, wurde sie doch in Mills’ Buch gegeben. Wir untersuchen und schreiben die Geschichten der persönlichen Nöte und Probleme, die Durchschnittsmenschen einander erzählen. Wir geben diesen Menschen eine Stimme, und zwar eine imaginative Stimme. Dabei schmieden wir eine Vereinbarung zwischen uns, unseren Lesern und den Menschen, die wir untersuchen. Das verpflichtet uns zu einer freundlichen, offenen, egalitären Ethik, die unserem Gegenstand und unseren Lesern stets mit Respekt gegenübertritt und uns niemals gestattet, mehr als Minimalisten zu sein, wenn wir die Welten, in die wir eingedrungen sind, interpretieren. Unser Schreiben vermeidet so weit wie möglich die gängigen Tropen der Ironie, Tragödie, Romanze, Parodie und Komödie und hält sich so eng wie möglich an die tatsächlichen Taten und Erfahrungen der Personen, die wir untersuchen. Interventionistisch werden unsere Texte immer dann, wenn sie mit kulturellen Schriften konfrontiert sind, die repressive Ideologien reproduzieren – Ideologien, die nicht zuletzt den Erfahrungen, die wir in den von uns gewonnenen Geschichten aufgedeckt haben, gegen den Strich gehen. Wir müssen uns also von jenen Soziologen fernhalten, die über Durchschnittsmenschen und deren Nöte große Theorien verfassen. Es ist sogar möglich, die soziologische Theorie ein für allemal zu beerdigen und uns auf diese Weise nur noch den Welten der Erfahrung und Darstellung auszusetzen, mit denen wir konfrontiert sind. In diesem Moment gewinnen wir das Soziale zurück, erwecken es zu neuem Leben. Und so kehrt auch die Soziologie schließlich dorthin zurück, wo sie eigentlich zu Hause ist, wo sie aber schon vor langer Zeit vertrieben wurde.

Danksagung Frühere Fassungen dieses Vortrags wurden am 7. April 1989 bei einer Tagung der Midwest Sociological Society in St. Louis sowie bei Fakultätskolloquien an der Illinois State University (1. Februar 1989) und der University of Connecticut (10. März 1989) vorgetragen. Ich danke Katherine Ryan-Denzin, Raymond Schmitt, Gary Krug, David Maines, Peter Manning, Charles Smith, James W. Carey, Wayne Woodward, John Johnson, David Altheide, Arthur Frank, Michal McCall, Patricia Clough und Norbert Wiley für ihre Kommentare und Verbesserungsvorschläge zu früheren Versionen dieses Textes. Mein besonderer Dank gilt Carl J. Couch

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Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« | 41 und David Maines für ihre Ermutigung und Unterstützung bei diesem Projekt. Ferner danke ich George J. McCall und Michele Shade für ihre Bemühungen um klare Lesbarkeit meines Textes.

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 49

Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion 1

»Die allgemeinste Überschrift für das ganze Problem würde lauten: Kastration und Mimesis.« Jacques Derrida (zitiert bei Harvey 1986: 28)

Harold Garfinkels Geschichte von Agnes (Garfinkel 1967: 116-185, 285288) gilt im doppelten Sinne als soziologischer »Klassiker«. Sie bietet zum einen eine rein ethnomethodologische Darstellung der gesellschaftlichen Geschlechtsrollenproduktion (vgl. Kessler/McKenna 1978: 112-115, Lester 1984, Atkinson 1988: 459, Plummer 1983: 88). Und sie gilt zum anderen als methodisch-exemplarisches Beispiel für eine Ethnomethodologie, die zeigt, wie Menschen im Alltagsleben stabile, verantwortliche praktische Aktivitäten entwickeln (vgl. Atkinson 1988: 459, Garfinkel 1967: 185). Ansonsten sehen postmoderne marxistische Literaturkritiker wie Fredric Jameson in Garfinkels breiter angelegtem ethnomethodologischem Projekt, aber auch in der »neuen Anthropologie« (vgl. etwa Geertz 1988) Beispiele für jenes neue textuelle Modell in den Humanwissenschaften, welches das ältere Modell eines »referentiellen oder realistischen Positivismus« (Jameson 1975/76: 19) infrage stellt.2 Garfinkels Text wendet sich in seinem berühmten »Anhang zu Kapitel 5« (1967: 285-288), in dem offenbart wird, dass Agnes während der

1 | Veröffentlicht als »Harold and Agnes: A Feminist Narrative Undoing« in Sociological Theory 8:2 (1990), S. 198-216. Ich möchte Richard Harvey Brown, Norbert Wiley und Patricia T. Clough für ihre kritischen Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Beitrags danken.

2 | Jameson zitiert als Beispiel für diese neue textuelle Ausrichtung Geertz’ berühmte Untersuchung des balinesischen Hahnenkampfes.

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50 | Ethnographie, Kino und Interpretation gesamten Untersuchung gelogen habe, sich selbst zu und fordert eine erneute Lektüre geradezu heraus. Garfinkel selbst lädt zu einer solchen Neulektüre ein, wenn er den Leser informiert, er plane, den Artikel im Lichte von Agnes’ Geständnis nochmals in Angriff zu nehmen (vgl. Garfinkel 1967: 288). Mein Ziel im vorliegenden Beitrag ist es, eine dekonstruktivistische, feministische narrative Analyse von »Agnes’ Geschichte« vorzunehmen. Mein Titel, der Harold (Garfinkel) mit Agnes verbindet, nimmt meine Schlussfolgerungen bereits vorweg: Ich werde nämlich zeigen, dass diese beiden Namen für eine Beziehung stehen, die aufgebrochen werden sollte, damit Agnes’ Geschichte wirklich erzählt werden kann, die sich jedoch, wie ich ebenfalls zeigen werde, gar nicht auflösen lässt, weil Harold und Agnes in Garfinkels Text ein und dieselbe Person sind. Meine Titelformulierung »feministische narrative Dekonstruktion« bezieht sich auf den Versuch, zeitgenössische interpretierende interaktionistische Texte der Postmoderne, also Texte wie den von Garfinkel, neu zu lesen.3 Ich vertrete dabei die These, dass diese Arbeit viel mit der konventionellen interpretativen Soziologie gemein hat, in der sich Männer vor allem damit beschäftigen, Theorien zur Entstehung und zu den Ursprüngen, Ursachen und Wirkungen diverser gesellschaftlicher Situationen zu entwerfen, einschließlich sozialer Probleme und der Arten von Personen und Gruppen, die diese Probleme haben oder sind. Allgemeiner gesagt steht mein Text emblematisch für alle postmodernen (und modernen) theoretischen Arbeiten, die ihre eigene textuelle Reflexivität in die Theorie mit einbeziehen (vgl. Alexander 1987, Ashmore 1989, Baudrillard 1988, Brown 1987, Giddens 1987, Jameson 1975/76, Lyotard 1984). Ziel meiner Dekonstruktion eines solchen Projekts ist es, textuelle Möglichkeiten der Darstellung und Interpretation zu eröffnen, die zuvor verborgen oder argumentativ überlagert waren.4

3 | Ich füge dabei – im vollen Bewusstsein der Probleme einer solchen Glosse – folgende interpretative Traditionen zusammen: Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie, Soziologie des Alltagslebens, Existenzsoziologie, Konstruktivismus, Cultural Studies, postmoderne Soziologie und interpretative Soziologie im weiteren Sinne (vgl. Adler/Adler/Fontana 1987).

4 | Ich folge hierin Arthur W. Frank (1985), der bei seinem Plädoyer für eine Verschmelzung von Dekonstruktivismus und Ethnomethodologie letztere gegen sich selbst wendet. Aus dem Bereich des Dekonstruktivismus füge ich eine poststrukturalistische Betonung des Narrativen hinzu – eines Aspektes, der in der ethnomethodologischen Tradition eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat (vgl. jedoch Ashmore 1989, Atkinson 1988, Atkinson/Heritage 1984, Frank 1985, Heritage 1984, McHoul 1982, Pollner 1987 und Woolgar 1980, denen ich eben-

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 51 Ich werde im Folgenden zunächst kurz auf das interpretative Erbe hinsichtlich der Textproduktion eingehen und zeigen, dass Garfinkels Text Teil dieser Tradition ist, obwohl Garfinkel selbst dies ausdrücklich bestreitet (vgl. 1967: 78, 100-102). Danach werde ich diese Position aus der Sicht von Derridas poststrukturalistischem Projekt (vgl. Derrida 1972) kritisieren. Ebenso werde ich mich ausführlich mit jener Tradition innerhalb der Ethnomethodologie befassen, die sich für eine reflexive Dekonstruktion ethnomethodologischer Texte einsetzt (vgl. Atkinson 1988, Frank 1985, Garfinkel 1967: 288). Danach werde ich diesen Bezugsrahmen auf meine eigene Lektüre des Falles »Agnes« anwenden, ehe ich abschließend einige Anmerkungen zum Schreiben (und Lesen) postmoderner interaktionistischer interpretierender sozialer Texte mache.

Das interpretative Erbe Die interpretative empirische Soziologie, deren Beginn ich willkürlich auf 1918, das Erscheinungsdatum von Thomas’ und Znanieckis Einwandererstudie The Polish Peasant in Europe und America datiere (vgl. Thomas/Znaniecki 1918 und Wiley 1986), plagt sich mit einer komplizierten Metaphysik der Präsenz (Derrida 1972: 250) herum – beziehungsweise mit dem, was Derrida einen auf Präsenz fixierten Logozentrismus nennt. Diese Argumentationstendenz und Denkweise basiert auf der Annahme, dass Subjekte in der Welt nicht nur für sich selbst gegenwärtig sind – also in ihren Gedanken und inneren Gesprächen –, sondern durch ihr Reden und Tun auch für andere. Angenommen wird ferner, dass Menschen mit sinnhaften Bedeutungen leben und dass dieses Leben und seine Bedeutung erfasst und in einem soziologischen Text verortet werden können. Weil die Soziologen von dieser Überzeugung nicht lassen können, suchen und verfeinern sie fortwährend Untersuchungsmethoden, mit denen sie aufdecken können, wie die betreffenden Personen ihren Lebenserfahrungen subjektiv Bedeutung geben. Das hat zu einer unermüdlichen Konzentration auf den autobiographischen, biographischen, ethnographischen und dokumentarischen Ansatz und dessen verschiedene Varianten geführt – zur Konzentration auf Lebensgeschichte (life history), Lebensbericht (life story) und das unstrukturierte Interview zur persönlichen Geschichte des/der Interviewten (vgl. Becker 1966, Bertaux/Kohli 1984, Plummer 1983). Solche Texte verkörpern angeblich falls wichtige Anregungen verdanke). Gleichzeitig vertrete ich die These, dass die führenden modernen und postmodernen Theoretiker in einen Interpretationsprozess verwickelt sind, der die Theorie mit der beschriebenen Realität vermengt.

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52 | Ethnographie, Kino und Interpretation die Lebenserfahrungen der Subjekte – so, wie sie von diesen wörtlich berichtet wurden.5 Die herrschende Meinung besagt, dass sich Vertreter des Symbolischen Interaktionismus und andere interpretative Soziologen, einschließlich der Ethnomethodologen, in ihren Werken der Welterfahrung durchschnittlicher interagierender Individuen widmen (vgl. Saxton 1989). Um diese Erfahrungen in ihre Texte einzubringen, verwenden diese Forscher eine Vielfalt interpretativer qualitativer Ansätze. Dazu gehören die von Adler und Adler (1987) identifizierten »neuen« Ethnographien ebenso wie die postmodernen Erfahrungsethnographien von Turner und Bruner (1986); die von Gubrium (1988) und Manning (1987) erörterten strukturellen, artikulativen, semiotischen und praktischen Ethnographien ebenso wie die gegenstandsbezogene Theoriebildung (grounded theory) von Anselm Strauss (1987); die biographisch-lebensgeschichtliche Methode von Plummer (1983), Becker (1966), McCall/ Wittner (1988) und McCall (1990) ebenso wie die Aufführungswissenschaft von Becker, McCall und Morris (1989); die feministische Ethnographie (Clough 1992) ebenso wie die eher traditionellen Interviewpraktiken und die Praxis der teilnehmenden Beobachtung, die von Becker (1986a) und Fine (1987) befürwortet werden; Douglas’ kreative Interviews (1985) und die Existenzsoziologie (Douglas/Johnson 1977) ebenso wie die bei Herbert Blumer (1969) angedeuteten Interpretationspraktiken (vgl. dazu Athens 1984 und Maines 1989); die Gesprächsanalyse (Maynard 1987) und die ethnographische Suche nach generischen Prinzipien (Lofland/Lofland 1984 und Prus 1987) ebenso wie Couchs Laborprozeduren (1987). All diese Autoren gehen in ihren Werken von der Annahme aus, dass es eine Außenwelt gebe, eine »world out there«,6 5 | Garfinkel, der Tatsachen als soziale Leistungen behandelt, weicht methodisch von der von ihm kritisierten »dokumentarischen Methode« ab, doch er kann sich niemals ganz davon befreien (vgl. Garfinkel 1967: 76-103). Ich werde zeigen, dass auch Garfinkels als wichtige Abwendung von der dokumentarischen Tradition dargestellte Methode Texte hervorbringt, aus denen sich Probleme ergeben, die durchaus jenen ähneln, die im konventionelleren biographischen Paradigma entstehen (vgl. Atkinson 1988: 457, Heritage 1983, Jameson 1975/76).

6 | Mit dieser Formulierung möchte ich den Gedanken zum Ausdruck bringen, dass es eine Welt gibt, die untersucht werden kann, und dass diese Welt in den Erfahrungen des Subjekts enthalten ist; dass sie von diesem Subjekt wiedergegeben, aber auch von einem Beobachter beobachtet werden kann (vgl. Garfinkel 1967: 103). Ich kontrastiere diese Position mit der Derridas (»Es gibt nur den Text«) und der Garfinkels (»Die objektive Realität sozialer Fakten ist eine gesellschaftliche Leistung«). Anders gesagt, mein hier vorgestelltes Projekt besteht darin zu zeigen, wie die objektive Realität eines Textes über die Außenwelt zu ei-

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 53 die untersucht, erfasst und in die Texte der Soziologen eingebracht werden könne.

Garfinkels Wende Ein Großteil der Verwirrung, die die Lektüre von Garfinkels Projekt umgibt, ist darauf zurückzuführen, dass die radikale Wende nicht richtig verstanden wurde, die Garfinkel im Hinblick auf die Produktion interpretierender Texte vorgeschlagen hat (vgl. etwa Coser 1975). Der Schlüssel zu Garfinkels Methode liegt in der Verwendung und gleichzeitigen Analyse der dokumentarischen Methode (etwa bei der Frage, wie Menschen zu erklärbaren, nachvollziehbaren Handlungen kommen) – wobei die dokumentarische Methode darin besteht, »eine tatsächliche Erscheinung als ›Beleg für‹, ›Hinweis auf‹ oder ›Stehen für‹ ein vorausgesetztes zugrunde liegendes Strukturmuster zu behandeln« (Garfinkel 1967: 78). Dieses zugrunde liegende Muster wird »aus seinen individuellen dokumentarischen Belegen abgeleitet, doch werden [diese] Belege […] auf der Grundlage dessen interpretiert, was man über das zugrunde liegende Muster bereits ›weiß‹. Das eine wird verwendet, um das jeweils andere auszuarbeiten« (ebd.). Das heißt, Garfinkel nimmt die Erscheinungsform, zum Beispiel eine freundliche Geste, einen Gruß, als Beleg dafür, dass jemand freundlich ist. Die Erscheinung einer Sache ist die Sache selbst. Für die Praxis besteht dann keine weitere Veranlassung, die subjektiven Bedeutungen hinter einer Erscheinung zu hinterfragen. Sie ist, was sie ist.7 Um es mit Paul Atkinson zu sagen: Die dokumentarische Methode geht von der Annahme aus, »das transkribierte Gesprächsmaterial« komme der »unvermittelten, wörtlich dargestellten sozialen Realität

ner gesellschaftlichen Errungenschaft wird, die auch wieder dekonstruiert und zunichte gemacht werden kann.

7 | Laut Garfinkel (1967: 78-79, 102f.) benutzen alle Soziologen irgendeine Version dieser Methode. Ein ethnomethodologischer Kritiker meines Manuskripts argumentierte als Gutachter, es handele sich hier um die in der Gesellschaft übliche Methode, nicht um die Garfinkels. Ich hätte Garfinkel in diesem Punkt missverstanden. Aber was ist dann von Zeilen wie den folgenden zu halten? »Agnes’ Erscheinungsbild war auf überzeugende Weise weiblich« (Garfinkel 1967: 119). Ein anderer Gutachter/Kritiker merkte an: »Es wäre interessant, sich der Frage zu widmen, ob Garfinkel und/oder andere Ethnomethodologen in der Lage sind (oder es auch nur versuchen sollten), sich der dokumentarischen Methode zu entledigen. Doch der vorliegende Artikel spart diese Frage aus.« Da kann ich nur sagen: Genau diese Frage untersuche ich!

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54 | Ethnographie, Kino und Interpretation nahe« (1988: 454).8 Mit anderen Worten, Garfinkel sieht die Berichte einer anderen Person über ihre Aktivitäten als buchstäblich wahre Darstellungen dieser Aktivitäten an, als situierte Errungenschaften, die für das stehen, was sie repräsentieren. Darüber hinaus nimmt Garfinkel an, dass seine Interpretationen dieser Berichte, die auf dem basieren, was man über die zugrunde liegenden Muster »weiß«, dokumentarische Belege für das Vorhandensein dieser Muster und für deren praktische Bedeutung in dieser Situation sind. Garfinkels Verständnisakte gestatten es ihm, konkrete Erscheinungsformen als Belege für angenommene zugrunde liegende Muster zu nehmen. So wird er zum privilegierten Deuter der betreffenden Ereignisse. Und doch ist der Ethnomethodologe, wie Arthur Frank (1985: 109) feststellt, »als Mitglied der Gesellschaft zwar kompetent, einige Dinge zu wissen (zum Beispiel Entscheidungen über die Identität von Phänomenen zu treffen), doch ist seine Kompetenz als Mitglied der Gesellschaft auch irgendwo begrenzt, weil andere Dinge eine genauere Analyse erfordern«. Es wird allerdings niemals klar gemacht, wie besagte Positionierung hinsichtlich dieser anderen Phänomene erreicht wird. Der Ethnomethodologe muss also, wenn der reflexive Bericht über das Geschriebene abgefasst wird, zugleich innerhalb und außerhalb seines Textes sein. Gleichwohl ist dabei wenigstens der Anschein einer interpretatorischen Gleichrangigkeit gewahrt, weil Garfinkel behauptet, nichts anderes zu tun als das, was alle anderen Mitglieder der Gesellschaft ebenfalls ständig tun. Doch seine Texte lesen sich ganz anders. Ich möchte die eben erwähnten Annahmen jetzt problematisieren, indem ich argumentiere, dass Soziologen (und andere kulturelle Beobachter) nicht mehr unreflektiert und wie selbstverständlich davon ausgehen dürfen, dass sie die Außenwelt kartieren können. Denn die Welt »da draußen« existiert, soweit sie soziologisch bekannt ist, ausschließlich in unseren Texten. Interpretative interaktionistische Soziologen, Marxisten, viele Postmodernisten und auch Ethnomethodologen wie Garfinkel haben sich trotz anders lautender Bekundungen diesem Problem noch nicht gestellt. Vielmehr haben diese Autoren darauf vertraut, dass ihre »methodologischen« Begriffe (unstrukturiertes Interview, teilnehmende Beobachtung, dokumentarische Methode, postmoderne Ethnographie, Videoaufzeichnung, Theorie der Lebensgeschichte etc.) und die Litanei ihrer Lieblingsbegriffe (Simulacrum, Performanz, Geschichtenerzählen, 8 | Garfinkels Analyse basiert auf »Tonbandaufzeichnungen von Gesprächen von insgesamt rund 35 Stunden Dauer, die ich mit ihr [Agnes] geführt habe«. Auch meine eigenen Bemerkungen im vorliegenden Beitrag basieren auf den schriftlichen Transkriptionen dieser Gesprächsmaterialien (vgl. Garfinkel 1967: 121).

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 55 kulturelle Logik, Situationsdefinition, soziale Welten, Karriere, Selbst, Identität, Prozess, Formen, Interaktion, Symbole, Kommunikation, soziale Akte, Indexikalität [=Kontextabhängigkeit sprachlicher Ausdrücke], Mitglied der Gesellschaft, Berichte, Darstellungspraktiken etc.) ihnen die harte Arbeit abnehmen, präzise festzustellen, wie sie ein Subjekt, auch sich selbst, überhaupt in ihre Texte einbringen können.9 Ich vertrete ferner die These, dass Soziologen nicht mehr behaupten sollten – weder gutgläubig noch in absichtlicher Ignoranz –, dass es eine strenge Trennung zwischen Fiktion und sozialwissenschaftlichem Datenmaterial gibt. Fiktion bedeutet nicht Unwahrheit oder etwas, dass zur Unwahrheit führt, und gute Ethnographien sind Fiktionen mit Wahrheitsanspruch (vgl. Clifford 1986: 6, Denzin 1989: 23-25).

Das Projekt der Dekonstruktion Wendet man das dekonstruktivistische Projekt auf Garfinkels Text an, so ergeben sich vier Begriffspaare: 1) das Reale und seine Darstellungen in einem Text, 2) Text und Autor, 3) Präsenz und gelebte Erfahrung und ihre Darstellungen in einem Text, 4) Subjekte und intentionale Bedeutungen.

Das Reale, der Text, der Autor und das Subjekt Alles Schreiben ist eine narrative Produktion, ja sogar eine Fiktion (vgl. Richardson 1988). Narrative Hervorbringungen werden durch eine narrative Logik strukturiert, die von einer Trennung zwischen dem Schreibenden, dem Text und dem Gegenstand ausgeht. Diese Logik kann jedoch aufgelöst, dekonstruiert werden, wobei deutlich wird, dass es keine festen Trennungslinien zwischen diesen drei Elementen gibt. »Feldforschungsberichte« dieser Art werden nach dem Motto »Realismus« verfasst. Wie Garfinkels Texte verkörpern sie eine dreifache ödipale narrative Logik, die aus einem Ethnographen und Ethnometho9 | »Subjekt« hat hier vier verschiedene Bedeutungen: Als Autor dieses Textes bin ich Subjekt in meinem eigenen Diskurs. Als Autor bin ich aber auch für Sie, die Leser, ein Subjekt (Sie versuchen zum Beispiel, meine Absichten zu ergründen). Mein Text wählt als Gegenstand (subject) die Texte anderer Leute; und diese Texte sind ihrerseits Darstellungen von Erfahrungen, die andere Subjekte in der Welt gemacht haben. In all diesen Verwendungen des Begriffes »Subjekt« unterliegt das Wort der Kontrolle durch ein Diskurssystem. Dieses konstruiert »Subjekt« auf je andere Weise. Diese Unterscheidungen werden im weiteren Verlauf meines Beitrags noch weiter ausgearbeitet.

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56 | Ethnographie, Kino und Interpretation dologen einen männlichen Helden macht, der sich mit der Lebenssituation des betreffenden Subjekts auseinandersetzt und ihr einen Sinn gibt (vgl. Clough 1992, Kapitel 1). Diese Situation wird ihrerseits begrifflich als ein Kampf gedacht, der die Erfahrungen, die Subjektivität und die Bedeutung des Subjekts in den urtümlichen Kontexten von Arbeit, Familie, Verwandtschaft und Ehe lokalisiert. Bedeutung und Form erhält dieser Kampf durch den Schreiber/die Schreiberin des Textes, der/die zum »einzigen Subjekt« wird, das »autorisiert ist, die Geschichte der Entwicklung des [befragten] Subjekts […] darzustellen. [Diese] Geschichte ist das Ziel, die eigentliche Leistung der identitätsstiftenden Erzählung des Forschers« (Clough 1992: 18). Diese doppelte Ödipalisierung des vom Feldforscher verfassten Textes sexualisiert die Erzählung explizit wie implizit und reproduziert dabei eine Version jener Geschlechtsrollenschichtung, die in der Gesellschaft als ganzer existiert. Der Soziologe als männlicher Erzähler erschafft die Geschichte, die erzählt wird. Aber das ist noch nicht alles. Die obige Logik, die aus dem Forscher als Autor einen Entdecker und Berichterstatter von Fakten und praktischen Fertigkeiten macht, dient auch dazu, die Realismus-Aura des Textes zu verstärken, weil der Autor ja auf faktenorientierte, realistische Darstellungen von Ereignissen und Erfahrungen, wie sie sich ergaben, aus ist. Diese Materialien verleihen dem Text seinen Sinn, demzufolge er auf »realistische« Weise buchstäblich, gültig und zuverlässig die realen Taten von Menschen »aus Fleisch und Blut« beschreibt, die in der Welt mit tatsächlichen Problemen ringen. Doch diese realistische Epistemologie »unterdrückt die Konstruktion des Subjekts im Diskurs« (Clough 1989: 163). Sie erweckt den Eindruck, dass das Subjekt auch außerhalb des Diskurses existiere, in einer Welt selbst vermittelter und selbst definierter Erfahrungen.10 Der Sozio-

10 | Feldforschungsnotizen und Interviews werden demnach zum Medium, aus dem angeblich unvermittelt die Erfahrungen des Subjekts sprechen. Doch sind solche Aufzeichnungen natürlich auch Diskurssysteme. Schon die Bemühungen um Genauigkeit, Stichhaltigkeit und zuverlässige Codierung von Feldforschungsnotizen strafen die Festlegung auf eine realistische Epistemologie der Unmittelbarkeit Lügen. In einer Gesprächsanalyse kommen vier Ebenen der Textualität zum Tragen: die tatsächliche Konversation, die Tonbandaufzeichnung des Gesprächs, die Transkription des Tonbands und die Analyse des Tonbands. Die Annahme lautet, dass der Sprecher als Subjekt in jeder textuellen Formation präsent ist. Doch ergibt sich hier, wie Frank (1985: 110f.) gezeigt hat, ein Problem der Supplementarität und der Darstellung, weil bei der Gesprächsanalyse »die Transkription als Ersatz (supplement) für die Tonbandaufzeichnung dient, die ihrerseits bereits ein Ersatz für das Live-Gespräch ist«. Das Subjekt befindet sich also

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 57 loge als Ethnograph betritt diese Welt, erlernt ihre Sprache und entwickelt eine Beziehung zum Subjekt. Auf der Grundlage dieser Beziehung sichert der Forscher dann einzelne beispielhafte Erfahrungen des Subjekts (also Darstellungen). Er oder sie bemüht sich, die eigenen Worte des Subjekts zu verwenden, wenn beschrieben wird, was für die betreffende Geschichte als relevant gilt. Diese Worte werden zu Verkörperungen der untersuchten Erfahrungen. In der klassischen (und postmodernen) Ethnographie werden sie auch zu Verkörperungen der untersuchten kulturellen Ordnung. Viele Soziologen geben sich jedoch mit bloßem Realismus nicht zufrieden. Sie wollen gern auch eine Geschichte mit glücklichem Ausgang erzählen. Dann nehmen ihre Erzählungen die Form von Melodramen an, und damit wandelt sich das Genre, in dem geschrieben wird, zum melodramatischen Realismus.11 Diese narrative Form reproduziert die in der Populärliteratur kursierenden Vorbildgeschichten. Es entsteht eine Variante des ethnographischen Melodramas, das sich vorrangig auf die Erfahrungen des Forschers konzentriert. Dieser Prozess spielt sich wie folgt ab: Die ödipale Geschichte (nur selten in der Elektra-Variante erzählt) wird unweigerlich nach der Devise der klassischen Moralerzählung organisiert, in der das Subjekt drei Stufen durchläuft: Verführung, Verderbnis, Errettung (vgl. Elbaz 1987). Dieses Thema kommt besonders häufig in jenen soziologischen Gebieten vor, die sich vorrangig mit Devianz und dem »moralischen Werdegang« der Abweichler beschäftigen – Subjekte sind zum Beispiel Geistesgestörte, Alkoholiker, Schwulen und Lesben, Aids-Opfer, Obdachlose, geschiedene und misshandelte Frauen, Vietnam-Veteranen, und damit praktisch die Gegenstände, denen sich die meisten soziologischen und anthropologischen Ethnographien über die zeitgenössische postmoderne Szene widmen. Viele soziologische Melodramen geben sich allerdings, wie es scheint, damit zufrieden, das Subjekt bis zur Schwelle der Rettung zu führen, die Rettung selbst jedoch auszusparen; dadurch wird impliziert, dass der soziologische Text selbst Ziel und Ende der Geschichte ist. So wirkt das melodramatische Format in beide Richtungen: Der Forscher berichtet häufig über seine oder ihre eigene Verführung und Korruption (den Sündenfall) im Kontext des untersuchten Feldes und schließt dann mit der frohen Botschaft gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Diskurses. Trotzdem stehen das Band und seine Transkription für die Live-Konversation.

11 | Darunter ist eine »realistische« Story zu verstehen, die im Detail akkurat und emotional dramatisch ist und die ein tugendhaftes oder geschmähtes Individuum bzw. eine solche Gruppe schildert, das/die durch »repressive und ungerechte soziale Umstände, zumal solche, die mit Ehe, Beruf und der Kernfamilie zu tun haben«, zum Opfer wird (Schatz 1981: 222).

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58 | Ethnographie, Kino und Interpretation der Errettung durch Methode (vgl. etwa van Maanen 1988). Diese Erzählung gibt der Geschichte des Subjekts also einen Rahmen, doch selten überlappen oder befruchten sich die Geschichten dabei wechselseitig (vgl. Geertz 1988).

Bedeutung, Präsenz und Erfahrung Ein ethnographischer Text schafft wie ein Kinofilm Bedeutung und Präsenz durch konkrete Darstellungen der Erfahrungen eines Subjekts. Normalerweise wird dabei eine von zwei grundlegenden Darstellungsweisen gewählt. Entweder interpretiert der Soziologe als Erzähler die Erfahrungen des Subjekts, wobei er soziologische Termini verwendet, um zu beschreiben, was das Subjekt berichtet hat oder was beobachtet wurde. Oder die Worte des Subjekts werden in Form von Aufzeichnungen oder von Transkriptionen von Interviewexzerpten direkt in den soziologischen Text eingefügt. In beiden Fällen steht jedoch etwas (die Worte des Soziologen oder die Worte des Subjekts der Untersuchung) für etwas Anderes. Das führt dazu, dass dieses Andere niemals konkret dargestellt wird, es sei denn durch den Text, der es erfasst. Diese Standardauffassung ist jedoch nicht unproblematisch. Sie geht nämlich, um mit Derridas Grammatologie (1976: 12) zu sprechen, von der Annahme aus, dass »zwischen Stimme und Sein, Stimme und der Bedeutung des Seins, Stimme und der Idealität der Bedeutung eine absolute Nähe« herrscht. Normalerweise gilt, dass, was jemand sagt, auch das ist, was er/sie meint, und dass er/sie weiß, was er/sie meint, weil er/sie weiß, was er/sie denkt. Dieses Wissen über sich selbst wird durch die eigene Sprache des Subjekts ermöglicht. Darüber hinaus gelten die konkreten Erfahrungen des Sprechers in einer Sprechsituation als conditio sine qua non für seine Präsenz und als die Bedeutung, die der Sprecher seiner Erfahrung selbst beimisst. Damit haben Beobachter, wenn sie die Worte und Handlungen des Sprechers berichten, auch eine konkrete Dokumentation jener Bedeutung sichergestellt, die diese Erfahrungen für den/die Betreffende(n) selbst haben. Derrida stellt diese Formulierung natürlich infrage, wenn er die These vertritt, dass Sprache nicht in der Lage sei, diese Art Selbstverständnis zu vermitteln (vgl. auch Atkinson 1988: 454, Frank 1985 und O’Keefe 1979). Sprache ist, in ihrer gesprochenen wie in ihrer geschriebenen Form, für Derrida ein fortwährender Prozess der Bedeutungsverschiebung, Verzögerung und Transformation, in dem nichts »je einfach präsent oder abwesend ist. Es gibt überall nur Differenzen und Spuren« (1981b: 27). Wenn das so ist, kann die gesprochene Sprache nicht als direkter Spiegel der Gedanken, der Intentionalität und der Präsenz des Sprechers gelesen werden. Ein Sprecher oder eine Sprecherin ist sich

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 59 selbst niemals völlig präsent, weil seine/ihre Sprache es niemals gestattet, endgültig und mit vollkommener Klarheit zu sagen, was er/sie meint, denn das ist immer ein Teil von etwas Anderem. Diese extrem prozessuale, unbestimmte Position macht alle Texte inhärent mehrdeutig und offen, auch jene, die auf Berichten des Subjekts basieren, ja selbst Kinofilmtexte, die eine vollständige visuelle und vokale Präsenz bieten. So kann die Behauptung, ein Text dokumentiere die Präsenz eines Subjekts durch die Verwendung von Exzerpten aus dessen wörtlicher Rede, prinzipiell niemals unwidersprochen hingenommen werden. Ein ethnographischer Text kann wie sein Gegenstück im Kino mittels narrativer Illusion nur das erfassen oder darstellen, was abwesend ist – das tatsächlich sprechende Subjekt. Wie das abläuft, muss mittels einer dekonstruktivistischen Analyse ermittelt werden. Der ethnographische Realismus – das, was Geertz (1988) die »Ich war da, und das habe ich gesehen (und gefühlt)«-Strategie nennt – bietet dem ethnographischen Feldforscher eine Lösung für die Rasterung von Erfahrung und deren Darstellungen. Seine sorgfältig detaillierten Aufzeichnungen evozieren Stimmungen, beschreiben eine Szenerie, fixieren Subjekte in Raum und Zeit. Solche Texte schaffen vermeintlich Wahrscheinlichkeit und Plausibilität, und in gewissem Maße auch Wahrhaftigkeit im Zusammenspiel von Ereignis, Erfahrung und Darstellung. Dabei werden Präsenz und Erfahrung privilegiert. Und so schaffen solche Texte den Mythos, Texte seien in der Lage, Erfahrungen zu erfassen – wobei das Argument schlicht ignoriert wird, dass diese Dinge nur indirekt und narrativ ausgedrückt werden können: durch nachträgliche Sinngebung, Verzögerung und symbolischen Ausdruck.

Agnes Nach diesen Vorüberlegungen sind wir nun in der Lage, die Geschichte von Agnes genauer zu untersuchen. Die Einzelheiten des Falles sind den meisten Soziologen vertraut. Agnes wurde im Oktober 1958 von einem niedergelassenen Arzt in die psychiatrische Abteilung der University of California in Los Angeles überwiesen. Der äußeren Erscheinung nach war sie eine attraktive 19-jährige ledige Weiße (vgl. Garfinkel 1967: 119). Diagnostiziert wurde jedoch ein einzigartiger Typus, eine äußerst »seltene Störung: das testikulare Verweiblichungssyndrom. […] Der [männliche] Patient war in seinen sekundären Geschlechtmerkmalen vollständig feminisiert […], hatte aber trotzdem einen normal großen Penis und Hoden« (ebd.: 285).12 Agnes bat darum, ihre Genitalien chirurgisch so 12 | Garfinkels Anhang (1967: 285-288) wurde später geschrieben als der

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60 | Ethnographie, Kino und Interpretation zu verändern, dass aus der Haut ihres Penis eine künstliche Vagina konstruiert werde. Um die ärztliche Zustimmung zu einer solchen Operation zu erhalten, bestand ihre Aufgabe nunmehr darin, Garfinkel, Dr. Stoller und dessen ärztliche Kollegen davon zu überzeugen, dass sie schon immer weiblich gewesen sei. Nach einer gründlichen Untersuchung der medizinischen Vorgeschichte des Patienten wurde die Operation durchgeführt.13 Die Patientin berichtete, sie habe seit zwei Jahren unentdeckt als Frau gelebt, aber sie habe »soweit sie sich zurückerinnern könne, immer ein Mädchen sein wollen […], obwohl ihr vollkommen bewusst war, dass sie anatomisch männlich war und obwohl sie von ihrer Familie und der Gesellschaft als Junge behandelt wurde« (Garfinkel 1967: 286). Im Oktober 1966, siebeneinhalb Jahre nach der Operation, suchte Agnes ihren Arzt Robert J. Stoller erneut auf. Dabei enthüllte sie im Gespräch »mit größter Nonchalance mitten im Satz, ganz nebenbei und ohne die geringste Vorwarnung, […] dass sie niemals einen biologischen Defekt gehabt habe, der sie feminisiert habe. Vielmehr habe sie, seit sie zwölf war, Östrogene eingenommen« (Garfinkel 1967: 287).14 Wie bereits erwähnt, hatte Garfinkel zwischen November 1958 und März 1959 rund 35 Stunden lang Gespräche mit Agnes geführt. Seine Studie darüber, wie sie es geschafft hatte, in der Gesellschaft als weiblich »durchzugehen« (fachsprachlich: »Passing«), obgleich sie nicht schon immer weiblich gewesen war, basiert auf den Transkriptionen dieser Gespräche. Erst der Anhang zu Garfinkels Kapitel 5 enthält die oben zitierte Information über Agnes’ Lüge, die Garfinkel noch nicht zur Verfügung stand, als er sein einschlägiges Kapitel schrieb. Er nutzt den Anhang jedoch, um zu zeigen, wie eine ethnomethodologische Studie funktioniert. Denn die neue Nachricht über Agnes zeige, dass und wie »die erkennbar rationale Erklärbarkeit praktischer Handlungen die praktische Leistung eines Mitglieds der Gesellschaft ist, und […] dass der eigentliche Bericht (1967: 116-185). Auch ergibt sich bei der Lektüre sofort ein intertextuelles Problem, weil Garfinkels Text jetzt auch Materialien aus dem gleichzeitig entstandenen Buch seines mitbehandelnden Kollegen Robert J. Stoller enthält (vgl. Stoller 1974: 133, 1. Aufl. 1968). Stoller stellt (1974: 133-139) im Kapitel »Etiological Factors in Male Transsexualism« seine eigene Version des Falles Agnes dar.

13 | Man war zu dem Schluss gekommen, dass sie niemals Östrogene genommen habe (1967: 286) und dass sie »so stark weiblich fixiert war, dass keinerlei Behandlung sie je maskulin machen könnte« (1967: 154). Dies schrieb jedoch Stoller, nicht Garfinkel (vgl. Stoller 1974: 135).

14 | Das heißt nichts anderes, als dass sie Garfinkel und die Ärzte düpiert hatte, denn sie selbst, nicht die Natur, hatte die Veränderungen in ihrem Körper induziert.

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 61 Erfolg dieser praktischen Leistung in dem vorliegenden Opus besteht […], wozu als ›bestimmende und unabhängige Objekte‹ auch erklärende Berichte gehören« (Garfinkel 1967: 286). Garfinkel schließt seinen Text mit folgenden Zeilen: Im Anschluss an Agnes’ Eröffnungen nutzte Stoller die Unterbrechung, um 15 Stunden Interviewgespräche mit ihr und ihrer Mutter aufzunehmen. Es wird eine weitere Studie folgen, die die Einzelheiten der Enthüllungen nutzen wird, um das obige Phänomen zu untersuchen. Wir planen, unter Verwendung des neuen Materials die früheren Tonbandgespräche nochmals abzuhören, unsere nachfolgenden Unterlagen nochmals durchzusehen und auch diesen Artikel im Lichte der neuen Erkenntnisse zu überarbeiten (1967: 288).15

Hier geht es um weit mehr als um die Frage, wie Agnes es praktisch schaffte, als Frau durchzugehen, um mehr als ihre Düpierung Garfinkels, um mehr auch als Garfinkels Produktion einer Fiktion mit dem Anschein der Wahrheit (vgl. Denzin 1989: 38).16 Das Problem liegt in 15 | Stoller fasst die genannten späteren Interviews in seinem Buch zusammen (Stoller 1974: 136-139; 1. Aufl. 1968). Demnach war Agnes das jüngste von vier Kindern. Ihre Mutter wünschte sich eine Familie mit zwei Mädchen und zwei Jungen. Als Kind galt »Agnes« als Junge, aber die Mutter ließ dem Kind die Haare wachsen und zog ihm Mädchenkleider an. Den Vater sah »Agnes« nur selten, weil er nachts arbeitete. Er starb, als »Agnes« acht Jahre alt war. Im Alter von zwei bis acht Jahren spielten die Mutter »und ihr kleiner Sohn nachts ein Spiel [namens] ›Die Glucke und ihr Baby-Küken‹. Jeden Abend gingen sie gemeinsam zu Bett, und die Mutter rollte sich dabei so zusammen, dass sie den kleinen Jungen mit ihrem Körper in einer Kurve vollständig umgab.« Ungefähr um die Zeit, als ihr Vater starb, begann »Agnes« über sich selbst nachzudenken. »Obwohl sie ein Junge war, […] glaubte sie nicht, dass sie männlich sei. […] Doch all ihre Interessen waren die eines Jungen. Sie war sehr gut in Sport und spielte mit den Jungen von gleich zu gleich. Sie hatte kein Interesse an Freundinnen oder am Spiel mit Puppen. […] Sie trug Jungenkleidung, […] obgleich sie niemals Zweifel daran hatte, dass sie ein Mädchen war. […] Ihre Menstruation begann mit 15 Jahren, und als sich ihre Brüste herauszubilden begannen, hörte sie sofort mit allen Jungenaktivitäten auf; jetzt zog sie sich feminin an und handelte weiblich, hatte Rendezvous. […] Den ersten Mann, mit dem sie länger befreundet war (Bill, siehe unten), hat sie dann geheiratet.«

16 | Man vergleiche die anderen Widersprüche in ihrer Geschichte, die bereits festgehalten wurden oder noch folgen. Wenn wir verstehen sollen, dass eine erfolgreiche Lüge ein ethnomethodologisch tauglicher Bericht ist, müssen wir doch feststellen dürfen, dass das, was Garfinkel als »Mitglied der Gesellschaft« für Agnes’ Geschichte hielt, tatsächlich nicht Agnes’ Geschichte war, wie sie sie

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62 | Ethnographie, Kino und Interpretation Garfinkels ironischer Verwendung (und Bagatellisierung) von Agnes’ Lüge, damit er daraus einen stützenden Beleg für seine Methode machen konnte. Daraus ergibt sich eine weitere, noch grundsätzlichere Frage – nämlich die, wie Garfinkel einen Text produziert hat, der es ihm (und dem Leser) gestattet, Agnes als »intersexuelle« Person mit männlichen Genitalien zu betrachten, die es schaffte, als Frau durchzugehen. Wie hat das funktioniert? Das heißt, wie organisiert sich Garfinkels Text – ein Text, der teils eine Detektivgeschichte ist (Wie hat sie gelernt, wie eine Frau zu agieren?), teils ein Melodrama (Wie kann diese arme Mannfrau im Leben ihr Glück finden?) – wie organisiert sich Garfinkels Text so, dass er den Anschein erweckt, er sei eine Erklärung für Agnes’ Passing? Von Anfang an sah Garfinkel Agnes als die Person, die sie selbst sein wollte: als attraktive Frau mit einer ausgesprochen weiblichen Figur (95 – 63 – 95), die eine operative »Geschlechtsumwandlung« begehrte und erhielt. Tatsächlich handelte es ich jedoch um eine Kastration. Garfinkel sah Agnes nicht als männlichen Homosexuellen, Transvestiten oder Transsexuellen, obwohl er diese Bilder von ihr sofort in seinen Text einfügte (vgl. 1967: 117, 119). Er sah in ihr ein Beispiel für eine Person, die es erfolgreich geschafft hatte, als Frau durchzugehen (Passing, vgl. ebd.: 118). Somit konnte sie als Belegmaterial für seine Theorie über die rationale Erklärbarkeit praktischer Handlungen und deren Leistung im Alltagsleben dienen. Agnes bot Garfinkels Theorie auch die Möglichkeit, eine Geschlechtsrollenspezifik einzuführen (ebd.) und ein Spielmodell der Interaktion zu entwickeln (ebd.: 140f.).17

später erzählte. Vielmehr haben wir es mit multiplen Versionen von Agnes zu tun. Und daraus ergibt sich zwangsläufig die Frage, ob Garfinkels Methode, äußere Erscheinungen als Belege oder Beispiele für das, was wirklich ist, zu nehmen, tatsächlich jemals mehr und Anderes kartiert hat als eine dargestellte, vom Forscher geschaffene Realität.

17 | Die Story hat einen mächtigen psychoanalytischen Subtext hinsichtlich des Penis (S. 129), der Vagina (S. 127), der Kastration (S. 131), der Homosexualität (ebd.), des fehlenden Vaters (S. 119) und seines Ersatzes (S. 121), hinsichtlich des weiblichen sexuellen Begehrens (S. 154f.) und eines Elements von Transfer und Ersatz: Die drei Wissenschaftler Garfinkel, Stoller und Rosen wurden von Agnes zunächst als Vaterfiguren angesehen; dann wurden sie von ihr düpiert und fallengelassen (vgl. 1967: 133, 152-155, 287f.). Garfinkel glossiert diesen Subtext zugunsten seines ethnomethodologischen Rahmens. Meine These im Folgenden lautet, dass er durch diesen Schachzug daran gehindert wurde, die sexuelle Kehrseite von Agnes’ Geschichte zu sehen, obwohl er in seinem Text alle eben aufgeführten Begriffe (mit Ausnahme von »Transfer« und »Ersatz«) explizit verwendet.

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 63 Der Schlüssel zu Garfinkels Anfälligkeit für Täuschung und Lüge war Agnes’ äußere Erscheinung. Sie war auf überzeugende Weise weiblich. Sie war groß, schlank, mit einer sehr weiblichen Figur. […] Sie hatte langes, feines dunkelblondes Haar, ein junges Gesicht mit hübschen Gesichtszügen, eine Pfirsichhaut, keine Gesichtsbehaarung, sorgfältig gezupfte Augenbrauen und außer Lippenstift kein Make-up. Als sie zum ersten Mal kam, trug sie einen engen Pullover, unter dem sich ihre schmalen Schultern, großen Brüste und schmale Taille deutlich abzeichneten (1967: 119).

Nachdem er sie so gesehen hat, muss Garfinkel in seinem Text einen geschlechtsspezifischen Raum für sie schaffen. Er evoziert ein Gespür für das typisch Weibliche, um sich selbst versichern zu können, dass Agnes »ein typisches Mädchen ihrer Altersgruppe und Schicht« sei. »Ihre Aufmachung hatte nichts Grelles oder Exhibitionistisches, auch gab es keinerlei Hinweis auf schlechten Geschmack. […] Ihre Stimme […] war sanft« (ebd.). Er geht sogar über das »Anderssein« typischer Frauen hinaus und vergleicht Agnes mit männlichen Homosexuellen. Ihre Sprache und Aussprache »wiesen jenes gelegentliche Lispeln auf, das der affektierten Sprache weiblich aussehender männlicher Homosexueller ähnelt« (ebd.: 119, vgl. auch S. 131). Nachdem Garfinkel sich (und dem Leser) versichert hat, dass sie weder grell, ungehobelt, vulgär oder homosexuell sei, hat er auch an ihrer Weiblichkeit eine Kleinigkeit auszusetzen: »Ihre Manieren waren angemessen weiblich, mit jenem kleinen Schuss Ungelenkheit, der für die mittlere Adoleszenz typisch ist« (dabei war sie damals bereits 19!) (ebd.: 119). Garfinkel als Voyeur bietet eine maskuline Lesart weiblicher Sexualität. Nun muss er uns berichten, wie er mit Agnes interagiert hat: Bei vielen Gelegenheiten fühlte sie sich durch meine Aufmerksamkeit als Kavalier in ihrer Weiblichkeit geschmeichelt: etwa wenn ich ihren Arm hielt, wenn ich sie über die Straße führte; wenn ich beim gemeinsamen Lunch mit ihr […] anbot, ihren Mantel an die Garderobe zu hängen; wenn ich ihr die Handtasche abnahm; wenn ich ihr beim Einsteigen die Autotür offen hielt; wenn ich mich darum kümmerte, dass sie bequem saß, bevor ich ihre Autotür schloss, selbst einstieg und mich hinter das Steuer setzte. Manchmal erinnerte mich dieses ihr Verhalten daran, dass es für sie ein wunderbares Geschenk war, weiblich sein zu dürfen. […] Bei solchen Gelegenheiten agierte sie wie eine enthusiastische, gerade frisch in die Schwesternschaft, die ihr ein Herzenswunsch war, Aufgenommene (1967: 133).

Garfinkel führt Agnes in die Weiblichkeit ein. Seine Handlungen brin-

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64 | Ethnographie, Kino und Interpretation gen bei ihr jene weiblichen Eigenschaften hervor, die er dann erkennt und schildert. Garfinkel ist für Agnes das männliche Andere geworden, jenes Andere, das ihr gestattet, die Frau zu sein, als die sie sich ihm gerne zeigt und als die sie von ihm gesehen werden will. Garfinkel als Autor des Textes ist mit seinem Gegenstand, seinem Subjekt eins geworden; beide sind spiegelverkehrte Seiten des jeweils anderen. Nunmehr muss Garfinkel Agnes’ Geschichte erzählen, denn sie ist nicht autorisiert, dies selbst zu tun.18 Ihre Geschichte entfaltet sich in zwei Teilen: das Leben vor der Operation (der Kastration) und das Leben im Anschluss an die Operation. Der zweite Teil ist wiederum in drei Abschnitte untergliedert: »Agnes, die natürliche, normale Frau«, »Das Erlernen der zugeschriebenen Eigenschaften der natürlichen, normalen Frau« und »Als Frau durchgehen (Passing)«. Nicht unerwartet ist die Form der Erzählung die des melodramatischen Realismus. Agnes ist ein unter Leidensdruck stehendes Individuum, das durch die Biologie und das Schicksal zum Opfer wurde. Wenn ihre Geschichte einen guten Ausgang haben soll (den sie tatsächlich hat), muss sie diesen Zufall des Schicksals überwinden und eine voll funktionsfähige, sexuell erfüllte Frau werden. Wir müssen uns aber zunächst rückblickend jenen Passagen in Garfinkels Text widmen, in denen Garfinkel Agnes für den Leser erschafft und sie selbst zu Wort kommen lässt. Davon gibt es allerdings nur wenige, weil Garfinkel die Interpretation größtenteils selbst übernimmt. Gleichwohl muss er vor dem Leser ein Bild erstehen lassen, wie Agnes’ Leben vor der Operation war, und dann, wie es nach der Operation verlief. Folgende Gesprächspassagen sind von kritischer Bedeutung.

Das Leben vor der Kastration Agnes’ »Schuljahre vor der High School waren zumindest erträglich, während die drei Jahre auf der High School äußerst stressig waren« (1967: 120). Im Juni 1956, im Alter von siebzehn Jahren, weigerte sie sich, für ihr Abschlussjahr an die High School zurückzukehren. Sie verließ ihr Zuhause und besuchte einen Monat ihre Großmutter. Am Ende dieser Zeit ging sie in ein Innenstadthotel und zog sich weibliche 18 | Man beachte jedoch, dass Garfinkel an zwei Stellen Stollers Version der Geschichte in seine Erzählung eingefügt hat (1967: 152-155 und 285-288), woraus entweder zu entnehmen ist, dass er mit seiner eigenen Version nicht hundertprozentig glücklich ist oder dass er Stollers Berichten einen privilegierten Status einräumt. Wie dem auch sei, beide Berichte laufen in Garfinkels Text nebeneinander her, was den Eindruck erweckt, dass sie sich nicht leicht voneinander unterscheiden lassen.

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 65 Kleidung an – in der Hoffnung, Arbeit zu finden.19 Sie kehrte nach Hause zurück und ließ im Herbst 1956 mittels einer Laparotomie (Bauchdeckenschnitt) ihren Unterleib untersuchen; zugleich setzte sie mit Hilfe eines Tutors ihre Schulbildung fort (ebd.: 120). Sie bekam Arbeit an der Schreibmaschine und zog im Dezember 1957 mit einer Wohngenossin nach Los Angeles, um »unserer Arbeit nahe zu sein« (ebd.: 121). Im Februar 1957 hatte sie ihren Freund Bill kennen gelernt. Im April 1958 kehrte sie zu ihrer Mutter zurück. Im Juni 1958 offenbarte sie ihrem Freund ihre Situation, weil dieser »immer stärker darauf gedrängt hatte, mit dem Geschlechtsverkehr zu beginnen, und weil es Heiratspläne gab« (ebd.).20 Im Oktober 1958 suchte sie erstmals die Ärzte in der University of California in Los Angeles auf, wo sie sich dann im März 1959 der Operation unterzog. Garfinkel stattet diesen kondensierten Bericht über Agnes’ Leben vor der Operation mit Äußerungen wie den folgenden aus: »Ich bin immer ein Mädchen gewesen« (ebd.: 128). »Das Kind Agnes […] spielte nicht gern Spiele mit Körpereinsatz wie Baseball; Agnes spielte mit Puppen. Ich habe [sie] einmal gefragt, ob sie sich in der Grundschule bei den Jungen eingereiht habe. Ihre verwunderte, verärgerte Antwort lautete: ›Bei den Jungen eingereiht? Wozu denn das?‹« (ebd.: 128f.).21 »Als ich sie aufgefordert hatte, sich mit Homosexuellen und Transvestiten zu vergleichen, fand sie diesen Vergleich abstoßend. […] Sie bestand darauf, dass ihre männlichen Genitalien eine Laune des Schicksals seien« (ebd.: 131). »Sie zählte ihre Brüste zu ihren wichtigsten Insignien. Bei verschiedenen Gelegenheiten […] brachte sie ihre Erleichterung und die Freude zum Ausdruck, die sie gespürt habe, als sich im Alter von zwölf Jahren ihre Brüste zu entwickeln begannen« (ebd.: 132). Diese Entdeckung hielt Agnes aber vor ihrer Mutter und ihren Geschwistern geheim. »Wir sprachen bald von ihren Auftritten als 120-prozentig weiblich. Nicht nur in ihren Berichten, sondern bisweilen auch in ihren Gesprächen mit mir war Agnes das schüchterne, sexuell unschuldige, vergnügungsfreudige, passive, aufnahmebereite ›junge Ding‹« (ebd.: 129). Ihren Freund stellte 19 | Laut Garfinkel hatte Agnes damals ihr »Coming out« als Frau; Stoller sagte sie jedoch, sie habe mit 15 Jahren, unmittelbar nach Einsetzen ihrer Monatsblutungen, begonnen, wie eine Frau zu agieren.

20 | Sie verschwieg Bill jedoch, dass sie als Junge aufgewachsen war; auch sagte sie nichts von dem Penis zwischen ihren Beinen. Sie schob den Beischlaf hinaus, indem sie angab, ein medizinischer Defekt erfordere zuvor einen operativen Eingriff (1967: 158f.). Das Paar begnügte sich mit Necking und Petting.

21 | Dies ist eine weitere Lüge in Garfinkels Text, denn Stoller erzählte sie, sie habe mit den Jungen gespielt, sei besonders gut in Sport gewesen und habe sich auch für einen Jungen gehalten.

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66 | Ethnographie, Kino und Interpretation sie als 120-prozentig männlich dar; er »hätte sich überhaupt nicht für mich interessiert, wenn ich abnormal wäre« (ebd.). Das folgende Zitat fasst Agnes’ Version ihres Grundschul- und Highschool-Lebens vor der Operation zusammen: Ich hatte keine Freunde, weil ich in allen derartigen Beziehungen nicht normal reagiert habe. Ich konnte keinen Freund haben. Ich wollte keinen Freund haben.22 Doch so, wie ich war, konnte ich auch keine Freundinnen haben. […] In der Schule habe ich nicht mit den Mädchen herumgescherzt oder Kameradschaften gepflegt oder irgendwas in der Richtung unternommen, weil ich damals sehr auffällig war (ebd.: 138).

Diese Berichte enthalten im summarischen Detail die Tragödien von Agnes’ frühem Leben. Sie machen ihre Geschichte zur Erzählung und lokalisieren diese in ihrer Familie und Schule, während zugleich ausgespart und unterdrückt wird, wie Garfinkel sein Subjekt aus seinen Interpretationen von dessen Kindheitstraumata zusammenkonstruiert. Die Probleme der Präsenz des Subjekts und der Darstellung des Subjekts im Text hat Garfinkel dadurch umgangen, dass er Agnes’ Geschichte vor der Kastration für sie geschrieben hat. Doch abgesehen von Garfinkels ziemlich lebhafter physischer Beschreibung von Agnes’ Aussehen zu Beginn seiner Erzählung bleibt Agnes ein schwer fassbares Subjekt, über das weit mehr gesprochen wird, als dass es selbst zu Wort käme und über sich selbst sprechen könnte.

Das Leben nach der Kastration Die Operation verlief nicht gut. Garfinkel hält sich bei diesem Punkt nicht weiter auf, aber Stoller geht ins Detail (vgl. Garfinkel 1967: 153f.). Unmittelbar nach der Operation bekam Agnes eine Venenentzündung in den Beinen, eine Blasenentzündung, Inkontinenz (durch die neue Vagina traten unkontrolliert Urin und Stuhlgang aus), ein Brennen beim Urinlassen, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und Desinteresse am Sex. Sie verfiel in eine tiefe Depression, ihre Brüste wurden kleiner, ihre Hüften schmaler. Sie bekam Hitzewallungen infolge der chirurgisch verursachten Menopause.23 22 | Einen Freund legte sie sich erst zu, nachdem sie ihr »Coming out« als Frau hatte. Zu Stoller sagte Agnes jedoch, sie habe in der High School Freunde gehabt (1974: 138).

23 | Man fand heraus, dass diese Symptome durch einen akuten Östrogenmangel in ihrem Körper verursacht wurden. Sie erhielt sofort eine Östrogen-Ersatztherapie, woraufhin ihre Depression verschwand. Ihr Äußeres wurde wieder

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 67 Nach der Operation zog Agnes zu Bill. Gemeinsam warteten sie »darauf, dass die Vagina zum Geschlechtsverkehr bereit wäre. Agnes beschrieb ihre damalige Beziehung […] mit folgenden Worten: ›Wir sind einfach wie ein altes Ehepaar‹« (ebd.: 156). Sie lernte, den Gedanken zu verdrängen, Bill könnte abnormal sein, weil er sich in sie verliebt hatte. Sie beharrte: »In seiner ganzen Art war nichts […], was Homosexuellen geähnelt hätte« (ebd.: 160).24 An dieser Stelle endet Garfinkels Bericht über Agnes’ Leben. Sein Text kehrt nochmals zu den Tagen vor der Kastration zurück und wendet das Spielmodell der Interaktion auf die verschiedenen Strategien an, die Agnes verwendete, als sie lernte, sich als vollgültige Frau auszugeben. Allerdings enthält der »Anhang zum 5. Kapitel« folgende Zeilen, die Agnes’ Geschichte ein glückliches Ende geben. Stoller schreibt (Garfinkel 1967: 286f.): »Nach fünf Jahren kam sie noch einmal zurück. Sie hatte sich erfolgreich als Frau etabliert, hatte als Frau gearbeitet und führte als schöne und beliebte junge Frau ein sehr aktives, sexuell erfülltes Leben.«25

Eine Lektüre von Garfinkels Bericht über Agnes Ich werde nun eine narrative Dekonstruktion von Garfinkels Text vornehmen. Meine Lektüre wird dabei der oben bereits skizzierten Reihenfolge der Gesichtspunkte folgen: Autor, Text, Subjekt, Präsenz, Erfahrung, Bedeutung, Realismus, Ödipalisierung der Erzählung.

normal, das Interesse am Sex kehrte zurück. Sie musste sich noch einer Nachoperation unterziehen, bei der der neue Vaginalkanal vollständig geöffnet wurde. Bevor diese Zusammenhänge entdeckt wurden, hatte Stoller geglaubt, ihm sei bei der Operation ein Kunstfehler unterlaufen.

24 | Diese Worte spricht allerdings Garfinkel, nicht Agnes. An dieser Stelle im Text zitiert Garfinkel die Beschreibung Bills, die ein Ortsansässiger gegeben hatte und in der es hieß, ihm seien »Bills kleine Statur, seine feinen dunklen Gesichtszüge und seine schicken Manieren besonders aufgefallen« (1967: 160). Dieser Einwohner von Agnes’ Heimatstadt hatte auch das Gefühl, dass Agnes jahrelang Östrogene geschluckt habe. Bill weigerte sich, mit Garfinkel ein Gespräch zu führen.

25 | In dieser Unterredung enthüllte Agnes schließlich auch, dass sie seit ihrem 12. Lebensjahr Östrogen genommen habe. Stoller durfte daraufhin »mit ihrer Mutter sprechen, was in den ganzen acht Jahren sonst verboten gewesen war.« Bill wird hier nicht erwähnt.

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68 | Ethnographie, Kino und Interpretation

Text, Autor und Subjekt Garfinkels Text besteht in Wahrheit aus zwei Texten: seiner Version von Agnes und einem psychoanalytischen Subtext, der eine andere Version ihrer Sexualität und ihres Ringens mit Geschlecht und Identität bietet.26 Meine These lautet, dass Garfinkels ethnomethodologischer Text diesen Subtext verdrängt, ihm zugleich aber Präsenz verschafft. Erst dieser Verdrängungsakt gestattet Garfinkel, den definitiven Bericht über das »Passing« zu schreiben – einen Bericht, der Goffman (1963) noch übertrifft, mit dem er sich implizit vergleicht (vgl. 1967: 173-175). Doch geht Garfinkel in seinem Bericht noch über das Thema »Passing« hinaus, weil er ein bestimmtes Modell der Soziologie vortragen will, ein Modell von Gesellschaft und menschlicher Erfahrung sowie ein Modell soziologischer Texte, die sich mit solchen Erfahrungen und deren Darstellung auseinandersetzen (vgl. 1967: 116f., 172-185). Um diesen weitergehenden Anspruch erheben zu können, muss Garfinkel sich im Dienste seiner höheren Ziele mit Sex befassen. Er muss einen Zugang zu Agnes’ Sexualität gewinnen. Garfinkel gibt sich also als sanfter, väterlicher Interviewer und Gesprächspartner. Bisweilen hat er sogar etwas Matronenhaftes an sich, wenn er Agnes durch ihre Vergangenheit führt27 und ihr dabei hilft, einen Sinn daraus zu gewinnen, wie sie zur Frau wurde und weiterhin wird. Indem Garfinkel auf Agnes’ bereits feminisiertem Selbstbild aufbaut, schwingt er sich selbst zum männlichen Helden auf, der für Agnes deren Leben einen Sinn gibt. Sie wird zum fremden Andersartigen, halb Mann, halb Frau, und Garfinkels Aufgabe ist es, sie zu befragen. Indes, niemals behandelt er Agnes als Mann oder als gleichrangigen Partner auf der Reise in und durch ihre Vergangenheit. Sie ist das perfekte weibliche Subjekt, »das schüchterne, sexuell unschuldige, vergnügungsfreudige, passive, aufnahmebereite ›junge Ding‹« (ebd.: 129). 26 | Schließlich gibt es auch noch Stollers Geschichte von Agnes, die in einem psychoanalytischen Rahmen zu lesen ist: Agnes’ Geschichte von sich selbst, wie sie zuerst von Garfinkel und dann von Stoller erzählt wird. Hinzu kommt noch die Geschichte der Mutter über Agnes’ Kindheit. Vermutlich hat auch noch Agnes, wo immer sie jetzt sein mag, ihre eigene Version der Geschichte zu erzählen.

27 | Kurz nach der Operation litt Agnes unter einer leichten Urininkontinenz und benutzte deshalb Slipeinlagen. Garfinkel schreibt: »Als ich dazu eher gut gelaunt bemerkte, das sei doch sicher eine neue Erfahrung für sie, lachte sie und fühlte sich offensichtlich geschmeichelt« (1967: 133). Dieses Gespräch über weibliche Hygiene feminisiert und ersetzt Garfinkels eher väterliche Autorität; es lässt ihn anscheinend eins werden mit Agnes’ weiblicher Erfahrungswelt.

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 69 Nachdem Garfinkel Agnes auf diese Weise feminisiert hat, muss er sie im ödipalen Kontext lokalisieren, und er tut es unverzüglich. Aus Anlass der Bemerkung, dass sie sich nicht an die Geschenke erinnern konnte, die sie von ihrem Vater bekommen hatte (vgl. ebd.: 121), macht Garfinkel klar, dass Agnes in einem Haushalt aufwuchs, an dessen Spitze eine Frau stand und in dem als Rollenvorbilder für die eigene Entwicklung nur andere Frauen zur Verfügung standen (Tanten, Großmütter, Cousinen, Schwestern) (vgl. ebd.: 127). Später brachten ihr Bills Mutter und Bill das Kochen bei, aber auch, wie man sich in männlicher Gesellschaft verhält. Für Garfinkel wurden Agnes’ Identitäten in diesem Familiensystem geformt und geprägt. Bill nimmt die Rolle ihres Vaters ein, Bills Mutter ersetzt ihre eigene Mutter. Darauf kommt Garfinkel dann zurück, wenn er versucht, aus der Art, wie Agnes lernte, als Frau durchzugehen, einen höheren Sinn zu gewinnen (vgl. ebd.: 127f., 142f., 146f.). Doch niemals kann er die Mutter finden, weil Agnes ihm nicht gestattet, ihre Mutter zu interviewen. Er scheint überzeugt zu sein, dass der Schlüssel zu Agnes’ Vergangenheit in ihrer Familie liegt. Ich werde auf diesen Punkt und auf die fehlende Mutter weiter unten noch einmal zurückkommen. Als Autor ist Garfinkel bestrebt, einen Text zu produzieren, der mehr leistet, als ihm nur dabei zu helfen, seine »Gedanken zu den verschiedenen Gelegenheiten zu sammeln, bei denen Agnes als Frau durchgehen musste« (ebd.: 140), oder zu demonstrieren, wie Menschen »ihre eigenen und wechselseitigen vergangenen Handlungen, gegenwärtigen Situationen und zukünftigen Aussichten rationalisieren« (ebd.: 185). Hätte er sich auf diese Dinge beschränkt, dann wäre sein Bericht nicht mehr gewesen als »eine weitere mit Autorität versehene Version dessen, was ohnehin alle wissen« (ebd.).28 Nein, er zielt, wie bereits gesagt, auf Höheres ab. Ich habe diesen Fall benutzt, um zu zeigen, warum Menschen diese [Rationalisierung] von einander verlangen, und um erneut als soziologisches Phänomen bestätigt zu sehen, dass »die Fähigkeit, gute Gründe anzugeben«, nicht nur von stabilen Routinen im Alltagsleben abhängig ist, sondern auch zu deren Aufrechterhaltung beiträgt, weil [diese Rationalisierungen] aus den Situationen heraus als Merkmale der betreffenden Situationen produziert werden. Agnes’ Fall lehrt uns, wie eng die Verbindung zwischen »Wertestabilität«, »Objektkonstanz«, »Eindrucksmanagement« […] und der unvermeidlichen Arbeit aller Mitglieder der Gesellschaft ist, mit den praktischen Umständen des Lebens zurechtzukommen. Im Hinblick auf dieses Phänomen hat mich bei der Untersuchung von Agnes’ Pas-

28 | Worauf Garfinkel die Behauptung von »einer weiteren mit Autorität versehenen Version dessen, was ohnehin alle wissen«, gründet, bleibt unklar.

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70 | Ethnographie, Kino und Interpretation sing die Frage bewegt, wie […] Mitglieder der Gesellschaft, wenn sie diese nur von innen »kennen«, stabile, nachvollziehbare praktische Aktivitäten – und das heißt: Sozialstrukturen von Alltagsaktivitäten – entwickeln (ebd.: 185).

Garfinkel will jene Soziologen vom Sockel stoßen, die Begriffe wie »Wertestabilität«, »Objektkonstanz« und »Eindrucksmanagement« verwenden, aber es geht noch um mehr – wesentlich mehr. Er möchte aus seinen eigenen textuellen Erfahrungen mit Agnes einen Text produzieren, der gleichzeitig diese ihre Erfahrungen kartiert und eine erklärende Darstellung liefert, wie Mitglieder der Gesellschaft, wenn sie diese nur von innen kennen, jene erklärbaren, nachvollziehbaren Praktiken entwickeln, die ihre Version dessen, was Gesellschaft heißt, ausmachen. Dabei muss er von der Annahme ausgehen, dass sein alltagsvernünftiges Verständnis dessen, was Agnes tat, auch das ihrige ist. Ebenso muss er annehmen, dass der Text, den er verfasst, dieses Verständnis akkurat wiedergibt, damit das, was er gehört und interpretiert hat, dem Text, den er über dieses Verständnis schreibt, so nahe wie möglich kommt. Seine Prämisse lautet also, dass »zwischen der Stimme und der Bedeutung des Seins eine absolute Nähe« besteht (Derrida 1976: 12). Und Garfinkel geht sogar noch weiter: Er nimmt nicht nur an, dass seine Gespräche mit Agnes die Autorität der Präsenz hatten, sondern er beansprucht dieselbe Authentizität auch für seine Interpretation dieser Gespräche. Wie kommt er dazu? Wir haben es mit zwei Schachzügen zu tun, deren ersten ich schon angedeutet habe: Er hat sein Subjekt und seinen Text ödipalisiert und sich auf diese Weise in die Autorität bezüglich der zu erzählenden Geschichte verwandelt. Der zweite Zug war komplizierter und noch radikaler. Garfinkel nahm sich vor, einen selbstreflexiven Text zu schreiben, der nicht nur die Realität beschreiben, sondern »durch ebendiese Beschreibungen aktiv Realitäten schaffen« sollte (Atkinson 1988: 457). Leider haben diese Beschreibungen nur Garfinkels Version von Agnes’ Realität beschrieben, nicht ihre eigene Version. Somit kann Reflexivität hier nur auf den Autor des Textes zurückverweisen. Garfinkel schuf Agnes’ Präsenz in seinem Text dadurch, dass er ihr Begriffsoppositionen aufoktroyierte (zum Beispiel männlich/weiblich, homosexuell/transsexuell). Durch diesen Schachzug entstanden eine Hierarchie (männlich/weiblich, normal/abweichend) und eine ergänzende Ebene (Garfinkels erklärende Darstellungen neben Agnes’ Dementis), wodurch Garfinkels innere Identifizierung mit Agnes’ Position unterlaufen wurde. Man kann es auch mit Arthur Frank sagen: »Die Präsenz des Anderen ist […] nichts anderes als die umgebende Aura von Interpretationen […, die auch] eine Aura interpretativer Unsicherheit ist« (Frank 1985: 107). Dieser Status wird jedoch geschwächt, wenn der Text eine Hierarchie von Interpretation und Supplementarität schafft, wo-

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 71 durch eine Position gegenüber anderen privilegiert wird (vgl. ebd.). Garfinkel ersetzte Agnes’ Text durch seinen eigenen und privilegierte dadurch (s)eine Stimme gegenüber der anderen, obwohl seine Methode gleichzeitig dafür eintritt, dass beide Stimmen identisch sein oder wenigstens auf gleicher Ebene liegen sollten. So unterminierte Garfinkel seinen eigenen Text von innen heraus. Es gelang ihm nicht, eine Realitätsebene zu beschreiben, die tiefer gewesen wäre als das Banal-Alltägliche (vgl. Pollner 1987).29 Trotz aller Bemühungen gelang es ihm nicht, eine problematische und für Agnes urtümlich bedeutsame Welt der Erfahrung zu durchdringen: die Welt ihrer »wilden« Sexualität (vgl. Bataille 1982 [1928], Denzin 1985: 48). Agnes wollte, dass ihre Sexualität und ihr sexuelles Begehren in einem weiblichen Körper enthalten seien. Sie sehnte sich danach, schön zu sein und auf diese Weise jenes Sexualobjekt zu werden, das ihre Kultur normativ zum Vorbild erhob (vgl. Coward 1985: 21 zu Schönheit und Kommodifizierung [Verdinglichung] des weiblichen Körpers). Passing war für sie das Vehikel zum sexuellen Wesen. Sie wünschte die Kastration, um ein Frau sein zu können. Wie kam dieses Scheitern Garfinkels zustande? Zwei gleich noch näher zu erörternde Strategien, die sich darum drehten, wie Garfinkel Agnes als Subjekt konstituierte, waren von kritischer Bedeutung. Agnes’ Fremdheit wirkte auf Garfinkel anziehend, ihre Weiblichkeit nahm ihn gefangen. Und doch konfrontierte er sie bei seinen Versuchen, ihre Homosexualität zu widerlegen, ständig mit den Bildern des männlichen Homosexuellen, des Transsexuellen und des Transvestiten. Er wollte sie von diesen Bildern absetzen, einen Gegensatz schaffen zu jenen Bedeutungen, auf die er in den undefinierbaren Räumen traf, die zwischen 29 | Hier liegt meiner Meinung nach das fundamentale Problem von Garfinkels Projekt; es ist ontologischer, nicht epistemologischer Natur. Seine Theorie des Seins (Ontologie) geht von der Annahme aus, dass Sein und Erscheinung dasselbe seien (Epistemologie) und dass es keine Seinsebene unter oder hinter den Oberflächenerscheinungen gebe. Mit Heidegger gesprochen ist dies die »ontisch-ontologische Differenz«, der Unterschied zwischen Seiendem und Sein. Das Ontische (Seiende) bezieht sich auf die Ebene der Erscheinungen und die damit verbundenen Fakten, während das Sein in urtümliche Tiefen zurückreicht und auf die Bedeutung der Existenz verweist (vgl. Heidegger, Sein und Zeit). Bei Garfinkels Projekt fehlt diese Annahme einer zweiten Ebene, der Seins- oder Existenzebene. Ich hingegen gehe von deren Vorhandensein aus. Wenn ich sage, Garfinkel habe seinen Text von innen heraus unterminiert, so meine ich, dass seine Interpretations- und Darstellungsmethode im Einklang mit seiner ontologischen Position verhindert hat, dass ihm eine andere Bedeutungsschicht von Agnes’ Erfahrungen bewusst wurde – auch wenn Garfinkel selbst das Gegenteil behauptet.

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72 | Ethnographie, Kino und Interpretation diesen beiden Arten »abweichender« Sexualität liegen. Er drängte Agnes bisweilen sogar, diese Bilder zu akzeptieren, denn dort, in diesem Bereich, wollte er sie eigentlich haben. Wäre sie nämlich ein Homosexueller, ein Transsexueller oder ein Transvestit gewesen, dann hätte ihr Passing sogar noch mehr Sinn ergeben. Garfinkels strukturelle Oppositionen (männlich/weiblich) machten ihn blind für Agnes’ eigene Bindung an, ihr eigenes Streben nach einer weiblichen Identität. Agnes war kein Zwischenwesen, auch ihr Liebhaber nicht, selbst wenn Garfinkel andeutete, er könnte es gewesen sein (etwa mit der Formulierung von den »schicken Manieren«; vgl. oben, Fußn. 24).

Gerichtsmediziner und Töpfer – zwei unterschiedliche Strategien Garfinkel verwechselte in seiner Analyse des Falles Agnes zwei gegensätzliche Strategien, die sich mit »Probleme eines Gerichtsmediziners« und »Schaffensweise eines Töpfers« umschreiben lassen – im einen Fall geht es um die Kategorisierung einer vorgefundenen Einheit, im anderen um die Gestaltung einer im Entstehen begriffenen Einheit (vgl. Garfinkel/Lynch/Livingston 1981: 136f.). Der Gerichtsmediziner beginnt mit der Leiche und arbeitet sich, wenn er versucht, die Todesursache zu bestimmen, rückwärts in die Vergangenheit vor. Der Töpfer hingegen nimmt ein Objekt und formt es in einem zukunftsoffenen Prozess zu einem kulturellen Objekt; er gibt dem Gegenstand, wenn dieser im Produktionsprozess seine äußere Gestalt gewinnt, einen Sinn. Der Töpfer/die Töpferin erschafft sein/ihr Objekt in einem »ersten Durchgang«, denn der Gegenstand wird so, wie sein Schöpfer ihn konstituiert. Der Gerichtsmediziner indes geht bei seiner Arbeit rückwärts in der Zeit, wobei für ihn die »Relevanz des ersten Durchgangs« keine Rolle mehr spielt (ebd.: 134). Schließlich ist das Objekt bereits geschaffen, wenn er mit seiner Arbeit beginnt. Garfinkel sah sich im Fall Agnes in der Rolle des Gerichtsmediziners; für ihn war in erster Linie Agnes’ Passing eine zu erklärende Tatsache. Er arbeitete sich, ausgehend von seinen Anfangsinteraktionen mit ihr, rückwärts bis zum Zeitpunkt ihres »Coming out« (zwei Jahre vor der Operation) in ihre Vergangenheit vor. Doch anders als eine Leiche hatte Agnes ein Verlangen und eine Absicht – nämlich die, Garfinkel zu manipulieren, ihn in die Irre zu führen. Wie ihre spätere Unterhaltung mit Stoller enthüllte, stellte sie sich absichtlich (und irreführend) so dar, als habe sie immer als Frau empfunden und gehandelt, so dass es auch keinen späteren Ausgangspunkt für ihren Identitätswechsel gab. Wie eine Töpferin gestaltete Agnes ihre sexuelle Identität durch ihre eigenen Interaktionen mit sich selbst, ihrem Körper und ihrer Beobachtung anderer. Jetzt benötigte sie nur noch Stoller (und Garfinkel), um den

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 73 letzten »Schöpfungsakt« zu vollenden. Weil sie die Lebensgeschichte und damit auch die Natur nicht hatte, die sie angeblich besaß, war sie niemals diejenige, die sie zu sein behauptete. Garfinkel wurde düpiert und ließ sich in die Rolle eines Gerichtsmediziners drängen, indem er sie so behandelte, wie jener mit einer Leiche umgeht.30 Weil er auf diese Weise blind war, konnte Garfinkel auch nicht den sexuellen Subtext erfassen, der sich durch seine Analysen zieht. Kastration, der Penis, die Vagina – sie waren für Agnes mehr als nur sexuelle Signifikanten, mehr als Symbole der Sexualität. Der Penis war ein konkretes Organ, das sie loswerden wollte; die Kastration war der Weg zur Erreichung dieses Zieles. Sie wünschte sich eine tiefe Vagina (wenigstens 13 Zentimeter tief), die keinerlei Verdacht erregte (vgl. Garfinkel 1967: 287). Genau in jenem Augenblick, da Garfinkel ihre Welt der Weiblichkeit hätte durchdringen können, wandte er sich von der Frage der Sexualität ab und jenen alltäglichen Berichten und Erklärungen zu, die es ihm gestatteten, jenen Text zu verfassen, den er schließlich schrieb. Gerechtfertigt war sein Rückzug an diesem Punkt dadurch, dass er der Meinung anhing, Weiblichkeit (und Männlichkeit) seien sozial definierte Ingredienzien, die dem biologischen Geschlecht hinzugefügt würden (vgl. Garfinkel 1967: 116f., 122-124, Mitchell 1982: 2). Garfinkel erzählt, wie jemand lernt, dem biologischen Geschlecht die sozial definierte weibliche Geschlechtsrolle hinzuzufügen, aber er zeigt nicht, wie das biologische Geschlecht sexuell ausgelebt wird. Sexualität ist nicht dasselbe wie Geschlecht oder Geschlechtsrolle. Weil Garfinkel Geschlecht und sexuelle Identität vermischt, ohne deren Interaktion zu analysieren, gelingt es ihm nicht, Agnes’ seltsame sexuelle Geschichte zu erzählen.

30 | Tatsächlich hat Garfinkels Text paradoxerweise den Anschein eines »Töpferobjekts«, weil er fortwährend nach Hinweisen und Gründen sucht, um erklären zu können, wie sie lernte, als Frau durchzugehen. Er schuf sich dabei seine Agnes so, wie ein Töpfer eine Vase oder ein Tongefäß formt.

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Agnes’ seltsame sexuelle Geschichte31 Agnes verstand, dass Sexualität über bestimmte, biologisch vorgeschriebene (oder geächtete) Genitalien hinausgeht, diese Organe aber gleichwohl erfordert. Sie begehrte, als ein sexuelles Wesen zu leben, das vollständig weiblich war und keine kontaminierenden Spuren von »Männlichkeit« mehr enthielt. Sie erstrebte die Kastration und verstand (mit Freud), dass das Vorhandensein oder Fehlen eines Phallus die Unterschiede zwischen den Geschlechtern ausmachte. Doch anders als Freud wollte sie ihren Penis loswerden, hatte sie keine Kastrationsangst.32 Darüber hinaus war – anders als bei Freuds Sicht der Frau – Agnes’ Version der Kastration nicht symbolisch, sondern real. Sie wollte eine Frau sein und sah ihren Penis als Betrug an (vgl. Rose 1982: 40). Indem sie ihren Penis zurückwies und so alle männlichen Privilegien aufgab, begab sie sich per Willensakt auf das Terrain der Frau und wartete sehnsüchtig auf den Tag, da sie ihre Operation bekam und eine »richtige« Frau werden konnte. Wie Lacan (vgl. Mitchell 1982: 19) verstand auch Agnes, dass der »Kastrationskomplex das Beispiel für die Humanisierung des Kindes in seinen sexuellen Unterschieden« ist, auch wenn Agnes kein Kind mehr war, als sie sich um die Operation bemühte. Indem sie sich weigerte, ihrer biologisch vorgegebene Identität zu akzeptieren, wies sie auch die Bilder zurück, die von ihrer Mutter und anderen weiblichen Verwandten auf sie zurückprojiziert wurden; sie insistierten, dass sie männlich sei.33 Aus demselben Grund wies sie Garfinkels Vorschlag zurück, sie könnte 31 | Ich wende mich jetzt einer anderen narrativen Version von Agnes’ Geschichte zu. Ich nehme den psychoanalytischen Subtext, auf den ich oben bereits hingewiesen habe, ernst, folge aber gleichwohl nicht Stollers Text, der ihre Geschichte mithilfe eines anderen psychoanalytischen Subtextes erklärt. Stollers Subtext basiert auf dem Erklärungsmodell, dass Agnes zu viel Kontakt mit dem Körper ihrer Mutter gehabt und überdies einen Vater gehabt habe, der im psychischen Sinne abwesend war (vgl. Stoller 1974: 138).

32 | In diesem Punkt weicht Stoller von Freud und von Agnes ab: »Wenn Freud eine Frau ohne Vagina als Patientin gehabt hätte, hätte er, wie ich meine, gesehen, dass das Einzige, was sich eine Frau noch mehr wünscht als einen Penis, eine Vagina ist. Erst wenn eine Frau über eine normale Genitalausstattung verfügt, kann sie sich den Luxus leisten, sich lieber einen Penis zu wünschen« (Stoller 1974: 51).

33 | Sie weigerte sich ebenfalls, Garfinkel irgendetwas über ihre Beziehung zu ihrer Mutter zu erzählen (vgl. Garfinkel 1967: 163). Stoller (1974: 137) bringt an diesem Punkt eine Ambiguität ins Spiel: Die Mutter kleidete Agnes, als sie noch ein kleiner Junge war, wie ein Mädchen.

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 75 homosexuell sein. In Lacans Sinne wies Agnes ihre Mutter zurück, weil diese ihren Phallus zurückwies – und damit auch die männliche Identität, die für Agnes mit diesem Phallus verbunden war. Sie verweigerte die ödipale Beziehung zu ihrer Mutter, so wie sie auch ihrem Bruder kein Bruder sein wollte (vgl. Garfinkel 1967: 150). Agnes begehrte etwas jenseits ihrer Mutter und auch etwas jenseits des Phallus. Indem sie der patriarchalischen Metapher den Rücken kehrte (vgl. Rose 1982: 38), strebte sie nach einem sexuellen Körper, der es ihr gestatten würde, noch über ihren fehlenden Vater und ihre beiseite gedrängte Mutter hinauszugehen. Sie erstrebte eine sexuelle Seinsweise, die auch die »wilde« Sexualität, die ihr im Kopf herumspukte, enthielt. Sie wollte Geschlechtsverkehr haben (vgl. ebd.: 162), Liebhaberin sein (vgl. ebd.: 157) und sich von Männern lieben lassen (vgl. ebd.: 287).

Die Vagina Um eine solche Person werden zu können, benötigte Agnes eine aus der Haut ihres abgeschnittenen Penis modellierte Vagina (vgl. ebd.: 286). Eine große Plastikform in der Größe eines Penis, die bei Sitzbädern aus dieser Scheide genommen werden musste, um den Heilungsprozess zu fördern, wurde anschließend wieder in die Vaginalpassage eingeführt, um dem neuen Genitalkanal die gewünschte Tiefe zu verschaffen. Nachdem Agnes ihr persönliches transzendentales Kennzeichen männlicher Sexualität eingebüßt hatte, wurde sie zu einem Wesen, das sich, bildlich gesprochen, mit seinem männlichen Samen selbst inseminiert hatte. Die nun aus dem alten Penis geschaffene Vagina wurde zu einem – so Derrida in Dissemination – gefalteten Raum, der »stets intakt bleibt, obwohl er ständig vergewaltigt wird, […] stets durch seine Faltung, die auch eine Öffnung ist, (durch die) der Samen der Bedeutung verströmt wird, eine passende Ergänzung bietend« (Derrida 1981a: 260; vgl. Spivak 1976: lxvi). Agnes schuf sich ihre eigene sexuelle Vereinigung, eine Vereinigung, die ständig aufgeschoben wurde, bis sie sich schließlich in den Armen eines Mannes fand, der sie so liebte, wie sie sich den Liebesakt immer schon vorgestellt hatte. Sie faltete sich in sich selbst hinein; ihre Kastration war eine notwendige Negation auf dem Weg zur vollständigen sexuellen Identität. Agnes’ Identität als Frau bestimmte sich für sie durch den präsenten (und doch abwesenden) Phallus, der zu ihrer Vagina wurde. Sie verstand, dass »die anatomische Differenz letztlich [nur] die sexuelle Differenz symbolisch darstellt« (Rose 1982: 42) und dass ihr Phallus nur ein Symbol dessen war, was sie nicht war. Sie nahm einen weiblichen Standpunkt auch hinsichtlich der Sprache ein und wies alle männlichen Signifikanten zurück, die man auf sie hätte anwenden können; sie verweigerte

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76 | Ethnographie, Kino und Interpretation Garfinkel jegliche Gespräche, die den Keim der Männlichkeit in sich getragen hätten. Als hätte sie Lacan gelesen (vgl. Rose 1982: 43), wusste sie, dass ihre weibliche Sexualität ins Reich der Maskerade gehörte, gerade »weil sie mit Verweis auf das männliche Zeichen konstruiert« wurde (ebd.). Auf einer tieferen Ebene strebte sie danach, die Welt der aktiven Sexualität zu betreten, in der sie wirklich eine Frau sein konnte. Auf dem Weg dorthin musste sie die männlichen Signifikanten besiegen, die ihre Welt zu dominieren drohten. In dieser Hinsicht reihte sie sich, wenn Lacan Recht hat, in die Gesamtheit der Frauen ein und lebte ihre Sexualität im Zeichen des Männlichen und des Patriarchats aus. Damit sie ihr Ziel erreichen konnte und eine kostenlose Operation bekam, musste sie sich für Forschungszwecke zur Verfügung stellen (vgl. Garfinkel 1967: 161) und sich von Garfinkel und Stoller interviewen lassen. In diesen Interviews übte sich auch Garfinkel in Grenzüberschreitungen (Passing); er brachte mit Agnes wissenschaftliche Ergebnisse in Verbindung, von denen er nicht sicher wusste, ob sie nicht unhaltbar waren, ob er ihr nicht vielleicht »einen Bären aufbinden« würde (ebd.: 164). Bedenkt man das Wortspiel im englischen Original (»cockand-bull story«),34 so könnte man fast sagen, dass Agnes ihm eine »bull-and-cock story« erzählen musste, um zu bekommen, was sie wollte. In diesen Aktionen weist Agnes’ Geschichte eine emblematische Tragik auf: Sie offenbart, wie weit Frauen gehen müssen, um in dieser Kultur Frauen sein zu können. Werden sie in der falschen Gestalt geboren, so müssen sie sich der Herrschaft von Männern unterwerfen, die ihre Körper für sie verändern sollen – selbst wenn diese Männer dann Geschichten verfassen, in denen von Frauen als seltsamen »Verirrungen der Natur« (Garfinkel 1967: 124) erzählt wird, die kommen und bitten, zu genau dem gemacht zu werden, was die Kultur von ihnen fordert. So verwundert es nicht, dass Agnes in ihren Interviews mit Garfinkel so zurückhaltend und verschlossen war (vgl. ebd.: 152), dass sie selbst in fast 70-stündigen Befragungen Garfinkel und Stoller keinerlei Informationen zu den folgenden kritischen sieben Bereichen ihrer Lebensgeschichte gab: 1) ob sie eine exogene Hormonquelle eingesetzt habe; 2) worin das Wesen des Zusammenspiels zwischen ihrer Mutter und ihr bestand; 3) ihre männlichen Gefühle und ihre männliche Biographie; 4) was sie mit ihrem Penis außer Urinieren noch angestellt hatte; 5) wie sie sich und ihren Freund sexuell befriedigt hatte; 6) ihre homosexuellen Gefühle, Ängste, Gedanken und Aktivitäten; und 7) ihre Gefühle bezüg-

34 | Cock bedeutet im Englischen auch »Penis«, bull (oder bullshit) »Schwachsinn«; eine cock-and-bull story ist eine »Lügengeschichte« (A.d.Ü.).

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 77 lich ihrer »Frauenheuchlelei« (»phony female«, ebd.: 163). Warum hätte sie diese Fragen auch beantworten sollen? Die Tatsache, dass diese Fragen überhaupt gestellt wurden, enthüllt, warum Agnes sie nicht beantwortete. Sie hatte ihre weibliche Sexualität als solche vollkommen und vollständig akzeptiert. Sie hatte sich den symbolischen, imaginären und realen Welten der Weiblichkeit bereits unterworfen, die ihr Körper und ihre Kultur ihr verweigert hatten. Sie hatte wegen ihres Begehrens bereits beträchtliche Verunglimpfungen erleiden müssen. Und nun wurde sie (durch Garfinkel) abermals zu einem Subjekt transformiert, das außerhalb ihres Körpers und ihrer ersehnten Sexualität lag. Sie rächte sich gewissermaßen an den männlichen Repräsentanten dieser patriarchalischen Kultur, indem sie die ihr zugewiesene wissenschaftliche Subjektivität verweigerte. Sie setzte ihre Weiblichkeit gegen die Wissenschaft ein, bis sie von der Wissenschaft bekam, was sie am allermeisten begehrte. Dabei schuf Agnes ihren eigenen Text, den Garfinkel nicht durchdringen konnte. Man stelle sich mit Derrida eine Hand vor, »die auf der Oberfläche des Wunderblocks schreibt, während eine andere von Zeit zu Zeit dessen Deckblatt von der Wachstafel abhebt«35 und etwas über die sich bereits bewegende Hand schreibt. Dieses Bild vermittelt eine treffende Vorstellung davon, dass ein Text etwas ist, das in ständiger Bewegung ist, etwas, das sich im weiteren Verlauf immer wieder neu konstituiert und auflöst. Dieser Text wartet wie Agnes’ Körper stets darauf, durch Interpretation, durch die (Dis)semination der Feder des Autors, verletzt zu werden. Die Dissemination (»Besamung«) – den männlichen Akt – hat sich Agnes immer schon im Voraus zu Eigen gemacht, wenn sie den Samen im Vorgriff auf Penetration und Interpretation fallen lässt. Jedes Mal, wenn der Text ihres Körpers penetriert wird, wendet sie sich ab und verstummt. Sie will nicht Garfinkels Subjekt werden; sie weigert sich, verfügbares Objekt für die wissenschaftliche Penetration zu sein. Der von ihr erweckte Anschein zugänglicher Abhängigkeit war eine voraushandelnde Manipulation – typisch für alle schlauen Untergebenen, die

35 | Derrida bei Spivak 1976: lxvi. [Es handelt sich um ein Zitat aus Derrida 1978 (Writing and Difference, Kap. 7: »Freud and the Scene of Writing«; dt. »Freud und der Schauplatz der Schrift«; urspr. »Freud et la scène de l’écriture«, 1967). Hier bezieht sich Derrida auf Freuds Aufsatz »Notiz über den Wunderblock« (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 11 [1925], S. 1-5). Der »Wunderblock«, heute meist »Zaubertafel« genannt, ist ein beliebtes Kinderspielzeug. Durch Anheben der oberen Folie kann man das zuvor auf der darunter liegenden Wachsmatrize Geschriebene wieder löschen. Für Freud symbolisiert der Wunderblock Erinnerungsspuren und Bewusstseinsschichten. (A.d.Ü.)]

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78 | Ethnographie, Kino und Interpretation wissen, wie sie mit ihren Vorgesetzten umgehen müssen. Darin war Agnes auch »typisch weiblich«, allerdings genau entgegengesetzt der Definition durch Garfinkel und das Patriarchat. Sie wurde zur Frau gegen die Männer. In ihrer Geschichte liegt der Kern einer mächtigen Herausforderung von Garfinkels Text – und des Modells von Wissenschaft, auf dem dieser Text basiert. Agnes weigerte sich, sich ödipalisieren zu lassen. Mit ihrem Widerstand bezog sie Position gegen jegliche Methode, die ihre Lebensgeschichte in den Kontext einer konventionellen patriarchalischen wissenschaftlichen Erzählung einbetten wollte – auch gegen die ethnomethodologische Erzählung.

Drei Ebenen der Darstellung Die situierte Entdeckung Agnes’ lässt sich mit einem Engagement für die – oben bereits kritisierte – essentialistische Metaphysik der Präsenz nicht vereinbaren. Findet diese Metaphysik ihren Weg in einen Text, so verleiht sie dem Subjekt eine Präsenz, die fest und unumstößlich erscheint. Doch geraten solche Präsenzen überhaupt nur in den Text, weil Analytiker danach gesucht und weil Subjekte zugelassen haben, dass sie so dargestellt wurden. Die Geschichte von Agnes zeigt die Notwendigkeit, eine Unterscheidung zwischen vier Versionen oder Ebenen des Subjekts und der Erfahrung aufrechtzuerhalten, die ich als weltlich (aus Fleisch und Blut), empirisch, analytisch und textuell bezeichne.36 Das weltliche Subjekt aus Fleisch und Blut bewohnt in einem historischen Augenblick einen Raum; es ist universal singulär (vgl. Sartre 1981: x) und bringt in seiner Lebenszeit tief gefühlte Emotionen zum Ausdruck, die sich in einem Text vielleicht nicht erfassen und darstellen lassen. Das empirische Subjekt Agnes beschreibt ihre bedeutsamen Erfahrungen in ihren eigenen Worten. Es handelt sich um jene Agnes, die Garfinkel sagte: »Ich bin immer eine Frau gewesen« und dann fortfuhr zu schildern, wie sie zu kochen oder sich als Frau zu kleiden lernte. Das analytische Subjekt ist die Konstruktion des Soziologen (und Ethnomethodologen), die Konstruktion eines Subjekts als sozialer Typus (etwa als intersexuelle Person). Das analytische Subjekt ist ein Idealtypus (vgl. Schütz 1967 [1932]), das Konstrukt eines Konstrukts – ein Konstrukt zweiter Ordnung, welches das empirische Subjekt und dessen Erfahrungen überlagert. 36 | Alternativ hat das Subjekt zwei generische Versionen: eine weltliche (aus Fleisch und Blut)/empirische und eine analytische/textuelle. Das analytische/textuelle Subjekt lässt sich noch dreifach weiter untergliedern: in textuelle Darstellungen erster und zweiter Ordnung und analytische Textualität. Mehr dazu im Folgenden.

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 79 Das textuelle Subjekt schließlich ist eine dreifache Konstruktion. Als Agnes zu Stoller zurückkommt und darum bittet, ihre Vagina auf deren volle Funktionsfähigkeit, auf deren »Authentizität« hin zu untersuchen, benutzt sie den medizinischen Text, um ihren lebendigen Körper und dessen gelebte Erfahrungen zu beschreiben. Wenn ein Subjekt seine Erfahrungen in einem und durch einen Text zweiter Ordnung beschreibt, den ein Soziologe erstellt hat, dann kommt es zu einer empirischen textuellen Darstellung zweiter Ordnung. Wenn die Erfahrungen eines Subjekts in wörtlicher Rede direkt, das heißt ohne redaktionelle Bearbeitung oder Interpretation, in den Text gerückt werden, kommt eine empirische textuelle Darstellung erster Ordnung zustande. Wenn der Soziologe/ die Soziologin die Erfahrungen des Subjekts in seiner/ihrer Sprache neu schreibt und Darstellungen dieser Erfahrungen in einen Text einfügt, resultiert daraus eine weitere Ebene textueller Darstellung, die als analytische Textualität zu bezeichnen ist. Hier schreibt der Soziologe die Erfahrungen des Subjekts im Sinne des gerade analysierten Idealtypus um. Selbst ein Text, in dem es anscheinend nur eine einzige Stimme gibt, ist ein Ort, an dem diese verschiedenen Formen des Subjekts und seiner Darstellung interagieren, wenngleich manchmal nur stillschweigend und subtextuell. Wenn eine Stimme spricht, ersetzt sie eine andere, selbst wenn sie noch Spuren des Verdrängten und Ersetzten aufweist. Darum lässt sich auch Garfinkel nicht vollständig von Agnes trennen. Teilweise indes kann man die beiden schon entflechten; und wenn dies möglich ist, bleibt, wie oben festgestellt, ein analytischer Text über ein analytisches Subjekt übrig. Interpretative Ethnographien wie die Garfinkels wurden und werden traditionell nach der Devise eines »umgekehrten Orientalismus« (vgl. Said 1978) verfasst; dabei wird empirischen Darstellungen zweiter Ordnung und der analytischen Textualität ein Privileg gegenüber textuellen Darstellungen erster Ordnung eingeräumt. Ebenfalls schon erwähnt wurde, dass dies den Blick des Forschers privilegiert. Agnes indes wies Garfinkels ethnomethodologischen Blick genauso zurück wie Stollers medizinisch-psychoanalytischen Blick. Sie hielt sich aus diesen Diskurssystemen heraus und verschloss sich beiden Autoren innerlich, auch wenn sie ihnen dabei half, eine Geschichte zu verfassen, die den wissenschaftlichen Zwecken der Autoren diente. Gleichwohl bleibt ihre Geschichte, wie auch ihre Sexualität, in ihrem Besitz, denn indem sie in der von ihr begehrten Art und Weise sexuell wurde, transzendierte sie Geschlecht, Ethnomethodologie und Psychoanalyse. Es ist also erforderlich, den sozialen Text konzeptuell neu zu fassen (vgl. Brown 1987). Die traditionellen Trennungen zwischen Autor, Subjekt und Text lassen sich nicht länger aufrechterhalten. Ebenso müssen Forscher die Position aufgeben, Erfahrung könne direkt dargestellt werden. Sie lässt sich nur in Spuren und nachträglich oder indirekt

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80 | Ethnographie, Kino und Interpretation wiedergeben, sei es dass das Subjekt eine Erfahrung ausspricht, die bereits textuell gefasst ist, oder dass der Soziologe einen analytischen Text verfasst. Und weil das so ist, kehren wir zu Derridas Behauptung zurück, es gebe »nur den Text«, und zu Garfinkels Argument, es gehe letztlich darum, wie ein nachvollziehbarer Text produziert werden könne, damit der Leser glaubt, dass das Geschriebene eine Erklärung von etwas tatsächlich Geschehenem sei – wobei allerdings niemals aus dem Blick verloren werden dürfe, dass, was geschieht, der Text ist.37 Wenn wir diese Position als Ausgangspunkt nehmen und verstehen, dass es in einem Text niemals einen Nullpunkt geben kann (vgl. Barthes 1977: 31-61), dann werden wir immer auf dem Weg zu einer Dekonstruktion des Textes sein und zeigen, wie gerade die Konstruktionen des Textes die Illusion aufrechterhalten, es seien reale oder analytische Subjekte entdeckt und analysiert worden. In dieser dekonstruktivistischen Aktion zeigen wir, wie die Textualität den Gegenstand, der unseren postmodernen Herzen so lieb und teuer ist, hervorbringt. Dieses dekonstruktivistische Projekt versucht, jene Logik der Erzählung zu entwirren, die das konventionelle, interpretierende soziologische Schreiben unterstützt und ermöglicht.38 Verfasst werden solche Darstellungen stets zu einem realen Zeitpunkt (im Falle von Garfinkels Geschichte begann die Abfassung im November 1958) und in einem realen Raum (dem medizinischen Zentrum der UCLA). Sie begrenzen die geschilderte Erfahrung stets auf einen speziellen Zeitpunkt und einen speziellen Ort, wo eine spezifische Gruppe von Akteuren interagierte (in diesem Fall Agnes, Stoller, Garfinkel und einige andere). Dieser Schachzug schafft die Illusion, dass die Erfahrung sich auf diese Weise fassen und erfassen lasse. Der Text, der geschrieben wird, geht von einer inszenierten Welt aus, einer Welt, die nicht nur weitergeht und sich selbst genügt, sondern die in sich auch alles enthält, was sie zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung braucht. In dieser Welt wird Kausalität zur Zeitlichkeit, weil sich die Ereignisse in einer logischen, zeitlichen Ordnung entfalten (Anfang, Mitte und Ende) – einer Ordnung, die sich in eine Erzählung fassen lässt. Dieses Erzählen erfordert einen Erzähler, der die 37 | Auch diese Position ist allerdings, wenn man meine oben angeführten Argumente bedenkt, anfechtbar, weil solche Texte auch Darstellungen von Dingen produzieren können, die faktisch vielleicht gar nicht geschehen sind.

38 | Auch meine eigene Position kann natürlich dekonstruiert werden, weil ich hinsichtlich Garfinkels Text eine privilegierte Position eingenommen habe. Wie ich dabei vorgegangen bin, kann rückgängig gemacht werden; und wenn dies geschieht, lässt sich auch zeigen, dass ich mich vor allem darauf verlegt habe, Agnes’ Sexualität herauszuarbeiten und eine Ebene ihrer Existenz zu konstruieren, die Garfinkels Blick entgangen war.

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Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion | 81 erzählten Ereignisse in eine aus sich selbst verständliche Geschichte einbinden kann, in der nichts unerklärt bleibt. Diese Strategie schafft eine Teleologie – die jedoch eine Vortäuschung ist, weil sie besagt, dass es in dieser Welt keine Zufälle gibt; alles ist vernünftig und kann sinnvoll erklärt werden. Der Text ist ein in sich geschlossenes Sicherheitssystem (vgl. Barthes 1977: 46). Diese narrative Form, Bestandteil des modernen, aber nicht des postmodernen Romans, strukturiert auch die Ethnographie und das ethnomethodologische Schreiben. Sie stützt die Illusion eines wiss- und erkennbaren Universums, in dem kundige schreibende Wissenschaftler dem Alltäglichen ebenso wie dem aus der Norm Fallenden einen Sinn geben. Dieser Mythos funktioniert so, dass er immer aufs Neue die Vorstellung reproduziert, in soziologischen Texten sei die Realität eingefangen. Ich vertrete jedoch die These, dass es eine »wilde«, ungebändigte, unfassbare, weltliche Fleisch-und-Blut-Version des Subjekts gibt, die sich der narrativen Erfassung kontinuierlich entzieht. Es ist dies, was Heidegger das Dasein nennt – eine Existenz, die unter den Oberflächenerscheinungen lebt, die sich dem Alltagsleben entgegenstellt und die mit dem Seienden, mit Sexualität, Emotionalität, Tod und Existenz ringt. Die sexuelle Agnes konnte mit Garfinkels Netz nicht eingefangen werden; ihr sexuelles Sein und ihre Sexualität blieben unerklärt. Dass es nicht gelang, diese Version von Agnes zu fassen, ist die Erklärung für die Lücken in Garfinkels Text – und für die Art und Weise, wie sie ihre absichtliche Täuschung durchführte und damit durchkam. Eine Ebene des Subjekts muss somit außerhalb eines jeden Textes bleiben oder neben ihm herlaufen. Kein Darstellungssystem kann jemals die eigenen Vorannahmen oder seine Anwendungsmöglichkeiten erschöpfend darstellen. Und so sollte es auch sein, weil die Textualität unserer Subjekte (und dessen, was ihnen wichtig ist) die äußeren Grenzen unserer Untersuchungen definieren sollte. Das heißt, es wird immer alternative Versionen des Subjekts geben, die niemals in unseren Erzählungen enthalten sind. Damit wären wir wieder am Ausgangspunkt des Beitrags angelangt. Harold und Agnes sind ein und dieselbe Person. In Garfinkels als Geschichte gefasster Version von Agnes’ Passing treffen wir auf eine soziologische Darstellung, die uns die Fragilität dieses ganzen Interpretationsprojekts zeigt. Es besteht also keine Notwendigkeit, zwischen Harold und Agnes zu trennen, weil sie eine Kreatur seiner ethnomethodologischen Imagination ist. Garfinkels textuelle Erschaffung von Agnes zeigt, dass und wie sie und er, beide erfahrene Mitglieder der Gesellschaft, in der Lage waren, Erklärungen und Darstellungen zu liefern, die für etwas Anderes durchgingen. Und um dieses Andere, um diesen Subtext, ging es in meiner ganzen Erörterung. Die Texte, die wir Soziologen schreiben, bewirken einen Unterschied, erzeugen eine Differenz

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82 | Ethnographie, Kino und Interpretation – Differenzen, die oftmals Auswirkungen auf das Leben von »realen« Menschen aus Fleisch und Blut haben.

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Die Geburt der Kinogesellschaft

Fast alle Wissenschaften verdanken Dilettanten irgend etwas, oft sehr wertvolle Gesichtspunkte. Aber der Dilettantismus als Prinzip der Wissenschaft wäre das Ende. Wer »Schau« wünscht, gehe ins Lichtspiel; sie wird ihm heute massenhaft auch in literarischer Form auf eben diesem Problemfeld geboten. Nichts liegt den überaus nüchternen Darlegungen dieser der Absicht nach streng empirischen Studien ferner als diese Gesinnung. Max Weber, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, »Vorbemerkung«1 Alle großen und ungewöhnlichen Männer und Frauen marschieren früher oder später durch die Linse der Tonfilmkamera, um vor allen Völkern der Erde zu erscheinen und zu sprechen. Dank der Filmindustrie kann jeder Mensch überall einer jeden lebenden Person von Interesse und Bedeutung irgendwann von Angesicht zu Angesicht begegnen. Will H. Hays (zitiert bei Davis 1976: 67) So reproduziert das mechanische Auge das nackte Auge und wird dabei ein »horchender Blick und ein sprechender Blick […] – ein Augenblick des Gleichgewichts zwischen dem Wort, [dem Sehen] und dem Schauspiel«. Michel Foucault, Die Geburt der Klinik (dt. 1973: 129)

In einem Zeitraum von dreißig Jahren wurde das Kino zwischen 1900 und 1930 zum integralen Bestandteil der amerikanischen Gesellschaft. Ins Kino zu gehen wurde für die Mehrheit der Amerikaner zur wöchentlichen Freizeitbeschäftigung. Regelmäßig wurden amerikanische Filme 1 | Ich danke Patricia T. Clough für den Hinweis auf dieses Weber-Zitat.

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90 | Ethnographie, Kino und Interpretation nach Europa exportiert. Kinos und Filme wurden zur nationalen Institution, Hollywood-Stars zu persönlichen Idolen. Es bildeten sich Fanclubs, und ein Kino mit Leuchtreklame über dem Eingang wurde zum festen Bestandteil praktisch aller amerikanischen Gemeinden. Es entstand eine neue visuelle Bildung. Die Amerikaner lernten, hinzuschauen und Dinge zu sehen, die sie zuvor nicht gesehen hatten.2 Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Kinos auf die noch jungen Industriegesellschaften und seine Bedeutung für die Sozialtheorie wurden weitestgehend ignoriert. Oder sie wurden von den großen klassischen Gesellschaftstheoretikern verächtlich heruntergespielt – wie sich exemplarisch im obigen Zitat von Max Weber zeigen lässt. Allein die amerikanischen Pragmatisten beachteten diese neue Industrie und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.3 Wie ihr deutsches Gegenstück in den 1930er Jahren, die Frankfurter Schule, und wie in den 1950er Jahren C. Wright Mills betrachteten sie die Kinowelt jedoch mit Ekel und Verachtung (dazu unten mehr; vgl. auch Denzin 1991, Kapitel 8). Hollywoods bewegte Bilder führten in die amerikanische Zivilgesellschaft ein neues »skopisches Regime« ein, eine Art Zeichenregime von Sichtweisen und Sehgewohnheiten, welches anfangs das Visuelle gegenüber dem Auralen privilegierte (vgl. Jay 1988: 3). Diese visuelle Kultur ließ die Stimme des anderen verstummen und produzierte im Stummfilm einen Verlust der Dimension des Hörens; das Bild wurde gegenüber dem Ton privilegiert. Doch schnell verkehrte sich dieser Verlust der Stimme ins Gegenteil, als sich das Panoptische mit dem Panauditorischen vermischte – die Totalität des Sehens mit der Totalität des Hörens. Die Kino- und Überwachungsgesellschaft wurde bald zu einer disziplinarischen Struktur, in der es von Subjekten wimmelte, die sich als Voyeure gegenseitig obsessiv beobachteten und anstarrten, während sie zugleich obsessive Zuhörer und Lauscher wurden – Personen, deren Stimmen und Telefonleitungen angezapft werden konnten, Stimmen, die synchronisiert werden konnten, neue Formen des gesprochenen und gesehenen Selbst.4 Es wurde eine gewisse Ver-rücktheit von Bild und Ton, von Sehen und Hören geschaffen (Jay 1988: 19), eine komplexe neue 2 | In Marshall McLuhans Terminologie lernten die Amerikaner, sich zu einem »heißen« Medium in Beziehung zu setzen, einem Medium mit hoher visueller Prominenz, welches die Bedeutung einer Botschaft durch die Art und Weise definiert, wie ein Bild oder eine Bilderfolge verändert wird. Dabei verlagert sich das innere Engagement des Betrachters angeblich von der Bedeutung zum Effekt, von der Wahrheit zur Eindruckssteuerung.

3 | Vgl. Cooley 1902/1922/1956, Cooley 1909/1956, Mead 1926/1964, Park 1926/1967, Blumer 1933.

4 | Diese Formulierung verdanke ich Aviad E. Raz.

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 91 Sehkultur, eine Augenkultur, die auf einem allumfassenden Blick basierte – eine Kultur, der aus jedem Individuum einen Überwachungsagenten für den Staat, für das Selbst und den anderen machte. Das amerikanische Kino schuf den Raum für eine bestimmte Art öffentlichen kommunalen Stadtlebens. In den neuen Kinopalästen begaben sich die Amerikaner in den Bereich der Öffentlichkeit, allerdings in einen in sich geschlossenen Bereich, in dem das Öffentliche durch die Dunkelheit im Theater privat wurde. Hier, an diesen dunklen Orten, wurde ein Art Bachtinscher Karneval aufgeführt (vgl. Bachtin 1968, Stam 1989, Stam 1991). Hier wurden utopische Geschichten, politische Phantasien und mythische Erzählungen erzählt, die die zersetzenden Folgen und Merkmale eines an Rassen- und Geschlechtszugehörigkeit ausgerichteten, erdrückenden Sozialschichtungssystems in den Vereinigten Staaten effektiv beseitigten. Denn die in diesen Geschichten enthaltenen utopischen Phantasien stellten im Kern »die Erfüllung jener Wunschzustände dar, die im Status quo noch nicht gegeben waren« (Stam 1989: 224) – ein emotional harmonisches Geschlechtsrollen- und Rassensystem, das rassische und ethnische Unterschiede in den emotionalen Kernbereich der amerikanischen Identität integriert hatte. Wenn man Robert Stams auf Bachtins Theorien fußende Position (1989: 224) leicht modifiziert, kann man die These vertreten, diese Geschichten seien im Kontext des »Karnevals« gesehen und gehört worden. In der glitzernden Karnevalsatmosphäre des Kinos wurden »die dystopischen Realitäten des zeitgenössischen urbanen Lebens unter den Bedingungen des Kapitalismus […] in das Bild [simulacrum] einer spielerischen und egalitären Gemeinschaft [communitas] verwandelt, einer durch kommunikative Transparenz und ›freie und vertraute Kontakte‹ gekennzeichneten Welt« (Stam, ebd.). Dazu bemerkt Nasaw (1994: 10) treffend: »Alle fühlten sich in den Kinopalästen gleichermaßen willkommen, weil dort alle gleichermaßen deplatziert waren.« Die Verbürgerlichung der Filmwelt machte das Kino zu einem sicheren Hort der Unterhaltung für die ganze Familie. Auf diese Weise schuf das Kino seine ganz spezielle Version und Sicht einer öffentlichen Zivilgesellschaft. Das Kino macht aus Zuschauern Voyeure (vgl. Metz 1982: 94). In der Dunkelheit des Theaters wird das Konzept eines geheiligten privaten Raumes reproduziert, in den ein Zuschauer mit seinen Blicken eindringt. Im Kino begibt sich auch der Zuschauer voyeuristisch in jene zugleich öffentlichen und privaten Welten, in die der Voyeur auf der Leinwand eindringt.5 Dabei entsteht eine doppelte Reflexivität von 5 | Der verdunkelte Kinoraum wurde von einigen frühen Betrachtern des Kinos negativ gesehen. So schrieb Herbert Blumer (1933: 195): »Es ist wichtig

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92 | Ethnographie, Kino und Interpretation Sehen und Erleben. Der Zuschauer kann simultan (und stellvertretend) den Nervenkitzel, das Verlangen, die Gefahren und Grenzüberschreitungen eines Leinwand-Voyeurs erleben und gleichzeitig Objekt des auf ihn gerichteten Blickes sein. Zugleich fungierte der Kinoapparat der Frühzeit hinsichtlich Geschlechtsrolle und Rasse als eine Technologie, welche die Struktur des Patriarchats (und des Rassismus) reproduzierte, indem ein Konzept des Zuschauens umgesetzt wurde, bei dem Frauen (und Nichtweiße) oft zum Objekt des männlichen (weißen) Blickes wurden (vgl. de Lauretis 1987: 15). Auf diese Weise schufen die Kinos ein in puncto Geschlechtsund Rassenzugehörigkeit mit Vorurteilen behaftete Kinoauge und eine damit verbundene Kinoimagination, die sich in die Wertewelt der umfassenderen amerikanischen Kultur einfügte. Das Kino vertiefte und verbreitete auch die Epistemologie des wissenschaftlichen Realismus, die in der amerikanischen Kultur bereits tief verwurzelt war – eine Erkenntnistheorie, die auf der Annahme basierte, dass ein unverfälschtes, direktes und wahrheitsgemäßes Wissen der tatsächlichen Welt hervorgebracht werden könne. Dieses positivistische System war in der amerikanischen Religion, Philosophie, Wissenschaft und Technologie des 19. Jahrhunderts fest etabliert, und es hatte auch unverzüglich im Journalismus und Fotojournalismus Fuß gefasst (vgl. Persons 1958: 332). Dabei wurde jenes pragmatisch-instrumentale Überzeugungssystem ausgeweitet, das der amerikanischen Populärkultur zugrunde liegt – eine »Hotelzivilisation«, wie Henry James sie nannte, die keine Geduld für abstrakte Theorien aufbrachte und die von Mobilität und neuen Erfindungen besessen war (vgl. West 1989: 5). Dieses Überzeugungssystem fand seinen Ausdruck auch in literarischen Werken, vor allem in den Romanen von Stephen Crane, Frank Norris, Jack London und Theodore Dreiser, die naturalistisch und zugleich realistisch waren (vgl. Persons 1958: 332-337). Das Kino reproduzierte einen realistischen und naturalistischen Diskurs über das Universum von Erfahrung und Augenschein. festzuhalten, dass das Kino nicht nur als ein Ort daherkommt, wo ein Film auf eine Leinwand projiziert wird. Vielmehr ist das Zuschauen eine Erfahrung, die in einem sehr komplexen Umfeld stattfindet. Da ist zum Beispiel der verdunkelte Saal – schon für sich genommen keine unbedeutende Tatsache, zumal bei Liebesoder Sexfilmen. Da ist die Musik, die nicht nur suggestiv sein und gewissermaßen den Film interpretieren kann, sondern die auch dazu dient, das Erregungsniveau zu heben, Schockeffekte zu erleichtern und die emotionale Wirkung des Films zu erhöhen. Und nicht zuletzt die Einrichtung des Kinosaals – manchmal kitschig bunt und bombastisch, um zur Gestaltung des Kinoerlebnisses beizutragen.«

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 93 Kinofilme wurden zu einer Machttechnologie, zu einem Apparat der Macht, der Sinn organisierte und Bedeutung ins Alltagsleben brachte. Sie fungierten als Zubehör der Überwachungsgesellschaften des 20. Jahrhunderts, stellten Kinoblick und Kinoerzählungen in den Dienst des Staates.6 Das Kino schuf einen neuen sozialen Typus,7 den Voyeur oder Spanner (»Peeping Tom«),8 der in verschiedenen Ausprägungen (Detektiv, Psychoanalytiker, Kriminalreporter, Enthüllungsjournalist, 6 | Die Überwachungsgesellschaft ist natürlich keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Schon die frühesten Zivilisationen (die ägyptische, die minoische, die mittelamerikanische, die Indus-Kultur u.a.) verfügten über Systeme zentralisierter Verwaltung, Kontrolle und Überwachung, einschließlich »Wissenschaftler«, Staatspolizei und Palastwachen (zu den Transformationen dieses Staates seit der Renaissance vgl. Couch 1984: 245, Foucault 1970, Kapitel 10, und Foucault 1977, Teil III). Vgl. auch unten Fußn. 28.

7 | Laut Oxford English Dictionary (21989) erschien dieser soziale Typus in der englischen Sprache zunächst als »Spion« (spy, 1250), dann als Reporter (1386), als Person, die Dinge ent- und aufdeckte (1447), als »Gaffer« (peeper, 1652), der durch Gucklöcher sah (1681), als »Peeping Tom« (Spanner, 1796), dann als Detektiv (1843), als Privatdetektiv (1872) und schließlich, im Zeichen Freuds und der Psychoanalyse, als Voyeur (1900, 1913, 1924, 1927) und als Schaulustiger mit bestimmten Wünschen (1924, 1928, 1930). Der Reporter verwandelte sich schnell in einen Gerichtsreporter (1617), einen Lügenreporter (1726) und dann in einen Zeitungsreporter (1797). Aus dem Peeping Tom wurde ein Spion (1926), ein Reporter (1933) und dann (1940) in Raymond Chandlers Farewell My Lovely (dt. Lebwohl, mein Liebling) ein Detektiv.

8 | Korrekter wäre es also zu sagen, dass der Voyeur, jene Person, deren sexuelles Verlangen durch heimliche Beobachtung von Sexualorganen oder Sexualaktivitäten anderer stimuliert oder befriedigt wird, als sozialer Typus (Schaulustiger, Spion, Detektiv, Reporter) bereits existierte und durch das Kino und die Psychoanalyse lediglich umgeformt wurde. Generisch verwandelte sich diese Figur in eine Person, die etwas sieht, das sie nicht sehen sollte, und die dafür bestraft wird (oft durch Augenausstechen und anschließende Tötung). Diese Figur ist schon in praktisch allen alten Mythologien anzutreffen – von Ödipus bis zur Meduse, von mittelalterlichen Heiligenlegenden bis zu Märchenfiguren in Europa, Asien und Afrika. Der Höhepunkt ist dann in einigen filmischen Behandlungen dieser Figur im 20. Jahrhundert erreicht (vgl. de Lauretis 1984: 114). Aus Fairness gegenüber Teresa de Lauretis (vgl. auch Edmunds 1985) muss allerdings betont werden, dass ich ihre Behandlung des Ödipus-Mythus in meinem Sinne ausgeweitet habe – zur Geschichte des Voyeurs, des Schaulustigen, des Detektivs, des Reporters und des Spions. Dabei ist die Geschichte jener Person daraus geworden, die »nicht eher Ruhe geben kann, als bis sie alle Rätsel gelöst hat« (Edmunds 1985: 2).

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94 | Ethnographie, Kino und Interpretation unschuldiger Augenzeuge, sexuell Perverser) das Konzept des beobachtenden Sehens auf ein völlig neues Niveau heben sollte.9 Dieser Voyeur, so wurde einleitend bereits dargelegt, lenkte seinen Blick in die geheiligten, verborgenen Orte der Gesellschaft. Und indem er in die Privatsphäre eindrang, definierte der Voyeur die Heiligkeit solcher Räume, selbst wenn sie durch die Überwachungsstrukturen der demokratischen Gesellschaften bereits einem Zerstörungsprozess ausgesetzt waren. Die archäologische und genealogische Geschichte dieser Entwicklung ist das Thema des vorliegenden Kapitels. Diese Geschichte ist komplex und lässt sich auf vielerlei verschiedene Arten erzählen.10 Im Anschluss an Comolli (1971/72) untersuche ich zunächst die Zusammenhänge in jener ideologischen und historischen Kette, die mit Thomas Edisons Kinetograph begann und sich über die Geburt des Kinopalastes, die Hollywood-Skandale der 1920er Jahre, die Entstehung des Tonfilms und des Farbfilms, den Hays Code von 1930 bezüglich der im HollywoodFilm zu beachtenden ethischen Normen bis hin zum Erzählkino erstreckte. Danach schlage ich den Bogen zurück zur Archäologie des Kamerablicks, zu den neuen visuellen Codes, die sich aus diesem Blick ergaben, und zur Einfügung dieses Blickes in das amerikanische Alltagsleben. 9 | Es ist kein Zufall, dass die Figur des Voyeurs, das Kino und die Psychoanalyse ungefähr zu derselben Zeit (1900-1913) das Licht der Welt erblickten (vgl. Metz 1982: 97-98). Die einschlägigen, im Zeitraum 1900-1913 produzierten Filme beuteten das Konzept des Schlüssellochguckers aus, indem sie Kameras und Teleskope zur Hilfe nahmen (vgl. Gunning 1988). In demselben Zeitraum erzählte Freud (1915/2006) in »Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falles von Paranoia« die Geschichte einer Frau, die ihm von einem Arbeitskollegen berichtet hatte, der »ihre Gefügigkeit missbraucht hatte, um von ungesehenen Zuschauern photographische Aufnahmen ihres zärtlichen Beisammenseins herstellen zu lassen; nun läge es in seiner Hand, sie durch das Zeigen dieser Bilder zu beschämen« (Freud 1915/2006: 304, in englischer Übersetzung zitiert bei Gunning 1988: 43). Auf diese Weise kamen das Kino und die Psychoanalyse dazu, den Begriff des Voyeurismus und die verwandten Probleme der Schaulust (Skopophilie) auf den Blick des Zuschauers anzuwenden.

10 | Es handelt sich nicht um eine kontinuierliche Geschichte, sondern eher um eine diskontinuierliche, von Unterbrechungen und Brüchen geprägte Entwicklung in verschiedenen Diskurssystemen, die bei der Schaffung von speziellen Praktiken (etwa beim Ringen um die Einführung von Ton und Farbe) ebenso interagierten wie in Mikro-Machtstrukturen (etwa in den Beziehungen zwischen den frühen Filmproduzenten, der Technologie, dem US-Kongress, der Kirche, dem Militär und der amerikanischen Bankenszene).

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 95 Meine Fragestellung lautet, wie die Figur des Voyeurs mitsamt ihrem Blick zum zentralen Bestandteil der zeitgenössischen Kinogesellschaft wurde. Der im Kern nicht nur visuelle, sondern auch auditorische Kinoblick aktualisiert und definiert den medizinischen, den psychiatrischen, den militärischen, den kriminologischen, den ethnographischen, den journalistischen und den wissenschaftlichen Blick – all jene Blickformen, die Foucault (1980: 148; dt. 2003: 252) im Zentrum heutiger Überwachungsgesellschaften lokalisiert.

Am Anfang … Die aktive Werbung für bewegte Bilder begann in den Vereinigten Staaten am 13. Juni 1891 (vgl. Davis 1976: 12). An diesem Tag verkündete George Parsons Lathrop, Nathaniel Hawthornes Schwiegersohn und selbst ein bedeutender Zeitschriftenjournalist jener Tage, in Harper’s Weekly, dass Thomas Edison den Kinetographen erfunden habe, eine Kombination aus einer »Maschine für bewegte Bilder und dem Phonographen« (ebd.).11 Diese Maschine sei, schrieb Lathrop, ein Gerät, »um 11 | Eine Darstellung der Geschichte der Kino-Technologie vor Edisons Erfindung findet sich bei Mast (1976: 11-12). Edisons Kinetograph war für individuelle Kunden gedacht, die sich seine Bilder durch ein kleines Guckloch ansehen sollten (die erste Peepshow?). Edison gründete schon bald sein eigenes Filmstudio. 1885 eröffneten jedoch die Gebrüder Lumière in Frankreich das erste Filmtheater für das zahlende Publikum. Darin zeigten sie Filme wie »Arbeiter beim Verlassen der Lumière-Fabrik« (Mast 1976: 19). Anfangs herrschten in der frühen Welt des Films Edison und die Gebrüder Lumière, doch schon bald traten andere französische, britische und amerikanische Filmemacher auf den Plan (Méliès, Pathé, Urban, Dickson), die Sennett, Pickford, Chaplin und anderen zu einer Filmkarriere verhalfen. Doch erst bei D.W. Griffith erhielt der Kinofilm erstmals eine im Wesentlichen moderne Schnitttechnik und Erzählstruktur, nämlich in seinem Film The Birth of a Nation (1915). Als literarische Vorlage diente der Roman The Clansman. Wegen seiner bigotten, rassistischen Negerdarstellung wurde der Film umgehend von den Liberalen attackiert (Mast 1976: 78). Die drei beherrschenden Figuren im zweiten Jahrzehnt des Kinos (1905-1915) waren Griffith, Sennett und Chaplin (ebd.: 115). Nachdem der Erste Weltkrieg die europäische Filmindustrie zerstört hatte, standen frühe amerikanische Filmproduzenten wie Selznick, Zukor, Loew und Mayer praktisch an der Spitze eines Monopols, das Produktion und Vertrieb des gesamten amerikanischen Filmschaffens kontrollierte (ebd.: 116). Diese Produzenten schufen ein Produktionssystem, dessen Schwerpunkt auf dem abendfüllenden Spielfilm und einem Starsystem mit seinen sozialen Typen lag (etwa dem südländischen Helden, dem dunkelhäu-

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96 | Ethnographie, Kino und Interpretation exakte Abbilder von gehenden Menschen, im Wind wogenden Bäumen, fliegenden Vögeln und Maschinen in Aktion festzuhalten und dauerhaft aufzuzeichnen […] – genau so, als würden wir die Realität betrachten« (zitiert bei Davis 1976: 13). Diese neue Maschine würde die Figuren durch ihre Linse projizieren, und zwar »stark vergrößert auf eine Leinwand, wo sie bei Bedarf in Lebensgröße gezeigt werden können« (ebd.). Diese Maschine wurde sofort auch mit der Wissenschaft in Verbindung gebracht. Sie galt als perfektes Werkzeug für die präzise Aufzeichnung der Wirklichkeit (vgl. Branigan 1979/1985). »Im Sears-Katalog von 1902«, heißt es bei Branigan (S. 135), »wird das Kinetoskop wie folgt beschrieben: DAS KONKURRENZLOSE EDISON KINETOSKOP, Maschine für bewegte Bilder, liefert eine bildliche Darstellung, die nicht nur lebensecht, sondern anscheinend das Leben selbst ist; jede Bewegung, jede Handlung und jedes Detail wird so lebendig vor die Zuschauer gebracht, dass es ihnen schwer fällt zu glauben, das, was sie vor sich sehen, könnte etwas anderes sein als die Natur selbst.«

Als die Natur selbst, als die Seele des Lebens ließ diese neue Maschine das Reale noch realer erscheinen als die Realität selbst.

Die Einsatzmöglichkeiten der neuen Maschine Die Maschine für bewegte Bilder hatte viele Verwendungsmöglichkeiten; nicht zuletzt war sie ein großartiger Unterhaltungsfundus. Sie würde, hieß es in Lathrops Ankündigung (Lathrop 1891), »in lebensechtem Schattenspiel alle Arten von Tänzen« wiederholen, »dem rhythmischen Wirbel von Ballsälen, Szenen aus dem Theater […], Pferderennen, Preisboxkämpfe, athletische Spiele, berühmte Baseballspieler beim Schlagen oder Fangen, Collegemannschaften, die beim Ruderrennen rhythmisch das Wasser peitschen, und die Verrenkungen von Akrobaten.« Und die Anwendungsmöglichkeiten würden noch über das rein Unterhaltende hinausgehen. Die Maschine könne auch für politische Zwecke eingesetzt werden. Sie könne »spannende Debatten im Kongress« aufzeichnen tigen Säbelrassler, der tugendhaften, reinen Frau und der gefallenen Frau, dem virilen Mann, dem kleinen Komiker) sowie auf Starschauspielern und -schauspielerinnen wie Valentino, Novarro, Fairbanks, Menjou, Gish, Swanson, Fatty Arbuckle, Harold Lloyd etc. (ebd.: 118). Um 1915 hatten die großen Filmstudios ihren Sitz dauerhaft nach Hollywood verlegt. Zu den Großen der Frühzeit gehörten bereits Paramount, Metro-Goldwyn-Mayer, United Artists; in den 1920er kamen Warner Brothers, Twentieth-Century Fox und RKO sowie die kleineren Studios hinzu (Universal, Columbia, Republic, Monogram, Grand National).

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 97 sowie »Militärparaden, Lagerszenen, Straßenszenen (mit dazugehörigem Lärm und lebhaftem Treiben)«. Der Kinetograph lasse sich auch für Bildungszwecke einsetzen. Schauspieler könnten so ihr eigenes Handwerk studieren, und die Öffentlichkeit könnte mit eigenen Augen »den majestätischen Tumult der Niagarafälle« sehen, »eine Lokomotive in voller Aktion mit ihren Pleuelstangen und Rädern […] und die bewegte Gegenwart von weit entfernten Völkern« (ebd.). Auf der Weltausstellung 1893 in Chicago wurden Münzmaschinen für bewegte Bilder aufgestellt.12 Auf der Weltausstellung 1895 in Atlanta wurden »Bilder projiziert, bis das Zelt abbrannte« (Davis 1976: 14). 1896 begannen Varietétheater mit der Vorführung von Kurzfilmen als Teil ihrer Programme, und der erste kommerzielle Kinofilm wurde ebenfalls 1896 in New York gezeigt (vgl. Allen/Gomery 1985: 143). 1899 gab es in New York City und Chicago bereits erste Kinos mit Straßenfassade. Das Nickelodeon,13 das Filmtheater, »dessen Name zum generischen Begriff für die neue Unterhaltungswelt wurde, öffnete 1905 in Pittsburgh seine Tore; es gab nur Stehplätze und die Filme liefen wochenlang« (Davis 1976: 14). 1907 besuchten bereits 10 000 Zuschauer pro Tag die Nickelodeons in Chicago. Die hier gezeigten Filme boten, wie in der Werbung hervorgehoben wurde, harmlose Ablenkung für die Armen, und sie waren »abendlicher Unterhaltungsort der Massen, […] eine erholsame Schule für die ganze Familie, Akademie der Werktätigen, ihre Kanzel, ihre Zeitung, ihr Club« (Harper’s World [1907], zitiert bei Davis 1976: 14-15).

Der Kinopalast – Theater für jedermann Im Jahre 1909 waren Kinos in Amerika bereits »fest etabliert« (Davis 1976: 15). Sie waren zum herausragenden nationalen Unterhaltungsort avanciert und mussten hinfort ernst genommen werden. Der Theaterkritiker Walter Prichard Eaton schrieb 1909 (zitiert bei Davis 1976: 15): Wenn man bedenkt, dass allein in New York City an einem Sonntag 500 000 Menschen ins Kino gehen, wobei Kinder vielleicht die Mehrheit bilden, und dass in den ärmeren Stadtvierteln, wie jeder Lehrer bestätigen wird, die Kinder ihr

12 | Das Kinetoskop basierte, wie Mayne (1988: 77) angemerkt hat, auf »einem simplen Prinzip des Voyeurismus: eine Person starrt ein Bild an«. Diese Maschinen wurden in eigens dafür gedachten Schauräumen aufgestellt, aber auch in Warenhäusern, Kneipen, Drugstores und Hotels.

13 | Der Name ist abzuleiten von nickel, der umgangssprachlichen Bezeichnung für die US-5 Cent-Münze, und odeion, der griechischen Bezeichnung für ein überdachtes Theater. (A.d.Ü.)

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98 | Ethnographie, Kino und Interpretation Taschengeld jetzt für Filmvorführungen statt für Süßigkeiten sparen, dann kann man diese Dramenkonserven nicht achselzuckend abtun. Es handelt sich um einen wichtigen Faktor im Leben der Massen, mit dem zu rechnen ist. Achtzig Prozent des heutigen Theaterpublikums in unserem Land sehen sich Dramenkonserven an. Im Jahre 1908 besuchten zehn Millionen Menschen professionelle Baseballspiele. Vier Millionen besuchen, wie es heißt, Tag für Tag Filmtheater. […] Chicago hat mehr als 300 Kinos, New York 300, St. Louis 205, Philadelphia 186, selbst das konservative Boston kann sich mit mehr als 30 Lichtspielhäusern brüsten. Rund 300 Kilometer Film werden an jedem Tag des Jahres auf den Leinwänden der amerikanischen Theater für Dramenkonserven abgespult. Hier ist eine ganze Industrie zu kontrollieren.

Im Zeitraum 1910-1915 entstanden die Kinoketten. Diese Filmtheater, die schon bald den Namen »Kinopaläste« erhielten, lagen in der Nähe bürgerlicher Wohnviertel an Einkaufsstraßen in dicht besiedelten Gebieten, dort, wo auch öffentliche Verkehrsmittel fuhren (vgl. Allen/Gomery 1985: 203). Sie brachten den Mittelschichten die neue visuelle Kultur. Viele Kinopaläste orientierten sich an Varietétheatern und boten LiveMusik und Live-Aufführungen. Im Zeitraum 1926-1946 kontrollierte in Chicago eine einzige lokale Kette, Babalan & Katz (B & K), alle Erst-, Zweit- und Drittaufführungen von Filmen (vgl. ebd.). Diese Filmpaläste manipulierten die Statussymbole der neuen Mittelschichten. Sie schufen visuelle Interieurs, die den Lebensstil der Reichen und Berühmten simulierten. Auf der Leinwand sah das bürgerliche Publikum in diesen Palästen ein Leben in Wohlstand und Prestige, vorgeführt von berühmten Hollywoodstars; dabei waren diese selbst schon Simulationen des dargestellten Lebensstils. (Schwarze Amerikaner hatten Zutritt zu diesen Palästen, waren jedoch gezwungen, getrennt von den weißen Besuchern zu sitzen, meistens auf dem Balkon [vgl. Allen/Gomery 1985: 206].) Die B & K-Filmpaläste »ähnelten adligen Festsälen. [… Sie waren wie] die konservativsten und respektabelsten Institutionen der Gemeinschaft, wie Kirchen und Banken. […] In den Foyers, mit Kronleuchtern, Gemälden und schweren Vorhängen ausgestattet, spielten Pianisten zur Unterhaltung auf« (ebd.: 199-200). 1930 kontrollierten die fünf großen und drei kleinen Hollywood-Studios den allergrößten Teil des Marktes für kommerzielle Unterhaltungsfilme (vgl. ebd.: 197). Die B & K-Theater boten Kinderbetreuung an; es war immer eine Krankenschwester anwesend und College-Studenten und Studentinnen arbeiteten als Platzanweiser. Die Zuschauer wurden als Damen und Herren (oder als Kinder) angeredet. Ein großes Orchester begleitete alle Stummfilme; voran gingen Live-Aufführungen auf der Bühne (vgl. ebd.: 201). 1909 gab es in den größeren Städten Amerikas mehr als 1300 Filmtheater mit täglich 2,25 Millionen Besuchern (vgl. Austin 1989: 30). 1935

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 99 waren es schon 80 Millionen Zuschauer pro Woche; durchschnittlich gingen die Amerikaner damals dreimal pro Woche ins Kino. 1919 besaß praktisch jede amerikanische Kleinstadt wenigstens ein Kino (vgl. ebd. 31-32). 1941 besuchten 2,1 Milliarden Zuschauer die Filmtheater. Im Zeitraum 1910-1930 kauften die großen Hollywood-Studios lokale Kinoketten auf. (Dieses Monopol wurde erst 1947 vom US Supreme Court für unzulässig erklärt.)14 Dieser neue Kinoapparat und die Geschichten, die er erzählte, mussten reguliert werden. Gegen den Apparat selbst sprach nichts. Das Problem waren die Geschichten. Der Kinoblick sah und erzählte Geschichten über das Falsche.

14 | 1949 stellte das Aufkommen des Fernsehens eine große Herausforderung für Hollywood dar; die Kino-Zuschauerzahlen gingen stark zurück – von 90 Millionen auf 70 Millionen im Zeitraum 1948/49. 1959 gab es in 90 Prozent aller amerikanischen Haushalte ein Fernsehgerät, 1990 in praktisch jedem amerikanischen Haushalt mindestes ein Gerät, im Durchschnitt sogar 1,9 Geräte. Jeder zweite Haushalt besaß einen Videorekorder und war ans Kabelfernsehnetz angeschlossen. Das Fernsehen lenkte die Kinogesellschaft nach innen; es machte die Wohnung zum neuen Heimkino. Bis 1955 hatten die Filmstudios Arrangements mit dem Fernsehen getroffen, die auf die Produktion von Filmen für den häuslichen Bildschirm hinausliefen (vgl. Izod 1988: 165). In den späten 1980er Jahren war das Bezahl- oder Kabelfernsehen ein bedeutender Faktor für die Studio-Produktion geworden, insbesondere Home Box Office (im Besitz von Time-Life und Warner Brothers). Zwar rechnen die Studios noch immer mit einer Milliarde Kinobesuchern pro Jahr, aber der Verleih von Videokassetten macht bei jedem neuen Film schon einen beträchtlichen Teil der Einnahmen aus. Einen wichtigen Geschäftszweig bilden auch von den Studios direkt für das Fernsehen produzierte Filme, die dann in den Videokassettenverleih kommen. Das Videokassettenformat hat auch die Art, wie heute Filme gedreht werden, verändert (vgl. Canby 1990). All das bedeutet, dass Hollywood den Filmzuschauer nicht mehr aus dem Haus und ins Kino kommen lassen muss, damit er einen Film sehen kann. Er muss nur zum Videoverleih um die Ecke gehen, um sich den Film zu holen. Zunehmend schaffen sich die Studios auch eigene Videoverleihketten, so wie sie früher Kinoketten kontrollierten (vgl. Izod 1988: 122-123). Das Oligopol, das die Kartellbehörden in den 1940er Jahren zerschlagen hatten, »wird jetzt durch Operationen im Kabel- und Satellitenbereich […] wieder zusammengesetzt« (ebd.: 179). Dieses Oligopol vergrößert abermals die Wahrscheinlichkeit einer noch größeren Überdetermination in den generischen, melodramatischen Darstellungen, die der Film in alle Gegenstandsbereiche hineinträgt.

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100 | Ethnographie, Kino und Interpretation

Die Regulierung des Blicks Die ersten Kinozeitschriften erschienen 1912 (vgl. Mast 1976: 117). Fanclubs folgten bald darauf. Die Fanzeitschriften (zum Beispiel Photoplay) »brachten Bilder, Geschichten und Interviews, die aus der Leinwand-Gestalt für das gesamte Publikum ein noch intimeres und persönlicheres Wesen machten. […] Die exotischen und erotischen Aktivitäten der Stars […] wurden zum häuslichen Klatschthema« (ebd.; vgl. auch Levin 1977: 7-8 und Izod 1988: 45, 47). Mit den Stars, den Fans und den Fanzeitschriften kamen die Skandale. Der Inhalt der neuen Filme spiegelte einen moralischen Relativismus wider, der in der Öffentlichkeit leidenschaftliche Debatten entfachte. Schon 1909 übernahm die Polizei von Chicago die Rolle des Zensors, indem sie aus Filmen Szenen mit »Mord, Raub und Entführung« herausschnitt (vgl. Sklar 1975: 128). Dieses Zensursystem reproduzierte die Kategorien, die 1909 vom National Board of Censorship of Motion Pictures verabschiedet worden waren. Dieses Gremium versuchte, in Zusammenarbeit mit YMCA und YWCA (im Deutschen: CVJM), mit dem Kinderschutzbund (Children’s Aid Society), mit der Women’s Municipal League, der Purity League und der Women’s Christian Temperance Union der schnell aufgekommenen Kritik an den Filmen zu begegnen, in der es geheißen hatte, sie brächten Kindern bei, wie man Verbrechen begeht und sittlicher Verkommenheit frönt (vgl. Davis 1976: 16). Das Zensurgremium veröffentlichte eine Liste mit Themen und Gegenständen, die von den Filmemachern zu meiden seien, darunter alle Obszönitäten, Angriffe auf die Religion sowie Kriminalfilme, die »schreckliche Einzelheiten zeigen oder Verbrechenstechniken lehren könnten […] sowie alle zur Nachahmung reizenden Verbrechen […] wie Brandstiftung oder Selbstmord, […] ungehemmte Sensationslust und grober Unfug, […] eheliche Untreue […] und Entführungen« (ebd.: 17). Boxkämpfe waren erlaubt, sofern sie nicht allzu brutal verliefen.

Ablenkung von der Kritik: Hohe Kunst für die Massen Für ihre freiwillige Selbstzensur gelobt, fuhr die noch in den Anfängen steckende Filmindustrie fort, für ihr neues Produkt in der amerikanischen Öffentlichkeit zu werben. Edison führte seine neuen Tonfilme im Februar 1913 in vier New Yorker Varietétheatern vor und prophezeite, auf diese Weise würden »großes Drama und die Oper zu den Massen gebracht«. »Der politische Redner kann sich vom heimischen Kamin aus an Tausende wenden; die größten Staatsmänner, Schauspieler und Sänger der Welt können noch im kleinsten Dörfchen gehört und gesehen werden, nicht nur heute, sondern noch in hundert Jahren« (Davis

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 101 1976: 19). Die neue Technologie werde somit ganz in den Dienst dieser großen demokratischen Gesellschaft gestellt. In die Klassenzimmer gebracht, würde Filme zum Erziehungsmittel werden, selbst wenn die flackernden, zerkratzten Filme den Augen Probleme bereiteten. Doch die Kritiker verstummten nicht. 1914 brach im Gefolge des Films Traffic in Souls (1913; dt. Seelenhändler) die Kontroverse offen aus. Als ziemlich explizite Behandlung des Themas Sexualität rief dieser Film über Mädchenhandel und Bordelle aufs Neue eine moralische Debatte hervor; der National Board of Review wurde als ineffizient gebrandmarkt. Einzelne amerikanische Bundesstaaten begannen ihre eigenen Zensurbehörden einzurichten. Der 1914 unterbreitete Vorschlag, eine Federal Motion Picture Commission zu gründen, scheiterte im US-Kongress, doch Unruhe und Besorgnis hielten an. 1917 gründete die Filmbranche die Motion Picture League; der erste Vorsitzende dieses Verbandes wurde W.D. Griffith. Vereinszweck war es, sich der Zensur zu widersetzen. Der Erste Weltkrieg brachte die Kritiker zum Schweigen; überdies zerstörte er die europäische Filmindustrie und verschaffte den amerikanischen Filmproduzenten die Gesamtkontrolle über die neue Unterhaltungsform. Sie vermarkteten ihre Ware aggressiv mit dem Argument, dass Filme doch für Kirche und Schulen durchaus ihren Wert hätten und die Filmindustrie auch die amerikanischen Kriegsanstrengungen überstützt habe (vgl. Davis 1976: 21).15 Abermals lamentierten die Kritiker, die Filme würden nur Gewalt, Sex und Nacktheit zeigen.

Skandale und die neuen Regeln des Hays Codes Im Jahre 1921 machte eine Serie von Skandalen, in die Fatty Arbuckle, William Desmond Taylor, Mabel Normand und Mary Miles Minter verwickelt waren, landesweit Schlagzeilen.16 Es wurde eine Schwarze Liste mit 117 Schauspielernamen angelegt. In 32 Parlamenten der Bundesstaaten wurden Zensurgesetze debattiert. 1922 wurde in Hollywood die Hays Commission gegründet, um staatliche Zensurbebestrebungen abzuweh15 | Im Ersten Weltkrieg entstanden die Kriegs-Wochenschau, Ausbildungsfilme für das Militär und militärischen Aufklärungsfilme, die unter anderem deutsche Truppen 1914 beim Einmarsch in Brüssel zeigten sowie das unsichtbare Super-U-Boot, die Krupp-Rüstungsfabriken, Armeelager und Waffenfabriken für Handfeuerwaffen (vgl. Davies 1976: 97-98). Es wurden auch Propagandafilme produziert – von den Amerikanern wie von den Deutschen.

16 | Arbuckle war in den Tod einer Frau verwickelt, mit der er viele Tage lang Partys gefeiert hatte. Taylor wurde ermordet in seiner Wohnung aufgefunden. Als Hauptverdächtige galt Mabel Normand, die jedoch letztendlich freigesprochen wurde (vgl. Sklar 1975: 78-79).

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102 | Ethnographie, Kino und Interpretation ren und sie durch eine freiwillige Selbstkontrolle zu ersetzen. Will H. Hays, der Vorsitzende dieses nach ihm benannten Gremiums, sagte, seine Ziele seien »das Erreichen und Bewahren eines hohen Erziehungs-, Moral- und Geschäftsniveaus in der Filmbranche« (Davis 1976: 21). Und er betonte die Verpflichtung und Verantwortung der Filme gegenüber der amerikanischen Jugend: Wir müssen gegenüber diesem Heiligtum, dem kindlichen Bewusstsein, wir müssen gegenüber dieser reinen, jungfräulichen Tabula rasa – wir müssen in diesem Punkt dieselbe Verantwortung empfinden, uns dieselben Sorgen um die Eindrücke machen, die sich auf dieser unberührten Tafel einprägen, wie der Lehrer oder der beste Geistliche, der inspirierteste Lehrer der Jugend (Davis 1976: 22).

Die Filmproduzenten waren demnach genauso lauter wie die Geistlichen. Die Filmbranche war wichtig für das Leben der Nation. Sie war eine nationale Institution, sie diente der nationalen Unterhaltung, sie war eine der größten Industrien im Lande. Und was am allerwichtigsten war: Filme waren »ein Instrument und Mittel unermesslichen bildungsmäßigen und moralischen Einflusses« (Hays, zitiert bei Davis 1976: 22). Unter Hays formulierte die Branche ein Regelwerk, das scherzhaft als »Reinheitsgebot« (»Purity Code«) bezeichnet wurde (vgl. Cook 1981: 214); der Hauptzweck war indes, Regierungskontrollen der Branche abzuwehren. Damit wollten sich die Kritiker allerdings überhaupt nicht zufrieden geben.17 1928 bemühte sich William H. Short, der Geschäftsführer des Motion Picture Research Council, einer Vereinigung, die sich für die Filmzensur einsetzte, erfolgreich um Finanzmittel des Payne Study and Experimental Fund, einer privaten Stiftung für die wissenschaftliche Erforschung der Auswirkungen des Films auf die Jugend (vgl. Sklar 1975: 135). Neunzehn Psychologen, Soziologen und Erziehungswissenschaftler von sieben Universitäten beteiligten sich an diesem Projekt. Zu den Teilnehmern aus der University of Chicago gehörten L.L. Thurstone, Robert E. Park, Herbert Blumer, P.M. Hauser, Frederick Thrasher und P.G. Cressey. W.W. Charters, der Direktor des Bureau of Educational Research an der Ohio State University, übernahm den Vorsitz der Forschungsgruppe (vgl. ebd.). Ernest Burgess sagte in diesem Zusammen-

17 | Ausführlichere Erörterungen dieser Epoche der Filmgeschichte und der Rolle, die amerikanische Soziologen bei der Schaffung dieses Regelwerks für die Filmproduktion (Production Code) spielten, finden sich bei Denzin 1991 in Kapitel 8; vgl. auch Sklar 1975: 135 und Leff/Simmons 1990.

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 103 hang: »Die Fakten wiegen schwer. [… Das Kino] ist ein gesellschaftliches Problem, das uns alle angeht« (zitiert bei Forman 1933: 5-6). Hollywood reagierte mit der Einrichtung einer Production Code Administration unter der Leitung von Joseph Breen. Aufgabe der Breen-Kommission war es, alle Filmproduktionen zu überwachen, vom Drehbuch bis zur Freigabe, und für jeden Film ein Unbedenklichkeitszertifikat auszustellen. Diese Organisation erstellte auch die Fassung des Production Code aus dem Jahre 1934, die dann bis Mitte der 1950er Jahre in Kraft blieb. Darin wurde festgelegt, dass die filmische Darstellung von Ehebruch, verbotenem Sex, Verführung und Vergewaltigung, von Flüchen, rassischen und religiösen Verunglimpfungen sowie jede Andeutung von Prostitution, Rassenschande, abweichendem Sexualverhalten, Drogenabhängigkeit und krimineller Gewalt verboten waren (vgl. Cook 1981: 267). Auf diese Weise unterlag der neue Kinoapparat also einer strengen Aufsicht. Paradoxerweise entwickelte sich diese Kritik seitens einer lautstarken moralischen Minderheit und der akademischen Gemeinschaft ausgerechnet in einem Zeitraum (1907-1932), da sich der Film als neue internationale Kunstform etablierte. Nicht nur entwickelte D.W. Griffith in dieser Periode die Schnitttechniken und Kamerastrategien für das moderne Erzählkino, sondern deutsche (Fritz Lang), sowjetische (Sergej Eisenstein), französische (Feuillade, le Bargy und die Societé Film d’art) und italienische (Caserini, Guazzioni) Regisseure brachten den Expressionismus, die Theorie der Montage sowie Frühformen des Realismus und des sozialkritischen, bewusstseinsbildenden Films ins Kino. Zur selben Zeit prägten Filmstars von der Statur eines Charlie Chaplin, Buster Keaton, Harold Lloyd und Douglas Fairbanks, einer Mary Pickford oder Greta Garbo sowie Regisseure vom Schlage eines Griffith, Chaplin, Roach und De Mille das neue Medium – ganz zu schweigen von etlichen europäischen Filmemachern wie von Stroheim, Lubitsch, Murnau, Hitchcock und Paul Leni. »In einigen Bereichen gewann der amerikanische Film Ansehen als eine Kunstform: Man widmete der neuen Kunst seriöse Bücher – zu nennen wären etwa The Art of the Moving Picture (1915) des Dichters Vachel Lindsay oder The Photoplay: A Psychological Study (1916) des Philosophen und Psychologen Hugo Münsterberg. Auch in den Zeitungen erschienen regelmäßig Kolumnen mit Besprechungen von photoplays« (Cook 1981: 46).

Das neue Regime des Realismus Ungefähr zur selben Zeit wie der Ton kam auch die Farbe in den Film: Mitte der 1920er Jahre (vgl. Cook 1981: 245). Das Streben nach Realis-

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104 | Ethnographie, Kino und Interpretation mus im Kinofilm, der Impuls, eine aus dem Alltagsleben gewohnte realistische Diskursordnung nachzuschaffen, erforderte, dass der Ton die Seherfahrung im Kino »ergänzte und lebendiger machte« (ebd.: 235). Doch nur eine kleine Zahl von Vorführungsstätten konnte sich voll besetzte Orchester oder auch nur Wurlitzer-Kinoorgeln leisten. Zur selben Zeit kam der Wunsch auf, den in Hollywood produzierten Schwarzweißfilmen Farbe zu geben. Schon 1925 experimentierten Filmemacher mit Technicolor. Ebenfalls 1925 hatte die Western Electric and Bell Telephone Laboratories ein ausgeklügeltes Tonaufzeichnungssystem auf Platten entwickelt, das so genannte Vitaphone (vgl. ebd.: 237). Aus Kostengründen lehnten die großen Hollywoodstudios die Einführung des neuen Tonsystems jedoch ab. 1926 gründete Warner Brothers die Vitaphone Corporation und brachte gleichzeitig den ersten Tonfilm in die Kinos: Don Juan. Der erste richtige Tonfilm, in dem auch gesprochen wurde, war allerdings The Jazz Singer (1927). Im selben Zeitraum perfektionierte Fox auch seine »Tönende Wochenschau«; zum Beispiel wurde am 20. Mai 1927 Wochenschaumaterial gedreht, das den Ton von Charles Lindberghs Start zum Transatlantikflug nach Paris übertrug (vgl. Allen/Gomery 1985: 127).18 1932 war das Technicolor-Dreifarbensystem einsatzbereit, das den Tonfilm perfekt ergänzte (vgl. Cook 1981: 247). So konnte die Technologie also dem »Realismus« im Kino einen neuen Schub verleihen (vgl. Allen/Gomery 1985: 127). Und was noch wichtiger war, die Farbe entsprach einer tiefer gehenden Struktur: »einer realistischen Diskursordnung« (Branigan 1979/1985: 137). Die Farbe war nicht nur »wissenschaftlich akkurater […], sie war auch in der Lage, die dominanten Formen der Kultur zu ›wiederholen‹. [… Denn] der Aufstieg der Farbe begann [nicht erst mit Technicolor], sondern mit dem Interesse der Renaissance an Farbe und Linearperspektive« (Allen/Gomery 1985: 127). Die neue Diskursordnung, mit Farbe und Ton versehen, interagierte fortan mit den bereits etablierten Systemen des Schwarzweiß-Realismus. Mit Ton und Farbe hatte Hollywood ein Darstellungssystem perfektioniert, das seine Version des Alltagslebens und dessen Erscheinungsformen modellhaft abbildete. Farbe und Ton veränderten das amerikanische Kino radikal (vgl. Cook 1981: 259). Sie leiteten ein neues Regime des Kinorealismus ein, das dem Aufstieg des Realismus und Naturalismus im amerikanischen 18 | Nach diesem Erfolg versah Fox sämtliche Kinos im Besitz der Kette mit Tonabspiel- und Lautsprecheranlagen. Die zehnminütige Wochenschau wurde dort zum regulären Programmteil aller Kinovorführungen. Das Studio engagierte zügig einen Stab von fest angestellten Kameraleuten und Korrespondenten in aller Welt, die Filmbeiträge für die Wochenschauen liefern sollten (vgl. Allen/ Gomery 1985: 123).

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 105 Roman ebenso entsprach (vgl. Cowley 1950) wie dem Aufkommen eines harten Aufklärungsjournalismus in den großen amerikanischen Zeitungen (und Rundfunkstationen), der Entwicklung des lebensgeschichtlichen Ansatzes in den Sozialwissenschaften (vgl. Carey 1975, Kapitel 6) ebenso wie dem Erstarken eines zivilgesellschaftlichen Liberalismus, der die Aufmerksamkeit auf die großen sozialen Probleme Amerikas lenkte (vgl. Carey 1975, Kapitel 1).19 Dieses Ideen- und Darstellungssystem setzte das Kino also um, als es sich in seine Ton- und Farbfilmphase begab; diese diskursiven Systeme und ihre Reproduktion im Hollywoodfilm banden die Filmbranche in das vorherrschende amerikanische Wertesystem ein. Stockkonservativ, wie sie waren, förderten die Hollywoodfilme eine »Ideologie der Improvisation, des Individualismus und der Ad-hoc-Lösungen für Probleme, die als krisenhaft dargestellt wurden« (Ray 1985: 63). »Indem sie an der Schaffung bestimmter Wünsche und Sehnsüchte beteiligt waren, indem sie ideologische Neigungen verstärkten und bestimmte Formen politischen Handelns (oder Nichthandelns) ermutigten, arbeiteten die Filme darauf hin, ebenjene Realität zu schaffen, die sie angeblich ›widerspiegelten‹« (ebd.: 68). Es handelte sich indes um eine Realität, die sich nach und nach verändern sollte, als sich der Kapitalismus vom Markt- zum Monopolkapitalismus und zu seinen heutigen multinationalen Erscheinungsformen fortentwickelte. Die Realität passte somit zu den drei aufeinander folgenden Darstellungsstadien von Realismus, Moderne und Postmoderne, die laut Fredric Jameson den drei genannten Entwicklungsstadien des Kapitalismus entsprechen (vgl. Jameson 1990: 155). Als übergreifende Strukturen gegenüber diesen Darstellungsstrukturen fungierten das Patriarchat und die traditionellen Schichtensysteme von Geschlechts- und Rassenzugehörigkeit.

Das Geschichtenerzählen und die Anfänge des selbstreflexiven Textes Hollywoods neuer Realismus brauchte Geschichten zum Erzählen. Auch musste er sich neue Genres erschaffen. Die Geschichten gab es bereits – in der amerikanischen (und britischen) Literatur, im klassischen Theater, am Broadway, in den Zeitungen, im Erfolgsroman, in historischen Biographien sowie in Beziehungskomödien (screwball comedy) und im Slapstick. Diese Texte warteten nur darauf, in die neue Technologie übersetzt zu werden. Und so kam es denn auch. Das Erzählkino reproduzierte die 19 | Die Umstellung auf Farbfilme kam allerdings beschleunigt erst zustande, als das Fernsehen in den Jahren 1952-1955 dem Kinofilm ernsthaft Konkurrenz machte (vgl. Cook 1981: 413).

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106 | Ethnographie, Kino und Interpretation in den älteren Systemen des Geschichtenerzählens in der westlichen Kultur bereits vorhandenen Realitäts- und Moralsysteme. Mit Ton und Farbe kam als neues Genre das Broadway-Musical im Gewande des Filmmusicals daher. Walt Disney schuf den Zeichentrickfilm. Das organisierte Verbrechen wurde in kurzer Zeit für das Kino adaptiert zu einem »Zyklus lakonisch inszenierter urbaner Gangsterfilme, die in einem Kontext sozialer Entfremdung bewaffnete Gewalt und das harte Idiom der Umgangssprache ausbeuteten« (Cook 1981: 261). Bald folgten auch noch ein Zyklus von Gefängnisfilmen sowie Filme über vom rechten Weg abgekommene Delinquenten aus den zerbrochenen Familien der Innenstädte. Als weiteres Genre entstand die historische Biographie im Kinofilm, in der sich der Wunsch zeigte, eine »wahre« Geschichte über wichtige Persönlichkeiten der Geschichte zu zeigen (z.B. The Private Life of Henry VIII, 1933; dt. Das Privatleben Heinrichs VIII.). Es folgten Beziehungskomödien, Detektivfilme, Filme über Filme, Familienmelodramen und melodramatische Geschichten über New York, über Fotografen, Lehrer und Wissenschaftler. Auf eine andere Ebene gehoben wurde der Realismus in Filmen aus dem Zeitungsmilieu u.a. The Front Page (1931; dt. Extrablatt), Scandal Sheet (1931), Five Star Final (1931; dt. Spätausgabe), Platinum Blonde (1931; Vor Blondinen wird gewarnt), Front Page Woman (1935; dt. Die Frau auf Seite 1), Libeled Lady (1936; dt. Lustige Sünder), Mr. Deeds Goes to Town (1936; dt. Mr. Deeds geht in die Stadt), Nothing Sacred (1937; dt. Denen ist nichts heilig), Stanley and Livingstone (1939; dt. Stanley und Livingstone), His Girl Friday (1940; dt. Sein Mädchen für besondere Fälle), Meet John Doe (1941; dt. Hier ist John Doe), Woman of the Year (1942; dt. Die Frau, von der man spricht) und Citizen Kane (1941; dt. Citizen Kane). Diese Filme können als Vorläufer von The Parallax View (1974; dt. Zeuge einer Verschwörung), All the President’s Men (1975; dt. Die Unbestechlichen) und Broadcast News (1987; dt. Nachrichtenfieber) gelten sowie all jener »Fernsehshows (wie Lou Grant), die das Reporterleben als zentrales Handlungselement nutzen« (Cook 1981: 262). In all diesen Filmen berichtet der Enthüllungsjournalist über die kalten harten Fakten des amerikanischen Lebens. Der ganze Zyklus der Reporter- und Zeitungsfilme »war in den 1930er Jahren außerordentlich populär und wichtig für die Verfeinerung der Dialogtechnik im Film« (ebd.). Inhaltlich rekapitulierten solche Texte zwei zentrale kulturelle Mythen der amerikanischen Demokratie, nämlich dass die Wahrheit immer obsiegen wird (und Verstöße korrigiert werden können) und dass in dieser Gesellschaft die Mächtigen durch die Kleinen zu Fall gebracht werden können – in diesem Fall verkörpert durch den Reporter auf der Suche nach der Wahrheit (vgl. Roberts 1989: 80). Und was genauso wichtig ist, diese Texte trugen zum mythischen Status der Presse in der

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 107 Vereinigten Staaten als der Vierten Gewalt im Staate bei (auf einer Ebene mit dem Präsidenten, dem Kongress, der Kirche und den Bürgern). Indem Hollywood den Journalisten in seinem Kinoapparat positionierte und Geschichten über seine oder ihre Aufdeckungs- und Enthüllungsaktivitäten erzählte, versuchte die Filmbranche, sich selbst die gleiche Macht zu verschaffen, die zuvor schon die Presse innehatte; will heißen: Die Filmemacher inszenierten sich gleichfalls als Wahrheitssucher. Mit diesem Schachzug führten sie allerdings, vielleicht unbeabsichtigt, ein selbstreflexives Element in den erzählenden Film ein. Indem man Geschichten über Leute erzählte, die Geschichten erzählen und Nachrichten produzieren, begann man, die unsichtbare vierte Wand der Bühne einzureißen, die seit den Tagen des naturalistischen Theaters stets die Zuschauer vom Bühnengeschehen getrennt hatte. Indem die Filmregisseure den Zuschauern Zutritt zu Nachrichtenredaktionen gewährten, wurde jene Barriere eingerissen, die traditionell das Geschichtenerzählen vom Alltagsleben trennt. Es wurde, wenn auch nur vorübergehend, das freiwillige Verharren des Publikums in der Illusion gestört (das heißt, in der Unterdrückung des Bewusstseins, dass die Dinge im Alltag nicht so sind und nicht so laufen, wie sie hier dargestellt wurden). Ebendiese Haltung indes brachte das Publikum ins Kino mit. Es wollte sich in Illusionen wiegen.

Krimis und Thriller, Kommissare und Privatdetektive Der selbstreflexive Realismus der Zeitungsfilme ergänzte sich von Natur aus mit dem eines anderen Filmzyklus, der sich mit Verbrechen und Aufklärung, mit Kriminalkommissaren und Privatdetektiven beschäftigte. Ausgehend von Stummfilm-Melodramen wie The Perils of Pauline (20-teilige Serie, USA 1914; dt. Die tollen Abenteuer der schönen Pauline), Das Cabinet des Dr. Caligari (1920), und Schatten – Eine nächtliche Halluzination (1923; engl. Warning Shadows) bis zum Tonfilm Das Testament des Dr. Mabuse (1933), entwickelte sich in den 1930er Jahren das Genre des Gruselkrimis (thunderstorm mystery) mit Gespensterhäusern und seltsamen Dienern, etwa The Vampire Bat (1933), The Terror oder Murder by the Clock (1931). Dieses Genre wich im Kino allerdings bald Detektivserien mit Protagonisten wie Charlie Chan, Sherlock Holmes, Philo Vance, Nick Carter, Dr. Robert Ordway (»The Crime Doctor«), Simon Templar (»The Saint«), Gay Falcon (»The Falcon«), Bulldog Drummond, Nick Charles (»The Thin Man«), Sam Spade und Philip Marlowe (vgl. Gramsci 1975; Halliwell 1990: 809; Everson 1972; Tuska 1978; Pitts 1979 und 1990). Parodiert wurden diese Filmhelden der frühen 1930er Jahre durch Groucho Marx als Wolf J. Flywheel in The Big Store (1941; dt. Die Marx-Brothers im Kaufhaus).

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108 | Ethnographie, Kino und Interpretation Dieses Genre lief parallel zu den Gangster- und Gefängnisfilmen der 1930er Jahre. Schon bald sollte sich daraus der film noir entwickeln, jener Zyklus von Großstadtkrimis aus den 1940er und 1950er Jahren, der überwiegend auf Romanvorlagen von Dashiell Hammett, Raymond Chandler, James M. Cain und Horace McCoy basierte: zum Beispiel City Streets (1931; dt. Straßen der Großstadt), The Glass Key (1942; dt. Der gläserne Schlüssel), The Maltese Falcon (1941; dt. Die Spur des Falken), The Big Sleep (1946; dt. Tote schlafen fest), Double Indemnity (1944; dt. Frau ohne Gewissen), Farewell, My Lovely bzw. Murder, My Sweet (1944; dt. Leb wohl, Liebling oder Fahr zur Hölle, Liebling), Kiss Tomorrow Goodbye (1950; dt. Den Morgen wirst du nicht erleben) (vgl. Silver/Ward 1979: 1-5 und Kapitel 2; Tuska 1984; Hirsch 1981; Kaplan 1978 [zu den Frauengestalten des film noir]).20 Die Zeitungsreporter-Filme, Krimis und Detektivfilme sowie der Film Noir erfüllten gleichzeitig zwei zentrale Funktionen: Sie brachten Hollywoods Bedürfnis zum Ausdruck, sich klar gegen das Verbrechen auszusprechen, und sie zeigten, dass gutwillige Bürger in der Lage waren, dem Verbrechen Einhalt zu gebieten. Sie positionierten Hollywood auf der Seite der Verbrechensbekämpfer (vgl. Davis 1976: 125) und lieferten Argumente für die These, dass in und mit den Filmen die Gerechtigkeit gefördert werde, dass Verbrecher bestraft und gesetzestreue Verhaltensweisen propagiert würden. Diese Filme trugen demnach angeblich dazu bei, dass die Straßen Amerikas für Frauen und Kinder wieder sicherer wurden.21 Hollywood hatte das eigene Schicksal nun unter Kontrolle. Man verfügte über Ton und Farbe, über einen gültigen, auf freiwilliger Selbstkontrolle beruhenden Moralkodex für die Produktion, über Kinopaläste mit entsprechendem Publikum in jedem Ort, über Geschichten, die man dem kinohungrigen amerikanischen Publikum erzählen konnte, über 20 | Alfred Hitchcock modifizierte das Genre dadurch, dass in seinen Kriminalfilmen der Held auf der Flucht ist: The Thirty-Nine Steps (1935; dt. Die 39 Stufen), The Lady Vanishes (1938; dt. Eine Dame verschwindet), Saboteur (1942; dt. Saboteure), Spellbound (1945; dt. Ich kämpfe um dich), Strangers on a Train (1951; dt. Der Fremde im Zug), North by Northwest (1959; dt. Der unsichtbare Dritte), Torn Curtain (1966; dt. Der zerrissene Vorhang).

21 | Als das Fernsehen nationale Bedeutung erlangte, prophezeite man schon bald, dieses Medium werde »das Verbrechen verringern, indem es in der Lage sei, ohne Zeitverzug Bilder von Verbrechern zu übertragen« (Davis 1976: 125). Es versteht sich von selbst, dass die Kriminal- und Zeitungsreporter-Filme der 1930er und 1940er Jahre in ihren Handlungen umgehend die jeweils neuesten Kommunikationstechnologien einbezogen. Dazu gehörte auch die Übertragung von Fahndungsbildern zur Unterstützung der Verbrecherjagd.

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 109 Star- und Produktionssysteme, die funktionierten – und über eine Nation, die in ihren neuen Unterhaltungsgewohnheiten unersättlich war.

Die Geburt der Kinogesellschaft So entstanden in nur drei kurzen Jahrzehnten das amerikanische Kino und sein Gegenstück, die Kinogesellschaft. In seiner frühmodernen Form passend durch Griffiths rassistischen Film The Birth of a Nation definiert, suchte das Kino seinen Platz in der amerikanischen Kultur von Anfang an im Schatten von Verdächtigungen. Als neue Form der Massenunterhaltung eingeführt, veränderte es mit seinem ganzen Apparat die amerikanische Gesellschaft von Grund auf – einem Apparat, der für manche eine Kunstform und für einige wenige eine Profitquelle war, der für andere eine Herausforderung der christlichen Moral darstellte, für wieder andere eine Gefährdung der menschlichen Augen herbeiführte und in dem nochmals andere ein Erziehungsmittel sahen. Auf diese Weise wurde die amerikanische Gesellschaft zu einer Kinokultur, einer Kultur, die sich kollektiv und individuell immer mehr durch die von Hollywood produzierten Bilder und Geschichten definierte. Um 1900 hatte sich durch Edisons Erfindung das Kinoauge in der amerikanischen Gesellschaft fest verankert (vgl. Comolli 1971/1985: 55).22 Dieser Kinoimpuls verdankt sich einem Versuch, die Wirklichkeit akkurat zu erfassen und »die Unzulänglichkeiten des menschlichen Auges dadurch zu kompensieren, dass das objektive, wissenschaftlich genaue Auge der Kameralinse an die Stelle des menschlichen Auges trat« (Branigan 1979/1985: 133-134).

Die Produktion des Kamerablicks Dieser Wunsch, das unvollkommene menschliche Auge durch die wissenschaftlich exakte Linse zu ersetzen, reflektierte das Zusammenwirken verschiedener ideologischer Prozesse, wobei die zentrale Überzeugung lautete, das menschliche Auge könne nicht länger als perfekt gelten (vgl. Comolli 1971/1985: 52). (Es war übrigens Leonardo da Vinci gewesen, der als Erster mit der einfachen Linse der Camera obscura die Überlegenheit des menschlichen Auges in Zweifel gezogen hatte.) Mit dieser Infrage22 | Jean-Louis Comolli weigert sich zwar, ein genaues Datum zu nennen, aber wie Deslandes sieht er in Edisons Kinetoskop und in der Tatsache, dass für einen Nickel (5 US-Cent) oder für 25 französische Centimes der amerikanische oder europäische Zuschauer sein Auge an diesem Apparat platt drücken durfte und dabei Bilder sah, das Schlüsselereignis der Kinogeschichte.

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110 | Ethnographie, Kino und Interpretation stellung des menschlichen Auges und seiner Fähigkeit, die sichtbare Welt völlig akkurat wiederzugeben, ging die Meinung einher, dass das durch diesen neuen wissenschaftlichen Apparat (Kamera und Linse) erzeugte fotografische Abbild perfekt sei; über dieses Bild lasse sich nicht streiten. Es verzerre die Realität nicht; vielmehr könne es das Reale in seiner ganzen Wahrheit zeigen. So verlor das menschliche Auge seine Stellung als letztgültige Autorität bezüglich der Realität und ihrer Aufzeichnung. Als 1839 Louis Daguerre seine neue Methode, ein Bild auf einer Metallplatte zu fixieren, veröffentlichte, war dies die Geburtsstunde der Fotografie (vgl. Becker 1986: 223). Eine neue Klasse von Experten trat auf den Plan, um die Gesellschaft visuell zu erkunden. Diese neue Technologie war unmittelbar für soziale, wissenschaftliche und praktische Zwecke einsetzbar. Familien begannen, einander zu fotografieren, oder man ging zum professionellen Fotografen. So entstand das Fotoalbum der Familie. Schon bald besaß jede Familie ihren eigenen persönlichen Fotoapparat oder wünschte sich wenigstens, einen solchen zu besitzen.23 Die medizinische Wissenschaft benötigte bessere Abbildungen des menschlichen Körpers (vgl. Foucault 1973: 113), und auch die medizinische Kunst wurde jetzt fotorealistisch. Eine neue ermittlungstechnische Wissenschaft, Kriminalistik genannt (vgl. Mannheim 1960: 249), brauchte nun ebenfalls Fotoexperten, die objektive Daten über kriminelles Verhalten bereitstellen konnten. 1893 wurde in Frankreich das Bertillon-System der Kriminalistik eingeführt – mit Verbrecherfotos, einer portrait parlé genannten standardisierten Beschreibung des oder der Kriminellen und einer Bildergalerie (vgl. Caldwell 1965: 321). Walter Benjamin (1974: 46) und Tom Gunning (1988: 44) haben diese Beziehung zwischen Kapitalismus, Kamera und Verbrechen zusammenfassend beschrieben. Bei Gunning heißt es: »Im Zeitalter des Industriekapitalismus bot die Fotografie eine technologische Lösung für das Problem, wie die persönliche Identität von Übeltätern und subversiven Elementen festzustellen und festzuhalten sei« (1988: 40). Und Ben23 | Die größeren Kamerahersteller (besonders Kodak) begannen schnell, auf diesem neu geschaffenen Markt zu konkurrieren. 1948 kam die Sofortbildkamera (Polaroid) auf den Markt, und Mitte der 1960er Jahre besaß bereits die Hälfte der US-Haushalte Polaroid-Kameras (vgl. Pace 1991: 1). Die neue Bildtechnologie ließ sich schnell mit den ersten Versuchen der Nation zusammenführen, Spionagesatelliten zu installieren. 1960 sendeten diese Satelliten »routinemäßig Bilder zur Erde zurück, wodurch eine neue Ära in der militärischen Aufklärung eröffnet wurde« (ebd.: 13). Durch Sofortbildkameras wurde eine weitere Dimension des reflexiven Blicks eingeführt – zunächst in der amerikanischen Gesellschaft, später in der ganzen Welt.

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 111 jamin führte aus: »Die Photographie ermöglicht zum ersten Mal, für die Dauer und eindeutig Spuren von einem Menschen festzuhalten. Die Detektivgeschichte entsteht in dem Augenblick, da diese einschneidendste aller Eroberungen über das Inkognito des Menschen gesichert war. Seither ist kein Ende der Bemühungen abzusehen, ihn dingfest im Reden und Tun zu machen« (1974: 46). Die Zivilgesellschaft setzte diese neue visuelle Technologie also als ein Mittel ein, um ihre Bürger im Auge zu behalten. In wissenschaftlichen Zeitschriften und Monographien begann man sofort, menschliche Zeichnungen durch Fotografien zu ersetzen.24 Mathew Brady und seine Mitarbeiter fotografierten den amerikanischen Bürgerkrieg (vgl. Becker 1986: 225), und schon bald dienten in den großen Zeitungen mit landesweiter Verbreitung Fotos dazu, Nachrichten zu vermitteln und wichtige soziale Ereignisse im Bild festzuhalten (vgl. ebd.). Kommerzielle Fotowerbung für Produkte erschien ebenfalls bald in den Anzeigen der nationalen Tages- und Wochenzeitungen.

Visueller Code und visuelle Wahrheit Der Prozess der Ersetzung des menschlichen Auges durch das wissenschaftliche Bild beinhaltete, wie Pleynet gezeigt hat, eine Bindung an den visuellen Code des Renaissance-Humanismus. Die Filmkamera wurde (und ist) demzufolge ein »ideologisches Instrument sui generis, das eine bürgerliche Ideologie zum Ausdruck bringt. […] Sie produziert einen auf direktem Wege ererbten Code der Perspektive, der auf dem wissenschaftlichen Apparat des Quattrocento beruht« (Pleynet, zitiert bei Comolli 1971/1985: 43).25 Dieser Code, der die westliche Malerei fünf Jahrhunderte lang beherrschte (vgl. ebd.: 44), perpetuierte die »Vorherrschaft des Auges, die ›Visualisierung‹ und die Ideologie des Sichtbaren, verbunden mit der westlichen Tradition einer Konzentration auf einen einzelnen Blickpunkt« (ebd.: 46; vgl. auch Berger 1972: 18-19 und Verdon/Henderson 1990). Das von der Kamera produzierte Bild »konnte gar nicht anders als den ›vom aufstrebenden Humanismus der Renaissance definierten visuellen Code‹ zu bestärken, der das menschliche Auge ins Zentrum der 24 | Vgl. Ekman 1973: 263-264 zu Charles Darwins früher Verwendung von Fotografien. Das American Journal of Sociology »brachte zumindest in den ersten fünfzehn Jahren seines Bestehens im Zusammenhang mit sozialreformerischen Artikeln, die sich Missständen widmeten, routinemäßig Fotografien« (Becker 1986: 225).

25 | Unter Quattrocento versteht man in der italienischen Kunst und Literatur die Epoche des 15. Jahrhunderts.

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112 | Ethnographie, Kino und Interpretation Darstellung stellt« (ebd.: 46). Das hatte den Nebeneffekt, dass andere Systeme der Erkenntnis und sinnlichen Erfassung (z.B. Riechen oder Tasten) verdrängt wurden. Sichergestellt wurde auf diese Weise »die Vorherrschaft des Auges gegenüber allen anderen Sinnesorganen; das Auge (das Subjekt) wurde an die Stelle des Göttlichen gesetzt (humanistische Kritik am Christentum)« (ebd.: 46). Dieser visuelle Code war hochgradig realistisch und vorrangig mit dem menschlichen Körper, dem Gesicht und den Augen befasst. Er schuf für das menschliche Subjekt eine feste Präsenz, indem er dessen Erfahrungen zum Mittelpunkt dessen machte, was dargestellt wurde. Er reproduzierte die Ideologie des humanistischen Subjekts, eines Subjekts, das den Renaissancekult des Individuums verkörperte.26 Der Körper dieses Subjekts wurde in Gemälden meistens realistisch dargestellt, seine Erfahrungen und Erlebnisse in Biographien (in der Frühzeit des Buchdrucks) oder im Renaissancedrama festgehalten (vgl. Gardner 1959: 288). Indem die Kamera (samt Kinoapparat) das nackte Auge durch ihre eigene »wissenschaftliche« Linse ersetzte, schuf sie einen Zuschauerblick, der den Zuschauer, wie schon erörtert, zum unsichtbaren Anwesenden im Gesehenen machte. Anders als in einem Renaissancegemälde, wo der Maler oder sein Subjekt den Betrachter anblickt, schuf der Kamerablick einen unsichtbaren Ort für den Zuschauer. Er machte dadurch aus Zuschauern Voyeure. Gleichwohl reproduzierte der souveräne Blick der Kamera den Blick des Auges, und so kam der Zuschauer durch das unsichtbare Auge der Kameralinse ins Bild (vgl. Nichols 1981: 166-167). Dabei wurde die schon in der klassischen Malerei anzutreffende doppelte Reflexivität des Sehens noch vertieft, über die Foucault in Die Ordnung der Dinge schreibt: »Wir sehen uns als durch den Maler Betrachtete und seinen Augen durch das gleiche Licht sichtbar Gewordene, durch das er uns sichtbar wird« (Foucault 1970: 6; dt. 1974: 34). Jetzt, im Zeichen des Kamerabildes, beobachtet der Zuschauer die Beobachtungen eines anderen und codiert diese innerhalb des neuen Kriteriensystems des wissenschaftlichen Realismus. Das heißt, die Kameralinse ist noch realer als das Auge. 26 | Die Renaissance erweckte die Darstellungscodes der Antike zu neuem Leben. Dieser Vorgang fiel zusammen mit »mit einem neuen Geist, einem neuen Menschenbild: einer neuen subjektiven, psychologischen Selbstbewusstheit, die einherging mit einem objektiven Interesse an der Welt. […] Eines der hervorstechendsten Merkmale der Renaissance war das Interesse am Individuum, dem besondere Bedeutung beigemessen wurde. Es waren ein Stolz auf persönliche Leistungen und ein Streben nach andauerndem Ruhm zu verzeichnen, wie es sie im Mittelalter nur selten gegeben hatte. Überall hob sich das Individuum aus der Masse hervor« (Gardner 1959: 287).

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 113 Dieser neue reflexive Blick funktionierte jedoch weiterhin in einem Rahmen (der Leinwand). Er zentrierte seinen Gegenstand in diesem Rahmen. Er zeigte ihn ganz nah und in winzigen Details (Close-up). Er reproduzierte die Ideologie des Subjekts und die Unantastbarkeit von dessen Gegenwart. Und er brachte auch den Zuschauer ins Bild, jedoch mit einer Unmittelbarkeit und Nähe, wie sie zuvor nicht möglich gewesen waren. Ein Foto konnte man in der Hand halten. Doch wurde nun der bewegungslose Blick des Bildes durch das bewegte Bild des Kinos ersetzt, was den Zuschauer in die Lage versetzte, sich dem Subjekt des Blickes im Alltagsdetail des Lebens zu widmen – in jenem Detail, das mit der Bewegung durch Raum und Zeit verbunden ist. So reproduzierte das mechanische Auge das nackte Auge und wurde dabei (um nochmals mit Foucault zu sprechen) ein »horchender Blick und ein sprechender Blick […] – ein Augenblick des Gleichgewichts zwischen dem Wort, [dem Sehen] und dem Schauspiel« (Foucault 1973; dt. 1973: 129).

Der leere Blick Paradoxerweise wurde, als menschliches Wissen in visuelle Wahrnehmung übersetzt wurde, aus der epistemologischen Gleichsetzung das menschliche Verstehen ausgeschlossen. Darauf wies der Theologe Bernard Lonergan SJ hin: Wenn also menschliches Wissen aufgrund erkenntnistheoretischer Zwänge ausschließlich als wissensähnlicher Augenschein verstanden wird, so folgt daraus als Erstes, dass menschliches Verstehen aus dem menschlichen Wissen verbannt werden muss. Denn das Verstehen ist nicht wie das Sehen. Das Verstehen wächst mit der Zeit: Man versteht zunächst einen Punkt, dann einen anderen, dann einen dritten, einen vierten […] und dieses Verständnis verändert sich mehrfach, bis endlich alles stimmig ist. Das Sehen funktioniert anders, und darum lässt, wer sagt, dass Wissen wie das Sehen sei, das Verstehen als konstitutives Element des menschlichen Wissens außer Acht (Lonergan 1963/1996).

Daraus ergeben sich mehrere Implikationen, zum Beispiel die Ausschließung des bewussten Subjekts aus dem Erkenntnisprozess. Dazu sagt Lonergan: Eine weitere Folge der analogen Gleichsetzung von Wissen mit dem populären Begriff des Sehens ist die Ausschließung des bewussten Subjekts. Dem Zuschauer werden Objekte vorgeführt, und wenn er oder sie sich selbst (er)kennen will, müsste er oder sie sich in diesem Sinne ebenfalls zur Schau stellen und angeschaut werden. Das ergibt jedoch nirgends Subjekte; denn ein Subjekt ist nicht etwas, das man anschauen kann; das Subjekt ist der Anschauende selbst (ebd.).

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114 | Ethnographie, Kino und Interpretation Aus dem wissenden, bewussten Subjekt wird nun jemand, der angeschaut wird, aber das Angeschautwerden oder auch das Anschauen selbst bewirken kein Verstehen, denn Verstehen beinhaltet eine fortschreitende Einbeziehung der Welt des Subjekts, das jedoch zum visuellen Objekt gemacht wurde. Der Wissende, der einen anderen verstehen will, muss ein Verständnis aufbauen, welches auf multipler Anschauung basiert; das heißt, er muss fortlaufend immer mehr sehen. Zutreffende Interpretationen hängen offenbar von multiplen Betrachtungen eines sichtbaren Subjekts ab. Doch der interpretierende Beobachter ist kein neutraler Zuschauer. Wie Claudia Springer feststellt, fällt bei der Gleichsetzung von Sehen und Wissen die Tatsache unter den Tisch, dass »Interpretationen in kulturellen, historischen und persönlichen Kontexten entstehen und dass sie stets von den Werthaltungen des Interpreten bestimmt sind« (Springer 1991: 178). Versieht man die Dokumente visueller Wahrnehmung mit der Macht der Wahrheit, so wird die Wahrheit selbst zum instabilen Phänomen; denn sie hängt in ihrer empirischen Grundlegung nunmehr vom interpretativen Bezugsrahmen des Betrachters ab. Ebenjene Prozesse, die Wahrheit mit Wahrnehmung verbanden, unterminierten von innen heraus die Fähigkeit des Beobachters, ohne Verunsicherung mit dem umzugehen, was über die visuelle Welt und über die Subjekte, die diese Welt bewohnten, zu sehen und zu wissen war. Es entstand ein besonderer Typus von Zuschauer: der Voyeur, der wiederholt hinsah, um Wissen zu erlangen.

Der reflektierende, erzählende Blick Wie ein Spiegel reagierte der Kinoblick der Kamera auf ein doppeltes reflexives Verlangen: zu sehen und gesehen zu werden (vgl. Metz 1982: 45). Diese Reflexion war visueller wie narrativer Natur. Auf der visuellen Ebene wurde die für das 20. Jahrhundert typische Version des reflektierten Selbst artikuliert: »Jeder dient jedem als Spiegelglas, reflektiert den andern auf der Straß’« (Cooley 1909/1956: 184). Dieses reflektierte Selbst sah sich in Gesicht, Blick, Figur und Kleidung des Kino-Selbst widergespiegelt – jenes überlebensgroßen Selbst, das von der Kinoleinwand zurückblickte. Aus dieser Widerspiegelung erwuchsen Selbst-Ideale und Selbstbeurteilungen, Selbstgefühle und Gefühle gegenüber anderen. Das reflektierte Alltagsselbst mitsamt seinen geschlechtsspezifischen Darstellungen machte sich am Kino-Selbst fest. Herbert Blumer brachte dafür u.a. folgende Beispiele:

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 115 Weiblich, 19, Collegestudentin im ersten Jahr: Als ich feststellte, dass ich diesen etwas koketten, schüchternen Blick haben sollte, den vielleicht alle Mädchen haben, übte ich ihn in meinem Zimmer. Und wer hätte das gedacht! Ich konnte Pola Negris kühlen oder heftigen Blick imitieren, auch Vilma Bankys liebe, etwas kokette Art. Ich lernte exakt, wie ich meine Kavaliere mit einem sehnsüchtigen Lächeln zur Tür begleiten oder hereinbitten konnte, bis es zu einem Teil meiner selbst geworden war (Blumer 1933: 34).

Und ein weißer männlicher Collegestudent im zweiten Jahr gab zu Protokoll: Die Erscheinung gutaussehender Männer wie John Gilbert, Ben Lyon, Gilbert Roland und wie sie alle heißen, in ihrer Sportkleidung, im Frack, im Anzug etc., hat mich dazu gebracht, mich auch so gut wie möglich zu kleiden, um einen ähnlichen Eindruck zu machen. Man übernimmt aus der Beobachtung solcher Männer auf der Leinwand Anstandsgesten wie das Aufstehen oder Setzen, wie man zum Gruß an die Hutkrempe tippt oder den Hut zieht, wie man der Dame den Arm anbietet etc. – besonders wenn sie es so tun, dass es dem eigenen Geschmack entgegenkommt (ebd.: 33-34).

Diese Selbstbilder als Reflexionen der Kinoleinwand wurden in den Vorstellungen und Phantasien der Kinobesucher verinnerlicht. Sie wurden zum Bestandteil der imaginierten Selbstgefühle des Individuums und gingen auch in dessen Interaktionen mit anderen ein. Dieser reflexive Blick gab dem Hinsehen eine neue Dimension. Der Kinobesucher wurde zum unsichtbaren Voyeur, und dieser Blick ergänzte die sexuell motivierte Schaulust, »eine andere Person als Objekt anzuschauen« (Mulvey 1989: 17). Im Extremfall wurde diese Form des Blickes »zur Perversion fixiert; das Ergebnis waren Voyeure und Spanner, deren einzige sexuelle Befriedigung daraus resultierte, mit aktivem Kontrollblick zum Objekt degradierte Andere zu beobachten« (ebd.: 17).27 Der reflektierende Kinoblick kam einer sinnlichen Schaulust entgegen, und dabei wurde der Blick so strukturiert, dass Frauen als Sexualobjekte betrachtet und Männer zu Voyeuren wurden, die ein Vergnügen daran empfanden, Frauen so ausgestellt zu sehen: Frauen wurden zum Wunschbild, Männer zu Hinschauenden, zu Trägern des Blickes (vgl. ebd.: 19).

27 | Das war die Geburtsstunde des offen sexuellen pornographischen Kinos. Laut Mulvey (1989: 19, 26) zeigte jedoch schon das gesamte traditionelle Kino mehr oder weniger deutliche Anzeichen davon.

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116 | Ethnographie, Kino und Interpretation

Der Alltagsblick und die narrative Reflexivität Der Zuschauerblick im Kino baute den Blickkontakt aus dem Alltagsleben, auf dem er auch strukturell basierte, weiter aus (vgl. Simmel 1924, Goffman 1963). Das heißt, er war in der visuellen Interaktion meistens von mehr Präzision und Voyeurismus geprägt. Er vergrößerte die Schaulust, das sinnliche Vergnügen daran, andere anzuschauen. Und er verstärkte auch die Emotionalität jener Formen des höflichen Wegschauens, die man sich und anderen normalerweise zugesteht. »Höfliche Gleichgültigkeit«, schreibt Erving Goffman, »setzt hinreichende visuelle Beachtung des anderen voraus, die beweist, dass man seine Anwesenheit würdigt (man gibt offen zu verstehen, man habe ihn gesehen), während man im nächsten Augenblick die Aufmerksamkeit bereits wieder zurücknimmt, um zu dokumentieren, er stelle keinesfalls ein Ziel besonderer Neugier oder spezieller Absichten dar« (Goffman 1963: 84; dt. 1971: 85). Das Kino verpflanzte den Alltagsblick in die verdunkelten Räume des Lichtspielpalastes und brachte den Menschen bei, die Normen höflichen Wegsehens zu missachten. Die Grenzen zwischen Alltags- und Kinoerfahrung wurden in der »primitiven Phase« des frühen Kinos (1895-1911) wiederholt überschritten (vgl. Mayne 1990: 157). Exemplarisch steht dafür der Film Uncle Josh at the Moving Picture Show (Onkel Josh im Kino) aus dem Jahre 1902, in dem ein naiver Zuschauer zum ersten Mal ein Kino besucht. Er wird immer stärker in die Vorführung der drei Kinofilme hineingezogen, bis er zu Beginn der dritten Filmvorführung »die Leinwand herunterreißt, weil er meint, so in die fiktionale Welt auf der Leinwand eindringen zu können; doch stattdessen sieht er sich dem Filmvorführer hinter der Leinwand gegenüber, und der Film endet mit einer Rauferei zwischen den beiden« (ebd.: 31). Während dieser Film die Schwelle zwischen filmischer Welt und Alltagswelt thematisierte, brachten andere Filme wie The Story the Biograph Told (1904) das Kinoauge direkt in den Zusammenhang der Gesellschaft. In diesem Film nimmt nämlich ein Junge mit einer Filmkamera heimlich einen Mann und dessen Sekretärin dabei auf, wie sie sich im Büro des Biographen küssen. Dieser Film wird dann – als Film im Film – bei einer Kinovorführung gezeigt, die der gefilmte Mann gemeinsam mit seiner Ehefrau besucht (vgl. ebd.: 169). In diesen Filmen wird das Kino sofort und direkt mit Voyeurismus und dem Alltagsleben in Verbindung gebracht. Die Kamera wird dabei zu einem neuen Mittel, um soziale und moralische Übergriffe auf das Privatleben zu etablieren. Zugleich kommt es zu einer reflexiven Interaktion zwischen filmischen Darstellungen auf der Leinwand und realen Erlebnissen und Erfahrungen im wirklichen Leben. Diese visuelle Strukturierung des Zuschauerblicks musste, wie be-

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 117 reits erörtert, in eine Erzählung, eine Geschichte, ein Diskurssystem eingebettet werden. Christian Metz hat darauf hingewiesen, dass »das Kino […] in einer Zeit entstand, in der das soziale Leben von der Vorstellung des Individuums nachhaltig geprägt war« (Metz 1982: 95; Hervorhebung im Original). Kino wurde für private Individuen und deren Gefährten gemacht. Wie im klassischen Roman wurden auch im Kino realistische Geschichten, Schauergeschichten und Melodramen über das Leben von Männern, Frauen und Kindern in der zeitgenössischen Gesellschaft erzählt (vgl. unten). Indem sie den Kinoblick narrativ einbetteten, führten die Filmemacher eine neue Form des visuellen und mündlichen Geschichtenerzählens in die neuen Industriegesellschaften ein. Hollywoods Geschichten waren Mythen, öffentliche Träume, säkulare Märchen (vgl. Silverstone 1988: 23). Ritualisiert und emotional, wie sie waren, ermöglichten diese Geschichten den Menschen, ihrem eigenen Alltag einen Sinn abzugewinnen. Sie verwendeten die Logik des Helden und der Heldin, um Geschichten über Individuen und ihre Familien zu erzählen. Sie einten das Publikum, indem sie zentrale kulturelle Werte unterstrichen, etwa die Abscheu vor Gewaltverbrechen etc. Sie schufen eine reflexive Illusion, dass die Welt da draußen kontrollierbar und unter Kontrolle sei. Das heißt, das moderne Individuum konnte wie eine Leinwandfigur das eigene Leben in die Hand nehmen. Dazu wieder ein von Blumer zitiertes Beispiel: Männlich, 20, jüdisch, Collegestudent im dritten Jahr: Als ich sechzehn Jahre alt war, sah ich den Film »Die zehn Gebote«, und seither habe ich den Wert der Religion nie mehr in Zweifel gezogen. Die vielen Mühen und Härten, die mein Volk auf sich genommen hat, um unsere Rasse zu erhalten, wurden dort so lebhaft und realistisch dargestellt, dass ein Gefühl der Ehrfurcht und des Respekts vor meiner Religion in mir verankert wurde (Blumer 1933: 177).

Und eine 16-jährige weiße High-School-Schülerin aus dem vorletzten Schuljahr gab zu Protokoll: Ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, dass ich, als ich dreizehn Jahre alt war, einen Film sah, dessen Heldin ein hübsches junges Mädchen war. Sie hatte in der Schule das Fach Wirtschaftskunde belegt und war, nachdem sie fleißig gearbeitet hatte, zur Privatsekretärin befördert worden. Noch heute möchte ich Privatsekretärin werden. Ich habe immer dagesessen und geträumt, wie mein Leben wohl wäre, wenn ich diese Stellung erreicht hätte (ebd.: 169).

In diesen Träumen und Phantasien schufen die Kinofilme emotionale Darstellungen des Selbst, der Sexualität, der Sehnsucht, der Intimität, der Freundschaft, der Ehe, des Arbeitslebens und der Familie. Diese

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118 | Ethnographie, Kino und Interpretation reflexiven Darstellungen nahmen Bezug auf die ideologischen Strukturen des Alltagslebens. Sie schufen eine Alltagspolitik der Emotionalität und der Gefühle, die die gelebten, realen emotionalen Erfahrungen mit formten (vgl. Grossberg 1988: 17). Der Kinoblick war auf visuelle Beherrschung aus, er agierte hegemonial; er ließ keinen Winkel der Gesellschaft unberührt. Seine mit Geschichten versehenen Blicke drangen in die Welten des Zuhause, der Arbeit, der Freizeit, der Sexualität, des Sports, der Medizin, der Wissenschaft, der Gefängnisse, der Schulen, der Kirche, der Gerichte und des Krieges ein. Die Filme und das Kinoauge führten in die soziale Welt Formen des Fühlens und Denkens ein, die die harschen Alltagsrealitäten mit der Phantasiewelt der Hollywood-Träume in Einklang zu bringen versuchten. Diese Geschichten waren geschlechts- und rassenspezifisch; sie wurden durch die ideologischen Herrschaftsstrukturen geformt, die in der umfassenderen Sozialstruktur existierten. Diese visuelle Hegemonie öffnete die Kinogesellschaft für sich selbst und zerstörte dabei dauerhaft die Grenzen zwischen dem Privatleben des Individuums und dem öffentlichen Leben der umfassenderen Gesellschaft. Alle persönlichen, politischen, soziologischen, kulturellen und ökonomischen Dilemmata wurden zu persönlichen Melodramen umgeformt (vgl. Ray 1985: 57). Indem die Filme aus persönlichen Problemen öffentliche Geschichten machten, »trivialisierten sie die Problemthemen zu persönlichen Streitereien, anstatt deren menschliche Dimensionen und ihre Bedeutung für dich und mich exemplarisch herauszustellen« (Mills 1956: 335).

Kontrolle und Strukturierung des Kinoblicks Das klassische Kino ordnete die filmtechnischen Probleme und Möglichkeiten (Kameraposition, Beleuchtung, Fokus, Rollenbesetzung, Bildeinstellung und Schnitt) ganz den »Interessen einer Filmerzählung« unter (Ray 1985: 32). Die Beleuchtung blieb unaufdringlich, der Aufnahmewinkel lag auf Augenhöhe, die Bildeinstellung platzierte das Subjekt im Mittelpunkt der Szene und »Schnitte kamen an den logischen Punkten der Handlung und des Dialogs« (ebd.). Schuss-GegenschussSequenzen dienten, wie Noel Burch feststellt, dazu, »den Zuschauer in den Blickkontakt der Schauspieler (und damit letztlich auch in ihren ›Wortkontakt‹) zu verwickeln und ihn oder sie in den mentalen und ›physischen‹ Raum der Filmwelt einzubeziehen. Natürlich war ein solches Verfahren für die Situation der illusionistischen Phantasie und die Zuschaueridentifikation grundlegend« (Burch 1979: 158). Dieser Schnittstil gab, indem er »die Rolle des Filmemachers verbarg« (Ray 1985: 39), der Kinoerzählung den Anschein des Natürlichen. Das »Vernähen« von

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 119 Einzelaufnahmen, »wodurch eine Einstellung die vorangehende komplettiert [das heißt, wenn beispielsweise auf die Aufnahme eines Hauses direkt die eines Mannes folgt, der aus einem Fenster dieses Hauses schaut], hinderte den Zuschauer daran, sich des Status des Films als eines Objekts, das von Individuen mit besonderen Neigungen und Vorurteilen hergestellt wird, bewusst zu werden« (ebd.). Durch solche Strategien machte Hollywood das Wirken des technischen Kinoapparats unsichtbar. Die Filmerzählung (Storyline) erhielt den Vorrang gegenüber den Operationen der verborgenen Kamera und gegenüber deren Perspektivmöglichkeiten. Dieser unsichtbare Stil machte den Zuschauer zu einem Teil des Textes. Das Resultat war, wie Robert Ray vermerkt, eine Verstärkung der ideologischen Macht des Kinotextes. Selbst narrative Machwerke erschienen so als »spontan und ›real‹« (1985: 55). Dieser neue Blick wurde vom Staat mit Beschlag belegt und von dessen Agenten, den Wissenschaftlern, sowie von den Hollywood-Regisseuren perfektioniert. Das nächste Glied in der ideologischen Kette, als die sich die Kinogeschichte darstellt, verband die Kamera und deren Bilder mit den bewegten Bildern des Films und schließlich mit der voll ausgeprägten Kinoversion des Farb- und Tonfilms. Das ideologische (und wissenschaftliche) Erbe der Kamera und der Fotografie sollte seinen vollen ökonomischen Vorteil allerdings erst ausspielen können, als sich die Überwachungsgesellschaft etabliert hatte – mit ihrem ideologischen Bedürfnis, die gesellschaftliche Welt in ihrer Gesamtheit zu sehen und durch den totalisierenden wissenschaftlichen Apparat alle Merkmale des modernen Lebens zu erfassen (vgl. Foucault 1980: 155, 162; dt. 2003: 260f., 268).28 Wer an den Schalthebeln der Macht saß, hatte für diese neue mechanische Sehweise natürlich multiple Anwendungsmöglichkeiten, für die unverzüglich die ideologischen Bedürfnisse der Demokratie den Rahmen abgaben. Mit anderen Worten, es herrschte die Überzeugung vor, dass eine Form der demokratischen Überwachung erforderlich sei, wenn eine informierte öffentliche Meinung in den industrialisierten und kapitalistischen Gesellschaften hervorgebracht werden sollte (vgl. Foucault 1980: 162; dt. 2003: 268). Speziell wurde eine unparteiische objektive Informationsquelle über die Gesellschaft und ihre Funktionsweise benötigt. 28 | Für Foucault verkörpert sich dieser Drang im Panoptikum (einem Gefängnis, in dem alle Häftlinge von einem einzigen zentralen Punkt aus durch Einblick überwacht werden konnten). Diese panoptische Vision ist allumfassend. Das von Jeremy Bentham übernommene Prinzip des Panoptikums wurde später von Ärzten, Strafvollzugsexperten, Industriellen und Bildungsexperten aufgegriffen. Als Machttechnologie diente sie der Lösung von Überwachungsproblemen in den neuen Industriegesellschaften (vgl. Foucault 1980: 148; dt. 2003: 252).

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120 | Ethnographie, Kino und Interpretation Darauf bauten die frühen Filmemacher auf. Ihre Argumentation lief darauf hinaus, dass es durch ihre Arbeit »keinen Bedarf an Informationsinterpretation durch Reporter mehr geben werde. Der Zuschauer könne ja selbst sehen und sich selbst ein Urteil bilden. […] Wenn der Einzelne alles aus erster Hand sehen könne, werde die Einschätzung der Fakten akkurater sein« (Davis 1976: 77). Eine solche Kontrolle übten zuerst die Journalisten und Fotojournalisten aus, danach die Herren des neuen Kinoauges und seiner Sehweise, nämlich die Filmemacher und Wochenschauredakteure, die akkurate Berichte aus dem Tagesgeschehen liefern konnten (vgl. Foucault 1980: 162; dt. 2003: 268).29 Die unparteiischen Wiedergaben der Realität, die Kamera, Fotografie und Kino hervorbringen konnten, erwiesen sich als segensreich für die Demokratie. Dadurch wurde der amerikanische Bürger zum informierten Teilnehmer an der Geschichte (vgl. Davis 1976: 72). Diese Bilder und Geschichten erweckten das öffentliche Interesse an der Demokratie. Auch unterstützten sie die Kriegsanstrengungen (vgl. ebd.: 95), förderten die nationale Solidarität und den Patriotismus und machten, da sie allen Bürgern gleichermaßen verfügbar waren, alle Bürger gleich. Auf diese Weise wurden demokratische Grundprinzipien gefestigt (vgl. ebd.: 61). Umgehend herrschte eine ökonomische Nachfrage danach, diese neue Form des Sehens profitabel zu machen, das heißt, Filme aus dem zu machen, was die Kamera sehen konnte. Schon wenige Monate nach Edisons Erfindung war klar, dass Millionen Menschen bereit sein würden, dafür zu zahlen, dass sie diese Bilder sehen durften. Die frühen Filme waren von den Herstellungskosten her sehr preiswert (200 bis 500 US-Dollar laut Cook 1981: 32). 1914 war die Filmproduktion bereits ein Multimillionengeschäft pro Jahr, und dieses Multimillionen-DollarEmpire hatte eine kleine Gruppe von Menschen in ihrer Hand (vgl. ebd.: 43).30 In den 1930er Jahren übte eine Handvoll von Banken und Groß29 | Foucault sagt, die Theoretiker des demokratischen Staates aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert hätten es versäumt, die Ökonomie und die Macht »der Presse, des Verlagswesens, dann des Kinos und des Fernsehens [sowie die Tatsache], dass die Medien notwendig von ökonomisch-politischen Interessen beherrscht werden«, in ihre Betrachtungen einzubeziehen (1980: 161f.; dt. 2003: 268).

30 | Nach einigen Schätzungen beliefen sich im Jahre 1908 die Gewinne dieser neuen Branche auf mehr als 75 Millionen US-Dollar, einschließlich der Verkäufe im Wert von 4 Millionen US-Dollar an Verleihagenten, die mit den Nickelodeons Vermietungsgewinne von 8 Millionen US-Dollar erzielten, bei Besuchereinnahmen von insgesamt mehr als 65 Millionen US-Dollar. Zu den Beschäftigten dieser Branche gehörten damals 90 000 Personen, die in Kinos und Filmverleihen arbeiteten, und die vierfache Zahl an Beschäftigten in der

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 121 konzernen (Rockefeller, Chase National Bank, RCA, General Electric, Morgan, AT & T, Western Electric) direkte oder indirekte Kontrolle über den viertgrößten Industriezweig des Landes aus, wie er später genannt wurde (vgl. Cook 1981: 232, aber auch Gomery 1979). Das, was zu sehen war, konnte demnach genutzt werden, um Profit zu machen und gesellschaftliche Kontrolle auszuüben. All diesen verschiedenartigen Impulsen verdanken das Kino und die Kinogesellschaft ihre Entstehung (vgl. Comolli 1971/1985: 55).31

Kinorealität und Kinoimagination Aus der Kinematisierung der amerikanischen Gesellschaft ergaben sich mehrere Implikationen. Die visuell erfahrene Realität wurde zur inszenierten gesellschaftlichen Produktion. Reale Alltagserfahrungen wurden schon bald an ihren Gegenstücken auf der Bühne und im Kino sowie an den entsprechenden Seherfahrungen gemessen.32 Die Fans der Filmstars kleideten sich wie diese, sie lebten ihre Liebe nach dem Vorbild der Filmhelden aus und träumten die Träume ihrer Stars. Auch hierfür gibt Blumer ein Beispiel: Weiße Collegestudentin (24) im Abschlussjahr: In meiner Highschool-Zeit mochte ich besonders gern Filme, die in Millionärsvillen oder ähnlich aufwändigen Orten spielten. Wenn ich einen solchen Film gesehen hatte, stellte ich mir immer vor, wie es wäre, wenn ich auch ein so leichtes und angenehmes Leben führen könnte wie das Society Girl, das ich gerade gesehen hatte. Meine Tagträume beschäftighandwerklichen Herstellung und inhaltlichen Produktion von Filmen (vgl. Davis 1976: 115).

31 | Standarddarstellungen der Filmgeschichte (Sklar 1975, Cook 1981, Mast 1976, Allen/Gomery 1985) zeigen, dass die technischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen des Kinos vielleicht schon ein rundes Jahrhundert vor den 1890er Jahren gegeben waren, dem Zeitpunkt, da das Kino als kommerzielles Unterhaltungsmedium in den amerikanischen und europäischen Kulturen in Erscheinung trat. Jean-Louis Comolli (1971/72 und 1985) und Edward Branigan (1979) dokumentieren das Vorhandensein der Camera obscura schon im pharaonischen Ägypten des Jahres 347 v. Chr. und in der arabischen Wissenschaft des 9. Jahrhunderts n. Chr.

32 | Hier war eine Dialektik am Werk. Die ideologische Forderung nach mehr Realismus im Kino führte zu technologischen Veränderungen, die dem Kino einen noch größeren Realismus verliehen, darunter der Tonfilm und der Farbfilm (vgl. Allen/Gomery 1985: 127). Auf diese Weise wurde das Kino sogar noch realistischer als der Alltag.

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122 | Ethnographie, Kino und Interpretation ten sich mit luxuriöser Kleidung, wunderschönen Häusern, Dienstpersonal, importierten Automobilen, Jachten und zahllosen Verehrern (Blumer 1933: 64).

Und jemand anders gab zu Protokoll: »Ich habe immer in den Spiegel geschaut, als würde ich jemanden anhimmeln, und habe mir dann vorgestellt, wie Wallace Reid oder John Barrymore dieses Gesicht geküsst haben« (ebd.: 66). Die Metapher von der dramaturgischen Gesellschaft (vgl. Lyman 1990: 221) oder vom »Leben als Theater« (vgl. Brissett/Edgley 1990: 2, Goffman 1959: 254f.) hörte auf, eine reine Metapher zu sein. Sie wurde zur Interaktionsrealität. Leben und Kunst wurden zu Spiegelbildern, die einander reflektierten. Dazu sagte eine weitere von Blumer zitierte Studentin: Ich habe mich in Kinohelden verliebt. […] Ich habe mir vorgestellt, wie ich die Helden mit großer Leidenschaft liebkost und so geküsst habe, dass wir einander im Kuss ewig verbunden bleiben würden. […] Ich habe an mir selbst oder mit meinen Freundinnen Liebesszenen ausprobiert. Wir meinen manchmal, wir könnten Greta Garbo ausstechen, aber ich habe da so meine Zweifel. (Blumer 1933: 71; Hervorhebung durch N.K. Denzin).

Die Hauptträger des Populären in der Kinogesellschaft wurden bald selbst zum Medium, welches Inhalt und Bedeutung des Populären definierte. Das heißt, die Populärkultur wurde schnell zur Sache des Kinos und der verwandten Medien, einschließlich Fernsehen, Presse und Populärliteratur. Das Kino kam in eine amerikanische Großstadtkultur hinein, in der es schon bald viele öffentliche Räume mit Rassentrennung gab, darunter Baseballstadien, Vergnügungsparks, Büchereien, Museen, Kinopaläste, Themenparks, Nationalparks, Weltausstellungen. In ihren Darbietungen brachten diese karnevalesken Orte rassische, geschlechtsrollenspezifische und ethnische Differenzen zum Verschwinden, während sie diese in der Realität sehr wohl beibehielten. So förderten die urbanen Unterhaltungsformen in einer »Republik [voyeuristischer] Vergnügungssucher« (Nasaw 1994: 2) ein Gefühl öffentlicher Gemeinschaft. Der Kinoapparat systematisierte den neuen urbanen Blick. Dabei wurde in ein immer komplexeres Augen-und-Ohren-Regime ein neuer visueller und auditorischer Gegenstand eingeführt. An den neuen öffentlichen Orten interagierten multiple, von Martin Jay (1988: 18) als cartesianisch, baconianisch und barock bezeichnete visuelle Kulturen oder Regime. Die mit dem cartesianischen Perspektivismus (Richard Rortys »Spiegel der Natur«), dem Baconschen Empirismus (Positivismus) und einer reflexiven Barockästhetik (Spielarten der Selbstreflexion) verbun-

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 123 denen visuellen und Darstellungscodes fanden in den vom Kinoapparat produzierten Darstellungen unterschiedliche Räume.33 Hollywood manipulierte sein Massenpublikum durch die Schaffung von Texten, die die Zuschauer in diesen multiplen visuellen und auditorischen Kulturen verorteten. In den frühen 1930er Jahren hatten Marketingspezialisten herausbekommen, wie man das Massenpublikum je nach Geschlecht, Alter, Einkommen und Rasse in unzählige Segmente aufspalten konnte. Diese Segmentierung des Publikums zerstörte die »Republik der Vergnügungssucher«.34 »Gemeinsame Konsumgewohnheiten waren nicht länger in der Lage, eine kohärente Kultur und eine Bevölkerung zu schaffen, die sich als einheitliche Öffentlichkeit empfand« (Lears 1994: 29). Die öffentlichen Sphären der Zivilgesellschaft kollabierten. Die Integration öffentlicher Räume zerstörte das »rassisch fundierte Privileg, welches [zuvor] das weiße Publikum zusammengehalten hatte« (ebd.). Die Ausbreitung des Fernsehens und die zunehmende Verlagerung der suburbanen Unterhaltung ins Private trugen das Ihrige zur Zerstörung dieser gemeinsamen visuellen Kultur bei.

Die Kinoimagination Die Verkörperung des Blickes in ihren multiplen Formen führte zur Entstehung einer Kinoimagination – einer Imagination, die in den privaten und populären Kulturen des amerikanischen Lebens Verbreitung fand. Diese Imagination war visueller, narrativer und ästhetischer Natur. Sie definierte zentrale persönliche Erfahrungen, besonders jene, die in den kulturellen Identitäten von Rasse, Klasse und Geschlecht verankert waren, im Kontext einer übergreifenden Erzählung, die sich aus dem 33 | Jay (1988: 3-4, 18-20) unterscheidet vier visuelle Subkulturen (»skopische Regime«), die er als cartesianisch, baconianisch, barock und hysterisch bezeichnet. Das cartesianische Regime verkörpert das transzendentale Auge des vereinzelten, objektiven Voyeurs. Die baconianische Sicht ist fragmentarisch, eher deskriptiv als erklärend. Das barocke Auge betont die Komplexität der Textualität, einen Überschuss an Bildern, das Bizarre und Desorientierende, während das hysterische Auge (mit seiner verrückten Sicht) das Unsichtbare unterstreicht, alles, was vom Standpunkt eines allwissenden Auges aus nicht objektiv erfasst werden kann. Diese skopischen Kulturen wurden nach und nach immer stärker in die realistischen, modernen und postmodernen ästhetischen Formationen inkorporiert, die Fredric Jameson (1990: 155f. und 1991) mit den drei wichtigsten strukturellen Phasen des Kapitalismus im 20. Jahrhundert verbindet (lokaler, Monopol- und multinationaler Kapitalismus).

34 | Schon bald gab es getrennte Kinos für Frauen, Minderheiten und Jugendliche.

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124 | Ethnographie, Kino und Interpretation klassischen Theater und der melodramatischen Literatur der Viktorianer herleitete (vgl. Mast 1976: 123). Diese Imagination suggerierte, dass das Leben wie ein gut gebautes Theaterstück Anfang, Mitte und Schluss habe und dass das bevorzugte kulturelle Selbst seinen höchsten Ausdruck und seine schönste Erfüllung in Liebeswerben und Ehe finde (vgl. Clough 1992: 13). Diese Imagination forderte Geschichten mit glücklichem Ausgang, und sie bestärkte die zentralen amerikanischen Werte des Individualismus, der Freiheit, des Pioniergeistes, der Liebe, des Fleißes, der Familie, des Wohlstands und der Kameradschaft (vgl. Ray 1985: 56-59). Solche Geschichten prägten sich der Kinoimagination ein; sie wurden zu vorbildhaften Erzählungen, zu Mythen, die Strukturen vorgaben, wie Lebensführung und Lebensglück zu bewerten und zu beurteilen seien. Ästhetisch vermittelte diese Imagination das Verhältnis des Einzelnen zur Welt des Populären und zur Alltagswelt. Sie beurteilte Geschichten und Bilder nach ihren menschlichen Elementen. Ihre Wertschätzung galt einer realistischen Ästhetik, die auf einer realistischen Erkenntnistheorie basierte (siehe unten). Die Kinoimagination vermittelt zwischen diesen komplexen, einander überschneidenden Kulturen und versucht dabei fortwährend, zwei verschiedene Versionen der Realität sinnvoll und sinnstiftend in Einklang zu bringen: Kinorealität und Alltagsrealität. Dabei entsteht jedoch eine paradoxe logische Struktur, insofern das Alltägliche nun durch die Kinorealität definiert wird. Beides lässt sich nicht mehr auseinander halten. In beiden visuellen Bereichen gilt nur noch ein einziges epistemologisches Regime. Somit erschuf sich das Kino nicht nur seine Zuschauer nach seinem eigenen Bilde, sondern es schuf zugleich auch, was das Auge des Zuschauers zu sehen bekam. Dann unterwarf es dieses Auge und dessen Sehweise den gnadenlosen Kriterien des Realismus und eines realistischen Abbilds der Wirklichkeit, wie sie im Auge der Kamera vorgegeben sind. Gleichwohl blieb im gesamten Verlauf dieser Geschichte der Voyeurblick eine Konstante. Denn es gab (und gibt) für die Figur des Voyeurs ein Bedürfnis: Er oder sie verweist auf Gefahren, die außerhalb (und innerhalb) der eigenen vier Wände lauern. Dabei hat Hollywood auf seine ganz eigene hegemoniale Weise diese Figur unter Kontrolle gehalten. In diesem Zusammenhang kommt eine zentrale Rolle dem reflexiven Text zu.

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Das reflexive Kino Das reflexive Kino ist, wie bereits erörtert, jene Formation der Kinoerzählung, die Geschichten über das Geschichtenerzählen erzählt und auf diese Weise den Kamerablick mitsamt seinem Wahrheitsanspruch hinterfragt. Das reflexive Kino durchbricht die vierte Wand des naturalistischen Bühnenraums und transportiert den Zuschauer in jene Räume, in denen Realität sozial konstruiert wird. Im reflexiven Text können Schauspieler aus der Bühnenwelt heraustreten und das Publikum direkt ansprechen. Einzelne Einstellungen zeigen Kameras, welche die Schauspieler fotografieren, oder Regisseure bei der Arbeit. Auch Szenen in Fernsehshows, bei denen Akteure der Szene auch im Fernsehen auftreten, gehorchen dieser reflexiven Strategie – wie auch Vergrößerungen von Fotos, die reale Ereignisse wiedergeben, deren Spuren sich später verlieren. In Horsefeathers, dem Film der Marx Brothers aus dem Jahre 1932 (dt. Blühender Blödsinn), findet sich dafür ein komisches Beispiel: Groucho Marx wendet sich, als sein Bruder Chico Klavier zu spielen beginnt, zur Kamera und sagt: »Ich muss ja hier bleiben, aber eigentlich sehe ich keinen Grund, warum ihr nicht einfach so lange rausgehen solltet, bis das da vorbei ist« (Ray 1985: 37). Das reflexive Kino hinterfragt die Regime des Realismus, auf die unsere moderne und postmoderne Kultur so großen Wert legt. Es stellt die Illusion infrage, derzufolge sich alles und jedes vom Kameraauge einfangen lässt. Das reflexive Kino verletzt bewusst die Regeln des klassischen realistischen Films und legt den Schluss nahe, dass die Welt da draußen vielleicht doch nicht von einem panoptischen Blick kontrolliert wird, der Anspruch auf Objektivität erhebt, weil seinem neutralen wahrheitssuchenden Auge nichts entgehen kann. Vielmehr ist der Schluss intendiert, dass dieser Blick, weil subjektiv und ideologisch, mit Fehlern behaftet ist und nur eine bestimmte Version der Wahrheit wiedergibt – sowie der Schluss, dass die Besitzer der Kameras vielleicht nur ihre eigene Version der Wahrheit erzählen. Auf diese Weise werden Macht und Wissen zu ideologischen, kinogerechten textuellen Produktionen. Das reflexive Kino stellt eine Herausforderung für jene Texte dar, die vorgeben, die Realität wahrheitsgemäß und objektiv darzustellen.

Wie man wissen kann, was real ist Mit seiner Herausforderung geht der reflexive Text gegen den ethnographischen Kinorealismus an – gegen den Code des traditionellen Kinos, das auf einer Reihe von epistemologischen Annahmen hinsichtlich Wahrheit und Genauigkeit beruht und entsprechend organisiert ist (vgl.

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126 | Ethnographie, Kino und Interpretation Nichols 1981, Kapitel 6 und 7).35 Solche traditionellen realistischen Kinotexte setzen eine mit der Theorie der Kamerarealität verbundene Version des positivistischen Realismus um. Die Theorie der Kamerarealität behauptet, Genauigkeit und Wahrheit hingen direkt von der Nähe zum aufgezeichneten Ereignis ab. Damit verbunden ist zum einen die Annahme, das wissenschaftliche Auge der Kamera (oder das Auge des fachlich ausgebildeten Beobachters) sei besser als das nackte Auge eines untrainierten Beobachters, und zum anderen die Annahme, ein Ereignis, das nicht direkt und unmittelbar festgehalten wird, könne später nicht mehr akkurat aufgezeichnet und interpretiert werden. Rekonstruktionen seien stets anfällig für Irrtümer. Geschichtsschreibung im Kino (und Fernsehen) klassifiziert demzufolge (wie alle journalistischen Formen, die sich in ihrem Engagement für die Wahrheit einig sind) Nachrichtenquellen und -geschichten nach ihrer Verlässlichkeit und Stichhaltigkeit. Das gilt auch für alle Quellen aus erster und zweiter Hand. Geheimen und vertraulichen Informationsquellen aus Hinterzimmern wird oft mehr Wert und Zuverlässigkeit beigemessen als öffentlichen Quellen, trainierten Beobachtern mehr Glaubwürdigkeit als untrainierten Zufallsreportern. Allerdings wird einem untrainierten Berichterstatter, der das betreffende Ereignis selbst erlebt hat, ebenfalls hohe Glaubwürdigkeit attestiert. Diese realistische Erkenntnistheorie, die in Citizen Cane (1941) hart kritisiert und in All the President’s Men (1975; dt. Die Unbestechlichen) in neue Höhen gehievt wurde, unterscheidet zwischen »Enten« (nicht authentischen Berichten) und wahrheitsgemäßen (authentischen) Berichten.36 Das führt zu einer Vorliebe für das Datieren von Berichten. Es wird also gefragt, wann die betreffenden Berichte im Verhältnis zum berichteten Ereignis entstanden. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Anachronismen bei Datierung und Autorschaft. Normalerweise werden drei Evidenzkritierien angewandt: 1) War die Quelle der Geschichte in der Lage, die Wahrheit zu erzählen? 2) War der Primärzeuge bereit, die Wahrheit zu erzählen? 3) Gibt es für die fraglichen Details irgendeine Bestätigung von außen? Zeugen könnten zwar in der Lage sein, wahr35 | Diese Annahmen haben mit den Standardmethoden der Geschichtsschreibung vieles gemein (vgl. Gottschalk/Kluckhohn/Angell 1945).

36 | In Citizen Cane wird erfolglos versucht, durch Befragung vieler Zeugen und sozialer Texte (Wochenschauen, Memoiren) herauszufinden, wer der wahre Charles Foster Cane war. In Die Unbestechlichen dagegen wird eine journalistische Recherchemethode (Triangulation, »Dreiecksbildung«) vorgestellt, der zufolge weder Woodward noch Bernstein auf der Basis von Informationen handelten, die nicht von mindestens zwei Quellen unabhängig voneinander bestätigt worden waren.

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 127 heitsgemäß zu berichten, ebendies aber nicht wollen. Bestätigende Beweise von außen können vorliegen oder auch nicht. Ist das nicht der Fall, so kann auch eine Lüge wie eine Tatsache bestätigt und berichtet werden. Diese Theorie des Realismus basiert auf der unterstellten Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses. Sie geht davon aus, dass die Bedeutungen eines Ereignisses stets am Maßstab der ursprünglichen Darstellung zu messen sind. Das ursprüngliche Ereignis wird somit zu einem Original, von dem anschließend unendlich viele Kopien hergestellt werden können, einem Original, das endlos beschrieben und gedeutet werden kann. Doch ohne Original stehen alle folgenden Deutungen im Zweifel. Daher die vorrangige Beschäftigung mit dem Realen und seiner Darstellung. Diese Theorie ist allerdings nicht problemlos. Wie weiter oben schon gezeigt wurde, setzt sie Wissen mit visueller Darstellung gleich. Und sie schließt das handelnde Subjekt aus dem interpretierenden Text aus. Dieser Text ist jedoch keine neutrale Produktion, sondern er basiert auf den Deutungsvorlieben des Beobachters. Ferner geht diese Theorie von der Annahme aus, es gebe kein Original, sondern nur multiple Vorgänge, Aufzeichnungen, Erinnerungen und Dokumente eines Ereignisses. Wenn man indes annimmt, dass ein Ereignis keine Sache ist, die so lange stillhält, bis sie aufgezeichnet worden ist, sondern ein Prozess, der erst durch den Deutungsvorgang dramaturgisch konstruiert wird; wenn man überdies berücksichtigt, dass Kino- und Fernsehereignisse inszenierte Produktionen sind, die nur so gestaltet sind, dass sie real aussehen; und wenn man ferner annimmt, dass diese Produktionen in ihren Inszenierungen mit den Kopien früherer Ereignisse zu vergleichen sind, von denen jede oder keine ein Original ist, und so weiter, und so weiter, dann ist der »Realismus« eines Ereignisses nichts anderes mehr als eine Funktion des Ausmaßes, in dem das Ereignis als inszeniertes Ereignis so gestaltet ist, dass es wie eine reale Begebenheit aussieht.

Kino-Epistemologie und Kino-Geschichtsschreibung Die Geschichtsschreibung im Kino geht methodisch von einer festen, stabilen sozialen Welt aus, die akkurat aufgezeichnet werden kann. Ebendies war auch Ziel des »totalen Kinos« (cinéma total, vgl. Bazin 1971: 17-22), verbunden mit dem ästhetischen Argument, der Film sei jene Form der sieben freien Künste, die es dem Menschen endlich ermögliche, die »Welt in ihrem eigenen Bilde« nachzuschaffen (ebd.: 21) und gleichzeitig auch sich als Mensch zu reproduzieren (vgl. Comolli 1971/ 1985: 48). Der Sozialrealismus im Kino geht von der Annahme aus, die Fakten könnten aus der sozialen Welt klar herauspräpariert werden; die

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128 | Ethnographie, Kino und Interpretation wesentlichen Bedeutungsstrukturen könnten also durch sorgfältige naturalistische, journalistische Geschichtsschreibung offen gelegt werden. Doch die Technologien für die Produktion des Realen verzerren die dabei produzierte Realität. Überdies schaffen Kino (und Fernsehen) ja erst die Realitäten, die sie dann analysieren. Die Kinoimagination ist nunmehr gefordert, im Spannungsfeld zwischen zwei Versionen von Realität, der Kino- und der Alltagsrealität, zu funktionieren. Doch wird die Alltagsrealität nun durch die Kinorealität definiert. Beides lässt sich nicht mehr sauber auseinanderhalten, denn in beiden Bereichen herrscht nur noch ein epistemologisches Regime. Die Hegemonie des Kameraauges hebt mit ihrem verfeinerten Detailrealismus den visuellen Blick wie auch den narrativen Text, der das Gesehene sowohl enthält als auch erklärt, in neue Höhen. So erschuf sich das Kino nicht nur sein eignes Publikum nach seinem Bilde; es schuf ebenfalls, was das Zuschauerauge zu sehen bekam. Sodann wurden dieses Zuschauerauge und seine Sehweise unablässig den Maßstäben des Realismus und jenem realistischen Abbild der Wirklichkeit ausgesetzt, das im Kamerabild vorgegeben wird. Der Voyeur, dem in den reflexiven Kinotexten eine Schlüsselrolle zukommt, stellt für die hegemoniale Realitätskontrolle der Kamera eine Herausforderung dar. So wie er vom Kino umgeformt wurde, unterminiert der Voyeur von innen heraus die Kontrolle des Kinos über die Realität und das zu Sehende. In seinen groteskesten Formen schlägt dieses Individuum eine Schneise zum Jetzt des Augenblicks, in dem aufgezeichnete Bilder aus Vorführkameras selbst unsere eigene Anwesenheit in der Welt definieren und festhalten wollen, wie wir reden, lieben, mit Geld umgehen und den Anspruch erheben, zu wissen, was wir wissen. Durch die Figur des Voyeurs wird das nackte Auge des Menschen der Kamerasicht entgegengehalten, und dabei stellt sich heraus, dass der realistische Kinoblick entscheidende Fehler aufweist. Der Voyeur enthüllt die zugrunde liegenden Machtstrukturen, die die Wahrheit auf ideologische Weise codieren und sie mit dem Kamerablick gleichsetzen. Und was noch wichtiger ist, der Blick des Voyeurs wird im Kino fast immer mit Gewalt und stellvertretend erlebter Gefahr codiert (vgl. James 1991: 1). Damit wird natürlich auch suggeriert, dass es mit Gefahren verbunden ist, gegen den Kinocode zu verstoßen.

Zusammenfassung Doch das reflexive Kino betreibt ein Doppelspiel. Ebenjene Handlungsmacht, die vorgibt, die eigene Handlungsfähigkeit zu unterminieren, kontrolliert zugleich den Kinoapparat, der die realistischen Erzählungen

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Die Geburt der Kinogesellschaft | 129 hervorbringt. So versucht der Apparat, indem er von innen her seine eigenen Realitätsdarstellungen kritisiert, seine epistemologischen Privilegien zu sichern. Die Maschinerie, die sich über die Kopie lustig macht, kontrolliert gleichwohl die hergestellten Kopien. Indem sich der Kinoapparat in den zentralen Strukturen, zu deren Schaffung er selbst beigetragen hat, unauffällig mit sich selbst beschäftigt, macht er den Voyeur und seine/ihre Schwierigkeiten zu einem zentralen Problemthema – von den frühen Stummfilmen gleich nach 1900 mit ihren Spannergestalten wie Uncle Josh at the Moving Picture Show (1902) und The Story the Biograph Told (1904) bis hin zu zeitgenössischen Produktionen wie Sex, Lies and Videotape (1989; dt. Sex, Lügen und Video), Silence of the Lambs (1990; dt. Das Schweigen der Lämmer), Pacific Heights (1990; dt. Fremde Schatten), Sleeping with the Enemy (1991; dt. Der Feind in meinem Bett), What About Bob? (1991; dt. Was ist mit Bob?), JFK (1991; dt. John F. Kennedy – Tatort Dallas) und Sliver (1993; dt. Sliver – Gier der Augen). Derartige Filme dienen als verzerrte Widerspiegelungen der vorrangigen Beschäftigung der Filmemacher mit Wahrheit und Genauigkeit des Kinoblicks und der Unabdingbarkeit des Voyeurblicks für die Zivilgesellschaft und deren Verständnisbemühungen. Dennoch sind diese Filme nicht problemlos. Denn sie verleihen den Grenzüberschreitungen und der Gewalt, die mit dem Projekt des Voyeurs einhergehen, eigenen Wert. Und selbst dann, wenn diese Filme die Wahrheitssuche des Voyeurs reflexiv dekonstruieren, vertreten sie weiter die Überzeugung, dass die absolute Wahrheit herausgefunden werden kann – etwa wenn Oliver Stone Abraham Zapruders Amateurfilm von John F. Kennedys Ermordung in seinem eigenen Kinofilm JFK verwendet (vgl. Zelizer 1992: 38). Indem diese reflexiven Texte die mit der Kamera verbundene Realitäts- und Wahrheitstheorie beibehalten, perpetuieren sie die Macht des visuellen Bildes als letztgültige Schiedsinstanz für die Wahrheit. Und hier, gefangen in ihrem eigenen Kinoapparat, scheinen die Filmemacher letztlich nicht in der Lage zu sein, die Wahrheit des Simulacrums zu erfassen – eine Wahrheit, die darauf hinausläuft, dass es jenseits des Bildes keine Wahrheit gibt und dass das Original nicht wahrer ist als das Abbild. Wahr ist allein das Simulacrum (vgl. Baudrillard 1983: 1). Wir sitzen also in der Falle wie der Vogel im Käfig. Der Kinoapparat will uns einfach nicht die Freiheit schenken. Er verändert nur den Käfig, in dem wir gefangen gehalten werden. Wir suchen am Ende der Postmoderne nach einer neuen Epistemologie der Wahrheit – nach einer, die ein neues Simulacrum erstellt (vgl. Zizek 1992). ^ ^

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 137

Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft 1

Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wird das reflexive Interview in die Strukturen unserer Kino- und Interviewgesellschaft (cinematic-interview society) eingeordnet. Erschlossen werden die Konzepte des performativ dargestellten Interviews (performance interview), der narrativen Collage, des postmodernen Interviews, des aufführungsorientierten Schreibens (performative writing) und des Ethnodramas. Außerdem werden die Arbeiten von Anna Deavere Smith diskutiert. Schlüsselbegriffe: Interviewgesellschaft, narrative Collage, aufführungsorientiertes Schreiben (performance writing), reflexives Interview

Zu Beginn eines neuen Jahrhunderts ist es erforderlich, das Versprechen einer qualitativen Sozialforschung als eine Form radikal demokratischer Praxis zu erneuern. Die narrative Wende in den Sozialwissenschaften ist bereits vollzogen, und unsere Geschichten aus dem Feld sind erzählt worden. Wir begreifen heute, dass wir Kultur schreiben und dass das Schreiben an sich eine alles andere als unschuldige Praxis ist. Wir kennen die Welt nur durch unsere Darstellungen der Welt.

1 | Dieser Beitrag wurde von Elisabeth Niederer in Deutsche übersetzt. Er wurde zuerst unter dem Titel »The Reflexive Interview and a Performative Social Science« in Qualitative Research 1:1 (2001), S. 23-46, veröffentlicht.

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138 | Ethnographie, Kino und Interpretation

Inhaltsüberblick Über ein ganzes Jahrhundert lang hat das Interview als Werkzeug zum Sammeln grundlegender Information in den Sozialwissenschaften gedient. Holstein und Gubrium (1995: 1) schätzen, dass bei 90 Prozent aller Sozialforschungen aus Interviews stammendes Datenmaterial ausgewertet wird; mit steigender Tendenz generieren nun auch die Medien sowie PersonaldienstleisterInnen und SozialwissenschafterInnen ihre Informationen über die Gesellschaft durch Interviews. Wir sind zu einer Interviewgesellschaft geworden, einer Kinogesellschaft, einer Gesellschaft, die sich selbst im reflektierenden Blick des filmischen Apparats betrachtet (vgl. Atkinson/Silverman 1997; Denzin 1995: 1). Im Folgenden entfaltet sich die Diskussion in sieben Teilen. Zunächst wird ein interpretativer Rahmen entwickelt, der das reflexive Interview innerhalb der Strukturen der Kino- und Interviewgesellschaft ansiedelt. Daraus ergibt sich eine Diskussion der Konzepte des aufführungsorientierten Interviews (performance interview), des aufführungsorientierten Schreibens sowie des Ethnodramas (vgl. Mienczakowski 1995 und 2001; Pelias 1999; Pollock 1998; Schechner 1998; Sedgwick 1998). Ich verwende darüber hinaus Trinh T. Minh-has Film Surname Viet Given Name Nam (USA 1989; »Nachname Viet, Vorname Nam«) als Hilfsmittel für einen Vergleich und eine Kontrastierung der reflexiven und der traditionellen Interviewform (vgl. Heyl 2001). Als Nächstes erläutere ich das Projekt von Anna Deavere Smith, im Besonderen ihre Konzeption einer Inszenierung (performance) und eines poetischen Textes. Ich bewege mich daraufhin von Smiths Argumenten in die Richtung eines Aufführungstextes (performance text), der auf einem reflexiven Interview mit Mrs. Anderson beruht – einer Frau, die den Kampf um die Aufhebung der Rassentrennung in Schulen in Edge City Mitte der 1960er Jahre anführte. Ich schließe meine Ausführungen, indem ich zu meinen utopischen Leitmotiven und den Versprechen des reflexiven Interviews hinsichtlich einer freien und gerechten Gesellschaft zurückkehre. Der vorliegende Aufsatz ist ein utopisches Projekt. Ich bin auf der Suche nach einer neuen interpretativen Form, einer neuen Gestaltung des Interviews, welches ich als reflexives, dialogisches oder performatives Interview bezeichne. Das reflexive Interview ist per se kein Mittel zur Informationssammlung. Es ist auch keine Ware, mit deren Sammlung man jemanden gegen Bezahlung beauftragen kann. Vielmehr gehört das reflexive Interview in den Kontext einer moralischen Gemeinschaft. Hier gilt analog, was Aldo Leopold über den Umgang mit Land sagt: »Wir missbrauchen das Land, weil wir es als ein Gut betrachten, das uns gehört. Erst wenn wir das Land als ein Gut sehen, zu dem wir gehören,

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 139 können wir anfangen, es mit Respekt und Liebe zu nutzen« (Leopold 1949: viii). Wir besitzen das Land nicht, sondern es ist eine Lebensgemeinschaft, der wir angehören. Nun brauchen wir in diesem Zitat nur die Begriffe »Interview« und »Forschung« anstelle von »Land« einzusetzen, denn als ForscherInnen sind wir Teil einer moralischen Gemeinschaft. Interviews machen zu dürfen, ist ein Privileg, das uns gewährt wird, um zu verstehen, und nicht ein Recht, das uns gebührt. Interviews sind Dinge, die zu uns gehören. Interviews sind Teil einer dialogischen Konversation, welche uns alle zu dieser größeren moralischen Gemeinschaft verbindet. Interviews entstehen aus Ereignissen der Darstellung und Aufführung (performance events). Sie transformieren Information in geteilte Erfahrung.2 Dieses reflexive Projekt setzt voraus, dass Worte und Sprache eine materielle Anwesenheit in der Welt haben; dass Worte auf Menschen Einfluss nehmen. Worte haben Bedeutung. Ich glaube an eine Welt, in der sich Rasse, Ethnizität, Klasse, Geschlechtsrolle (gender) und sexuelle Orientierung überschneiden; eine Welt, in der Sprache und Aufführungspraktiken ermächtigend sind und Menschen zu dem werden können, was sie tatsächlich sein wollen, frei von Vorurteil, Unterdrückung und Diskriminierung. Diejenigen, die Kultur niederschreiben, indem sie reflexive Interviews durchführen, lernen die Sprache als etwas zu gebrauchen, das Menschen zusammenführt. Das Ziel ist, kritisch ermächtigende Texte hervorzubringen, die »eine starke Freiheitsliebe […] und ein gefühlvolles Interesse am Leben von Menschen zeigen« (Joyce 1987: 344). Diese Texte bewirken weit mehr, als das Publikum zu Tränen zu rühren. Sie üben Kritik am Zustand der Welt und geben Anregungen, wie es alternativ sein könnte.

Der interpretative Rahmen Ich möchte das Interview neu verstehen, nicht als eine Methode, die zur Sammlung von Informationen dient, sondern als Instrumentarium für die Produktion von Aufführungstexten (performance texts) und ethnographischen Aufführungen (performance ethnographies) über das Selbst und 2 | Auf einer Ebene realisiert das reflexive Interview Gubrium und Holsteins (1998: 165) Konzept des analytischen Einklammerns (analytical bracketing). Dieses gründet auf dem Versuch, die multiplen Bedeutungsebenen im Kontext des Interviews darzulegen. Dazu gehören: die Art, wie eine Geschichte erzählt wird, der Kontext der Geschichte, ihr Publikum, und so weiter. Heyl (2001) merkt an, dass das reflexive Interview Personen ermöglicht, sich auf gegenseitig ermächtigende Weise zu verbinden.

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140 | Ethnographie, Kino und Interpretation die Gesellschaft (vgl. Richardson 1997: 135f.). Diese Lektüre soll in ihrem historischen Moment lokalisiert werden. Qualitative Sozialforschung operiert in einem komplexen historischen Feld, in dem sich sieben historische Perioden überkreuzen. Alle sieben Momente operieren in der Gegenwart.3 Diese Momente sind: 1. die traditionelle Periode (19001950); 2. die modernistische Periode oder das goldene Zeitalter (19501970); 3. das Aufweichen der Gattungen (1970-1986); 4. die Krise der Darstellung (1986-1990); 5. die postmoderne oder experimentelle Periode (1990-1995); 6. die postexperimentelle Periode (1995-2000); 7. die zukünftige Periode, der siebente Moment. Der gegenwärtige Moment ist bestimmt durch eine performative Sensibilität, durch die Bereitschaft, mit verschiedenen Arten und Weisen der Präsentation eines Interviewtextes zu experimentieren. Die performative Sensibilität verwandelt Interviews in zur Aufführung bestimmte Texte, in poetische Monologe. Sie transformiert die befragten Menschen in Darstellende, in Personen, deren Worte und Erzählungen von anderen darstellerisch realisiert werden. Denn wie auch Richardson (1997: 121) feststellt, hat in der postexperimentellen Periode kein Diskurs einen privilegierten Platz, keine Methode und keine Theorie hat einen universellen und allgemein gültigen Anspruch auf verbindliches Wissen.

Das Interview als interpretative Praxis Das Interview als interpretative Praxis hat in jeder historischen Periode unterschiedliche Bedeutungen gehabt. Dabei veränderten sich seine Bedeutungen, Formen und Verwendungen je nach Moment: vom strukturierten, semi-strukturierten und offenen objektiven Format der traditionellen und modernistischen Periode zur feministischen Kritik dieser Formate im dritten und vierten Moment (vgl. Oakley 1981; Reinharz 1992). Es folgten die auto-ethnographische Verwendung der Methode im fünften und sechsten Moment (vgl. DeVault 1999) und die kürzlich vollzogene postexperimentelle performative Wende (dies ist der im vorliegenden Aufsatz vertretene theoretische Ansatz). Der gegenwärtige Moment ist vor allem durch den wachsenden Widerstand von Seiten der Minderheiten gegenüber jenen Interviews gekennzeichnet, die von weißen Universitäts- und Regierungsangehörigen durchgeführt werden. Das modernistische Interview funktioniert nicht länger als automatischer

3 | Die genannten Momente werden bei Denzin und Lincoln (2000) im Detail entwickelt. Manche definieren den postmodernen Moment auch als »zeitgenössisch modernistisch« (Dillard 1982: 20).

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 141 Ausläufer des Staates oder als eine interpretative Praxis, der sich die Menschen bereitwillig fügen. Das Interview ist eine mögliche Art, die Welt schreibend zu erschaffen und sie dadurch ins Spiel zu bringen. Es ist aber weder ein Spiegel der so genannten Außenwelt, noch ist es ein Fenster zum Innenleben einer Person (vgl. Dillard 1982: 47, 155). Vielmehr ist das Interview ein Simulakrum, eine perfekt verkleinerte und stimmige Welt mit ihrer eigenen Berechtigung (vgl. ebd.: 152). Aus dieser Perspektive betrachtet, funktioniert das Interview als narratives Hilfsmittel, das Personen, sofern diese es wollen, die Möglichkeit gibt, Geschichten über sich selbst zu erzählen. Im Augenblick des Geschichtenerzählens haben ErzählerIn und ZuhörerIn, DarstellerIn und Publikum das gemeinsame Ziel, an einer Erfahrung mitzuwirken, die ihre gemeinsame Identität erkennen lässt (vgl. Porter 2000). Die Bedeutungen des Interviews sind kontextabhängig, improvisiert und performativ (vgl. Dillard 1982: 32). Das Interview ist ein aktiver Text, ein Ort, an dem Bedeutung erschaffen und dargestellt wird. Sobald etwas dargestellt wird, kreiert der Interviewtext eine Welt, indem er dieser Welt ihre eingeschriebene Wichtigkeit zugesteht. Unter diesem Aspekt ist das Interview eine Fabrikation, eine Konstruktion, eine Fiktion, »ein Ordnen oder eine Umgestaltung ausgewählter Materialien der tatsächlichen Welt« (ebd.: 148). Allerdings rekonstruiert jeder Interviewtext diese Welt selektiv und unsystematisch, er erzählt und inszeniert eine Geschichte entsprechend ihrer eigenen Version narrativer Logik. Wir leben in einer aufführungsbestimmten theatralischen Kultur. Die Trennungslinie zwischen Darstellern und Publikum verschwimmt, und Kultur selbst wird zu einer dramatischen Inszenierung. Durch beinahe unsichtbare Grenzen trennt diese von Geschlechtsrollen bestimmte Kultur alltägliche theatralische Aufführungen von offiziellen in Theater, Tanz, Musik, MTV, Video und Film (vgl. Butler 1990: 2; 1997: 159; 1999: 19). Tatsächlich geht es dabei um weit mehr als um unscharfe Grenzen. Die Inszenierung ist zur Realität geworden. In diesem Punkt hat Judith Butler (1990), wenn sie von Geschlechtsidentität (gender) und persönlicher Identität spricht, keinerlei Zweifel. Die Geschlechtsidentität ist performativ, sie ist immer mit einem Tun verbunden. In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat voran geht. Die Forderung, die Kategorie der Geschlechtsidentität außerhalb der Metaphysik der Substanz neu zu überdenken, muss auch die Tragweite von Nietzsches These in Betracht ziehen, daß es kein Seiendes hinter dem Tun gibt, daß die […] Tat […] alles ist. Hinter den Äußerungen der Geschlechtsidentität (gender) liegt keine geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity). Vielmehr wird diese Identität

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142 | Ethnographie, Kino und Interpretation gerade performativ durch diese »Äußerungen« konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind (Butler 1990: 25; dt. 1991: 49).

Des Weiteren ist nach Butler auch der linguistische Akt performativ. Worte können verletzen (vgl. Butler 1997: 4, dt. 2006: 9). Aufführungsorientierte Interviews (performance interviews) sind in den komplexen Systemen der Diskurse zu verorten, in denen traditionelle, alltägliche und avantgardistische Bedeutungen von Theater, Film, Video, Ethnographie, Kino, darstellerischer Realisierung, Text und Publikum aufeinander treffen und sich gegenseitig beeinflussen. Die Bedeutungen von gelebter Erfahrung sind in diese Aufführungspraktiken eingeschrieben und werden in ihnen auch sichtbar gemacht.

Ethnodramen Mienczakowski (1995; 2001) lokalisiert das »performance interview« im Bezugsrahmen des Ethnodramas. Das Ethnodrama ist eine Form von ethnographischem Theater, welches »die Ermächtigung der TeilnehmerInnen und des Publikums mittels Rekonstruktion vor einem Forum und ›dialogischer Interaktion‹« beinhaltet (1995: 361). Die DarstellerInnen lesen gemeinsam die Inszenierungsskripte, die auf Feldforschung und auf im Feld durchgeführten Interviews basieren. Ethnodramen und ethnographische Aufführungen »handeln vom gegenwärtigen Moment and versuchen, den LeserInnen und InformantInnen den Text zurückzugeben, in Anerkennung dessen, dass ›wir alle MitdarstellerInnen im Leben der anderen sind‹« (Mienczakowski 2001: 2; Hervorhebung im Original). Ethnodramen inszenieren aufführungsorientiertes Schreiben durch eine bestimmte Art des ethnographischen Theaters. Gemeinsam mit Anna Deavere Smith (1993; 1994) und Jim Mienczakowski trete ich für eine performative Sozialwissenschaft ein, für eine Sozialwissenschaft und ein öffentliches Theater, das Rassenvielfalt und soziale Differenz berücksichtigt (vgl. Denzin 1997: 123; Turner 1986). Diese Form von Sozialwissenschaft fragt: »Wer hat das Recht, wem welche Fragen zu stellen?«; »Wer hat das Recht zu antworten?«; »Wer hat das Recht, was zu sehen?«; »Wer hat das Recht, was zu sagen?«; »Wer hat das Recht, für wen zu sprechen?« (Smith 1993: xxviii). Das sind jene Fragen, die »ein demokratisches Theater in Amerika aus dem Gleichgewicht bringen und verhindern« (ebd.: xxix). Auf einer tieferen Ebene sind dies vielleicht sogar jene Fragen, die heute die Diskurse einer demokratischen Sozialwissenschaft in den USA verunsichern.

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 143

Das reflexive Interview und die Kinogesellschaft Unsere aus zweiter Hand erlebte Welt wird durch Kino, Fernsehen und andere Medienapparate der postmodernen Gesellschaft vermittelt. Wir haben keinen direkten Zugang zu dieser Welt, wir erfahren und studieren nur ihre Repräsentationen – eine performative Sozialwissenschaft beschäftigt sich deshalb mit Kultur und Gesellschaft als dramaturgischen Produktionen. In ihren »Performances« inszenieren Menschen kulturelle Bedeutungen. Interviews sind demnach Performance-Texte. Das aktive, reflexive und dialogische Interview stellt eine zentrale Komponente dieses interpretativen Projekts dar (vgl. Denzin 1995 und 1997; Gubrium/Holstein 1997; Holstein/Gubrium 1995; Jackson 1998). Eine performative Sozialwissenschaft verwendet das reflexive Interview als Hilfsmittel, um Momente eines Theaters der sozialen Darstellung zu erschaffen, wobei es sich um ein Theater handelt, das auf die moralischen und ethischen Probleme unserer Zeit einfühlsam eingeht (vgl. Smith 1994: xi). Diese Form von Interview ist geschlechtersensibel und dialogisch. Durch Sprachhandlungen werden Subjekte erschaffen, die durch ihre soziale Geschlechtsrolle bestimmt sind. Die Sprache ist performativ. Sie ist eine Handlung. Der Akt des Sprechens, der Akt des Befragtwerdens wird zu einer eigenen Aufführung (vgl. Smith 1993: xxxi; Butler 1990: 25).4 Das reflexive Interview als dialogische Konversation bietet Ort und Gelegenheit für solche Aufführungen; was bedeutet, dass das Interview in einen dramatischen, poetischen Text verwandelt wird.5 Diese Texte werden wiederum umgestaltet, indem ihnen dramatische Lesarten gegeben werden. In solchen Ereignissen »sind Performanz und Performativität verflochten durch die Möglichkeit der Wiederholung; die Nachah4 | Ich möchte die Debatte vermeiden, ob es denn »wirklich möglich ist, zumindest in der Theorie, zwischen performativen und konstativen Äußerungen zu trennen« (Sedgwick 1998: 106), zwischen Äußerungen zu unterscheiden, die bloß gesagt werden, und jenen, die vollzogen werden. Worte haben wesentlichen Einfluss auf Menschen. Die Geschlechtsrolle (gendered self) wird in und durch performative Akte konstituiert, welche als Handlungen zu sehen sind, die sowohl etwas vollziehen als auch etwas sagen, z.B. »Mit diesen Worten heirate ich dich« (Sedgwick 1998: 107; vgl. Butler 1993: 24; 1997: 97; 1999: 11). Es gibt »kein gleich bleibendes geschlechtlich bestimmtes Subjekt« (Butler 1990: 140), welches einer performativen Handlung vorausgeht (vgl. ebd.: 25, 141).

5 | Eine Performance stellt ein interpretatives Ereignis dar. Eine Performance, beispielsweise ein Interview, ist ein begrenztes, theatralisches soziales Ereignis, eine dialogische Produktion (vgl. Kuhn 1962: 196f., in Bezug auf das Interview als soziale Handlung).

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144 | Ethnographie, Kino und Interpretation mung macht die Aufführung glaubwürdig und gestattet den Zuschauern, in den Darstellern ›Gegenwart‹ […] oder Authentizität zu finden« (Phelan 1998: 10). Hören wir uns doch einmal an, wie bei Laurel Richardson Louisa May ihre Lebensgeschichte einführt: Die allerwichtigste Sache die zu sagen wäre, ist, dass ich im Süden aufgewachsen bin. Aus dem Süden zu sein, prägt die Hoffnung, formt, wer du glaubst, dass du bist… Ich bin in einem Mietshaus aufgewachsen auf eine ganz alltägliche Art und Weise in einer ganz alltäglichen Straße mit einigen sehr netten Freunden aus der Mittelklasse (Richardson 1997: 131).

Louisa May erwacht in diesen Zeilen zum Leben. Sie löst sich von der Buchseite, und ihre sanft im Dialekt des mittleren Tennessee gesprochenen Worte lassen uns ihre Anwesenheit im Raum förmlich spüren. Das reflexive Interview ist gleichzeitig ein Ort für Konversation, eine diskursive Methode und ein kommunikatives Format, welches Wissen über die Kinogesellschaft produziert. Diese Form des Interviews liefert die Materialien, die in kritischen Aufführungstexten verwandt werden; kritische Erzählungen über Gemeinschaft, Rasse, das Selbst und die Identität (vgl. Smith 1994: xxiii). Einer der jungen schwarzen Männer, die von Smith nach den Rassenunruhen von 1992 interviewt wurden, sinniert über die Bedeutung von Rasse, Ethnizität und Identität in seinem Leben: Dämmerung ist jene Zeit des Tages, die zwischen Tag und Nacht liegt, ein Übergangsstadium, ich nenne es ein In-der-Luft-Hängen, und manchmal, wenn ich mit meinen Ideen bei meinen Jungs ankomme, sagen sie, also jetzt ist Dämmerung, jetzt kannst du’s nicht richtig machen… Ich verbinde Dunkelheit mit dem, was zuerst war, weil sie zuerst da war, und was mein Aussehen angeht, ich bin ein dunkles Individuum, und wenn ich im Übergangsstadium stecke, sehe ich die Dunkelheit als mich selbst (Smith 1994: xxvf.).

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 145

Die Interviewgesellschaft Atkinson und Silverman (1997) erinnern uns daran, dass die Postmoderne eine Interviewgesellschaft ist, eine Gesellschaft des Spektakels, eine Gesellschaft der persönlichen Bekenntnisse. Nach Atkinson/Silverman (ebd.: 309-315) wird die Interviewgesellschaft durch folgende Merkmale und Überzeugungen charakterisiert: 1. 2. 3.

4. 5.

6. 7.

Die Interviewgesellschaft hat den Bekenntnisdiskurs in eine Form von Unterhaltung verwandelt; das Private ist zu einem öffentlichen Gut geworden; es wird vorausgesetzt, dass die Menschen ein privates, ein öffentliches und ein authentisches Selbst haben und dass nur das private das reale Selbst ist; qualifizierte InterviewerInnen und TherapeutInnen (und manchmal auch die Person selbst) haben zu diesem Selbst Zugang; gewisse Erfahrungen, Epiphanien (James Joyce), Wendepunkte im Leben, sind authentischer als andere, sie hinterlassen tiefe Spuren und Narben in einem Menschen; Menschen haben Zugang zu ihren eigenen Erfahrungen; Erzählungen in der Ich-Form sind sehr wertvoll. Sie sind der Ort persönlicher Bedeutung.

Der/die reflexive InterviewerIn dekonstruiert diese Verwendung des Interviews und zeigt in diesem Zusammenhang Missbräuche auf (vgl. Atkinson/Silverman 1997; Holstein/Gubrium 2000: 227f.). Allerdings nehmen laut Dillard (1982) ernsthafte BeobachterInnen der Gesellschaft die Mühe auf sich, ihre Arbeit von diesen interpretativen Praktiken abzugrenzen (vgl. ebd.: 46). In der Überwachungsgesellschaft verwenden JournalistInnen, SozialwissenschaftlerInnen, PsychiaterInnen, MedizinerInnen, SozialarbeiterInnen und die Polizei Interviews, um Informationen über Individuen zu sammeln. Die Interviews vergegenständlichen die Individuen und setzen gelebte Erfahrungen in Erzählungen um. Das Interview ist die Methode, durch welche Persönliches öffentlich gemacht wird. Das Interview verwandelt auch transgressive Erfahrung in ein Konsumgut. Diese Erzählungen werden auf dem medialen und akademischen Marktplatz eingekauft und verkauft. Folglich beteuert die Interviewgesellschaft die Wichtigkeit des sprechenden Subjekts und feiert das Biographische. Nichts ist mehr privat. Selbstverständlich gibt es weder ein essentielles Selbst noch ein privates oder reales Selbst hinter dem öffentlichen Selbst. Es existieren nur verschiedene Versionen des Selbst, verschiedene Aufführungen des Selbst, verschiedene Möglichkeiten, ein durch sein soziales Geschlecht

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146 | Ethnographie, Kino und Interpretation bestimmter Mensch in einer sozialen Situation zu sein. Diese Aufführungen beruhen auf unterschiedlichen Erzählungen und interpretativen Praktiken. Diese Praktiken wiederum geben dem Selbst und der Person ein Gefühl von Verwurzelung oder erzählerischem Zusammenhalt (vgl. Gubrium/Holstein 1998). Es gibt kein inneres oder tiefes Selbst, auf welches durch ein Interview oder eine narrative Methode zugegriffen wird. Es sind einfach nur unterschiedliche interpretative (und performative) Versionen darüber im Umlauf, wer die Person ist. Auf dieser Ebene ist, wie Garfinkel (1996: 6) schreibt, nichts unter dem Schädel, das von Bedeutung wäre.

Die narrative Collage und das postmoderne Interview 6 Das postmoderne oder zeitgenössische modernistische Interview gründet auf der narrativen Collage, auf einer Zerrüttung der narrativen Linie. Dillard vergleicht die narrative Collage mit dem Kubismus: So, wie der Kubismus ein ganzes Zimmer voller Möbel auf einer Leinwand von einem Quadratmeter unterbringen kann, ist die Fiktion in der Lage, fünfzig Jahre menschlichen Lebens zu nehmen, sie in Stücke zu zerhacken, um diese Teile dann so zusammenzufügen, dass wir innerhalb der Grenzen zeitlicher Form alles auf einmal betrachten können. Das ist die narrative Collage (1982: 21).

Im postmodernen Interview folgen geschichtliche Abfolgen keiner unumgänglichen Entwicklung. In der narrativen Collage zerbricht die Zeit in Fragmente und die SprecherInnen springen in diesem Gefüge vor und zurück. Die Zeitabfolge ist nicht linear und nicht an einer kausalen Reihenfolge, an »Fixpunkten in systematischer Reihenfolge« orientiert (ebd.). Zeit, Raum und Charakter werden eingeebnet. Die Intervalle zwischen den zeitlichen Momenten können jeden Augenblick in sich zusammenbrechen. Mehr als nur eine Stimme kann in mehr als nur einer Zeitform gleichzeitig sprechen. Der Text ist eine Collage, eine Montage aus Fotografien, leeren Flächen, Gedichten, Monologen, Dialogen, Begleitkommentaren und inneren Bewusstseinsströmen. Bei der Montage wird ein Bild erzeugt, in dem mehrere verschiedene Bilder einander überlagern. In gewisser Hinsicht ist Montage eine Art Pentimento – das heißt, ein Bild, bei dem etwas, das eigentlich weggemalt wurde (weil die Künstlerin/der Künstler es bereute oder verleugne-

6 | Diesen Begriff habe ich von Fontana und Frey (1994: 368; 2000) übernommen.

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 147 te), plötzlich wieder sichtbar wird. Auf diese Weise entsteht etwas Neues, und neu ist dann das, was zuvor von einem anderen Bild verdeckt war. Montage und Pentimento erzeugen – genauso wie Jazz, der aus Improvisation besteht – das Gefühl, dass Bilder, Geräusche und Vorstellungen sich miteinander vermischen, überlappen, indem eine Komposition, eine neue Kreation geschaffen wird. Die Bilder scheinen sich untereinander zu formen und zu bestimmen, wodurch ein emotionaler, gestalterischer Eindruck entsteht. Sehr oft werden diese Bilder in einer schnellen Ablaufreihenfolge miteinander kombiniert. Wenn das passiert, wird eine Schwindel erregende, sich drehende Sammlung von verschiedenen Bildern rund um ein zentrales oder scharf eingestelltes Bild oder eine Sequenz produziert; derartige Effekte kennzeichnen die Passage der Zeit. In der Montage ist die Erzählung in der Lage, »die Zeit selbst in Splitter zu zerschmettern« (Dillard 1982: 22). Ansichten und Ausdrucksweisen kollidieren, werden rückwärts und vorwärts verschoben und durchdringen sich gegenseitig. Gelegentlich kommen auch Schreiberin oder Schreiber hinzu, indem diese direkt zur Leserin/zum Leser sprechen. Sätze können auf nummerierte Zeilen reduziert werden. »Der Pfeil der Zeit zerbricht, Ursache und Auswirkung verschwinden vielleicht, und der Anlass geht verloren« (ebd.). Niemand kann sagen, was genau welche Sequenz von Ereignissen ausgelöst hat, und der Text täuscht keine Kausalität vor. Die Zeit, Auswirkungen und Ursachen operieren, wie Borges sagen würde, in einem »Garten aus sich gabelnden Wegen« (ebd.). Räumlichkeit ist nicht länger festgelegt, nicht eingeschränkt durch umgebene Mauern, durch einen dreidimensionalen Ort. Alles bewegt sich nach hinten und nach vorne, manchmal wahllos, zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich hin und her, die möglicherweise nur vorübergehende Ruheplätze sind. Ebenso wie der Raum sich verschiebt, geschieht dasselbe mit den Formen des Diskurses, dem Charakter, der Stimme, dem Farbton, der prosaischen Ausdrucksweise und der bildlichen Metaphorik (ebd.: 22f.). Auf diese Art und Weise gestattet die narrative Collage der Autorin/ dem Autor, der Interviewerin/dem Interviewer und der Darstellerin/dem Darsteller eine besondere Welt zu erschaffen, eine Welt, die durch die Methoden der Collage und der Montage an Bedeutung gewinnt. Diese Verwendungen legen das strukturelle und narrative Gerüst des reflexiven postmodernen Interviews offen. Sowohl im Text als auch in der darstellerischen Aufführung offenbart diese Form ihre Reflexivität. Die Autorin/der Autor als InterviewerIn versteckt sich nicht länger hinter einem Frage-und-Antwort-Format, den ursprünglichen Apparaten der Interviewmaschine.

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148 | Ethnographie, Kino und Interpretation

Das Interview und die Welt Das Interview bringt Interpretationen der Welt hervor, da es selbst ein Objekt der Interpretation darstellt. Allerdings ist das Interview keine Interpretation der Welt per se. Vielmehr steht es in einer interpretativen Beziehung zur Welt, die es erschafft. Diese erschaffene Welt existiert Seite an Seite mit der so genannten größeren Welt der menschlichen Angelegenheiten, von welcher diese Schöpfung nur ein kleiner Teil ist. Die lebensähnlichen Materialien des Interviews fesseln und verführen uns. Sie verleiten uns dazu, zu glauben, wir würden die reale Welt in einer Darbietung auf der Bühne sehen. So ist es aber nicht. Folglich gibt es auch keine reale Welt. Es gibt keine Originale. Es gibt keine ursprüngliche Wirklichkeit, die ihre Schatten über die Reproduktion wirft. Es gibt nur Interpretationen und ihre Aufführungen. Nichtsdestoweniger schenkt die/der reflexive InterviewerIn jenen sozialen Inszenierungen, Räumen und Orten besondere Aufmerksamkeit, in denen Geschichten erzählt werden, die kreuz und quer an den Rändern und Grenzen von Krankheit, Rasse, Klasse, sozialem Geschlecht, Religion und Ethnizität verlaufen (vgl. Gubrium/Holstein 1998). Diese Art von Geschichten beschäftigen Trinh T. Minh-ha, deren Arbeiten im Grenzbereich zwischen narrativen Collagen und filmischen Repräsentationen der Welt anzusiedeln sind (1991; 1992).

Surname Viet Given Name Nam 7 Trinhs Film Surname Viet Given Name Nam (1989) handelt von vietnamesischen Frauen, deren Namen sich entweder verändern oder gleich bleiben, je nachdem, ob sie einen Ausländer oder Vietnamesen heiraten. In diesen Film lässt Trinh vietnamesische Frauen aus fünf verschiedenen Subjektpositionen erzählen, die jeweils Abstammung, soziales Geschlecht, Alter, eine Führungsposition sowie eine historische Epoche repräsentieren (vgl. Trinh 1992: 49). Dadurch wird ein komplexes Bild vietnamesischer Kultur erzeugt, das Frauen und ihre Verwandtschaft in einer Vielfalt von sich überschneidenden Positionen der Macht, Intimität und Unterwerfung zeigt (vgl. ebd.: 144). Der Film ist multitextuell, geschichtet, eine Montage nachdenklicher Bilder von Frauen in verschiedenen Lebenssituationen. Historische Augenblicke vermischen sich mit Lebensphasen (Kindheit, Jugend, Erwachsensein, hohes Alter), rituellen Zeremonien (Hochzeiten, Begräbnisse, Krieg, Marktgeschehen, Tanz) und der täglichen Hausarbeit (Kochen), 7 | Der folgende Abschnitt basiert auf Denzin (1997: 74-79).

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 149 während die befragten Frauen mit den Interviewerinnen aus dem Off sprechen. Man hört zwei Begleitkommentare auf Englisch, und eine dritte Stimme singt Sprichwörter, Sprüche und Gedichte auf Vietnamesisch (die Übersetzungen der Texte erscheinen als Untertitel auf dem Bildschirm). Es gibt darüber hinaus vietnamesischsprachige Interviews mit englischen Untertiteln sowie Interviews auf Englisch, die mit dem Bild auf der Leinwand synchronisiert werden (vgl. ebd.: 49). Die Interviews werden von vietnamesischen Frauen nachgestellt, die am Ende des Film bezüglich ihrer Erfahrungen als Schauspielerinnen im Film befragt werden (vgl. ebd.: 146). In diesem Film findet die Praxis reflexiver Interviews Eingang in die Konstruktion des Textes selbst – sowohl die Durchführung als auch die Aufführung solcher Interviews. Dabei vermischen sich das Wahre und das Falsche (die Schauspielerinnen sind nicht dieselben Frauen wie die, die von Mai Thu Van interviewt wurden), das Reale und das Gespielte. Der erste Abschnitt des Films präsentiert sich allerdings als ein traditioneller, realistischer Dokumentarfilm (vgl. ebd.: 145). Den Zuschauern ist nicht klar, dass Schauspielerinnen die Interviews nachstellen. Genauso wenig wissen sie, dass die Interviews in den USA und nicht in Vietnam aufgenommen wurden (was aber gegen Ende des Films deutlich wird). Durch die Verwendung dieser interpretativen Strategien erschafft Trinh den Raum für kritische Überlegungen hinsichtlich einer Politik der Repräsentation, welche den Einsatz von Interviews in Dokumentarfilmen strukturiert. Durch die Problematisierung des Interviews als einer Methode zur Informationsgenerierung über unsere Gesellschaft greift Trinh die Frage nach der Wahrheit auf (vgl. ebd.). Denn wessen Wahrheit zeigt die Regisseurin nun: die der echten Interviewerin (vgl. Mai 1983), die der echten Interviewsituationen auf der Leinwand oder die der Schauspielerinnen, die die tatsächlich interviewten Frauen nur spielen und die am Ende des Films selbst interviewt werden? In der von Trinh kreierten Welt wird Kultur als eine theatralische soziale Inszenierungsform lebendig. Jede Schauspielerin ist eine Darstellerin, die ihren Interviewtext aufführt. Die Darstellerin wird erst durch die Worte dieses Textes lebendig. Tatsächlich wird die Wahrheit dieses Textes durch dessen Inszenierung bekräftigt. Die ZuschauerInnen werden immer tiefer in diese Welt hineingezogen. Zeit, Raum und Perspektive bewegen sich von einem Ort zum anderen. Trinh kreuzt verschiedene Genres und Diskurssysteme. Der Film wird zum Objekt unserer Aufmerksamkeit und verlangt nach Interpretation. Die Wahrheit seiner vielfachen Wirklichkeiten wird bis zur letzten Szene nie angezweifelt. Schließlich fragen wir an diesem Punkt ja nicht, ob die Repräsentation wahr ist, sondern ob sie glaubhaft, durchführbar, fruchtbar ist und ob sie uns ermöglicht, Dinge anders zu sehen und anders zu denken

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150 | Ethnographie, Kino und Interpretation (vgl. Dillard 1982: 134). Die Antwort darauf lautet: Ja, das ist das Fall. Auf diesem Weg entfaltet der Aufführungstext seine subtile Pädagogik. Er bringt eine Interpretation der Welt hervor, indem »er selbst ein weltähnliches Objekt der Interpretation darstellt« (ebd.: 155).

Wenn Kino und Ethnographie aufeinander treffen Trinh ist in erster Linie Filmemacherin. Sie denkt, dass Wahrheit auf einer sozialen Konstruktion beruht. Deshalb beginnt sie, den üblichen Gebrauch des Interviews durch DokumentarfilmemacherInnen zu dekonstruieren. (Ihre Dekonstruktion erweitert und ergänzt die Argumentation von Atkinson und Silverman.) In deren Verwendung des traditionellen, nicht-dialogischen Interviews gehen DokumentarfilmemacherInnen von der realen Welt und dem Platz des Subjekts in dieser Welt aus. Sie gebrauchen eine Ästhetik der Objektivität und einen technischen Apparat, der naturgetreue Darstellungen (Bilder) von der Welt produziert (vgl. Trinh 1991: 33). Trinh erachtet folgende Elemente als zentral für den besagten Apparat (vgl. ebd.: 33-36): •

• • • • •



• • • • •

unerbittliches Streben nach Naturalismus, was wiederum eine Verbindung zwischen dem bewegten Bild und dem gesprochenem Wort erfordert; lippensynchroner Ton; Einsatz von echten Menschen in echten Situationen; Annahme, dass Echtzeit wahrheitsgetreuer ist als die Zeit der Filminterviews; kaum Nahaufnahmen, Schwerpunkt auf Weitwinkelperspektive; Verwendung von unauffälligen Handkameras, um »die Menschen zu veranlassen, jene ›Wahrheit‹ zu sagen, welche sie in alltäglichen Situationen sonst nicht enthüllen würden« (ebd.: 34); FilmemacherInnen und InterviewerInnen als BeobachterInnen und nicht als jemand, die/der kreiert, was gesehen, gehört oder gelesen wird. Es sollten nur Begebenheiten, die von der Kameralinse unbeeinflusst bleiben, eingefangen werden; das Filminterview fängt eine objektive Realität ein; die Wahrheit muss dramatisiert werden; tatsächliche Begebenheiten sollten auf glaubwürdige Weise von Menschen, die sie erzählen, dargestellt werden; der Text der Filminterviews muss die Zuschauer davon überzeugen, dass sie Vertrauen in das, was sie sehen oder hören, haben sollten;

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 151 • •



die Anwesenheit der Filmemacherin/des Filmemachers bzw. der Interviewerin/des Interviewers bleibt verdeckt, verborgen. Es kommen verschiedene Techniken zum Einsatz, die überzeugend wirken sollen, darunter persönliche Aussagen und Gespräche einfacher Leute; das Filminterview richtet sich an einfache Menschen, die meistens schweigen; sie sind der Bezugspunkt des Interviewfilms (vgl. ebd.: 39).

Die genannten ästhetischen Strategien definieren den Dokumentarfilm und den Interviewstil. Sie erlauben der Filmemacherin als Interviewerin/dem Filmemacher als Interviewer einen Text herzustellen, der den Zuschauern die Illusion eines »unbeeinflussten Zugriffs auf die Realität« vermittelt (Trinh 1991: 40). Auf diese Weise eingeführt, wurde der dokumentarische Interviewstil ein Teil des umfassenderen Kinoapparats in der amerikanischen Kultur, einschließlich seiner Allgegenwart in Fernsehwerbung und Nachrichten (vgl. ebd.). Trinh (1991) bringt eine reflexive Lesart in diese besonderen Merkmale des Dokumentarfilms ein, indem sie ihre eigenen Texte als Beispiele für Dokumentationen heranzieht, die sensibel auf die fließenden Übergänge von Tatsache und Fiktion sowie auf die Bedeutungen von politischen Konstruktionen eingehen (vgl. ebd.: 41). Solche Texte setzen voraus, dass objektive Realität niemals eingefangen werden kann. Dokumentarisches Befragen wird folglich zu einer Methode, um der Realität einen Rahmen zu geben. Ein verantwortungsvoller, reflexiver, dialogischer Interviewtext enthält nach Trinh (1991) die nachfolgenden Charakteristika: • • • • • • • •



Er verkündet seine eigene Politik und beweist politisches Bewusstsein; er hinterfragt die Gegebenheiten, welche er repräsentiert; er beruft sich in der Geschichte, die erzählt wird, auf die Geschichte des Erzählers; er macht das Publikum für die Interpretation verantwortlich; er widersteht der Versuchung, ein Konsumobjekt zu werden; er sträubt sich gegen alle Formen von Dichotomie (männlich/weiblich etc.); er rückt Differenz in den Vordergrund, nicht den Konflikt; er verwendet mehrere Stimmen und hebt hervor, dass auch Schweigen Sprache ist; ferner betont er die Rauheit der Stimme, den Klang, den Tonfall, die Pausen, das Verstummen und die Wiederholungen; er stellt Schweigen als eine Form des Widerstands dar (vgl. ebd.: 188).

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152 | Ethnographie, Kino und Interpretation Das dialogische Interview legt seine eigenen Produktionsmittel offen. Demgegenüber versteckt sich das dokumentarische Interview hinter den Apparaten der Produktion, um die Illusion zu erzeugen, die ZuschauerInnen und LeserInnen hätten direkten Zugang zur Realität. Trinhs reflexive Interviews und Aufführungstexte suchen nach der Wirklichkeit in den Fiktionen des Lebens, nach dem Geist der Wahrheit, der sich in Lebenserfahrungen finden lässt, ebenso wie in Fabeln oder Sprichwörtern, wo nichts erklärt, jedoch alles evoziert wird (vgl. Trinh 1991: 162). Trinh folgend möchte ich eine Methode des geduldigen Zuhörens, eine Methode des filmischen Blickes fördern. Dann wird es möglich, auf eine Weise zu hören und zu schreiben, dass dabei zur Geltung kommt, was Gloria Naylor in der folgenden Passage zur Sprache bringt: Jemand, der nicht wüsste, wie man fragt, wüsste auch nicht, wie man zuhört. Und er könnte den anderen nicht so zuhören, wie du uns gerade jetzt zugehört hast. Denk darüber nach: da ist niemand, der wirklich mit dir redet. […] Hör dieses Mal wirklich zu; die einzige Stimme, die du hörst, ist deine eigene. Und du hast doch gerade die Legende von Saphira Wade gehört. […] Du hast sie so gehört, wie wir sie kennen, wenn wir auf der Veranda sitzen und Junierbsen auspulen […] oder den Motor eines Autos auseinandernehmen – du hast sie gehört, ohne dass eine einzige lebende Seele überhaupt ein Wort gesagt hat (Naylor 1988: 1842).

Das Projekt von Anna Deavere Smith Anna Deavere Smith weiß, wie man zuhört. Sie sagt selbst über ihr Projekt: »Mein Ziel war es, eine Art amerikanischen Charakter in der Ausdrucksweise zu erkennen, in der Menschen sprechen. Als ich dieses Projekt gestartet habe, in den frühen 1980er Jahren, habe ich jedes Interview einfach so eingeleitet: ›Wenn Sie mir eine Stunde ihrer Zeit schenken, werde ich Sie einladen, sich selbst dargestellt zu sehen‹« (Smith 1993: xxiii). Schon bald setzte sie ihr Projekt um, indem sie eine Reihe von Performances produzierte, Einpersonenstücke für eine Frau zum Thema der Rassenbeziehungen in den USA (vgl. Smith 1994: xvii). In den letzten zehn Jahren hat Smith auf der Grundlage tatsächlicher Begebenheiten soziale Inszenierungen in einer Serie geschaffen, der sie den Titel On the Road: A Search for American Character gab. Jede einzelne dieser Aufführungen »entsteht aus Interviews, die ich mit den Personen direkt oder indirekt durchführe. […] Ich stütze meine Drehbücher ganz auf dieses Interviewmaterial, ich stelle die Befragten auf der Bühne dar, indem ich ihre eigenen Worte verwende« (ebd.). Im Mai 1992 wurde Smith beauftragt, eine Performance über die Rassenunruhen in Los

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 153 Angeles vom April 1992 zu kreieren. Twilight: Los Angeles, 1992 ist das Ergebnis ihrer Suche »nach dem Charakter von Los Angeles in der Folge des ersten Urteils im Fall Rodney King« (ebd.).8 Smiths Fires in the Mirror (1993) erweitert quasi das Los-Angeles-Projekt. In diesem Stück fasst sie eine Reihe von Performances zusammen, die auf Interviews mit Menschen zurückgehen, die in die Rassenkonflikte in Crown Heights, Brooklyn, am 19. August 1991 involviert waren. Auslöser dieses Konflikts war ein Unfall: Ein schwarzer Junge aus Guyana wurde versehentlich von einem Fahrzeug der Polizeieskorte getötet, das den Rebbe der Lubawitscher Chabad-Bewegung, Menachem Schneerson, transportierte.9 Etwas später erstach daraufhin eine Gruppe von männlichen Schwarzen einen neunundzwanzig Jahre alten chassidischen Gelehrten. Auf diese Tat folgte ein massiver Rassenkonflikt, der drei Tage lang andauerte und in den viele Mitglieder der Gemeinschaft involviert waren. Smiths Stück beinhaltet Sprechrollen von Gang-Mitgliedern, der Polizei, anonymen jungen Mädchen und Jungen, Müttern, Vätern, Rabbis, dem Priester Al Sharpton, der Dramatikerin Ntozake Shange und der afroamerikanischen Kulturkritikerin Angela Davis. Das von Smith gestaltete Sprechstück spiegelt und kritisiert die Gesellschaft, ihr Projekt ist »sensibel gegenüber den Ereignissen meiner eigenen Zeit« (Smith 1994: xxii). Zur Gestaltung ihrer zur Aufführung bestimmten Texte engagiert sie DramaturgInnen, »Personen, die bei der Vorbereitung des Textes eines Stückes mitarbeiten und die jenen eine externe Perspektive ermöglichen, die stärker in den Prozess der Stückaufführung aktiv involviert sind« (ebd.).10 Smith verwandelt Interviewtexte in Drehbücher. Sie stellt einen Interviewtext her, »der wie ein physisches, akustisches, darstellbares Vehikel arbeitet« (ebd.: xxiii, Hervorhebung im Original). Worte werden zum 8 | Die gefilmte Aufführung wurde unter diesem Titel im September 2000 veröffentlicht, Regie führte Marc Levin, und Smith selbst fungierte als Darstellerin, die ausgewählte Charaktere des Texts von 1992 spielte.

9 | Die Lubawitscher Chabad-Bewegung ist eine der größten jüdisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaften weltweit. Ursprünglich aus Russland stammend ist Chabad heute besonders in den USA und Israel weit verbreitet. Die organisatorische Zentrale befindet sich in Crown Heights, Brooklyn. Der Rebbe gilt für die Anhänger als geistiger Führer. Raw Menachem Schneerson starb 1994 im Alter von 91 Jahren (A.d.Ü.).

10 | Die DarstellerInnen in Twilight sind: Dorrine Kondo, eine japanischamerikanische Anthropologin; Hector Tobar, ein guatemalisch-amerikanischer Journalist, der über die Rassenunruhen für die Los Angeles Times berichtet hat; sowie Elizabeth Alexander, eine afroamerikanische Dichterin.

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154 | Ethnographie, Kino und Interpretation Werkzeug oder zur Methode, um das Wesen einer Person wachzurufen. Smith hat gelernt, aufmerksam zuzuhören. Ebenso hat sie gelernt und erfahren, wie man in den Worten der anderen verweilt, wie man ihre Sprechweise als ein Kennzeichen von Individualität verwenden kann, und wie man dafür sorgen kann, dass eine Person in ihrer Sprache vollkommen präsent ist. Das ist eine besondere Gabe (vgl. Smith 1993: xxxvii, xxxi). Das Interview mit dem Priester Al Sharpton gibt Smith folgendermaßen wieder: James Brown hat mich aufgezogen Äh… Ich hatte nie einen Vater. Mein Vater ist weggegangen, als ich zehn war. James Brown hat mich eines Tages in den Schönheitssalon mitgenommen Und mein Haar auf diese Weise frisiert. Und hat mich versprechen lassen es so zu tragen bis ich sterbe. Es ist so eine persönliche Familiensache zwischen mir und James Brown. Ich wollte immer einen Vater, Und er hat diese Lücke gefüllt (ebd.:19).

Es ist Smiths Ziel, »eine Atmosphäre zu erzeugen, in der die befragte Person ihre eigene Autorschaft erlebt« (ebd.: xxxi). Wenn dieser Raum erst geschaffen ist, wird »jede/jeder […] Dinge sagen, die wie Poesie klingen. Der Prozess, durch den man zu diesem poetischen Moment gelangt, ist der, in dem ›das Wesen eines Menschen‹ [character] lebendig wird« (ebd.). Die Dramatikerin, Dichterin und Romanautorin Ntozake Shange offenbart sich Smith gegenüber so: Hmmmm. Identität – das, ist, äh… irgendwie ist es, hmm…es ist sozusagen, es ist, äh… es ist ein psychisches Gespür für einen Ort es ist eine Art zu wissen, dass ich kein Stein oder dieser Baum bin? Ich bin dieses andere Lebewesen hier drüben? Und es ist eine Art zu wissen, dass egal, wann ich mein Selbst ausdrücke Ich nicht notwendigerweise das bin, was um mich herum ist (ebd.: 3).

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 155 In den USA besteht augenblicklich eine unvermeidbare und quälende Anspannung, eine Spannung, von der Frauen und Farbige betroffen sind, eine Spannung, die Rasse, Identität und soziales Geschlecht umgibt. Es »ist die Anspannung einer Identität, die in Bewegung geraten ist« (ebd.: xxxiv). Sie dreht sich teilweise um die Frage »Wer kann für wen sprechen?«; »Wer kann Fragen stellen, und wer kann zuhören?« Eine tief greifende Gefahr ist dann gegeben, »wenn nur ein Mann für einen Mann, eine Frau für eine Frau, ein dunkelhäutiger Mensch für alle dunkelhäutigen Menschen sprechen kann« (ebd.: xxix). Wenn dies der Fall ist, scheint es unmöglich, eine Brücke zu bauen, die die verschiedenen rassischen und geschlechtlich bestimmten Identitäten in der öffentlichen Arena diskursiv verbindet. Der demokratische Diskurs wird bedroht. Wie zuvor diskutiert, gibt es jedoch keine privilegierten Identitäten, kein tiefes oder wesentliches Selbst, das mit den inneren Strukturen von Bedeutung verknüpft ist (vgl. Gubrium/Holstein 1997: 74). Es gibt nur unterschiedliche Aufführungen und unterschiedlichen Arten des in der Welt Seins. So stellt Smith in ihren Inszenierungen und Darstellungsformen die poetischen Texte von farbigen Männern und Frauen dar. Die zwei Stücke von Smith dokumentieren, was sie an den zwei gegnerischen Fronten der Rassenunruhen gelernt und gehört hat. Die darstellerische Realisierung wiederholt ständig, was gelernt wurde. Es ist ein Stück über jenen Prozess, der das Problem überhaupt erst hervorruft, das Drama im Umfeld der Rassenidentität (vgl. Smith 1994: xxiv). Cornel West (1993: xix) stellt fest, dass Fires in the Mirror »ein großartiges Beispiel dafür ist, wie Kunst einen öffentlichen Raum erzeugen kann, der von Menschen eher ermächtigend als entmächtigend wahrgenommen wird«. Auf diese Weise kommen sowohl Schwarze, Gang-Mitglieder, die Polizei als auch Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft zusammen und sprechen in diesem Stück. Das Drama überschreitet rassische Grenzen. Smiths Text zeigt, inwiefern »die amerikanische Wesensart nicht an diesem oder jenem Ort zu finden ist, sondern in den Räumen zwischen den Orten, sowie in unserem Kampf, trotz unserer Unterschiede zusammen zu sein« (ebd.: xii). Ein anonymer junger Mann, ein Amerikaner karibischer Herkunft mit Dreadlocks beschreibt den Autounfall wie folgt: Was ich gesehen habe, war, sie hat ihren Bruder mit dem Fahrrad angeschoben etwa so richtig? Sie hat ihn angeschoben,

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156 | Ethnographie, Kino und Interpretation und er ist hin und her gewackelt, wie wenn er nicht Fahrrad fahren könnte… Sie war also schon am Laufen, als das Auto gekommen ist… wir haben das Auto beobachtet, wie es sich hindurch geschlängelt hat, und wir sind dann so… »Oh, yo es ist ein Jude. Er ist bei Rot über die Ampel gefahren, aber die werden ja sowieso nicht verhaftet« (Smith 1993: 79f.).

Indem die Worte dieses jungen Mannes präsentiert werden, wird Smiths Text performativ; das heißt, der junge Amerikaner karibischer Herkunft schildert eine Straßenszene. Der Text funktioniert wie ein Stück in einer Montage, in der viele verschiedene Dinge gleichzeitig geschehen. Es gibt mehrere Erzählperspektiven. Die Zeit bewegt sich vor- und rückwärts, Vergangenheit wird zu Gegenwart, Gegenwart zu Vergangenheit. Es ist mehr als nur eine Auslegung von Kausalität (und Tadel) im Spiel. Juden stoßen auf Schwarze und junge Menschen begegnen alten, während ein kleines Kind wackelig auf dem Fahrrad den Bürgersteig hinunter fährt – vor ein entgegenkommendes Auto.

Aufführungsorientiertes Schreiben (performance writing) Smith setzt sich für ein aufführungsorientiertes Schreiben ein (vgl. Pollock 1998; Phelan 1998: 12-14). Durch die Anwendung der Methoden der narrativen Collage veranschaulicht das aufführungsorientierte Schreiben eher als zu erzählen. Es ist ein Schreiben, welches sprechend etwas vollzieht. Es führt auf, was es beschreibt. Es ist ein Schreiben, das durch den Schreibakt tut, was es sagt. Performatives Schreiben »ist eine Auslotung der Grenzen und Möglichkeiten der Überschneidungen zwischen der Sprache und dem Schreiben. [… Es] evoziert, was es benennt« (Phelan 1998: 13). Performatives Schreiben ist weder eine Frage von formalem Stil per se, noch handelt es sich dabei um eine Form von Avantgarde oder raffiniertem Schreiben (vgl. Pollock 1998: 75). Pollock weist des Weiteren darauf hin, dass performatives Schreiben evokativ, reflexiv, vielstimmig, kreuz und quer durch die Genres verlaufend, ebenso wie durchgehend partial und lückenhaft ist (ebd.: 80-95). Aber durch das performative Schreiben werden Dinge bewegt. Es ist ein Schreiben,

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 157 das konsequent ist, und es geht dabei um eine Welt, die bereits aufgeführt wird. Wer sagt, Smith schreibe performativ, meint, dass ihre Manuskripte (ebenso wie die Trinhs) den Menschen gestatten, ihre eigene Subjektivität im Moment der Aufführung zu erfahren. Aufführungsorientiertes Schreiben ist poetisch und dramatisch. Es verwandelt die gedruckte (und transkribierte) Sprache in eine Sprache der Ich-Form, aktiv, in Bewegung und sich auf den Prozess beziehend. In solchen Texten sind Aufführung (performance) und Performativität ineinander verflochten, und das eine wird durch das andere definiert. Die Aufführung der Darstellerin/des Darstellers erschafft einen Raum, in den die andere/der andere eintritt. Lesen Sie nun ein einen Aufführungstext, den ich selbst geschrieben habe.

Eine Aufführung von Erinnerungen an Rassenkonflikte Am 28. Juli 1966 wurde die Rassentrennung in den zehn Grundschulen der Stadt Edge City aufgehoben. Die lokale Presse schrieb, dass Edge City die erste Stadt in Illinois sei, in der dies geschehe. Im Schuljahr 1965/66 gab es in dieser Gegend 456 afroamerikanische Schulkinder. 95 Prozent dieser Kinder besuchten die beinahe zur Gänze aus schwarzen SchülerInnen bestehende Martin School am nördlichen Ende der Stadt. Um die Aufhebung der Rassentrennung durchzusetzen, wurden bis auf einhundert alle afroamerikanischen Schulkinder von der Martin School mit Bussen in die neun anderen, ausschließlich von weißen Kindern besuchten Schulen der Stadt befördert. Im Gegenzug wurden 189 internationale Kinder auf die Martin School geschickt. Diese internationalen Kinder lebten mit ihren Eltern in den Wohngebäuden der Universität. Diese Maßnahme wurde von den Behörden als »cross-busing« bezeichnet. Die Zeitungen erklärten, dass keine weißen Kinder mit Bussen in andere Schulen befördert würden, sondern nur die Kinder aus den Wohngebäuden der Universität (vgl. Denzin u.a. 1997). Mrs. Anderson war die einzige Frau im ausschließlich mit Weißen besetzten Schulausschuss, der sich dazu entschloss, die Rassentrennung aufzuheben. Ich las in der Zeitung über sie und sah dort auch ihr Bild. Ich wusste, dass sie Sekretärin an einer der Grundschulen war und zuvor in der staatlichen Wohnbaugenossenschaft gearbeitet hatte. Was ich aber nicht wusste, war, dass sie zu dem Zeitpunkt, als sie im Schulausschuss tätig war, Alleinerzieherin war und dass ihre Tochter einen Schwarzen heiraten wollte, dass sie also Großmutter in einer aus zwei Rassen bestehenden Familie sein würde. Diese Dinge habe ich erst später erfahren.

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158 | Ethnographie, Kino und Interpretation In der Zeitung stand, dass sie am 10. November 1996 um 18.35 Uhr zu Hause gestorben sei. Sie sei 81 Jahre alt geworden und an Altersschwäche und einem Lungenemphysem gestorben. Ein langer durchsichtiger Plastikschlauch verband sie mit dem Sauerstoffgerät. Sie atmete mit großer Anstrengung und hatte kurze heftige Hustenanfälle. Sie hatte die äußerliche Erscheinung einer Patrizierin, war von dominierender Präsenz, hochgewachsen und anmutig, aber langsam in ihren Bewegungen, gebremst durch den Schlauch. Sie hatte kristallklare blaue Augen. Sie wirkte sehr elegant in ihrem blauen bodenlangen Morgenmantel aus Samt. Ihr Stuhl stand vor dem Panoramafenster. Sie blickte hinaus in ihren kleinen, gepflegten, eingezäunten Garten hinter dem Haus, einen Garten mit Rosen, Vogeltränken, immergrünen Bäumen und einer sterbenden Schwarzbirke. Ein Glas mit Geleebohnen stand auf dem Kaffeetisch neben dem Sofa, wo ich Platz genommen hatte. Ich platzierte den Kassettenrekorder neben dem Stuhl von Frau Anderson und befestigte das Mikrofon am Kragen ihres Morgenmantels, sehr vorsichtig, um nicht den Sauerstoffschlauch durcheinander zu bringen.11 Sie begann zu sprechen, ihre Geschichte darüber zu erzählen, wie sich die Aufhebung der Rassentrennung in Edge City abspielte. Ihre Geschichte spielt von Mitte der 1960er Jahre bis in die Gegenwart. Immer wenn Mrs. Anderson mit unterschiedlichen Stimmen spricht, ändert sich auch die Erzählperspektive ihrer Geschichte. Es hat mit zwei Leuten angefangen, James und Marilyn Daniels. Sie führten eine Gruppe ihrer Nachbarn in der schwarze Nachbarschaft an. Sie sagten: »Seht, ihr schickt all diese Kinder aus den Wohngebäuden der Unis mit dem Bus zur Schule. Warum nehmt ihr nicht die Martin School und bringt sie hier herauf und teilt die King-School-Kinder auf die verschiedenen Viertel auf?« [Pause] Und dreißig Jahre später blicke ich zurück und frage mich, welchen Mut es von diesen Leuten erforderte, das zu sagen.

11 | Dieses Interview wurde zusammen mit meinen Kollegen Belden Fields, Walter Feinberg und Nicole Roberts durchgeführt.

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 159 Und so nach einigem Hinundhergerede… hatten wir ein Abstimmungsergebnis von sechs zu eins… Aber sie sind zu uns gekommen. Ich glaube nicht, dass wir uns überhaupt der Tatsache bewusst waren, dass es da drüben eine Schule mit Segregation gab… Ich denke im Innersten, wir wussten nicht, wie rassistisch wir uns verhielten, indem wir zuließen, dass die Schule dort so blieb.

Sie hustet. Sie steht auf, geht in die Küche und holt ein Glas Wasser. Sie kommt zurück und schaut zum Fenster hinaus. Das Telefon läutet. Sie beachtet es nicht. Sie kehrt zu ihren Gedanken zurück: Ich erinnere mich an den Abend, als wir darüber abgestimmt haben. Ich erinnere mich – Zu dumm, dass man sich nur daran erinnert, was man gedacht hat, nicht, was man gesagt hat. Ich sagte: »Wir werden… wir sind nur zwölf Jahre zu spät dran. Na dann los.« Und ich sagte noch etwas Dummes und Weibliches, etwas wie: »Ich würde mich geehrt fühlen.« Ich saß da und sagte zu mir selbst: »Das hier ist historisch. Wir tun gerade etwas Historisches.« Natürlich ist das Alles nicht ganz plötzlich passiert. Es gab Bürgerversammlungen, bevor der Ausschuss abstimmte, Eine Versammlung bezog die Eltern aus den Universitätswohnungen mit ein. Wir trafen uns mit Leuten in der Martin School. Das war grässlich. Wir saßen vorne oben. Der Ausschuss und die Leute stellten uns Fragen, und dann sind sie ein wenig fies geworden.

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160 | Ethnographie, Kino und Interpretation Ich hatte keine Angst, aber ich war sehr unglücklich. Ein Akademiker stand auf und sagte: »Diese Leute da, diese Afroamerikaner die wollen ihr Zuhause und ihre Schulen nicht verlassen…« »Diese Leute da« – das verfolgt mich nun seit dreißig Jahren. [Pause] Wir hatten nur einen offen bekennenden Rassisten im Ausschuss zu dieser Zeit. Er ist jetzt tot, und wir können schlecht über die Toten sprechen. Er gehörte zur Nationalgarde, damit verdiente er seine Brötchen. An dem Abend, als wir abgestimmt haben, ist er gerade aus Chicago zurückgekommen, wo sie die Nationalgarde hingeschickt hatten, um einige der Unruhen niederzuhalten. Und er hat sich an mich gewandt und gesagt: »Du bist ja auch nicht in Chicago gewesen und hast dich von diesen schwarzen Mistkerlen beschimpfen lassen müssen.« Das Nein war seine Stimme. Ich bin anders aufgewachsen als viele Leute, schätze ich.

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 161 Seit Jahren kann ich mich an die Worte meiner Mutter erinnern, die sagte: Die glücklichsten Jahre meines Lebens waren jene zehn Jahre, als wir die Nachbarn einer Neger-Familie unten in Joliet waren. Und ich weiß nicht, ob es mich beeindruckt hat, dass Neger Menschen sind oder was, aber ich erinnerte mich daran und fühlte es, und ich habe auch heute noch schwarze Freunde. Sehen sie das Bild auf dem Videorekorder?

Ich durchquerte den Raum, nahm das große Familienfoto vom Videorekorder und reichte es Mrs. Anderson, die es mir wieder zurückgab. Es war eines dieser Farbfotos in Großaufnahme, eine Vergrößerung, vier Personen, Mutter und Vater hinten, zwei Kinder, zwei kleine Mädchen vorne. Der Vater war schwarz, die Kinder Mulattinnen, die Mutter weiß. Mrs. Anderson erklärte: Das ist meine ältere Tochter und ihr Ehemann und meine beiden schönen Enkelkinder. Sind sie nicht hübsch? Ich schwöre, sie haben das Beste aus beiden Welten mitbekommen! Der junge Mann hat seinen Abschluss an der Columbia gemacht und hat vier Jahre lang Basketball gespielt. Jetzt macht er seinen MBA an der UCLA. Die junge Dame da, meine Tochter, hat ihren Abschluss in Wesleyan gemacht. Sie ist nun an der Indiana University an der juristischen Fakultät.

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162 | Ethnographie, Kino und Interpretation

Eine weitere Reihe von Erinnerungen Als wir gerade dabei waren, Mrs. Andersons Haus zu verlassen, drängte sich plötzlich noch eine weitere Frage auf. Diese betraf die Schulausschusswahl im Jahre 1968. Ich fragte Mrs. Anderson nach einer schwarzen Frau namens Caroline Smith, die Mitglied in einer gänzlich weißen Vereinigung war, die gegen Mrs. Anderson und ihre Ausschusskollegen mobil machte. Die Zeitung schrieb, dass die Gruppe um Mrs. Smith der Meinung sei, die Mitglieder des Ausschusses würden die Angelegenheit hinter verschlossenen Türen regeln und die Regelung mit den Bussen sei nicht in der Öffentlichkeit diskutiert worden. Es gab noch weitere Beschwerden. Im Sommer des Jahres 1968 verließen die Martin-Eltern eine Schulversammlung, weil der Ausschuss ihre Beschwerden nicht berücksichtigte. Die Gruppe um einen Mr. Daniel forderte eine stärkere Vertretung von afrikanisch-amerikanischen Lehrern und Lehrerinnen, sie wollten einen afrikanisch-amerikanischen Rektor an der Martin School sowie mehr außerschulische Angebote für ihre Kinder. 1972 gab es einen Bericht über die Aufhebung der Rassentrennung, und Mr. Daniel zufolge überging dieser Bericht die Bemühungen der Martin-Eltern im Projekt zur Aufhebung der Rassentrennung. Der Vorsitzende des Ausschusses entschuldigte sich bei Mr. Daniels. Ich erinnerte Mrs. Anderson daran, dass die Zeitungen den Sommer von 1968 den »Sommer der Unzufriedenheit in Edge City« genannt hatten. Ihre Antwort kam schnell: Die müssen den »Sommer der Unzufriedenheit« aus dem Roman von John Steinbeck geklaut haben. Sie müssen es von irgendjemandem geklaut haben. Sie selbst waren nicht so schlau. Haben sie die gestrige Abendzeitung gelesen? Ich habe mich falsch ausgedrückt. Nach wie vor dieselben alten Geschichten, dreißig Jahre später. Aber ich habe einfach ausgeblendet, dass ich mich an diese Beschwerden nicht erinnern kann. Caroline Adams Smith. Sie hat uns nie besonders gemocht. Ich habe jedenfalls ein Problem damit die Geschichte nachzuerzählen.

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 163 Wahrscheinlich war es nicht so schön und ich habe es verdrängt und wollte mich nicht mehr daran erinnern. Ich habe eine Angewohnheit, die wirklich sehr tief verwurzelt ist, und die ist, dass, wenn etwas widerlich gewesen ist, schließe ich es weg und erinnere mich nicht mehr daran. Mein Gedächtnis ist furchtbar. Ich kann mich daran nicht erinnern. Ich erinnere mich jetzt an den Bericht. Aber ich habe es weggeschoben.

Noch eine Erinnerung Sechs Tage nach dem Interview rief mich Mrs. Anderson zu Hause an. Es war am frühen Abend. Hallo, Dr. Denzin, hier spricht Alice Anderson. Nachdem Sie letzte Woche gegangen sind habe ich mich erinnert dass ich noch ein Sammelalbum aus der Zeit habe als ich im Schulausschuss war. Ich denke, sie sollten es haben. Ich möchte, dass jemand meine Geschichte erzählt, jetzt, wo ich so alt werde. Sie können es gerne haben, wenn sie wollen.

Als ich zu ihrem Haus kam, führte sie mich zu ihrem Küchentisch, wo ein großes Sammelalbum, Format 30 mal 35 Zentimeter, und zwei Aktenordner und ein großes Briefkuvert aus Manilapapier mit Zeitungsausschnitten lagen. Das Sammelalbum trug das Etikett »Schulbehörde, 6/66-4/67« (betraf also das erste Jahr ihrer ersten Amtszeit im Schulausschuss). Zwei Colliewelpen waren auf dem Einband abgebildet, einer saß in einem roten Schubkarren. Aus den Ordnern flatterten Bilder, Geschichten und Glückwunschkarten zu ihrer glanzvollen Wiederwahl in den Ausschuss im Jahre 1968. Mrs. Anderson erinnerte sich nun daran, was sie vergessen hatte. Sie

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164 | Ethnographie, Kino und Interpretation hatte ihre Akten nicht weggeworfen. Sie hatte alles aufgehoben. Ihr Sammelalbum war eine Aufzeichnung der Vergangenheit. Aber es war unvollständig. Sie hatte tatsächlich vergessen, die Artikel über den »Sommer der Unzufriedenheit« auszuschneiden, und sie hatte auch keine Aufzeichnung über den Bericht zur Aufhebung der Rassentrennung aus dem Jahre 1972, in dem Mr. Daniels und seine Gruppe übergangen wurden. Dies waren schmerzvolle Erfahrungen, und Mrs. Anderson hatte die Angewohnheit, sich an widerliche Dinge nicht zu erinnern. Doch vor dreißig Jahren hatten viele abscheuliche Dinge die Aufhebung der Rassentrennung in Edge City begleitet.

Eine Interpretation von Mrs. Andersons Aufführung Ich habe hier den Versuch unternommen, Mrs. Andersons Interview in einen dramatischen, poetischen Text zu verwandeln. Nach Anna Deavere Smith sollten solche Texte das Wesen der Sprecherin/des Sprechers ans Tageslicht bringen. Sie sollten der Sprecherin/dem Sprecher dazu verhelfen, in ihrer/seiner Sprache völlig gegenwärtig zu sein. Mrs. Anderson verwendet Ironie, um ihre Sicht der Welt zu vermitteln – einer rassistischen Welt, die sie zutiefst verachtet. Die Worte dieser Frau ergeben eine narrative Montage. Innerhalb dieser Welt der vermischten Bilder und Erinnerungen blickt Mrs. Anderson zurück, macht sich selbst im Sommer von 1966 ausfindig. Dreißig Jahre nach der Begebenheit sieht sie den Mut in den Augen und Worten von James und Marilyn Daniels. Sie erkennt, dass sie und ihre Kollegen sich selbst etwas vormachten, als sie vorgaben, die isolierte Schule »dort drüben« nicht zu sehen. Und sie verwendet für diesen Blick den Ausdruck »rassistisch«. Aber als sie abstimmte, erhob sie ihre Stimme als Frau und sagte etwas »Dummes und Weibliches«, so als hätte die Stimme einer Frau nicht gezählt, wenn es im Jahr 1966 um Rassenahngelegenheiten ging. Sie ruft sich den Akademiker wieder ins Gedächtnis, der feindselig von »diesen Leuten da« sprach. Aber sie selbst spricht auch ohne weiteres unfreundlich über den einzigen offen bekennenden Rassisten im Schulsausschuss. Die Chicagoer Rassenunruhen von 1966 werden durch die Bilder hinter ihren Worten heraufbeschworen: »Du bist ja nicht in Chicago gewesen und hast dich von diesen schwarzen Mistkerlen beschimpfen lassen müssen.« Für einen Mann war die Abstimmung zur Aufhebung der Rassentrennung in Edge City also eine Wahl, die eben diesen »schwarzen Mistkerlen« eine Stimme geben sollte. In ihrer Montage grenzt Mrs. Anderson sich selbst von den anderen Weißen ab. Ihre Familie wohnte mit einer Negerfamilie in Joliet Tür an Tür, und sie hat herausgefunden, dass Neger auch Menschen sind. Diese

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Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft | 165 Einsicht hat sie an ihre Tochter weitergegeben, wie das Farbfoto dramatisch zeigt. Nicht alles ist gut gelaufen in dem Edge City-Projekt zur Aufhebung der Rassentrennung. Es gab einen »Sommer der Unzufriedenheit«. Der weiße Schulausschuss hatte die schwarzen Eltern einfach ignoriert. Mrs. Andersons Sammelalbum mit Bildern und Ausschnitten erzählt nur einen Ausschnitt dieser Geschichte, denn den schmerzhaftesten Teil hat sie nicht aufbewahrt. Erwähnenswert ist auch, dass sich in ihrem Nachruf in der Zeitung keinerlei Hinweis auf ihre Rolle in dieser Geschichte findet. Die Zeitung erwähnt nicht einmal, dass sie im Schulausschuss tätig war.

Schluss Anna Deavere Smith behauptet, Amerikaner und Amerikanerinnen hätten Schwierigkeiten damit, »über Rassen und [rassische] Unterschiede zu sprechen. Diese Problematik besteht über die Grenzen von Rassen, Klassen und Politik hinweg« (1993: xxii). Es handelt sich, wie sie sagt, um »einen Mangel an Worten. […] Wir haben keine Sprache, die uns als Gruppe zusammenbindet« (ebd.). Smiths Stücke sind Versuche, diese Sprache ausfindig zu machen. Ihre zur Aufführung bestimmten Texte lassen uns die Grenzen der Sprache, die wir heute verwenden, deutlicher wahrnehmen. Aufführungen wie die von Mrs. Anderson schaffen Räume für die Entfaltung von Erinnerungen an die Rassenproblematik. Sie geben uns die Gelegenheit, die Rassenpolitik und den Rassismus in den 1990er Jahren zu überdenken. Mrs. Andersons Text zeigt, dass in den 1960er Jahren zwischen den Weißen und den Schwarzen in Edge City eine große Kluft bestand. Weiße männliche Stimmen reproduzierten rassische Stereotype. Wenn eine weiße Frau sich zu Wort meldete, fühlte sie sich unwohl, eben wie eine Frau. Aber eine weiße Frau hat 1966 ihre Stimme erhoben und damit rassische Grenzen überschritten. Während wir Mrs. Andersons Geschichte zuhören, werden wir daran erinnert, dass wir auch heute noch immer DarstellerInnen (und Darstellungen) wie sie brauchen, wenn die Versprechen einer Demokratie der Rassen in Amerika jemals verwirklicht werden sollen. Ich suche nach einer interpretativen Sozialwissenschaft, die gleichzeitig autoethnographisch, verletzbar, performativ und kritisch ist. Dies soll eine Sozialwissenschaft sein, welche sich gegen Abstraktionen und hohe Theorie verwehrt. Es ist eine Weise, in dieser Welt zu leben, eine Art zu schreiben, zu hören und zuzuhören. Wenn wir Kultur als einen komplexen performativen Prozess betrachten, versuchen wir zu verste-

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166 | Ethnographie, Kino und Interpretation hen, wie Menschen in ihrem täglichen Leben Bedeutung in Szene setzen und konstruieren. Es geht um eine Rückkehr zum Erzählerischen als politischem Akt – um eine Sozialwissenschaft, die gelernt hat, wie man das reflexive, dialogische Interview kritisch anwendet. Diese Sozialwissenschaft bringt sich selbst auf eine ermächtigende Weise in die Welt ein. Sie bedient sich erzählter Worte und Geschichten, um Aufführungstexte herzustellen, die sich neue Welten ausmalen – Welten, in denen Menschen werden können, was sie sein wollen, frei von Vorurteilen, Unterdrückung und Diskriminierung. Das ist das Versprechen einer performativen Sozialwissenschaft in einer Kinogesellschaft. Diese Form von Sozialwissenschaft weigert sich, Forschung als Massenware zu behandeln, die eingekauft und wieder veräußert werden kann. Denn als ForscherInnen gehören wir einer moralischen Gemeinschaft an. Das reflexive Interview hilft uns, mit dieser Gemeinschaft dialogische Beziehungen einzugehen. Es sind aber diese Beziehungen, die es uns wiederum erlauben, eine Ethik der Fürsorge und der Ermächtigung zu entfalten. Genau diese Form von Ethik wollte Mrs. Anderson im Sommer 1966 verwirklichen. Durch die darstellerische Realisierung ihres Interviews lernen wir ein wenig mehr darüber, wie wir dasselbe in unseren eigenen Gemeinschaften tun können.

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 169

Ein Plädoyer für die performative Dimension

»Für die gebildete Hoffnung […] ist Politik ein erzieherischer performativer Akt.« Henry Giroux 2001: Public Spaces, Private Lives

Zusammenfassung Dieser Artikel stellt einen performativ orientierten Ansatz für symbolisch-interaktionistische Untersuchungen vor. Nach einer Erörterung der Performanz-Terminologie untersuche ich die Beziehungen zwischen Performanz, Pädagogik, Ästhetik und Politik, einschließlich der Hinwendung zu einer performativ orientierten (Auto)Ethnographie.

Dieser Essay in Form eines Manifestes ist als Einladung an die Zunft der symbolischen Interaktionisten zu verstehen, mit mir die praktische progressive Politik performativ orientierter Cultural Studies zu durchdenken.1 Es geht dabei um einen emanzipatorischen Diskurs, der eine kritische Pädagogik mit neuen Wegen der schriftlichen und performativen Kulturdarstellung verbindet (vgl. Kincheloe/McLaren 2000: 285).2 1 | Veröffentlicht als »The Call to Performance«, Symbolic Interaction 26:1 (2003), S. 187-207. Performativ orientierte Cultural Studies bieten die Möglichkeit, eine kritische kulturelle Pädagogik zu inszenieren – durch Einsatz von Dialog, performativem Schreiben sowie durch Inszenierung und Aufführung von Texten, die das Publikum einbeziehen (vgl. Schutz 2001: 146).

2 | Für McLaren (1998: 441) und Kincheloe/McLaren(2000: 285) bezieht sich kulturelle Pädagogik auf die Art und Weise, wie kulturelle Produktion als eine Form der Erziehung fungiert, wenn sie »Wissen erzeugt, Werte formt und Identität konstruiert. […] Kulturelle Pädagogik bezieht sich auf die Art und Weise, wie kulturell Handelnde […] hegemoniale Sichtweisen produzieren.« Die kritische Pädagogik (vgl. McLaren 1998: 441) versucht, diese kulturellen Praktiken im

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170 | Ethnographie, Kino und Interpretation Ich bin überzeugt, dass performativ orientierte menschliche Disziplinen zu einem grundlegenden sozialen Wandel, zu ökonomischer Gerechtigkeit und zu einer Kulturpolitik beitragen können, die eine kritische Rassentheorie und »die Prinzipien einer radikalen Demokratie auf alle Aspekte der Gesellschaft« ausweitet (Giroux 2000a: x, 25), ferner zu einem Wandel, der der Vision »von einer auf sozialer Gerechtigkeit gegründeten Demokratie« verpflichtet ist, die es »noch nicht« gibt (Weems 2002: 3). Ich meine, dass symbolische Interaktionisten sich an diesem Projekt beteiligen sollten (vgl. Denzin 1992, 1995, 1997, 2001a, 2001b, 2001c).3 Durch die soziologische Imagination (vgl. Mills 1959) geformt und auf Perinbanayagam (1991: 113, 117) und George Herbert Meads diskursiv-performativem Modell des Aktes aufbauend (vgl. Mead 1938: 460 und Dunn 1998), versucht diese Art des praktizierten symbolischen Interaktionismus zu zeigen, dass Begriffe wie »Biographie«, »Geschlecht«, »Rasse«, »Ethnizität«, »Familie« und »Geschichte« schon immer performativ und interaktiv angelegt waren. Auf Perinbanayagam und Mead aufbauend, wird dabei imaginativ auf vielfältige Weise erkundet, wie wir »Performanz« und »performativ« verstehen können: als Mimesis oder Imitation, als Poiesis oder Konstruktion, als Kinesis oder Bewegung (vgl. Conquergood 1998: 31). Der Interaktionist bewegt sich dabei von der Vorstellung, Performanz sei Imitation oder dramaturgische Inszenierung (vgl. Goffman 1959), über die Betonung von Performanz als Liminalität (Schwellenzustand, Übergangsriten) und Konstruktion (vgl. Turner 1986) zu einer Sicht der Performanz als Kampf und Intervention, als Bruch und Neuschöpfung, als Bewegung (Kinesis) und soziopolitischer Akt (vgl. Conquergood 1998: 32). Als Kampf und Intervention betrachtet, werden Aufführungen und performative Ereignisse auch zu Grenzüberschreitungs- und Entgrenzungsleistungen – zu politischen Leistungen, die »sedimentierte Bedeutungen und normative Traditionen« durchbrechen (ebd.). Meine Argumentation entwickelt sich in vier Schritten. Ich beginne mit Begriffsdefinitionen und einem Plädoyer für die performative Dimension. Als Nächstes untersuche ich die Beziehung zwischen PerforNamen einer »gerechteren demokratischen und egalitären Gesellschaft« (Kincheloe/McLaren 2000: 285; vgl. jedoch Lather 1998) performativ zu stören und zu dekonstruieren.

3 | Der vorliegende Text ist zwar ein Plädoyer für die performative Dimension, aber er ist selbst kein Beispiel und Vorbild für das Scheiben von aufführbaren Texten (vgl. Bochner/Ellis 2002, Madison 1999, Phelan 1993 und 1998). Auch soll mein Essay keine Dekonstruktion des klassischen Zeitschriftenaufsatzstils leisten. Aber ich führe in meinem Beitrag vorzugsweise performative Texte an – zur Aufführung gedachte Texte.

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 171 manz, Pädagogik und Politik, einschließlich der performativen Wende in der Ethnographie. Es folgt eine Skizze performativer Kriterien und der Aufführungskunst im »siebten Moment«.4 Abschließend erörtere ich dann eine Performance-Ästhetik und das Konzept performativer Cultural Studies. Im Geiste von Mead und Dewey beabsichtige ich, in der Gemeinschaft der Interaktionisten einen Dialog zu initiieren und so unseren Fachdiskurs stärker in die Räume eines progressiven Interaktionismus voranzutreiben. Ich möchte innerhalb der interaktionistischen Tradition jene politischen Impulse ausweiten, die sich eine radikale demokratische Philosophie vorstellen (vgl. Lyman/Vidich 1988: xi). Im Anschluss an Dewey, Mills, Blumer und DuBois hinterfragen solche Impulse fortwährend die Relevanz von Pragmatismus und symbolischem Interaktionismus für Rassenbeziehungen und das Problem der sozialen Ungerechtigkeit im kapitalistischen demokratischen Staat (vgl. Reynolds 2000: 12).

Plädoyer für die performative Dimension Viele Interaktionisten befinden sich bereits im siebten Moment; sie inszenieren Kultur schon beim Schreiben, weil sie verstanden haben, dass es die Trennung zwischen Performativität (als Tun) und Performanz (als Getanem) nicht mehr gibt (vgl. Conquergood 1998: 25). Gleichwohl bleibt die Sache der rassischen Ungerechtigkeit bestehen. Hier erinnert uns W.E.B. DuBois (1978 [1901]: 281, 288) daran, dass »das Problem des 20. Jahrhunderts [und auch des 21. – N.K. Denzin] das Problem der Rassenschranken sein wird. […] Die moderne Demokratie kann nicht gelingen, wenn nicht auch die Menschen unterschiedlicher Rassen und Religionen in das demokratische Ganze integriert werden.« DuBois widmete sich der Rassenfrage aus einer performativen Perspektive. Er verstand, dass »seit der Ankunft der ersten afrikanischen Sklaven auf amerikanischem Boden […] die Definitionen und Bedeutungen des Schwarz-Seins eng mit Fragen des Theaters und der Aufführung verbunden waren« (Elam 2001: 4).5 4 | Denzin und Lincoln (2000: 2) definieren die allesamt in der Gegenwart operierenden sieben Momente der Untersuchung als traditionell (1900-1950), modern (1950-1970), Aufweichung der Gattungen (1970-1986), Krise der Darstellung (1986-1990), postmodern oder experimentell (1990-1995), postexperimentell (1995-2000) und zukünftig (2000ff.).

5 | Rasse und Rassismus waren für DuBois soziale Konstruktionen und soziale Akte/Aufführungen. Minstrel-Shows und das Schwärzen des Gesichts für den Bühnenauftritt waren mächtige Mittel, welche die Rassenschranken produ-

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172 | Ethnographie, Kino und Interpretation In seinem Manifest für ein rein schwarzes Theater stellte sich DuBois (1926) einen Ort für pädagogische Aufführungen vor, die die »soziale und kulturelle Handlungsmacht« der Schwarzen positiv zum Ausdruck brächten (Elam 2001: 6). Sein radikales Theater (1926: 134) ist wie das von Amiri Baraka (1979), Anna Deavere Smith (1993, 2000) und August Wilson (1996) ein politisches Theater über Schwarze, von Schwarzen für Schwarze geschrieben und von Schwarzen in lokalen Theatern aufgeführt. Das radikale Theater lässt sich als Waffe im Kampf gegen Rassismus und weiße Privilegien handhaben. Die Notwendigkeit einer schwarzen politischen Aufführungsästhetik hebt auch bell hooks hervor. Als Kind hatten sie und ihre Schwestern ihr Wissen über die Rassen in Amerika durch die »Ed Sullivan Show am Sonntagabend« im Fernsehen gewonnen. Wenn er in dieser Show den großen Louis Armstrong sah, sprach Daddy, der sonst meistens schwieg, über die Musik und darüber, wie Armstrong behandelt wurde, und über die politischen Implikationen seines Auftretens. […] Als Reaktion auf kulturelle Produktionen im Fernsehen konnten Schwarze ihre Wut über den Rassismus zum Ausdruck bringen. […] Leider […] schrieben Schwarze nicht auch ein ganzes Corpus von kritischen Kulturanalysen (hooks 1990: 3f.).

Ich reihe mich mit meinem Projekt bei DuBois und bell hooks ein, wenn ich frage, wie eine radikale performative Sozialwissenschaft die mit den Rassenschranken verbundenen Probleme im 21. Jahrhundert offensiv angehen und überwinden kann. Ein solches Projekt wird Kultur auf neue Weise schreiben und aufführen. Es wird die reflexive Autoethnographie mit der kritischen Pädagogik und der kritischen Rassentheorie verbinden (vgl. Ladson-Billings 2000). Es wird notwendigerweise politische Akte als pädagogische und performative Akte behandeln, als Akte, die der sozialen Zivilgesellschaft und dem demokratischen Dialog neue Räume eröffnen – Akte, die ein kritisches Rassenbewusstsein schaffen (vgl. Giroux zierten und reproduzierten. DuBois war überzeugt, dass die Amerikaner afrikanischer Abstammung Aufführungsräume bräuchten, in denen sie kontrollieren könnten, wie Rasse konstruiert wird. Folglich waren und sind, wie Harry Elam feststellt (2001: 5f.), das afrikanisch-amerikanische Theater und seine Aufführungen zentrale Schauplätze für die Hinterfragung von Rasse und Rassenschranken (vgl. Elam/Krasner 2001). Das inhärente »Konstruiert-Sein« von Aufführungen und die Anpassungsfähigkeit von Theaterelementen dienen zur Untermauerung der Theorie, dass »Schwarz-Sein […] und Rasse […] hybride, im Fluss befindliche Konzepte sind« (Elam 2001: 4f.). Stuart Hall (1996: 473) stellte zu Recht fest, Farbige seien niemals in der Lage gewesen, der Politik und dem Theater der (rassischen) Darstellung erfolgreich zu entkommen.

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 173 2001b: 9). Eine performative, pädagogische Politik der Hoffnung stellt sich eine radikal freie demokratische Gesellschaft vor, eine Gesellschaft, in der die Ideale der feministischen und der homosexuellen Bewegung ebenso realisiert sind wie die der Umwelt-, der Naturschutz-, der Bürgerrechts- und der Arbeiterbewegung (vgl. ebd. sowie McChesney 1999: 290).6 In ihren utopischen Formen bieten diese Bewegungen »alternative Modelle einer radikalen demokratischen Kultur, die in sozialen Beziehungen verwurzelt ist, welche die demokratischen Ideale ernst nehmen: private wie politische Freiheit und das Streben nach Glück« (Giroux 2001b: 9). Die folgenden Zitate aus Mary Weems’ Gedicht »Diese Evolution wird nicht im Fernsehen übertragen« können mein Projekt verdeutlichen. Hier zeigt Weems (wie auch bell hooks), wie Medien und weiße Kultur die afrikanisch-amerikanische Erfahrungswelt prägen: »Diese Evolution wird nicht im Fernsehen übertragen« Unser Bild, unsere Zöpfe, unsere Musik, unsere Fehler, Unsere Hintern, unsere Rhythmen werden im Fernsehen, In Werbespot nach Werbespot, Abgespielt wie eine alte Langspielplatte. Der Colonel im Plantagen-Outfit rappt, tanzt Moonwalk, Verkauft einer Schwarzen gestohlene Brathähnchen, schwarze Kids Schnipsen mit den Fingern, halten’s für unglaublich cool, gehen ihren Mamas Für Chipstüten auf die Nerven. Eine niemals endende Geschichte, die nicht im Fernsehen übertragen wird… (Weems 2002: 4).

Performanz und Performativität Die folgenden Begriffe sollten genauer analysiert werden: Aufführung (performance, aber auch performing), Performanz, aufführbarer/aufge6 | McChesneys Definition von Demokratie (1999: 4) ist hier genauso brauchbar wie viele andere: »Die Vielen sollten die politischen Kernentscheidungen treffen, und sie treffen sie auch.« Diese Definition autorisiert eine Demokratie der Teilhabe, nicht unbedingt eine repräsentative Demokratie. Eine praktikable partizipatorische Demokratie entzieht jenen neoliberalen Diskursen das Wort, die die Demokratie auf die Bedürfnisse des Kapitalismus und auf die damit einhergehende Kolonialisierung des öffentlichen Lebens durch die großen Konzerne im heutigen Amerika reduziert haben (vgl. Giroux 2001a: 122).

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174 | Ethnographie, Kino und Interpretation führter Text (performance text), Auf- oder Ausführender (performer), Performativität, Originale und Imitationen. Als interpretierendes Ereignis erfordert eine Aufführung Akteure/Schauspieler, Ziele, Skripte, Geschichten, Bühnen/Schauplätze und Interaktionen (vgl. Burke 1969). Der Akt der Aufführung »tritt zwischen Erfahrung und erzählte Geschichte« (Langellier 1999: 128). Ein Aufführungstext kann verschiedene Formen annehmen: Es gibt dramatische Texte (etwa ein Gedicht oder ein Stück); natürliche Texte oder Transkriptionen alltäglicher Gespräche; Ethnodramen (vgl. Mienczakowski 2001); dramatische, inszenierte und improvisierte Lesungen. Aufführungen sind in Sprache eingebettet. Das heißt, bestimmte Worte bewirken Bestimmtes, und was sie performativ tun, bezieht sich auf Bedeutungen zurück, die ihrerseits in Sprache und Kultur eingebettet sind (vgl. Austin 1962;7 Butler 1993a, 1993b und 1997; Derrida 1973 und 1988). Für Judith Butler bezieht sich Performativität auf die »reiterative Macht des Diskurses, jene Phänomene zu reproduzieren, die er reglementiert und erzwingt« (Butler 1993a: 2). Folglich wird in performativen Äußerungen schon durch die Sprache und in der Sprache das sprechende Subjekt gesprochen (vgl. Pollock 1998b: 39). Laut Richard Schechner bewohnen wir eine Welt, in der Kulturen, Texte und Aufführungen kollidieren. Solche Kollisionen erfordern demnach eine Unterscheidung zwischen »als« und »ist« (Schechner 1998: 361). Als im Fluss begriffene, fortlaufende Ereignisse »markieren und verbiegen Aufführungen Identitäten, gestalten sie die Zeit neu, schmücken sie den Körper und gestalten ihn um, erzählen sie Geschichten und gestatten den Menschen, mit Verhaltensweisen zu spielen, die dann restauriert werden, sozusagen als ›Doppelverhalten‹« (ebd.). Die Art und Weise dagegen, wie eine Aufführung inszeniert ist, beschreibt das performative Verhalten, »wie Menschen ihre Geschlechtsrollen spielen, wie sie ihre konstruierte Identität überhöhen, wie sie in unterschiedlichen Situationen geringfügig oder radikal andere Identitäten ausspielen« (ebd.).8 Diese Sicht des Performativen mache es »zunehmend schwie7 | In Austins Theorie »bezeichnete der Begriff ›performativ‹ jene Art von Äußerung, die tatsächlich in der Welt etwas tut und bewirkt, etwa Versprechen oder Vergeben […] im Gegensatz zu ›konstativen‹ Äußerungen, die nur über einen Zustand berichten, der unabhängig vom Sprechakt ist« (Conquergood 1998: 32; kritisch dazu Garoian 1994:4; Austin 1962: 5, 14f., 108; Perinbanayagam 1991: 113). Derrida »arbeitet Austins Performativität zu einer Zitathaftigkeit um, […] die konstative in performative Sprechakte auflöst« (Pollock 1998b: 39).

8 | Laut Schechner (1998: 362) ist dies das »Performative, das Austin eingeführt hat und das von Butler und Theoretikern der Homosexualität diskutiert wird«.

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 175 riger, noch Unterscheidungen zwischen Erscheinungen und Fakten, Oberflächen und Tiefen, Illusionen und Substanzen aufrechtzuerhalten. Erscheinungen sind Tatsachen« (ebd.: 362). Performanz und Performativität überschneiden sich im sprechenden Subjekt mit einem geschlechtlich und rassisch definierten Körper. Die Performativität »situiert die aufführbare Erzählung im Kräftefeld des Diskurses« (Langellier 1999: 129), etwa der Diskurse von Rasse und Geschlecht. In grenzüberschreitenden Aufführungen stellen die aufführenden Körper geschlechtlich definierte Identitäten infrage und schaffen Räume für eine Politik homosexuellen Widerstands (vgl. Butler 1993a: 12, Pollock 1998b: 42, Garoian 1999: 5). Judith Butler erinnert uns daran, dass es keine Originalaufführungen gibt, keine »präexistente Identität, an der man einen Akt oder ein Attribut messen könnte« (1993a: 141). Jede Aufführung ist eine Imitation, eine Form der Mimesis: »Wenn die Heterosexualität eine unmögliche Imitation ihrer selbst ist, eine Imitation, die sich performativ selbst als das Original konstituiert, dann ist die imitative Parodie der ›Heterosexualität‹ […] stets und nur eine Imitation, eine Kopie einer Kopie, zu der es kein Original gibt« (1993b: 644). Jede Aufführung ist zugleich Original und Imitation. Zweifellos stehen Performativität und Performanz in einem Spannungsverhältnis zueinander, in einem Spannungsverhältnis zwischen Tun (dem performativen Akt) und dem Getanen (dem Text oder der Aufführung). Die Aufführung ist sinnlich und kontingent. Performativität »wird zur alltäglichen Praxis, das zu tun, was getan wird« (Pollock 1998b: 43; Hervorhebung im Original). Performativität ist, »was geschieht, wenn Geschichte/Textualität sich selbst im Spiegel sieht – und plötzlich doppelt sieht; es ist das Desorientierende, Störende« (ebd.). Die Performativität leitet ihre Macht und ihre Vorrechte aus dem Aufbrechen und Neuformieren ebenjener textuellen Bezugsrahmen her, die ihr überhaupt erst Bedeutung verleihen (ebd.: 44). Die folgenden Zeilen aus Stephen Hartnetts sozial-investigativem Langgedicht »Visiting Mario« sollten laut gelesen werden. Dann interagieren performativer Akt und Performativität. »Irgendwo bei Salinas, Lord« Kristofferson/Joplin Zehntausend Sprinkler ziehen langsam ihre Kreise, Einander überlagernd […] Wasser aus Plastikbechern trinkend, Hüte auf den Knien, ledrige Hände mit Narben von lebenslangem

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176 | Ethnographie, Kino und Interpretation Ernten der Pracht Kaliforniens für fünf Dollar am Tag. […] Fast erstickend schluchzt die alte Mexikanerin. In Handschellen wird ihr Junge abgeführt, zurück in die Hölle. Das vietnamesische Paar flüstert mit seinem Sohn, der über die buckligen Schultern lugt… (Hartnett 2002: 2, 7)

Auf dem Weg zu einer performativen kulturellen Politik 9 Nach dieser Begriffsklärung befasst sich mein an die interaktionistische Zunft gerichtetes Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der performativen Dimension mit fünf Fragestellungen, die jeweils Performanz mit einem weiteren Begriff koppeln (vgl. Conquergood 1991: 190, Conquergood 1998 und Schechner 1998: 360). Jede dieser Paarungen beruht auf der These, dass wir heute, wenn die Welt ein performativer Prozess und kein fixierter Text ist, ein Modell der Sozialwissenschaften benötigen, das ebenfalls performativ ist. Das heißt, die Beziehungen zwischen • • • • •

performativem und kulturellem Prozess, performativer und ethnographischer Praxis, Performanz und Hermeneutik, Performanz und dem Akt der wissenschaftlichen Darstellung sowie Performanz und der Politik der Kultur

müssen neu durchdacht werden (vgl. Conquergood 1991: 190). Hinsichtlich der ersten dieser Paarungen gibt es unter Interaktionisten keinen Dissens: Kultur ist ein Verb, ein Prozess, eine fortwährende Aufführung und kein Substantiv, kein Produkt, kein statisches Etwas. Aufführungen und ihre Darstellungen sind im Zentrum der gelebten Erfahrungen zu Hause. Doch Erfahrungen kann man nicht direkt und unmittelbar untersuchen. Wir untersuchen sie durch und in ihren performativen Darstellungen. So gesehen ist die performative Dimension von Kultur ein Ort, an dem sich Erinnerungen, Emotionen, Phantasie, Wünsche und Begehren wechselseitig befruchten (vgl. Madison 1998: 277). Die zweite Paarung bringt die performative Dimension der ethnographischen Praxis ins Spiel; sie betont die methodologischen Implikatio9 | Den Titel dieses Abschnitts habe ich bei Conquergood 1998 entlehnt.

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 177 nen, wenn Feldforschung als kollaborativer Prozess, als gemeinsame Aufführung, als gemeinsamer performativer Akt gesehen wird (vgl. Conquergood 1991: 190). Autoethnographen fügen ihre eigenen Erfahrungen in die performativen kulturellen Akte ein, die Gegenstand der Untersuchung sind. So schreibt etwa Stacey Holman Jones (2002: 45) über sich selbst und ihre Liebe zur unerfüllten Liebe. Bei diesem Thema sieht sie sich selbst in Tränen beim Anschauen der Schlussszene aus dem Film The Way We Were (1973; dt. So wie wir waren): Ich weine. Ich weine jedes Mal, wenn ich die Schlussszene zwischen Katie und Hubbell in The Way We Were sehe. Es reicht aus, dass ich diese letzte Szene sehe, die letzten Töne höre, »Memories…« Ich weine um Katie und Hubbell, wie sie versucht haben zusammenzuleben, aber es einfach nicht geschafft haben, eine funktionierende Beziehung aufzubauen.

Betrachten Sie nun das folgende Gedicht von Stacey Jones, in dem es um ihr Verhältnis zu Sängerinnen wie Billie Holiday geht (die im Amerikanischen als »torch singers« bezeichnet werden, wobei ein »torch song« eine bluesartige Ballade von unerfüllter Liebe ist).10 Jones beginnt ihr Gedicht mit einer Bezugnahme auf Peggy Phelan (1993: 16), die schreibt: »Alles Sehen wird vom Verlust getrübt. […] Das Subjekt strebt danach, sich selbst zu sehen, wenn […] es den anderen betrachtet.« Dann schreibt Jones (2002: 49): Ich spüre, wie es mir entgleitet, es ist mir durchaus recht. Ich lass’ die Erinnerung schweifen an jemand, den ich schon lange Nicht mehr hab’ … Deine Augen, grün wie meine, ruhen auf mir, Ständig seh’ ich mich selbst in deinem Blick gespiegelt, Sehe dich an, wie du mich ansiehst… Ich möchte den Torch Song leben, An den ich denke, an dem ich schreibe, von dem ich träume.

In der dritten Paarung des Problemfeldes geht es um die Verbindung von Performanz und Hermeneutik. Hier wird die ausagierte Erfahrung als Erkenntnisweg, als Methode der Untersuchung und als Verständnisweise privilegiert. Wenn ich Stacey Jones’ Gedicht laut lese, kann ich ihre Stimme hören und durch meine Stimme eine Verbindung schaffen zu Billie Holiday, auf dem Weg über Peggy Phelan. In diesen Tönen und 10 | Torch, »Fackel«, entspricht in diesem Zusammenhang dem deutschen »Flamme« für »Geliebte(r)«. (A.d.Ü.)

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178 | Ethnographie, Kino und Interpretation Gefühlen bin ich ihrem Wunsch, den Torch Song zu leben, näher. Ähnlich geht es mir, wenn ich die Zeilen von Stephen Hartnetts Gedicht laut lese; dann bin ich wieder bei Janis Joplin, bei »Me and Bobbie McGee«, bei Kris Kristofferson (dem Textdichter des von Janis Joplin 1970 kurz vor ihrem Tod aufgenommenen Liedes) und bei den mexikanischen Landarbeitern aus dem Salinas-Tal. Dann verschlingen sich Erinnerungen an Gefängnisse in Kalifornien, an Gewalt, Ungerechtigkeit und den Vietnamkrieg. Hermeneutik hat mit Interpretation und Verstehen zu tun. Wissen bezieht sich auf jene verkörperten, sinnlichen Erfahrungen, die die Bedingungen für das Verstehen schaffen (vgl. Denzin 1984: 282). Durch die Aufführung erlebe ich Jones’ Gefühle, die in ihrem Aufführungstext präsent sind. Somit sind Aufführungserfahrungen Orte, an denen gefühlte Emotionen, Erinnerungen, Wünsche und Verstehen zusammenkommen. Das vierte und fünfte Paar des skizzierten Problemfeldes sprechen die unverbrüchliche Verbindung zwischen Hermeneutik, Politik, Pädagogik, Ethik und wissenschaftlicher Darstellung an. Conquergood (1991: 190) vertritt dazu einen festen Standpunkt: Wir sollten Aufführungen als komplementäre Form zu Forschungsveröffentlichungen betrachten, als alternative Methode oder Interpretations- und Darstellungsweise für die Ergebnisse der eigenen ethnographischen Forschungen. Aufführungen dekonstruieren den wissenschaftlichen Artikel; sie bilden zumindest eine Herausforderung für diese bevorzugte Form der Präsentation und Repräsentation von Forschungsergebnissen. Eine Aufführung autorisiert sich selbst, nicht durch das Zitieren wissenschaftlicher Texte, sondern durch ihre Fähigkeit, gemeinsame emotionale Erfahrungen und Verständnisse zwischen Aufführenden und Publikum auf- und anzurufen. In der fünften Koppelung des Problemfeldes werden Aufführungen zu einem kritischen Schauplatz von Macht und Politik. Dieser Vorstellung einer performativen kulturellen Politik liegt eine radikale Pädagogik zugrunde. Foucault erinnert uns daran, dass Macht stets Widerstand hervorruft. Das Performative wird zum Akt des Tuns, zum Akt des Widerstands, zu einer Möglichkeit, das Biographische mit dem Pädagogischen und dem Politischen zu verbinden (vgl. Giroux 2000a: 134f.). Im Moment des Widerstandes realisieren sich die Konzepte des militanten Vertretens einer Utopie und der gebildeten Hoffnung (Giroux 2001a: 109). Dieser Utopismus und die damit verbundene Hoffnungsvision bewegen sich vom Privaten zum Öffentlichen, vom Biographischen zum Institutionellen. Persönliche Sorgen gelten als öffentliche Probleme. Dieser Utopismus erzählt Geschichten von Widerstand, Mitleid,

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 179 Gerechtigkeit, Freude, Gemeinschaft und Liebe, und er führt diese Geschichten auf (vgl. Hardt/Negri 2000: 413). In der pädagogischen Praxis machen Aufführungen Orte der Unterdrückung sichtbar. Dabei bestärken sie eine oppositionelle Politik, die den Wert der Selbstbestimmung und der gegenseitigen Solidarität hervorhebt. Diese Pädagogik der Hoffnung rettet die radikale Demokratie vor der konservativen Politik des Neoliberalismus (vgl. Giroux 2001a: 115). Ein militanter Utopismus bietet im öffentlichen wie im privaten Bereich eine neue Sprache des Widerstands. So verleiht die performative Pädagogik durch den Einsatz von Aufführungen einer radikaldemokratischen partizipatorischen Vision für das neue Jahrhundert neue Energie.

Performanz, Pädagogik und Politik Zum gegenwärtigen historischen Zeitpunkt werden moralisch fundierte performative Disziplinen gebraucht, die den Menschen helfen können, angesichts sinnloser brutaler Gewalt dem Leben einen Sinn abzugewinnen – angesichts einer Gewalt, die nur noch stimmlose Schreie des Schreckens und des Wahnsinns hervorbringt.11 Es herrschen Zynismus und Verzweiflung (vgl. Giroux 2000a: 110). Niemals war ein militanter Utopismus nötiger, mit dessen Hilfe wir uns eine Welt vorstellen können, die frei ist von Konflikt, Terror und Tod. Wir brauchen eine oppositionelle performative Sozialwissenschaft und performative Disziplinen, die es uns ermöglichen, in unseren öffentlichen Institutionen oppositionelle utopische Räume, Diskurse und Erfahrungen zu schaffen. In diesen Räumen und an diesen Orten, in Nachbarschaften, experimentellen Gemeinschaftstheatern, unabhängigen Kaffeehäusern und Buchläden, Stadt- und Nationalparks, auf Spiel- und Sportplätzen, in der Wildnis, durch Naturerfahrungen, wird eine kritische demokratische Kultur genährt (vgl. Giroux 2001a: 125, Stegner 1980: 146). Conquergood (1998: 26) und Diawara (1996) haben Recht. Wir müssen einen Raum für die Cultural Studies finden, der sich von der textuellen Ethnographie fortbewegt zu einer performativen Autoethnographie. »Aufführungssensitive Arten des Wissens« (Conquergood 1998: 26) tragen zu einem epistemologischen und politischen Pluralismus bei, der die vorhandenen Arten des Weltwissens und der Weltdarstellung infrage stellt. Solche Formationen sind eher inklusiv als exklusiv, besser geeignet

11 | Diese Worte wurden am 14. September 2001 geschrieben, drei Tage nach den verheerenden Terroranschlägen auf der World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington, DC.

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180 | Ethnographie, Kino und Interpretation für das Nachdenken über postkoloniale oder »subalterne kulturelle Praktiken« (ebd.). Performative Ansätze zum Wissenserwerb bestehen auf Unmittelbarkeit und Engagement. Sie haben mit Teilwissen zu tun, mit pluralem, unvollständigem und kontingentem Verstehen – und nicht mit analytischer Distanz oder Abstand, worauf die textuellen und positivistischen Paradigmen so großen Wert legen (vgl. ebd. und Pelias 1999: ix, xi). Auf Diawara (1996: 304) aufbauend, wird unser performativer Ansatz nicht zuletzt zur Schaffung multirassischer Cultural Studies beitragen. Im Einklang mit der interaktionistischen Tradition untersucht eine performative Ethnographie, wie die Menschen sich »durch kommunikative Aktion selbst erschaffen und mit der amerikanischen Erfahrung immer wieder neu erschaffen« (ebd.). Dieser performative Ansatz bringt die Kultur in Bewegung; er untersucht, erzählt, und führt die komplexe Art und Weise auf, wie sich Personen innerhalb der sich verschiebenden ethnischen »Landschaften« der heutigen globalen Weltwirtschaft selbst erfahren (vgl. McCall 2001: 50).

Der Weg zu einer performativen Ethnographie Mit dem Schritt zur performativen Dimension hat sich auch die Bedeutung der Ethnographie und des ethnographischen Schreibens verschoben. Laurel Richardson (2000: 929) stellt fest, dass sich die mit dem ethnographischen Schreiben verbundenen narrativen Genres »verunklart, erweitert und verändert haben, sodass nun auch Dichtung [und] Drama dazugehören«. (Vgl. dazu auch Richardson 2001.) Sie verwendet zur Beschreibung dieser vielen verschiedenen reflexiven performativnarrativen Formen den Begriff »kreative analytische Praxis« (engl. Abkürzung CAP). Dazu gehört nicht nur die performative Autoethnographie, sondern auch Kurzgeschichten, Gespräche, Belletristik und kreative Sachliteratur (Nonfiction), Fotoessays, persönliche Essays, Autobiographien, die der Selbsterkundung dienen, Geschichten über das Schreiben, Geschichten über das Selbst, fragmentierte und geschichtete Texte, kritische Autobiographien, Memoiren, persönliche Lebensgeschichten, Kulturkritik, gemeinsam konstruierte und zur Aufführung gedachte Erzählungen (performance narratives) sowie alle Arten von Aufführungstexten (performance

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 181 writing),12 wobei die Ränder zwischen Text, Darstellung und Kritik immer unschärfer werden. In all diesen Formen ist ein seiner Rolle sich bewusster, aber auch moralisch und politisch bewusster Schreiber als Aufführender präsent. Dieser Schreiber/diese Schreiberin nutzt seine/ihre eigenen Erfahrungen in einer Kultur, »um sich auf sich selbst zurückzubesinnen und einen tieferen Blick auf die Interaktionen zwischen dem Selbst und den anderen zu werfen« (Ellis/Bochner 2000:740; vgl. auch Alexander 1999: 309, Kincheloe/McLaren 2000: 301). Die Aufgabe der Autoethnographie liegt damit deutlich zutage: Sie hilft dem Schreiber, »der autobiographischen Vergangenheit einen Sinn abzugewinnen« (Alexander 1999: 309). Sie ermöglicht, »die biographische Vergangenheit […] nachschaffend neu zu schreiben, die Vergangenheit zu einem Teil der biographischen Gegenwart zu machen« (Pinar 1994: 22).

Das Leben in Amerika nach dem 11. September 2001 Nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 haben etliche interpretierende Sozialwissenschaftler über dieses Ereignis und seine Bedeutungen in ihrem Leben geschrieben. Dabei werden die Aussagen wie das Gewalterlebnis selbst im Präsens geschildert. Michelle Fine beginnt ihren erzählenden Text »The Mourning After« (»Die Trauer am Morgen danach«, Fine 2002: 137f.) so: 12. September Wer tot ist oder vermisst wird, das kann man an ihrem Lächeln erkennen. Ihre Fotos zieren die U-Bahnen, Fähren, Züge und den Port Authority Terminal – schockierend lebendig. Freude, Zufriedenheit, Vergnügen strahlen sie aus. Sie starben, bevor sie wissen konnten, was wir jetzt wissen. Die Nichttoten fahren in U-Bahnen und Zügen voll Hohläugiger; kein Lächeln, nur hängende Schultern. Fünftausend Tote, und die Zahlen stehen noch nicht einmal fest, nicht eingerechnet die nicht erfassten Arbeiter, deren Familien nichts sagen können, die obdachlosen Männer und Frauen, deren Familien nichts wissen. Jeden Abend schrecken Millionen Alpträume die Menschen auf, wecken sie, allein, im Dunkeln, im ganzen Großraum New York. Die Luft in der City ist zum Ersticken – Rauch, Fleisch, Angst, Erinnerungen,

12 | Aufführungstexte (performance writing) zeigen statt zu erzählen. Hier wird das Beschriebene inszeniert und aufgeführt. Performance writing ist evokativ, reflexiv, vielstimmig, zitathaft und immer unvollständig (vgl. Phelan 1998: 13, Pollock 1998a: 80-95).

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182 | Ethnographie, Kino und Interpretation Wolken und schleichender Nationalismus. […] Jetzt überall ein Fahnenmeer, die Rede von Gott, Militär und Patriotismus jagen uns alle.

Zwei Tage später schreibt Fine: Der PATH-Zug13 hielt. Mitten in einem Tunnel. Kein Grund erkennbar. Ich bekam keine Luft mehr. Angst. […] Ist das eine akzeptable Art zu sterben? Leben und Politik; Kummer und Analyse. Wir in New York haben anscheinend Probleme mit dem Schreiben. […] US-Politik damals und heute, das Erstellen von Rassenprofilen und ängstliche Sorgen, was denn wohl als Nächstes kommt. […] Tod, Geister, Waisen, Analysen des US-Imperialismus, die NahostPolitik und die Schrecken des Terrorismus sitzen im selben Raum.

Wie schreibt man über die Bedeutung der Gegenwart, wenn man die Alpträume und den Terror, die die Gegenwart definieren, niemals selbst erlebt hat? Laurel Richardson schreibt (2002: 25): 11. September 2001: Als ich von den Flugzeugen und den Türmen höre, sind meine ersten Gedanken: Die Kinder… Was wird man den Kindern sagen? […] Und dann sehe ich, dass man’s den Kindern genauso sagt Wie den Erwachsenen: Durch Fernsehkameras und Medienstimmen. Die Kinder sehen das Flugzeug und den zweiten Turm Und den Flugzeug/Turm, Flugzeug/Turm, immer und immer wieder, Bis Alles Zusammen Kracht. Und jetzt Alles Zusammen Kracht, immer und immer wieder. Ich rufe meine Kinder an. Ich rufe meine Stiefkinder an. Ich rufe meine Enkel an… Mein Herz bricht für die Kinder, deren Leben zerbrochen ist. […] Was kann ich sagen? Was kann man überhaupt sagen? Meine E-Mail Listservs sind Repositorien für Schnellkuren, für ideologische Reinheit. […] Ich kann mich nicht an Diskussionen beteiligen. Ich weigere mich, zu intellektualisieren, zu analysieren, akademisch zu werden. Ich habe keine Antworten. Ich rufe die Mutter meines Enkels an, um zu hören, wie es Akiva geht. Sie sagt mir, er habe Angst, dass ein Flugzeug in seine Schule rasen werde. […] Zu Rosh Hashanah sagte der Rabbi: »Wähle das Leben«. Ich meditiere über unsere kleine Welt. Ich bete. Ich schreibe diesen Text.

13 | Eine U-Bahn-Verbindung zwischen New York City und New Jersey. (A.d.Ü.)

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 183 Wie diese Beispiele zeigen, verankern performative Autoethnographen ihre Erzählungen in einem fortlaufenden moralischen Dialog mit den Mitgliedern einer lokalen Gemeinschaft, sei es die Familie, seien es Nachbarn oder Kollegen. Indem sie die üblichen Unterscheidungen zwischen dem Ich und dem/den anderen aufweichen, fügen sie ihre eigenen Lebensgeschichten und Lebenszeugnisse in die Selbst-Geschichten anderer ein. Daraus entstehen performative Ereignisse. Im Anschluss an Conquergood (1998: 26) und Pollock (1998a und 1998b: 40) nutzen wir die Aufführungsdimension als Hebel, um den ethnographischen Textualismus früherer Generationen infrage zu stellen – einen Textualismus, der Bücher mit Titeln wie Writing Culture hervorbringt (vgl. Conquergood 1998: 26).14 Mit den Methoden der Verschriftlichung (inscription) und der dichten Beschreibung verwandeln Textmodelle Kultur in ein Ensemble geschriebener Worte (vgl. Conquergood 1998: 28, Geertz 1993: 23f.). Der Ethnograph liest die Kultur, als wäre sie ein offenes Buch (vgl. Conquergood 1998: 29). Der Textualismus privilegiert Distanz, Abstand, das Gesagte anstelle des Sagens, das Getane anstelle des Tuns (vgl. ebd.: 31). Demgegenüber bemüht sich der performative Autoethnograph unter Aufbietung aller Mittel darum, die Kultur in Bewegung zu bringen (vgl. Rosaldo 1989: 91) und Kultur aufzuführen, indem »Mobilität, Aktion und Handlungsfähigkeit wieder ins Spiel gebracht werden« (Conquergood 1998: 31). Das Performanz-Paradigma privilegiert eine »an Erfahrung und Teilhabe orientierte Epistemologie« (ebd.: 27). Intimität und Engagement als Verständnisformen stehen hoch im Kurs. Dieser Standpunkt gestattet es dem Selbst, durch seine eigenen Erfahrungen wie auch durch die Erfahrungen anderer verwundbar und anfällig zu sein (vgl. Behar 1996: 3). In dieser interaktionistischen Epistemologie ersetzt der Kontext den Text, das Verb die Substantive, werden Strukturen zu Prozessen. Die Betonung liegt auf Wandel, Kontingenz, lokaler Verortung, Bewegung, Improvisation, Kampf, situationsspezifischen Praktiken und Artikulationen – auf der Aufführung von Kon/Texten (vgl. Pollock 1998b: 38). Indem er den Kampf und das Ringen privilegiert, bezieht der performative Ethnograph Position (vgl. Conquergood 1998: 31; Kirshenbaltt-Gimblett 1998: 74-78). Die Trennungslinie zwischen Text und Kontext entfällt. Texte sind von Kontexten und von den »Prozessen, durch die sie gemacht, verstanden und eingesetzt werden« (Pollock 1998b: 38), nicht zu trennen. Der Kontext wiederum kann nicht von den kulturellen Praktiken getrennt werden, die Aufführungen sind. 14 | Clifford, James/George E. Marcus (Hg.), Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley: University of California Press, 1986. (A.d.Ü.)

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184 | Ethnographie, Kino und Interpretation Aufführungen sind die Orte, an denen sich Kontext, Handlungsmacht, Praxis, Geschichte und Subjektivität überschneiden (vgl. Langellier 1999: 127). Eine improvisatorische Politik des Widerstands ist in diesem Raum verankert, in dem kulturelle Aufführungen, das Tun und das Getane zusammenstoßen.

Eine Politik des Widerstands Die Betonung einer Politik des Widerstands verbindet den symbolischen Interaktionismus und die performative Autoethnographie mit kritischen partizipatorischen Handlungstheorien auf marxistischer Grundlage (vgl. McLaren 2001). Partizipatorische Handlungstheorien haben ihre Wurzeln in der Befreiungstheologie, in neomarxistischen Ansätzen zur Gemeinschaftsentwicklung und im Menschenrechtsaktivismus in Asien und anderswo (vgl. Kemmis/McTaggart 2000: 568). Solche Theorien ermöglichen Sozialkritik, und sie billigen gewaltlose Formen zivilen Ungehorsams (vgl. Christians 2000: 148). So wird die performative Autoethnographie zu einem zivilgesellschaftlichen, partizipatorischen und kollaborativen Projekt. In dessen Mittelpunkt steht ein fortlaufender moralischer Dialog, bei dem es auch um die geteilte Urheberschaft und Verfügungsgewalt über das Aufführungsprojekt in Kultur, Pädagogik und Politik geht. Gemeinsam schaffen die Mitglieder der Gemeinschaft als kulturell Tätige den Aufführungstext und das Aufführungsereignis (vgl. McCall 2000: 426). Solche gemeinschaftlichen Interpretationen stellen ein emanzipatorisches Engagement für eine Gemeinschaftsaktion dar, die soziale Veränderungen in Aufführungen darstellt – ungefähr so, wie sich DuBois ein rein schwarzes Theater vorstellte (vgl. Kemmis/McTaggart 2000: 568, 598). Nach den Worten von Kemmis und McTaggart (2000: 598) verhilft diese Art kritische Untersuchung in Form einer Aufführung den Menschen dazu, sich zu erholen und sich von den repressiven Fesseln zu befreien, die in den rassistischen Strukturen des globalen Turbokapitalismus eingebettet sind. In solchen Aufführungen des Widerstands wird, wie Langellier (1998: 210) hervorhebt, das Persönliche politisch. Das geschieht genau in jenem Augenblick, da die Bedingungen der Identitätskonstruktion problematisiert und in der konkreten Geschichte lokalisiert werden. Und diese Evolution wird, wie die Lyrikerin, Dramatikerin und Erziehungswissenschaftlerin Mary Weems sagt, »nicht im Fernsehen übertragen«. In diesem Augenblick reklamieren die Aufführenden einen positiven utopischen Raum, in dem eine Politik der Hoffnung vorstellbar ist. Eine solche performative Ethik verlangt, dass Interpretationsarbeit die Grundlagen für Sozialkritik legt, indem sie spezifische Programme

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 185 und Politiken einer konkreten Analyse unterzieht. Die Aufführenden zeigen, wie spezifische Politiken und Praktiken ihr Leben berühren und beeinflussen (vgl. Mienczakowski 2001). Auch bell hooks verfährt so, wenn sie kritisch darüber nachdenkt, wie Ed Sullivan in den 1950er Jahren in seinen Sonntagabend-Fernsehshows mit Louis Armstrong umging. Indem sie die Ed Sullivan Shows noch einmal Revue passieren lässt, legt hooks die Grundlagen für ein kritisches Rassenbewusstsein. Der Autoethnograph lädt die Mitglieder der Gemeinschaft ein, im Drama des sozialen Widerstands und der Gesellschaftskritik Mitspieler zu werden. Indem sie von einer durchdachten ethischen Position ausgehen und sich gegenseitig emotional unterstützen, bezeugen die Mitspieler die Notwendigkeit sozialer Veränderungen (vgl. Langellier 1998: 210f.). Als Mitglieder einer engagierten sozial denkenden Bürgergemeinschaft »inszenieren sie eine Politik der Möglichkeit, eine Politik, welche die Erinnerungen, Phantasien und Wünsche der Menschen mobilisiert« (Madison 1998: 277, 282). Es handelt sich um pädagogische Aufführungen, die einen großen Stellenwert haben. Sie verleihen dem Subalternen eine Stimme. Sie bewegen etwas in der Welt. Sie bringen die Menschen zum Handeln. Amiri Baraka sagt in seinem berühmten Gedicht »Black Art« aus dem Jahre 1966 (1998: 1502): Wir brauchen Gedichte, die Bullen In Nebenstraßen abdrängen Und ihnen die Waffen nehmen…

Pädagogische Aufführungen haben künstlerische, moralische, politische und materielle Folgen (vgl. Madison 1998: 283f.). In einer Vorführung der Möglichkeiten verbinden sich moralische Verantwortung und großes künstlerisches Können zu einer »aktiven Intervention, um […] ungerechte Einschränkungen zu durchbrechen und die Möglichkeit neuer Öffnungen zu schaffen« (ebd.: 284; Hervorhebung im Original). Eine Vorführung von Möglichkeiten gibt den Marginalisierten eine Stimme, bringt sie wenigstens für einen Augenblick ins politische Zentrum (vgl. ebd.).

Eine Politik der Möglichkeit D. Soyini Madison zeigt anschaulich, wie diese Politik der Möglichkeit funktioniert. Im Jahre 1968 führten zwei afrikanisch-amerikanische Mitarbeiterinnen einer Cafeteria der University of North Carolina einen Streik an. Sie demonstrierten für die Bezahlung von Lohnrückständen und Überstunden sowie für bessere Arbeitsbedingungen. Man rief die Nationalgarde. Die Polizei von Chapel Hill »umzingelte die Cafeteria mit

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186 | Ethnographie, Kino und Interpretation Gewehren im Anschlag. Die Vorlesungen fielen aus. Für die beiden afrikanisch-amerikanischen Frauen, die den Streik anführten, war es eine schwere Zeit, eine unvergessliche Feuerprobe. Eine der Frauen wurde entlassen; die andere arbeitet noch heute in der Universitätscafeteria« (ebd.: 279). 1993 feierte die University of North Carolina ihr zweihundertjähriges Bestehen. Da hielten es, wie Madison (ebd.) berichtet, einige Leute »für an der Zeit, die Anführerinnen des legendären Mitarbeiterstreiks der Cafeteria im Jahre 1968 zu ehren, wie darüber hinaus auch die Arbeiterkultur auf dem Campus. Nach einiger Zeit wurde schließlich eine Aufführung, die auf den persönlichen Berichten der beiden Anführerinnen und anderer Service-Mitarbeiter basierte, auf den Spielplan gesetzt.« Am Premierenabend waren die Streikführerinnen und ihre Partner, Kinder, Enkel und Freunde ebenso Ehrengäste wie die Mitarbeiter(innen) der Cafeteria, die Hausmeister, Maurer, Gärtner und Postboten. »Sie waren Ehrengäste und saßen im überfüllten Auditorium auf reservierten Plätzen« (ebd.: 298). Laut Madison hatte die Universität »den Kampf der Streikführerinnen und deren Beitrag zur Schaffung von gerechteren Arbeitsbedingungen auf dem Campus« zwar immer noch nicht offiziell anerkannt, doch »fast drei Jahrzehnte später konnten die Streikführerinnen, Mrs. Smith und Mrs. Brooks, jetzt miterleben, wie sie selbst und ihre Geschichte in einem überfüllten Theater auf die Bühne kamen« (ebd.: 279). Am Ende der Vorstellung wurden Mrs. Smith und Mrs. Brooks offiziell vorgestellt und »erhielten vom Publikum donnernden Applaus und eine lange Standing Ovation« (ebd.: 280). Mrs. Smith sagte, ein solcher Abend lasse »ihren ganzen Kampf lohnenswert erscheinen« (ebd.). Ihre Enkel berichteten, sie könnten jetzt, »nachdem sie diese Aufführung gesehen hatten, das Leben ihrer Großmutter besser verstehen« (ebd.). Am folgenden Tag war in der Zeitung zu lesen, die Aufführung habe »eine wahre und bislang verschwiegene Geschichte« erzählt (ebd.). Und Madison berichtet, dass Mrs. Smith noch vier Jahre nach der Aufführung auf dem Campus immer wieder von Arbeitern angehalten wurde, die »mit ihr Erinnerungen austauschen und stolz und zufrieden über jenen Abend vor vier Jahren sprechen wollen, an dem ihre Geschichten in einer Bühnenaufführung zu Ehren kamen« (ebd.). Die Aufführung dieser Geschichten verhalf den Arbeitern und Arbeiterinnen dazu, ihre Geschichten zu erzählen. Sie ermächtigte sie »vor Fremden und Verwandten« (ebd.). Die Aufführung wurde zu einer Offenbarung, einem Schwellenereignis, das eine Krise in der Universitätsgeschichte markierte. Die Aufführung machte diesen historischen Bruch wieder wett und verlieh jenen, die durch die früheren Aktionen der Universität entehrt worden waren, Würde und Statur. Die Aufführung

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 187 ermöglichte es diesen Frauen und ihren Familien, die eigene unterdrückte Geschichte zu bezeugen. Diese Aufführung schuf keine Revolution, aber sie war insofern »revolutionär, als sie den Bürgern die Möglichkeiten klar machte, wie an Ungerechtigkeiten gerührt werden kann« (ebd.). Diese Art von politischem Theater bewegt sich gleichzeitig in drei Richtungen. Sie formt Subjekte, Zuschauer und Aufführende. Indem sie Subjekte ehrt, die ungerecht behandelt wurden, tragen solche Aufführungen zu einer »aufgeklärteren und engagierteren Zivilgesellschaft« bei (ebd.: 281). Sie hinterfragen und bewerten spezifische soziale, pädagogische, wirtschaftliche und politische Prozesse. Diese Form der Praxis kann eine kulturelle Politik des Wandels gestalten. Sie kann zur Schaffung einer progressiven und engagierten Zivilgesellschaft beitragen. Die Aufführung wird zum Vehikel für die Versetzung von Personen, Subjekten, Aufführenden und Zuschauern in neue kritische politische Räume. Die Aufführung gibt Publikum und Aufführenden »das Rüstzeug für [diesen] Weg mit: Einfühlungsvermögen und Intellekt, Leidenschaft und Kritikfähigkeit« (ebd. S. 282). Solche Aufführungen inszenieren eine aufführungszentrierte Wertepädagogik. So nutzt diese Fusion von kritischer Pädagogik und Aufführungspraxis die Aufführung als Modus der Untersuchung und Infragestellung, als eine Methode der an Werten orientierten Ethnographie, als Weg zum besseren Verstehen, als Mittel für die Herausarbeitung kollaborativer Bedeutungen von Erfahrung, als Mittel zur Mobilisierung der Menschen, damit sie in der Welt aktiv werden und die Initiative ergreifen. Diese Form der kritischen kollaborativen Aufführungspädagogik privilegiert die Erfahrung und das Konzept der Stimme und unterstreicht die Wichtigkeit, Orte der Wertevermittlung und Bewertung in demokratische öffentliche Räume zu verwandeln (vgl. Worley 1998). Eine kritische Aufführungspädagogik befruchtet die Praxis, die ihrerseits pädagogische Bedingungen für eine emanzipatorische Politik unterstützt (vgl. ebd.: 139). Die beste Kunst, die besten performativen Autoethnographien, sie sind »zweifellos politisch und unwiderruflich schön zugleich« (Morrison 1994: 497). Diese Aufführungsethik sucht eine externe Grundierung und weiß sich einem postmarxistischen, kommunitarischen Feminismus verpflichtet, einem Feminismus mit Hoffnung, aber ohne Garantien. Sie versucht, Macht und Ideologie durch und quer über Diskussysteme hinweg zu verstehen. Sie versteht, dass moralische und ästhetische Kriterien immer in die Kontingenzen konkreter Umstände eingepasst und nach einem lokalen Verständnis zu beurteilen sind, das sich aus einer feministisch-moralischen Ethik ergibt (vgl. Christians 2000). Diese Ethik verlangt dialogische Untersuchungen und Fragestellungen, die in den

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188 | Ethnographie, Kino und Interpretation Konzepten der Fürsorge und der gemeinschaftlichen Leitung wurzeln. Wie diese Ethik in spezifischen Situationen funktioniert, lässt sich mangels bisheriger praktischer Erfahrungen nicht vorhersagen.

Performative Kriterien im siebten Moment Im siebten Moment verbinden die Kriterien zur Bewertung kritischer Aufführungsereignisse Ästhetik, Ethik und Epistemologie.15 Wie bell hooks’ schwarze Ästhetik (vgl. 1990: 111) und Giroux’ öffentliche Pädagogik (vgl. 2000a: 25) bringen auch diese Aufführungskriterien die üblichen Differenzen zwischen Ethik, Politik und Macht zum Verschwinden und schaffen die Möglichkeiten für eine praktische performative Pädagogik – ein Manifest für eine kritische Performance-Kunst und für eine kritische Autoethnographie, ein Aufruf, das öffentliche Leben mit Aufführungen zu unterbrechen und in der Öffentlichkeit zu intervenieren. Feministisch und kommunitarisch gesprochen16 setzt unser Manifest voraus, dass es keinen objektiven, moralisch neutralen Standpunkt gibt. Darum hebt beispielsweise die afrozentrische feministische Ästhetik (und Epistemologie) die Bedeutung von Wahrheit, Wissen und Schönheit (»Black Is Beautiful«) sowie das Konzept eines gemeinsam geteilten Erfahrungswissens hervor. Ein so verstandenes Wissen leitet sich aus der vor Ort gelebten Erfahrung her; es findet auch in Folklore, Volkserzählung und Mythos seinen Ausdruck (vgl. Collins 1991: 212f.). Diese dialogische Ästhetik inszeniert eine Ethik der Fürsorge, eine Ethik der persönlichen und gemeinschaftlichen Verantwortung (vgl. ebd.: 214 und Giroux 2000a: 130). Sie präsentiert eine moralische Gemeinschaft, die dem Individuum ontologisch vorangeht. Diese Gemeinschaft hat moralische Werte, die von allen geteilt werden und die Konzepte wie gemeinschaftliche Führung, Nächstenliebe, Liebe, Freundlich15 | Definitionen: Ästhetik: Theorien der Schönheit; Ethik: Theorien des Sollens, des Richtigen; Epistemologie: Theorien von Wissen und Erkenntnis. Dieser Abschnitt basiert auf Denzin 2001d: 326f. (»The Seventh Moment: Qualitative Inquiry and the Practices of a More Radical Consumer Research«). In diesem Rahmen ist nichts wertfrei, können Theorie und Praxis nicht voneinander getrennt werden, sind alle Fragestellungen moralisch, ist Wissen Macht und bestimmen diejenigen, die die Macht haben, was ästhetisch wohlgefällig und ethisch akzeptabel ist.

16 | Laut Christians (2000: 151) gibt es drei Stränge der kommunitarischen ethischen Theorie: die feministische Theorie, die kritische Theorie und die partizipatorische Fragestellung.

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 189 keit und das moralisch Gute umfassen (vgl. Christians 2000: 144-149). Diese Ethik verkörpert eine heilige existenzielle Epistemologie, die den Menschen in einer wettbewerbsfreien nichthierarchischen Beziehung zum größeren moralischen Universum sieht. Dieser Ethik zufolge verdienen alle Menschen Würde und einen geheiligten Status in der Welt. Hervorgehoben werden der Wert des menschlichen Lebens, Wahrhaftigkeit und Gewaltlosigkeit (vgl. ebd.: 147). Als Kulturkritiker ergreift der Aufführende, in einer spezifischen Gemeinschaft des moralischen Diskurses verankert, Partei. Die Aufführenden zeigen, wie eine partizipatorische, feministische, kommunitarische Ethik mit Situationen der Ungerechtigkeit umgeht. Advokaten des Black Arts Movement der 1970er Jahre etwa fragten, um wie viel schöner ein Gedicht, eine Melodie, ein Theaterstück, ein Roman oder Film sei, der aus dem Leben einer einzigen schwarzen Person gemacht sei (vgl. Gayle 1997 [1971]: 1876). Wenn er dieses utopische Projekt vorantreibt, sucht der Aufführende nach neuen Maßstäben und Mitteln der Bewertung. Maulana Karenga (1997 [1972]), ein Theoretiker des Black Arts Movement der 1970er Jahre, argumentierte, die schwarze Kunst solle politisch, funktional, kollektiv und engagiert sein. Politisch und funktional sollte diese Kunst, wie schon bei W.E.B. DuBois (1926: 134), schwarzes Theater über Schwarze sein, von Schwarzen für Schwarze gemacht und in den örtlichen schwarzen Gemeinschaften lokalisiert. Kollektiv kommt die schwarze Kunst aus dem Volk, und sie muss dem Volk auch zurückgegeben werden, »in einer schöneren und farbigeren Form als im realen Leben. […] Kunst ist Alltagsleben, dem man mehr Form und Farbe gegeben hat« (Karenga 1997: 1974). Eine solche Kunst ist politischen Zielen verpflichtet. Sie ist demokratisch. Sie feiert Vielfalt, persönliche und kollektive Freiheit.17

Performance-Kunst Diese schwarze Aufführungsästhetik – Kunst aus dem Volk für und über das Volk – ist in gewisser Weise komplementär zu einer neuen Kunstbewegung, die unter verschiedenen Bezeichnungen bekannt ist: Performance-Kunst, Aktionskunst, Kunst in der Gemeinschaft (community art) und »öffentliche Kunst im neuen Genre« (vgl. Lacy 1995: 20, Miles 1997: 164, Radford-Hill 2000: 25, Rice 1990: 207).18 Die in diesem neuen 17 | Hier ergibt sich ein Parallele zu den vier Kriterien, die DuBois für ein genuin schwarzes Theater genannt hat: Ein solches Theater, sagte er, solle »über uns, von uns, für uns und in unserer Nähe« sein (vgl. DuBois 1926: 134).

18 | Sharon Irish hat mir geholfen, ein klareres Verständnis dieser Begriffe

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190 | Ethnographie, Kino und Interpretation Genre tätige Künstlerin Suzanne Lacy schreibt (1995: 9f.), dies sei »eine Kunst, deren öffentliche Einbeziehungsstrategien ein wichtiger Bestandteil ihrer ästhetischen Sprache sind. […] Anders als große Teile dessen, was bislang als Kunst im öffentlichen Raum bezeichnet wurde, kann die öffentliche Kunst im neuen Genre […] auch Installationen, Performances, Konzeptkunst, Mixed-Media-Kunst umfassen. […] Indem sie auf Grenzüberschreitung aus ist, lässt sich die öffentliche Kunst im neuen Genre von Ideen der Avantgarde-Kunstformen leiten.« Die Performance-Kunst »basiert auf einer Geschichte des kulturellen Widerstands« (Garoian 1999: 10). Vorgängerformationen finden sich in der Performance-Kunst und in den experimentellen AvantgardetheaterBewegungen der 1970er und 1980er Jahre (vgl. ebd. und McCall 2000: 423). Die öffentliche Kunst im neuen Genre ist performativ, politisch, feministisch und aktivistisch (vgl. Garoian 1999: 8). Laut Lacy (1995: 28) haben vier im konservativen Backlash der 1980er und 1990er Jahre eingebettete historische Faktoren diese Bewegung geprägt: die zunehmende Rassendiskriminierung; die Bedrohung der Frauenrechte; die gegen Frauen, ethnische und homosexuelle Künstler gerichtete kulturelle Zensur; die sich vertiefenden Krisen gesundheitlicher (AIDS) und ökologischer Art. Dieser Kunst ist bewusst, dass es – um mit Henry Giroux (2000: 136) und Pierre Bourdieu zu sprechen – ohne genuine Opposition auch keine echte Demokratie geben kann. Performance-Kunst steht nicht in der Tradition der Hochkultur. Es handelt sich um eine revolutionäre Kunst. Sie reklamiert für sich die radikale politische Identität des Künstlers als Sozialkritiker (vgl. McCall 2000: 421). Bei Kulturschaffenden wie Suzanne Lacy lässt Performance-Kunst die »Unterschiede zwischen Künstlern und Teilnehmern verschwinden, […] indem sie zeigt, wie die Kunst eine Kraft zugunsten von Information, Dialog und sozialem Wandel sein sollte« (Giroux 2000a: 136).19 Rebecca Rice, die schwarze Theaterkünstlerin und Pädagogin, ist ein weiteres Beispiel. Sie ist auf der Suche nach einem Theater für soziale zu gewinnen, indem sie Folgendes feststellte: Kunst in der Gemeinschaft oder im öffentlichen Raum findet meistens außerhalb von Museen und Galerien statt und betont dadurch die erhoffte Verbindung zwischen Künstler und Publikum (vgl. auch Garoian 1999: 27). Garoian (1999: 42) behandelt postmoderne Performance-Kunst als ein neues Genre der Kunst im öffentlichen Raum. Dabei werden die Bürger eingeladen, sich an der Produktion und am kollektiven Besitz dieser Aufführungen zu beteiligen, die sich in das öffentliche Leben einmischen.

19 | In zahllosen öffentlichen Werken hat Lacy ihre Aufmerksamkeit auf Vergewaltigung, Frauenrechte, Einwanderung, Rassismus, das Älterwerden und die häusliche Gewalt gerichtet.

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 191 Veränderungen. Ihre Aufführungen beleuchten die Schönheit und Würde schwarzer Frauen, die Opfer von Gewalt, Misshandlung und Drogensucht wurden (vgl. Rice 1990: 212). In den letzten rund zehn Jahren hat Anna Deavere Smith (1993, 1994) eine ganze Reihe von weiblichen Einpersonenstücken aufgeführt und veröffentlicht, in denen es um die Rassenproblematik und den Rassismus in Amerika geht (vgl. Smith 1993: xvii). Ihre Serie trägt den Titel On the Road: A Search for American Character (Auf der Straße: Auf der Suche nach dem Charakter Amerikas). Malcolm Miles paraphrasierend (1997: 164) kann man sagen, dass der Wert der aktivistischen Kunst im neuen Genre wie auch der Wert der kritischen performativen Ethnographie darin liegt, dass sie fähig ist, im Bereich der Öffentlichkeit einen fortlaufenden Prozess der Sozialkritik zu initiieren. Diese Kunst befasst »klar definierte Öffentlichkeiten mit Problemthemen wie Obdachlosigkeit, Rettung der Regenwälder, häusliche Gewalt und AIDS« (ebd.). Sie überschreitet »die Grenzen öffentlicher und häuslicher Bereiche« (ebd.: 167). Sie zeigt, wie staatliche Gesetze und Politiken persönliche Entscheidungen beeinflussen. Sie zeigt, wie die Grenzen des öffentlichen Raums Veränderungen im privaten Raum nach sich ziehen (vgl. ebd.: 169). Die aktivistische Kunst stellt das Verhältnis von Kunst und Künstler zur Öffentlichkeit und zum öffentlichen Raum auf die Probe.

Das Pädagogische als Aufführung Diese neuen künstlerischen Formationen bewegen sich vom Globalen zum Lokalen,20 vom Politischen zum Persönlichen, vom Pädagogischen zum Performativen. Sie machen »das Politische durch [performative] pädagogische Praktiken sichtbar, die versuchen, anstatt die Welt einfach nur zu reflektieren, etwas in der Welt zu bewirken« (Giroux 2000a: 37). Das radikale schwarze Theater von DuBois führt für ein unterdrücktes Volk Szenen der Befreiung auf. Die schwarze Ästhetik von bell hooks und das schwarze Theater von Rebecca Rice stellen sich befreite Subjektivitäten von afrikanisch-amerikanischen Frauen vor und führen diese auf. Die Performance-Kunst wird von sechs pädagogischen Strategien geprägt – sechs Formen der Einmischung, die für die Beziehungen zwischen Ethnographie, Feldforschung, Kultur, Sprache, Ideologie, Rasse, Körper, Gemeinschaft und Technologie Probleme bringen (vgl. Garoian 20 | Zum Beispiel stellt das Critical Art Ensemble, eine anarchistische Gruppe, in »The Electronic Disturbance« (Die elektronische Störung) eine Form des lokalen und globalen Widerstands im virtuellen Raum modellhaft dar.

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192 | Ethnographie, Kino und Interpretation 1999: 45). Die erste Strategie ist methodischer Art: Die PerformanceKunst-Pädagogik definiert Ethnographie neu als reflexive, performative Autoethnographie (vgl. ebd.: 44). Die zweite Strategie konzentriert sich auf die Aufführung und den Gebrauch der Sprache als eine Art von Kritik an »den kulturellen Metaphern, die das [rassische] Selbst und den Körper kodifizieren und stereotypisieren« (ebd.). Die dritte pädagogische Strategie benutzt Performance-Kunst als eine Möglichkeit, Widerstandsspektakel zu schaffen, welche die Machtstrukturen an speziellen Orten wie Schulen und Krankenhäusern hinterfragen. Die vierte Strategie inszeniert Gemeinschaft(ssinn), wobei sie die Bürger ermächtigt, gemeinsam daran zu arbeiten, dass das »bürgerschaftliche Engagement in ihren Nachbarschaften […] wiederhergestellt wird« (ebd.). Unter Verwendung des Körpers als Ort der Intervention zeigen die fünfte und die sechste Strategie, wie Transaktionen zwischen Maschinen und Körpern den materiellen und gelebten Körper verletzen und formen: seine Phantasien, Wünsche, Krankheiten und Schmerzen. Auf diesen Ebenen untersucht die Performance-Kunst-Pädagogik die ästhetischen Erfahrungen, die den verkörperten Ausdruck einer Kultur umgeben, aber auch deren rassische und geschlechtsrollenspezifische Codes (vgl. ebd.: 45). Die Performance-Kunst-Pädagogik unterzieht reflexiv jene kulturellen Praktiken einer Kritik, die Unterdrückung reproduzieren. Auf der performativen Ebene lokalisiert diese Pädagogik ihre Aufführungen innerhalb dieser repressiven Praktiken; sie schafft Diskurse, die das Ringen in der und um die Demokratie sichtbarer machen. In ihren Aufführungen führen die Künstler, Lehrer, Schüler und Studenten und die anderen Kulturschaffenden »ihre persönlichen Erinnerungen und Geschichten ins Feld; […] sie betätigen sich als Geschichtenerzähler« (ebd.: 5). Sie führen persönliche Zeugenaussagen vor. Sie »erinnern sich, erinnern sich falsch, interpretieren und kommen leidenschaftlich auf das Gesagt zurück; sie […] besuchen Vergangenheit und Gegenwart«. Dabei »beschwören sie ein Kontinuum vergangener Aufführungen herauf, eine Geschichte […], die direkt neben existenzielle Erfahrungen […] gestellt wird« (Diamond 1996: 1). Durch ihre gemeinsamen Aufführungen kritisieren und bewerten die Kulturschaffenden die Kultur, führen sie Geschichte auf sich selbst zurück, schaffen sie Möglichkeiten für neue historische Ideen, Bilder, neue Subjektivitäten, neue kulturelle Praktiken (vgl. ebd.: 2 und Garoian 1999: 6). Auf Giroux (2000: 138) aufbauend, verwandeln diese Formen demokratischer Praxis das Politische in eine Reihe von Aufführungsereignissen. Diese Aufführungen im Hier und Jetzt stellen für Unterdrückungssituationen eine Herausforderung dar. Sie lassen Dinge geschehen, sie haben Folgen; sie initiieren Wandel und formen ihn. Mit diesen Ereig-

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Ein Plädoyer für die performative Dimension | 193 nissen dringen die Aufführenden in die politisierten Schwellenräume der Kultur ein (Garoian 1999: 50). Diese Ereignisse oder Happenings »reklamieren das Politische als das Pädagogische« (Giroux 2000a: 138). Als Schauplätze des Widerstands verbinden sie Aufführungen der eigenen Geschichte (»mystory performances«)21 mit populären, persönlichen und gelehrten kulturellen Texten. Diese Texte sind in ihren institutionellen und historischen Momenten, den Orten der Macht im Alltagsleben, lokalisiert. Diese Aufführungen stellen sich mit ihrem Geschichtenerzählen über persönliche Probleme, die auf lokaler Ebene erlebt werden, transnationalen und postkolonialen Erzählungen an die Seite. Diese Interventionen stellen eine Pädagogik dar, die im öffentlichen Interesse erfolgt – demokratische Kunst für das Volk, durch das Volk und aus dem Volk. Bryant Keith Alexander führt ein Beispiel für solche Aufführungen in seiner Erörterung schwarzer Barbershops als kultureller Räume an, wo sich Vergangenheit und Gegenwart durch Identitäten und Erinnerungen ziehen: Schwarze betreten diese Räume zur Aufrechterhaltung und Weiterverbreitung von Kultur. Wenn ich im Barbierstuhl sitze, setzt sich mein Körper, wie auch meine Geschichte, in Verbindung mit anderen schwarzen Körpern. […] Mr. Brown, Luke, Deanna und all die anderen, die vor mir da waren und nach mir kommen werden – sie sind simultan präsent. Das Bleichen, Verdrehen und Flechten von Haar, Stimmen und Lebensgeschichten, sie sind ein Teil des Prozesses, ein Teil der Erfahrung, ein Teil von mir. Doch das hier sind meine Geschichten. Mein Haar erzählt seine eigene Geschichte (Alexander 2003: 117).

Das Haar eines jeden kann eine Geschichte erzählen, und in solchen Geschichten wird Kultur aufgeführt, wird das Politische persönlich und pädagogisch.

21 | Eine »mystory« (vgl. Denzin 1997: 116, Ulmer 1989: 210) ist gleichzeitig eine persönliche Mythologie, eine öffentliche Geschichte (Story) und eine Aufführung, die Kritik übt. Die Mystory [ein aus my und history gebildetes Kunstwort, A.d.Ü.] ist ein Montagetext, der seiner Gestalt nach kinohaft und multimedial ist, angefüllt mit Geräuschen, Musik und Bildern, die aus der persönlichen Geschichte des Autors stammen. Dieser persönliche Text, dieses Skript, wird Diskursen aus der Populärkultur sozusagen aufgepfropft. Er bringt sich gegen das spezialisierte Wissen, das in seinen vielfältigen Formen in der weiteren Gesellschaft zirkuliert, in Stellung.

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194 | Ethnographie, Kino und Interpretation

Zusammenfassung Im vorliegenden Manifest habe ich die These vertreten, dass sich der symbolische Interaktionismus an einer Wegscheide befindet. Wir stehen vor der Herausforderung, wie wir mit dem progressiven Erbe, das uns DuBois, Mead, Dewey und Blumer hinterlassen haben, umgehen wollen. Ich meine, wir müssen einen emanzipatorischen Diskurs herausbilden, der sich den Problemen der rassischen Ungleichheit unter den neoliberalen Formen der Gouvernementalität widmet. Dieser Diskurs erfordert, dass wir uns einem performativen, aufführungsorientierten Ansatz für Kultur, Politik und Pädagogik zuwenden. Wir müssen die performative Autoethnographie als Vehikel für die Inszenierung einer performativen kulturellen Politik der Hoffnung erkunden. Ich habe in meinem Beitrag provisorische Interpretationskriterien aufgeführt, die von anderen, die diese wichtige Arbeit fortführen, bewertet und weiterentwickelt werden müssen.

Danksagung Ich danke Art Bochner, Kathy Charmaz, Andrea Fontana, Laurel Richardson und Rebecca Small für ihre Kommentare zu früheren Fassungen dieses Beitrags.

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 203

Lesen und Schreiben als performativer Akt 1

»Es lassen sich nunmehr Regeln für ›gutes‹ ethnographisches Schreiben aufstellen; zumindest kann man darüber debattieren, was als ›gutes‹ experimentelles Schreiben veröffentlicht werden sollte.« Clough 2000: 278 »Ich befasse mich mit der Aufführung subversiver […] Erzählungen. […] Die Aufführung von Möglichkeiten zielt darauf ab, […] einen Raum zu schaffen, in dem ungerechte Systeme und Prozesse identifiziert und hinterfragt werden.« Madison 1998: 277, 280 »Wir erkennen an, dass die performative Ethnographie den Aufführungscharakter des Alltagslebens spiegeln und evozieren kann.« Atkinson/Coffey/Delamont 2001: 9 »Wie kann sich die Ästhetik […] der engagierten Kulturgeschichte annähern?« Hartnett 1998: 288

Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag werden Kriterien für die Bewertung experimenteller ethnographischer Texte untersucht. Im Vordergrund stehen dabei subversive Erzäh-

1 | Veröffentlicht als »Reading and Writing Performance« in Qualitative Research 3:2 (2003), S. 243-268. Ich danke den Herausgebern von Qualitative Research für ihre Kommentare und Vorschläge zu einer früheren Fassung dieses Essays, der aus dem 5. Kapitel von Denzin 2003 abgeleitet ist.

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204 | Ethnographie, Kino und Interpretation lungen vom Widerstand. Obwohl ich mich weitgehend auf nordamerikanische Arbeiten konzentriere, werden auch Arbeiten von nichtamerikanischen Gelehrten berücksichtigt, einschließlich der Argumente indigener Gelehrter. Schlüsselwörter: Ästhetik, Ethik, moralische Kritik, performative Kriterien, performative Ethnographie

* * * Für qualitativ arbeitende Forscher stellt sich mit der Hinwendung zu experimentellen ethnographischen Texten das Problem der Aufführungskriterien, vor allem die Frage, wie diese Texte und ihre Aufführungen nach epistemologischen, ästhetischen und politischen Kriterien analysiert werden können. Der vorliegende Artikel untersucht im Anschluss an die Diskussionen über Ästhetik und kritische Pädagogik bei Giroux (2000a und 2000b) und Garoian (1999) Aufführungskriterien im siebten Moment.2 Ich stelle dabei subversive Erzählungen vom Widerstand in den Vordergrund – dramatische Aufführungen mit schlagartigen Erkenntnissen, die einer Herausforderung des Status quo gleichkommen.3 Meine Themen sind das Lesen, das Schreiben, die Beurteilung von Aufführungen und die Produktion von Aufführungen, die der Geschichte (history) Impulse verleihen. Meine Argumentation entfaltet sich in vier Schritten: Ich beginne mit einer Erörterung des Problems, wie sich Kriterien für das experimentelle Schreiben etablieren lassen (vgl. Bochner 2000 und Clough 2000). Danach wende ich mich feministisch- kommunitaristischen Kriterien zu, soweit sie auf Texte, die Widerstand inszenieren, anwendbar sind. Es folgt eine Diskussion alternativer Arten, narrative und zur Aufführung gedachte Texte zu bewerten, wobei ich auf den Argumenten aufbaue, die in letzter Zeit Bochner (2000), Bochner/Ellis (2002), Ellis (2000) und Richardson (2000a, 2000bund 2001) vorgetragen haben. Abschließend kommentiere ich eine Ästhetik der Farbigen, die kritische Rassentheorie 2 | Denzin und Lincoln (2000: 2) definieren die allesamt in der Gegenwart operierenden sieben Momente der Untersuchung als traditionell (1900-1950), modern (1950-1970), Aufweichung der Gattungen (1970-1986), Krise der Darstellung (1986-1990), postmodern oder experimentell (1990-1995), postexperimentell (1995-2000) und zukünftig (2000ff.). Kritisch diskutiert wird dieses Modell bei Atkinson/Coffey/Delamont 2001 und Delamont/Coffey/Atkinson 2000.

3 | Diese Erzählungen inszenieren sozusagen Victor Turners Prozessmodell von den vier Stufen eines »sozialen Dramas«: Bruch, Krise, Versuch der Konfliktlösung [u.a. durch Rituale], Reintegration oder Anerkennung der endgültigen Spaltung (vgl. Turner 1986a und 1986b).

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 205 und die in der Gemeinschaft der Performance-Experten obwaltende Interpretationspolitik.

Einschränkung und Begrenzung Ich konzentriere mich hauptsächlich auf den nordamerikanischen Diskurs in der Soziologie und in den Cultural Studies. Das hat unausweichlich zur Folge, dass die hochgradig relevanten Arbeiten nichtamerikanischer Forscher aus anderen Disziplinen zu kurz kommen, die sich ebenfalls mit dem von mir behandelten Thema befasst haben. Nicht explizit untersucht werden zum Beispiel verwandte Erörterungen des Schreibens und der Rhetorik (vgl. Atkinson/Hammersley 2000, James/Hockey/ Dawson 1997 und Spencer 2001), des ethnographischen Selbst (vgl. Coffey 1999), der Stimme (vgl. Atkinson/Hammersley 2000: 256f.), der Authentizität und der authentischen Darstellungen von Erfahrung (vgl. Atkinson/Silverman 1997), der Interpretationskriterien (vgl. Atkinson/ Coffey/Delamont 1999, Delamont/Coffey/Atkinson 2000) und indigener Texte, die Widerstand inszenieren (vgl. Brayboy 2000, Grande 2000, Marcus 2001, Smith 1999). Diese komplexe Literatur ist international, interdisziplinär und im Fluss befindlich. Nordamerikaner sind nicht die einzigen Forscher, die sich bemühen, postkoloniale, nichtessentialistische, feministische, dialogische, aufführbare Texte zu verfassen – Texte, die durch die rhetorische, narrative Wende in den Geisteswissenschaften geprägt sind (vgl. Delamont/Coffey/Atkinson 2000). Diese internationalen Arbeiten bringen die traditionellen Unterscheidungen zwischen Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, Rhetorik, Literatur, Fakten und Fiktionen in Bedrängnis. Denn dieser Diskurs erkennt, wie Atkinson und Hammersley (2000: 255) feststellen, »die literarischen Vorläufer des ethnographischen Textes an und bestätigt die grundlegende Dialektik«, die diesen ästhetischen und humanistischen Verschiebungen zugrunde liegen. Darüber hinaus ist diese Literatur reflexiv in multiple historische und nationale Kontexte eingebunden. Es ist klar, dass Amerikas Geschichte in der qualitativen Fragestellung und Forschung nicht ohne weiteres auf den Rest der Welt zu übertragen ist (vgl. Atkinson/Coffey/Delamont 2001). Auch würden längst nicht alle Forscher die politisierte CulturalStudies-Agenda unterschreiben, die verlangt, dass sich interpretierende Texte vor allem Fragen und Problemen der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung der Rassen widmen. Laut Gerardo Lopez (1998: 226) gibt es eine »breite soziale Bewegung des antikolonialen Diskurses«, die sich in der Herausbildung von Standpunkt-Theorien aus afrikanisch-amerikanischer, Chicano-, indiani-

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206 | Ethnographie, Kino und Interpretation scher und Maori-Perspektive zeigt. Solche Theorien stellen die Epistemologien aus der westlichen Wissenschaft, die bei der Erfassung und Bewertung des Wissens indigener Völker angewandt werden, infrage. Dagegen hat der Maori-Wissenschaftler Russell Bishop 1998 eine partizipatorische Teilnehmer-Perspektive entworfen (vgl. dazu Tillman 1998: 221), die dem verkörperten moralischen Einsatz für die Forschungsgemeinschaft, an der man beteiligt ist, besonderen Wert beimisst. Solche Forschungen sind durch das Fehlen eines umfassenden Kontrollbedürfnisses charakterisiert (vgl. Bishop 1998: 203, Heshusius 1994). Ein solches Engagement spiegelt den Wunsch wider, mit einer moralischen Gemeinschaft verbunden zu sein und dazuzugehören. Ziel ist das mitund einfühlende Verständnis (vgl. Heshusius 1994). Solche Forscher sind demnach gezwungen, neue Erzählmuster und Handlungsverläufe zu entwickeln, die dieses Verständnis widerspiegeln. Ein solcher Forscher möchte nur noch an einer kollaborativen altruistischen Beziehung teilhaben, bei der die Teilnehmer »nichts für sich selbst erstreben« (Bishop 1998: 207). Bewertet werden solche Forschungen mit auf Teilhabe angelegten Kriterien und nach den kulturellen Werten und Praktiken, die in der Maori-Kultur zirkulieren – wozu auch Metaphern gehören, welche die Selbstbestimmung, die Heiligkeit der Beziehungen, das verkörperte (im Gegensatz zum abstrakten) Verständnis und den Vorrang der Gemeinschaft hervorheben. Diese auf Teilhabe angelegten Kriterien fungieren als Ressourcen für den Widerstand gegen positivistische und neokonservative Bestrebungen, ihrerseits »die Kriterien für die Bewertung der Maori-Erfahrung festzulegen und die Kontrolle darüber zu behalten« (Bishop 1998: 212). Indigene indianische Gelehrte (Native Americans) verbreitern dieses Argument, indem sie eine mündliche indigene Epistemologie artikulieren, die sich »über Jahrtausende entwickelt hat, während derer man ununterbrochen auf diesem Land lebte« (Rains/Archibald/Deyhle 2000: 337, Hervorhebungen im Original). Eine »rotamerikanische« indianische Pädagogik (vgl. Grande 2000) kritisiert die simplistischen Lesarten der postmodernen, poststrukturalistischen und kritischen Theorie bezüglich Rasse, Ethnizität und Identität. Privilegiert werden Erzählungen über das Ausagieren der persönlichen Identität ebenso wie Geschichten und Dichtungen, die die Selbstbestimmtheit betonen, sowie die indigene Theorie (vgl. Brayboy 2000). Für Grande hat die Rote Pädagogik vier wesentliche Merkmale: 1) Politisch steht sie für »ein Streben nach Souveränität und Ablösung des globalen Kapitalismus«. 2) Epistemologisch privilegiert sie das indigene Wissen. 3) Die Erde ist ihr »spirituelles Zentrum«. 4) Soziokulturell ist die Rote Pädagogik in »stammesmäßigen und traditionellen Lebensweisen« verankert (Grande 2000: 355). Die performative Wende im anglo-europäischen Diskurs kann von

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 207 der Kritik und den Thesen der Maori-Gelehrten und der kritischen Roten Pädagogik zweifellos profitieren. Aus den indigenen Epistemologien und Aufführungstheorien ist viel zu lernen. Nach Atkinson/Coffey/Delamont (2001: 9) müssen wir uns fragen, wie die Kräfte der Geschichte und Kultur jene Versionen des Alltagslebens strukturieren, die in der aufführungsorientierten Ethnographie gespiegelt und evoziert werden. Natürlich wurde die performative Wende in der anglo-europäischen Theorie nicht überall mitgemacht; auch herrscht bei der Übernahme von Bewertungsparadigmen post-interpretativer und nicht-fundierungsorientierter Art (post-foundational)4 nicht unbedingt großer Andrang. Im Folgenden wird es lediglich um eine mögliche Interpretation der Frage gehen, in welche Richtung dieses Problemfeld sich gegenwärtig bewegt.

Die Erstellung von Kriterien für eine performative Ethnographie In den Sozialwissenschaften herrscht heute nicht mehr jene gottgleiche Perspektive vor, die absolute methodische Sicherheit garantiert. Alle Untersuchungen reflektieren auch den Standpunkt des/der Untersuchenden. Alle Beobachtungen sind auch theoriegeprägt. Es gibt kein theorie- oder wertfreies Wissen. Die Tage des naiven Realismus und des naiven Positivismus sind vorbei. An ihre Stelle sind der kritische und historische Realismus sowie verschiedene Versionen des Relativismus getreten. Die Kriterien für die Bewertung von Forschungen sind heute ebenfalls relativ.5

4 | »Post-foundational« bzw. »foundational« und »foundationalism« sind in der englischsprachigen Erkenntnisphilosophie die gängigen Bezeichnungen für Fundierungstheorien (Gegenbegriff: Kohärenztheorien). Die wörtlichen deutschen Entsprechungen wären »post-fundamentalistisch«, »fundamentalistisch« und »Fundamentalismus«. Diese Begriffe sind im heutigen Sprachgebrauch jedoch missverständlich, weil sie meistens im Zusammenhang mit religiösem Fanatismus verwendet werden. Bislang hat sich für die philosophischen Fachtermini keine einheitliche deutsche Übersetzung herausgebildet. (A.d.Ü.)

5 | Zum Thema Bewertungskriterien sind drei grundlegende Positionen zu nennen: eine fundierungsorientierte (foundational), eine quasi-fundierungsorientierte und nicht-fundierungsorientierte. Die »Fundamentalisten« verwenden für qualitative Forschungen dieselben positivistischen Kriterien wie für quantitative Untersuchungen und behaupten, an qualitativen Forschungen sei nichts Besonderes – nichts, das besondere, eigene Bewertungskriterien erfordere. Die »Quasi-Fundamentalisten« sagen, man müsse für qualitative Forschungen ein Kriteriensystem entwickeln, das allein auf qualitative Forschungen anwendbar sei

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208 | Ethnographie, Kino und Interpretation Patricia T. Clough (2000) warnt zu Recht, dass die Erstellung von Kriterien für die Beurteilung von gutem oder schlechtem experimentellem Schreiben oder von performativen ethnographischen Texten letztlich dazu dienen könnte, das neue Schreiben zu konventionalisieren »und die Art und Weise zu verdeutlichen, wie experimentelles Schreiben bereits konventionell geworden ist« (Clough 2000: 278). Mehr in die Tiefe gehend könnten wir, wenn wir das Schreiben und die damit verbundenen Aufführungen normalisieren, ganz vergessen, dass diese Art des Schreibens zuvor »für ›schlechtes‹ Schreiben und unangemessene Soziologie gehalten wurde. […] Es könnte in Vergessenheit geraten, dass experimentelles Schreiben eng mit politischem Streit über Fragen des Wissens und der Wissbarkeit verbunden war« (ebd.). Außerdem galt das neue Schreiben zu einer bestimmten Zeit auch als eine Form der Kulturkritik, als eine Möglichkeit, die traditionelle Ethnographie zu kritisieren. Arthur P. Bochner pflichtet dem bei und ergänzt, dass es heute »kein einziges unbestrittenes Paradigma für die Entscheidung gibt, worin und woraus stichhaltiges, nützliches und signifikantes Wissen besteht – oder nicht besteht« (Bochner 2000: 268). Darüber hinaus ist es unmöglich, für die Entscheidung, was gut, schlecht oder richtig ist, nur einen einzigen Maßstab festzulegen. Es gibt nur multiple Maßstäbe, vorübergehende Kriterien und momentane Ruhepunkte (vgl. ebd.: 269). Zu oft fungieren Kriterien sozusagen als polizeiliche Mittel. Der Wunsch, ein System von Maßstäben festzulegen, kann uns von den »ethischen Fragen, die im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen« (ebd.), durchaus ablenken. In diesem Punkt stimmen Patricia Clough und Clifford Christians (2000) mit Bochner überein – jede Untersuchung hat unweigerlich mit moralischen, politischen und ethischen Fragen zu tun. Clough geht noch tiefer. Wie Atkinson u.a. (2001b: 3) erinnert sie uns daran, dass die Kritik am üblichen ethnographischen Schreiben in der Soziologie von Anfang an mit der Identitätspolitik und der feministischen Theorie verbunden war – in der Anthropologie auch mit der postkolonialen Kritik. All diese kritischen Ansätze und Äußerungen hatten mit einem komplizierten Fragenkomplex zu tun – der Frage, wer das Recht hat, für wen in welcher Form zu sprechen (vgl. Clough 2000: 283). Die Notwendigkeit, hybride postkoloniale Identitäten darzustellen, wurde zum Fokus des experimentellen Schreibens in der Ethnographie, so wie es auch »in den autoethnographischen Schriften postkolonialer Theoretiker das Bemühen gegeben hatte, sich ausführlich zu den Rassen-, Klassen-, Geschlechts- und nationalen Identitäten zu äußern« (ebd.: (vgl. Smith/Deemer 2000). Die »Nicht-Fundamentalisten« weisen von vornherein alle erkenntnistheoretischen Kriterien zurück.

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 209 285). Diese Debatten über Schreiben, Handlungsmacht, das Selbst, Subjektivität, Nation, Kultur, Rasse und Geschlecht (gender) entfalteten sich im globalen Maßstab in einer Welt, in der transnationaler Kapitalfluss und Globalisierung der Technologie eine große Rolle spielten (vgl. ebd.: 279). So bestand von Anfang an eine enge Verbindung zwischen experimentellem Schreiben einerseits und Geschlecht, Rasse, Familie, Nation, Politik, Kapital, Technologie, kritischer Sozialtheorie und Kulturkritik andererseits – das heißt, zu erkenntnistheoretischen Debatten über Fragen des Wissens, seiner Darstellbarkeit (Repräsentation) und Darstellung (Präsentation). Die Tendenz zur performativen Ethnographie innerhalb der westlichen Ethnographie, die Tendenz zum Persönlichen, Autobiographischen reflektiert laut Clough eine zunehmende Sensibilität für Probleme im Umfeld von Handlungsmacht und neuen Medientechnologien. Doch sind die Subjektivität und die Formen des Selbst-Seins, die in der neuen Autoethnographie ausagiert und untersucht werden, mit »der Traumakultur des Teletechnologischen« verbunden (Clough 2000: 287). Wie Clough feststellt, haben große Teile der neuen Autoethnographie mit Personen zu tun, die über »Erfahrungen mit Drogenmissbrauch, sexuellem Missbrauch, Kindesmisshandlung, Vergewaltigung, Inzest, Magersucht, chronischen Krankheiten und Tod« schreiben. Und so ist, fährt Clough fort, die »Autoethnographie symptomatisch für die Traumakultur, wie sie sich am abstoßendsten in den einschlägigen Fernseh-Talkshows zeigt« (ebd.). Diese Traumakultur zeigt und feiert die Beseitigung der traditionellen Schutzwälle zwischen Öffentlichem und Privatem im amerikanischen Leben. In einer Pornographie des Sichtbaren wird die gewalttätige Seite des intimen Familienlebens zur Schau gestellt, werden die Widersprüche im Kapitalismus als Lebensform enthüllt. Große Teile der neuen Autoethnographie richten den Blick auf Traumata, auf Verletzungen und problematische unterdrückte Erinnerungen, auf die Unfähigkeit, über die Vergangenheit zu sprechen, auf die Suche nach einer neuen Stimme, auf zertrümmerte, beschädigte Egos, die nach neuen Geschichten (histories) suchen, auf neue Formen von Handlungsmacht und Handlungsfähigkeit. Doch setzen sich die Autoethnographen, wenn sie aus den Räumen des Traumas sprechen, »nicht kritisch oder selbstbewusst genug mit den technischen Substraten ihrer eigenen schriftlichen Äußerungsform auseinander« (Clough, ebd.). Clough beabsichtigt nicht, die Traumata, über die geschrieben wird, zu trivialisieren. Vielmehr will sie diese als Symptome von etwas Anderem lesen, das Aufmerksamkeit beansprucht – nämlich der Art und Weise, wie die neuen Fernseh-, Computer- und Medientechnologien in Verbindung mit dem globalen Kapital im transnationalen Maßstab neue

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210 | Ethnographie, Kino und Interpretation Formen der Subjektivität schaffen. »Ich meine, dass es diese Figuren der Subjektivität in der Autoethnographie sind, mit denen sich die Kulturkritik jetzt beschäftigen muss« (ebd.). Damit kommt Clough auf Kulturkritik und theoretische Reflexion als einziges Kriterium für die Bewertung experimentellen Schreibens zurück. Bleibt das experimentelle Schreiben diesen beiden Begriffen nahe, so »kann es zum Vehikel für das Nachdenken über neue soziologische Themen, neue Parameter des Sozialen werden« (ebd.: 290). Patricia Clough befürchtet, die Suche nach neuen Kriterien könnte die Kulturkritik zum Schweigen bringen (vgl. ebd.). Ich teile diese Befürchtung. Beim Versuch, performative Kriterien zu konventionalisieren, dürfen Cloughs und Bochners Warnungen nicht außer Acht gelassen werden. »Orthodoxie […] ist keine stabile Kategorie« (Atkinson/Coffey/Delamont 2001: 11). Im Bewusstsein der oben genannten Unterscheidungen bewegen sich die Diskussionen über die Kriterien für experimentelles Schreiben gleichzeitig in drei Richtungen: das Moralische, Politische und Ethische; das Literarische und Ästhetische; Traumata und die Politik der Erfahrung.

Feministisch-kommunitaristische Kriterien Die Übereinkünfte zum Verständnis von und die Kriterien für die Bewertung kritischer Performance-Events verbinden im Anschluss an Clough im siebten Moment Ästhetik, Ethik und Epistemologie.6 Es lassen sich verschiedene Kriterien skizzieren. Wie bell hooks’ schwarze Ästhetik (1990: 111) und Henry Giroux’ Öffentlichkeitspädagogik (200b: 25) beseitigen auch diese Aufführungskriterien die üblichen Unterschiede zwischen Ethik, Politik und Macht. So entstehen die Möglichkeiten für eine praktische performative Pädagogik und der Ruf nach Aufführungen, die sich einmischen und den Gang des öffentlichen Lebens unterbrechen. Solche Unterbrechungen dienen dazu, für selbstverständlich gehaltene Annahmen hinsichtlich der Problembereiche des öffentlichen Lebens zu verunsichern und infrage zu stellen. Sie schaffen einen Raum für Dialoge und Fragen und verleihen zuvor zum Stillschweigen

6 | Definitionen: Ästhetik: Theorien der Schönheit; Ethik: Theorien des Sollens, des Richtigen; Epistemologie: Theorien von Wissen und Erkenntnis. Die Antiästhetik bestreitet, dass es ein privilegiertes Reich der Ästhetik gibt. Sie ist politisch. Dieser Abschnitt basiert auf Denzin 2001: 326f. Ich suche nach einer radikalen Antiästhetik, die als politische Kritik fungiert und allenthalben die Ästhetisierung des Alltagslebens wie auch die ethischen Modelle der Moderne infrage stellt (vgl. Eagleton 1990: 119; Featherstone 1991: 67, Jameson 1981: 299).

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 211 verurteilten oder ignorierten Positionen eine Stimme (vgl. jedoch Bishop 1998: 209 und Smith 1999). Ideologisch verweigert diese Aufführungsästhetik die Anpassung an die Normen der weißen Mittelschicht und an die Traumata dieser Kultur. Sie sträubt sich gegen das Verständnis, Aufführungen und Erzählungen, die sich auf die Lebenskrisen des humanistischen Subjekts konzentrieren (vgl. Comolli/Narboni 1971), komme besonderer Wert zu. Stattdessen schätzt diese Ästhetik narrative Aufführungen besonders hoch ein, wenn sie in der Reflexion etwas erkennen, wenn sie gegen den Strich gehen und hinsichtlich Rasse, Klasse, Familie und Geschlecht die vorherrschenden kulturellen Ideologien angreifen. Solche Aufführungen enthüllen Brüche an den ideologischen Nahtstellen vorherrschender kultureller Mythologien – sowohl durch politische Aktion als auch durch ihre Thematik. So funktioniert zum Beispiel die Kunst eines Richard Posner im öffentlichen Raum (vgl. Pitzl-Waters/Enstrom-Waters 2002: 6). Seine Berliner Installation »Der Wider-Haken-Kräuter-Garten« (2000) etwa manipuliert zwei Hakenkreuze aus Glasscherben. Das erste, dessen Winkel entgegen dem Uhrzeigersinn verlaufen, ist ein Sonnensymbol aus antiken Tempeln, das die lebenserhaltende Kraft der Sonne symbolisiert. Das zweite, dessen Winkel im Uhrzeigersinn verlaufen, ist das Hakenkreuz der Nazis, ein Symbol für Vorurteile. Posner lokalisierte seine Installation auf dem Gelände einer ehemaligen Synagoge. Das von alliierten Bombern in Trümmer gelegte Grundstück war zu einer Giftmülldeponie verkommen. Posners Kunst transformierte diesen giftigen Ort nun zu einem Ehrenmal für die Opfer des Holocaust (bei dem auch Mitglieder aus Posners eigener Familie umgekommen waren). In einem feministisch-kommunitaristischen Sinn behauptet diese Ästhetik, dass die Wege, wie man Wissen erlangt (Epistemologie), moralisch und ethisch sind (vgl. Christians 2000). Dabei spielen die Vorstellungen, was der Mensch ist (Ontologie), einschließlich der Frage, wie Differenzen sozial organisiert sind, eine wichtige Rolle. Wie diese Differenzbeziehungen textuell dargestellt werden, entspricht einer politischen und epistemologischen Ästhetik, die definiert, was gut, wahr und schön ist. Drei miteinander verbundene Kriterien formen diese Darstellungen der Welt. Interpretative Vollständigkeit (interpretive sufficiency) lautet das erste Motto (vgl. Christians 2000: 145).7 Alle Darstellungen sollten ein solches Maß an Tiefe, Detail, Emotionalität, Nuancen und Kohärenz besitzen, dass ein kritisches Bewusstsein ermöglicht wird – also das, was Paulo Freire (2000) »Bewusstseinsbildung« nennt. Durch Bewusstseinsbil7 | Ich danke Clifford Christians für seine Erklärungen dieser Prinzipien.

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212 | Ethnographie, Kino und Interpretation dung gewinnen die Unterdrückten ihre eigene Stimme, arbeiten sie gemeinsam an der Transformation ihrer Kultur (vgl. Christians 2000: 148). Zweitens sollten die Darstellungen angemessen sein (representational adequacy), frei von Rassen-, Klassen- oder Geschlechtsstereotypen (vgl. ebd.: 145). Und drittens sind Texte authentisch adäquat, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Sie bieten (1) eine Stimmenvielfalt, fördern (2) das moralische Unterscheidungsvermögen und treten (3) für sozialen Wandel ein (vgl. ebd.). Vielstimmige ethnographische Texte sollten ermächtigen; sie sollten die Menschen zur Erkenntnis moralischer Wahrheiten über sich selbst führen und dabei zugleich Sozialkritik hervorbringen. Diese Kritik wiederum sollte zu Bemühungen führen, soziale Veränderungen herbeizuführen (vgl. ebd.: 147). Alle Ästhetiken und Urteilsmaßstäbe basieren auf speziellen moralischen Standpunkten. So hebt zum Beispiel eine afrozentrische feministische Ästhetik (und Epistemologie) die Bedeutung von Wahrheit, Wissen und Schönheit hervor (»Black Is Beautiful«). Solche Behauptungen basieren auf einem Konzept des Geschichtenerzählens und einem Wissens- und Weisheitsbegriff, der auf Erfahrung und Gemeinschaft beruht. Ein so verstandenes Wissen leitet sich aus lokalen gelebten Erfahrungen her und findet Ausdruck in Folklore, Märchen und Mythos (vgl. Collins 1991). Es handelt sich um eine dialogische Epistemologie und Ästhetik. Sie hat mit Geben und Nehmen zu tun, mit einem fortwährenden moralischen Dialog zwischen Menschen. Sie setzt eine Ethik der Fürsorge und eine Ethik der persönlichen und gemeinschaftlichen Verantwortung in die Tat um (vgl. ebd.: 214 und Giroux 2000a: 130). Politisch regiert in dieser Ästhetik die Vorstellung, wie eine wahrhaft demokratische Gesellschaft ohne Rassenvorurteile und Unterdrückung aussehen könnte. Eine solche Ästhetik misst Schönheit und Kunst, Bewegung, Rhythmus, Farbe und Textur im Alltagsleben hohen Wert bei. Sie feiert Unterschiedlichkeit und die Klänge der vielen verschiedenen Stimmen. Sie bringt eine Ethik der Ermächtigung zum Ausdruck. Diese Ethik geht von einer moralischen Gemeinschaft aus, die ontologisch Priorität vor der individuellen Person besitzt. Eine solche Gemeinschaft teilt gemeinsame Werte, darunter gemeinschaftliche Führung, Nächstenliebe, Liebe, Freundlichkeit und das moralisch Gute (vgl. Christians 2000: 144-149). Diese Ethik verkörpert eine heilige existenzielle Epistemologie, die den Menschen in einer konkurrenzfreien, nichthierarchischen Beziehung zum größeren moralischen Universum sieht. Diese Ethik erklärt, dass alle Menschen Würde und einen heiligen Status in der Welt verdienen. Sie betont den Wert des menschlichen Lebens, der Wahrhaftigkeit und der Gewaltlosigkeit (vgl. ebd.: 147). Nach dem Prinzip der authentischen Adäquatheit ermöglicht diese

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 213 Ästhetik Sozialkritik, ermuntert sie zum Widerstand. Sie hilft den Menschen, sich vorzustellen, wie die Dinge anders sein könnten. Sie stellt sich neue Formen der menschlichen Transformation und Emanzipation vor. Sie inszeniert diese Transformationen im Dialog. Und wenn nötig, sanktioniert sie auch gewaltfreie Formen zivilen Ungehorsams (vgl. ebd.: 148). Indem sie verlangt, dass die Interpretationsarbeit die Grundlagen für Sozialkritik und soziales Handeln legt, stellt diese Ethik auch einen Aufruf zum Handeln dar. Eine solche Ästhetik versteht, dass moralische Kriterien stets den Unwägbarkeiten konkreter Umstände angepasst sind, wobei diese im Sinne lokaler Verständnisse bewertet werden, die sich aus dem feministischkommunitaristischen Verständnis ergeben. Eine solche Ethik verlangt nach einer dialogischen Forschung, die in den Konzepten von Fürsorge und gemeinschaftlicher Führung wurzelt. Wie diese Ethik in einer spezifischen Situation funktioniert, kann nicht im Voraus bestimmt werden. Angemessen verstanden und konzipiert, wird die performative Autoethnographie zu einem zivilgesellschaftlichen, partizipatorischen und kollaborativen Projekt. Sie macht aus Forschern und erforschten Subjekten Teilnehmer an einem gemeinsamen moralischen Projekt. Dies ist eine Form der Erforschung partizipatorischen Handelns. Letzteres hat seine Wurzeln in der Befreiungstheologie, in neomarxistischen Ansätzen zur Gemeinschaftsentwicklung und im Menschenrechtsaktivismus in Asien und anderswo (vgl. Kemmis/McTaggart 2000: 568). Solche Arbeit ist gekennzeichnet durch gemeinsames Eigentum am Forschungsprojekt, durch in der Gemeinschaft gründende Analysen, durch ein emanzipatorisches, dialektisches und transformatives Engagement für gemeinschaftliches Handeln (vgl. ebd.: 568, 598). Nach den Worten von Kemmis und McTaggart (ebd.: 598) will diese Art der Untersuchung »den Menschen helfen, sich zu erholen und sich von den in den gesellschaftlichen Medien eingebetteten Fesseln zu befreien«. Als Kulturkritiker spricht der Forscher aus einer informierten moralischen und ethischen Perspektive. Er oder sie ist in einer spezifischen Gemeinschaft des progressiven moralischen Diskurses verankert. In seinen Aufführungen bezieht der moralische Ethnograph Stellung und arbeitet stets an der Seite jener, die nach einer genuinen Basisdemokratie streben (vgl. Hartnett 1998: 288).

Moralische Kritik und Parteinahme Als Aufführender und Kulturkritiker bezieht der Ethnograph Stellung. Das ist angemessen, weil auch das politisch engagierte Theater es so hält. Es handelt sich jedoch im einen komplexen Prozess (vgl. Becker 1967,

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214 | Ethnographie, Kino und Interpretation Hammersley 2001). Aufführende als Kritiker müssen ihre eigenen moralischen und politischen Werte klären, einschließlich der sozialen Konstruktionen, Werte und so genannten objektiven Tatsachen sowie der mit diesen Positionen verbundenen ideologischen Annahmen. Alternative Standpunkte und Wahrheitsansprüche müssen mit minimalen Verzerrungen dargestellt werden. Der Aufführende als Kritiker bewertet diesen Standpunkt und legt offen, wie er Mitgliedern einer spezifischen Gruppe zum Nachteil gereicht und diese entmächtigt (vgl. Ryan u.a. 1998). Die Aufführenden zeigen dann, wie eine partizipatorische feministisch-kommunitaristische Ethik an die betreffende Situation herangeht – mit Aktionen, die ermächtigen und soziale Gerechtigkeit ermöglichen. Die Advokaten des Black Arts Movements in den 1970er Jahren zum Beispiel bestanden darauf, dass Kunst eine politische Funktion habe. Sie fragten, um wie viel schöner ein Gedicht, eine Melodie, ein Theaterstück, ein Roman oder ein Film das Leben eines/einer einzigen Schwarzen mache (vgl. Gayle 1997 [1971]: 1876). Bei ihrem Aufruf zum Handeln befürworten Forscher als Aufführende konkrete situationsverändernde Schritte. Vielleicht zeigen sie wie Richard Posner den Mitbürgern, wie man einem zuvor marginalisierten und stigmatisierten öffentlichen Ort neue heilige Bedeutung verliehen kann. Mit Performances können sie demonstrieren, wie spezielle Texte Menschen direkt oder indirekt falsch darstellen und dabei Vorurteile und Stereotypen reproduzieren. Wer dieses utopische Projekt vorantreibt, sucht als Aufführender nach neuen Maßstäben und Mitteln der Bewertung. Maulana Karenga etwa, ein Theoretiker des Black Arts Movement der 1970er Jahre (vgl. Karenga 1997 [1972]), vertrat die These, die Kunst der Schwarzen solle politisch, funktional, kollektiv und engagiert sein. Politisch und funktional sollte diese Kunst, wie schon bei W.E.B. DuBois (1926: 134), schwarzes Theater über Schwarze sein, von Schwarzen für Schwarze gemacht und in den örtlichen schwarzen Gemeinschaften lokalisiert. Diese Gemeinschaftskunst würde »die Realität einer Revolution« unterstützen und »positiv darauf reagieren« (Karenga 1997: 1973). Es wäre keine Kunst um der Kunst willen, sondern eine Kunst für die Menschen in der schwarzen Gemeinschaft, eine Kunst für »Sammy, den Schuhputzer, T.C., den Lastwagenfahrer, und K.P., den widerwilligen Soldaten« (ebd.: 1974). Karenga verkündete den Schwarzen: »Wir brauchen keine Bilder mit Orangen in einer Schale oder Bäumen, die unschuldig irgendwo mitten in der Wüste stehen […] oder mit dicken weißen Frauen, die lüstern lächeln. […] Wenn wir Orangen oder Bäume malen müssen, dann sollen unsere Guerillakämpfer diese Orangen essen, um Kraft zu bekommen, und dann sollen sie diese Bäume als Deckung benutzen« (ebd.; vgl. auch Gayle 1971: xxiii). Kollektiv kommt schwarze Kunst aus dem Volk, und sie muss dem Volk

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 215 auch zurückgegeben werden, »in einer Form, die schöner und bunter ist, als sie im realen Leben war. […] Kunst ist Alltagsleben, dem man mehr Form und Farbe verliehen hat« (Karenga 1997: 1974). Eine solche Kunst ist politischen Zielen verpflichtet. Sie ist demokratisch. Sie feiert Vielfalt, persönliche und kollektive Freiheit.8 Sie ist nicht elitär. Wenn Karengas schwarze Ästhetik fragt, ob ein Werk politisch, funktional, kollektiv und engagiert ist, zollt sie damit auch der feministischkommunitaristischen Ethik und deren Konzepten der interpretativen Vollständigkeit, der darstellerischen und der authentischen Angemessenheit Anerkennung. Nunmehr können multiple Kriterien auf ein Werk angewandt werden. Ist es politisch, funktional, engagiert und frei von Stereotypen? Bietet es Tiefe, Nuancen, Details, Kohärenz und Emotionen? Ist es vielstimmig und sind ethische Positionen erkennbar? Schafft das Werk die Bedingungen für eine kritische Bewusstseinsbildung? Engagierte Gelehrte setzen dieses Verständnis performativ um. Sie zeigen, wie die Menschen in den Räumen der Alltagswelt ihre eigene, im Alltag verankerte Ästhetik (grounded aesthetics) gestalten können (vgl. Laermans 1993: 156, Willis 1990). Diese Ästhetik ist zugleich politisch und persönlich. Im Zeitalter des Warenkonsums dekonstruiert sie die Bilder, Erscheinungsformen und Glücksversprechen, die benutzt werden, um Objekte für Konsumenten attraktiv zu machen (vgl. Harms/ Kellner 1991: 49). Diese ästhetischen Praktiken widmen sich dem komplexen Wechselspiel von Widerstand und Konsum, Wunsch und Vergnügen. Sie artikulieren die vielen verschiedenen Möglichkeiten, wie Konsumenten die Ressourcen der Populärkultur zur persönlichen und zur Gruppen-Ermächtigung kreativ nutzen können (vgl. Laermans 1993: 154f.). Diese Alltagsästhetik fungiert zugleich als Vehikel und Schauplatz des Widerstands. In der Arena von Konsum und Rasse etwa dekonstruieren Forscher, die sich mit dem Rassismus befassen, negative Rassendarstellungen. Sie wenden diese negativen Bilder ins Positive, machen positive Darstellungen daraus. Sie erfinden neue kulturelle Bilder und Slogans. Auf diese Weise wird eine rassisch gegründete praktische Ästhetik formuliert. In der sinnlichen Inszenierung dieser Ästhetik wird der Konsument zum aktiven Mitspieler bei der Konstruktion neuer rassischer Identitäten. Kritische Gelehrte stellen natürlich ihre eigenen Werte klar. Gleichzeitig hören sie zu und setzen sich den Perspektiven und Stimmen vieler verschiedener Interessenvertreter aus. Stets ergreifen sie Partei für den 8 | Hier ergibt sich ein Parallele zu den vier Kriterien, die DuBois für ein genuin schwarzes Theater genannt hat: Ein solches Theater, sagte er, solle »über uns, von uns, für uns und in unserer Nähe« sein (vgl. DuBois 1926: 134).

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216 | Ethnographie, Kino und Interpretation Underdog (vgl. Ryan u.a. 1998). Dabei versuchen sie, beim Bürger und Konsumenten ein kritisches, reflexives moralisches Bewusstsein zu schaffen. Sie werden die These vertreten, dass Glück nicht unbedingt mit dem Besitz bestimmter materieller Objekte verbunden ist und dass der Wunsch, etwas zu besitzen, in der Tat eher ein Wunsch ist, den der Hersteller des betreffenden Objekts geweckt hat (vgl. Harms/Kellner 1991: 65). Kritische Forscher werden zeigen, wie spezielle Konsummuster und Konsumentscheidungen für spezielle unterdrückte Konsumentengruppen (Arme, Frauen, Jugendliche, Homosexuelle, rassische Minderheiten) die normativen Ideologien des materiellen Besitzstrebens, des Designer-Kapitalismus und der gängigen Mode reproduzieren. Sie werden zeigen, wie die Betonung des Besitzes materieller Güter zum Selbstzweck wird, statt zur Erreichung spezifischer nichtmaterieller ethischer wie moralischer Ziele beizutragen. Darüber hinaus werden diese Forscher auch darauf hinweisen, wie Werbung Geschlechtsrollenstereotype, rassische Stereotype und solche der sexuellen Orientierung, aber auch Stereotype der sozialen Klassenzugehörigkeit reproduziert, und wie sie sogar zu einem Konsumverhalten beiträgt, das der persönlichen Gesundheit und der Umwelt schadet. Dabei engagieren sich die interpretierenden Forscher in der Sozialkritik wie im moralischen Dialog. Aber es geht noch um mehr. Der performative Forscher bewertet spezifische Programme, er gibt Empfehlungen zu Programmen und Praktiken, er tritt für Handlungslinien ein, die die partizipatorische Demokratie ebenso maximieren wie die Gesundheit und Autonomie der Bürger. Ein solches Engagement lässt den Forscher Verantwortung für die moralischen und persönlichen Folgen einer jeden empfohlenen Handlungslinie übernehmen.

Performative Normen und Kriterien Wie ich schon anderer Stelle gezeigt habe (Denzin 1997: 282f.), ergibt sich aus dem feministischen ethischen Modell eine Reihe von Normen für dieses mit Schreiben und Aufführen befasste Projekt. Im Grunde geht es um die Ausarbeitung von vier unverzichtbaren journalistischen Normen: um Genauigkeit, das Bemühen, keinen Schaden anzurichten, um das Recht zu wissen und die Kennzeichnung der eigenen moralischen Position. Die moralischen Erzählungen des performativen Ethnographen werden nicht geschrieben, um Unschuldigen (vgl. Christians 1986: 124) oder durch die Herrschafts- und Repressionssysteme der Kultur Unterdrückten zu schaden (Prinzip der Schadensvermeidung). Wenn Schaden droht, sollte die Identität derer, über die berichtet wird,

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 217 stets geschützt werden. Diese Erzählungen müssen faktisch und fiktional-erzählerisch korrekt sein, wobei als Generalregel gilt, dass Dinge, die so nicht geschehen sind, auf jeden Fall so hätten geschehen können (Plausibilität). Wenn fiktional oder schöpferisch-nichtfiktional geschrieben wird oder wenn getrennte Fälle zu einer einzigen Geschichte zusammengezogen werden, hat der performativ Schreibende die Pflicht, dies dem Leser deutlich anzuzeigen (vgl. Christians/Ferre/Fackler 1993: 55, Eason 1984, Eason 1986). Der Leser hat das Recht zu wissen, was der Ethnograph herausgefunden hat, aber dieses Informationsrecht muss gegen das Prinzip, keinen Schaden anzurichten, abgewogen werden. Der Autor/die Autorin muss mit dem Leser ehrlich umgehen.9 Der Text muss realistisch und hinsichtlich Charakter, Szenerie, Atmosphäre und Dialog konkret sein. Wie in einem guten Ethnodrama bietet das schriftliche Aufführungsereignis ein Forum für die Suche nach moralischen Wahrheiten über sich selbst und die anderen. In diesem Forum werden das in der Kultur nicht Präsentable und die Unzulänglichkeiten des alltäglichen Lebens erkundet. Der/die Aufführende wühlt die Welt auf; Objektivität ist eine Fiktion, und die Geschichte des/der Schreibenden/Aufführenden ist Bestandteil der Geschichte, die erzählt wird. Der/ die Schreibende hat eine Theorie, wie die Welt funktioniert, und diese Theorie liegt niemals weit unter der Oberfläche seiner/ihrer Texte. Auszugehen ist von selbstreflexiven Lesern/Zuschauern, Bürgern, die auf der Suche nach ehrlichen, aber reflexiven Werken sind, durch die sie in eine Vielzahl von Strukturen der Wirklichkeitsnähe und Plausibilität hineingezogen werden, die die betreffende Geschichte formen. Es bleibt noch das Ringen um eine narrative und performative Stimme, die gegen eine lange Tradition anschreibt, welche Autobiographien und gelebte Erfahrung als Schauplätze für Reflexivität und Selbstwerdung bevorzugt (vgl. Clough 1994: 157). Diese Form der subjektiven Reflexivität ist nämlich eine Falle, weil auf diese Weise nur allzu leicht normative Konzeptionen des Selbst und der Handlungsfähigkeit reproduziert werden – Konzeptionen, die insbesondere Geschlechtsrollen, Wünsche und die Sexualität betreffen. Es besteht aber, um es nochmals zu sagen, das dringende Desiderat, eine reflexive Form des Schreibens und Aufführens zu erfinden, die die Autoethnographie und experimentelle literarische Texte auf sich selbst zurückverweist (vgl. ebd.: 162). Diese(r) aufführungsorientiert Schreibende ist immer skeptisch und argwöhnt Verschwörungen und Verbindungen von Macht und Begehren, die Teile der Öffentlichkeit zu Opfern machen. So bringen diese zur Aufführung gedachten Werke für traditionelle realistische Vorstellungen 9 | Die Regeln in diesem Abschnitt sind Raymond Chandlers Essay »Twelve Notes on the Mystery Story« (vgl. Chandler 1972) entnommen.

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218 | Ethnographie, Kino und Interpretation von Wahrheit und Verifizierung durchaus Probleme mit sich, weil immer gefragt wird, wer denn von einer bestimmten Version der Wahrheit profitieren könnte. Der in der Öffentlichkeit agierende performative Ethnograph inszeniert eine Ethik der Praxis, in der die Beziehung zwischen Klientel und Öffentlichkeit privilegiert wird. Der Ethnograph tritt als moralischer Anwalt der Öffentlichkeit auf, obwohl ein persönlicher Moralkodex auch dazu führen kann, dass individuelle Forscher gegen die so genannten wohlverstandenen Interessen eines Klienten oder eines speziellen Segments der Öffentlichkeit arbeiten. Die aufführbare Erzählung eines Ethnographen ist stets allegorisch – eine symbolische Erzählung, die niemals nur ein »objektives« Dokument menschlicher Erfahrungen ist. Diese Parabelerzählung ist ein Mittel zur Erfahrungsvermittlung, eine Methode der Ermächtigung. Sie ist ein Vehikel für Leser, moralische Wahrheiten über sich selbst zu entdecken. Auf einer tieferen Ebene ist die aufführbare Erzählung eine utopische Erzählung des Selbst und der sozialen Erlösung, eine Erzählung, die dem Leben des Lesers (und des Autors) einen moralischen Kompass zurückbringt. Der Ethnograph entdeckt die multiplen »Wahrheiten«, die in der sozialen Welt wirksam sind, Geschichten, die die Menschen einander über das, was ihnen wichtig ist, erzählen. Wie der öffentliche Journalist schreibt auch der Ethnograph Geschichten, die »Nester kritischen Bewusstseins« und »Diskurse kultureller Diversität« schaffen (Christians 1996: 11). Diese performativen Geschichten bringen Menschen zum Handeln, ermöglichen Transformationen in den öffentlichen Bereichen des Alltagslebens.

Literarische und ästhetische Kriterien Ich wende mich jetzt den Arbeiten von Carolyn Ellis, Arthur P. Bochner und Laurel Richardson zu. Zusammen genommen bieten diese Autor(inn)en ein subtil nuanciertes System von Kriterien, die die literarischen, substanziellen und ästhetischen Dimensionen des neuen Schreibens hervorheben. Diese Kriterien befinden sich im Einklang mit den oben genannten vier unverzichtbaren journalistischen Normen. Im Wesentlichen haben sich diese Gelehrten und ihre Schüler auf das konzentriert, was Clough als in der Kultur der Traumata eingebettete Erfahrungen bezeichnet. Ihre Arbeiten (vor allem die von Ellis und Bochner) entstigmatisieren die Erfahrungen beschädigter Egos.

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 219

Ellis’ literarischer Realismus Ellis (2000: 273) bietet eine voll ausgebildete literarische Ästhetik. Sie propagiert ein Schreiben, das den Kriterien der interpretativen Vollständigkeit und der authentischen Adäquatheit genügt. Sie erstrebt Arbeiten, die faszinierende und nuancierte Texte bieten – Texte, mit denen und durch die sie fühlen und denken kann. Sie wünscht sich eine Geschichte, die sie in eine andere Welt hinzieht und die auch nach der Lektüre noch in ihr weiterlebt. Ihr ist Evokation wichtiger als kognitive Betrachtung. Wenn ein Autor/eine Autorin nicht evokativ schreiben kann, sollte er/sie nach Ellis’ Meinung in einem anderen Genre schreiben. Sie erwartet, dass eine Geschichte ihr etwas Neues erzählt: »Über das soziale Leben, gesellschaftliche Abläufe, die Erfahrungen anderer, die Erfahrungen des/der Schreibenden, mein eigenes Leben. Gibt es hier irgendetwas ›Neues‹?« (ebd.: 275). Den Kriterien der interpretativen Vollständigkeit und der authentischen Adäquatheit fügt Ellis noch ein drittes Kriterium hinzu, das man als literarischen Wert bezeichnen könnte; Richardson (2000a: 937, 2000b: 254) nennt es »ästhetische Leistung« (aesthetic merit). Ellis erwartet, dass auch ethnographische Geschichten einen guten Handlungsaufbau (Plot) und dramatische Spannung besitzen, dass sie kohärent und logisch schlüssig, ausbalanciert und stilistisch flüssig sind, authentische Erfahrungen bieten und lebensecht sind. Sie verlangt, dass Autoren die Dinge zeigen und nicht nur schildern, dass sie Charaktere und Szenen voll entwickeln, dass es aber nicht zu viele Charaktere oder Szenen geben sollte. Sie erwartet sorgfältige Revisionen, eine gewisse Knappheit an Worten, dafür aber lebendige Bilder, Geräusche, Gerüche, Gefühle, lebensechte Gespräche und überraschende Schlüsse, die ihr abverlangen, alles in einem neuen Licht zu sehen. Sie fragt, ob die Analyse eng mit der Geschichte und der relevanten Literatur verbunden ist. Sie fragt, ob die Geschichte Kampf und Einsatz lohnt, auch wenn es um Unkonventionelles geht (vgl. ebd.: 276). Sie möchte wissen, welche Ziele der Autor verfolgt, was er oder sie erreichen will, und fragt sich, ob diese Ziele erreichbar und lohnend sind. Sie stellt sich auch die Frage, ob eine andere Form des Schreibens den Zielen des Autors besser gerecht werden könnte. Sie möchte gern wissen, ob der Autor/die Autorin etwas Neues über sich selbst, über andere Figuren in der Geschichte, über soziale Vorgänge und Beziehungen erfahren hat (vgl. ebd.: 275). Es ergeben sich auch ethische Fragen, wenngleich weit weniger detailliert, als nach den Kriterien der angemessenen Authentizität erforderlich. Ellis fragt nicht explizit nach Vielstimmigkeit, moralischem Unter-

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220 | Ethnographie, Kino und Interpretation scheidungsvermögen oder sozialen Transformationen. Sie fragt nur, ob der Autor die Erlaubnis erhalten habe, andere zu porträtieren, und ob andere eine Chance hatten, zu ihrer Perspektive in der Geschichte etwas beizutragen. Wenn dies nicht geschehen ist, möchte sie wissen warum. Es interessiert sie auch, ob die Geschichte den Charakteren und den Lesern Schmerzen bereitet. Sie fragt schließlich auch noch, ob die Geschichte anderen dabei helfen kann, »mit ihrer Welt besser zurechtzukommen oder diese besser zu verstehen. Ist [die Geschichte] nützlich, und wenn ja, für wen? Ermutigt sie Mitgefühl für die Charaktere? Fördert sie den Dialog? Hat sie das Potenzial, soziale Aktionen anzuregen?« (ebd.). Die Form und Richtung sozialer Aktionen wird allerdings nicht weiter spezifiziert.

Bochners Identitätserzählungen Ellis’ literarischer Realismus ergänzt sich gut mit Bochners Vision einer poetischen Sozialwissenschaft und einer alternativen Ethnographie. Auch Bochner befasst sich mit Problemen im Umkreis der interpretativen Vollständigkeit. Er fragt, ob diese neuen Identitätserzählungen (narratives of self) Sprache so einsetzen, dass Leser (und Schreiber) der Erfahrung einen Sinn abgewinnen können, statt dass einfach »die Erfahrung genau so geschildert wird, wie sie gelebt wurde« (Bochner 2000: 270). Bochner arbeitet sieben Kriterien heraus. Als Erstes sucht er nach einer Fülle konkreter Details, nach »Emotionen von Leuten aus Fleisch und Blut, die sich mit den Widrigkeiten des Lebens herumschlagen; nicht nur Fakten, sondern auch Gefühle« (ebd.). Zweitens schätzt Bochner strukturell komplexe Erzählungen, Geschichten, die in der Zeitkurve erzählt sind und in denen Gegenwart und Vergangenheit in den nichtlinearen Räumen der Gedächtnisarbeit ineinander verwoben sind. Drittens werden die Autoren danach beurteilt, ob sie emotional glaubwürdig, verwundbar und ehrlich sind. Bochner wünscht sich Texte, die jene »kulturellen Skripte« kommentieren, die »sich der Transformation widersetzen«, Texte, die »den Tragödien des Lebens komische Seiten abgewinnen können« (ebd.) – Texte, die »von den Begrenzungen des Lebens« ein gerüttelt Maß enthalten (ebd.). Viertens sollten sich in Geschichten das Ich, das man war, und das Ich, das man ist, gegenüberstehen. Es sollte um Lebensläufe gehen, die durch Krisen transformiert wurden. Fünftens misst Bochner den Autor an einem »anspruchsvollen Maßstab ethischer Selbstbewusstheit« (ebd.: 271). Wie Ellis verlangt er, dass dem Autor diejenigen, über die er schreibt, nicht gleichgültig sind, dass er sich um deren Platz in der Geschichte (story) kümmert und darum, wie das Erzählen der Geschichte das Ich des Autors (und des Lesers)

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 221 verändert. Es geht um das »moralische Engagement und die moralischen Überzeugungen, die der Geschichte zugrunde liegen« (ebd.). Sechstens fordert Bochner, wiederum wie Ellis, eine Geschichte, die »mich bewegt – Herz und Bauch genauso wie den Kopf« (ebd.). Eine Geschichte ist für ihn nicht schon deshalb von vornherein schlecht, weil sie bekenntnishaft, erotisch oder pornographisch ist; jede Geschichte ist ein Wagnis, ein Risiko. Siebtens verlangt Bochner im Einklang mit den Kriterien authentischer Angemessenheit, dass Identitätserzählungen als »Quelle der Ermächtigung und als eine Form des Widerstands« verwendbar sind, »um der Vorherrschaft kanonischer Diskurse etwas entgegenzusetzen« (ebd.). Er schätzt Arbeiten, die stigmatisierten Identitäten die Opferrolle nehmen, Arbeiten, die »tragische Erfahrungen bestätigen und humanisieren, indem sie Zeugnis dafür ablegen, was es heißt, mit Scham, Missbrauch, Sucht oder körperlichen Gebrechen zu leben und durch solches Zeugnis Handlungsmacht zu gewinnen« (ebd.). Diese Kriterien setzen sich allerdings nicht aktiv mit den Problemen im Umfeld authentischer Adäquatheit auseinander, etwa dem ethischen Unterscheidungsvermögen oder der sozialen Transformation. Patricia Clough würde wohl argumentieren, dass es möglicherweise nicht ausreicht, tragische Erfahrungen nur zu bezeugen und die Traumata der Traumakultur einfach nur öffentlich zu machen.

Richardsons fünf Kriterien Laurel Richardson will mehr, wenn sie fünf Kriterien vorschlägt, die sich kreuz und quer durch die Dimensionen der interpretativen Vollständigkeit, der angemessenen Darstellung und der authentischen Adäquatheit bewegen. Ihr erstes Kriterium lautet »substanzieller Beitrag«: Leistet dieses Werk einen substanziellen Beitrag zu unserem Verständnis des sozialen Lebens? Ist das Werk in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive grundiert? Die zweite Frage gilt dem ästhetischen Wert, der »ästhetischen Leistung« des Werkes: Ist es ästhetisch gelungen, künstlerisch gestaltet, ist es befriedigend, komplex und nicht langweilig? (vgl. Richardson 2000b: 254). Richardsons drittes Kriterium ist die Reflexivität, wobei hier verschiedene separate Fragestellungen zusammenfallen: Sie fragt, ob der Autor mit der Epistemologie der Postmoderne vertraut ist. Sie möchte wissen, wie die im Text enthaltenen Informationen gesammelt wurden; gab es bei diesem Prozess ethisch Fragwürdiges? Sie fragt auch, ob die Subjektivität des Autors/der Autorin in den Text eingegangen ist; ist die Perspektive klar, eine angemessene Selbstbewusstheit erkennbar, auch eine angemessene Selbstoffenbarung? Legt der Autor seine Maßstäbe des Wissens und Erzählens offen (vgl. ebd.)?

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222 | Ethnographie, Kino und Interpretation Das vierte Kriterium betrifft die Wirkung des Werkes. Richardson fragt, wie das Werk auf sie wirkt – emotional, intellektuell, wissenschaftlich. Werden neue Fragestellungen aufgeworfen? Wird die Erprobung neuer Forschungspraktiken angeregt? Geht ein Handlungsimpuls von dem Werk aus? Fünftens schließlich möchte Richardson wissen, ob und wie das Werk eine Realität zum Ausdruck bringt: »Verkörpert dieser Text gelebte Erfahrungen eines Körpers aus Fleisch und Blut? Wirkt er ›wahrhaftig‹ – als glaubhafte Darstellung eines kulturellen, sozialen, individuellen oder gemeinschaftlichen Sinnes von ›Realität‹?« (Richardson 2000a: 937). Zusammengenommen bieten Ellis, Bochner and Richardson ein System von Interpretationskriterien, welches die literarische und ästhetische Qualität eines Werkes, aber auch dessen substanzielle Beiträge zu einem Wissensgebiet betont. Ethisch konzentrieren sich die Autor(inn)en auf die dialogische Beziehung zwischen Autor und Subjekt, wobei der Anspruch gilt, dass dies eine ehrliche und offene Beziehung sein muss. Jede(r) dieser Autor(inn)en will durch ein solches Werk emotional und intellektuell bewegt werden. Ebenso schätzen sie Reflexivität und Texte, die der Ermächtigung dienen. Aus der Lektüre von Ellis, Bochner und Richardson ergibt sich ein neues ästhetisches Kriterium, das man (mit Bachtin) als Dialoghaftigkeit (»Dialogizität«) bezeichnen könnte. In der Erwartung, von einem Text bewegt zu werden, fordern diese Autor(inn)en Texte, die sie in die Erfahrungswelt einer anderen Person hineinziehen. Durch Privilegierung der Leseerfahrung bringen sie in den Text des Autors neue Bedeutungen hinein. Wenn Schreiben eine Form der Untersuchung ist, dann erwarten diese Autor(inn)en Werke, die zur Selbstreflexion auffordern. Und sie wollen keinesfalls gelangweilt werden! (Vgl. ebd.: 923f.) Clough privilegiert Kulturkritik und theoretische Reflexion. Diese Impulse sind auch bei Ellis, Bochner und Richardson vorhanden, haben dort jedoch keine privilegierte Stellung. Anders als Clough hinterfragen Ellis, Bochner und Richardson das technische Substrat ihres Schreibens nicht. Stattdessen werden Richtlinien für ästhetisch gefällige, elegante und bewegende Autoethnographien zusammengestellt. Wir haben den Vorteil, auf diesen Arbeiten aufbauen zu können. Im Folgenden wende ich mich einer anderen Kriterienliste zu und stelle, auf Christians, Ellis, Bochner und Richardson aufbauend und mit dem Risiko, mir Cloughs und Bochners Unmut zuzuziehen, ein System performativer Übereinkünfte und Kriterien im siebten Moment vor.

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Performative Übereinkünfte im siebten Moment 10 Die Erzählungen und Aufführungen, um die es hier geht, sind nach einer gegen Hegemonie gerichteten subversiv-utopischen Antiästhetik organisiert (vgl. Foster 1983). Diese inszeniert eine feministisch-kommunitaristische Ethik, die auch den Geist von Cloughs Aufruf zur Kulturkritik und zur Abfassung kritischer Lesarten der Traumakultur verkörpert. Sie arbeitet vom inneren Zentrum einer kritischen Rassentheorie aus. Unter Rückgriff auf die literarisch-ästhetischen Richtlinien von Ellis, Bochner und Richardson sind sie, wie man zusammenfassend sagen kann, von folgenden Auffassungen geprägt: • •







Kein Thema ist tabu, auch nicht Sexualität, sexueller Missbrauch, Tod und Gewalt. Gesucht werden Texte, die insbesondere farbige Frauen und Kinder ansprechen – Personen, die unter Gewalt, Vergewaltigung, rassistisch und sexistisch motivierten Ungerechtigkeiten leiden. Ethik, Ästhetik, politische Praxis und Epistemologie werden zusammengeführt; jeder Akt der Darstellung, sei er künstlerisch oder wissenschaftlich, ist eine politische und ethische Stellungnahme. Eine Ethik der Fürsorge ist von entscheidender Bedeutung. Wahrheits- und Wissensansprüche werden nach vielfältigen Kriterien beurteilt. Dazu gehören die Fragen, ob ein Text: (a) die vorhandenen kulturellen, sexistischen und rassischen Stereotype infrage stellt, besonders jene, die mit Familie, Weiblichkeit, Männlichkeit, Ehe und Intimität verbunden sind; (b) der Erinnerung und ihren Verbindungen zur konkreten gelebten Erfahrung Priorität gibt; (c) dialogisch und einer Ethik der persönlichen Verantwortung verpflichtet ist; ob er Schönheit, Spiritualität und Nächstenliebe Wert beimisst; (d) eine emanzipatorische Agenda umsetzt, die sich für Gleichheit, Freiheit, und soziale Gerechtigkeit sowie für partizipatorische demokratische Praktiken engagiert; (e) Gemeinschaft, kollektive Aktion, Solidarität und Gruppenermächtigung betont. Vorausgesetzt wird ein Ethnograph, Aufführender und Sozialforscher, der/die Mitglied und Sprecher einer lokalen moralischen Gemeinschaft ist – einer Gemeinschaft mit eigenen Symbolen, Mythen und Traditionen des Geschichtenerzählens. 10 | Der folgende Abschnitt basiert auf Denzin 2002: 182f. (vgl. auch Den-

zin 2000).

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Gewünscht wird, dass der Autor/Künstler Anregungen aus umgangssprachlich-idiomatischen volks- und popularkulturellen Darstellungsformen aufgreift, darunter Sprichwörter, Arbeitslieder, Spirituals, Predigten, Gebete, Gedichte, Chorpoeme, Märchen, Blues, Jazz, Rap, Film, Malerei, Theater, Kino, Fotografie, Performance-Kunst, Wandmalereien und Corridos (vgl. Denzin 2002: 182). Gesucht werden Künstler/Forscher/Autoren, die Werke schaffen, welche die Probleme und Bedürfnisse der Gemeinschaft ansprechen und repräsentieren (Drogensucht, Teenager-Schwangerschaften, Mord, Bandenkriege, Aids, Schulabbrecher). Es muss klar sein, dass keine Einzeldarstellung und keine einzelnes Werk den kollektiven Bedürfnissen der Gemeinschaft Genüge tun kann; vielmehr sind lokale Gemeinschaften oft nach rassischen, ethnischen, Geschlechts-, Wohngegend-, Alters- und Klassen-Trennlinien unterteilt.

Gesucht werden also emanzipatorische, utopische Aufführungen – Texte, die in ausgeprägten Stilen, Rhythmen, Idiomen und persönlichen Identitäten der lokalen umgangssprachlichen Volkskultur gründen. Diese Aufführungen halten die Geschichte der Ungerechtigkeiten fest, unter denen die Mitglieder einer unterdrückten Gruppe zu leiden hatten. Sie zeigen, wie Mitglieder einer lokalen Gruppe darum gekämpft haben, in einer gewalttätigen, rassistischen und sexistischen Zivilgesellschaft Orte der Würde und des Respekts zu finden. Diese Aufführungen sind Schauplätze des Widerstands – Orte, an denen Bedeutungen, Politiken und Identitäten ausgehandelt werden. Sie stellen stereotype Formen kultureller Darstellungen infrage und transformieren sie – Stereotype wie: weiß, schwarz, Chicano, asiatisch, indianisch (Native American), homo- und heterosexuell (gay und straight).

Aufführungskriterien Von diesen normativen Übereinkünften ausgehend schätze ich besonders solche autoethnographischen Texte, die 1. 2. 3. 4.

für selbstverständlich erachtete repressive Bedeutungen verunsichern, kritisieren und infrage stellen; zum moralischen und ethischen Dialog einladen, während sie die eigene moralische Position reflexiv klarstellen; zum Widerstand anregen und utopische Gedanken vorstellen, wie die Dinge verändert werden könnten; eine fürsorgliche und freundliche Einstellung erkennen lassen;

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zeigen statt zu schildern und dabei beherzigen, dass weniger mehr ist; interpretative Vollständigkeit, darstellerische Angemessenheit und authentische Adäquatheit zeigen; politisch, funktional, kollektiv und engagiert sind.

Wenn ich frage, ob ein Aufführungsereignis all dies leistet, bin ich mir durchaus bewusst, dass jede Aufführung anders ist. Darüber hinaus können, aber müssen Zuschauer nicht unbedingt einer Meinung sein, was fürsorglich, freundlich oder reflexiv ist; und manchen Menschen liegt vielleicht auch nicht daran, dass Übereinkünfte, die sie für selbstverständlich halten, infrage gestellt werden. Ich wende mich nun einer kurzen Erörterung der Interpretationspolitik in der Aufführungsgemeinschaft zu, unter Einbeziehung der kritischen Rassentheorie.

Trauma, Rasse und die Politik der Interpretation Schreiben ist, wie uns Richardson (2001: 879) erinnert, keine unschuldige Praxis, obgleich es in den Geistes- und Sozialwissenschaften nur um Interpretationen geht. Gleichwohl erinnert uns Karl Marx in den »Feuerbach-Thesen« (Marx 1888/1969: 533) weiterhin daran, dass es nicht nur darauf ankommt, die Welt zu interpretieren, sondern »sie zu verändern«. Patricia Clough erwartet, dass Autoren die in der massenmedialen Traumakultur hochgespielten Traumata hinter sich lassen, dass ihre Werke mehr in die Tiefe gehen und sich der Kulturkritik und der Interpretationspolitik widmen. Das erfordert nicht zuletzt eine Rückkehr zur Rassenproblematik und zu einer kritischen Rassentheorie sowie zu einer Ästhetik für Farbige. In diesem Abschnitt pendle ich zwischen Variationen über eine Chicana/o-Ästhetik (vgl. González 1998, Pizarro 1998) und Variationen über eine schwarze bzw. afrikanisch-amerikanische Ästhetik (vgl. Davis 1998; hooks 1990 und 1998) hin und her; ein weiterer Gesichtspunkt ist die Beziehung zwischen diesen Praktiken und der kritischen Rassentheorie (vgl. Ladson-Billings 2000, Parker 1998). Speziell setze ich mich zu den radikalen Aufführungstexten aus dem Black Arts Movement der 1960er und 1970er Jahre in Beziehung (vgl. Baker 1997, Baraka 1997, Harris 1998). Untermauert werden diese Querverbindungen derzeit in verschiedenen Black-Cultural-Studies-Projekten der neuen schwarzen Intellektuellen und Kulturkritiker (Stuart Hall, Paul Gilroy, bell hooks, Henry Louis Gates, Cornel West, Ishmael Reed, Toni Morrison, Michele Wallace, Claude Steele). Eine gegenwärtige Generation von Blues-, Rap-, Hip

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226 | Ethnographie, Kino und Interpretation Hop- und Popsängern und -sängerinnen, von Jazzmusikern, Dichtern (Maya Angelou, Rita Dove, June Jordan, Etheridge Knight, Jayne Cortez), Romanautoren (Alice Walker, Toni Morrison, Toni Cade Bambara), Dramatikern (August Wilson, Ntozake Shange, Anna Deavere Smith) und Filmemachern (Spike Lee, John Singleton, Charles Burnett, Julie Dash) stellt diese Verbindungen ebenfalls her (vgl. Christian 1997: 2019f., Harris 1998: 1871f.).11

Eine feministische Ästhetik für Farbige Eine feministische aufführungsorientierte Ästhetik der Chicanas/os und der Schwarzen benutzt Kunst, Fotografie, Musik, Tanz, Dichtung, Malerei, Theater, Kino, Aufführungstexte, Autobiographie, Erzählung, das Geschichtenerzählen und die poetische oder dramatische Sprache, um ein kritisches Rassenbewusstsein zu wecken – wodurch die Chicana/oBewegung aus der Zeit nach der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre und das kulturelle Black Arts Movement der 1970er Jahre bis ins gegenwärtige Jahrhundert verlängert werden (vgl. Harrington 1999: 208). Diese Praktiken dienen der Umsetzung der kritischen Rassentheorie, die die nur »scheinbar rassenneutrale und farbenblinde Art und Weise zu entlarven sucht, […] wie in den USA rassisch begründete Einschätzungen […] des Rechts, der Verwaltungspolitik, der Wahlpolitik, […] des politischen Diskurses [und des Erziehungswesens] konstruiert und verwaltet werden« (Parker u.a. 1998: 5; vgl. auch Ladson-Billings 2000). Auf diese Weise wird die von Patricia Hill Collins (1991, 1998) für die 1990er Jahre aufgestellte afrozentrische feministische Agenda ins neue Jahrhundert fortgeschrieben – das heißt, Theoretiker und Praktiker inszenieren eine Standpunkt-Epistemologie, die die Welt aus der Perspektive unterdrückter Farbiger betrachtet. Zu dieser Ästhetik haben auch nachfolgende Wellen von Bewegungen der asiatisch- und indianischstämmigen Amerikaner, der Schwulen, Lesben und Bisexuellen beigetragen, die »ihre Kunst als Waffe im politischen Aktivismus nutzen« (Harris 1998: 1384; vgl. auch Nero 1998: 1973). Die Theoretiker greifen die Anti-Bürgerrechts-Agenda der Neuen Rechten auf und hinterfragen sie kritisch (vgl. Jordan 1998). Doch handelt es sich dabei nicht um eine Protest- oder Integrationsinitiative, die nur darauf abzielen würde, ein weißes Publikum über rassische Unge11 | Eine Parallelbewegung gibt es auch in der Welt des Kinos (dazu unten mehr), wo Chicana/o-Filmemacher und schwarze Filmemacher mit Mitteln wie Voice-over, Ich-Erzählung aus dem Off, Regietricks und Montage traditionelle Geschlechtsrollen und Bilder des rassischen Subjekts durcheinander bringen (vgl. den Überblick bei Denzin 2002: 183f.).

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 227 rechtigkeit aufzuklären. Eine so eng gefasste Agenda wird verworfen. Damit werden aber auch die klassischen eurozentrischen und post-positivistischen Maßstäbe für die Bewertung von literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeiten zurückgewiesen.

Ästhetik und filmische Praktiken Innerhalb der zeitgenössischen schwarzen und Chicana/o-Gemeinschaften gibt es ein spezifisches System von filmischen, narrativen und visuellen kulturellen Praktiken, die mit diesem ästhetischen Projekt in enger Verbindung stehen (einen Überblick gibt Denzin 2002: 183-186). Diese Praktiken beeinflussen und formen den narrativen und visuellen Inhalt dieser experimentellen Texte. Dazu gehören: •













Experimente mit narrativen Formen, Folk-Balladen und Corridos, die alte Diskurstraditionen der Amerikaner mexikanischer Abstammung (Chicanos) zur Geltung bringen (vgl. Fregosa 1993: 70-76, Noriega 1992: 152f.); die Verwendung von Improvisation, Regietricks und Montage, um die Leinwand mit multirassischen Bildern zu füllen und um bikulturelle visuelle und sprachliche Codes zu manipulieren; die Verwendung von persönlichen Zeugnissen, Lebensgeschichten, Voice-over und Erzählungen aus dem Off, um einem Text eine übergeordnete narrative Einheit zu geben (vgl. Noriega 1992: 156-159); eine Feier der Schlüsselelemente der Chicano-Kultur, insbesondere der Themen des Widerstands, des Beharrens, der Affirmation und des Neo-Indigenismus oder der mestizaje (vgl. ebd.: 150), wodurch Assimilations- und Schmelztiegel-Erzählungen infrage gestellt werden; die Produktion von Texten, die den Machismo, die betont männliche Identität, dekonstruieren, und die Feier von Werken, die der Chicana eine aktive Rolle im Text einräumen, während die Uraltstereotype der Jungfrau, der Hure, der fürsorglichen Ehefrau oder des häuslichen Mädchens kritisiert werden (vgl. Fregosa 1993: 29, 93f.); eine Zurückweisung von essentialistischen Identitätsauffassungen; eine Betonung der prozessualen, geschlechtsrollenspezifischen, performativen Sicht des Selbst, und die Lokalisierung der Identität innerhalb, nicht außerhalb des Systems der kulturellen und medialen Darstellung; eine Weigerung, die offizielle Erzählung der Kultur bezüglich der Rassenbeziehungen zu akzeptieren, welche die Ideologie der Assimilation privilegiert, während sie gleichzeitig behauptet, schwarze und hispanische Jugendliche stellten eine schlimme Bedrohung für die weiße Gesellschaft dar (vgl. ebd.: 29).

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228 | Ethnographie, Kino und Interpretation Diese künstlerischen Darstellungen basieren auf der Vorstellung eines radikalen, sich ständig verändernden Systems ästhetischer Praktiken. Dazu schreibt bell hooks: »Es kann niemals nur ein kritisches Paradigma für die Bewertung eine Kunstwerks geben. […] Eine radikale Ästhetik gibt zu, dass wir unsere Positionen und Standorte ständig wechseln, dass sich unsere Bedürfnisse und Sorgen wandeln und dass diese verschiedenen Richtungen mit den Verschiebungen im kritischen Denken korrespondieren müssen« (hooks 1990: 111). Auf dieser Ebene gibt es keine bevorzugte Ästhetik. Realistische Kunst ist zum Beispiel nicht unbedingt besser als abstrakte, expressionistische oder impressionistische Kunst. In der Welt des Jazz sind Ragtime, New Orleans oder der klassische Swing nicht unbedingt politisch korrekter, unkorrekter oder ästhetisch besser als Bebop, Cool Jazz, Hard Bop, Latin, Avantgarde oder Fusion. Auch ist Charlie Parker nicht weniger politisch korrekt als Lester Young oder Ben Webster, Ella Fitzgerald, Nina Simone, Nancy Wilson, Billie Holiday, Bessie Smith, John Coltrane oder Miles Davis. June Jordan indes sieht dies vielleicht anders. In ihrem Jazz-Prosagedicht »A Good News’ Blues« (Jordan 1998: 199f.) erweist sie Billie Holiday, Louis Armstrong, Nina Simone und Bessie Smith und allen Bluessängern und -sängerinnen die Ehre. Die folgenden Zeilen gelten Billie Holiday: Seit der Blues aus meinem Himmel verschwunden ist, Renne ich montags raus, Auf der Jagd nach all meinen Sonntagen… Ich stemme Hanteln und trage Sweatshirts… Und erschauere die ganz Nacht hindurch… Und wenn ich all diese bescheuerte Opfer-passiv-weibliche Traditionelle Propaganda Neu schreiben will, Die da draußen auf dich einströmt…

Jeder Text und jede Aufführung sollte nach der kollektiven und individuellen Reflexion und nach den kritischen Aktionen bewertet werden, die er/sie nach sich zieht, wozu auch Gespräche über die Schranken von Rasse, Klasse, Geschlecht und Nation hinweg gehören. Wir fragen, wie ein jeder Aufführungstext die Entwicklung menschlicher Handlungsfähigkeit, »den Widerstand […] und das kritische Bewusstsein« fördert (hooks 1990: 111). Diese Ästhetik sucht und schätzt auch Schönheit und hält Ausschau

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 229 danach im Alltag, besonders »im Leben der Armen« (ebd.). Die folgende Schilderung illustriert, wie sich bell hooks an die Häuser ihrer Kindheit erinnert, besonders an das Haus ihrer Großmutter Baba. Im Rückblick auf ihre Kindheit stellt sie fest, dass sie jetzt sehen kann, wie diese schwarze Frau stets darum gekämpft hat, trotz Armut und aller Härten des Lebens eine Gegenwelt des Schönen zu schaffen. Baba hatte ein sauberes Haus voll kostbarer Gegenstände. Sie nähte auch Quilts und machte so aus aufgetragener Kleidung wunderschöne Kunstwerke. In allen Räumen ihres Häuschens lagen oder hingen Quilts. Spätabends saß hooks oft allein in einem Zimmer im Dachgeschoss ihrer Großmutter. In der Stille der Nacht, im Widerschein des Mondlichts gewann sie dort eine neue Sicht von Dunkelheit und Schönheit. Jetzt, in einer anderen Zeit, denken ihre Schwestern und sie spätabends »über unsere Hautfarbe nach und sehen sie als ein dunkles Zimmer, einen Ort der Schatten. Wir sprechen oft über die Farbigen-Politik und darüber, wie der Rassismus eine Ästhetik geschaffen hat, die uns verletzt; wir sprechen über die Notwendigkeit, die Dunkelheit anders zu sehen. […] In diesem Schattenraum sehnen wir uns nach einer schwarzen Ästhetik – fremdartig und oppositionell« (ebd.: 113). Ästhetik, Kunst, Aufführung, Geschichte, Kultur und Politik sind hier ineinander verwoben, denn in der künstlerischen interpretierenden Inszenierung werden kulturelle Helden und Heldinnen, mythische Vergangenheiten und ein Gefühl für die moralische Gemeinschaft geschaffen. Es bleibt uns noch, die Zukunft zu entwerfen, an die Anfänge zurückzukehren und uns neue Wege vorzustellen, wie die Aufführungsethnographie die Agenda der radikaldemokratischen Praxis vorantreiben kann – und zu fragen, wohin uns diese Praktiken als Nächstes führen werden.

Ausblick in die Zukunft Ein neues post-interpretatives, nicht mehr auf Fundierung fixiertes Paradigma ist im Entstehen begriffen. Dieses Gefüge verbindet sich mit neuen, weniger gewissen Interpretationskriterien. Ein expansiveres, von einer Ästhetik der Farbigen wie von den Prinzipien der kritischen Rassentheorie geprägtes Gefüge bildet den Rahmen für diese Kriterien. Die Epistemologien und Ästhetiken der Farbigen werden sich weiter ausbreiten und dabei auf afrozentrischen, Chicana/o-, indianischen, asiatischen und Dritte-Welt-Perspektiven aufbauen. Man wird auch ausgeklügeltere Epistemologien nach Geschlechts- und Klassenzugehörigkeit vortragen, darunter homosexuelle Entwürfe und Feminismen, die nach

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230 | Ethnographie, Kino und Interpretation Hautfarbe differenzieren. Diese Deutungsgemeinschaften und ihre Gelehrten werden als Grundlage für die verfassten Texte auf ihre Gruppenerfahrungen rekurrieren, und sie werden nach Texten streben, die auf die Logik und die Kulturen dieser Gemeinschaften eingehen. Dabei werden sie sie sich gegen jene Darstellungen richten, die zuvor schon da waren (vgl. Cook-Lynn 1996: 37f., 71). Sie werden sich dafür engagieren, die politischen, ökonomischen, kulturellen und bildungsmäßigen Praktiken der kritischen Rassentheorie vorzutragen und zu fördern. Diese Praktiken werden in die Alltagswelt und in die Welten der Unterdrückung eingebettet sein. Neue Formen der kritischen Pädagogik werden sich in diesem Zusammenhang nicht auf Argumente oder Erklärungen reduzieren lassen, die »an die westliche Tradition gebunden sind« (Bishop 1998: 209). Diese neue Gelehrtengeneration wird sich dafür einsetzen, dass die Welt nicht nur beschrieben, sondern auch verändert wird. Ihre Texte werden aufführungsorientiert sein. Sie werden sich dafür engagieren, zivilgesellschaftliche Veränderungen zu schaffen, und dabei minimalistische Sozialtheorien verwenden. Sie werden utopische Träume aufschreiben und aufführen – Träume, die von der kritischen Rassentheorie geprägt sind, Träume von einer Welt, in der alle Menschen frei sind, zu sein, was sie sein wollen, frei von geschlechtsspezifischen, klassengebundenen, rassischen, religiösen oder ethnischen Vorurteilen und Diskriminierungen. Der nächste Moment in der Geschichte qualitativer Untersuchungen wird einer sein, in dem die Praktiken der performativen Ethnographie sich schließlich ohne Zögern und ohne Behinderungen aus dem persönlichen in den öffentlichen Raum bewegen werden. Letztendlich strebe ich – dies meine Zusammenfassung – nach einer existenziellen interpretativen Sozialwissenschaft, die Blaupausen für die Kulturkritik bietet. Diese Kritik aber gründet in den spezifischen Welten, die im Schreibprozess sichtbar gemacht werden. Sie versteht, dass alle Ethnographie theorie- und werthaltig ist. Es kann keine objektive Darstellung von Kultur und Kulturellem geben. An die afrikanisch-amerikanischen Kulturkritiker aus der Mitte des 20. Jahrhunderts (W.E.B. DuBois, Zora Neale Hurston, Ralph Ellison, Richard Wright, James Baldwin und Chester Himes) anknüpfend wissen wir heute, dass das Ethnographische, das Ästhetische und das Politische niemals säuberlich voneinander getrennt werden können. Wie die Kunst ist auch die Ethnographie immer politisch. Demzufolge ist nach Nick Aaron Ford (1998 [1950]) eine kritische zivile literarische Ethnographie auch eine Ethnographie, die zeigen muss, dass sie das literarische Handwerk, die Kunst des Schreibens, beherrscht. Diese Ethnographie sollte aus gut aufgebauten, faszinierenden, aber minimalistischen Erzählungen bestehen, die auf realistischen, na-

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Lesen und Schreiben als performativer Akt | 231 türlich wirkenden Gesprächen basieren, wobei der Focus auf denkwürdigen, erkennbaren Charakteren liegt. Diese Charaktere werden in gut geschilderten »unvergesslichen Szenen« (Ford 1998: 1112) gezeigt. Solche Arbeiten sollten klar identifizierbare kulturelle und politische Themen präsentieren, darunter auch die Ungerechtigkeiten, die auf den Strukturen und Bedeutungen von Rasse, Klasse, Geschlechtsrollen und sexuellen Orientierungen beruhen. Solche Arbeiten sollten eine Politik der Hoffnung artikulieren. Sie sollten kritisieren, wie die Dinge sind, und sich vorstellen, wie sie anders sein könnten. Sie sollten das geschlechtlich gefasste, geheiligte Ich in seinen ethischen Beziehungen zur Natur lokalisieren und darstellen. Und sie werden all dies durch direkte wie indirekte symbolische und rhetorische Mittel zu erreichen suchen. Autoren und Autorinnen, die so vorgehen, werden in die Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten ihrer Zeit vollständig vertieft sein. Sie richten ihre ethnographischen Energien auf höhere, utopische und moralisch geheiligte Ziele. Die Wahrheit dieser neuen Texte lässt sich nur pragmatisch bestimmen – durch den kritisch-moralischen Diskurs, den sie produzieren, durch das »Einfühlungsvermögen, das sie schaffen, den Erfahrungsaustausch, den sie ermöglichen, und die sozialen Bindungen, die sie vermitteln« (Jackson 1998: 180). Die Macht dieser Text entscheidet sich nicht in der Frage, ob sie »die Welt widerspiegeln, wie sie ›wirklich‹ ist« (ebd.). Die Welt ist stets schon durch unsere performativen Leistungen konstruiert. Richard Rorty (1979) ist in diesem Punkt kompromisslos: Die Natur hat keinen Spiegel. So müssen wir also alle lernen, wie man eine ermächtigende performative Ethnographie in Szene setzen kann – eine Ethnographie, die nach höheren Zielen strebt. Wir können uns kaum etwas Anderes leisten. Wir stehen an einem kritischen Scheideweg in der Geschichte unserer Disziplinen – und der [amerikanischen] Nation. Cornel West erinnert uns daran, dass wir »einfach nicht ins 21. Jahrhundert kommen, wenn wir uns nur gegenseitig an die Gurgel gehen« (West 1994: 159). Doch wir müssen mit West (ebd.) auch fragen: »Haben wir die Intelligenz, den Humor, die Vorstellungskraft, den Mut, die Toleranz, die Liebe, den Respekt und den Willen, uns dieser Herausforderung zu stellen?«

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 239

Rassendarstellungen auf der Leinwand 1

»Gegenwärtig findet in Amerika ein Krieg statt. Vergessen Sie Gewehre, Flugzeuge und Bomben; von jetzt an werden die Waffen Zeitungen, Magazine, Fernsehshows, Radio und FILM heißen. Die Rechte ist FRECH geworden. […] Jedes Kunstwerk, das die Parteilinie verlässt, wird angegriffen. Das ist Krieg auf dem Schlachtfeld der Kultur.« Spike Lee 1992 »Eine an den Rand gedrängte Gruppe muss vor den verführerischen Kräften des Realismus auf der Hut sein, damit sie nicht zugleich auch alles akzeptiert, was eine realistische Darstellung impliziert.« Wahneema H. Lubiano 1997 »Ästhetik ist also mehr als eine Philosophie oder eine Theorie von Kunst und Schönheit; sie ist eine Art und Weise, einen Raum zu bewohnen, […] eine Weise des Sehens und Werdens. […] Mich fasziniert eine rassisch begründete Ästhetik, die versucht, die Verbindungen zwischen Kunst und revolutionärer Politik aufzudecken und wiederherzustellen.« bell hooks 1990

1 | Der vorliegende Beitrag, als »Screening Race« in Cultural Studies Critical Methodologies 3:1 (2003), S. 22-43, veröffentlicht, arbeitet Argumente aus dem 8. Kapitel von Denzin 2002 weiter aus.

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240 | Ethnographie, Kino und Interpretation

Zusammenfassung Dieser Artikel bietet eine kritische Lektüre der »Hood«-Filme2 der letzten zehn Jahre. Der Verfasser diskutiert die Möglichkeiten eines kritischen ethnischen Kinos – eines Kinos, das rassische und kulturelle Unterschiede anerkennt. Ein solches Kino operiert als politische und pädagogische Kraft in den Kulturkriegen, die im heutigen Amerika das Rassenthema mit Beschlag belegen. Schlüsselwörter: Rassische Gewalt, Filmästhetik, Realismus, Populärkultur

Der vorliegende Beitrag, der sich gleichzeitig in verschiedene Richtungen bewegt, wird von einem einzigen Problem bestimmt. Ich versuche, Hollywood-Filme zu verstehen, in denen es um rassische Gewalt geht – ein Filmgenre mit mehr als zwanzig Filmen zwischen 1987 und 1998. Produziert wurden diese von Mainstream-Angloamerikanern, Amerikanern afrikanischer Herkunft und Latino/Latina-Filmemachern, und in ihnen ist rassische Gewalt im öffentlichen Raum der Schwarzen und der Chicanos lokalisiert – im Hyperghetto, in der postindustriellen Zivilisationswüste Amerikas.3 Spike Lee hat Recht. Auf einer bestimmten Ebene spielte sich Amerikas Rassenkrieg tatsächlich in den durch diese Filme geschaffenen Räumen und Schlachtfeldern ab. Es war und blieb

2 | »Hood« ist die verschliffene Form des englischen neighborhood, »Viertel«. Die deutsche Fassung von Boyz N the Hood (1991, Regie: John Singleton) wird z.B. unter dem Titel Jungs im Viertel vertrieben. (A.d.Ü.)

3 | Zu diesem Genre gehören Lethal Weapon I, II, III, IV (1987, 1989, 1992, 1998; dt. Zwei stahlharte Profis; Brennpunkt L.A.; Brennpunkt L.A – Die Profis sind zurück; Zwei Profis räumen auf), Colors (1988; dt. Farben der Gewalt), Do the Right Thing (1989), Grand Canyon (1991; dt. Grand Canyon – Im Herzen der Stadt), New Jack City (1991), Boyz N the Hood (1991; dt. Jungs im Viertel), A Rage in Harlem (1991, dt. Harlem Action), Straight out of Brooklyn (1991), Juice (1992; dt. Juice – City-War), Deep Cover (1992, dt. Jenseits der weißen Linie), Passion Fish (1992), White Men Can’t Jump (1992, dt. Weiße Jungs bringen’s nicht), Menace II Society (1993), Just Another Girl on the IRT (1993, dt. Brooklyn Girl), Die Hard with a Vengeance (1995; dt. Stirb langsam), Dangerous Minds (1995; dt. Wilde Gedanken), Clockers (1995), Zoot Suit (1981), American Me (1992; dt. Gesetz der Gewalt), Bound by Honor (Blood In, Blood Out) (1993; dt. Verschworen auf Leben und Tod), My Family/Mi Familia (1995; dt. Meine Familie), My Crazy Life/Mi Vida Loca (1995) und Set It Off (1996). [Wenn kein eigener deutscher Titel angegeben ist, entspricht der deutsche Verleihtitel dem englischen Originaltitel. Alle genannten Filme waren auch in Deutschland zu sehen. (A.d.Ü.)]

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 241 ein Krieg, der auf dem Schlachtfeld der kulturellen Repräsentation ausgefochten wurde. Die Kokain-Kriege gegen Crack-Drogen, der offizielle »Krieg gegen die Drogen« und die Reagan-Kampagne »Sag einfach nein zu Drogen« fielen mit dem Erscheinen einer neuen Kampfzone in der populären Vorstellungswelt der amerikanischen Nation zusammen: »schwarzen« oder »braunen«4 Problemvierteln in den Großstädten (»Hoods«). In diesen Kampfgebieten lieferten sich dunkelhäutige Jugendbanden als neue Form des Zeitvertreibs Schießereien aus vorbeifahrenden Autos. Rap-Musik und Hip-Hop-Kultur wurden zu Kennzeichen einer neuen gewalttätigen Rassenordnung. Und so wurde in den Köpfen vieler RapMusik gleichbedeutend mit rassischer Gewalt. Diese Gewalt breitete sich überall aus, wurde zur Bedrohung für das weiße Amerika. Joel Schumachers Film Falling Down (1992; dt. Falling Down – Ein ganz normaler Tag) mit Michael Douglas in der Hauptrolle sprach vielen männlichen weißen Amerikanern aus der Seele. Sie wollten diese Gewalt nicht als etwas akzeptieren, das vom Himmel fiel; sie wollten zurückschlagen. Die Hood-Filme stellten nur eine weitere Version dieser Schlacht dar; sie zeigten nur eine andere Form des Zurückschlagens. Diese Filme kodifizierten eine spezielle Version der gewaltbereiten, geschlechtsspezifischen rassischen Ordnung in der Welt des Kinos. Dieses Kino der rassischen Gewalt wurde nicht zuletzt auch durch eine Darstellungspolitik geformt, die dem Weiß-Sein und einem neuen konservativen kulturellen Rassismus großen Wert beimaß (vgl. Pinar 2001: 18). Im vorliegenden Beitrag biete ich einige vorläufige Beobachtungen zu den Möglichkeiten eines kritischen ethnischen Kinos – eines Kinos, das rassische und kulturelle Unterschiede anerkennt. Nach einer kurzen Nebenbemerkung über die Hood-Filme wende ich mich den ästhetischen Argumenten des Black Arts Movement der 1960er und 1970er Jahre zu, bevor ich als Nächstes das didaktische, realistische Kino der neuen schwarzen Ästhetik untersuche. Ich vergleiche und kontrastiere diese beiden Ästhetiken, weil ich versuchen will, eine antihegemoniale Kinoästhetik für das 21. Jahrhundert zu entwickeln. Ich schreibe vor dem Hintergrund des Black Arts Movement der 1960er und 1970er Jahre und möchte dessen Traum wiederbeleben.5 Abschließend folgen

4 | Gemeint sind die spanischsprachigen Amerikaner mexikanischer Abstammung, »Chicanas/os« oder »Latinas/os« genannt, darunter ein sehr großer Prozentsatz illegaler Einwanderer. (A.d.Ü.)

5 | Dass sich gegen dieses Movement auch Kritisches sagen lässt und dass Kritik dagegen vorgebracht wurde, ist mir durchaus bewusst (vgl. Houston Bakers Überblick in Baker 1997).

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242 | Ethnographie, Kino und Interpretation einige Anmerkungen zur kritischen Rassentheorie, zu einer neuen Ästhetik der Farbigen und zu einem radikalen Kino der rassischen Differenz.

Rassen im Problemviertel Die Hood-Filme des letzten Jahrzehnts wählten für ihre Darstellung der Rassenbeziehungen zwei Formen: einerseits Action-Comedy-Serien mit einem über die Rassengrenzen hinweg befreundeten Polizistenpaar (wie in Lethal Weapon – Zwei stahlharte Profis und Die Hard – Stirb Langsam; vgl. die Liste in Anmerkung 3) und andererseits soziale Problemfilme, die mit didaktischem Sozialrealismus eine Botschaft verkündeten. Es handelte sich um utopische, durch eine Dialektik von Angst und Hoffnung geprägte Erzählungen. Es gab zwar auch Filme mit weiblichen Helden, in denen es um Frauenschicksale ging, doch hauptsächlich behandelten diese Filmgeschichten rein männliche Gruppen von Heranwachsenden und deren Gewalt auf der Straße und im Gefängnis. Vermittelt wurde eine uniforme konservativ-moralische Botschaft: Junge Männer brauchen starke Vorbilder. Sie müssen die Älteren respektieren, zur Schule gehen, eine gute Schulbildung erwerben und dann zu verantwortungsbewussten Mitgliedern der schwarzen oder braunen Mittelschicht werden. Die Rassismus-, Ermächtigungs- und Befreiungstheorien der kritischen Rassentheorie, des Marxismus, Feminismus oder Postkolonialismus kommen in diesen Filmen praktisch nicht vor. Stattdessen werden neonationalistische, essentialistische, homophobe Macho-Geschlechtsrollen und Identitätspolitiken artikuliert. (All diese Tendenzen finden sich in Spike Lees Filmen auf engem Raum vereint.) Die Neue Rechte warf den farbigen Ghettobewohnern die dort konzentrierten Problemlagen persönlich vor. Die Repressionsbemühungen der Rechten waren in den Feldzügen gegen Crack und Kokain verankert, die sich von der Mitte der 1980er bis zur Mitte der 1990er Jahre erstreckten (vgl. Reeves/Campbell 1994, Reinarman/Levine 1997). Die HoodFilme erzählen von diesen Drogenkriegen, die mit verstärkter Polizeiüberwachung der Ghettos verbunden waren. Der neue Polizeistaat trug zu einem Gefühl bei, dass das Ghetto abermals zu einer gewalttätigen Nation geworden sei – oder auch zu einer zerfallenden internen Kolonie innerhalb der amerikanischen Riesenstädte Los Angeles und New York. Schwarze, braune und italienische Mafias übernehmen die Kontrolle über eine Drogenwirtschaft im Untergrund. Rassische Gangs auf der Straße und im Gefängnis rekrutierten für dieses Projekt farbige Jugendliche. Schon bald kam es zwischen jungen Männern zu Schießereien aus fahrenden Autos und zu Bandenkriegen. Die Polizei sorgte jedoch dafür,

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 243 dass das weiße Amerika von den irrwitzigen Gewaltausbrüchen in den Ghettos unbehelligt blieb. Diese Rassengeschichten sind weder progressive noch subversive Filme. In der Tat sorgten sie für tiefe Spaltungen zwischen den Generationen, Geschlechtern und Klassen in den schwarzen und braunen Mittelschichten. Frauen nannten diese Filme frauenfeindlich. Die schwarzen und braunen Bürger protestierten gegen die Gewehre, Drogen und Bandenkriege. Schwarze Aktivisten aus den 1960er Jahren verkündeten, diese Filme seien reaktionär (vgl. Baraka 1993: 153). Als Filme über Rassen und Rassismus greifen diese Darstellungen leider nicht die grundlegenden Ideologien und materiellen Bedingungen an, die im heutigen Amerika rassische Unterdrückung fortbestehen lassen. Das gilt sogar für die Filme, die von schwarzen und Chicano-Filmemachern stammen. Diese scheinen weder willens noch in der Lage zu sein, jene Ideologie anzugreifen, in der sie selbst und ihre Filme so fest verankert sind. Sie brechen die Fassade dieses umfassenderen rassistischen Apparates nicht auf. Es ist, als wären auch sie in ebenjener Falle der Gewalt gefangen, die sie eigentlich kritisieren wollen. Deshalb handelt es sich hier nicht um politisch subversive Texte (vgl. Comolli/Narboni 1971: 27, Denzin 1995: 192). Diese Filmemacher und ihre Werke treiben die Anliegen der älteren Bewegungen der Schwarzen (Black Arts Movement) und Chicanas/os nicht voran.

Das Black Arts Movement Die Teilnehmer am Black Arts Movement der 1970er Jahre führten einen Kulturkrieg gegen die jahrhundertealte Rassentrennung in den Vereinigten Staaten (vgl. W.J. Harris 1998: 1344). Entfacht wurden diese Kämpfe durch die Bürgerrechtsbewegung, die Frauenbewegung, die Chicano-Bewegung und die Antikriegsbewegung. Das Black Arts Movement machte Anleihen bei Texten und politischen Figuren, die für die nationalen Befreiungskämpfe in Afrika, Asien und Lateinamerika von zentraler Bedeutung waren, darunter der Maoismus in Asien, Fidel Castro in Kuba, Che Guevara in Lateinamerika und die Fanon-Anhänger in Afrika und Algerien (vgl. W.J. Harris 1998: 1344, Masilela 1993: 107f., Noriega 1992: 141, Diawara 1993: 3-11). Farbige Künstler, Dichter, Gelehrte, Dramatiker, Filmemacher, Musiker und Schauspieler, darunter Angela Davis, Jayne Cortez, Sonia Sanchez, Etheridge Knight, Lucille Clifton, Haki Madhubuti (Don L. Lee), Ishmael Reed, Amiri Baraka (LeRoi Jones), Henry Dumas, Daniel und Luis Valdez, Gregory Naven und Edward James Olmos, riefen zu einer radikalen Neuordnung der westlichen kulturellen Ästhetik auf.

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244 | Ethnographie, Kino und Interpretation Sie verwarfen das weiße eurozentrische Modell der Aufklärung, dem zufolge politisierte Kunst Propaganda war, und suchten nach einer Kunst, die ihren eigenen kulturellen Erfahrungen auf einzigartige Weise entsprach. Addison Gayle verkündete 1971, dass »nur wenige den Gedanken ablehnen würden, dass einzigartige Erfahrungen einzigartige kulturelle Artefakte hervorbringen und dass Kunst ein Produkt solcher kulturellen Erfahrungen ist« (Gayle 1997: 1876). Man bemühte sich ganz bewusst, »eine unzerbrechliche Verbindung zwischen künstlerischer Produktion und revolutionärer Politik zu schmieden« (hooks 1990: 106). Auf ähnliche Weise arbeiteten die Künstler innerhalb des Black Arts Movement an ihrer Version einer künstlerischen und politischen Ästhetik, welche die Sache einer radikalen separatistischen schwarzen Politik voranbringen sollte (vgl. Fuller 1997 [1968], Gayle 1997 [1971], Neal 1989). Diese Künstler strebten nach Ermächtigung durch die Kunst. Sie schrieben die Geschichte neu, um Platz für die Black-Power- (und Chicano-)Bewegung, für die schwarze Kirche, für Verbindungen zu Folklore und mündlicher Tradition sowie für die afrikanische und lateinamerikanische Diaspora zu schaffen. Sie verwandten verschiedene Formen des Realismus, um Geschichten und Bilder von unter Druck stehenden schwarzen und braunen Gemeinschaften zu präsentieren. In den Soundtracks hallten die Themen der Bürgerrechtsbewegung wider. Das ursprüngliche Black Arts Movement verschmähte Protestkunst, weil eine solche Kunst argumentativ darauf baue, an die Moral der Weißen und an deren eurozentrische künstlerische Ästhetik zu appellieren. Etheridge Knight etwa (zitiert bei Neal 1998 [1968]: 1450) definierte eine solche »Protestkunst«, indem er behauptete, dass, wer als Schwarze(r)6 die Techniken seiner [oder ihrer] speziellen Kunstform beherrscht, einer weißen Ästhetik anhängt und sein [oder ihr] Werk an ein weißes Publikum richtet, in gewisser Weise protestiert. Im Akt des Protestes ist der Glaube impliziert, dass es schon zu einer Veränderung kommen werde, sobald den Herren [masters] das »Anliegen« [»grievance«] der Protestierenden bewusst geworden sei (schon allein dieses Wort erinnert ans Bittstellen und an die unterwürfige Geste vor Göttern). Erst wenn dieser Glaube verblasst ist und solche »Proteste« aufhören, kann die schwarze Kunst beginnen. […] Wer als schwarzer Künstler keine »schwarze Ästhetik« etabliert, wird überhaupt keine Zukunft haben.

Daraus wird der Schluss abgeleitet, dass schwarze Künstler sich überhaupt nicht mehr an ein weißes Publikum richten sollten (vgl. Gayle 6 | Im Original spricht Knight (wie auch Neal) im Singular nur vom schwarzen »Mann« (»Black man«, nicht »Black person«). Die Texte des Black Arts Movement stammen erkennbar noch aus der Zeit vor der Frauenbewegung. (A.d.Ü.)

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 245 1997 [1971]: 1875). Die Notwendigkeit, eine einzigartige schwarze Ästhetik mit neuen Formen und neuen Werten zu erschaffen, wird überdeutlich herausgestellt. Gayle (ebd.) stellte diese Forderung in den Rahmen eines von W.E.B. DuBois geprägten Bildes vom Schleier, der den schwarzen Amerikanern die Klarsicht nehme. In einer oft zitierten Passage vom Anfang seines Hauptwerkes The Souls of Black Folk (1903/1989) hatte DuBois geschrieben: Der Neger […] ist in dieser amerikanischen Welt mit einem Schleier geboren und einem zweiten Gesicht begabt – in einer Welt, die ihm kein wahres Selbstbewusstsein gestattet, sondern ihn nur durch Enthüllung der anderen Welt sich selbst sehen lässt. Es ist eine seltsame Empfindung, dieses Doppelbewusstsein, dieses Gefühl, sich selbst stets durch die Augen anderer zu sehen oder seine Seele am Maßstab einer Welt zu messen, die mit amüsierter Verachtung und Mitleid zuschaut. Ständig hat man dieses Gefühl seiner Doppelnatur – als Amerikaner und Neger; als zwei Seelen, zwei Gedanken […]; als zwei einander bekämpfende Ideale in nur einem dunklen Körper.

Eine schwarze Ästhetik müsse und werde, so Addison Gayle, diesen Schleier durchtrennen und den Schwarzen einen neuen Spiegel geben, in dem sie sich erkennen könnten – einen Spiegel, der nicht mehr hinter einem weißen Schleier hänge. Dieser Spiegel werde zu und aus den Seelen der Schwarzen sprechen. Bei diesem Spiegel, dieser Ästhetik, handelt es sich um eine Darstellungsethik, welche die Wahrheit über die rassische Ungerechtigkeit, wie sie von den Unterdrückten in ihrem Leben erfahren wird, zum Ausdruck bringt. In dieser Welt werden Ethik, Epistemologie und Ästhetik »positiv interagieren und mit den Anforderungen einer spirituelleren Welt übereinstimmen« (Neal 1998 [1968]: 1451). Unmissverständlich formuliert Neal: »Das Black Arts Movement ist eine ethische Bewegung« (ebd.). Diese Ästhetik schafft neue Maßstäbe für Schönheit: Schwarz ist schön, »Black Is Beautiful«. Schwarze haben Stil und Flair; ihre Sprache zeigt eigene charakteristische Rhythmen. Diese Ästhetik weist weiße Schönheitsmaßstäbe zurück, auch solche, die mit weißer oder heller Haut und glattem Haar verbunden sind (vgl. Fuller 1997 [1968]: 1813). Gayle führt weiter aus: Die Frage für den schwarzen Kritiker lautet heute nicht, wie schön eine Melodie, ein Theaterstück, ein Gedicht oder ein Roman ist, sondern um wie viel schöner das Gedicht, die Melodie, das Theaterstück oder der Roman das Leben einer einzigen schwarzen [Person] gemacht hat. Wie weit ist das Werk damit gekommen, aus einem amerikanischen Neger einen afrikanisch-amerikanischen oder

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246 | Ethnographie, Kino und Interpretation schwarzen Mann zu machen? Diese schwarze Ästhetik, wie sie der Verfasser dieser Zeilen versteht, ist also ein Korrektiv – ein Mittel, das Schwarzen dabei helfen soll und kann, aus dem verschmutzten Mainstream des Amerikanismus zu entkommen (Gayle 1997 [1971]: 1876).

An gleicher Stelle vertrat Gayle die These, die Kunst der Schwarzen benötige neue Maßstäbe und Bewertungskriterien. Laut Maulana Karenga (1997 [1972]) gibt es drei Hauptkriterien für die Kunst der Schwarzen: Sie muss funktional, kollektiv und engagiert sein. Funktional würde diese Kunst »die Realität einer Revolution« unterstützen und »positiv darauf reagieren« (Karenga 1997: 1973). Es wäre keine Kunst um der Kunst willen, sondern eine Kunst für die Menschen in der schwarzen Gemeinschaft, eine Kunst für »Sammy, den Schuhputzer, T.C., den Lastwagenfahrer, und K.P., den widerwilligen Soldaten« (ebd.: 1974). Karenga verkündete klipp und klar: Wir brauchen keine Bilder mit Orangen in einer Schale oder Bäumen, die unschuldig irgendwo mitten in der Wüste stehen […] oder mit dicken weißen Frauen, die lüstern lächeln. […] Wenn wir Orangen oder Bäume malen müssen, dann sollen unsere Guerillakämpfer diese Orangen essen, um Kraft zu bekommen, und dann sollen sie diese Bäume als Deckung benutzen (ebd.; vgl. auch Gayle 1971: xxiii).

Kollektiv kommt schwarze Kunst aus dem Volk, und sie muss dem Volk auch zurückgegeben werden, »in einer Form, die schöner und bunter ist, als sie im realen Leben war. […] Kunst ist Alltagsleben, dem man mehr Form und Farbe verliehen hat« (Karenga 1997: 1974). Eine solche Kunst ist demokratisch. Sie feiert Vielfalt, persönliche und kollektive Freiheit. Sie spricht zu alltäglichen Menschen und deren Sorgen in der Welt. Sie ist nicht elitär. Nach Frantz Fanon, dem Vordenker der Entkolonialisierung, stellten sich Filmemacher und Künstler das Ghetto gern als eine rassische Kolonie im Landesinnern vor (vgl. Diawara 1993: 9, Fuller 1997 [1968]: 1813). Wie ein Krebsgeschwür war diese Kolonie tief im Bauch der größeren weißen rassistischen Gesellschaft verborgen. Die kurzlebige »Blaxploitation«-Filmbewegung7 der 1970er Jahre verkörperte viele dieser Werte (vgl. Diawara 1993: 9). Wie Manthia Diawara (ebd.) gezeigt hat, kann man in Melvin Van Peebles’ schwarzem Untergrund-Filmhelden Sweetback (1970/71) auch einen Helden der Entkolonisierung sehen. Sweetback ist die Summe aller schwarzen Outlaws vor ihm: Stagolee, der 7 | »Blaxploitation« ist aus »Black« und »exploitation« zusammengezogen, bedeutet also »Ausbeutung der Schwarzen«. (A.d.Ü.)

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 247 schwarze Taxifahrer, Zuhälter und Mörder aus dem gleichnamigen Blues-Song, Richard Wrights »Native Son« Bigger Thomas, die Kriminellen, die Chester Himes’ Krimis bevölkern, Ralph Ellisons »Unsichtbarer«, Malcolm X. – der Archetyp des Schwarzen auf der Flucht vor dem Gesetz. In den 1990er Jahren trat das Black Arts Movement mit einer neuen Generation von Filmemachern wieder hervor, nur dass es jetzt als »neuer schwarzer Realismus« oder »neue schwarze Ästhetik« firmierte (vgl. Boyd 1997: 25, Diawara 1993: 23, Massood 1996: 88). (Die im vorliegenden Beitrag besprochenen Filme verkörpern diese Ästhetik. Sie müssen für ein eigenes Kino rassischer Gewalt einstehen.)

Ein Kino rassischer Gewalt Als die Neue Rechte unter Ronald Reagan, George W. Bush und Newt Gingrich die aus der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre resultierenden ökonomischen, bildungsmäßigen und politischen Rechte und Ansprüche zurückschraubte, hatten diese Bemühungen für das Leben in den amerikanischen Innenstädten verheerende Folgen. Die Politiker der Neuen Rechten machten die Rassenproblematik auf neue Weise sichtbar. Es gelang ihnen jedoch, in ihrer Rhetorik Gewalt mit Rassenproblematik, schwarzen Jugendlichen, Straßenbanden, Autoschießereien, Rap-Musik und Hip-Hop-Kultur gleichzusetzen. Die Hood-Filme bildeten eine Art Reaktion auf die so genannte nationale moralische Krise. Es handelte sich also um ein historisches Projekt, mit dem diese Gruppe von Filmemachern auf ein spezielles Tableau ökonomischer, kultureller und politischer Bedingungen reagierte. Dabei entstand eine komplexe Darstellungspolitik. Die Filmemacher wurden für ihre Produktion von Filmen über die, wie sie sagten, in den Hoods tatsächlich herrschende Gewalt kritisiert. Regisseure von Edward James Olmos bis Spike Lee und John Singleton argumentierten dabei ebenso wie die Gebrüder Hughes, sie würden die Dinge nur so zeigen, wie sie seien; die von ihnen dargestellte Gewalt sei tatsächlich da – und zwar aufgrund der politischen Maßnahmen der Rechten. Es sei eine ausweglose Situation. Mit der ganzen Apparatur des Kinorealismus beseitigten diese Filme die Vorstellung von einem einheitlichen, essentiellen rassischen Subjekt. Gleichwohl schufen sie ihre eigene Vorstellung von einem rassischen Subjekt, dem jungen Mann schwarzer oder brauner Haufarbe, der in seinem Viertel mit der Waffe agiert. Diese auf sozialen Problemen basierenden Filme transportierten die Gewalt aus den Hoods direkt vor die Augen der Zuschauer. Diese didaktischen Texte riefen zur Beendigung

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248 | Ethnographie, Kino und Interpretation des Genozids in den Hoods auf. »No More Packing«8 sticht es einem von Spike Lees Plakatwand am Ende von Clockers (»Drogendealer«) in die Augen, »Keine (Drogen-)Päckchen mehr!«. Und die Gebrüder Hughes und Edward James Olmos bieten uns Nahaufnahmen von kleinen Kindern, die schon mit Pistolen hantieren. Die politischen Konsequenzen, die die Konservativen aus diesem neuen Kinorealismus zogen, wurden in Kalifornien nach den Rassenunruhen von 1992 in Los Angeles deutlich. Im landesweit ausgestrahlten Fernsehen sagte der damalige Gouverneur des Staates, Pete Wilson: Jeder in Amerika sollte sich den Film Boyz N the Hood ansehen. In diesem Film ist ein starker Vater von entscheidender Bedeutung für das Schicksal seines Sohnes im Teenageralter, […der] drauf und dran ist, loszustürmen […], um seinen besten Freund zu rächen, der gerade in einem sinnlosen Bandenkrieg abgeknallt wurde. […] Also, […] dieser Film sagt uns doch, dass man einen starken Vater braucht und dass Sozialhilfe kein angemessener Ersatz dafür ist (zitiert bei Reeves/Campbell 1994: 246f.).

Mimetischer Realismus Filmemacher, die sich der neuen schwarzen Ästhetik bedienten, brachten die »reale« Welt der Problemviertel direkt vor die Augen der Zuschauer. Dabei setzte dieser Realismus, wie Wahneema H. Lubiano (1997: 104) im Anschluss an Kobena Mercer (1988) gezeigt hat, vor allem auf die Wirkung von vier Filmtechniken: Transparenz, Unmittelbarkeit, Sachautorität und Authentizität. Die Hood-Filmemacher agierten, als wäre ihre Kamera lediglich ein neutrales Aufzeichnungsinstrument, und präsentierten die Hood, wie sie wirklich war, wobei sie die Wahrheit mittels der Bildersprache von Alltagsausschnitten (»Slice-of-life«-Technik) erzählten. Auf diese Weise beanspruchten die Filme eine in der Realität transparente, sichtbare Wahrheit für sich. Es handelte sich somit nicht um ein persönliches, sondern um ein objektives, mit Sachautorität sprechendes Kino. Die Filmemacher verwendeten dokumentarisch wirkenden Sequenzen (beispielsweise die Eingangsszene von Menace II So-

8 | Es handelt sich eigentlich um ein Reklameposter für losen Tabak, das aber in Spike Lees Film quasi leitmotivisch kommentierend eingesetzt wird. Zum ersten Mal erscheint es, als der Held Strike auf dem Weg zu einem Auftragsmord ist und sein Gewehr in Zeitungspapier eingewickelt (also »verpackt«) hat. In der Schlusssequenz, wird, als das Plakat wieder erscheint und der Held auf der Flucht im Zug nach Westen sitzt, auf die erste Szene und natürlich auch auf Strikes »Beruf« als kleiner Drogendealer angespielt. Vgl. Massood 2001. (A.d.Ü.)

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 249 ciety) und Aufnahmen von politischen Plakaten (in Boyz N the Hood), um ihren Texten historische Authentizität zu verleihen. Ihre unsichtbaren Kameras boten detailreiche Nahaufnahmen, die die ganze Leinwand füllten. Dies war ein durchgängig authentischer Realismus, aber nirgends so stark und eindringlich wie in den blutgetränkten Flecken, die nach den Autoschießereien überall auf den Bürgersteigen zu sehen waren. Der Einsatz von idiomatischer Sprache, RapMusik und Hip-Hop-Outfit verlieh dem visuellen Text und der gesprochenen Erzählung weitere Authentizität. So entstand eine noch bezwingendere Aura des Realismus (vgl. Dimitriadis 2001). Dieser auf sozialen Problemen basierende Kinorealismus verlangte, dass die Zuschauer mit Schrecken auf diese sinnlose jugendliche Massenmord-Gewalt reagierten. Die schwarzen Filmemacher der 1990er Jahre gingen, einem mimetischen Darstellungskonzept verpflichtet (vgl. Mercer 1988: 53), von der Annahme aus, dass da draußen eine objektive Realität anzutreffen sei, die tatsächlich existierte und die sich mit Kinomitteln einfangen ließ. Darum versuchten sie, die referentiellen rassischen Realitäten mit Hilfe einer Grammatik des visuellen oder mimetischen Realismus so genau wie möglich abzubilden. Paradoxerweise lehnten sie das MainstreamHollywood-Kino und dessen rassistische Kinoapparate ab, obgleich sie genau dieselben Codes, Methoden und Techniken, ja sogar dieselben konservativ-rassistischen Handlungsstrukturen wie der Hollywood-Mainstream verwendeten. Lubianos These lautet, ein in dieser Form unkritisch »als Darstellungsmodus für afrikanisch-amerikanische Kunst« verwendeter Realismus impliziere, »dass unser Leben sich durch die Darstellung von genug dokumentarischen Belegen oder durch das Beharren auf einer anderen Wahrheit einfangen« lasse (1997: 105). Wenn ein Graffiti in Do the Right Thing laute »Tawana hat die Wahrheit gesagt«, dann sei dies auch als Unterstreichung der Tatsache zu verstehen, dass Tawanas Geschichte real, tatsächlich und konkret sei und dass es sich um die Geschichte einer tatsächlich stattgefundenen Vergewaltigung handele (vgl. ebd.). Solche Wahrheitsbehauptungen sind in mehrerlei Hinsicht problematisch. Erstens ist zu fragen, welche Wahrheit hier am Werk ist. Muss Tawana wirklich die Wahrheit gesagt haben, bevor wir die höhere, allgemeinere Wahrheit akzeptieren können, dass afrikanisch-amerikanische Frauen von europäisch-amerikanischen Männern sexuell missbraucht werden? Wird diese »Wahrheit« mit der »Wahrheit« ihres Missbrauchs durch afrikanisch-amerikanische Männer verglichen? Oder mit dem, was andere afrikanisch-amerikanische Frauen sagen? Oder auch mit dem, was Alice Walker […] über afrikanisch-amerikanische Männer sagt? (Lubiano, ebd.).

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250 | Ethnographie, Kino und Interpretation Wenn diese Version des Kinorealismus ihre Wahrheitsansprüche geltend macht, liefert sie zugleich die Bedingungen für ihre eigene Dekonstruktion mit, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens liegt dem Anspruch, die Dinge so zu erzählen, wie sie sind, die Annahme zugrunde, dass dies tatsächlich möglich ist und dass es nur eine einzige Art gibt, dies zu leisten. Doch genau diese Annahmen treffen nicht zu, denn Konservative würden dieselbe Geschichte zum Beispiel ganz anders erzählen als radikale schwarze Feministinnen. Zweitens straft das Festhalten an den Regimen des weißen rassischen Realismus die Annahme nur einer Version des Wahren Lügen, wie auch die Annahme, dass es nur eine Version gebe, wie das Reale sichtbar gemacht werden kann. Die Apparate des Mainstream-Realismus führen zur Produktion von Filmen, die die Authentizität von modernen naturalistischen Ethnographien aufweisen. Diese Texte geben vor, die gelebte Realität zu präsentieren. Dabei setzen sie performativ spezielle, geschlechtsspezifische Versionen von Rasse um und verfestigen vertraute kulturelle Stereotype: Sie reproduzieren die Stereotype der Weißen über dunkelhäutige Personen. Diese Konstruktionen von »SchwarzSein« und »Chicana/o-Sein« werden Bestandteil des öffentlichen Diskurses und ebenfalls als real akzeptiert (vgl. Lubiano 1997: 107). Drittens schafft dieser realistische Apparat eine implizite Aufforderung an Mitglieder rassischer Minderheiten, diese Darstellungen zu korrigieren und dafür zu sorgen, dass öffentliche Stereotype und Missverständnisse mit der Wahrheit der realen Fakten in Einklang gebracht werden. Allerdings ist es riskant, solche Dinge korrigieren zu wollen, denn wessen Version wird mit welchen Methoden und mit welchen Darstellungen korrigiert? Wer meint, dass Dinge zurechtgerückt werden sollten, verleiht den vorhandenen Darstellungen von vornherein eine gewisse Autorität. Und wer dann auch noch genau dieselben Methoden verwendet, die rassistische Darstellungen überhaupt erst ermöglicht haben, der lässt sich in einen Kampf um die Frage verwickeln, welche Sicht denn nun tatsächlich wahrheitsgetreu, akkurat und korrekt ist. Laut Lubiano haben die der schwarzen Ästhetik verpflichteten Kritiker in der Phase nach der Harlem Renaissance »eine politische und intellektuelle Bewegung auf der offensiven Vertretung einer Gegenwahrheit gegen die Verzerrungen des kulturellen Rassismus aufgebaut« (ebd.: 106) – anders als die Vertreter der neuen schwarzen (Film-)Ästhetik. Viertens ist die Reproduktion der Klänge und Anblicke der idiomatischen Alltagskultur (vernacular) der Amerikaner afrikanischer (und lateinamerikanischer) Herkunft durchaus problematisch. Dabei läuft man nämlich Gefahr, »die Männlichkeits- und Heterosexualitätsfixierung der idiomatischen Alltagskultur zu wiederholen« (ebd.: 116). Darüber hinaus gibt es keine Garantie dafür, dass ein Text für den Kampf gegen Vorherr-

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 251 schaft tauglich ist, nur weil er Alltagskultur idiomatisch darstellt, romantisiert oder kritisiert (vgl. ebd.: 119 Anm. 19). Tatsächlich kann, fünftens, die Verwendung des Idiomatischen als Methode, Authentizität zu etablieren, eine problematische Version des Essentialismus reproduzieren – den Glauben, dass bestimmte Merkmale »inhärenter Bestandteil des zentralen Wesens einer Gruppe« seien (ebd.: 109). Diese Art Darstellung kann zu einer naiven und stereotypen Vorstellung eines einheitlichen rassischen Subjekts führen. In diesem Sinne haben dann hippe, coole männliche Schwarze mit swingendem Gang stets »eine Vorliebe für das Craps-Spiel9, für Alkohol, Drogenkonsum oder Drogenhandel, für die Vergewaltigung weißer Frauen oder dafür, sich wie im Urwald aufzuführen, […] oder für ein Leben von Sozialhilfe – die Liste ließe sich noch erheblich verlängern« (ebd.: 111). Die Beziehung zwischen Authentizität und Essentialismus muss immer problematisiert werden.10 Sechstens schließlich stellt der realistische Filmemacher, wenn er behauptet, er zeige die Dinge, wie sie sind, stets auch eine Gegenbehauptung auf: Die Realität ist so und nicht anders. Mit seinem Verschweigen alternativer Darstellungsmöglichkeiten behauptet der Film seine eigene hegemoniale Macht gegenüber der situationsgebundenen Version des Realen. So greifen zum Beispiel viele Hood-Filme das Thema Aids und die Tatsache auf, dass viele Schwarze daran sterben. Trotzdem nutzt kein einziger Hood-Filmemacher die Gelegenheit, schwule Schwarze und deren Gemeinschaft in einem positiven Licht zu zeigen. Auch werden von diesen Filmemachern die fürsorglichen Reaktionen der schwarzen Kirchen und der schwarzen Familien gegenüber Aids-Opfern verschwiegen. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass nur Homophobie unter Schwarzen dargestellt wird.

Realismus und der didaktische Protestfilm Diese Form des rassischen Realismus wurde von den schwarzen (und Chicano-)Filmemachern der 1990er Jahre mit didaktischen und moralischen Zielsetzungen verwendet. Singleton, Olmos, die Gebrüder Hughes 9 | Ein Wett- und Glücksspiel, das mit Würfeln und Einsätzen an einem Tisch gespielt wird, der einem Roulette-Tisch ähnelt. (A.d.Ü.)

10 | Im Anschluss an Spivak (1989) hat Stuart Hall (1996: 472) sich mit der Vorstellung eines strategischen Essentialismus auseinandergesetzt und darauf hingewiesen, dass in bestimmten historischen Momenten eine Form des strategischen Essentialismus erforderlich sein kann. Gleichwohl kann der strategische Essentialismus Differenzen auf problematische Weise essentialisieren, naturalisieren und enthistorisieren (vgl. Hall ebd. und Lott 1997: 93).

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252 | Ethnographie, Kino und Interpretation und Spike Lee sandten dem weißen wie dem schwarz- und braunhäutigen Amerika moralische Botschaften. Lee sagte, er wolle »Amerika zwingen, mit dem Problem des Rassismus zurande zu kommen« (zitiert bei Lubiano 1997: 101). Im Kontext der älteren schwarzen Ästhetik wären dies inakzeptable Protestfilme gewesen (vgl. Etheridge Knight, zitiert bei Neal 1998 [1968]: 1450), verwendeten sie doch narrative und filmische Techniken des Mainstream-Hollywood-Kinos. Sie protestierten gegen die Lebensbedingungen im Ghetto und sandten diese Botschaft in Richtung des weißen Amerikas. Sie sprachen im Sinne einer weißen und schwarzen bürgerlichen Moral. Es waren Weckrufe an die umfassendere Kultur, die Probleme der schwarzen und mexikanischstämmigen Minderheitengemeinschaft zu verstehen. Und in vielen Fällen wurden überdies Mitglieder der rassischen Gemeinschaft für diese Probleme verantwortlich gemacht. Die neuen Filmemacher versteiften sich auf eine Protestkunst, die von den Mitgliedern des älteren Black Arts Movement ausdrücklich zurückgewiesen worden war. Sie artikulierten eine durch die Formulierungen des ursprünglichen Black Arts Movement gefilterte weiße Ästhetik. Obgleich die Filme der 1970er Jahre versucht hatten, eine Gegenästhetik zu etablieren, verkörperten die Filme der 1990er Jahre eine sozialkritische weiße Ästhetik. In dieser Hinsicht erfüllten sie Knights Kriterien für inakzeptable Protestkunst. Als Protestkunst inszenierten diese Filme eine essentialisierende sozialkritische Ideologie (vgl. Mills 1963: 527), die besonderen Wert auf Identitätspolitik und die Werte von Haus und Gemeinschaft legte. Diese Filme konzentrierten sich ohne Rücksicht auf Rassenzugehörigkeit auf die demokratischen Werte der amerikanischen Gesamtgesellschaft, einschließlich der Erfolgsmythen sowie der Werte von Familie, Haus, romantischer Liebe, Bildung und Fleiß. Sie zentrierten ihre visuelle Bildlichkeit auf die Probleme von Desorganisation und Gemeinschaftszerfall – Probleme, die von pathologischen drogenabhängigen, schießwütigen, unangepassten Individuen hervorgerufen wurden: jungen männlichen Bandenmitgliedern schwarzer oder brauner Hautfarbe. Die Feststellung, dass Gewalt, Drogen oder Gangs in diesen Darstellungen nicht positiv gezeichnet werden, wäre noch eine Untertreibung. Diese Filme borgten sich das Format des viktorianischen Melodramas, dessen Erzählungen nach dem Prinzip von Gut und Böse aufgebaut sind. Helden und Heldinnen werden im Konflikt mit Gewalt und dem Bösen gezeigt. Sie überwinden oder entkommen diesen Übeln, Versuchungen, Hindernissen und Konflikten mit Hilfe des Zufalls oder der Familie, der/des Geliebten oder der Polizei. Wenn sie Glück haben, werden sie mit der Liebe eines guten Mannes oder einer guten Frau und mit einem sicheren Platz in der respektablen bürgerlichen Gesellschaft

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 253 belohnt (auch in einer bürgerlichen Gesellschaft schwarzer oder brauner Hautfarbe). In den Hood-Filmen fällt eine gesellschaftliche Lage (Gewalt, Gangs und Drogen im Problemviertel) mit einem persönlichen Problem (fehlende Väter), einem Charaktermangel (Gewaltneigung) und einer Gewalttat (Tötung eines anderen) zusammen. Diese Bedingungen fungieren ihrerseits als dramatische Mittel, die es den Filmemachern gestatten, eine Geschichte mit einer moralischen Botschaft zu erzählen. Diese enthält Kommentare über das Individuum, sein oder ihr Problem und über die größere Gesellschaft, die das Problem in ihrer Mitte beherbergt, schafft und darauf reagiert. Eine didaktische Haltung ist das Kennzeichen dieser Filme; sie versuchen, ein Publikum über ein Problem – Drogen, Gewalt und Banden im Viertel – sowie über dessen Lösung oder Unlösbarkeit zu informieren und zu belehren (vgl. Denzin 1991: 13, Roffman/Purdy 1981: viii). Diese didaktischen Texte sind tautologisch organisiert: Rassische Gewalt, Mord und Abwesenheit der Väter sind die zentralen sozialen Probleme in den Problemvierteln. Diese Probleme führen zu sozialer Desorganisation und pathologischem Verhalten. Pathologisch wird das Verhalten, weil die mit Familie, Fleiß und persönlichem Verantwortungsbewusstsein verbundenen Schlüsselwerte an Verbindlichkeit verlieren. Wegen dieses Werteverfalls und aufgrund pathologischer Verhaltensweisen wird das ganze Viertel zur pathologischen Gemeinschaft. Es erlebt seinen eigenen pathologischen Zustand durch typische Merkmale: Rap, Hip-Hop und Drogendealerkultur. Die pathologischen Mitglieder der Gemeinschaft sind unangepasst. Die Sozialisation dieser gewalttätigen, mit Drogen handelnden Jugendlichen ist im Rahmen der christlichen Werte der lokalen moralischen Gemeinschaft fehlgeschlagen. Die Antwort auf das Problem der sozialen Desorganisation ist somit klar, und in diesem Punkt schlagen sich die Hood-Filme als Protestkunst auf die Seite der weißen Gesellschaft: Die Polizei muss der Gemeinschaft helfen, sich der Drogen und der Drogendealer zu entledigen. Wenn die Ordnung wiederhergestellt werden soll, ist eine massivere Intervention des Staates in Gestalt der Polizei erforderlich. Die Väter müssen wieder zu ihren Kindern nach Hause kommen, und die Enkel müssen auf ihre Großeltern hören. In ihre Stellungnahmen gegen Gewalt bezogen diese Filme indes die übergeordneten politischen und ökonomischen Situationen nicht mit ein, die die so genannten Desorganisationen überhaupt erst hervorgebracht hatten. Dokumentarfilmsequenzen von den Rassenunruhen des Jahres 1965 in Los Angeles und Nahaufnahmen von Plakaten, auf denen Ronald Reagan lächelt, reichen als politische Bezüge einfach nicht aus. So gelang es den Hood-Filmen auch nicht, auf dieser Ebene ihre eigene

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254 | Ethnographie, Kino und Interpretation politische Agenda umzusetzen. Sie wiederholten nur die uralten Geschichten von sozialer Desorganisation und sozialen Problemen nach dem Motto: »Wir haben da ein Problem, kommt und helft uns« (vgl. Mills 1963: 542). Damit allerdings bestätigten sie die Prophezeiung der älteren Black-Arts-Advokaten, Protestkunst im rassischen Bereich sei zum Scheitern verurteilt, wenn sie allein vom Standpunkt einer weißen politischen und moralischen Ästhetik aus spreche.

Eine Ästhetik der Farbigen und die kritische Rassentheorie Zurück zur Gegenwart. Houston Baker (1997) stellte im Hinblick auf das Erbe des Black Arts Movement fest: Die kreativen und kritischen Träume der neuen schwarzen Kunstformen wurden weltweit von den neu aufkommenden Literaturen und kritischen Traditionen gefördert. Allein schon in den Vereinigten Saaten gestanden indianische [Native American], Chicano- und Chicana- sowie schwule und lesbische Autoren, Kritiker und Gelehrte […] ihre enormen Verpflichtungen gegenüber Strategien, Autoren und Werken des Black Arts Movement ein. […] Die schwarze Ästhetik […] bereichert weiterhin unsere künstlerischen Traditionen sowie die kritischen Debatten, die das 21. Jahrhundert beleben werden (Baker 1997: 1806).

So wiesen auch bell hooks’ Forderung nach einem antihegemonialen rassischen Kino (hooks 1990) und Patricia Collins’ Traum von einer afrozentrischen feministischen Agenda für die 1990er Jahre (Collins 1991, 1998) bereits ins folgende Jahrzehnt voraus. Künstler, Filmemacher, Aktivisten, Theoretiker und Praktiker setzen nun eine Standpunkt-Epistemologie um, die die Welt und den Widerstand gegen ihre Verhältnisse aus der Perspektive der unterdrückten Farbigen, insbesondere der Frauen sieht.

Ethik und eine Antiästhetik Wie bell hooks (1990: 110), die hier auf Hal Foster (1983) fußt, liegt auch mir ein Diskurs über Ästhetik am Herzen, der sich nicht in der Agenda der Moderne verfängt. Eine solche Agenda, wie sie mir vorschwebt, lokalisiert die Ästhetik außerhalb der oder getrennt von der Geschichte.11 In 11 | John Deweys Ansatz (vgl. Dewey 1934) ausweitend, sieht diese Agenda in der Ästhetik einen Zweig der Philosophie, der sich mit der Politik der ästhetischen Erfahrung befasst, einschließlich der Konzepte von Schönheit und einschließlich der Bewertungsmaßstäbe für die Beurteilung künstlerischer Aus-

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 255 diesem Sinne rief bereits Hal Foster nach einer Antiästhetik – oder auch einer postmodernen Ästhetik –, die »ihrem Wesen nach transdisziplinär, das heißt sensibel für kulturelle Formen in einer Politik ist (zum Beispiel feministische Kunst), oder die in einer idiomatischen Volkskultur [vernacular] verwurzelt, das heißt: sensibel für Formen ist, die den Gedanken eines privilegierten ästhetischen Bereichs ablehnen« (Foster 1983: xv). Diese Antiästhetik ist subversiv und utopisch. Sie schafft einen Raum für das Filmemachen und für die künstlerischen Darstellungspraktiken zuvor marginalisierter Gruppen. Sie ermächtigt die Mitglieder solcher Gruppen, mit dem Naturalismus und dem Realismus als Standardmethoden für die Realitätsdarstellung zu brechen. Sie legt den Gedanken nahe, dass es für solche Werke multiple künstlerische Zuhörer und Zuschauer gibt. Sie behauptet auch, dass es multiple ästhetische Maßstäbe für den Wert eines Werkes gibt. Sie schätzt Darstellungen, die Grenzen überschreiten und Widerstand artikulieren. Es handelt sich um eine politische und ethische Ästhetik, welche die Unterscheidung der Moderne zwischen Epistemologie, Ontologie, Ästhetik und Ethik beseitigt. In einem feministisch-kommunitaristischen Sinn setzt sich diese Ästhetik dafür ein, dass Wege der Erkenntnis (also die Epistemologie) stets moralisch und ethisch sind. Sie haben immer auch mit Vorstellungen dessen zu tun, was der Mensch ist (Ontologie) und wie Differenzen, Unterdrückung und Ungerechtigkeit sozial organisiert sind. Die Art und Weise, wie diese Beziehungen dargestellt werden, hat auch mit praktischen Interpretationen zu tun, die Antworten auf eine politische und epistemologische Ästhetik geben – auf die Frage, was gut, wahr und schön ist. Für die Antiästhetik basieren die gesamte Ästhetik und alle Urteilsmaßstäbe auf speziellen moralischen Standpunkten. Es gibt keinen objektiven, moralisch neutralen Standpunkt. Darum betont etwa eine afrozentrische feministische Ästhetik (und Epistemologie) die zentrale Bedeutung von Wahrheit, Wissen und Schönheit. Solche Ansprüche sind im Konzept des Geschichtenerzählens ebenso begründet wie in einem Begriff von erfahrungsgesättigter, in der Gemeinschaft ruhender Weisheit. Geschichtenerzähler, zu denen auch Filmemacher gehören, entnehmen das, wovon sie erzählen, der Erfahrung; sie geben diese Wahrheiten und Erfahrungen an andere weiter. Beim Erzählen wird diese Erfahrung dann zur Erfahrung jener, die beim Geschichtenerzählen drucksformen. Diese Agenda fußt auf Walter Benjamins Ruf nach einer politischen, revolutionären Ästhetik, die die Demokratie unterstützt und dabei die Wendung zum vom Staat geförderten Krieg und zum Faschismus vermeidet – vgl. »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (Benjamin 1968: 243, dt. 2002: 381).

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256 | Ethnographie, Kino und Interpretation zuhören und zusehen; ebendarin liegt die Wahrheit der erzählten Geschichte (vgl. Benjamin 1968: 87 [dt. 2002: 131], McMurtry 1999: 14). Eine so verstandene Weisheit, ein so verstandenes Wissen, ist aus der vor Ort gelebten Erfahrung abgeleitet und findet Ausdruck in Folklore, Märchen und Mythos. Es handelt sich um eine dialogische Epistemologie und Ästhetik. Sie setzt eine Ethik der Fürsorge und eine Ethik der persönlichen wie der gemeinschaftlichen Verantwortung um (vgl. Collins 1991: 214). Politisch stellt sich diese Ästhetik vor, wie eine wahrhaft demokratische Gesellschaft aussehen könnte, die zudem frei von Rassenvorurteilen und Unterdrückung ist (vgl. Feagin 2000: 270f.). Diese Ästhetik schätzt Schönheit und Kunstfertigkeit, Bewegung, Rhythmus, Farbe und Textur im Alltagsleben. Sie feiert Verschiedenheit und den Klang so vieler verschiedener Stimmen. Sie bringt eine Ethik der Liebe, der Kameradschaft und der wechselseitigen Ermächtigung zum Ausdruck. Diese Ethik geht von einer moralischen Gemeinschaft aus, die ontologisch Priorität vor der individuellen Person besitzt. Eine solche Gemeinschaft teilt gemeinsame Werte, darunter gemeinschaftliche Führung, Nächstenliebe, Liebe, Freundlichkeit und das moralisch Gute (vgl. Christians 2000: 144-149). Diese Ethik verkörpert eine heilige existenzielle Epistemologie, die den Menschen in einer konkurrenzfreien, nichthierarchischen Beziehung zum größeren moralischen Universum sieht. Diese Ethik erklärt, dass alle Menschen Würde und einen heiligen Status in der Welt verdienen. Sie betont den Wert des menschlichen Lebens, der Wahrhaftigkeit und der Gewaltlosigkeit (vgl. ebd.: 147). Diese ethische Ästhetik ist dialogisch und stärkend. Indem sie Sozialkritik ermöglicht, ermuntert sie auch zum Widerstand. Sie verhilft den Menschen zum Handeln (vgl. ebd.) und hilft ihnen, sich vorzustellen, wie die Dinge in der Alltagswelt anders sein könnten. Sie stellt sich neue Formen der menschlichen Transformation und Emanzipation vor. Sie inszeniert diese Transformationen im Dialog. Und wenn nötig, sanktioniert sie auch gewaltfreie Formen zivilen Ungehorsams (vgl. ebd.: 148). Bei der Konstruktion neuer und befreiender kultureller Formationen stellt sich diese Ästhetik die Geplagten und Unterdrückten vor und lokalisiert sie in diesem Rahmen. Sie widersetzt sich einer Kultur des Stillschweigens. Sie leistet Widerstand gegen politische Programme, die von den gegenwärtigen Machthabern ins Feld geführt werden. Sie bietet neue Darstellungsformen, die Räume für neue Formen eines kritischen Rassenbewusstseins schaffen. Sie zeigt den Unterdrückten, wie sie in den Unterdrückungsräumen eine Stimme finden können. So engagieren sich Theoretiker und Filmemacher gleichermaßen kritisch bei der Hinterfragung der gegen die Bürgerrechte gerichteten Agenden der Neuen Rechten (vgl. Jordan 1998). Aber hier geht es nicht

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 257 um eine Protest- oder Integrationsinitiative, die allein darauf abzielt, ein weißes Publikum über rassische Ungerechtigkeiten zu informieren. Eine derart eng gefasste Agenda weist diese Ästhetik von sich. Dabei lehnt sie auch klassisch-europäische und postpositivistische Maßstäbe für die Bewertung von literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Werken ab. Gesucht werden also emanzipatorische, utopische Kinotexte, die in den unverkennbaren Stilen, Rhythmen, Idiomen und persönlichen Identitäten der lokalen Bevölkerung und der idiomatischen Kultur [vernacular] gründen. Diese Filme halten die Geschichte der Ungerechtigkeiten fest, die von den Mitgliedern einer unterdrückten Gruppe erlebt wurden. Sie zeigen, wie die Mitglieder einer lokalen Gruppe dafür gekämpft haben, in einer gewalttätigen, rassistischen und sexistischen Zivilgesellschaft Orte der Würde und des Respekts zu finden. Diese Filme sind Schauplätze des Widerstands. Sie sind Orte, an denen Bedeutungen, Politiken und Identitäten ausgehandelt werden. Sie transformieren und hinterfragen alle Formen kultureller Repräsentation, egal ob weiß oder schwarz.

Antiästhetik und filmische Praktiken In der zeitgenössischen Filmszene der Schwarzen und der Chicanas/os gibt es spezifische mit diesem antihegemonialen, antiästhetischen Projekt verbundene filmische Praktiken.12 Die folgenden Praktiken bestimmen und gestalten den narrativen und visuellen Inhalt dieser experimentellen Texte: •



Experimente mit narrativen Formen einschließlich Jazz, Blues, Folkballaden und Corridos, die alte afrikanisch-amerikanische und Chicano-Diskurstraditionen zur Geltung bringen (vgl. Fregosa 1993: 70-76, Noriega 1992: 152f.); Verwendung von Improvisation, Regietricks und Montage, um die Leinwand mit multirassischen Bildern zu füllen und um bikulturelle visuelle und sprachliche Codes zu manipulieren und zu dekonstruieren; 12 | Die Umsetzung des New Communicators Program von 1968 an der

University of Southern California und an der University of California in Los Angeles brachte Minderheiten-Filmemacher der ersten und zweiten Generation hervor, die von manchen als Black and Brown Los Angeles School bezeichnet werden (vgl. Diawara 1993, Masilela 1993, Noriega 1992: 142). Nach Meinung von Masilela (1993: 107) setzten die Filmemacher aus der Ära nach der Bürgerrechtsbewegung ihre Version der kritischen Rassentheorie filmisch um, insbesondere die Argumente von Frantz Fanon.

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Verwendung von persönlichen Zeugnissen, Lebensgeschichten, Märchen, kulturellen Mythen, Voice-over und Erzählungen aus dem Off, um einem Text eine übergeordnete narrative Einheit zu geben (vgl. Noriega 1992: 156-159); Feier der Schlüsselelemente der afrikanisch-amerikanischen und der Chicano-Kultur, insbesondere der Themen des Widerstands, des Beharrens, der Affirmation und des Neo-Indigenismus oder der mestizaje (vgl. ebd.: 150), wodurch Assimilations- und SchmelztiegelErzählungen infrage gestellt werden; Produktion von Texten, die den Machismo, die betont männliche Identität, dekonstruieren, sowie Feier von Werken, die der schwarzen Frau oder der Chicana eine aktive Rolle im Text einräumen, während die Uraltstereotype der Jungfrau, der Hure, der fürsorglichen Ehefrau oder des häuslichen Mädchens kritisiert werden (vgl. Fregosa 1993: 29, 93f.); Zurückweisung von essentialistischen Identitätsauffassungen; Betonung der prozessualen, geschlechtsrollenspezifischen, performativen Sicht des Selbst, und Lokalisierung der Identität innerhalb, nicht außerhalb des Systems der kulturellen und medialen Darstellung; Weigerung, die offizielle Erzählung der Kultur bezüglich der Rassenbeziehungen zu akzeptieren, welche die Ideologie der Assimilation privilegiert, während sie gleichzeitig behauptet, schwarze und hispanische Jugendliche stellten eine schlimme Bedrohung für die weiße Gesellschaft dar (vgl. ebd.: 29).

Viele dieser filmischen Praktiken kommen in den Filmen zu Ausdruck, die im letzten Jahrzehnt von farbigen Regisseuren gedreht wurden. Dazu gehören Bill Dukes A Rage in Harlem (1991; dt. Harlem Action), Charles Burnetts To Sleep with Anger (1990, dt. Zorniger Schlaf), Mira Nairs Mississippi Masala (1991; dt. Mississippi Masala), Spike Lees Crooklyn (1994; dt. Crooklyn), John Singletons Higher Learning (1995; dt. Die Rebellen) und Rosewood (1997; dt. Rosewood Burning), Gregory Navas Mi Familia (1995; dt. Meine Familie) und Ang Lees Eat Drink Man Woman (1994; dt. Eat Drink Man Woman). Diese Filme artikulieren eine Produktionsästhetik, die die ethnische Kultur feiert, während sie zugleich Rassen- und Geschlechtsrollen-Stereotype hinterfragt. Überdies stellen diese Filme Assimilationserzählungen infrage. Sie betonen Gemeinschaft, Familie und Familiensolidarität. Sie experimentieren mit narrativen und visuellen Formen und verwenden persönliche Zeugnisse, Voice-over und Erzählungen aus dem Off. Sie verschließen sich der sozialkritisch-didaktischen Form des Diskurses, ja sie weigern sich standhaft, Pathologisches in der ethnischen Gemeinschaft zu lokalisieren. Sie appellieren nicht an den Staat als Heils- und

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 259 Rettungsinstanz für eine verdorbene, gewalttätige, Drogen nehmende Minderheitengemeinschaft. Sie verbinden nicht Rassenmerkmale mit Rap-Musik, Hip-Hop-Kultur und Jugendgewalt. Sie arbeiten aus dem Innern der ethnischen Kultur, um ein Kino des Stolzes und der kulturellen Widerstandskraft zu präsentieren. Damit stehen diese Filme in scharfem Kontrast zu den Hood-Filmen der letzten Dekade.

Die Umsetzung der Antiästhetik Im ganzen 20. Jahrhundert bestimmte eine Reihe von strukturellen Gemeinsamkeiten die rassische Ordnung im Hollywood-Kino. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehörten die rassistischen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts, eine rassistische Populärkultur und ein rassistisches Aufführungsvokabular ebenso wie geschlechtsrollenspezifische filmische Rassenstereotype, eine nach Rassen getrennte Gesellschaft und ein rassistisches Studio-Produktionssystem, ferner das Aufkommen von Lichtspielhäusern in rassischen Ghettos, der Auftritt von Schauspielern, Schauspielerinnen und Regisseuren aus den Minderheiten, ein expandierendes Minderheiten-Filmpublikum, aber auch die Bürgerrechts- und Frauenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre sowie eine Produktionstradition auf dem Gebiet des realistischen sozialkritischen Films. Noch im Jahre 2002 hat sich an diesen Faktoren kaum etwas verändert. Die verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen kämpfen um ihre Existenz. Eine neue Generation von Konservativen versucht, die Bodengewinne der Reformer des letzten Vierteljahrhunderts rückgängig zu machen. Der Kino- und der Alltagsrassismus sind immer noch vorhanden. Das Hollywood-Studiosystem lässt nur ein enges Spektrum an Filmen zu, die sich mit dem Rassenthema beschäftigen: Filme, die im Genre des Action-Films, des Polizeikumpel-Films und der Filmkomödie Unterhaltungswert besitzen. Zwar wird das Minderheiten-Kinopublikum größer, zwar ist die Kinokette Magic Johnson inzwischen auch in Harlem präsent, doch auch die Multiplex-Kinos können nur zeigen, was Hollywood an Filmen zu bieten hat. Spike Lees Film Bamboozled (2000; dt. It’s Showtime) mag vordergründig die alte Minstrel-Tradition, sich das Gesicht zu schwärzen, verspotten, aber der Film widmet sich auch der umfassenderen Wahrheit, dass die nationale Kultur der USA weiterhin nicht bereit ist, sich ihrer eigenen rassistischen Vergangenheit zu stellen. Valerie Smith (1997: 1) hat festgestellt, dass die Amerikaner afrikanischer Abstammung noch immer mit dem Erbe von D.W. Griffiths Birth of a Nation (1915; dt. Die Geburt einer Nation) zu leben haben, jenem Film, der nach Meinung vieler das »Eröffnungsdenkmal des afrikanisch-amerikanischen Kinos« ist (ebd.). Hier ist bereits alles präsent –

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260 | Ethnographie, Kino und Interpretation das realistische Kino; ein Kino, das die Wahrheit über Amerikas Rassengeschichte nach dem Bürgerkrieg erzählen will; die Vorurteile und Stereotype; die Verwendung von Parallelschnitten und von Schnitten, die zwischen Handlungssequenzen vor und zurück springen; Nahaufnahmen von Schauspielern mit geschwärzten Gesichtern. Die Bilder der Schwarzen aus diesem Film wurden »während der gesamten Geschichte des US-Kinos« reproduziert (Smith, ebd.). Und Valerie Smith nennt die Dinge beim Namen: Diese Bilder sind rassistisch, und sie »bedrohen das Leben ›realer‹ Schwarzer« (ebd.: 1). Die neue Ästhetik der rassischen Differenz beginnt mit der Hinterfragung dieser Darstellungen. Sie sucht nach alternativen Darstellungen, die weder rassistisch noch sexistisch sind. Smith (ebd.) paraphrasierend kann man sagen, dass dieses schwarze (und ethnische) Kino als Suche nach neuen und anderen Darstellungen schwarz- oder braunhäutiger Subjekte gelesen werden kann. Man ist sich inzwischen einig, dass es nicht mehr nur eine einzige Darstellung gibt, die sich als mehr oder weniger authentisch kodieren lässt. Die Suche bewegt sich gleichzeitig in zwei verschiedene Richtungen – man möchte einerseits positive Bilder produzieren, die in der Lage sind, negative Darstellungen zu ersetzen, und andererseits negative Bilder kritisieren und neu kodieren. Der erstgenannte Impuls ist in den bereits genannten Filmen von Burnett, Duke und Nair zu besichtigen, aber auch in Kasi Lemmons’ Eve’s Bayou (1997; dt. Eve’s Bayou), und Maya Angelous Down in the Delta (1998; dt. Down in the Delta), zeitgenössischen Filmen über schwarze Frauen und ihre Familien. Auch Carl Franklins Devil in a Blue Dress (1995; dt. Teufel in Blau) und Julia Dashs Daughters of the Dust (1991) gehören in diese Kategorie. Dagegen dekonstruiert Bill Dukes in A Rage in Harlem (1991; dt. Harlem Action) wie auch Spike Lee in Bamboozled ältere rassistische Stereotype über das Leben schwarzer Gemeinschaften in Amerika, indem er das Negative in eine Reihe von Witzen verwandelt. Es reicht allerdings nicht mehr aus, Beispiele für gute oder schlechte Filme aufzuzählen und Inventarlisten von Negativbildern aufzustellen. Es ist an der Zeit, sich von der Suche nach einem essentialistischen (guten) schwarzen oder braunen Subjekt zu lösen und kulturelle wie biologistische Essentialismen generell zurückzuweisen (vgl. Hall 1996: 472).13

13 | Es ist möglicherweise ebenfalls an der Zeit, sich von revisionistischen Geschichten aus weißer Sicht über die Bürgerrechtsbewegung zu lösen. Zu den Filmen, die solches versuchen, gehören: Mississippi Burning (1998; dt. Mississippi Burning – Die Wurzel des Hasses), A Time to Kill (1996; dt. Die Jury), The Chamber (1996; dt. Die Kammer) und Ghosts of Mississippi (1996; dt. Das Attentat). Auch Antonio Banderas’ Crazy in Alabama (1999; dt. Verrückt in Alabama) würde ich zu

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Zwei Fallstudien: »Compensation« und »Devil in a Blue Dress« Zeinabu Irene Davis’ Film Compensation (1999) lief 2000 beim Sundance Filmfestival. Es handelt sich um einen Schwarzweiß-Stummfilm, der auf zwei Zeitebenen spielt: im Chicago der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und im heutigen Chicago. Erzählt wird die Geschichte von zwei gehörlosen afrikanisch-amerikanischen Frauen (Malindy und Malaika) und ihren Beziehungen zu zwei hörenden afrikanisch-amerikanischen Männern, Arthur (Malindys Freund) und Nico (Malaikas Freund). Den Soundtrack bildet unkomplizierte Klaviermusik à la Scott Joplin. Davis widmete den Film Paul Laurence Dunbar, »Amerikas NegerHofdichter«, der von 1972 bis 1906 lebte.14 Der Film beginnt mit einer Serie von Fotos aus dem Chicago der ersten Jahre des 20. Jahrhunderts – selten zu sehenden Ausschnitten aus der afrikanisch-amerikanischen Geschichte. Die Bilder zeigen bürgerliche Schwarze der Jahrhundertwende, die sich in einer urbanen schwarzen Öffentlichkeit zu Hause und gut aufgehoben fühlen. Auf der Leinwand erscheint als Zuschauerinformation: »Chicagos farbige Bevölkerung verdoppelt sich von 1900 bis 1910«. Auf der Leinwand füllen sich die Straßen mit Schwarzen aus der Mittelschicht in teuren Anzügen und Kleidern. Die nächste Zuschauerinformation besagt: »W.E.B. DuBois veröffentlicht 1903 The Souls of Black Folks«. Weitere Tafeln informieren: »1905 beginnt [die schwarze Wochenzeitung] The Chicago Defender zu erscheinen«, »1911 wird Scott Joplins klassische Negeroper ›Tremonisha‹ veröffentlicht«. Klug setzt Davis die Methoden des Stummfilms ein, um eine Geschichte über die beiden tauben Frauen zu erzählen. Beide Frauen schreiben, was sie zu sagen haben, mit Kreide auf Tafeln – wie ja auch der Stummfilm gedruckten Text verwendet, um die Handlungszusammenhänge zu verdeutlichen. Compensation verwendet eine filmische Bildersprache und eine Form der Montage, die die Rhythmen der gehörlosen und der hörenden afrikanisch-amerikanischen Kultur zu dramatischem Leben erwecken. Tatsächlich kann Davis’ Verwendung der Dichotomie mit Gehör/ohne Gehör als Metapher für die Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß gelesen werden. Beide Frauen ziehen wiederholt ihre Fähigkeit in Zweifel, eine Beziehung mit einem hörenden dieser Kategorie rechnen, nicht jedoch John Singletons Rosewood (1997; dt. Rosewood Burning).

14 | »Compensation« ist der Titel eines Dunbar-Gedichts (vgl. Barksdale/ Kinnamon 1972). Dunbar war für seine Dialektgedichte bekannt, die die Beiträge der Schwarzen zum amerikanischen Bürgerkrieg und zum Aufbau Amerikas hervorhoben (vgl. ebd.: 357f. und T. Harris 1998: 602).

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262 | Ethnographie, Kino und Interpretation Mann zu haben. Malaikas Schwester sagt zu Malaika: »Beziehungen zwischen Gehörlosen und Hörenden funktionieren nicht. […] Leute, die hören können, verstehen unseren Kampf um die Bürgerrechte einfach nicht.« Der Film springt zwischen den Geschichten der beiden Paare und zwischen beiden Zeitebenen hin und her. Indem Davis die beiden tauben Frauen mit hörenden Männern verbindet, privilegiert sie Sprache, Lese- und Schreib-Bildung. Arthur kann nicht lesen, während Nico als Bibliothekar arbeitet, also ein Mann der Bücher ist. Beide Paare verlieben sich ineinander, und beide Beziehungen werden mit den Seuchen ihrer Zeit konfrontiert – bei Arthur, der in den Schlachthöfen arbeitet, ist es die Tuberkulose,15 Malaika ist HIV-positiv. Compensation ist ein starker Film. Er besticht durch kühne Experimente. Krankheit und Tod erscheinen als Kräfte, die sich der Kontrolle der Menschen entziehen. Der Tod des/der Geliebten wird durch das Geschenk der Liebe erträglich gemacht. Dieses Geschenk kompensiert die Verluste des Lebens. Indem er dies zeigt, bringt Davis’ Film große Würde und Respekt in die Lebenssituationen afrikanisch-amerikanischer Männer und Frauen. Zugleich verschafft Davis’ Film afrikanisch-amerikanischer Kultur und Geschichte Geltung. Dies ist kein Protestfilm, es ist kein Zorn im Spiel. Dieser Film hat, wenn er diese Frauen und ihre stummen Stimmen zeigt, spirituelle Ruhe; er ermächtigt. Wie die Filme von Charles Burnett und Julia Dash hebt dieser Film den Schleier, von dem DuBois in The Souls of Black Folks spricht. Bestimmt und stolz verankert dieser Film seine Geschichte in den Alltagswelten der Amerikaner afrikanischer Abstammung und in deren Leben. In der Terminologie des Black Arts Movement handelt es sich hier um Filmkunst, die funktional, kollektiv und engagiert ist. Dieser Film gibt gehörlosen wie hörenden schwarzen Frauen etwas. Er ist demokratisch, feiert Vielfalt und persönliche Freiheit. Er zeigt Chicagos schwarze Ghettos als von der weißen Gesellschaft abgeschnittene Kolonien im Innern. Diese Version einer schwarzen Ästhetik steht in markantem Kontrast zu den Hood-Filmen der letzten Dekade. Ich wende mich jetzt Carl Franklins vernachlässigtem Film Devil in a Blue Dress (Teufel in Blau) aus dem Jahre 1995 zu. Er basiert auf dem gleichnamigen, 1990 erschienenen Kriminalroman von Walter Mosley. Die Eingangssequenz mit den Namen der Schauspieler ist ganz in lebhaften nächtlichen Farben gehalten: Schwarz, Purpur, Blau und Rot. Ein Bluessänger balzt: »Ich hab’ mein Baby in der West Side. Sie wohnt am

15 | Auch Dunbar starb an Tbc.

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 263 andern Ende der Stadt.« Stilisierte ausgeschnittene Bilder von afrikanisch-amerikanischen Männern und Frauen in Abendgarderobe tanzen über die Leinwand. Orangefarbenes und gelbes Licht strömt aus den Fenstern über einer Eckbar. Unter einer Straßenlaterne umarmen sich Pärchen und tanzen. Frauen in eng anliegenden Kleidern kreuzen ihre Beine und lächeln Männern zu. Die Männer tuscheln miteinander und lehnen sich an teure Limousinen. »Sie setzt meine Seele in Brand«, fährt der Bluessänger fort. Im Fenster über der Bar erscheint der Rücken einer nackten Frau. »Ja, ich hab’ ein Baby in der West Side. Sie wohnt ganz am andern Ende der Stadt. Und wenn ich mit meinem Baby zusammen bin, will ich keine andere Seele dabei haben. Und jetzt hat Montag früh am Morgen jemand an meine Tür geklopft. Ich weiß, es war nicht mein Baby, denn die hat noch niemals geklopft.« Die Kamera fährt zurück und öffnet den Blick auf eine größere Straßenszene, angefüllt mit schwarzem Nachtleben. Diese Szene geht über in den Sommer des Jahres 1948: Echte Autos hupen und fahren die Straße entlang. Der Bluessänger singt noch immer. Es folgt ein Schnitt, und die Szene wechselt in eine Bar im oberen Stockwerk. Als Easy Rawlins, Walter Mosleys schwarzer Privatdetektiv, beginnt Denzel Washington zu erzählen: »Es war im Sommer 1948, und ich brauchte Geld.« So beginnt der Film – eine Geschichte über Rassismus, Gewalt und Unterdrückung im Los Angeles der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Franklins Film erhellt und bringt wie der von Zeinabu Irene Davis selten gesehene Ausschnitte aus dem Gemeinschaftsleben der Amerikaner afrikanischer Abstammung zur Geltung. Mosleys Easy-Rawlins-Krimis feiern Kunst, Religion und Musik der Schwarzen. Mosley erzählt Geschichten über die Kämpfe schwarzer Amerikaner, die versuchen, sich im Südkalifornien der Jahrhundertmitte ihre eigenen kulturellen, politischen und ökonomischen Räume zu schaffen. Franklins Film erweckt Mosleys Welt zum Leben – eine an Raymond Chandler erinnernde Welt der Korruption, des Verrats, der Falschspieler und Femmes fatales, der Rassenvorurteile, der Machos, die sich gegenseitig zusammenschlagen. Wie bei Compensation handelt es sich um funktionale, kollektive und engagierte Filmkunst. Hier wird einem schwarzen Mann die Macht eines weißen Privatdetektivs gegeben. Und hier wird gezeigt, wie schwarze Immigranten aus den Südstaaten im urbanen Los Angeles ihre eigene moralische Gemeinschaft geschaffen haben – eine Gemeinschaft, in der Fürsorge, Liebe und wechselseitige Ermächtigung herrschen. Nachsichtig betrachten Franklin und Mosley die Exzentrik und die seltsamen Figuren, die in diesem Raum zu Hause sind. Sie fügen die Musik des Jazz und Blues in das Nachtleben ein. Sie enthüllen die ökonomische Kehrseite der Rassendiskriminierung. Und was besonders wichtig ist, sie erzählen eine Geschichte mit profunden menschlichen

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264 | Ethnographie, Kino und Interpretation Implikationen, sie erzählen vom gelebten Leben bürgerlicher Schwarzer im Rassismus der Jahrhundertmitte. Diese beiden Filme verkörpern eine Version der neuen Ästhetik der Farbigen – einer Ästhetik, die sich wieder an das Black Arts Movement der 1970er Jahre anschließt. Ruhig und unaufgeregt präsentieren diese Filme ihre Version des kritischen Kinos der Rassenunterschiede. Sie meiden Gewalt. Sie feiern kulturelle Unterschiede. Sie bringen Kunst, Rituale, Mythen und Religionen der schwarzen Kultur zur Geltung. Sie fragen, wie das Kino zur Schaffung eines kritischen Rassenbewusstseins beitragen kann. Dies ist eine schwarze Ästhetik für das 21. Jahrhundert.

Zusammenfassung und Ausblick Die Populärkultur ist, worauf Stuart Hall (1996) hinweist, mythisch; sie ist ein Theater der Sehnsüchte, eine Raum für populäre Phantasien. »Sie ist der Ort, wohin wir gehen, wenn wir entdecken wollen, wer wir sind« (Hall 1996: 474; vgl. auch Giroux 2000: 4). Und wann immer wir diese existenzielle Frage beantworten wollen, stoßen wir darauf, dass unsere geschlechtlich geprägten Auffassungen von uns selbst und den Anderen stets auch in fehlgeleiteten Vorstellungen von rassischen Unterschieden, vom Weiß-Sein und den damit verbundenen Privilegien gründen. Hinsichtlich dessen, was wir über uns selbst lernen, müssen wir immer auf der Hut sein. Und wir müssen mit William F. Pinar fragen: Was ist der »historische Charakter des ›Weiß-Seins‹, der dafür sorgt, dass die Weißen so aggressiv, so gequält, so an Unterwerfung interessiert sind?« (Pinar 2001: 19).16 In seiner Rezension des Spike-Lee-Films Bamboozled für die New York Times beschreibt Jeff MacGregor, was er in Kino und Fernsehen über die Schwarzen in Amerika gelernt hat: Schwarze sind furchterregend. Schwarze sind kriminell. Schwarze sind gewalttätig. Schwarze sind athletisch. Schwarze sind erfolgreiche Profis. Schwarze sind drogensüchtig. Schwarze haben großes Unterhaltungstalent. Schwarze sind liebevolle Mitglieder von Großfamilien. Schwarze sind musikalisch. Schwarze sind lustig. Schwarze sind laut. Schwarze sind wütend. Schwarze gehen zur Kirche. Schwarze stecken immer in der Klemme. Schwarze sind furchterregend.

16 | Pinar (2001) setzt auf eine radikale multikulturelle und homosexuell ausgerichtete Theorie der Politik, um seine eigene Frage beantworten zu können. Er zeigt, wie die gewalttätige Rassenpolitik in Amerika schon immer durch die homophoben Ängste weißer Männer geschlechtlich kodiert und strukturiert wurde.

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Rassendarstellungen auf der Leinwand | 265 Das alles hat mir das Fernsehen über die Rassen in meinem eigenen Land beigebracht. Ich bin ein 42-jähriger Amerikaner und ich bin weiß, und das alles habe ich ein Leben lang aus Sitcoms, einstündigen Polizeiserien, Werbespots und ernsthaften Dokumentarfilmen gelernt (MacGregor 2000: A-11, A-34).

Und was lässt sich in diesem Stil über Weiße sagen? Wie wäre es, wenn man den Spieß einmal umdrehte und alle Farbigen fragen würde, was sie ein Leben lang aus Fernsehen und Kino über die Weißen gelernt haben? Aber das reicht nicht. Es geht um weit mehr. Ralph Ellison, Richard Wright und James Baldwin haben diese Fragen schon vor einem halben Jahrhundert gestellt, und heute werden sie von Walter Mosley, Zeinabu Irene Davis, bell hooks und June Jordan neu formuliert. William F. Pinar (2001: 1) paraphrasierend, kann man sagen, dass Rasse und Gewalt in einer Krisensituation zusammenfallen: »Wie können wir Kunst, Kino und Literatur einsetzen, um über unsere Schranken von Rasse und Religion, Klasse, Hautfarbe und Region hinweg zu kommunizieren?«, fragte Ralph Ellison (1952: xxii), und: »Wie können wir unsere gemeinsame Menschlichkeit miteinander teilen und trotzdem unsere Unterschiede wertschätzen?« »Wie können die Interessen von Demokratie und Kunst konvergieren?« »Wie können wir unsere Literatur, unser Kino und unsere kritische Sozialwissenschaft dafür einsetzen, die Zielsetzung dieser demokratischen Gesellschaft voranzutreiben?« (ebd.: 11). »Wie können wir die Strukturen des Rassismus und Sexismus überwinden, die sich so tief in das Mark dieser Demokratie eingeprägt haben?« (Feagin 2000: 270; vgl. McCarthy 2001: 105). Die kulturellen Räume der rassischen Unterschiede sind – auch das verrät uns Stuart Hall (1996: 474) – von Grund auf dialogisch, stets auf komplexe Weise ineinander verwoben. Eines Tages werden jene, die sich freiwillig und mutwillig das Gesicht geschwärzt haben, herausfinden, dass jene, die in Wirklichkeit schwarzer oder brauner Hautfarbe sind, sich das Gesicht geweißt haben. Und nun sind die weißen Masken schwarz, und die schwarzen und brauen Masken vielfarbig – in einer Million Farbschattierungen von fast weiß bis ebenholzschwarz, goldfarben, dunkelhäutig, tief gebräunt und schmutzig-braun, schwarz und satinfarben. Und in diesem bunten karnevalsähnlichen Raum – einem Raum, an dem Michail Bachtin (1968) gewiss seine helle Freude hätte – erblickt eine neue filmische Rassenordnung das Licht der Welt. Eine Rassenordnung, die rassische Unterschiede und rassische Vielfalt wirklich von Grund auf schätzt. Wenn diese Ordnung Unterschiede feiert, dann demaskiert und befreit sie alle. Dann müssen Farbige endlich nicht mehr mit Ralph Ellison und Louis Armstrong fragen: »What Did I Do to Be so Black and Blue?« (»Was hab’ ich getan, dass ich so schwarz bin und den Blues habe?«) (Ellison 1952: 8).

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266 | Ethnographie, Kino und Interpretation So wurde im vorliegenden Beitrag, ausgehend von den Hood-Gewaltfilmen der 1990er Jahre, die Vorstellung einer neuen Kinokultur der geschlechtlich geprägten Gewaltfreiheit entwickelt. In diesem neuen Raum können wir damit beginnen, einhundert Jahre Rassismus, Gewalt und Unrecht rückgängig zu machen – einhundert Jahre einer rassistischen Kinoordnung. Auf Nimmerwiedersehen, D.W. Griffith!

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R. Winter und E. Niederer: Die Transformation der Soziologie | 271

Die poststrukturalistische Transformation der Soziologie. Zur kritischen Analyse der Gegenwart im Werk von Norman K. Denzin Rainer Winter und Elisabeth Niederer »Der Symbolische Interaktionismus ist mir in Fleisch und Blut übergegangen.« Denzin 1992: 155

Einleitung Das vielfältige, theoretisch komplexe und empirisch-methodisch perspektivenreiche Werk des amerikanischen Soziologen Norman K. Denzin zu erfassen und zu beschreiben, ist auf den ersten Blick nicht einfach. Nicht nur hat er sich mit unterschiedlichen Themen auf differenzierte und tief gehende Weise beschäftigt – wie zum Beispiel der Soziologie der Emotionen (vgl. Denzin 1984), des Alkoholismus (vgl. Denzin 1993) oder des Kinos (vgl. Denzin 1991, 1995) – und oft Pionierarbeit in der Disziplin geleistet; seine Arbeiten sind auch von intensiven theoretischen Auseinandersetzungen und methodologischen Debatten geprägt, die ihn in seinen interpretativen Analysen und der qualitativen Forschung immer wieder neue Richtungen einschlagen lassen. Hinzu kommt, dass er ein engagierter Forscher und akademischer Lehrer ist, der gesellschaftliche Missstände und Problemlagen untersucht, kritisiert und zu ihrem Verschwinden beitragen möchte. Denzins Ausgangspunkt und ursprüngliche intellektuelle »Heimat« ist die Tradition des Symbolischen Interaktionismus, die er u.a. in einer Monographie (vgl. Denzin 1992, 2000) aufgearbeitet, dekonstruiert, in vielen Teilen abgelehnt und dennoch auf erfrischende und subtile Weise weitergeführt hat. Auch wenn sein Denken in Bewegung ist und seine

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272 | Ethnographie, Kino und Interpretation Methoden sich wandeln (vgl. Lincoln 2000), bleibt er, so unsere These, dem Symbolischen Interaktionismus bis heute verbunden. Einige Interaktionisten werden seine neueren Arbeiten freilich als nicht mehr zu dieser soziologischen Schule gehörend betrachten, und viele seiner Ausführungen und Interpretationen, denen es nie an Prägnanz, Schärfe und Radikalität mangelt, sind dementsprechend vehement kritisiert oder einfach nicht kommentiert worden. Nichtsdestotrotz lässt sich sein Werk als eine Weiterentwicklung grundlegender Perspektiven, Themen, Annahmen und Methoden dieser Forschungstradition und ihrer pragmatistischen Grundlagen (vgl. Denzin 1996) begreifen. Allerdings ist es ein Symbolischer Interaktionismus in neuer Gestalt. Während für viele soziologische Traditionen die Interpretation der Klassiker entscheidend ist, der Konsens oder Dissens darüber, was nun eigentlich die Position von Weber, Simmel oder Parsons war – Fragen, die beantwortbar sein sollen und oft entscheidend für das Weiterbestehen der jeweiligen Richtung sowie ihr Verständnis der Gegenwart sind –, grenzt sich Norman K. Denzin in seiner Analyse des Symbolischen Interaktionismus (und in seiner Beschäftigung mit Theorien des Sozialen) entschieden von einer solchen essentialisierenden Betrachtungsweise ab. Im Anschluss an Derrida (1972, 1974) beruht jede Sozialtheorie zum einen auf interpretativer Arbeit, zum anderen auf einer Theorie der Schrift (vgl. Denzin 1997: xii). Denzin fordert deshalb eine reflexive Betrachtungsweise, die untersucht, wie das Soziale und das Kulturelle textuell konstituiert werden (vgl. Clough 1994). Seine historische Rekonstruktion des Symbolischen Interaktionismus macht dessen diskursive Verankerung, textuelle Konstruktionen sowie Bezüge auf aktuelle soziale Probleme und gesellschaftliche Fragestellungen deutlich. Denzin wehrt sich entschieden gegen die Schaffung und Verehrung von Klassikern, gegen lineare Fortschrittsgeschichten von Disziplinen und die Vorstellung, es gebe »wahre« Auslegungen von soziologischen Texten. Sein Bezugspunkt ist die Gegenwart mit ihren sozialen Problemen, Formen sozialer Ungerechtigkeit und rassischer Diskriminierung sowie ihren kriegerischen Auseinandersetzungen. Seit den 1970er Jahren hat Denzin sich intensiv mit dem strukturalistischen, poststrukturalistischen sowie postmodernen Denken beschäftigt und es sich vielfältig angeeignet. Sowohl seine akademische Lehre als auch seine theoretischen und empirischen Analysen machen dies deutlich. Die Soziologie als Disziplin hat bis heute eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen gescheut.1 Allenfalls gesteht man

1 | Dies gilt auch für Vertreter des Symbolischen Interaktionismus. In einem durchaus sympathisierenden Besprechungsessay zur Veröffentlichung von

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R. Winter und E. Niederer: Die Transformation der Soziologie | 273 manchmal zu, dass dieses europäische Denken blinde Flecken der Disziplin aufzeigen könne, oder, an Michel Serres anknüpfend, ein Parasit der Mainstream-Soziologie sei, der dessen Unterscheidungen in Frage stelle, aber dennoch auf ihn angewiesen sei (vgl. Stäheli 2000: 6) – eine Position, die die Eigenständigkeit und Radikalität dieser Denktradition ausblendet, indem sie sie auf einen weiteren Kommentar zur »großen Erzählung« der Soziologie reduziert. Fast gänzlich ignoriert wird zudem die gesellschaftskritische und emanzipatorische Position des Poststrukturalismus. Von den Arbeiten Norman K. Denzins lässt sich lernen, dass die differenzierte und systematische Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen und postmodernen Ansätzen die Disziplin der Soziologie, ihre Mythen, Erzählungen und Methoden selbst in Frage stellt, sie dekonstruiert – und gleichzeitig neue Wege aufzeigt, die eine kritische Analyse der Gegenwart erlauben, indem sie deren Herrschafts- und Machtverhältnisse, Gefahren und (totalitäre) Tendenzen aufzeigen und Möglichkeiten der demokratischen Veränderung sichtbar machen. So sind vor allem Denzins neuere Arbeiten transdisziplinär, interventionistisch, interpretativ und performativ orientiert. Er überschreitet die Grenzen der Soziologie und verankert sich im dynamischen und prozesshaften Feld der Cultural Studies, ohne die Bezüge zum Symbolischen Interaktionismus und zur Soziologie als Disziplin aufzugeben. Er hält es für erforderlich, dass diese sich mit poststrukturalistischen, postmodernen, postkolonialen und feministischen Ansätzen auseinandersetzt.2 Gleichwohl fordert Pragmatism and Social Theory (1993) von Hans Joas weist Denzin (1996) darauf hin, dass der »führende deutsche Theoretiker des Pragmatismus und des Symbolischen Interaktionismus« (ebd.: 61) die interaktionistischen Arbeiten der letzten zehn Jahre nicht berücksichtigt hat (ebd.: 62). Ebenso beschäftige sich Joas nicht systematisch mit den neueren Sozialtheorien der letzten zwanzig Jahre: »In der heutigen Gesellschaftstheorie spielt sich mehr ab als in den Werken von Giddens, Alexander und Habermas zu finden ist. Und Joas weiß das« (ebd.: 63). Obwohl sie nahe läge, fehle bei Joas die Diskussion der neueren Semiotik, des Poststrukturalismus, der British Cultural Studies, des Feminismus, der Standpunkterkenntnistheorien, der Psychoanalyse, des Neopragmatismus von Richard Rorty oder der postmodernen Sozialtheorie. Denzin hofft (ebd.: 63), Joas werde sich in Zukunft mit diesen Ansätzen auseinandersetzen. Diese Hoffnung hat sich leider nur ansatzweise erfüllt.

2 | In einer vehementen Auseinandersetzung mit der Kritik an diesen Ansätzen, die die amerikanische Soziologin Huber geübt hat, schreibt Denzin: »Vielleicht bringen diese neuen Stimmen, vor denen sie solche Angst hat, die Soziologie ja zurück in jenen vitalen Kernbereich, den C. Wright Mills (1959) ›soziologische Imagination‹ genannt hat« (Denzin 1997: 259).

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274 | Ethnographie, Kino und Interpretation er eine neue Sozialwissenschaft, die einer utopischen kulturellen Politik und einer Pädagogik der Hoffnung verpflichtet ist (vgl. Denzin 2003). Wie die Cultural Studies betrachtet er qualitative Forschung als »bricolage«, als ein kreatives und poetisches Vorgehen, das pragmatischen, taktischen und selbstreflexiven Charakter hat (vgl. Nelson/Treichler/Grossberg 1992: 2; Winter 2001a). Aufbauend auf verschiedenen Traditionen und Methoden entwickeln qualitative ForscherInnen, die die Grenzen von Disziplinen überschreiten, neue Vorgehensweisen und basteln neue Methoden, um die Gegenwart verstehen und verändern zu können. Dabei wird qualitative Forschung als ein offener und interaktiver Prozess begriffen, in den auch die persönlichen und biographischen Erfahrungen des Forschers/der Forscherin einfließen und in dem Formen kultureller und sozialer Ungleichheit (in Bezug auf Alter, ethnische Zugehörigkeit, Klasse, Geschlechtsrolle etc.) thematisiert werden. Für Denzin ist qualitative Forschung ein emanzipatorischer Diskurs, der den Idealen einer radikalen Demokratie verpflichtet ist, für soziale Gerechtigkeit eintritt und zu einem progressiven kulturellen und gesellschaftlichen Wandel beitragen möchte (vgl. Denzin 2005: 933). Im Folgenden werden wir einige wichtige Themen und Grundzüge seines von der Soziologie ausgehendes und sie transformierendes Schaffen diskutieren. Denzin geht es zunächst um eine Neuerfindung des Symbolischen Interaktionismus im Rahmen eines existentiellen, interpretativen und kritischen Cultural-Studies-Projekts (vgl. Denzin 1992). Auch in seinen jüngeren Arbeiten sind Bezüge zu dieser soziologischen Tradition weiterhin vorhanden, was sich in analytischen Vorgehensweisen, Motiven und Themen zeigt. Nun verwirklicht Denzin aber immer mehr sein eigenes Projekt einer kritischen Sozialwissenschaft mit interventionistischem Charakter, die aus dem Gehäuse der traditionellen Soziologie ausbricht und sich im Rahmen der Cultural Studies verortet (vgl. Denzin 1999). Eine interpretative, existentielle Ethnographie (vgl. Denzin 1997) mündet in eine Gesellschafts- und Kulturkritik und wird schließlich in eine performative Sozialwissenschaft transformiert, die in »performances«, in Aufführungen gelebter Erfahrungen, Kritik am Bestehenden und Hoffnung auf Veränderung inszeniert sowie einen gemeinsamen Erfahrungs- und Erlebnisraum schafft (vgl. Denzin 2003, 2007).

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Von der Soziologie zu den Cultural Studies Existentielle Momente: Epiphanien, Veränderungen und »mystories« Kennzeichnend für den Symbolischen Interaktionismus sind zum einen die Untersuchung der symbolischen, d.h. sprachlichen und kulturellen Grundlagen menschlichen Handelns, zum anderen die radikale Orientierung an der sozialen Interaktion, »dass Menschen nicht auf ihr Gegenüber hin, sondern in wechselseitiger Beziehung zueinander gemeinsam handeln« (Denzin 2000: 137). Während die symbolische Dimension menschlichen Zusammenlebens in interaktionistischen Analysen oft unterbelichtet wird, rückt in der Analyse von alltäglichen Interaktionen das Bemühen ins Zentrum, die Konstitution der subjektiven Erfahrung von Handelnden in ihrer Interaktion mit anderen zu verstehen. Im Anschluss daran hat Denzin (1989), ausgehend von der emotionalen Befindlichkeit der Einzelnen3 und ihrer spezifischen existentiellen Lebenssituation, den Ansatz des Interpretativen Interaktionismus entwickelt, in dessen Zentrum problematische Lebenserfahrungen und existentielle Krisen stehen. Der Interpretative Interaktionismus »ist darauf aus, die Stimmen, Emotionen und Aktionen der untersuchten Personen festzuhalten. Der Schwerpunkt der interpretierenden Sozialforschung liegt auf jenen Lebenserfahrungen, die die Bedeutungen, welche Menschen sich selbst und ihren Erfahrungen geben, radikal verändern und neu gestalten« (Denzin 1989: 10). Kritische Lebensereignisse und -situationen können zu Epiphanien führen – Erfahrungen, die das persönliche Leben grundlegend transformieren. Aufgabe des Forschers/der Forscherin ist es, diese biographischen Probleme und Wendepunkte, den Wechsel von Interpretationsrahmen in Krisensituationen, in ihrem sozialen und historischen Kontext zu betrachten. Der Einzelne/die Einzelne soll zum einen als singuläres Individuum verstanden werden, zum anderen ist er/sie mit seinen/ihren Erfahrungen nicht allein. Sie sind Ausdruck universaler sozialer Prozesse (vgl. Denzin 1989: 19). Im Sinne Sartres (1977) ist der Einzelne/die Einzelne eine »universale Singularität«. 3 | In seiner phänomenologischen und interaktionistischen Analyse On Understanding Emotion (1984) stellt Denzin fest, dass Emotionen, in deren Zentrum das Selbst steht, von wichtiger Bedeutung für das Verständnis des persönlichen und sozialen Lebens sind. »Meine These lässt sich knapp auf den Punkt bringen: Emotionen sind Selbstgefühle. Emotionalität, der Prozess des EmotionalSeins, verortet den Menschen in der Welt der sozialen Interaktion. Selbstgefühle sind Abfolgen gelebter Emotionalität« (ebd.: 3).

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276 | Ethnographie, Kino und Interpretation Wenn ein Mann seine Frau schlägt und sie Schutz in einem Frauenhaus sucht oder ein Alkoholiker ein Treffen der Anonymen Alkoholiker besucht, um über seine Trunksucht im Kreise von Betroffenen zu berichten, wird aus den privaten Problemen interagierender Individuen eine öffentliche, gesellschaftliche Angelegenheit. Es war Charles Wright Mills, der in The Sociological Imagination (1959) gefordert hat, dass die Soziologie sich gerade mit den existentiellen Dilemmata gewöhnlicher Menschen, mit ihrem Leiden an entfremdeter Arbeit, gescheiterten Ehen oder der Erfahrung von Sinnlosigkeit im alltäglichen Leben beschäftigen solle. Solche Dilemmata müssten im Kontext von Geschichte, Gesellschaft und Weltpolitik analysiert und als öffentliche Probleme verstanden werden. Dann werde deutlich, wie persönliche Probleme mit Wertkrisen und institutionellen Veränderungen zusammenhängen. Durch ihre Übersetzung in öffentliche Angelegenheiten (vgl. Mills 1959: 186ff.) könne die soziologische Vorstellungskraft, die sich an den Klassikern der Disziplin und an einer aufklärerischen Vernunft orientiere, gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen. Auch soziale Bewegungen oder der Kampf gegen Diskriminierung und Benachteiligung können dieser Logik folgen und speziellen lebensweltlichen Interessen öffentliche Geltung verschaffen.4 Dabei überschreiten radikaldemokratische Bewegungen nicht nur die Grenzen zwischen dem Persönlichen und dem Politischen, dem Öffentlichen und dem Privaten; sie lassen sie sogar ganz verschwinden (vgl. Denzin 1996: 72).5 Denzin (1992: 83f.) fordert nun, dass gerade die Momente untersucht werden, in denen Individuen über ihre gelebten Erfahrungen berichten und diese in Beziehung zu kulturellen Texten (z.B. Filmen) und umfassenderen ideologischen Strukturen setzen. »Kultur, jene als selbstverständlich angesehenen, aber gleichwohl problematischen Bedeutungsgeflechte, die Menschen produzieren und nach denen sie handeln, wenn sie etwas gemeinsam tun, [… Kultur] wird durch die umfassenderen bedeutungsschaffenden Institutionen der Gesamtgesellschaft geformt« (Denzin 1991: 153). Der Symbolische Interaktionismus verschmilzt mit den Cultural Studies, wenn betrachtet wird, wie Erfahrungen durch kulturelle Bedeutungen geprägt werden, die im Alltagsleben zirkulieren. Hierzu müssen die Produktion, die Zirkulation und der Konsum kultureller bzw. medialer Objekte und Texte analysiert werden. Ebenso müs4 | Vgl. hierzu den von Pepi Leistyna (2005) herausgegebenen Band Cultural Studies: From Theory to Action, der die Verknüpfungen von Cultural Studies und sozialem Aktivismus herausstellt.

5 | Denzin (1992: 124ff.) kritisiert Rortys (1989) am Liberalismus orientiertes Bemühen, wieder eine Trennung zwischen öffentlichen und privaten Werten, persönlichen Problemen und öffentlichen Fragestellungen zu etablieren.

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R. Winter und E. Niederer: Die Transformation der Soziologie | 277 sen deren textuelle Bedeutungen sowie die Erfahrungen und Praktiken im Umgang mit ihnen, ihre Rezeption und Aneignung, erfasst und erforscht werden (vgl. Winter 1995). Eine Kontextualisierung der Texte im Alltagsleben ist die Voraussetzung für die systematische Dekonstruktion ihrer Mythen und hegemonialen Sinnmuster. Auf diese Weise könne zum einen ein Einblick in kulturelle und gesellschaftliche Prozesse gewonnen werden. Zum anderen könne durch die Artikulation von subjektivem Unbehagen deutlich werden, dass persönliche Probleme in politische Auseinandersetzungen einbezogen sind. Dabei haben die existentiellen Momente zentrale Bedeutung, in denen Menschen ihr Leben neu ordnen und anders gestalten, nachdem sie erkannt haben, wie ihre gelebte Erfahrung durch umfassendere textuelle und kulturelle Bedeutungen geprägt und eingeschränkt wird. Die Dekonstruktion der Mythen des Alltags (vgl. Barthes 1964)6 ist die Voraussetzung für das Erleben von Differenz und von Wendepunkten sowie die Voraussetzung für Veränderungen.

Die postmodernen Sozialtheorien und der »Tod« des interpretativen Realismus Eine intensive Auseinandersetzung mit den postmodernen Sozialtheorien von Jean Baudrillard, Jean-François Lyotard und Fredric Jameson (vgl. Denzin 1991, Teil 1), die, antipositivistisch orientiert, durch theoretisch-interpretative Analysen ausgewählter kultureller Texte sich um ein Verständnis der Gegenwart bemühen, lässt Denzin das Dogma der klassischen Soziologie, sie sei eine objektive Wissenschaft der empirischen Welt, infrage stellen. Die sozialen Welten, die die Meisterautoren – von Weber und Durkheim bis zu Giddens und Alexander – in ihren Werken entwerfen, entsprächen, so Denzin, nicht den Erfahrungen der Gegenwart, die so komplex, vielfältig und heterogen seien, dass eine Wissenschaft der Gesellschaft, die Strukturen, Gesetze und Wahrheiten in realistischer Weise enthüllen möchte, unmöglich erscheine (vgl. Denzin 1991: 157). Dabei knüpfe die postmoderne Gesellschaftskonzeption, so Denzin, an die Vorstellungen der Interaktionisten an. »Sie vertritt im Anschluss an die Interaktionisten (vgl. Blumer 1969) die These, die Gesellschaft im 6 | Denzin hat sich intensiv mit Barthes’ entmythologisierenden Lesarten der Massen- und Konsumkultur im Nachkriegsfrankreich auseinandergesetzt und ihre Bedeutung für den Symbolischen Interaktionismus hervorgehoben (vgl. Denzin 1987). In vielen seiner Arbeiten, so z.B. zur Werbung für Alkohol (Denzin 1993), hat er mythische, auf einer sekundären Ebene liegende Bedeutungen entschlüsselt und ihre kulturelle Verankerung aufgezeigt.

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278 | Ethnographie, Kino und Interpretation Hier und Jetzt, die konkret gegebene Gesellschaft, lasse sich am besten als interaktionale Leistung verstehen, die durch präexistente und in ständiger Entwicklung begriffene politische, ökonomische, rituelle und moralische Strukturen kristallisierter gesellschaftlicher Erfahrung geformt wird« (Denzin 1991: 24). Eine postmoderne Sichtweise lehnt die »großen Erzählungen« ab, die die Totalität einer Gesellschaft erfassen wollen oder sich von der Kumulation verifizierbaren Wissens den Fortschritt der Disziplin erhoffen. Es gibt nur die situierten praktischen und vorläufigen Aktivitäten der Mitglieder einer Gesellschaft, so z.B. die der Soziologen und Soziologinnen, die beschrieben und analysiert werden können. Denzin (1992: 155ff.) bezieht sich auf die Studie The End(s) of Ethnography (1992) von Patricia Clough, in der sie am Beispiel der Arbeiten von Herbert Blumer, Erving Goffman und Howard S. Becker zeigt, dass diese eine realistische Erkenntnistheorie vertreten, die beim Leser/bei der Leserin den Eindruck erweckt, er/sie könne sehen, was die Autoren selbst wahrgenommen und beobachtet haben. Clough dekonstruiert den in Anspruch genommenen Realismus, dem die drei Autoren in unterschiedlichen Varianten verpflichtet sind, und entlarvt die dahinter steckende Idee vom Soziologen als Voyeur, der die Geheimnisse einer Gesellschaft enthüllen könne. Sprache wird von ihnen als ein transparentes Medium betrachtet, mittels dessen subjektive Erfahrungen erfasst und dargestellt werden können. Bei allen drei interpretativen Soziologen ist der Realismus ein Produkt der Anwendung textueller Konventionen, wie sie sich im psychologischen Roman oder in der Tradition der Chicago School finden, die dem Soziologen als Autor die Macht zugesteht, über die Lebensgeschichte der Untersuchten authentisch zu berichten. Wie Derrida (1972, 1974) gezeigt hat, existieren jedoch keine »objektiven Texte«, die »wahre« Bedeutungen enthalten, welche in Lesarten entschlüsselt werden können, die auf die Intentionen eines Autors/einer Autorin gerichtet sind oder von der Präsenz eines Sinns ausgehen. Jeder Text ist polysem, enthält Widersprüche, Ambiguitäten und Lücken, die in dekonstruktiven Analysen aufgedeckt werden können. »Der Leser/die Leserin erschafft die Texte beim Lesen; die Bedeutung eines Textes ist stets unbestimmt; LeserInnen, AutorInnen und Texte werden geformt durch die Kräfte der Sprache, der Ideologie, des Mythos, der Geschichte, der Konvention und des Stils« (Denzin 1989: 144). Nichtsdestotrotz geben soziale Texte Einblicke in die Gesellschaft und in kulturelle bzw. soziale Erfahrungen. Denzin (1991) zeigt dies u.a. an verschiedenen postmodernen Hollywoodfilmen. So lässt sich Blue Velvet (1986) im Rahmen einer hegemonialen realistischen Lesart verstehen und unterschiedlich bewerten; gleichzeitig ist der Film jedoch ein widersprüchlicher Text, der viele Elemente der postmodernen Ästhetik (wie z.B. die Auflösung der Grenzen zwischen Vergangenheit und Zu-

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R. Winter und E. Niederer: Die Transformation der Soziologie | 279 kunft, eine nostalgische Komponente oder die Faszination des Undarstellbaren) beinhaltet und auch oppositionell interpretiert werden kann. »Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass diese widersprüchlichen, konfliktreichen Positionen Ausdruck der Widersprüche und Spannungen im spätpostmodernen amerikanischen Leben sind. Blue Velvet weckt Wünsche und Ängste, die die Grenzen des Realen und Nichtrealen im zeitgenössischen Alltagsleben aufzeigen« (Denzin 1991: 74). Vor allem Stuart Hall und die Cultural Studies haben auf die Möglichkeit von unterschiedlichen Interpretationsstrategien hingewiesen und diese idealtypisch herausgearbeitet. Dabei können oppositionelle Lesarten die dominant-ideologischen und ausgehandelten Bedeutungen eines Textes, die kulturellen Mythologien, die sich seiner bemächtigt haben, aufdecken und ihn für alternative Bedeutungen öffnen, die die Grundlage für öffentliche Auseinandersetzungen sein können (vgl. Winter 2001b, 2003; Giroux 2002).

Dekonstruktion und Rekonstruktion der interpretativen Soziologie So fordert Denzin eine interpretative Soziologie, die Gesellschaft – im Anschluss an Derridas Dekonstruktion der Metaphysik der Präsenz – als eine Fiktion soziologischer Texte begreift. Die interpretative Soziologie will entsprechende »Analysen bieten, die durch eingehende und detaillierte Lektüren ausgewählter sozialer Texte das Soziale und dessen kulturelle und ideologische Wirkungsweisen erhellen. Sie bemüht sich zu zeigen, wie Wörter, Texte und ihre Bedeutungen in den zentralen Aufführungen [performances] von Rassen-, Klassen- und sozialen Geschlechterbeziehungen eine Schlüsselrolle spielen, denn diese Erfahrungen definieren, was man gemeinhin das Postmoderne nennt« (Denzin 1991: 150). Wenn Sprache ein Prozess der Differenz und des Aufschubs ist, dann können Erfahrungen nie vollständig präsent sein. Sie können nur »in Texten (Interviews Feldforschungsnotizen, Lebensgeschichten, Filmen etc.) wiedergegeben werden, die selbst indirekte Darstellungen dessen sind, was sie repräsentieren wollen« (ebd.: 153). Im Sinne Lacans oder Derridas kann Sprache Erfahrung nicht spiegeln oder abbilden; sie entstellt sie im Zuge des Prozesses der Repräsentation. Bereits in den Arbeiten zu Beginn der 1990er Jahre fordert Denzin daher, die Soziologie solle sich mit ihren textuellen Grundlagen und Konstruktionen auseinandersetzen. Er plädiert auch für Schreibexperimente, die das Verhältnis von Text, AutorIn und Untersuchten neu konzeptualisieren. Eine Möglichkeit, die er neben poetischen und aufführungsorientierten Texten erwähnt, ist das spielerische Experiment der »mystory«, in dem persönliche Erfahrungen zu den Widersprüchen und

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280 | Ethnographie, Kino und Interpretation Konflikten der Gegenwart in Beziehung gesetzt werden. »Mystories« sind von der eigenen Biographie, von lokalen Erzählungen, künstlerischen, populärkulturellen oder auch wissenschaftlichen Diskursen geprägt (vgl. Ulmer 1989). »Eine ›mystory‹ beginnt mit einer persönlichen Erfahrung (dem Stachel der Erinnerung). Sie verortet Themen, die für den Autor/die Autorin signifikant sind. Nach ihrer Verortung werden diese Punkte dann im Hinblick auf ihre Darstellungen in den populären und wissenschaftlichen Archiven der Kultur erforscht« (Denzin 1991: 154). Das Ziel besteht darin, persönliche Erfahrungen in kulturelle Texte zu übersetzen, die multimedial gestaltet sein können und auch aufgeführt werden sollen. »Die ›mystory‹ ist zugleich eine persönliche Mythologie, eine öffentliche Geschichte [story] und eine Aufführung, die Kritik übt. Sie ist eine interaktive dramatische Aufführung. Sie ist eine Variation des Theaters im Kopf der Leser, ein partizipatorisches Bewusstseinstheater, eine Variation des Brechtschen Lehrstücks (vgl. Ulmer 1989: 210), ein Theater der Präsentation, nicht der Repräsentation« (Denzin 1997: 116). Durch die Repräsentation, Verbreitung und Aufführung persönlicher Erfahrungen sollen »mystories« die Vorstellung veranschaulichen, dass der Einzelne/die Einzelne eine universale Singularität ist. So werden eigene Versionen des Realen geschaffen, die die Fiktionen der Gegenwart in Frage stellen und sich in spielerischer Weise mit der postmodernen Situation auseinandersetzen. Freilich ist es schwierig, die Interpretationsrahmen, die kulturellen Erzählungen, die unsere Sicht auf die Welt bestimmen, gänzlich hinter sich zu lassen (vgl. Denzin 1991: 157). Zudem macht uns die postmoderne Situation laut Denzin alle zu Voyeuren: »Der postmoderne Mensch ist ein Voyeur, jemand, der dasitzt und (oft gebannt oder gelangweilt) auf eine Leinwand oder auf einen Bildschirm starrt. Es handelt sich um eine Kultur des Sehens, die nach einer Vielfalt von Blicken oder Anblicken organisiert ist« (Denzin 1992: 80). Vor diesem Hintergrund bieten Epiphanien, »mystories« oder Schreibexperimente Chancen und Möglichkeiten, die voyeuristische Position zu transzendieren und eine Politik des Widerstandes zu entwickeln – was den postmodernen Sozialtheorien in der Regel schon deshalb nicht gelingt, weil sie die alltäglichen Erfahrungen und Interaktionen in ihren Widersprüchen und Möglichkeiten nicht angemessen betrachten (vgl. Winter 1995, Kapitel 3). Denzin (1991: 50) möchte jedoch untersuchen, wie Menschen »in und durch Interaktion und wechselseitige Kommunikation den dominanten, residualen und sich neu entwickelnden Eigenheiten des postmodernen Lebens einen Sinn gaben und sich dazu in Beziehung setzen«. So plädiert er für einen Cultural-Studies-Ansatz, der interaktionistisch, existentiell und kritisch orientiert ist. Er soll die kulturellen und

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R. Winter und E. Niederer: Die Transformation der Soziologie | 281 kommunikativen Prozesse untersuchen, die zwischen Bewusstsein und Existenz dialektisch vermitteln (vgl. Denzin 1992: 164).

Die Kinogesellschaft und ihre Folgen In seiner Monographie The Cinematic Society. The Voyeur’s Future (1995) analysiert Denzin historisch-systematisch die Herausbildung der Kinogesellschaft, die durch eine Dominanz des Visuellen geprägt wird und den Voyeur zur zentralen kulturellen Figur gemacht hat (vgl. Winter 2005). Sie ist eine Variante bzw. die Fortsetzung der von Michel Foucault (1977) analysierten Disziplinargesellschaft, in der das panoptische Dispositiv alles sehen und hören möchte, was in der Gesellschaft vor sich geht. »Im Kino ist der seriöse Voyeur ein moralisches, mitleidendes Wesen, das Menschen in Gefahr rettet. Als logische(r), rationale(r), objektive(r) Beobachter(in) des sozialen Lebens enthüllt er oder sie die Brutalität und Dummheit des Staates und seiner offiziellen Vertreter. Dieses Individuum, das Überwachungsmittel durchaus nicht verschmäht, versucht die Wahrheit über die Realität zu erfassen und enthüllt dabei Korruption und das Böse in der sozialen Welt« (Denzin 1995: 61). Der panoptische Blick wurde im 20. Jahrhundert durch die Erfahrung des Kinos (und der visuellen Medien) alltäglich gemacht und verinnerlicht. Er kehrt wieder im Blick der SozialforscherInnen, der JournalistInnen oder der FilmemacherInnen, die private Welten enthüllen und öffentlich machen. Ergänzend arbeitet Denzin heraus, dass der Blick des Voyeurs mit patriarchalen und rassistischen Machtstrukturen verbunden ist. »Er ist auf eine Art der Zuschauerhaltung ausgerichtet, die das weibliche und das ethnisch oder rassisch fremdartige Andere zum Schauplatz schaulustiger oder investigativer Vergnügungen des Staates und des männlichen Auges macht – für die Augen der Polizei, des Spanners oder des Privatdetektivs« (Denzin 1995: 192). Gerade der Film Peeping Tom (1960) ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie Frauen zum Objekt von sadistischem Voyeurismus und männlicher Gewalt werden können. Für Denzin (1995: 194ff.) ist der Film zudem eine mehr als passende Metapher für seine Analyse im Ganzen. Die Kinogesellschaft möchte die Gesellschaft umfassend visuell erfassen. Dabei errichtet sie ein Dispositiv der Macht, das wie Mark in Peeping Tom »tötet, was es zu verstehen versucht« (Denzin 1995: 194). Sehen erweist sich als eine gewalttätige und vereinnahmende Form des Wissens. In diesem Zusammenhang beruft sich Denzin auf Martin Jays beeindruckende theoriegeschichtliche Studie Downcast Eyes (1993), in der dieser zeigt, wie im französischen Denken des 20. Jahrhunderts die visuelle Epistemologie und der mit ihr verbundene Wahrheitsanspruch, der so genannte Okularzentrismus, in Frage gestellt wurden. Auch im

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282 | Ethnographie, Kino und Interpretation pragmatistischen Denken bei John Dewey oder Richard Rorty sowie in der postmodernen Ethnographie (vgl. Clifford/Marcus 1986) wird die »Zuschauertheorie des Wissens« zurückgewiesen. Ergänzend kann Denzin herausarbeiten, dass Filmemacher wie Alfred Hitchcock, Francis Ford Coppola, Oliver Stone oder Michelangelo Antonioni zeigen, dass die visuelle Wahrnehmung täuschen kann und kein verlässliches Fundament bietet. Verstehen darf gerade nicht mit Sehen gleichgesetzt werden (vgl. Denzin 1999). Im Weiteren erörtert Denzin (1995: 196ff.), welche Konsequenzen die Kritik an der visuellen Epistemologie, die Wahrnehmung und Sehen zu dominanten Formen der Wissensgewinnung macht, für die qualitative Forschung hat. Er weist daraufhin, dass es keine reine Wahrnehmung geben kann. Denn die Wahrnehmung »wird durch jene Strukturen der Sprache umwölkt, die sich nicht in der Gegenwart, dem Ort der so genannten reinen Präsenz, verankern lassen. Die Gegenwart lässt sich in ihrer ganzen Fülle niemals erfassen. Folglich ist sie auf einem Band oder im realen Leben stets schwer zu fassen; es kommt zu Verschiebungen und Unbestimmtheiten, und ihre Bedeutungen sind niemals endgültig oder klar« (Denzin 1995: 197). So erweisen sich visuelle Repräsentationen und auch Transkriptionen als textuelle Konstruktionen, für die es kein Original gibt. Außerdem erschaffen BetrachterInnen bzw. LeserInnen in der Rezeption und Aneignung diese Texte jedes Mal neu. Somit formuliert Denzin eine vehemente Kritik an der modernistischen qualitativen Forschung, die von einer stabilen, sozial konstruierten Wirklichkeit ausgeht, welche es zu enthüllen gelte. Diese Forschung erhebt den Anspruch, durch Techniken und Technologien des voyeuristischen Sehens und Hörens Repräsentationen wirklicher Interaktionen in ihrer reinen Präsenz zu erzeugen. In Denzins poststrukturalistischer Lesart gibt es dagegen nur textuelle Konstruktionen. Ethnographische Texte und Filme, die einer realistischen Logik folgen, müssen deshalb dekonstruiert werden. »Der Poststrukturalismus unterminiert die realistische Agenda, indem er darauf besteht, dass die Dinge nicht unabhängig von ihren Repräsentationen in sozialen Texten existieren. Wenn wir also die Dinge, wie sie sind, verändern wollen, müssen wir ändern, wie sie gesehen und gehört werden. Die Art indes, wie sie gesehen (und gehört) werden, wird durch die älteren realistischen und modernistischen Agenden bestimmt, die von einer Welt da draußen ausgehen, die mit realistischen wissenschaftlichen Methoden vermessen und kartiert werden kann. Diese hegemoniale Sicht muss grundlegend infrage gestellt werden« (Denzin 1995: 201f.). Dem Vorbild der postmodernen Ethnographie folgend, fordert Denzin (1995: 198), Forschung zu betreiben und Texte zu schreiben, die Baudrillards (1982, 1983) Einsicht folgen, dass das Simulakrum die

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R. Winter und E. Niederer: Die Transformation der Soziologie | 283 Wahrheit der Postmoderne verkörpert. Die Suche nach Wahrheit verschleiere gerade, dass es »die« Wahrheit, die sich auf eine objektive Wirklichkeit bezieht, angesichts der Hyperrealität von Codes in der Gegenwart nicht mehr geben könne. Die EthnographInnen gelten nun nicht mehr als distanzierte wissenschaftliche BeobachterInnen, sondern als reisende, nomadische KulturkritikerInnen (vgl. Grossberg 1988), die sich als TouristInnen (vgl. Bruner 1989) oder als SozialtheoretikerInnen einmischen und die durch autoethnographische Beobachtungen Kritik und Opposition artikulieren (vgl. Agger 1991). Die Texte, die EthnographInnen, SchriftstellerInnen oder FilmemacherInnen produzieren, sollen progressive, reflexive Texte sein, die es uns ermöglichen, die soziale Wirklichkeit sowie unsere persönlichen Erfahrungen anders zu sehen, neu zu interpretieren und zu verändern. Dabei weist Denzin darauf hin, dass die Strukturen der Kinogesellschaft auch die Diskurse der Ethnographie und der Cultural Studies durchdringen. »Wir leben in einem Zeitalter des Videos und des Kinos, in dem der Kinoapparat zwischen die materielle Welt und die alltägliche gelebte Erfahrung tritt » (Denzin 1995: 200). So sollen politische Texte entstehen, die den voyeuristischen Charakter der Gegenwart und dessen Implikationen sichtbar machen. Schließlich fordert Denzin ein postpragmatistisches ethnographisches und ethisches Modell, das dem Kinound Videozeitalter und der Dominanz des Visuellen gerecht werden kann (ebd.: 215ff.).

Ethnographie: zwischen Interpretation und Performance Diese Argumentation entwickelt Denzin in Interpretive Ethnography (1997) fort. An die Stelle des klassischen realistischen ethnographischen Textes solle ein neuer ethnographischer Text treten. Die EthnographInnen oder qualitative ForscherInnen können nicht mehr davon ausgehen, dass sie eine objektive Darstellung der Erfahrung der anderen geben können. Diese haben ihre eigene Auffassung davon, wie sie repräsentiert werden möchten (vgl. Denzin 1997: xiii). So sind dialogische Texte erforderlich, die nicht nur die Stimme des Autors der Autorin, sondern auch die Stimmen der Untersuchten zu Wort kommen lassen. »Ethnographie ist jene Form der Untersuchung und des Schreibens, die Beschreibungen und Darstellungen über die Lebensweisen des/der Schreibenden und derjenigen, über die geschrieben wird, produziert« (ebd.: xi). Die Stimmen, die in Texten zu Wort kommen, sind jedoch immer textuelle, performative Schöpfungen und Kreationen. Für Denzin ist die neuere Ethnographie vor allen Dingen dadurch geprägt, dass sie marginalisierten, subordinierten und lange Zeit vom Diskurs ausgeschlossenen Gruppen der globalen, postmodernen Welt

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284 | Ethnographie, Kino und Interpretation hilft, sich zu artikulieren (vgl. Denzin 2005). So setzt er sich mit verschiedenen Standpunkt-Epistemologien auseinander, die die Schreibenden und ihre Position ins Zentrum des Textes rücken. Auch hier weist Denzin daraufhin, dass es problematisch ist, davon auszugehen, es gebe einen direkten Zugang zur gelebten Erfahrung, der die Basis für das Schreiben sein könne. »Der/die Schreibende kann nicht aus unmittelbarer Erfahrung schreiben. Schreiben (und Filmemachen) bauen auf den Repräsentationen von Erfahrung auf« (Denzin 1997: 85). Denzin schließt sich der Auffassung an, dass EthnographInnen oder qualitative ForscherInnen von einer historisch und kulturell situierten Position aus Erfahrungen beschreiben und analysieren. Dabei spielt das Persönliche, das stets auch in seiner politischen Dimension betrachtet wird, eine entscheidende Rolle. So schreibt Denzin: »Ich unterstütze eine kritische Epistemologie, die die Vorstellungen der Objektivität und Neutralität kritisch hinterfragt. Ich glaube, dass alle Untersuchungen moralisch und politisch sind. Ich schätze autoethnographische, von der Innenperspektive geprägte, partizipatorische, kollaborative Methodologien« (2005: 936). Deshalb plädiert er im Anschluss an Richardson (2000) für kritische persönliche Erzählungen (Kurzgeschichten, Selbstzeugnisse, Ich-Erzählungen, persönliche Essays, Fotoessays etc.), die in kolonialen, patriarchalen oder neoliberalen Kontexten zu Gegenerzählungen werden können, die die dominanten Ideologien und Interpretationsrahmen in Frage stellen. Denzin (1997, 2003) entwickelt eine interpretativ und performativ orientierte Ethnographie, die den Beobachter/die Beobachterin als Interpreten/Interpretin versteht und sich Aufführungstexten zuwendet, um die voyeuristische Logik zu überwinden und eine Vielfalt von Perspektiven zur Darstellung zu bringen. So können im Feld geführte Interviews in zur Aufführung bestimmte Texte, in poetische Monologe transformiert werden. Sie zeigen, wie Menschen in sozialen Kontexten Geschichte schaffen, und können die inspirierende Grundlage für die Transformation konkreter Situationen durch Akte der Kritik und des Widerstands sein (vgl. Denzin 2006: 331). In der Folge plädiert Denzin – in Fortsetzung der demokratisch engagierten Tradition des Symbolischen Interaktionismus – für performativ orientierte Cultural Studies (Denzin 2007), die an die kritische Pädagogik anknüpfen und progressiv politisch im Sinne der Herstellung einer radikal freien demokratischen Gesellschaft wirken (vgl. Winter 2006). In seiner Diskussion der inspirierenden Arbeiten von Dwight Conquergood (1991, 2002) weist Denzin (2003) darauf hin, dass Kultur auch für die Interaktionisten ein »Verb« ist und als Prozess konzipiert wird. Darüber hinaus stehen Aufführungen und ihre Darstellungen im Zentrum gelebter Erfahrungen. Er begrüßt, dass Aufführungen die

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R. Winter und E. Niederer: Die Transformation der Soziologie | 285 mit Monopolanspruch auftretende Autorität wissenschaftlicher Artikel untergraben. Ihre Legitimation erwerben solche Aufführungen nicht durch das Zitieren wissenschaftlicher Texte, sondern dadurch, dass sie einen gemeinsamen Erfahrungsraum schaffen, in dem zwischen Aufführenden und Publikum Erlebnisse, Emotionen und Verständnisse geweckt und entfaltet werden können. Dabei soll die Aufführung in der pädagogischen Praxis zu einem Akt des Widerstandes werden (vgl. McLaren 1995; Giroux 2000), indem Orte der Unterdrückung, etwa in Schule oder Krankenhaus, aufgedeckt werden. Denzin (2003: 9) bestimmt »Aufführung« (performance) als einen »Akt der Intervention, eine Methode des Widerstands, eine Form der Kritik, eine Art, Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen«. Hierbei betont er, dass autoethnographische Zeugnisse eine wichtige Dimension der »performance ethnography« seien, weil sie soziale Missstände kritisieren, Kultur in Bewegung bringen und dem Publikum Erfahrung und Teilhabe ermöglichen. »In Fortführung von Freire (1998) trägt die performative Autoethnographie zu einem Verständnis von Pädagogik und Demokratie als Freiheitspädagogik bei. In der Praxis ist die performative Ethnographie eine Art und Weise, mit dem Ziel der Veränderung auf die Welt einzuwirken« (Denzin 2006: 331). An die Arbeiten von Peter McLaren (2001, 2005) anknüpfend, sieht Denzin hier eine Politik des Widerstandes möglich, die auf einem fortdauernden moralischen Dialog aufbaut, in dem persönliche Erlebnisse mit gemeinsamen Projekten verbunden werden und so Gemeinschaften geschaffen bzw. gestärkt werden. Performance, Kunst und Pädagogik sollen verschmelzen, um in Aufführungen kulturelle Praktiken zu kritisieren, die hegemoniale Machtverhältnisse reproduzieren und Unterdrückung perpetuieren. Eine aufführungsorientierte Pädagogik kann eine performative kulturelle Politik der Hoffnung zum Ausdruck bringen. Sie ist der Immanenz verpflichtet, den Prozessen, die im Sinne von Ernst Bloch in unserer Wahrnehmung, unserem Denken und unserem Verstehen bereits angelegt sind. »In diesem Sinne kritisieren kritische Theoretiker jene Forscher, deren Arbeit darauf ausgerichtet ist, Individuen an die Welt, wie sie ist, anzupassen. Im Kontext der Immanenz stellen kritische Forscher stattdessen die grundlegende Frage, wer wir sind, wie wir zu dem werden, was wir sind, und wie es mit uns weitergehen kann« (Kincheloe/McLaren 2005: 308). Am Beispiel des Rassismus in den USA zeigt Denzin durch Analysen von Hollywoodfilmen (vgl. Denzin 2002), durch seine eigenen Texte und die Aufführungen, die er beschreibt, wie Formen der Unterdrückung, aber vor allem der Widerstand gegen Rassismus und der Kampf für eine andere Welt Themen einer kritisch-performativen Sozialwissenschaft sein können. Aufführungen können Empathie erzeugen, Verständnis

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286 | Ethnographie, Kino und Interpretation bewirken und dazu beitragen, alternative soziale Wirklichkeiten zu schaffen. Das Ziel von Aufführungstexten ist es, einen kritisch-moralischen Diskurs zu initiieren und soziale Bindungen zu knüpfen. Sie möchten nicht die Welt darstellen, wie sie »wirklich« ist, sondern intervenieren und ermächtigend wirken (vgl. Denzin 2007).7

Ausblick Unsere Ausführungen haben deutlich gemacht, dass es Norman Denzin vor allem durch seine Auseinandersetzung mit dem Poststrukturalismus gelungen ist, eine kritische Sozialwissenschaft zu entwickeln, die sich den sozialen Problemen der Gegenwart stellt. Seine Arbeiten fordern die Soziologie dazu auf, ihre Erzählung von der Geschichte der Disziplin als textuelle, mythische Konstruktion zu begreifen sowie die traditionellen Auffassungen von Forschung zu überdenken und zu revidieren. Nur wenn SoziologInnen dazu bereit sind, auf diese Weise die Grundlagen ihrer Disziplin infrage zu stellen, wird die soziologische Vorstellungskraft auch im 21. Jahrhundert von Bedeutung sein.

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7 | Vgl. hierzu exemplarisch den von Denzin und Giardina herausgegebenen Band Contesting Empire, Globalizing Dissent: Cultural Studies after 9/11 (2007).

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R. Winter und E. Niederer: Die Transformation der Soziologie | 287 Clifford, James/Marcus, George (Hg.) (1986), Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley: University of California Press. Clough, Patricia Ticineto (1992), The End(s) of Ethnography: From Realism to Social Criticism, Newbury, CA: Sage, 1992; New York: Peter Lang, 1998. Clough, Patricia T. (1994), Feminist Thought: Desire, Power and Academic Discourse, Cambridge, MA: Blackwell. Conquergood, Dwight (2002), »Performance Studies: Interventions and Radical Research«, in: The Drama Review 46, S. 145-156. Conquergood, Dwight (1991), »Rethinking Ethnography: Towards a Critical Cultural Politics«, in: Communication Monographs 58, S. 179-194, Nachdr. in: D. Soyini Madison/Judith Hamera (Hg.)(2006), The Sage Handbook of Performance Studies, London u.a.: Sage, S. 351-366. Denzin, Norman K. (1984), On Understanding Emotion, San Francisco u.a.: Jossey-Bass. Denzin, Norman K. (1987), »On Semiotics and Symbolic Interactionism«, in: Symbolic Interaction 10, S. 1-20. Denzin, Norman K. (1989), Interpretive Interactionism, Newbury Park, CA: Sage. Denzin, Norman K. (1991), Images of Postmodern Society: Social Theory and Contemporary Cinema, London u.a.: Sage. Denzin, Norman K. (1992), Symbolic Interactionism and Cultural Studies: The Politics of Interpretation, Oxford/Cambridge, MA: Blackwell. Denzin, Norman K. (1993), The Alcoholic Society: Addiction and Recovery of Self, New Brunswick, NJ: Transaction Publishing. Denzin, Norman K. (1995), The Cinematic Society: The Voyeur’s Gaze, London u.a.: Sage. [Dt. Übers. des 1. Kapitels im vorliegenden Band.] Denzin, Norman K. (1996), »Post-Pragmatism«, in: Symbolic Interaction 19 (1), S. 61-75. Denzin, Norman K. (1997), Interpretive Ethnography: Ethnographic Practices for the 21st Century, Thousand Oaks, CA: Sage. Denzin, Norman K. (1999), »Ein Schritt voran mit den Cultural Studies«, in: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 116-145. Denzin, Norman K. (2000), »Symbolischer Interaktionismus«, in: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek: Rowohlt, S. 136-150. Denzin, Norman K. (2002), Reading Race. Hollywood and the Cinema of Racial Violence, London u.a.: Sage. Denzin, Norman K. (2003), Performance Ethnography: Critical Pedagogy and the Politics of Culture, London u.a.: Sage.

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Quellennachweise | 291

Quellennachweise

Programmatische Ansprache des Vorsitzenden: Ein neuer Blick auf C. Wright Mills’ »The Sociological Imagination« erschien unter dem Titel »Presidential Address on The Sociological Imagination Revisited« in: Sociological Quarterly 31:1 (1990), S. 1-22. Harold und Agnes: Eine feministische narrative Dekonstruktion erschien unter dem Titel »Harold and Agnes: A Feminist Narrative Undoing« in: Sociological Theory 8:2 (1990), S. 198-216. Die Geburt der Kinogesellschaft erschien unter dem Titel in »The Birth of the Cinematic Society« als Kapitel 1 in: Norman K. Denzin (1995), The Cinematic Society: The Voyeur’s Gaze, London u.a.: Sage, S. 13-41. Das reflexive Interview und eine performative Sozialwissenschaft erschien unter dem Titel »The Reflexive Interview and a Performative Social Science« in: Qualitative Research 1:1 (2001), S. 23-46. Ein Plädoyer für die performative Dimension erschien unter dem Titel »The Call to Performance« in: Symbolic Interaction 26:1 (2003), S. 187-207. Lesen und Schreiben als performativer Akt erschien unter dem Titel »Reading and Writing Performance« in: Qualitative Research 3:2 (2003), S. 243-268. Rassendarstellungen auf der Leinwand erschien unter dem Titel »Screening Race« in: Cultural Studies Critical Methodologies 3:1 (2003), S. 22-43.

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) 01_08_02.p 181092523976

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) vakat 292.p 181091120104

Auswahlbibliographie | 293

Auswahlbibliographie

Diese Zusammenstellung, als Hilfe für die Weiterarbeit im Themenbereich Qualitative Sozialforschung gedacht, enthält einige Bände aus den Einzelbibliographien des vorliegenden Bandes und weitere Literatur in englischer und deutscher Sprache.

Ayaß, Ruth/Bergmann, Jörg (Hg.) (2006), Qualitative Methoden der Medienforschung, Reinbek: Rowohlt. Bochner, Arthur P./Ellis, Carolyn (Hg.) (2002), Ethnographically Speaking: Autoethnography, Literature, and Aesthetics, Walnut Creek, CA: Altamira Press. Denzin, Norman K. (2000), »Reading Film – Filme und Videos als sozialwissenschaftliches Erfahrungsmaterial«, in: Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek: Rowohlt, S. 416-428. Denzin, Norman K. (2007), Flags in the Window. Dispatches from the American War Zone, New York: Peter Lang. Denzin, Norman K. (2008), Searching for Yellowstone. Race, Gender, Family, and Memory in the Postmodern West, Walnut Creek, CA: Westcoast Press. Denzin, Norman K./Lincoln, Yvonna S. (Hg.) (2001), The American Tradition in Qualitative Research, 4 Bde., London u.a.: Sage. Denzin, Norman K./Lincoln, Yvonna S. (Hg.) (2002), Qualitative Inquiry Reader, London u.a.: Sage. Denzin, Norman K./Lincoln, Yvonna S. (Hg.) (2003a), The Landscape of Qualitative Research: Theories and Issues, 2. Aufl., London u.a.: Sage. Denzin, Norman K./Lincoln, Yvonna S. (Hg.) (2003b), Strategies of Qualitative Inquiry, 2. Aufl., London u.a.: Sage. Denzin, Norman K./Lincoln, Yvonna S. (Hg.) (2003c), Collecting and Interpreting Qualitative Materials, 2. Aufl., London u.a.: Sage.

2008-06-11 14-55-55 --- Projekt: T903.CS.winter / Dokument: FAX ID 029d181091120080|(S. 293-295) 01_09.p 181091120120

294 | Ethnographie, Kino und Interpretation Denzin, Norman K./Lincoln, Yvonna S. (Hg.) (2005), The Sage Handbook of Qualitative Research, 3. Aufl., London u.a.: Sage. Denzin, Norman K./Lincoln, Yvonna S./Smith, Linda Tuhiwai (Hg.) (2008), Handbook of Critical and Indigenous Methodologies, London u.a.: Sage. Denzin, Norman K./Giardina, Michael D. (Hg.) (2006), Qualitative Inquiry and the Conservative Challenge: Confronting Methodological Fundamentalism, Walnut Creek, CA: Left Coast Press. Denzin, Norman K./Giardina, Michael D. (Hg.) (2007a), Ethical Futures in Qualitative Research: Decolonizing the Politics of Knowledge, Walnut Creek, CA: Left Coast Press. Denzin, Norman K./Giardina, Michael D. (Hg.) (2007b), Contesting Empire, Globalizing Dissent: Cultural Studies after 9/11, Boulder, CO/ London: Paradigm. Denzin, Norman K./Giardina, Michael D. (Hg.) (2008), Qualitative Inquiry and the Politics of Evidence, Walnut Creek, CA: Westcoast Press. Flick, Uwe/von Kardorff, Ernst/Steinke, Ines (Hg.) (2000), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek: Rowohlt. Göttlich, Udo/Mikos, Lothar/Winter, Rainer (Hg.) (2001), Die Werkzeugkiste der Cultural Studies. Perspektiven, Anschlüsse und Interventionen, Bielefeld: transcript. Gubrium, Jaber F./Holstein, James A. (Hg.) (2003), Postmodern Interviewing, Thousand Oaks, CA u.a.: Sage. Hörning, Karl H./Winter, Rainer (Hg.) (1999), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Holstein, James A./Gubrium, Jaber F. (2000), The Self We Live By: Narrative Identity in a Postmodern World, New York: Oxford University Press. Lincoln, Yvonna S./Denzin, Norman K. (Hg.) (2003), Turning Points in Qualitative Research: Tying Knots in a Handkerchief, Walnut Creek, CA u.a.: Altamira Press. Madison, D. Soyini/Hamera, Judith (Hg.) (2006), The Sage Handbook of Performance Studies, London u.a.: Sage. Mikos, Lothar/Wegener, Claudia (Hg.) (2005), Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch, Konstanz: UVK. Winter, Rainer (2001), Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Winter, Rainer (2005), »Interpretative Ethnographie«, in: Lothar Mikos/ Claudia Wegener (Hg.), Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch, Konstanz: UVK, S. 553-561. Winter, Rainer (2006a), »Cultural Studies«, in: Ruth Ayaß/Jörg Bergmann (Hg.), Qualitative Methoden der Medienforschung, Reinbek: Rowohlt, S. 423-434.

2008-06-11 14-55-55 --- Projekt: T903.CS.winter / Dokument: FAX ID 029d181091120080|(S. 293-295) 01_09.p 181091120120

Auswahlbibliographie | 295 Winter, Rainer (2006b), »Kultur, Reflexivität und das Projekt einer kritischen Pädagogik«, in: Paul Mecheril/Monika Witsch (Hg.), Cultural Studies und Pädagogik. Kritische Artikulationen, Bielefeld: transcript, S. 21-50. Winter, Rainer (2008), »Die Politik der Aufführung. Interpretative Ethnographie imd kritische Pädagogik im 21. Jahrhundert«, in: Johannes Fromme/Werner Sesink (Hg.), Padägogische Medientheorie, Wiesbaden: VS Verlag, S. 115-128.

Zeitschriften Cultural Studies Critical Methodologies, Herausgeber: Norman K. Denzin, erscheint seit 2001, vier Ausgaben pro Jahr, London u.a.: Sage. Qualitative Inquiry, Herausgeber: Norman K. Denzin und Yvonna S. Lincoln, erscheint seit 1995, acht Ausgaben pro Jahr, London u.a.: Sage.

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Die Autorin und die Autoren des Bandes | 297

Zum Autor und den Herausgebern des Bandes

Norman K. Denzin (Prof. Dr.) ist Soziologe. Er lehrt Soziologie, Cinema Studies sowie Criticism and Interpretive Theory am Institut für Kommunikationsforschung der University of Illinois in Urbana-Champaign. Elisabeth Niederer (Mag.a) ist Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin und wissenschaftliche Projektleiterin des Kärntner Netzwerkes gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Rainer Winter (Prof. Dr.) ist Soziologe und Psychologe. Er lehrt Medienund Kulturtheorie an der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt.

2008-06-11 14-55-55 --- Projekt: T903.CS.winter / Dokument: FAX ID 029d181091120080|(S. 297

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Birgit Althans, Kathrin Audem, Beate Binder, Moritz Ege, Alexa Färber (Hg.)

Kreativität. Eine Rückrufaktion Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2008 März 2008, 138 Seiten, kart., 8,50 € ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007) und Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Cultural Studies Marcus S. Kleiner, Winfried Fluck, Rainer Winter, Jörg-Uwe Nieland Diskursguerilla Kultur- und medienwissenschaftliche Analysen des Widerstands Dezember 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-684-7

Rainer Winter Widerstand im Netz? Zur Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit durch netzbasierte Kommunikation November 2008, ca. 150 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN: 978-3-89942-555-0

Ladina Bezzola Lambert, Andrea Ochsner (eds.) Moment to Monument The Making and Unmaking of Cultural Significance November 2008, ca. 224 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-962-6

Katrin Keller Der Star und seine Nutzer Starkult und Identität in der Mediengesellschaft Juli 2008, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-916-9

Rainer Winter, Elisabeth Niederer (Hg.) Ethnographie, Kino und Interpretation – die performative Wende der Sozialwissenschaften Der Norman K. Denzin-Reader Juli 2008, 320 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-903-9

Julia Mahler Lived Temporalities Exploring Duration in Guatemala. Empirical and Theoretical Studies 2007, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-657-1

Frank Wittmann Medienkultur und Ethnographie Ein transdisziplinärer Ansatz. Mit einer Fallstudie zu Senegal 2007, 424 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN: 978-3-89942-747-9

Claudia C. Ebner Kleidung verändert Mode im Kreislauf der Kultur 2007, 170 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-618-2

Rainer Winter, Peter V. Zima (Hg.) Kritische Theorie heute 2007, 322 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-530-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Cultural Studies Karin Bruns, Ramón Reichert (Hg.) Reader Neue Medien Texte zur digitalen Kultur und Kommunikation 2007, 542 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-339-6

Eva Kimminich, Michael Rappe, Heinz Geuen, Stefan Pfänder (Hg.) Express yourself! Europas kulturelle Kreativität zwischen Markt und Underground 2007, 254 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-673-1

Moritz Ege Schwarz werden »Afroamerikanophilie« in den 1960er und 1970er Jahren 2007, 180 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-597-0

Marian Adolf Die unverstandene Kultur Perspektiven einer Kritischen Theorie der Mediengesellschaft 2006, 290 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-525-3

Tanja Thomas, Fabian Virchow (Hg.) Banal Militarism Zur Veralltäglichung des Militärischen im Zivilen 2006, 434 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-356-3

Karin Lenzhofer Chicks Rule! Die schönen neuen Heldinnen in US-amerikanischen Fernsehserien 2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-433-1

Marcus S. Kleiner Medien-Heterotopien Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie 2006, 460 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN: 978-3-89942-578-9

Christoph Jacke, Eva Kimminich, Siegfried J. Schmidt (Hg.) Kulturschutt Über das Recycling von Theorien und Kulturen 2006, 364 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-394-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de