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German Pages 660 Year 2014
Eva Soom Ammann Ein Leben hier gemacht
Kultur und soziale Praxis
Eva Soom Ammann (Dr. phil.) ist Sozialanthropologin und in der angewandten Forschung im Bereich Migration, Alter und Gesundheit tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrationsforschung, Biographieforschung, Alterssoziologie, Familiensoziologie und Geschlechterforschung.
Eva Soom Ammann
Ein Leben hier gemacht Altern in der Migration aus biographischer Perspektive – Italienische Ehepaare in der Schweiz
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Italienisches Paar am Sechstagerennen Zürich, 1964, © Andreas Wolfensberger, Winterthur Lektorat & Satz: Eva Soom Ammann Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1668-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
I NHALT
1.
Altwerden in der Migration – Eine Einführung | 7
2.
Migration und Alter: Forschungsfeld und Forschungsfrage | 11 2.1 Ein Forschungsthema mit Praxisrelevanz | 12 2.2 Altersforschung und Demographie | 35 2.3 Die Lebenslage alternder italienischer ‚Gastarbeiter/innen‘ in Bern | 55 2.4 Ehepaare und Familien im Fokus | 88 2.5 Werden italienische Ehepaare in der Schweiz anders alt? Der biographische Ansatz | 129 3. Biographie: Theoretisch-methodologische Anknüpfungspunkte | 137 3.1 Biographie – Migration – Geschlecht – Alter: Verknüpfung der Perspektiven | 138 3.2 Biographie als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse | 147 3.3 Disziplinäre und interdisziplinäre biographische Ansätze | 162 4.
Paare suchen, besuchen und verstehen: Das methodische Vorgehen | 205
4.1 Inspirationsquellen und Handlungsanleitungen | 205 4.2 Die forschungspraktische Umsetzung | 209 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7
Selber die Familie durchgebracht: Das Ehepaar Rosetti | 223 Die Rosettis kennenlernen | 223
Die biographisch-narrativen Selbstpräsentationen | 230 Arbeitserfahrungen in der Schweiz | 287 Das dritte Lebensalter | 307 Die zentralen Themen: Familiäre Einbindung und Autonomie | 344 Eine andere Sichtweise auf Familie und Autonomie: Die Agostinos | 346 Familiäre Solidarität, Individualität und das Leben der Kinder | 358
6.
Altwerden ‚hier‘ in der Schweiz oder ‚bei uns‘ in Italien? Das Ehepaar Lillo | 367 6.1 Die Lillos kennenlernen | 367 6.2 Die biographisch-narrativen Selbstpräsentationen | 372 6.3 Biographische Auslassungen: Herkunft und Migrationsentscheidung | 392 6.4 Arbeit im Zentrum der biographischen Selbstpräsentation | 408 6.5 Das dritte Lebensalter | 430 6.6 Die zentralen Themen: Altern ohne familiäres Netz und Rückkehroption | 473 6.7 Eine andere Sichtweise auf soziale Isolation und Rückkehr: Die Morellinis | 478 6.8 Autonomie als Migrationsgewinn und Remigration als Hintertür | 489 7. Italienisch, aber keine ‚Gastarbeiter‘: Das Ehepaar Genni | 493 7.1 Die Gennis kennenlernen | 493 7.2 Die biographisch-narrativen Selbstpräsentationen | 497 7.3 Biographische Auslassungen: Herkunft, Migrationserfahrungen, soziales Leben | 522 7.4 Das dritte Lebensalter | 531 7.5 Die zentralen Themen: Status, Zugehörigkeit und Distinktion | 571 7.6 Eine andere Sichtweise auf Zugehörigkeit und Distinktion: Die Roccas | 577 7.7 Marginalisierung, ethnische Zugehörigkeit und Insulation | 587 8.
Schlussdiskussion: Wie werden italienische Ehepaare in der Schweiz alt? | 593
8.1 „Legitimationszwang“: Statuspassage Pensionierung und Bilanzierung des Migrationsprojektes | 595 8.2 „Rückkehrorientierung“: Handlungsoption Remigration | 601 8.3 „Familienorientierung“: Solidarität, Autonomie und familiäre Pflege | 609 8.4 „Ethnische Insulation“: Zugehörigkeiten und Bedürftigkeiten im Alter | 616 8.5 Ein Plädoyer für die Relevanz der Migrationserfahrung | 620 Literaturverzeichnis | 627 Dank | 655
1. Altwerden in der Migration – Eine Einführung
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, was alte Menschen umtreibt, die sich in jungen Jahren dazu entschlossen haben, ins Ausland arbeiten zu gehen, vielleicht für ein paar Jahre, vielleicht für längere Zeit, die dann aber Jahrzehnte geblieben und in ihrem ‚Gastland‘ alt geworden sind. Altern diese Menschen spezifisch, anders als andere, die nicht migriert sind, und wenn ja, was macht ihr Altern zu einem besonderen? Die Konstellation, die hier betrachtet wird, ist die ‚Gastarbeiter‘-Migration1 aus Italien in die Schweiz, und darin wiederum sind es Ehepaare, die pensioniert sind und ganz oder mehrheitlich in der Schweiz leben. Fünf Ehepaare und zwei Ehefrauen2 ließen mich an ihren Erinnerungen und Geschichten, ihren Sorgen und Nöten sowie ihren Freuden und Müßigkeiten im Alter teilhaben, erläuterten mir ihre Weltsichten und Lebensphilosophien. Deren vielfältige Facetten und deren unterschiedliche biographische Ausgestaltung im Kontext von spezifischen historischen Bedingungen sollen hier gebührenden Raum erhalten. Drei extensive Fallrekonstruktionen und drei Kurzanalysen bilden den empirischen Teil dieser Arbeit. Vorerst aber werden in den folgenden Kapiteln das Feld und seine wissenschaftliche Bearbeitung umrissen, innerhalb dem die Geschichten der Ehepaare und mein Umgang damit zu situieren sind. Durch diese Annäherung an den konkreten Forschungsgegenstand wird uns Frau
1
In der vorliegenden Arbeit wird grundsätzlich darauf geachtet, Substantive sowohl in der männlichen wie auch der weiblichen Form zu benutzen. Bei zusammengesetzten Worten hingegen wird im Sinne der Lesefreundlichkeit auf die konsequente Benutzung beider Geschlechtsformen verzichtet.
2
In zwei Fällen wollten oder konnten sich die Ehemänner nicht an den Interviews beteiligen.
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Santo mit exemplarisch-illustrierenden Ausschnitten aus ihren Erzählungen begleiten3. Frau Santo meldete sich aus eigener Initiative für eine Teilnahme an meiner Studie. Sie wolle mir gern aus ihrem Leben erzählen, sagte sie mir zu Beginn, ihr Mann jedoch nicht. Er sei nicht so gesellig, könne keinen Sinn darin erkennen, über die Vergangenheit zu sprechen. Doch das sei kein Problem, sie könne genauso gut über ihren Mann Auskunft geben wie er, sie wisse ja alles über ihn. Tatsächlich haben die beiden bereits ein halbes Jahrhundert als Ehepaar zusammen verbracht, einen Großteil davon in Bern, dem Ort, an dem sie gearbeitet und ihre Kinder großgezogen haben, dem Ort, an dem sie alt geworden sind. Eigentlich, so war geplant, wollte das Ehepaar Santo irgendwann wieder zurückkehren in das Dorf der Kindheit, nach Sizilien, doch mit dem Alter haben sich die Lebensperspektiven und Relevanzen etwas verschoben. S: È così, non sappiamo fin quando [.]
S: So ist es, wir wissen nicht, wie lange wir
duriamo. [lacht] Per intanto ci ho detto
uns halten. [lacht] Bis dahin sag ich
al mio marito: „Oggi di nuovo ci siamo
meinem Mann: „Heute sind wir wieder
alzati. Domani non sappiamo cosa suc-
aufgestanden. Was morgen ist, wissen
cesse.“ Eh!
wir nicht.“ Eh!
E: Ma Lei è sicura che ritorna in Sicilia? S: No, non sono sicura. [***] Non possiamo dire che ritorniamo o non ritorniamo. [.] Per il momento siamo qua.
E: Aber sind Sie sicher, dass Sie nach Sizilien zurückkehren werden? S: Nein, ich bin nicht sicher. [***] Wir können nicht sagen, ob wir zurückkeh-
[.] Abbiamo la, [.] la cassa malattia
ren oder nicht zurückkehren. Für den
qua, che siamo assicurati. Giù anche,
Moment sind wir hier. Wir haben hier
in Sicilia, aiutano molto, però [.]
die Krankenkasse, sind versichert. Un-
adesso, per altri due, tre anni, siamo [.]
ten auch, in Sizilien, da helfen sie viel,
sicuri qua. [.] L’indomani che il figlio
aber jetzt, für weitere zwei, drei Jahre,
deve essere stare bene, noi vi andiamo,
sind wir sicher hier. Sobald es dem Sohn
però per noi ormai andare giù è un
gut geht, gehen wir weg, aber für uns,
problema.
jetzt, zu gehen, das wäre ein Problem.
E: Perché?
E: Warum?
S: Eh, perché? Perché gli ospedali sono
S: Eh, warum? Weil die Spitäler weit weg
3
lontani del paese. Ci ha qualcuno che ti
sind vom Dorf. Du brauchst jemanden,
prende e che ti riporto quando stai
der dich bringt und holt, wenn’s dir
male. Non è come qui che sei nella
schlecht geht. Das ist nicht wie hier, wo
Für Hinweise zur Transkription siehe Kapitel 4.2 Seite 220f.
E INFÜHRUNG
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stessa città. [.] E allora, quello è anche
du direkt in der Stadt bist. Ja, das ist
un grande problema [.] per noi. Altri-
auch ein großes Problem für uns. Ande-
menti lì è bella [.] la vita, come si di-.
rerseits, dort ist das Leben schön, wie
Perché con questi soldi che noi pren-
sagt ma-. Denn mit dem Geld, das wir
diamo qua, giù [.] facessimo i signori.
hier bekommen, könnten wir unten wie
Capisci? La nostra casa. [.] Non è cara
die Herrschaften leben. Verstehst du?
la vita come qua. [.] E questo è un
Unser Haus. Das Leben ist nicht so
grande problema pure per noi. Perché
teuer wie hier. Und das ist auch ein
se noi stessimo giù, puuh! Questi tre,
großes Problem für uns. Denn wenn wir
quattro mila franchi che prendiamo qui,
unten leben würden, puuh! Diese drei-,
da noi giù [.] potessimo veramente
viertausend Franken, die wir hier be-
girare il mondo. [.] Però c’è un’altra
kommen, damit könnten wir bei uns un-
cosa, c’è i figli qua. [.] Questa piccola
ten die Welt auf den Kopf stellen! Doch
ha bisogno, di noi, che ci teniamo il
da ist noch etwas, das sind die Kinder
bambino. Sa. Questa piccola ci ha il
hier. Die Kleine braucht uns, dass wir
bambino piccolo. Allora adesso già ha
ihr das Kind hüten. Wissen Sie. Die
16 mesi. E [.] lei fa la parrucchiera. A
Kleine hat ein kleines Kind. Jetzt ist es
casa ci ha una cameretta, e fa qualcosa.
schon 16 Monate alt. Und sie ist Fri-
Allora però ha bisogno [.] di noi.
seuse. Hat ein Zimmerchen zu Hause,
Allora è brutto che noi ce ne andiamo.
und macht was. Doch deshalb braucht
[.] E anche a noi, mi piace stare qua, io
sie uns. Und da wäre es hart, wenn wir
ci ho così tante colleghe, vado alla
gehen würden. Und zudem gefällt es
ginnastica, questo mi manca in Sicilia,
uns, mir hier, ich hab so viele Kollegin-
a me. Ci ho i colleghi che cantiamo,
nen, gehe zur Gymnastik, das fehlt mir
siamo qualche venti. [.] Tante cose che
in Sizilien. Ich hab die Sing-Kollegin-
io ce ho qui, lì non ce l’ho. Tante cose
nen, wir sind etwa zwanzig. So vieles
che sono lì, qua non ci sono. [...] Ok, va
hab ich hier, und dort hab ich’s nicht.
bene così [.] che neanche io lo so più
So vieles gibt es dort, und hier gibt es
cosa [..] dobbiamo fare. Non serve che
das nicht. – Ok, gut so, nicht einmal
ci dico a Lei, facciamo così, facciamo
mehr ich weiß, was wir tun sollen. Es
così, perché [.] anche noi siamo come
nützt nichts, wenn ich Ihnen sage, wir
questo [macht unbestimmte Handbewe-
machen’s so, wir machen’s so, weil
gung]. Quello che viene [.] domani, ci
auch wir sind so [macht unbestimmte
prendiamo.
Handbewegung]. Wir nehmen’s wie’s kommt.
(Transkript Santo 1, 17/38 – 18/24) So spricht Serafina Santo einen Tag nach ihrem 65. Geburtstag, den sie zusammen mit ihren Kindern und deren Familien in einem eleganten italienischen
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Restaurant in der Berner Innenstadt gefeiert hat. Eigentlich wollte das junge Ehepaar Santo nur ein paar Jahre lang weg vom Dorf auf Sizilien bleiben, mit geregelter Lohnarbeit etwas Geld im Norden verdienen, der Plackerei auf den Feldern und der Enge des sozialen Gefüges entkommen, etwas Freiheit und Freizeit genießen, und dann als kleine ‚Herrschaften‘ zurückkehren ins eigene Haus. Seit 45 Jahren lebt Serafina nun schon in Bern, ist inzwischen pensioniert, ihr Mann auch, ihre Kinder sind erwachsen und haben selber Kinder bekommen. Die Idee einer Rückkehr ist nach wie vor präsent, deren Umsetzung jedoch alles andere als einfach. Die beiden Töchter wollen in Bern bleiben, und eine der beiden ist alleinerziehend und auf Kinderbetreuung durch die Santos angewiesen. Dass der Sohn nun die von den Eltern eigentlich geplante Rückkehr vollziehen will, mit seiner italienischen Ehefrau das leer stehende Haus der Eltern im Herkunftsdorf bewohnen will, macht die Entscheidung nicht einfacher, im Gegenteil. Auch der Sohn könnte sie doch brauchen, und es wäre schön, wenigstens eines der Kinder in der Nähe zu haben. Wenn also zwei Kinder in Bern und eines im Herkunftsdorf auf Sizilien lebt, dann spricht selbst das starke Argument der Nähe zu den Kindern nicht mehr eindeutig für einen Ort. Und so wird Serafina zunehmend unsicher, ob ihr lange gehegter Wunsch einer Rückkehr noch erstrebenswert ist, insbesondere auch, da ihr Ehemann Vittorio kein Interesse mehr an einer Rückkehr hat. Er fühle sich, so sagt sie, hier in Bern viel wohler, hier habe er seine Ruhe und sein gewohntes Umfeld. Serafina, die als junge Ehefrau ihren Vittorio dazu drängte, das Abenteuer der ‚Gastarbeit‘ im reichen Norden zu wagen, die ihm kurz darauf folgte, begeistert davon, die rigide soziale Kontrolle im Haushalt ihrer Schwiegermutter verlassen zu können, empfand ihr Leben mit ihrer Familie in Bern als sehr befriedigend und erfüllt. Drei wunderbare Kinder hat sie aufgezogen, gerne hat sie gearbeitet, viele Freunde hat sie hier gefunden. Auch ihr Leben als Rentnerin in Bern erscheint ausgefüllt, doch ist da noch ein zweites Leben, das Serafina hätte führen können, ein zweiter Ort, an dem sie hätte leben können, ein Ort, der vor langer Zeit ihr Zuhause war, an dem sie sogar ein materielles Zuhause besitzt, ein Haus, das jedoch nie richtig bewohnt worden ist. Eine schon lange bestehende biographische Option, eine Vorlage, die nie gefüllt wurde und dennoch immer präsent war, die es auch in Zukunft sein wird. Serafinas Blick zurück auf ihr Leben als sizilianisches Bauernmädchen und als Berner ‚Gastarbeiterin‘, wie auch ihre Spekulationen darüber, wie es wäre, ihr Alter in Sizilien zu verbringen, werden uns nun durch das folgende Kapitel 2 begleiten, in dem der Rahmen für subjektive Alternserfahrungen wie diejenige von Serafina und Vittorio Santo umrissen wird.
2. Migration und Alter: Forschungsfeld und Forschungsfrage
Diese Studie beschäftigt sich mit der individuellen und gesellschaftlichen Relevanz des Altwerdens in der Migration am Beispiel italienischer Arbeitsmigrant/innen. Ziel ist es, die in der Praxis intensiv diskutierte Frage nach der Bedeutung der Herkunft, also der nationalen und/oder ethnischen Zugehörigkeit für das Altern in einen weiteren migrationstheoretischen und sozialwissenschaftlichen Kontext zu stellen. Dazu werden einzelne Subjekte und ihre individuellen Alternserfahrungen ins Zentrum der empirischen Betrachtung gestellt. Der Zugang zur Erfahrungswelt der in der Altersforschung wenig beachteten Gruppe der betagten Migrant/innen erfolgt aus einer biographietheoretischen Perspektive. Erzählte Lebensgeschichten werden als Dokumente der Verschränkung von Individuum und Gesellschaft, von Handlung und Struktur im zeitlichen Verlauf betrachtet. Sie bieten die Möglichkeit des wissenschaftlichen Zugangs zu sozialen Erfahrungsräumen, zu individuellen Strategien in bestimmten strukturellen Konstellationen und zur Reflexivität sozialer Akteure gegenüber ihrer jeweiligen Handlungsgeschichte. Als empirisches Datenmaterial dienen narrative biographische Interviews mit pensionierten Paaren italienischen Ursprungs, die zum Zeitpunkt der Untersuchung in der Schweiz lebten. Vor dem Hintergrund der jeweiligen Migrations- und Integrationsgeschichte im Kontext der italienischen ‚Gastarbeiter‘-Migration wird untersucht werden, wie sich die aktuelle Situation als Pensionär/innen gestaltet, wie die individuellen und familiären Ressourcen eingesetzt werden, um vorhandene Handlungsspielräume zu nutzen, und welche Vorstellungen von der Zukunft zum Ausdruck gebracht werden. Zur Einführung in die vorliegende Studie wird in diesem Kapitel zuerst das Feld umrissen und der Stand der noch spärlichen Forschung dazu zusammengetragen (Kapitel 2.1). Darauf folgt ein grundlegender Einblick in das wissenschaftliche Feld der Alternsforschung und seine Themen und Theorien (Kapitel 2.2). Das Forschungsfeld Migration wird daraufhin punktuell im Hinblick auf
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die relevanten Themen und Konzepte des hier gewählten Migrationskontextes der europäischen Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert ausgeführt (Kapitel 2.3). Nachdem in Kapitel 2.4 dann der spezifische Fokus auf Paare und Familien im Alter und in der Migration kontextualisiert worden ist, wird abschließend (Kapitel 2.5) die Wahl einer biographischen Perspektive begründet und aufgezeigt, welche Art von Erkenntnisgewinn eine biographische Studie im Bereich Migration und Alter leisten kann.
2.1 E IN F ORSCHUNGSTHEMA MIT P RAXISRELEVANZ ‚Migration und Alter‘ ist ein Forschungsfeld, welches in besonders ausgeprägter Form von der gesellschaftlichen Praxis in die Wissenschaft hinein getragen worden ist. Sowohl Alter als auch Migration sind gesellschaftlich hoch brisante Themen, die sich in der öffentlichen Diskussion immer wieder überschneiden. Demographische Entwicklung und neue Realitäten in der Altenpflege Die demographische Altersstruktur europäischer Gesellschaften verändert sich, das durchschnittliche Lebensalter nimmt zu, die Geburtenraten hingegen sinken. Auch die schweizerische Gesellschaft besteht aus immer mehr älteren Menschen, die zudem eine immer höhere Lebenserwartung haben. In den nächsten dreißig Jahren werden besonders geburtenreiche Jahrgänge ins Pensionsalter kommen und besonders geburtenschwache Jahrgänge ins Erwerbsalter. Dadurch wird sich der Anteil der nicht mehr Erwerbstätigen über 65 Jahren an der Gesamtbevölkerung verdoppeln (Bundesamt für Statistik 2006: 62). Diese alten Menschen der Gegenwart sind aber nicht nur ein Ausdruck von demographischem Wandel und ein potenzielles Risiko für die Tragfähigkeit der gesellschaftlichen Solidarität, sondern sie bergen auch ein riesiges ökonomisches Potenzial: Sie werden ihr Rentenalter zuerst bei guter Gesundheit und mit komfortablen ökonomischen Ressourcen ausgestattet genießen, und das macht sie zu einer begehrten und heiß umworbenen Konsumentengruppe. Im fortgeschrittenen Alter werden sie Unterstützung und Pflege brauchen und somit zur Klientel im aufstrebenden Wirtschaftssegment der Pflegedienstleistungen werden. Denn die markant angestiegene Langlebigkeit moderner Gesellschaften geht auch einher mit historisch außergewöhnlich langen Pflegezeiten und besonders gravierenden Pflegezuständen (wie z.B. der Altersdemenz, vgl. Schweppe 2007: 276). Vor allem aber werden in Anbetracht der gegenwärtigen demographischen Ent-
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wicklungen Befürchtungen laut, dass die staatliche Altersvorsorge AHV sich bei dieser Entwicklung in Zukunft nicht mehr durch die Beiträge der Jungen finanzieren lassen wird, dass sogar das gesamte Versicherungssystem zusammenbrechen könnte. Korrigierend beeinflusst wird der demographische Trend zur sog. ‚gesellschaftlichen Alterung‘ – nicht nur in der Schweiz, sondern auch in anderen westund einigen südeuropäischen Ländern – durch positive Migrationssaldi, also durch Zuwanderung. Die Zuziehenden sind in der Regel eher jung, und sie haben statistisch gesehen eine höhere Reproduktionsrate als Schweizer Staatsbürger/innen. Ohne Einwanderung wäre die Altersstruktur der Schweizer Gesellschaft also noch stärker durch eine Alterspyramide geprägt, die vielmehr einem Pilz als einer Pyramide gleicht1. Hinzu kommt, dass die zunehmende Betreuung und Pflege von alten Menschen Arbeitsplätze schafft, die in großem Ausmaß mit Migrant/innen, insbesondere Frauen, besetzt werden. Salopp gesagt: Migrant/innen verjüngen unsere Gesellschaft und pflegen unsere Alten. Doch selbst unter der ausländischen Wohnbevölkerung der Schweiz hat die Anzahl betagter Menschen in den letzten Jahren zugenommen, sowohl absolut wie auch im Verhältnis zur Altersverteilung in der Migrationsbevölkerung (Bolzman et al. 2003b: 199; Fibbi 2003: 242; Hungerbühler 2004: 222f)2. Diese Zunahme ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die ehemals jung migrierten, vornehmlich südeuropäischen Arbeitsmigrant/innen der 1940er bis frühen 1970er Jahre inzwischen älter geworden sind und zu einem beträchtlichen Teil auch nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ganz oder teilweise in der Schweiz wohnen bleiben. Obwohl also der Anteil älterer Personen an der ausländischen Bevölkerung immer noch wesentlich kleiner ist als in der Gesamtbevölkerung, so nehmen insbesondere Betagte mit italienischem, spanischem, portugiesischem und – zu kleinerem Teil – ex-jugoslawischem Migrationshintergrund (also Migrant/innen aus klassischen Anwerbegebieten des ‚Gastarbeiter‘-
1
Für ausführlichere Angaben zur gegenwärtigen Altersstruktur und zur demographischen Entwicklung in der Schweiz siehe Bundesamt für Statistik BFS (2005), für die Errechnung von Zukunftsszenarien siehe Bundesamt für Statistik BFS (2006)
2
Die statistischen Entwicklungstrends bei der Wohnbevölkerung mit ausländischer Staatsbürgerschaft sind nach wie vor weniger ausgeprägt als bei der Mehrheitsbevölkerung. Detaillierte Analysen zur alternden Wohnbevölkerung mit Migrationshintergrund, inklusive der Bemühungen um Berücksichtigung von Indikatoren bezüglich Einbürgerungen, Remigration und erhöhter Mortalität unter alternden Migrant/innen, finden sich in Bundesamt für Statistik BFS 2005: 88f. Für Entwicklungen und Trends im gesamteuropäischen Raum siehe White 2006.
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Systems) kontinuierlich zu. Es ist damit zu rechnen, dass in den kommenden Jahrzehnten auch vermehrt Migrant/innen außereuropäischer Herkunft, die im Kontext der Asylmigration in die Schweiz gekommen sind, in den älteren Bevölkerungsgruppen vertreten sein werden3. Im Moment jedoch sind es vor allem noch die ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘, welche die Gruppe der alternden Migrant/innen ausmachen. Und deshalb stehen sie auch im Zentrum der vorliegenden Studie. Die demographische Entwicklung, durch die sich v.a. nord- und mitteleuropäische Länder zunehmend mit Migrant/innen in fortgeschrittenem Alter konfrontiert sehen, hat insbesondere im Bereich der Altenpflege zu Diskussionen bezüglich des Alterns in der Migration geführt. Es geht dabei vor allem um die Fragen, ob und in welcher Form betagte Migrant/innen, die unterstützungsbedürftig sind, eine besondere Klientel darstellen und in welcher Weise auf deren Besonderheiten eingegangen werden soll: Ob es z.B. notwendig ist, die bestehenden Betreuungsangebote anzupassen oder auszubauen, um den besonderen Bedürfnissen von alternden Migrant/innen zu entsprechen. Oder ob es sogar angebracht ist, migrations- oder ethnospezifische Angebote in der Altenbetreuung zu schaffen. Die Auseinandersetzung mit dem Altern in der Migration speist sich demnach aus einem konkreten Problem aus der Praxis der Pflegeinstitutionen: Der Frage danach, wie in Pflegekontexten mit Personen umgegangen werden soll, die über einen Migrationshintergrund verfügen. Der vorhandene Korpus an Literatur zum Thema Migration und Alter besteht denn auch größtenteils aus Auswertungen statistischer Daten zur sozioökonomischen und gesundheitlichen
3
In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Fluchtmigrant/innen in der Regel deutlich höhere Einbürgerungsraten ausweisen als Arbeitsmigrant/innen. Deshalb sind die statistischen Daten wenig aussagekräftig, was Asylmigration betrifft, da dort nach Staatszugehörigkeit unterschieden wird und deshalb eingebürgerte Migrant/innen nicht mehr als solche in den Statistiken erscheinen. So sind z.B. Flüchtlinge aus Osteuropa (insbesondere aus Ungarn und der ehemaligen Tschechoslowakei) und Südostasien, die ab den späten 1960er Jahren in die Schweiz gekommen und als Schweizer Bürger/innen gealtert sind, weder in den Statistiken noch in den Debatten um migrationsspezifisches Altern vertreten. Migration und Alter wird in der Schweiz momentan fast ausschließlich im Kontext der ‚Gastarbeiter‘-Migration aus Südeuropa diskutiert. Fluchtmigration und Arbeitsmigration unterscheiden sich auch darin, dass Flüchtlinge durchaus auch in fortgeschrittenem Alter migrieren, während Arbeitsmigrant/innen in der Regel in jungen Jahren in die Migration gehen und in der Migration altern (zur Thematik des Alters im Rahmen von Fluchtmigration siehe Scott/Bolzman 1999).
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Situation älterer Migrant/innen und Analysen der spezifischen rechtlichen Situation in Bezug auf Renten und Sozialleistungen einerseits, sowie Studien zur Bedürfnisabklärung auf Seiten der Migrant/innen und zu Angeboten und Funktionsweisen der Pflegeorganisationen (Altersheime, Tageszentren, Hauspflegedienste u.a.) andererseits. Paare sind, wie wir noch sehen werden, in der Regel weniger abhängig von Pflegeangeboten als Einzelpersonen. Insbesondere in Pflegeheimen sind Paare selten. Mobile Haushalts- und Pflegedienste hingegen werden auch von Paaren in Anspruch genommen. Altern in der Migration ist, wie aufgezeigt wurde, eine aus der Praxis entstandene sozialwissenschaftliche Problemstellung, und die bestehenden wissenschaftlichen Studien sind dementsprechend stark an praxisrelevanten Fragen orientiert. Sie konzentrieren sich in der Schweiz einerseits auf die Analyse der spezifischen Bedingungen von alternden Migrant/innen allgemein (Bolzman et al. 2001, 2003a, 2003b und 2006; Hungerbühler 2004 und 2007; Pro Senectute 1999), andererseits auf die Bedingungen und Bedürfnisse bestimmter Teilgruppen im Hinblick auf ihr Altern (z.B. Leser 1995, Kallenbach-Mojgani/Tschanz 1999; für die Stadt Bern Schibler 2001, Comitato Cittadino d’Intesa 2002, Krauss 2005; für Italiener/innen Fibbi 2003, Dell’Amore Terribile/Hegglin 2002) oder bezüglich der Konzipierung institutioneller und sozialarbeiterischer Maßnahmen (z.B. Kallenbach-Mojgani/Tschanz 1999; Pro Senectute 1999; Pfister/Wicki 2001; Bollier 2003, Nationales Forum Alter & Migration/SRK 2008)4. Die theoretische Reflexion des Themas wie auch eine eigenständige sozialwissenschaftliche Theoriebildung stecken noch in den Anfängen. Bevor ich ausführe, inwiefern die vorliegende Arbeit zum Ziel hat, diese Lücke ein kleines Stück weit zu füllen (Kapitel 2.5), möchte ich zuerst einen kurzen Überblick über die bestehende Forschungstätigkeit geben. Dazu werde ich in der Folge vor allem darauf eingehen, was für mein eigenes Projekt relevant ist, sowie diejenigen Fragestellungen aufgreifen, die im Hinblick auf einen weiteren gesellschaftspolitischen wie auch theoretischen Kontext von Interesse sind. Konkret
4
Auch in anderen europäischen Ländern wird Migration und Alter zunehmend zum Thema. Für dessen Bearbeitung in Deutschland siehe Dietzel-Papakyriakou 1993; Vahsen 2000; Hafezi 2001; Olbermann 2003; Seeberger 2003; Matthäi 2005, Wettich 2007; zur Übersicht Schopf/Naegele 2005. Zur Situation in Österreich siehe Reinprecht 2006. Für die Diskussion rund um ‚ethnic elderly‘ in Großbritannien sowie bezüglich internationaler Koordinationsbestrebungen in Forschung und Politik siehe . Für einen Überblick über den Stand der europäischen Forschung siehe z.B. die Sondernummer der Zeitschrift Journal of Ethnic and Migration Studies zu Migration und Alter (Warnes/Williams 2006).
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heißt das, dass einerseits kurz ausgeführt wird, was bisher über die besondere Situation pensionierter Migrant/innen in der Schweiz bekannt ist. Darüber hinaus interessieren mich die grundsätzlicheren Fragen danach, was Migrant/innen im Alter überhaupt in eine spezifische Situation bringt. Ist es, überspitzt gesagt, ihre Herkunftskultur, oder ist es ihr Migrationshintergrund, oder ist es ihr Status als Ausländer/innen und die damit verbundenen rechtlichen und sozialen Einschränkungen, die pensionierte Migrant/innen von der gleichen Alterskohorte der Aufnahmegesellschaft unterscheiden? Und noch grundsätzlicher: Altern Migrant/innen überhaupt anders als Nicht-Migrant/innen, und wenn ja, warum? Es wäre anmaßend zu versuchen, diese Frage hier abschließend zu beantworten. Dieses Buch ist keine theoretische Arbeit, sondern eine empirische, die an einem ganz spezifischen historischen und sozialen Kontext für das Altern in der Migration ansetzt: dem Altern von ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘ aus Italien in der Stadt Bern. Ausgehend von dieser kontextgebundenen Position werden die oben formulierten grundsätzlichen Fragen immer wieder bedacht und aus der empirischen Perspektive heraus auch mögliche Antworten darauf formuliert. In dieser Hinsicht verfolgt die vorliegende Arbeit also nicht nur das Ziel, zusätzliches empirisches Wissen über eine Gruppe von alternden Migrant/innen in einem spezifischen lokalen Kontext zu generieren, sondern sie beansprucht auch, allgemeine theoretische Fragen zur Beschaffenheit des empirischen Gegenstandes ‚Altern in der Migration‘ aufzuwerfen. Doch schauen wir uns zuerst einmal den Gegenstand in seiner hier relevanten empirischen Gestalt an. Alternde Migrant/innen in der Schweiz: Ein Blick auf das empirische Feld Momentan besteht die ältere ausländische Bevölkerung in der Schweiz vor allem aus Migrant/innen aus dem EU-Raum und setzt sich einerseits aus ehemals angeworbenen Arbeitskräften aus Südeuropa (allen voran Italien) zusammen, andererseits aber auch aus Personen (namentlich aus Deutschland und Frankreich), die sich erst im Alter in der Schweiz niedergelassen haben. Personen aus außereuropäischen Herkunftsländern machen – noch – einen verschwindend kleinen Teil unter der älteren Schweizer Bevölkerung aus. Es handelt sich dabei vor allem um Personen, die in fortgeschrittenem Alter im Rahmen des Asylverfahrens, oder im Rahmen des Familiennachzuges als Angehörige (Eltern/Großeltern) von anerkannten Flüchtlingen in die Schweiz migriert sind. Die Mehrheit der älteren Migrant/innen in der Schweiz sind im Moment also entweder Menschen, die sich fürs Alter einen neuen Wohnsitz in der Schweiz ausgesucht haben, oder es sind ehemalige Arbeitsmigrant/innen, welche auch
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nach ihrer Pensionierung in der Schweiz wohnhaft bleiben. Die erste Gruppe der im Alter Migrierten ist für die Stadt Bern, auf welche sich die vorliegende Studie konzentriert, jedoch kaum von Bedeutung. Bevorzugte Regionen dieser Personen sind touristische Zentren z.B. in den Alpen und vor allem die klimatisch milden Regionen am Alpen-Südhang. Die vorliegende Studie interessiert sich in erster Linie für diejenigen Migrant/innen, welche besonders stark in Städten vertreten sind: Arbeitsmigrant/innen, die im Rahmen des ‚Gastarbeiter‘-Systems jung migriert sind und mit den Jahren in der Schweiz alt geworden sind. Die Situation dieser ehemaligen Arbeitsmigrant/innen aus Südeuropa zeichnet sich, wie verschiedene Studien bereits festgehalten haben (z.B. Bolzman et al. 2001, 2003a, 2003b und 2006, Fibbi 2003, Hungerbühler 2004, Reinprecht 2006), durch eine im Vergleich zur Gesamtbevölkerung besonders prekäre wirtschaftliche und gesundheitliche Situation aus. Die ursprünglich gerade wegen ihrer guten Gesundheit ausgewählten ‚Gastarbeiter/innen‘5 sind aufgrund ihrer meist gesundheitsbelastenden Arbeit und der Marginalisierungserfahrungen der Vergangenheit körperlich und oft auch psychisch in schlechterer Verfassung als der Bevölkerungsschnitt. Die wissenschaftliche Literatur bezeichnet dieses Phänomen als ‚exhausted migrant effect‘ (Bollini/Siem 1995: 825). Migrant/innen (insbesondere Männer) sind besonders gefährdet, sich wegen gesundheitlicher Probleme, aber auch wegen Langzeit-Arbeitslosigkeit frühzeitig pensionieren lassen zu müssen (Bolzman et al. 2003a: 203). Auch wenn ältere Migrant/innen schon sehr jung in der Schweiz erwerbstätig waren, profitieren sie meist nicht voll von den Sozialversicherungen (AHV, 2. Säule), zum einen weil sie spät mit Beitragszahlungen begonnen haben, oder auch weil ihr Einkommen zu klein war, um beitragspflichtig zu sein. Frauen sind, z.B. wenn sie vorwiegend Teilzeit oder in informellen Arbeitsverhältnissen tätig waren, insbesondere von Letzterem speziell betroffen (vgl. Bolzman et al. 2003b). Diese Besonderheiten der Gruppe ausländischer alter Menschen, die vor allem für ehemalige sog. ‚Gastarbeiter/innen‘ aus Südeuropa zutreffen, gehen zu beträchtlichem Anteil auf deren sozioökonomische Stellung innerhalb der Schweizer Gesellschaft zurück, haben also mit sozialer Schicht und mit Bildung zu tun. Dass sie Migrant/innen sind, verschärft diese schichtspezifische Marginalisierung, da sie durch ihren Status als Ausländer/innen nicht volle Mitglieder der Nation sind und dadurch auch rechtlichen Benachteiligungen ausgesetzt waren resp. immer noch sind. Alternde
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Eine der Einreisebedingungen für ‚Gastarbeiter/innen‘ aus Südeuropa war der Nachweis eines guten Gesundheitszustandes, entweder unmittelbar bei der Einreise durch die sog. grenzsanitarische Untersuchung, oder später durch ein ärztliches Attest am Arbeitsort (siehe dazu auch Kapitel 2.3).
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Arbeitsmigrant/innen verfügen also heute, aufgrund von früheren Benachteiligungen wie schlecht bezahlter Arbeit und mangelhafter Sozialversicherung, über tendenziell niedrigere finanzielle Ressourcen, und sie sind in der Regel nach wie vor keine vollwertigen, eingebürgerten Mitglieder der Schweizer Gesellschaft. Durch ihren vergleichsweise privilegierten Aufenthaltsstatus als Niedergelassene und dank wesentlicher Verbesserungen in den letzten Jahren6 sind sie hingegen, was den Zugang zu Sozialleistungen betrifft, den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft heute fast gleich gestellt. Besonders schwierig scheint, wie nicht nur die wissenschaftliche Literatur konstatiert (Dietzel-Papakyriakou 1993, Bolzman et al. 2001, Fibbi 2003, Hungerbühler 2004, Wessendorf 2007b u.a.), sondern auch die Ausführungen von Frau Santo zu Beginn dieses Kapitels lebhaft illustriert haben, die Entscheidung über eine allenfalls geplante Rückkehr im Alter zu sein. Auch dies muss vor dem Hintergrund des ‚Gastarbeiter‘-Systems betrachtet werden, in dem alle Beteiligten von einem temporär begrenzten Aufenthalt im ‚Gastland‘ ausgegangen sind. Aufgrund dieser Vorstellung fehlten aktive Integrationsstrategien, sowohl auf Seiten der Aufenthaltsgesellschaft wie auch auf Seiten der Migrant/innen (vgl. dazu auch Soom/Truffer 2001). Das Migrationsprojekt von ‚Gastarbeiter/innen‘, so wird angenommen, sah in der Regel vor, sich durch Arbeit im Ausland ein für das Leben im Herkunftsort ausreichendes Kapital zu erwirtschaften, um dort ein geruhsames und finanziell gesichertes Alter verbringen zu können. Davon ausgehend wird in der Literatur zu Migration und Alter konstatiert, dass das eigentliche Migrationsziel, das Aufbauen einer gesicherten Altersexistenz im Herkunftsland, zwar zum Teil aufrechterhalten wird, dass dessen Umsetzung sich dann aber als schwierig erweist (Hungerbühler 2004: 226). Dies einerseits, weil die sozialen Bindungen in der Schweiz, namentlich zu Kindern und Enkelkindern, welche den Alltag in den letzten Jahren und Jahrzehnten entscheidend geprägt haben, sich als relevanter erweisen als die meist nur losen Bindungen, die zum Herkunftsort aufrecht erhalten wurden (siehe z.B. Bolzman et al. 2006). Zudem ist die Entwicklung im Herkunftsland nicht still gestanden, was es oft schwierig macht, bei einer Remigration Fuß zu fassen. Ein gewichtiger Faktor sind Überlegungen zur medizinischen Versorgung, insbesondere Befürchtungen, bei einer Remigration nicht mehr von dem als qualitativ hochstehend empfundenen Gesundheitssystem der Schweiz profitieren zu können. Durch die Bemühungen von Migrant/innen-Organisationen und NGO’s (wie z.B. der Pro Senec-
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Im Rahmen der bilateralen Verträge über die Personenfreizügigkeit wurden verschiedene benachteiligende Regelungen aufgehoben, wie z.B. Verlust der Ergänzungsleistungen bei Wohnsitz im Ausland (vgl. Bundesamt für Flüchtlinge BFF 2003).
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tute und dem Schweizerischen Roten Kreuz) um verbesserte Information der betroffenen pensionierten Migrant/innen wie auch auf politischer Ebene ist die rechtliche Situation von nicht mehr erwerbstätigen Ausländer/innen – zumindest aus dem EU-Raum – in den letzten Jahren verbessert worden. Diese Verbesserungen erleichtern die Entscheidung darüber, wo das Alter verbracht werden soll, zumindest formal, indem eine Remigration auf Probe und das Pendeln zwischen verschiedenen Aufenthaltsorten (für diejenigen, die ökonomisch und gesundheitlich dazu in der Lage sind) vereinfacht worden sind. Die Empirie hat also gezeigt, dass die Bevölkerungsgruppe der alternden Migrant/innen gewisse Besonderheiten aufweist, und auf einige der offensichtlich in Benachteiligungen mündenden Besonderheiten wurde in der Praxis bereits reagiert7. Was aber genau diese Gruppe zu einer besonderen macht und warum ihre Situation anders ist als diejenige der Mehrheitsgesellschaft, damit beschäftigt sich jetzt nicht nur Politik und Praxis, sondern zunehmend auch die wissenschaftliche Forschung. Empirische Schwerpunkte und theoretische Konzepte: Der Stand der Forschung Das Forschungsthema Migration und Alter berührt eine Vielzahl von Disziplinen und Forschungssträngen aus zwei in sich schon sehr heterogenen wissenschaftlichen Feldern: der Migrationsforschung und der Gerontologie. Dem entsprechend ist die spärliche Forschung zu Migration und Alter auch sehr unterschiedlich in ihren fachlichen, methodischen und theoretischen Zugängen. Passend zur Formulierung des Gegenstandsbereiches aus der politischen und sozialen Praxis legen die meisten Forschungen ihren Schwerpunkt auf Praxisorientierung. Stark vertreten sind Analysen von statistischen Daten, explorative Befragungen bei Institutionen und Expert/innen und Umfragen zur Bedürfnisabklärung bei alternden Migrant/innen sowie Netzwerkanalysen. Wichtigste Ziele sind die möglichst konkrete Problemdefinition und das Formulieren rasch umsetzbarer Maßnahmen. Die grundsätzlichere Reflexion darüber, was Altern in der Migration bedeutet und warum dieses Altern ein besonderes Altern ist, sowie darüber, wie die einzelnen bereits definierten Faktoren, welche bestimmte Gruppen im Alter aus-
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Z.B. durch Vereinfachungen im Hinblick auf die Rentenauszahlungen im Ausland, oder durch die Gewährung längerer Fristen zur Beibehaltung des Aufenthaltsstatus in der Schweiz bei Wohnsitznahme im Ausland – alles Maßnahmen, welche ein Abwägen über den Alterswohnsitz resp. das Pendeln zwischen Herkunfts- und Aufenthaltsort erleichtern
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zeichnen, in unterschiedlichen Konstellationen zusammen wirken, wurde bis anhin in der Forschung zu Migration und Alter weitgehend vernachlässigt. Während die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Migration und Alter in Europa noch relativ jung ist, gibt es in den USA eine längere Forschungstradition zum sog. ethnischen Altern8. Die entsprechende Literatur hat sich auf zwei Kernthemen konzentriert: einerseits darauf, inwieweit sich die Zugehörigkeit zu einer ‚ethnic minority group‘ in einem durch Ungleichheit strukturierten gesellschaftlichen Umfeld negativ auswirkt (These der ‚double‘ resp. ‚multiple jeopardy‘), andererseits auch auf die Vorteile der Zugehörigkeit zu einer ‚ethnischen Subkultur‘ im Alter (Sokolovsky 1994: 154f). Der unterschiedliche Zugang im US-amerikanischen und im europäischen Kontext hat mit den jeweilig vorherrschenden Migrationspolitiken zu tun. Die USA haben Immigration zur Vergrößerung der Bevölkerung von Beginn weg ermutigt und als permanent betrachtet. Deshalb konzentrierte man sich darauf, die verschiedenen immigrierten Minderheiten zu einem integralen Teil der Nation werden zu lassen. In Europa hingegen verfolgte man seit Langem die Tradition temporärer Arbeitsmigration, und nationale Migrationspolitiken sind in der Regel nicht darauf ausgerichtet, eine dauerhafte Niederlassung von Migrant/innen zu fördern. Vor diesem Hintergrund wird nachvollziehbar, warum migrantisches Altern in Europa erst so spät zum Thema wurde, während die USA sich schon lange mit dem Altern ihrer – indigenen wie zugewanderten – Minderheiten beschäftigen (Bolzman et al 1996: 128f). Das europäische Migrationsregime ist stark geprägt von der ‚Gastarbeiter‘Idee, welche eine temporäre Migration ohne dauerhafte Niederlassung vorsieht9. Passend dazu haben sich die politischen Maßnahmen im Migrationsbereich auf
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Für eine Aufarbeitung dieser an Ethnizität und Kultur interessierten Forschungstradition siehe Dietzel-Papakyriakou (1993). Für ein empirisches Beispiel siehe z.B. Myerhoff 1994 (1978); im Hinblick auf italienische Migration in die USA siehe Johnson 1985 und 1994, Friedman-Kasaba 1996 sowie Boscia-Mulè 1999.
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Dies gilt insbesondere für innereuropäische Migrationsbewegungen, v.a. zwischen Süd- und Nordeuropa, wie sie für den deutschsprachigen Raum typisch sind. Anders konzipiert sind Migrationspolitiken gegenüber Migrant/innen aus ehemaligen Kolonien (z.B. Großbritannien, Frankreich, Holland) oder aus ehemals besetzten Territorien (z.B. die Aussiedler-Migration nach Deutschland): Diese Migrant/innen können legitimerten Anspruch auf Zugehörigkeit zur Nation und damit auch auf dauerhafte Niederlassung geltend machen und werden von den nationalen Politiken dem entsprechend eher als ethnisch-nationale Minderheiten im Sinne der US-amerikanischen Diskussion behandelt.
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die Regulierung der Arbeit konzentriert. Demzufolge ist z.B. die Schweizer Migrationspolitik in den 1960er Jahren von der faktischen Niederlassung ihrer ‚Gastarbeiter/innen‘, von deren Familiengründungen resp. Familiennachzug, quasi überrascht worden. Und genauso hatte man sich migrations- und sozialpolitisch auch nicht auf die seit den 1990er Jahren zunehmend pensionierten ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘ vorbereitet. Die Migrationsforschung in der Schweiz folgte dieser Entwicklung: Sie hat sich in den 1970er und 1980er Jahren stark auf die sog. ‚Zweite Generation‘, also die Kinder der ‚Gastarbeiter/innen‘ und ihre schulische und berufliche Integration konzentriert. Dann hat sich, parallel zur Migrationspolitik, auch in der Forschung die europäische und außereuropäische Asylmigration zu einem zentralen Thema entwickelt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ‚Gastarbeiter/innen‘ aus Südeuropa rückte in den Hintergrund. Das nun im Kontext des Alterns in der Migration wieder erwachende Interesse der Praxis an neuerer Forschung zur ‚Ersten Generation‘ der ‚Gastarbeiter/innen‘ traf die Wissenschaft etwas unvorbereitet. Demzufolge hat sich die an Alter interessierte Migrationsforschung zuerst an der US-amerikanischen Ethnizitätsforschung orientiert, um das empirisch neu auftauchende Phänomen alternder Migrant/innen theoretisch zu fassen. Auch das im deutschsprachigen Raum einflussreichste und lange einzige theoretisch orientierte Werk zum Thema Migration und Alter in Europa orientiert sich stark an der US-amerikanischen Forschungstradition des ‚ethnischen Alterns‘. Es stammt von der deutschen Erziehungswissenschaftlerin Maria Dietzel-Papakyriakou (1993). Ihre Analyse der alternden ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘ in der Bundesrepublik Deutschland aus der Perspektive der US-amerikanischen Ethnizitätstheorien hat die empirische Forschung entscheidend geprägt, insbesondere in der BRD, aber auch in der Schweiz. Auf Dietzel-Papakyriakou wird u.a. die These vom Rückzug alternder Migrant/innen auf das Ethnische zurückgeführt. Diese These hat einen beachtlichen Einfluss auf die praxisorientierte Auseinandersetzung mit der Frage, wie Gesellschaften und Institutionen mit alternden Migrant/innen umzugehen haben. Insbesondere in Studien, die sich mit der Frage beschäftigen, ob Altern in der Migration die Schaffung besonderer Institutionen der Altenpflege notwendig mache, beziehen sich auf die Argumentationslinie, wie sie Dietzel-Papakyriakou in ihrem Buch „Altern in der Migration“ (1993) entwickelt hat. Obwohl sich ihre Analyse auf eine spezifische Form der Migration – sogenannt ‚rückkehrorientierte Gastarbeiter-Migration‘ nach Deutschland – beschränkt und sich an einem spezifischen Ethnizitätsdiskurs – demjenigen der US-amerikanischen Sozialforschung seit den 1960er Jahren – orientiert, wurde ihre These von einer zunehmenden ethnischen Orientierung im
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Alter breit übernommen und gilt offenbar schon als „ein universelles Phänomen“ (Hafezi 2001: 13). Dietzel-Papakyriakou’s Ausführungen münden in zwei Hauptthesen. Einerseits würden die bisherigen empirischen Arbeiten (vornehmlich aus den USA) darauf schließen lassen, dass Ethnizität im Alter zunehmend bedeutsam werde, dass sogar von einem Rückzug in ethnische Enklaven, oder, in Dietzel-Papakyriakous Worten, von ethnischer Insulation gesprochen werden könne. Alter wird bei Dietzel-Papakyriakou sehr ausgeprägt als Phase der Reminiszenz, der verstärkten Beschäftigung mit der Vergangenheit, der Auseinandersetzung mit dem Tod und der Suche nach metaphysischen Erklärungen charakterisiert, und sie vermutet darin den Grund dafür, dass im Alter Orientierungsmuster aus der frühen Sozialisationsphase im Herkunftsland aktiviert werden (Dietzel-Papakyriakou 1993: 11). Insbesondere in der amerikanischen Forschung, aber auch in den wenigen Studien, die in Europa bezüglich Altern in der Migration entstanden sind, wird laut Dietzel-Papakyriakou immer wieder ein Rückzug alter Migrant/innen resp. ethnischer Minderheiten auf die Tradition und das ethnische Werte- und Normensystem festgestellt (siehe z.B. auch Scott/Bolzman 1999: 172). Der Austritt aus dem Erwerbsleben ist mit einem Verlust an sozialen, vor allem über die Arbeit vermittelten Kontakten verbunden. Dies führt, so nimmt Dietzel-Papakyriakou an, zu einer starken Verringerung der ohnehin schon spärlichen Kontakte rückkehrorientierter Migrant/innen zu Einheimischen, und somit zum Rückzug in die ethnische Enklave (Dietzel-Papakyriakou 1993: 11) Des Weiteren stellt Dietzel-Papakyriakou einen Aspekt der klassischen europäischen Arbeitsmigration ins Zentrum, nämlich denjenigen der Rückkehrorientierung. Alter ist für Arbeitsmigrant/innen mithin der Abschluss ihres Migrationsprozesses, und dies macht es notwendig zu bilanzieren, über die Anfänge und den Verlauf des Migrationsprojektes nachzudenken. Und da Arbeitsmigration – ganz im Sinne des ‚Gastarbeiter‘-Systems – von allen beteiligten Seiten her als temporäres Projekt mit einer abschließenden Rückkehr an den Herkunftsort gedacht war, steht spätestens im Alter eine Auseinandersetzung mit den ursprünglichen Rückkehrplänen an. Dies insbesondere dann – und Dietzel-Papakyriakou geht davon aus, dass dies in den meisten Fällen zutrifft – wenn eine Rückkehr im Alter nicht mehr möglich ist. „Vor dem Hintergrund vielfältiger Zwänge wird die geplante Rückkehr immer wieder verschoben. Wenn sie im Alter dann schließlich aufgegeben werden muss, werden Modifikationen des Lebensentwurfes notwendig. Hierfür aber müssen tragfähige Legitimationen gefunden werden.“ (Dietzel-Papakyriakou 1993: 3)
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Legitimationen sind einerseits notwendig in Bezug auf die Aufnahmegesellschaft, da Arbeit der Grund für die Duldung des Aufenthaltes war. Andererseits sind aber auch Legitimationen in Bezug auf den Herkunftskontext und die eigene ethnische Gruppe notwendig, da Dietzel-Papakyriakou ein wesentliches Charakteristikum der Arbeitsmigration mit Rückkehrorientierung darin sieht, dass eine anhaltende Verbundenheit und ein ausgeprägtes Verpflichtungsgefühl gegenüber dem Herkunftskontext besteht. Eine Rückkehr sollte mit einem erfolgreich abgeschlossenen Migrationsprojekt verbunden sein, und eine verhinderte Rückkehr geht demnach mit dem Eingestehen eines eventuellen Misslingens des Projektes einher. Auch die im Bereich Migration und Alter führende Schweizer Forschergruppe rund um Claudio Bolzman geht in ihren Studien von der These einer durch die Pensionierung entstehenden Legitimationskrise aus. Da der eigentliche Aufenthaltszweck in der Schweiz, die Arbeit, mit der Pensionierung wegfalle, bedinge dies bei weiterem Verbleib eine Reformulierung der Aufenthaltslegitimierung (siehe z.B. Bolzman et al. 2001). Diese Legitimierung ist gegenüber den Behörden des Aufenthaltslandes in der Regel faktisch nicht mehr notwendig. Deren symbolische Bedeutung hingegen bleibt, so argumentieren Bolzman et al. (2001), nach wie vor zentral. Wenn also, wie im Rahmen des für Deutschland und die Schweiz prägenden ‚Gastarbeiter‘-Migrationssystems, Migration rein zum Zwecke der Arbeit stattfand, wenn individuelle Migrationsprojekte darauf ausgerichtet waren und wenn staatliche Regulationsbestrebungen sich ebenfalls auf den Bereich Arbeit konzentrierten, dann ist schon denkbar, dass die Legitimation des Aufenthalts nach der Pensionierung von Seiten der Aufnahmegesellschaft wie auch von den Migrant/innen selbst in Frage gestellt werden könnte. Zusammenfassend lässt sich nach der Lektüre von Dietzel-Papakyriakous Analyse festhalten: Der Rückzug auf das Ethnische im Alter, der sich im Kontext der europäischen Arbeitsmigration erklären lässt mit der dem ‚Gastarbeiter‘System inhärenten Rückkehrorientierung und den sich daraus ergebenden fehlenden Integrationsbestrebungen bei allen Beteiligten, ist eine historisch entstandene soziale Realität. Einerseits erscheint dieser Rückzug bei Dietzel-Papakyriakou als eine entwicklungspsychologisch verankerte Wahl des Individuums, andererseits aber auch als Strategie zum Umgang mit zunehmender sozialer Isolierung, gepaart mit steigender Abhängigkeit von Unterstützungsleistungen. Insofern bleibt Migrant/innen der ersten Generation, denen keine Integrationsmöglichkeiten geboten resp. keine Integrationsleistungen abverlangt wurden, gewissermaßen nur noch der Weg in die ethnische Insulation offen, d.h. der Rückzug auf die eigene ethnische Gruppe. Diese Sichtweise, die ich in dieser Absolutheit nicht teile, hat die empirische Forschung auch in der Schweiz ent-
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scheidend geprägt: Wenn Migrant/innen sich sowieso im Alter auf ihre ethnische Enklave zurückziehen, nicht nur, weil sie nicht anders können, sondern auch, weil sie es so wollen, dann erscheint die praktische Schlussfolgerung, die Dietzel-Papakyriakou (1993: 11) andeutet, durchaus logisch: Politische und sozialarbeiterische Interventionen müssen darauf abzielen, die bereits bestehenden migrationsspezifischen Netzwerke und Institutionen sowie die Zugehörigkeitsgefühle von alternden Migrant/innen zu ihrer ethnischen Gruppe zu unterstützen und zu stärken. Dass dadurch zwar vielleicht durchaus sinnvolle Netzwerke und Institutionen gefördert, aber auch pauschalisierende Fremdzuschreibungen legitimiert und damit ethnische Grenzziehungen auf beiden Seiten verstärkt werden, wird kaum kritisch reflektiert. Die theoretische Zugangsweise von Dietzel-Papakyriakou, welche die ethnische Orientierung alternder Migrant/innen stark betont und ein Bild der Andersartigkeit evoziert, war insbesondere in der deutschen Forschung sehr prägend. Die zentralen Themen ihres Buches – die generelle Rückkehrorientierung von Migrant/innen sowie die Tendenz zum ethnischen Rückzug im Alter – haben die wissenschaftliche Forschung entscheidend beeinflusst, sich in der Empirie allerdings nur bedingt bestätigt (z.B. Hafezi 2001, Olbermann 2003, Seeberger 2003, Matthäi 2006). Während sich z.B. in den Netzwerken von alternden Migrant/innen zwar gewisse Tendenzen zu ethnischer Homogenität nachweisen lassen, erweist sich die Belastbarkeit dieser Netzwerke hingegen als nicht besonders stark (Olbermann 2003). Zudem sind tragfähige Netzwerke, die als ethnische wahrgenommen werden, häufig auch einfach familiäre Netzwerke (Reinprecht 2006: 126), und diese sind auch unter der Mehrheitsgesellschaft die zentralen Unterstützungsnetzwerke im Alter (siehe z.B. Höpflinger/Stuckelberger 2000: 148f). Hafezi (2001: 158) kommt zum Schluss, dass Migrant/innen verschiedener nationaler Herkunft und Angehörige der Mehrheitsgesellschaft sowohl im Hinblick auf die Lebensbedingungen wie auch auf Erwartungen und Bedürfnisse mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen. Vahsen (2000) greift in seiner empirischen Studie den Aspekt der Bilanzierung des Migrationsprojektes im Alter auf, der in Dietzel-Papakyriakous Referenzwerk (1993) als eine oft negative erscheint. Er hingegen setzt sich für eine weniger defizit-orientierte Perspektive ein und plädiert in seiner Analyse von Lebensverläufen weiblicher türkischer Migrantinnen dafür, die in der Sozialarbeit gängigen Konzepte von sozialer Deprivation und multipler Marginalisierung zu ergänzen mit dem Fokus auf die individuelle Bilanzierung des Migrationsprojektes. Diese Bilanzierung
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fällt in Vahsens Studie auch trotz tief greifender Marginalisierungserfahrungen und von außen betrachtet geringer Aufstiegsmobilität durchwegs positiv aus10. Auch Dietzel-Papakyriakou betont in einem neueren Artikel (2005) die positiven Potenziale alternder Migrant/innen, führt diese aber nach wie vor auf spezifische „kulturelle Orientierungen“ zurück, auf „Leitmotive und Bewältigungsstrategien“, die ihren Ursprung in den „religiösen Systemen und Weltauffassungen“ derjenigen „Kultur“ haben, in der Migrant/innen einst sozialisiert wurden (Dietzel-Papakyriakou 2005: 397). Migrantisches Altern hat also gemäß DietzelPapakyriakou nach wie vor einen explizit ethnisch-kulturellen Charakter11, und deshalb altern Migrant/innen in ihrer Ansicht eben doch anders als andere Gesellschaftsmitglieder in vergleichbaren sozialen und ökonomischen Kontexten. Und so sieht Dietzel-Papakyriakou eines der Hauptpotenziale von Migrant/innen im Zusammenhalt der Generationen in den Familien, den sie als umso stärker (da traditioneller orientiert und weniger individualisiert) beurteilt, je geringer der Grad der „kulturellen Integration“ bei den Migrant/innen sei (Dietzel-Papakyriakou 2005: 399). Damit verfestigt Dietzel-Papakyriakou das Klischee ‚der Migrantenfamilie‘, welche – quasi dank ihrer ‚kulturellen‘ Desintegration – auch in der modernen westeuropäischen Gesellschaft den sogenannt traditionellen Familienwerten verbunden bleibt und daraus den Vorteil intrafamiliärer Hilfepotenziale gewinnt. Auch wenn ich Dietzel-Papakyriakou’s Ansicht teile, dass familiäre Solidaritätspotenziale im Alter wertvoll sind, so bezweifle ich die fundamentale Andersartigkeit, welche Dietzel-Papakyriakou Migrantenfamilien unterstellt, und ich bezweifle insbesondere, dass die statistisch in der Tendenz durchaus nachweisbaren kleinen Unterschiede in den Generationenbeziehungen (vgl. für die Schweiz z.B. Bolzman et al. 2001) unmittelbar auf kulturelle Eigenheiten der Herkunftsgesellschaft zurückzuführen sind. Genauso bedeutend wie allfällig zur Verfügung stehende ‚kulturelle‘ Leitbilder – seien sie nun der Herkunftsgesellschaft zuzuordnen oder der Aufenthaltsgesellschaft, seien sie städtisch, ländlich oder schichtspezifisch geprägt, oder seien es gar globalisierte Leitbilder z.B. aus
10 Seitter (2002) stellt sogar die These auf, dass Migrationsbiographien in besonders hohem Maße als ‚Steigerungsbiographien‘ konzipiert werden, also als Biographien, die von einem Transformationsprozess zum Besseren berichten und deshalb sehr ausgeprägt vergleichen und kontrastieren würden (Seitter 2002: 72). 11 Siehe kritisch dazu die religionsethische Arbeit von Herberhold (2007), die ‚Kultur‘ im Kontext von migrantischem Altern als Konstruktion von Andersartigkeit zur Verschleierung von Ausgrenzung konzipiert.
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Soap Operas12 – sind die zu einem bestimmten Zeitpunkt relevanten strukturellen Handlungsbedingungen, welche die Einforderung von familialer Solidarität überhaupt notwendig machen, wie auch die Beschaffenheit der Netzwerkbeziehungen und die biographisch akkumulierten Erfahrungen im Umgang mit all diesen handlungsrelevanten Kontexten. In der Beschreibung der Entwicklung von Migrationsorganisationen, welche Dietzel-Papakyriakou als eine Art erweiterte familiäre Netzwerke mit ebenfalls aktivierbaren Solidaritätsangeboten bezeichnet, ist Dietzel-Papakyriakou allerdings dann wieder wesentlich differenzierter und führt deren Veränderungen auf den Einfluss verschiedenster Kontextbedingungen und Anforderungen im Aufenthaltsland zurück (vgl. DietzelPapakyriakou 2005: 402), welche sich viel plausibler als migrationsspezifisch bezeichnen lassen denn als ethnische Importe aus der Herkunftskultur. Eine neuere deutsche Studie, die sich mit einer spezifischen, nicht ethnisch definierten Migrationsgruppe befasst, ist die 2006 veröffentlichte Arbeit von Matthäi. Sie konzentriert sich explizit auf migrierte Frauen im Alter13 und geht der Frage nach, ob alternde Arbeitsmigrantinnen tatsächlich unter einer dreifachen Diskriminierung – aufgrund ihres Geschlechts, ihres Ausländerin-Seins wie auch ihrer Schichtzugehörigkeit – zu leiden hätten. Die Studie konzentriert sich auf allein stehende Frauen und fragt danach, inwiefern es sich dabei um eine besonders marginalisierte und von sozialpolitischen Maßnahmen möglicherweise ‚vergessene‘ Gruppe handle. Die ausführliche Untersuchung kommt diesbezüglich zu einem sehr differenzierten Bild: Alleinstehende Migrantinnen im Alter bilden keineswegs eine homogene Gruppe und sind in sehr unterschiedlicher Art von Armuts- und Marginalisierungsrisiken betroffen, je nach Bildungschancen und -ressourcen und nach sozialer Integration. Die von Dietzel-Papakyriakou vertretene These des ethnischen Rückzuges im Alter kann Matthäi aufgrund ihrer Ergebnisse nicht bestätigen: Weder familienorientierte noch autonomieorientierte Frauen würden die ethnische Gemeinschaft als zentrale Orientierungsgröße betrachten. Und diejenigen, welche der ethnischen Gemeinschaft eine verstärkte Bedeutung zuschreiben würden, hätten die Nähe zur ethnischen
12 Die globale Verbreitung von Medienprodukten in Kino und Fernsehen, wie z.B. die US-amerikanischen Soap Operas, sowie die lokal unterschiedlichen Arten der Reinterpretation dieser Geschichten wurden innerhalb der ‚cultural studies‘ thematisiert, siehe z.B. die Arbeiten von John Fiske. 13 Matthäis Studie ist eine Auftragsforschung für die deutschen Bundesbehörden; die empirischen Daten beruhen auf Leitfadeninterviews mit allein stehenden Frauen aus vier verschiedenen Migrationsgruppen (Herkunft Türkei, Italien, Griechenland und Ex-Jugoslawien) in unterschiedlichen Regionen Deutschlands.
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Gruppe nicht erst im Alter gesucht, sondern bereits seit der Migration gepflegt (Matthäi 2006: 216). Auch die Option einer Rückkehr an den Herkunftsort erwies sich in Matthäis Daten nicht als ernsthafte Alternative zum Verbleib in der Aufenthaltsgesellschaft (ebd.). Einen ebenfalls sehr differenzierten und theoretisch eigenständigen Zugang zur Frage des Alterns in der Migration verfolgt der österreichische Soziologe Christoph Reinprecht (2006) bei seiner Analyse der Lage alternder ‚Gastarbeiter/innen‘ in Österreich14, indem er die Frage nach der Besonderheit des Alterns in der Migration explizit nicht im Herkunftskontext der Migrant/innen begründet sieht, sondern im Kontext der Aufenthaltsgesellschaft verankert. Im Zentrum stehen die spezifischen sozialen Positionen und die damit verbundenen Unsicherheitserfahrungen von Migrant/innen, die Reinprecht als besonders deutlichen Ausdruck von allgemeinen Merkmalen des Alterns in spätmodernen westlichen Gesellschaften interpretiert. „ImmigrantInnen sind einerseits aufgrund ihrer durchbrochenen und nicht normkonformen Lebens- und Erwerbsverläufe den wachsenden Gefährdungen des Altersphasenübergangs in besonderem Maße ausgesetzt [...]. Andererseits versinnbildlichen ihre durch biographische Diskontinuitäten geprägten schwierigen Übergangsverläufe den gegenwärtigen Strukturwandel der Alterspassage in paradigmatischer Weise. Erneut verweist Migration auf eine allgemeine Problematik des Lebens in komplexer Unsicherheit. Die Verschränkung von Ungesichertheit bezüglich der materiellen und sozialen Lage, von Ungewissheit hinsichtlich der Zukunft und ihrer Bewältigbarkeit sowie von Ungeschütztheit gegenüber den Gefährdungen der gesellschaftlichen Umwelten prägt in zunehmender Weise das Älterwerden in der späten Moderne. Komplexe Unsicherheit ist keine exklusive Erfahrung von migrantischen Älteren; ihre Biographien sind jedoch besondere Kristallisationspunkte der allgemeinen Tendenz zu gesellschaftlicher Prekarisierung.“ (Reinprecht 2006: 44)
Mit dieser Perspektive rückt Reinprecht die Aufmerksamkeit weg von Fragen um Ethnizität, Identität und Integration im Alter hin zu Fragen des Umgangs mit komplexen Unsicherheitserfahrungen, die im Prinzip alle Gesellschaftsmitglieder betreffen, denen alternde Migrant/innen aber in besonderem Maße ausgesetzt sind. Die Handlungsoption des ethnischen Rückzuges im Alter, die sich auch in Reinprechts Daten zeigt, erweist sich in dieser Perspektive als eine von mehreren
14 Die empirische Basis von Reinprechts Analyse bilden umfangreiche und statistisch ausgewertete Befragungen von alternden Migrant/innen wie auch von alternden Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte mittels Fragebogen erhoben wurden.
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möglichen Strategien zur Bewältigung von instabiler sozialer Positionierung und potentieller identifikatorischer Krisen (Reinprecht 2006: 122). Ob und inwiefern aber im Alter auf ethnische Kategorien Bezug genommen wird, hat mit den Bewältigungsstrategien zu tun, die sich im biographischen Verlauf, insbesondere im Vollzug des Migrationsprojektes bewährt haben (Reinprecht 2006: 125). Reinprecht setzt sich dafür ein, die Frage des Alterns in der Migration nicht a priori zu problematisieren und zu partikularisieren15, sondern als besonders deutlichen Ausdruck von Handlungs- und Reflexionsanforderungen an Individuen in spätmodernen Gesellschaften zu betrachten (Reinprecht 2006: 215f). Durch den spezifischen Erfahrungskontext wie auch durch die besondere Position in der Aufenthaltsgesellschaft befinden sich alternde Migrant/innen in einer (manchmal durchaus unfreiwilligen) Position als Pioniere der Spätmoderne, welche besondere, den Anforderungen dieses Gesellschaftstyps angepasste Strategien entwickelt haben (Reinprecht 2006: 129f; zur Herausbildung spezifischer Typen transnationaler Mobilität: 141). Allerdings sind diese Handlungsstrategien nicht als Ausdruck freier Entscheidung zu verstehen, sondern als individuelle Strategien, um die eigene Lebenssituation zu verbessern und aktiv auf gesellschaftliche Benachteiligungen oder Einschränkungen zu reagieren (Reinprecht 2006: 141). Einen ebenfalls eigenständigen Zugang zur Bearbeitung des Themas Migration und Alter wählt Blechner (1998) in ihrer Untersuchung des Alterns italienischer Migrant/innen in Deutschland und in Italien. Blechner (1998) bezeichnet ihren Ansatz als einen explizit ethnologischen, und sie versteht darunter die Betonung der Betroffenenperspektive gegenüber der Perspektive des/der wissenschaftlichen Beobachters/in, die Akzentuierung der Praxis gegenüber der Ideologie, sowie die explizite Thematisierung der Beziehung zwischen dem beobachtenden, analysierenden und schreibenden Selbst und dem beobachteten, analysierten und beschriebenen Anderen (Blechner 1998: 2f). Wichtig ist Blechner (1998) dabei insbesondere die detaillierte Erarbeitung des Herkunftskontextes und seiner Auswirkungen auf das Alter. Die stark empirisch ausgerichtete Studie macht einen signifikanten Unterschied bezüglich des Alterns in der Art der Migration aus: Gruppen- oder Kettenmigrant/innen unterscheiden sich deutlich von Einzelmigrant/innen in ihren Migrations- und Integrations-Wegen, und dies wiederum prägt ihren Umgang mit dem Altern (Blechner 1998: 246f). Dabei hat sich aber auch gezeigt, dass die höhere Gruppenanbindung und der höhere Konformitätsdruck von Gruppenmigrant/innen nicht etwa gleichzusetzen sei mit ei-
15 Das Problem der Konstruktion und vor allem der Problematisierung einer sozialen Gruppe durch die Forschung zu Migration und Alter wird auch von Torres (2006) im Hinblick auf alternde Migrant/innen in Schweden besonders hervorgehoben.
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ner verstärkten Einbindung in ethnische Strukturen, sondern eher in familiäre Verbände (Blechner 1998: 247). Ähnlich wie Blechner wählt auch Katy Gardner (2002) einen ethnologisch geprägten Blickwinkel auf eine bestimmte Gruppe von alternden Migrant/innen. Allerdings legt Gardner ihr Hauptaugenmerk auf den Aufenthaltskontext – London – und entwickelt davon ausgehend die Bedeutung der Migrationsbiographien für die gegenwärtige Lebenssituation. Interessant an Gardners Monographie ist insbesondere die ausführliche Auseinandersetzung mit den Bedeutungen, welche der Aufenthalts- und der Herkunftskontext im Hinblick auf die Lebensgestaltung im Alter sowie die Erwartungen an Pflege und Unterstützung erhalten. Zur Erschließung dieser Bedeutungen verlässt sich Gardner sehr stark auf das Medium der Narration als Zugang zu individueller Erfahrung. Das zentrale wissenschaftliche Referenzwerk für den Schweizer Kontext ist eine Studie, die vom Soziologen Claudio Bolzman16 und der Migrationssoziologin Rosita Fibbi im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 32 (Alter) durchgeführt wurde (Bolzman et al. 1996, 2001, 2003a, 2003b, 2006, Fibbi 2003). Die Studie geht von der theoretischen Annahme aus, dass in einem ‚Gastarbeiter‘-Migrationsregime mit der Pensionierung die Frage nach der Legitimität des Aufenthalts gestellt wird. Einerseits fehlt die strukturelle Rechtfertigung, andererseits wird der Sinn des individuellen Migrationsprojektes in Frage gestellt. Bolzman et al. (2001) gehen nun davon aus, dass die Pensionierung nach einer Neulegitimation des Aufenthalts verlangt und dass diese oft in der Nähe zu Familienangehörigen, insbesondere Kindern, gefunden wird. Die Befragung von Migrant/innen aus Italien und Spanien kurz vor der Pensionierung und deren erwachsene Kinder konzentriert sich auf die Erfassung der familiären Beziehungen und ihrer alltäglichen Bedeutung, sowie auf die Planung der Zukunft. Als besonders relevant im Hinblick auf das Altern in der Migration erwies sich dabei das Abwägen zwischen der ursprünglich geplanten Rückkehr und dem Verbleib bei den Kindern, die sich zu einem Leben in der Schweiz entschlossen haben. Ungefähr je ein Drittel der Befragten gibt an, in Zukunft a) zurückkehren zu wollen, b) in der Schweiz bleiben zu wollen oder c) hin- und herzupendeln (Bolzman et al. 2001: 69). Frauen ziehen es in der Tendenz vor, bei den Kindern und Enkelkindern zu bleiben, während Männer eher zu einer Rückkehr an den
16 Bolzman ist auch derjenige Wissenschaftler, der die Schweiz in einer europäischen Forschungskooperation zur Situation von Minderheiten-Angehörigen im Alter vertritt, welche von der englischen Organisation PRIAE koordiniert wird (siehe Patel 2003, PRIAE Research Briefing 2004, für mehr Information siehe ).
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Herkunftsort neigen. Ein weiterer wichtiger Befund der Studie ist, dass die Ergebnisse zwar auf einen engen familiären Zusammenhalt unter italienischen und spanischen Migrant/innen schließen lassen, dass die Unterschiede zu familiären Beziehungen in der Mehrheitsgesellschaft jedoch gering sind. Die verbreitete These der ausgeprägten familialen Solidarität unter Migrant/innen (siehe z.B. Dietzel-Papakyriakou 2001: 89f; Bundesamt für Statistik BFS 2005: 91), insbesondere unter migrierten Italiener/innen (siehe z.B. Boscia-Mulè 1999), scheint sich also nicht unbedingt zu bestätigen (Fibbi et al. 1998). Wichtigstes theoretisches Referenzkonzept der Studien von Bolzman et al. ist die These des Legitimationsverlustes bei der Pensionierung und der Vorschlag, dass der Verlust des Legitimationsgrundes Arbeit nach der Formulierung neuer Aufenthaltslegitimierungen verlange und dass die Familie (d.h. die im Aufenthaltsland ansässigen Nachkommen) den nahe liegendsten Legitimationsgrund für den weiteren Verbleib in der Aufenthaltsgesellschaft darstelle. Weitergehende theoretische Reflexion dazu findet sich jedoch kaum. Der Wert der Studien von Bolzman et al. liegt vor allem in der fundierten empirischen Analyse der Situation von alternden Arbeitsmigrant/innen in der Schweiz. Die Studien bilden nach wie vor die zentrale wissenschaftliche Referenz zu migrantischem Altern im Schweizer Kontext. Die Praxis: Migrationsspezifische Angebote in Beratung und Pflege Neben den wenigen wissenschaftlichen Studien sind in den letzten Jahren unzählige kleinere, praxisorientierte Forschungen entstanden: Studien zu einzelnen Bevölkerungsgruppen in bestimmten Verwaltungseinheiten (Städten, Gemeinden, Kantonen/Bundesländern), oder Studien zu spezifischen Unterstützungsund Pflegeangeboten und ihrer Tauglichkeit für Migrant/innen. Viele dieser Arbeiten orientieren sich stark an den oben ausgeführten wissenschaftlichen Werken, greifen deren zentrale Thesen auf und formulieren sie um in konkrete Maßnahmen. Auf die wichtigsten Studien für den Schweizer Kontext wurde weiter oben bereits verwiesen. Das Interesse an Migrant/innen im Alter speist sich einerseits aus konkreten Erfahrungen mit Einzelfällen in besonders prekären ökonomischen oder gesundheitlichen Situationen, mit Pflegeverweigerung, oder mit der Vereinsamung von Migrant/innen, die sich in Pflegeinstitutionen befinden. Andererseits stellen alternde Migrant/innen nicht nur eine ‚unbekannte‘ Klientengruppe für fürsorgerische und pflegerische Angebote dar, sondern sie werden auch als viel versprechender neuer Markt für private Anbieter von Pflegeleistungen gesehen. Das starke Interesse der praxisorientierten Forschung an
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alternden Migrant/innen ist so gesehen nicht nur die Reaktion auf ein sich neu manifestierendes soziales Phänomen, sondern auch die Schaffung eines professionellen Feldes für Sozialarbeitende, Beratungsstellen, Pflegeinstitutionen etc. Die praxisorientierte empirische Forschung ist in erster Linie daran interessiert zu klären, inwiefern alternde Migrant/innen als Klientel von verwaltenden, fürsorgerischen und pflegenden Institutionen nicht oder nicht genügend erreicht werden können und worin die Gründe dafür liegen. Zudem geht es darum, effiziente, rasch umsetzbare und möglichst günstig finanzierbare Maßnahmen zu deren besserer Einbindung zu finden. In diesem Bestreben lassen sich drei grundsätzliche Positionen feststellen. Die erste Position propagiert die Schaffung von spezifischen Angeboten, welche auf die meistens als kulturell oder religiös interpretierte Andersartigkeit von Migrant/innen abgestimmt sind. Die Ansicht, dass Migrant/innen essentiell anders altern und deshalb eigene, spezifisch angepasste Pflege- und Betreuungsangebote benötigen, findet sich in einigen frühen deutschen Studien. Mit der detaillierten Ausarbeitung des sog. Konzeptes der ‚kultursensiblen Altenpflege‘ (Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002) wird inzwischen versucht, die damit einhergehende Gefahr der stereotypisierenden Fremdzuschreibung zu kontrollieren. Ziel der Forschung ist hier das Verstehen der Andersartigkeit spezifischer Gruppen als Grundlage für die Schaffung je eigener Angebote. Im Schweizer Kontext findet sich diese Position z.B. bei privatwirtschaftlichen Pflegeanbietern, welche kulturspezifische Altersheime oder Pflegeabteilungen geschaffen haben oder solche planen. Eine zweite Position fokussiert auf die Adaption bestehender Angebote der Mehrheitsgesellschaft, so dass diese auch für Migrant/innen besser zugänglich sind und akzeptiert werden – eine Position, wie sie von Schweizer Behörden und den wichtigsten karitativen Organisationen in der Schweiz vertreten wird. Hier geht es z.B. darum, Informationsbroschüren und Beratungsangebote in verschiedenen Sprachen anzubieten17. Im Bereich der stationären Pflege äußert sich diese Position z.B. so, dass man darauf bedacht ist, die Individualität und Besonderheit jedes Patienten und jeder Patientin im Pflegealltag berücksichtigen zu können, ob Migrant/in oder nicht18.
17 Siehe z.B. die Broschüre „Invecchiare a dr Aare“ der Stadt Bern (2004), spezifisch an die italienischsprachigen Migrant/innen gerichtet, oder die in unterschiedlichen Sprachen erhältlichen Informationsbroschüren zur Pensionierungsvorbereitung (EKA et al. 2001a, 2001b und 2001c). 18 Für eine detaillierte und überzeugende Analyse, wie in der Altenpflege Besonderheiten berücksichtigt werden können, ohne in ethnische Stereotypisierungen zu verfallen,
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Eine dritte Position propagiert die sozialpolitisch billigste Variante der Problemlösung, indem sie darauf aufbaut, dass Migrant/innen bereits über eigene, besonders tragfähige Netzwerke wie z.B. starke Familienbande, Migrationsorganisationen und religiöse Zentren verfügen, die es lediglich zu stärken gilt. Dieser Ansatz bezieht sich auf einen ethnisierenden Altersdiskurs und setzt ein soziales Gebilde voraus, das einer ‚ethnischen Enklave‘ (Dietzel-Papakyriakou 1993) oder einer ‚Binnenintegration‘ (Elwert 1982) ähnelt. Zudem postuliert er, dass die Bedeutung des Alterns und der familiäre Umgang mit alternden Angehörigen ein kulturspezifischer ist, dass familiale Solidarität und der Respekt vor dem Alter bei Migrant/innen stärker ausgeprägt seien als in der Mehrheitsgesellschaft (vgl. z.B. Dietzel-Papakyriakou 2001). In der Schweiz findet diese Position in der Regel in einer abgeschwächten Form insofern Niederschlag, als einer der ersten Schritte darin besteht abzuklären, welche Institutionen der Migrationsgruppen oder ihrer Herkunftsstaaten sich bereits mit der Thematik des Alterns in der Migration befassen und ob es schon spezifische Beratungs- und Betreuungsangebote gibt. Zudem gibt es weit herum Bestrebungen, im Laufe dieser Abklärungen ausgemachte sog. ‚Schlüsselpersonen‘ auch in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen, z.B. über deren Einsitz in Fachkommissionen. Auch die Stadt Bern hat diesen Weg gewählt und eine Kommission ins Leben gerufen, in der u.a. auch Vertreter/innen von Migrationsorganisationen einsitzen. Alle drei Positionen manifestieren sich in der Praxis wie auch in der praxisbezogenen empirischen Forschung in Mischformen. Oberstes Ziel der praxisorientierten Forschung ist die Formulierung konkreter Maßnahmen in Reaktion auf empirische Gegebenheiten. Für eine vertiefte Reflexion besteht in der Regel kaum Raum. Dies ist, zumindest in meinem Verständnis, die Aufgabe der Wissenschaft. Wie ich oben gezeigt habe, ist im Bereich Migration und Alter noch viel Raum zum Nachdenken offen, und in diesen Raum möchte ich mit der vorliegenden Arbeit vordringen. Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie Aus den bisherigen wissenschaftlichen Analysen zu Migration und Alter haben sich einige Kernthesen herausgeschält, die zwar sehr nah an spezifischen empirischen Feldern entwickelt wurden, welche aber durchaus das Potenzial haben,
siehe Kaewnetara/Uske 2001. Im Schweizer Kontext kann hier das Konzept der sog. ‚transkulturellen Kompetenz‘ hilfreich sein (vgl. Domenig, Dagmar (Hg.) 2007: Transkulturelle Kompetenz: Lehrbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe. Huber, Bern.
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über diese konkreten Kontexte hinaus von sozialtheoretischem Interesse zu sein. Das Ziel meiner Forschung ist es, dieses Potenzial aus einem spezifischen Blickwinkel heraus zu erkunden, nämlich aus der sozialwissenschaftlich-biographischen Perspektive. Das empirische ‚Problem‘ – Migration und Alter – wird in dieser Forschung in einem ersten Schritt von der Perspektive auf die betroffene ‚Herkunftsgruppe‘ gelöst und auf den individuellen Fall reduziert. Im Rahmen des individuellen Falles werden die Facetten des Alterns und der Migration in all ihrer Komplexität entfaltet und mit dem gesellschaftlichen und historischen Kontext in Beziehung gesetzt. Die Konzentration auf das Allgemeine im Individuellen bietet die Grundlage der reflexiven Auseinandersetzung mit den dominanten Thesen der deutschsprachigen Diskussion zum Altern in der Migration. Diese werden hier nun noch einmal auf den Punkt gebracht. ‚Migration und Alter‘ manifestiert sich in Europa, und diesbezüglich sind sich alle einig, als Phänomen, das eng mit dem ‚Gastarbeiter‘-Migrationssystem verbunden ist. ‚Gastarbeiter‘-Migration geht einher mit einer ausgeprägten Rückkehrorientierung (Dietzel-Papakyriakou 1993, Seeberger 2003, Bolzman et al. 2001, Fibbi 2003), und mit zunehmendem Alter, insbesondere bei der Pensionierung, drängt sich der Vollzug dieser Rückkehrpläne auf. In der Praxis jedoch wird die Rückkehr häufig immer weiter hinausgeschoben und zusehends unwahrscheinlicher (Pagenstecher 1996). Die ‚Verhinderer‘ der Rückkehr sind verschiedene: familiäre Bindung, Gesundheitszustand, finanzielle Situation, unerfüllte Migrationsziele (Dietzel-Papakyriakou 1993, Bolzman et al. 2006, Ganga 2006). Vor diesem Hintergrund, so die Literatur, führt die Pensionierung bei Migrant/innen zu erhöhtem Bilanzierungs- und Legitimisierungsbedarf. Darin, dass der Erwerbsaustritt bei Arbeitsmigrant/innen durch das System der ‚Gastarbeit‘ und seiner Koppelung des Aufenthalts an Erwerbsarbeit eine besondere Bedeutung erhält, sind sich alle wissenschaftlichen Studien einig. Wie Migrant/innen jedoch mit dieser Besonderheit umgehen, ist weniger unbestritten. Breit durchgesetzt hat sich die These des zunehmenden Rückzugs ins Ethnische im Alter von Dietzel-Papakyriakou (1993) – eine Besonderheit, die nicht nur für ‚Gastarbeiter/innen‘, sondern für Migrant/innen und ethnische Minderheiten allgemein gelte. Diese, so besagt die These, müssen nicht nur, sondern wollen sich im Alter auch zunehmend auf ihre ethnische Identität und ihre ethnischen Netzwerke zurückziehen. Hinsichtlich einer allfälligen Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit im Alter bedeutet dies konkret: Migrant/innen erwarten resp. wünschen, durch ihre unmittelbaren ethnischen Netzwerke, insbesondere durch ihre Kinder versorgt zu werden (PRIAE Research Briefing 2004: 3; Seeberger 2003: 257) und können sich z.B. den Einzug in das für individualisierte westliche Gesellschaften typische Altersheim nicht vorstellen. Deswegen benötigen ethnische
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Minderheiten – ob autochtone oder zugewanderte – ethnische Strukturen der Altenbetreuung, so die Schlussfolgerung aus dieser These. Alternativen zu dieser Sichtweise, die meiner Meinung nach das Ethnische stark überbetont, gibt es noch wenige. Ein viel versprechender Ansatz diesbezüglich ist die oben bereits kurz umrissene Analyse von Reinprecht (2006). Die Verlagerung des Fokus vom Herkunftskontext auf den Kontext der Aufenthaltsgesellschaft und die kritische Hinterfragung der Konstruktion und Problematisierung von ‚Migrant/innen im Alter‘ in diesem Kontext wird in der Literatur zu Migration und Alter zunehmend aufgegriffen (siehe z.B. auch Torres 2006, White 2006). Es sind abschließend also vier Thesen, die ich aus der Literaturrecherche mitnehme in die eigene Forschung, um sie aus einer anderen Perspektive kritisch zu beleuchten: • • • •
die dem Erwerbsaustritt inhärente Neigung zur Reflexivität und Bilanzierung und der daraus resultierende Legitimationsdruck, die mit dem ‚Gastarbeiter‘-System verbundene Rückkehrorientierung und ihre Virulentwerdung beim Erwerbsaustritt, die ausgeprägte Familienorientierung von alternden Migrant/innen, sowie die These der ethnischen Insulation im Alter.
Am empirischen Beispiel der italienischen ‚Gastarbeiter‘-Migration nach Bern möchte ich mit einem biographisch-rekonstruktiven Ansatz die Besonderheit von individuellen Fällen entfalten, um darin dann die Bezugnahmen auf das Allgemeine zu suchen. An diesem Punkt der Analyse wird es auch darum gehen zu fragen, inwiefern sich Bilanzierungstendenzen, Rückkehrorientierung, Familienorientierung und ethnische Insulation in den spezifischen Ausschnitten sozialer Wirklichkeit, mit denen ich mich in dieser Studie beschäftige, manifestieren. Italienische ‚Gastarbeiter/innen‘ bildeten die dominante Gruppe unter den ‚Gastarbeiter/innen‘ in der Schweiz, und die italienische Migration übernahm hier in mehrerer Hinsicht eine Art Pionierrolle: in der Ausformung der staatlichen Regulationsmechanismen bezüglich Immigration und Integration seit dem Zweiten Weltkrieg, im Umgang der Gesellschaft mit Fremdem, wie auch in der Selbstorganisation. Nun sind die italienischen Migrant/innen auch zu Pionier/innen geworden in der Auseinandersetzung damit, wie die Schweizer Gesellschaft mit alternden Migrant/innen umzugehen hat. Und vielleicht sind sie, gerade durch ihre statistisch feststellbare erhöhte Prekarisierung bezüglich ökonomischer, sozialer und gesundheitlicher Ressourcen, wiederum Wegbereiter für eine sich bereits abzeichnende Entwicklung in der Gesamtbevölkerung weg vom gegenwärtigen ‚goldenen Altern‘ hin zu einem Altern, das von zunehmender
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Prekarisierung und sozialer Ungleichheit geprägt sein wird (EKFF 2006: 61). Mit anderen Worten: Migrant/innen, im Schweizer Kontext insbesondere Italiener/innen, werden im Alter zu „(wenn auch häufig unfreiwilligen) PionierInnen spätmoderner Lebensführung“ (Reinprecht 2006: 130) in einem gesellschaftlichen Umfeld, das von Flexibilisierung und Fragmentierung geprägt ist. Die Entwicklung eines empirisch fundierten und theorie-interessierten Zugangs zum Thema des Alterns in der Migration erfolgt im Rahmen dieser Studie aus der Perspektive der sozialrekonstruktiven Migrationsforschung heraus. Sie fragt in Kapitel 2.2 zuerst danach, was das Altern ausmacht und worin die Besonderheiten des Alterns in der Migration liegen. Es wird aufgezeigt, welche Konzepte aus der Gerontologie für die vorliegende Arbeit fruchtbar sind. Kapitel 2.3 verortet die Studie dann im Bereich der Migrationsforschung, umreißt das empirische Feld aus der Migrationsperspektive und erläutert die Besonderheiten der italienischen ‚Gastarbeit‘ in Bern. Kapitel 2.4 widmet sich dann der Frage der Bedeutung familiärer Beziehungen und insbesondere der Paarbeziehung in der Migration wie auch im Alter. Kapitel 2.5 konkretisiert abschließend noch einmal die Forschungsfrage. Davon ausgehend wird in Kapitel 3 der methodologische Zugang zum empirischen Feld und in Kapitel 4 die Auswahl bestimmter methodischer Konzepte zur Strukturierung der Analyse begründet. Darauf gewinnen dann in den Kapiteln 5, 6 und 7 die empirischen Fallrekonstruktionen ausführlich Raum.
2.2 ALTERSFORSCHUNG
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D EMOGRAPHIE
Die Frage, wo Migrant/innen ihr Alter verbringen, ist wie ausgeführt eines der zentralen Themen in der Auseinandersetzung mit dem Altern in der Migration. Auch im Gespräch mit Serafina Santo, die wir bereits zu Beginn des ersten Kapitels kurz kennen gelernt haben, waren die ursprüngliche Herkunft und die Rückkehr im Alter zentrale Themen. In unserem zweiten Gespräch antwortete Serafina auf meine Frage nach ihren Bezügen zur Schweiz und zu Italien wie folgt: No, sarei sempre delle stesse [.] idee perché Nein, ich hab immer noch dieselben Ideen, [.] è un problema per noi. [.] E’ diventato
denn es ist ein Problem für uns. Es ist ein
un grande problema. Che non siamo sicuri.
großes Problem geworden. Dass wir nicht
[..] Se te ne vai in Italia [.] dopo dici: „Ma
sicher sind. Wenn du weggehst, nach Ita-
perché sono venuta qua?“ [.] Se io lì [.]
lien, dann sagst du: „Warum bin ich nur
avevo tutto, [.] sono curata, [.] sono, uh,
hierhergekommen?“ Auch wenn ich dort
me ne vado dal dottore, qui è più facile. [..]
alles hätte, umsorgt bin, uh, wenn ich zum
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Ci ho i miei figli, la domenica siamo sempre Arzt muss, das ist hier einfacher. – Habe insieme, questa mattina, anche domani, sa!
hier meine Kinder, sonntags sind wir immer
[..] Non gli posso cercare sempre perché
zusammen, heute Morgen, auch morgen,
hanno i loro impegni, hanno i loro lavori.
wissen Sie! – Ich kann sie auch nicht immer
[.] Io dico solo [.] che per noi andrà bene
aufsuchen, sie haben ihre Verpflichtungen,
solo finché stiamo bene. Ma se siamo
haben ihre Arbeit. Ich sag einfach, dass es
malati, è un problema qui, è un problema
nur solange gut gehen würde, wie es uns gut
là. E’ questo. E io, che ci devo dire? [.]
ginge. Aber wenn wir krank werden, ist das
Cosa faggio? Non lo so neanche io!
dort genauso ein Problem wie hier. So ist’s. Und ich, was soll ich dazu sagen? Was ich tun werde? Das weiß nicht einmal ich!
(Transkript Santo 2, 4/24 – 4/31) Die Gedanken, die Serafina Santo hier äußert, sind sehr vielschichtig und drehen sich im Kern darum, dass die vermeintlich klare Frage, wo das Ehepaar Santo im Alter hingehört, zunehmend unklar wird. Wo würden sie sich wohler fühlen, was würden sie vermissen, wo wären sie besser umsorgt, wo wäre das Leben einfacher? Die Tatsache, dass die Santos überhaupt zwei Optionen haben – hier bleiben oder zurück gehen – hat mit ihrer Migrationsgeschichte zu tun, ist also eine migrationsspezifische Besonderheit des Alterns, mit der wir uns noch ausführlich beschäftigen werden. Doch steckt in obiger Passage noch eine viel grundsätzlichere Überlegung bezüglich des Alterns, nämlich die Gewissheit darüber, dass man biologisch altert, und die damit einhergehende Ungewissheit darüber, ob man gesund bleiben wird, ob man seine Autonomie wahren kann. Unabhängig davon, ob Frau Santo nun in Bern leben wird, wo sie ihre Kinder hat und die Gesundheitsversorgung leicht zugänglich ist, oder ob sie in Italien lebt, wo sie sich mit ihrer Schweizer Rente viel mehr leisten könnte, zum Beispiel auch eine Pflege- und Haushaltshilfe: Wenn sie in Zukunft erkranken sollte, dann wird ihr Leben so oder so schwierig werden. Altern in der Migration beinhaltet zwar eine spezifische Komponente, die mit der Herkunft, der Migrationserfahrung und dem Status als Migrant/in im Aufenthaltskontext zu tun hat. Es beinhaltet aber auch eine universelle Komponente, das biologische Altern, sowie auch eine sozio-historische, die mit den gesellschaftlichen Strukturen des Umgangs mit Alternsprozessen zu tun hat. Diese migrations-unabhängige Perspektive auf das Alter steht im Zentrum des nun folgenden Kapitels. Die Frage, was Alter und Altern grundsätzlich ist und wie es wissenschaftlich erforscht werden kann, wird hier jedoch nicht umfassend abgehandelt. Ich beschränke mich darauf zu umreißen, welche Zugangsweisen die Gerontologie als Wissenschaft des Alters anbietet und welche konkreten
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empirischen Forschungsergebnisse die Gerontologie im Hinblick auf das Altern in der Schweiz hervorgebracht hat. Abschließend gehe ich etwas ausführlicher auf einige gerontologische Forschungsansätze ein, die sich mit der hier angewendeten biographischen Perspektive ergänzen. Gerontologie: Wissenschaftliche Altersforschung als multidisziplinäres Feld Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem fortgeschrittenen Lebensalter, das Fachgebiet der Gerontologie, ist ausgeprägt multidisziplinär. Ihr Fachbereich überschneidet sich mit verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Alter hat eine biologisch-medizinische Komponente, eine psychologische, eine soziologische und eine ethnologische Seite19. Zudem ist die Gerontologie traditionellerweise eine explizit angewandte Wissenschaft (Backes/Clemens 1998: 20), die sich sehr stark an den praktischen Problemen ihres Feldes orientiert und deshalb meistens auch theoretisch innerhalb der sozial konstruierten Grenzen ihres Feldes bleibt (Kohli 1990: 387, Katz 2005: 11f). Zu den biologisch-medizinischen und psychologischen Aspekten des Alterns wie auch zu sozialarbeiterischen Themen gibt es eine Fülle von Literatur, auf die hier nicht im Detail eingegangen wird. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert vor allem die Frage nach der sozialen Bedeutung des Alterns unter ganz bestimmten historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, und für diese Frage ist die sozialpsychologische, die soziologische und die ethnologische Gerontologie maßgebend. Sozialpsychologische Ansätze in der Gerontologie20 konzipieren Alter und Altern als individuelles Problem der Anpassung an und Bewältigung von Veränderungen, die mit der Ausgliederung aus dem Erwerbsleben und damit einhergehenden Stigmatisierungen verbunden sind, aber auch mit anderen kritischen Lebensereignissen im Alter wie dem Verlust von nahe stehenden Personen durch
19 Es gibt auch Ansätze zur Etablierung einer kritischen, an Foucault orientierten Altersforschung (vgl. Katz 2005) sowie einer feministischen Gerontologie (vgl. Cruikshank 2003), deren Anliegen und Schwerpunkte ihrerseits alle zentralen wissenschaftlichen Disziplinen der Gerontologie betreffen. Deshalb werden sie hier nicht als eigenständige wissenschaftliche Disziplin eingeführt. Ein spezifisch an Geschlecht interessierter Zugang zu gerontologischen Fragen wird weiter unten im Kontext von zentralen sozialen Differenzkategorien, welche auch auf das Altern einwirken, aufgegriffen (siehe Kapitel 3.3). 20 Für einen Überblick über allgemeine psychologische Ansätze siehe z.B. Lehr 2000; Backes/Clemens 1998: 161f.
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Tod oder Verlust von Handlungsautonomie durch Krankheit (Backes/Clemens 1998: 161). Solch kritischen Ereignisse verlangen nach Bearbeitung, nach Neuordnung von Sinnstrukturen und sozialen Beziehungen, und eine sozialpsychologische Perspektive interessiert sich speziell für die dadurch ausgelösten individuums-immanenten Bearbeitungs- und Bewältigungsprozesse und daraus resultierende Entwicklungen. Eines ihrer Erkenntnisinteressen ist dabei das Ausloten von konkreten Interventionsmöglichkeiten, wenn Alternsprozesse problematische Verläufe nehmen. Die soziologische Gerontologie interessiert sich für das Altern in gesellschaftlichen Zusammenhängen21. Sie befasst sich vor allem mit modernen, westlichen Gesellschaften und ist eine der Stammdisziplinen der quantitativen Statistik: ein zentraler soziologischer Forschungsbereich im Hinblick auf das Alter ist die Demographie. Aus soziologischem Blickwinkel stellt sich z.B. die Frage nach der Altersverteilung in der Bevölkerung, der durchschnittlichen Lebensdauer und ihrer historischen Entwicklung, der Segmentierung der Lebensdauer in verschiedene Phasen, und nach den Institutionen, die diese Segmentierung produzieren und verwalten22. Es kann aber auch aus der Perspektive einzelner Individuen oder Gruppen danach gefragt werden, was für spezifische individuelle Erfahrungen des Alterns in modernen Gesellschaften möglich sind, wie sich diese Erfahrungen innerhalb einer Gesellschaft unterscheiden, z.B. nach Geschlecht, nach Klassen- oder Schichtzugehörigkeit, oder nach nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit. Von soziologischem Interesse ist zudem, wie spezifische Veränderungen, die sich aus dem Altwerden ergeben, auf individueller Ebene, auf Gruppen- und auf Gesellschaftsebene gehandhabt werden und welche politischen resp. privatwirtschaftlichen Interventionen notwendig oder möglich sein könnten. Ziel der gegenwärtigen praxisorientierten geronto-soziologischen Forschung ist es einerseits, zukünftige demographische Entwicklungen frühzeitig und richtig einzuschätzen, um entsprechende Handlungsgrundlagen für die Politik bereitzustellen. Andererseits geht es auch darum, den individuellen Umgang mit dem Altern möglichst differenziert zu erfassen, um die gesellschaftlichen Regulierungs- und Versorgungssysteme möglichst effizient gestalten und allfällige Problemlagen erkennen zu können. Die soziologische Perspektive fo-
21 Zur Einführung in soziologische Fragestellungen der Gerontologie siehe z.B. Prahl/ Schroeter 1996; Saake 1998; Backes/Clemens 1998. 22 An diesem Punkt ist die These der Institutionalisierung des Lebenslaufes von Kohli (1985, 2003) anzusiedeln, auf die weiter hinten in diesem Kapitel sowie im methodologischen Kapitel 3 noch eingegangen wird.
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kussiert dafür auf eine bestimmte, meist moderne Gesellschaft als Ausgangsgröße und befasst sich mit deren Eigenheiten. Die Merkmale einer ethnologischen Perspektive auf Alter liegen in deren Tradition als Wissenschaft ‚fremder‘, vormoderner, nicht-westlicher Gesellschaften begründet. Ein ethnologischer Blickwinkel auf Alter23 fokussiert deshalb auf einen Vergleich verschiedener Gesellschaften24 und sucht nach unterschiedlichen Umgangsweisen mit dem biologischen Alternsprozess und nach den Ursachen für diese Unterschiede (vgl. Sokolovsky 1994, Holmes/Holmes 1995, Prahl/Schroeter 1996: 39f). Eine gesellschaftsvergleichende Perspektive legt ein besonderes Augenmerk auf Umweltbedingungen und die sich daraus ergebenden Ökonomieformen, auf soziale Organisationsprinzipien wie z.B. des Lebenszyklus, auf je spezifische Formen der Ausgestaltung verschiedener Lebensphasen und der Ritualisierung von Übergängen. Es kann gefragt werden, wann jemand als alt gilt, ob und wie dieser Statuswechsel mit Riten markiert wird, welche Rollen damit verbunden sind, über welche Wertigkeit Alte in einer Gesellschaft verfügen und mit welchen grundsätzlichen Prinzipien einer Gesellschaft dies in Zusammenhang steht. So ist z.B. ein viel diskutierter Aspekt, der insbesondere im Hinblick auf Migrationsfragen bedeutsam ist, derjenige nach sozialem und kulturellem Wandel durch Modernisierungsprozesse und wie sich dies auf das fortgeschrittene Lebensalter auswirkt. Eine oft aufgegriffene These diesbezüglich ist, dass mit zunehmender Modernisierung und Individualisierung einer Gesellschaft auch der Status von alten Menschen abnimmt (vgl. Holmes/ Holmes 1995, These erstmals formuliert von Cowgill/Holmes 1972). Überspitzt formuliert postuliert die Modernisierungsthese, dass alte Menschen mit der Aus-
23 Für einen Einblick in die ethnologische Altersforschung siehe z.B. Marzi 1990, Sokolovsky 1994, Holmes/Holmes 1995. 24 Es wird gelegentlich auch argumentiert, dass der relevante Unterschied zwischen einer ethnologischen und einer soziologischen Perspektive nicht in deren unterschiedlichem Fokus auf Gesellschaft(en), sondern in deren methodologischem Zugang zum Feld liegt. Sokolovsky (1994) sieht z.B. die Besonderheit ethnologischer Altersforschung in deren methodologischem Fokus auf holistische Ansätze, welche die beobachtende Außenposition ergänzen mit der Innensicht der studierten ‚Objekte‘ (dem sog. ‚emic view‘). Der damit angesprochene ethnographische Zugang zum Feld wurde in der Soziologie schon relativ früh aufgegriffen (vgl. dazu auch Kapitel 3.2) und hat seine Spuren auch in der Altersforschung moderner Gesellschaften hinterlassen. Deshalb erscheint mir zur Differenzierung eines ethnologischen resp. soziologischen Ansatzes das Unterscheidungskriterium des Gegenstandes angebrachter als dasjenige des methodologischen Zugangs.
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gestaltung der Moderne ihre gesellschaftlich zentrale Funktion als Träger/innen von mündlich tradiertem Wissen verloren hätten und immer mehr zu macht- und statuslosen, unpopulären, unproduktiven, ja sogar belastenden Gesellschaftsmitgliedern geworden seien – und dies parallel zu einer demographischen Entwicklung hin zu besonders hoher Lebenserwartung und abnehmender Reproduktionsrate. Die These des Statusverlustes im Alter im Prozess der Modernisierung ist umstritten und empirisch nicht eindeutig nachweisbar (siehe z.B. Sokolovsky 1994: 116f; Lehr 2000: 70f). Auch die damit eng verbundene und ebenfalls oft zitierte sozialhistorische These, dass die Modernisierung in Europa zu einem Zerfall der Großfamilie und damit auch zu einer Schwächung der sozialen Position alter Menschen geführt habe, hat sich bisher nicht überzeugend bestätigen lassen (siehe dazu z.B. Laslett 1995, Prahl/Schroeter 1996). Sozialanthropologische Studien zum Altern in nicht-europäischen Ländern beobachten aber demographische Tendenzen, die sich den Entwicklungen in Europa annähern, und weisen auf fehlende gesellschaftliche Lösungen, prekäre soziale Sicherheit und die zentrale Bedeutung der individuellen Existenzsicherung im Hinblick auf Altersgesundheit und Alterspflege hin (de Jong et al. 2005, van Eeuwijk/Obrist 2006). Über den Blick auf andere Gesellschaften, wie auch auf andere historische Epochen, gewinnt die gerontologische Forschung einen erweiterten Fokus, in dem es auch möglich wird, die eigene Gesellschaft auf ihre spezifischen Konstruktionsmechanismen hin zu hinterfragen. In diesem Sinne bietet die ethnologisch orientierte Gerontologie Anlass dazu, die von Kohli (1990: 387) und Katz (2005: 11f) vermisste Hinterfragung der Konstitution des Forschungsgegenstandes in der sozio-gerontologischen Forschung anzuregen. Altern in der Schweiz: Das wissenschaftliche Feld und seine empirischen Erkenntnisse In der Schweiz hat sich erst in den letzten Jahren eine eigenständige gerontologische Forschung entwickelt, und entsprechende universitäre Institutionalisierungsbestrebungen sind noch im Gange. Alters- und gesundheitspolitische Fragestellungen wurden in der Vergangenheit vor allem praktisch angegangen, Lösungen wurden auf der regionalen Ebene von Gemeinden und Kantonen entwickelt (Höpflinger 2007: 439). Einen Aufschwung erfuhr die gerontologische Forschung mit dem staatlich finanzierten Forschungsprogramm „Alter/Vieillesse/Anziani“ (NFP 32, 1992 – 1998), welches bezweckte, ein breites Basiswissen für die Schweizer Altersforschung zu generieren und die gerontologische Forschung interdisziplinär und national vernetzt zu etablieren (Höpflinger 2007:
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440)25. Die grundsätzliche Ausrichtung der schweizerischen gerontologischen Forschung zeichnet sich, nicht zuletzt wohl aufgrund der Koordinationsbestrebungen im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms, durch einen ausgeprägten Konsens aus. Großes Gewicht wird auf das Konzept der ‚differentiellen Gerontologie‘ gelegt, welches die Heterogenität von Alternsprozessen betont und Wert legt auf eine enge Verknüpfung von persönlichen und gesellschaftlichen Determinanten sowie von psychischen und physischen Dimensionen (Höpflinger 2007: 440). Zudem hat die Schweizer Forschung nach wie vor eine sehr stark praxisorientierte Ausrichtung. Dass von der Forschung erwartet wird, Prognosen zu stellen und Empfehlungen an Politik und Praxis abzugeben, liegt in der hohen Praxisrelevanz gerontologischer Forschung begründet. Insbesondere demographische Analysen sind zentral für die Entwicklung politischer Maßnahmen und staatlicher Regulierungssysteme26, und in der demographischen Empirie tut sich Einiges. Wie alle modernen Industrienationen sieht sich auch die Schweizer Gesellschaft mit einer zunehmenden demographischen Alterung konfrontiert. Das durchschnittliche erwartbare Lebensalter stieg im Laufe des 20. Jahrhunderts stark an, und die Altersverteilung in der Gesellschaft hat sich deutlich hin zu einem zunehmenden Bevölkerungsanteil fortgeschrittenen Alters verschoben, während die Bevölkerungszahlen jüngerer Jahrgänge eher stagnieren oder rückgängig sind27. Momentan wächst die Wohnbevölkerung der Schweiz, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern (vgl. Bundesamt für Statistik BFS 2005: 13) noch leicht an, vor allem aufgrund des positiven Wanderungssaldos und der leicht erhöhten Reproduktionsrate von Zugewanderten. Auf Dauer aber wird Bevölkerungsrückgang und zunehmende Alterung nicht durch Migration zu korrigieren sein (Bundesamt für Statistik 2005: 134; Bundesamt für Statistik BFS 2006: 23f). Gemäß den Bevölkerungsszenarien des Bundesamtes für Statistik (2006) wird die Bevölkerung noch drei Jahrzehnte langsam wachsen und dann stagnieren resp. leicht zurückgehen. Die Altersverteilung in der Bevölkerung wird sich bis dahin deutlich verschoben haben. Der Anteil der Personen über 65 Jahren wird
25 Zur Übersicht über das ganze Programm siehe Höpflinger/Stuckelberger 1999; des Weiteren siehe auch Höpflinger/Stuckelberger 1992, Höpflinger 1997, Höpflinger/Stuckelberger 2000; weiterführende einzelne Publikationen im Rahmen des NFP siehe . 26 Zur Konstruktion und detaillierten Analyse von Zukunftsszenarien aufgrund demographischer Daten siehe Bundesamt für Statistik BFS 2006. 27 Für eine ausführliche Aufarbeitung dieser Tendenzen in der Schweiz siehe Höpflinger/Stuckelberger 2000: 25f und Bundesamt für Statistik BFS 2005: 11f.
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sehr stark zunehmen, das Verhältnis zwischen pensionierten und erwerbstätigen Personen wird sich von 25:100 deutlich verschieben auf 40-45:100 im Jahr 2035 (Bundesamt für Statistik BFS 2006: 22). Dies ist eine Entwicklung, mit der sich alle modernen westlichen Gesellschaften gegenwärtig konfrontiert sehen. Spezifisch für die Schweiz ist, dass jetzt die sog. „Generation der Babyboomer“ (Bundesamt für Statistik BFS 2005: 30f), d.h. die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit ins Pensionsalter kommen, die aufgrund der spezifischen historischen und wirtschaftlichen Kontextbedingungen ihres Erwerbslebens als besonders privilegiert (ebd. S. 87) bezeichnet werden können. Diese Alterskohorte hat in der Regel erfolgreiche Erwerbsverläufe hinter sich, verfügt über ausreichende ökonomische Ressourcen, gute soziale Netzwerke und eine gute Gesundheit. Angehörige dieser Generation haben eine sehr hohe Lebenserwartung und können mit einem angenehmen, auch als „golden“ (EKFF 2006: 59) bezeichneten Altern rechnen. Die gegenwärtige Geburtenzahl hingegen sinkt, und die Bevölkerung wird in Zukunft kaum noch wachsen. Diese demographische Entwicklung ist nicht aufzuhalten und lässt sich auch nicht einschneidend korrigieren. Deshalb erscheint es notwendig, die gesellschaftlichen Institutionen der Bevölkerungsentwicklung rechtzeitig anzupassen. Die „demographische Alterung“ der Gesellschaft (Höpflinger/Stuckelberger 2000) verlangt nach gesellschaftspolitischen Anpassungen der bestehenden Altersversorgung, und sie gibt Anstoß dazu, den hinter der Altersversorgung stehenden Gesellschaftsvertrag neu zu überdenken (vgl. dazu z.B. Eidg. Kommission „Neuer Altersbericht“ 1995: 566f und 574f). Die hinter dem Schweizer Rentensystem stehende gesellschaftliche Solidaritätsidee, dass alte Menschen nach einer langen Phase der Erwerbstätigkeit ein Anrecht auf Ruhe haben und dass diese Ruhephase von den Einkommen der jungen Erwerbstätigen finanziert wird, gerät unter Druck. Einerseits ist die zukünftige Finanzierbarkeit des Rentensystems bei zunehmendem Anteil Rentenbezüger/innen im Verhältnis zu Erwerbstätigen fraglich. Mögliche Anpassungsszenarien sehen deshalb u.a. auch eine Erhöhung des Rentenalters vor (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 22)28. Angesichts der gegenwärtig ausgesprochen guten finanziellen Situa-
28 Die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt laufen der Idee einer Erhöhung des Rentenalters teilweise entgegen: Ältere Erwerbstätige werden weniger nachgefragt als jüngere, und bestimmte Tätigkeiten sind auch mit körperlichen Belastungen verbunden. Insofern werden neben den Forderungen nach Erhöhung des Rentenalters gleichzeitig auch Forderungen nach Senkung desselben laut. Diese gegenläufigen Tendenzen machen die in der Gerontologie gegenwärtig breit diskutierte und analysierte individuelle Differenziertheit des Altersprozesses besonders deutlich, die sich nur schwer am
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tion eines Teils der Ruheständler/innen muss die Idee der intergenerationellen Solidarität in Zukunft vielleicht auch durch eine intragenerationelle Solidarität ergänzt werden (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 24). Andererseits liegt in der verlängerten Ruhestandsphase auch eine gesellschaftliche Ressource, welche die Frage nach den Aufgaben, die alte Menschen in einer Gesellschaft übernehmen können und sollen, wieder neu stellt. Der Ruhestand soll zukünftig vielleicht nicht mehr nur eine Phase der Ruhe sein, sondern vermehrt auch eine Phase der Aktivität werden, die der Gesellschaft zu Gute kommt. Alte Menschen können z.B. ihre Erfahrungen aus dem Erwerbsleben in gemeinnützigen Beratertätigkeiten oder Mentoringprojekten weiterhin der Wirtschaft zur Verfügung stellen (vgl. dazu Höpflinger/Stuckelberger 2000: 89f), oder sie können sich in politischen Ämtern oder sozialen Organisationen engagieren (vgl. dazu Höpflinger/Stuckelberger 2000: 181f), oder sie übernehmen Aufgaben im familiären Bereich, z.B. in der Enkelbetreuung (vgl. dazu Höpflinger et al. 2006, Schweppe 2007, Perrig-Chiello et al. 2008). Die wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Situation von Betagten hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Die Lebensphase nach der Pensionierung ist länger geworden, und die Lebensbedingungen sind im Schnitt sehr gut. Allerdings ist die Bandbreite an Lebenslagen im Alter aufgrund sozialer und biographischer Unterschiede sehr groß (Höpflinger/Stuckelberger 2000: 309). Nicht alle Alten können nach der Pensionierung das ‚goldene Alter‘ genießen, dem ‚aktiven Altern‘ bei guter Gesundheit und mit ausreichenden ökonomischen Ressourcen frönen und mit viel Energie und Lebensfreude diversen sinnvollen Beschäftigungen im Alter nachgehen. Und nicht alle Alten sind in der Lage, einen gemeinnützigen Beitrag an die Gesellschaft zu leisten. Nicht nur die ressourcenorientierte Perspektive auf Alter hat also ihre Berechtigung, sondern auch die defizitorientierte: Alte Menschen können auch in prekären Verhältnissen leben, können pflege- und unterstützungsbedürftig werden, insbesondere im hohen Alter. Auch wenn die Lebenslagen von alternden Menschen in der Schweiz gegenwärtig im Schnitt sehr komfortabel sind, ist zukünftig mit einem Rückgang von Wohlstand und Stabilität und somit auch mit wachsender Unsicherheit im Alter zu rechnen (Bundesamt für Statistik 2005: 134). Der Umgang mit diesen Bedürftigkeiten bleibt auch bei tendenzieller Abnahme von Altersar-
chronologischen Alter (d.h. am Alter in Lebensjahren) festmachen lässt. Die Festlegung des Zeitpunktes für den Erwerbsaustritt auf ein bestimmtes Alter, wie sie gegenwärtig gilt, sollte deshalb, so die Empfehlungen, in Zukunft sowohl nach oben wie auch nach unten flexibilisiert werden (vgl. Eidg. Kommission „Neuer Altersbericht“ 1995: 578, Höpflinger/Stuckelberger 1999: 15f).
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mut, sozialer Isolation und physisch-psychischer Abhängigkeit eine Aufgabe der Gesellschaft und somit von gesellschaftspolitischer und wissenschaftlicher Relevanz. Das gesellschaftsrelevante Interesse an gerontologischer Forschung bezieht sich deshalb einerseits auf die Generierung von Grundlagenwissen zur Reformulierung von Gesellschaftsvertrag und Rentenversicherung. Andererseits geht es in der gegenwärtigen Forschung aber auch darum, allfällige Ressourcen auszumachen, welche zum Wohle der Gesellschaft aktiviert werden könnten. Von zentralem Interesse ist darüber hinaus, über mögliche Bedürfnisse und Defizite bestimmter Gruppen informiert zu sein, um frühzeitig entsprechende präventive, pflegerische und fürsorgerische Maßnahmen einleiten zu können. Und deshalb lässt sich in der Gerontologie, neben der quantitativen Statistik, auch ein starkes Interesse an Forschung zum „individuellen Altern“ (Höpflinger/Stuckelberger 2000), an unterschiedlichen Lebenslagen sowie an handlungs- und prozessorientierten Forschungsansätzen feststellen. Insbesondere die Idee des lebenslangen Lernens scheint sich großer Beliebtheit sowohl in der Politik wie auch in der Forschung zu erfreuen (Eidg. Kommission „Neuer Altersbericht“ 1995: 553f, Höpflinger/Stuckelberger 1999: 7). Die Annahme, dass Altern gestaltbar, weil biographisch erlernbar ist, eröffnet die Möglichkeit, auf den Alternsprozess einzuwirken und ungünstigen Kontextbedingungen frühzeitig entgegenzusteuern. Aufgabe des Nationalen Forschungsprogramms 32 „Alter“ war es deshalb, wissenschaftliche Grundlagen für die künftige Ausgestaltung von Politik und Sozialwesen in der Schweiz zu generieren. Dessen Ergebnisse werden hier kurz zusammengefasst, weil sie den gesellschaftlichen Kontext skizzieren, in dem Menschen in der Schweiz – und das heißt auch die hier im Zentrum des Interesses stehenden italienischen Migrant/innen – gegenwärtig altern. Der erste Forschungsschwerpunkt, der Übergang vom Erwerbsleben ins Pensionärsleben, erwies sich als weit weniger einschneidend und krisenhaft als gemeinhin angenommen. Besonders betont wird in den Forschungsberichten, gerade im Hinblick auf den Austritt aus dem Erwerbsleben, die lebenslange Lernfähigkeit: Im Lebenslauf erworbene allgemeine Kompetenzen und Ressourcen im Umgang mit neuen Anforderungen erleichtern auch den Übergang in den Ruhestand (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 21). Berufliche Misserfolge hingegen belasten die nachberufliche Phase, und bei ‚Gastarbeiter/innen‘ sind diese relativ häufig (hohe Arbeitsbelastung, hohe Arbeitslosigkeit, zwangsweise Frühpensionierungen) (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 19f). Die wirtschaftliche Lage der heutigen Rentenbezüger/innen ist im Schnitt sehr gut, wenn auch ungleich verteilt. Gegenwärtig funktioniert das Sozialversicherungssystem mithilfe des bedarfsorientierten Instrumentes der Ergänzungsleistungen sehr effizient in der Bekämpfung
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von Altersarmut. Dennoch müssen etwa ein Viertel aller AHV-Rentner/innen in der Schweiz als einkommensschwach und ohne Reserven bezeichnet werden (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 22f). Die soziale Einbindung älterer Menschen, so der Forschungsbericht, ist in der Regel nach wie vor gut, sowohl in familiären als auch in freundschaftlichen Beziehungen29. Insbesondere die familiären Netzwerke und Beziehungen scheinen sich nicht wie erwartet abgeschwächt, sondern eher verstärkt zu haben (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 25, vgl. dazu auch Perrig-Chiello et al. 2008). Am stärksten ausgeprägt sind dabei die Beziehungen zu Kindern und Enkelkindern. Eine Erklärung dafür ist die im Vergleich zu früher deutlich verbesserte gesundheitliche Situation der älteren Bevölkerung, welche eine sog. ‚aktive Großelternschaft‘ überhaupt möglich macht (Höpflinger/ Stuckelberger 1999: 25). Soziale Isolation im Alter ist nach wie vor die Ausnahme, und es konnte über die letzten Jahrzehnte auch keine zunehmende Tendenz festgestellt werden. Die Alters- und Pflegeheime sind, wie die Studien im Rahmen des NFP 32 gezeigt haben, in der Schweiz von guter Qualität und legen Wert darauf, die Individualität und Selbständigkeit der Bewohner/innen zu respektieren. Die allgemeine Tendenz in der Altenpflege geht momentan in Richtung möglichst langen selbständigen Wohnens (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 57f), so dass in den Heimen zunehmend noch diejenigen Personen wohnen, die bereits in hohem Maße pflege- und unterstützungsbedürftig sind (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 33). Deshalb haftet den Altersheimen nach wie vor ein negatives Bild an, trotz hoher Qualität der Einrichtungen und ihrer Dienstleistungen. Hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung und Steuerung der Pflegeangebote im Alter wird empfohlen, ein möglichst breit gefächertes, effizientes und zielgerichtetes Angebot zu entwickeln, um den mit der demographischen Alterungstendenz ansteigenden Pflegebedarf mit den bestehenden Ressourcen möglichst umfassend abdecken zu können und dabei die Autonomiebedürfnisse der Menschen mit zu berücksichtigen. Aus diesem Grund geht der Trend in der Pflege und Betreuung von Betagten klar in Richtung ambulante Pflege- und Haushalts-Angebote. Ein sehr großer Teil der Alterspflege wird jedoch informell innerhalb der Familie geleistet, und genau auf diesem informellen Pflegebereich liegt ein spezielles Augenmerk der gegenwärtigen gerontologischen Forschung in der Schweiz, auch mit dem Ziel, dieses gesellschaftlich wichtigen Feld der Pflege mit sozialpolitischen Maßnahmen und spezifischen Hilfsangeboten zu unterstützen. Pflegeleistungen durch Angehörige werden vor allem von Partner/innen, Töchtern und Schwiegertöch-
29 Die nachbarschaftlichen Beziehungen hingegen sind nicht stark ausgeprägt und haben sich, insbesondere im städtischen Umfeld, abgeschwächt.
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tern geleistet (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 54; Höpflinger 1997: 97f, Schweppe 2007: 276). Auch hinsichtlich der subjektiven Beurteilung der Lebenslage im Alter entwirft der Schlussbericht ein positives Bild der Schweizer Gesellschaft. Die alternde Bevölkerung zeichnet sich durch ein relativ hohes psychisches und physisches Wohlbefinden aus. In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass nicht nur gesundheitlich belastetes, sondern auch gesundes Altern biographisch verankert ist (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 42), d.h. durch früheres Verhalten wie auch durch biographisch erlernte Verhaltensweisen mitbestimmt wird. Gesundes Altern zeigt aber auch schichtspezifische und geschlechtsspezifische Charakteristika. Einkommensschwache ältere Menschen leiden häufiger an gesundheitlichen Beschwerden als gut situierte Betagte (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 52). Frauen sind zwar häufiger chronisch krank als Männer (ebd.), haben aber nicht zuletzt wegen ihres tendenziell gesundheitsbewussteren und risikoärmeren Lebensstils eine deutlich höhere Lebenserwartung (Höpflinger 1997: 31f). Aus den Empfehlungen des NFP 32 wird deutlich, dass es darum geht, bereits jetzt auf mögliche zukünftige Entwicklungen reagieren zu können. Die Entwicklungstendenzen sind nicht alarmierend, können aber, so zeigen die Forschungsergebnisse, gewisse Altersrisikogruppen hervorbringen. Und als eine der zentralen potentiellen Problemgruppen vor allem bezüglich wirtschaftlicher und gesundheitlicher Situation wird immer wieder auf Migrant/innen verwiesen (z.B. Höpflinger/Stuckelberger 1999: 21 und 24). Deshalb ist gerontologische Forschung, und darauf wird auch im Schlussbericht zum NFP 32 hingewiesen (Höpflinger/Stuckelberger 1999: 67), von hoher sozialpolitischer Relevanz. Die spezifischen Schwerpunkte der Schweizer Forschung liegen dabei auf zwei Bereichen. Einerseits sollen kohortenspezifische Charakteristika erfasst werden, um historische Besonderheiten und deren Auswirkungen auf das Altern zu beobachten. Andererseits liegt momentan ein besonderer Fokus der Forschung auf den unterschiedlichen Alternsprozessen von Individuen und Gruppen und dem Aspekt der Gestaltbarkeit und Erlernbarkeit des Alterns. An diesem Punkt lässt sich auch das vorliegende Projekt zuordnen, da es sich für die Alternsprozesse einer spezifischen Gruppe (italienische ‚Gastarbeiter/innen‘) interessiert, die sich auch durch eine besondere Generationenlagerung auszeichnet (Nachkriegs-Migration) und im oben umrissenen gesellschaftlichen Kontext altert. Durch die Anwendung eines biographischen Forschungsansatzes legt die Studie ihren Fokus auf Phänomene des ‚differentiellen Alterns‘ und befasst sich über die biographische Erfahrungsaufschichtung auch mit Fragen, die anschlussfähig sind an die Idee der Lernbarkeit und Gestaltbarkeit des Alters.
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Nachdem nun der gerontologisch-empirische Kontext bereits kurz skizziert wurde, in dem die hier interessierenden Alternsprozesse zu situieren sind, soll im folgenden Kapitel noch ein Einblick in dafür relevante theoretische Konzepte der gerontologischen Forschung gegeben werden. Altern differenziert und biographisiert: Der Fokus auf individuelles Altern Aus der Fülle möglicher sozio- resp. ethno-gerontologischer Fragestellungen wird in der vorliegenden Studie eine bestimmte ausgewählt, und sie wird aus einer gewissen Perspektive angegangen. Gefragt wird nach dem Zusammenhang zwischen Alter und Migration in einer spezifischen gesellschaftlichen und historischen Konstellation, nämlich der ‚Gastarbeiter‘-Migration in die Schweiz. Diese Fragestellung wird ausgehend von einzelnen Akteur/innen angegangen und interessiert sich für die jeweilige biographische und strukturelle Einbettung individueller Alternserfahrung. Diesem Fokus entsprechen theoretische Ansätze aus der Gerontologie, die von Höpflinger (2007: 440) mit „differentieller Gerontologie“ umschrieben werden: Ansätze, welche die Individualität, Heterogenität und Differenziertheit des Alterns betonen. Sowohl die strukturelle Positionalität (v.a. bezüglich Schicht und Geschlecht) wie auch die unterschiedliche subjektive Bewertung und Bearbeitung von Alternsprozessen werden berücksichtigt. Alter wird dabei nicht als ein genuin eigenständiger Zustand betrachtet, sondern als Lebensphase, deren Besonderheiten ebenso biographisch verflochten sind wie der subjektive Umgang damit biographisch erlernt resp. entwickelt wird (Kohli 1990: 399f; Höpflinger/Stuckelberger 1999: 42; Höpflinger 2003a: 83). Alter wird gegenwärtig in Praxis und Forschung als Lebensphase definiert, die mit dem sozialpolitisch regulierten Austritt aus dem Erwerbsleben einsetzt. Der Zeitpunkt für den Übergang in den Ruhestand ist formal festgelegt auf ein bestimmtes chronologisches Alter. Mit dem Erreichen dieses Alters werden die Gesellschaftsmitglieder offiziell von der Pflicht zur Erwerbsarbeit entbunden und haben ein Anrecht darauf, sich auszuruhen. Eine eigenständige Lebensphase Alter wurde also erst bedeutsam durch die finanzielle Absicherung mit Renten und die gesellschaftlich legitimierte Abkehr von Erwerbsarbeit (Backes/Clemens 1998: 13). Diese gesellschaftliche Organisationsform menschlicher Lebensläufe entwickelte sich im Zuge der Industrialisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Sie orientiert sich am Idealtypus der männlichen ‚Normalbiographie‘ (Kohli 1985, siehe auch Kapitel 3) und normiert über die festgesetzte Altersgrenze auch alle davon abweichenden Lebens- und Arbeitsformen (Backes/Clemens 1998: 14).
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Die demographischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben allerdings dazu geführt, dass dieses gesellschaftspolitisch regulierte Alter zunehmend widersprüchlich wird. Die festgelegte Altersgrenze zerfranst in der Praxis gegen unten, durch Frühpensionierungen und Altersarbeitslosigkeit (Backes/Clemens 1998: 14), aber auch gegen oben. Die deutlich erhöhte Lebenserwartung und das Phänomen der demographischen Alterung führen dazu, dass das Anrecht auf Ruhe und Nichtstun immer mehr unter Druck gerät, dass Forderungen nach einem gesellschaftlich ‚produktiven Altern‘ lauter werden. Doch nicht nur die gesellschaftliche Organisation von Lebensläufen in eine Ausbildungsphase, eine Erwerbsphase und eine Ruhestandsphase wird in der gerontologischen Literatur als im Wandel, als unbestimmt, als verhandelbar beschrieben. Auch die Veränderungen innerhalb der dritten Lebensphase, dem Alter, sind zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt. Menschen altern sehr unterschiedlich, und mit zunehmender Ausdifferenzierung der Gesellschaft vervielfachen sich auch die Alternsprozesse. Altern wird heute verstanden als Prozess, der körperliche, psychische, soziale und gesellschaftliche Aspekte umfasst und sowohl durch genetische Anlagen wie auch durch sozial ungleiche und individuell unterschiedliche Lebensbedingungen bestimmt wird (Backes/Clemens 1998: 15, siehe auch Seeberger/Braun 2003). Stark betont wird in der Forschung auch die historische Verankerung der spezifischen Ausgestaltung dieser Lebensphase. Man konzentriert sich nicht mehr nur auf universelle Alterseffekte, sondern vermehrt auf die soziohistorischen Besonderheiten von Kohorten oder Generationen und berücksichtigt ihre kollektiven Erfahrungen im Lebensverlauf (Backes/Clemens 1998: 16; Höpflinger/Stuckelberger 1999: 67; Höpflinger 2007: 440). Diese Verortung von Alternsprozessen in historischen Konstellationen lenkt das Augenmerk auf Gelegenheitsstrukturen bezüglich Schulbildung, Berufsbildung, beruflicher Chancen und sozialer Positionierung in bestimmten sozialstrukturellen und historischen Kontexten (Backes/Clemens 1998: 16). Diese Strukturen wirken auch im Alter nach, soziale Ungleichheiten können sich im Alter „chronifizieren“ (Backes/Clemens 1998: 173). Die Art und Weise, wie jemand altert, ist also zu einem Teil bestimmt durch soziale Positionierungen, die einem zugewiesen werden. Die Einflüsse der Biographie auf den Alternsprozess beschränken sich aber nicht nur auf Zugehörigkeiten zu sozialen Kategorien und deren Auswirkungen. Die individuellen Strategien im Umgang mit zugewiesenen Positionen, wie auch mit unterschiedlichen Entwicklungen in Lebensverläufen sind ebenso entscheidend für den Alternsprozess. Aus der Erkenntnis, dass Verhaltensweisen und Handlungsmuster in reflexiven Prozessen biographisch erlernt sind, wurde die gerontologische Maxime abgeleitet, dass Altern in hohem Maße gestaltbar und erlernbar ist (Höpflin-
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ger/Stuckelberger 1999: 7, 18, 67). Diese Betonung der Gestaltbarkeit und das damit verbundene Ideal des sog. ‚aktiven Alterns‘ passen gut zu den flexibilisierenden und deregulierenden Tendenzen, welche den gegenwärtigen Gesellschaftsentwicklungen in modernen, westlichen Staaten gelegentlich zugeschrieben werden. Der kanadische Soziologe Stephen Katz bezeichnet die Propagierung des aktiven, erfolgreichen Alterns als „a new form of ageism30 and an element of current bio-demographic politics and its enforced ethics of self-care and individual responsibility“ (Katz 2005: 19), wodurch die Gesellschaft und ihre politischen Institutionen ein Stück weit auch aus der Verantwortung für ihre Gesellschaftsmitglieder gezogen werden. Die Etablierung des Ideals vom erfolgreichen Altern gleicht, so das Argument, einer Foucault’schen Disziplinierung des Selbst und schiebt damit die Verantwortung über Erfolg resp. Misserfolg dem einzelnen Individuum zu (ebd.). Auf den handlungsmächtigen Aspekt des Biographischen und seine strukturellen Grenzen werde ich im theoretisch-methodologischen Kapitel 3 noch einmal zu sprechen kommen. Hier möchte ich den Gedanken aufgreifen, dass der Begriff des ‚differentiellen Alterns‘ nicht nur kulturelle Verschiedenheit und individuelle Einzigartigkeit bedeuten darf, sondern dass neben einer horizontal ordnenden Diversität auch eine hierarchisch ordnende Ungleichheit mitgedacht werden muss. Deshalb soll ‚differentielles Altern‘ hier explizit aus der Perspektive der von außen zugewiesenen und strukturell wirksamen Differenzkategorien Klasse/Schicht, Geschlecht und Ethnizität ausführlicher behandelt werden. Die zentralen Ungleichheitskategorien, auf die sich die gerontologische Forschung in der Regel bezieht, sind Schicht/Klasse und Geschlecht (siehe z.B. Backes/Clemens 1998: 80f). Diese beiden Differenzkategorien sind für die konkrete individuelle Ausgestaltung des Altersprozesses zentral; sie überschneiden sich, verstärken sich zum Teil auch gegenseitig. Zunehmend wird nun auch in der Gerontologie eine weitere Differenzkategorie als bedeutsam im Alter aufgegriffen, nämlich die ethnische Differenzierung. Auch diese Kategorie steht in enger Beziehung zu den beiden anderen Kategorien sozialer Differenzierung, der sozialen Schicht und dem Geschlecht. Diese Interdependenzen zwischen Kategorien sozialer Differenzierung werden im Moment sehr intensiv innerhalb der feministischen Theoriebildung anhand des Konzeptes der Intersektionalität diskutiert
30 Der Begriff ‚ageism‘ geht auf den amerikanischen Gerontologen Robert N. Butler zurück. Er ist angelehnt an die Begriffe ‚racism‘ und ‚sexism‘ und steht in der englischsprachigen Gerontologie für eine Form gesellschaftlicher Diskriminierung, welche sich an der Differenzkategorie Alter orientiert (siehe dazu z.B. auch Cruikshank 2003; Arber et al. 2003).
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(für die deutschsprachige Diskussion siehe Knapp 2000 und 2005, Lutz 2001, Knapp/Wetterer 2003, Klinger 2003; Klinger/Knapp 2005). Zentral sind in diesem Ansatz drei Kategorien sozialer Differenz, die sich je nach Kontext und theoretischer Position unterschiedlich bezeichnen lassen: Klasse/Schicht, Geschlecht und Rasse/Ethnizität. Wichtig ist dabei das Postulat, dass keines dieser Ordnungsprinzipien über den anderen steht, sondern dass alle drei sozial wirksam sind, dass sie sich überschneiden (deshalb: Intersektionen), dass sie je nach sozialer Position und je nach Interaktionssituation ganz unterschiedlich überlagert von Bedeutung werden, dass alle drei Kategorien in ihrer Interdependenz soziale Ungleichheit produzieren und zementieren. Gerontologische Theorien füllen diese ebenfalls gemachte Feststellung der Interdependenz verschiedener Differenzkategorien kaum mit theoretischer Reflexion, sondern vor allem mit empirischen Beobachtungen ihrer komplexen Verknüpfung. Dabei – dies als Besonderheit im Vergleich zur feministischen Intersektionalitäts-Debatte – wird die Biographisierung der Auswirkungen von Differenzkategorien besonders betont. Zugehörigkeiten und Zuordnungen zu sozialen Differenzkategorien sind von Geburt weg relevant, setzen sich durch den Lebenslauf hindurch fort, entwickeln sich mit der Biographie der Individuen, und sie nehmen in der Lebensphase Alter besondere Ausprägungen an. Soziale Ungleichheit tendiert dazu, sich im Alter von materiellen zu immateriellen Dimensionen zu verlagern (höheres Einkommen z.B. führt zu besserer Gesundheit im Alter), sozialstrukturelle Unterschiede verändern sich tendenziell nicht mehr, sondern sie chronifizieren sich in der dritten Lebensphase (Backes/Clemens 1998: 312). So wirken sich Klassen- resp. Schichtunterschiede aufgrund von Herkunft, Bildung, Beruf und Erwerbsbiographie auf Gesundheitssituation, Lebenserwartung und andere Lebensbedingungen wie Wohnformen, soziale Netzwerke, Zugang zu Unterstützungsleistungen etc. im Alter aus. Entscheidend scheint dabei die soziale Position im mittleren Lebensalter resp. gegen Ende des Erwerbslebens (Backes/Clemens 1998: 84). Insbesondere negative Ausprägungen tendieren dazu, sich im Alter zu verstärken resp. zu chronifizieren. Sowohl in Kombination mit der Differenzkategorie Geschlecht wie auch mit derjenigen der Ethnizität/Rasse kumulieren sich deren hierarchisch ordnende Effekte. Altersarmut z.B. ist – obwohl durch die sozialstaatliche Regulierung des Alters stark eingeschränkt – nach wie vor ein Thema, und sie betrifft insbesondere Frauen und marginalisierte Minderheiten wie Migrant/innen. Das Vorhandensein von materiellen Ressourcen ermöglicht es hingegen, gewisse Einschränkungen im Alter, z.B. durch gesundheitliche Beeinträchtigungen, teilweise zu kompensieren. In der westeuropäisch-modernen Ausprägung der Gesellschaft, die national-
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staatlich organisiert ist und bezüglich zentraler Werte als kapitalistische Arbeitsgesellschaft (Kohli 1990: 388; Saake 1998: 75f) bezeichnet werden kann, liegen günstige soziale Positionen tendenziell eher auf den Ausprägungen männlich, Oberschicht und alteingesessen, ungünstige Positionen tendenziell eher auf weiblich, Unterschicht und zugezogen. Diese hierarchischen Ordnungskriterien manifestieren sich in der sozialen Welt in komplexen Interdependenzen und Überschneidungen, und sie entfalten sich sowohl in Form von strukturellen Zwängen als auch in Form von individueller Handlungsermächtigung. Besonders prominent wird in der Gerontologie gegenwärtig die Differenzkategorie Geschlecht hervorgehoben. Alter wird in verschiedener Hinsicht als weiblich geprägt bezeichnet, man spricht gar von einer ‚Feminisierung des Alters‘ (Höpflinger 1997: 17f; Backes/Clemens 1998: 17, 84f). Frauen haben eine deutlich längere Lebenserwartung und machen somit den weitaus größeren Teil der alternden Bevölkerung aus. Somit dominieren sie diesen Lebensbereich, insbesondere den Bereich der Hochbetagten, auch in seiner symbolischen Ausgestaltung. Höpflinger (1997) führt die längere Lebenserwartung von Frauen vor allem auf unterschiedliche Lebensumstände zurück, deren Ursprung er in der weiterhin vorherrschenden Trennung von weiblichen und männlichen Lebenswelten und damit verbundenen Risiken sieht (Höpflinger 1997: 36). Geschlechtsspezifische Unterschiede im Alternsprozess sind also abhängig von historischem Kontext und der damit verbundenen spezifischen Ausprägung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung31. Die momentan ausgeprägte Tendenz zur ‚Feminisierung des Alters‘ wird sich, im Zuge von Wandlungstendenzen der Geschlechterverhältnisse, in Zukunft wahrscheinlich wieder etwas abschwächen (Höpflinger 1997: 36). Vorderhand aber sind es vor allem die Frauen, die sehr alt werden, und die dementsprechend auch häufiger von altersbedingter Krankheit und Pflegebedürftigkeit betroffen sind. Da Frauen tendenziell mit älteren Männern verheiratet sind, ist ihre Wahrscheinlichkeit deutlich höher, einen kranken Partner zu pflegen und zu verwitwen. Generell sind zudem eher Frauen zuständig für die Pflege, sowohl im professionellen Bereich wie auch im informellen, familiären Bereich: Altenpflege ist Frauenarbeit32. Die geschlechtliche Arbeitsteilung und die daraus resultierende spezifische Erwerbssituation von Frauen
31 Für einen Einblick in die theoretische Konzeption von Geschlechter- und Arbeitsverhältnissen und deren Veränderungstendenzen siehe Becker-Schmidt 2007; für die Verwobenheit von partnerschaftlichen Erwerbsverläufen siehe Born 1993. 32 Für eine geschlechterdifferenzierte Sicht auf diese Aussage, in der auch spezifische Pflegeformen von Männern berücksichtig werden, siehe z.B. Arber/Ginn 1999 oder Baldassar et al. 2007.
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(niedrige Löhne, Teilzeitarbeit oder Nichterwerbstätigkeit) lassen die finanziellen Ressourcen von Frauen tendenziell knapper ausfallen. Auch beim Erwerbsaustritt ergeben sich aufgrund der geschlechtlichen Arbeitsteilung Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Die nach wie vor höhere Zuständigkeit der Frauen für Haus- und Familienarbeit verleiht der Statuspassage Pensionierung eine andere Bedeutung als bei Männern, die sich in der Regel eher auf die Erwerbsarbeit konzentriert haben (Gather 1996, Haddad/Lam 1994). Die Differenzkategorie Ethnizität/Rasse verweist, im Gegensatz zu den gesellschaftsimmanenten Differenzkategorien Schicht und Geschlecht, über die Grenzen der Gesellschaft hinaus und ordnet die soziale Welt anhand einer postulierten kulturellen und/oder körperlichen Andersartigkeit (Klinger 2003). Im westeuropäischen Kontext geht es dabei meistens um Migrant/innen, denen eine hierarchisch tendenziell untergeordnete Position im Verhältnis zur sog. ‚Mehrheitsgesellschaft‘ zugewiesen wird. Dies wiederum wirkt sich auf die schichtspezifische Positionierung aus und kann soziale Mobilität erschweren. Die Erweiterung um die Achse Geschlecht kristallisiert insbesondere Migrantinnen als tendenziell marginalisierte Gruppe heraus: Im Alter ist die ökonomische und gesundheitliche Situation von Migrantinnen noch prekärer als diejenige männlicher Migranten oder diejenige von Frauen der ‚Mehrheitsgesellschaft‘33 (siehe dazu auch Matthäi 2005). Die strukturelle Zuordnung von sozialen Positionen anhand der Differenzkategorien Schicht, Geschlecht und Ethnizität führt zu hierarchischen Ordnungen, die im Alter nachwirken, unter Umständen sogar verstärkt werden. Diese Zuordnungen sind manchmal sehr persistent und nur bedingt beeinflussbar. Sie geben somit dem Lebensverlauf wie auch dem Altern einen strukturellen Rahmen. Dennoch besteht Handlungsspielraum, dennoch gibt es individuelle Gestaltungsmöglichkeiten, und es gibt Veränderungspotenzial. Und es gibt auch Faktoren, die den individuellen Alternsprozess jenseits von Sozialstruktur beeinflussen können. Soziale Positionierung ist also nicht allein ausschlaggebend, und die Pluralität von Alternsprozessen ist beträchtlich. Dieser Pluralität gerecht zu werden, ohne dabei die strukturellen Schranken zu vernachlässigen, ist eines der Hauptanliegen dieser Studie. Gerade bei alternden Migrant/innen, die als mehrfach marginalisiert gelten und gerne als Problemgruppe bezeichnet werden, erscheint mir der Fokus auf die Differenziertheit innerhalb der Gruppe eine sinnvolle und bereichernde Ergänzung zu den bestehenden Studien über das Altern
33 An diesem Punkt setzen auch Konzepte wie z.B. die ‚Dreifache Vergesellschaftung‘ von Migrant/innen (Lenz 1995) oder die ‚multiple jeopardy‘ des sog. ‚ethnischen Alterns‘ (Sokolovsky 1994: 154f) ein.
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in der Migration. Mein Fokus auf biographische Erzählungen, den ich weiter hinten noch ausführlich erläutern werde, lässt sich gut ergänzen mit gerontologischen Ansätzen, die sich auf den dynamischen, prozesshaften Charakter des Alterns konzentrieren und Alter als Phase im Lebenslauf begreifen. Unter einem Lebenslauf wird hier, in Anlehnung an Kohlis Konzept des institutionalisierten Lebenslaufs (Kohli 1985, 1992, 2003; Saake 1998: 78f), der chronologisch geordnete und gewisse, mehr oder weniger institutionalisierte Phasen und Stadien absolvierende Verlauf eines Lebens verstanden. In modernen, westlichen Gesellschaften, die von Kohli (1990: 388) als Arbeitsgesellschaften bezeichnet werden, kann ein Lebenslauf in drei grundsätzliche Lebensphasen unterteilt werden: die Vorbereitungsphase (Kindheit und Ausbildung), die Erwerbsphase und die Ruhestandsphase. Die dritte dieser grundlegenden Lebensphasen zeichnet sich durch den Austritt aus dem Erwerbsleben und den Übertritt in eine offiziell legitimierte und finanziell abgesicherte Phase des ‚Nicht-Arbeitens‘ aus. Durch die Verbesserung der Lebensbedingungen und die Ausdehnung der Lebenserwartung im Laufe des 20. Jahrhunderts ist diese dritte Lebensphase jedoch sehr lang geworden. Sie wird in der Regel weiter unterteilt, z.B. nach Höpflinger (1997: 27) in eine meist aktive, autonome Phase des Jungen Alters (etwa zwischen 60 und 70 Lebensjahren), eine bereits von gesundheitlichen Einschränkungen und Belastungen des Alters gezeichnete Phase des Betagt-Seins (ca. zwischen 70 und 80 Lebensjahren) und eine von zunehmendem Autonomieverlust gezeichnete Phase des Hochbetagt-Seins (ab etwa 80 Lebensjahren). Die Strukturierung von Lebensläufen in Phasen bietet auch die Möglichkeit, Besonderheiten von Lebensphasen und Übergängen unabhängiger vom chronologischen Alter zu betrachten. So ist die Beendung der Phase des Jungen Alters oder der Verlust der selbständigen Lebensführung sehr schwierig auf ein bestimmtes Alter einzugrenzen, und auch der Austritt aus der Erwerbsphase variiert zunehmend nach unten wie auch nach oben. Die damit verbundenen Statuspassagen hingegen unterliegen strukturellen Regeln und Bedingungen. Jede Lebensphase weist also bestimmte gemeinsame Merkmale auf (so z.B. die Entbindung von der Verpflichtung zur Arbeit und das Anrecht auf Rente), und jeder Statuswechsel ist mit allgemein gültigen Regeln verbunden (so z.B. der administrative Statuswechsel vom/von der Erwerbstätigen zum/zur Rentner/in). Die innerhalb dieser strukturellen Merkmale individuell unterschiedlichen Lebens- und Handlungsbedingungen werden gemäß Backes/Clemens (1998) in der Gerontologie u.a. mit dem Konzept der Lebenslagen gefasst. Lebenslagen beschreiben Handlungskontexte, die für bestimmte Gruppen in bestimmten Lebensphasen relevant sind. Lebenslagen werden als dynamische Handlungsräume konzipiert, die sowohl historisch entstandene und sich entwi-
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ckelnde Strukturbeziehungen (äußere Lebensbedingungen), als auch die individuellen Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen umfassen, die sich in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander entwickeln (Backes/Clemens 1998: 19f). Die Lebenslagen einzelner Menschen im Alter sind somit Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheit, was unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen schafft. Innerhalb dieser Gelegenheitsstrukturen besteht für Individuen Handlungs- und Deutungsspielraum. Dabei liegt eine Besonderheit des Konzeptes der Lebenslagen darin, dass es nicht nur materielle Unterschiede, sondern auch immaterielle Dimensionen (z.B. soziale Integration, physische und psychische Gesundheit) berücksichtigt und dadurch sowohl horizontale (d.h. hierarchisch geordnete wie die drei Differenzdimensionen Rasse/Klasse/Geschlecht) wie auch vertikale Ungleichheit (z.B. milieuspezifische Unterschiede, die nicht unmittelbar durch hierarchische Ordnungen geprägt sind) erfassen will (Backes/Clemens 1998: 156). Lebenslagen bilden sich über den ganzen Lebenslauf aus und schaffen spezifische, historisch und sozialstrukturell geprägte Alters-Lebenslagen (ebd.: 20). Diese Lebenslagen bilden spezifische Lebens- und Existenzräume für Menschen mit individuellen Fähigkeiten, Bedürfnissen und Lebenserfahrungen (ebd.: 158). Lebenslagen sind also so etwas wie Beschreibungen spezifischer struktureller Konstellationen, die für bestimmte Gruppen in bestimmten Lebensphasen bedeutsam werden. Das Konzept der Lebenslage berücksichtigt dabei explizit die gegenseitige Bedingtheit von Struktur und Handlung im Sinn der Theorie der Strukturierung (Giddens 1997), betont aber die strukturelle Seite. Dies ergänzt sich mit dem Konzept der Biographie, welches ebenfalls der Dualität von Handlung und Struktur verpflichtet ist, sich aber auf der Seite des individuellen Akteurs bewegt. In diesem Sinn werde ich hier das Konzept der Lebenslage verwenden: Als Beschreibung der strukturellen Bedingungen, innerhalb derer die hier ausgewählte soziale Gruppe der pensionierten italienischen Migrant/innen ihre dritte Lebensphase verbringen. Die Beschreibung dieser Lebenslage wird im Rahmen des folgenden Kapitels 2.3 entwickelt. Kapitel 2.4 befasst sich mit der Rolle, welche die eheliche Partnerschaft und die Familie im Alter und in der Migration übernehmen, und Kapitel 2.5 stellt die Frage, inwiefern das Altern von pensionierten italienischen Paaren in Bern ein spezifisches Altern ist. Für den empirischen Teil meiner Arbeit konzentriere ich mich dann auf das sozialwissenschaftliche Konzept der Biographie. Eine biographische Herangehensweise betont die subjektive Deutung von und den individuellen Umgang mit gesellschaftlicher Struktur und trägt zudem der biographischen Geformtheit von Alternsprozessen Rechnung. Das Konzept der Biographie und die sozialre-
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konstruktive Methodologie der Biographieforschung wird, zusammen mit den Besonderheiten biographischen Erzählens im Alter, in Kapitel 3 ausführlich behandelt.
2.3 D IE L EBENSLAGE ALTERNDER ITALIENISCHER ‚G ASTARBEITER / INNEN ‘ IN B ERN Nachdem im vorangegangenen Kapitel Alter und Altern im Vordergrund stand, soll nun in einige Themen aus der Migrationsforschung eingeführt werden, welche für die Frage des Alterns in der Migration im Schweizer Kontext relevant sind. Die vorliegende Studie befasst sich ja nicht mit Alter allgemein, sondern mit dem Altern einer bestimmten Gruppe innerhalb der Schweizer Gesellschaft. Im Zentrum stehen hier Migrant/innen, die in einem spezifischen historischen Kontext in die Schweiz gekommen sind und heute, nach ihrer Pensionierung, nach wie vor in Bern leben. Diese Gruppe von Migrant/innen, die ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘ aus Südeuropa, haben den Umgang der Schweiz mit Migration entscheidend geprägt und stellen gegenwärtig zahlenmäßig den Großteil der alternden Schweizer Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Was diese Gruppe auszeichnet, was die migrationsbedingten Merkmale ihrer Lebenslage ausmacht, das soll nun geklärt werden. Arbeitsmigration und ‚Gastarbeit‘ Migration ist ein allgegenwärtiges Phänomen, das verschiedene Ausprägungen annehmen kann. Ich konzentriere mich hier auf Arbeitsmigration, d.h. auf Migrationsprozesse, bei denen die Verbesserung der ökonomischen Situation im Vordergrund steht. Innerhalb dieser sehr breiten Definition von Arbeitsmigration gibt es wiederum verschiedene Formen von organisierter und individueller, qualifizierter und unqualifizierter, legaler und illegaler, kurzfristiger und langfristiger Arbeitsmigration. Die Lebenslage von alternden italienischen Migrant/innen in Bern ist durch eine historisch und regional spezifische Ausprägung gekennzeichnet, die hier nun eingeführt wird: die sog. ‚Gastarbeit‘. Die italienische ‚Gastarbeiter‘-Migration in die Schweiz gilt gemeinhin als klassische Arbeitsmigration: Die Migrant/innen stammen aus ländlichen, marginalen Regionen und wandern in städtische, industrialisierte Zentren, mit dem Ziel, durch Lohnarbeit ihre sozioökonomische Position am Herkunftsort zu verbessern. Die Migration dient also der Erwerbsarbeit und der Erwirtschaftung eines ökonomischen Kapitals zur Zukunftsgestaltung im Herkunftsort, und sie ist
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meistens ein zeitlich befristetes Projekt. Die Geschichte, wie das Ehepaar Santo aus einem sizilianischen Dorf nach Bern gekommen ist, illustriert dies in verschiedener Hinsicht: Si faceva la campagna, dopo [dramatischer
Man hat das Land bestellt, und dann [dra-
Tonfall:] c’erano degli amici qua, venuti di
matischer Tonfall:] waren da diese
Svizzera. [.] E parlavano – mio marito
Freunde, die waren aus der Schweiz gekom-
lavorava con un altro amico che si aiuta-
men. Und sie haben geredet – mein Mann
vano in campagna, e quello faceva così:
arbeitete mit einem Freund, sie halfen sich
„Ah, lo sai [.] che Roberto manda
gegenseitig auf den Feldern, und der sagte:
cinquanta mila lire al mese [.] dalla
„Ah, weißt du, Roberto schickt fünfzigtau-
Svizzera“ ha detto „perché non ci proviamo send Lire pro Monat aus der Schweiz“, andarci noi?“ [..] [leise und eindringlich:]
sagte er, „warum probieren wir das nicht
Dicevo a mio marito: „Prova, prova!“
auch?“ [leise und eindringlich:] Da sagte
Perché quella campagna era dura, era
ich zu meinem Mann: „Probier’s, pro-
dura, mmh. Allora [.] hanno scritto a
bier’s!“ Weil diese Feldarbeit war hart,
questo amico qua [***] dice: „Volessimo
hart war sie, mmh. Und so haben sie diesem
venire in Isvizzera“ ma [laut:] senza un
Freund geschrieben: „Wir möchten gern in
mestiere! Contadini! […] Dice: „Be’,
die Schweiz kommen“, aber [laut:] ohne
andiamo“ dice „come [.] turisti. “ Però mio Beruf! Bauern! – Sagten sie: „Nun, dann marito aveva i terreni degli altri padroni [.] gehen wir als Touristen.“ Doch mein Mann aveva il mulo eh [.] doveva vendere per
hatte noch die Grundstücke, von anderen
venire in Isvizzera. Sa, doveva lasciare i
Eigentümern, hatte das Maultier, musste
terreni [.] è stato anche un po’ duro [.] a
verkaufen, um in die Schweiz zu kommen.
levarsi tutte cose. [.] Non sapendo poi qui
Musste die Grundstücke aufgeben, das war
cosa trovar là. [.] E allora [..] il nove
auch etwas hart, alles abzubrechen. Nicht
settembre sono partiti, del ’60. [***] Col
zu wissen, was man dann hier vorfinden
treno, aah! I treni di legno erano quei
würde. Dann sind sie am neunten Septem-
tempi! [..] Treni brutti, duri come le pietre!
ber gegangen, im ’60. [***] Mit dem Zug,
[lacht] E così sono venuti da questo amico
aah! Holzzüge waren das damals noch!
a dormire. [..] E poi questo amico l’ha
Schlimme Züge, hart wie Stein! [lacht] Und
presentato a una ditta di muratori, di
so sind sie bei diesem Freund untergekom-
muratura [.] ha presentato. [dramatischer,
men. Und dann hat dieser Freund sie bei
schneller Tonfall:] Subito hanno trovato il
einer Maurerfirma vorgestellt, einer Bau-
lavoro! [.] Muratura. Come manuale. [***]
firma. [dramatischer, schneller Tonfall:]
E così hanno fatto: settembre, ottobre,
Sofort hatten sie Arbeit! Maurerarbeit. Als
novembre. A metà dicembre sono ritornati
Handlanger. [***] Und so haben sie ge-
a casa perché erano stagionali. Non
macht: September, Oktober, November.
avevano un contratto per tutto l’anno. Però
Mitte Dezember sind sie zurück nach Hause
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dopo, a marzo, ci hanno rifatto il contratto.
gekommen, denn sie waren Saisoniers.
[..] E Lei non sa, quando è venuto mio
Hatten keinen Vertrag fürs ganze Jahr.
marito la prima volta, il bambino aveva sei
Später dann, im März, haben sie ihnen
anni. La prima cosa che ha fatto, aprire la
einen Vertrag gemacht. – Und stellen Sie
valigia , cosa trovava di regalo? Ha trovato sich vor, als mein Mann das erste Mal la cioccolata. Mio marito, sa, dopo trenta
gekommen ist, der Junge war sechs. Das
ore di viaggio [.] era stanco, sa, sporco
erste, was er gemacht hat, den Koffer
pure. [.] Allora mi fa, mi fa: „Serafina, [.]
geöffnet, was fand er da als Geschenk?
levami le scarpe e le calze.“ Le scarpe forse Schokolade hat er gefunden. Mein Mann, s’è allevato lui, non era come mio padre
wissen Sie, nach dreißig Stunden Reise, war
che voleva lavare i piedi, sa! [lacht] Allora
er müde, wissen Sie, auch schmutzig. Und
mio marito mi fa: „Levimi le calze!“ Mi fa
so sagt er zu mir: „Serafina, zieh mir die
levare le calze, sa di qua, [.] e trovo tre-
Schuhe und die Strümpfe aus.“ Die Schuhe
cento mila lire! [.] Noooo. Quello è stato
hat er vielleicht selber ausgezogen, er war
una cosa grande. [.] Eravamo contenti, sa.
nicht wie mein Vater, der sich die Füße
Ha fatto settembre, ottobre, novembre,
waschen lassen wollte, wissen Sie! [lacht]
dicembre, quattro mesi. Ah, eravamo [.]
Also, mein Mann sagt zu mir: „Zieh mir die
eravamo così contenti, perché loro hanno
Strümpfe aus!“ Lässt mich seine Strümpfe
risparmiato così tanto, sa! Tutti e due che
ausziehen, so und so, und ich finde dreihun-
dormivano in una stanza, sì, sì, sì, non è che dert-tausend Lire! Neeein. Das war eine spendevano molto. Tutto quello che hanno
große Sache. Wir waren zufrieden, wissen
preso [lacht kurz] solo pagare la camera.
Sie. Er hat September, Oktober, November,
[.] E a marzo sono ritornati di nuovo.
Dezember, vier Monate gemacht. Ah, wir waren so zufrieden, dass sie so viel gespart hatten, wissen Sie! Hatten zu zweit in einem Zimmer geschlafen, ja ja ja, haben nicht etwa viel ausgegeben. Alles was sie verdient haben [lacht kurz], nur das Zimmer bezahlt. Und im März sind sie wieder gegangen.
(Transkript Santo 1, 7/2 – 7/37) Die Erzählung evoziert zu Beginn das gängige Bild eines Umfeldes, aus dem ‚Gastarbeiter/innen‘ aus dem Süden emigriert sind: ländlich, geprägt durch die karge und beschwerliche Arbeit in der Landwirtschaft. In dieses Umfeld dringt nun die Rede von den Verheißungen des Nordens, wo sich mit Arbeit ganz einfach ganz viel Geld verdienen lässt. Und wenn der Nachbar, die ehemalige Schulkollegin, der Freund oder die Cousine zum Arbeiten in den Norden fährt, warum dann nicht auch Vittorio und Serafina? ‚Gastarbeiter‘-Migration dieses Typus ist nicht immer eine Migration aus purer Not. Serafina und Vittorio zum
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Beispiel hätten durchaus auch weiterhin ganz gut als Bauern auf dem Dorf leben können. Eindeutig aber handelt es sich um eine Migration entlang eines Wohlstandsgefälles. Die Arbeit als Bauern hätte die Santos zwar mit allem fürs Leben Notwendigen versorgt, doch derartig hohe Beträge an Bargeld in solch kurzer Zeit zu erwirtschaften, war kaum möglich. Eine Migration in den Norden hingegen versprach nicht nur Bargeld in bisher unbekannten Mengen, sondern auch andere Verlockungen nördlichen Wohlstands, hier versinnbildlicht durch die Schokolade. Ein gängiger Topos im ‚Gastarbeiter‘-Diskurs, der hier ebenfalls angesprochen wird, ist das entbehrungsreiche Leben in der Gastarbeit, das hier von Serafina positiv bewertet und als aktive Strategie zur Erwirtschaftung eines möglichst hohen Kapitals formuliert wird. ‚Gastarbeiter‘-Migration ist darüber hinaus, das zeigt sich hier auch deutlich, oft eine Kettenmigration, die sich auf Erzählungen, Empfehlungen und Vermittlungen von Bekannten, Freunden und Verwandten stützt. Es sind also oft informelle Wege, die in die Migration führen. Dennoch folgt die italienische Migration in die Schweiz grundsätzlich den Mustern von geregelter Arbeitsmigration: Migrant/innen wandern und überqueren nationale Grenzen auf mehrheitlich legalen Wegen, begeben sich in den regulären Arbeitsmarkt des Aufenthaltslandes und verrichten dort Lohnarbeit. Diese Ausprägung von Arbeitsmigration ist eine Form der Migration, an der beide gesellschaftlichen Umfelder – die Herkunftsgesellschaft wie auch die Aufnahmegesellschaft – ein Interesse haben (Treibel 2003: 115) und die deshalb meistens auch mehr oder weniger ausgeprägt eine organisierte und staatlich regulierte Form annimmt. Arbeitsmigration findet in Wirtschaftssystemen statt, die nationale Grenzen überschreiten und in denen sich Angebot von und Nachfrage nach spezifischer Arbeitskraft ergänzen. Arbeitsmigration ist kein historisch einzigartiges Phänomen, sie findet sich in verschiedensten historischen und regionalen Kontexten in unterschiedlich spezialisierten Wirtschafts-Teilsystemen und versorgt diese mit unterschiedlich charakterisierter und qualifizierter Arbeitskraft34. Der Begriff der ‚Gastarbeit‘ verweist auf ein historisch und räumlich spezifisch gebundenes System der Arbeitsmigration. Er bezieht sich auf Immigrationsprozesse in den deutschsprachigen Raum (Schweiz, Österreich, Deutschland) in der Phase der wirtschaftlichen Boomjahre zwischen der Nachkriegszeit (ab den 1950er Jahren in der Schweiz, ab den 1960er Jahren in Deutschland und
34 Für eine historische Perspektive auf europäische Migrationsprozesse siehe z.B. Lucassen 2005, Sassen 2000; für die Situierung von Arbeitsmigration in einem globalen kapitalistischen Wirtschaftssystem siehe Parnreiter 1994.
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Österreich) und der Ölkrise in den frühen 1970er Jahren35. Die Konzipierung von Migrant/innen als ‚Gäste‘ betont die Idee der zeitlichen Befristetheit des Aufenthalts in der ‚Gastgesellschaft‘ zum Zwecke der Arbeit. Eine permanente Niederlassung in der Aufnahmegesellschaft war im ‚Gastarbeiter‘-Migrationsregime nicht vorgesehen. Die in den mitteleuropäischen Ländern nachgefragte Arbeit bestand vor allem in Industrie und Baugewerbe (auch nach qualifizierten, vor allem aber nach unqualifizierten Arbeitskräften36), oft für unangenehme, belastende und gefährli-
35 Ich beschränke hier das ‚Gastarbeiter‘-Konzept auf den deutschsprachigen Raum. Das damit bezeichnete Prinzip einer staatlich regulierten und ökonomisch kanalisierten Immigration auf Zeit wurde aber auch in anderen westeuropäischen Industrienationen angewendet, und deshalb wird in der Literatur der Begriff ‚Gastarbeit‘ gelegentlich auch auf andere nationalstaatliche Migrationsregimes angewendet. Parnreiter (1994: 66) zum Beispiel spricht von verschiedenen westeuropäischen Variationen des ‚Gastarbeitersystems‘, deren Quellen für die Rekrutierung von Arbeitskräften unterschiedlich waren (auch Flüchtlinge und Migrant/innen aus ehemalige Kolonien), deren Gemeinsamkeiten aber darin lagen, dass Migration als volkswirtschaftliches Instrument zur flexiblen Abdeckung von als temporär beurteiltem Arbeitskräftebedarf eingesetzt wurde. Auch Migrationssysteme in anderen Regionen der Welt weisen diesen Charakter von ‚Gastarbeit‘ auf, z.B. der Import von billiger Arbeitskraft aus Südasien in die Golfstaaten, oder das Bracero-Programm der USA in den 1940er bis 1960er Jahren. 36 Die Unterscheidung nach qualifizierter resp. unqualifizierter Arbeit im Kontext der ‚Gastarbeit‘ bezog sich in der Regel auf die Bereiche Industrie, Baugewerbe und Handwerk. In all diesen Bereichen gibt es Tätigkeiten, die gewisse Spezialisierungen und Fertigkeiten voraussetzen. Nachgefragt hingegen wurden in den ‚Gastländern‘ vor allem billige Arbeitskräfte, die über keine besonderen Vorkenntnisse, geschweige denn berufliche Qualifikationen, verfügen mussten. Diesem Anspruch gerecht wurden Migrant/innen aus marginalen ländlichen Regionen oder ganz junge Migrant/innen, welche kaum Erfahrung mit Lohnarbeit und beruflicher Spezialisierung mitbrachten. Die Bedeutung von formaler Qualifikation und beruflichem Spezialwissen für die Arbeit in der Schweiz richtete sich im Prinzip nach dem schweizerischen Berufsbildungssystem und den damit verbundenen staatlichen Fähigkeitsausweisen. Die ‚Gastarbeiter/innen‘ aus Südeuropa verfügten zum Teil zwar schon über vergleichbare berufliche Ausbildungen, jedoch nicht über die entsprechend anerkannten Fähigkeitsausweise. Berufliche Qualifikation war jedoch nicht nur von Bedeutung auf dem Arbeitsmarkt, sondern insbesondere auch für die Bewilligungspraxis der Behörden: Aufenthaltsbewilligungen wurden unterschiedlich ausgestellt je nach auszuführender Tä-
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che Arbeiten, für welche es aufgrund des zunehmenden Wohlstandes der Bevölkerung in den Nachkriegsjahren immer schwieriger wurde, Arbeitnehmer/innen im eigenen Land zu finden. Gefunden wurde diese Arbeitskraft dort, wo Lohnarbeit knapp war, v.a. in südeuropäischen und nordafrikanischen Ländern, je nach historisch entstandenen Beziehungen zwischen verschiedenen Nationen. Die europäische Arbeitsmigration Mitte des 20. Jahrhunderts kann somit als eine Süd-Nord-Migration entlang eines Wohlstandsgefälles bezeichnet werden. Das für die deutschsprachigen Länder Mitteleuropas typische ‚Gastarbeiter‘System zeichnet sich aus durch aktive Anwerbung und intensive politische Lobbyarbeit von Seiten der Wirtschaft und durch Regulationsbestrebungen der Politik. Diese sollten sicherstellen, dass vor allem junge, gesunde Migrant/innen einreisten und dass diese, wäre ihre Arbeitskraft nicht mehr benötigt oder nicht mehr nutzbar, auch relativ einfach wieder zurückgeschickt werden konnten. Die wirtschaftliche Nutzung und die politische Regulierung von flexibel handhabbarer, billiger und bei Bedarf wieder ausweisbarer ausländischer Arbeitskraft wurde in der Migrationsliteratur auch unter dem marxistisch-kritischen Begriff der ‚industriellen Reservearmee‘ (Parnreiter 1994: 65f; Treibel 2003: 117f), sowie unter Begriffen wie ‚Konjunkturpuffer‘ (D’Amato 2001: 61f) oder ‚Manövriermasse‘ (Treibel 2003: 120) diskutiert. Gegenüber der Aufnahmegesellschaft wurde dieses System gerechtfertigt durch die Betonung seines volkswirtschaftlichen Nutzens und der deshalb möglichen Wohlstandsmehrung, was auch den unteren Schichten einen sozialen Aufstieg ermöglichte37 (sog. Unterschich-
tigkeit, unter Berücksichtigung der Interessen der einheimischen Unternehmer/innen und unter Bevorzugung der indigenen Arbeiterschaft (vgl. dazu z.B. Fall Morellini, Kapitel 6.7). In der Praxis hatte die formale berufliche Qualifikation von Arbeitsmigrant/innen, vor allem wegen der fehlenden oder nicht anerkannten Fähigkeitsausweise, wenig Bedeutung. Entscheidend für Schweizer Arbeitgeber/innen waren die praktischen Fähigkeiten, die anhand von Werkproben, Probezeiten etc. unter Beweis gestellt werden mussten (vgl. dazu Soom/Truffer 2000:117f). Dem entsprechend hatten es unterschiedliche politische und praktische Bestrebungen zur Schaffung von beruflichen Weiterbildungsmöglichkeiten für ‚Gastarbeiter/innen‘ eher schwer (vgl. dazu Soom/Truffer 2000: 183f). Unter den italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘ gewinnt die berufliche Qualifikation eine gewisse Bedeutung in der internen Distinktion entlang schichtspezifischer Unterschiede, geographischer Herkunft (Nord-Süd-Distinktion) und urbanen vs. agrarischen Milieus. 37 Generell wird davon ausgegangen, dass das schweizerische ‚Gastarbeiter‘-System kurz- und langfristig von enormem volkswirtschaftlichem Nutzen für die ‚Gastgeber‘Länder war. Kritische Einschätzungen verweisen aber auch darauf, dass die breite Ab-
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tung, vgl. Hoffmann-Novotny 1973 und 1987). Dieser Argumentationslinie stand der Vorwurf der Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte und der Spaltung der Arbeiterklasse durch die herrschenden Kapitalisten gegenüber (vgl. Treibel 2003: 118f). Diese Zweischneidigkeit der Gastarbeit im Hinblick auf die Arbeitnehmenden der Aufnahmegesellschaft widerspiegelt sich insbesondere auch in den Debatten rund um die In- resp. Exklusion von ‚Gastarbeiter/innen‘ in den Schweizer Gewerkschaften (siehe z.B. Steinauer/von Allmen 2000; Schmitter Heisler 2000, D’Amato 2001: 214f). Zwei Aspekte, die in der Literatur als für Arbeitsmigration typisch beschrieben werden und in der ‚Gastarbeit‘ eine besondere Ausprägung erhalten, sind für die Frage des Alterns in der Migration und die Konzipierung meiner Studie von besonderer Bedeutung. Einerseits weist Arbeitsmigration, vor allem aufgrund der geschlechtlichen Segregation von Arbeitsmärkten, oft geschlechterspezifische Charakteristika auf, und andererseits hat Arbeitsmigration typischerweise einen temporären Charakter – insbesondere im ‚Gastarbeiter‘-System –, und sieht als Abschluss der Migration die Rückkehr vor. Beginnen wir mit der Geschlechterspezifik von Arbeitsmigration. In der gesamten Migrationsforschung wurde in den letzten Jahrzehnten ein zunehmendes Augenmerk auf Geschlechteraspekte gelegt38. Damit wurde eine festgestellte einseitige Konzentration der Forschung auf männliche Migration korrigiert und danach gefragt, wodurch sich Migrationsprozesse von Frauen auszeichnen (z.B. Treibel 2003: 121f; Gutiérrez Rodríguez 1999: 17f; Hahn S. 2000). Gleichzeitig wurde auch eine empirische Zunahme der Migration von Frauen während der letzten Jahrzehnte postuliert (Castles/Miller 1993 z.B. sprechen von einer ‚Feminisierung‘ der Migration; siehe auch Morokvasic-Müller et al. 2003, kritisch dazu Aufhauser 2000). Die spezifische Migration im Rahmen des ‚Gastarbeiter‘-Systems hingegen wurde in der Literatur oft als Migration von Männern beschrieben: Im Norden nachgefragt wurden junge, gesunde und risikofreudige Männer für kräfteraubende und gefährliche Arbeiten im Baugewerbe, der Landwirtschaft und der Industrie, also Arbeitnehmende, welche aufgrund des
stützung vor allem in der Industrie auf billige, unqualifizierte ausländische Arbeitskraft dazu geführt habe, dass notwendige Strukturanpassungen in der Wirtschaft zu spät vorgenommen wurden (siehe dazu z.B. Sheldon 2003). 38 Siehe z.B. Lenz 1995, Buijs 1996, Gutiérrez Rodríguez 1999, Aufhauser 2000, Kofman et al. 2000, Willis/Yeoh 2000, Lenz et al. 2002, Morokvasic-Müller et al. 2003, Han 2003, Lutz 2004, Matthäi 2005; für die Schweiz z.B. Karrer et al. 1996, Prodolliet 1999, Riaño/Baghdadi 2007, für Italienerinnen in der Schweiz siehe Ley 1979 und 1984, Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992, Meyer Sabino 2003c.
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Wohlstandsgefälles zwischen Nord und Süd bereit waren, diese Arbeiten auch zu einem kleinen Lohn zu übernehmen. Im Süden bereit, das Risiko einer Migration auf sich zu nehmen, waren junge, ungebundene Männer ohne Erwerbsperspektiven sowie Familienväter, die in ihrem unmittelbaren Umfeld kein ausreichendes Einkommen fanden, um ihre Familien zu ernähren. Frauen, so wird oft konstatiert, seien erst im Rahmen des Familiennachzugs in den 1960er und 1970er Jahren in den Norden migriert. Männer galten in der Gastarbeit lange als Migrationspioniere, Frauen als nachziehende Anhängsel (Philipper 1997: 23f; Gutiérrez Rodríguez 1999: 23f; Aufhauser 2000: 98; Kofman et al. 2000: 13; Han 2003; Matthäi 2005: 15) oder als zurückgebliebene Strohwitwen (Gabaccia 2001, Gabaccia/Iacovetta 2002, Reeder 2003). Statistische Daten belegen zwar für verschiedene Ausprägungen der ‚Gastarbeit‘ eine mehr oder weniger ausgeprägte Mehrheit von Männern unter den Migrant/innen, doch sind innerhalb dieses Systems auch ganz spezifisch weibliche Migrationsmuster zu finden. Einerseits bestand auf der Seite der ‚Gastgeber‘-Gesellschaften in bestimmten, deutlich geschlechtersegregierten Branchen eine Nachfrage nach explizit weiblicher Arbeitskraft, im Hausarbeits- und Pflegebereich zum Beispiel, aber auch in der Industrie. Andererseits waren die Migrantinnen keineswegs nur verheiratete Frauen, die ihren Ehemännern folgten, sondern durchaus auch allein stehende Frauen. Und Ehefrauen migrierten nicht nur zum Zwecke der Familienzusammenführung, sondern in erster Linie als Arbeitskräfte. Auch in der für die ‚Gastarbeit‘ typischen Kettenmigration treten Frauen nicht nur als nachziehende Glieder in langen Ketten in Erscheinung, sondern ebenso als Pionierinnen, als erste Glieder in Migrationsketten. Auf den ersten Blick entspricht z.B. auch Serafinas Migrationsgeschichte dem Stereotyp der nachziehenden Ehefrau in einer männlich dominierten Migration. Sie war bereits einige Jahre verheiratet und hatte ein erstes Kind, als ihr Ehemann Vittorio sich Richtung Norden aufmachte. Serafina jedoch setzte alles dran, um mit ihm zu gehen, selbst ohne ihr Kind: E io stavo con mia suocera e il bambino
Und ich war mit meiner Schwiegermutter
giù, in Sicilia, sola. Poi non uscivo, per le
und dem Kind unten, in Sizilien, allein. Ich
feste, sa, senza il marito non è che si poteva
ging nicht aus, zu Festen, wissen Sie, ohne
andare [.] tanto, allora eravamo [..] Dopo,
Ehemann kann man nicht so gut weggehen,
io, ogni lettera che ci scriveva mio marito,
also waren wir – Dann hab ich, in jedem
si faceva così [macht schreibende Geste]:
Brief, den ich meinem Mann geschrieben
„Vedi che l’anno prossimo voglio venire
habe [macht schreibende Geste]: „Sieh zu,
pure io.“, io sempre ci scrivevo. [.][mit
dass ich nächstes Jahr auch mitkommen
lauter, harter Stimme:] Però la lettera: [.]
kann.“, hab ich immer geschrieben. [mit
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io la scrivevo, mia suocera la leggeva,
lauter, harter Stimme:] Aber der Brief: ich
quanto arrivava mia suocera pure la
schrieb ihn, die Schwiegermutter las ihn,
leggeva – ma no per il male [.] ma per
wenn sie’s konnte – aber nicht aus Boshaf-
affetto, perché eravamo tutti una famiglia.
tigkeit, aus Anteilnahme, denn wir waren
Ma nel questo tempo tu non potevi dire una
alle eine Familie. Aber in jener Zeit konn-
cosa in più o di meno, capisci com’è
test du Gewisses nicht sagen, mehr oder
quando le lettere sono controllate.
weniger, verstehst du, wie es ist, wenn die
Comunque, eh, andava bene così. Era
Briefe kontrolliert werden. Jedenfalls, eh,
giusto così. [..] Dopo [.] mio marito è stato
ging das gut so. Es war richtig so. – Dann,
nel 1960, [.] ha fatto il ’61 pure, [.] in ’62
mein Mann war also im ’60, hat auch das
sono venuta io. Perché [.] non potevamo
’61 gemacht, im ’62 bin ich gekommen.
stare così [.] distante, sa! Già è passato un
Denn wir konnten nicht so bleiben, weit
anno e mezzo, e [.] era stato troppo perché
entfernt, wissen Sie! Schon waren andert-
ci volevamo troppo bene. E io anche mi
halb Jahre vergangen, und es war zu viel,
sentivo troppo [.] non dico schiavo, no,
weil wir hatten uns zu gern. Und ich fühlte
però [.] quando c’è il marito già – già io
mich auch zu sehr, ich würde nicht sagen
stare con la suocera, [.] l’agognata, sa,
eingeschlossen, nein, aber wenn der Mann
era, era pesante. era. [.][sehr leise:] Ah,
nicht da ist – ich mit der Schwiegermutter,
mio marito! [.] Il ’61 ha lasciato la
die Sehnsucht, wissen Sie, es war schwer.
mansarda riservata [.] per lui solo, così
[sehr leise:] Ah, mein Mann! Im ’61 hat er
poteva apportare me. [.] Nei primi di marzo die Mansarde reserviert gelassen, für sich del ’62 siamo venuti insieme.
allein, und so konnte er mich mitnehmen. In den ersten Märztagen ’62 sind wir dann zusammen gekommen.
(Transkript Santo 1, 7/37 – 8/2) Serafina folgte ihrem Mann in die Schweiz, doch nicht auf sein Drängen hin. Nein, sie war es, die aus dem Dorf weg wollte. Als sie im Interview ihren eingeschränkten Handlungsspielraum als Strohwitwe im Haushalt der Schwiegermutter beschrieb und ihr Verlangen nach der Nähe zum Ehemann betonte, hatte sie das Motiv der Migration als endgültigem Befreiungsschlag aus beengenden Verhältnissen in ihrer biographischen Erzählung bereits gut vorbereitet. Ihr Vater, ein herrischer Mensch, bevorzugte den älteren Bruder und verdonnerte Serafina immer wieder zu Arbeiten auf den Feldern und zum Tiere-Hüten. Serafina hasste diese Arbeiten. Viel lieber wäre sie zur Schule gegangen wie die anderen Mädchen, doch der Vater habe das unnötig gefunden für ein Mädchen. Sie schämte sich auch, dass sie sich am Sonntag in der Kirche mit braungebrannten und zerkratzten Beinen zeigen musste. Der Enge ihrer Kindheit, die in ihrer Erzählung vom Vater aus geht, entfloh Serafina dann bei der erstbesten
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Gelegenheit, die sich ergab: Ein Junge aus dem Dorf – Vittorio – begann, ihr den Hof zu machen. Serafinas Vater stimmte einer Heirat nicht zu, und so erzwangen Vittorio und Serafina eine Heirat mit einer gemeinsamen Flucht. Die beiden waren aber noch zu jung, um bereits einen eigenen Hausstand gründen zu können, und so zog Serafina in den Haushalt von Vittorios Mutter. Damit führt ihr vermeintlicher Befreiungsschlag allerdings nicht zur erwünschten Freiheit, sondern von der Kontrolle durch den Vater zur Kontrolle durch die Schwiegermutter. So greift Serafina die Idee ihres Mannes, sein Glück allenfalls mal in der Schweiz zu versuchen, mit Begeisterung auf und überredet erst ihn dazu zu gehen. Dann drängt sie ihn dazu, sie mitzunehmen. So entkommt Serafina nicht nur der rigiden sozialen Kontrolle im Dorf, sondern auch der verhassten Landarbeit. Dafür nimmt sie auch in Kauf, vorerst einmal von ihrem Kind getrennt zu leben. Für Serafina ist die Migration ein Befreiungsschlag, ein aufregendes Abenteuer, und nicht unbedingt eine ökonomische Notwendigkeit, der sie sich zum Wohle ihrer Familie und ihrer Kinder fügt. Auch wenn die Santos im Rahmen einer Kettenmigration nach Bern gekommen sind, so übernimmt Serafina im Rahmen ihres eigenen Umfeldes dennoch eine Pionierrolle, wird zur Entscheidungsträgerin. Den für eine junge Ehefrau vorgesehenen Handlungsspielraum optimal nutzend, schickt sie zuerst ihren Mann in die Migration, um ihm dann so bald als möglich zu folgen. Serafina ist zwar auf den ersten Blick ein nachmigrierendes Glied in einer eher männlich dominierten Kette der Arbeitsmigration, und sie unterliegt in ihrem Migrationsprojekt bestimmten geschlechterspezifischen Zwängen. Dennoch ist Serafina keineswegs ein passives Opfer der Entscheidungen von Ehemännern und Vätern, sondern sie plant und gestaltet ihre Migration im Rahmen ihrer Handlungsoptionen innerhalb eines männlich dominierten Migrationsmusters sehr aktiv. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Geschlechterfragen im Kontext der Arbeitsmigration fokussieren, so ist aus diesen kurzen exemplarischen Ausführungen klar geworden, vor allem auf die Differenzierung von geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Arbeitsmigration und die Sichtbarmachung von Frauen als handlungsmächtige Akteurinnen in Migrationsprozessen, als Ausgleich zu einer lange nur auf männliche Migranten gerichteten Perspektive (siehe beispielsweise Philipper 1996, Gutiérrez Rodríguez 1999, Matthäi 2005). Auch die Frage, ob und wie sich Migrationsprozesse von Frauen von denjenigen der Männer unterscheiden, wird aufgegriffen: Sind Frauen in der Migration über ihre Rollen in der Pflege informeller sozialer Netzwerke und in der Sozialisation der Kinder die Hüterinnen der Traditionen oder die Pionierinnen des Wandels (siehe z.B. Buijs 1996: 10f), sind sie Opfer der Strategien und Entscheidungen von Männern oder handlungsmächtige Akteurinnen (siehe z.B. Beck-Gernsheim
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2004: 51f), liegt in der Migration ein besonderes Emanzipationspotenzial für Frauen durch die Befreiung aus vormodernen Verhältnissen, oder handelt es sich dabei vielmehr um ein ausschließendes ‚othering‘ durch westliche Feministinnen (siehe z.B. Gutiérrez Rodríguez 1999: 26f)? Machen die multiplen Belastungen von Arbeitsmigrantinnen aufgrund ihrer dreifach diskriminierenden Vergesellschaftung als Frauen, Arbeiterinnen und Ausländerinnen (Lenz 1995) sie zu besonders Benachteiligten und bedauernswerten Opfern, oder statten sie diese Erfahrungen mit speziell wertvollen Ressourcen zum Bestehen in einer globalisierten, flexibilisierten Welt aus (siehe z.B. Lutz 1991)? Die zunehmend nicht mehr nur an Frauen, sondern allgemein an Geschlecht interessierte Migrationsforschung wird insbesondere dann interessant, wenn sie migrationstheoretische, ungleichheitstheoretische und feministische Theorieansätze kombiniert. Spannende sozialtheoretische Anregungen ergeben sich z.B. aus den Fragen danach, wie soziale Differenzierungs- und Stratifizierungskategorien sowohl in den Erfahrungen der Migrant/innen, den Strukturen und Diskursen der Aufnahmegesellschaften wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion überschneiden (siehe z.B. Gümen 1996 und 1998, Gutiérrez Rodríguez 1999: 26f; zur Einführung in die Thematik auch Bednarz-Braun/Hess-Meining 2004: 21f). Für die hier bearbeitete Fragestellung nach dem Altern von Paaren in der Migration steht weniger eine spezifisch weibliche resp. spezifisch männliche Migrationsperspektive im Zentrum. Es geht vielmehr um die Ehe als ökonomische Einheit und als Solidargemeinschaft, und zwar im lebensgeschichtlichen Stadium nach der Erwerbsarbeit. In erster Linie ist dabei von Interesse, wie sich Geschlechterbeziehungen und Arbeitsteilung im familiären Kontext gestalten und im Zuge von sich wandelnden Kontextbedingungen (wie z.B. der Migration oder der Pensionierung) verändern, und dazu gibt es in der Migrationsforschung, zumindest bezüglich der ‚Gastarbeit‘, bisher wenig Literatur. Die Konzentration auf Paare im Alter bringt es, wie ich weiter unten noch ausführen werde (Kapitel 2.4 und 4), zudem mit sich, dass in der Präsentation des Geschlechterverhältnisses im Paar der Fokus weniger stark auf Konflikten zwischen den Geschlechtern, sondern eher auf der Herstellung von Konsens und Kooperation liegt (vgl. dazu Burkart/Koppetsch 2001). Der Fokus dieser Studie liegt also, im Hinblick auf Geschlecht, weder auf dem weiblichen noch auf dem männlichen Part innerhalb der Paare, sondern auf Kooperation und Arbeitsteilung der Ehepartner in der Entwicklung und Ausgestaltung ihres Migrationsprojektes wie auch ihres Alterns als Paar. Ein weiteres charakteristisches Merkmal des ‚Gastarbeiter‘-Systems, welches insbesondere auch im Hinblick auf das Altern in der Migration von Bedeutung ist, ist der ursprünglich intendierte temporale Charakter der Migration und die
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daraus abgeleitete These, dass Arbeitsmigrant/innen eine ausgeprägte Rückkehrorientierung ausweisen. Die Idee, dass ‚Gastarbeit‘ eine zeitlich beschränkte, vorübergehende Phase der Arbeitstätigkeit in der Migration sei, wurde im ‚Gastarbeiter‘-System von allen Beteiligten geteilt, auch von den Migrant/innen selbst. Das Ziel der Migration war weniger das Aufbauen einer neuen Existenz in der Migration, als vielmehr die Ermöglichung einer Existenz in der Herkunftsgesellschaft nach erfolgreicher Rückkehr (Treibel 2003: 151). Arbeitsmigrant/innen zeichnen sich deshalb, so wird in der Migrationsforschung immer wieder herausgestrichen, oft durch eine starke Rückkehrorientierung aus. Die Migration diene in erster Linie dem Erreichen eines ökonomischen Ziels, nicht dem (freiwilligen oder erzwungenen) Verlassen des bisherigen Lebensumfeldes. Migration ist eine bewährte Strategie, um mit dauerhafter Armut oder wirtschaftlichen Krisen umzugehen. Dies gilt insbesondere auch für die italienische Emigration des 20. Jahrhunderts: Ein Großteil der Migrant/innen ging in die Migration, um Arbeit zu finden, um Geld zu verdienen, um sich und ihrer Familie damit eine bessere Zukunft zu erarbeiten. Arbeitsmigrationsprojekte enthalten deshalb oft – manchmal explizit, manchmal eher implizit – die Idee einer Rückkehr, oder zumindest eine Offenheit bezüglich Dauer und Endgültigkeit der Migration (Dietzel-Papakyriakou 1993, Ganga 2006). Rückkehrorientierte Migrationsprojekte entstehen aber auch durch die politischen und rechtlichen Bedingungen sowohl des Herkunftslandes wie auch des Aufenthaltslandes. Die Herkunftsländer zum Beispiel haben großes volkswirtschaftliches Interesse an den Rimessen ihrer Staatsbürger im Ausland. Die Aufenthaltsländer ihrerseits sind daran interessiert, die importierte Arbeitskraft flexibel zu halten und notfalls wieder abstoßen zu können. Insbesondere das ‚Gastarbeiter‘-Regime beabsichtigte, Migration nur als temporären Aufenthalt zuzulassen und eine dauerhafte Niederlassung der zuziehenden Arbeitskräfte zu erschweren (Pagenstecher 1996, Mahnig/Piguet 2003). Die Intentionen der Politik im Aufenthaltsland, eine dauerhafte Zuwanderung zu verhindern, wie auch die subjektiven Rückkehrintentionen der Migrant/innen standen einer faktisch immer dauerhafter werdenden Niederlassung gegenüber39. Eine Rückkehr wurde dadurch immer unwahrscheinlicher, so dass das Festhalten von Arbeitsmigrant/innen an der Idee einer Rück-
39 Die Kriterien, welche nach Pagenstecher (1996: 153f) dafür sprechen, dass in der ‚Gastarbeiter‘-Migration trotz aufrecht erhaltener Rückkehrorientierung auf allen Seiten seit den 1960er Jahren faktisch eine Niederlassung stattgefunden hat, umfassen die Aufenthaltsdauer, die Beschäftigungs- resp. Geschäftsverhältnisse, die Alters- und Geschlechterstruktur der Wohnbevölkerung mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die Wohnsituation, die Aktivitätsbereiche der Migrant/innen-Organisationen etc.
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kehr, wie Pagenstecher (1996) festhält, in der Forschung oft als „Illusion“ bezeichnet wurde40. Die Rückkehrorientierung erfüllt laut Dietzel-Papakyriakou (1993) verschiedene Funktionen für die Migrant/innen. Zum einen hat Arbeitsmigration ursprünglich die Intention einer Statusverbesserung im Herkunftskontext. Erst wenn diese erreicht ist, kann das Migrationsprojekt mit einer Rückkehr abgeschlossen werden. Ein solches Migrationsprojekt ist zudem typischerweise kein individuelles Projekt, sondern Ergebnis von Verhandlungen des Individuums mit seinem sozialen Umfeld. Aus diesen Verhandlungen entstehen eine Vielzahl von Verpflichtungen und Erwartungen im Herkunftskontext an die erfolgreiche Ausführung des Migrationsprojektes. Migration hat in diesem Zusammenhang den Charakter eines sozialen Auftrages. Rückkehrorientierung bedeutet unter dieser Perspektive gleichzeitig Orientierung an den Bezugsgruppen des Herkunftssystems, denn dort kann der in der Migration erreichte ökonomische Gewinn in soziales Prestige umgemünzt werden. Statusgewinn kann einerseits nur im Vergleich zur Ausgangslage (d.h. dem Herkunftskontext) gemessen werden, andererseits ist die Aussicht auf Statusgewinn im Aufnahmeland durch multiple Hindernisse und fehlende Kompetenzen gering. Bei bestehender Rückkehrorientierung werden deshalb häufig Investitionen in das Herkunftsland dirigiert und nicht auf die Verbesserung der materiellen Bedingungen im Aufnahmeland konzentriert (Dietzel-Papakyriakou 1993: 98). Da Migration im Aufnahmekontext in der Regel mit sozialem Abstieg verbunden ist, kann die Orientierung am Wertesystem des Herkunftskontextes auch als Strategie der Verteidigung des ursprünglichen sozialen Status verstanden werden. Die Rückkehrorientierung stellt damit eine Strategie dar, die ‚Kosten‘ der Migration in Form von Machtund Prestigeverlusten bzw. soziale Stigmatisierung zu minimieren und den sozialen Status und das Sicherheitsgefühl zu erhalten (Dietzel-Papakyriakou 1993: 99). Die Orientierung am Herkunftskontext erlaubt es auch, den niedrigen sozialen Status im Aufnahmekontext zu akzeptieren, da sie als vorübergehende Deklassierung verstanden werden kann: „Arbeitsmigranten wussten um das soziale Stigma, das ihrem Beruf als unqualifizierte Industriearbeiter anhaftet. Sowohl außer- wie auch innerbetrieblich bekamen sie die Geringschätzung der Aufnahmegesellschaft zu spüren. Das Hinnehmen der diskriminierenden Lebens- und Arbeitssituation hatte weniger mit einer passiven Unterordnung zu tun, sondern mehr mit einem kalkulierten Beharren, um daraus so schnell wie möglich –
40 Vgl. dazu auch die ausführliche Auseinandersetzung mit Bedeutung und Funktion von Aufenthaltsort und Herkunftsort in biographischen Erzählungen bei Gardner (2002).
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oder doch bestimmt eines Tages – z.B. durch die Rückkehr ins Herkunftsland entkommen zu können.“ (Dietzel-Papakyriakou 1993: 144)
Auch das Ehepaar Santo folgte ursprünglich den Verlockungen des Geldes in den Norden, doch war ihr Migrationsprojekt relativ rasch nicht mehr nur der Kapitalakkumulation und dem daraus ableitbaren Statusgewinn im Herkunftskontext gewidmet. Serafina führt dies in Abgrenzung zu ihren Geschwistern aus: Noi, era per due tre anni che dovevamo
Wir wollten zwei, drei Jahre hier bleiben.
stare qua. [.] E dopo, siccome ci trovavamo
Und dann, da wir’s gut hatten mit der
bene col lavoro, perché il lavoro, abbiamo
Arbeit, denn wir haben immer eine saubere
cercato sempre un lavoro pulito. Perché io,
Arbeit gesucht. Denn wenn sie mir sagten:
se mi dicevano: „Vai a lavorare al risto-
„Geh doch ins Restaurant arbeiten“, oder
rante.“ [.] oppure „Vai a lavorare nel
„Geh doch auf dem Friedhof arbeiten“,
cimitero“, a zappare [.] i fiori e prendere
Blumen hacken und mich erkälten, oder –
freddo, oppure– io non ci stavo qui. Ci è
ich wäre nicht geblieben. Meine Schwester
stata la mia sorella [.] è venuta, e ha lav-,
war da, ist gekommen und hat ge-, sie
ci hanno fatto il contratto alla [.] la
haben ihr einen Vertrag bei der Tobler41
,Tobler‘. [..] [dramatisch langsam gespro-
gemacht – [dramatisch langsam gespro-
chen:] Ma lei, l’hanno messo in un reparto
chen:] Aber sie haben sie in eine Abteilung
[.] che doveva entrare e uscire queste lastre getan, wo sie diese heißen Platten in und [= Platten] calde, del forno. A lei non ce la
aus dem Ofen schieben musste. Das hat sie
faceva, a lei non ce la faceva. [.] Sai, stare
nicht geschafft, hat sie nicht. Weißt du,
sempre col fuoco lì a uscire questa ciocco-
immer beim Feuer stehen, diese Schokolade
lata, questa cosa, ha detto: „Io non ce la
rausnehmen, hat sie gesagt: „Das schaffe
faggio.“ [mit hoher, aufgeregter Stimme:]
ich nicht.“ [mit hoher, aufgeregter
„Io non sono come te“, mi faceva a me, „tu
Stimme:] „Ich bin nicht wie du“, machte sie
ci hai un bel lavoro, [***] e io lì non ce la
zu mir, „du hast eine schöne Arbeit, und ich
faggio!“ e se ne sono andati. E’ ritornata in schaffe das dort nicht!“ und sie sind wegItalia. Invece io ci ho detto: „Se tu ricono-
gegangen. Ist nach Italien zurückgekehrt.
sci che qui guadagni qualcosa, [.] aspetta.
Ich hingegen habe ihr gesagt: „Wenn du
Dopo puoi cambiare lavoro.“ [***] Ma no! erkennst, dass du hier was verdienen Subito! [.] Se ne sono andati. E poi hanno
kannst, dann wartest du. Später kannst du
avuto una vita così difficile, loro. Troppo
die Arbeit wechseln.“ [***] Aber nein!
difficile. [.] A me non mi ha ascoltato, che
Sofort! Sie sind weggegangen. Und haben
cosa ci posso fare? [.] E lei sempre dice
dann ein dermaßen schwieriges Leben
41 Die Tobler war eine Schokoladefabrik in der Stadt Bern, die vor allem Arbeiterinnen, darunter auch viele Migrantinnen beschäftigt hat.
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[mit etwas spitzem Tonfall]: „Tu sei in
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gehabt. Zu schwierig. Auf mich hat sie nicht
Svizzera, tu sei in Svizzera.“ [.] Si crede che gehört, was kann ich da tun? Und sie sagte la Svizzera mi manda i soldi del cielo. Non
immer [mit etwas spitzem Tonfall]: „Du bist
lo sa che noi abbiamo fatto tanti sacrifici
in der Schweiz, du bist in der Schweiz.“
qua.
Man glaubt, dass die Schweiz mir das Geld in den Schoss fallen lässt. Sie weiß nicht, wie viele Opfer wir gebracht haben hier.
(Transkript Santo 2, 4/35 – 5/12) Als Beispiele für die Opfer, welche Serafina für ihr Leben in bescheidenem Wohlstand erbringen musste, erwähnt sie die Strapazen, die sie neben ihrer Arbeit mit der Versorgung der Kinder, dem Bringen und Holen in den Krippen, dem Mittagessen-Kochen für die Schulkinder hatte. Und wie sie die weiten Strecken zwischen Wohnung, Krippe und Arbeitsort viermal pro Tag zurückgelegt habe, auch bei tiefster Kälte und dickstem Nebel. Einerseits illustriert Serafinas Erzählung die Einbettung von Migrationsprojekten in Kollektive und die sozialen Erwartungen, welche an Migrant/innen in ihrem Herkunftskontext gestellt werden. Andererseits aber zeigt sie auch die Verschiedenheit der Zielsetzungen auf. ‚Gastarbeiter‘- Migrationsprojekte haben zwar immer eine Wohlstandsmehrung zum Ziel, doch diese hat auch Kosten, wie Serafina hier deutlich macht. Individuelle Migrationsprojekte sind deshalb auch Kosten-Nutzen-Abwägungen. Die Kosten können jemandem zu hoch sein, wie Serafina hier ihrer Schwester unterstellt. Aber auch Serafina war nicht bereit, jedwede Kosten auf sich zu nehmen. Und außerdem war ihre Definition von Wohlstandsvermehrung eine andere als zum Beispiel diejenige ihres Bruders: S: E’ venuto anche mio fratello. [.] Ma
S: Auch mein Bruder ist gekommen. Aber
mio fratello solo fino [.] a ‚Interlak‘.
nur bis Interlaken. [***] Aber Interla-
[***] Ma ‚Interlake‘, dov’è? Nella
ken, wo ist das? In den Bergen! [***]
montagna! [***] Ci ha fatto guada-
Er hat dort dermaßen viel Geld ver-
gnare tanti soldi. Mio fratello, [laut:]
dient. Mein Bruder, sechs Monate ist er
sei mesi ci è stato. E se n’è andato in
geblieben. Und ist zurückgegangen nach
Italia, poi ha comprato il trattore, sa! Il
Italien, hat dort einen Traktor gekauft,
primo trattore che si ha potuto com-
wissen Sie. Der erste Traktor, den man
prare. Così poteva lavorare [.] sai, che
sich hat kaufen können. So konnte er ar-
prima si affitava il trattore, colla per-
beiten, weißt du, denn früher musste
sona, dovevi pagare tanti soldi. Ma lui
man den Traktor mieten, musste viel
è venuto grande con quello trattore che
dafür zahlen. Und er ist groß geworden
s’ha comprato.
mit diesem Traktor, den er gekauft hat.
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E: E ha lavorato come muratore, a ‚Interlaken‘? S: Non lo so cosa facevano. Non lo so se
E: Und hat er als Maurer gearbeitet, in Interlaken? S: Ich weiß nicht, was sie machten. Weiß
scavavano pietra. [.] Forse scavavano
nicht, ob sie Stein aushöhlten. Vielleicht
pietra.
haben sie Stein ausgehöhlt.
E: Allora ha lavorato nella montagna.
E: Dann hat er also in den Bergen gearbeitet.
S: Eh, nella montagna ha lavorato, sì. [.]
S: Eh, in den Bergen hat er gearbeitet, ja.
E dopo mio fratello mi ha detto: [.]
Und hat mir gesagt: „Serafina, wenn du
„Serafina, se vuoi venire qui [.] che c’è
hierher kommen willst, es gibt Arbeit,
il lavoro, e si guadagnano bene i
und man verdient gutes Geld.“ Und
soldi.“ [.] Allora, io, sai che cosa ci ho
weißt du, was ich gesagt habe? Hab ihm
risposto? Ci ho detto: [.]„Io voglio
gesagt: „Ich will in der Stadt bleiben.
stare in città. Io non voglio stare nella
Ich will nicht in den Bergen leben, bin
montagna, non sono venuta in Isvizzera
nicht in die Schweiz gekommen, um um
[.] per guadagnare soldi a tutta forza e
jeden Preis Geld zu verdienen und wie
stare come un, un cane, no. Io sono
ein Hund zu leben, nicht. Ich bin aus Si-
uscita dalla Sicilia [.] per stare bene
zilien weggegangen, damit ich gut leben
qua. “ Perché [***] non è che ne man-
kann.“ Denn es war ja nicht so, dass wir
cava il mangiare in Sicilia, il mangiare
in Sizilien nichts zu essen gehabt hätten.
ci l’avevo. [.] Ma io volevo stare bene,
Aber ich wollte gut leben, wollte [lacht]
volevo stare [.] [lacht] bene, come si
gut leben, wie sagt man? Mir gefielen
dice? [.] Mi piacciono le feste, mi piace
Feste, mir gefiel das Ausgehen, Spazie-
[.] uscire, fare una camminata. In
rengehen. In den Bergen, was hätte ich?
montagna cosa vedevo? Solo freddo!
Nur Kälte! Ah nein nein. Hab meinem
[***] Ah nono. [.] Ho detto a mio fra-
Bruder gesagt: „Ich will in der Stadt
tello: „Io voglio stare in città.“ [.] [mit
bleiben.“ „Ah die Dame“, macht er mir,
greller Stimme] „Ah nobile“, mi fa,
„die Dame will in der Stadt bleiben!“
„ah nobile, vuole stare in città. “ Ou!
Ou! „Mich interessiert all das Geld
„A me non mi interessano tutti questi
nicht, das du verdient hast. Ich ziehe ei-
soldi che hai guadagnato tu. Io preferi-
nen Franken einundneunzig vor!“ [lacht
sco un franco e novantuno!“ [lacht her-
herzlich] Also wenn ich rausgehe, will
zlich] Ma però voglio che quando esco
ich andere Häuser sehen, Menschen und
vedo altre case, vedo le persone e tutto.
alles. Und so haben wir es vorgezogen,
E noi abbiamo preferito [.] stare bene,
es uns gut gehen zu lassen, und dafür
e non guadagnare tanti soldi.
nicht so viel Geld zu verdienen.
(Transkript Santo 2, 7/4 – 7/41)
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Serafinas Ausführungen zeigen, dass Migrationsprojekte vielschichtige Ziele verfolgen und dass sich Wertungen im Laufe der Migration auch verändern. Die Analyse von Dietzel-Papakyriakou (1993), welche die Frage der Rückkehr vor allem mit ökonomischem Gewinn und damit verbundenem sozialem Status im Herkunftsland verbindet, hat darin sicher ihre Berechtigung, deckt aber nur eine Komponente ab. Ganga (2006) z.B. lenkt ihr Augenmerk bei der Betrachtung von Rückkehrabsichten weniger auf den ökonomischen und mehr auf den sozialen Aspekt. Sie beschäftigt sich damit, wie Gastarbeiter/innen ihre eigentlich geplante, aber nie vollzogene Rückkehr begründen, und sie kommt zum Schluss, dass dafür nicht unbedingt ökonomische Kriterien, sondern vielmehr soziale Gründe ausschlaggebend seien (Ganga 2006: 1409). Insbesondere familiäre Bindungen an Kinder und Enkelkinder fallen bei der Abwägung für und wider eine Rückkehr besonders stark ins Gewicht (Ganga 2006: 1403). Ein großer Teil der ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘, so beobachtet auch Pagenstecher (1996: 167), erlebt die (noch) nicht vollzogene Rückkehr nicht als Versagen oder als Illusion, sondern ist sich der faktischen Niederlassung sowie der Schwierigkeiten einer Rückkehr durchaus bewusst. Dennoch wird das Migrationsziel Rückkehr aber nicht gänzlich verworfen. Die Rückkehrorientierung bleibt Bestandteil des Migrationsprojektes, auch wenn deren Umsetzung nicht mehr besonders realistisch scheint. Die Rückkehr bleibt dadurch als potenzielle Handlungsoption erhalten und kann, wie auch Dietzel-Papakyriakou festgehalten hat, im Umgang mit Ausgrenzungs- und Unsicherheitssituationen relevant werden. Für Forschung und Politik relevant ist die Frage, ob und inwiefern die mit Arbeitsmigration und insbesondere mit ‚Gastarbeit‘ verbundene Rückkehrorientierung einer Integration im Aufenthaltsland hinderlich sei. Dies ist laut Pagenstecher dann der Fall, wenn die Rückkehrorientierung im Sinne einer provisorischen Lebensplanung handlungsrelevant wird (Pagenstecher 1996: 174). In der Regel jedoch „gewann die Rückkehrorientierung wichtige Funktionen, die sich nicht mehr direkt auf eine reale Rückkehr bezogen. Sie sicherte die Loyalität innerhalb der Minderheit, demonstrierte die Heimat- und Familienbindung und stabilisierte die Identität der Migranten. Daher war sie keine naive Illusion, sondern eine sinnvolle Strategie der Migranten zur Bewältigung der Migrationssituation, eine ‚Handhabung ihrer Lebensbedingungen‘42“ (Pagenstecher 1996: 174). Anders also als Fluchtmigrant/innen, denen eine Rückkehr oft gar nicht möglich ist, bleibt für Arbeitsmigrant/innen die Handlungsoption Rückkehr immer offen. Sollten alle Stricke im Aufenthaltsland reißen, so kann man sich versichern,
42 Den Begriff der „Handhabung von Lebensbedingungen“ übernimmt Pagenstecher von Bommes/Scherr 1991.
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dann bleibt immer noch die Rückkehr als möglicher Ausweg. Der Gedanke an eine zukünftige Rückkehr, die idealerweise auch mit einem Statusgewinn verbunden sein wird, macht es zudem auch erträglicher, die von Frau Santo erwähnten ‚Opfer‘ zu erbringen, die Belastungen und das Leid in der Migration auszuhalten. Sowohl die Frage der Rückkehr wie auch die Frage der Geschlechterspezifik, wie sie hier im Hinblick auf Arbeitsmigration und ‚Gastarbeit‘ kurz umrissen wurden, manifestieren sich auch im konkreten empirischen Kontext meiner Studie, der italienischen ‚Gastarbeiter‘-Migration in die Schweiz, auf die ich nun etwas näher eingehen möchte. Die italienische ‚Gastarbeiter‘-Migration und ihre Pionierrolle im Einwanderungsland Schweiz Italien erlebte im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert eine „Massenauswanderung“ (Sassen 2000: 88, Bevilacqua 1993: 111), welche um die Jahrhundertwende vor allem nach Amerika (v.a. aus Süditalien) und nach dem Zweiten Weltkrieg schwergewichtig nach Nordwesteuropa führte (siehe dazu Bevilacqua et al. 2001 und 2002). Diese internationalen Migrationsbewegungen waren, insbesondere in der Nachkriegszeit, der verlängerte Arm einer noch stärker ausgeprägten internen Migration vom Land in die Städte und vom Süden in den Norden (vgl. Ginsborg 1990: 217f, Bevilacqua 1993: 113f). Eine erste große Migrationsphase wurde um die Jahrhundertwende durch Industrialisierungsprozesse und Umstrukturierungen in der Landwirtschaft ausgelöst. Die Migration in die Schweiz hatte da bereits eine lange Tradition, insbesondere in Form von saisonaler od. zeitlich beschränkter Migration über kurze Distanzen, d.h. aus den grenznahen Regionen Norditaliens. Dabei handelte es sich einerseits um qualifizierte Handwerker/innen (in der Regel Männer, z.B. Stuckateure, Maler etc.), andererseits aber auch um unqualifizierte Arbeiter/innen aus dem Landwirtschaftssektor, die in der Schweiz z.B. im Bau der Eisenbahn- und Straßenverbindungen durch die Alpen eine (zeitlich meist begrenzte) Beschäftigung fanden. Frauen waren auch in dieser frühen Migration vertreten43; sie fanden z.B. Anstellungen als Hausangestellte. Aufgrund der stellenweise intensiven Industrialisierung Norditaliens migrierten auch qualifizierte Industrie-Fachkräfte in die Schweiz. Selbst politische Migration aus Italien in die Schweiz gab es, z.B. im Zuge der italienischen Staatsgründung Mitte des 19. Jahrhunderts, oder während
43 Sassen (2000: 89) gibt für die Emigration in der Zeit zwischen Mitte 19. Jh. und erstem Weltkrieg einen Frauenanteil um etwa 20 bis 25 % an.
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und nach der faschistischen Herrschaft44. Die Migration aus dem Süden Italiens in die Schweiz hingegen ist ein Phänomen der Nachkriegszeit. Süditalien erlebte in dieser Zeit einen massiven Exodus der ländlichen Bevölkerung. Auffällig ist, dass Migrationswege im Süden Italiens in der Regel nicht zuerst in die nächstgrößere Stadt führten, sondern dass von Beginn weg weite Distanzen zurückgelegt wurden. Während es in der Zeit vor den Weltkriegen vor allem Schiffsreisen nach Nord- und Südamerika waren, führten die Wege in der Nachkriegszeit über die Bahnlinien in die industriellen Zentren Norditaliens und ins nordeuropäische Ausland (Ginsborg 1990: 219, Bevilacqua 1993: 111). Süditalienische Migration war sowohl in der Vor- wie auch in der Nachkriegszeit eine Folge von Umstrukturierungsprozessen in der Landwirtschaft und stellte deshalb insbesondere für die ländliche Bevölkerung eine Option dar. Italien verfolgte seit der Staatsgründung Mitte 19. Jahrhundert eine Strategie staatlich kontrollierter Emigration. Auswanderung wurde gefördert, wenn für das Land nützlich, und gleichzeitig bemühte man sich um die Aufrechterhaltung der Einbindung emigrierter Staatsbürger/innen in die Nation45. Die regulativen Aktivitäten des Staates bezogen sich nicht nur auf die Migrationsprozesse innerhalb des Territoriums, sondern erstreckten sich über transnationale Räume, indem der Staat z.B. nicht nur Verhandlungen mit den Aufenthaltsstaaten seiner Emigrant/innen führte, sondern auch das soziale und politische Leben der migrierten Staatsbürger/innen an deren Aufenthaltsorten über die staatliche Förderung von Schulen, Medien und Vereinswesen aktiv mitgestaltete (Lucassen 2005: 17; für konkrete Beispiele siehe Soom/Truffer 2000, Halter 2003). In der Nachkriegszeit entwickelte sich die internationale Migration dann zu einem zentralen Bestandteil der ökonomischen Wiederaufbaubemühungen, die Erwerbslosigkeit im eigenen Land wurde durch Emigration verringert, und die
44 Die politische Migration aus Italien in die Schweiz war zwar zahlenmäßig eher gering, hat aber enorme Bedeutung für die Ausformung der migrationsspezifischen italienischen Organisationsstrukturen in der Schweiz gehabt. Politische Flüchtlinge hielten sich in der Schweiz vor allem in Zürich und Genf auf und engagierten sich dort oft sehr intensiv auf politisch-intellektueller Ebene (vgl. dazu auch Halter 2003). Das Ziel dieses Engagements war zwar in erster Linie auf Italien ausgerichtet, beeinflusste und instrumentalisierte aber auch die in der Schweiz anwesenden Arbeitsmigrant/innen (vgl. dazu auch Soom/Truffer 2000). 45 Langfristiges Ziel dieser Bemühungen war aber auch die spätere Remigration der Staatsbürger/innen. Es gibt relativ wenig wissenschaftliche Studien dazu, welche Migrant/innen unter welchen Voraussetzungen woher zurückgekehrt sind; einen historischen und geografischen Überblick dazu versucht z.B. King 1988.
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Kapitalrückflüsse der emigrierten Staatsbürger/innen (die sog. Rimessen) leisteten einen wichtigen Beitrag an die Staatskasse (D’Amato 2001: 68). Die italienische Emigration nach dem Zweiten Weltkrieg war so gesehen eine staatlich geförderte Wiederaufbau-Strategie. Die Staatsbürger/innen sollten das Land verlassen, aber dennoch eng genug an den Staat gebunden bleiben, dass genügend Kapital zurück ins Land fließen würde. Aufgrund der langen Emigrationstradition, der insbesondere in der Nachkriegszeit entwickelten staatlichen Emigrationspolitiken sowie dem besonders extensiven Netz von Organisationen im Ausland, war der italienische Staat besonders gut in der Lage, Migrationsprozesse in all ihren Stadien zu kanalisieren und zu kontrollieren (D’Amato 2001: 73)46. Die Auswanderung aus Italien führte in der Nachkriegszeit vor allem nach Frankreich, Belgien, Deutschland und in die Schweiz. Im Gegensatz zur Binnenmigration waren internationale Migrationsprojekte in der Regel als zeitlich befristet konzipiert (Ginsborg 1990: 228). Die Schweiz ihrerseits verfügte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, im Gegensatz zu den ehemaligen Kriegsparteien, über eine nahezu intakte Wirtschaft, die innerhalb kurzer Zeit auf Hochtouren produzierte und die benötigten Arbeitskräfte bald nicht mehr im eigenen Land fand. Die Wirtschaft machte Druck auf den Staat, den Bezug von Arbeitskraft aus dem Ausland zu ermöglichen, und so wurde bereits 1948 ein erstes Abkommen zwischen der Schweiz und dem Nachbarland Italien über eine erleichterte Migration ausgehandelt (Details dazu siehe z.B. D’Amato 2001: 204f). Allerdings sollte es für die Schweiz auch möglich bleiben, bei einer allfällig wechselnden Entwicklungstendenz in der Wirtschaft die ausländischen Arbeiter/innen, zum Schutze der einheimischen Arbeitskräfte, möglichst einfach wieder abzustoßen. Aus diesen Forderungen der Wirtschaft entwickelte sich in der Schweiz ein Migrationsregime, das auf Rotation setzte: Migrant/innen sollten jung, gesund und kräftig sein, und sie sollten das Land nach einer gewissen Zeit wieder verlassen. Einreise- und Aufenthaltsgenehmigungen wurden deshalb zeitlich begrenzt und an konkrete Arbeitsstellen gebunden. Italien war das bedeutendste Rekrutierungsgebiet der 1950er und 1960er Jahre; weitere wichtige Anwerbeländer waren Spanien und etwas später Portugal, in kleinerem Rahmen auch (Ex-)Jugoslawien und die Türkei. Aufgrund von Interventionen des Hauptsenderstaates Italien, der bessere Arbeits- und
46 Die regulativen Erfolge des italienischen Staates konzentrieren sich allerdings auf die Emigrationsbewegungen der eigenen Staatsbürger/innen. Im Hinblick auf die in den letzten Jahrzehnten zunehmend relevant gewordenen Immigrationsprozesse hingegen erscheint der italienische Staat als wenig machtvoller Akteur (vgl. dazu z.B. Anthias/ Lazaridis 2000, Andall 2000).
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Lebensbedingungen für seine Staatsbürger/innen im Ausland forderte, mussten von den Schweizer Behörden hingegen auch Zugeständnisse gemacht werden. Diese Zugeständnisse fanden ihren Niederschlag im zweiten bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und Italien, das 1964 geschlossen wurde (Details dazu siehe z.B. D’Amato 2001: 209f, Hirt 2007). Die etwas zögerlich anmutende Regulierung der Einwanderung durch die Bundesbehörden, die lange Zeit lediglich auf Druck verschiedener Interessengruppen entwickelt wurde, führte zu einer uneinheitlichen, teils widersprüchlichen nationalen Migrationspolitik des ‚laisser-faire‘ (Mahnig/Piguet 2003)47, welche den Bereich der Erwerbsarbeit stark reglementierte, die ‚Gastarbeiter/innen‘ aber in allen anderen Lebensbereichen sich selbst überließ48. Im Laufe der 1960er Jahre geriet diese Haltung von verschiedenen Seiten her zunehmend unter Druck. Die knappe Ablehnung einer politischen Initiative zur massiven Beschränkung der Zuwanderung, der sog. ‚Schwarzenbach-Initiative‘49, machte das Jahr 1970 zu einem Wendepunkt in der Schweizerischen Immigrationspolitik. In der Folge reagierte die Politik einerseits auf fremdenfeindliche Forderungen nach einer Begrenzung der Zuwanderung wie auch auf linkspolitische Einforderungen sozialer Rechte für die bereits in der Schweiz wohnhaften Ausländer/innen. Gleichzeitig setzte mit der Weltwirtschaftskrise der frühen 1970er Jahre ein Strukturwandel in der Schweizer Wirtschaft ein, welcher die Epoche der großen Zuwanderung von Arbeitskräften aus Italien und damit auch die Phase der klassischen ‚Gastarbeit‘ beendete. Die
47 Einen Überblick über die Entwicklung der Schweizer Migrationspolitik im 20. Jahrhundert bieten D’Amato 2001, Mahnig/Piguet 2003, Niederberger 2004, Riaño/ Wastl-Walter 2006, Piguet 2006. Einen speziellen Fokus auf die lokale Umsetzung der nationalen Politik in der Stadt Bern bietet Soom/Truffer 2000. Für eine ausführliche historische Analyse von Archivmaterialien der nationalen Behörden siehe Hirt 2007. 48 Einen lebendigen Einblick in die Lebenslagen von ‚Gastarbeitenden‘ in den 1960er Jahren bietet die soziologische Studie von Braun (1970). 49 Die ‚Schwarzenbach-Initiative‘ war eine von mehreren Volksinitiativen, die in verschiedenem Ausmaß eine Beschränkung der Zuwanderung und der Rechte ausländischer Arbeitskräfte forderten. Die erste dieser Initiativen kam 1965 zustande, wurde aber nach Zusicherungen des Bundesrates, dass der Bund entsprechende Maßnahmen ebenfalls umzusetzen gedenke, wieder zurückgezogen. Die zweite Initiative, berühmt geworden unter dem Namen des Initianten Schwarzenbach, kam 1970 zur Abstimmung und wurde zwar abgelehnt, allerdings wider Erwarten sehr knapp. Eine dritte und vierte Initiative wurden 1974 und 1977 wesentlich deutlicher abgelehnt (siehe dazu u.a. Soom/Truffer 2000: 34; für eine detaillierte Analyse siehe Haug 1980).
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Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit wandte sich in den 1980er und 1990er Jahren zunehmend der Flucht- und Asylmigration und außereuropäischen Migrant/innen zu. Arbeitsmigration blieb in diesem neuen Diskurs präsent durch die öffentlichen Debatten um ‚Asylmissbrauch‘ von ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘ sowie durch die zunehmende Nachfrage nach hochqualifizierten und spezialisierten Arbeitskräften im Rahmen der Anbindung der Schweizer Wirtschaft an globale Märkte. Mit der schrittweisen Erweiterung der EU-Personenfreizügigkeit auf die Schweiz ist in den letzten Jahren die Arbeitsmigration aus dem benachbarten Ausland wieder vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Im Zentrum stehen nun jedoch hoch qualifizierte und spezialisierte Arbeitsmigrant/innen, die gegenwärtig vor allem deutscher Staatsbürgerschaft sind. Unter der Schweizer Wohnbevölkerung mit Migrationshintergrund bildeten diejenigen mit italienischer Staatsbürgerschaft über Jahrzehnte hinweg die größte Gruppe: 1950 machten italienische Staatsbürger/innen mit 140 280 Personen 49 % der ausländischen Wohnbevölkerung aus, im Jahr 1960 waren es mit 346 223 Personen 59 %, und 1970, kurz vor der Weltwirtschaftskrise, lebten in der Schweiz 583 855 italienische Staatsbürger/innen und stellten damit 54 % der ausländischen Wohnbevölkerung (Quelle: Volkszählungsdaten 1950 – 1970). Gegenwärtig sind sie mit 295 507 Personen, trotz markanter Abnahme, immer noch die größte Gruppe, machen aber lediglich noch 17,3 %50 der ausländischen Wohnbevölkerung aus (Quelle: Bundesamt für Statistik, ESOP/PETRA, Stand 2007). Zudem gelangen die ehemals jungen ‚Gastarbeiter/innen‘ der ersten Generation nun zunehmend ins Rentenalter. Die italienische Migration spielte in mehrfacher Hinsicht eine Pionierrolle in der Schweiz. So wurden z.B. die gegenwärtig gültigen politischen und sozialen Maßnahmen und Regelungen der Schweiz bezüglich Zuwanderung und Integration von Ausländer/innen in Reaktion auf diese Hochphase italienischer Migration entwickelt: von der Einreise über die Arbeitsbestimmungen, den Familiennachzug, die Ausbildung der Kinder und die berufliche Weiterbildung, die Selbstorganisation in Vereinen und die Möglichkeiten politischer Partizipation, bis hin zum Zugang zu Sozialwerken wie Arbeitslosen- und Rentenversicherungen. Diese Pionierrolle widerspiegelt sich auch heute noch in zweien der in der Schweiz gegenwärtig aktuellen öffentlichen Migrationsdebatten: der Formierung einer politisch-kulturellen ‚Secondo‘-Bewegung (vgl. dazu z.B. Wessendorf 2007a) sowie der Suche nach gesellschaftlichen Umgangsweisen mit Senior/in-
50 Die Zusammensetzung der ausländischen Wohnbevölkerung nach Staatsbürgerschaft hat sich, im Vergleich zu den Boomjahren der ‚Gastarbeit‘, seit den 1980er Jahren erheblich diversifiziert.
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nen mit Migrationshintergrund. Letzteres steht im Zentrum dieser Studie. Wie sich die alternde Bevölkerung italienischer Herkunft formiert und welchen spezifischen Bedingungen im Alter sie unterliegt, wird nun anhand des regionalen Forschungsfeldes der Stadt Bern und Umgebung aufgezeigt. Italienische ‚Gastarbeiter/innen‘ in Bern: Das Forschungsfeld Vittorio Santo, der junge Bauernsohn aus Sizilien, landete eher zufällig in Bern. Er kannte jemanden, der bereits hier war, deshalb kam auch er hierher. Er war mit einem Touristenvisum eingereist und wollte in Bern Geld verdienen. Womit, das hatte er sich nicht wirklich überlegt, wie seine Frau Serafina hier erzählt: Allora mio marito, la prima cosa che ha
Also mein Mann, das erste was er fand,
trovato, con gli amici, [.] ci hanno fatto
über Freunde, haben sie ihm etwas in der
trovare [.] nella muratura. [.] Un conta-
Maurerei gefunden. Er war Bauer, nicht
dino era, non è che sapeva fare. Però [.]
dass er das gekonnt hätte. Aber er hat sich
aiutava bene come manuale. Come ‚Hilf‘-
gut gemacht als Handlanger. Als Hilf-, wie
come si dice, ‚Hilfsarbeiter‘. [***] E così
sagt man, Hilfsarbeiter. [***] Und so hat er
lui ha guadagnato i soldi, nella muratura. E Geld verdient, in der Maurerei. Und so hat così anche il secondo anno [.] ha lavorato
er auch im zweiten Jahr gearbeitet, und
nella muratura, [.] e poi piano piano [.]
dann, nach und nach, haben sie ihn in eine
l’hanno mandato in una fabbrica. [.] E lui è
Fabrik geschickt. Und er ist bei Sidvar
andato a lavorare nella ‚Sidvar‘, [.] che lì
arbeiten gegangen, und dort – sicher, auch
[.] – certo, [.] sempre il lavoro il più brutto
dort gab man einem Handlanger die wüs-
ci davano a un manuale. Lui faceva la [..]
teste Arbeit. Er machte die – spritzte, wie
spruzzava [.] come si dice? [.] quando tu [.] sagt man? Wenn du dieses Metall spritzt, in spruzzi [.] questo metallo ci lo fai di tanti
allen Farben. [***] Mit der Maske, wissen
colori. [***] Allora [.] colla maschera, lui,
Sie. Es war eine harte Arbeit, wirklich, und
sa. Era un lavoro pesante, veramente, e
er ist auch viele Jahre dort geblieben, denn
pure ci è stato tanti anni lì, perché dopo lui
dann hat er diese Arbeit gelernt – ‚Malerei‘
si è imparato a fare questo [.] lavoro,
nennt man das, [***] und er musste in den
[..]‚Malerei‘ è chiamata, [***] e doveva
Kabinen arbeiten. [***] Und die Arbeit
lavorare nelle cabine. [***] E il lavoro
drehte sich, nicht! Auf dem Fließband.
girava, sa! Che c’era la giostra. [***]
[***] Jedenfalls ging das so vom ’64 bis
Comunque, ha tirata avanti, del sessanta-
zum ’92. Ist er dort geblieben, in dieser
quattro, fino [.] al novantadue. Ci è stato lì,
Fabrik. bis er pension-, bis die Fabrik
in questa fabbrica. [.] Fino a che si è pen-
geschlossen wurde. Und Gott sei Dank ist er
sion-, finche ha chiuso la fabbrica. [***] E
nicht krank geworden, wissen Sie, denn so
grazie a dio che non è venuto malato, sa,
viele sind krank geworden, vom dauernden
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perché [.] tanti vengono malati a respirare
Einatmen dieser Farbe, denn er hat sich die
sempre questo [.] colore perché lui si mette- Maske aufgesetzt. Und da es schwierig war va la mascherina. [.] E siccome è difficile
für einen Handlanger, da konnte man nicht
per un manuale, non è che puoi fare tanti
einfach so wechseln bei der Arbeit. Und
cambiamenti di lavoro. E poi anche con la
dann auch mit der Sprache, er sprach nur
lingua, lui parlava solo italiano. [***]. Ma
italienisch. [***] Aber er war zufrieden, als
però è stato contento quando è chiusa la
die Fabrik schloss [lacht]. Er war fast
fabbrica [lacht]. Aveva quasi sessant’anni,
sechzig Jahre alt, und hat nicht mehr gear-
e [.] non ha lavorato più. Finito e basta.
beitet. Schluss und aus.
(Transkript Santo 2, 10/21 – 11/23) Die Arbeitskarriere von Vittorio enthält mehrere Elemente, die für die italienische ‚Gastarbeit‘ in Bern typisch sind: eine informelle Migration, eine innert kürzester Zeit über Bekannte vermittelte erste Arbeitsstelle, dann in den nächsten Jahren ein kleiner Aufstieg – hier vom Bau in die Fabrik –, gefolgt von einer langjährigen Anstellung bei einem kleinen lokalen Industrieunternehmen, das in den Nachkriegs-Jahrzehnten zuerst florierte, in den 1990er Jahren aber schließen musste. Vittorios Arbeit dort war zwar sicher angenehmer als die Handlangerei auf dem Bau, aber dennoch eine belastende Arbeit, welche bleibende Spätfolgen auslösen konnte: in diesem Fall gesundheitliche Schädigungen durch das Einatmen der giftigen Dämpfe in den Metallfarben. Da die Arbeit belastend war, empfand Vittorio die Fabrikschließung und die damit verbundene Arbeitslosigkeit nicht als Katastrophe, sondern als willkommene frühzeitige Pensionierung. Bezeichnend ist in Vittorios Arbeitslaufbahn auch die langjährige Treue zum Arbeitgeber, die einerseits geprägt ist von Dankbarkeit, andererseits von der Überzeugung, wenig andere Optionen zu haben. Die Arbeit bedingte keine Sprachkompetenz, so dass kein Druck bestand, die Umgangssprache des Wohnund Arbeitsortes zu erlernen. Arbeitsverläufe wie dieser sind bezeichnend für den wirtschaftlich-historischen Kontext der ‚Gastarbeit‘ in Bern. Die Zuwanderung italienischer ‚Gastarbeiter/innen‘ in Stadt und Region Bern entspricht zahlenmäßig in etwa dem schweizerischen Mittel. Allerdings führte die kleinräumig differenzierte Wirtschafts- und Siedlungsstruktur der Region nicht zu Entwicklungen und Konzentrationen, wie sie in anderen Schweizer Städten oder Wirtschaftsregionen beobachtet worden sind (Stienen 2006). Die Region Bern ist traditionell relativ stark durch die Landwirtschaft geprägt, und im industriellen Sektor, dem klassischen ‚Gastarbeiter‘-Bereich, finden sich, auch in der Stadt Bern, vor allem kleinere und mittlere Unternehmen. Dem entsprechend unternahmen Berner Firmen auch kaum Anwerbebestrebungen im großen Stil, welche zu größeren Kettenmigrationen, zum Beispiel
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aus einzelnen Dörfern, geführt hätten. Auch die Siedlungsstruktur der Stadt Bern ist kleinräumig differenziert, so dass es kaum zu größeren Konzentrationen von italienischen Migrant/innen in bestimmten Wohngegenden gekommen ist. Als Hauptstadt ist Bern zudem Beamtenstadt, was sich in einem hohen Anteil von Verwaltungsstellen am lokalen Arbeitsmarkt und deshalb auch in einem für Städte vergleichsweise tiefen Anteil ausländischer Erwerbstätiger äußert (diplomatisches Personal wird statistisch nicht zur Wohnbevölkerung gezählt). Bern ist auch Sitz der italienischen Behördenvertretung; die diplomatische Vertretung spielte vor allem eine Rolle in der Ausformung der italienischen Organisationsstruktur und der Positionierung politischer Gruppierungen, welche sich in Bern durch kleinräumige Zerstückelung und politische Zurückhaltung auszeichnet (siehe dazu Soom/Truffer 2000 für Bern und im Kontrast dazu Meyer Sabino 2003a für Zürich und Genf). Aufgrund dieser Merkmale der Stadt ist die italienische Wohnbevölkerung Berns auch sehr heterogen zusammengesetzt und lokal verstreut (Soom/Truffer 2000, Stienen 2006). Die Herkunftsorte sind sehr unterschiedlich, Migrationsketten sind kurz und entstehen über Familienangehörige und Arbeitskolleg/innen. Arbeitsmöglichkeiten waren geschlechtlich deutlich segregiert und bestanden für Männer in erster Linie im Baugewerbe und in der Maschinenindustrie. Die Landwirtschaft bot vor allem den frühen Migrant/innen in den 1950er Jahren einen Einstieg in die Erwerbstätigkeit in der Schweiz. In Landwirtschaft und Baugewerbe gab es besonders viele Saison-Anstellungen. SaisonBewilligungen (die sog. A-Bewilligungen51), das effizienteste Regulationsinstrument im ‚Gastarbeiter‘-System, um die Rotation von Arbeitskräften zu erreichen und deren Niederlassung zu verhindern, waren zeitlich beschränkt und arbeitsrechtlich kaum abgesichert. Der Aufenthalt wurde für maximal neun Monate bewilligt, und Saisoniers waren verpflichtet, das Land spätestens zum Jahresende zu verlassen. Es bestand kein Anspruch auf Verlängerung der Bewilligung, Stellenwechsel war nicht erlaubt, der Wohnsitzwechsel eingeschränkt, Familiennachzug war nicht möglich52. Die Umwandlung von einer A- in eine B-Bewilligung (auch Jahresaufenthalts-Bewilligung genannt) war nur über einen Stellen-
51 Die Aufenthaltskategorien A, B und C richteten sich nach dem Gesetz zur Regelung von Aufenthalt und Niederlassung von Ausländer/innen ANAG, welches 1931 verabschiedet und 1949 mit einer Vollzugsverordnung (ANAV) ergänzt wurde. Erst seit 2008 ist das revidierte Gesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) in Kraft. 52 Das sog. Saisonierstatut wurde lange und intensiv von den Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppierungen bekämpft und ist inzwischen aufgehoben worden (1991 für außereuropäische Staatsangehörige, 2002 für europäische Staatsangehörige).
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wechsel möglich. B-Bewilligungen waren an die Arbeitsstelle gebunden und mussten jährlich erneuert werden. Je nach Branche und Art der Anstellung erteilten die Behörden eine A- oder eine B-Bewilligung. Ausländer/innen erhielten die B-Bewilligung nur, wenn die Arbeitgeber/innen nachweisen konnten, dass die Stelle nicht mit heimischen Arbeitnehmer/innen besetzt werden konnte. Frauen fanden oft schneller eine feste Anstellung mit der damit verbundenen Jahresaufenthaltsbewilligung. Ihre Arbeit war gefragt in der Elektronik-, Textiloder Lebensmittelindustrie, im Gastgewerbe sowie in Großküchen und –wäschereien z.B. von Spitälern. Auch die Arbeit in Privathaushalten ist in der Phase der Gastarbeit nach wie vor eine Verdienstmöglichkeit für Frauen53. Während Frauen aus Norditalien tendenziell allein stehend oder mit Freundinnen migrierten, zogen Frauen aus dem Süden eher im Familienverband, insbesondere mit ihren Ehemännern, in die Schweiz (Meyer Sabino 2003c: 203). So oder so, die meisten Frauen, die in den 1950er und 1960er Jahren in die Schweiz migrierten, taten dies als Arbeitsmigrantinnen – Familiennachzug von Ehefrauen wurde erst später, mit der Erleichterung der behördlichen Auflagen, zu einem deklarierten Migrationsgrund – und arbeiteten in den oben genannten Branchen. Auch für Serafina Santo stand bei der Migration – neben der Nähe zu ihrem Ehemann – die Suche nach Arbeit im Vordergrund: S: E poi [.] la neve che c’era [.] siamo
S: Und dann, es hatte Schnee, haben wir
cominciati a cercare lavoro, mio marito
angefangen, Arbeit zu suchen, mein
s’ha preso ancora una settimana prima
Mann hatte sich noch eine Woche Zeit
che cominciava a lavorare. [.] E cer-
genommen, bevor er mit seiner Arbeit
chiamo lavoro, non lo trovo, non lo
anfing. Und wir suchten Arbeit, fanden
trovo – io pensavo che lo trovavo
keine, fanden keine – ich hatte gedacht,
subito. Sono passati più di una setti-
wir würden sofort etwas finden. Es
mana e il lavoro non si trovava. [.]
verging mehr als eine Woche, in der ich
Tutti che mi dicevano di no, di no, di
keine Arbeit fand. Alle sagten nein.
no. E: E che genere di lavoro ha cercato?
E: Und was für eine Art Arbeit haben Sie gesucht?
S: Non lo sapevo neanche io! [lacht] Era
S: Das wusste ich auch nicht! [lacht] Es
importante che si trovava lavoro, però
war einfach wichtig, Arbeit zu finden,
a me mi piaceva per cucire. [.] E an-
doch mir gefiel das Nähen. Und ich ging
53 Es ist davon auszugehen, dass diese Arbeit oft sogenannte ‚Schwarzarbeit‘ war, dass die Arbeiterinnen also nicht gemeldet wurden und deshalb nicht unfall- und rentenversichert waren.
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davo nei negozi, mi dicevano: „No,
in die Geschäfte, da sagten sie mir:
signora, lei deve avere il permesso C.“
„Nein, Sie müssen den C-Ausweis ha-
[.] Permesso C non ce ne avevo.
ben.“ Den C-Ausweis hatte ich nicht.
Quando sentivano che eravamo stagio-
Wenn sie hörten, dass wir Saisoniers
nale [.] niente lavoro. [..] Poi, a vicino
waren, keine Arbeit. – Dann, in der
Loeb [Warenhaus] abbiamo incontrato
Nähe von Loeb [Warenhaus] haben wir
un amico, di mio marito, così, amici,
einen Freund meines Mannes getroffen,
amici lontani. E ci diciamo che non
einen entfernten Bekannten. Und wir er-
possiamo trovare lavoro. Dopo questo
zählten, dass wir keine Arbeit fanden.
ci dice a mio marito: „Andate [***] a
Da sagte dieser: „Geht [***] zum
‚Irschengrabe‘ a tale numero.“ [***] E
Hirschengraben, zu dieser Hausnum-
lì c’era un signore ticinese che parlava
mer.“ [***] Und da war ein Tessiner
l’Italiano, dice: „Signora Santo“ dice
Herr, der Italienisch sprach, der sagte:
„noi abbiamo il lavoro per Lei“ dice
„Frau Santo, wir haben Arbeit für Sie,
„che abbiamo la fabbrica.“ Qui sopra,
denn wir haben eine Fabrik.“ Hier
a ‚Wylere‘. [***]„Se Lei“ dice „è inte-
oben, im Wyler-Quartier. [***] „Wenn
ressata per cucire“ dice „noi abbiamo
Sie das Nähen interessiert, dann haben
lavoro.“ Allora dice: „Lei adesso va lì
wir Arbeit für Sie. Gehen Sie jetzt dort
[.] che l’aspetta“ dice „la chef.“ E ci
hin, da erwartet Sie die Chefin.“ Und da
siamo andati con mio marito. [***] E
bin ich mit meinem Mann hingegangen.
c’era la chef che parlava l’Italiano, una
[***] Und da gab es diese Chefin, die
bella signora! ‚Fräulein Buchser‘. Oh,
italienisch sprach, eine schöne Frau!
quanto ho visto che parlava l’Italiano
Fräulein Buchser. Oh, als ich sah, dass
io ero così contenta, sa! Che non capi-
sie italienisch sprach, war ich so froh,
vamo niente, mio marito diceva sempre:
wissen Sie! Da wir ja nichts verstanden,
„Nid verstande.“ „Tu“, mi diceva lui,
mein Mann sagte immer: „Nid ver-
„tu devi dire: Nid verstande.“ [lacht] E
stande.“ Er sagte mir: „Du musst ein-
io sono ‚nid verstande‘! [lacht] Così
fach sagen: Nid verstande.“ [lacht] Und
dopo, questa chef mi fa: „Buongiorno,
ich bin ‚nid verstande‘! [lacht] Jeden-
Signora Santo, Lei sa cucire?“ Io così:
falls machte mir die Chefin: „Guten Tag
„Io so cucire. A mano“ ce ho detto.
Frau Santo, Sie können nähen?“ Ich so:
[schnell und laut gesprochen:] Come
„Ich kann nähen. Von Hand“, hab ich
ho sentito tutto quel rumore di tutto
gesagt. [schnell und laut gesprochen:]
quelle macchine, io mi sono spaventata.
Und wie ich all den Lärm gehört habe,
„No no“, dico, „macchine elettriche,
von all den Maschinen, da bin ich er-
no“, dico, „io non so cucire.“ „Va
schrocken. „Nein nein“, sagte ich,
bene, signora, dopo proviamo.“ lei fa
„elektrische Maschinen, nein“, sagte
così. [.] All’indomani sono andata, la
ich, „ich kann nicht nähen.“ „Schon
macchina da cucire un pezzo di ‚Pfaff‘.
gut, wir probieren’s einfach“, sagte sie.
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Una grande macchina. [pfeift leicht
Am nächsten Tag bin ich gegangen, die
durch die Zähne] „Ma io non so cucire,
Nähmaschine eine Pfaff. Eine große
con la mia macchina, e a pedale“, dico.
Maschine. [pfeift leicht durch die
E io pensavo: Stupida che dovevo cu-
Zähne] „Aber ich kann nicht mit der
cire solo a mano, ma qui non esisteva
Maschine nähen, und mit Pedal“, sagte
cucire a mano. Quindi là, questa chef e
ich. Und ich dachte: Dummkopf, die ich
stata così gentile, così brava. Mi pren-
von Hand nähen wollte, von Hand nä-
deva delle strisce di stoffa [.] e mi ha
hen existierte hier nicht. Dann, diese
fatto provare, sì. Allora, per un giorno,
Chefin war so freundlich. Sie gab mir
non so quante volte, ho provato, ho co-
einen Stoffstreifen, und hat mich probie-
minciato. [***] E io, piano piano ce ne
ren lassen. Und so hab ich einen Tag
facevo bello e pulito, sa, ce ne facevo
lang, weiß nicht wie oft, habe ich’s pro-
bene. E lei, contenta, mi fa: [***]
biert, habe angefangen. [***] Und mit
„Signora“, lei, „ha fatto più bene Lei a
der Zeit hab ich’s fein gemacht, wissen
dire che non sa cucire, che tanti ven-
Sie, hab’s gut gemacht. Und sie, zufrie-
gono: Sì, io so cucire, so cucire, e poi
den, sagte mir: [***] „Sie haben das
non sanno fare più di Lei.“
gut gemacht, dass Sie gesagt haben, Sie könnten nicht nähen, denn viele kommen: ‚Ja, ich kann nähen, kann nähen‘, dabei können sie nicht mehr als Sie.“
(Transkript Santo 1, 8/15 – 10/15) Serafina reiste, genauso wie ihr Ehemann, ohne Arbeitsvertrag als Touristin ein und hatte deshalb formal keinen Aufenthaltsstatus. Sie gab bei der Arbeitssuche den Status ihres Mannes an, die A-Bewilligung als Saisonier. Offenbar wurde sie in der Textilfabrik dann auch mit einer A-Bewilligung angestellt, und Ende Jahr verließ sie Bern zusammen mit ihrem Mann. Die Textilfabrik schickte ihr einen Vertrag nach Italien, und Serafina reiste im Frühling zusammen mit Vittorio wieder nach Bern – diesmal allerdings schwanger, und da sie mit der A-Bewilligung keine Kinder bei sich haben durfte, blieb sie das kommende Jahr über in Sizilien, verbrachte dann noch einmal ein Jahr ohne Kinder als Saisonière in Bern. Dann endlich, als Vittorio nach fünf Jahren Saisonieranstellung die B-Bewilligung erhielt und Serafina über ihre Chefin eine kleine Mietwohnung gefunden hatte, konnte das Ehepaar Santo zuerst ihre kleine Tochter und später auch ihren bereits größeren Sohn mit nach Bern zu nehmen. Im Gegensatz zur Organisation des Aufenthalts von Ehepartner/innen, welche in der Regel innert kurzer Zeit Arbeit fanden – auch die eine Woche, welche Serafina auf Arbeitsuche war, ist eigentlich keine besonders lange Wartefrist – gestaltete sich die Organisation eines regulären Aufenthalts für Kinder wesent-
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lich schwieriger, insbesondere für Saisoniers, deren Kinder kein Anrecht auf Aufenthalt in der Schweiz hatten – auch nicht, wenn sie hier geboren wurden. Etwas einfacher war es für Personen in festen Anstellungen, eine Aufenthaltsbewilligung für die Kinder zu bekommen. Die damit verbundene Erteilung einer B-Bewilligung berechtigte im Gegensatz zum Saisonier-Ausweis zum Familiennachzug resp. erlaubte den hier geborenen Kindern den Aufenthalt, sofern eine gewisse Aufenthaltsdauer der Eltern in der Schweiz (mind. zweieinhalb Jahre) und eine angemessene Wohnsituation nachgewiesen werden konnte. Bei verheirateten Paaren war allerdings die Aufenthaltsbewilligung der Ehemänner relevant für den Familiennachzug, nicht diejenige der Ehefrauen (Hirt 2006: 198, 253). B-Bewilligungen konnten am Jahresende verlängert und nach einer gewissen Zeit ununterbrochenen Aufenthalts (für italienische Staatsangehörige waren das fünf Jahre) in eine uneingeschränkte Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) umgewandelt werden. Niederlassungsbewilligungen gewähren keine politischen Rechte (Stimm- und Wahlrechte)54, stellen ausländische Staatsangehörige aber ansonsten mit Schweizer Staatsbürger/innen gleich. Die Wohnbedingungen von italienischen Gastarbeiter/innen in Bern waren, zumindest am Anfang, oft prekär. Nicht nur, weil zuerst billige, provisorische Unterkünfte bevorzugt wurden, sondern auch, weil der Wohnungsmarkt ausgetrocknet und ‚Gastarbeiter/innen‘ als Mieterschaft nicht besonders geschätzt waren. Wohnmöglichkeiten wurden wie die Arbeitsstellen oft individuell oder über Arbeitgeber/innen gefunden und befanden sich häufig in typischen Arbeiterquartieren, welche besonders viel billigen Wohnraum anboten, z.B. den zentrumsnahen, traditionellen Arbeiterquartieren Lorraine und Wyler, oder dem peripher gelegenen Stadtteil Bern-West, welcher sowohl über kleinere, ältere Arbei-
54 Zur Erlangung auch der politischen Rechte steht die Möglichkeit offen, einen Einbürgerungsantrag zu stellen. Von dieser Möglichkeit haben italienische Migrant/innen nicht besonders oft Gebrauch gemacht, obschon ihnen auch die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft offensteht. Zwänge zum Ablegen der ursprünglichen Staatsbürgerschaft gab es kaum, die Hürden zur Schweizer Staatsbürgerschaft wurden als zu hoch empfunden (dies gilt vor allem für die auszurichtenden Gebühren), und das Bedürfnis nach politischer Partizipation im Aufenthaltsland scheint nicht besonders groß zu sein. Als Gründe dafür können wiederum verschiedene Aspekte ausschlaggebend sein. Einerseits verfügten politisch interessierte Menschen über relativ komfortable Möglichkeiten, ihre politischen Rechte in Italien auszuüben. Andererseits wird den italienischen Migrant/innen auch eine gewisse Bildungsferne und – insbesondere denjenigen aus dem Süden – ein grundsätzliches Desinteresse an politischer Partizipation nachgesagt.
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tersiedlungen wie auch über große Siedlungsüberbauungen aus den 1970er Jahren verfügt. In der Boomzeit der ‚Gastarbeit‘ der 1950er und 1960er Jahre waren provisorische Unterbringungsmöglichkeiten wie Wohnheime, Mansardenzimmer, Gemeinschaftswohnungen in sanierungsbedürftigen Liegenschaften, Barackensiedlungen etc. üblich. Das Ehepaar Santo verbrachte die erste Zeit in Bern in einem Mansardenzimmer. La mansarda ce l’aveva al ‚Bierubeli‘. Die Mansarde war beim ‚Bierhübeli‘. [***] [***] E così carammino tutte queste scale Und so steil waren die vielen Treppen bis fino a lì sopra, alle mansarde. Quando sono ganz oben, zu den Mansarden. Als ich da arrivata lì [..] due lettine piccoline [.] una ankam – zwei kleine Bettchen, eins über sopra l’altra [.] e il fornellino che l’aveva dem anderen, und ein kleiner Ofen, den lasciato mio marito, col petrolio. [.] Il mein Mann dort gelassen hatte, mit Petrol. gabinetto fuori nel corridoio per tutti. Tante Das WC draußen auf dem Gang, für alle. So camere. [.] Però c’erano tanti amici. Una viele Zimmer. Aber da waren auch viele di questo paese della Sicilia, una dell’altro Freunde. Eine aus diesem sizilianischen paese, una dell’altro pa- [.] C’erano tante Dorf, eine aus jenem, eine aus einem andepersone che poi ci siamo fatti amici.
ren. Da waren so viele Leute, mit denen wir dann Freundschaft geschlossen haben.
(Transkript Santo 1, 8/2 – 8/13) Diese Freundschaften und die kleinen Freiheiten, welche das Stadtleben und der regelmäßige Verdienst ermöglichten, ließen das Ehepaar Santo und seine drei Kinder (eine dritte Tochter wurde geboren, als die Familie bereits in Bern vereint war) ein angenehmes Leben in Bern führen. Es nahm seinen Lauf, bald fand man eine hübsche kleine Mietwohnung, die Kinder gingen zur Schule, wurden erwachsen, erlernten Berufe, zogen aus, heirateten und bekamen selber Kinder, und Serafina und Vittorio wurden langsam alt. Das Leben als Lohnarbeitende, welches sich in den 1960er Jahren ohne jegliche Vorkenntnisse so einfach beginnen ließ, war ruhig und stetig verlaufen. Beide beendeten jedoch ihre Laufbahn als Erwerbstätige frühzeitig. Vittorios Firma schloss, als er 59 Jahre alt war. Serafina, die nach der Textilfabrik eine Anstellung in einem Nähatelier für Heimtextilien und später in einer Änderungsschneiderei fand, musste ihre Anstellung wegen Betriebseinstellung aufgeben. Sie bekam eine Anstellung im Verkauf, in der Stoffabteilung eines großen Warenhauses. Dort geriet sie allerdings über mehrere Umstrukturierungsprozesse hindurch in eine ungünstige Position als Teilzeit-Mitarbeiterin, die kein fest zugesichertes Einkommen und keine fixen Arbeitsstunden hat. Das wird ihr irgendwann zu viel:
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S: Invece così tutto ha cambiato, per me è
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S: So hingegen hat sich alles verändert, für
stato brutto, dopo e stato. Ho dovuto
mich war das schlimm, danach. Ich
lavorare tutti i giovedì fino alle nove,
musste jeden Donnerstag bis neun ar-
tutti lunedì dovevo essere lì quando
beiten, jeden Montag musste ich dort
mancavano gli altri, una volta ti lascia-
sein, wenn die anderen fehlten, einmal
vano a casa, poi mi facevano lavorare
liessen sie dich zuhause, dann sollte ich
certe volte anche a 100 percento. Dopo,
wieder hundert Prozent arbeiten. Da-
con quella cambiata che non ero più al
nach, nachdem ich nicht mehr zu 100 %
100 percento, loro potevano fare come
angestellt war, konnten sie machen, wie
volevano. Capisci? „Frau Santo, vieni.
sie wollten. Verstehst du? „Frau Santo,
Frau Santo, adesso puoi andare a
komm. Frau Santo, jetzt kannst du wie-
casa.“ Non era più io. Invece quando
der nach Hause.“ Das war nicht mehr
era 100 percento non mi potevano toc-
ich. Hingegen, als ich noch fest ange-
care. E quello per me è stato [.] brutto.
stellt war, konnten sie mir nichts anha-
[.] Comunque dopo ho deciso che mi
ben. Und das war für mich schlimm.
sono pensionata a 60 anni [.] e a 60
Und so hab ich dann entschieden, dass
anni me ne ho voluto andare. Perché
ich mich mit 60 Jahren pensionieren
già per me è stato [.] abbastanza, è
lasse, mit 60 Jahren wollte ich gehen.
stato [.] non ho voluto più. [.] Ho per-
Denn das war genug für mich, ich wollte
duto molto. Della ,Pensioncasse‘, ho
nicht mehr. Ich hab dabei viel verloren.
dovuto pagare la pensione, ,AHV‘,
Bei der Pensionskasse, ich musste die
quando ero a casa. [.] Però mi sono
AHV-Beiträge bezahlen, als ich zu
ritirata dalla mia ,Pensioncass‘. Questo
Hause blieb. Doch ich hab mich aus der
pure è stato uno sbaglio che ho fatto.
Pensionskasse herausgezogen. Das war
[..] E così adesso [.] è finito. Adesso ce
vielleicht auch ein Fehler von mir. –
ne ho 65 [.] e non penso più. [***]
Und so ist es nun vorbei. Jetzt bin ich 65, und denke nicht mehr darüber nach. [***]
E: E Suo marito è anche pensionato?
E: Und Ihr Mann ist auch pensioniert?
S: Sì. Sì. Mio marito, già sei anni prima di
S: Ja. Ja. Mein Mann schon sechs Jahre
me. Lui già [.] a 59 ha chiuso la ditta.
vor mir. Schon mit 59, da hat seine
[***] A 59 anni mio marito era senza
Firma geschlossen. [***] Mit 59 war
lavoro.
mein Mann ohne Arbeit.
E: E non ha trovato niente di nuovo?
E: Und er hat nichts Neues mehr gefunden?
S: Non ha trovato niente, però c’ero io che S: Hat nichts gefunden, aber ich hab ja lavoravo e [.] poi l’hanno mandato a
gearbeitet, und dann haben sie ihn zum
stampare. [.] Per un anno e mezzo,
Stempeln geschickt. Anderthalb Jahre,
quello che ci tocca, 18 mesi, quanto.
das was uns zusteht, 18 Monate, soviel.
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Poi, colla ,Pensioncass‘ [.] l’hanno
Dann, mit der Pensionskasse, haben sie
pensionato. Fino a 65 anni, ,mit [.]
ihn pensioniert. Bis 65 Jahre, mit Pensi-
Pensioncass, mit‘ supplemento, no. E
onskasse, mit Zuschlag, nicht. Und so
così tiravamo un totale sempre i suoi
hatten wir immer noch ein Total von
tre mila franchi, sempre gli prendeva.
dreitausend Franken, bekam er noch.
E: E adesso va bene con tutto?
E: Und jetzt läuft alles gut?
S: Sì, e lui ce l’ha lasciato, la
S: Ja, und er hat sie gelassen, die
,Pensioncasse‘, prende ,Pensioncasse‘ e
Pensionskasse, bezieht Pensionskasse
pensione. E la mia pensione.
und Pension. Und meine Pension.
E: E basta?
E: Und reicht es?
S: E basta, ma [.] le spese sono molto,
S: Und es reicht, aber die Ausgaben sind
qua. La casa costa pure tanto. Però [.]
hoch, hier. Die Miete kostet auch viel.
andiamo avanti.
Doch wir kommen zurecht.
(Transkript Santo 1, 16/46 – 17/38) Der Ausstieg aus dem Erwerbsleben erfolgte auch für viele andere ehemalige ‚Gastarbeiter/innen‘ nicht immer planmäßig und zum vorgesehenen Zeitpunkt. Frühzeitige Pensionierungen oder Arbeitsverlust kurz vor der Pensionierung (sei es aufgrund von Firmenschließungen, Entlassungen, oder aus gesundheitlichen Gründen) sind häufig und hinterlassen deutliche Spuren bei den später ausbezahlten Renten. Die konkrete Auseinandersetzung mit den Modalitäten und Konsequenzen des Erwerbsaustrittes bei näher rückender Pensionierung ist einer der Zeitpunkte im Lebenslauf, an dem eine allfällige Rückkehr vermehrt zum Thema werden kann. Dies wiederspiegelt sich auch in den statistischen Daten. Schon die Wirtschaftskrise der frühen 1970er Jahre brachte die Neuzuwanderung aus Italien quasi zum Erliegen und führte auch in Bern zu Remigrationsentschlüssen unter den italienischen Stadtbewohner/innen (vgl. Soom/Truffer 2000: 84f). Die gemäß Volkszählung erhobene ständige Wohnbevölkerung italienischer Staatsbürgerschaft nimmt zwischen 1970 und 1980 beträchtlich ab von 11 653 Personen auf 7 679 Stadtbewohner/innen (Quelle: Volkszählungsdaten). Seither verringert sich die Gesamtzahl der italienischen Wohnbevölkerung der Stadt Bern langsam, aber kontinuierlich (1990: 6 947, 2000: 5 520, Quelle: Volkszählungsdaten) und beträgt heute noch 4 262 Personen (Quelle: Statistikdienste der Stadt Bern, Stand 2007). Damit machen Personen italienischer Staatsbürgerschaft 2007 gerade noch knapp 16 % der ausländischen Wohnbevölkerung Berns aus, verglichen mit dem Höchstwert von 56 % im Jahr 1960. Diese Abnahme ist zu einem kleinen Teil auf Einbürgerungen von Ange-
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hörigen der zweiten und dritten Generation sowie auf vereinzelte Todesfälle zurückzuführen, zu einem größeren Teil aber auf die Rückkehr nach Italien um den Zeitpunkt der Pensionierung herum. Dennoch bleiben die Italiener/innen die zweitgrößte nationale Gruppe unter der ausländischen Wohnbevölkerung55. Die demographische Struktur dieser Stadtbewohner/innen italienischer Nationalität entspricht inzwischen nicht mehr dem für Migrant/innen typischen Bild einer besonders jungen Bevölkerung, sondern hat sich über die Jahrzehnte der Struktur der Gesamtbevölkerung angeglichen. 18,1 % der in der Stadt Bern lebenden Italiener/innen sind inzwischen über 65 Jahre alt; dieser Anteil liegt nur leicht unter demjenigen der Gesamtbevölkerung mit 19,5 %, aber deutlich über demjenigen der gesamten ausländischen Bevölkerung mit 6,7 % (Quelle: Statistikdienste der Stadt Bern, Stand 2004, eigene Berechnungen). Auch gesamtschweizerisch zeigt sich ein vergleichbares Bild. Dort liegt der Anteil der Personen im offiziellen Pensionsalter bei den Italienern mit 17 % im Schnitt der Gesamtbevölkerung (16 %) und deutlich über dem Anteil der ausländischen Bevölkerung insgesamt (6,9 %) (Quelle: Bundesamt für Statistik, ESPOP/PETRA, Stand 2006). Die Altersstruktur der italienischen Wohnbevölkerung hat sich also derjenigen der Gesamtbevölkerung angeglichen, wohingegen die ausländischen Bewohner/innen im Schnitt immer noch massiv zur Verjüngung der demographischen Struktur beitragen. Italiener/innen übernehmen also auch im Hinblick auf das Altern in der Migration eine Pionierrolle, indem sie die erste größere Gruppe mit Migrationshintergrund sind, welche einen namhaften Anteil an Pensionierten und Betagten ausweisen. Gegenwärtig leben in Bern 869 Personen mit italienischer Staatsbürgerschaft im Alter von 65 Jahren oder mehr; 575 davon sind verheiratet (Quelle: Statistikdienste der Stadt Bern, Stand 2007). Das Interesse an diesen Pionier/innen des Alterns in der Migration ist groß: Verschiedene lokale Organisationen bemühen sich um die Gruppe, in erster Linie die kirchlichen Stellen, vertreten durch die italienische Missione Cattolica, die schon seit den 1920er Jahren in Bern aktiv ist, sowie durch die katholische Kirche, die in Bern-West seit einigen Jahren einen Sozialarbeiter für die Betreuung von Migrant/innen beschäftigt. Die kirchlichen Organisationen bieten vor allem Begegnungsmöglichkeiten und Aktivitäten für italienisch sprachige Senior/innen wie Altersnachmittage, Ausflüge, einen regelmäßigen Mittagstisch, Chorkonzerte, Theateraufführungen etc. Durch die intensive Lobbyarbeit dieser und anderer Migrationsorganisationen, sowie durch die Kooperation mit dem Alters- und Versicherungsamt der Stadt
55 Dies hinter den deutschen Staatsangehörigen mit knapp 20 % Anteil an der ausländischen Wohnbevölkerung (Quelle: Statistikdienste der Stadt Bern, Stand 2008).
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Bern konnte Einiges an spezifischen Angeboten geschaffen werden, wie z.B. Informationsbroschüren56 oder spezifische Kursangebote, aber auch Sensibilisierungsarbeiten bei privaten und öffentlichen Anbietern von Pflegedienstleistungen (Spitexdienste57, Alters- und Pflegeheime) wurde geleistet. Seit kurzer Zeit verfügt nun auch die Stadt Bern über ein erstes ethnospezifisches AlterspflegeAngebot: Eine der elf Wohneinheiten im neu renovierten Domicil Schwabgut ist nun als ‚mediterrane Abteilung‘ konzipiert (Däpp 2008). Sind es im Alltag der Pensionierten vor allem die seelsorgerischen und geselligen Angebote der religiösen Institutionen, die wichtig sind, ist es zu einem früheren Zeitpunkt im Lebenslauf insbesondere auch die Beratung bezüglich Verrentungsmodellen, Rentenansprüchen und Sozialhilfemöglichkeiten, die von zentraler Bedeutung sind. Hier bietet nicht nur die schweizerische Interessenvertretung Pro Senectute Hand mit Pensionierungs-Vorbereitungskursen, sondern auch die Beratungsstellen der ‚patronati‘ (Einrichtungen von italienischen Gewerkschaften, Berufsverbänden etc.). Soweit eine kurze Umschreibung der Stadt Bern und ihrer Rentner/innen italienischen Ursprungs. Innerhalb dieser Gruppe habe ich für meine Studie nach Paaren gesucht. Warum nach Paaren und was das an Einschränkungen und Möglichkeiten beinhaltet, damit setzt sich das nun folgende Kapitel auseinander.
2.4 E HEPAARE
UND
F AMILIEN
IM
F OKUS
Bis hierhin ist nun also besprochen worden, wie Alter und Altern sich konstituiert, und es ist darauf eingegangen worden, was Migration im Allgemeinen und die italienisch-schweizerische ‚Gastarbeiter‘-Migration im Besonderen auszeichnet. Ziel des nun folgenden Kapitels ist es zu klären, welche Bedeutung die informelle, familiäre Unterstützung und Pflege für das Altern in der Migration hat und was das Altern in einer ehelichen oder ehe-ähnlichen Partnerschaft ausmacht. Die Frage nach dem Altern und dem individuellen Umgang mit Alternsprozessen ist in mehrfacher Hinsicht eng mit Fragen nach familiärer Solidarität verbunden. Die Familie gilt als Basiseinheit der ‚natürlichen‘, ‚ursprünglichen‘
56 Siehe zum Beispiel die spezifisch für Italiener/innen konzipierte, zweisprachige Informationsbroschüre der Stadt Bern (Stadt Bern 2004), oder auch die Informationsbroschüre aus Zürich (Stadt Zürich 2005). 57 Die Spitex (die Bezeichnung ist abgeleitet vom Begriff ‚spitalexterne Pflege‘) ist ein mobiler Pflege- und Haushaltsdienst, welcher die Betreuung von unterstützungsbedürftigen Personen im eigenen Haushalt ermöglicht.
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Solidarität (Tagsold et al. 2002: 152; Ostner 2004: 80), ausgehend von der Annahme, dass Solidaritätsnetzwerke in vormoderner Zeit auf verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Gruppen beschränkt waren (Beckert et al. 2004: 9f). Auch in der Migrationsforschung sind die Einbindung von Individuen in familiäre Netzwerke und der solidarische Zusammenhalt in der Familie zentrale Themen. Gerade in transnationalen Räumen sind nicht mehr in erster Linie nationalwohlfahrtsstaatliche Solidaritätsformen relevant, sondern neben regionalen und ethnischen Solidaritätsnetzwerken insbesondere auch verwandtschaftlich-familiale Beziehungen von großer Bedeutung (Beckert et al. 2004: 132). Für die vorliegende Studie wird nun eine spezifische familiäre Beziehung in den Blick genommen, nämlich die Ehebeziehung. Der Fokus dieser Untersuchung liegt durch die Konzentration auf Paare explizit nicht auf isolierten Individuen, sondern betont die Einbindung in familiäre Netzwerke. Im Hinblick auf Migrations- und Alternserfahrungen ist dabei ein Aspekt von zentraler Bedeutung: Die eheliche Partnerschaft beinhaltet unter anderem das Versprechen einer legitim einforderbaren Solidarität58, nicht nur vom/von der Ehepartner/in, sondern über diese/n auch von anderen Mitgliedern der verwandtschaftlichen Gruppe. Die Ehe als langfristige Allianz bietet einerseits über die intragenerationelle Solidarität Zugang zu informellen Pflege- und Unterstützungsleistungen. Andererseits sind familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen Quellen zur Einforderung von intergenerationeller Solidarität, insbesondere von den erwachsenen Kindern (vgl. dazu z.B. Szydlik 2000, EKFF 2006: 73f). Die Bezugnahme auf familiäre Solidarität und auf die Altenpflege durch Familienangehörige (insbesondere Kinder) nimmt in der Debatte rund um das Altern in der Migration einen hohen Stellenwert ein. Familien, so wird betont, bieten insbesondere bei Migrant/innen und ethnischen Minderheiten eine besondere Form sozialer Sicherheit, häufig begründet mit deren kulturellen Wurzeln, in welchen der Familie als Gemeinschaft besonders große Bedeutung zukomme. Insbesondere auch die ‚italienische Familie‘ wird in diesem Kontext oft als kulturell besonders ausgeprägtes Solidaritätsnetzwerk präsentiert. Amerikanische Studien zu sog. ‚ethnic elderly‘ (für alternde italienische Migrant/innen siehe Johnson 1985 und 1994, zu italo-amerikanischer Ethnizität siehe Boscia-Mulè 1999) postulieren zum Beispiel, dass in italo-amerikanischen Familien den Fa-
58 Unter Solidarität wird hier eine dauerhafte, reziproke soziale Beziehung zwischen – im hier vorliegenden Fall miteinander verwandten – Personen verstanden. Für eine ausführliche Analyse des Konzeptes familialer Solidarität siehe Szydlik 2000: 33f; für eine umfassende Analyse nationaler, subnationaler und transnationaler Solidaritätsformen siehe Beckert et al. 2004.
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milienbanden eine besonders hohe Bedeutung zugeschrieben werde, und dass dies sich auch positiv auf den Status der Betagten auswirke. Italo-Amerikaner/innen würden es als ihre selbstverständliche Aufgabe erachten, die Eltern im Alter zu versorgen; und dies wiederum verschaffe den Eltern im Alter eine gewisse Macht und Unabhängigkeit (Johnson 1994). Die Pflege von Schuldgefühlen bei den Kindern durch die Betonung der Opfer, welche die Eltern für ihre Kinder gebracht hätten, sei ein machtvolles Instrument elterlicher Kontrolle. Als Unterstützungspersonen würden insbesondere die weiblichen Familienangehörigen (Töchter und Schwiegertöchter) vorgezogen; Pflegeinstitutionen hingegen würden stark abgelehnt (siehe dazu auch Holmes/Holmes 1995: 220f). Auch im europäischen Kontext wird immer wieder davon ausgegangen, dass die Pflege in der Familie die ideale Form der Altenpflege unter Migrant/innen sei, aufgrund der hohen Akzeptanz dieser Pflegeform in den entsprechenden ‚communities‘ (z.B. Tomassini et al. 2003: 114) wie auch aufgrund der Ablehnung der Pflegeangebote in der Aufenthaltsgesellschaft (z.B. Dietzel-Papakyriakou 2001: 89f, Tomassini et al. 2003, PRIAE 2004: 3). Studien hingegen, welche die konkreten familiären Pflege- und Unterstützungsleistungen bei Migrant/innen und Einheimischen vergleichen, stellen kaum namhafte Unterschiede fest (Schopf/Naegele 2005: 392, siehe z.B. auch Olbermann 2003, Bolzman et al. 2001). Dennoch, so scheint es, spielen familiäre Solidaritätsformen in der Migration eine alltagspraktische Rolle (z.B. Bolzman et al. 2001), und die Frage bleibt, ob nicht auch andere Erklärungen als kulturelle dafür in Frage kommen: Schichtspezifische zum Beispiel, die mit dem gegenwärtigen Lebensumfeld zu tun haben, oder Umstände, die weniger mit der konkreten Herkunft, sondern mit der „condition immigrée“ (Bolzman et al. 1999: 87), also der Migrationserfahrung und dem Status als Migrant/innen in der Aufenthaltsgesellschaft zu tun haben. Die weithin unterstellte hohe Bedeutung familiärer Beziehungen für Italiener/innen und die daraus abgeleitete These, dass „the care of the elderly [is] traditionally seen as a family responsibility among Italians“ (Ganga 2006: 1403) wird deshalb hier etwas genauer unter die Lupe genommen. Dabei wird die Rückbindung ‚der italienischen Familie‘ an Tradition und kulturelle Einzigartigkeit in Frage gestellt. Ausgehend von der Suche nach universelleren Funktionsweisen von Familie und Verwandtschaft rückt daraufhin die Paarbeziehung als eine der grundlegenden familiären Beziehungsformen ins Zentrum. Es wird genauer danach gefragt, was die Paarbeziehung in der idealtypischen Partnerschaftsform der Ehe ausmacht und inwiefern sie als Solidarbeziehung im Alter und in der Migration von Bedeutung wird.
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Informelle Solidarität: ‚La famiglia italiana‘ und familiäre Unterstützung im Alter Das unter migrierten Italiener/innen offenbar geteilte Ideal, bedürftige Betagte in der Familie zu pflegen, wird in der Literatur mehr oder weniger direkt auf die hohe Bedeutung von Familie und den besonders ausgeprägten familiären Zusammenhalt unter Italiener/innen zurückgeführt. Doch was ist dran an der These, dass Italiener/innen die Familie so hoch halten? Ist die familiale Solidarität bei Italiener/innen tatsächlich so ausgeprägt? Was macht die italienische Familie denn eigentlich aus, und was passiert mit ihr in der Migration? Die Familie ist eine schwierig zu definierende soziale Einheit59. Wichtigstes Kriterium ist die verwandtschaftliche Verbindung unter den Mitgliedern einer Familie, in der Regel über affinale Verbindungen zwischen Paaren, über Deszendenzbeziehungen, d.h. Eltern-Kind-Beziehungen sowie über laterale Beziehungen zwischen Geschwistern. ‚Die Familie‘ ist eine zentrale – vielleicht auch die zentralste – soziale Institution in Gesellschaften (Lévi-Strauss 1965, Gelles 1995: 29, Hill/Kopp 2004: 23f). Gleichzeitig ist sie auch eine besonders intime und besonders allumfassende soziale Gruppe, in der die Mitgliedschaft (insbesondere für Kinder) bis zu einem gewissen Grad unfreiwillig (Gelles 1995: 29) und unaufkündbar ist. Familien sind idealtypische Gebilde, deren konkrete Ausformung sehr unterschiedlich sein kann. Ko-Residenz ist kein zwingendes Merkmal von Familien, sondern von Haushalten (Gelles 1995: 12f). Für einzelne Individuen ist die Familie von zentraler Bedeutung als „Verweisungszusammenhang von milieutypischen Selbstverständlichkeiten der Welt- und Selbstauffassung“ (Hildenbrand 1995: 12), als Milieu, von dem aus Individuen die Welt betrachten und erfassen, als Ort sozialisatorischer Interaktion, der gekennzeich-
59 Unter ‚Familie‘ wird hier das verstanden, was man im europäischen Kontext in der Regel mit dem Begriff ‚Kernfamilie‘ bezeichnet, im Idealtypus bestehend aus einem Paar und dessen gemeinsamen Kindern. Zur erweiterten Familie gehören die Eltern des Paares sowie die Geschwister der beiden Partner/innen mit deren Ehepartner/innen und Kindern. Diese Konzeption von ‚Familie‘ orientiert sich an der Idee einer auf Dauer angelegten sozialen Organisationseinheit, deren Aufgabe die biologische Reproduktion und die Sozialisation von Kindern ist. Das Konzept ‚Familie‘ kann in unterschiedlichen Kontexten verschiedene idealtypische Formen annehmen und in der Praxis noch einmal ganz unterschiedlich interpretiert werden. Für eine sozialanthropologische Konzeptualisierung der Familie siehe Lévi-Strauss 1965 und 1993, Segalen 1990, Burguière et al. 1998; für eine soziologische Konzeption siehe z.B. Gelles 1995 oder Hill/Kopp 2004.
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net ist durch unterschiedliche, aber eng miteinander verschränkte Arten sozialer Beziehungen (Hildenbrand 1995: 11f), nämlich der Paarbeziehung, der ElternKind-Beziehung und der Geschwisterbeziehung. Diese Beziehungen als idealtypisches Kerngerüst von Familien sind nicht unbedingt biologisch definiert, sondern soziale Konstruktionen, und konkrete Zusammensetzungen und Grenzen von Familien können unterschiedlich definiert werden. Empirisch relevant für die hier bearbeitete Fragestellung sind Normen und Regeln, welche den europäischen Idealtypus der Familie prägen, insbesondere die Frage nach regionalen Unterschieden und deren historischen Entwicklungen. Wissenschaftliche Analysen europäischer Verwandtschaftsstrukturen unterscheiden in der Regel zwischen einer zentral-/nordeuropäischen Region, in der kleine familiäre Einheiten und schwache Familienbande vorherrschen würden, und einer südeuropäischen, auch mediterran genannten Region (zu der vornehmlich Italien, Spanien und Portugal gezählt werden), die durch grosse Familieneinheiten und starke Familienbande charakterisiert sei. Dieser Unterschied wird mit historischen Entwicklungen (Wirtschaftsformen, religiösen Ausprägungen, Entwicklung staatlicher Institutionen) erklärt und bestehe in der Tendenz bis heute (Reher 1998). Der Familientypus mediterraner Prägung baue auf große Haushalte, frühe Heirat und die Patrilinie (Laslett 1972, Wall 1983), und er zeichne sich insbesondere dadurch aus, dass familiäres Wohlergehen als höchste Norm über das individuelle wie auch das gesellschaftliche Wohl gestellt werde (Banfield 1958). Bezüglich der Familienformen in Italien lassen sich zwei Forschungsstränge feststellen: Während sich die familienhistorische Forschung60 vor allem an der Typisierung von ‚mediterranen‘ Familien- und Haushaltsformen abgearbeitet hat, hat sich die sozialanthropologische Literatur mit der Bedeutung der Familie in lokalen Gemeinschaften61 und dem moralischen Prinzip von Ehre und Scham62 im italienischen Süden beschäftigt. Ausgehend von Edward C. Banfield’s These des ‚amoralischen Familismus‘63 (Banfield 1958), beschäftig-
60 Siehe dazu Laslett 1972, Wall 1983, Kertzer/Saller 1991, Barbagli/Kertzer 1992, Barbagli 1996, Reher 1998, Goody 2002, Viazzo 2003, Barbagli et al. 2003. 61 Siehe dazu Banfield 1958, Davis 1973, Silverman 1975, Viazzo 2003. 62 Siehe dazu Davis 1969, Schneider 1971, Gilmore 1987, Peristiany/Pitt-Rivers 1992, Di Bella 1992, Giordano 2002, Viazzo 2003. 63 Banfield’s Studie „The moral basis of a backward society“ (1958) beschäftigt sich mit einer Dorfgemeinschaft in Süditalien und beschreibt die dort vorherrschende moralische Einstellung als ‚amoralischen Familismus‘. Damit meint er, dass die Bewohner/innen der untersuchten Gemeinde in ihren alltäglichen Handlungen das Wohl ihrer Familie bedingungslos über das erweiterte Gemeinwohl stellen würden. Dies führe, so
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ten sich zahlreiche ethnographische, ökonomische und politische Texte mit der Rolle der Familienorientierung als dominanter Ideologie, d.h. der ideologischen Betonung des Wohles der Familie über dasjenige der erweiterten Gemeinschaft oder der Gesellschaft als Ganzes, seiner Ausdehnung auf die Patronagesysteme des organisierten Verbrechens, sowie der Ursachen und Folgen dieser familistischen Ideologie auf die ökonomische und soziale Lage in Süditalien64. In der negativ wertenden Sichtweise wird die zentrale Bedeutung von Familien- und erweiterten Klientelbeziehungen als individualistisch – und in diesem Sinne in den Worten Banfields (1958) amoralisch – dargestellt. Familismus als Ideologie hemme die wirtschaftliche Entwicklung der Region wie auch die Wandlungsfähigkeit der relativ geschlossenen klientelistischen Gemeinschaften und deren einschränkenden Auswirkungen auf einzelne Individuen. In der positiven Sichtweise hingegen ist Familismus eine notwendige und erfolgreiche Anpassungsleistung an äußerst prekäre ökonomische und soziale Verhältnisse, eine Kompensation von fehlenden staatlichen Institutionen, das gekonnte Einsetzen der einzigen vorhandenen Solidaritätsbeziehungen zur Sicherstellung von Wohlfahrt (z.B. Ginsborg 1990: 416f). Die soziale Organisationseinheit Familie erfüllt im süditalienischen Kontext also die Funktion des Schutzes der Gemeinschaft. Ein zentrales Konzept in der Definition und Legitimation der Familie als wichtigster Referenzgröße individuellen und kollektiven Handelns ist die Ehre der Familie, welche, so postuliert die Literatur, eng verknüpft ist mit der Vermeidung von Schande, die wiederum vor allem an die weibliche Sexualität gebunden ist. Die enge Verknüpfung von männlicher Ehre mit deren Fähigkeit, die Sexualität der verwandten Frauen zu kontrollieren und so deren ‚Scham‘ intakt zu halten (Gilmore 1987: 4), verbunden mit einer sozialen Organisation, in der Frauen – zum Schutze ihrer Ehre – aus dem öffentlichen, außerhäuslichen Bereich ferngehalten werden, sind gängige Themen in der sozialanthropologischen Literatur zu Süditalien65. Diese offen-
Banfield (1958), zu gesellschaftlichem Kooperationsmangel und der Vorherrschaft des Privatismus gegenüber dem Kollektivismus. 64 Für einen kurzen Überblick zu diesem Thema siehe Lanfranchi 1995: 82f oder Meyer Sabino 2003; für eine ausführlichere Abhandlung siehe z.B. Ginsborg 1990 oder Bevilacqua 1993. Interessant auch Dal Lago/Halpern 2002 zu einem Vergleich des Südens in den USA und seiner Sklavereigeschichte mit der ‚questione meridionale‘ in Italien. Für eine detaillierte, kritische Auseinandersetzung mit Banfields Buch siehe Davis 1970. 65 Zum Ehre/Scham-Komplex siehe z.B. Gilmore 1987, Peristiany/Pitt-Rivers 1992, Giordano 2002. Empirische Fallstudien, in denen entsprechende Kontexte beschrieben
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bar charakteristischen Eigenschaften gesellschaftlicher Organisation in Italien können auch Bestandteil des Herkunftskontextes von italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘ in der Schweiz sein, wie die Erzählungen von Serafina Santo zu ihrer Kindheit und Jugend in Sizilien zeigen. Serafina entwirft in ihrem Einstieg in die biographische Selbstpräsentation die Welt ihres Dorfes als eine durch und durch patriarchale Welt: Già, mia mamma si è sposata a quattordici
Meine Mutter hatte schon mit 14 geheiratet.
anni. [***] Poi mio padre è stato richia-
[***] Dann ist mein Vater ins Militär
mato per fare il militare. Ed è rimasto: mio
einberufen worden. Und es blieb nur mein
fratello di cinque anni, che aiutava mia
fünfjähriger Bruder, um meiner Mutter zu
mamma. [***] Tutto mia mamma, la
helfen. [***] Alles meine Mutter, die ganze
responsabilità. Perché mio padre ha dovuto
Verantwortung. Weil mein Vater weg
partire, mi ricordo. [***] Quando è venuto,
musste, so erinnere ich mich. [***] Als er
non c’era quella confidenza. [.] E poi, che
gekommen ist, war da kein Vertrauen. Auch
mio padre ci piacevano solo i figli maschi
weil meinem Vater nur die männlichen
[.] Non erano tanto gradite, le femmine.
Kinder gefielen. Mädchen waren nicht so
[lacht:] Lui voleva un altro maschio quando geschätzt. [lacht:] Er wollte einen weiteren sono nata io. Però lo stesso mi voleva bene,
Jungen, als ich geboren wurde. Aber trotz-
non è che non mi voleva bene. Però mio
dem war er mir gut, es war nicht so, dass er
fratello era il preferito. [.] Perché lui era il
mir nicht gut gewesen wäre. Aber mein
maschio, e fino adesso che è morto mio
Bruder wurde vorgezogen. Denn er war der
padre era mio fratello, mio fratello. [.] Poi
Junge, und bis jetzt, wo er tot ist, gab’s für
è venuta un’altra sorella, ancora. [lacht]
meinen Vater nur meinen Bruder, meinen Bruder. Dann ist noch eine Schwester gekommen, noch einmal. [lacht]
(Transkript Santo 1, 2/6 – 2/19) Nachdem Serafina dann geschildert hat, wie sehr sie in ihrer Kindheit unter ihrem autoritären Vater, der Landarbeit und dem Schulentzug gelitten hatte, begann sie sehr ausführlich und detailreich zu erzählen, wie ihr jetziger Ehemann anfing, ihr den Hof zu machen, wie er es einrichtete, sie ‚zufällig‘ auf dem Feld oder im Dorf zu treffen, wie er jeweils am Abend demonstrativ unter ihrem Fenster durch spazierte und sie ‚zufälligerweise‘ zur gleichen Zeit am Fenster
werden, sind z.B. die Gemeinde-Ethnographien von Gower Chapman 1971, Corneliesen 1978 oder der Gemeinden-Vergleich von Bell 2007 (1979). Einführende Aufarbeitungen der ethnographischen Studien zu Italien finden sich in Blechner 1998, Rieker 2003; zum speziellen Fokus auf Frauen siehe Fiume 2002.
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stand, wie sie begannen, heimlich Briefe unter Steinen am Wegrand zu deponieren. Vittorio habe seinen Vater gebeten, bei Serafinas Vater um ihre Hand anzuhalten, doch sowohl seine wie auch ihre Familie beurteilten eine eheliche Verbindung zwischen dem gut 20jährigen Vittorio und der 15jährigen Serafina als unangemessen: Vittorio war (noch) nicht in der Lage, einen eigenen Hausstand zu gründen, sein Vater krank, seine ältere Schwester noch unverheiratet. Vittorios Vater fand, er solle zuerst Militärdienst machen und erst danach heiraten. Serafina war noch jung und sollte nach wie vor zu Hause aushelfen. Vittorio war wohl keine Partie, die für Serafinas Vater attraktiv genug gewesen wäre, um Serafinas Arbeitskraft an einen anderen Haushalt abzutreten. Vittorio wollte jedoch nicht von seinem Plan ablassen, Serafina zu heiraten. Er setzte zu einer verzweifelten Attacke nach vorn an und bat Serafina, mit ihm zu ‚flüchten‘: Ci siamo conosciuti [.] che poteva essere
Wir kannten uns seit etwa April, dem Os-
aprile [.] la festa di pasqua [***]. A ottobre terfest [***]. Im Oktober sagte er mir: lui mi fa: “Serafina [.] domenica prossima
„Serafina, nächsten Sonntag fliehen wir.
ce ne scappiamo. [.] Io volevo mandare mio Ich wollte meinen Papa schicken, der wollte papà, e non ha voluto venire. Domenica
nicht kommen. Nächsten Sonntag, [mit
prossima, [mit lauter Stimme:] se vieni
lauter Stimme:] entweder kommst du, oder
vieni, se non vieni basta più!” Che mi
vergiss es für immer!“ Das machte mir
faceva paura! Ormai c’era qualcuno che lo
Angst! Bereits gab es welche, die wussten,
sapeva che lui voleva a me. E per me, se lui
dass er mich gern hatte. Und für mich, wenn
mi lasciava, nessun’altro ragazzo poi mi
er mich verließe, würde mich kein anderer
poteva prendere. Capisci, quella era la
Junge mehr nehmen können. Verstehst du,
stupidaggine, l’ignoranza, la gioventù!
das war die Dummheit, die Ignoranz, die Jugend!
(Transkript Santo 1, 4/32 – 4/38) Serafina ließ sich auf diesen Vorschlag einer gemeinsamen symbolischen Flucht ein. Die hier von Vittorio angewendete Strategie der gemeinsamen Flucht zielt – ähnlich wie eine ‚Brautentführung‘– darauf ab, die öffentliche ‚Ehre‘ der begehrten Braut und ihrer Herkunftsfamilie so weit zu kompromittieren, dass sie nur durch eine Heirat wieder hergestellt werden kann. Serafina wusste damals zwar nicht so genau, worauf sie sich eigentlich einließ, doch war ihr klar, dass wenn sie, wie Vittorio vorschlug, abends ihr Elternhaus allein verlassen und Vittorio treffen würde, für keinen anderen Mann mehr als Ehefrau in Frage kommen würde. Sie fragte Vittorio noch, wo er sie denn hinbringen würde, und er sagte, er bringe sie zu seiner Tante; das beruhigte Serafina ein wenig. Am verabredeten Abend schlich sich Serafina aus dem Elternhaus, traf Vittorio,
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verließ mit ihm das Dorf und versteckte sich in den nahe gelegenen Bergen. Das Verschwinden der beiden wurde umgehend bemerkt – Vittorio hatte die Flucht gut vorbereitet, so dass niemand sie aufhalten konnte, aber alle erfuhren, dass sie zusammen weg waren – und als die beiden am nächsten Tag wieder auftauchten, war allen klar, dass sie heiraten mussten. Serafinas Familie verweigerte dem jungen Paar jedoch jegliche Unterstützung, erschien auch nicht zur Hochzeit, welche ein paar Wochen später ohne viel Aufheben in der Krypta der Dorfkirche stattfand. Ohne eigenes Haus und Landstück und im Zwist mit Serafinas Vater, blieb nur die Option, im Haushalt von Vittorios Eltern unterzukommen. Dort allerdings hatte zuerst Vittorios Mutter das Sagen, dann dessen unverheiratete Schwester. Serafina musste sich mit einem Bett in der Küche begnügen. Sie arrangierte sich für einige Jahre mit dieser Situation, bis die Migration ihr eine neue Perspektive auf ein freieres und selbstbestimmteres Leben eröffnete. Und so empfand sie ihre Rückkehr zur Geburt des zweiten Kindes nach einem Jahr in der Migration als drohenden Verlust dieser neu gewonnen Freiheit: Io quando sono andata in Italia, nel ’63, io
Als ich nach Italien ging, im ’63, habe ich
ho pianto tanto. [..] [leise:] Ho pianto
so sehr geweint. [leise:] Habe geweint,
tanto, tanto, tanto. [.] [in verschwöreri-
geweint, geweint. [in verschwörerischem
schem Ton:] Perché qui c’era quella
Ton:] Denn hier gab es diese Freiheit. Dort
libertà. Lì dovevo stare con la suocera, sa!
musste ich mit der Schwiegermutter bleiben,
Ogni cosa che facevo, vede che vado lì, [.]
wissen Sie! Alles was ich tat, sie schaute,
vado a comprare questo, [.] ritornata
wo ich hinging, was ich kaufte, wann ich
all’orario. [***] Ah! Qui [.] ci avevo il mio
zurückkam. [***] Ah! Hier hatte ich meinen
marito, eravamo [.] come ne fossimo spo-
Mann, es war, als hätten wir im ’62 erst
sati nel ’62, sa! Per me, del ’55 al ’62 [.]
geheiratet, wissen Sie! Für mich, zwischen
ero come una figlia di famiglia. […] Mia
’55 und ’62 war ich wie eine Tochter der
suocera mi diceva: „Aah! [.] Io vi devo
Familie. Meine Schwiegermutter sagte:
controllare che siete troppo piccole.“ [***]
„Aah, ich muss euch kontrollieren, ihr seid
Voleva comandare sempre lei, anche fino a
zu jung.“ [***] Sie wollte immer komman-
dopo [.] sposati tanto tempo.
dieren, auch nachdem wir schon längst verheiratet waren.
(Transkript Santo 2, 5/31– 5/42) Die kulturellen Muster, welche die sozialanthropologische Forschung als typisch für Süditalien beschrieben hat, sind im Falle von Serafina und Vittorio also auch biographisch relevant geworden. Das dörfliche Umfeld ihres Herkunftsortes scheint denjenigen der klassischen ethnographischen Gemeindestudien (Banfield 1958, Gower Chapman 1971, Davis 1973, Silverman 1975, Corneliesen 1978,
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Bell 2007(1979))66 sehr ähnlich zu sein. Von diesem Umfeld, so wird postuliert, gehe eine ganz spezifische kulturelle Prägung aus, welche Migrant/innen auf ihren Wanderungen mitnehmen würden und welche auch ihr Leben in der Migration prägen würden. Die wissenschaftliche Diskussion um die Bedeutung der Familie in Süditalien prägt deshalb auch die Auseinandersetzung mit der italienischen Familie in der Migration67. Hier zeigt sich exemplarisch eine Tendenz, die sich durch die wissenschaftliche Literatur zur italienischen Migration hindurch zieht, nämlich die Neigung zur Homogenisierung von regionalen Unterschieden im Herkunftsland beim Schreiben über Migrant/innen. Die Migration aus Italien in die Schweiz wird oft als Migration aus dem Süden wahrgenommen. Insbesondere in der Literatur der 1980er und 1990er Jahre – eine Phase, in welcher vor allem über psychosoziale Problemlagen von italienischen Migrant/innen wie Arbeitslosigkeit, psychosomatische Gesundheitsprobleme, familiäre Schwierigkeiten, Schulerfolg und Drogenabhängigkeit bei der sog. Zweiten Generation nachgedacht wurde – wird italienische Migration quasi mit süditalienischer Herkunft gleichgesetzt, und letzterer wiederum wird oft auch ein Modernitätsdefizit unterstellt. Lanfranchi (1995) zum Beispiel postuliert, „dass die Familie in Italien und insbesondere im Mezzogiorno nicht die sozialen Wandlungen erfahren hat, die bei ‚modernen Kleinfamilien‘ in urbanen, zentraleuropäischen Gesellschaften vor sich gegangen sind“ (Lanfranchi 1995: 78). Die Umstrukturierungsprozesse des Familienlebens im Süden seien vergleichsweise träge, nicht zuletzt, weil die Familie als Sippe auf die Gewährleistung von Kontinuität und sozialer Sicherheit bestehe (Lanfranchi 1995: 79). Die Familie sei im Süden die einzig wirksame Solidaritätsgruppe, auf die in der prekären sozio-ökonomischen Lage zurückgegriffen werden könne (Lanfranchi 1995: 88). Diese Struktur des italienischen Familienlebens, der implizit auch eine gewisse Rückständigkeit unterstellt wird, werde in der Tendenz auch in der Migration aufrechterhalten, und so geht Lanfranchi (1995: 92) davon aus, dass sich (süd-)italienische Familien in der
66 Neuere Studien, welche an diese klassischen ethnographischen Studien anknüpfen und einige Jahrzehnte später ähnliche Forschungsfelder in den Fokus nehmen, sind z.B. Hauschild 2002 und 2003, Hugi 2002. Aufgegriffen und aus der Migrationsperspektive neu beurteilt wird die klassische ethnographische Forschung z.B. von Rieker 2003. 67 Ich beschränke mich hier auf die Literatur zur italienischen Migration in die Schweiz. Interessant zu dieser Frage ist auch Boscia-Mulè (1999), die sich eingehend mit Familismus als Ideologie und seiner Auswirkung auf die Ethnizitätsbildung unter ‚communities‘ italienischer Herkunft in den USA auseinander setzt.
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Schweiz besonders schwer tun würden, sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden. Die Beziehungen in (süd-)italienischen Familien charakterisiert Lanfranchi als eher rational denn emotional (Lanfranchi 1995: 92). Daraus würden sich auch die Kollaborations- und Kommunikationsdefizite innerhalb von Paarbeziehungen bei süditalienischen Immigrantenfamilien erklären, über welche eine Therapeutin berichtet: „In der süditalienischen Dorfgemeinschaft ist die Paarbeziehung primär eine Interessengemeinschaft, während die kommunikativen Bedürfnisse beider Ehepartner vornehmlich in der Männer- resp. Frauengemeinschaft befriedigt werden. In der Emigration, wo diese gesellschaftlichen Strukturen fehlen, kommt es rasch zur Vereinsamung beider Partner. Es fehlt das Modell einer möglichen anderen, auf dem Dialog basierenden Paarbeziehung.“ (Schuh 1991: 4268, zitiert in Lanfranchi 1995: 92/Fußnote 32)
Auch Meyer Sabino (2003a, 2003b) argumentiert in der Tradition der ethnographischen Literatur zu Süditalien. Sie nimmt die bäuerliche Kultur des Mezzogiorno als den zentralen Referenzpunkt italienischer Migrant/innen in der Schweiz an. Diese süditalienische bäuerliche Kultur, so Meyer Sabino (2003a), sei durch Personalisierung von sozialen Beziehungen geprägt, was zu Klientelismus und informellen Hierarchien führe. Die Ursache dafür sei das Misstrauen der Menschen gegenüber den offiziellen Autoritäten. Nach der Migration in die Schweiz aber stünden offizielle und unpersönliche Beziehungen im Mittelpunkt. Die alten familistischen Werte würden dabei jedoch nicht aufgegeben, auch nicht durch die folgenden Generationen, sondern um Werte erweitert, die auch mit dem Allgemeinwohl verbunden seien (Meyer Sabino 2003: 188). Was die Erfahrung der italienischen Migrant/innen in der Schweiz präge, so Meyer Sabino (2003a), seien einerseits die Erweiterung der partikularen Beziehungen vom Familien- und Freundeskreis auf Vereine und Verbände (dies quasi als Ersatz für die aufgrund der Migration verkleinerten familiären Beziehungsnetze), zum Anderen aber auch erste Erfahrungen mit zuverlässigen, neutralen Institutionen. Allemann-Ghionda und Meyer Sabino (1992) haben in ihrer Studie „Donne italiane in Svizzera“ die zwiespältige Auswirkung des postulierten italienischen Familismus auf die einzelnen Familienmitglieder in der Migration unter dem Schlagwort „La famiglia: spazio felice o area di conflitti?“/“Die Familie: Hort des Glücks oder Konfliktherd?“ (Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992: 118ff;
68 Schuh, S. 1991: Süditalienische Emigrantenfamilien in der Schweiz: Leben im Provisorium zwischen Vergangenheit und Zukunft. Familiendynamik 1: 37-48.
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Meyer Sabino 2003: 214ff) behandelt69. In der Migration, so die beiden Autorinnen, erleben die Menschen die Diskrepanz zwischen dem Mythos Familie und ihren konkreten Erfahrungen in der alltäglichen Praxis. Migration bedeutet Emanzipation, zum einen die Befreiung der einzelnen Familienmitglieder aus der Nuklearfamilie, aber auch die Emanzipation der Kernfamilie aus den größeren familistischen Strukturen, welche die Autorinnen mit ‚il clan‘ umschreiben. Eine solche Emanzipation bedeutet aber auch eine Herauslösung aus dem solidarischen Netzwerk, was bedeutet, dass gewisse Aufgaben und Funktionen dieses ‚clan‘ in der Migration auf den Schultern der Kernfamilie lasten (AllemannGhionda/Meyer Sabino 1992: 118ff). Weiter argumentieren Allemann-Ghionda und Meyer Sabino, dass die Familie auch in der Migration ein wichtiger positiver Referenzpunkt70 bleibe, dass aber eine Diskrepanz zwischen Mythos und Erleben bestehe. Aufgrund der schweizerischen Gesetzgebung zeichneten sich die ersten familiären Erfahrungen in der Migration aus durch vielfältige Erfahrungen der familiären Trennung und Wiedervereinigung, was der eingewanderten Familie eine Konnotation von geographischer und affektiver Instabilität gegeben habe (Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992: 121). Diese Instabilität, so die Autorinnen, hatte ihre Kosten, insbesondere für die heranwachsenden Kinder der italienischen Migrant/innen: psychische Erkrankungen, Drogenprobleme, schulische Marginalisierung, ungenügende Berufsausbildung, schlechte Integration in den Arbeitsmarkt (Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992: 122). Daraus ergaben sich im Erleben der Migrant/innen Diskrepanzen zwischen dem quasi mythischen Konzept der Familie als kompaktem Kern, als Garantin von Kontinuität, als Zuflucht vor Frustrationen, als Ort der primären Sozialisation und der Mediation mit der Umwelt auf der einen Seite, und dem gelebten Familienalltag auf der anderen Seite, in dem die familiäre Erfahrung häufig geprägt war durch Distanz, durch Trennung, durch Vernachlässigung der Beziehungen (Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992: 122). Diese Schweizer Studien zu italienischen Familien in der Migration – übrigens alle von Psycholog/innen verfasst – suggerieren, dass Migrationsfamilien sich vor einem ganz spezifischen soziokulturellen Hintergrund konstituieren. Durch die Migration werden sie aus diesem Kontext gerissen und unterliegen im
69 Ein ähnlich kontrastierendes Begriffspaar benutzt Wessendorf (2008), indem sie italienische Familien in der Migration einerseits als ‚sites of belonging‘, andererseits als ‚golden cages‘ charakterisiert. 70 Dieser Referenzpunkt wird laut den Autorinnen geprägt durch folgende Werte: Loyalität, Solidarität, Gefühlsvermögen/-leben, Sicherheit, Schutz, kulturelle Zugehörigkeit, moralisches Pflichtgefühl (Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992: 121).
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neuen Kontext der Schweiz spezifischen Belastungen, auf welche die Familie mit Anpassungsleistungen reagieren muss, die in einigen Fällen gelingen, in anderen aber zu schwer wiegenden familiären Problemen führen können (Lanfranchi 1995). Letztere sind Ausgangspunkt der migrationswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Familien in der Schweiz. Diesen Studien liegt die Vorstellung zu Grunde, dass italienische Familien bei der Migration eine ganz spezifische kulturelle Prägung – eine ländliche, vorindustrielle, katholische, auf Geschlechtersegregation und familiären Ehrvorstellungen beruhende – mit sich bringen, die sich deutlich von den familiären kulturellen Normen in der Schweiz unterscheiden. Daraus entstünden Kulturkonflikte, die zu spezifischen Problemen in Migrationsfamilien führen würden. Der Fokus dieser Studien liegt etwas stark auf dem kulturellen Hintergrund der Migrant/innen und berücksichtigt die Kontextbedingungen in der Schweiz wenig. Auch wenig berücksichtigt wurden spezifische familiäre Auswirkungen der Migration wie z.B. die räumliche Verschiebung von Teilen der Familie und deren Auswirkungen auf die Konstitution und Konstruktion von ‚Familie‘, die erst mit der Transnationalismus-Debatte ins Zentrum wissenschaftlichen Interesses gerückt sind (siehe z.B. Bryceson/Vuorela 2002, Grillo 2008) und bisher noch wenig auf die ‚klassischen‘ europäischen Migrationsbewegungen der ‚Gastarbeit‘ angewendet wurden. Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt Wessendorf (2008), indem sie die klassische schweizerische Migrationsforschung um die Perspektive von Transnationalismus-Theorien erweitert und das Oszillieren familiärer Zugehörigkeiten zwischen Idylle und Zwang aus der Perspektive der Zweiten Generation behandelt. Sowohl die ethnographische Literatur zu Italien wie auch die Schweizer ‚Gastarbeiter‘-Studien betonen die hohe Bedeutung von Familie für Italiener/innen und suggerieren, dass die italienische Familie eine besonders starke und solidarische soziale Einheit bilde, und macht damit die Familienorientiertheit zu einem besonderen kulturellen Merkmal von Italiener/innen. Ein kurzer Blick in die sozio-historische Familienforschung soll nun klären, ob es so etwas wie ‚die italienische Familie‘ gibt, wodurch sie sich allenfalls auszeichnet und was mit dieser Familie in der Migration geschieht. Ein Hauptfokus wird dabei auf Geschlecht, ein weiterer auf Alter gelegt. Es sind vor allem zwei Bereiche, die in der europäischen Familienforschung im Zentrum stehen und anhand derer die bereits erwähnte Unterscheidung zwischen Nord-/Zentraleuropa und dem mediterranen Europa begründet wurde. Dies sind zum Einen die Familien- und Haushaltsformen (d.h. wer wohnt mit wem zusammen, wie konstituieren sich produktive und reproduktive Einheiten), zum Anderen die Familienbeziehungen (Residenznähe, Kontakthäufigkeiten, Austausch von Unterstützungsleistungen etc.) und der daraus abgeleitete Zusammenhalt innerhalb der Familien.
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Die Familienforschung in Europa hat lange die These vertreten, dass die Kernfamilie (bestehend aus einem Paar und seinen Kindern) die im modernen Europa vorherrschende Form der Haushaltseinheit sei und dass dies auf die Industrialisierung zurückzuführen sei, in deren Zuge die vorindustriell dominierenden komplexeren Haushalte (bestehend entweder aus mehreren Paaren mit ihren Kindern (‚multiple households‘), oder aus einem Paar mit Eltern(teilen) und Kindern (‚extended households‘) zunehmend verschwunden seien. Ausgehend von dieser These einer Verkleinerung von Haushalten im Zuge der Industrialisierung entwickelte sich auch die These der Rückständigkeit von Familienformen, wie sie als typisch für Italien, insbesondere den Süden, beschrieben wurden. Der englische Historiker Peter Laslett hingegen hat zusammen mit seiner Forschungsgruppe in den 1970er und frühen 1980er Jahren mittels unzähliger historischer Studien aufzeigen können, dass die komplexe vorindustrielle Familie – zumindest für Nordwest- und Zentraleuropa – ein Mythos ist. Und auch wenn im mediterranen Raum komplexere Haushalte verbreitet gewesen zu sein schienen (Barbagli/Kertzer 1992: 15f, Hill/Kopp 2004: 36f, Haber 2006), gibt es, so zeigt die historische Familienforschung, innerhalb des mediterranen und auch innerhalb des italienischen Territoriums „major local variations that make it difficult to identify a single type that could reasonably be characterized as ‚the Italian family‘ at any given time. In addition to differences between Italian communities, separate social groups living in the same communities were characterized by quite different family systems – for example, the large multiplefamily household system of the sharecroppers coexisted with the smaller, usually nuclear families of their agricultural wage-laborer neighbors in nineteenth-century central Italy.“ (Kertzer/Saller 1991: 4f) Unterschiede in der familialen Organisation sind also, wie in obigem Zitat angedeutet, regional bedingt, aber auch durch die soziale Schicht und die dazu gehörigen Produktions- und Reproduktionsformen. Familiensysteme verändern sich zudem auch im Laufe der Zeit, in Interaktion mit dem gesellschaftlichen Umfeld (Bell 2007 (1979): 75). Zu nennen sind hier ökonomische und demographische Aspekte (Barbagli/Kertzer 1992: 25f), aber auch die institutionellen und ideologischen Kräfte von Kirche und Staat sowie Geschlechterideologien (Kertzer/Saller 1991: 8). Laut Barbagli/Kertzer (1992: 26f) wird das Familienleben aber nicht nur von demographischen, politischen und ökonomischen Aspekten beeinflusst, sondern auch von Normen bezüglich dessen, was man im häuslichen Bereich tun oder nicht tun sollte: wann man heiraten sollte, wo man nach der Heirat wohnen sollte, wer in einem Haushalt zusammenwohnen sollte, ob und wie Empfängnisverhütung betrieben werden sollte usw. Solche kulturellen Normen entstehen zwar auch im Zusammenhang mit ökonomischen, politischen und
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demographischen Aspekten, verändern sich aber sehr langsam (Barbagli/Kertzer 1992: 28). Zentral für die Erklärung von Unterschieden in der familiären Organisation sind zudem Effekte des Lebenslaufs (Barbagli/Kertzer 1992: 24f). Die familiale Organisation verändert sich im Laufe eines individuellen Lebens, sie durchläuft verschiedene Phasen, die in den statistischen Daten, welche den meisten historischen Studien zu Grunde liegen und eine Momentaufnahme abbilden, in Form von divergenten Familienstrukturen zum Ausdruck kommen. Auf die oben angesprochene Diskussion um die Haushaltszusammensetzung heißt dies zum Beispiel, dass ein Teil der uneinheitlichen Ergebnisse aufgrund von Volkszählungsdaten damit zu tun hat, dass unverheiratete oder frisch verheiratete Kinder das Elternhaus noch nicht verlassen haben, oder dass betagte Großeltern noch selbständig leben, einige Jahre später aber in den Haushalt eines ihrer Kinder integriert werden. So kann ein Haushalt zuerst als komplexer Familienhaushalt erscheinen, dann als Kernfamilienhaushalt, um dann wieder zu einem komplexen Haushalt zu werden. So sind ‚extended households‘ auch in der Vergangenheit nicht permanente Haushaltsformen, sondern Übergangsphasen, für die man sich entscheidet, wenn vorher autonom geführte Haushalte z.B. aufgrund von Krankheit oder Verwitwung an andere Haushalte angegliedert werden (siehe z.B. Harber 2006), oder wenn durch äußere Umstände, wie z.B. eine Migration, ein Zusammenlegen familiärer Ressourcen sinnvoll erscheint (siehe z.B. Haddad/Lam 1994). Ein weiterer Bereich, der in der Familienforschung Beachtung findet und Hinweise auf die Bedeutung familiären Zusammenhalts gibt, sind die über den Haushalt hinausreichenden familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen. Diese lassen sich in ihrer historischen Entwicklung noch weniger gut verfolgen als die Haushaltsformen. Hinweise darauf können z.B. Vererbungsregeln geben (siehe dazu z.B. Brettell 1991). Reher (1998) nennt zwei Aspekte des Familienlebens, die sich in ihrer historischen Entwicklung beobachten lassen: der Moment, in dem erwachsene Kinder einen Haushalt verlassen, sowie der Umgang von Familien mit ihren schwächsten Mitgliedern, den Kranken und den Alten (Reher 1998: 204). In beiden Bereichen stellt er Unterschiede in den Praktiken zwischen Nord-/Zentraleuropa und dem mediterranen Europa fest und verfolgt deren historische Wurzeln. So verließen die jungen Familienmitglieder in Südeuropa den elterlichen Haushalt eher spät, meist zum Zeitpunkt der Heirat oder etwas später, sobald ein eigener Haushalt gegründet werden konnte. Bis dahin arbeiteten die jungen Familienmitglieder im Familienbetrieb mit. Im Norden hingegen war es üblich, junge Familienmitglieder schon früh aus dem Haushalt zu entlassen und in andere Haushalte zur Lohnarbeit zu schicken, bevor diese eine eigene Familie gründeten. Ältere Familienmitglieder wurden, sobald not-
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wendig, im Süden stärker in familiäre Kontexte integriert als im Norden. Während die Entwicklung im Norden geprägt wurde durch den Protestantismus, die Industrialisierung und die relativ frühe Herausbildung von öffentlichen sozialen Institutionen (v.a. Armenbetreuung), werden für den Süden die katholische Prägung, gepaart mit arabischen Einflüssen, die spät einsetzende Industrialisierung und (zumindest bezüglich Süditalien) die starke Prägung durch feudale Verhältnisse in der Landwirtschaft genannt. Erst in neuerer Zeit, mit den Möglichkeiten der Erhebung und Verarbeitung größerer Mengen statistischer Daten, besteht die Möglichkeit, Familienbande anhand der residentiellen Nähe, der Kontakthäufigkeit und dem Fluss von Gütern und Unterstützungsleistungen unter Familienmitgliedern und Verwandten zu beurteilen. Der familiäre Zusammenhalt, gemessen an der Nähe der Wohnorte und der Häufigkeit von Interaktionen zwischen Familienmitgliedern, scheint in Italien, verglichen mit anderen europäischen Ländern, tatsächlich etwas enger zu sein (Barbagli 1996: 192). Die Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen scheint generell Sache der Frauen zu sein (Barbagli 1996: 193, 195). Es lassen sich aber auch Angleichungstendenzen mit anderen europäischen Ländern feststellen, insbesondere was die Gleichheit zwischen Ehepartnern sowie zwischen ehelichen und unehelichen Kindern betrifft; dennoch lassen sich gewisse nationale Eigenheiten beobachten (Barbagli et al. 2003). Typisch für Italien ist z.B., dass die Kinder das Elternhaus relativ spät verlassen, meist wenn sie heiraten. In der Regel ziehen sie dann in ein eigenes Haus, das von den Eltern mitfinanziert wurde. Heiraten sind häufiger als in Nordwesteuropa (Barbagli et al. 2003: 9f). Auch Kertzer/Saller (1991: 10f) stellen fest, dass sich Italien durch vergleichsweise wenig Konkubinatshaushalte und tiefe Scheidungsraten auszeichne, und führen dies auf die nach wie vor bedeutenden katholischen Familienwerte zurück. Trotz der katholischen Opposition bezüglich Empfängnisverhütung weist Italien aber auch eine besonders tiefe Geburtenrate aus – ein statistisches Faktum, das gegenwärtig wohl die meiste öffentliche Aufmerksamkeit bezüglich der ‚italienischen Familie‘ erhält (siehe z.B. Zontini 2004: 12). Aus den historischen Studien lassen sich aber nicht nur italienische Besonderheiten herauslesen, sondern auch regionale Unterschiede zwischen Nord-, Mittel- und Süditalien (Kertzer/Saller 1991, Barbagli/Kertzer 1992, Barbagli 1996). So gibt es Regionen, in denen die patrilineare Solidarität in der Verwandtschaft vorherrscht, wie z.B. in Mittelitalien. In Süditalien und Sardinien hingegen lässt sich eine Tendenz zur matrilinearen Solidarität feststellen. Grundsätzlich herrschte historisch in Nord- und Mittelitalien die multiple Haushaltsform vor, in der mehrere Familien mit ihren Kindern zusammen lebten. In Süditalien hingegen schien die Nuklearfamilie als Haushaltseinheit vorherrschend zu
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sein (Barbagli/Kertzer 1992: 16). Heute folgt die Entwicklung in Norditalien den generellen Trends in Europa, während sich im Süden dieser Wandel langsamer vollzieht. Der Grund dafür liegt aber, wie diese Ausführungen gezeigt haben, nicht unbedingt in der Tradition des Südens, sondern in der regionalen Abwesenheit des Wohlfahrtsstaates und der Unverlässlichkeit von Verwaltungs- und Sicherheitsorganen der nationalen Regierung (Ginsborg 1990: 417, Lanfranchi 1995: 81, Viazzo 2003: 132, Zontini 2004: 13). Doch nicht nur Haushaltsgröße und Zusammenhalt in der Familie gehören zu denjenigen Charakteristika, welche italienische Familien ausmachen sollen. Ein weiteres zentrales Stereotyp der ‚italienischen Familie‘, das oft reproduziert worden ist, bezieht sich auf die Geschlechterhierarchie in der Familie. ‚Italienische Familien‘ gelten als patriarchal geprägt. Man geht davon aus, dass Frauen den Männern deutlich untergeordnet und ihr Einflussgebiet auf den häuslichen Bereich beschränkt sei. Dem gegenüber steht ein anderes geschlechtsspezifisches Stereotyp, nämlich die außerordentlich starke Mutterzentriertheit, welche Mütter mit entsprechend großem Einfluss vor allem auf ihre Söhne ausstattet. Ein Konzept, das oft mit ‚der italienischen Familie‘ allgemein assoziiert wird, ist zudem der bereits erwähnte Ehre/Scham-Komplex. Kertzer und Saller (1991) schließen aus ihrem Überblick über historische Studien, dass das Konzept der Familienehre in Italien zwar verschiedenste Ausprägungen erfahren habe, dass es aber durchwegs eine Rolle gespielt habe, insbesondere im Hinblick auf die Jungfräulichkeit und sexuelle Treue der Ehefrauen und Töchter (Kertzer/Saller 1991: 17). In Süditalien schienen die Vorstellungen von Familienehre generell stärker ausgeprägt gewesen (Kertzer/Saller 1991: 18) und in abgelegenen, ländlichen Regionen auch heute noch sozial relevant zu sein (Wessendorf 2007b). Erklärt wird dies mit Einflüssen aus dem benachbarten nordafrikanischen Raum (Kertzer/Saller 1991, Reher 1998). Der Ehre/Scham-Komplex beinhaltet über die Kontrolle der weiblichen Sexualität zweifelsfrei ein gewisses Machtpotential der Familie gegenüber ihren weiblichen Mitgliedern. Allerdings sollte dieser Aspekt, zumindest für die in der vorliegenden Studie relevante Zeitspanne der Nachkriegszeit bis heute, nicht überschätzt werden. Ich betrachte den Ehre/ Scham-Komplex als eine von vielen kulturellen Normen, auf die zurückgegriffen werden kann, aber keineswegs muss, und die durchaus auch instrumentalisiert werden kann, wie die Geschichte von Serafina und Vittorio zeigt. Die Angemessenheit des Patriarchats-Labels für (süd)italienische Familien ist in der Literatur sehr umstritten (siehe z.B. Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992: 185f; Lanfranchi 1995: 93f). Auch die These der informellen „Frauenregentschaft“ (Lanfranchi 1995: 93) in Süditalien zur Rolle der ihre Ehemänner und Söhne dominierenden Mütter ist mit Vorsicht zu genießen. Festzuhalten ist, dass – auf den
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diesbezüglich weit besser dokumentierten Süden Italiens und auf ländliche Regionen bezogen – eine relativ starke Trennung der instrumentellen Rollenbereiche zwischen Männern und Frauen eine gewisse Tradition hat. Frauen kümmern sich eher um den häuslichen Bereich und arbeiten im familiären Betrieb mit, gehen aber selten außerhäuslicher Lohnarbeit nach. Männer vertreten eher den außerhäuslichen Bereich und übernehmen allfällig notwendige Lohnarbeiten, was in einigen Regionen und in bestimmten Produktionsformen auch zu längeren Abwesenheiten der Männer und damit zu temporären Rollenverschiebungen für Frauen führen kann. Dies gilt in etwa auch für die Zeit, in der die Arbeitsmigration ins nördliche Europa an Bedeutung zunahm und für diejenigen sozialen Schichten, die eine Migration vornehmlich in Betracht zogen. In der Migrationsliteratur wird, in Anlehnung an die Vorstellung des geschlechtlich segregierten Lebens in der Herkunftsregion, oft davon ausgegangen, dass die italienische ‚Gastarbeiter‘-Migration ins nördlichere Europa eine Bewegung von einem ungleichen, stark rollensegregierten Modell geschlechtlicher Arbeitsteilung in der Familie zu einem gleichberechtigteren Modell mit sich annähernden instrumentellen Rollen beinhalte. In der Migration sind meist beide Ehepartner erwerbstätig (aus Notwendigkeit wie auch aus Überlegungen der Nutzenoptimierung), und dies, so die allgemeine Annahme, ist für die Männer mit einem gewissen Statusverlust verbunden bezüglich ihrer Rolle als Ernährer der Familie (Haddad/Lam 1994: 167). Für Frauen hingegen bedeute die Erwerbstätigkeit zwar einerseits einen Statusgewinn, da sie nun auch über Einkommen verfügen (Haddad/Lam 1994), andererseits aber auch eine zusätzliche Bürde, da sie durch die Migration der Doppelbelastung von Familien- und Erwerbsarbeit ausgesetzt werden (Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992) und in der Migration oft nicht auf die Unterstützung der erweiterten Familie bei der Erledigung von Haus- und Kinderbetreuungsarbeit zählen können (Haddad/Lam 1994: 179). Die Migration, so Allemann-Ghionda und Meyer Sabino, bringe prinzipiell eine objektive Emanzipation mit sich, nicht nur für die Familie, sondern auch für die Individuen (1992: 119f). Somit beinhalte sie auch ein Emanzipationspotenzial für Frauen, die Möglichkeit einer Befreiung aus den patriarchalen Verhältnissen, einer Verwischung der klar getrennten geschlechtlichen Rollen und Aufgabenbereiche. Die objektive Emanzipation der Frauen durch die Aufnahme einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit, so die Autorinnen aufgrund ihrer Studienergebnisse, führe aber häufig nicht zu einer subjektiven Emanzipation. Die Erwerbstätigkeit diene der Verbesserung der Familiensituation, nicht der persönlichen Entwicklung (Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992: 137). Die Rollenaufteilungen innerhalb der Familie blieben, trotz vielleicht egalitäreren Ent-
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scheidungsfindungen und ökonomischem Gleichgewicht zwischen den Ehepartnern, oft klar geschlechtlich segregiert. Die Frage bleibt, ob, auch wenn die Einheit Familie der Hauptfokus der Migrationsprojekte war, innerhalb dieses Rahmens nicht durchaus auch kleine individuelle Emanzipationsprojekte verwirklicht werden konnten, wie z.B. die Geschichte von Frau Santo zeigt. Die Migration hatte aber dennoch, so Meyer Sabino (2003b), für Frauen nicht dieselben Auswirkungen wie für Männer71. Die Autorin spricht zum Beispiel die familiären Trennungserfahrungen an und die daraus entwickelten Strategien der Überbrückung zwischen imaginierter und gelebter Wirklichkeit, welche vor allem diejenigen Frauen besonders treffe, die ihren Ehemännern gefolgt seien, da diese die Strapazen der Migration unfreiwillig auf sich nehmen würden. Dies schließt Meyer Sabino vermutlich daraus, dass in patriarchalen Familienverhältnissen die Entscheidungsmacht über familiäre Handlungsstrategien dem Ehemann obliege. Weiter weist Meyer Sabino (2003b) darauf hin, dass für italienische Frauen eine Verschiebung der traditionellen Rollen in der Migration stattgefunden habe: Der ihr traditionell zugeschriebene häusliche Aufgabenbereich als Hausfrau und Mutter wurde in der Migration um die Erwerbstätigkeit erweitert. Im Gegensatz zu den Männern, deren Migrationserfahrungen mit den traditionellen Rollen übereinstimmten, erführen die Frauen in der Migration die Diskrepanz zwischen verinnerlichter und nach außen gelebter Rolle, was für sie eine zusätzliche Belastung bedeute (Meyer Sabino 2003b: 204). Laut den ethnographischen und historischen Studien zu Süditalien war es zwar offenbar tatsächlich eher unüblich, dass Frauen Erwerbsarbeit leisteten – dies geschah nur im äußersten Notfall (siehe z.B. Fiume 2002, Gabaccia/Iacovetta 2002, Reeder 2003, Gower Chapman 1971). Dennoch bleibt die Frage offen, ob Ehefrauen, die ihren Ehemännern in die Migration folgten, dies derart unfreiwillig taten und ob die Erwerbstätigkeit sie tatsächlich mit gänzlich unbekannten sozialen Umfeldern und Anforderungen konfrontiert hat. Aus den Schlussfolgerungen von
71 Diesbezüglich stellt Meyer Sabino (2003) zwar auch Unterschiede zwischen Migrantinnen aus Norditalien und Süditalien fest, die sie vor allem in der Motivation zur Migration sehen: Für Frauen aus dem Norden war die Motivation eher die persönliche Freiheit und die Chance auf berufliche Weiterentwicklung, für Frauen aus dem Süden war es eher der Unterhalt der Familie, die Nähe zum Ehemann und die Zukunftssicherung der Kinder. Dem entsprechend handelte es sich bei Migration aus dem Norden in der Regel um Einzelmigration, bei derjenigen aus dem Süden jedoch um Familienmigration (Meyer Sabino 2003). Trotzdem steht hinter den folgenden, Allgemeingültigkeit postulierenden Ausführungen von Meyer Sabino immer das Bild der süditalienischen ländlichen Familie.
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Allemann-Ghionda und Meyer Sabino spricht das Bild der aus unterdrückerischpatriarchal-ländlichen Verhältnissen stammenden machtlosen Ehefrau, und dem nach eigenen Gutdünken agierenden männlichen Familienoberhaupt, das über Ehefrau und Kinder frei bestimmt. Die Allgemeingültigkeit dieses Bildes jedoch hält der Empirie nicht stand. Eine differenzierte Sichtweise ist auch bezüglich der These der ungenutzten Emanzipationspotenziale angebracht. Auch wenn eine Migration durchaus emanzipatorisches Potenzial im Sinne einer Befreiung aus familiären Verpflichtungen in sich birgt – und dies gilt für Frauen genauso wie für Männer – so ist dennoch nicht zu vergessen, dass nicht immer nur individuelle, sondern sehr oft familiäre Migrationsprojekte verfolgt werden. Deshalb beinhaltet eine Migration nicht nur das Potenzial zum Wandel von familiären Strukturen und Geschlechterverhältnissen, sondern genauso zur Persistenz. Auch Haddad/Lam (1994), die sich auf die geschlechtliche Arbeitsteilung unter nach Kanada migrierten italienischen Paaren konzentrieren, kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Migration legt die Zusammenlegung von Ressourcen und die Nutzung familiärer Solidaritätsbeziehungen nahe. Die relativ schlechte Position, die Migrant/innen in der Aufnahmegesellschaft zugewiesen bekommen, macht es notwendig, die familiären Ressourcen zusammenzulegen, und das beinhaltet nicht nur den Eintritt der Frauen in die außerhäusliche Erwerbsarbeit, sondern auch die Übernahme von Haushalts- und Kinderbetreuungsaufgaben durch die Männer. Wie die Studie von Haddad und Lam (1994) gezeigt hat, haben sich die Geschlechterverhältnisse und die geschlechtsspezifische Aufteilung der Arbeiten innerhalb der untersuchten Paare dadurch jedoch nicht grundlegend verändert. Vielmehr handelt es sich bei Rollen- und Aufgabenvermischungen um temporäre Anpassungsstrategien des Haushaltes, nicht um definitive Neukonstitutionen des Geschlechterverhältnisses72. Einzig in Familien, die durch Umstände außerhalb ihres Einflussbereiches dauerhaft dazu gezwungen werden, ihre Ressourcen zusammenzulegen und ihre Kooperationsmuster zu verändern (z.B. durch Invalidität eines der Partner), lassen sich gewisse Angleichungstendenzen feststellen (Haddad/Lam 1994: 180). Die Autoren schließen daraus, dass Veränderungen in der Familie durch die weibliche Erwerbstätigkeit eher eine Anpassung an Anforderungen des neuen sozio-ökonomischen Umfeldes reflektieren, als eine Angleichung an die nordeuropäisch-angloamerikanische Familienstruktur der Kernfamilie.
72 Zu ähnlichen Resultaten kommen Gather (1996) bezüglich der Rollenveränderungen bei deutschen Paaren im Übergang zum Ruhestand und Richter (2000, 2006) in Bezug auf die Arbeitsteilung bei spanischen Paaren in der Schweiz.
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„The explanation that gender dynamics within immigrant families become egalitarian as a result of migration, and the tradition-to-modernity theory that has evolved as a result of such an argument hides more than it explains, and has been heavily criticized as not accurately reflecting the real life experiences of both women and men in immigrant families. First, most women in less industrialized nations have always worked whether or not this work is paid and whether or not it is performed within the formal economy. Second, the conceptualization of less industrialized areas of the world as ‚traditional‘ and those industrialized as ‚modern‘ and more egalitarian is more ideological than factual. In fact, this conceptualization of the process of change put forth by western academics is eurocentric and does not recognize the positive and empowering aspects of community and extended family in the less industrial parts of the world; nor does it recognize the negative and disempowering aspects of individualism and nuclear family structures for those living in so-called modern societies.“ (Haddad/Lam 1994: 168)
Diese kulturassimilations-kritische Perspektive, die den Kontextbedingungen im Aufenthaltsland größeres Gewicht beimisst als die psychologisch orientierten Studien zur italienischen Migration in die Schweiz (Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992, Lanfranchi 1995, Meyer Sabino 2003a und 2003b, Frigerio Martina/Merhar 2004), entspricht der theoretischen Positionierung der vorliegenden biographischen Studie und deckt sich, wie die Fallanalysen noch zeigen werden, auch mit meinen empirischen Beobachtungen. Doch schauen wir nun noch etwas genauer auf diejenige Funktion der Familie, die im Kontext des Alterns von besonderem Interesse ist: die gegenseitige Unterstützung und Pflege. Das Klischee vom engen familiären Zusammenhalt bei italienischen Migrant/innen und dem entgegen gesetzten individualisierten, distanzierten familiären Kontakt bei Schweizer/innen äußert sich im Hinblick auf das Alter besonders prägnant in der Frage, ob benötigte Unterstützungsleistungen ganz selbstverständlich innerhalb der Familie geleistet würden/werden müssen, oder ob dazu außerfamiliäre Dienstleistungen genutzt werden sollen/müssen. Die Frage nach der Zuständigkeit für die Betreuung von Betagten kulminiert im stereotypisierten Gegensatz Altersheim versus Pflege in der Familie. Das Altersheim, das als in der Schweiz übliche Betreuungsform von hochbetagten Menschen wahrgenommen wird, erscheint, so das Stereotyp, italienischen Migrant/innen als absolut unattraktive Zukunftsoption. Als nahe liegende Alternative bietet sich der Rückgriff auf die eigenen Kinder im Falle von Pflegebedürftigkeit an. Dafür gibt es, so wird argumentiert, traditionelle Anknüpfungspunkte. Auf den ersten Blick ist das auch durchaus einleuchtend. In Italien – insbesondere im Süden – sind Altersheime tatsächlich seltener als in der Schweiz, die Betreuung von betagten Familienangehörigen wird stärker von jüngeren Familienmitglie-
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dern übernommen. Auch dieser Unterschied kann mit historischen Wurzeln in der Entwicklung familiärer Strukturen erklärt werden. Gemäß Reher (1998: 208f) ist eine der zentralen Aufgaben der Familie die Organisation der Solidarität mit den Bedürftigen und Verletzbaren unter den Familienmitgliedern. Ein gutes Beispiel dafür ist die Situation von Betagten. Obwohl vor der Einführung moderner Pensionssysteme in ganz Europa fast ausschließlich die Familie für das Wohlergehen der Alten zuständig war, umfasste dies laut Reher (1998) im mediterranen Europa mit seinen starken Familienbanden deutlich mehr: „In Mediterranean Europe, the care of the elderly fell almost exclusively on the family, whether it was carried out by means of coresidence, the circulation of the elderly among the households of their offspring, or the spatial proximity between the homes of the elderly and those of their children: all of these alternatives entailed transfers of goods and services from the families of the offspring toward their elderly parents.“ (Reher 1998: 209)
Die Unterschiede zwischen Nord-/Zentraleuropa und Südeuropa zeigen sich, so Reher, bis heute. Zwar ist auch außerhalb des mediterranen Raumes weitgehend die Familie für das Wohlergehen betagter Menschen zuständig, doch ist dort in letzter Instanz die Kollektivität verantwortlich. In Nord- und Zentraleuropa herrscht residentielle und ökonomische Autonomie vor, und es wird bei Unterstützungsbedarf häufiger auf institutionelle Pflegeangebote wie Heime zurückgegriffen. Im Süden hingegen ist das Angebot an solchen Pflegeinstitutionen viel beschränkter. Beide Kontexte sind von intergenerationeller Reziprozität gekennzeichnet, doch diese wird unterschiedlich verstanden. Im nord-/zentraleuropäischen Kontext ist die Vorstellung vom Individuum als autonomer Einheit stärker ausgeprägt, im südeuropäischen hingegen diejenige von der Familie als solidarischer Einheit (Reher 1998: 212). Detaillierte historische Analysen hingegen lassen die klare Unterscheidung zwischen einem nord- und südeuropäischen Modell der Altenbetreuung allerdings wieder fraglich erscheinen, wie Viazzo (2003: 129f) aufzeigt. Demnach stützt sich die These der größeren Betreuungsleistungen der erweiterten Familie gegenüber ihren alten und schwachen Mitgliedern im Süden Europas, wie auch die entgegengesetzte These der ‚nuclear hardship‘73 im Norden (Laslett 1989), auf eine zu starke Fokussierung auf die
73 Dieser Begriff bezeichnet die eingeschränkte Fähigkeiten von Nuklearfamilien, bei Bedarf zusätzliche Mitglieder mitzutragen, was wiederum bedeutet, dass Gesellschaften mit einer hohen Anzahl von Nuklearfamilien mehr kollektive Verantwortung
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Zusammensetzung der Haushalte. Denn das Kriterium der Ko-Residenz ist nur eine von vielen möglichen Formen der familiären Unterstützung und Pflege. Und über regionale wie historische Gegebenheiten hinweg scheint die Familie durchwegs einen beträchtlichen Teil von Wohlfahrtsleistungen zu übernehmen. Und so stellt sich die Frage, ob statistisch nachweisbar hohe Quoten der KoResidenz, wie sie z.B. in Süditalien bis heute bestehen, tatsächlich auf kulturelle Unterschiede zurückzuführen sind, oder ob sie sich nicht besser erklären lassen durch die historischen Besonderheiten der institutionellen Entwicklung von Wohlfahrtsangeboten (Viazzo 2003: 132). Klarheit in diese Frage könnte unter anderem auch die Migrationsforschung bringen. Denn was passiert mit der Tradition der Altenpflege und der Betonung der Familie als solidarischer Einheit und primärer Wohlfahrts-Institution in der Migration? Laut Dietzel-Papakyriakou (1993, 2001, 2005) spielt in der Migration die Familie (und, quasi als Erweiterung der Familie, die ‚ethnische Gemeinschaft‘) eine ganz zentrale Rolle für das Altern von Migrant/innen. In der mit Unsicherheiten verbundenen Phase der Migration erhält die Familie besonderes Gewicht als Ort der emotionalen und ökonomischen Sicherheit. Ganz konkret werden Familienzusammenhalt und Solidarität gegenüber Alten auch dadurch gestärkt, dass die Großelternrolle durch die in der Migration deutlich zunehmende außerhäusliche Erwerbsarbeit eine neue Bedeutung erhält. „Given the burdens specific to the foreign cultural context, the family functions as a place of relief and social-emotional support. The more negative the social context, the more the family develops to represent a place where members are sure to experience positive affirmation. The family thus becomes a refuge. In cases of limited material resources, family members depend on each other for material support. Elderly members receive more assistance because their assistance is likewise needed. “ (Dietzel-Papakyriakou 2001: 89)
Diese Sichtweise betont hingegen gerade die Migrationserfahrung, und nicht die kulturelle Tradition der Herkunftsgesellschaft, und stützt somit die These, dass familiärer Zusammenhalt nicht herkunftsbedingt, sondern als Reaktion auf Anforderungen der neuen Umwelt nach der Migration zu verstehen ist. Der Aspekt der intergenerationellen Solidarität steht auch im Zentrum der schweizerischen Forschung zum Altern in der Migration. Damit auseinander gesetzt hat sich die Studie von Bolzman/Fibbi/Vial (2001). Ausgehend von der Grundthese, dass sich für Arbeitsmigrant/innen bei der Pensionierung die Frage
für schwache Mitglieder in Form von kirchlichen oder staatlichen Wohlfahrtsinstitutionen übernehmen müssen.
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nach der Legitimation ihres Aufenthaltes stelle74, fragen die Autor/innen nach dem Potenzial der Familie als Legitimationsstifterin. Der Aufenthalt der Familie, insbesondere der Kinder und Enkelkinder, in der Aufenthaltsgesellschaft kann zu einer neuen Legitimationsquelle werden, kann den Aufenthalt rechtfertigen und mit Sinn füllen, sowohl für die pensionierten Migrant/innen wie auch für die Aufenthaltsgesellschaft. Ausgehend von dieser These versuchen Bolzman, Fibbi und Vial (2001), dem Wesen der familialen Beziehungen von italienischen und spanischen Migrant/innen nachzugehen und, soweit möglich, auch mit der Schweizer Bevölkerung zu vergleichen. Folgende Punkte erscheinen in der Studie als spezifisch für die untersuchten spanischen und italienischen Familien in der Schweiz: Verwandtschaftliche Netzwerke erstrecken sich über lange Distanzen und sind, meist entlang von Generationenlinien, über Herkunfts- und Aufenthaltsland verteilt. Die Kinder dieser Familien leben in der Regel länger bei ihren Eltern und pflegen etwas intensivere Kontakte. Beziehungen zu den (meist im Herkunftsland lebenden) Großeltern sind eher lose, intensivieren sich aber in Krisenzeiten. Die intergenerationelle Solidarität, in der Studie gemessen am Austausch von Dienstleistungen und Finanzen, ist sehr ausgeprägt. Die Autor/innen erklären dies mit dem üblichen Migrationsprojekt, welches in der Regel eine Aufwärtsmobilität über zwei Generationen vorsehe. Daraus ergebe sich, dass die Verwirklichung der Pläne der Kinder wichtiger sei als die der eigenen. Als Beispiel für die intergenerationelle Solidarität wird das Enkelkinder-Hüten speziell hervorgehoben: Pensionierte italienischen und spanischen Ursprungs übernehmen weit häufiger regelmäßige Betreuungspflichten für Enkelkinder als Schweizer Pensionierte75. Die Bereitschaft der Kinder, ihre Eltern im Alter zu sich zu nehmen, ist etwas grösser als bei Schweizern. Dass die Kinder und Enkelkinder sich im Aufenthaltsland befinden, scheint vor allem für Frauen der ausschlaggebende Punkt zu sein, sich nach der Pensionierung für einen Verbleib im Aufenthaltsland zu entscheiden. Männer hingegen scheinen eher eine Rückkehr in Betracht zu ziehen, trotz der familiären Bindungen im Aufenthaltsland (Bolzman/Fibbi/Vial 2001). Die Unterstützungsleistungen innerhalb der Familie wurden nicht nur von Frauen, sondern in erheblichem Maße auch von Männern erbracht. Die konkrete
74 Dies wird nötig hinsichtlich struktureller Rechtfertigung von Seiten der Aufenthaltsgesellschaft wie auch in Bezug auf den Sinnverlust des ursprünglichen Migrationsprojektes. 75 Allerdings nimmt in der Schweiz die Übernahme von Enkelbetreuungspflichten durch Pensionierte allgemein an Bedeutung zu, wie neuere Studien zu den Generationenbeziehungen (z.B. Perrig-Chiello/Höpflinger 2008) festhalten.
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Art der Unterstützung hingegen weist geschlechtsspezifische Charakteristika auf (zu einem ähnlichen Ergebnis kommen diesbezüglich auch Baldassar et al. 2007). Die festgestellten Unterschiede zwischen autochtoner und migrierter Bevölkerung sind in der Studie von Bolzman et al. (2001) nicht riesig, aber doch feststellbar. Diese Unterschiede können zum Teil auf unterschiedliche soziokulturelle Prägungen zurückgeführt werden, wie z.B. Fibbi (2003: 245) dies tut, zum Teil handelt es sich aber auch um Anpassungsstrategien an das gesellschaftliche und soziale Umfeld des Aufenthaltskontextes vor dem Hintergrund der Erfahrungen, welche die Menschen als Migrant/innen in der Schweiz gemacht haben. So verstanden manifestiert sich die Familie als Solidargemeinschaft, die sich flexibel auf äußere und innere Anforderungen einstellen kann, und nicht als starres, kulturell geformtes Gefüge, das in der Migration mit einer anderen kulturellen Umgebung in Konflikt gerät. Wie obige Ausführungen aufgezeigt haben, ist es schwierig, sich ein einheitliches Bild zurecht zu legen davon, was ‚die italienische Familie‘ ausmacht und was mit dieser Familie in der Migration geschieht. Was jedoch deutlich wird, ist dass Familien sehr anpassungsfähige soziale Gebilde sind, die unterschiedlich große ökonomische und residentielle Einheiten bilden und in mehr oder weniger loser Form mit anderen, durch Verwandtschaft verbundenen ökonomischen und residentiellen Einheiten zusammengeschlossen sind. Diese Sichtweise betont die Anpassungsfähigkeit von Familien an Anforderungen ihres Umfeldes: „Family historians commonly portray families as the principal adaptive mechanism people have to cope with a political and economic system. Where family units are also productive units, the requirements of production affect family form and family relationships. Where individuals, and not families, are the productive units, families serve to pool income and to meet such economic needs as housing, food, and child rearing. Given this relation, changes in the economic system may stimulate changes in the family system, and people occupying different positions in the economy may exhibit different patterns of family organization.“ (Kertzer/Saller 1991: 8f)
Eine Migration bringt beträchtliche Veränderungen im politischen und ökonomischen Umfeld mit sich, die Anpassungen verlangen. Welche Form der Kohabitation dabei die beste ist, hat insofern weniger mit der Herkunft zu tun, als mit dem Kontext des Aufenthaltsortes der Familie. Die stärkere Bezugnahme auf familiäre Ressourcen – sei es durch Kohabitation oder durch andere Formen des Ressourcenpoolings – ist eine historisch bewährte Strategie in Zeiten ökonomischer Krisen, oder in bestimmten Phasen des Lebenslaufs, z.B. bei Verwitwung. Das Zusammenlegen von Haushalten z.B. ist, wie Studien zu Urbanisierungsten-
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denzen im Zuge der Industrialisierung zeigen, eine wirksame Strategie, um die Einkommen und Vermögen verschiedener Generationen zu konzentrieren, die Kosten für Haus oder Wohnung gering zu halten und sich die Kinderbetreuung aufzuteilen (siehe z.B. Haber 2006: 64, Hareven 1994: 24). Migration führt auch im Kontext der Land-Stadt-Migration zu einer Stärkung familialer Solidaritätsnetzwerke, doch nicht im Sinne einer simplen Reproduktion von Mustern, die aus dem Herkunftskontext des ländlichen Dorflebens importiert werden, sondern im Sinne einer kreativen Anpassung an die Bedingungen und Anforderungen der neuen Umwelt, der Fabrikarbeit in der Stadt (Hareven 1994). Dadurch wird noch einmal deutlich, dass die Aufnahme alter und pflegebedürftiger Angehöriger im eigenen Haushalt lediglich eine mögliche Form der Ausübung von familiärer Pflege und Unterstützung ist, die nicht einfach auf kulturelle Werte zurückgeführt werden kann, sondern gewählt wird, wenn sie den jeweiligen Lebensumständen angepasst erscheint. Wenn Ko-Residenz verschiedener Generationen heute auch relativ selten ist – sowohl in der Schweiz wie auch in Italien – so deuten verschiedene Studienergebnisse darauf hin, dass Familienmitglieder oft sehr nah beieinander wohnen und rege Kontakte pflegen. Geographisch nahe liegende Kontakte können wesentlich einfacher intensiviert werden, wenn Bedarf an Unterstützung auftaucht, als Beziehungen, die sich über weite Distanzen erstrecken. Doch selbst große geographische Distanz aufgrund der Migration einzelner Familienmitglieder ist, insbesondere in der modernen, globalisierten Welt, kein namhaftes Hindernis in der Ausübung von familiären Pflege- und Unterstützungspflichten, wie Studien zum gegenwärtig viel beachteten Thema der ‚transnational care‘76 aufzeigen (siehe z.B. Baldassar/Baldock 2000, Baldassar et al. 2007, Baldassar 2007 und 2008, Zontini 2004, 2006 und 2007). Die Studien zu familiärer Pflege über weite Distanzen wie auch über nationale Grenzen hinweg machen zudem noch einmal deutlich, dass die Verpflichtung und die Bereitschaft zu familiärer Pflege und Unterstützung nicht nur von der soziokulturellen Prägung im familiären Herkunftskontext abhängig ist, sondern ebenso von den Möglichkeiten und Bedingungen der involvierten Lebensumfelder und deren nationalstaatlicher Kontexte (vgl. Baldassar 2008).
76 Die geographische Distanz beschränkt das ‚Sorgen‘ (‚care‘) allerdings auf Tätigkeiten und Leistungen, welche über die Distanz auch geleistet werden können. Typischerweise handelt es sich dabei um Kommunikation (Telefonanrufe) und um Geldüberweisungen. Von zentraler Bedeutung sind auch längere Besuche bei besonderen Ereignissen wie Geburten, Hochzeiten, Erkrankungen, Todesfällen etc.
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Wenn die familiären Beziehungen unter migrierten Italiener/innen in der Schweiz tatsächlich enger wären als diejenigen der Schweizer/innen77, dann lässt sich dies nicht nur damit erklären, dass die Familie für Italiener/innen kulturell bedeutungsvoller wäre, sondern hat vor allem auch damit zu tun, dass das Leben in der Migration gewisse Einschränkungen mit sich bringt, die es nahe legen, auf familiäre Beziehungen zur Unterstützung zurückzugreifen. Die den italienischen Migrant/innen-Familien oft zugeschriebene familistische Ideologie erscheint unter diesem Blickwinkel nicht als essentielles kulturelles Spezifikum, sondern vielmehr als migrationsbedingte und durch die soziale Stellung im Aufenthaltskontext geprägte Strategie, welche durchaus auch durch Selbstethnisierungsbemühungen begleitet werden, wie sie z.B. Wessendorf (2008: 211) für die zweite Generation in der Schweiz oder Boscia-Mulè für italienische Migrant/innen in den USA festhalten: „In conclusion, familism is more than an ideological package that families internalize in varying degrees depending on their assimilation level; above all, and beyond its ideological coating, familism is an expression and a corollary of power: It is indeed – as some social scientists assert – a coping strategy by which ethnic families counterbalance cultural and structural marginality with the sense of strength and legitimacy provided by their private cultural world; it finds different expressions in concomitance to the power position of families within segments of the ethnic social structure (that is, lower-class families living within a cohesive ethnic milieu may be less likely to relinquish traditional family patterns for fear of jeopardizing their prestige in the community).“ (Boscia-Mulè 1999: 34) „In the Swiss context, the imagined (and mystified) family served as an ideological construct to demonstrate ethnic particularity and difference. Hence, while there emerged a ‚myth of the Italian family‘, rooted in the concrete experience of loss and separation, the ,united Italian family‘ also evolved as a marker of ethnic assertion in confrontation with the majority society and other migrant groups.“ (Wessendorf 2008: 211)
Dabei spielt zwar die Herkunft als Ethnisierungsvorlage eine Rolle, zentral sind aber die Anforderungen des jeweils aktuellen Lebensumfeldes, wie das Beispiel der Kinder- und Enkelbetreuung zeigt. Die anfänglich im Vergleich zu Schwei-
77 Dass intergenerationelle Solidarität in der Familie und familiäre Pflege- und Untersützungsleistungen auch in den wohlfahrtsstaatlich gut ausgestatteten nordwesteuropäischen Gesellschaften eine zentrale Rolle spielen, zeigen z.B. die Studien von Szydlik (2007) und Perrig-Chiello et al. (2008).
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zer/innen in ähnlichen Beschäftigungsverhältnissen deutlich schlechteren Löhne von italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘, die hohen Lebenskosten in der Schweiz und die hoch gesteckten finanziellen Ziele, die mit der ‚Gastarbeiter‘-Migration in der Regel verbunden waren, legten es nahe, dass nicht nur eine, sondern mehrere Personen pro Haushalt mitverdienten. Waren aber beide Ehepartner erwerbstätig, so musste für allfällige Kinder eine Betreuung organisiert werden. Meist gab es für italienische Paare mit Kindern zwei Optionen: Die Kinder in einer Kinderkrippe betreuen zu lassen, oder sie zu Verwandten nach Italien zu schicken. Insofern erstaunt es wenig, dass die Bereitschaft zur Betreuung von Enkelkindern nach der Aufgabe der Erwerbstätigkeit hoch ist. Dies kann zwar einerseits wieder mit der kulturellen Prägung von Italiener/innen erklärt werden, hat aber meines Erachtens genauso viel mit der Migrationserfahrung zu tun, dass die heutigen Großeltern aufgrund der Migration ihre in gewissem Sinne verpasste Elternschaft als Großeltern nachholen. Die große Bereitschaft, die Kinder in ihrer Erwerbstätigkeit zu unterstützen, kann in gleicher Weise auf die selber gemachten Erfahrungen zurückgeführt werden. Darüber hinaus ist, wie Bolzman/Fibbi/Vial (2001) betont haben, die Ausrichtung des Migrationsprojektes auf die Familie und insbesondere auf die Generation der Kinder dabei von großer Bedeutung. Ein weiterer Erklärungsansatz für die hohe Bereitschaft, sich für die Kinder und Enkelkinder zu engagieren, könnte auch darin liegen, dass ehemalige ‚Gastarbeiter/innen‘ trotz der tendenziell marginalen Position in der Aufnahmegesellschaft ebenfalls davon profitieren, dass die historische Generationenlagerung den Pensionierten in der Schweiz im Moment ein historisch einmaliges ‚goldenes Alter‘ (EKFF 2006: 59) beschert, das sie mit gesicherten Renten und optimaler Gesundheitsversorgung in ein potenziell lang dauerndes Nacherwerbsleben mit vielfältigen Optionen der Zeitgestaltung entlässt. Demnach bleibt nach der Pensionierung viel Zeit und Energie übrig, was es überhaupt erst erlaubt, sich namhaft in der Enkelbetreuung zu engagieren. Selbst wenn Präferenzen sich an Traditionen des Herkunftskontextes orientieren, so sind es in der praktischen Ausgestaltung dennoch die Bedingungen des Aufenthaltskontextes, welche die Handlungsoptionen von alternden Migrant/innen entscheidend mit beeinflussen. Sowohl die Unterbringung der Kinder während der eigenen Erwerbstätigkeit wie auch die Gestaltung des Alltags als Pensionierte orientieren sich zudem an den Bedingungen und Angeboten des Aufenthaltslandes. Die Migrant/innen, so meine empirischen Erfahrungen, sind sich der Vor- und Nachteile des Alterns in der Schweiz gegenüber der Situation ihrer Altersgenoss/innen in Italien durchaus bewusst. So würden es beispielsweise einige meiner Interviewpartner/innen zwar schätzen, im pflegebedürftigen Alter bei einem ihrer Kinder zu leben, halten dies aber gleichzeitig für unrealistisch. Des
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Weiteren zeigt sich deutlich, dass fehlende Ko-Residenz in keiner Weise gleichbedeutend ist mit fehlender Solidarität und Unterstützung – und dies gilt nicht nur für die Migrationsbevölkerung, sondern in gleicher Weise auch für Schweizer/innen (siehe z.B. Höpflinger/Stuckelberger 1999, Perrig-Chiello et al. 2008). Die Frage nach der Bedeutung von intergenerationeller Solidarität in der Familie im Kontext des Alterns in der Migration ist also, so möchte ich abschließend noch einmal festhalten, keine reine Frage der kulturellen Traditionen. Zum einen weisen Erwartungen an und Bereitschaft zu intergenerationeller Pflege und Unterstützung einen familiär-biographischen Charakter auf. Pflegeund Unterstützungsleistungen zwischen Eltern und Kindern sind ungleich verteilte, aber über den Lebenslauf hinweg reziproke Verpflichtungen, und die individuellen Erwartungen an sowie Bereitschaft zu Pflegeleistungen sind abhängig von den familiären Erfahrungen über mehrere Generationen. Zum anderen sind familiäre Solidaritätsnetzwerke eingebunden in lokale und nationalstaatliche Kontexte und deren spezifische Eigenheiten. Erstrecken sich familiäre Netzwerke aufgrund von Migration über transnationale Räume, so vervielfachen sich die relevanten Kontexte. Diese multiple Referentialität widerspiegelt sich exemplarisch in Serafina Santos Abwägen über ihre eigenen Optionen im Alter – vielfältige Optionen, welche eine Entscheidung nicht einfach machen: S: Io ci ho una bella casa giù. Tutta
S: Ich hab ein schönes Haus unten. Voll
mobiliata. Io potrei andare solo con la
möbliert. Ich könnte bloß den Koffer
valigia, e stare giù. [..]
nehmen und unten leben.
E: E Lei ha anche voglia di fare questo?
E: Und haben Sie auch Lust, das zu machen?
S: Eh, non lo posso dire perché [.] giù [.]
S: Eh, das kann ich nicht sagen, denn dort
c’è il sole, [.] ci sono le amiche, ci sono
gibt’s die Sonne, die Freundinnen, all
tutte queste. Qui [.] ci ho le due figlie,
das. Hier habe ich die beiden Töchter,
con i nipotini, [.] ci ho che posso fare
mit Enkelchen, ich kann Therapie ma-
la terapia, ci ho che posso andare [.] in
chen, ich kann in die Stadt gehen, wann
città quando voglio. Qui ci ho le ami-
ich will. Habe Freundinnen hier, gehe
che, [lacht kurz] vado alla ginnastica,
zur Gymnastik, gehe überall hin, und
vado [.] a tutte, e [.] e questo lì mi
das fehlt mir dort. – Wenn ich dort bin,
manca. [..] Quando sono lì, [.] mi
fehlt mir das. Wenn ich hier bin, fehlt
manca questo. Quando sono qui, mi
mir das unten. [klopft auf den Tisch] Eh,
manca giù. [klopft auf den Tisch] Eh,
ich weiß nicht mehr, wie das enden
non lo so più, questa cosa-là finisce. Io
wird. Ich hab meinem Mann gesagt:
ho detto a mio marito: „Aspettiamo
„Warten wir noch, vier, fünf Jahre, so-
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ancora [.] quattro, cinque anni, finché
lange es uns gut geht“, [laut und schnell
stiamo bene“, [.][laut und schnell ge-
gesprochen:] aber wenn du dann krank
sprochen:] ma quando sei malata, non
bist, willst du ja auch nicht mehr
vuoi andare neanche giù. Perché qui,
runtergehen. Denn hier, denke ich, hast
penso che ci ha l’ospedale, tutte cose
du das Spital, all die guten Dinge, die
bene che ti curano. [.] Però io non
dich heilen. Aber ich will hier nicht in
voglio andare in un’,Altersheim‘ qua,
ein Altersheim. Weil unten in Italien, da
dei vecchi. Perché giù in Italia, [.] si
nimmt man sich eine Person, man lässt
prendono una [.] una persona, si fanno
sich bedienen, und mit der Pension, man
servire, e con la pensione, stanno a
bleibt bei sich zu Hause, bis man stirbt.
casa sua finché muoiono le persone. E
Und man wird gut bedient! Man wird
sono serviti bene! Sono serviti. Invece
bedient! Hier hingegen musst du ins Al-
qua [.] devi andare al’,Altersheim‘, [.]
tersheim gehen, musst all den Alten zu-
devi sentire tutti i vecchi della casa, [.]
hören im Heim, und das ist auch übel,
ed è anche brutto, sa. [.] E’ bello che
wissen Sie. Es ist schön, in Gesellschaft
sei in compagnia. Però, in Italia, è
zu sein. Aber, in Italien, da ist es auch
anche bello, la vecchiaia, passarla a
schön, das Alter, wenn du es zu Hause
casa tua, con le tue cose, finché muori.
verbringen kannst, mit deinen Sachen, bis du stirbst.
E: E che [.] quale persona era? E’ una persona che si paga? S: Si pagano, questi sono persone che
E: Und was wäre das für eine Person? Jemand den man zahlt? S: Die bezahlt man, das sind Personen, die
vogliono aiutare gli anziani, [.] però [.]
den Alten helfen wollen, aber dafür
devono prendere anche qualcosa, in
müssen sie auch etwas nehmen, monat-
mensile, sa.
lich, wissen Sie.
E: E stanno in casa? [.] Abitano in casa, dormono, per [.] 24 ore? S: Sì. C’è quella che la vuole notte e
E: Und sie leben im Haus? Wohnen im Haus, schlafen, 24 Stunden? S: Ja. Es gibt solche, die bleiben Tag und
giorno. C’è quella che ci va solo al
Nacht. Es gibt auch solche, die nur am
giorno. A secondo le condizioni e la
Tag kommen. Je nach den Umständen
vecchiaia. Ma adesso abbiamo tanti.
und dem Alter. Aber jetzt haben wir
[..] Albanesi, [.] della [..] della Polonia
ganz viele. Albaner, aus Polen und noch
e di un altro paese pure. Che vengono.
aus einem anderen Land. Die kommen.
Giù. Che vogliono fare questo lavoro
Runter. Die diese Arbeit machen wollen,
per guadagnare qualcosa. [.] Belli
um etwas zu verdienen. Gute Leute, und
ragazzi, ma come gli tengono puliti,
wie sie die gut umsorgen, diese Alten,
quelli vecchietti, ma come – Sono con-
und wie sie – sie sind zufrieden, also.
tenti, sono. Contenti di come gli
Zufrieden, wie sie gepflegt werden. Und
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curano. [.] E stanno a casa sua. La
sie wohnen zu Hause. Die Pension wird
pensione [.] se ne va così per pagare a
dafür gebraucht, um die zu bezahlen. Na
questi. [.] Eh be’, [.] ci lavano i capelli,
und, sie waschen die Haare, richten al-
l’aggiustano, belli e puliti, e loro anche
les, schön und ordentlich, und die haben
hanno dove vivere. Dove dormire,
auch etwas zum wohnen. Zum schlafen,
mangiano. Sono contenti, sono che c’è.
zu essen. Sind zufrieden damit, wie es
[.] Questa aspetta un bambino, e se ne
ist. Wenn eine ein Kind erwartet, muss
deve andare. Dopo ne viene un’altra,
sie gehen. Dann kommt eine andere, es
non è necce- [lacht] Sempre gli tro-
ist nicht notwend- [lacht] Man findet
vano.
immer welche.
E: E questo è una soluzione per gli anziani E: Und das ist eine Lösung für die Betagche è abbastanza nuova in Italia? S: Nuova, sono contenti, sì, sono contenti. Io [.] sarei contenta così.
ten, die relativ neu ist in Italien? S: Neu, sie sind zufrieden, ja, zufrieden. Ich wäre damit zufrieden.
E: E come si ha fatto allora?
E: Und wie hat man das früher gemacht?
S: Prima? Come si faceva? [.] I figli.
S: Vorher? Wie man das machte? Die Kinder.
E: I figli?
E: Die Kinder?
S: I figli. Quando c’è qualcuno che non
S: Die Kinder. Wenn jemand das nicht
vuole fare questo, i figli non vogliono,
machen will, wenn die Kinder nicht
[.] che la mamma la serve una signora,
wollen, dass die Mamma von einer Frau
[.] una straniera che non si capisce la
bedient wird, einer Fremden, welche die
lingua. [.] E allora i figli se sono due,
Sprache nicht versteht. Dann machen
[.] fanno un mese ciascuno. [.] O due
das die Kinder, wenn es zwei sind, jedes
mesi ciascuno. Adesso c’è un zio, [.]
einen Monat. Oder zwei Monate jedes.
che ci ha novant’anni. E sono tre figli.
Jetzt ein Onkel zum Beispiel, der ist 90
[leise:] Però, è anche brutto per il vec-
Jahre alt. Und drei Kinder. [leise:] Je-
chio. [lauter:] Sa. Due mesi da questo
doch, es ist auch hart für den Alten.
figlio, con la nuora. ,Mit der Schwie-
[lauter:] Wissen Sie. Zwei Monate bei
gertochter.‘ Due mesi dalla figlia, due
diesem Sohn, mit der Schwiegertochter.
mesi dall’altra ,Schwiegertochter‘.
Zwei Monate bei der Tochter, zwei Mo-
Ogni due mesi, si deve prendere le vali-
nate bei der anderen Schwiegertochter.
gie, e deve andare via nell’altra. Questo
Alle zwei Monate muss man den Koffer
a me non [.] non credo che è bello così.
nehmen und muss weg, zur nächsten.
[.] Sai, [.] non credo che è buono così.
Mir wäre das, ich glaube nicht, dass das
[.] E io non voglio stare con i figli qua.
schön ist so. Weißt du, ich glaube nicht,
Oggi. Oggi, io non sono contenta che
dass das gut ist so. Und ich will nicht
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mi servono i figli. Perché i figli hanno il
bei den Kindern leben hier. Heute.
suo marito, hanno i suoi bambini,
Heute will ich nicht, dass die Kinder
hanno i suoi- [.] Non ti possono servire.
mich bedienen. Denn die Kinder haben
Però così è più comodo. Paghi [.] e ci
ihre Ehemänner, haben ihre Kinder, ha-
hai questa persona direttamente per te.
ben ihre – Sie können dich nicht bedie-
I figli vengono, ti salutano, e arrive-
nen. Aber so ist’s bequemer. Du zahlst,
derci, e se ne vanno.
und hast diese Person direkt bei dir. Die Kinder kommen vorbei, grüßen dich, und tschüss, gehen wieder.
E: E Lei pensa che qui non si trova una persona che fa [.] questo? S: Dove, qui? [..] Qui [.] qui non ti con-
E: Und Sie denken, dass Sie hier keine solche Person finden, die das machen würde?
viene. Pagare casa, [.] pagare ,Kran-
S: Wo, hier? – Hier passt das nicht. Miete
kenkasse‘, pagare questa signora. Non
zahlen, Krankenkasse zahlen, diese
è po-, qui è [.] è impossibile. Invece tu,
Frau bezahlen. Es ist nicht mög-, hier
in Italia, ci hai la tua casa. [.] La cassa
ist das unmöglich. In Italien hingegen,
malattia non la paghi. [.] Il comune ti
da hast du dein Haus. Die Krankenkasse
aiuta, ti passa i pannolini. [.] Ti pas-
zahlst du nicht. Die Gemeinde hilft dir,
sano una signora che ti viene a pulire
bringt dir alles. Sie schicken dir eine
una volta la settimana la casa. E questo
Frau vorbei, die dir einmal die Woche
non si paga! [***] [sehr leise:] Aaaah,
das Haus putzt. Und das muss man nicht
questo è [unverst.], [lauter:] Io non lo
bezahlen! [***] [sehr leise:] Aaaah, das
so.
ist [unverst.], [lauter:] Ich weiß nicht.
(Transkript Santo 2, 2/19 – 3/33) Serafina Santo denkt hier laut darüber nach, welche Optionen ihr offen stehen, falls sie in Zukunft einmal auf Betreuung angewiesen wäre. Sehr deutlich wird hier, dass der Migrationshintergrund zusätzliche Optionen eröffnet, dass neben den im Aufenthaltsland praktikablen resp. üblichen Angeboten (Altersheime, Spitex-Pflege, Pflege durch Angehörige) auch Arrangements im Rahmen des Herkunftslandes in Betracht gezogen werden können. Insbesondere die offenbar in Italien übliche Variante der bezahlten Pflege im eigenen Haus, die in der Schweiz aufgrund von finanziellen und administrativen Hürden nur schwierig praktizierbar ist, erscheint Frau Santo verlockend. Dass dieses Pflegearrangement in Italien auch nur funktionieren kann durch unbezahlte Arbeit von Freiwilligen oder unterbezahlte, kaum sozialversicherte Arbeit von Migrant/innen, wird von Serafina nicht kritisch kommentiert. Ihr als ehemaliger ‚Gastarbeiterin‘ erscheint die Option, welche sich den Migrant/innen aus Osteuropa in der Pfle-
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gearbeit in Privathaushalten bietet, eine erstrebenswerte Möglichkeit, gutes Geld zu verdienen78. Und für Serafina würde diese Option es ermöglichen, ihr Haus in Italien doch noch zu bewohnen. Auf die familiäre Pflege möchte sich Frau Santo weder in der Schweiz noch in Italien verlassen müssen, denn obwohl sie davon ausgeht, dass die Pflegeverpflichtung von der jungen Generation durchaus wahrgenommen werden würde, will sie ihren eigenen Kindern nicht zur Last fallen. Und sie will auch ihre Unabhängigkeit nicht aufgeben, eine Unabhängigkeit, die sich Frau Santo mit ihrer Migration hart verdient hat und die ihr deshalb besonders teuer ist. Doch noch sind Serafina Santos Überlegungen hypothetisch, denn noch ist sie sehr gut in der Lage, selbst für sich zu sorgen. Und sie ist auch nicht allein, sondern zusammen mit ihrem Ehemann Vittorio, den sie mitträgt und der auch ihr zur Seite steht. Serafina und Vittorio werden als Paar alt, und das hat für sie Vorteile, denn Paare bilden Solidargemeinschaften, im Alltag wie auch in außergewöhnlichen Situationen. Altern als Ehepaar in der Migration: Die langjährige Partnerschaft als Solidargemeinschaft Jede Form von familiärer Beziehung kann – mehr oder weniger direkt – zur Quelle von Unterstützung bei Bedürftigkeit werden. Allerdings ist nicht jede dieser Beziehungen auch gleichermaßen mit Normen und Erwartungen bezüglich Unterstützung und Pflege belegt. Drei Arten familiärer Beziehungen bilden im europäischen Kontext den Kern verwandtschaftlicher Verpflichtungsnetze: die Eltern-Kind-Beziehung, die Geschwisterbeziehung und die Paarbeziehung. Die laterale Geschwisterbeziehung kann zwar durchaus auch zur Einforderung familialer Solidarität genutzt werden, ist aber bei Weitem nicht so nahe liegend wie die lineare Eltern-Kind-Beziehung und die allianzbildende Paarbeziehung.
78 Gegenwärtige Arbeitsmigrationssysteme im Bereich der häuslichen Arbeit und der privaten Pflege, wie Frau Santo sie hier anspricht, haben gewisse Ähnlichkeiten mit der ‚Gastarbeiter‘-Migration der Nachkriegszeit, insbesondere mit der Saisonier-Migration. Es handelt sich um kurzfristige Arbeitsverhältnisse, in denen für die Arbeitnehmenden vor allem das Geldverdienen im Vordergrund steht und von den Arbeitgebenden eine nicht spezifisch qualifizierte und jederzeit ersetzbare Arbeitskraft gesucht wird. Im Gegensatz zur ‚Gastarbeiter‘-Migration wird Migration zur Hausarbeit und Pflege jedoch oft auf wesentlich informelleren Wegen organisiert und reguliert, was auch mit gewissen Risiken sowohl für Arbeitnehmende wie auch Arbeitgebende verbunden ist. Für weiterführende Literatur dazu siehe z.B. Anthias/Lazaridis 2000, Andall 2000, Ribas Mateos 2000, Elrick/Lewandowska 2008, Lutz 2008.
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Die Deszendenzlinie ist die zentrale Verwandtschaftsbeziehung der Pflege und Unterstützung, insbesondere in ihrer Funktion der Versorgung heranwachsender Kinder. Während die Sorge- und Unterstützungsleistungen in der frühen Phase einer Eltern-Kind-Beziehung überverhältnismäßig von der älteren zur jüngeren Generation laufen, kann im hohen Alter durchaus damit argumentiert werden, dass nun ein Anspruch der Eltern auf reziproke Leistungen ihrer Kinder angebracht sei. Intergenerationelle Solidaritätsbeziehungen zeichnen sich also in der Regel durch ungleichzeitige und einseitige Pflege- und Unterstützungsleistungen aus, je nach Stadium im Lebenslauf der einzelnen Personen. Ehepartner/innen hingegen bilden bei der Heirat eine Allianz, die idealtypisch auf Dauer und auf gemeinsame Kooperation über die zukünftigen Lebensphasen hinweg angelegt ist. Deshalb ist die unmittelbare Einforderung von Unterstützungsleistungen beim/bei der Ehepartner/in naheliegend. Die eheliche Partnerschaft ist explizit auf die Formalisierung einer langfristigen und gegenseitigen Solidaritätsbeziehung angelegt, und so erweist sie sich als die mit Abstand tragfähigste familiäre Beziehung bezüglich Sorge- und Unterstützungsleistungen (z.B. Höpflinger 1997, Allan 1999), auch im Alter. Das Paar im Alter kann sich im Idealtypus auf Arbeitsteilungs-Arrangements verlassen, die sich in früheren Lebensphasen herausgebildet haben. Es hat somit einerseits die Gewissheit, im Ehepartner resp. in der Ehepartnerin eine verlässliche und unmittelbar zugängliche Unterstützungsquelle zu haben. Andererseits aber besteht die Gefahr, diese Solidargemeinschaft, auf die man sich über Jahrzehnte so stark verlassen hat, irgendwann durch den Tod des einen Ehepartners zu verlieren. Mit der Absicht, die Bedeutung der langfristigen, formalisierten Paarbeziehung als Solidargemeinschaft im Alter zu erschließen, wird in der Folge das Ehepaar als Gegenstand ethnologischer, soziologischer wie auch historischer Forschung kurz eingeführt. Die Erkenntnisse aus der Literatur werden hier insbesondere dahingehend befragt, was die eheliche Solidargemeinschaft ausmacht und ob Migration dieser Solidargemeinschaft eine spezifische Qualität verleiht. Die Ehe ist nur eine Form von Paarbeziehung neben anderen. Sie steht hier aber nicht nur deshalb im Zentrum, weil sie sich im empirischen Feld dieser Studie als die dominante Form der Paarbeziehung erwiesen hat, sondern auch, weil sie grundsätzlich die idealtypische Form einer langfristigen und legalisierten Paarbeziehung darstellt und dadurch eine beträchtliche ideologische Macht als Referenzrahmen für andere Formen der Beziehung entfaltet (Griffiths 1997: 13f; Höpflinger/Fux 2007: 62f). Eine Ehe ist, soziologisch betrachtet und gesellschaftsübergreifend formuliert, eine soziale Beziehung, die sich durch spezifische Besonderheiten auszeichnet, welche sie von anderen sozialen Beziehun-
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gen79 unterscheidet. Ehe bezeichnet ganz allgemein eine bestimmte Form (sozial) gegengeschlechtlicher sexueller Partnerschaft, und zwar eine Partnerschaft, die auf Dauer angelegt und öffentlich anerkannt ist (Nave-Herz 2004: 24, ThodeArora 1999: 23). Alle Gesellschaften unterscheiden zwischen legal und rechtlich sanktionierter Ehe und freier Lebensgemeinschaft oder gelegentlichen sexuellen Beziehungen (Zonabend 1986: 87). Der Beginn einer Ehe wird immer in irgendeiner Form rituell und öffentlich (d.h. vor Zeugen) vollzogen. Die Ehe beinhaltet ein öffentliches Bekenntnis zur Dauerhaftigkeit der Partnerschaft. Sie stellt eine Art Vertrag dar, der durch Sitte oder Recht anerkannt wird, und zwar nicht nur einen Vertrag zwischen zwei (sozial) gegengeschlechtlichen Individuen, sondern auch zwischen zwei Gruppen (Familien oder Verwandtschaftsgruppen). Mit der Eheschließung werden symbolisch neue gesellschaftliche Rechte und Pflichten verteilt und die Beziehungen neu geregelt, nicht nur zwischen den Ehepartnern, sondern auch zwischen den Herkunftsfamilien (Nave-Herz 2004: 26). Ein weiteres zentrales und allgemein gültiges Strukturmoment der Ehe ist demnach, dass sie über das Paarverhältnis hinaus auf Familie, und zwar nicht nur auf Herkunftsfamilie, sondern insbesondere auf Kinder verweist (Nave-Herz 2004: 24). Die Ehe gewährleistet Kindern (leiblichen wie sozialen) eine rechtmäßige Position in der Gesellschaft und definiert die Ehepartner als rechtmäßige Eltern der Kinder (Thode-Arora 1999: 21). Eheschließungen legen Erbschafts- und Verwandtschaftslinien neu fest, definieren familiäre Rollen und Beziehungen neu, auch über die Paarbeziehung hinaus, und damit verbunden sind Normen und Erwartungen bezüglich gegenseitiger Solidarität und Kooperation (Nave-Herz 2004: 28). Besonders wichtig für die Fragestellung dieser Studie ist, dass Ehe eine Verpflichtung zur Arbeitsteilung und zur gegenseitigen Unterstützung mit sich bringt, die immer auf zwei Pfeilern ruht: auf ökonomischen Interessen wie auch auf emotionaler Bindung (Hareven 1994, Waldis 2006). Obwohl es auch vielfältige andere Formen von Paarbeziehungen (z.B. ‚offene‘ Beziehungen, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, polygame Beziehungen) und institutionellen Regulationsmechanismen (z.B. Registrierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, Konkubinatsverträge) gibt, so ist auch in westlichen Industrienationen die Ehe nach wie vor die dominierende Institution zur Regulierung von Paarbeziehungen, insbesondere von sich reproduzierenden Paaren (Nave-Herz 2004: 107, Höpflinger/Fux 2007: 62f). Im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Struktur und individuellem Handeln ist die Ehe ein
79 Gemeint sind hier insbesondere auch andere partnerschaftliche Beziehungen wie z.B. Konkubinate, asexuelle Lebensgemeinschaften oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
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zentrales, Ordnung schaffendes Arrangement in einer sozial konstruierten Wirklichkeit (Berger und Kellner 1965). Sie ist die dominante soziale Beziehung in der privaten Sphäre, die Basis familialer Organisation und die Vorlage für alle weiteren sozialen Beziehungen im privaten Bereich. In ihrer Funktion als Basis familialer Organisation und als zentrales Instrument der Allianzbildung über die Verwandtschaftsgruppe hinaus ist die Ehe vielleicht sogar die Grundlage von Gesellschaft überhaupt (Lévi-Strauss 1965, 1993). Die Soziologen Berger und Kellner (1965) betrachten die Ehe als ein Ordnung schaffendes Arrangement in einer gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit. Durch eine Heirat werden zwei bis dahin voneinander unabhängige Individuen zusammengeführt, aus zwei Subjekten entsteht eine eheliche Gemeinschaft. Einerseits bleiben die beiden Individuen auch in der Ehe Einzelpersonen, gleichzeitig aber arbeiten sie nun auch daran, die eheliche Gemeinschaft zu gestalten und damit gemeinsam eine eheliche Wirklichkeit zu konstruieren (Berger/Kellner 1965), eine eheliche Gruppenidentität zu entwickeln (Nave-Herz 2003: 150f). Die Konstruktion, Rekonstruktion und Modifikation der Wirklichkeit geschieht in unterschiedlichen ordnungsgebenden Prozessen, von denen die Ehe nur einer, allerdings ein in modernen Gesellschaften besonders zentraler ist. Auf dieser Basis entstehen individuelle, biographisch kumulative Ordnungssysteme, die Erfahrungen der Wirklichkeit zu ordnen helfen. Obwohl diese Ordnungssysteme durch unterschiedliche biographische Erfahrungen und Ereignisse verschieden sind, so besteht doch ein gemeinsamer gesellschaftlicher Konsens bezüglich der tolerierbaren Abweichungen (Berger/Kellner 1965: 221). Ordnung wird so gesehen gesellschaftlich vorgegeben und individuell umgesetzt, und die individuelle Umsetzung wiederum bedarf der Bestätigung in der Interaktion mit anderen. Die Ehe nimmt in diesem kontinuierlichen Ordnungs- und Bestätigungsprozess eine besondere Rolle ein, da die Ehe – zumindest in modernen, westlichen Gesellschaften – eine vergleichsweise privilegierte soziale Beziehung ist. Während in vorindustrieller Zeit Ehe und Familie fest in einem Netz von Beziehungen verankert waren, die sie mit der Gemeinschaft und damit mit der sozial geteilten Wirklichkeit verbunden waren, konstituiert in der Moderne jede Familie ihre eigene, private, segregierte Teilwelt (Berger/Kellner 1965: 225). Ehepaare schaffen sich also ihre eigene Welt, und damit einen gemeinsamen Referenzrahmen für die Einordnung der jeweils individuellen Erfahrungen. Zudem werden die Handlungen des einen Partners jeweils in Bezug zu denjenigen des anderen Partners entworfen. Definitionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden in ständige Korrelation zu denjenigen des anderen Ehepartners gesetzt, und so ist der/die Ehepartner/in in fast allen Sinnhorizonten des Alltagslebens gegenwärtig. Für jede/n Ehepartner/in wird der/die andere
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zum/zur bedeutungsvollsten und entscheidenden Mitbewohner/in der Welt (Berger/Kellner 1965: 226). Die Konstruktion einer gemeinsamen Wirklichkeit in der Ehe geschieht vor allem über eheliche Gespräche. Je exklusiver die eheliche Beziehung ist, je eigenständiger ein Ehepaar lebt, desto grösser wird die Bedeutung ehelicher Gespräche. Diese entwickeln in ihrer Funktion der Konstruktion von Wirklichkeit über Stellungnahmen zu Wahrgenommenem einen sich gegenseitig bestärkenden Effekt. Wenn beide Partner in ihrer Interpretation der Realität übereinstimmen, erzeugt dies ein Gefühl der ‚objektiven Richtigkeit‘ und trägt so zur Stabilisierung von Einstellungen und zur Festigung von ehelichen Gruppenidentitäten bei. Der Identitätsbildungsprozess in der Ehe wird zudem auch bestimmt durch die – bewusste oder unbewusste, beabsichtigte oder unbeabsichtigte, notwendige oder freiwillige – Berücksichtigung des Anderen bei Handlungsentwürfen und -strategien (Nave-Herz 2003: 151). Die Konzeption der Ehe als eine der zentralen, ja sogar der zentralen sozialen Beziehung, die Ordnung schafft und individuellen Sinn generiert, macht deutlich, dass die Ehe nicht nur eine höchst individuelle biographische Erfahrung ist, sondern auch eine bedeutende gesellschaftliche Institution. Die Ehe ist – selbst im Falle einer zunehmenden sozialen Isolierung im privaten Bereich, wie sie für die (Post)Moderne beschrieben worden ist (z.B. Berger/Kellner 1965, Hareven 1994) – keineswegs eine reine Privatangelegenheit der beiden Ehepartner, sondern steht in Beziehung zu Familien, zu Verwandtschaftsgruppen, zu Gesellschaft ganz allgemein. Während die Ehe also auf der einen Seite eine überaus subjektive und intime soziale Beziehung ist, zeichnet sie sich auf der anderen Seite als juridische Institution durch höchste Objektivität und Normativität aus (Arni 2004: 9). Die Ehe reguliert auf gesellschaftlich-politischer Ebene nicht nur die heterosexuelle Paarbeziehung, sie artikuliert ganz grundsätzlich Geschlechterdifferenz und organisiert Geschlechterverhältnisse (Arni 2004: 7). Sie ist, gesellschaftsunabhängig formuliert, eine soziale Institution, die Geschlechter- und Generationenbeziehungen regelt und für die bestimmte Verhaltensnormen gelten. Institutionen dienen der Normierung und Regulierung, und sie haben über ihre Normen und Regeln auch einen gewissen Zwangscharakter. Wie sich die Institution Ehe als gesellschaftliches Teilsystem konkret ausgestaltet, ist wiederum je nach räumlichem, gesellschaftlichem und historischem Kontext unterschiedlich. Relevant für meine Forschung ist der geographische Raum Europa im 20. Jahrhundert. Insbesondere die historische und soziologische Familienforschung hat sich eingehend mit dem historischen Wandel von Ehe und Familie im europäischen Kontext und ihrer Bedeutung als sozialer Institution beschäftigt. Dabei wird in der Regel von einer grundsätzlichen strukturellen Veränderung im Zuge
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der Industrialisierung ausgegangen. Das Fazit der Forschung lautet: Die Institution Familie hat im Modernisierungsprozess gewisse ihrer vormodernen Funktionen, z.B. bezüglich Produktion, Wohlfahrt, Bildung, sozialer Kontrolle an andere Institutionen abgetreten. Ob dies allerdings die Qualität familialer Beziehungen beeinträchtigt hat, darüber besteht kein Konsens. Die Historikerin Hareven (1994: 35) betont diesbezüglich die Eingebundenheit der Institution Familie in andere gesellschaftliche Strukturen und redet nicht von einem Funktionsverlust oder vom ‚Zerfall familiärer Werte‘, sondern vom Weiterbestehen traditioneller Aufgaben und deren Ergänzung durch neue, den zeitgemäßen Anforderungen entsprechende Funktionen. Modernisierungstheoretische Ansätze betonen diesen Aspekt der Kontinuität im Wandel besonders und bezeichnen die Ehe auch als ‚unvollständig modernisierte Institution‘ (Schöningh 1996: 24f), als ein Überbleibsel feudaler Sozialorganisation. Ehe und Familie erscheinen unter dem Blickwinkel des sozialen Wandels von Vormoderne zu Moderne also als Institutionen, die sich zunehmend ins Private zurückgezogen haben. Durch den Funktionswandel der Institution Ehe im Zuge der Industrialisierung und den postulierten Rückzug der Ehe ins Private setzte sich das Ideal der romantischen Liebe gegenüber der Ehe als Zweckgemeinschaft durch. Die Partnerbeziehung und die individuelle emotionale Erfüllung darin wurden zum Sinnkriterium von Ehe, und damit rückten Emotionen ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses (Nave-Herz 2004: 143f), wie auch die Annahme, dass romantische Liebe als einzige zentrale Grundlage einer Ehe zu einem ‚Zerfall der Institution Ehe‘ führen könne, was sich in abnehmenden Eheschließungszahlen, sinkenden Geburten und steigenden Scheidungsraten manifestiere. Dass Ehepaare und die im Idealfall daraus entstehenden Familien nach wie vor auch den Charakter von Zweckgemeinschaften haben, dass eine Ehe nicht nur romantische Erfüllung bedeutet, sondern auch gegenseitige Rechte und Verpflichtungen mit sich bringen, und dass insbesondere in schwierigen Zeiten über die eheliche Beziehung die Familie ganz unmittelbar als unterstützendes Netzwerk aktiviert werden kann, geriet ob der Betonung des bürgerlich-modernen Ideals der romantischen Liebe etwas in Vergessenheit. Nichts desto trotz bleibt das Ehepaar/die Familie auch in der (Post)Moderne eine zentrale Organisationseinheit sozialen Lebens und eine fundamentale, nur schwierig aufkündbare Solidargemeinschaft, die alle Lebensbereiche umfasst. Solange die im Zuge der Industrialisierung an öffentliche Institutionen wie das Bildungswesen, die Sozialhilfe, die Pflegeeinrichtungen etc. abgetretenen Funktionen angemessen erfüllt werden, mag es scheinen, dass Ehe und Familie in einer modernen, westlichen Welt an Bedeutung verloren haben. Werden die Zeiten hingegen schwieriger, das Bedürfnis an Unterstützung größer, die Leistun-
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gen von öffentlicher Seite her fraglich, wie zum Beispiel nach einer Migration oder in fortgeschrittenem Alter, bietet die Ehe nach wie vor Zugang zu unmittelbarer und allumfassender Unterstützung – vorausgesetzt dass beide Ehepartner sich an das eheliche Solidaritätsabkommen halten. Die Heirat und insbesondere die Geburt von Kindern binden Ehepartner rechtlich und emotional eng aneinander. Ehe bedeutet eine Verpflichtung zur Arbeitsteilung und zur gegenseitigen Unterstützung. Die Verpflichtung zur Solidarität innerhalb der Ehe und, im weiteren Sinn, innerhalb der Familie, ruht grundsätzlich immer auf zwei Pfeilern: Auf gegenseitigen ökonomischen Interessen (Ehe als Tauschbeziehung, als Allianz) wie auch auf emotionaler Bindung (Ehe als affektiv-altruistische Beziehung) (Hareven 1994; Waldis 2001; Waldis 2006). Je nach Paar, nach Lebensphase und Kontext kann der eine oder andere Aspekt stärker betont sein. Eine Tauschbeziehung kann ausgeglichen sein oder ins Ungleichgewicht geraten, die emotionale Bindung kann im Zentrum stehen oder in Frage gestellt werden und so weiter. Grundsätzlich jedoch sind beide Aspekte in einer Ehe nebeneinander präsent und relevant. Gegenseitige emotionale Verbundenheit ist genauso notwendig wie die gegenseitige Bereitschaft, die eheliche Tauschbeziehung einzugehen, um die viel beschworenen guten und schlechten Zeiten gemeinsam durchzustehen. So stellt z.B. auch die Lebensphase Alter neue Anforderungen an das idealtypische Ehepaar – ein Paar, das zu dem Zeitpunkt bereits einen langen Prozess der gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktion hinter sich hat und über eine nicht gezwungenermaßen harmonische, aber in jedem Fall elaborierte und routinisierte eigene Welt verfügt. Diese eheliche Welt hat sich lange um die Koordination von Erwerbs- und Familienzeit herum konstruiert. Mit der Pensionierung fällt die Erwerbsarbeit weg, und der eheliche Alltag muss neu organisiert werden. Zudem ist im Alter auch mit zunehmender Abhängigkeit der Ehepartner voneinander zu rechnen. Alter birgt also neue Herausforderungen für eine Ehe. In deren Bearbeitung zeigen sich aber auch ihre Vorteile als Solidar- und Interessengemeinschaft (Höpflinger 2003a: 79). In der geronto-soziologischen Forschung geht man davon aus, dass die Lebensphase Alter mit der Pensionierung beginnt und dass diese Statuspassage ein erhebliches Krisenpotential insbesondere auch für eheliche Beziehungen in sich birgt. Erwerbsaustritt ist mit Reorganisation des Alltags, der Routinen und Rollenaufteilungen in der Paarbeziehung verbunden (Gather 1996). Die Statuspassage Pensionierung kann deshalb zu einer Infragestellung und Re-Evaluation der gemeinsam konstruierten ehelichen Wirklichkeit führen. Dies gilt insbesondere für den westeuropäisch-mittelständischen Typus ehelicher Organisation der Nachkriegsgeneration, der sich durch eine sehr deutlich geschlechtsspezifische
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Aufgabenteilung auszeichnet. Allerdings zeichnen sich die vorher über Jahre elaborierten Arbeitsteilungs- und Machtbeziehungen offenbar durch erstaunliche Persistenz aus (siehe z.B. Dryden 1999). Ob Veränderungen wie z.B. die Pensionierung eines der beiden Ehepartner zu einer Neudefinition der ehelichen Wirklichkeitskonstruktion und der darin ausgehandelten Arbeitsteilungs- und Machtverhältnisse führen, oder ob neue Kontextbedingungen in die bereits bewährte gemeinsame Sinnkonstruktion integriert werden, ist unterschiedlich (siehe z.B. Gather 1996). Sowohl in der Literatur (z.B. Haddad/Lam 1994, Richter 2000) wie auch in meinem eigenen Material gibt es Hinweise darauf, dass Kontinuität insbesondere im Hinblick auf Sinnkonstruktionen und Rollenverständnisse möglichst erhalten wird, während die alltägliche Praxis erstaunlich anpassungsfähig ist. Wenn z.B. im Alter gewisse Tätigkeiten aufgrund von körperlichen Einschränkungen von einem der beiden nicht mehr ausgeführt werden können, so springt der/die andere oft ganz selbstverständlich ein und übernimmt diese Aufgaben, ohne dabei unbedingt auch seine/ihre Alltagstheorie anzupassen. Ein besonderes Charakteristikum der Lebensphase Alter ist die potenziell zunehmende Unterstützungs- und Pflegebedürftigkeit. Die Ehe als privilegierte soziale Beziehung und die damit verbundene Solidaritätsverpflichtung bieten an, dass der gesündere Ehepartner die erste und zuverlässigste Anlaufstelle zur Einforderung von Unterstützungsleistungen ist (Höpflinger 1997: 100f). Dies sind auch die Umstände, die zu einer Neuorganisation der geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung im Haushalt zwingen können (Haddad/Lam 1994). Während Pensionierung allein nicht unbedingt etwas an den grundsätzlichen Arrangements zur Arbeitsteilung ändert, sind beim Ausfall des einen Ehepartners Grenzverschiebungen selbstverständlich. Auch einfache Pflegeleistungen werden innerhalb der Ehe erbracht. Altern als Paar hat also durchaus Vorteile gegenüber dem Altern als Alleinstehende/r. Hingegen droht im Alter auch zunehmend der Verlust dieser privilegierten sozialen Beziehung durch den Tod eines Partners. Dadurch käme der über Jahre bewährte alltägliche Orientierungsrahmen ins Wanken. Gemeinsame Gewohnheiten, Erlebnisse und Erinnerungen haben zu spezifischen Ritualisierungen geführt (Nave-Herz 2004: 178f) und zu eigenen, in gewissem Maße auch von der Außenwelt isolierten Wirklichkeitskonstruktionen (Berger/Kellner 1965). Insbesondere in individualisierten Gesellschaften wohnt dem Verlust des Partners im Alter, wenn gesellschaftliche und familiäre Verpflichtungen abnehmen, deshalb eine ganz besondere Tragik inne.
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Und inwiefern verleiht nun die Migrationserfahrung dem Altern dieser Paare eine spezifische Qualität? Wie beeinflusst eine gemeinsame Migration80 die eheliche (oder eheähnliche) Solidargemeinschaft im Alter? Das Label ‚Migration‘ besagt, dass die Ehepartner schon (mindestens) einmal ihren Aufenthaltsort verlassen und sich an einem neuen Ort niedergelassen haben. Dies bedeutet einerseits, dass ein Teil ihres Lebens in einem anderen gesellschaftlichen Umfeld stattgefunden hat, den man als ihren Herkunftskontext bezeichnen kann. Andererseits verfügen die Paare über eine spezifische, geteilte Erfahrung81, nämlich die Erfahrung des Verlassens eines Lebensmittelpunktes und des sich Zurechtfindens in einem neuen. Sie verfügen also über Erfahrungen damit, irgendwo aufzubrechen, wegzugehen und anderswo sich wieder neu zurecht zu finden. Der Herkunftskontext könnte für die Frage des Alterns als Paar insofern relevant sein, als man postulieren könnte, dass ein migriertes Paar aufgrund seiner Herkunft über spezifische eheliche Normen und Praxen verfügt. Bei italienischen Paaren könnte man z.B. unter Berufung auf gängige Stereotypen, wie sie im vorangehenden Kapitel beschrieben wurden, annehmen, dass es sich um patriarchale Paarbeziehungen mit ausgeprägtem Familiensinn, um katholisch geprägte und nach vormodernen Kriterien organisierte eheliche Ordnungsmuster handelt. Meine Empirie sträubt sich jedoch gegen dieses Stereotyp. Einerseits pflegen die Paare zwar explizit eine gewisse ‚italianità‘, bei der Einrichtung ihrer Wohnzimmer etwa oder beim Essen, und sie sprechen ihre Muttersprache deutlich besser als diejenige der Mehrheitsgesellschaft. Gleichzeitig aber unterscheiden sich die Paare in vielen Bereichen nicht von anderen alternden Ehepaaren in ihrem jetzigen Lebensumfeld – auch nicht in ihrer durchaus geschlechterspezifischen Rollenaufteilung. Die Herkunft ist deshalb nur einer von vielen Aspekten, die auf die konkrete Ausgestaltung der ordnenden und sinngebenden Prozesse ehelicher Wirklichkeitskonstruktion einwirken, und weitaus der größere Teil davon geschah in den untersuchten Fällen nicht in der Herkunftsgesellschaft,
80 Es geht hier um Paare, die gemeinsam migriert sind, oder um Paare, die allein migriert sind und sich dann in der Migration zusammen getan haben. Wenn nur eine/r der beiden Ehepartner/innen migriert ist, gestaltet sich die Integration der Migrationserfahrung in die Konstitution des ehelichen Beziehungsgefüges wiederum anders (siehe dazu die Literatur zur sog. ‚binationalen Ehe‘ resp. zu ‚love migration‘, z.B. Thode-Arora 1999, Waldis 2001, Waldis/Byron 2006, Echarte Fuentes-Kieffer 2005). 81 Dabei handelt es sich entweder um eine biographisch geteilte Erfahrung (bei Paarwerdung vor der Migration) oder eine geteilte Erfahrung aufgrund vergleichbarer Lebenslage (bei Paarwerdung nach der Migration), im Gegensatz zur ‚love migration‘, bei der nur eine/r der beiden Ehepartner/innen die Erfahrung der Migration macht.
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sondern in der Aufnahmegesellschaft. Und für das, was hier im Zentrum steht, für die gegenseitige Verpflichtung zu Kooperation und Solidarität in der Ehe, spielt die Herkunft, so meine These, keine Rolle. Was mir hingegen von Bedeutung scheint für die Ausformung einer belastbaren ehelichen Solidargemeinschaft, ist die gemeinsame Migrations- und Integrationserfahrung. Sowohl die historische (z.B. Hareven 1994) als auch die zeitgenössische Migrationsforschung (z.B. Lanfranchi 1995, Bryceson/Vuorela 2002, Baldassar et al. 2007, Grillo 2008) bestätigen die Bedeutung ehelicher und familiärer Netzwerke im Migrationsprozess: In der Auseinandersetzung mit einem neuen sozialen Umfeld und im Umgang mit den oft prekären Bedingungen nach einer Migration werden Ehen als eine der zentralen Basisbeziehungen familiärer Netzwerke zu entscheidenden Solidarbeziehungen. Familiäre Netzwerke sind nach einer Migration oft die einzigen unmittelbar aktivierbaren sozialen Beziehungen, und zudem Netzwerkbeziehungen, die allumfassend sind. Dadurch werden sie stark belastet, und eheliche Verträge können unter dem Druck auch aufgekündigt werden. Wenn das aber nicht passiert, wenn Schwierigkeiten gemeinsam überwunden, wenn neue soziale Kontexte erfolgreich angeeignet werden, dann stärkt diese Erfahrung die Solidargemeinschaft des Ehepaares (vgl. dazu auch Lanfranchi 1995). Die Erfahrungen mit ungewohnten, vielleicht auch schwierigen Situationen beeinflussen entscheidend den zukünftigen Umgang mit ähnlichen Situationen, so die These der biographischen Erfahrungsaufschichtung (siehe Kapitel 3.2). So gesehen kann die erfolgreiche Bearbeitung von Migration und Integration im Rahmen der privilegierten sozialen Beziehung Ehe als biographische Ressource für die Bearbeitung der Veränderungen im Lebensabschnitt Alter betrachtet werden. Das gemeinsame Durchstehen anspruchsvoller Situationen stärkt die Ehe als Solidar- und Interessengemeinschaft. Diese Erfahrungen fließen in Strategien und routinisierte Handlungen für die Bearbeitung zukünftiger Veränderungen ein. Die Migrationserfahrung kann also durchaus – wie notabene vergleichbare migrations-unabhängige Erfahrungen auch – die eheliche Solidarität stärken und somit im Alter als Ressource dienen.
2.5 W ERDEN
ITALIENISCHE E HEPAARE IN DER S CHWEIZ ANDERS ALT ? D ER BIOGRAPHISCHE ANSATZ
Altern als Paar in der Migration steht im Zentrum meiner Forschung, und bis zu diesem Punkt habe ich die Absicht verfolgt, das für diesen Fokus relevante thematische Umfeld zu skizzieren. Diese Tour d’Horizon wurde in die drei thematischen Felder Alter/Altern, Migration und Paar/Familie gegliedert.
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Erstens: Was bedeutet Altern, wie wird es in der Altersforschung gegenwärtig bearbeitet, und welches sind die momentan relevanten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen? Die Gerontologie als wissenschaftliche Disziplin und ihre zentralen Fragestellungen wurden kurz eingeführt. Zudem ist eine Skizze des aktuellen Wissensstandes zu Alter und Altern in der Schweiz erstellt und die gegenwärtig in Forschung und Politik diskutierten Fragestellungen und Konzepte eingeführt worden. Aus diesen Ausführungen nehmen wir mit, dass die Altersstruktur der Bevölkerung in der Schweiz sich hin zu einer zunehmend alten Bevölkerung verschiebt. Dieser Bevölkerung geht es im Moment im Schnitt sowohl ökonomisch wie gesundheitlich gut, es ist aber für die Zukunft mit einer Prekarisierung der ökonomischen Ressourcen zu rechnen. Zudem sind die gegenwärtig stattlichen Ressourcen der älteren Bevölkerung sehr ungleich verteilt. Neben der Analyse der demographischen Entwicklungen und der strukturellen Gegebenheiten wird deshalb in der Forschung auch großes Gewicht auf Konzepte wie ‚differentielles Altern‘, ‚Lebenslagen‘ und ‚lebenslanges Lernen‘ gelegt, welche nicht nur den unterschiedlichen strukturellen Lagerungen im Alter Rechnung tragen, sondern auch dem subjektiven Umgang mit objektiven Gegebenheiten und deren biographischer ‚Entstehungsgeschichten‘. Damit wurde der gesellschaftliche Kontext skizziert, in dem die hier fokussierte Gruppe der pensionierten italienischen Migrant/innen gegenwärtig ihre Lebensphase Alter verbringt. Zweitens: Wovon reden wir, wenn wir im zeitlichen und räumlichen Kontext dieser Studie von Altern in der Migration reden? Was bedeutet Migration generell, und um welche Art Migration handelt es sich im vorliegenden Fall? Die Ausführungen zu Migration hatten zum Ziel, die Besonderheit der zur Debatte stehenden sozialen Gruppe als ehemalige ‚Gastarbeiter/innen‘ in den Blick zu nehmen. Dazu wurde, aus dem Blickwinkel der Migrationsforschung, das System der ‚Gastarbeit‘ und seine Bedeutung im Feld der italienisch-schweizerischen Migration eingeführt, sowie der lokale Kontext der italienischen Migration in die Stadt Bern umrissen. Im Rahmen dieser Ausführungen wurden auch Thesen dargelegt, die in der Literatur zum Altern in der Migration und speziell im Hinblick auf Arbeitsmigration entwickelt wurden, insbesondere die enge Koppelung von ‚Gastarbeiter‘-Migration und Rückkehrorientierung. Damit wurden die Besonderheiten der hier im Zentrum stehenden Teilgruppe der alternden Schweizer Bevölkerung, der Pensionierten italienischer Staatsbürgerschaft, als Migrant/innen allgemein und als ehemalige ‚Gastarbeiter/innen‘ im Besonderen umrissen. Und schließlich drittens, um der Bedeutung des Paares im Hinblick auf das Altern in der Migration auf die Spur zu kommen: Warum und wie ist Familie
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relevant im Alter, in der Migration und speziell im Falle der italienischen Migration in die Schweiz? Und was bedeutet es, als Paar zu altern? Wodurch zeichnen sich Paare, insbesondere Ehepaare aus? Damit ist die Einengung des Fokus innerhalb der Gruppe italienischer ‚Gastarbeiter/innen‘ auf Ehepaare ins Zentrum gestellt. Ehepaare wurden einerseits als grundlegendes Element von Familien behandelt und führten so zur Einführung in Fragen um die Bedeutung von Familie in der Migration allgemein und in der italienisch-schweizerischen ‚Gastarbeiter‘-Migration im Besonderen. Andererseits rücken Ehepaare als Solidargemeinschaften im Alter in den Fokus, und diesbezüglich wurde danach gefragt, inwiefern die Ehe eine besondere soziale Beziehung darstellt. Dabei wurde insbesondere auf die permanente Konstruktion einer gemeinsamen ehelichen Welt hingewiesen, was in langjährigen Partnerschaften zu eng miteinander verknüpften Weltbildern, Interaktionspraktiken und biographischen Selbstpräsentationen führt. Um diesen Streifzug durch verschiedene thematische Felder abzuschließen, soll nun der Blickwinkel wieder verengt werden auf das konkrete Untersuchungsfeld, in dem sich die vorliegende Studie bewegt. In den Fokus rückt nun das, was mich in dem weiten Feld möglicher Fragestellungen hier besonders interessiert, und ein Ausblick darauf, unter welcher theoretisch-methodologischen Perspektive ich diese Fragen an die Empirie stellen werde. Kulturspezifisches, schichtspezifisches oder migrationsspezifisches Altern? Die Frage, der hier nachgegangen werden soll, ist diejenige nach der differenzierten Klärung dessen, was als ‚anders Altern‘ bei Migrant/innen thematisiert wird. Warum nimmt man an, dass Migrant/innen anders alt werden als die Mehrheit der Gesellschaft, in der die Migrant/innen leben? Was macht alternde Migrant/innen zu etwas Besonderem? Ist ihr Anders-Altern ein kulturspezifisches, ein schichttypisches oder ein migrationsbedingtes Phänomen? Hat es damit zu tun, dass Migrant/innen ursprünglich von einem anderen Ort kommen und durch die an ihrem Herkunftsort vorherrschenden kulturellen Systeme nachhaltig geprägt bleiben? Ist, mit anderen Worten, migrantisches Altern ein herkunftsspezifisches, ein kulturspezifisches Altern? Diese Vorstellung ist in der wissenschaftlichen Literatur relativ weit verbreitet (siehe z.B. Prahl/Schroeter 1996: 66f; Dietzel-Papakyriakou 1993, 2001, 2005; Backes/Clemens 1998: 238). Sie geht davon aus, dass die primäre Sozialisation in einem bestimmten Gesellschaftskontext das Altern entscheidend prägt. Migrant/innen hätten „die Altersbilder ihrer Herkunftsregionen verinnerlicht“, und da insbesondere „in den
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immer noch stark traditional ausgerichteten Gesellschaften des Mittelmeerraumes Autorität überwiegend an Lebensalter und Position im Familienverband geknüpft [wird]“, sehen sich alternde Migrant/innen im postmodern-individualisierten Kontext der Aufenthaltsgesellschaft mit erheblichem Statusverlust konfrontiert (Pahl/Schroeter 1996: 67). Migrant/innen sind in dieser Sichtweise „mit Altersbildern und Autoritätsverhältnissen aufgewachsen, die sich in der Migration nicht mehr aufrechterhalten lassen“ (Backes/Clemens 1998: 238). Die kulturspezifischen Altersbilder beziehen sich z.B. auch auf die Frage der sozialen Sicherheit im Alter, und diese basieren in den „traditionalen“ (Pahl/Schroeter 1996: 67) Herkunftsregionen der Migrant/innen auf Kindern und Enkelkindern. Dies führt zu Konflikten in der Migration, da „an die Stelle traditioneller Formen der Altersversorgung die entfremdende Form der materiellen Sicherung durch das Sozialsystem [tritt]. Materielle und soziale Beziehungen im Alter entsprechen also nicht den Erfahrungen, unter denen sie in ihrer Kultur sozialisiert wurden.“ (Backes/Clemens 1998: 238). Wird wie hier die spezifische Situation von alternden Migrant/innen auf ihre Herkunft zurückgeführt, dann wird damit der frühen Sozialisierung ein besonders prägendes Gewicht zugeschrieben. Dass Menschen nicht nur während Kindheit und Jugend lernen, sondern das ganze Leben lang daran arbeiten, neue Erfahrungen zu ordnen und mit Sinn zu versehen82, und dass dabei die Weiterentwicklung und Veränderung von individuellen Konzepten nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich ist, wird dabei zu wenig berücksichtigt. Oder ist migrantisches Altern nichts weiter als schichtspezifisches Altern, wird also durch die soziale Position bestimmt, auf die Migrant/innen in der Aufnahmegesellschaft verwiesen werden, und die Ressourcen, die sich ausgehend davon generieren lassen? Dieses Argument ist einleuchtend vor dem Hintergrund des ‚Gastarbeiter‘-Systems, welches auf der einen Seite an unqualifizierter, billiger Arbeitskraft interessiert war, auf der anderen Seite auch als typische ArmutsMigration junger Menschen aus ländlichen Gegenden mit geringer schulischer und beruflicher Qualifikation gilt. Eine auf soziale Schicht fokussierende Sichtweise würde aber auch betonen, dass Migrant/innen durch ihre Nicht-Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft automatisch einen sozialen Abstieg erfahren und dass sie zur Verbesserung der sozialen Position größere strukturelle Barrieren zu überwinden haben als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft mit vergleichbarem Bildungs- und Berufshintergrund. Dass also Unterschichtserfahrung, unabhängig von konkreter Herkunft, Bildungsstand, relevantem Migrationsregime und histo-
82 Für eine Einführung in das pädagogische Konzept des ‚lebenslangen Lernens‘ siehe stellvertretend Herzberg 2008 und darin insbesondere Dausien 2008.
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rischem Kontext, ein ständiger Begleiter in der Migration sei und dass migrantisches Altern deshalb immer ein schichtspezifisches Altern sei, welches durch knappe finanzielle Ressourcen und durch schlechten Gesundheitszustand (die beiden zentralen Indikatoren für Schichtzugehörigkeit im Alter) gezeichnet ist. Die soziale Schichtzugehörigkeit manifestiert sich während der Erwerbsphase z.B. in niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen, ermüdenden Arbeiten, unter Umständen auch diskontinuierlichen Erwerbsverläufen aufgrund von Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeiten aufgrund von gesundheitlichen Abnützungserscheinungen, frühzeitigen Pensionierungen. All diese Aspekte wirken im Alter nach, verstärken sich, chronifizieren sich. Und Migrant/innen unterliegen diesen Prozessen tendenziell stärker als Nicht-Migrant/innen. So gesehen ist migrantisches Altern, wie Reinprecht (2006) betont, zwar typischerweise geprägt von komplexer Unsicherheit, doch ist dies keine exklusiv migrantische Erfahrung. Vielmehr sind Migrationsbiographien besondere Kristallisationspunkte einer allgemeinen Tendenz zur Prekarisierung in spätmodernen Gesellschaften (Reinprecht 2006: 44). Doch auch mit der sozialen Positionierung in der Aufenthaltsgesellschaft lässt sich nicht alles erklären, was an Besonderheiten des Alterns in der Migration beschrieben wird. Vielleicht ist das Altern in der Migration nicht nur ein kultur- und schichtspezifisches Altern, sondern vor allem ein migrationsspezifisches? Insbesondere die oft thematisierte Auseinandersetzung mit einer Rückkehr im Alter liegt nicht in Schicht und Sozialisationskontext begründet, sondern in der Migrationserfahrung im Rahmen des Systems ‚Gastarbeit‘. Migrationsspezifisch bedeutet hier nicht etwa herkunftsspezifisch, sondern darin begründet, dass diese Menschen zu einem früheren Zeitpunkt in ihrem Leben migriert sind, dass sie also ihr gewohntes Umfeld verlassen und sich an einem neuen Ort niedergelassen haben. Die Andersartigkeit des Alternsprozesses von Migrant/innen hat also auch damit zu tun, dass diese über spezifische Erfahrungen verfügen, welche die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft nicht teilen. Migrationserfahrungen sind besondere Erfahrungen, unabhängig davon, woher und wohin jemand migriert ist. Diese Sichtweise betont nicht die Prägung des Alters durch die Herkunft von Migrant/innen oder die Wirkung der Sozialstruktur in der Aufenthaltsgesellschaft, sondern die Erfahrung des Migrierens, des Verlassens eines Lebensmittelpunktes und des sich wieder Einrichtens in einem neuen Lebensmittelpunkt, einem neuen gesellschaftlichen Umfeld (vgl. Soom Ammann 2008: 171f). Migrationserfahrungen, so die These, entfalten wie alle Erfahrungen biographische Langzeitwirkung und führen zur Entwicklung spezifischer Bewältigungs- oder Bearbeitungskompetenzen, die auch im Alter nachwirken. Migration verlangt nach Neuorientierung, nach individueller Flexibiliät und Reflexivität,
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und so gesehen kann jede Migrationserfahrung als spezifische Ressource betrachtet werden, die auch den Umgang mit dem Altern erleichtern kann (vgl. auch Dietzel-Papakyriakou 1993: 125). Dieser These liegt die Annahme eines reflexiven Zusammenhangs zwischen Erfahrungen und Handlungen und die Vorstellung einer biographischen Aufschichtung von Erfahrungen und Handlungsstrategien zugrunde: Im Alter werden Handlungsstrategien eingesetzt, die sich im ganzen Lebenslauf herausgebildet haben, und somit auch solche, die sich während und wegen der Migrationserfahrungen entwickelt haben. Bezeichnend für Migrationserfahrungen und die daraus abgeleiteten Handlungsstrategien ist dabei, dass Menschen durch die Migration mit einem neuen Lebensumfeld und seinen spezifischen Sinnsystemen konfrontiert werden, und dass es, um sich in diesem Umfeld zurecht zu finden, notwendig ist, sich das Umfeld anzueignen, es sich aufgrund der bisherigen Erfahrungen sinnhaft zu erschließen, dessen Regeln zu erkennen und für sich zu adaptieren (vgl. dazu auch Lanfranchi 1995: 249f). Aus der individuellen Bearbeitung der Fremdheitssituation heraus entwickeln sich, so das Argument, spezifische Kompetenzen im Umgang mit Veränderungen, welche auch bei altersbedingten Lebensveränderungen nutzbar sind. Von allem etwas: Die biographische Perspektive Dieser Fokus auf Erfahrung – Lebenserfahrung allgemein und Migrationserfahrung im Besonderen – als spezifisches biographisches Kapital bietet den Vorteil, dass darin einerseits der Individualität von Alternsprozessen Rechnung getragen werden kann. Andererseits erlaubt es dieser Ansatz auch, strukturelle Kontextbedingungen mit einzubeziehen und so sowohl die Herkunft wie auch das Lebensumfeld nach der Migration in die Betrachtung mit aufzunehmen. Von der hier gewählten biographischen Perspektive auf einen spezifischen Ausschnitt der sozialen Welt – das Altern in der Migration – erhoffe ich mir deshalb einen besonders differenzierten Einblick in die Alternsprozesse von Paaren italienischer Herkunft in Bern. Die biographische Perspektive erlaubt es, die Besonderheiten des Herkunftskontextes und die Umstände der Migration genauso zu berücksichtigen wie die soziale Positionierung und ihre Veränderungen während und nach dem Erwerbsleben in der Aufenthaltsgesellschaft. Eine biographische Perspektive, wie ich sie anwende, betrachtet Biographien als Produkte von reflexiver Erfahrungsaufschichtung, als Dokumente davon, wie Subjekte sich ihre eigene Position zu Strukturen schaffen, wie sie im zeitlichen Verlauf einen eigenen Umgang mit sozialen Strukturen entwickeln. Durch die hier vorgenommene Konzentration auf Paare und Paarbiographien wird zudem ein besonderer Fokus
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auf die Verwobenheit individueller Biographien mit denjenigen von langjährigen und besonders nahe stehenden Begleiter/innen im Lebensverlauf gelegt. Die hier gewählte Perspektive auf das Altern in der Migration fokussiert also nicht primär auf eine allgemeingültige Beschreibung der gegenwärtigen Situation von alternden Migrant/innen, sondern sie konzentriert sich auf individuelle Lebenslagen und Beurteilungen, deren strukturelle Kontextualisierung sowie deren Entstehungsgeschichte. Die biographische Herangehensweise stellt ins Zentrum, wie sich Subjekte in der lebensgeschichtlichen Erzählung biographisch konstruieren, wie sich also alternde italienische Ehepaare sowohl als Paare wie auch als Einzelpersonen präsentieren, was sie im Wesentlichen ausmacht und wie sie zu dem geworden sind, was sie jetzt, im Alter, sind. Der Blickwinkel dieser Studie liegt also weniger auf der Beschreibung struktureller Merkmale, welche eine spezifische Population wie z.B. alternde Migrant/innen hervorbringen, sondern sie setzt bei den Subjekten an und fokussiert darauf, wie diese Subjekte sich in ihren strukturellen Positionen einrichten, wie sie sich Handlungsräume schaffen und diese nutzen. Die einzelnen Fallanalysen werden zuerst, geleitet von ihren eigenen Relevanzen und Gesetzmäßigkeiten, rekonstruiert und kontextualisiert. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Herausbildung von Selbstbildern und Handlungsmustern im biographischen Verlauf. In der temporalen Strukturierung des Lebenslaufs wird insbesondere auf die Migration sowie auf die Umstände des Erwerbsaustritts geachtet. Abschließend werden die Fallrekonstruktionen im Hinblick auf die in Kapitel 2.1 herausgearbeiteten allgemeinen Thesen zum Altern in der Migration beurteilt, indem ein spezielles Augenmerk darauf gelegt wird, • • • •
inwiefern der Erwerbsaustritt resp. der Übertritt ins Pensionärsleben Anlass zu Reflexion und Bilanzierung bot, welche Rolle Rückkehrpläne und deren Realisierung im biographischen Verlauf und insbesondere im Alter spielen, wie familiäre Beziehungen und Solidaritätsnetzwerke im Alter konzipiert und genutzt werden, und welche Bedeutung ethnische Netzwerke im Alter bekommen.
Ziel dieses Vorgehens ist es, migrantisches Altern als ein biographisch verankertes Altern zu verstehen, das in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext in einer spezifischen sozialen Positionierung stattfindet. Sowohl diese Positionierung wie auch der individuelle Umgang damit hat eine Geschichte, und die biographische Erzählung über diese Geschichte versieht die gegenwärtige Situation
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mit Sinn, den es in der rekonstruktiven Analyse zu erschließen und zu kontextualisieren gilt. Doch bevor wir dazu kommen, bevor neben dem bereits eingeführten Ehepaar Santo auch die Ehepaare Rosetti, Agostino, Lillo, Morellini, Genni und Rocca ihren Auftritt haben werden, möchte ich zuerst in Kapitel 3 etwas ausführlicher in das Konzept der Biographie und die Besonderheiten einer biographisch-rekonstruktiven Sozialforschung einführen.
3. Biographie: Theoretisch-methodologische Anknüpfungspunkte
Ziel dieses Kapitels ist es verständlich zu machen, warum ich mit einem biographischen Ansatz arbeite und welche theoretisch-methodologischen Implikationen damit verbunden sind. Kapitel 3.1 bietet eine erste Skizze meiner Verknüpfungen der theoretischen Felder Biographie, Migration, Geschlecht und Alter. Ausgehend von der Migrationsforschung beschäftige ich mich hier mit drei spezifischen Aspekten: Erstens mit den theoretischen und methodologischen Implikationen einer biographischen Perspektive in der Migrationsforschung; weiter mit dem Mehrwert, den ein an Geschlecht orientierter Blick auf meine empirische Fragestellung mit sich bringt; sowie drittens mit den Besonderheiten des biographischen Blickes auf das fortgeschrittene Alter. Das Kapitel wird abgeschlossen mit einigen Überlegungen zu methodologischen Herausforderungen an das Biographie-Konzept, die meines Erachtens in der Verflechtung dieser theoretischen Perspektiven entstehen. In Kapitel 3.2 stehen das Konzept der Biographie und die Biographieforschung als Methodologie im Zentrum. Ich werde einen kurzen Einblick in die Entwicklung der sozialkonstruktivistischen Biographieforschung und ihrer theoretisch-methodologischen Hintergründe geben. Aus der Fülle der Ansätze und Theorien, die sich mit Biographie auseinandersetzen, interessieren mich diejenigen, die den Anspruch erheben, aufgrund der Auseinandersetzung mit individuellen Biographien etwas über kollektive Zusammenhänge erfahren zu können. Ich stütze mich hier primär auf einen Zweig der Biographieforschung, der sich in den deutschen Sozialwissenschaften herausgebildet hat und sich auf die soziologischen Theorietraditionen des Symbolischen Interaktionismus und der Interpretativen Soziologie bezieht. Kapitel 3.3 setzt sich dann mit Ansätzen der Biographieforschung und ihren empirischen Umsetzungen in denjenigen thematischen Feldern auseinander, die für meine Fragestellung relevant sind. Zuerst wird darauf eingegangen, was eine
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biographische Perspektive auf Geschlecht leisten kann. Die Geschlechterperspektive hat für mich insbesondere Bedeutung im Hinblick auf Prozesse sozialer Differenzierung und interessiert mich in ihrer Kombination mit anderen Kategorien sozialer Differenz, insbesondere denjenigen der Klasse, der Ethnizität/Nationalität und des Alters. Darauf folgt ein Einblick in die biographische Forschung im ethnologischen Kontext. Darin werden Überlegungen zu Fragen der Fremdheit und des Verstehens, zu kultureller Differenz und ihrer Bedeutung für die Arbeit mit Biographien dargelegt. Darauf folgt eine Übersicht über biographische Forschung im Migrationsbereich und die darin entwickelten Konzepte. Der folgende Abschnitt widmet sich dann der Thematik des Alterns in biographischer Perspektive. Dieser Bereich ist – insbesondere theoretisch – noch wenig bearbeitet. Abschließend werden die verschiedenen disziplinären Perspektiven mit Hilfe des Intersektionalitätskonzeptes zusammengeführt.
3.1 B IOGRAPHIE – M IGRATION – G ESCHLECHT – ALTER : V ERKNÜPFUNG DER P ERSPEKTIVEN Zu Beginn möchte ich in einem ersten Überblick aufzeigen, wie ich die übergeordneten Themen meiner Studie zueinander in Verbindung setze. Migration, Biographie und Geschlecht sind gemäß Bettina Dausien (2000) je spezifische Perspektiven auf komplexe soziale Verhältnisse. Der Zusammenhang von Migration und Biographie, aus der Perspektive Geschlecht betrachtet, bedeutet demnach zunächst einmal eine Vervielfältigung der Komplexität, da jedes Thema in sich bereits sehr heterogene theoretische und empirische Felder vereint. Die Erweiterung um die Dimension Alter steigert die Komplexität noch weiter. Die Verbindung der vier Sichtweisen ermöglicht aber, in Anlehnung an Dausien (2000: 14f), auch eine Fokussierung des Blicks auf spezifische Fragestellungen, welche durch die Verschränkung dieser Perspektiven aus der Komplexität herauszuragen beginnen. Biographieforschung in der Migrationsforschung Migrationsforschung beschäftigt sich mit Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt über nationalstaatliche Grenzen hinweg verschieben. Migrantinnen und Migranten bewegen sich dabei nicht nur von einem Ort zum anderen, sondern auch von einem gesellschaftlichen Kontext in einen anderen. Sie verlassen – mehr oder weniger freiwillig – ihre Position in einem sozialen Gefüge und neh-
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men – mehr oder weniger gezwungen – eine neue Position in einem neuen sozialen Gefüge ein. Jeder gesellschaftliche Kontext – und ich stütze mich hier auf die Giddens’sche Terminologie (Giddens 1997) – übt auf das Individuum Zwänge aus, ermöglicht ihm aber auch Handlungsfreiräume. Der Mensch und die gesellschaftliche Struktur sind wechselseitig miteinander verbunden. Die gesellschaftliche Struktur wirkt durch ihre Institutionen, durch ihre Regeln und Ressourcen auf den Menschen ein, und der Mensch wirkt durch sein Handeln auf die gesellschaftliche Struktur ein, indem er diese reproduziert und modifiziert. Der Mensch handelt reflexiv, aber nicht völlig autonom. Er stützt sich dabei auf sein implizites Wissen über die gesellschaftliche Struktur, bei Giddens (1997) auch praktisches Wissen genannt. Wenn nun jemand migriert, sich also in ein neues gesellschaftliches Umfeld begibt, dann ändern sich die Handlungsbedingungen, und es wird notwendig, dieses praktische Wissen über die Gesellschaft an das neue Umfeld anzupassen, um handlungsfähig zu bleiben. Diese Prozesse des sich Auseinandersetzens mit veränderten Bedingungen und des sich neu Orientierens sind es, die mich interessieren. Und weil Auseinandersetzungen mit konkreten Situationen auf der Basis von früheren Erfahrungen erfolgen, haben solche Prozesse eine biographische Komponente. Ich betrachte also erzählte Lebensgeschichten als Berichte über die Anhäufung und Integrierung von Erfahrungen im Umgang mit der gesellschaftlichen Struktur, und ich erhoffe mir, über biographische Interviews diese Erfahrungen nachvollziehen zu können. Insbesondere dann, wenn mir als Forscherin die Erfahrungszusammenhänge ‚fremd‘ sind, ist das Sich-Erzählen-Lassen von Lebensgeschichten (oder auch, etwas weiter gefasst, von erlebten Geschichten) ein geeignetes Instrument, um sich den jeweiligen individuellen Sinnzusammenhängen so anzunähern, wie sie der Erzähler oder die Erzählerin produziert. Oder, in den Worten des Psychologen Andrea Lanfranchi (1994: 206), die Lebenswelten und den Alltag der Menschen ‚von innen her‘ zu erkunden, statt ihnen ‚von außen her‘ Theorien und vorurteilsbeladene Kulturmythen überzustülpen. Narrative Interviewtechniken, wie sie in der Biographieforschung angewendet werden, haben den Vorteil, dass sie die Erläuterung von Erfahrungen und Sinnzusammenhängen dem/der Erzähler/in überlassen. Werden diese Zusammenhänge gegenüber jemandem präsentiert, der diese Erfahrungen selber nicht kennt, dann sind die Geschichten so zu gestalten, dass sie, aus der Perspektive der Erzählenden gesehen, auch für die Zuhörenden Sinn machen, wie Fritz Schütze (1982) dies mit seinem Konzept der Zugzwänge des Erzählens beschrieben hat. Sozialwissenschaftliche Biographieforschung eröffnet damit die Möglichkeit, den individuellen Umgang mit kollektiven Strukturen zu untersuchen. Sie
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legt den Schwerpunkt auf das Individuum und seine je eigene Perspektive auf Gesellschaft. Damit eröffnet sich der Migrationsforschung eine Alternative zum Fokus auf Gruppen und ihrer Gemeinsamkeiten (siehe z.B. Ricker 2003). Insofern ist Biographieforschung besonders geeignet, Differenzen innerhalb einer als homogen wahrgenommenen Gruppe aufzuzeigen und so der Stereotypenbildung über Migrant/innen, oder auch über andere Gruppen entgegenzuwirken. Für Fischer-Rosenthal und Rosenthal (1997: 135) sind erzählte Lebensgeschichten in der Soziologie Ausgangsmaterial zur Rekonstruktion bestimmter sozialer Milieus und sozialen Handelns unter der Berücksichtigung der Eigendeutungen durch die Gesellschaftsmitglieder selbst. Allerdings kann sich diese je individuelle Perspektive auf Gesellschaft nicht autonom herausbilden, sondern nur in Interaktion mit dem Umfeld und unter den strukturellen Bedingungen des gesellschaftlichen Kontextes, wie sozialkonstruktivistische Theorien, angefangen beim Symbolischen Interaktionismus, plausibel darlegen. Davon ausgehend muss sich Gesellschaft auch in der individuellen Biographie abbilden, respektive in der individuellen Erzählung müssten sich soziale Konstruktionsprozesse manifestieren. Insofern betrachte ich Biographien, wie bereits in der Soziologischen Schule der Chicago School und notabene anhand von Migrationsbiographien entwickelt (Apitzsch 1999; Dausien 2000b; Lutz 2000), als wissenschaftlichen Zugang zu sozialen Konstruktionsprozessen, zu sozialer Wirklichkeit, zu Alltagspraxis. Biographien eröffnen damit einen Weg der Rekonstruktion von sozialem Handeln und sozialen Milieus über die Eigendeutung durch Individuen (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 135), und damit auch einen Weg, Migration als komplexes, individuell unterschiedlich gedeutetes Phänomen zu betrachten, ohne dabei die involvierten gesellschaftlichen Kontexte außer Acht zu lassen. Geschlecht in der biographischen Migrationsforschung Die Geschlechterperspektive kann in einem ersten Schritt, wie bereits oben angesprochen, dazu beitragen, die Komplexität weiter zu erhöhen und damit stereotype Bilder zu differenzieren. Das heißt z.B., dass sich Migrationserfahrungen je nach Geschlecht unterscheiden können, aber auch innerhalb von Geschlechtszugehörigkeit, oder aber auch, dass vermeintliche Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Migrant/innen gar nicht so groß sein müssen, wie gemeinhin angenommen. In einem zweiten Schritt kann die Perspektive auf Geschlecht in einer Biographie Hinweise für die Analyse von Prozessen sozialer Differenzierung und sozialer Organisation von Ungleichheit geben. Geschlecht ist dabei eine von
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mehreren Kategorien sozialer Ungleichheit, die relevant sein können. Wenn sich Gesellschaft in individuell erzählten Lebensgeschichten abbildet, dann sollten sich auch gesellschaftliche Differenzierungsprozesse darin finden lassen. Wenn bei der Analyse von Lebensgeschichten ein Augenmerk auf Differenzierungsund Identifizierungsprozesse gelegt wird, so kann Biographieforschung auch zu einem besseren Verständnis von sozialen Ein- und Ausschlussmechanismen sowie von Hierarchisierungsprozessen beitragen (siehe dazu z.B. Gutiérrez Rodríguez 1999). Ich erhoffe mir deshalb von der Geschlechterperspektive auf mein Material nicht nur einen Beitrag zur Demonstration von individueller Differenz in Migrationsbiographien, sondern auch Anregungen zur theoretischen Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit und zum Verständnis der dialektischen Beziehung zwischen Struktur und Handlung. Ich richte deshalb in den Erzählungen ein besonderes Augenmerk auf soziale Positionierungen der Individuen in Bezug auf verschiedene Differenzkategorien sozialer Organisation. Mich interessiert, ob und in welchem Kontext Differenz relevant wird und gegenüber wem differenziert wird, und ich gehe davon aus, dass insbesondere die Differenzkategorien nationale Herkunft/Ethnizität, Klasse, Alter und Geschlecht von Bedeutung sind. Biographieforschung und Altern Das fortgeschrittene Alter hat im Lebenslauf aus verschiedenen Gründen eine besondere Bedeutung. Durch die Institutionalisierung des Lebenslaufs in westlichen Gesellschaften der Moderne (Kohli 1985, 1992, 2003) und die damit einhergehende Einführung von Pensions- und Rentensystemen kommt dem kalendarischen Alter (d.h. dem Alter gemessen in Lebensjahren) eine zunehmende Bedeutung gegenüber dem biologischen Alter (d.h. dem Alter gemessen an der Verfassung des Körpers) zu. Biographie als alltagsweltliche Konstruktion orientiert sich an einer ‚Normalbiographie‘ (Kohli 1985 und 2003), die bestimmte gesellschaftlich verregelte Phasen durchläuft, wie z.B. die Kindheit, die Ausbildungszeit, die Arbeitszeit/Familienbetreuung und die Rente. Erreicht jemand das institutionell vorgegebene Rentenalter, so tritt man in die Altersphase ein. Da dieser Übergang durch die Aufgabe der Erwerbstätigkeit und den Bezug einer Rente gekennzeichnet ist, gewinnt er als Statuspassage insbesondere für Personen an Bedeutung, die in größerem Umfang ins Erwerbsleben integriert waren resp. sind. Die ‚Normalbiographie‘ ist eine Art gesellschaftliches Muster, eine Bildvorlage, an der sich Individuen orientieren und zu der sie sich in Bezug setzen. Dieses Muster entspricht aus verschiedenen Gründen in der Regel nicht der
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individuellen Biographie (siehe z.B. Dausien 1996: 24f). Das Konzept der Normalbiographie ist stark am historisch spezifischen Modell der westlich-fordistisch-männlichen Erwerbsbiographien mit in der Regel ununterbrochener, vollzeitlicher Erwerbstätigkeit orientiert. Doch nicht nur im Hinblick auf die Kontinuität der Erwerbsarbeit sowie auf die strikte Trennung von Erwerbs- und Familienarbeit lassen sich De-Institutionalisierungstendenzen beobachten, auch der Zeitpunkt des institutionalisierten Übergangs von der Arbeits- zur Rentenphase gerät zunehmend in Bewegung. In der modernen, flexibilisierten Arbeitswelt der Gegenwart lassen sich sowohl Tendenzen zu einem faktisch immer früheren Ausscheiden aus dem Erwerbsleben feststellen, wie auch die Infragestellungen des sozialstaatlichen Rentensystems und Diskussionen über eine Erhöhung des Rentenalters beobachten. Das Konzept der ‚Normalbiographie‘ mag umstritten sein, hat aber seine Bedeutung – insbesondere im Hinblick auf Verrentungsprozesse – nicht verloren. Wichtig erscheint mir, das Konzept als eines zu verstehen, das inhaltlich nicht fix definiert ist, sondern als biographische Vorlage, die durch gesellschaftliche Institutionen geformt wird. ‚Normalbiographien‘ sind dann idealtypische Lebensverläufe, an denen man sich orientiert und zu denen man sich – der Norm entsprechend und/oder sich davon abgrenzend – positioniert, wenn man seine eigene Lebensgeschichte im Prozess des Erzählens strukturiert (vgl. dazu Dausien/Mecheril 2006). Ob nun individuelle Lebensverläufe als der Normalbiographie entsprechend betrachtet werden oder nicht, die Verrentung als gesellschaftlich sanktionierte Freisetzung aus dem Erwerbsleben ist nach wie vor eine Station im institutionalisierten Lebenslauf, die biographisch zu bearbeiten ist. Verrentung, so die gängige Annahme, verlangt nach einer Neudefinition von Rollen und Zuständigkeiten und nach einer Adaption der alltäglichen Routinen – insbesondere für diejenigen, die erwerbstätig waren, aber auch für diejenigen, welche den Alltag mit ihnen teilen, wie z.B. Lebenspartner/innen. Altern wirkt sich aber nicht nur über gesellschaftliche Institutionen, sondern auch über die Dimension der Lebenszeit auf Biographien aus. Das Alter als Lebensphase eröffnet insofern eine besondere Perspektive auf die Lebensgeschichte, als die erwartbare Lebenszeit kontinuierlich abnimmt und der individuelle Zeithorizont sich in Richtung Vergangenheit verschiebt, was eine Auseinandersetzung mit dem gelebten Leben begünstigen kann. Im Migrationskontext kann der Aspekt des Bilanz-Ziehens über das gelebte Leben im Alter eine besondere Bedeutung gewinnen. Dies suggerieren zumindest die im Moment noch spärlich zu findenden Studien zu Migration und Alter (siehe z.B. Dietzel-Papakyriakou 1993, Bolzman et al. 2001, Reinprecht 2006). Dahinter steht die Vorstellung, dass Migration ein einschneidendes biographisches Thema ist, das nach
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Bilanzierung im Alter verlangt, insbesondere dann, wenn mit der Migration spezifische Ziele erreicht werden sollten. Im Kontext europäischer Arbeitsmigration ist eines der Ziele häufig die Verbesserung der ökonomischen Situation, und damit gepaart die Vorstellung, dass die Migration eine vorübergehende ist, dass man irgendwann an den Herkunftsort zurückkehrt. Spätestens dann, wenn man aus dem Erwerbsleben ausscheidet, so kann angenommen werden, steht eine Auseinandersetzung mit diesem ursprünglichen Migrationsprojekt an. Zudem wird postuliert (siehe z.B. Bolzman et al. 2001), dass sich Arbeitsmigrant/innen, deren Aufenthaltszweck die Arbeit war, beim Wegfall der Erwerbstätigkeit in einen impliziten Legitimationsnotstand geraten – gegenüber sich selbst und ihrem unmittelbaren Umfeld wie auch gegenüber der Aufnahmegesellschaft – und dass deshalb ein weiterer Verbleib im Aufnahmeland nach einer neuen Legitimation verlangt. Zudem können sich mit dem Ausstieg aus dem Erwerbsleben die strukturellen Bedingungen für Migrant/innen verändern. In der Schweiz zum Beispiel hat sich die Ausländergesetzgebung um ein ausgeprägtes ‚Gastarbeiter‘-System herum formiert, und in diesem waren alternde, nicht mehr erwerbstätige Migrant/innen nicht vorgesehen. Dies hatte zur Konsequenz, dass pensionierte Arbeitsmigrant/innen mit spezifischen Benachteiligungen z.B. bezüglich Rentenversicherung, Krankenversicherung oder Aufenthaltsstatus konfrontiert wurden. Im Alter zeigt zudem eine andere strukturelle Bedingung ihre Wirkung, nämlich der nach Nationalität segregierte Arbeitsmarkt, der ‚Gastarbeiter/innen‘ besonders belastende Arbeiten zuwies, was im Alter zu besonders ausgeprägten gesundheitlichen Problemen führen kann (Phänomen des „exhausted migrant“, Bollini/ Siem 1995: 825). Da Frauen in der Regel in schlechter bezahlten Anstellungsverhältnissen1 und unregelmäßiger gearbeitet haben und da sie eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als die Männer, sind sie von prekären ökonomischen Verhältnissen im Alter stärker betroffen. Halten wir fest: Der Übertritt ins Rentenalter ist eine Statuspassage, die nach Biographisierung verlangt, d.h. nach Reflexion, Bilanzierung und Neuorientierung. Im Falle von Migrant/innen weist diese Übergangsphase Besonderheiten wie z.B. die Evaluation des Migrationsprojektes (Reinprecht 2006: 121) auf. Doch nicht nur bei der Statuspassage Pensionierung, sondern auch im weiteren Alternsprozess spielt Biographisierung eine zentrale Rolle, wie Kohli (1990) betont: Pensionierung markiert den Ausschluss von Individuen aus der Arbeitsgesellschaft, und damit werden sozialstrukturelle Zugehörigkeiten unklarer und
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Zudem waren insbesondere Frauen vermutlich auch häufiger in nicht sozialversicherten Arbeitsverhältnissen tätig, z.B. im privaten Bereich der Haus- und Pflegearbeit.
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institutionelle Bindungen spärlicher, insbesondere in höherem Alter. Damit bekommen biographische Bezüge auf frühere Lebensphasen im Alter eine zunehmende Bedeutung: sie dienen der Verortung des alternden Individuums in der sozialen Welt (Kohli 1990: 400). Der empirisch breit beobachtete Hang alter Menschen zur Erinnerung an frühere Zeiten bekommt somit bei Kohli eine explizit soziologische Erklärung als eine Form der Vergesellschaftung, die nicht über gegenwärtige strukturelle Zugehörigkeiten und Funktionen, sondern über die Erinnerung an die vergangene soziale Positionierung hergestellt wird (Kohli 1990: 402). Biographisierung ist somit eine mögliche Reaktionsform auf den Wegfall institutioneller Vorgaben im Alter (Saake 1998: 82). Wenn die Ausführungen Kohlis zu Recht auch kritisiert werden als zu spezifisch auf einen bestimmten Typus von Gesellschaft ausgerichtet, in dem Erwerbsarbeit die zentrale Wertgröße ist und Individuen vollumfänglich in Erwerbsarbeit eingebunden sind, so erscheint mir die Idee dennoch wertvoll. Dass Individuen im Laufe früher Lebensphasen eine zunehmende Einbindung in soziale Strukturen erfahren, während in späteren Lebensphasen eine gewisse Entbindung (aus familiären Verpflichtungen, aus Erwerbsarbeit) stattfindet, scheint mir auch auf flexibilisiertere Wirtschaftsformen und weniger institutionalisierte Arbeitsformen (wie z.B. Hausarbeit, selbständige Arbeit, ehrenamtliche Arbeit) übertragbar. Methodologische Herausforderungen In der Migrationsforschung erfreut sich die Biographieforschung zunehmender Beliebtheit, insbesondere weil in ihr Differenziertheit betont und der Prozesshaftigkeit von Migration Rechnung getragen werden kann. Allerdings bestehen auch spezifische methodologische Schwierigkeiten, welche bisher noch wenig bedacht worden sind. Biographie, wie sie in der Soziologie verstanden wird, ist ein Produkt der europäischen Moderne. Sie ist eine Form sozialer Selbstbeschreibung, welche das einzigartige, unverwechselbare Individuum ins Zentrum stellt, und sie orientiert sich an gesellschaftlichen Institutionen, die den Verlauf eines Lebens in bestimmte, zeitlich definierte Phasen einteilen. Es fragt sich, welche Implikationen dies für die biographische Forschung im Migrationskontext hat. Kann der theoretische und methodische Zugang der Biographie einfach in andere gesellschaftliche Kontexte übertragen werden? Was, wenn andere Formen der Konzeption von Individuen im Verhältnis zum Kollektiv vorliegen? Was, wenn andere Vorstellungen von Zeitlichkeit, auch von Lebenszeit und Zeit nach dem Tod vorherrschen? Was, wenn andere gesellschaftliche Kontexte keine Lebenslaufstrukturen in dem Sinn vorgeben, wie dies in westlichen Gesellschaften der Fall ist? Sind die dem Biographiekonzept zugrunde liegenden Annahmen
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über das Erzählen von Geschichten und über deren Struktur universell gültig? Dies sind Fragen, die zu bedenken sind, wenn Biographieforschung im Migrationskontext angewendet wird. Ein Beispiel aus meiner Arbeit, das mich dazu gebracht hat, über solche Fragen nachzudenken: Die Personen, die ich interviewt habe, waren oft etwas konsterniert über meine Frage nach ihrer Lebensgeschichte, haben keineswegs in sich geschlossene Biographien aus dem Ärmel gezaubert, und der Intervieweinstieg verlief manchmal sehr stockend. Sie haben aber, nachdem die Interviews einmal in Gang gekommen waren, durchaus Geschichten aus ihrem Leben erzählt. Ähnliche Erfahrungen haben auch andere Forschende festgehalten (z.B. Lanfranchi 1994, 1995 und Matthes 1984), die dies vorwiegend mit soziokulturellen Unterschieden erklärt und das Problem mit anders formulierten Einstiegsfragen zu lösen versucht haben. Ich habe den Eindruck gehabt, dass im Fall meines Projektes ein Teil des Unbehagens gegenüber der Frage nach der Lebensgeschichte auch damit zu tun hatte, dass die Menschen meinten, sie hätten nichts Interessantes zu Erzählen. Die Frage ist hingegen, inwieweit es sich dabei um kulturelle oder um schichtspezifische Phänomene handelt. Diese Beobachtung gehört meines Erachtens in einen weiteren Kontext, der zu beachten ist, wenn man mit Biographien im Migrationskontext arbeitet, nämlich die Frage danach, ob es spezifische Arten des Erzählens gibt. Konkret: Ist das Erzählen von erlebten Geschichten kulturell, oder geschlechtlich, oder schichtspezifisch geprägt? Oder handelt es sich einfach um individuelle Besonderheiten, wie jemand seine Geschichte erzählt? Ich gehe davon aus, dass es sich um eine Kombination von beidem handelt, dass einerseits überindividuelle inhaltliche Vorlagen bestehen, an denen man sich orientieren kann, z.B. die Institutionalisierung des Lebenslaufs, oder geschichtliche Ereignisse, oder auch formale Vorlagen, bestimmte Genres von Geschichten wie Mythen, Heldengeschichten, Erfolgsgeschichten, Leidensgeschichten etc., an denen man sich orientieren kann. Andererseits wiederum spielen sicher auch individuelle Besonderheiten, z.B. Charaktereigenschaften, aber auch das Geübtsein im Geschichtenerzählen, eine Rolle. Die überindividuellen Erzähl-‚Vorlagen‘ sind natürlich geprägt vom gesellschaftlichen Kontext, und insofern sind sie auch kulturell geprägt. In biographischen Studien, die im Migrationskontext resp. in einer außereuropäischen Gesellschaft angesiedelt sind, wird gemeinhin auf die Bedeutung des fundierten Kontextwissens über den jeweils relevanten gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang hingewiesen. Auch ich messe dem Kontextwissen großes Gewicht zu, sehe darin aber auch gleich die größte Schwierigkeit der Anwendung von Biographieforschung. Speziell im Migrationskontext, wo mindestens zwei,
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wenn nicht sogar mehr gesellschaftliche Umfelder im Spiel sind, liegt in der fundierten Erarbeitung und vorsichtigen Anwendung von Kontextwissen einer der Knackpunkte biographischer Forschung. Warum ein biographischer Zugang zum Altern in der Migration? Ziel dieser Einführung in den methodologischen Teil war es aufzuzeigen, wodurch sich ein biographischer Zugang zum Altern in der Migration auszeichnet. Die Analyse eines empirischen Phänomens mithilfe von biographischen Erzählungen über die eigene Vergangenheit ist gerade deshalb viel versprechend, weil biographisches Erzählen die Gegenwart und die Vorstellungen von der Zukunft mit der Vergangenheit verbindet. Zudem geht es hier nicht darum, das Phänomen ‚Altern in der Migration‘ als Gruppenphänomen zu behandeln. Im Zentrum steht vielmehr, die Komplexität von Alternsprozessen aufzuzeigen. Wenn man sich fragt, inwiefern migrantisches Altern ein besonderes Altern ist, so ermöglicht diese Komplexitätsentfaltung insbesondere auch eine Auffächerung verschiedenster Aspekte, welche eine individuelle Lebenslage im Alter kennzeichnen. Es wird deshalb ein besonderes Anliegen der Datenanalyse sein, sorgfältig zu beobachten, ob und wie der Migrationsaspekt in den Biographien relevant wird. In diesem Zusammenhang werde ich die Brauchbarkeit eines Konzeptes prüfen, das von Erika M. Hoerning (1989, 1995) wie auch von Helma Lutz (2000) in die Biographieforschung eingeführt, aber theoretisch und empirisch noch nicht erschöpfend ausgelotet worden ist. Es handelt sich um das Konzept des biographischen Kapitals resp. der biographischen Ressourcen. Lutz umschreibt damit die Erfahrungen und Kompetenzen, die Individuen im selbstreferentiellen Prozess der Strukturierung ihrer Lebensgeschichte erlernt haben (Lutz 2000: 205). Auch Lanfranchi (1995) nimmt Bezug auf eine solche Vorstellung, auch wenn er den Begriff Kapital/Ressource nicht benutzt: Für ihn erfordert Migration, dass die Handlungsmuster der neuen Umgebung erkannt und in die eigenen Handlungen integriert werden können. Mit anderen Worten, Individuen (oder, in seinem Fall, Familien) müssen fähig sein, nicht mehr greifende Deutungs- und Handlungsmuster anzupassen. Voraussetzungen für diese Leistungen sind gemäß Lanfranchi die Partizipation an der neuen Lebenswelt sowie die Fähigkeit zur Biographisierung, d.h. zur Reflexion und Bilanzierung des bisherigen Lebenslaufes und zur Entwicklung neuer Lebensentwürfe. In den folgenden beiden Kapiteln möchte ich nun noch etwas vertiefter auf einige ausgewählte theoriegeschichtliche Aspekte der Biographieforschung eingehen. Kapitel 3.2 führt ein in die theoretisch-methodologische Einbettung der
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sozialkonstruktivistischen Biographieforschung und konzipiert Biographien als Gegenstand der Theoriebildung sowie als Material der empirischen Forschung. Kapitel 3.3 geht etwas tiefer auf biographische Ansätze in den verschiedenen fachlichen und thematischen Bereichen ein, die für mein Thema relevant sind, und versucht abschließend, diese thematisch-fachlichen Stränge mithilfe des Intersektionalitäts-Konzeptes zusammen zu führen.
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ALS G EGENSTAND SOZIALWISSENSCHAFTLICHER ANALYSE
Die sozialwissenschaftliche Biographieforschung, auf deren Tradition ich mich hier beziehe, ist vor allem innerhalb der deutschsprachigen Soziologie entwickelt und breit diskutiert worden. Ich möchte nicht zu viel Gewicht darauf legen, diese Diskussionen wiederzugeben2. Es geht mir in erster Linie darum aufzuzeigen, welche Aspekte daraus die vorliegende Studie beeinflusst haben und warum mir ein biographischer Zugang in der Sozialforschung allgemein und in der Migrationsforschung im Besonderen viel versprechend erscheint. Dazu ist es notwendig zu klären, auf welche theoretischen Traditionen das sozialkonstruktivistische Verständnis von Biographieforschung, auf das ich mich beziehe, zurückgeht. An der Biographieforschung interessiert mich die Möglichkeit, anhand von individuellen Erzählungen etwas über gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge herauszufinden. Ich werde mich deshalb auch damit beschäftigen, welche Art von Erkenntnis aus biographischen Erzählungen gewonnen werden kann. Darum lege ich besonderes Gewicht auf die Möglichkeiten der Koppelung biographietheoretischer Modelle mit gesellschaftstheoretischen Ansätzen. Diese theoretisch-methodologischen Überlegungen führen dazu, dass die wissenschaftliche Analyse biographischer Erzählungen bestimmten Bedingungen unterliegt und bestimmte Anforderungen stellt, welche abschließend noch kurz behandelt werden. Unter Biographie als Gegenstand wissenschaftlicher Analyse wird heute im sozialwissenschaftlichen Kontext – und das gilt auch für die vorliegende Studie – in der Regel eine autobiographische Stegreiferzählung verstanden, erhoben mit dem methodischen Instrument des narrativen Interviews3 (siehe auch Kapitel 4). Es geht um spontane Erzählungen eines Individuums über sein Leben, und somit um einen interaktiven und kommunikativen Akt: Eine Person erzählt in einem
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Siehe dazu z.B. Wohlrab-Sahr 2002, Dausien 2002, Juhasz/Mey 2003. Als empirisches Material für eine biographische Analyse wären aber auch andere Datenformen wie z.B. niedergeschriebene autobiographische Dokumente denkbar.
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bestimmten Moment, aus einem bestimmten Anlass, an ein bestimmtes Publikum gerichtet, ihre Lebensgeschichte. Das Resultat, die erzählte Biographie, ist eine alltagsweltliche Konstruktion, die wissenschaftlich analysiert und interpretiert wird, die re-konstruiert wird. In diesem Sinn beschäftigt sich Biographieforschung mit (wissenschaftlichen) Re-Konstruktionen von (alltagsweltlichen) Konstruktionen. Biographie ist also nicht in erster Linie ein wissenschaftlich-methodologisches Konzept, sondern zuerst ein Konzept aus dem Alltag: Jeder Mensch, so erscheint es uns, hat eine Biographie. Die Vorstellung von einer individuellen Lebensgeschichte, die jeder hat, ist hingegen nicht universell, sondern ein westliches, historisch gewachsenes Produkt der europäischen Moderne. Mit dieser einher geht die Entdeckung des Individuums im Kollektiv, d.h. die Herauslösung des Einzelnen als Subjekt des Handelns aus ständischen und religiösen Ordnungen. Prozesse der Individualisierung bedeuten für Individuen die Chance – und auch den Zwang –, das eigene Leben selbstreflexiv und selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen. Mit fortschreitender Modernisierung wandeln sich soziale Ordnungen. Sozialer Wandel bewirkt, dass die Erwartungen der Individuen nicht mehr mit ihren Erfahrungen überein stimmen. Dadurch steigt die Anforderung an die Kontingenzbearbeitung der Subjekte, und dies ist Anlass für ein Reflexivwerden des Biographischen, sowohl auf der Ebene alltäglicher (Selbst-)Reflexion wie auch in der Wissenschaft (Dausien 2002: 141). Neben der zunehmenden Selbstverantwortung im Prozess der Modernisierung bringt auch die steigende Lebenserwartung Menschen dazu, ihr Leben als Biographie zu sehen. Dadurch wird das Leben berechenbarer, man kann erwarten, alt zu werden und bestimmte Phasen und Institutionen im Leben zu durchlaufen. Ansatzweise entwickelt sich – vor allem in der Nachkriegszeit des 20. Jh. – so etwas wie eine Normalbiographie, in der auf eine Phase der Kindheit/Jugend/Schulbildung die Phase von Berufstätigkeit, Haushaltführung und Kindererziehung folgt, abgeschlossen von einer Phase des von diesen Aufgaben entbundenen Alters (vgl. dazu das Konzept der Institutionalisierung des Lebenslaufs, Kohli 1985, 1992, 2003). Entwicklung und erkenntnistheoretischer Hintergrund der Biographieforschung Die Ursprünge der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem alltagsweltlichen Konzept der Biographie werden in der Regel in der Herausbildung der Chicago School, einer Richtung der amerikanischen Soziologie in den Anfängen des 20. Jahrhunderts festgemacht. Im Kontext von verstärkten Zuwan-
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derungs- und Verstädterungsprozessen entwickelte sich in Chicago eine stark empirisch geprägte Soziologie, die an Alltagspraxis, an gesellschaftlichen Umbruchprozessen und marginalisierten Gruppen in Städten interessiert war. Im Rahmen der Bearbeitung dieser sozial drängenden Themen durch die Soziologie wurde u.a. die zentrale Bedeutung der biographischen Perspektive für die Erforschung von Alltagspraxis und Alltagswissen betont. Theoretisch wie auch methodisch richtungsweisend war dabei eine Studie, die sich mit der Migration polnischer Landarbeiter nach Chicago beschäftigte: ‚The Polish Peasant in Europe and America‘, durchgeführt 1918 – 1920, gilt gewissermaßen als Grundsteinlegung der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung4. Den historischen Hintergrund für die Entstehung neuer theoretischer Traditionen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts bildeten gesellschaftliche Veränderungen im Zuge der Industrialisierung, wie Individualisierungs- und Verstädterungsprozesse. Neue soziale Problemlagen führten sowohl in Europa wie auch in den USA zur Entstehung von Theorietraditionen, die sich mit sozialem Handeln auseinander setzten und versuchten, dieses aus seiner Binnenlogik heraus zu verstehen. Dausien (2002: 146) spricht in diesem Zusammenhang von einer erzwungenen Freisetzung und Entwurzelung breiter Schichten der Bevölkerung, durch den Umbruch gültiger sozialer Ordnungen sowie durch den Wechsel gesellschaftlicher Kontexte aufgrund von Migration, die einerseits soziale Leidensprozesse erzeugen, andererseits aber auch emanzipatorische Handlungsmöglichkeiten beinhalten. Biographische Folgeprobleme, die im Übergang zur Industriegesellschaft entstehen, wie z.B. Arbeitslosigkeit, Armut, Kleinkriminalität, Obdachlosigkeit, „verlangen nicht nur individuell-biographische Bewältigungsleistungen, sondern auch gesellschaftliche und politische Antworten“ (Dausien 2002: 146). Daraus lässt sich der explizite Praxisbezug soziologischer Forschung dieser Zeit erklären.
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Die Studie befasste sich mit der sozialen Organisation polnischer Bauern und ihrer Reorganisation nach der Migration in die USA, mit dem Ziel, die durch Migration hervorgerufenen Veränderungen festzustellen. Thomas und Znaniecki nutzten systematisch persönliche Dokumente (Briefe und Autobiographien), was in der Soziologie neu war, und postulierten darüber hinaus, dass es sich bei solchen biographischen Texten um das perfekte Datenmaterial für soziologische Untersuchungen handle (Spülbeck 1997: 25). In der ausführlichen methodologischen Begründung dieses Forschungsvorgehens werden Fragen einer rekonstruktiven Methodologie und Theoriebildung reflektiert, die später im Rahmen des Konzeptes der Grounded Theory wieder aufgegriffen wurden (Dausien 2002: 148f).
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Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts z.B. in Deutschland, im Rahmen der an Max Weber anschließenden Verstehenden Soziologie, ein wissenschaftliches Interesse an der Sicht der von diesen gesellschaftlichen Umwälzungen besonders Betroffenen. Neben der Entstehung des literarischen Genres der ‚Arbeiterautobiographie‘ gewinnen Sozialreportagen an Bedeutung, und die Sozialwissenschaft setzt sich mit der Entwicklung von Methoden zur Gewinnung dieser Betroffenenperspektive auseinander. Wie Dausien (2002: 147) anmerkt, wurden Biographien in der europäischen Sozialwissenschaft v.a. dazu genutzt, soziale Problemlagen für die Vertreter politischer und bürgerlicher Schichten anschaulich zu machen. Es ging in dieser Forschungstradition um Aufklärung, um Anklage, um die Erschließung ‚fremder‘ Lebenswelten durch die Erhebung von Arbeiterbiographien, weniger um theoretische Reflexion über das Konzept der Biographie. In der amerikanischen Soziologie war die Biographie als Gegenstand empirischer Forschung und theoretischen Nachdenkens stärker präsent. Industrialisierung und Migration führten zur explosionsartigen Entwicklung von Großstädten. Die damit verbundenen Probleme sozialer Desintegration und die Entwicklung individueller Überlebensstrategien forderten zu sozialpolitischen Antworten heraus. In Chicago, besonders stark von solchen Modernisierungsprozessen betroffen, entwickelte sich eine sozialwissenschaftliche Forschungstradition, die an sozialem Handeln, insbesondere an der Verarbeitung sozialen Wandels auf der Seite der Subjekte interessiert war. Die sogenannte ‚Chicago School of Sociology‘ war mit ihrer empirischen Orientierung vor allem ein Ort der Entwicklung und Reflexion von Methoden. Besonders zentral waren ethnographische Zugänge, die soziales Handeln im Feld erkunden wollten, und biographische Ansätze, die an Prozessen der Problemverarbeitung von Subjekten interessiert waren5. Die ‚Chicago School‘ war aber darüber hinaus auch ein Ort der theoretischen Reflexion. Die methodologische Bedeutung des Einzelfalls (d.h. Fallstudien von kleinen Gruppen oder Individuen) verlangte nach einer systematischen Klärung des Verhältnisses von Theorie und Empirie (siehe dazu Blumer 2004 (1969)). In Anschluss an die Tradition des Pragmatismus und insbesondere an den Symbolischen Interaktionismus George Herbert Meads wurden die
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Neben der bereits erwähnten klassischen Migrationsstudie „The Polish Peasant in Europe and America“ von Thomas und Znaniecki (publiziert u.a. 1958), die vor allem für die Biographieforschung von Bedeutung ist, wird oft auch auf William F. White’s „Street Corner Society“ (publiziert 1943) hingewiesen, als klassisches Beispiel für die ethnographische Methode der teilnehmenden Beobachtung, wie sie im Rahmen der Chicago School angewendet wurde.
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Grundsteine gelegt für eine rekonstruktive Theoriebildung aufgrund empirischer Beobachtungen, wie sie im Konzept der Grounded Theory in den 1960er Jahren wieder aufgegriffen wurde. Ende der 1930er Jahre nahm die Bedeutung der ‚Chicago School‘ wieder stark ab6, und mit ihr verschwand vorerst auch die Biographieforschung aus der Soziologie, bis sie Ende der 1970er Jahre in Deutschland erneut aufgegriffen wurde. Das wiedererwachte Interesse stand, wie Dausien (1994: 132f; 2002: 151f) aufzeigt, im Zusammenhang mit dem Entstehen kritischer Gegenbewegungen zu den herrschenden Positionen in Wissenschaft und Gesellschaft: Biographien interessierten in der marxistisch orientierten Industriesoziologie, der kritischen Geschichtsschreibung, der Migrationsforschung und der Frauenforschung. Im Laufe der 1980er Jahre, im Kontext einer breiten Neu-Rezeption interpretativer Ansätze u.a. aus der Chicago School in der deutschen Soziologie, wurde dieses anwaltschaftliche Verständnis von Biographieforschung zunehmend kritisch hinterfragt. Im Unterschied zum frühen Sozialkonstruktivismus der Chicago School und daran anknüpfender Konzepte in den 1960er Jahren (z.B. Grounded Theory) geriet in dieser neueren Debatte die soziale Standortgebundenheit und Konstruktivität sozialwissenschaftlicher Forschung selbst ins Zentrum der Reflexion. Auf die Biographieforschung bezogen heißt das, dass man sich mit dem Biographie-Konzept an sich auseinander setzte. Man fragte danach, was Biographien überhaupt sind, welche Funktionen sie für Individuen wie für Gesellschaft erfüllen, nach welchen historisch-kulturellen Mustern sie konstruiert und wie sie sozial strukturiert werden (Dausien 2002: 153). Biographien werden nun also nicht mehr verstanden als Abbild einer sozialen Realität, sondern als Konstrukte, und die Reflexion über den wissenschaftlichen Umgang mit Biographien und die daraus zu gewinnende Erkenntnis nimmt viel Raum ein. Den gesellschaftlichen Hintergrund für diese vermehrt theoretische Auseinandersetzung um Biographieforschung bilden immer noch Individualisierungsprozesse, die allerdings eine andere Qualität bekommen haben. Insbesondere Veränderungen in der Erwerbsarbeit machen kontinuierliche Bildungs- und Berufsbiographien zunehmend unwahrscheinlich, die ‚Normalbiographie‘ hat lediglich noch normative Bedeutung. Statt dessen entwickeln sich die westlichen Gesellschaften hin zu pluralisierten Lebensentwürfen und erheblich gesteigerten Wahlmöglichkeiten, was aber auch die lebenslängliche Bereitschaft erfordert, sich immer wieder neu zu orientieren und anzupassen (Dausien 2002: 154; Lutz/
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Der 2. Weltkrieg verlangte nach anderen Formen der Sozialwissenschaft, insbesondere nach Verhaltensforschung und Surveys zur Einstellung der Bevölkerung (Juhasz/Mey 2003: 88, bezugnehmend auf Martin Kohli)
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Schwalgin 2006: 101). Biographien erscheinen in diesem gesellschaftlichen Kontext als konstruktive Leistung individualisierter Subjekte, als biographische Arbeit, die auf bestimmte gesellschaftliche Problemlagen antwortet, sich bestimmter (sub-)kultureller Muster bedient und für bestimmte Akteur/innen bzw. Gruppen je unterschiedliche Bedeutung haben kann (Dausien 2002: 153). In der Folge bilden sich unterschiedliche Formen eines biographischen Konstruktivismus heraus, die sich teils am klassischen Sozialkonstruktivismus orientieren, teils eine postmoderne, dekonstruktivistische Wende vollzogen haben (Dausien 2002: 155f; Juhasz/Mey 2003: 89f; Völter et al. 2005: 7). Während sich Erstere für die Konstruktion von Biographie im Sozialen interessieren, für die Verknüpfung von sozialem Handeln, subjektiver Sinnkonstruktion und historisch-gesellschaftlicher Strukturen, interessiert Letztere der Prozess der symbolischen, sprachlichen und kognitiven Konstruiertheit von ‚Wirklichkeit‘, wobei die Frage nach einer außersprachlichen Referenz (d.h. einer ‚objektiven Wirklichkeit‘) in den Hintergrund gerät7. Allen gemeinsam ist, dass Biographie nicht mehr als ein methodisches Instrument zur Abbildung von individueller oder sozialer Wirklichkeit gesehen, sondern als veränderliche, flüssige Konstruktion betrachtet wird, die eine gewisse Perspektivität hat, welche nicht auf Wirklichkeit verweist, sondern auf Regeln der Konstruktion von Wirklichkeit. Dausien (2002) fasst den Stand der Biographieforschung im Hinblick auf das gesellschaftliche Umfeld am Ende des 20. Jahrhunderts wie folgt zusammen: „Biographie wird in einer Spannung zwischen der Dekonstruktion bisher gültiger Muster der Identitätserzeugung und –beschreibung, dem Brüchigwerden und Bedeutungsverlust biographischer Gewissheiten einerseits und einer enormen Bedeutungssteigerung biographischer Konstruktionsleistungen andererseits thematisiert. Bestimmte gesellschaftliche Problemlagen wie z.B. Migration, Veränderungen im Geschlechter- und Generationenverhältnis oder der Funktionsverlust herkömmlicher Bildungs- und Berufskonzepte erzeugen prototypisch neue (‚Patchwork‘-)Modelle von Biographien, die es zunächst einmal empi-
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In diesem Kontext hat auch das Konzept der Narration besondere Bedeutung gewonnen. Dausien (2002: 157) spricht von einer narrativen Spielart des Konstruktivismus, die davon ausgehe, dass Narration Wirklichkeit nicht einfach repräsentiere, sondern sie überhaupt erst schaffe. Dieses Verständnis des Verhältnisses von Narration und Wirklichkeit hat insbesondere in der sozialen und pädagogischen Praxis eine gewisse Verbreitung erfahren, in der Idee, dass das professionell angeleitete ‚Umschreiben‘ von Lebensgeschichten ein Potential zur Veränderung aktueller Lebenslagen (oder zumindest zur Veränderung der individuellen Perspektive auf die Lebenslagen) in sich trage (vgl. dazu auch Kapitel 3.3 zu Biographie und Alter).
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risch zu erforschen gilt, ehe weitreichende theoretische Erklärungsansätze entwickelt werden können. Dabei müssen sich die beiden theoretischen Pointen, Biographien als sozial konstruierte Konstruktionen, die durch ihre Positionierung im sozialen Raum geprägt werden, und Biographien als konstruierende Prinzipien, als Modi der Konstruktion von sozialer Wirklichkeit zu betrachten, nicht widersprechen.“ (Dausien 2002: 160f, Hervorhebungen im Original)
Genau dieser Gedanke, dass sich nämlich die beiden vermeintlichen Gegenpole der gesellschaftlichen Konstruiertheit individueller Biographien und der subjektiv konstruierten gesellschaftlichen Wirklichkeit auch zusammendenken lassen, wird im Folgenden im Zentrum stehen. Biographie und Gesellschaftstheorie Warum sind biographisch-narrative Dokumente ein aussagekräftiges sozialwissenschaftliches Material, und worüber geben sie Auskunft? Welche Art von Erkenntnis kann aus ihnen gewonnen werden? Dieser Frage soll hier etwas ausführlicher nachgegangen werden. Es soll umrissen werden, wie biographische Erzählungen hier in Beziehung zu Gesellschaft gesetzt werden, und es soll dargelegt werden, inwiefern Biographien eine spezifische Handlungsressource bilden. Biographien sind Lebensgeschichten von Individuen, und insofern sind sie einzigartig, wie auch jedes Individuum einzigartig ist. Dennoch postuliert die Biographieforschung, dass sich im Individuellen der Lebensgeschichte auch das Soziale manifestiert, dass individuelle Geschichten Auskunft über soziale Zusammenhänge geben. „Die Lebensgeschichte ist einerseits individuell in dem Sinn, als sie die historische Erfahrungskonstellation eines einmaligen und unvertretbaren Subjekts darstellt. Sie ist zugleich ein komplexes soziales Erfahrungsgefüge, in das die handelnden und deutenden Aktivitäten einer Vielzahl von Personen und Institutionen hinein verwoben sind. In der narrativen Präsentation biographischer Erfahrungen werden Individualität und Sozialität gewissermaßen ‚in Szene gesetzt‘.“ (Dausien 2002: 178)
Was hier nun besonders interessiert, ist der soziale Aspekt biographischer Erzählungen. Es geht um die Frage, was individuelle Biographien über Gesellschaft aussagen können, und damit um die Begründung, warum biographische Erzählungen aussagekräftige sozialwissenschaftliche Daten darstellen. Die moderne Biographieforschung erhebt in der Regel den Anspruch, Aussagen zu
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generieren, deren Gültigkeit über das Individuum und seine innerpsychischen Prozesse hinausreichen. Ob nun eher an historisch-sozialen Strukturbildungen oder an Erfahrungsstrukturen und Bildungsprozessen einzelner Individuen interessiert, unterstellen die aktuellen biographischen Forschungsrichtungen alle einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Formation sozialer Lebenswelten und der Erfahrungsbildung von Individuen (Völter et al. 2005: 7). In der Biographie manifestiert sich die Dualität von Struktur und Handlung (Giddens 1997), Biographien widerspiegeln sowohl die subjektive Aneignung und Konstruktion von Gesellschaft wie auch die gesellschaftliche Konstitution von Subjektivität. Im Kontext der ‚Chicago School‘ stand das Konzept der Biographie für den quasi idealen Zugang zu sozialen Welten. Die Biographie interessierte nicht in erster Linie als Illustration soziologischer Theorie, sondern sie wurde als empirisches Primärmaterial betrachtet, aus dem sich soziologische Theorie generieren ließ (Spülbeck 1997: 27). Biographien wurden verstanden als alltagsweltliche Konstruktionen, die von den Individuen in Auseinandersetzung mit ihrer sozialen Realität entwickelt und kontinuierlich verändert werden, und erzählte Lebensgeschichten sind Dokumente dieser Praxis der subjektiven Aneignung von Gesellschaft. Subjektive Aneignung beinhaltet im hier vorliegenden Verständnis soziales Handeln, soziale Erfahrungen, die Organisation sozialer Praxis und damit auch die Organisation und Reproduktion von Gesellschaft. „Damit wird Biographie als methodisches Brückenkonzept zur dialektischen Verknüpfung von ‚Außen‘ und ‚Innen‘, von Bewusstsein, Handeln und Struktur, von Individuum und Gesellschaft konstruiert.“ (Dausien 2002: 150) Das ‚Außen‘ wird verstanden als die historisch konkrete Sozial- oder Alltagswelt, welche von den Handelnden interaktiv gemacht und bis zu einem gewissen Grad auch verändert wird. Biographische Narrationen, so die Annahme, berichten darüber, wie Subjekte sich ihre eigenen, reflexiven Positionen zu Strukturen schaffen, wie sie einen Umgang damit entwickeln. Verschiedene Autoren behandeln diese Manifestation der Dualität von Struktur und Handlung in der Biographie mehr oder weniger explizit, und die gesellschaftstheoretischen Bezugnahmen sind unterschiedlich. Am naheliegendsten scheint jedoch eine Verknüpfung mit den Ansätzen Bourdieus (z.B. Hoerning 1995, Alheit 1995: 294f; Juhasz/Mey 2003, Humphrey et al. 2003) und Giddens’ (z.B. Alheit 1995, Dausien 1996 oder 2002). Die Ansprüche an den gesellschaftstheoretischen Gehalt von individuellen biographischen Narrationen sind dabei relativ hoch: „Biographisch-narrative Interviews bieten einen Zugang zu gesellschaftlichen Konstruktions- und Konstitutionsprozessen. Sie weisen auf die Komplexität des Gewordenseins und
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des Werdens von Subjekten am Schnittpunkt von Institutionen, sozialen Praktiken und Diskursen hin. Sie stellen ein Untersuchungsmaterial dar, an dem Individuations- und Vergemeinschaftungsvorgänge von Individuen nachgezeichnet werden können.“ (Gutiérrez Rodríguez 1999: 35)
In Biographien wird Kontinuität und Konsistenz hergestellt, indem Diskontinuitätserlebnisse und Widersprüche in einen präsentierbaren und kommunizierbaren Zusammenhang gebracht werden (Breckner 2005: 123). Biographien werden somit immer wieder neu konstruiert, Erfahrungen werden dabei re-interpretiert, Lebensgeschichten umgeschrieben. Allerdings folgen die unterschiedlichen Darstellungen von Erfahrungen in der Form einer Biographie nicht individuellen Vorlieben und Wünschen, sondern spezifischen Mustern der Darstellung, welche individuell wie auch gesellschaftlich bereits etabliert sind. Sie werden situativ zwar jeweils spezifisch ausgestaltet und damit auch verändert. Als bestimmte Form der Kommunikation über sich selbst sind sie jedoch als Präskripte für die situationsadäquate Steuerung gegenseitiger Kommunikationserwartungen strukturierend (ebd.: 124). Biographien sind also einerseits strukturiert durch gesellschaftlich-historische Kontexte, in denen Lebensgeschichten formuliert werden. Andererseits sind sie aber auch strukturiert durch die individuelle Erfahrungs- und Reflexionsgeschichte: „Lebensgeschichten verändern sich rückblickend und im Spiegel von Erwartungen. Sie werden variiert, rekonstruiert und neu konstruiert mit jeder neuen Situation, in der sie erzählt oder auf andere Weise aktualisiert werden. Andererseits sind die Variationsspielräume nicht beliebig, denn Lebensgeschichten sind Ergebnis und Bestandteil jener Erfahrungsstruktur, die sich biographisch in bestimmten sozialen und historischen Kontexten herausgebildet hat. Und diese Erfahrungsstruktur legt gewissermaßen die Grenzen dessen fest, was im Rahmen einer bestimmten Biographie möglich war und ist. Diese Festlegung ist jedoch keine Determination, kein Pressen in eine soziale Form, sondern eine Begrenzung von Möglichkeitsräumen.“ (Dausien 2002: 223)
In Biographien bilden sich also sowohl gesellschaftliche Strukturen, als auch individuelle Erfahrungen ab, und im Schnittpunkt der Strukturierung durch den Kontext wie auch der Strukturierung durch die individuelle Erfahrungsgeschichte konstituieren sich Möglichkeitsräume und Handlungsmuster. Durch den Fokus auf Prozesshaftigkeit – Biographien berichten vom Geworden-Sein eines Subjektes – kann in Biographien auch danach gefragt werden, „inwiefern Individuen durch ihr Denken und Handeln ihre Möglichkeitsräume vergrößern und
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Barrieren überwinden können. Der biographietheoretische Zugang erweitert somit die Frage nach der Verschränkung von Struktur und Handlung dahingehend, dass er nicht nur die Reproduktion von gesellschaftlicher Ungleichheit (d.h. den Einfluss von Struktur auf Handlung), sondern auch deren Veränderung thematisiert (d.h. den Einfluss von Handlung auf Struktur)“ (Juhasz/Mey 2003: 86). Biographien beinhalten somit also nicht nur das Element der Reproduktion von Struktur, sondern auch das Element der Adaption, des sozialen Wandels. Wichtig ist hier, dass Biographien nicht über eine einzelne Interaktionssituation berichten – also im Giddens’schen Sinn (1997) ein konkretes Zusammenspiel zwischen Struktur und Handlung –, sondern über eine Interaktionsgeschichte, in der einzelne Interaktionssituationen reflektiert, in eine prozesshafte Ordnung gebracht und mit Sinn versehen wurden. Biographien berichten also über Erfahrungen, jedoch nicht über eine simple Aneinanderreihung von Erfahrungen, sondern über eine kumulative Anhäufung von reflektierter Erfahrung, welche dem Subjekt in seinem alltäglichen Handeln als Ressource zur Verfügung steht. So gesehen kann dieses biographische Erfahrungswissen als Erfahrungsaufschichtung (Alheit/Hoerning 1989), und diese wiederum als spezifische Ressource oder als biographisches Kapital (Hoerning 1989, 1995; Lutz 2000) bezeichnet werden. Biographische Erzählungen ihrerseits sind, so nimmt man an (z.B. Dausien 2002: 219f, Wohlrab-Sahr 2002: 8), ein besonders nahe liegender Zugang zur empirischen Untersuchung von Erfahrung. Verschiedene Autorinnen und Autoren in der deutschsprachigen Biographieforschung thematisieren das Verhältnis zwischen Erfahrung und dem Erzählen über Erfahrung. Spontanes biographisches Erzählen wird dabei zum Mittel der Erfahrungsorganisation und Erfahrungsdeutung. Werden die Akteur/innen in ihrer alltäglichen Praxis mit neuen Erfahrungen konfrontiert, dann bemühen sie sich, so die Annahme, um eine Integration dieser Erfahrungen in ihre bereits bestehenden Erfahrungsordnungen. Alheit/Hoerning (1989: 13) bezeichnen diesen Prozess der Einordnung von neuen Erfahrungen in bereits bestehendes Erfahrungswissen mit dem Begriff „Erfahrungsaufschichtung“. In biographischen Erzählungen, so die Annahme, manifestieren sich solche Erfahrungsaufschichtungen und ihre Organisationsprinzipien. Individuen machen im Alltag ihre je eigenen Erfahrungen, und sie entwickeln auf dem Hintergrund von kulturell und sozial vorgegebenen Folien eigene Interpretationen und Begriffe, mit denen sie diese Erfahrungen für sich selbst reflektieren und festhalten wie auch anderen mitteilen (Dausien 2002: 219). Dabei steht den Individuen aber nur eine bestimmte Auswahl aller möglichen Erfahrungen überhaupt offen:
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„Die Summe der denkbaren Erfahrungen, die Individuen in einer bestimmten historischen Zeit und an einem spezifischen gesellschaftlichen Platz machen, ist [...] eingeschränkt durch die gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen der Biographie. Erfahrungen machen wir nur in Räumen, die uns zugänglich sind, und nur in Situationen, die wir tatsächlich erleben.“ (Alheit/Hoerning 1989: 12)
Deshalb lassen sich biographische Erfahrungen auch nur verstehen, wenn sie in Beziehung gesetzt werden zur jeweils relevanten Struktur, oder in den Worten von Alheit und Hoerning (1989: 15), zu Faktoren, die ‚hinter dem Rücken‘ der Akteure wirksam sind und bestimmte Erfahrungshorizonte überhaupt erst konstituieren. Weiter ist auch zu bedenken, dass Narrationen die Erfahrungen, über die sie berichten, nicht einfach eins zu eins wiedergeben (siehe dazu auch die Ausführungen von Rosenthal (1995) zur Unterscheidung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte), sondern es sind Interpretationen der Vergangenheit, denen im Moment der Erzählkonstruktion Logik und Kohärenz gegeben werden (Hermann/Röttger-Rössler 2003: 3). Aus diesem Grund sagen biographische Erzählungen nicht nur etwas über vergangene Erfahrungen, sondern insbesondere auch über gegenwärtiges Handeln, Fühlen und Denken aus (Dausien 2002: 226) Deshalb muss eine Annäherung an Lebensgeschichten unter einem akteur-zentrierten Ansatz die geschilderten Geschehnisse und Handlungen immer in ihrer narrativen Vermittlung begreifen und damit den kommunikativen Akt des erinnernden Erzählens als Form sozialen Handelns im Blick haben (Hermann/ Röttger-Rössler 2003: 4). Daraus ergibt sich auch, dass Erzählungen immer durch frühere Erfahrungen und Erzählungen vorstrukturiert sind. Diese Vorstrukturierung kann jedoch nicht als vergangene Erfahrungsstruktur rekonstruiert werden, sondern immer nur als eine in der Gegenwart aktualisierte und auf Vergangenheit verweisende. Diese Verschränkung zwischen biographischer Erfahrung und Erzählung produziert auch eine Rückwirkung von der Erzählung auf die Erfahrung: Erzählen re-konstruiert Erfahrung und gestaltet diese aktiv neu (Dausien 2002: 227). Das Erzählen über Erfahrungen ist zudem eingebettet in die alltägliche Praxis, und das muss bei der sozialwissenschaftlichen Arbeit mit biographischen Erzählungen berücksichtigt werden. Über Erfahrung mit abstrakten Kategorien (z.B. Geschlecht, Alter, Gesellschaft) kann nicht unmittelbar erzählt werden, doch manifestieren sich abstrakte soziale Konzepte in Biographien in vielfältiger konkreter Ausformung. Erfahrungsberichte beziehen sich immer auf ein konkretes Umgehen mit konkreten Problemen in konkreten Situationen. Erzählungen ermöglichen somit sowohl einen Zugang zu den Erfahrungen, die jemand gemacht hat, als auch zu den konkreten Situationen und Hand-
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lungsumwelten, in denen diese Erfahrungen gemacht wurden (Dausien 2002: 226) Die Idee, dass Erzählungen aufgrund von Erfahrungsaufschichtungen konstruiert werden, und dass Erfahrungsaufschichtungen sich dadurch auszeichnen, dass neue Erfahrungen reflexiv mit alten Erfahrungen in Zusammenhang gebracht und dadurch mit Sinn versehen werden, beinhaltet auch, dass Erfahrungsaufschichtungen etwas Kumulatives an sich haben, etwas, das durch ihre individuelle Ausformung und durch die Reflexivität auch Einfluss nimmt auf Handlungsentscheide. Diese Vorstellung betont das individuelle, kreative Element, beinhaltet sie doch die Möglichkeit, dass vergleichbare Erfahrungen unterschiedlich mit Sinn versehen werden und dass vergleichbare strukturelle Konstellationen nicht unbedingt vergleichbare Handlungen auslösen. Ein Versuch, dieses Phänomen theoretisch zu fassen, ist das Konzept des biographischen Kapitals. Die empirische Beobachtung, dass Menschen trotz ähnlicher sozialer Positionierung sehr unterschiedlich mit Veränderungen und Wendungen in ihrem Lebenslauf umgehen, führte die Soziologin Erika Hoerning (1989, 1995) dazu, die biographische Erfahrungsaufschichtung und deren handlungsanleitende Bedeutung in Anlehnung an die Bourdieu’sche Kapitaltheorie unter dem Begriff der biographischen Ressourcen zu behandeln. Gedeutete und geordnete Erfahrungen bilden demnach ein biographisches Wissen, welches Handlungsstrategien strukturiert und Biographien steuert: „[D]ie historische Platzierung des Lebenslaufs, die Generationsprägung und das Durchlaufen von Statuspassagen im Lebenslauf [schaffen] Erfahrungen als biographische Kapitalstruktur, die nicht nur den weiteren Verlauf der Lebensgeschichte steuern, sondern die gleichzeitig als biographische Ressourcen, sozusagen als soziales und kulturelles Kapital der Biographie, zur Bewältigung von Lebensereignissen eingesetzt werden können. Erfahrungen besitzen heißt, dass jede neue Situation in der Lebensgeschichte mit einem Bestand von biographischen Erfahrungen, die als biographisches Wissen ‚abgelagert‘ sind, gedeutet und strukturiert wird.“ (Hoerning 1995: 237)
Dieses biographische Wissen formiert sich aber nicht autonom aufgrund der eigenen Erfahrungsaufschichtungen, sondern bezieht auch (reflexiv bearbeitete und kommunikativ vermittelte) Erfahrungsaufschichtungen anderer (nahe stehender Personen, Verwandter früherer Generationen sowie kollektiv geteilte Narrationen, in denen Erfahrungen der Vorfahren übermittelt werden etc.) mit ein (Hoerning 1995: 238). Biographische Ressourcen werden insbesondere auch dann eingesetzt, wenn sich gesellschaftliche Strukturen verändern, wenn Individuen mit Anforderungen konfrontiert werden, bei denen nicht unmittelbar auf
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Erfahrungswissen zurückgegriffen werden kann. Erfahrungen werden einerseits aufgrund des vorhandenen Erfahrungswissens gedeutet, andererseits aber wird auch das Erfahrungswissen in der reflexiven Bearbeitung von neuen Erfahrungen beurteilt und allenfalls transformiert. Biographien werden auch umgeschrieben. So gesehen bildet biographisches Erfahrungswissen eine wichtige Ressource, nicht nur im Hinblick auf die Beurteilung von neuen Situationen und die dadurch mögliche Schaffung von Handlungsfähigkeit, sondern insbesondere auch als Instrument zur Bearbeitung von Diskontinuitäten und deren Umwandlung in biographische Kontinuität. Biographisches Kapital – oder biographische Ressourcen – ist demnach veränderbar, eine Kapitalform, mit der gearbeitet werden kann, ein Potenzial auch, mit dem sich Erfahrungsdeutungen und Handlungsstrategien bearbeiten lassen. So gesehen liegt die Ressource nicht nur darin, dass sich Erfahrungsaufschichtungen unterschiedlich zusammensetzen oder dass die daraus abgeleiteten Handlungsstrategien mehr oder weniger erfolgreich sind, sondern das Kapital liegt auch in der Fähigkeit zur Selbstreflexivität an sich, die es möglich macht, mit Veränderung umzugehen. Wie die Biographieforschung Erkenntnis gewinnt: Reflexivität und Rekonstruktion Biographische Erzählungen sind, so haben die vorangegangenen Ausführungen gezeigt, ein höchst komplexes soziales Phänomen. In biographisch-narrativen Daten steckt denn auch ein riesiges Potenzial an möglichen inhaltlichen wie auch theoretischen Erkenntnissen, und es gibt unterschiedliche Ansichten, wie im Forschungsprozess mit solchen Materialien sinnvoll zu verfahren sei. Verfahrensweisen haben eine praktische Seite – auf die ich in Kapitel 4 eingehen werde –, sie haben aber auch eine theoretische Seite. Die theoretische Frage, auf welchem Wege man wissenschaftliche Erkenntnis aus biographisch-narrativen Interviews gewinnen kann und welche Art Erkenntnis dies ist, möchte ich hier anhand der beiden Leitkonzepte der Reflexivität und der Rekonstruktion kurz anreißen. Wie bereits erwähnt, haben sich in der Biographieforschung diverse Richtungen entwickelt, die in verschiedenen Disziplinen verankert sind und an unterschiedliche Theorietraditionen anknüpfen, die sich aber doch auf einige gemeinsame Nenner reduzieren lassen. In Anlehnung an Bettina Dausien (2002: 162f) kann man Biographieforschung als ein prinzipiell offenes Programm verstehen, das durch die Bezugnahme auf den theoretischen Rahmen einer interpretativen
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Sozialwissenschaft begrenzt wird8. Dies beinhaltet bestimmte Grundannahmen über die soziale Wirklichkeit und die Möglichkeit ihres Erkennens sowie die daraus ableitbaren methodologischen Prinzipien der Entdeckung, Rekonstruktion und Explikation theoretischer Zusammenhänge aufgrund empirischer Daten. Diese biographietheoretische Methodologie knüpft an die Theorietraditionen des Sozialkonstruktivismus von Berger und Luckmann und der Phänomenologie Alfred Schütz’s an und übernimmt deren Grundannahme, dass Wirklichkeit zu deuten, zu interpretieren ist, dass sie sich sogar erst in den Interpretationen der Akteure konstituiert. Dausien benutzt den Begriff der reflexiv-rekonstruktiven Methodologie und betont damit zwei Grundprinzipien des abduktiven9 Forschungsprozesses: die Reflexivität und die Rekonstruktion. Reflexiv muss Biographieforschung sein, weil davon ausgegangen wird, dass wissenschaftliche Konzepte – wie z.B. Biographie, aber auch Geschlecht, Klasse, Ethnizität – genauso Teil der sozialen Wirklichkeit sind wie deren empirische Gegenstände. Sie gehören wie jede andere Erkenntnis- und Abstraktionsleistung zur sozialen Welt, sie werden von konkreten Akteuren in konkreten Situationen erzeugt. Dem liegt ein sozialkonstruktivistisches Handlungsmodell zugrunde, das davon ausgeht, dass die Welt nicht an sich wahrgenommen werden kann, sondern immer nur durch die Perspektive der Wahrnehmenden. Wissenschaftliches Forschen unterliegt grundsätzlich denselben Regeln und Bedingungen des Erkennens wie alltagsweltliches Handeln. Es unterscheidet sich lediglich im Grad der Explikation und Reflexion sowie in bestimmten Konventionen der Durchführung, Präsentation und Diskussion des Erkenntnisprozesses. In diesem Sinne sind wissenschaftliche Erkenntnisse Konstruktionen, und zwar – nach Alfred Schütz – Konstruktionen zweiten Grades, erstellt auf der Basis von Konstruktionen ersten Grades der Alltagswelt. Demnach hat empirische Forschung „die Aufgabe, die komplexen interpretativen Leistungen genauer zu untersuchen, mit der Gesellschaftsmitglieder interaktiv ihre soziale Wirklichkeit herstellen und in ihr handeln, mit denen sie sich selbst und die Welt deuten. Da aber wissenschaftliches Handeln selbst den Regeln der Interpretation und Konstruktion unterliegt, bedarf es einer reflexiven Methodologie, die das Verhältnis zwischen
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Siehe dazu auch den klassischen methodologischen Text von Herbert Blumer (2004 (1969)).
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Damit ist ein Erkenntnisgewinnungsverfahren gemeint, das sich sowohl auf deduktive wie auch auf induktive Schlussführung stützt und durch das ständige zyklische Schließen von Empirie auf Theorie auf Empirie etc. insbesondere die Entdeckung von Neuem, von Unerwartetem beabsichtigt (siehe dazu z.B. Reicherz 2004).
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wissenschaftlichen Konstruktionen und den alltagsweltlichen Leistungen der Akteure klärt bzw. ‚beobachtet‘.“ (Dausien 2002: 166) Was die Wissenschaft produziert, sind in diesem Verständnis also Rekonstruktionen von alltagsweltlichen Konstruktionen. Daraus ergeben sich verschiedene Probleme, die methodologische Konsequenzen erfordern. Zum einen geht es um den Geltungsanspruch wissenschaftlicher Rekonstruktionen, um die Frage danach, was für eine Art Erkenntnis Konstruktionen zweiten Grades produzieren können. Dausien stützt sich hier auf Schütz, der auch die wissenschaftliche Erkenntnis als in der Lebenswelt gebunden sieht: „Generell kann im Rahmen einer ‚konstruktivistischen Hermeneutik‘ davon ausgegangen werden, dass die wissenschaftliche Re-Konstruktion eines Gegenstandes keinen privilegierten Zugang zur sozialen Wirklichkeit darstellt und auch keine durch Übereinstimmung mit dem Gegenstand erzeugte ‚Objektivität‘ oder ‚Wahrheit‘ verbürgt. Diese kann schon deshalb nicht erreicht werden, weil der ‚Gegenstand‘ keine ontologisch fixierbare und positivistisch erschließbare Einheit darstellt, sondern von der Definition der forschenden Subjekte abhängt und als ‚Gegenstand‘ im Prozess der Forschung konstruiert wird.“ (Dausien 2002: 169)
In der Konsequenz lässt sich die methodologische Forderung formulieren, den eigenen Standort zu explizieren und im Forschungsprozess laufend zu reflektieren. Ein weiteres Problem rekonstruktiver Forschung ergibt sich aus dem Vorwurf, diese würde einer positivistischen Verdoppelung empirisch vorgefundener Sinnkonstruktionen Vorschub leisten durch deren sozialwissenschaftliche Beobachtung und Nacherzählung. Es kann gefragt werden, ob die wissenschaftliche Reproduktion alltagsweltlicher Denkweisen neue Erkenntnis produziere, ob sie eventuell nicht sogar dazu beitrage, den Status Quo zu stabilisieren10. Doch, wie Dausien anführt, meint Rekonstruktion im Schütz’schen Sinne gerade nicht ein unkritisches Nachvollziehen alltagsweltlicher Ordnungskategorien und Sinnkonstruktionen, sondern „eine reflexive, kritisch-analytische Rekonstruktion von Konstruktionen ‚ersten Grades‘ sowie der Bedingungen, unter denen diese hergestellt und relevant gemacht werden, ausbleiben oder sich verändern.“ (Dausien 2002: 171)11
10 Ein Beispiel dafür ist das Reifikationsproblem in der Geschlechterforschung, oder auch die Reproduktion resp. Verstärkung von Ethnisierungs- und damit Ausschlusstendenzen in der Migrationsforschung. 11 Bei Giddens (1997) wird dies als ein Problem der diskursiven Formulierung praktischen Wissens umschrieben, als Übersetzung von Wissen in verschiedene Bedeu-
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Soweit die allgemeinen methodologischen Anforderungen an eine sozialrekonstruktiv-biographische Analyse von narrativen Interviews. Wie dies im hier vorliegenden Fall konkret umgesetzt wurde, dazu folgen einige Ausführungen in Kapitel 4. Vorerst aber möchte ich die Leser/innen noch auf einen Streifzug durch biographische Studien aus verschiedenen Disziplinen mitnehmen.
3.3 D ISZIPLINÄRE
UND INTERDISZIPLINÄRE BIOGRAPHISCHE ANSÄTZE
Nachdem in den vorangehenden Kapiteln meine Wahl eines biographischen Ansatzes begründet und die methodologischen Implikationen der Biographieforschung umschrieben wurden, ist es Ziel dieses Kapitels, eine Übersicht über empirische Umsetzungen in verschiedenen Disziplinen zu schaffen. Von Interesse sind hier die Forschungszweige der Geschlechterforschung, der Ethnologie, der europäischen Migrationsforschung, sowie der Gerontologie. Die Auswahl dieser disziplinären Herangehensweisen und empirischen Anwendungen biographischer Methodologie ist geleitet durch mein eigenes Forschungsinteresse und erhebt nicht Anspruch auf Vollständigkeit. Ziel dieses Kapitels ist es, die verschiedenen thematischen Schwerpunkte, die durch diese Interessen angesprochen werden, zuerst getrennt aufzugreifen und dann zusammenzuführen. Meine grundsätzlichen Interessen gehen dahin, wie sich Gesellschaft in individuellen biographischen Dokumenten manifestiert, und insbesondere, wie sich Migrationserfahrungen in Biographien niederschlagen. Migrationserfahrungen beziehen sich auf Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Wechsel von einem Lebenskontext in einen anderen. Somit richtet sich mein Fokus auf eine besonders komplexe Form der Verflechtung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Akteur/in und Struktur, insofern als die biographisch erzählenden Individuen dieser Studie sich in verschiedenen strukturellen Kontexten bewegt haben resp. bewegen. Meine These ist, dass Migrationserfahrung gekennzeichnet ist durch die Reorganisation von Erfahrungswissen und Handlungsmustern bezüglich der Positionierung im sozialen Raum, oder, anders gesagt, durch die Aneignung von neuen strukturellen Kontexten und ihren Organisationsprinzipien aufgrund der Erfahrungen mit anderen strukturellen Kontexten. Soziale Organisationsprinzipien orientieren sich an verschiedenen Kategorien sozialer Differenz, nach welchen Gesellschaften horizontal und vertikal geordnet werden. Zentral
tungssysteme. Giddens benutzt dafür den Begriff der ‚doppelten Hermeneutik‘ (siehe Giddens 1997: 338 und 429f).
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für die Migrationsforschung ist diesbezüglich die soziale Differenzierung zwischen ‚Einheimischen‘ und ‚Zugewanderten‘. Damit fokussiert sie auf eine Differenzlinie, die anhand von letztlich unscharfen Kategorien wie ‚Nationalität‘, ‚ethnischer Zugehörigkeit‘ oder ‚Rasse‘ zu fassen versucht wird. Doch auch andere Kategorien sozialer Differenzierung sind relevant, und deshalb geht es mir hier nicht nur um die Migrationsspezifik in Biographien, sondern ich möchte etwas weiter gefasst danach fragen, wie sich verschiedene soziale Differenzierungskategorien in Biographien manifestieren, und ich möchte dies anhand der vor allem in der Geschlechterforschung geführten Intersektionalitäts-Debatte theoretisch fassen. Dieses Kapitel beginnt deshalb mit einem kurzen Blick auf die Differenzkategorie Geschlecht als eine der zentralen gesellschaftsimmanenten Strukturierungskategorien, und umreißt eine biographische Herangehensweise an Geschlecht. Biographieforschung ist in der Geschlechterforschung stark vertreten, und deshalb ist die Verknüpfung von Biographie und Geschlecht theoretisch schon ausführlich reflektiert worden. Auch die Verknüpfung von Geschlecht und Migration hat in der Geschlechterforschung eine gewisse Tradition (siehe z.B. Lenz 1995, Lenz et al. 2002, Gümen 1996 und 1998). Zudem ist auch die biographische Migrationsforschung häufig an Geschlecht interessiert. Viele der biographischen Migrationsstudien im deutschsprachigen Raum befassen sich explizit mit Geschlecht (Wolbert 1984, Lutz 1991, Philipper 1997, Gutiérrez Rodríguez 1999, Dausien et al. 2000, Jimenez Laux 2000 und 2001, Apitzsch/Jansen 2003). Anhand der Ausführungen in diesem Abschnitt möchte ich an der Kategorie Geschlecht exemplarisch aufzeigen, wie grundlegende soziale Differenzierungskategorien auf individuelle Biographien einwirken. Eine Frage, die mich besonders interessiert, ist diejenige, ob die soziologische Biographieforschung, wenn im Migrationskontext angewendet, besonderen Bedingungen unterliegt. Es geht mir darum, Erkenntnisse dazu zusammenzutragen, inwieweit Biographie als Produkt der westlichen Moderne in historisch und kulturell anders konstituierte Kontexte übertragen werden kann. Ich möchte deshalb zuerst die vor allem im soziologischen und pädagogischen Kontext entwickelte Biographieforschung an die ethnologischen Traditionen der Lebensgeschichte und der teilnehmenden Beobachtung anschließen. Biographische Traditionen in der Ethnologie haben sich vornehmlich auf das für die Ethnologie zentrale Konzept der ‚Kultur‘ und ihrer Manifestation in individuellen Lebensgeschichten konzentriert. Mein Interesse hier liegt jedoch in der Frage nach der Universalität resp. Kulturgebundenheit von biographischen Narrationen, und, in einem weiteren Schritt, in der Reflexion darüber, ob das methodische Vorgehen
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der Biographieforschung kontextgebunden ist oder generell zur Beobachtung sozialer Zusammenhänge geeignet ist. Danach folgt ein Überblick über biographische Ansätze in der Migrationsforschung. Dieser trägt zusammen, was mir darin als innovativ und für meine Fragestellung hilfreich erscheint. Migrationsbiographien zeichnen sich, so lese ich daraus, einerseits durch die Verwurzelung in einem soziokulturellen Kontext aus, der anders ist als der gegenwärtige Lebensmittelpunkt. Andererseits haben Migrationsbiographien gerade dadurch, dass die Biographieträger/innen diesen Herkunftskontext verlassen haben, das Potenzial zu besonders ausgeprägter Reflexivität: Ein Wechsel des soziokulturellen Kontextes erzeugt Diskontinuität im Erfahrungsfundus, und diese wird biographisch-reflexiv bearbeitet. Da mich die Biographie in einer bestimmten Phase des Lebenslaufs interessiert, nämlich nach dem Ausstieg aus dem Erwerbsleben, soll hier auch die Frage der lebenszeitlichen Perspektive des Alters behandelt werden. Deshalb greift dieses Kapitel auch die Bedeutung des fortgeschrittenen Lebensalters für die Konstruktion einer Biographie auf und stellt Ansätze vor, die Alter aus einer biographischen Perspektive angehen. Es geht hier einerseits um Fragen der zeitlichen Perspektive auf das Leben und um die subjektive Bedeutung biographischer Wendepunkte. Andererseits geht es auch um gesellschaftliche Institutionen, die Biographien formen und in Phasen einteilen. Zum Abschluss wird eine konzeptionelle Synthese angestrebt und dazu auf das theoretische Konzept der Intersektionalität zurückgegriffen. Dessen Anspruch der Verknüpfung verschiedener Kategorien von sozialer Differenzierung dient mir als Leitlinie zur Zusammenführung der bisher behandelten thematischen Forschungsstränge im Hinblick auf mein Forschungsinteresse. Biographie und Geschlecht Wie oben bereits ausgeführt, sind Biographien eingebunden in gesellschaftliche Strukturbedingungen und Strukturierungsprozesse, in denen soziale Differenzen und Zugehörigkeiten erzeugt werden. Diese wiederum sind für die soziale Positionierung und die Identitätskonstruktionen individueller Subjekte relevant. Es gibt verschiedene Kategorien sozialer Differenz, die strukturierend auf gesellschaftliche Ordnung und individuelle Positionierung wirken, und die sich demnach auch in biographischen Konstruktionen festschreiben. Auch die Kategorie ‚Geschlecht‘, bzw. die gesellschaftliche Geschlechterordnung, ist eine soziale Struktur, welche Differenz und Zugehörigkeit produziert und individuell nicht hintergehbar ist. Dennoch existiert diese Struktur nur insofern, als sie von konkreten Individuen gelebt, performativ variiert, reproduziert und/oder neu kon-
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struiert wird (Dausien 2002: 190). Geschlecht ist so gesehen eine Strukturkategorie im Giddens’schen Sinn, d.h. die gesellschaftliche Geschlechterordnung wirkt über Institutionen und Regelsysteme auf die Handlungen der Individuen, und deren Praxis wiederum rekonstruiert die Strukturen, die den Individuen als objektive erscheinen. Geschlecht, insbesondere in der Form der Zweigeschlechtlichkeit12, ist eine elementare Institution, das heißt eine soziale Klassifikation, die wohl in allen Gesellschaften zu allen Zeiten eine zentrale ist und die aufgrund ihrer Stabilität eine Naturalisierung erfahren hat (Dausien 1996: 1). In der neueren Theoriediskussion innerhalb der Geschlechterforschung besteht Konsens darüber, dass Geschlecht als soziales Konstrukt zu betrachten ist, als eine soziale Klassifikationskategorie, die in vielfältiger Weise in die Strukturen der Gesellschaft eingelassen ist. Will man, wie dies ein Anliegen der Geschlechterforschung ist, die hierarchisch geordnete, dichotome Geschlechterklassifikation moderner Gesellschaften überwinden, so verspricht die postmoderne Dekonstruktion einen Ausweg darin, dass vermeintlich unhinterfragbare Geschlechterordnungen in Frage gestellt werden. Zuerst ist es allerdings notwendig, insbesondere da sich die soziale Konstruktion Geschlecht als äußerst stabil erweist, deren Konstruktionsmechanismen über das Medium der wissenschaftlichen Rekonstruktion zu begreifen (Gildemeister/Wetterer 1992, Alheit/Dausien 2000). „Damit rückt der Modus des Konstruierens selbst in den Mittelpunkt. Er wird jedoch weder als kognitiver Akt eines individuellen Bewusstseins noch als ‚Effekt‘ eines Diskurses ohne Subjekte betrachtet, sondern als soziale Praxis, mit der die Individuen in ihrem Alltagshandeln die Kategorie Geschlecht (in der Form der Zweigeschlechtlichkeit) fortgesetzt produzieren und reproduzieren.“ (Alheit/Dausien 2000: 268)
12 Die Kategorie Geschlecht an sich und ihre explizit binäre Aufteilung in zwei Geschlechter wurde in der Geschlechterforschung, ausgelöst durch Judith Butlers „Unbehagen der Geschlechter“ (1991), ausführlich zur Diskussion gestellt. Die Vorstellung, dass es eindeutige biologischen Kriterien gibt, die eine strikt binäre Klassifikation in zwei Geschlechter rechtfertigen, ist dabei zunehmend hinterfragt worden (vgl. z.B. Gildemeister/Wetterer 1992; für einen Überblick über die Herausbildung einer konstruktivistischen Kritik
an der
klassischen Frauenforschung siehe z.B.
Alheit/Dausien 2000: 265f oder Treibel 1995: 131f).
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Die vom symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie inspirierten ‚doing-gender‘-Forschungen13 haben gezeigt, dass Individuen in ihrer alltäglichen Praxis die Geschlechterklassifikationen (re)produzieren. Es handelt sich dabei jedoch um Interaktionsanalysen, die auf den Zeithorizont der Situation beschränkt bleiben. Eine biographische Perspektive auf die Konstruktion von Geschlecht hat demgegenüber den Vorteil, dass sie die Verkettung situativer ‚doing gender‘-Prozesse im lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhang eines reflexiven Subjekts ins Zentrum stellt (Dausien 2001: 58). Biographische Ansätze sind in der Geschlechterforschung relativ stark vertreten. Das Wiederaufkommen biographischer Zugänge zu sozialer Wirklichkeit steht im Kontext einer sich über verschiedene Disziplinen und Forschungsbereiche ziehenden Kritik an etablierten Wissenstraditionen und Forschungspraxen, die sich zeitlich Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre verorten lässt (Kraul 1999: 462; Dausien 1994: 132f; Dausien 2002: 151f). Neben kritischmarxistischen Strömungen waren dabei feministische Ansätze von besonderer Bedeutung. Daraus konstituierte sich die Geschlechterforschung, die in Abgrenzung zur etablierten Wissenschaft nach neuen, eigenen Methoden suchte. In diesem Kontext wurde u.a. auch auf biographische Zugänge zurückgegriffen, um subjektive Betroffenheiten aufzuzeigen, um den bisher nicht Gehörten (d.h. im Falle feministischer Forschung den Frauen) eine Stimme zu geben, um die Besonderheit weiblicher Lebenszusammenhänge zu betonen.
13 ‚Doing gender‘-Ansätze beobachten die Herstellung von Geschlecht in Interaktionsprozessen und versuchen, die impliziten Regeln aufzudecken, mit denen Individuen ihre Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechter in Alltagssituationen darstellen und damit zur Rekonstruktion dieser Regeln beitragen (Alheit/Dausien 2000: 269). Der Begriff des ‚doing gender‘ geht zurück auf Candace West und Don H. Zimmermans Artikel „Doing Gender“ (Gender and Society 1/1987: 125-151). Gemäß Alheit/ Dausien (2000: 270) zeigen ‚doing gender‘-Studien auf, dass soziale Konstruktionsprozesse in hohem Maß auf die flexible Selbstorganisation der Individuen angewiesen sind, die sich immer wieder neu als sozial verortete Akteure, z.B. als Männer und Frauen, rekonstruieren müssen. Jedoch können auf die Interaktion beschränkte Analysen die historische Entwicklung der Regeln, die diesen Konstruktionsprozessen zugrunde liegen und auf welche Akteur/innen in jeder Interaktionssituation rekurrieren, nicht adäquat erklären. Deshalb muss die Perspektive des ‚doing gender‘ einerseits durch gesellschaftsgeschichtliche Analysen ergänzt werden, wie sie z.B. Barbara Duden, Claudia Honegger, Thomas Lacqueur oder Regina BeckerSchmidt verfasst haben, andererseits aber auch durch Analysen lebenszeitlicher Prozessstrukturen, d.h. durch die biographische Perspektive (Alheit/Dausien 2000).
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Diese Betonung der Differenz zwischen Frauen und Männern verlagerte sich in der Geschlechterforschung dann auf die Betonung der Differenzen unter Frauen, wie auch zur Erweiterung der Geschlechterdifferenz um andere Kategorien sozialer Differenz wie z.B. Rasse/Ethnizität und Klasse/Schicht (Intersektionalitäts-Debatte, siehe dazu weiter unten und Kapitel 2.2). Auch für die Bearbeitung dieses thematischen Schwerpunktes waren biographische Zugänge besonders geeignet, da sich so die Vielfalt, Komplexität und Widersprüchlichkeit individueller Lebenszusammenhänge aufzeigen ließen. Insbesondere bieten biographische Forschungsansätze eine Strategie zur differenzierten Analyse sozialer Geschlechterkonstruktionen jenseits binär-typisierender Kategorien an (Dausien 2001: 57) und tragen somit dazu bei, das Problem der Reifizierung bestehender Geschlechterverhältnisse durch die Wissenschaft (Gildemeister/ Wetterer 1992), d.h. die Festschreibung von alltagsweltlichen Geschlechterkonstruktionen durch deren unreflektierte wissenschaftliche Re-Konstruktion, zu vermeiden. Die biographische Perspektive auf Geschlecht hat spezifische Vorteile gegenüber anderen Herangehensweisen. Biographische Forschungsansätze machen die Konstruktion von Geschlecht als Prozess analysierbar und ermöglichen damit die Auflösung starrer dualistischer oder identitätskonzeptueller Feststellungen. Ein biographischer Zugang zur Analyse der Konstruktion von Geschlecht ermöglicht damit die Thematisierung des Geworden-Seins von Subjektivität und Identität (Dausien 2000a: 109f)14. Biographische Fallanalysen können aufzeigen, wie gesellschaftliche Geschlechterkonstruktionen individuell-biographisch bearbeitet – d.h. aufgegriffen oder zurückgewiesen, unterlaufen, kritisiert, mit eigenem Sinn ausgestattet werden. Sie zeigen aber auch, wie sich soziale Regeln und kulturelle Muster der dominanten heterosexuellen Geschlechterordnung als redundante Hintergrundkonstruktionen in Biographien einschleichen und als unhinterfragte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster längst etabliert haben, ehe sie – aus Anlass konkreter Konflikte und Widersprüche – für die Erzählenden selbst reflexiv, d.h. zum Thema biographischen Handelns oder expliziten Nachdenkens im biographischen Interview werden (Dausien 2001: 63). „Frau oder Mann zu werden (zu sein), ist ein widersprüchlicher und vielschichtiger Prozess, in dem differenzierte ‚Geschlechtsumwelten‘ von den Subjekten auf hochdifferenzierte Weise angeeignet werden. Gleichzeitig wird im alltäglichen sozialen Handeln eine eindeutige Zuordnung im System der Zweigeschlechtlichkeit verlangt. Dies gilt auch
14 Im Gegensatz dazu akzentuieren sozialisationstheoretische Ansätze das GemachtWerden und ‚doing-gender‘-Ansätze das Machen (Dausien 2002: 23, siehe dazu auch Dausien/Kelle 2005).
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für die biographische Selbstpräsentation und –konstruktion. Interpretationsspielräume sind gegeben, aber deutlich begrenzt.“ (Dausien 1996: 588)
Geschlecht kann demnach in der biographischen Perspektive konzipiert werden als veränderbare, gleichzeitig aber auch beharrliche Struktur. Durch die reflexive Verfügbarkeit von zuweilen auch widersprüchlichem biographischem Hintergrundwissen entsteht ein Handlungspotential, das die Möglichkeit für ‚transitorische Lernprozesse‘ (Alheit 1995) und Veränderungen der eigenen Biographie in sich trägt. In der Regel handelt es sich dabei nicht um spektaktulären Wandel, sondern um Momente alltäglicher Erfahrung, die sich im biographischen Prozess aufschichten und oft erst nachträglich, im Prozess der biographischen Rekonstruktion, zu neuen Handlungsleitlinien verknüpft werden (Dausien 1996: 590). Bestehende Geschlechterordnungen zu verändern, ist ein widersprüchlicher und langfristiger Prozess, der über Generationen läuft und eine weitaus größere Reproduktions- als Transformationsfähigkeit besitzt. „Dies hat mit der notwendigen Diskrepanz zwischen Individuum und Gesellschaft zu tun. Wie wir nicht als isolierte Individuen handeln und jene Präskripte und Strukturen unserer Wirklichkeit produzieren, so können wir sie erst recht nicht als einzelne verändern, sondern nur in der Beziehung zu anderen und gemeinsam mit anderen.“ (Dausien 1996: 592)
Die Fassung von Geschlecht als Strukturkategorie und der wissenschaftliche Zugang zur Wechselwirkung zwischen sozialer Struktur und individueller Praxis über biographische Ansätze, wie ich sie hier in Anlehnung an eine primär an Geschlecht interessierte Biographieforschung darzulegen versucht habe, lässt sich, so meine These, in adaptierter Form auch auf andere Kategorien sozialer Differenzierung wie Ethnizität, Schicht und Alter übertragen. Dieser Gedanke wird am Schluss dieses Kapitels noch einmal aufgegriffen. Zuerst aber soll der Frage nachgegangen werden, ob Biographie als Konzept der europäischen Moderne übertragbar ist in andere gesellschaftliche Kontexte oder ob seine Anwendbarkeit auf die moderne westliche Welt beschränkt ist. Ist die Annahme, dass biographische Erzählungen etwas aussagen über Erfahrungen mit Gesellschaft und deren sinnhafte Einordnung in Selbst- und Gesellschaftsbilder, übertragbar in andere gesellschaftliche und kulturelle Kontexte? Ist, anders gesagt, Biographieforschung nur in demjenigen gesellschaftlichen Kontext sinnvoll anwendbar, in dem sie entwickelt wurde, oder kann sie universell eingesetzt werden? Die Auseinandersetzung mit dieser Frage erachte ich als zentral, will man die theoretisch elaborierte Form von Biographieforschung, auf die ich mich bisher bezogen habe, im Migrationskontext anwenden. Dazu wird im
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nächsten Kapitel zuerst auf die ethnologische Forschungstradition und den darin entwickelten Umgang mit narrativen lebensgeschichtlichen Daten eingegangen, bevor anschließend die Migrationsforschung ins Zentrum rückt. Biographie und Kultur Die Auseinandersetzung mit der ethnologischen Tradition biographischer Forschung erscheint mir deshalb von Bedeutung, weil die soziologische Forschung, in deren Rahmen das hier vertretene methodologische Programm der sozialrekonstruktiven Biographieforschung hauptsächlich entwickelt wurde, von empirischer Forschung in der ‚eigenen‘ Gesellschaft ausging. Dazu bediente sich die Soziologie auch ethnographischer Methoden, welche entwickelt wurden, um den Zugang zum Verständnis ‚fremder‘ Gesellschaften zu ermöglichen. Während die Ethnologie klassischerweise mit ‚fremden‘ Individuen konfrontiert ist, die in einem ihnen ‚vertrauten‘ Umfeld verortet sind, befasst sich die Migrationsforschung mit Subjekten, welche ihr ‚vertrautes‘ gesellschaftliches Umfeld verlassen haben, ihren Lebensmittelpunkt in eine andere Gesellschaft verschoben haben, in der sie vielleicht ‚fremd‘ sind, vielleicht auch ‚fremd‘ gemacht werden. ‚Fremd‘ ist also nicht gleich ‚fremd‘, doch geht es mir hier keineswegs darum, Migrant/innen als ‚Fremde‘ zu exotisieren, sondern um die Frage, ob Biographieforschung eine ethnozentrische Sichtweise auf soziale Phänomene ist, oder ob ihre Ideen und methodischen Instrumente auf alle Gesellschaften übertragbar sind, auch wenn darin andere Sinnzusammenhänge von Bedeutung sind und andere Vorstellungen vom Subjekt und seiner Beziehung zu Gemeinschaft und Gesellschaft bestehen. Interessant sind ethnologische Ansätze auch im Hinblick auf Überlegungen, die ich mir im Zusammenhang mit der Sprache des Erzählens und der Übersetzung in der Analyse gemacht habe (siehe dazu auch Kapitel 4). Wenn Migrationsforschung biographische Methoden anwendet, dann wird die Frage bedeutsam, ob in der Muttersprache oder in einer Fremdsprache erzählt wird, und wenn Erzähltes übersetzt wird, dann ist dies eine interpretierende Leistung, die voraussetzt, dass man sich mit sprachlichen Sinnsystemen – und, einen Schritt weiter gedacht, auch mit den damit verbundenen kulturellen Bedeutungssystemen – intensiv auseinander setzt. Es wird in diesem Abschnitt deshalb darum gehen, wie das methodische Instrument des biographischen Erzählens in ethnologischen Studien resp. in interkulturellen Kontexten eingesetzt wurde und welche Erfahrungen damit gemacht wurden. Dahinter steht ein Interesse daran, ob und wie unterschiedliche Arten des Erzählens, insbesondere des biographischen Erzählens beobachtet und erklärt wurden. Gibt es so etwas wie kulturspezifisches Erzählen? Und wenn ja,
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was ist damit gemeint? Aus diesem Grund möchte ich hier auch auf biographische Forschungsansätze in der Ethnologie eingehen, sowie auf Ansätze aus anderen Disziplinen, die sich explizit mit der Frage der Kulturgebundenheit von Biographien beschäftigen. Die Ethnologie verfügt über eine eigene Tradition des Lebensgeschichten15Erzählens als Mittel zur Erhebung von empirischen Daten über ‚fremde Kulturen‘. Diese zeichnet sich, so Susanne Spülbeck (1997: 125), durch die implizite theoretische Annahme aus, dass zwischen Individuum und Kultur ein Zusammenhang besteht, der es erlaubt, Kultur und Gesellschaft anhand von biographischen Daten zu beschreiben. Das individuelle Subjekt interessierte im ethnologischen Kontext primär als ‚Kulturträger/in‘, das Ziel war in erster Linie ein ethnographisches, d.h. es ging um das Sammeln und Festhalten von exemplarischen Daten. Theoretische und methodologische Reflexion stand lange nicht im Zentrum des Interesses (vgl. Spülbeck 1997: 15f, für einen ausführlichen Einblick in biographische Ansätze der klassischen Ethnologie siehe auch Paul 1979a und 1979b). In den 1960er Jahren setzte in der Ethnologie eine Debatte um Selbstreflexivität in der Forschung ein, und im Zuge dieser allgemeinen Diskussionen rückte in der ethnologischen Lebensgeschichten-Forschung die Rolle des Ethnologen resp. der Ethnologin in der Produktion biographischer Daten ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Entstehung von Lebensgeschichten in der Interaktion zwischen Informant/in und Ethnolog/in sowie die Re-Präsentation der gesammelten lebensgeschichtlichen Daten in den Worten der Forschenden wurden eingehend diskutiert. In der damit einsetzenden methodologischen Auseinandersetzung standen forschungstechnische Fragen der Datenerhebung sowie ethische Überlegungen um Erhebung und Darstellung von Lebensgeschichten im Vordergrund. Die Frage der Analyse von biographischem Material hingegen ist bis heute in der Ethnologie wenig bearbeitet worden. Die Entwicklung der 1980er Jahre hin zu einer dialogischen Ethnologie und die darin geführte Diskussion um Textproduktion, Dialog und ‚Othering‘ ist von prägender Bedeutung für die ethnologische Biographieforschung (Spülbeck 1997: 7f). Wird Biographie als Produkt von Interaktion verstanden, als etwas, das im Hinblick auf ein Gegenüber entsteht, ergeben sich daraus Konsequenzen einerseits bezüglich der Relevanz der ethnologischen Begegnung für das Zustandekommen von Biographien, andererseits bezüglich des subjektiven Charakters biographischer Daten. Deshalb befasst sich ein Großteil ethnologischer For-
15 In der ethnologischen Tradition hat sich der Begriff ‚Lebensgeschichte‘/‚life story‘ stärker durchgesetzt als der Biographie-Begriff.
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schung zu Lebensgeschichten mit dem Verhältnis von Kultur und Individuum, meist in dem Sinne, dass individuelle Biographien als Abbilder oder Illustrationen von Kultur zu verstehen sind (ebd.: 125). Die Frage ist dann, wie das Verhältnis zwischen Individuum und Kultur beschaffen ist, inwiefern also Kultur das Individuum formt, und wie sich Kultur in individuellen Lebensgeschichten manifestiert. Die Frage ist aber auch, was mit Kultur genau gemeint ist. Spülbeck hält sich, wie folgendes Zitat zeigt, an eine klassisch ethnologische KulturDefinition und führt dann aus, wie sie das Verhältnis zwischen Individuum und Kultur und seine Manifestation in der Biographie konzeptionell fasst. „Versteht man Kultur im Sinne Geertz als von Menschen ‚selbstgesponnene Bedeutungsgewebe‘ (1987; 916), so ist es für das Verständnis von Kultur notwendig, die Interpretationsprozesse zu beleuchten, die der Herstellung von Kultur zugrunde liegen. Individuum und Kultur lassen sich dann nicht mehr trennen, sondern es geht vielmehr darum, die individuellen Deutungsmuster und Interaktionsstrategien zu ihrer Produktion, wie etwa den Rückgriff auf traditionelle Bedeutungszuweisungen, zu verstehen. BiographieForschung beleuchtet genau diesen Aspekt, nämlich die individuelle Interpretation, die lebenslange Auseinandersetzung mit Bedeutungen in allen Bereichen, die für den Einzelnen in seiner Lebensgeschichte wichtig waren oder sind.“ (Spülbeck 1997: 127f)
Wozu die ethnologische Biographieforschung laut Spülbeck beitragen kann, ist also zum Verständnis von individuellem Erleben und individueller Interpretation von Kultur, oder etwas allgemeiner formuliert, zum Verstehen von ‚fremden‘ Welten. „Trotz ihres subjektiven Charakters stehen Biographien nicht losgelöst vom kulturellen Zusammenhang. Je fremder dieser kulturelle Zusammenhang dem westlichen Leser ist, umso mehr muss der Ethnologe ihn erklären und erläutern, damit die Biographie verständlich ist. Das macht deutlich, wie verstrickt Kultur und Individuum sind. Die Biographie bildet das jeweils einzigartige Erleben der Kultur ab. Als winziger Ausschnitt aus der gesamten Kultur zeigt sie im Dialog mit einem fremden Repräsentanten der Wissenschaft Ausdrucksformen und Konzepte. [...] Weil diese nicht individuell neu erfunden werden und nicht beliebig verändert werden können, sondern durch Sozialisation und Interaktion tradiert, mitgeteilt und ausgehandelt werden, ist die Biographie eine Möglichkeit, die Kultur des Biographen zu verstehen.“ (Spülbeck 1997: 130)
16 Geertz, Clifford 1987: Dichte Beschreibungen. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M.
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Die ethnologische Tradition der Lebensgeschichten-Forschung konzentriert sich also stark auf den Aspekt des sinnverstehenden Nachvollziehens ‚fremder‘ Lebenskontexte. Deshalb standen in der methodologischen Diskussion Fragen der Interaktion und Repräsentation im Zentrum, während die soziologische Biographieforschung sich auf biographische Konstruktionsprozesse im Alltag und deren Re-Konstruktion in der wissenschaftlichen Analyse konzentrierte. Doch inwiefern ist das ethnologische Konzept der Lebensgeschichte überhaupt vereinbar mit dem soziologischen Konzept der Biographie? Wie Spülbeck richtigerweise anmerkt, ist es für Ethnolog/innen, die mit lebensgeschichtlichen Daten arbeiten, „hilfreich, die Tradition zu reflektieren, die Biographie in Europa hat, um sich über die eigenen Vorannahmen klarer zu werden“ (Spülbeck 1997: 13). Die Frage, die Spülbeck hier aufwirft, ist eine zentrale: Das europäische Biographie-Verständnis geht von einem autonomen Subjekt aus, das ein linear ablaufendes Leben führt, welches mit der Geburt beginnt, mit dem Tod endet und dazwischen gewisse Stationen wie Kindheit, Schule, Arbeit, Familiengründung usw. durchläuft. Es muss aber auch davon ausgegangen werden, dass „der andere, nach seiner Lebensgeschichte gefragt, einen deutlich verschiedenen Begriff von Biographie hat oder keine vergleichbare Erzählgattung kennt“ (Spülbeck 1997: 13). Die Frage ist also, inwieweit das Konzept der Biographie in andere gesellschaftliche, kulturelle oder auch historische Kontexte übertragbar ist und was dabei beachtet werden muss. Mit dieser Frage wurde auch der Religionssoziologe Joachim Matthes während seiner Forschungen in Singapur konfrontiert. Er begründet die Arbeit mit lebensgeschichtlichen Erzählungen in einem ihm fremden und durch verschiedenste kulturelle Einflüsse geprägten Kontext damit, dass er davon ausging, dass biographische Erzählungen besonders dicht an die lebensweltliche Erfahrung von Individuen heranführen würden. In seinen Artikeln (1984, 1985) thematisiert er methodische Probleme, die im Laufe seines Forschungsprojektes aufgetaucht sind. Offenbar war es überaus schwierig, die Interviewpartner/innen zum Erzählen überhaupt, und insbesondere von individuellen Biographien zu bewegen. Matthes rät aufgrund seiner Erfahrungen dazu, die jeweilige intra-kulturelle Definition des Erzählens sowie die intra-kulturellen Konstellationen von Fremdheit und ihre Bearbeitungsmodalitäten zu bedenken. Während Ersteres Hinweise darauf geben könnte, wie geeignete Interviewsituationen beschaffen sein müssten, z.B. im Hinblick auf Orte, Tageszeiten, anwesende Personen, könnte Letzteres zur Klärung des Verhältnisses zwischen Informant/innen und Forschenden im Sinne des ‚kulturspezifischen‘ Umgangs mit fremden Personen beitragen. Auch die Zuschreibungen von Erzählkompetenz und Erzählbarkeit von Erlebnissen können seiner Meinung nach kulturell variieren. Des Weiteren, so Matthes
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(1985), können sich gesellschaftlich geltende Temporalstrukturen und individuelle Zeiterfahrungen unterscheiden17. Nicht nur Matthes (1984), auch der familienbiographisch forschende Psychologe Lanfranchi (1995) hat mit der in der soziologischen Biographieforschung entwickelten einleitenden Erzählanregung zur Konstruktion einer kohärenten Biographie wenig Erfolg gehabt: Die Frage nach der Lebens- resp. Familiengeschichte erwies sich als ungeeignet, mehr Erfolg hatten Fragen nach Geschichten aus dem Leben, oder nach dem Leben in der Familie. Aufgrund seiner Erfahrungen formuliert Matthes (1985: 321) die Empfehlung, sich auf die kulturelle Regelhaftigkeit des Untersuchungsfeldes einzulassen, die eigene Unwissenheit offen zu legen und das Interesse daran zu bekunden, gerade die Wahrnehmungen und Relevanzen des Gegenübers mitgeteilt zu bekommen. Diese Empfehlungen erachte ich jedoch als für ethnologische Datenerhebung inzwischen selbstverständlich. Die ausführliche Auseinandersetzung mit der ‚ethnologischen Begegnung‘ zwischen Forschenden und Beforschten hat dazu beigetragen, ‚Informant/innen‘ als ‚Expert/innen‘ ihres sozialen und kulturellen Umfeldes zu verstehen und die eigene Position in der Interaktion mit ‚Informant/innen‘ kontinuierlich kritisch zu hinterfragen. Gerade darin, dass die Lebenswelt des Gegenübers dem/der Forschenden fremd ist, sieht Lanfranchi (1994) auch einen Vorteil, nämlich den des einfacher einzunehmenden unvoreingenommenen Blickes. Kennt man einen Gegenstand nicht und ist sich dessen auch bewusst, so ist man weniger versucht, vorschnelle Erklärungen zu finden oder vermeintlich Selbstverständliches nicht zu hinterfragen. Auch Mihciyazgan (1986) streicht heraus, dass die Arbeit mit Lebensgeschichten eine Teilhabe an einem Blick von innen auf fremde Alltagswelten, Sinnkonstruktionen und subjektive Realitäten erlaubt. Die Erzählenden werden als Expert/innen ihrer Lebenswelt betrachtet und erhalten durch die Methode des narrativen Interviews genügend Freiraum, diese Binnenperspektive zu entfalten. Der amerikanische Kulturanthropologe Michael Angrosino vergleicht in seinem Artikel „The two lives of Rebecca Levenstone“ (1989) zwei Lebensgeschichten derselben Person, die an verschiedene Zuhörende gerichtet waren, einmal an den ‚kultur-fremden‘ Forschenden und einmal an eine ‚kultur-nahe‘ Person aus dem Umfeld der Biographin18. Er hält dabei u.a. auch fest, dass die an den ‚Fremden‘
17 Als Beispiele nennt Matthes (1985) folgende Temporalstrukturen: Lebenszeit, mythische Zeit, reinkarnatorische Zeit. Zudem sind unterschiedliche Phasierungen vorstellbar, z.B. die lineare Dreiteilung in Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft, aber auch zyklische oder kontrastierende (jetzt/nicht-jetzt) Zeiterfahrungen. 18 Es handelt sich dabei allerdings um eine Person, die zwar insofern ‚kultur-nah‘ ist, als sie in derselben, geographisch stark begrenzten Gesellschaft einer kleinen Karibik-In-
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gerichtete Geschichte in vielen Bereichen viel detaillierter ist, in einigen Bereichen aber auch viel knapper. Angrosino schließt daraus, dass an ‚Fremde‘ gerichtete Erzählungen das enthalten, was als erklärungsbedürftig erachtet wird. Die Informant/innen erzählen also das, was in ihren Augen das Gegenüber interessiert, und sie führen das aus, was sie für notwendig halten, damit das Gegenüber die Geschichte versteht. Auch Spülbeck (1997: 106f) weist darauf hin, dass der Informant oder die Informantin von bestimmten Erwartungen und einem bestimmten Bezugsrahmen des/der Ethnolog/in ausgeht und sich bemüht, eine stimmige und für den/die Ethnolog/in verständliche Erzählung zu produzieren. Ob dies gelingt, hängt davon ab, wie seine/ihre Annahmen über den Bezugsrahmen und die Erwartungen mit denjenigen des Ethnologen/der Ethnologin übereinstimmen. Das heißt also, dass der/die Erzähler/in sich zwar auf den/die Zuhörer/in einstellt und erzählt, wovon er/sie denkt, dass das Gegenüber es hören möchte. Dies bedeutet aber nicht, dass je nach Gegenüber völlig andere, voneinander unabhängige Geschichten entstehen. Die Erzählenden beziehen sich dabei auf dieselben individuellen Erfahrungen, Bedeutungszuschreibungen und Erklärungsmuster, die ihre Erzählungen strukturieren. Ähnlich hält Wolbert fest: „Wenngleich auch die Informantinnen ihre Erzählung auf mich als Adressatin zuschneiden, so tun sie dies jedoch immer in einer Art und Weise, die ihrer persönlichen Art der Bewältigung einer Situation und der Verarbeitung der Realität entspricht.“ (Wolbert 1984: 39)
Halten wir fest: Wenn Menschen aus ihrem Leben erzählen, tun sie das in Rekurs auf ihre je individuellen Erfahrungen, und sie tun das im Hinblick auf eine Zuhörerschaft, von der sie Vorstellungen haben, was sie hören möchte und was sie verstehen kann. Das heißt also, dass wir es beim Erzählen von Lebensgeschichten mit einer Interaktion zu tun haben, die es zu analysieren gilt. Beide Interaktionsteilnehmenden tun dies, indem sie sich auf bestimmte Vorstellungen davon beziehen, was eine Lebensgeschichte ausmacht, und auf bestimmte Regeln des Erzählens, auf bestimmte narrative Muster. Wie sind denn nun diese
sel lebt und auch aufgewachsen ist wie die Biographin, die aber aus einer ganz anderen Schicht stammt und, im Gegensatz zur Biographin, hellhäutig ist. Insofern ist insbesondere die Bezeichnung ‚kultur-nah‘ hier nur bedingt aussagekräftig und bezieht sich hauptsächlich auf die geographische Nähe und die gemeinsam geteilten historische Erfahrungen.
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Regeln, diese narrativen Muster beschaffen? Und kann überhaupt von einer universellen narrativen Kompetenz ausgegangen werden? Atkinson, der in seiner methodischen Anleitung „The Life Story Interview“ (1998) einen eher psychologischen Zugang zu Lebensgeschichten wählt, hält die Fähigkeit zum Erzählen von Lebensgeschichten für universell. Er geht davon aus, dass erzählte Geschichten ein zeitloses und universelles Grundmuster haben: „This pattern has many versions and can be represented as birth, death, rebirth; separation, initiation, return; or simply, beginning, middle, resolution“ (Atkinson 1998: 2). Auch der amerikanische Psychologe Jerome Bruner hält die Fähigkeit, Lebensgeschichten zu erzählen, für universell, betont aber die gesellschaftlichen, historischen und kulturellen Unterschiede in der Form der Erzählungen. „[T]he self-told life narrative is, by all accounts, ancient and universal. People anywhere can tell you some intelligible account of their lives. What varies is the cultural and linguistic perspective or narrative form in which it is formulated and expressed. And that too will be found to spring from historical circumstances as these have been incorporated in the culture and language of a people. […] I believe that it is form rather than content that matters.“ (Bruner 1987: 16, Hervorhebung im Original)
Es ist also laut Bruner insbesondere die Form einer Lebensgeschichte, die etwas aussagt über gesellschaftliche, kulturelle, historische Konventionen. Um beim Erzählen von Lebensgeschichten verstanden zu werden, ist es für die Erzählenden notwendig, sich auf bestimmte narrative Muster zu beziehen, die von den Zuhörern nachvollzogen werden können. „[L]ife stories must mesh, so to speak, within a community of life stories; tellers and listeners must share some deep structure about the nature of ‚life‘, for if the rules of lifetelling are altogether arbitrary, tellers and listeners will surely be alienated by a failure to grasp what the other is saying or what he thinks the other is hearing.“ (Bruner 1987: 21)
Bruner hält Lebensgeschichten sogar für besonders geeignet, um daraus etwas über die kulturelle Einbettung des erzählenden Individuums zu erfahren – analog also zu den oben erwähnten ethnologischen Forscher/innen. „Given their constructed nature and their dependence upon the cultural conventions and language usage, life narratives obviously reflect the prevailing theories about ,possible lives‘ that are part of one’s culture. Indeed, one important way of characterizing a culture is by the narrative models it makes available for describing the course of a life. And the
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tool kit of any culture is replete not only with a stock of canonical life narratives (heroes, Marthas, tricksters, etc.), but with combinable formal constituents from which its members can construct their own life narratives: canonical stances and circumstances, as it were.“ (Bruner 1987: 15)
Es gibt also, so Bruner, so etwas wie (sub-)kulturelle Erzählvorlagen, an denen man sich beim Erzählen von individuellen Lebensgeschichten orientiert. Damit wird auch deutlich: Erzählen richtet sich an ein Publikum, und Erzählen macht nur Sinn, wenn man auch verstanden wird, und deshalb ist es notwendig, sich auf geteilte Bedeutungen zu beziehen resp. nicht geteilte Bedeutungen plausibel zu machen. Auch der zu Identität und interkultureller Kommunikation forschende Psychologe Jürgen Straub hält die Bedeutung von gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Einflüssen auf die Art der Konstruktion von Lebensgeschichten fest: „Biographische Selbstthematisierungen unterliegen soziokulturellen Regeln und Ressourcen, die festlegen, was für die Angehörigen einer Kultur oder Gesellschaft als biographische Wirklichkeit gelten kann und soll.“ (Straub 2000: 139)
Diese soziokulturellen Regeln und Ressourcen bestimmen, ob Personen überhaupt ihr Leben in der Form einer zeitlichen Verlaufsgestalt und in diesem Sinne als Ganzes thematisieren und wenn ja, wie. Straub (2000: 140) nimmt Bezug auf den Religions- und Kultursoziologen Alois Hahn (1987, 2000) und seine ‚Biographiegeneratoren‘. Damit meint Hahn besondere soziale Institutionen, über welche die Mitglieder von Gesellschaften sozialisiert werden. Das heißt, Individuen lernen, ihr Selbst in lebensgeschichtlicher Perspektive auszudrücken. Oder anders gesagt, sie lernen, Geschichten zu verstehen und sich selbst in solchen zu platzieren. In jeder Gesellschaft gibt es sozial geprägte Identität und rudimentäre situative Darstellungen des Selbst, jedoch nicht unbedingt biographische Selbstreflexion (Hahn A. 1987: 12): „Ob das Ich über Formen des Gedächtnisses verfügt, die symbolisch seine gesamte Vita thematisieren, das hängt vom Vorhandensein von sozialen Institutionen ab, die eine solche Rückbesinnung auf das eigene Dasein gestatten. Wir wollen solche Institutionen Biographiegeneratoren nennen.“ (Hahn A. 1987: 12)
Als Beispiele für solche Biographiegeneratoren in den modernen europäischen Gesellschaften führt Hahn an: die Beichte, die Psychoanalyse, das Tagebuch, das
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Verfassen von Memoiren, die medizinische Anamnese, das Geständnis vor Gericht, sowie auch das sozialwissenschaftliche biographische Interview. „Identität-An-Sich ist universell, aber nicht Identität-Für-Sich. Diese ist Korrelat von historisch keineswegs allgemein verbreiteten Biographiegeneratoren.“ (Hahn A. 1987: 12) „In verschiedenen Gesellschaften existieren sehr unterschiedliche Biographiegeneratoren. Es spielt z.B. eine Rolle, welche Darstellungsformen eine Gesellschaft für den biographischen oder autobiographischen Diskurs überhaupt zur Verfügung stellt. Welche Modi des Sagens oder Schreibens gibt es jeweils? Wo liegen die Grenzen des Ausdrückbaren oder des Kommunizierbaren?“ (Hahn A. 1987: 16)
Doch selbst unterschiedlichste Erzählmuster bieten Raum, um verstanden zu werden. Die globale Verbreitung und Rezeption von Erzählgenres über Massenmedien zum Beispiel deutet darauf hin, dass lokal verankerte Geschichten wie US-amerikanische Soap Operas oder südamerikanische Telenovelas, oder auch Filme aus Indien oder Nigeria, ihr Publikum in unterschiedlichsten Kontexten finden. Massenmedien verbreiten auch lokal spezifische Erzählformen, und sie werden, wenn auch nicht überall exakt gleich, so doch in der einen oder anderen Form verstanden19. Doch nicht nur narrative Genres, sondern auch bestimmte Merkmale des Lebenslaufs haben aufgrund der internationalen Koordination von Bildungswegen, von Berufskarrieren in internationalen Unternehmen oder der Verwaltung demographischer Daten über Landesgrenzen hinweg eine gewisse globale Verbreitung erfahren. In diesem Kapitel stand die Beziehung zwischen Ethnologie und Lebensgeschichte resp. Biographie im Zentrum. Es ging vornehmlich um die Frage, wie sich Kultur (als der zentrale Gegenstand der Ethnologie) in individuellen Biographien manifestiert, d.h. ob und wie individuelle Lebensgeschichten an spezifische (sub-)kulturelle Kontexte gebunden sind. Die klassische Konstellation in der Ethnologie ist diejenige, dass der/die Forscher/in als Fremde/r einen Biographen oder eine Biographin als Expert/in der interessierenden Lebenswelt, z.B. der Kultur einer bestimmten Gemeinschaft, befragt. Dadurch erhofft sich der/die Ethnolog/in, etwas über die Geschichte, die Regeln des Zusammenlebens und über gemeinsam geteilte Bedeutungen zu erfahren. Der/die Erzähler/in seiner/ ihrerseits will, wenn er/sie erzählt, auch verstanden werden, und er/sie richtet die erzählte Geschichte an ein bestimmtes Publikum, von dem er/sie gewisse Vorstellungen über die Verstehenskompetenzen des ‚Eigenen‘ hat, wie z.B. die
19 Siehe dazu z.B. Fiske, John 2004 (1987): Television Culture. Routledge, London.
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Erfahrung von Angrosino (1989) zeigt. So gesehen liegt in der Konzipierung der Interviewinteraktion als ein Verhältnis zwischen den Interviewten als ‚kulturelle Expert/innen‘ und den Forschenden als ‚unwissende Fremde‘ auch eine spezifische Chance zur Ausbalancierung von ungleichen Machtverhältnissen (vgl. dazu auch Kapitel 4). In der Migrationsforschung verschiebt sich diese klassische ethnologische Konstellation jedoch. Zum Einen haben wir es definitiv nicht mehr mit einer klar definierten, in sich geschlossenen Gruppe von Menschen zu tun, denen man eine spezifische, ihnen ganz eigene Kultur zuweisen kann, sondern mit Menschen, die sich nicht nur im geographischen Raum, sondern auch durch soziale Systeme hindurch bewegen. Zum anderen sind diese Individuen in nationalstaatliche Gesellschaften eingebunden, gerade dadurch, dass sie unter Umständen über deren Grenzen hinausgehen. Innerhalb von Gesellschaften wie auch über Gesellschaftsgrenzen hinweg kommen Individuen mit unterschiedlichen Lebenswelten in Berührung, die über unterschiedliche geteilte Bedeutungsgewebe – also Kulturen – verfügen. Biographie und Migration Nachdem vorgängig die Frage behandelt wurde, ob und wie Menschen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten unterschiedliche Biographien erzählen, steht nun die Frage im Zentrum, ob die Migration spezifische Auswirkungen auf biographische Erzählungen hat. In der Regel wird in der biographisch orientierten Migrationsliteratur davon ausgegangen, dass Migration sowohl die Folge wie auch die Ursache von tiefgreifenden Veränderungen im gesellschaftlichen Kontext sein kann, in dem sich Subjekte bewegen und mit dem sie sich in ihren alltäglichen Interaktionen wie auch in ihren übergreifenden Lebensentwürfen auseinandersetzen müssen. Ich gehe davon aus, dass Migration auf der Seite der Subjekte nicht nur Erfahrungen generiert, welche in den bestehenden biographischen Erfahrungspool integriert werden müssen, sondern auch zu einer potenziellen Erweiterung narrativer Muster beiträgt. Wenn Individuen sich bewegen, wenn sie durch Migration ihre bisher gewohnte Lebenswelt verlassen und mit einer für sie neuen Lebenswelt konfrontiert sind, werden sie in der einen oder anderen Weise auch mit neuen narrativen Mustern und neuen Biographiegeneratoren konfrontiert, die sie in ihr narratives Repertoire integrieren können und/ oder müssen. So kommt zum Beispiel Ursula Mihciyazgan (1986) in ihrem Vergleich von Lebensgeschichten von Türk/innen und türkischen Migrant/innen in Deutschland zum Fazit, dass Migration sehr wohl einen Einfluss hat auf die Art, wie eine
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Lebensgeschichte erzählt wird, und sie versucht im folgenden Zitat zu umreißen, worin sich dieser Einfluss manifestiert: „Für die meisten türkischen Migranten gibt es subjektiv keine grundlegenden Veränderungen, wohl aber Problematisierungen, die ein Infragestellen des Menschenbildes, der Identität und der grundlegenden Handlungsorientierungen zur Folge haben. Diese Problematisierungen entstehen dadurch, dass die Migranten schockartig oder sukzessive ein anderes, ihnen bis dahin fremdes Weltbild in seinen Umrissen wahrnehmen. Durch das ‚Fremde‘ werden nicht nur Teilbereiche des bisher Fraglos-Gegebenen, sondern es wird das gesamte Wissens- und Glaubenssystem infrage gestellt und destabilisiert. Die Migranten versuchen daher, ihre subjektive Wirklichkeit zu restabilisieren.“ (Mihciyazgan 1986: 376)
Eine generelle Besonderheit von Migrationserfahrungen sieht Dausien in der Konfrontation mit unbekannten Kontexten: Die frühesten Dokumente mit biographischen Zügen im europäischen Kontext finden sich unter Aufzeichnungen von Kaufleuten oder in religiösen Berichten von Pilgerreisen und Wanderschaften. Diese Dokumente widerspiegeln die Erfahrung, dass die Welt woanders anders ist, was bewirke, dass man auch sich selbst anders sehe (Dausien, mündliche Kommunikation 2003). Migration bedeutet so gesehen eine Herauslösung aus gewohnten Bindungen, eine Freisetzung, die einerseits Verlust, andererseits auch Gewinn neuer Horizonte und biographischer Perspektiven bedeutet. Mit der Metapher des Weges unterstreicht Dausien den Zusammenhang zwischen Migration und Biographie: „Die Bewegung im geographischen Raum ist verbunden mit einer Bewegung im sozialen und kulturellen Raum. Wege werden zurückgelegt, unterwegs wird die Welt, werden – unterschiedliche, andere, neue, fremde – Welten er-fahren. Dieser Prozess der Erfahrung hat zugleich eine biographische Dimension, er ist ein Stück des Lebensweges, er strukturiert Lebenszeit, orientiert in Vergangenheit und Zukunft, gibt Anlass zur Produktion von Geschichten, zu Plänen und Erwartungen, und er ist begleitet von (neuen) Erfahrungen und Reflexionen des Selbst.“ (Dausien 2000b: 12)
Es besteht also ein naheliegender Zusammenhang zwischen Migration und Biographisierung. Die Erfahrungen in einer neuen Lebenswelt müssen, so die hier zu Grunde liegende Annahme, in den bereits bestehenden Erfahrungsschatz integriert werden, und dazu bedarf es der Biographisierung, d.h. der Reflexion und Bilanzierung des bisherigen Lebenslaufs und der Entwicklung neuer Lebensentwürfe (Lanfanchi 1995). Und gerade darin liegt, so hält Breckner (2005) fest, das
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besondere Potenzial der Biographieforschung im Migrationskontext: Die in der Migrationsforschung sonst oft gestellten Fragen nach der Identität von Migrant/innen – Wer bist du und wo gehörst du hin? – führen unweigerlich in das Dilemma der Festschreibung von polaren sozialen Positionen. Ein biographischer Ansatz hingegen bietet die Möglichkeit, diesem Dilemma zu entgehen, ohne den damit verbundenen Problemgehalten auszuweichen: „In biographietheoretischer Perspektive wird davon ausgegangen, dass Identitäten in Form von Biographien einem ständigen Konstruktions- und Rekonstruktionsprozess unterliegen, in dem Diskontinuitätserfahrungen und Fremdheit laufend bearbeitet werden […]. Migration als biographische Diskontinuitätserfahrung [...] ist in diesem theoretischen Zugang nicht per se problematisch. Die Bedeutung einer Migration muss vielmehr im Zusammenhang mit anderen lebensgeschichtlich strukturierenden Erfahrungen empirisch rekonstruiert werden.“ (Breckner 2005: 16)
Damit ermöglicht ein biographisches, auf Erfahrungen bezogenes Vorgehen in der Migrationsforschung nicht nur, den Dilemmata von Identitätskonzepten und problemzentrierten Analysen von krisenhaften Migrationserfahrungen durch ein prozesshaftes, kontextualisiertes Herangehen zu entgehen. Es eröffnet zudem den Blick auf Gestaltungsprozesse der Subjekte im Umgang mit ihren Migrationserfahrungen, und es ermöglicht, nach der Spezifik von Migrationserfahrungen zu fragen, ohne eine prinzipielle Differenz zwischen Migrant/innen und Nicht-Migrant/innen zu behaupten (Breckner 2005: 11). Die Stärke des biographischen Zugangs zu Migrationsfragen liegt also in der Möglichkeit, Komplexität aufzuzeigen und individuelle Unterschiede in kollektiven Gemeinsamkeiten zu betonen. So können z.B. bestimmte Verhaltensstrategien von Migrant/innen nicht einfach als traditionelle, vormoderne Relikte oder verpasste Modernisierung interpretiert werden (siehe dazu Schiffauer 1991). Sie können aber genauso wenig in erster Linie als ethnische (d.h. in der Herkunft der Migrant/innen begründete) interpretiert werden, sondern in ihrer Verschränktheit mit anderen Aspekten sozialer Organisation wie z.B. Geschlecht, Klasse, Alter und vor dem Hintergrund der jeweils relevanten gesellschaftlichen Kontexte (Herkunftsgesellschaft, Aufenthaltsgesellschaft, allfällige Zwischenstationen) differenziert aufgezeigt werden. Greifen wir hier kurz auf das Konzept der Intersektionalität vor: In einer Biographie kreuzen sich unterschiedliche Achsen der Differenz auf je ganz spezifische Weise, überschneiden sich verschiedene Identifikationskategorien, die in unterschiedlichen Interaktionssituationen unterschiedlich relevant sind (siehe dazu Gümen 1996 und 1998). Und eine Biographie thematisiert Prozesse, nicht Zustände, sie berichtet über das Geworden-Sein
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eines Menschen mit vielseitigen Bezugspunkten, nicht das definitive Haben einer bestimmten (ethnischen, Geschlechts- oder Klassen-) Identität. Im deutschsprachigen Raum sind in den letzten Jahren einige Studien veröffentlicht worden, die Migration empirisch mit biographischen Ansätzen angehen. Migration wird in diesen Ansätzen als Zusammenhang von Erfahrungen sowohl aus der Herkunfts- wie auch der Aufenthaltsgesellschaft verstanden. Einfache Typisierungen von Verhaltensweisen werden zurückgewiesen mit der Begründung, dass deren Bedeutungen aus der Perspektive der Handelnden erst rekonstruiert werden müssen, bevor sie als Zuschreibungen bestimmten Erklärungsmustern oder gar Klischees zugeordnet werden. Migrationsverläufe werden nicht mehr als lineare Prozesse verstanden, sondern als komplexe Vorgänge der Neuund Re-Orientierung sowohl an den ‚alten‘ wie an den ‚neuen‘ Regeln der Gestaltung des gesellschaftlichen Alltags. Die dabei entwickelten Formen können nicht entweder ‚alten‘ oder ‚neuen‘ Orientierungsmustern zugeschrieben werden, sondern sind flüssig. Migration wird somit als offener Prozess konzipiert, der biographisch immer wieder zu Bearbeitungen herausfordert (Breckner 2005: 43f). Barbara Wolbert (1984) zum Beispiel befasst sich mit kognitiven Verarbeitungsprozessen von türkischen Heiratsmigrantinnen und den darin entwickelten handlungsanleitenden Deutungsmuster. Der Wert dieser frühen biographischen Studie liegt insbesondere in der expliziten und detaillierten Darlegung des methodischen Vorgehens, das sich insbesondere an Fritz Schütze und der Objektiven Hermeneutik orientiert. In einer weiteren Studie, die sich mit der Remigration türkischer Arbeitsmigrantinnen befasst, äußert sich Wolbert (1995) u.a. über die Unterschiede zwischen biographischen Ansätzen und der klassischen Methode ethnologischer Feldforschung, der teilnehmenden Beobachtung. Diese in ethnologischen Dorfstudien entwickelte Methode, die zum Ziel hat, möglichst nicht störend in den zu beobachtenden Alltag einzugreifen, eignet sich nach der Erfahrung Wolberts wenig, um Migrationsprozesse zu erfassen. Hingegen schreibt sie dem Interview allgemein und im Besonderen dem biographischen Interview zentrale Bedeutung für die ethnologische Migrationsforschung zu. Gerade aufgrund des biographischen Charakters „vermittelt es Einsichten in Bedeutungen, die man in den Situationen, über die berichtet wird, nicht hätte gewinnen können.“ (Wolbert 1995: 43) Ein ähnliches Argument vertreten Bettina Dausien und Helga Kelle (2005) in ihren methodologischen Überlegungen zur Verknüpfung von biographischen und ethnographischen Zugängen. Die Ethnographie widmet sich der Beobachtung von Interaktionen und kulturellen Praktiken, die Biographieforschung nimmt längerfristige Prozesse der Erfahrungsbildung und Sinnkonstruktion in den Blick (Dausien/Kelle 2005: 190). Aus
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der Sicht der auf Interaktionen fokussierten Ethnographie bilden Biographien den Kontext für situiertes interaktives Handeln (ebd.: 200), sie fließen somit als Ressource in Interaktionen mit ein. Angelehnt an Goffman kann Biographie als kulturelles Muster der Selbst- und Fremdtypisierung betrachtet werden, das zum Zweck des Identitätsmanagements in sozialen Situationen, zur interaktiven Selbst-Darstellung genutzt wird (ebd.: 202). „Biographieforschung […] fragt nach den Konstruktionsleistungen der Individuen, die diese erbringen, um jene soziale Form der Selbst-Präsentation aktiv ‚auszufüllen‘. Diese ‚biographische Arbeit‘ dient, so die Annahme, nicht nur dem Identitätsmanagement in konkreten Interaktionssituationen, sie dient auch dem Selbst-Management von Erfahrungen, die über wechselnde Situationen mit wechselnden Interaktionspartnern hinweg zu jenen ‚Interaktionsgeschichten‘ werden, die dann wiederum als Ressource in neue Situationen eingebracht werden.“ (Dausien/Kelle 2005: 203)
Biographisches Material unterscheidet sich von ethnographischem auch dadurch, dass es selbstreflexiv ist, weil es nicht nur auf Erfahrungen mit anderen basiert, sondern auch auf solchen mit sich selbst (ebd.: 203). In autobiographische Erzählungen wird somit ein Zusammenhang hergestellt zwischen Handeln/Interaktion, Erleben und Reflektieren (ebd.: 207). Die biographische Studie „Welten verbinden“ (1991) von Helma Lutz zu türkischen Sozialarbeiterinnen beschäftigt sich mit dem Erwerb neuer Kompetenzen in der Migration und deren professioneller Umsetzung. Dabei betont Lutz, wie diese Kompetenzen als biographische Ressourcen zur Vermittlung zwischen unterschiedlichen kulturellen Lebenswelten eingesetzt werden, und wie dabei Identitätspositionen pragmatisch instrumentalisiert werden. Damit setzt Lutz einen deutlichen Gegenpunkt zur oft vertretenen Sichtweise auf Migration als identifikatorischer Zerreißprobe und betont die positiven Aspekte einer Migration. Der Gewinn einer biographischen Perspektive liegt gemäß Lutz darin, dass Migrant/innen als aktiv handelnde Personen erscheinen, die sich mit, gegen oder außerhalb der auf sie gerichteten politischen Maßnahmen bewegen (Lutz 2000: 205), die innerhalb von heteronomen Strukturen und Einflüssen autonom handeln (ebd.: 181). Migrant/innen „erbringen soziale Leistungen, sie verrichten Arbeit, aktive Integrationsarbeit. Dabei setzen sie ihr biographisches Kapital ein, ihre Erfahrungen und Kompetenzen, die sie im selbstreferentiellen Prozess der Strukturierung ihrer Lebensgeschichte erlernt haben.“ (Ebd.: 205) Die Analyse von Migrationsbiographien kann diese Leistungen offen legen, kann vorhandene Potentiale und Schemata zur Problemlösung aufzeigen, kann – im Sinne einer
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pädagogischen Intervention – unter Umständen auch Hand dazu bieten, alternative Erzählungen zu suchen (Lutz 2000: 206). Diese Möglichkeit der Intervention verweist auf einen Zweig der biographischen Migrationsforschung, der sich explizit auch mit problematisch verlaufenden Migrationsbiographien auseinander setzt. Ziel ist hier die Entwicklung von Maßnahmen zum korrigierenden Eingreifen. Zentral ist bei biographischen Ansätzen dabei die Betonung der Komplexität von Ursachen für problematische biographische Verläufe, und damit ein Anschreiben gegen die einseitige Stereotypisierung von Migrant/innen und die Erklärung von Misserfolgen mit Integrationsdefiziten. Ein Beispiel für diese Art Forschung ist die Studie von Heidrun Schulze (2006), welche langjährige Krankheitsgeschichten von türkischen ‚Gastarbeiter/innen‘ biographisch angeht. Großes Gewicht liegt bei Schulze auf der fundierten Darlegung der Vorteile eines biographischen Zugangs, mit dem Ziel, die medizinische und politische Praxis für voreilige kulturelle Zuschreibungen im Bereich Migration und Krankheit zu sensibilisieren. Auch der Psychologe Andrea Lanfranchi beschäftigt sich mit einem Problem aus der Praxis und entwickelt seine biographische Studie „Immigranten und Schule“ (1995) mit dem Ziel, auf diese Praxis einzuwirken. Er wählt einen familienbiographischen Zugang zur Bearbeitung der Frage nach dem Schulerfolg von Kindern aus süditalienischen Migrationsfamilien in der Schweiz. Dabei geht er von der Annahme aus, dass die Gründe für schulische Schwierigkeiten nicht primär durch intellektuelle Anlagen und psychosoziale Belastungssituationen begründet sind, sondern auf der Ebene der Konstruktion familiärer Wirklichkeiten und der damit gekoppelten Kommunikationsmodi mit der schulischen Welt begründet sind (ebd.: 121). Sein Hauptargument ist, dass Schulerfolg abhängig ist von den Ressourcen der Familie, zwischen Bewahren der Tradition und Zulassen von Innovation balancieren zu können (ebd.: 272). Theoretisch und methodisch orientiert sich Lanfranchi an der strukturalen Hermeneutik Oevermanns (2000), insbesondere auch an der fallrekonstruktiven Familienforschung von Hildenbrand (1999, 2005). Eines der Ziele der Studie ist es, das soziologischethnographische Mittel des rekonstruktiven Fallverstehens für die Praxis der Sonderpädagogik nutzbar zu machen, und aus diesem Grund nimmt die theoretisch-methodologische Darlegung der Fallrekonstruktion viel Platz ein. Lanfranchi versteht Migration als eine Erfahrung, die nach Bewältigung im Sinne von Anpassung an eine veränderte Handlungsumwelt verlangt. Der wesentliche Transformationsprozess, den Migrant/innen dabei zu leisten haben, besteht darin, die Handlungsmuster des neuen Umfeldes zu erkennen und sich anzueignen (Lanfranchi 1995: 249). Wenn das eigentliche Problem nicht bewältigt werden kann (d.h. der Transformationsprozess nicht stattfindet, der Anschluss an die
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üblichen Handlungsmuster der Bevölkerungsmajorität nicht gelingt), werden andere Problemlösungsstrategien entwickelt (z.B. Rückzug od. einseitige Anpassung) (ebd.: 250). „Weil in der Fremde der Bezug auf das gemeinsam geteilte Alltagswissen nicht durchgängig greift, entsteht der Zwang (und die Chance) zur individualisierenden normkritischen Reflexivität im Entscheiden und Handeln. Dadurch wird“, im Idealfall des erfolgreichen Transformationsprozesses, „eine Restrukturierung der tradierten Handlungsschemata in Richtung innovativer, vorwärtsgewandter und autonomiebezogener Denk- und Handlungsmuster ermöglicht“ (ebd.: 270f). Es macht dabei, so Lanfranchi, einen Unterschied, ob die Akteure davon überzeugt sind, dass sie am Geschehen beteiligt sind, oder ob sie denken, dass ihr Verhalten nichts an der Situation ändert – ob sich Subjekte also als handlungsmächtig empfinden oder nicht. Damit vertritt Lanfranchi ein grundsätzlich individuumsbezogenes Integrationsverständnis, welches er allerdings sehr stark abhängig macht von strukturell vorgegebenen Möglichkeitsräumen. Die Studie von Ingeborg Philipper, „Biographische Dimensionen der Migration“ (1997), beschäftigt sich mit Lebensgeschichten italienischer Migrantinnen in Deutschland. Philipper interessiert sich ebenfalls für individuelle Transformationsprozesse aufgrund von Migration, für die Entwicklung von Subjektpotentialen und Handlungsspielräumen unter den strukturellen Bedingungen vor, während und nach der Migration. Für einen biographischen Zugang hat sich Philipper einerseits entschieden, um Stereotypen über weibliche italienische Arbeitsmigration, wie z.B. die doppelt verfehlte Integration (im Aufenthalts- wie auch im Herkunftsland) oder die Modernitätsresistenz, biographisch differenzieren zu können. Andererseits führt sie an, dass weibliche Arbeitsmigration und die damit verbundenen individuellen Erfahrungen sozialgeschichtlich noch wenig aufgearbeitet worden sind. Philipper betrachtet erzählte Lebensgeschichten als subjektive Auswertungen des Migrationsprozesses aus der Rückschau und interessiert sich somit, wie meine Studie auch, für die Bilanzierung von Migrationsprojekten aus der Perspektive des Alters (Philipper 1997: 14). Ebenfalls im Migrationsbereich angesiedelt ist die biographische Studie von Gutiérrez Rodríguez mit dem Titel „Intellektuelle Migrantinnen – Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung“ (1999). Gutiérrez Rodríguez verbindet darin die biographische Perspektive mit einer dekonstruktivistischen und setzt sich zum Ziel, von der Analyse der symbolischen Ebene von Selbstwahrnehmung und –darstellung auf gesellschaftliche Konstruktions- und Konstitutionsprozesse von Subjektivität zu schließen. Dabei interessiert sich Gutiérrez Rodríguez für Differenzierungs- und Hierarchisierungsprozesse in biographi-
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schen Erzählungen, insbesondere für das Spannungsverhältnis von Ethnisierung und Vergeschlechtlichung. Dazu analysiert Gutiérrez Rodríguez sechs Biographien von Frauen unterschiedlicher Herkunft. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass alle einen gewissen Bildungsaufstieg realisieren konnten und insofern von Gutiérrez Rodríguez als ‚intellektuelle Migrantinnen‘ verstanden werden. Innovativ an der Studie von Gutiérrez Rodríguez ist zum einen der scharfe Blick auf sich in individuellen Biographien überschneidende, hierarchisierend wirkende Kategorien sozialer Differenz, zum anderen der theoretische Anspruch, biographische Rekonstruktion mit kritischer Diskursanalyse zu verbinden. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass Gutiérrez Rodríguez darauf verzichtet, sich auf eine bestimmte Herkunftsgruppe zu beschränken. Damit nimmt sie der z.B. von Wolbert (1984: 40f) geforderten Kenntnis der Herkunftskultur auf Seiten der Forschenden etwas Gewicht und betont das Migrantin Sein gegenüber dem eine bestimmte Herkunft-Haben. Jiménez Laux verfasste unter dem Titel „Migration und Lebenszeit“ (2001) eine biographische Studie mit älteren spanischen Migrantinnen in Deutschland. Das empirische Material besteht aus sechs Fallgeschichten, die in der interpretierten Form, illustriert mit kurzen Zitaten, präsentiert werden. Methodisch orientiert sich Jiménez Laux an der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967, 1998) und an Fritz Schütze (1982, 1984). Eines ihrer zentralen Themen sind die Zukunftsperspektiven für das Alter. Sie betont, dass diese nicht nur abhängig sind von der Bilanzierung der Migration, wie Dietzel-Papakyriakou (1993) dies nahe legt, sondern von der jeweils entwickelten biographischen Haltung, die sich auf das gesamte Leben und in entscheidender Weise auch auf die Zeit vor der Migration bezieht. Jiménez Laux streicht heraus, dass sich die sog. Prozessstruktur, quasi das Hauptthema einer Biographie, immer auch in den Zukunftsperspektiven zeigt: Der Fokus auf die Vergangenheit ist derselbe wie derjenige auf die Zukunft. Von Bedeutung für die Zukunftsperspektiven haben sich in Jiménez Laux’s Studie vor allem ökonomische und arbeits-/versicherungsrechtliche Aspekte gezeigt. Dabei war aber nicht nur die Bilanzierung des bisherigen Lebens von Bedeutung, sondern auch die Dimension des ‚ungelebten Lebens‘: „Es wirkt sich auf die (Un)Zufriedenheit der Zukunftsperspektiven aus, ob die Frauen der Ansicht sind, dass sie etwas ‚verpasst‘ haben, also ein Potential an ‚ungelebtem Leben‘ noch vorhanden ist, das sie noch leben möchten, oder ob der subjektive Eindruck vorherrscht, schon die wichtigsten biographischen Perspektiven gelebt zu haben.“ (Jiménez Laux 2001: 217)
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Jiménez Laux sieht die größten Vorteile einer biographischen Perspektive in der Migrationsforschung darin, dass sie den Migrant/innen erlaubt, ihre Sinnzusammenhänge aus der eigenen Perspektive frei entfalten zu können und dass die Komplexität und Prozesshaftigkeit dieser Sinngebung aufgezeigt werden kann. Damit, so Jiménez Laux (2001), könne die Gefahr der Kulturalisierung, der fixen Zuschreibung ethnischer Identitäten umgangen werden, ohne in die gegenteilige Falle zu tappen und spezifische Erfahrungen von Differenz grundsätzlich zu verneinen. Jiménez Laux bezieht sich auf das Konzept der Biographizität von Alheit (siehe z.B. 1995), welches die Leistung von Subjekten beschreibt, gesellschaftliche Anforderungen und persönliche Eigenheiten durch verschiedene gesellschaftliche Statuspassagen hindurch miteinander zu verknüpfen. „Der Begriff der ‚Biographizität‘ erscheint mir vor allem deshalb hilfreich, weil er für Einheimische und MigrantInnen geltend gemacht werden kann und damit Verhaltensstrategien nicht als ‚ethnisch‘ dargestellt werden. Gleichzeitig erlaubt der ‚Biographizitäts‘Begriff die Betrachtung des gesellschaftlich spezifischen Kontextes von Individuen. Dieser Punkt ist m.E. deshalb wichtig, weil bei Diskussionen in jüngerer Zeit die Dekonstruktion von ‚ethnicity‘ oftmals mit einer Relativierung gleichgesetzt wird, die spezifische Erfahrungen der MigrantInnen, sowohl als Individuen als auch im Kollektiv, nicht ernst nimmt und vor allem in der Praxis nicht hilfreich ist. Das Motto ‚Wir sind alle anders, also sind wir alle gleich‘ wird in der interkulturellen Theorie und Praxis mit einem universalistischen Anspruch verwendet und thematisiert in der Regel nicht gesellschaftliche Hierarchie- und Machtverhältnisse.“ (Jiménez Laux 2001: 14)
Die Soziologinnen Juhasz und Mey beschäftigen sich in „Die zweite Generation: Etablierte oder Außenseiter?“ (2003) mit Biographien von Jugendlichen ausländischer Herkunft, die in der Schweiz leben. Die Studie ist theoretisch sehr differenziert und erhebt den Anspruch, den biographietheoretischen Ansatz mit Gesellschaftstheorien zu sozialer Ungleichheit zu verbinden. Die Autorinnen stützen sich dabei auf die Kapitaltheorie Bourdieus und die Etablierten-AußenseiterFiguration von Elias (vgl. Elias/Scotson 2002). Durch die Verbindung dieser Theorien mit Konzepten aus der Biographieforschung wird das Ziel verfolgt, die Vermittlung von Struktur und Handlung sowohl von der Struktur her wie auch von der Handlung her anzugehen. Davon ausgehend interessieren in der Analyse des empirischen Materials in erster Linie die Laufbahn und die Position der Jugendlichen ausländischer Herkunft im sozialen Raum. Juhasz/Mey greifen insbesondere auch das Konzept der biographischen Ressourcen auf, wie es von Hoerning (1989) entwickelt wurde, und sehen darin ein zentrales Potential für individuelle wie auch gesellschaftliche Veränderung.
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Auch Apitzsch betont in einem Übersichtsartikel zu Biographieforschung in der interkulturellen Pädagogik (1999) den kreativen Charakter von Migrationsbiographien und das Moment sozialen Wandels, das Migrationsbiographien inhärent ist. Lebenskonstruktionen im Migrationskontext werden von ihr verstanden als soziale Praxis, die gerade aufgrund der Migrationserfahrung eine besonders innovative ist. Damit wendet sich Apitzsch (1999: 482) gegen die Sichtweise, dass sich Migration entlang eines Modernitäts- und Kulturgefälles bewege und deshalb zu einer Art Notstandspraxis und zu Anpassungsdefiziten führe. Sie sieht demnach die Aufgabe der Biographieforschung darin, die innovative soziale Praxis von Migrant/innen zu rekonstruieren und zu re-implementieren. Ähnlich wie Lutz (1991) betont Apitzsch damit die besonderen Kompetenzen, die sich aus Migrationserfahrung schöpfen lassen. Einige neuere Ansätze in der biographischen Migrationsforschung beschäftigen sich mit Biographie unter dem Gesichtspunkt von Globalisierungs- resp. Transnationalisierungsprozessen (siehe Apitzsch 2003, Bukow et al. 2006, insbesondere auch Lutz/Schwalgin 2006). Die damit einher gehenden Enträumlichungs- und Virtualisierungstendenzen hinterlassen, so die Thesen, deutliche Spuren in Biographien; mögliche Lebenswege vervielfältigen sich, Lebenswelten globalisieren sich, mobilisieren sich nicht nur real, sondern auch virtuell. Trotzdem aber brauchen Biographien Verortungen, d.h. Subjekte sind auf Bedeutungszuweisungen an Orte angewiesen und werden durch die an diesen Orten herrschenden Machtverhältnisse beeinflusst. „Nicht jede Imagination möglicher Lebensentwürfe ist beliebig umsetzbar. Vielmehr bleibt die Handlungsfähigkeit der einzelnen Subjekte durch an einem jeweils spezifischen Ort wirksame Regelungen, etwa von Einreise- oder Zulassungsbegrenzungen, (institutionellen) Rassismen etc., sowie von individuellen und kollektiven Differenzfaktoren (Gender, Ethnizität, Klasse, Nationalität etc.) in multipler Weise begrenzt.“ (Lutz/ Schwalgin 2006: 100)
Grundsätzlich alle Menschen, insbesondere aber Migant/innen und Angehörige von Migrant/innen, stehen vor der Herausforderung, multiple Verortungen in ihr Selbstbild zu integrieren und diese auch anderen gegenüber überzeugend darzustellen. Identitäten sind durch transnationale und multiple Bindungen zu Orten beeinflusst, die durch (durchaus auch widersprüchliche) konkrete Erfahrungen, Erinnerungen und Imaginationen hervorgerufen werden. Innerhalb dieser Verflechtungen multipler Verortungen müssen sich Menschen immer wieder neu positionieren (Lutz/Schwalgin 2006: 101). Und darin sehen die Autorinnen, in Anlehnung an die Ethnologinnen Hermann und Röttger-Rössler (2003), das
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Potenzial von Biographieforschung in der Migrationsforschung: Genau diese komplexen Prozesse multipler Verortungen und Positionierungen lassen sich in idealer Weise an Lebensgeschichten aufzeigen. Lebensgeschichten sind so gesehen ein besonders geeignetes Medium, um die persönlichen Handlungsmöglichkeiten zu untersuchen, die sich Subjekte in der komplexen lokal-globalen Verflechtung zu erschließen versuchen. Abschließend lässt sich festhalten: Migration schlägt sich in der Biographie über die spezifischen Erfahrungen des Migrierens und des sich in einem neuen Lebenszusammenhang Organisierens nieder. Der Umgang mit diesen neuen Erfahrungen hängt von der bisherigen biographischen Erfahrungsverarbeitung ab. Insofern beginnt ein biographischer Zugang zu Migration nicht mit dem Zeitpunkt der Migration, sondern bezieht das Leben vorher mit ein. „Migrationsprozesse [...] haben einen biographischen Hintergrund, eine Vorgeschichte, die nicht nur die unmittelbare Migrationsentscheidung, sondern auch die Realisierung und Bearbeitung eines Lebens in und nach der Migration beeinflusst. Umgekehrt verändern Migrationserfahrungen Biographien und prägen biographische Perspektiven.“ (Dausien 2000b: 9)
Das Biographisieren des eigenen Lebens ist ein reflexiver Prozess, neue Erfahrungen werden in den bestehenden Erfahrungsschatz integriert und verändern diesen auch. Geht man davon aus, dass Menschen, die migrieren, dadurch auch mit anderen kulturellen Mustern des Erzählens und der biographischen Präsentation konfrontiert werden, so ist davon auszugehen, dass Migration in besonderem Maße zum Biographisieren anregt, im Sinne einer Kontingenzbearbeitung. Migrierte Menschen können sich, wenn sie ihre Biographie erzählen, auf verschiedene narrative Muster beziehen, auf solche, die sie aus ihrem Herkunftskontext kennen, wie auf solche, die sie von ihrem Aufenthaltsort her kennen. Insofern ist es unumgänglich, dass die Forschenden über ein gewisses Kontextwissen verfügen über die verschiedenen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhänge, in denen der/die Biograph/in lebt resp. gelebt hat. Es ist aber auch davon auszugehen, dass der/die Biograph/in seine/ihre Geschichte für ein bestimmtes Gegenüber (d.h. die Forschenden oder das imaginierte Publikum hinter der Person des/der Forscher/in) konstruiert und von diesem Gegenüber auch verstanden werden will. Insofern ist es – insbesondere, aber nicht nur, im Migrationsbereich – wichtig, biographische Forschung auch aus der interaktionsanalytischen Perspektive zu betreiben und die Situation des Erzählens und die Hintergründe der daran beteiligten Personen in die Analyse mit einzubezie-
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hen. Hält man sich dabei konsequent an ein offenes, abduktives Vorgehen, so steht meines Erachtens einem biographischen Vorgehen in der Migrationsforschung nichts im Wege. Biographie und Alter In der Gerontologie hat die biographische Perspektive noch wenig Tradition. Die Pädagogin Cornelia Schweppe (1999) führt dies einerseits auf die gerontologische Forschungspraxis zurück, die stark quantitativ geprägt ist, andererseits auf die Theorieentwicklung, die ihren Anfang innerhalb der Medizin nahm und Alter vornehmlich als Krankheit respektive als Funktionsstörung betrachtete. Dieses sog. ‚Defizitmodell des Alterns‘ versuchten psychologisch orientierte Ansätze zu überwinden, indem sie individuelle Variabilität betonten (Schweppe 1999: 328f). Insbesondere der Psychologe Hans Thomae und seine Kognitive Theorie des Alterns, entwickelt in den frühen 1970er Jahren, wird oft als zentraler theoretischer Bezugspunkt erwähnt (z.B. bei Dietzel-Papakyriakou 1993, Ruth/Kenyon 1996, Spülbeck 1997). Die Thomae’sche Theorie besagt, dass nicht die objektiven Veränderungen im Alternsprozess, sondern deren individuelle Wahrnehmung essentiell ist, um Alternsprozesse zu verstehen. So gesehen bildet die Wahrnehmung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die individuelle Handlungsgrundlage (Ruth/Kenyon 1996). Aufgrund dieser Impulse gewann in der gerontologischen Forschung die Einsicht an Bedeutung, dass Altern ein biographisch verankerter Prozess ist, doch wurde diesem Aspekt vor allem mit entwicklungspsychologischen Fragestellungen und quantitativen Erhebungen Rechnung getragen (Schweppe 1999: 329). Biographische Ansätze sind heute in zwei Bereichen der Gerontologie von Bedeutung: Einerseits in der praxisorientierten gerontologischen Forschung, z.B. in Studien zu Maßnahmen der sozialen Altenarbeit und Altenbildung, andererseits in der wissenschaftlichen Forschung, wo es z.B. um das Aufzeigen der reichhaltigen und komplexen Vielfalt des Alterns geht, oder um die Analyse der individuellen Bearbeitung von sich im Zuge des Alterns verändernden Bedingungen20 (Schweppe 1999). Eine sozialkonstruktivistisch orientierte biographische Perspektive auf das Alter zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich mit einem bestimmten Abschnitt im Lebenslauf, mit einer bestimmten Phase des Lebens beschäftigt. Die Lebensphase Alter ist schwierig zu bestimmen, sie ist – in der Regel definiert als Phase nach der Aufgabe der Erwerbstätigkeit – ein soziales Konstrukt der Moderne,
20 Z.B. durch den Übertritt in den Ruhestand, oder durch Verlust der Selbständigkeit aufgrund gesundheitlicher Veränderungen.
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das sich an der Institutionalisierung des Lebenslaufs (Kohli 1985, 1992), insbesondere an der Einführung von Pensions-/Rentensystemen orientiert. Die Begrenzung der Lebensphase Alter mit dem Zeitpunkt des Übertritts in den Ruhestand und dem Tod ist in mehrfacher Hinsicht problematisch (vgl. Schweppe 1999). Zum einen orientiert sich diese Definition an einer – in der Regel vorwiegend männlichen – Erwerbsbiographie, die regulär sozialversichert ist und zum vorgesehenen Pensionierungszeitpunkt beendet wird. Gegenwärtig führen aber Umschichtungsprozesse in der Arbeitswelt zu immer früherem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben21. Die Lebenserwartung andererseits nimmt beständig zu, so dass die Altersphase immer später beendet wird. Die individuelle Deutung der Lebensphase Alter ist deshalb in Beziehung zu setzen zu den gesellschaftlichen Kontextbedingungen. Einerseits haben Modernisierungs- und Individualisierungsentwicklungen auch im Alter zu Freisetzungs-, Pluralisierungs- und DeTraditionalisierungs-Prozessen – und somit auch zur Biographisierung des Alters – geführt: „Die Altersphase ist gestaltbar und gestaltungsnotwendig geworden und muss durch eigenes Handeln, ohne den Rückgriff auf gemeinsam geteilte Lebensformen hergestellt werden.“ (Schweppe 1999: 336) Andererseits ist – aufgrund derselben Prozesse reflexiver Modernisierung – ansatzweise auch das sozialstaatliche Rentensystem und damit die institutionalisierte Phase des Alters im Lebenslauf an sich in Frage gestellt. Die Gerontologie, insbesondere in ihren soziologischen und psychologischen Dimensionen, ist eine stark an der Praxis orientierte Wissenschaft, die sich in erster Linie für die Zukunft von Individuen interessiert und weniger für die Retrospektive auf das vergangene Leben. Aufgrund der obigen Ausführungen kann hier – wie dies verschiedene Autor/innen auch tun (z.B. Jiménez Laux 2001, Burzan 2002) – aber darauf verwiesen werden, dass gerade das vergangene Leben mit seinen je spezifischen Erfahrungen und die sich entwickelnden individuellen Verarbeitungsmodi die Art und Weise des Alterns entscheidend beeinflussen. Für die Alternsforschung, die sich vor allem mit der Zukunfts- und Alternsplanung befasst, „kann [...] davon ausgegangen werden, dass die Zukunftsperspektiven von der gegenwärtigen Lebenseinstellung der Erzählerin und ihrer dominanten Prozessstruktur in ihrer Biographie abhängen“ (Jiménez Laux 2001: 77f). Auch in der migrationsspezifischen Altenarbeit, insbesondere wenn es um die Pflege von Migrant/innen geht, wird auf die Wichtigkeit der Kenntnis individueller Biographien hingewiesen, um den Bedürfnissen von Pflegebedürftigen
21 Gleichzeitig befinden sich die Rentensysteme moderner Sozialstaaten unter Druck, was u.a. auch dazu führt, dass Erhöhungen oder Flexibilisierungen des Pensionierungsalters vermehrt diskutiert werden.
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als Individuen gerecht werden zu können (z.B. Arbeitskreis „Charta für eine kultursensible Altenpflege“ 2002: 26). Im angloamerikanischen Raum ist die Debatte um Biographie und Alter stark vom Konzept der Narration geprägt (siehe z.B. Coleman 1994, Birren et al. 1996, Kenyon et al. 2001, Gubrium 2001, Kenyon 1996, etwas allgemeiner dazu Chamberlayne et al. 2000). Es wird davon ausgegangen, dass Erzählen nicht nur Erfahrungen kommunizierbar macht, sondern in die Strukturierung von Erfahrung selbst eingreift, d.h. Wirklichkeit überhaupt erst schafft. Laut Dausien (2002) spielt dieser narrative Konstruktivismus vor allem eine Rolle in der aktuellen therapeutischen Arbeit, der Erwachsenenbildung und insbesondere der Arbeit mit marginalisierten Gruppen, z.B. auch mit Alten22. „Die Verlockung, dem individualisierten Subjekt in den Wirren der ‚neuen Unübersichtlichkeit‘ mit dem Konzept der Narration eine produktive und ermächtigende Rolle zuzuschreiben, ist groß. Das Subjekt wird zum Schöpfer seiner selbst stilisiert.“ (Dausien 2002: 157)
Damit ist auch die Idee verbunden, dass, wenn das Individuum durch seine Erzählung sich selbst und die Welt quasi erst erschafft, es auch die Möglichkeit besitzt, durch Umschreiben der Erzählung seine konkrete Lebenssituation zu verändern. Es geht in diesen auf therapeutische resp. pädagogische Intervention ausgerichteten Ansätzen um Empowerment, um Rückgewinnung der Deutungsmacht über die eigene Geschichte (siehe z.B. Randall 2001). Wenn auch bis zu einem gewissen Grade die Möglichkeit besteht, über Interventionen im Sinne einer Anregung zur Umdeutung von Biographien auf die subjektive Einschätzung der Gegenwart und Zukunft sowie auf die damit zusammenhängenden Handlungsstrategien einzuwirken (vgl. dazu auch das Konzept der biographischen Ressourcen, siehe Kapitel 3.2), darf das narrative Gestaltungspotential und sein Einfluss auf die Möglichkeitsräume eines Individuums nicht überschätzt werden. „Der Fehler in der Gerontologie, ältere Menschen von ‚defizitären Alten‘ zu ‚aktiven Senioren‘ zu konstruieren, sollte im Bereich der alten MigrantInnen nicht noch einmal begangen werden, und aus dem ‚hilfsbedürftigen Ausländer‘ sollte nicht ein ‚selbstbestimmter und glücklicher Migrant‘ konstruiert werden.“ (Jiménez Laux 2001: 29)
22 Neben den Alten werden dort als Beispiele für solche marginalisierten Gruppen zudem auch Frauen und Migrant/innen erwähnt (Dausien 2002: 157, Fußnote 34).
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Es handelt sich vielmehr, wie Giddens (1997) deutlich gemacht hat, um ein sowohl-als-auch: Einerseits um strukturelle Einschränkungen, die das Individuum kaum umgehen kann, andererseits aber auch um Handlungsspielräume, innerhalb derer das Individuum ‚zum Schöpfer seiner selbst‘ werden kann. Eine Frage, die noch zu behandeln bleibt, ist diejenige, ob und wie sich die Perspektive einer bestimmten lebenszeitlichen Position im erwartbaren Leben auf die erzählte Lebensgeschichte auswirkt. Die Vermutung ist plausibel, dass ein Individuum seine Lebensgeschichte anders konstruiert, wenn es am Anfang des erwartbaren Lebens, in der Mitte oder am Ende desselben befindet. Geht man davon aus, dass in der modernen (westlichen) Welt ein Individuum mit großer Wahrscheinlichkeit ein fortgeschrittenes Alter erreicht, so bedeutet das, dass die individuelle Zukunft in gewisser Weise auch planbar ist. Mit zunehmendem kalendarischem Alter nimmt diese zu erwartende Zukunft kontinuierlich ab, was die Vermutung nahe legt, dass im Alter eine Bilanzierung der ursprünglichen Pläne und der tatsächlich verwirklichten Handlungsoptionen stattfindet. Das Moment der Bilanzierung des bisherigen Lebens im Alter, welches in Dietzel-Papakyriakou’s (1993) Werk im Hinblick auf das Altern in der Migration einen besonders wichtigen Stellenwert zugeschrieben bekommt, wird – allgemein auf das Altern bezogen – auch von der Biographieforscherin Gabriele Rosenthal behandelt: „Wird im späteren Leben die Lebensgeschichte erzählt, kann – im Vergleich zur Kindheit – von einer erhöhten Thematisierung der Spätadoleszenz und zunehmender erzählerischer Dichte ausgegangen werden, da mit dieser Lebensphase biographische Entwürfe verbunden sind, die in ihrer Erfüllung oder ihrem Scheitern im späteren Leben zu Bilanzierungen führen.“ (Rosenthal 1995: 137)
Rosenthal betont damit, dass die Retrospektion im Alter insbesondere der Bilanzierung gilt, also der Auseinandersetzung damit, welche Lebensentwürfe man in jungen Jahren hatte und wie sich diese nun erfüllt resp. nicht erfüllt haben. Rosenthal benennt mehrere biographische Wendepunkte, die eine biographische Erzählung strukturieren (Rosenthal 1995: 134f): erstens am Übergang zur mittleren Kindheit, zweitens zur Spätadoleszenz/jungem Erwachsenenalter, drittens zum mittleren Lebensalter in den 50ern und zuletzt im Übergang zum späteren Alter. Der Wendepunkt zum mittleren Alter zeichnet sich laut Rosenthal aus durch eine zunehmende Bewusstwerdung der Endlichkeit des Lebens und der teilweisen Irreversibilität eingeschlagener biographischer Pfade. Entscheidend für diese Lebensphase sei das Trauern.
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„Trauerarbeit bedeutet eine verstärkte Introspektion [...] und erhöht damit den Bedarf an biographischen Thematisierungen. Während im späten Alter biographische Thematisierungen eher zur Vorbereitung auf das Sterben dienen, sind sie hier noch der Bemühung geschuldet, gegenwärtige Probleme zu lösen.“ (Rosenthal 1995: 137)
Problemlösung bedeutet einerseits, sich von nicht erfüllten Plänen zu verabschieden, und andererseits, Initiativen zur Veränderung der Lebensführung zu ergreifen. Der biographische Horizont an Möglichem verengt sich aber nicht nur, es eröffnen sich auch neue Chancen. Der Wendepunkt zum hohen Alter zeichnet sich dann laut Rosenthal durch die Vorbereitung auf das Ende des Lebens aus, was oft zu einem erhöhten Bedürfnis an Bilanzierung führe. Allerdings will Rosenthal diese Typisierungen von Lebensphasen nicht als allgemeingültig verstanden haben. „Von welchen Bedürfnissen und Interessen biographische Präsentationen geleitet sind, welche Funktionen sie erfüllen bzw. welche Probleme damit gelöst werden sollen, ist in jeder Lebensphase unterschiedlich. Zwar können wir von gewissen, lebensphasen-typischen Tendenzen ausgehen, doch lassen sich einzelne Lebensgeschichten nicht einfach unter diese Annahmen subsumieren. […] Auch Lebenserzählungen von sehr alten Menschen müssen nicht die Strukturmerkmale einer ‚Sterbensgeschichte‘ aufweisen, d.h. des bilanzierenden Abschiednehmens mit einem geschlossenen Zukunftshorizont, sondern können durchaus in die Zukunft weisen23.“ (Rosenthal 1995: 140)
Auch Dietzel-Papakyriakou (1993) thematisiert den Aspekt der Retrospektion im Alter und der Evaluation der bis dahin erreichten Ziele, und zwar ganz konkret auf die in ihrer Studie im Zentrum stehende Gruppe der rückkehrorientierten europäischen Arbeitsmigrant/innen. Sie geht davon aus, wie „in der gerontologischen Forschung [...] überwiegend angenommen“ (Jiménez Laux 2001: 37), dass sich die Zukunftsperspektive im Alter aufgrund der zeitlichen Nähe zum Ende des Lebens verengt, weshalb sich die Individuen vermehrt auf Gegenwart und Vergangenheit konzentrieren. Bei Arbeitsmigrant/innen, so postuliert DietzelPapakyriakou (1993), kommt dabei der Bilanzierung des individuellen Migrationsprojektes eine ganz besondere Bedeutung zu. Unter dieser Perspektive wird die sog. Rückkehrorientierung von ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘ im Alter zur
23 Umgekehrt können auch Lebenserzählungen von sehr jungen Menschen in gewissen Situationen einer ‚Sterbensgeschichte‘ ähneln, z.B. bei Insass/innen sog. totaler Institutionen (Goffman), die sich in einer Situation ohne Einflussmöglichkeiten befinden, oder bei Menschen mit Selbstmordabsichten (Rosenthal 1995: 140).
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spezifischen Ressource. Rückkehrorientierung ist dann, auch wenn deren Realisierung kaum mehr wahrscheinlich ist, eine Art Aufrechterhaltung einer Zukunftsperspektive. Wenn die Gegenwart als vorläufiger Zustand betrachtet werden kann, schafft dies Entlastung in schwierigen Situationen (Dietzel-Papakyriakou 1993: 138). Zukunftsbezogenheit kann insofern ein positives Selbstwertgefühl vermitteln, als es die Überzeugung von der eigenen Fähigkeit ermöglicht, an der Veränderung des eigenen Lebens mitwirken zu können (Dietzel-Papakyriakou 1993: 147). Gardner (2002) streicht vor allem auch den sozialwissenschaftlich-methodischen Nutzen der Tendenz zur Bilanzierung im Alter heraus. In Anlehnung an die Ethnologin Barbara Myerhoff (1994 (1978)), welche die Bedeutung des Erzählens für kollektive Solidaritäts- und Identitätsbildung herausstreicht, sowie an den Medizinethnologen Good24, welcher die hohe Bedeutung von Krankheitserzählungen als wissenschaftlicher Zugang zu Erfahrungen propagiert hat, hält sie einen biographisch-narrativen Ansatz für besonders ertragreich: „My reasons for choosing a narrative approach are therefore primarily to do with what narratives reveal about the nature of human experience and the ways in which it is made meaningful by them. As I have indicated, this is particularly useful during the later stages of the life course, when people tend to be more reflective and are in a position to contextualize their lives.“ (Gardner 2002, S. 29)
Zudem gibt es im Alter spezifische biographische Wendepunkte, welche nach Neuorientierung verlangen und dadurch Individuen zu vermehrter Biographisierung anregen können. Einer der zentralen biographischen Wendepunkte im Alter – häufig auch als das entscheidende Kriterium für die Festlegung der Statuspassage zum Alter genannt – ist die Pensionierung. Pensionierung muss im individuellen Lebenslauf nicht unbedingt mit dem konkreten Ausstieg aus dem Erwerbsleben einher gehen – vielleicht findet dieser bereits früher oder auch erst später statt, vielleicht ist die betroffene Person gar nicht im üblichen Sinn erwerbstätig –, doch ist dies der Zeitpunkt im sog. ‚institutionalisierten Lebenslauf‘, zu dem Gesellschaftsmitglieder quasi offiziell aus ihrer Verpflichtung zur Erwerbstätigkeit entlassen werden. Diese Statuspassage, ihre gesellschaftlichen Bedingungen und die individuellen Umgehensweisen damit stehen im Zentrum des Interesses des deutschen Alterssoziologen Martin Kohli. Sein Plädoyer für eine biographische Perspektive
24 Good, Byron J. 1994: Medicine, rationality, and experience: an anthropological perspective. Cambridge University Press, Cambridge.
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in der Altersforschung formuliert er aus der theoretischen Sicht der soziologischen Ungleichheitsforschung. Aus dieser Perspektive werden soziale Positionen in einer Gesellschaft in entscheidendem Maße durch Erwerbsarbeit bestimmt. In allen modernen Gesellschaften, so Kohli (1990: 388), sind die Vergesellschaftungsleistungen der Wirtschaft besonders gewichtig, und es ist deshalb angebracht, von Arbeitsgesellschaften zu sprechen: „Arbeit sichert in ihnen nicht nur – wie in allen Gesellschaften – die wirtschaftliche Reproduktion, sondern ist darüber hinaus der Fokus ihrer grundlegenden Werte- und Weltauffassung; Arbeit ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt des materiellen Überlebens und der Organisation wirtschaftlicher und politischer Interessen relevant, sondern darüber hinaus unter demjenigen der kulturellen Einheit einer Gesellschaft und der Erfahrung und Identität ihrer Mitglieder. Von daher gewinnt die Frage, wer an der Erwerbsarbeit beteiligt ist und wer davon ausgeschlossen oder befreit ist, ihre Brisanz.“ (Kohli 1990: 388)
Die Phase der Pensionierung ist unter diesem Gesichtspunkt eine Phase sowohl des Ausschlusses wie auch der Befreiung aus dem zentralen gesellschaftlichen Referenzsystem Erwerbsleben. Damit werden Individuen nach der Pensionierung in der sozialen Hierarchie neu verortet, und diese neu zugewiesene soziale Position muss individuell und sozial gedeutet und in Kontinuität zur früheren Position gebracht werden. Damit unterstreicht Kohli die soziale Funktionalität der im Alter empirisch beobachtbaren Tendenz zum Lebensrückblick. Die Altersforschung hat laut Kohli (1990) diese Tendenz oft als psychologisches Phänomen betrachtet und sich dafür interessiert, inwiefern Lebensbilanzierung und Erinnerungen an die Vergangenheit als Rückzug aus den Belastungen des Alters dienen. Kohli hingegen plädiert für eine soziologische Perspektive und konzipiert Lebensrückblick als Vergesellschaftung (Kohli 1990: 402), d.h. als Prozess, in dem die Geltung vergangener Erfahrungen und Lebensformen aufrechterhalten oder umgedeutet wird. Diese Funktion von Erinnerung wird im Alter besonders wichtig, weil damit die Bindungswirkung von Lebensformen bewahrt werden kann, die das Individuum physisch längst verlassen hat (ebd.). Die Erinnerung und die biographische Aktualisierung dieser Erinnerung dient also, so interpretiere ich Kohli, der sozialen Positionierung in einer Welt, die durch ein an Erwerbsarbeit orientiertes Wertsystem geprägt ist und in der Pensionierte durch ihr Ausscheiden aus dem Erwerbssystem eine Art Marginalisierung erleben (insbesondere wenn die soziale Position zu Erwerbszeiten eine höhere war), die durch Bezugnahme auf die frühere Position in diesem System biographisch bearbeitet werden kann.
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Allerdings muss auch hier kritisch angemerkt werden, dass die hohe soziale Bedeutung der Erwerbsarbeit, die hier die Grundlage von Kohlis Überlegungen bildet, nicht unbedingt für alle Gesellschaftsmitglieder gegeben ist und vielleicht auch ein historisch spezifisches Phänomen darstellt. Unbestritten ist, dass Erwerbstätigkeit und Erwerbsverläufe in modernen, westlichen Gesellschaften nach wie vor geschlechtsspezifisch strukturiert sind, auch wenn sich Veränderungen beobachten lassen. Die Statuspassage Pensionierung ist insbesondere von Bedeutung für Menschen, deren Lebensläufe sehr stark durch Erwerbstätigkeit strukturiert waren. Menschen jedoch, welche nicht, nicht mehr oder nur teilweise erwerbstätig waren, erleben u.U. den strukturell festgelegten Zeitpunkt der Verrentung nicht als markante biographische Wende. Gehen wir nun von demjenigen historischen Kontext aus, mit dem sich Kohli beschäftigt und der auch für die gegenwärtig Pensionierten meiner Studie relevant ist, dann kann davon ausgegangen werden, dass der institutionalisierte Lebenslauf als Vorlage für eine ‚Normalbiographie‘ vorsieht, dass – insbesondere bei Familiengründungen – tendenziell eher Männer voll erwerbstätig bleiben und Frauen ganz, teilweise oder vorübergehend aus dem Erwerbsleben ausscheiden (siehe dazu auch Gather 1996). Aus dieser Perspektive richtet also Kohli (1990) seinen Blick auf die Verrentung von Erwerbstätigen und auf die Auswirkungen der Verrentung auf ihre Klassenlage sowie deren individuelle biographische Bearbeitung. Er weist darauf hin, dass mit dem Austritt aus dem Erwerbsleben eine gewisse klassenspezifische Ent-Individualisierung stattfindet und Individuen wieder stärker in familiäre Beziehungsstrukturen eingebunden sind (1990: 400). So ist die soziale Positionierung von Individuen in einem hierarchischen System, das sich um die Erwerbsarbeit als zentraler Referenzgröße herum organisiert, nach dem Erwerbsaustritt nicht mehr allein von der eigenen Klassenlage bestimmt, sondern zunehmend auch von den Klassenlagen von Ehepartner/innen und Kindern. Derselbe Mechanismus lässt sich beobachten bezüglich geschlechtsspezifischer Ungleichheiten. Zum einen vertiefen sich dadurch zwar auch bereits bestehende Ungleichheiten, z.B. in Bezug auf Altersarmut – ein Phänomen, von dem vor allem nicht oder nur teilweise erwerbstätig gewesene und im Alter allein stehende Frauen betroffen sind. Andererseits aber bedeutet für Männer der Verlust der Erwerbsposition, überspitzt gesagt, eine strukturelle Feminisierung (Kohli 1990: 401), und damit eine stärkere Anbindung an die Lebenslage der Partnerin resp. an die Lebenslagen von nicht-erwerbstätigen Frauen25. Neben dieser struk-
25 Die These der Feminisierung im Alter, die hier vom Soziologen Kohli als Männer betreffender struktureller Effekt konzipiert wird, wurde vom Psychologen David
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turellen und rollenspezifischen Ent-Individualisierung bietet die Pensionierung aber auch neue Spielräume für Individualisierung: Die Lebensphase nach der Erwerbsarbeit wird immer mehr zu einer Phase, die lange dauert und die bei guter Gesundheit begonnen wird. Da die institutionellen Vorgaben für diese Lebensphase gering sind, muss sie durch eigenes Handeln gestaltet und somit „biographisiert“ werden (Kohli 1990: 401). Die These der strukturellen Feminisierung der Männer im Alter, die mit der Konfrontation mit einer primär weiblich strukturierten Vergesellschaftung begründet wird, ist vielfach kritisiert worden. Daraus eine Angleichung der Lebenslagen von Frauen und Männern im Alter abzuleiten, ist zu kurz gegriffen: „Es verweist auf eine theoretische Vernachlässigung der hierarchisch komplementären Geschlechterverhältnisse bis ins Alter: denn diese veränderte Vergesellschaftung für Männer ist in der biografischen Perspektive ihres ‚Normallebenslaufs‘ bereits enthalten. Entsprechend sind Kompensationsmechanismen ‚eingebaut‘: Auch für die Bewältigung dieser Umstellung stehen ihnen meist hinreichend (materielle und soziale) Ressourcen zur Verfügung (wobei die sozialen Ressourcen i.d.R. von den Frauen gestellt werden.“ (Backes 2004: 398)
Backes (ebd.) weist zudem darauf hin, dass die im Lebenslauf angelegten Geschlechterverhältnisse sich bis ins Alter hinein fortsetzen, dass sich aber diese Verhältnisse und die darin angelegten Hierarchien nicht etwa angleichen, sondern im Gegenteil im hohen Alter eine Zuspitzung erfahren. Darüber hinaus gehe ich mit Kohli vor allem nicht einer Meinung, was den Grad der Individualisierung während der Erwerbstätigkeit angeht. Auch wenn sich Erwerbsverläufe von Frauen und Männern insbesondere während familiärer Reproduktionsphasen unterscheiden, so ist die Vorstellung, dass der Erwerbsarbeit individualisierte Lebensentwürfe zu Grunde liegen und der Familienarbeit nicht, eindeutig zu kurz gegriffen. Auch auf das Erwerbsleben ausgerichtete ‚Normalbiographien‘ sind ‚interwoven lives‘ (Hagestad/Neugarten 1985). Sehr einleuchtend an Kohlis Ausführungen erscheint mir hingegen die Charakterisierung des Erwerbsaustrittes als eine strukturell definierte Statuspassage, welche u.U. nach Biographisie-
Gutmann noch weiter gedacht und als aus den im Alter obsolet werdenden geschlechtsspezifischen Rollenzuteilungen (Produktion vs. Reproduktion) resultierende psychische Annäherung geschlechtsspezifischer Charaktere im Alter beschrieben (Gutmann, David 1988: Reclaimed powers: towards a new psychology of men and women in later life. Hutchinson, London).
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rung und Neuorientierung verlangen kann – insbesondere dann, wenn die eigene Biographie mit derjenigen einer/eines Partner/in verwoben ist (vgl. dazu Gather 1996). Verflechtung der Perspektiven: Biographie und Intersektionalität Bisher wurden das Konzept der Biographie und der biographische Zugang zu empirischen Fragen jeweils anhand eines bestimmten Aspektes, im Hinblick auf ein bestimmtes soziales Distinktionsmerkmal behandelt. Zum Schluss möchte ich nun noch versuchen, diese verschiedenen Komponenten zusammenzuführen, d.h. das Verhältnis der bisher behandelten Distinktionsmerkmale (Geschlecht, Nationalität/Ethnizität, Alter) zueinander zu klären. In Anlehnung an Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung werden hier diese verschiedenen sozialen Differenzierungsmerkmale als Strukturkategorien verstanden und Biographien als Orte der Wechselwirkung zwischen sozialer Struktur und individueller Praxis betrachtet. Dausien formuliert dieses Verhältnis zwischen Struktur und Subjekt im Hinblick auf eine Differenzkategorie, nämlich diejenige des Geschlechts, wie folgt: „Biographien sind eingebunden in gesellschaftliche Strukturbedingungen und Strukturierungsprozesse, in denen soziale Differenzen und Zugehörigkeitskontexte (sozioökonomische Milieus, kulturell und ethnisch definierte Kontexte, religiöse oder säkulare Glaubenssysteme u.a.) erzeugt werden, die für die soziale Positionierung und Identitätskonstruktion eines individuellen Subjekts relevant sind. Auch ‚Geschlecht‘ bzw. die gesellschaftliche Geschlechterordnung ist eine Differenz und Zugehörigkeit erzeugende soziale Struktur, die individuell nicht hintergehbar ist. Sie existiert jedoch umgekehrt nur insofern, als sie von konkreten Individuen ‚gelebt‘, d.h. aufgegriffen, performativ variiert, reproduziert und/oder neu konstruiert wird.“ (Dausien 2002: 189f)
Geschlecht, Nationalität/Ethnizität und Alter sind so gesehen soziale Organisationsprinzipien, die sich überschneiden, die sich gegenseitig durchkreuzen, die in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutung haben. Es geht dabei um die grundsätzlichen Fragen von Gleichheit und Differenz, von Ein- und Ausschluss, um hierarchische Ordnungen von Gruppen und Gesellschaften und um individuelle Positionen im sozialen Raum – Fragen, die sich in der konkreten Empirie als überaus komplex erweisen. Eine neuere theoretische Diskussion, die versucht, diesem komplexen Geflecht von sozialen Beziehungen gerecht zu werden, ist die Intersektionalitätsdebatte, die hier kurz vorgestellt und im Hinblick
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auf ihre Brauchbarkeit für empirische Forschung allgemein und biographische Forschung im Besonderen hin beurteilt werden soll. Die Diskussion um den Begriff der ‚intersectionality‘26 findet vor allem, aber nicht nur, innerhalb der Geschlechterforschung statt27, und hat ihren Ursprung in der kritischen Hinterfragung der klassischen feministischen Theorie durch Perspektiven aus marginalisierten Positionen, z.B. durch die sog. ‚feminists of color‘ in den USA28. Wichtige Anregungen dazu kamen auch aus der postkolonialen Kritik und der Migrationsforschung. Das Konzept der Intersektionalität ist einer der Versuche, auf die empirische Beobachtung von Vielfalt, Ungleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit von sozialen Positionsbezügen und individuellen Zugehörigkeitsgefühlen, wie sie sich u.a. auch in biographischen Selbstpräsentationen zeigen, zu antworten. Im deutschsprachigen Raum wird zudem auch das Konzept der ‚Achsen der Differenz‘ (Knapp 2000, Knapp/ Wetterer 2003) Bezug genommen. Beide Konzepte – ‚intersectionality‘ und ‚Achsen der Differenz‘ – betonen die sich überschneidenden sozialen Differenzierungslinien und beschreiben Subjektpositionen und Identitätskonstruktionen auf den Schnittpunkten (‚intersections‘) dieser Achsen. Welche Differenzachsen dabei von Bedeutung sind, ist umstritten; am häufigsten wird auf die Triade ‚race/class/gender‘, wie sie sich in der amerikanische Debatte durchgesetzt hat, Bezug genommen. Im deutschsprachigen Kontext wird diese Triade adaptiert und erscheint häufig als Klasse/ Schicht, Ethnizität/Nationalität und Geschlecht (vgl. dazu Knapp 2005). Der springende Punkt dabei ist, dass alle Differenzkategorien als nebeneinander stehend gesehen werden, und nicht eine als die Hauptkategorie gilt und die anderen untergeordnet werden. So wurde z.B. in der feministischen Auseinandersetzung mit marxistischen Theorien darüber debattiert, ob nun Klasse oder Geschlecht als Haupt- resp. Nebenwiderspruch zu betrachten sei. Die gemeinhin als zentrales, eine Gesellschaft strukturierendes Organisationsprinzip betrachtete Achse der sozialen Klassen, Kasten oder Schichten wurde ergänzt durch weitere,
26 Der Begriff ‚intersectionality‘ wurde in diesem Kontext erstmals von der Juristin Kimberlé Crenshaw in den 1990er Jahren benutzt. 27 Die amerikanische Soziologin Leslie McCall hält das ‚intersectionality‘-Konzept sogar für den bedeutendsten theoretischen Beitrag, den die Geschlechterforschung bisher geleistet hat (McCall 2005: 1771); zur etwas kritischeren Einordnung dieser Debatte in die europäische feministische Theorieentwicklung siehe Knapp 2005. 28 Siehe dazu z.B. Combahee River Collective (1979): A Black Feminist Statement. In: Hull, Gloria T. et al. (Hrsg.): All the Women Are White, All the Blacks Are Men, But Some of Us Are Brave. New York: 13-22.
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ebenfalls soziale Ungleichheit schaffende Achsen. Die Frage danach, welches denn die entscheidende Differenzlinie sei, war strittig. Die amerikanische Rassismusforschung betrachtete Rasse als die wichtigste Kategorie, die Migrationsforschung beschäftigte sich mit Ethnizität und/oder Nationalität als zentraler Differenzkategorie, die Geschlechterforschung sah Geschlecht als Hauptkategorie sozialer Differenzierung an. Unter dem Einfluss des Dekonstruktivismus wurden all diese Differenzkategorien in ihren quasi-naturalisierten Formen hinterfragt. Stattdessen plädierte man zunehmend für die differenzierte Untersuchung situativer sozialer Positionierungen: „Vor dem Hintergrund dieser Debatten ist im angelsächsischen Raum in jüngster Zeit die sogenannte Intersektionalitätsanalyse [...] entwickelt worden, die davon ausgeht, dass es notwendig und möglich ist, Gender, ‚Rasse‘/Ethnizität, Klasse, Sexualität und Nationalität in ihrem Zusammenspiel und in Bezug auf die Gleichzeitigkeit ihrer Wirkung auf Identitätskonstruktionen zu untersuchen, ohne dabei eine analytische Kategorie zu bevorzugen.“ (Lutz/Davis 2005: 231)
Auf dem Programm der Intersektionalitäts-Debatte steht dabei auch der Anspruch, neue Wege der Gesellschaftskritik zu finden. Während die frühe feministische Kritik aus den Reihen des US-amerikanischen ‚black feminism‘ an Geschlecht als Hauptkategorie sozialer Differenzierung an einer radikalen Gesellschaftskritik orientiert war, verschob sich im Zusammenhang mit paradigmatischen Verschiebungen der Postmoderne (‚linguistic‘ bzw. ‚cultural turn‘ in der Theoriebildung) der Schwerpunkt: „[D]ie Rede von ‚Unterdrückung‘ [wurde] zunehmend überlagert oder ersetzt durch die pluralisierte Rede von ‚Differenzen‘“ (Knapp 2005: 69). Der Fokus feministischer Forschung in den USA verlagerte sich auf empirische Forschung und sozialkonstruktivistische Theoriebildung auf der Mikro-Ebene, und das frühe feministische Programm einer umfassenden Gesellschaftsanalyse und -kritik geriet in den Hintergrund (Knapp 2005: 69). Seitdem ist die Frage nach Differenzen in diversen politischen, disziplinären und theoretischen Kontexten verhandelt worden. „Ein Kriterium, nach dem sich die Strömungen unterscheiden lassen, ist der Stellenwert, den Probleme sozialer Ungleichheit, Diskriminierung und Ausgrenzung jeweils haben. Während die Programmatik der intersectionality den politischen Impetus feministischer Herrschafts- und Gesellschaftskritik, das Interesse an der Analyse des Zusammenhangs von Ungleichheit und Konstruktionen von Differenz offensiv festhält, ersetzt der neuere Diversity-Diskurs den Fokus auf Ungleichheit durch einen auf Verschiedenartigkeit.“ (Knapp 2005: 69)
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Während sich das unkritische Konzept der ‚diversity‘ vielerorts durchzusetzen scheint, nicht nur in der Wissenschaft, sondern vor allem auch in Politik und Wirtschaft29, wird in der ‚intersectionality‘-Debatte Wert darauf gelegt, Differenzen explizit auch hierarchisch zu denken. Mehr oder weniger deutlich wird auch gefordert, Intersektionalitäts-Analysen, die sich in der Regel auf das Subjekt und seine Positionsbezüge im sozialen Raum konzentrieren, mit einer Gesellschaftsanalyse zu verbinden und damit die Klassifikationskriterien und deren hierarchisierende Effekte kritisch zu hinterfragen (siehe z.B. Knapp 2005, Anthias 2001). Bestrebungen in diese Richtung unternimmt z.B. die deutsche Philosophin Cornelia Klinger (2003), deren Überlegungen zur stratifizierenden Wirkung von Differenz sich gut ergänzen mit den politologischen Überlegungen zu Gleichheit und Differenz in modernen Gesellschaften und den damit verbundene Fragen nach Gerechtigkeit, wie sie die amerikanische Politologin Nancy Fraser (z.B. 2005) stellt. Die Debatte um Intersektionalität versucht die Erkenntnis zu theoretisieren, dass soziale Ein- und Ausschlussmechanismen multipel und situativ unterschiedlich beschaffen sind, ohne bei all der Diversität deren hierarchisierende Wirkungen zu vernachlässigen. Gegenwärtig gibt es noch nicht allzu viele empirische Versuche, ‚intersectionality‘ als analytisches Konzept nutzbar zu machen. Konsens herrscht aber darüber, dass einzelne Kategorien nicht mehr ohne Berücksichtigung anderer Kategorien betrachtet werden können: „Class, Race und Gender sind relationale Begriffe, wen sie unter welchen Formbestimmtheiten und durch welche Mechanismen einschließen und ausschließen, wie die jeweilige Relationalität verfasst ist unter spezifischen sozio-historischen, kulturellen und ökonomischen Bedingungen, kann nicht begriffen werden, wenn man nur eine dieser Kategorien in den Blick nimmt. Sie müssen also sowohl in ihrer jeweiligen Spezifik als auch in ihrem Zusammenhang gesehen werden.“ (Knapp 2005: 74)
Intersektionalität ist einerseits „eine Subjekttheorie, die Identitäten auf Kreuzungen von Differenzierungslinien lokalisiert“, andererseits umschreibt das Konzept soziale Positionierungen, die nicht eindimensional sind, sondern Produkt von simultanen, sich kreuzenden Mustern von Verhältnissen und Merkmalen (Lutz 2004: 482).
29 Als Beispiel sei hier die Beilage der Tageszeitung NZZ zum Thema ‚diversity‘ vom 29. November 2005 genannt.
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„Für die Benutzung als analytisches Instrument ist es wichtig festzustellen, dass die Kategorien nicht als statische, sondern als flüssige und sich verschiebende betrachtet werden müssen. Vergleichbar mit dem ‚Doing Gender‘-Ansatz können sie als Forschungswerkzeuge nur dann nützlich sein, wenn sie nicht als ontologische, sondern als Handlungskategorien betrachtet werden.“ (Lutz/Davis 2005: 231)
Ich nutze das Konzept für meine Forschung als analytisches Hilfsmittel dazu, meine Interpretationen der betrachteten empirischen Daten zu reflektieren. Der Hauptfokus dieser Studie, die Migration, soll hier in ihren Effekten nicht reifiziert werden. Eine einseitige Konzentration auf Nationalität/Ethnizität als Differenzkategorie würde die Gefahr mit sich bringen, Migrationserfahrungen in etwas hinein zu interpretieren, was möglicherweise gar nicht so viel mit Migration zu tun hat. Insofern dient mir das Intersektionalitätskonzept dazu, mich daran zu erinnern, dass es mir sowohl um die Allgemeinheit wie auch um die Besonderheit der geschilderten Lebensgeschichten geht, dass es mir bei der biographischen Analyse darum geht, wie sich Individuen in Beziehung zur Gesellschaft setzen und auf welche strukturierenden Kategorien von ihnen zurückgegriffen wird, um ihre Position in der Gesellschaft zu beschreiben. Und dass diese Position nicht eindeutig durch ein bestimmtes Distinktionsmerkmal definiert wird, sondern von verschiedenen, ineinander verzahnten Konzepten sozialer Zuweisung und Zugehörigkeit geprägt ist. Wie das Individuum sich mit solchen sozialen Kategorien und Zuweisungsmechanismen auseinandersetzt, ist wiederum von der jeweiligen Interaktionssituation abhängig. Allerdings werden Interaktionssituationen durch die daran beteiligten Individuen nicht jedes Mal vollkommen neu geschaffen, sondern jede/r beteiligte Handelnde bringt seine/ ihre individuelle Erfahrungsgeschichte – hier verstanden als Geschichte der individuellen Erfahrung mit kollektiven Strukturen – in jede neue Interaktionssituation mit ein. Letztere haben somit immer eine biographische Komponente, und Biographie ist nicht trennbar von gesellschaftlichen Strukturen. Biographieforschung, wie sie hier verstanden wird, beschäftigt sich also mit in Interaktionen erzeugten Berichten über individuelle Erfahrungen mit strukturellen Gegebenheiten, über die Verortung des Subjekts in sozialen Kontexten, sowie über Handlungsstrategien, die im Umgang mit der Struktur und im Rückgriff auf früher gemachte Erfahrungen entwickelt werden. Migrationsbiographien zeichnen sich vor diesem Hintergrund, so postuliere ich hier, nicht nur durch die von Gültekin (2003: 90) herausgearbeitete Doppelperspektivität aus, die es ihnen ermöglicht, sowohl die eigene Binnensicht als auch die Außensicht der Aufenthaltsgesellschaft auf Migrant/innen einzunehmen. Vielmehr zeichnen sich Migrant/innen durch eine potenziell besonders
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vielfältige Multiperspektivität aus. Das beinhaltet nicht nur, dass Subjekte mit Migrationsbiographien von zwei (oder auch mehreren) Kontexten geprägt sind, sondern insbesondere auch, dass die biographische Bearbeitung von Migration, in den Worten von Gültekin (ebd.) den Akteur/innen besonders hohe Beweglichkeit abfordert, und dies nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich, emotional und intellektuell.
4.
Paare suchen, besuchen und verstehen: Das methodische Vorgehen
Nachdem das thematische Feld des Alterns in der Migration aufgerollt und der methodologische Zugang der Biographieforschung erläutert wurde, wird hier nun das konkrete empirische Vorgehen beschrieben. Ziel dieses Kapitels ist es aufzuzeigen, mit welchen methodischen Konzepten ich die Forschung konzipiert habe, wie sich die Datenerhebung gestaltet hat und wie ich mit den erhobenen Daten verfahren bin. Sowohl Datenerhebungen wie auch Datenanalysen sind Prozesse, welche eine konstante und flexible Adaptierung von theoretischen und methodologischen Konzepten bedingen. Diese pragmatischen Umsetzungen und Entscheide sowie die Reflexion einiger ausgewählter Aspekte stehen hier im Zentrum.
4.1 I NSPIRATIONSQUELLEN UND H ANDLUNGSANLEITUNGEN Die Entscheidung, einen bestimmten methodologischen Zugang zu einer Forschungsfrage zu wählen, gibt zu einem gewissen Grad auch die Art und Weise vor, wie Daten erhoben, verarbeitet, analysiert und präsentiert werden sollen und können. Dennoch bleibt vieles offen, und insbesondere in der ganz konkreten empirischen Arbeit wird unklar, wie sich methodologische Konzepte in die praktische Forschungsarbeit umsetzen lassen. Deshalb sind konkrete Handlungsanleitungen sehr begehrt, und auch ich habe viel Zeit investiert in die Suche nach solchen praktisch-methodischen Inspirationsquellen. Was davon in der einen oder anderen Weise Spuren in meiner Forschung hinterlassen hat, soll hier kurz umrissen werden.
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In den Sozialwissenschaften werden biographietheoretische Zugangsweisen sehr eng mit dem methodischen Datenerhebungsinstrument des narrativen Interviews nach Fritz Schütze (Kallmeyer/Schütze 1977, Schütze 1982, Schütze 1984) verbunden. Das narrative Interview hat inzwischen auch in die Lehrbücher zu qualitativer Sozialforschung Eingang gefunden, als allgemeines Instrument zur Erhebung von Daten (z.B. Flick 1998, 2007), aber auch als spezifisch auf Biographien zugeschnittenes Erhebungsinstrument (z.B. Fischer-Rosenthal 1991, Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997). Das narrative Interview zeichnet sich vor allem aus durch das Grundprinzip der offenen Fragestellung, die sich an konkreten Erlebnissen festmacht, und das Primat, die inhaltliche und formale Gestaltung möglichst den Interviewten zu überlassen. Dies soll ihnen ermöglichen, ihre Relevanzen im Laufe des Erzählens selber zu entwickeln. Die Einflussnahme der Forschenden auf die Ausgestaltung der Themen und ihrer Verknüpfungen soll dabei minimiert werden. Narrative Interviews sind jedoch nicht isolierte Bühnen für Interviewte, auf denen die Forschenden quasi ohne Einfluss im dunklen Zuschauerraum sitzen, sondern nach wie vor interaktive Situationen, an deren Gestaltung die Forschenden genauso beteiligt sind wie die Interviewten. Die Beziehung zwischen den Interaktionspartner/innen zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass Forschende sich in die Rolle der interessierten Lai/innen begeben und das performative Feld den Interviewten als Expert/innen ihrer eigenen Erfahrungen, Erzählungen und Beurteilungen überlassen. Narrative Erhebungsverfahren produzieren sehr umfangreiches, dichtes und thematisch reichhaltiges Material. Darin manifestieren sich abstrakte Konzepte – und für die interessiert sich die Forschung in der Regel – in mannigfachen konkreten Ausformungen. Sie werden also nicht direkt benannt, sondern indirekt umschrieben. Narrative Daten zeigen soziale Wirklichkeit nicht eins zu eins auf, sie repräsentieren und interpretieren sie. Und deshalb lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse nicht einfach im Material sammeln, sondern sie müssen mittels bestimmter Techniken rekonstruiert werden. Die grundsätzliche Idee, dass sich soziale Wirklichkeit nur in konkreter sozialer Praxis manifestiert und dass wissenschaftliche Erkenntnis nur möglich ist in Form von abstrakter Re-Konstruktion dieser sozialen Wirklichkeit, ist in allgemeiner Form im Rahmen der ‚Grounded Theory‘ entwickelt worden (z.B. Glaser/Strauss 1967) und später auch in konkrete Handlungsanleitungen für den empirischen Forschungsprozess eingeflossen (Strauss/Corbin 1996, Glaser/Strauss 1998). Anleitungen dazu, wie wissenschaftliche Erkenntnis aus narrativen Daten rekonstruiert werden kann, gibt es verschiedene. Eine häufig genannte Referenz ist Fritz Schütze, der zu diesem Zweck die kognitiven Figuren autobiographischen
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Stegreiferzählens entwickelt hat (Schütze 1984). Seine Anleitungen zur Analyse narrativen Materials stützen sich auf Erzählungen in einer reinen Form, nämlich auf spontane Erzählungen einzelner Personen, welche von den Interviewer/innen nicht unterbrochen werden und so zu einer (idealerweise) extensiven Erzählung führen, deren Konstruktionsmechanismen dann im Zentrum der Analyse stehen. Weiterentwickelt und etwas konkreter umsetzbar gemacht hat dieses Vorgehen Gabriele Rosenthal (1994, 1995), auf deren Anleitungen sich dann auch zahlreiche Forschungsprojekte gestützt haben (siehe dazu z.B. Juhasz/Mey 2003). Diese Tradition der Datenerhebung und -analyse legt das Hauptgewicht auf die Erzählung und zielt im methodischen Vorgehen auf die Produktion einer kohärenten, durch Interviewer/innen möglichst wenig beeinflussten Erzählung ab. Die gängige Interviewkonstellation besteht hier aus einem/einer Interviewten und einem/einer, evtl. auch zwei Interviewenden. Doch auch in komplexeren Interaktionssituationen wurde schon verschiedentlich mit narrativen Konzepten gearbeitet, insbesondere in Familiengesprächen (Hildenbrand/Jahn 1988, Hildenbrand 2005, Lanfranchi 1995). Diese Forschungstradition orientiert sich an den methodologischen Prinzipien der Strukturalen Hermeneutik (siehe z.B. Oevermann 2000, Wernet 2000) und hat insbesondere methodentechnische Bedeutung erlangt durch die konkrete Forschungsanleitung von Bruno Hildenbrand (1999). Seine sog. ‚fallrekonstruktive Familienforschung‘ stützt sich auf Interviewdaten, die in Anwesenheit und unter Beteiligung von mehreren Familienangehörigen produziert wurden, und legt, neben der Entwicklung und Konstruktionslogik der Themen im Gespräch, explizit auch ein Augenmerk auf die Dynamiken der Interaktion. Das Hauptaugenmerk der vorliegenden Forschung liegt auf dem Paarinterview. Die Idee, dass Paare ihre eheliche Gemeinschaft in der Kommunikation permanent (re-)konstruieren, wie dies Berger und Kellner (1965) beschrieben haben (vgl. Kapitel 2.4), lässt sich gut kombinieren mit der methodologischen Anlage von narrativen Interviewverfahren. Narrative Paarinterviews sind interaktive Situationen, in denen sich das Ehepaar als Paar konstruiert und seine je individuellen Biographien so rekonstruiert, dass sie in die gemeinsame Paargeschichte münden. Zudem sind narrative Paarinterviews Arenen zur Präsentation der ehelichen Gesprächskultur. Auch Hildenbrand und Jahn (1988) gehen in ihrer methodischen Anleitung zu Familieninterviews davon aus, dass im gemeinsamen Erzählen familiäre Wirklichkeit konstruiert wird. Familiengespräche lassen Aspekte familienspezifischer Weltsichten zum Ausdruck kommen, die den Alltag dieser Familien durchgängig strukturieren. Insbesondere in komplexen modernen Gesellschaften, in denen sich gesellschaftliche Institutionen ausdifferenziert haben, kommt der privaten Sphäre, insbesondere der Ehe und Fa-
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milie, die Aufgabe zu, Orientierungsmodelle zu entwickeln, und dies ist auch der Bereich, in welchem Familiengeschichten für die soziale Konstruktion von Wirklichkeit von Bedeutung sind (Hildenbrand/Jahn 1988: 204). Narrative Interviews sind so gesehen Kommunikationssituationen, in denen Paare resp. Familien aufgefordert sind, ihre alltäglichen Wirklichkeitskonstruktionen gegen außen zu kommunizieren. Sowohl die ‚klassische‘ biographische Forschung in der Tradition von Schütze und Rosenthal wie auch die an der strukturalen Hermeneutik angelehnten Ansätze der fallrekonstruktiven Familienforschung1 verstehen sich als interpretative Analyseinstrumente. Diese sind mit den Grundprinzipien der ‚Grounded Theory‘ insofern vereinbar, als sie sozialwissenschaftliche Theorie aus alltagspraktischen Konstruktionen re-konstruieren und damit Theorie aus der Empirie heraus entwickeln. Aus der methodischen Verfahrenstradition der ‚Grounded Theory‘ habe ich insbesondere das Prinzip des zyklischen Forschungsprozesses übernommen. Dieses besagt, dass Datenerhebung, Verarbeitung und Analyse keine zeitlich voneinander getrennten Phasen, sondern gleichzeitige und sich gegenseitig beeinflussende Tätigkeiten sind. Damit verbunden ist das Prinzip des sog. ‚theoretical samplings‘ (Strauss/Corbin 1996: 148f; Glaser/Strauss 1998: 53f), welches ich soweit möglich als Anleitung zur Auswahl von Interviewpartner/innen, insbesondere aber auch als Hilfsmittel zur Hypothesenbildung aufgrund von Kontrastierungen im Analyseprozess benutzt habe. Im Gegensatz zum praktischen Verfahren der ‚Grounded Theory‘ als Methode legen die beiden anderen methodischen Werkzeugkästen, in denen ich mich bedient habe, großen Wert auf die Betrachtung eines Interviewtextes als Ganzes, dessen Konstruktionslogik es unter Berücksichtigung der Entstehungsbedingungen zu re-konstruieren gilt. Der Fokus auf die Konstruktionslogik eines Interviewtextes, verstanden als eine Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit, bedingt ein sequentielles Vorgehen in der Analyse, d.h. eine Interpretation des Textes, die seinem Aufbau folgt. Zentral ist die Überlegung, dass Interviewtexte sozial geteilten Sinn enthalten, in der Form von ‚praktischem Wissen‘ (Giddens 1997, siehe auch Kapitel 3.2), den es in der Analyse zu entfalten gilt. Diese Entfaltung des Sinns soll möglichst umfassend sein, und deshalb haben Verfahren der Gruppenanalyse ein besonderes Gewicht in diesen methodischen Traditionen. Beide legen zudem zentrales Gewicht auf die Einstiegssequenz des Interviews, in dem, so die Annahme, sowohl die Interaktionssituation ausgehandelt, wie auch das zentrale Thema bereits gesetzt wird. Die Interaktionssituation ist
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Zu Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Kombinationsmöglichkeiten der beiden Herangehensweisen siehe auch Wohlrab-Sahr 2002.
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eine der Konstruktionsbedingungen, welche auf das zu analysierende Konstruktionsprodukt – den Interviewtext – einwirken. Gemäß Dausien (2002: 177) sind es daneben noch zwei weitere: die biographische Rahmung, d.h. die Konstruktion des sich im Interview präsentierenden Selbst, sowie die Rahmung durch den sozialstrukturellen und kulturellen Kontext (also durch strukturelle Bedingungen, durch Diskurse, institutionalisierte Skripts und Erzähltraditionen). Interviewtexte sind in ihrer Funktion als Konstruktionen sozialer Wirklichkeit also zu untersuchen als intersubjektive Interaktionssituationen, als biographisch formierte Selbstpräsentationen von Subjekten wie auch als strukturell resp. diskursiv geformte Manifestationen von Gesellschaft.
4.2 D IE
FORSCHUNGSPRAKTISCHE
U MSETZUNG
Soweit die grundsätzlichen methodischen Prinzipien; die konkrete Umsetzung solcher Prinzipien im Laufe des Forschungsprozesses folgt hingegen, so meine Erfahrung, eher praktisch-pragmatischen Regeln. Im vorliegenden Forschungsprojekt bestand die Freiheit, diesem Prozess der konkreten Operationalisierung meines Forschungsinteresses relativ viel Raum einzugestehen, nach möglichen Umgangsweisen mit dem Material zu suchen, verschiedene Analysetechniken auszuprobieren, den Interpretationsprozess im Grundsatz zu reflektieren und gleichzeitig ganz pragmatische Entscheide zu fällen. Auf den Punkt gebracht lässt sich das methodische Prinzip dieser Studie wie folgt umschreiben: Ich habe mit der Erhebungstechnik des narrativen Interviews ein Datengenerierungsverfahren gewählt, welches eine besonders große Bandbreite möglicher Formen und Inhalte zulässt. Und ich habe in der Verarbeitung und Analyse der Interviewdaten nach Wegen gesucht, mit dieser Bandbreite an empirischem Material sinnvoll zu verfahren und daraus etwas zu generieren, das relevante, plausible und interessante Einsichten in spezifische soziale Welten bietet und dabei sowohl in seiner Entstehung nachvollziehbar bleibt, wie auch den Subjekten hinter den Daten gerecht wird. Um verständlich zu machen, wie die anschließenden Fallrekonstruktionen entstanden sind und warum sie in dieser Form präsentiert werden, möchte ich die wichtigsten Eckpunkte meines gewundenen Weges zum nachfolgend präsentierten Endprodukt nachzeichnen.
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Suchbewegungen und Entscheidungen I: Das Paar als Analyseeinheit Die Entstehungsgeschichte dieser Studie begann bei der groben Idee, eine Forschung zum Altern in der Migration am Beispiel italienischer Migrant/innen in der Stadt Bern zu machen. Für die biographisch-narrative Methode habe ich mich u.a. auch entschieden, um die bereits bestehenden Studien zu diesem Thema um einen subjektbezogenen, differenzierten Ansatz zu erweitern. Verschiedene Beobachtungen in der ersten, explorativen Phase des Forschungsprojektes haben dazu geführt, dass ich mich für Interviews mit pensionierten Paaren entschieden habe. So zeigten die statistischen Daten zur italienischen Bevölkerung der höheren Altersgruppen, dass der Anteil Verheirateter besonders hoch ist. Erste Erkundungen in der gerontologischen Literatur (z.B. Höpflinger 1997, Backes/Clemens 1998, Höpflinger/Stuckelberger 2000, EKFF 2006) deuteten darauf hin, dass Altern deutlich geschlechtsspezifische Komponenten hat und dass informelle, insbesondere familiäre Unterstützung im Alter von zentraler Bedeutung ist. Die Publikationen im Bereich Migration und Alter (z.B. Bolzman et al. 1999 und 2001) schienen der familiären Solidarität noch größere Bedeutung zuzuschreiben. Darüber hinaus haben sich bisherige Studien zum Altern in der Migration (z.B. Dietzel-Papakyriakou 1993, Reinprecht 2006) vorzugsweise mit besonders marginalisierten Subjektpositionen beschäftigt. Der Fokus auf Paare im Alter hingegen rückt den Blick auch auf weniger auffällige Lebenslagen von Migrant/innen im Alter. Hinzu kamen ein generelles Interesse meinerseits an geschlechtsspezifischen Aspekten in der italienischen Arbeitsmigration, wie auch der Anspruch, meine methodischen Erfahrungen zu erweitern. Nun blieb noch die Frage offen, ob ich die Ehepartner/innen getrennt oder gemeinsam interviewen sollte. Beide Verfahren – Einzelinterview und Paarinterview – haben ihre Vor- und Nachteile. Das Paarinterview ist dabei allerdings wesentlich weniger erprobt und in der Literatur beschrieben worden (siehe dazu z.B. Allan 1980; praktische Anwendungen z.B. Gather 1996, Dryden 1999). Mich haben die Paarinterviews insbesondere gereizt, weil sie den Aspekt der Interaktion im Interview deutlicher hervortreten lassen, und weil sie zwar den Fokus auf Biographisches zulassen, darin aber explizit die Verwobenheit von individuellen Biographien mit den Biographien anderer thematisieren (vgl. dazu z.B. Dausien 1993: 147). Zudem bilden sich, wie in Kapitel 2.4 ausgeführt, im Laufe langjähriger Partnerschaften so etwas wie eheliche Welten heraus, intime geteilte Wirklichkeitskonstruktionen, welche sich, so die Annahme, in Paarinterviews deutlicher manifestieren würden als in Einzelinterviews. Die Entscheidung, Paare gemeinsam zu interviewen, erwies sich dann auch als die dem All-
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tag der Befragten besser entsprechende Variante, da in der Regel beide Ehepartner tagsüber im Haushalt anwesend waren. Eine/n der beiden bewusst aus der Interviewinteraktion auszuschließen, wäre mir seltsam vorgekommen2. Paarinterviews sind ausgeprägter interaktive Situationen als Einzelinterviews, und dementsprechend werden darin – im Hinblick auf biographische Interviews – weniger detailreiche ego-zentrierte Biographien entfaltet, sondern gemeinsam geteilte Repräsentationen der Paarbiographie. Das Paarinterview bietet somit die Möglichkeit, biographische Analyse und Interaktionsanalyse zu verbinden (Hildenbrand/Jahn 1988: 206). Biographische Paargespräche, so meine Erfahrung, tendieren dazu, individuelle Biographien als Kindheits- und Jugendbiographien zu gestalten und dann in die gemeinsame Biographie des Paares münden zu lassen. Dabei nimmt oft eine/r der beiden Ehepartner/in eine tragendere Rolle ein, beginnt mit seiner/ihrer Geschichte und entwirft die gemeinsame Geschichte, und der/die andere hat dann lediglich noch zu ergänzen. Andererseits ermöglicht das Paarinterview auch direkte Interventionen, wenn präsentierte Realitätskonstruktionen nicht gemeinsam geteilt werden. Die Art und Weise, wie diese Interaktion zwischen den Ehepartnern ausgehandelt oder auch ganz selbstverständlich praktiziert wird, wird im Paarinterview zu einem auszuwertenden Bestandteil der Daten. Durch den verstärkten Fokus auf Interaktion im Paarinterview ist die Gesprächsatmosphäre weniger intim, die soziale Kontrolle grösser, die Repräsentation als Paar ‚öffentlicher‘ und somit vermutlich auch harmonischer (vgl. dazu Dryden 1999: 22). Dennoch sind auch in Paarinterviews durchaus latente Konflikte präsent. Die Entscheidung, Frauen und Männer in der Form von Paaren zu befragen und die Interviews wenn möglich zu dritt – das Paar und ich – durchzuführen, hat also zu Kommunikationssituationen geführt, welche explizit nach der Konstruktion einer Paarbiographie verlangten. Meine Interviewpartner/innen wurden
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Auch den ursprünglichen Plan, die Ehepartner zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal getrennt zu befragen, habe ich aus diesem Grund verworfen. Aufschlussreich hätte ein nachträgliches Einzelinterview allenfalls im Hinblick auf Konflikte resp. nicht geteilte Beurteilungen, z.B. in Bezug auf die Rollen- und Aufgabenteilung im Haushalt, sein können. Auch geschlechtsspezifisch getrennte Gruppendiskussionen wären ein methodisches Instrument gewesen, um mehr über die konflikthaften Seiten des Alltags als Paar zu erfahren. Angesichts der Schwierigkeiten, überhaupt Interviewkontakte zu knüpfen, habe ich mich aber gegen eine konstruiert erscheinende Versuchsanordnung und für eine dem Alltag der Interviewten angepasste Form des Gesprächs entschieden. Zu möglichen Schwierigkeiten und allfälligem Mehrwert der Kombination von Einzel- und Paarinterviews siehe auch Gather 1996: 83, Fußnote 7.
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darüber hinaus als italienische Migrant/innen angesprochen und damit implizit auch zu einer Bezugnahme auf ihre Migration resp. ihr Italienisch-Sein (als Staatszugehörigkeit oder als kulturelle Eigenheit) aufgefordert. Darüber hinaus wurden sie als Pensionierte angesprochen, deren Lebensgeschichten in Zeiten ausgreifen, welche die Interviewerin aufgrund ihres Alters aus eigener Erfahrung nicht kennt. Die durch die Interviewkonstellation und die Einführung meines Anliegens gesetzten Themen für die Erhebung der biographischen Interviews waren somit das Paar als Einheit, die Migrationserfahrung und der Generationenunterschied. Dass ich als Fremde Paare besucht und aufgefordert habe, mir ihre Lebens- und Migrationsgeschichte zu erzählen, hat dazu geführt, dass die mir in den Interviews präsentierten Paarbiographien zudem einen öffentlichen Charakter erhalten haben, dass es darum ging, die eigene Paarbeziehung in einer sozial akzeptierten Form zu präsentieren. Suchbewegungen und Entscheidungen II: Die Datenerhebung Mit der Idee, dass ich in Paarinterviews etwas über das Altern in der Migration erfahren wollte, habe ich mich im Forschungsfeld, d.h. der Stadt Bern, auf die Suche nach möglichen Interviewpartner/innen gemacht. Es sollten Paare italienischen Ursprungs befragt werden, in denen beide Ehepartner bereits pensioniert sind und die mehrheitlich oder ganz in Bern leben. Von den 2007 in der Gemeinde Bern wohnhaften 869 Personen italienischer Staatsbürgerschaft über 65 Jahren sind besonders viele verheiratet, nämlich 66,9 %3, im Vergleich zum Prozentanteil in der Gesamtbevölkerung, der bei 47,1 % Verheirateter liegt, und zur ausländischen Bevölkerung mit 57,7 % (Quelle: Statistikdienste der Stadt Bern, Jahrbuch 2004 und Einwohnerdatenbank, Stand 2004). Potenziell wäre die Auswahl an Paaren also relativ groß gewesen, doch erwies es sich als schwierig, Kontakte herzustellen und die Paare zur Teilnahme am Interview zu motivieren. Auch in anderen Studien werden alternde Migran-
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Diese Zahlen geben Auskunft über Staatszugehörigkeit und Zivilstand und schließen damit eingebürgerte Ehepartner/innen aus, beinhalten dafür aber auch diejenigen italienischen Staatsangehörigen, die mit Personen anderer Nationalität verheiratet sind (in der hier interessierenden Altersgruppe sind dies mehrheitlich Schweizer Ehepartner/innen). Das ausschlaggebende Kriterium zur Auswahl des Samples war für mich der Migrationshintergrund, nicht die Staatszugehörigkeit. Ob immer noch italienische Staatsbürger/innen oder in der Schweiz eingebürgert, ist in der offiziellen Statistik ein Kriterium, für die Auswahl meines Samples war es keines. Es hat sich aber so ergeben, dass alle Paare, die ich interviewt habe, nicht eingebürgert sind.
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t/innen immer wieder als eine besonders schwierig zugängliche Gruppe bezeichnet (z.B. Reinprecht 2006: 218), und insbesondere auf biographische Interviews will oder kann sich nicht jede/r einlassen (z.B. Jimenez Laux 2001: 74; Philipper 1997: 42f). Auch mir gegenüber ist mehrfach geäußert worden, dass die Angefragten entweder nicht über die Vergangenheit sprechen wollten, oder dass sie nichts Interessantes zu erzählen hätten. Andere wiederum ergriffen die Möglichkeit zum biographischen Erzählen mit viel Eigeninitiative. Ich habe diese Entscheidungen jeweils akzeptiert und bei skeptischem oder ablehnendem Bescheid nicht übermäßig insistiert. Sieben Kontakte zu Ehepaaren haben schließlich auch zu Interviews geführt. Am erfolgreichsten war die Suche nach Interviewkontakten über die Vermittlung von Personen und Institutionen, welche sich für die alternde italienische Bevölkerung Berns in der einen oder anderen Weise engagieren. Diese Stellen hatte ich im Vorfeld der Studie bereits kontaktiert, hatte informelle Expert/innen-Gespräche geführt und mein Forschungsvorhaben kommuniziert. Ich hatte auch – im Sinne einer explorativen teilnehmenden Beobachtung – an Senioren-Treffen teilgenommen. Im Rahmen dieser Begegnungen habe ich mein Interesse, Paare kennen zu lernen und mir ihre Biographie erzählen zu lassen, kundgetan. Zwei der Paare sind mir anlässlich solcher Besuche vorgestellt worden, drei Paare haben mich im Anschluss an eine Veranstaltung kontaktiert, und zwei Paare sind mir auf gezieltes Anfragen hin vermittelt worden (eines privat und eines über eine Beratungsstelle). Die Interviews fanden zwischen Februar 2004 und Januar 2007 statt. In der Regel habe ich zwei Gespräche geführt und den Interviewpartner/innen zum Abschluss meine Kontaktdaten für Rückfragen oder Nachträge überlassen. Die meisten haben davon keinen Gebrauch gemacht. In allen Fällen habe ich von Beginn weg deutlich gemacht, dass ich am Paar interessiert bin und gerne mit beiden Ehepartnern sprechen möchte. In zwei Fällen jedoch war jeweils nur die Ehefrau anwesend, als ich zu den vereinbarten Terminen kam, und auf meine Nachfrage hin wurde mir gesagt, der Ehemann sei nicht bereit mitzumachen. Ich habe auch diese von den Interviewten gesetzten Bedingungen akzeptiert und die Interviews trotzdem durchgeführt. Die Texte, welche aus den beiden Einzelinterviews entstanden sind, unterscheiden sich deutlich von denjenigen der Paarinterviews. Narrative Einzelinterviews zur Paarbiographie sind Plattformen, auf denen sich Individuen in all ihrem Facettenreichtum als Person inszenieren können. Ehepartner/innen werden nach eigenem Gutdünken in die Narrative eingebaut. Paarinterviews hingegen sind interaktive Situationen, in denen sich das Ehepaar als Paar konstruiert und individuelle Biographien so rekonstruiert, dass sie in die gemeinsame Paarge-
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schichte münden. In Paarinterviews präsentieren sich Abbilder der über Jahrzehnte gemeinsam konstruierten Welt, wie auch Inszenierungen der ehelichen Gesprächskultur. Die Paare, die ich gemeinsam interviewt habe, wirken denn auch sehr symbiotisch, sprechen inhaltlich wie formal aufeinander abgestimmt. Selbst wenn sie sich ins Wort fallen, sich widersprechen, uneins sind, tun sie dies mit einer internalisiert wirkenden Systematik. Der eine Ehepartner ist in der Lage, die Sätze des anderen zu beenden, und biographische Erzählungen sind sehr oft geteilte Erzählungen. In der Regel werden narrative Einheiten schnell abgeschlossen. Diejenigen Ehepartner, die ich einzeln interviewt habe, präsentieren sich hingegen viel ausgeprägter als Individuen, Narrative entwickeln sich extensiver, Persönlichkeiten entfalten sich vielschichtiger. Bei der Durchführung der Interviews habe ich den Grundsatz verfolgt, den Interviewpartner/innen möglichst viel Raum zur eigenständigen Gestaltung des Gespräches zu überlassen. So habe ich die Paare, resp. den/diejenige/n Ehepartner/in, der/die mich kontaktiert hat, entscheiden lassen, wann und wo das Gespräch stattfinden würde und in welcher Sprache erzählt werde. Durchwegs alle entschieden sich dafür, mich bei sich zu Hause zu empfangen, in der Regel fanden die Gespräche im Wohnzimmer statt, und alle bis auf eine Person wählten Italienisch als Erzählsprache. Meine Bedingungen an die Gespräche waren, dass sich die Interviewpartner/innen genügend Zeit frei halten und dass ich das Gespräch auf Tonband aufnehmen kann. Anlässlich des eigentlichen Gespräches habe ich im Vorfeld jeweils kurz über mich und mein Forschungsinteresse informiert und dann die Gespräche mit der Bitte eröffnet, mir aus ihrem Leben zu erzählen und der Aufforderung, dass das Paar entscheiden solle, wer zuerst erzähle. Entgegen den Vorgaben des narrativen Interviews, aber dem ausgeprägt interaktiven Charakter der Erzählungen angemessen, habe ich im Laufe der Gespräche immer weniger Wert darauf gelegt, Zwischenfragen zu unterlassen. Ich habe mich bemüht, meine Rolle in der Interviewsituation als Zuhörerin durch die Art der Einführung meiner Person und meines Anliegens vor allem auf die Ebene des Alters und der nicht geteilten Erfahrungen zu lenken. Ich wollte mich nicht als wissenschaftliche Expertin mit hohem Bildungsniveau positionieren, sondern als interessierte, unwissende Zuhörerin, die etwas über die Erfahrungen der mir gegenüber sitzenden Expert/innen erfahren möchte. Das unmittelbare Publikum der biographischen Erzählungen war für die Interviewten somit eine Frau4, die in etwa der Generation der eigenen Kinder entspricht und selber
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Es könnte, je nach Fragestellung und vorhandenen Ressourcen, sinnvoll sein, Paarinterviews im Forschungsteam bestehend aus einer Frau und einem Mann zu führen, wie dies in der Literatur auch vorgeschlagen wird (z.B. Gather: 88). Andererseits berück-
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auch Familie hat. Eine Zuhörerin also, welche die Paar- und Familienerfahrung teilt, die jedoch nicht über die historische Erfahrung der Elterngeneration und vor allem nicht über die Migrationserfahrung verfügt. Die Tatsache, dass ich die Interviews in italienischer Sprache geführt habe, die Sprache aber nicht besonders gut spreche, hat sich diesbezüglich auch als Vorteil erwiesen: Damit oblag es mir, die Fremdsprache benützen zu müssen und dadurch in der freien Äußerung eingeschränkt zu sein5. Die Interviews wurden in der Originalsprache transkribiert und ergänzt durch ein Forschungstagebuch, in dem Begebenheiten, Beobachtungen und Beurteilungen rund um die eigentlichen Interview festgehalten wurden. Bei der Transkription wurde insbesondere Wert darauf gelegt, Sprecherwechsel festzuhalten. Zusätzlich wurde zu jedem Transkript ein Sequenzprotokoll mit inhaltlichen Stichworten erstellt, das in erster Linie der Orientierung im inhaltlichen und formalen Interviewverlauf diente. Suchbewegungen und Entscheidungen III: Die Analyse Bereits die Interviewführung, die Transkription und das Erstellen der Sequenzprotokolle führten zu ersten Thesen und Theorien über die einzelnen Fälle und zu losen Vergleichen zwischen den Fällen. Diese ersten Hypothesen habe ich anhand von Differenzkategorien geordnet, die ich als relevant für mein Untersuchungsfeld erachte. Es handelt sich dabei um eine analytisch-thematische Ordnung, die nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit Differenzpositionen, die von den Erzählenden in meinen Fallbeispielen explizit eingenommen wurden. Ich habe diese Differenzkategorien nicht nur im Hinblick darauf benutzt, wie sich
sichtigt eine solche Entscheidung lediglich die Differenzlinie Geschlecht und ihre potenziellen Auswirkungen auf das Verhalten der Interviewten. Im Falle meiner Studie könnte man so gesehen genauso gut dafür argumentieren, dass ich eine/n Zweitinterviewer/in mit italienischem Migrationshintergrund hätte beiziehen sollen, oder eine/n aus der Generation der Interviewten, oder gar jemanden mit vergleichbarem schichtspezifischem Hintergrund. Wichtig erscheint mir hier die konsequente Umsetzung der Forschungsmaxime Reflexivität (vgl. Kapitel 3.2), d.h. des Mitberücksichtigens solcher Effekte in der Formierung spezifischer Interviewkontexte. 5
Meine eher schlechte Sprachkompetenz zwang mich darüber hinaus dazu, meine Fragen und Anmerkungen im Interview wohlüberlegt und in einfache Worte gefasst zu formulieren. Dadurch habe ich nicht so rasch interveniert, wie ich das in meiner Muttersprache getan hätte. Und ich bin kaum der Versuchung erlegen, komplexe Sätze zu bilden sowie Fachausdrücke und abstrakte Konzepte einzubringen.
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Individuen im sozialen Raum entlang sich überschneidender Achsen der Differenz (Knapp 2000) positionieren, sondern auch als Strukturierungshilfen meines Denkens, um mein Material aus den verschiedenen Perspektiven der Nationalität, der Ethnizität, der sozialen Schicht, des Geschlechts und des Lebensalters zu betrachten. Es handelt sich also hier nicht um induktive Kategorien, die ich aus einem ganz bestimmten Fallbeispiel gewonnen habe, sondern um deduktive Kategorien, die ich der Theorie entnommen habe und die ich benutze, um die Anwendung meines Kontextwissens auf die individuellen Fälle zu strukturieren. So lässt sich zum Beispiel fragen, was die Lebenslage alter Menschen mit ausländischer Nationalität von Schweizern unterscheidet, was Altwerden für Menschen aus der Arbeiterschicht und was es für Wohlhabende bedeutet, was eine ethnische Identität und das sich Beziehen auf eine ethnische Infrastruktur für Implikationen auf die Lebenslage hat, ob sich dies für Alte und Junge deutlich unterscheidet, welche geschlechtsspezifischen Aspekte Altern allgemein und Altern in der Migration hat etc. Dieses am ‚theoretical sampling‘ angelehnte Analyseinstrument der Differenzierung auf verschiedenen Ebenen diente mir nicht nur zur Auswahl und Einordnung der Fälle6, sondern auch als Instrument der ‚Befremdung‘ (vgl. Temple 2006) und Bedeutungsentfaltung in der detaillierten Analyse von einzelnen Sequenzen, insbesondere der sequenziellen Feinanalyse, sowie bei der Analyse der biographischen Kontextdaten. Die biographischen Kontextdaten wie Geburtsjahr, Geburtsort, Anzahl Geschwister, Berufe der Eltern, Schul- und Berufsausbildung, Erwerbstätigkeiten, Zeitpunkt des Erwerbsausstiegs etc. wurden, in Anlehnung an die Verfahren der strukturalen Hermeneutik (Oevermann 2000, Wernet 2000) und an das Vorgehen von Rosenthal (1995), für sich interpretiert und dann mit der Konstruktion der erzählten Biographie im Interview in Beziehung gesetzt. Zentral dabei ist die Generierung von Hypothesen darüber, was es bedeutet, unter diesen Kontextdaten geboren zu sein und groß zu werden, sein Leben zu leben. Man fragt sich, wie das Leben anhand der Kontextdaten verlaufen sein könnte und wo allfällige biographische Wendepunkte liegen könnten. Die Analyse des ‚gelebten Lebens‘ (Rosenthal 1995) fokussiert also darauf, wann und in welchem historischen, räumlichen und sozialen Kontext gewisse Ereignisse im Lebensverlauf der Ehepartner stattgefunden haben und inwiefern diese spezifische Lagerung von Lebensdaten biographisch relevant werden könnte. Wann und wo jemand geboren
6
Eine strikte Anwendung des ‚theoretical samplings‘ wäre im Falle meiner Studie aufgrund der Kleinräumigkeit des Untersuchungsfeldes und der bescheidenen Kooperationsbereitschaft der Untersuchungsgruppe schwierig umsetzbar gewesen.
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wurde, wie die Familienverhältnisse waren, die Position in der Geschwisterfolge, die Altersverhältnisse in der Familie werden dabei genauso bedacht wie der historische und lokale Kontext der Kindheit, schicht- resp. milieuspezifische Besonderheiten des Elternhauses und des weiteren Umfeldes, die Berufe der Eltern und die eingeschlagenen Bildungswege der Kinder etc. Von Interesse sind dann die beruflichen Laufbahnen, Eckdaten zu Heirat und Familiengründung, sowie im hier vorliegenden Fall, wann, wie und wohin migriert wurde und wie sich die beruflichen und familiären Laufbahnen am neuen Lebensort weiterentwickelten. Auch die Umstände der Verrentung sind hier von Bedeutung. Die Analyse der ‚objektiven‘ oder ‚erlebten‘ Daten, welche aus der Erzählung gewonnen werden, dienen der Entwicklung von Hypothesen, wie Lebensläufe verlaufen sind und wie sie auch hätten verlaufen können, und das gibt, in der Kontrastierung zur ‚erzählten‘ Biographie, Hinweise darauf, was im konkreten Fall biographisch relevant geworden ist und was nicht. Zentral bei diesem Analyseschritt ist der reflektierte Rückbezug auf das eigene Wissen über die Kontexte, deren historische Besonderheiten, deren Ordnungen und die darin geltenden Normalitätsvorstellungen. Die aus diesem Analyseprozess gewonnenen Hypothesen werden dann verglichen mit der temporalen und thematischen Strukturierung der erzählten Lebensgeschichte. Letztere wird einerseits analysiert in ihrem sequentiellen Aufbau, andererseits anhand der Detailanalyse zentraler Stellen – das können Stellen sein, die man als besonders interessant, dicht oder wichtig empfindet, aber auch sperrige, unklare oder untypische Textstellen. Diese werden sequenziell interpretiert, d.h. unter Ausblendung dessen, was man über den Kontext weiß und was der zu interpretierenden Textstelle unmittelbar vorangeht, Wort für Wort (oder Satz für Satz) sinnhaft ausgelegt. Dieses Verfahren zielt darauf ab, sich quasi ‚künstlich dumm zu stellen‘, dann alle potenziell möglichen Lesarten eines Wortes resp. eines Satzes zu sammeln und in der Fortsetzung der Analyse zu beurteilen, welche Lesarten plausibel werden, sich durchsetzen oder wegfallen. Dieses Vorgehen kann dazu dienen, den Sinn der Textstelle gründlich aufzuschlüsseln, bestehende Lesarten zu hinterfragen und neue Lesarten zu entwickeln. Interpretationsverfahren wie die Analyse biographischer Kontextdaten oder die sequentielle Feinanalyse können prinzipiell allein praktiziert werden, sind aber insbesondere in der Gruppe ertragreich und inspirierend. Ausgehend von der Idee der Forschungswerkstatt, wie sie u.a. an der Universität Bielefeld entwickelt wurde (siehe sowie Dausien 2007), und angeleitet durch zwei Workshops mit Bettina Dausien und Paul Mecheril im September 2006 und im Juli 2007, ist auch in meinem akademischen Umfeld eine Forschungswerkstatt entstanden, in deren Rahmen einzelne Text-
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stellen in der Gruppe interpretiert werden konnten. Die gemeinsame Interpretation in einer Gruppe, die sich einigen Grundregeln verpflichtet und idealerweise in ihrer Zusammensetzung eine gewisse Konstanz aufweist, hat sich als sehr ertragreich und vor allem auch lustvoll erwiesen. Ein zentraler Bestandteil der Datenanalyse war die konkrete Rekonstruktionsarbeit im Prozess des Schreibens über die Fälle. Analyseschritte, ob allein oder in der Gruppe, wurden immer wieder schriftlich festgehalten, Hypothesen formuliert, Beobachtungen kontextualisiert, formale Darstellungsweisen ausprobiert. Das Schreiben über die Interviewmaterialien war vor allem geprägt von der Suche nach einer Darstellungsform, welche dem methodischen Verfahren und seiner methodologischen Prinzipien gerecht wird, die über die reine Beschreibung hinausgeht und dennoch die Mehrstimmigkeit beibehält. Mehrstimmigkeit meint hier, dass neben meiner interpretierenden Stimme auch die Stimme der Interviewten hörbar sein soll, und dass darüber hinaus auch die Lesenden interpretierende Stimmen entfalten können. Insbesondere sollte die Analyse auch den Subjekten hinter den Daten gerecht werden und deren Integrität wahren. Die Namen der Menschen, die mir aus ihrem Leben und ihrem Alltag erzählt haben, sind geändert worden. Auch andere Kleinigkeiten – Orte, Daten, Eigenschaften von Dingen – wurden abgeändert. Die in der Folge rekonstruierten Fälle sind also bis zu einem gewissen Grad anonymisiert worden. Jede Anonymisierung hat jedoch ihre Grenzen, und insbesondere biographisch-narrative Daten lassen sich nur bedingt soweit verfremden, dass ein Rückschluss auf die erzählende Person völlig ausgeschlossen ist. Es besteht die Gefahr, den Fall in seiner Besonderheit so stark umzukonstruieren, dass der Bezug zur konkreten Lebenswelt der Person verloren zu gehen droht. Eine radikale Möglichkeit, mit diesem Dilemma umzugehen, wäre der vollständige Verzicht auf eine Anonymisierung. Allerdings bin ich der Meinung, dass auch diese Strategie ihre Schwächen hat, ist doch das, was aus einer sozialwissenschaftlichen Analyse entsteht, etwas anderes als das, was eine Person im Rahmen einer biographischen Stehgreiferzählung über das eigene Selbst produziert. In einer Schütz’schen Sichtweise von sozialer Wirklichkeit (vgl. Kapitel 3.2) sind die transkribierten Interviews, welche die Datengrundlage meiner Studie bilden, Konstruktionen ersten Grades, meine Fallanalysen jedoch, wie sie sich hier nachlesen lassen, sind Konstruktionen zweiten Grades. Was ich über die Fälle sage, hat seine Basis in dem, was Person X und Person Y mir erzählt haben, ist jedoch nicht dasselbe. Für die vorliegende Arbeit ist nicht von Bedeutung, wer zum Beispiel Herr und Frau Morellini oder das Ehepaar Rosetti im wirklichen Leben sind. Es geht in der Analyse nicht darum, die Familie Agostino oder das Ehepaar Lillo als konkrete Personen zu analysieren und zu beurteilen,
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sondern es geht darum, auf der Basis der lebensweltlichen Konstruktionen meiner Interviewpartner/innen Modelle zu rekonstruieren, an denen sich spezifische Ausgestaltungen der komplexen Verschränkung von Struktur und Handlung nachvollziehen lassen. In Anlehnung an Paul Mecheril (2003: 31), der seinen Umgang mit den Aussagen seiner Interviewpartner/innen als ein Zerfleddern, ein Zersetzen und Übersetzen beschreibt, ein Eindringen in das Gesagte, ein FürSich-Bewohnbar-Machen der Äußerungen in Interviews, möchte ich hier in aller Deutlichkeit festhalten, dass die Produkte meiner Analyse – die empirischen Fallrekonstruktionen – nicht deckungsgleich sind mit den Personen, die mir ihre Sicht auf ihr Leben und ihren Alltag mitgeteilt haben. Was ich im Analyseprozess entwickelt habe – Mecheril würde sagen: modelliert habe (Mecheril 2003: 32f) – ist ein analytisches Modell, und kein fotographisches Abbild der Interviewpartner/innen. Suchbewegungen und Entscheidungen IV: Die Präsentation der Fallrekonstruktionen Die folgenden Fallrekonstruktionen gliedern sich wie folgt: Jedes der drei Kapitel beginnt mit einer extensiven Fallrekonstruktion und wird zum Schluss mit einer Kurzanalyse ergänzt. Die Fallrekonstruktionen folgen dem Grundprinzip, dass die erzählenden Subjekte in erster Linie als soziale Wesen betrachtet werden. Die Interpretation verfolgt deshalb vor allem das Ziel, strukturelle Kontextualisierungen und individuelle Positionierungen im sozialen Raum herauszuarbeiten. Die extensiven Fallrekonstruktionen legen zudem Wert darauf, das Material, seinen Entstehungskontext und seine interpretative Bearbeitung möglichst transparent zu lassen. Dennoch soll die Wahrung von Transparenz nicht auf Kosten der Lesbarkeit gehen. Jede extensive Fallrekonstruktion in dieser Arbeit beginnt mit einer Charakterisierung der Interaktionsrahmung (vgl. Dausien 2002: 180f). Diese umfasst die Art der Kontaktaufnahme, die Beschreibung der ersten Begegnung, des Interview-Ortes, sowie der Aushandlungsprozesse vor dem Interviewbeginn. Die Interaktionsrahmung beinhaltet auch Reflexionen über meine ersten Eindrücke und Beobachtungen, über die Art der Beziehung zwischen den Interviewpartner/innen und mir, sowie über das Interaktionsverhältnis, das sich zwischen uns entwickelt hat. Darauf folgt eine Kontextualisierung der Eckdaten aus den Lebensläufen, welche ich ‚Kurzbiographie‘ genannt habe. Darin wird ein erster Einblick in die strukturelle Verortung der Biographien gegeben. Nach der Kurzbiographie konzentriert sich die hier gewählte Darstellung der extensiven Fallrekonstruktion auf
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die narrativ-biographische Selbstpräsentation der beiden Ehepartner. Im Zentrum steht der Anfang des ersten Interviews, im Hinblick darauf, wie ausgehandelt wird, wer nun zuerst spricht und über was. Zentral ist hier, wie sich die beiden Ehepartner (falls beide anwesend sind) als individuelle Biographieträger/in und/ oder als Teil der ehelichen Gemeinschaft einführen. Die Fortsetzung der Falldarstellung orientiert sich dann einerseits am Verlauf der Interviews, versucht andererseits aber auch, eine temporale und thematische Ordnung vorzunehmen. Als Mittel zur Wahrung der Mehrstimmigkeit habe ich mich entschieden, die Fallrekonstruktionen großzügig mit empirischem Material aus den Transkriptionen anzureichern. Die ausgewählten Textpassagen werden hier sowohl in ihrer ursprünglichen Form – detaillierter Transkription in italienischer Sprache – wie auch in einer Übersetzung wiedergegeben. Die Übersetzung ist eine eher freie, sprachlich leicht bereinigte Version des Gesagten. Die Übersetzung gibt also bereits eine Interpretation des Erzählten wieder, und die Niederschrift von Übersetzungen bedingt immer wieder ein genaues Hinschauen, ob der Text nicht auch anders gelesen werden könnte und ob die verstandene Version plausibel ist. Im Laufe des Forschungsprozesses habe ich aufgrund dieser Erfahrungen das Übersetzen immer mehr auch als Interpretationsinstrument zu verstehen und einzusetzen gelernt7 (zu Übersetzungen von Datenmaterial in biographischen Forschungen siehe auch Temple 2006). Für die Interpretationen in der Gruppe wurden in der Regel nicht die Originaltranskripte, sondern meine Übersetzungen benutzt. Folgende Transkriptionszeichen prägen die Originaltranskripte: [.] fett Wor„...“ ‚...‘
Pausen, ein Punkt pro Sekunde betonte Worte vorzeitig abgebrochenes Wort, abgebrochener Satz direkte Rede in der Erzählung wenn Ausdrücke der Berner Mundart benutzt werden, phonetisch geschrieben [Text] Anmerkungen zur Sprechweise, zu Gesten oder ähnlichem, zur Bedeutung von Worten oder Verweise auf Handlungen
7
Wie bereits erwähnt, war die Zweisprachigkeit schon im Datenerhebungsprozess von Bedeutung, indem sie mich als nicht gut Italienisch Sprechende zur Laiin und die Interviewten zu Expert/innen gemacht hat. Zudem beeinflusste die Fremdsprache auch mein Verhalten während des Interviews, insbesondere die Art, wie ich Zwischen- und Nachfragen formuliert habe. Die schlechte Kenntnis der Sprache zwang mich dazu, Fragen weniger vorschnell anzubringen und einfach zu formulieren.
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Im Fließtext werden Zitate und textliche Anleihen an das Transkript in kursiver Sprache gehalten; doppelte Anführungszeichen stehen für direkte Zitate aus den Transkriptionen, einfache Anführungszeichen für textliche Anleihen. Die den extensiven Fallanalysen gegenübergestellten Kurzanalysen folgen im Prinzip den allgemeinen Interpretations- und Repräsentationsprinzipien der extensiven Analysen, sind aber mit dem Primat niedergeschrieben worden, einen kurzen, kompakten Text zu produzieren. Es wird nacherzählt, interpretiert und gewichtet, bestimmte Inhalte werden hervorgehoben, andere weggelassen. Einblick in den Originalton der Interviews wird mit ein paar wenigen, kurzen Zitaten ermöglicht. Zweck der Kurzanalysen ist es, einige der in der extensiven Fallrekonstruktion herausgearbeiteten Themen aus einer anderen Perspektive zu beleuchten, Aspekte zu kontrastieren oder zu ergänzen. Abschließend sei gesagt: Die Form, in der mein empirisches Material präsentiert wird, ist das Produkt meiner Bemühungen, einen Text zu schaffen, der mehr ist als die bloße Reproduktion des Interviewtextes, ohne diesem aber meine Lesart aufzuzwängen. Ich habe damit beabsichtigt, das einzulösen, was eine wissenschaftliche Rekonstruktion biographischer Erzählungen gemäß Dausien zu leisten hat: „Aufgabe der wissenschaftlichen Analyse ist, allgemein gesagt, nicht das ‚Nacherzählen‘ eines biographischen Textes. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, die (häufig impliziten) Konstruktionen eines Textes zu explizieren und – im Hinblick auf ein bestimmtes Interesse und eine Fragestellung – die ‚Regeln‘ zu re-konstruieren, die den Konstruktionen des Textes zugrunde liegen, sowie schließlich einen eigenen Text über den empirischen Text zu erzeugen, der nach den Regeln der Wissenschaft plausibel ist und Zusammenhänge in den empirischen Daten ‚neu ordnet‘ bzw. ‚neue‘ Gesichtspunkte hervorhebt.“ (Dausien 2002: 174)
5.
Selber die Familie durchgebracht: Das Ehepaar Rosetti
5.1 D IE R OSETTIS
KENNENLERNEN
Kontaktaufnahme und Interviewsituation Frau Rosetti ruft mich an, nachdem ich mein Projekt am Lottonachmittag einer italienischen Seniorengruppe vorgestellt und darum gebeten habe, sich bei Interesse an einer Mitarbeit mit mir in Verbindung zu setzen. Sie sagt, sie wolle sich für meine Studie anmelden, und bei meinem ersten Besuch sagt sie dann, sie sei gespannt, was nun auf sie zukomme. Frau Rosetti hinterlässt damit bei mir einen ersten Eindruck von Interesse, Aufgeschlossenheit und Kooperationsbereitschaft. Obschon ich sowohl in meiner Präsentation wie auch während des ersten Telefongespräches mit Frau Rosetti betont habe, dass ich mit Paaren sprechen möchte, scheint Frau Rosetti das Erzählen über das Paar als ihre Aufgabe anzusehen. Sie empfängt mich bei meinen beiden Besuchen zuerst allein. Wenn ich nach ihrem Mann frage, ob er auch da sei, ob er sich auch zu uns setzen könne, holt sie ihn jedoch beide Male sehr dienstfertig dazu, worauf auch er sich etwas erstaunt zeigt, dass ich an ihm interessiert sei. Er bleibt dann zwar während der ganzen Gespräche dabei, hält sich aber im Erzählen zurück. Herr Rosetti redet vor allem dann, wenn er von mir oder Frau Rosetti direkt angesprochen wird, oder wenn Frau Rosetti den Raum verlässt, z.B. um etwas in der Küche zu erledigen. Bei einigen Gesprächsthemen beteiligt er sich aktiver, indem er in kurzen Einwürfen Details oder Hintergrundinformationen ergänzt (z.B. technische und historische Anmerkungen), bei anderen Themen wiederum steuert er kaum etwas bei (z.B. zur Organisation der Kinderbetreuung). Die Rosettis wirken auf mich als Paar sehr symbiotisch; sie scheinen ein gut eingespieltes Team zu sein, was sich z.B. auch in der oben angesprochenen Aufteilung der Erzählrollen äußert. Insbesondere im ersten Gespräch wirken sie als
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Paar sehr harmonisch und einheitlich; Meinungsdifferenzen bezüglich einzelner Punkte deuten sich erst im zweiten Gespräch an. Die beiden hinterlassen bei mir den Eindruck von bescheidenen, zurückhaltenden, höflichen Menschen, interessiert und etwas schüchtern. Obwohl Lino lockerer, freundlicher, leichtfüßiger wirkt als Gianna, ist es offenbar ihre Rolle in der Paarbeziehung, die Kontakte nach außen zu pflegen. Er möge keinen Lärm, keinen Trubel, sei am liebsten für sich allein, sie hingegen gehe gern unter Leute, brauche Aktivitäten und Abwechslung, sagt Gianna. Ich besuche die Rosettis zweimal für ein Interview, im Februar 2004 und im Dezember 2006. Beide Gespräche finden im Wohnzimmer statt. Das Paar wohnt in einem Quartier etwas außerhalb des Stadtzentrums in einer kleinen DreiZimmer-Blockwohnung, vermutlich in den 1960er Jahren erbaut. Das Wohnzimmer ist dicht vollgestellt mit ausladenden, üppig mit Ornamenten versehenen Holzmöbeln und einem relativ großen Fernseher. Die Sitzgruppe (il salotto) ist aus dunklem Holz und mit rotem Samt bezogen. Ein dazu passendes Buffet nimmt einen großen Teil der Wand ein. In einer Ecke steht ein kleiner Esstisch, bedeckt mit weißer Spitzendecke, geschützt durch ein transparentes Plastiktischtuch und dekoriert mit Kunstblumen in einer Vase. An diesem Tisch nehmen wir jeweils Platz für die Gespräche. Die Wohnzimmereinrichtung erscheint mir geschmackvoll und aufeinander abgestimmt, in einheitlichem Stil. Es sind Repräsentier-Möbelstücke, für die mir das Wohnzimmer der Rosettis eigentlich etwas zu klein erscheint. Die Wände sind geschmückt mit Kinderfotos – der Enkelkinder, wie sich im Laufe der Gespräche herausstellt. Religiöse Bilder oder Gegenstände fehlen im Wohnzimmer, bis auf eine kleine Marienstatue aus Holz auf dem Buffet. Die Türen zu den anderen Räumen der Wohnung, auch zur Küche, sind in der Regel geschlossen. Auch dies ein Hinweis darauf, dass wir uns in einem ‚öffentlichen‘ Bereich der Wohnung aufhalten und dass dieser vom ‚privaten‘ getrennt wird1. Die Rosettis sprechen kaum Berndeutsch. Lino hatte vorwiegend italienische Arbeitskollegen und hat von seinem Arbeitgeber in Bern Französisch gelernt. Gianna verfügt über etwas Sprachkenntnis im ‚buon’ tedesco‘, dem Hochdeutschen. Mit mir unterhalten sich die beiden in Italienisch, wobei sie mehrmals
1
Erst als wir im zweiten Gespräch ausführlicher auf die beruflichen Fertigkeiten von Giannas Vater und Brüder zu sprechen kommen – sie waren Holzschnitzer und Möbelschreiner – zeigt mir Gianna auch das Schlafzimmer und die darin befindlichen Möbelstücke. An der Wand hängt ein Christus am Kreuz aus Holz – eine Arbeit von Giannas Vater. Der Raum ist zwar grundsätzlich auch ordentlich, enthält aber Gegenstände alltäglicher Hausarbeiten wie Bügelbrett und Wäschekorb.
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darauf hinweisen, dass ihre Sprache keine besonders hochstehende sei. Ich verstehe diese Bemerkungen auch als Hinweis darauf, dass die Bildung der Rosettis nicht auf demselben Niveau sei wie meine. Ich versuche, dem mit relativierenden Bemerkungen entgegen zu wirken, die ich vor allem an meinen ebenfalls nur mangelhaften Kenntnissen des Italienischen festmache. Zudem bemühe ich mich darum, den Rosettis zu vermitteln, dass ich an ihrem ‚Expertentum‘ in einem Bereich interessiert sei, von dem ich nicht viel wüsste – nämlich ihren Lebenserfahrungen vor, während und nach der Migration. Nach dem zweiten Gespräch kontaktiert mich Frau Rosetti noch weitere Male. Sie bittet mich einerseits um meine Meinung in einem Streitfall mit einem Kürschner, dem sie ihren in jungen Jahren erstandenen Pelzmantel2 zur Abänderung gegeben hatte und mit dessen Arbeit sie nicht zufrieden war. Sie will wissen, was ich an ihrer Stelle tun würde, da sie sich wehren wolle, ihr Mann dies jedoch für unangebracht halte. Ich erkundige mich für sie bei einer Konsumentenschutz-Organisation, welche Handlungsmöglichkeiten ihr offen stehen, und informiere Frau Rosetti darüber. Als Dank für meine Bemühungen bringt sie mir Blumen und Schokolade für die Kinder nach Hause. Ein weiteres Mal kontaktiert mich Frau Rosetti etwa ein Jahr später, als sie sich bei einem Reisebüro über eine Busreise beschweren will, die nicht nach Programm durchgeführt worden sei. Sie hat zu dem Zeitpunkt bereits zusammen mit einem ihrer Söhne eine Beschwerde eingereicht, die jedoch vom Reisebüro abgewiesen worden ist. Gemeinsam verfassen wir einen etwas schärferen Brief und fordern eine Rückerstattung, die dann zumindest teilweise auch geleistet wird. Diese Form der instrumentellen Unterstützung, welche Frau Rosetti von mir einfordert, gibt mir die Möglichkeit, eine Gegenleistung für die in den Interviews zur Verfügung gestellten empirischen Daten zu erbringen. Die Möglichkeit, aus der oft recht einseitigen Beziehung zwischen Forschenden und Interviewpartner/innen eine etwas ausgeglichenere Tauschbeziehung zu machen, bietet sich im Falle der Rosettis noch in einer anderen Form: Zu Beginn des ersten Gespräches, als Gianna und Lino wissen wollen, was ich
2
Dass Frau Rosetti einen Pelzmantel besitzt, hat mich zuerst etwas verwirrt, insbesondere da die beiden in eher bescheidenen finanziellen Verhältnissen zu leben scheinen und dies mir gegenüber auch so kommuniziert haben. Frau Rosetti erzählte mir allerdings am Telefon, dass der Mantel alt sei und damals nicht viel gekostet habe, weil sie ihn bei einer Geschäftsliquidation erstanden habe. Vielleicht ist der Pelzmantel ein aufgrund des bescheidenen Wohlstandes in der Schweiz erschwinglich gewordenes generationsbedingtes Statussymbol. Auch Frau Santo trug übrigens anlässlich ihres Hochzeitsjubiläums in der Kirche einen Pelzmantel.
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mit dem Interview vorhabe, spreche ich davon, dass ich die erzählten Geschichten bearbeiten und meinen Interviewpartner/innen zum Lesen geben werde, und dass aus der Studie einmal ein Buch entstehen soll. Frau Rosetti fragt später immer wieder nach, ob ich meine Studie schon abgeschlossen hätte. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass Frau Rosetti danach fragt, weil sie ihren Enkel/innen ihre Lebensgeschichte schriftlich überreichen möchte. Insbesondere eine Enkelin sage immer wieder, dass Frau Rosetti ihre Erinnerungen aufschreiben solle. Deshalb beschließe ich, zusammen mit den Rosettis eine kompakte Geschichte zu verfassen, welche das Paar der Enkelin zum 25. Geburtstag schenken kann. In drei gemeinsamen Schreibsitzungen erarbeiten wir auf der Grundlage von Interviewtranskriptionen und autobiographischen Notizen eine formal schön niedergeschriebene Lebensgeschichte. Die gemeinsame Niederschrift der Lebensgeschichte entwickelt sich zu einem relativ komplexen Prozess der Aushandlung darüber, was eine Biographie ist. Nachdem ich in einem ersten Schritt aus den Transkriptionen diejenigen Passagen zusammengetragen habe, die ich für geeignet halte, empfinden die Rosettis diese Ausschnitte jedoch als zu umgangssprachlich. Sie beginnen daraufhin, eigene Formulierungen und Ideen niederzuschreiben. Giannas Notizen sind sehr knapp und betreffen v.a. ihre Kindheit in Italien. Ich plädiere dafür, einige der Geschichten über konkrete Erlebnisse einzufügen, die sie mir im Interview erzählt hat. Zudem schlage ich vor, etwas mehr aus dem Leben in der Schweiz in die Biographie aufzunehmen. Gianna zeigt sich zuerst skeptisch, findet ihr Leben in der Schweiz nicht interessant genug. Gemeinsam besprechen wir daraufhin, welche Geschichten wie ausführlich in den Text integriert werden sollen. Lino, welcher im Rahmen der beiden transkribierten Gespräche eher wenig Lebensgeschichtliches erzählt hat, investiert viel in seine schriftliche Version und legt dabei mehr Wert auf akkuraten Inhalt als auf schön ausgeschmückte Geschichten. Seine schriftliche Auto-Biographie gleicht eher einem biographischphilosophischen Brief an seine Enkelkinder. Lino diktiert mir seinen Text aus seinen handschriftlichen Notizen. Seine Geschichte schließt mit einem moralischen Statement dazu, wie sich die Welt verändert hat und was er sich für die Zukunft wünscht. Das Interesse der Rosettis an biographischer Arbeit war von Beginn unserer Zusammenarbeit an groß. Das Biographische ist zum Zeitpunkt unseres ersten Kontaktes im Umfeld der Rosettis bereits ein Thema durch verschiedene soziale Projekte3. Ich vermute auch, dass Gianna Rosetti mich ursprünglich kontaktiert,
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Es handelt sich dabei um Projekte, die im Stadtteil der Rosettis durchgeführt wurden und über die insbesondere Frau Rosetti durch ihre Kontakte zu Seniorengruppierun-
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weil sie, wie sie dies von Bekannten gehört hat, auch gern eine schriftlich festgehaltene Biographie haben möchte. Zudem habe ich den Eindruck, dass die Rosettis kulturelles Kapital grundsätzlich hoch einschätzen: Sie legen Wert auf Bildung, auf Ästhetik, auf Qualität, sie achten auf sprachlichen Ausdruck und machen einen belesenen Eindruck. Diese Offenheit, das Interesse und die hohe Kooperationsbereitschaft der Rosettis machen die Zusammenarbeit für mich sehr angenehm. Durch die Gelegenheit, auch meinerseits gewisse Leistungen zu erbringen, indem ich den Rosettis meine deutsche Sprachkompetenz sowie meine Textverarbeitungsfähigkeiten zur Verfügung stelle, erlebe ich die Beziehung zu ihnen als relativ ebenbürtig und ausgeglichen. Die Rosettis und ich stellen in unserer Beziehung aber nicht nur über das kulturelle Kapital Gemeinsamkeit her, sondern auch in Form einer symbolisch-familiären generationellen Beziehung über das gemeinsame Reden über und Fragen nach Kindern resp. Enkelkindern. Auch die Betonung des Umstandes, dass die Rosettis mir mit ihrer Kooperation zur Erlangung einer Bildungsqualifikation verhelfen, dient uns zur Beziehungspflege. Dieser Aspekt gibt unserer Interaktionsbeziehung neben der professionell-instrumentellen Zielsetzung auch eine persönliche Note. So viel zum Interaktionsrahmen der Gespräche zwischen den Rosettis und mir. Bevor ich nun ausführlich auf den Inhalt der Gespräche eingehe, auf die Art, wie sich Gianna und Lino in ihren biographisch-narrativen Selbstpräsentationen als Einzelpersonen und als Paar konstruieren und wie sich ihr Altern in der Schweiz gestaltet, möchte ich zur Orientierung kurz auf die Lebenslauf-Daten eingehen. Kurzbiographie von Gianna und Lino Rosetti Die Rosettis stammen beide aus Sizilien und sind in einem mittelständischen, städtischen Milieu aufgewachsen. Geboren in den 20er resp. frühen 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, durchlebten sie ihre Kindheit und Jugend vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegsjahre. Beide stammen aus
gen und ihr Interesse an Freizeitaktivitäten vermutlich informiert war. Eines der Produkte dieser Aktivitäten ist die Publikation von nacherzählten Erinnerungen betagter italienischer Migrant/innen aus Bern (Aeschlimann 2002 und 2007). Herr Rosetti nahm zudem offenbar an einem Workshop der Bildungsinstitution ‚Formazione‘ teil, in dem es um das Erzählen von Geschichten von Senior/innen für Schüler/innen ging. Herr Rosetti scheint jedoch der Meinung gewesen zu sein, einen Computer-Schnupperkurs zu besuchen, da man die Kursteilnehmenden dazu aufgefordert hatte, Geschichten in einen Computer einzutippen.
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derselben Stadt, sind sogar teilweise im selben Quartier aufgewachsen. Die Geburtsstadt von Gianna und Lino (hier A-Stadt genannt) und deren Umgebung gehörten innerhalb Siziliens zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu den eher privilegierten Regionen, mit fruchtbarem Umland, vergleichsweise gut funktionierender Wirtschaft und städtischer Infrastruktur. Im Verhältnis zu anderen Regionen Siziliens war die Gegend weniger stark von Klientelsystemen und deren kriminellen Auswüchsen dominiert. Andererseits wurde diese Region besonders stark von den unmittelbaren Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges getroffen, insbesondere während der Landung der Alliierten im Sommer 1943, die in Sizilien auf den Widerstand von deutschen Truppen stießen (Finley et al. 1998). Gianna Rosetti wurde 1931 geboren. Ihr Vater war Handwerker, arbeitete freiberuflich als Holzschnitzer und war spezialisiert auf Skulpturen und Ornamente. Giannas Mutter verdiente zeitweise ein Zubrot mit Heimarbeit als Wäsche-Näherin. Gianna ist die Erstgeborene von insgesamt sechs Geschwistern. Alle Kinder der Familie erlernten einen Beruf: Die Brüder übernahmen das Schnitzerhandwerk vom Vater, Giannas jüngere Schwester wurde Lehrerin. Gianna machte in den ersten Nachkriegsjahren eine vierjährige Ausbildung zur diplomierten Damenschneiderin (drei Jahre ‚sarta‘ + ein Jahr ‚taglio‘) und verdiente danach zum Familieneinkommen dazu. Lino Rosetti kam 1926 zur Welt. Sein Vater war im Staatsdienst tätig, als Zugführer (‚capotreno‘) bei der Eisenbahn. Zusätzlich bezog er eine Invalidenrente aufgrund einer Verletzung, die er sich als Soldat im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte. Linos Mutter war nicht erwerbstätig, sie besorgte den Haushalt. Lino ist der Drittgeborene von insgesamt sechs Geschwistern, drei Brüdern und drei Schwestern. Die Geschwister von Lino haben z.T. studiert; seine Brüder sind Beamte im Staatsdienst, die älteste Schwester Lehrerin 4. Lino selber besuchte einen Steuereintreiber-Kurs, führte diese Tätigkeit aber nie aus. Er begann stattdessen, bei einem Schneider zu arbeiten. Lino verdiente dabei nichts, hatte aber die Gelegenheit, das Schneiderhandwerk zu erlernen. Er besitzt im Gegensatz zu Gianna kein Ausbildungszertifikat. In derselben Stadt aufgewachsen und im selben Beruf tätig, begegneten sich Gianna und Lino beim Tanzen. 1948 verlobten sie sich – sie 17 Jahre alt, er 22 – und fünf Jahre später, 1953, heirateten sie. In kurzer Folge wurden die beiden ersten Kinder geboren: 1954 ein Sohn, 1955 eine Tochter. Die Rosettis machten sich selbständig, lebten von Schneideraufträgen und hatten zwar genügend Arbeit, aber oft zahlungsunfähige Kunden.
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Zu den beiden jüngeren Schwestern hat Lino in den Gesprächen keine Angaben gemacht.
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Lino migrierte im Frühling 1959 nach Bern, durch Vermittlung eines Freundes, ohne Arbeitsvertrag. Nachdem er eine Anstellung als Herrenschneider gefunden hatte, reiste Lino zurück nach A-Stadt und holte Gianna nach. Die beiden Kinder wurden bei Linos Eltern zurückgelassen. Gianna war zum Zeitpunkt ihrer Migration schwanger, fand aber ohne Schwierigkeiten eine Anstellung als Schneiderin. Das dritte Kind wurde in Bern geboren und danach nach Italien gebracht. 1962 erhielten die Rosettis die Bewilligung, alle drei Kinder zu sich nach Bern zu holen. Die Kinder besuchten daraufhin Schweizer Schulen und erlernten einen Beruf: Die Söhne absolvierten eine Lehre als Heizungsmonteure, die Tochter wurde Coiffeuse. Beide Söhne gründeten mit Schweizer Ehefrauen eigene Familien und leben heute in der Umgebung von Bern. Die Tochter kehrte mit 20 Jahren in ihre Geburtsstadt auf Sizilien zurück. Sie gründete dort ebenfalls eine Familie und führte während einiger Jahre einen eigenen Coiffeursalon. Sowohl Gianna als auch Lino arbeiteten nach der Migration im erlernten Beruf weiter. Lino blieb bis zu seiner regulären Pensionierung mit 65 Jahren (1991) bei demselben Arbeitgeber, einem Herren-Maßschneider in der Stadt Bern. Zudem hatte er während 15 Jahren einen Nebenjob, arbeitete abends als KünstlerGarderobier im Stadttheater. Mit 55 Jahren gab er diese Zweitarbeit wieder auf. Gianna führte ihre erste Anstellung in Bern, als Schneiderin in einem CoutureAtelier, nach der Geburt ihres dritten Kindes vorerst in Heimarbeit weiter. Drei Jahre später suchte sie sich eine neue Stelle, weil ihr Arbeitgeber umzog und ihr die Räumlichkeiten des Arbeitsplatzes danach nicht mehr zusagten. Zwei Jahre darauf gab ihre neue Chefin ihr Geschäft aus Altersgründen auf. Daraufhin erhielt Gianna über Linos Nebenjob die Möglichkeit, im Kostümatelier des Stadttheaters zu arbeiten. Sie blieb fast zwei Jahrzehnte lang dort. Danach arbeitete sie noch einige Jahre als Änderungsschneiderin für eine Haute-Couture-Boutique, bevor sie sich 1985, mit 54 Jahren, aus gesundheitlichen Gründen aus dem Erwerbsleben zurückzog. Sie hatte Rückenschmerzen und Schwierigkeiten mit den Augen und erhielt eine IV-Rente zugesprochen. Die gegenwärtige ökonomische Situation der Rosettis ist prekär, die Renten sind klein und die Guthaben aus den Pensionskassen aufgebraucht. Das Paar ist auf finanzielle Unterstützung angewiesen, aufgrund schlechter Gesundheit zunehmend auch auf Haushalthilfe. Die Rosettis verbringen die meiste Zeit des Jahres in Bern. Dies entspricht, wie sie sagen, ihren Plänen. Eine Rückkehr nach Sizilien sei für sie nie eine ernsthafte Option gewesen. Zweimal im Jahr reisen Gianna und Lino, wenn es ihre Gesundheit erlaubt, für Ferien nach Sizilien und wohnen dort bei Verwandten, meistens bei der Tochter.
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5.2 D IE BIOGRAPHISCH - NARRATIVEN S ELBSTPRÄSENTATIONEN Die Art, wie ich die Interviews geplant und das Gespräch eröffnet habe, zielte darauf ab, meinen Gesprächspartner/innen durch eine möglichst offene Gestaltung zu Beginn die Möglichkeit zu geben, sich als Personen wie auch als Paar zu repräsentieren. Aus diesem Grund wird hier in der schriftlichen Fallrekonstruktion insbesondere auch darauf Wert gelegt, den Einstieg ins Gespräch und die Art, wie sich die beiden Ehegatten als Biographieträger/in einführen, nachvollziehbar zu machen. Der Einstieg ins Gespräch Im Falle der Rosettis geht der Einstiegssequenz in die narrativen Selbstpräsentationen ein relativ langes Gespräch voraus, in dem es im Wesentlichen um die Klärung von Ziel und Zweck unseres gemeinsamen Interviewvorhabens geht. Gianna Rosetti, die mich allein empfangen hatte, sitzt mit mir bereits am Tisch, das Aufnahmegerät ist bereit, und ich frage, ob denn der Ehemann nicht auch dazu komme. Sie entschuldigt sich und sagt, ihr Ehemann habe noch Mittagsschlaf gehalten, wenn ich ihn aber dabei haben möchte, dann hole sie ihn gern. Sie klopft Lino Rosetti aus dem Nebenzimmer, er setzt sich dazu, zeigt sich verwundert, aber kooperationsbereit. Das Tonband läuft bereits, und ich beginne, diesmal relativ ausführlich, zu erklären, worum es mir geht. Die Rosettis zeigen sich interessiert und aufmerksam. Gianna fasst z.B. meine Ausführungen jeweils in einem kurzen Statement zusammen, das sie in Form einer Frage formuliert, so als möchte sie von mir Bestätigung, dass sie richtig verstanden hat. Meine Bemerkung, dass ich mich für Lebensgeschichten interessiere, und zwar für das ganze Leben, wird von Gianna sofort so verstanden, dass dazu auch die Zeit vor der Migration gehöre, dass Lebensgeschichte „da quando eravamo bambini“/„als wir Kinder waren“ (Transkript Rosetti 1, 1/3) bedeute. Meine Präzisierung, dass ich auch wissen möchte, wie es für sie als Paar und als Familie war, in die Schweiz zu migrieren, fasst sie zusammen mit der Feststellung, dass ich wohl an „esperienze di nodo“/„Kernerfahrungen“ (Transkript Rosetti 1, 2/31) interessiert sei – eine Wortwahl, die mich erstaunt. Auch Linos Reaktion auf meine Ausführungen überrascht mich, er interessiert sich für Details meiner Studie und fragt u.a.: Scusi, questo è individuale o solo [.] Lei va
Entschuldigung, ist das individuell, oder
in tante case in tante gruppe a fare queste
nur – gehen Sie in so und so viele Haushalte
D AS E HEPAAR ROSETTI
[.] studie?
| 231
in so und so vielen Gruppen, um diese Studien zu machen?
(Transkript Rosetti 1, 2/20) Es ist bemerkenswert, wie präzise die beiden hier erfasst haben, worum es mir geht und was das Spezifische an meinem Projekt ist: Dass es um eine wissenschaftliche Studie geht (und nicht um ein journalistisches5 oder dokumentarisches Projekt6), und dass die Vorgehensweise eine am Individuum und seinen Erfahrungen interessierte ist, nicht eine statistische Erhebung oder eine standardisierte Befragung. Dieses Gefühl des Verstanden-Werdens verleitet mich im Gespräch dazu, etwas ausführlicher zu werden, warum mich die Lebensgeschichten von italienischen Paaren interessieren: Dass es mir darum geht, die Erfahrungen italienischer Migrant/innen zu verstehen, dass diese Erfahrungen in den Geschichtsbüchern nicht festgehalten sind, dass die italienische Migration in der Schweiz als Beispiel fungiert für die Entwicklung neuer Migrations- und Integrationspolitiken und es deshalb wichtig ist zu erfahren, wie einzelne Personen, einzelne Familien ihre Migration erlebt haben. Die Aufnahme unseres Gesprächs auf Tonband begründe ich wie üblich damit, dass es mir aufgrund meiner nicht besonders guten Italienisch-Kenntnisse leichter falle, das Gesagte zu verstehen, wenn ich es mehrmals anhören könne, und dass es mir dazu diene, die erzählten Geschichten anschließend aufzuschreiben. Dieser Hinweis auf Sprache und auf meine Sprachkompetenz ist Anlass für Gianna und Lino, sich zu ihrer eigenen Sprachkompetenz zu äußern. Gianna merkt an, dass es wohl auch eine Hilfe sei, wenn das Gesagte dann allenfalls übersetzt werde, und Lino erwähnt die Nützlichkeit bei der sprachlichen Bereinigung, da sie beide schon so lange in der Schweiz seien, dass ihre Sprache zu einem „incorretto italiano“/„inkorrekten Italienisch“ (Transkript Rosetti 1, 3/30) geworden sei. Man sei ja schon seit 45 Jahren in der Schweiz, da habe man Wörter vergessen, erwähnt Gianna. Man habe neue Sprachentwicklungen nicht mitbekommen, fügt Lino an, „non siamo al corrente“/„wir sind nicht auf dem Laufenden“ (Transkript Rosetti 1, 3/34), was die moderne italienische Sprache anbelange.
5
In anderen Interviews wurde ich in ähnlichen Gesprächssituationen ab und zu gefragt, ob ich eine Journalistin sei resp. ob die erzählten Geschichten dann in der Zeitung kommen würden. Fragen dieser Art tauchten z.B. im Gespräch mit den Lillos, den Morellinis und den Roccas auf.
6
Ein eher dokumentarisches Verständnis von Lebensgeschichten spiegelt sich z.B. in den Publikationen von Aeschlimann 2007 oder Ambrosi 2004.
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In der gesamten einleitenden Sequenz zeigen sowohl Gianna wie auch Lino ausgeprägtes Interesse an dem, was ich in meiner Studie tue, und ihre Anmerkungen und Fragen machen auf mich einen reflektierten und gebildeten Eindruck. Insbesondere die Bemerkungen zur Sprache erstaunen mich. Das Phänomen einer durch Migration quasi stehen gebliebenen Sprache ist zwar unter Linguisten bekannt, doch ist es mir bisher noch nie passiert, dass sich Migrant/innen mir gegenüber dafür entschuldigt hätten. Dass Gianna später im Interview Wert darauf legt zu betonen, dass sie etwas Hochdeutsch spreche, wie auch die mehrfach gemachte Bemerkung Linos, dass er und seine Frau nicht so gebildet seien wie ich, da sie nicht studiert hätten, deuten darauf hin, dass die Rosettis Bildung als etwas Wertvolles erachten – und dass sie mich als Vertreterin einer gebildeten Schicht betrachten. Lino schließt die einleitende Unterhaltung über Sinn und Zweck meiner Studie ab mit der Frage: „Comincia mia moglie oppure uguale chi comincia?“ /„Soll meine Frau beginnen, oder spielt es keine Rolle, wer beginnt?“ (Transkript Rosetti 1, 3/36) Er signalisiert damit, dass man nun mit dem Interview beginnen könne, der Auftrag sei klar, ich würde beide Ehepartner hören. Er drückt aber auch aus, dass eigentlich seine Frau diejenige sei, die den gestellten Auftrag vorerst einmal erfüllen könne. Herr Rosetti will von mir wissen, ob dies in Ordnung so sei. Als ich daraufhin antworte, das könnten sie entscheiden, wie sie möchten, übergibt Lino das Wort an Gianna. Diese wiederum weist Lino darauf hin, dass er mir zuerst zeigen solle, was er schon aufgeschrieben habe. Lino erzählt dann davon, dass er einen Computer-Einführungskurs besucht habe, und dort habe man ihn gebeten, Geschichten aus seinem Leben aufzuschreiben. Er habe zwei Geschichten aufgeschrieben, eine aus der Kindheit, von seinem ersten Schultag, und eine aus der jüngeren Vergangenheit, von einer Bus-Reise nach Berlin. Er liest mir die Geschichten vor und übergibt mir zum Schluss das Papier. Während Lino vorliest, fragt Gianna mehrmals, ob mich das wirklich interessiere, oder ob ich das Papier nicht einfach mitnehmen wolle. Ich betone, dass mich alles interessiere – dies im grundsätzlichen Bestreben, meine Interviewpartner/innen in der eigenständigen Gestaltung der Themen zu bestärken. Giannas biographische Selbstpräsentation Anschließend an den oben umschriebenen Gesprächseinstieg bitte ich noch einmal darum, an beide gerichtet, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, worauf Gianna das Angebot bereitwillig aufgreift und wie folgt mit ihrer Erzählung beginnt:
D AS E HEPAAR ROSETTI
E: Io vi propongo [lacht] forse Lei, o Lei
| 233
E: Ich schlage Ihnen vor [lacht] dass
comincia con, con la Sua storia, e mi,
vielleicht Sie, oder Sie beginnen mit Ih-
mi [.] dica che cosa Lei pensa è
rer Geschichte, und mir sagen, wovon
importante per la Sua vita. Questo, sì,
Sie denken, es sei wichtig für Ihr Leben.
penso è una buona-
Das, ja, ich denke, das ist eine gute-
G: Sì.
Io, la mia, la mia è facilissima G:
Ja.
Ich, die meine,
meine ist ganz einfach, weil ich die
perché io sono la prima dei figli.
Erste der Kinder bin.
(Transkript Rosetti 1, 6/8 – 6/11) Die Erzählaufforderung meinerseits ist nicht eindeutig formuliert, mit der Absicht, noch einmal klar zu machen, dass die Entscheidung darüber, wer beginnen soll und was erzählt wird, bei Gianna und Lino liegt. Trotzdem ist der Auftrag für die Rosettis bereits klar, wie auch die Aufgabenteilung zwischen Gianna und Lino. Gianna beginnt und setzt ihre Lebensgeschichte gleich zu Beginn unter ein thematisches Motto, nämlich dasjenige der Einfachheit. Es ist die Stellung von Gianna in der Geschwisterreihe – sie ist die Älteste –, die ihre Geschichte zu einer ‚facilissima‘ Biographie gemacht hat. Dass sie die Älteste war, gab ihr vielleicht eine bestimmte Funktion innerhalb der Familie. Die Fortsetzung ihrer Geschichte (nach einem kurzen Einschub7) klärt dann, wie sich dies konkret ausgewirkt hat: G: E allora, essendo la prima figlia, [.] poi G: Und eben, ich war das erste Kind, dann sind andere gekommen, Brüder, nach
sono venuti altri, fratelli [.] dopo tre anni è nato un altro fratellino. Mia
drei Jahren ist ein weiteres Brüderchen
mamma lavorava in casa però faceva
geboren. Meine Mutter arbeitete zu
[.] sarta di [.] biancheria intima. Sa
Hause, jedoch als Intimwäsche-Schnei-
cosa è la biancheria intima?
derin. Wissen Sie, was Intimwäsche ist?
E: Sì.
E: Ja.
G: Camici da notte, vestaglie, queste cose.
G: Nachthemden, Morgenröcke, solche
7
E mia mamma lavorava a casa. Allora,
Dinge. Und meine Mutter arbeitete zu
per iniziare, mia ma- a quella volta non
Hause. Also, um anzufangen, meine Mu-
Gianna versichert sich, ob das Aufnahmegerät auch laufe, und sie fragt mich, ob ich ihr Geburtsdatum wissen wolle. Lino greift hier ein erstes Mal ergänzend und korrigierend ins Gespräch ein, weist darauf hin, dass Giannas Geburtsdatum auf dem Amt um zwei Tage verschoben registriert wurde.
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c’erano i seggioloni [.] sa, questi per
zu jener Zeit gab es noch keine Kinder-
sedere i bambini.
hochstühle, wissen Sie, wo man die Kinder hineinsetzen kann.
E: Ah, sì.
E: Ah, ja.
G: Non esistevano. Perché bastava passar- G: Die gab es nicht. Weil es genügte, sie gli quando bisognava. E non esisteva
nötigenfalls hinzureichen. Und das gab
questo, non potevo contare mia madre,
es nicht, ich konnte nicht nach meiner
dovevo andare a cercarla. E allora, mi
Mutter rufen, ich musste sie holen ge-
metteva il fratellino così, con le
hen. Also hat sie mir das Brüderchen so
gambette, me lo legava, nella sedia, lei
[auf den Schoss] gesetzt, mit den Bein-
lavorava, e guardava a noi. E io avevo
chen, hat ihn mir angebunden, auf dem
tre anni, quando ho iniziato a tenere
Stuhl, sie hat gearbeitet, und zu uns ge-
questi bambini. Ogni due anni e mezzo,
schaut. Und ich war drei Jahre alt, als
mia mamma aveva un bambino o una-
ich angefangen habe, auf diese Kinder
siamo due sorelle. Allora, la prima sono
aufzupassen. Alle zweieinhalb Jahre be-
io, poi sono nati [.] ehm [.] due fratelli,
kam meine Mutter einen Jungen oder
[.] e col terz-, col secondo fratello,
ein- wir sind zwei Schwestern. Also, ich
secondo fratello, io ero più grandetta.
bin die erste, dann werden zwei Brüder
Allora mia madre non aveva più neces-
geboren, und mit dem dritt- dem zweiten
sario di legarmi, ma io lo dovevo
Bruder war ich schon grösser. Also
tenere, questo bambino. Quando non
musste meine Mutter mich nicht mehr
dormiva, è naturale, il bambino pian-
anbinden, aber ich musste es halten,
geva stando al letto. E dovevo badare
dieses Kind. Wenn es nicht schlief, dann
questo bambino, a secondo sarebbe, e
weinte das Kind natürlich im Bett. Und
mia mamma sempre in casa per lavo-
ich musste mich um dieses Kind küm-
rare. Per aiutare la famiglia. E [.] poi è
mern, das wäre das zweite, und meine
nata una terza. E sarebbe mia sorella,
Mutter immer zu Hause zum Arbeiten.
secon- io sono la prima, lei è la
Um der Familie zu helfen. Und dann ist
seconda sorella, e poi sorelle non ce ne
ein drittes geboren worden. Und das
sono più. Sono quattro fratelli, siamo, e
wäre meine Schwester, die zwei-, ich bin
due sorelle. [.] E io sempre crescevo
die erste und sie die zweite Schwester,
questi bambini. Allora non ho potuto
und dann kommen keine Schwestern
fare, sì, alla scuola sono andata,
mehr. Es sind vier Brüder, sind wir, und
naturalmente. Sono andata a scuola, e
zwei Schwestern. Und ich hab immer
quello che potevo studiare, perché mia
diese Kinder aufgezogen. Und so hab
madre sempre lavorava e doveva
ich nicht machen können, ja, in die
badare con noi, perché io non ero
Schule bin ich zwar gegangen, natür-
grande che potevo fare tutto. Poi
lich. Bin in die Schule gegangen, und
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 235
quando sono cresciuta, naturalmente,
was ich lernen konnte, weil meine Mut-
aiutavo anch’io a mia madre. [.] Eeh, e
ter immer gearbeitet hat und sich um
così son’ passati gli anni.
uns kümmern musste, weil ich nicht so groß war, dass ich alles hätte machen können. Dann, als ich grösser war, habe natürlich auch ich meiner Mutter geholfen. Und so sind die Jahre vergangen.
(Transkript Rosetti 1, 6/30 – 7/14) Die Stellung als Erstgeborene hieß für Gianna also, dass sie die nachfolgenden Kinder versorgen musste, soweit sie das konnte. Die Mutter arbeitete zu Hause, und, wie Gianna erklärend anfügt, sie verrichtete Lohnarbeit als Intimwäscheschneiderin. Sie betont dies wohl in Abgrenzung zu anderen Möglichkeiten des Arbeitens zuhause, wie etwa im Haushalt, in der hausnahen Subsistenzwirtschaft8 oder in einem familieneigenen Geschäft9. Deshalb konnte sich die Mutter, obschon im Haus anwesend, neben der Arbeit nicht vollumfänglich um ihre Kinder kümmern, und so musste das Erstgeborene der Kinder bei der Betreuung der nachfolgenden Kinder mithelfen. Die auf Giannas Schoss ‚angebundenen‘ kleineren Geschwister gehen einher mit der ‚Anbindung‘ Giannas an ihre Mutter. Wenn diese arbeitet, muss Gianna daneben sitzen und das Geschwister halten, damit die Mutter es während der Arbeit im Auge behalten kann. Gianna ist also von früh auf in ein überindividuelles Lebenskonzept ein-‚gebunden‘, in dem sie einen klar zugewiesenen Platz hat. Vielleicht ist Giannas Lebensgeschichte deshalb eine ‚einfache‘, weil sie keine eigene hat, weil nicht sie als Individuum Trägerin ihrer Biographie ist, sondern das Kollektiv, d.h. ihre Familie. Innerhalb dieses kollektiven Lebensentwurfes hat Gianna keinen Handlungsspielraum, sondern ‚ganz einfach‘ eine ‚gebundene‘ Aufgabe. Gianna sagt zwar nicht explizit, dass wenn sie ein Junge gewesen wäre, sie die Geschwister nicht hätte betreuen müssen. Dass sie in ihrem Narrativ aber einen so deutlichen Unterschied macht zwischen den nachfolgend geborenen Brüdern und der Schwester, und dass sie betont, dass nur eine Schwester geboren wurde, deute ich so, dass Schwestern für Gianna eine Entlastung von ihren Pflichten in der Kinderbetreuung bedeutet hätten. Eine alternative Lesart wäre
8
Indem sie z.B. einen Garten bewirtschaftet hätte, was vor allem dann denkbar wäre,
9
Denkbar wäre ein Laden oder ein Familienbetrieb in den Räumlichkeiten des ‚Zuhau-
wenn die Familie auf dem Land gelebt hätte. ses‘, in dem die Mutter mitarbeitete.
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hier: Es spielt keine Rolle, ob das älteste Kind ein Junge oder ein Mädchen ist, es hätte so oder so die Verantwortung über die jüngeren Geschwister übernehmen müssen. Das besondere Verhältnis zur Schwester, welches im Text angedeutet wird, könnte aber auch auf eine belastete Beziehung hindeuten. Die Schwester, so erfahre ich später, verfügt über einen höheren Berufsabschluss, sie ist Lehrerin geworden, und Gianna deutet in obiger Passage an, dass die Position als Erstgeborene es ihr nicht ermöglicht habe, einen hohen Schulabschluss zu erzielen. Vielleicht meint sie hier einen gleich hohen Abschluss wie ihre Schwester, die ein Studium absolvieren und Lehrerin10 werden konnte. Dass Gianna mehr Pflichten im Haushalt übernehmen musste als ihre Geschwister, hat sie vom regelmäßigen Besuch der Schule und damit auch vom Erlangen einer höheren Ausbildung abgehalten. Sie deutet an, dass sie deshalb etwas – was genau, benennt sie nicht explizit – nicht tun konnte. Vielleicht wäre sie auch gern Lehrerin geworden, wie ihre jüngere Schwester. Dass diese überhaupt studieren konnte und dass auch Gianna eine richtige Berufsausbildung bekam und nicht einfach zum informellen Lernen zu einer Schneiderin geschickt wurde, wie so viele junge Frauen11, deutet aber darauf hin, dass in Giannas Elternhaus eine solide Berufsausbildung als wichtig erachtet wurde, auch für Töchter. Die Brüder von Gianna wurden zu spezialisierten Handwerkern ausgebildet, die vier Söhne erlernten das Handwerk vom Vater und übten diesen Beruf auch erfolgreich aus12.
10 Auch die Schwestern von Lino sind Lehrerinnen geworden, ebenso wie Frau Genni (vgl. Kapitel 7). Ich vermute, dass der Beruf der Lehrerin eine häufig gewählte Option war für Frauen, welche die Möglichkeit hatten, ein Studium zu absolvieren. 11 In meinen Daten sind dies z.B. Frau Lillo (vgl. Kapitel 6), Frau Santo (vgl. Kapitel 2) und Frau Agostino (vgl. Kapitel 5.6). 12 Nachdem die Brüder ihr Handwerk im Geschäft des Vaters erlernt und perfektioniert hatten, migrierten alle vier Brüder in Giannas Fußtapfen nach Bern und fanden ohne Schwierigkeiten Anstellungen als Möbelschreiner. Einer der Brüder blieb in Bern, die anderen kehrten nach einigen Jahren zurück nach Sizilien. Nach der Remigration gründeten zwei der Brüder zusammen ein eigenes Möbelgeschäft, welches offenbar recht erfolgreich war. Den kleinsten Bruder bezeichnet Gianna als verhätschelt und deshalb ein bisschen faul. Die Schwester von Gianna hat ihren Beruf als Lehrerin nie ausgeübt, sondern hat seit ihrer Heirat im Restaurant ihres Ehemannes mitgearbeitet. Vor ihrer Heirat hatte die Schwester zusammen mit der Mutter die Betreuung von Giannas drittem Kind übernommen. Das Verhältnis zur Schwester ist im weiteren Interview kein auffälliges Thema mehr. Wenn die Schwester erwähnt wird, dann in beiläufiger Weise, die auf eine regelmäßige und unbelastete Beziehung schließen lassen.
D AS E HEPAAR ROSETTI
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Auch Gianna erhielt eine qualifizierte Berufsausbildung, und nach Abschluss der Lehre als Damenschneiderin trug sie mit ihrem Verdienst zum Familieneinkommen bei. Gianna präsentiert ihre Kindheit als durch ihre Position in der Geschwisterfolge bestimmt. Sie lokalisiert diese Fremdbestimmung aber weder an einem konkreten Ort oder in einer bestimmten Zeit13, noch an einer bestimmten Person14, sondern als schon fast natürlich gegebene Tatsache (‚naturalmente‘/‚è naturale‘), die Gianna auch zu akzeptieren scheint. Eine unverrückbare Tatsache, die Giannas Geschichte eben zu einer ‚facilissima‘ Lebensgeschichte macht. Oder zumindest zu einer ‚facilissima‘ Kindheit. Die quasi natürlich gegebene Strukturierung ihrer Kindheit drückt Gianna auch darin aus, dass sie ihre Geschwister nicht einzeln beim Namen nennt und dass unklar bleibt, von welchem Geschwister sie gerade redet. Sie ist diejenige, die zu ‚dem Kind‘ schauen muss, solange es noch klein ist, und zwar zu jedem ihrer fünf jüngeren Geschwister. Die Erinnerung an ihre Kindheit, wie Gianna sie hier darstellt, ist geprägt vom Bild der kleinen Gianna, die mit einem jüngeren Geschwister auf dem Schoss ‚angebunden‘ der Mutter gegenüber sitzt und ihr beim Arbeiten zuschaut15. Gianna bemüht sich, ihre Mutter nicht als Akteurin hinter ihrer Fremdbestimmung erscheinen zu lassen. Sie ist bestrebt, diese in ein gutes Licht zu rücken und den Eindruck zu vermeiden, die Mutter hätte sich nicht genügend um ihre Kinder gekümmert. Die Mutter arbeitete zu Hause mit dem Ziel, die Familie zu unterstützen. Sie verfolgte damit also einen uneigennützigen Zweck. Obwohl explizite Hinweise auf Armut in der Erzählung fehlen, schwingt in dieser Be-
13 Wie z.B. durch den Hinweis, dass dies damals in Sizilien so üblich gewesen wäre, oder dass dies durch historische Gegebenheiten wie Krieg oder wirtschaftlich magere Zeiten bedingt gewesen sei. 14 Wie z.B. Frau Santo (Kapitel 2) ihren Vater als den Akteur hinter ihrer harten Arbeit als Kind sieht, oder wie Frau Agostino (Kapitel 5.6) ihre Mutter und deren schwache Gesundheit dafür verantwortlich macht, dass sie als Kind im Haushalt und auf dem Feld arbeiten musste. 15 Auch Frau Agostino (Kapitel 5.6) und Frau Santo (Kapitel 2) erzählen ausführlich über ihre starke Einbindung in die Haus- und Subsistenzarbeit als Kind. Bei ihnen sind je andere Bilder prägend. Frau Agostino musste aufgrund der schlechten Gesundheit ihrer Mutter den gesamten Haushalt allein führen und war als Kind vor allem für die Tätigkeiten Kochen und Putzen verantwortlich. Frau Santos Kindheitsbilder sind geprägt vom tagelangen Hüten der Tiere auf dem Feld. Dass die starke Einbindung in die Hausarbeit ihnen den Schulbesuch erschwert habe, wird von allen dreien thematisiert.
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gründung der Erwerbstätigkeit der Mutter aber dennoch das Moment der finanziellen Notwendigkeit mit. Das Bild, das Gianna in dieser einführenden Erzählsequenz von sich zeichnet, ist dasjenige einer durch quasi natürlich gegebene Bedingungen vorbestimmten Biographie. Die Betonung der Natürlichkeit lässt den Eindruck entstehen, dass Gianna die Vorbestimmung zwar als Einschränkung, als Fremdbestimmung empfindet, diese aber gleichzeitig auch als nicht abänderbar akzeptiert. Hier zeichnet sich also ein institutionelles Ablaufmuster für ihre Biographie ab, welches Fremdbestimmung und gleichzeitig Akzeptanz der gesetzten Grenzen betont. Innerhalb dieser Grenzen nutzte Gianna ihre Möglichkeiten zwar aus, so gut es ging (z.B. bezüglich Schulbildung), aber die Grenzen an sich wurden und werden von ihr nicht in Frage gestellt. Gianna bekommt für ihre Biographie einen Platz zugewiesen, und an diesem Platz richtet sie sich so gut wie möglich ein. Wenn Gianna ihre Geschichte auch als eine ‚ganz einfache‘ bezeichnet, bedeutet dies jedoch nicht, dass es nichts aus ihrem Leben zu erzählen gäbe – im Gegenteil. Nach der eher allgemein gehaltenen Einführung in ihre biographische Erzählung folgen mehrere überaus lebhaft erzählte Geschichten aus der Zeit ihrer Kindheit, die sich in ihrer Dramatik deutlich von der Einstiegsequenz unterscheiden. Dennoch folgen auch diese Erzählungen dem eingangs gesetzten Ablaufmuster. Die geschilderten Erlebnisse sind durch Ereignisse ausgelöst, die von außen in das Leben von Gianna und ihrer Familie eintreten. Diese sind die Invasion der Alliierten auf Sizilien sowie zwei ernsthafte Erkrankungen Giannas. Kindheitsgeschichten über Krankheit und Krieg Krankheit und Krieg sind die Themen, welche nun also in Giannas Erzählung dominant werden. Insbesondere die Anekdoten zu Kriegserlebnissen bekommen sehr viel Raum, Anekdote um Anekdote füllen die Seiten der beiden Interviewtranskripte. Konsequenzen für die weitere Lebensgeschichte, insbesondere für das Alter, haben aber vor allem die Krankheitsepisoden. Krankheit, resp. schwache Gesundheit, ist durchgehend ein Thema in Giannas lebensgeschichtlicher Erzählung, wie auch in unseren Unterhaltungen außerhalb der Interviews. Die Erkrankungen in der Kindheit werden sowohl von ihr, wie auch von Lino, als die Ursache für Giannas generell schwache Gesundheit bezeichnet (Transkript Rosetti 2, 21/20 – 21/38). Schauen wir uns vorderhand einmal an, wie Gianna diese Themen einführt. Der Übergang, den sie in ihrer Erzählung wählt, ist relativ abrupt. Die Aussagen zu ihrer Familie und ihren Aufgaben im Haushalt werden abgeschlossen mit der
D AS E HEPAAR ROSETTI
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unbestimmten Anmerkung, dass die Jahre ihrer Kindheit in dieser Manier vergangen seien (siehe oben). Nach der eher unpersönlich und allgemein gehaltenen Erzählung über die Organisation von Haushalt und Kinderbetreuung in Giannas Elternhaus und ihre starke Einbindung in die alltäglichen Pflichten, fährt Gianna vorerst fort mit der knappen und präzis situierten Feststellung einer ersten Krankheitsepisode (siehe Zitat unten). In einem Satz wird erwähnt, wann und woran Gianna erkrankte, wie ernst diese Erkrankung war und dass sie erfolgreich überwunden werden konnte. Unmittelbar darauf folgt die Feststellung, dass der Krieg ausbrach und dass Giannas Familie davon betroffen war. So knapp die Über- und Einleitung zum Thema Krieg, so ausschweifend und ausdekoriert sind die darauf folgenden Anekdoten zu konkreten Erlebnissen. Die hier zitierte Passage illustriert diesen Übergang und den Einstieg in die Erzählungen zu den Kriegserlebnissen. G: Poi mi sono, a sette anni, mi sono
G: Dann, mit sieben Jahren, bin ich krank
ammalata, di tifo [.] che quasi stavo
geworden, Typhus, und ich bin fast ge-
morendo, mia madre preoccupatissima
storben, meine Mutter äußerst besorgt,
[.] comunque, è andato tutto bene. Poi,
letztlich jedoch ist alles gut gegangen.
è scoppiato la guerra. [.] E abbiamo
Dann ist der Krieg ausgebrochen. Und
traversato una guerra molto brutta. [.]
wir haben einen ganz schlimmen Krieg
Ehm [.] siamo stati [.] mio padre è
erlebt. Ehm wir sind, mein Vater ist ein
andato a cercare una casa fuori A-città.
Haus außerhalb A-Stadt suchen gegan-
In un paesino, che indicevano che lì [.] i
gen. In einem Dorf, wo es hieß, dass
tedeschi non potevano venire perché,
dort die Deutschen nicht hinkommen
avevamo i tedeschi, no, in Sici-, in tutta
könnten, weil wir hatten die Deutschen,
l’Italia. Ehm [.] e così, mio [.] mio
nicht, auf Sizi-, überall in Italien. Ehm,
padre e andato affittare un
und so hat mein Vater eine Wohnung
appartamento [.] eh, in un paesino. [.]
gemietet, in einem kleinen Dorf. Wel-
Che si chiamava, questo paesino, R.,
ches R. hieß, ich weiß nicht, ob Sie das
non so se vi interessa, comunque, non
interessiert, jedenfalls ist es nicht so
ha importanza. E siamo andati lì [.] e
wichtig. Und wir sind dorthin gegan-
mio padre lavorava lì. Mia mamma non
gen, und mein Vater hat dort gearbei-
lavorava più poi. Mio padre lavorava,
tet. Meine Mutter hat dann nicht mehr
guadagnava bene, e avevamo sei figl-
gearbeitet. Mein Vater arbeitete, ver-
eh, cinque [.] che poi l’ultimo e nato
diente gut, und wir waren sechs Kin-,
dopo la guerra. Eh [.] siamo sfollati,
eh, fünf, weil das letzte ist erst nach
noi, in italiano si dice sfollati abbiamo
dem Krieg geboren. Und wir haben die
sfo-
Stadt verlassen, auf Italienisch sagt man ‚sfollati‘-
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L:
Le interessa che ha fatto come mestiere, suo padre?
G:
Ah, mio padre, mio padre è scultore in legno.
L:
Interessiert Sie, was ihr Vater von Beruf war?
G: Ah, mein Vater ist Holzschnitzer. E: Ach ja, [zu L.] danke. [lacht]
E:
Ah sì, [zu L.] grazie. [lacht]
G:
Le interessava questo?
E:
Mi interessava! [lacht]
G:
Ecco! Mio padre era scultore in legno.
zer. Ja. Und hat recht gut verdient.
Sì. Eeh [.] guadagnava abbastanza
Aber natürlich, mit sechs Kindern, da
bene. Naturalmente, con sei figli [.]
ist ein Beitrag der Ehefrau immer gut,
G: Hat Sie das interessiert? E: Das hat mich interessiert! [lacht] G: Na also! Mein Vater war Holzschnit-
sempre un aiuto della moglie è sempre
nicht. Jedenfalls sind wir in dieses Dorf
buona, no. Comunque, siamo eh siamo
gegangen, um aus der Stadt
rimasti di, siamo andati in questo
rauszukommen. Denn die wurde immer
paese [.] per andare fuori della città.
bombardiert, die Stadt.
Che bombardavano sempre, la città.
(Transkript Rosetti 1, 7/14 – 7/34) Auffällig in obiger Passage ist, dass Gianna die äußerste Besorgtheit ihrer Mutter erwähnt, nachdem diese in der vorherigen Passage eher sachlich gezeichnet wurde. Ist die Mutter besorgt darüber, dass Gianna in der Kinderbetreuung ausfällt? Oder soll das Wort „preoccupatissima“ ausdrücken, wie dramatisch krank Gianna damals war? Im letzten Abschnitt des obigen Zitates thematisiert Gianna noch einmal die Heimarbeit der Mutter. Es scheint ihr angebracht, darauf hinzuweisen, wie viele Kinder zu ernähren waren, und dass angesichts dessen der Zusatzverdienst der Mutter sehr willkommen gewesen sei, auch wenn Giannas Vater eigentlich gut verdient habe. Gianna erwähnt hier auch, dass ihre Mutter nach dem Krieg nicht mehr gearbeitet habe. Einerseits waren die Kinder schon etwas grösser (Gianna war bei Kriegsende etwa 13 Jahre alt und hat wohl schon bald darauf ihre berufliche Ausbildung begonnen), andererseits erwähnt Gianna an anderer Stelle auch, dass ihr Vater ein sehr guter und begehrter Handwerker gewesen sei, spezialisiert auf figürliche Darstellungen, und deshalb ordentlich verdient habe mit dem Schnitzen von religiösen Motiven (Kruzifixe, Marienstatuen etc.) und dem Verzieren von Särgen und Repräsentiermöbeln. Die Typhuserkrankung wird in obiger Passage nur ganz kurz erwähnt. Hat die Erwähnung der Krankheit nun eine biographische Relevanz für Gianna, die hier noch nicht ausgeführt wird, oder geht es ihr lediglich um die Aufzählung eines biographischen Eckdatums, wie etwa des Geburtsdatums? Greifen wir hier
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kurz vor: Später im Gespräch erwähnt Gianna eine weitere Erkrankung, nämlich dass sie während des Krieges an Malaria erkrankt war. Auch diesmal verweist sie nur kurz darauf, in ähnlicher Weise wie oben: Sie nennt die Art der Erkrankung und die Konsequenzen für die Mutter – dass diese sie während der Fieberschübe festhalten musste. Als ich später noch einmal danach frage, geht Gianna ausführlich darauf ein, wie ihre Mutter ihre Malaria mit einer Pferdefleischbrühe kuriert hat. Die Geschichte mit der Malariaerkrankung und deren Heilung wird auch im zweiten Gespräch, wiederum in direktem Anschluss an die Episoden zur Invasion der Alliierten im Zweiten Weltkrieg, von Gianna eingeführt. Dort beteiligt sich auch Lino daran, erwähnt, dass Malariaerkrankungen damals üblich gewesen seien, auch er sei krank gewesen, und auch seine Malaria sei mit Pferdefleischbrühe geheilt worden, das habe man damals so gemacht. Lino kategorisiert diese Heilmethoden als ‚cure tipo campagna‘, also Heilmethoden, wie sie auf dem Land üblich waren. Und er legt dabei weniger Wert darauf, Details zu diesen Heilmethoden zu erläutern, wie Gianna es ausführlich tut, sondern er betont mehrmals, das eigentlich angebrachte Medikament, Chinin, sei aufgrund der historischen Umstände nicht erhältlich gewesen. Damit verfolgt Lino, so lese ich es, auch die Strategie zu betonen, das erwähnte Verhalten bei der Kurierung von Krankheiten sei nicht als ländlich-abergläubische Ungebildetheit zu verstehen, sondern als kreative Alternative in Zeiten, wo modernere Mittel nicht zur Verfügung standen. Doch welche biographische Relevanz hat die Erwähnung von Erkrankungen in Giannas Selbstpräsentation? Gianna fügt in beiden Gesprächen an, dass sie damals eine sehr delikate Konstitution gehabt habe, dass sie deswegen immer schnell krank geworden sei und dass diese Erkrankungen Spuren hinterlassen hätten, die bis heute spürbar seien (Transkript Rosetti 2, 21/20 – 21/38). Einerseits liegt, so interpretiere ich, in der Erwähnung ihrer Erkrankungen ein kleiner Ausbruch von Individualität, eine Eigenheit, welche Gianna aus dem kollektiven Geschwistergefüge heraushebt, ein Ereignis, das aus dem ältesten Kind mit umfassender Pflegeverpflichtung ein pflegebedürftiges Kind macht, das die volle Aufmerksamkeit seiner Mutter hat, die nun ‚preoccupatissima‘ ist. Andererseits lässt sich durch Giannas Biographie hindurch auch eine lose Linie zwischen den Erkrankungen in der Kindheit und dem Gesundheitszustand im Alter verfolgen. Die Typhus- und die Malariaerkrankung in der Kindheit hätten dazu geführt, dass Gianna zeitlebens eine schwache Konstitution gehabt habe. Gianna definiert sich, so mein allgemeiner Eindruck, per se als eine eher kränkliche Person. Dies äußert sich u.a. darin, dass mir bei all unseren persönlichen Kontakten auffällt, dass Gianna auf die Höflichkeitsfrage nach ihrem Befinden häufig über gesundheitliche Beschwerden, kürzliche Erkrankungen und körperliche Einschränkun-
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gen klagt. Deshalb deute ich die Erwähnung von Krankheiten in der Kindheit zu diesem frühen Zeitpunkt der biographischen Selbstpräsentation auch als Wegbereitung für die lose aneinandergereihte Thematisierung von gesundheitlichen Einschränkungen im weiteren Lebensverlauf, insbesondere im Alter. Nun zurück zum Interviewverlauf und zu Giannas Erzählung: An dieser Stelle der Erzählung beginnt Gianna sehr ausführlich über die Erlebnisse während des Krieges zu erzählen. Der Erzählreigen über die Monate, während denen Giannas Familie aus der Stadt flüchtete, beginnt mit der oben zitierten Passage. Dort erklärt Gianna, wie es dazu kam, dass ihre Familie vorübergehend in ein Dorf zog. Der Auslöser war ein Bombenangriff auf A-Stadt, in dessen Verlauf im Wohnhaus der Familie die Fenster barsten und ein Schutzbunker in der Nachbarschaft aufgesucht werden musste. Giannas Eltern suchten nach einem Ausweg, und die Handlungsoption, für die sie sich entschieden, war diejenige des Weggehens: Die Familie zog in ein nahe gelegenes Dorf, in dem auch eine Cousine von Giannas Mutter lebte. Nachdem auch dieses Dorf bombardiert wurde, entschlossen sich die Eltern wiederum für die Lösung des Weggehens: Giannas Familie versteckte sich für einige Wochen im freien Gelände und auf den Feldern. Dort wurden sie mit Hunger, Kälte, Angst und immer wieder auch unmittelbar mit Kriegshandlungen konfrontiert. Im Laufe der Schilderung der Bombenangriffe und der Kriegshandlungen, welche Gianna als Kind erlebte, etabliert sich die Rollenaufteilung bezüglich des Erzählens zwischen Gianna und Lino immer deutlicher: Gianna erzählt, und Lino steuert technische, historische, klassifikatorische Details bei, teils auf Giannas Bitte hin, teils auch von sich aus, wenn er etwas für präzisierungswürdig hält. Gianna nimmt Linos Ergänzungen und Präzisierungen in der Regel auch auf. Im Kontext der Erzählungen zu Kriegserlebnissen begründet Gianna dies mir gegenüber damit, dass Lino älter sei und sich deshalb besser an ‚diese Dinge‘ wie z.B. Fachbegriffe oder historische Kontexte erinnern könne. Das Grundmuster der Kommunikationsrollen zieht sich jedoch durch die ganze Interviewinteraktion hindurch. Als Illustration dieser Gesprächsdynamik, wie auch als Beispiel für die mannigfaltigen Anekdoten aus der Zeit der Flucht, ist die folgende Erzählung hier angeführt, in welcher Gianna von einem sonntäglichen Besuch bei einer Cousine ihrer Mutter berichtet. Dieser Besuch mündete dann unmittelbar in die eigentliche ‚Flucht‘. Nach dem gemeinsamen Messebesuch in der Kirche wurde die Familie von den Verwandten zum Kaffee eingeladen. Nach dem Kaffee begaben sich die Männer – Giannas Vater, ihr Großvater und der Ehemann der Cousine – zurück ins Dorf auf die Piazza. Die Frauen und Kinder blieben im Haus der Cousine. Dann ertönte wie aus heiterem Himmel der Fliegeralarm:
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G: Per i bombardamenti c’era l’allarme,
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G: Es gab den Bombenalarm, und wir, ver-
allora noi impauriti [.] perché eravamo
ängstigt, weil wir alles Frauen waren,
tutte le donne, donne e bambini, e gli
Frauen und Kinder, und die Männer
uomini erano fuori. Non c’era un uomo
waren draußen. Kein einziger Mann war
con noi. Allora mia madre diceva qua,
bei uns. So hat meine Mutter damals zur
la, la cugina, noi bambini certo ascol-
Cousine gesagt, wir Kinder haben si-
tare loro. E tutto in un momento si sen-
cher zugehört. Und plötzlich hörte man
tiva bombardare [.] e allora [.] i
sie bombardieren, und die Männer wa-
uomini non c’erano, dice: „Mamma-
ren nicht da, sagte sie: „Mammamia,
mia, chi sa cosa gli è successo anche a
wer weiß was ihnen noch passiert ist“,
loro“, perché [.] hanno tardato di veni-
weil sie hatten sich verspätet. Die Piaz-
re. La ehm la piazza non era troppo
za war nicht allzu weit weg von diesem
lontano di questa casa. Allora hanno
Haus. Sie hatten sich also verspätet, und
tardato e mia madre poverina è svenuta
meine arme Mutter ist ohnmächtig ge-
per intanto che suo marito era morto.
worden, dass inzwischen ihr Mann tot
Non lo sa- [.] lo pensava solo. Arriva
sei. Sie wusste es nicht, dachte es nur.
poi mio padre, arriva il nonno, arriva il
Dann kam mein Vater, es kam der Groß-
papà, arriva il cugino. Dice: „Eh cosa
vater, es kam der Vater, es kam der
succede?“ e vedono mia mamma che
Cousin. Sagten: „Eh, was ist hier los?“
stava male perché lei pensava che mio
und sehen meine Mutter, der es schlecht
padre già era morto. „Allora, cosa“ [.]
ging, weil sie dachte, dass mein Vater
eh, mio padre dice: „No, qui si deve,
schon tot sei. „Also, was“, sagte mein
una soluzione ci deve essere. Dobbiamo
Vater: „Nein, hier muss man, eine Lö-
partire, dobbiamo andare via.“ Perché
sung muss es hier geben. Wir müssen
c’erano i tedeschi che stavano entrando
weggehen.“ Weil die Deutschen dabei
[.] in quel paese. Perché gli ame-, i
waren, in das Dorf einzudringen. Weil
tedeschi erano in quel paese, voglio
die Ame-, die Deutschen waren in jenem
dire, solo ri- [.] come si dice? [.]
Dorf, wollte ich sagen, nur dass sie sich
Andare d’indietro.
– wie sagt man? Rückwärts gehen.
L: Si ritiravano.
L: Sie zogen sich zurück.
G: Si ritiravano. Indietriciavano, ecco,
G: Sie zogen sich zurück. Wichen zurück, so, das wollte ich sagen.
volevo dire questo. L: Si ritiravano verso
L: Sie zogen sich zurück Richtung
G:
G:
Allora, andavano, si ritiravano,
Also, sie gingen, zogen sich
no! Allora erano in questa montagna.
zurück, nicht! So waren sie also auf die-
[.] Fermi, questi tedeschi. E questi ae-
sem Berg. Hielten sich ruhig, die Deut-
rei americani o tutte quelle americane-
schen. Und die amerikanischen Flug-
244 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
zeuge, oder all diese amerikanischenL:
Gli avevano, gli avevano segnalati
L:
Sie hatten ihnen signalisiert, dass
che c’era un gruppo di resistenza in
es eine Widerstandsgruppe an diesem
questa montagna. C’erano carri armati
Berg gab. Da waren Panzer, welche ge-
che sparavano col [unverst.] Allora
schossen haben. Also, bevor die Trup-
prima che rientrano le truppe, [.] loro
pen einmarschierten, kamen sie und
vengono a bombardare per [.] fare
bombardierten, um das Gelände zu säu-
piazza pulita e poi entra-
bern, und dann kam-
G:
e entrare senza –
G:
um dann ohne – sicher,
certo, senza esserci morti di loro,
ohne eigene Tote einzumarschieren,
diciamo, no. Allora noi siamo scappati
nicht. Also sind wir geflohen als sie ge-
allora quando sono arrivati loro, gli
kommen sind, die Männer, sind wir in
uomini, siamo scappati per le mon-
die Be-, aufs Land geflohen.
campagne.
(Transkript Rosetti 1, 9/22 – 10/3) In ihrer Schilderung der Reaktion ihrer Eltern auf den Bombenangriff tut sich in Giannas Geschichte, die bisher von quasi natürlichen Vorgaben geprägt war, ein Handlungsspielraum auf. Ihre Eltern sind es, die diesen Handlungsspielraum in Giannas Geschichte benennen und nutzen: „Eine Lösung muss es hier geben. Wir müssen weggehen.“, sagen Giannas Eltern, und dieses ‚weggehen‘ bewahrt die Familie vor der Bedrohung. In einer besonders schwierigen Situation erweist sich ‚weggehen‘ also als Handlungsoption, und damit tun sich in Giannas Biographie Wege auf, ein von außen vorgegebenes Leben dennoch in die eigenen Hände zu nehmen. Es gibt also Möglichkeiten, das ‚angebunden sein‘ zu durchbrechen, indem man ‚weggeht‘. Unter der Entscheidungsmacht der Eltern nimmt hier die Familie als Kollektiv diese Handlungsoption wahr: Die gesamte Familie, bestehend aus Großeltern, Eltern und sechs Kindern – das jüngste noch ein Säugling – fliehen ins freie Gelände: Sì, siamo andati in campagna, con quei
Ja, wir sind aufs Land gegangen, mit den
vestiti che avevamo, quelle sca- come
Kleidern, die wir hatten, den Schu-, wie wir
eravamo vestiti non avevamo niente. Siamo
eben gekleidet waren, wir hatten nichts. Wir
scappati per le campagne [.] e [.] in queste
sind übers Land geflohen, und auf dem
campagne, un mese siamo stati. [.] Senza
Land sind wir einen Monat lang geblieben.
acqua, senza mangiare, senza niente. Mio
Ohne Wasser, ohne Essen, ohne nichts.
padre aveva un cappello in testa, allora si
Mein Vater hatte einen Hut auf dem Kopf,
lo metteva sotto il braccio e andava a
den hat er sich unter den Arm geklemmt und
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raccogliere – forse Lei non le conosce, le
ist – vielleicht kennen Sie das nicht, Bohnen
fave, ‚die Bohnen‘. [***] Allora gli andav-
sammeln gegangen. [***] Er hat sie gesam-
dove gli trovava, gli andava a raccogliere.
melt, wenn man sie fand. Um uns etwas zu
Per dare da mangiare a noi, perché ce
Essen zu besorgen, weil wir nichts hatten.
avevamo niente. [.] Acqua, non ce n’era.
Wasser gab es keins. Dann, ehm, gab es ein,
[.] Allora, ehm, c’era un [.] c’erano dei
gab es Wassergräben, ganz verrostete Din-
fossati, tutte cose srugginite, e una [.] una
ger, und einmal hat mein Vater dort Wasser
volta mio padre ha visto quest’acqua che
tropfen sehen, in ein Blech, ganz verrostet.
gocciolava [.] in una latta, tutta srugginita.
Damals wollten wir Wasser, und so hat
Allora noi volevamo acqua [.] e allora papà Papa gesagt: „Wartet, sehen wir mal, was ha detto: „Aspettate, vediamo cosa si può
sich machen lässt.“ Er geht dieses Blech
fare.“ Va prendere quella latta, che
holen, in das Wasser tropfte, und er gibt
gocciolava, e ci da un sorso a ciascuno. Di
jedem von uns einen Schluck. Von diesem
quell’acqua. Io forse ero più delicata, [.] e
Wasser. Ich war vielleicht die Empfindlich-
mi è venuta la malaria. [.] Anche questo!
ste, und da hat mich die Malaria erwischt.
[lacht] Era la nonna e io con la malaria. In
Auch das noch! [lacht] Die Großmutter und
quelle campagne. Quando mi veniva la
ich hatten die Malaria. Auf dem Land.
febbre, io e la nonna [.] che si balla così
Wenn das Fieber kam, haben ich und die
con quella febbre forte [.] la mamma non
Großmutter uns so hin- und hergeworfen
sapeva dove mettermi. Comunque, abbiamo
vor lauter Fieber, die Mutter wusste nicht
passato questo, poi eravamo in una [.]
wohin mit mir. Jedenfalls haben wir das
capanna. [***] Siamo entrati là [.] e
überstanden, dann waren wir in einer Hütte.
l’indomani abbiamo sentito [.] lamentare
Wir gingen hinein, und am nächsten Tag
[.] dei tedeschi. „Hilfen, hilfen!“ Adesso
haben wir Deutsche klagen hören. „Hilfe,
capisco ‚Hilfe‘, che cosa è, ma quella volta
Hilfe!“ Heute verstehe ich ‚Hilfe‘, was das
non si capiva. Allora venivano [.] fasciati,
ist, aber damals haben wir’s nicht verstan-
senza braccia. Senza braccia o senza
den. Sie kamen, verbunden, ohne Arm. Ohne
gamba, tutti fasciati. Per noi bambini
Arm oder ohne Bein, voller Verbände. Für
questo era una tragedia. Allora, e volevano
uns Kinder war das eine Tragödie. Und
acqua loro! [.]„Wasser, Wasser“ [.] Ma,
auch sie wollten Wasser! „Wasser, Was-
dove la prendevamo, che non l’avevamo per ser!“ Aber woher sollten wir’s nehmen, noi? Poverini anche loro l’hanno passato
wenn wir nicht mal für uns hatten? Die
male. Certo, le guerre sono così. [.] Eh! E
Armen, auch sie hatten es schwer. Sicher,
abbiamo passato un mese [.] in questa
Kriege sind so. Eh! Und so haben wir einen
campagna, girando di qua, girando di là.
Monat auf dem Land verbracht, sind von hier nach dort gezogen.
(Transkript Rosetti 1, 10/9 – 10/39)
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Die nun folgenden vielfältigen Geschichten gruppieren sich um verschiedene Erlebnisse während der Flucht, sie erzählen von der Nahrungs- und Wassersuche, von Aufklärungsfliegern, von Begegnungen mit sich zurückziehenden verwundeten Deutschen und vorrückenden alliierten Soldaten. Weitere Anekdoten erzählen von der Rückkehr ins Dorf, von der Suche nach den Ersparnissen der Familie, welche unter den Trümmern des gemieteten Wohnhauses begraben waren, eingenäht in einen Kittel des Vaters. Giannas Familie überstand die etwa einen Monat dauernde Flucht den Umständen entsprechend gut. Sie schaffte es, während der ganzen Zeit zusammen zu bleiben, niemand wurde ernsthaft verletzt. Neben Angst und Ungewissheit schienen vor allem Hunger und Durst die prägenden Erfahrungen gewesen zu sein. Die Erzählungen der Anekdoten zur Zeit der Flucht sind – vielleicht wegen deren schlussendlich noch relativ glimpflichen Verlaufes für die Familie – von einer gewissen Leichtigkeit geprägt. Es sind dramaturgisch gut konstruierte Geschichten mit einem abenteuerlichen Klang, sie verfügen über eine mitreißende Dramatik und treffende Pointen. Geschichten, die auch Gianna als attraktive Geschichten betrachtet: „Tante volte si vedono nei film, queste cose, no. Era veramente un film [.] drammatico, quello! [lacht]“/„Solche Dinge sieht man oft in Filmen, nicht. Das war wahrhaftig ein dramatischer Film, das! [lacht]“ (Transkript Rosetti 1, 8/26) Und es sind, wie Gianna sagt, teilweise auch Erlebnisse, über die man im Nachhinein lachen kann. „Comunque, quando si ricorda, ci mettiamo a ridere, ma quella volta non si rideva.“/„Jedenfalls, wenn man sich erinnert, müssen wir lachen, aber damals haben wir nicht gelacht.“ (Transkript Rosetti 1, 13/33) Auffällig ist in den Erzählungen zu ihren Kriegserlebnissen, dass Gianna kaum je als aktive Person in Erscheinung tritt. Sie spricht fast ausschließlich von ‚wir‘ und macht so den Familienverband zur Akteurin ihrer Erzählungen. Wenn einzelne Personen erwähnt werden, dann sind es solche aus der Generation ihrer Eltern: der Vater, die Mutter, die Tante, der Onkel, ein Freund des Vaters. Giannas Geschwister tauchen in den Erzählungen kaum explizit auf, und wenn, dann als Kollektiv und nicht als individuelle Personen. Gianna selbst tritt in ihren Erzählungen gar nicht als aktiv Handelnde in Erscheinung. Als Individuum taucht sie entweder als Objekt der Handlungen anderer auf – einmal erscheint sie in Form des versehentlich zurückgelassenen Kindes16 (Transkript Rosetti 1, 7/34f), einmal in Form der mitgeschleppten Erkrankten (siehe weiter unten) –
16 Anlässlich des Bombenangriffs auf A-Stadt, welcher der Auslöser für den Umzug der Familie aufs Land war, erlitt Gianna einen Schock und konnte sich nicht mehr bewegen; ihre Familie floh in den Unterschlupf und bemerkte erst dort, dass Gianna fehlte.
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oder sie erscheint in der Rolle der aus der heutigen Perspektive kommentierenden Person. In der Regel aber sind es andere Familienmitglieder, welche die Handelnden der Geschichten sind. Nach einiger Zeit, in der vor allem Gianna erzählt hatte, unterbricht sie, um sich in der Küche etwas Wasser zu holen. In diesem Moment ergreift Lino das Wort. Die unten zitierte Geschichte ist somit Linos erste Gelegenheit im Interview, sich als Hauptperson einer biographischen Anekdote narrativ zu präsentieren, und so ist es angebracht, einen besonders aufmerksamen Blick darauf zu richten, wie Lino sich hier als Akteur einführt17. Linos Selbstpräsentation im Kontext der Kriegsgeschichten unterscheidet sich von derjenigen von Gianna, und er macht dies schon im zweiten Satz deutlich: L:
Eh, così [.] anch’io ho vissuto la
L: Eh, so habe auch ich den Krieg erlebt.
guerra. Solo io ero più grande [.] e un
Nur dass ich grösser war, und ein biss-
po’ più rischioso, rischiavo molto. [.]
chen risikofreudiger, ich habe viel ris-
Una volta che eravamo con mio
kiert. Einmal waren wir mit meinem
fratello grande e mio zio, alla piazza.
Bruder und meinem Onkel auf der Piazza.
G:
[bringt Wasser] La glielo metto.
G: [bringt Wasser] Ich stelle es Ihnen hin.
L:
Si parlava con gli altri amici così. In
L: Wir haben also mit den anderen Freun-
un paese, no. Un paese chi è chiamato
den geredet. In einem Dorf, nicht. Ein
B. [.] chi è distan- una quarantina [.]
Dorf, das B. genannt wird, das etwa 40,
o cinquanta chilometri da A-città, no.
50 Kilometer von A-Stadt entfernt ist,
[.] Arrivavamo in piazza e poi [.] nelle
nicht. Wir sind auf der Piazza ange-
quattro strade che venivano alla
kommen, und dann auf allen vier Stra-
piazza, arrivano i te-, i camion con i
ßen, die auf die Piazza führten, kamen
tedeschi [.] e con la mia [unverst.]
die De-, die Lastwagen mit den Deut-
sopra al camion, presso a dire. [.]
schen, und mit meiner [unverst.] auf den
Volevano operai per [.] se come
Lastwagen rauf, sozusagen. Sie wollten
bombardavano nelle strade si erano i
Arbeiter für, da sie die Straßen bombar-
buchi. [.] Grandi fossati, delle bombe,
dierten, gab es Löcher. Große Gruben,
17 Lino bekommt hier, sowohl für ihn wie auch für mich unvermittelt, eine erste Gelegenheit zur biographischen Selbstpräsentation und knüpft dort an, wo Gianna stehen geblieben war, nämlich bei Kriegserlebnissen. Später im Interview erhält Lino noch explizit Raum zur Entwicklung seiner eigenen biographischen Erzählung. In Anlehnung an den Interviewverlauf wird deshalb auch in der Fallrekonstruktion später noch einmal ausführlicher auf Linos biographische Selbstpräsentation eingegangen.
248 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
von den Bomben, nicht. [***] Diese
no. [***] Si riempivano le fossate per passare i carri armati sopra. [.]
Gräben haben sie gefüllt, damit die
Allora, ce hanno preso noi, messo sul
Panzer passieren konnten. Also haben
camion [.] per ci portare dietro, mio
sie uns mitgenommen, auf den Lastwa-
zio chi era il più grande di tutti, ci
gen getan, um uns da hin zu bringen,
pare, ci sembrava che ci
mein Onkel, der Älteste von allen,
ammazzavano, no. Allora, ci fu
meinte, ihm schien es, als würden sie
l’allarma aereo, i tedeschi sono scesi
uns umbringen, nicht. Dann gab es ei-
del camion, noi pure abbiamo, siamo
nen Luftalarm, die Deutschen sind aus
stati scappati via [.] io, mio fratello e
dem Lastwagen ausgestiegen, wir aber
mio zio, e poi loro dicevano: „Halt,
sind geflüchtet von dort, ich, mein Bru-
halt!“ Non so, o sparavano in aria, o
der und mein Onkel, und dann haben die
sparavano [unverst.]. [.] Non
gesagt: „Halt, halt!“ Ich weiß nicht, ob
guardavamo dietro! [lacht kurz]
sie in die Luft schossen oder [unverst.]
Correvamo solo a velocità. E quella
schossen. Wir haben nicht nach hinten
volta abbiamo scambiato a bella. [.] Sì
geschaut! [lacht kurz] Wir sind bloß
sì. [..] Poi c’è –
schnell gerannt. Und dieses Mal haben wir’s zum Guten wenden können. Ja ja. Dann war da-
G:
Prepari ci un caffè, alla Signora?
G:
Machst du uns einen Kaffee, für die Dame?
(Transkript Rosetti 1, 12/6 – 12/24) Lino nützt also die spontan entstandene Gelegenheit, um ebenfalls eine dieser abenteuerlich-spannenden Kriegsgeschichten zu erzählen. Gianna lässt ihn zwar die angefangene Geschichte beenden; als Lino aber zu einer weiteren Geschichte ansetzen will, bittet sie ihn, den Kaffee zuzubereiten, und übernimmt damit wieder die Regie über das Gespräch. Bevor aber der Gesprächsverlauf und damit Giannas Erzählfaden hier weiterverfolgt wird, verweilen wir vorerst noch bei Lino und der Art, wie er sich im Rahmen seiner Kriegsgeschichten darstellt. Lino präsentiert sich viel stärker als Einzelperson, als individueller Akteur, welcher zusammen mit Gleichaltrigen (Brüdern, Freunden) den Krieg und seine Auswirkungen miterlebt – im Gegensatz zu Gianna, welche eines von vielen Mitgliedern ihrer Familie ist und als Einzelperson in ihren Erzählungen kaum zum Vorschein kommt. Lino erwähnt zwar auch Familienmitglieder, doch spricht er kaum von ‚wir‘ im Sinne von ‚der Familie‘. Dies lässt sich zu einem Teil durch den Altersunterschied erklären. Während Gianna zu jener Zeit mit ungefähr zwölf Jahren noch Kind war, war Lino mit 17 Jahren schon ein junger Mann. Die hier etablierte Selbstpräsentation zieht sich durch mehrere von Linos
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Erzählungen zu Jugend und jungem Erwachsenenalter. Lino verhält sich in seinen Geschichten risikofreudig, wagt viel, auch aus Unwissenheit und jugendlicher Unvernunft heraus, kommt aber immer mit einem blauen Auge davon, wie auch die folgende, erst etwa eine halbe Stunde später angefügte Erzählung zeigt. L: Ou, questo è passato: Ho conosciuto un
L: Ou, das ist passiert: Ich kannte einen
amico [.] da, nel paese stesso, e allora
Freund, aus demselben Dorf, und als
quando sono andati [.] i tedeschi [.]
damals die Deutschen gegangen sind
che c’è gli inglesi, no, i tedeschi sono
wegen der Engländer, nicht, die Deut-
scappati. Sono andati gli – erano
schen sind geflohen. Dann sind die – es
scozzesi, sono andati, in questo paese.
waren Schotten, sind die ins Dorf ge-
Con gonnellino, sa? [lacht]
gangen. Mit Röckchen, nicht? [lacht]
G: Eh, ‚die Jupe‘. ‚Jupe‘
G: [übersetzt:] Eh, Jupe [= Rock]
L: ‚Schottland‘
L: [übersetzt:] Schottland
G:
G: [übersetzt:] Plisséjupe, Schottland
‚Plisséjupe‘, ‚Schottland‘
L: E con le cornamuse, e allora [***] con
L: Und mit den Dudelsäcken, und da [***]
questo amico poi andavo a prendere
bin ich also mit diesem Freund Trauben,
delle uva, fighi [.] e gli ho portato a
Feigen holen gegangen, und wir haben
questi scozzesi, e ci davano un po’ di
sie diesen Schotten gebracht, und sie
soldi, no. [.] Poi ci è stato uno che si ha
gaben uns ein wenig Geld, nicht. Dann
preso il paniere [.] sa, ‚ein Kiste‘, con
war da einer, der sich den Korb ge-
tutta la frutta [.] e ci ha preso il calcio
nommen hat, wissen Sie, eine Kiste, mit
del sedere. [***] Fuori! [..] Buttati
all den Früchten, und er hat uns einen Tritt in den Hintern gegeben. [***]
fuori, così.
Raus! Rausgeworfen, so. G: „Non ci hanno dato niente“, quest’altro G: „Hat uns nichts gegeben“, derjenige, den sie da getroffen haben, nicht.
che hanno trovato, no. L: E stato cattivo, non, non era gentile.
L: Er ist böse gewesen, er war nicht nett.
G: ‚Eine böse, ein böser Mann‘. [lacht]
G: [übersetzt:] Ein böser Mann. [lacht]
L:
L:
Ma [.] quello là [.]
Aber, dieser da,
quello che, questo amico mio che il pa-
mein Freund, denn der Korb war nicht
niere non era suo, era da un altro, dice:
seiner, gehörte jemand anderem, sagte:
„Allora come facciamo?“ E l’abbiamo
„Was machen wir nun?“ Und wir haben
girato perché si conoscono i posti del
einen Bogen geschlagen, denn wir
[.] paese, questo qua come come ci ha
kannten jeden Ort im Dorf, alle Wege,
tutte le [.] i punti dove andare, no. Ci
nicht. Wir sind hinten rum gegangen
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siamo andati dietro e entrati in questa
und sind ins Zelt gegangen, von diesem
tenta [.] di questo soldato [.] e lì c’era
Soldat, und dort war eine Brieftasche.
un portafoglio. [.] Abbiamo preso il
Wir haben die Brieftasche genommen
portafoglio e ci siamo scappati. [.] Ora
und sind abgehauen. Damals haben wir
eravamo un po’ [.] rischiosi, non [..]
uns ein wenig riskant verhalten, nicht –
G: Non pensavano [.]
G: Sie haben nicht gedacht
L:
L:
il male.
G:
i rischi che
G:
an die Risiken, die hätten
potevano L:
nichts Böses gedacht
Perché se quello ci vedeva, ci
L:
Weil wenn der uns gesehen hätte,
ammazzava come niente [unverst.], ci
hätte er uns umgebracht wie nichts [un-
sparava, senz’altro.
verst.], hätte uns erschossen, zweifellos.
Sa, si ha preso la frutta G:
G:
Wissen Sie, er hat sich die Früchte
e non ha voluto dare un centesimo,
genommen und hat keinen Rappen dafür
immaginiamo
geben wollen, stellen wir uns vor
L:
Allora quella volta abbiamo
L:
Und so haben
trovato [..] venti ‚shilling‘ e ‚six pence‘.
wir damals zwanzig ‚shilling‘ und ‚six
[.] Mi ricordo qua. In un portafoglio di
pence‘ gefunden. Daran erinnere ich
pelle. [.] Veramente pelle. [.] Allora
mich. In einer Leder-Brieftasche. Echtes Leder. Und so
G:
Ma questo
G:
machen. [lacht]
non si doveva fare. [lacht] L: [unverst.] di guerra, [unverst.] la
L: [unverst.] des Krieges, [unverst.] der Krieg, ja.
guerra, sì. G:
La guerra, la guerra fa fare tante cose. Sì.
L: E c’era la fame quella volta. E che lo
Aber das durfte man nicht
G:
Der Krieg, der Krieg lässt einen vieles machen. Ja.
L: Und es gab auch Hunger damals. Und
[.] abbiamo fatto metà io e metà lui, no.
so haben wir halbe-halbe gemacht,
[.] Io con quei soldo sono stato in un
nicht. Ich bin mit meiner Hälfte in ein
paese più lontano, a comprare il
weiter entferntes Dorf gegangen, um
frumento.
Weizen zu kaufen.
(Transkript Rosetti 1, 34/15 – 35/17) Auch hier wieder gibt sich Lino forsch und mutig. Sehr initiativ beginnt er einen kleinen Gelderwerb, indem er den Soldaten Früchte zum Kauf anbietet. Als sich
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dann einer der Soldaten nicht kooperativ verhält und zwar die Früchte behält, aber nichts dafür bezahlen will, holen sich Lino und sein Freund das, was sie glauben, es stehe ihnen zu, auf heimlichem, riskantem Umweg. Dass der Coup gelingt, erfüllt Lino auch heute noch mit Freude und Stolz. Die Geschichte zur gestohlenen Brieftasche bringt jedoch Gianna in moralische Bedrängnis. Sie bemüht sich, allfällige Irritationen im Bild des rechtschaffenen, ehrlichen und bescheidenen Paares zu vermeiden, das die Rosettis heute abgeben. Sie schaltet sich mehrmals in Linos Erzählung ein, um Punkte klar zu machen, um Handlungsweisen zu erklären, um sicherzugehen, dass ich die Geschichte richtig verstehe: Dass klar wird, warum Lino damals das Geld genommen hat, und dass er ein Anrecht darauf hatte, auch wenn er etwas eigentlich Unerlaubtes getan hat. Lino unterstreicht seine Aufrichtigkeit am Schluss damit, dass er erzählt, er habe das gestohlene Geld für einen guten Zweck ausgegeben, nämlich um Essen für seine hungernde Familie zu kaufen. Abschließend bleibt zu den Kriegsgeschichten festzuhalten, dass die Erinnerungen an den Krieg einen sehr großen Raum in den lebensgeschichtlichen Erzählungen von beiden Ehepartnern einnehmen. Die Frage stellt sich: Wie können die ausführlichen Erzählungen von Kriegserlebnissen gedeutet werden, die sich auf eine temporal sehr kurze Phase des ‚gelebten Lebens‘ (Rosenthal 1995) von ein, zwei Monaten beziehen? Warum erzählen die Rosettis so viel davon? Und warum gelingt es ihnen, mit solcher Leichtigkeit über ihre Erlebnisse zu berichten? Und dies obwohl sie den Krieg als etwas vom Schlimmsten bezeichnen, was ihnen in ihrem Leben widerfahren ist? Ich lese die ausgefeilte Form und die kollektive Akteurschaft in Giannas Kriegsgeschichten als Hinweis darauf, dass es sich dabei nicht um unmittelbar auf Giannas persönliche Erfahrungen zurückgreifende Geschichten handelt18, sondern um kollektive Geschichten, die in Giannas Familie mehrfach erzählt wurden und die Gianna mit der Zeit übernommen hat. Vielleicht diente das Erzählen dieser Geschichten auch der Bearbeitung der zweifelsohne beängstigenden Erlebnisse und Erinnerungen. Vielleicht nahm die Verpackung des Erlebten in manchmal sogar amüsant wirkende Episoden und Anekdoten den Erinnerungen ihren Schrecken. Und vielleicht stärkte sowohl das Erleben wie auch das Erzählen der Erlebnisse im Familienverbund auch die Familie als kompakte, Sicherheit versprechende Einheit, wie Gianna sie hier zeichnet. Möglicherweise waren also die Erzählungen über die Kriegserlebnisse im Kreis der Familie ein wirksames Ventil für den Umgang mit schlimmen Erlebnissen und – zumindest in Giannas Fall – für die Betonung des Zusammenhalts der Familie. Die Psychologinnen Frigerio Martina und Merhar
18 Gemeint ist hier eine spontane, unmittelbare Bezugnahme auf konkrete Erinnerungen.
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gehen in ihrem Buch zu psychosozialen Aspekten der italienischen Migration in die Schweiz (2004: 131) auch kurz auf die Frage der Auswirkungen von Kriegserlebnissen auf das Leben in der Migration und der Übertragung von – im psychologischen Vokabular der Autorinnen ausgedrückt – nicht bearbeiteten und bewältigten Traumata auf Kinder und Enkelkinder ein. Sie weisen in diesem Kontext darauf hin, dass es bei der therapeutischen Bearbeitung von Traumata ganz wichtig sei, auch positive Erfahrungen und Erinnerungen an „Ressourcenpersonen“ (ebd.) zu aktivieren. Die Geschichten von Gianna und Lino berichten zwar über schreckliche Ereignisse und Erlebnisse, beinhalten aber gleichzeitig auch sehr viel Positives, Dinge, über die man heute lachen kann, wie auch Gianna festhält: „Perché anche le cose da ridere si devono dire, no! [lacht]“/„Denn man muss ja auch diejenigen Dinge erzählen, die zum Lachen sind, nicht! [lacht]“ (Transkript Rosetti 1, 11/14) Und vielleicht liegt gerade im Erzählen der Geschichten der Schlüssel für den vergleichsweise unbelastet wirkenden Umgang mit Kriegserlebnissen in der Familie Rosetti. Dass die Geschichten aus dem Krieg insbesondere für Gianna ein zentraler Bestandteil ihrer biographischen Präsentation sind und nicht lediglich evoziert worden sind durch das Interesse, welches ich am Thema Krieg bekundet hatte19, zeigt sich darin, dass es im zweiten Gespräch nur einer nebensächlichen Frage meinerseits bedurfte20, damit Gianna noch einmal fast genau dieselben Anekdoten zu erzählen begann. Später wiederum war sie ganz erstaunt, dass sie mir die eine oder andere Geschichte überhaupt erzählt hatte. Es scheint so, dass Gianna im Zuge des Erzählens eine Anekdote nach der anderen einfällt, dass beim Thema Kriegserinnerungen also ein klassischer Erzählzwang (vgl. Schütze 1982) einsetzt. Die Bedeutung der Kriegsgeschichten für das biographische Selbst nicht nur von Gianna, sondern auch von Lino, zeigt sich aber auch darin, dass im Rahmen der Niederschrift der Lebensgeschichte für die Enkelkinder – also einer Form der biographischen Selbstpräsentation, die mehr Raum für die Reflexion über den Aufbau der Geschichte gestattet – sowohl Lino wie auch Gianna den Kriegs-Geschichten deutlich mehr Bedeutung beigemessen haben als etwa den Geschichten zur Reise über die Grenze oder zur Arbeit in der Schweiz.
19 Die Rosettis hatten sich im ersten Gespräch nach den ersten Anekdoten zum Krieg danach erkundigt, ob mich so etwas auch interessiere, was ich bejaht hatte, mit der Begründung, dass dies Erfahrungen seien, die ich nicht teilen könne, nicht nur wegen des Generationenunterschiedes, sondern auch wegen des unterschiedlichen nationalstaatlichen Umfeldes, in dem wir aufgewachsen seien. 20 Die Frage lautete, ob Giannas Familie nach dem Krieg in dasselbe Haus in der Altstadt von A-Stadt zurückgekehrt sei, das sie vorher bewohnt hatte.
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Das bisher herausgearbeitete biographische Handlungsmuster von Gianna wird im Rahmen der Erzählungen zu den Kriegserlebnissen nicht revidiert. Auch hier präsentiert sie ihr Leben als von äußeren Ereignissen quasi ‚natürlich‘ bestimmt – Ereignisse, welche ihre Lebensgeschichte zwar nicht dominieren, aber doch in eine bestimmte Richtung hin kanalisieren. Wie schon ihre Stellung in der Geschwisterreihe ihre Lebensgeschichte zu einer ‚facilissima‘, zu einer vorstrukturierten gemacht hat, so strukturiert der Krieg die bevorstehende berufliche Laufbahn von Gianna – wie auch diejenige von ihrem zukünftigen Ehemann Lino – insofern, als dass in der Nachkriegszeit Ausbildungs- und Verdienstmöglichkeiten beschränkt waren. Die Krankheitsepisoden strukturieren Giannas Leben dahingehend, dass Gianna sich als Person mit schwacher gesundheitlicher Konstitution etabliert, anfälliger als andere Familienmitglieder für ernsthafte Erkrankungen, welche wiederum ihre Spuren hinterlassen und Giannas Konstitution nachhaltig schwächen. Was sich aber als möglicher Ausweg aus der Vorstrukturiertheit bereits andeutet, ist eine Handlungsoption, für die sich Giannas Eltern entschieden haben, um mit bedrohlichen oder ausweglosen Situationen umzugehen: das ‚Weggehen‘. Linos biographische Selbstpräsentation Auch Lino hat inzwischen eine erste Gelegenheit gehabt, sich als biographisches Subjekt in das Gespräch einzuführen. Er vermittelt in dieser kurzen Episode – welche ich hier, dem Interviewverlauf vorgreifend, um eine zweite Episode ergänzt habe – das Bild eines draufgängerischen Jungen, welcher sich jedoch des Ernstes der Lage und der Konsequenzen seiner Taten noch nicht voll bewusst ist. Lino positioniert sich etwas anders als Gianna: risikofreudiger, waghalsiger, aktiver handelnd. Die Präsentation des Ehepaares Rosetti wird im Interview in erster Linie von Gianna festgelegt, Lino beschränkt sich darauf zu ergänzen und zu korrigieren. Erst an einem fortgeschrittenen Punkt des ersten Gesprächs (Seite 28 des Transkripts von total 49 Seiten), nachdem Gianna signalisiert hat, sie habe ihre Lebensgeschichte nun abgeschlossen, fordere ich Lino dazu auf, nun auch von sich, aus seiner Kindheit zu erzählen. Lino sucht daraufhin einen Einstieg in eine eigene biographische Erzählung, und das fällt ihm offenbar nicht leicht. L: Di nascita? Quando sono nato, oppure
L: Von Geburt an? Wann ich geboren
[.] Lei interessa. Io son’ di 13 [.] 6 [.]
wurde, das interessiert Sie. Ich bin vom
1926. [..] Tredici giugno 1926.
13. 6. 1926. Dreizehnter Juni 1926. Ich
[..][unverst.] sono nato [.] in un
bin in einem Quartier geboren, das, sa-
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quartiere diciamo piuttosto un po’
gen wir mal, eher ein bisschen kritisch
critico.
war.
E: A A-città anche? L: Sì. A A-città. [.] Poi siamo in questi, questo posto e [..] con una residenza [..]‚Centro Storico‘, ah. Dove non vengono demolite le case, sono vecchi, [.] ma restano per, eh, è chiamato ‚Centro Storico‘. Questo posto dove sono nato io. E poi ci siamo spostati, sai, dicendo la famiglia e siamo spostati. Poi siamo [.] tre fratelli e tre sorelle. [.] Siamo in sei [.] in tutto. [.] E ho cominciato questo, io andavo a scuola.
E: Auch in A-Stadt? L: Ja. In A-Stadt. Dann sind wir also an diesem Ort, wohnhaft, ‚Centro Storico‘. Wo keine Häuser zerstört werden, sie sind alt, aber sie bleiben, eh, das nennt sich ‚Centro Storico‘. Dieser Ort, wo ich geboren bin. Und dann sind wir umgezogen, weißt du, will heißen die Familie, und wir sind umgezogen. Dann sind wir drei Brüder und drei Schwestern. Wir sind zu sechst im Ganzen. Und dann hab ich das angefangen, bin ich zur Schule gegangen.
(Transkript Rosetti 1, 28/29 – 28/38) Lino beginnt seine Lebensgeschichte etwas holprig und hält sich vorerst an den für einen biographischen Lebenslauf typischen Eckdaten fest: dem genauen Geburtsdatum, dem Geburtsort – zu dem er noch einige Erläuterungen gibt – der Anzahl Geschwister und der Schulbildung. Die Beschreibung des Ortes, wo Lino aufgewachsen ist, sticht besonders hervor. Lino beschreibt ihn als ‚kritischen‘ Ort, und seine Ausführungen zu den alten Häusern, die nicht abgerissen werden, lassen das Bild entstehen, dass „critico“ eine schlechte Infrastruktur, ein zerfallendes Stadtviertel meint. Im zweiten Gespräch spreche ich ihn noch einmal darauf an, was er mit „quartiere critico“ gemeint habe. Lino beschreibt es darauf hin als „scadente“ – d.h. minderwertig – weil stark bevölkert und von alter Bausubstanz, die nicht abgerissen werden könne, da es sich um historische Bauten handle (Transkript Rosetti 2, 2/34 – 3/3). Gianna weist darauf hin, dass nach dem Krieg das Quartier zudem durch die organisierte Kriminalität ‚kritisch‘ wurde, nachdem vor und während des Krieges aufgrund der strikten faschistischen Gesetze Kriminalität kein Thema war (Transkript Rosetti 2, 3/9f). Lino wehrt sich jedoch gegen meine Vermutung, dass es sich in einem solchen „quartiere critico“ wohl nicht so gut leben ließ, und dass dies vielleicht auch ein Migrationsgrund gewesen sei. Es scheint auch nicht so, als wäre Lino in einem Unterschichtsmilieu aufgewachsen – genauso wenig wie Gianna, deren Familie auch in diesem Quartier lebte. Wie sich im Laufe der beiden Gespräche heraus-
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stellt, lebte die Familie von Lino gut vom Einkommen des Vaters als Staatsbeamter bei der Eisenbahn und von seiner Kriegsversehrten-Rente. Gut genug auch, dass Linos Mutter nicht zu arbeiten brauchte. Die Betonung der Herkunft aus diesem spezifischen Quartier in A-Stadt könnte auch ein Hinweis auf eine relativ stark ausgebildete kollektive Identität innerhalb dieses Quartiers sein. Nach einer weiteren Unterbrechung – Gianna ist noch etwas eingefallen, das sie zu ihrer Geschichte ergänzen wollte – fährt Lino mit seiner biographischen Selbstpräsentation fort: L: Sì, ho fatto le scuole e finivo [.] sulla
L: Ja, ich habe die Schulen gemacht und
terza media. [.] Poi [.] ho cominciato a
auf der dritten Media aufgehört. Dann
lavorare, son’ andato da un amico, era
habe ich angefangen zu arbeiten, bin zu
sarto. E [.] sa, da amicizia è andato [.]
einem Freund gegangen, er war Schnei-
che lavoravo qua e ci, ci ho
der. Und wissen Sie, aus Freundschaft
divertimenti, ci mangiavo, e allora
ist es gekommen, dass ich dort gearbei-
[.][unverst., evtl. e l’entusiasmo bada]
tet habe, ich hatte dort Spass, ich hatte
per questo fatto, non per il lavoro di
zu essen, und dafür habe ich mich be-
sarto.
geistert, nicht für die Schneiderarbeit.
G: Non le piaceva, a lui! [lacht]
G: Es hat ihm nicht gefallen! [lacht]
L: Non mi piaceva. E poi ci sono entrato
L: Es hat mir nicht gefallen. Und dann bin
così [.] spassionatamente, e [.] man
ich da so reingekommen, ganz unbefan-
mano, man mano ho incominciato
gen, und mit der Zeit hab’ ich angefan-
G: interesse, senza interesse. L:
gen
Senza
cominciato a
G: L:
Ohne Interesse, ohne Interesse. angefangen
lavorare e poi mi son’ imparato questo
zu arbeiten und habe mir so dieses
mestiere. E poi c’è [.] questo [.] fatto
Handwerk angeeignet. Und dann ist da
che mi sono fidanzato con lei. E ci
die Sache, dass ich mich mit ihr verlobt
siamo sposati. Permesso di quest’amico
habe. Und wir haben geheiratet. Wegen
che lavoravamo insieme, son’ pa-, son’
diesem Freund, mit dem ich zusammen-
[unverst., evtl. perché lui], come diceva
gearbeitet habe, bin ich gega-, das war
mia moglie. Il padre lavorava qua. E
wegen ihm, wie meine Frau gesagt hat.
con incidente, il padre era al ospedale.
Der Vater arbeitete hier [in Bern]. We-
Allora, il figlio partiva da A-città per
gen eines Unfalls war der Vater im Spi-
trovare suo padre. Quando lui è venuto
tal. Deshalb ist der Sohn aus A-Stadt
qua, e poi s’è messo a lavorare. E mi
weggegangen, um seinen Vater zu se-
telefona- mi scriveva sempre: „Perché
hen. Als er dort hinkam, hat er angefan-
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non vieni qua, c’è il lavoro, [unverst.],
gen zu arbeiten. Und er hat mich immer
sa, cercano qua, cercano là.“, era così,
angeruf-, mir geschrieben: „Warum
son’ andato [.] son’venuto qua. E così
kommst du nicht her, es gibt Arbeit,
ho incominciato a lavorare.
[unverst.], weißt du, sie suchen hier, sie suchen dort.“, so hat er gesagt, und ich bin gegangen, bin hierhergekommen. Und so hab ich angefangen zu arbeiten.
(Transkript Rosetti 1, 33/3 – 33/18) Lino erwähnt hier die Höhe seines Schulabschlusses, ‚la terza media‘, das heißt, er hat nicht nur die üblichen fünf Jahre Grundschule besucht, sondern auch die drei weiterführenden Schuljahre der ‚media‘ absolviert. Dies deutet darauf hin, dass in Linos Familie einerseits keine ökonomische Notwendigkeit bestand, dass die Kinder der Familie in größerem Maße Arbeiten leisten mussten, sei es im Haushalt oder außerhalb des Hauses. Andererseits verweist es darauf, dass im Elternhaus von Lino Wert auf Bildung gelegt wurde. Von der Schule geht Lino direkt zu seiner Erwerbstätigkeit über. Dass er dabei nicht aufgrund einer gezielten Berufswahl, sondern quasi als Nebeneffekt, auch einen Beruf erlernt hat, betont er besonders. Lino hat wegen eines Freundes bei dem Schneider gearbeitet. Die Fortsetzung der Geschichte – über den etwas abrupten Einschub der Verlobung mit Gianna hin zum Freund, der migriert ist und die Ursache dafür war, dass Lino wegging – betont dann wiederum den Einfluss eines anderen Freundes auf Linos Lebensweg. Ähnlich wie bei Gianna sind es bei Linos Werdegang andere Personen, die bestimmen, wohin es ihn verschlägt. Doch in seinem Fall sind es nicht Familienmitglieder, sondern Freunde, und es ist seine freundschaftliche Verbundenheit und der Spaß, den er dabei hat, welche für ihn den Anstoß geben – im Gegensatz zu Gianna, bei der eher das Pflichtbewusstsein und die Quasi-Natürlichkeit der Solidarbeziehungen betont wird. Lino zeichnet sich hier – ähnlich wie schon in seinen Kriegserlebnissen – als recht unbekümmerten jungen Mann, der aus Spaß gearbeitet hat, um mit Freunden zusammen zu sein, und der aufgrund eines Freundes beschlossen hat, ins Ausland arbeiten zu gehen. In die Erzählung zu der doch recht konsequenzenreichen Entscheidung zur Migration wird Gianna nur ganz nebenbei eingeführt, indem Lino erwähnt, er sei verlobt gewesen, als Migration zur Option wurde. Entscheidend für seine Migration – zumindest für die gewählte Migrationsdestination – war, dass es diesen Freund gab, den ihn zum Kommen aufforderte. Lino hat keine eigentliche Berufslehre gemacht, hat nebenbei etwas gelernt, hat sich eigentlich gar nicht für die Schneiderei interessiert. Alternativen für die
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Berufsausbildung werden in obiger Passage keine erwähnt. Im zweiten Interview frage ich Lino gezielt danach, ob er andere Berufswünsche gehabt habe. E: Aveva qualcosa che ha voluto fare come E: Hatten Sie etwas, was sie machen wollmestiere, se aveva la possibilità? [.] So
ten, beruflich, wenn Sie die Möglichkeit
che aveva la guerra ed era una
gehabt hätten? Ich weiß, dass Krieg war
situazione un po’ speciale, ma [.] aveva
und dass es eine besondere Situation
qualcosa che-
war, aber gab es etwas, das-
G:
in testa che voleva fare?
L:
In testa.
G:
Ah sì, io
volevo fare il meccanico. [.] Ma a
er im Kopf hatte, machen wollte?
L:
Im Kopf. Ah ja, ich wollte Mechani-
quella volta non ne c’erano le
ker werden. Aber damals gab’s noch
macchine. [lacht kurz] C’erano
keine Autos. [lacht kurz] Es gab Autos,
macchine, ma era una cosa rara, no.
aber das war etwas Seltenes, nicht.
G: Guardi, il problema è stato uno: [.] Suo G: Schauen Sie, das Problem war folgendes: Sein Vater wollte alle Kinder in die
padre [.] voleva mandare tutti i figli a scuola per [.] loro stavano bene, come
Schule schicken, um – ihnen ging’s gut,
finanziariamente, perché suo padre [.]
finanziell, weil sein Vater war Staatsan-
era impiegato alle ferrovie dello stato
gestellter bei der Eisenbahn, [***] und
[***] e venivano pagati bene. [.] Aveva
sie waren gut bezahlt. Er hatte sechs
sei figli, [***] e allora [.] tutti i figli lui
Kinder, [***] und er wollte, dass alle
voleva che studiavano. [***] E lui [.]
Kinder studierten. [***] Und er hat
no ha voluto studiare.
nicht studieren wollen.
E: Non ha voluto?
E: Hat er nicht wollen?
L: Sì, ho studiato così, [unverst.]
L: Ja, ich hab schon studiert, so [unverst.]
G:
G:
Fino alla terza
Mittelschule.
media. L:
L’ho preso [.] alla terza media
Bis zur
L:
Hab bis zur Mittelschule ge-
[hustet], ho fatto un corso di [.]
macht [hustet], dann einen Kurs zum
esattore delle imposte. [..] Sa cosa è,
Steuereintreiber. Wissen Sie, was das
esattore delle imposte?
ist, Steuereintreiber?
E: Non esattamene, no.
E: Nicht genau, nein.
G: Per le tasse.
G: Für die Steuern.
L: L’esattore delle imposte [.] eh, sì,
L: Der Steuereintreiber eh, ja, wenn je-
leggendo che non pagavano le tasse,
mand die Steuern nicht bezahlt, ging ich
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andavo [.] a visitare. E magari la cosa
sie besuchen. Und wenn die Sache viel-
non andava, dovevo portare via la roba
leicht nicht klappte, musste ich die Sa-
dentro. Se non volevano pagare. E non
chen wegtragen. Wenn sie nicht zahlen
era bello! [lacht]
wollten. Und das war nicht schön! [lacht]
G: Però lui ha fatto il concorso, […] ma
G: Nun ja, er hat die Prüfung gemacht, aber –
non – L:
Ma non ho potuto esercitare
L:
Aber ich habe den Beruf nicht
questo mestiere. Certo, c’è un [.] un [..]
ausüben können. Sicher, es gibt ein At-
un attestato, [.] che io ho fatto un
test, dass ich ein Examen gemacht habe,
esame, e promosso, così e così, però
und bestanden habe, so und so, aber sie
devono impiegarmi nello stato,
hätten mich beim Staat anstellen müs-
direttamente. Ma posti non ce n’erano,
sen, direkt. Aber Posten gab’s keine,
e dunque siamo [.] siamo venuti qua.
und so sind wir hierher gekommen.
(Transkript Rosetti 2, 8/34 – 10/5) Lino scheint als junger Mann keinen spezifischen Berufswunsch zu haben – dass er erwähnt, gerne Mechaniker geworden zu sein, aber dass damals ja Autos noch etwas Seltenes waren, kann einerseits bedeuten, dass er diesen Wunsch erst später entwickelte, oder andererseits, dass es schlichtweg noch keine Möglichkeiten gab, diesen Beruf in A-Stadt zu erlernen. Gianna, welche in dieser Passage für einmal diejenige Rolle übernimmt, welche Lino normalerweise innehat – sie greift nur ein, wenn ihrer Meinung nach zusätzliche Erklärungen notwendig sind – verweist auf die Erwartungen von Linos Vater: Seine Kinder sollten alle studieren, und die Geschwister von Lino entsprachen diesem Wunsch auch. Lino aber, so sagt Gianna, wollte nicht studieren. Ob die Ausbildung zum Steuereintreiber, die Lino dann zu seiner Rechtfertigung – doch, auch er hat ein klein wenig studiert! – anführt, eine Strategie zur Beruhigung des Vaters war? Oder ein Versuch Linos, sich ebenfalls einen sicheren Beamtenposten zu ergattern wie seine Geschwister21? Allerdings passt diese Option nicht wirklich in das Bild des naiv-gutmütigen, unkonventionellen Draufgängers, welches Lino von sich zeichnet. Dass Lino als einziger der sechs Geschwister kein Studium gemacht
21 Die älteste Schwester von Lino war Lehrerin; der darauf folgende Bruder studierte Buchhaltung, arbeitete dann aber, wie der Vater, bei der Eisenbahn als Zugführer. Der Viertgeborene, Linos jüngerer Bruder, war höherer Beamter bei der Finanzverwaltung und migrierte in dieser Funktion in den Norden Italiens. Die beiden jüngsten Schwestern werden nicht mit konkreten Berufsangaben erwähnt.
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hat, muss aber auch vor dem Hintergrund des Geburtsjahres von Lino betrachtet werden, wodurch sein Abschluss der Grundschule in eine besonders ungünstige Zeit fiel, in die heiße Schlussphase des Krieges auf Sizilien, in der an eine Berufsausbildung kaum zu denken war. Obschon Lino den erwähnten Kurs zum Steuereintreiber besuchte und davon auch ein Diplom besitzt, führte diese Ausbildung nicht zu einer Erwerbsarbeit. Lino bezeichnet die Arbeit der Steuereintreiber als unschön, was darauf hindeutet, dass er auf diesem Beruf auch gar nicht hätte arbeiten wollen. Obwohl er sich, wie Gianna anfügt, darum bemüht hatte, hat sich keine Anstellung ergeben nach seiner Ausbildung, es habe halt keine freien Posten gehabt beim Staat. Als Lino dies in obiger Passage erwähnt, fügt er unmittelbar an, dass er deswegen nach Bern gekommen sei. Die Entscheidung zur Migration hat also auch damit zu tun, dass Lino keine angemessene Erwerbsarbeit fand. Die finanzielle Abhängigkeit von der Familie behagte Lino nicht (siehe Giannas Ausführungen zur Migrationsentscheidung weiter oben), und der Kurs als Steuereintreiber, den er in der voranstehenden Passage erwähnt, führte nicht zu einer gut bezahlten Anstellung beim Staat. Die eher als Zeitvertrieb verfolgte Arbeit beim Schneider („Si andava per non stare in giro, per le strade.“/„Man ging dort hin um nicht herumzuhängen, auf der Straße.“, Transkript Rosetti 2, 6/20) ermöglichte Lino zwar das Erlernen eines Handwerks, aber verdienen tat er kaum dabei. Seine Geschwister studierten, dem Wunsch ihres Vaters entsprechend, und hatten Aussichten auf gut bezahlte und sichere Anstellungen beim Staat. Seine Verlobte hatte eine solide handwerkliche Ausbildung, und sie verdiente deshalb auch ganz gut. Als Lino später verheiratet war und zusammen mit Gianna ein eigenes Atelier betrieb, waren zwar genügend Aufträge da, aber bezahlen konnten die Leute ihre Kleidungsstücke nicht, und so blieb die Kasse des Ehepaares leer, und die Rosettis konnten nur dank der Unterstützung ihrer Eltern überleben. Obwohl Lino nicht viel Worte darauf verwendet zu begründen, warum er A-Stadt verlassen hat und nach Bern gefahren ist – er verweist immer wieder auf seinen Freund –, wird aus den verschiedenen kleinen Anmerkungen Linos sehr deutlich, dass die Migration für ihn ein Weg hinaus aus der Abhängigkeit, vielleicht auch aus der – selbst empfundenen oder vorgeworfenen – Minderwertigkeit war. Dafür, dass für Lino die Migration in die Schweiz eine Art Befreiungsschlag aus finanziellen Abhängigkeiten war, spricht auch, dass Lino für seine Bahnreise nach Bern und für die Finanzierung der ersten Wochen einen kleinen Privatkredit bei einer wohlhabenden Familie aufnahm. Nun verfolgen wir die Biographie des Ehepaares Rosetti weiter anhand von Giannas biographischer Selbstpräsentation. Sie entwickelt, anschließend an die
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Kriegsgeschichten, ihre Lebensgeschichte konsequent weiter zur Paargeschichte und zur Migrationsgeschichte: Paarwerdung, Familiengründung und Migrationsentscheidung G: E così [.] e poi crescendo, poi ho
G: Und so bin ich dann aufgewachsen, dann habe ich ihn kennen gelernt. Ich
conosciuto lui. [.] Io avevo diciassette anni, solamente, ho conosciuto lui, e ci
war 17 Jahre alt, nur, habe ihn kennen
siamo fidanzati. [.] La mamma, ci
gelernt, und wir haben uns verlobt. Der
sembrava che era troppo presto, storie,
Mutter erschien dies zu früh, Zeugs und
cose, si sa, questo, quando si è ragazzi.
Sachen, wie das so ist, wenn man jung
[..] Ehm [.] e poi ci siamo fidanzati in
ist. Und dann haben wir uns zu Hause
casa. [.] E passavano gli anni così. [.]
verlobt. Und so sind die Jahre vergan-
Allora per il momento-
gen. Also für den Moment-
L:
Era dopo-guerra [.]
Es war Nachkriegszeit
Era dopo- G: Es war Nachkriegszeit
G: guerra L:
L:
L:
G: Mancava il lavoro, mancavano i soldi,
es war nicht möglich zu arbeiten, es-
non c’era possibile di lavorare, nonG:
Es fehlte an Arbeit, es fehlte an
mancava un po’ tutto. Perché ci siamo
Geld, es fehlte ein bisschen an allem.
sposati quando?
Weil wir haben wann geheiratet?
L: A ’53.
L: Im ’53.
G: A ’53. La guerra, quando è finita? Al
G: Im ’53. Und der Krieg war wann fertig?
’40?
Im ’40?
L: Diciamo ’44.
L: Sagen wir ’44.
G: ’44, ’45, no?
G: ’44, ’45, nicht?
(Transkript Rosetti 1, 15/35 – 16/8) Auffällig hier auch wieder die Rollenaufteilung in der Interaktion zwischen Gianna und Lino: Lino ist zuständig für die Präzisierung von Fakten und Daten, und er ist derjenige, welcher die Bezüge zu historischen Kontexten auf den Punkt bringt22. So legt er Wert darauf festzuhalten, dass für die von Gianna the-
22 Im Interview führte der Anspruch von Lino, ihr Kennenlernen historisch präzise zu situieren, zu einer längeren Diskussion zwischen den beiden, wann genau der Krieg zu
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matisierte biographische Phase des Kennenlernens und der Familiengründung der historische Kontext von Bedeutung war. Es war Nachkriegszeit, und es gab keine Arbeit. G: Comunque, poi [.] ci siamo fidanzati,
G: Jedenfalls haben wir uns dann verlobt,
gli anni passavano, ci siamo sposati al
die Jahre sind vergangen, wir haben
ehm, al ehm [.] a ’53, noi. A ’54 mi è
geheiratet im, ehm im ’53. Im ’54 ist mir
nato il primo figlio, [.] e al ’55 mi è
der erste Sohn geboren, und im ’55 das
nata la seconda figlia, una femmina.
zweite Kind, ein Mädchen. Giuseppe
Giuseppe e Michela. Al, poi siamo
und Michela. Im ’55 habe ich also die
partiti al ’55 me ne da la Michela. Poi
Michela bekommen. Dann war da ein
c’era un amico di mio marito [.] che
Freund meines Mannes der schrieb-, er
scrive- era venuto in Isvizzera, perché il
war in die Schweiz gekommen, weil sein
papà di lui è venuto qui in Isvizzera. [.]
Vater hier in die Schweiz gekommen ist.
Non so, per lavoro, per -
Weiß nicht, wegen Arbeit, wegen-
L: A lavorare, sì.
L: Um zu arbeiten, ja.
G: A lavorare qui? Allora-
G: Um hier zu arbeiten? Also-
L:
L:
Era mastro muratore
G:
Sì sì. [.] E nell’edilizia
Er war Maurermeister in einer Fabrik, damals.
in una fabbrica, a ora. G:
Jaja. Im
lavorava allora, questo signore. [.] Che
Baugewerbe hat er also gearbeitet, die-
io al poi l’ho conosciuto qui. [.] Allora,
ser Herr. Den ich dann später hier ken-
e noi eravamo a A-città. Questo amico
nen gelernt habe. Also, und wir waren
di mio marito che lavoravano assieme,
in A-Stadt. Dieser Freund meines Man-
mio marito è sarto [.] lavoravano
nes, sie hatten zusammen gearbeitet,
assieme [.] tutti e due. Allora scriveva
mein Mann ist Schneider, sie hatten zu-
[.] ogni quindici giorni una lettera [.]
sammen gearbeitet, die beiden. Und so
di, e ci diceva: „Senti, vedi che qui si
schrieb er alle vierzehn Tage einen
lavora, c’è molto lavoro, si sta bene.“
Brief, und sagte uns: „Hör zu, schau wie sich’s hier arbeitet, es hat viel Arbeit, es geht einem gut.“
L: „Vieni.“
L: „Komm.“
G: „Vieni, vieni, vieni da noi. Vieni qui
G: „Komm, komm, komm zu uns. Komm
perché“ dice „io non ritorno più a, eh,
hierher weil“ sagte er „ich komme nicht
Ende gewesen sei und an welchen historischen Ereignissen sich dieses Kriegsende orientiere.
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a A-città, in Italia.“ Allora, mio marito
mehr zurück nach A-Stadt, nach Ita-
si ha messo in mente questo! Io, che
lien.“ Da hat sich mein Mann das in den
dovevo lasciare i miei figli [.] perché ho
Kopf gesetzt! Ich, die ich meine Kinder
saputo che i bambini non [.] potevo
hätte verlassen müssen, weil ich wusste,
portargli. Allora ho detto: „No, mi
dass ich die Kinder nicht mitnehmen
dispiace, io non vengo. [.] Io non voglio
kann. Also habe ich gesagt: „Nein, tut
lasciare i miei bambini.“ Allora lui
mir leid, ich komme nicht. Ich will
dice: „Ma senti, perché lì, io, lavoro ne
meine Kinder nicht verlassen.“ Also
avevo tanto.“ E lui lavorava, ma non lo
sagt er: „Aber hör mal, weil dort, ich,
pagavano. Perché, sa, dopo-guerra,
Arbeit hätte ich dort so viel.“ Und er
c’era un po’ di fame. Non si può dire [.]
hat ja gearbeitet, aber man hat ihn nicht
un anno dopo guerra, perché ci siamo
bezahlt. Weil, wissen Sie, Nachkriegs-
sposati noi a ’53. Però ancora c’era [.]
zeit, es gab ein bisschen Hunger. Man
niente.
kann nicht sagen, ein Jahr nach dem Krieg, weil wir ja im ’53 geheiratet haben. Aber immer noch gab es nichts.
(Transkript Rosetti 1, 17/9 – 17/29) Nach den häuslichen Pflichten in der Kindheit und den Kriegserinnerungen ist das nächste biographische Thema, das Gianna aufgreift, die eigene Familiengründung und die Suche nach einer gesicherten Existenz für die Familie. Sie erzählt kaum etwas dazu, wie sie und Lino sich kennen gelernt haben und zum Paar geworden sind, nur so viel, dass sie relativ jung war. Ihre Bemerkung, dass die Mutter fand, es sei mit 17 noch etwas früh, sich zu verloben, deutet zumindest darauf hin, dass es sich um eine ‚Liebesheirat‘ gehandelt hat, nicht um eine von den Eltern arrangierte Ehe. Auf meine Frage im zweiten Gespräch, wie sie sich kennen gelernt hätten, folgen kaum mehr Details dazu. Lino meint, man hätte sich halt gesehen, beim Tanzen zum Beispiel. Da die beiden nicht nur in derselben Stadt, sondern auch im selben Quartier aufgewachsen sind, liegt es relativ nahe, dass sie sich gekannt und ihre Freizeit, z.B. beim Tanzen, gemeinsam verbracht haben. Jedoch scheint es keine romantischen Episoden über das Kennenlernen zu geben, und es scheint für beide auch nicht begründenswert zu sein, dass es diese Geschichten nicht gibt. Denkbar ist, dass der Interaktionsrahmen des Interviews von Gianna und Lino als zu wenig intim betrachtet wird, um eine Liebesgeschichte zu erzählen. Dagegen spricht wiederum die Tatsache, dass auch die an ihre Enkelkinder gerichtete Lebensgeschichte keine romantische Anekdote zur Paarwerdung enthält. Wichtig ist dem Paar aber zu betonen, dass die Familiengründung in die Nachkriegszeit fiel. Diese Anmerkung bereitet den Boden für die Einführung der
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Migration als Handlungsoption zur Subsistenzsicherung der Familie. Es war, so betonen die Rosettis, der historische Kontext, der es ihnen in A-Stadt erschwerte, ein sicheres Einkommen für die junge Familie zu generieren. Und es war eben dieser historische Kontext, der dazu führte, dass die Rosettis migriert sind. Den Anstoß, überhaupt über eine Migration nachzudenken, lieferte ein Freund von Lino, welcher ursprünglich nur wegen seinem dort verunfallten Vater in die Schweiz reiste, dann aber relativ rasch entschied zu bleiben. In regelmäßigen Briefen zog er seinem zurückgebliebenen Freund in A-Stadt den Speck durch den Mund, indem er beschrieb, wie einfach sich in der Schweiz Geld verdienen ließ. Die Rosettis hatten sich zu diesem Zeitpunkt in ihrer Wohnung ein kleines Schneideratelier eingerichtet, ausgestattet mit einer Nähmaschine, welche Giannas Vater ihr als Mitgift mit in die Ehe gegeben hatte. Dort arbeiteten beide für eine Kundschaft aus der Nachbarschaft, die zwar Bedarf an Kleidern hatte – Kleider brauche man ja immer, wie Lino sagt –, aber kein Bargeld, um die in Auftrag gegebenen Stücke auch zu bezahlen. Lino deutet an anderer Stelle an, wie demütigend er es fand, immer wieder von Tür zu Tür zu gehen und nach dem ausstehenden Geld zu fragen23. Für Gianna war es mit ihrer guten Ausbildung nach wie vor auch möglich, ihren Beruf in Lohnarbeit für Schneiderateliers auszuüben. Und so war es zwar nicht so, dass die Familie Rosetti Hunger leiden musste, doch sah sich Lino mit einer Abhängigkeit von anderen konfrontiert, die ihm nicht behagte: G: E allora io, io lavoravo, ma non
hat uns nicht gereicht, weil ich bin
Ero, ora non lavoro più. Ehm, e allora
Schneiderin. War, jetzt arbeite ich nicht
non potevano bastare solo i miei soldi,
mehr. Ehm, und damals hat mein Lohn
allora c’erano i suo parenti, i genitori,
allein nicht gereicht, dann waren da
che l’aiutavano, a noi. Ci aiutavano. E
noch seine Verwandten, die Eltern, die
miei genitori che ci aiutavano. E questo
geholfen haben. Und meine Eltern, die
noi non lo volevamo, no. [.] Eh
uns geholfen haben. Und das wollten
L:
wir nicht, nein.
Non mi piaceva.
G:
G: Und damals hab ich gearbeitet, aber es
potevamo bastare, perché io sono sarta.
Allora lui dice a noi: „Io vado a fare il passaporto. [.] Sì, partiamo.“
L: G:
Das gefiel mir nicht. Also hat er zu uns gesagt: „Ich gehe den Pass machen.
23 Dieses Unbehagen mit dem Eintreiben von Schulden drückt Lino auch aus, als er die Arbeit der Steuereintreiber als unschön bezeichnet (Transkript Rosetti 2, 9/34f).
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Allora lui fa, va a [.] a denunciarsi per
Ja, gehen wir.“ Also macht er, geht er
fare il passaporto.
sich melden, um den Pass zu machen.
(Transkript Rosetti 1, 17/37 – 17/43) Lino konnte mit seiner Arbeit die vierköpfige Familie nicht ernähren, war abhängig von Ehefrau, Eltern und Schwiegereltern. Die vom Freund beschriebenen rosigen Verdienstmöglichkeiten in Bern und dessen direkte Aufforderung, doch auch in die Schweiz zu kommen, mochten in einer solchen Situation sehr verlockend erscheinen. Der Anknüpfungspunkt für die Migration ist im Falle der Rosettis also ein Freund. Sowohl Gianna wie auch Lino stammen aus Verhältnissen, die nicht typisch sind für die klassische Arbeitsmigration der armen, ländlichen Bevölkerungsschichten, für Familien oder ganze Dörfer, in denen eine Person nach der anderen in Form einer Kettenmigration das Zuhause verlässt und am neuen Ort an ein mehr oder weniger großes Netz von bereits bestehenden Beziehungen anknüpfen kann. Die Rosettis stammen aus städtischen Verhältnissen, Linos Familie war, wie Gianna sagt, relativ wohlhabend, und auch Giannas Familie ging es nicht schlecht. Keines der Geschwister hatte zu dem Zeitpunkt bereits eine Migration vollzogen – abgesehen von der Binnenmigration eines Bruders von Lino, der als Beamter in den Norden Italiens versetzt worden war. Obwohl in beiden Familien zwar vereinzelt migrierte Verwandte zu finden sind – ein Onkel resp. eine Tante, die nach Amerika gegangen sind –, handelt es sich beim Migrationsprojekt von Lino und Gianna doch um etwas Eigenständiges. Und wie sich im weiteren Verlauf der Gespräche zeigte, auch um eine Pioniermigration, welche in eine kleine Kettenmigration mündete: Den Rosettis folgten später mehrere Geschwister von Gianna in die Schweiz. Für Lino aber war dieser Freund in Bern, zusammen mit Linos Bestreben nach finanzieller Unabhängigkeit, die treibende Kraft hinter seiner Überlegung, A-Stadt zu verlassen. So fällte Lino die Entscheidung, in die Schweiz zu reisen. Wie in obiger Passage deutlich wird und eine informelle Nachfrage von mir bestätigt hat, hat Lino diese Entscheidung alleine gefällt, ohne dies sehr ausführlich mit Gianna zu besprechen. Bereits bei der Einführung der Option Migration in ihre Erzählung (siehe Zitat weiter oben) betont Gianna, dass sie nicht hinter dieser Entscheidung stand. Sie sagt dort, sie hätte gewusst, dass sie nicht zusammen mit ihren Kindern hätte in die Schweiz gehen können, und sie hätte sich nicht vorstellen können, die Kinder allein zurückzulassen. Ob sie dies tatsächlich schon so genau wusste, ist fraglich. Wichtig ist hier aber, dass Gianna damit betont, nicht aktiv an der Migrationsentscheidung beteiligt gewesen zu sein, und dass sie hier ihre Prioritätensetzung bezüglich der Kinder deutlich macht. Gianna ist also nicht
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begeistert vom Migrationsprojekt ihres Mannes, und sie unterstreicht ihre Meinung gegenüber seinem Entscheid im Interview zusätzlich dadurch, dass sie erzählt, wie sie seinen ersten Versuch, sich das notwendige Reisedokument zu verschaffen, sabotiert habe. G:
Allora lui dice a noi: „Io vado a fare il G: Also hat er zu uns gesagt: „Ich gehe den passaporto. [.] Sì, partiamo.“ Allora
Pass machen. Ja, gehen wir.“ Also
lui fa, va a [.] a denunciarsi per fare il
macht er, geht er sich melden, um den
passaporto.
Pass zu machen.
L:
In questura.
L: Aufs Polizeipräsidium.
G:
In questura, vengono i Carabinieri a
G: Aufs Polizeipräsidium, kommen die
casa. [.] Per [.] per chiedere perché
Polizisten nach Hause. Um zu fragen,
va a lavorare, perché non va a lavora-
ob er arbeiten geht oder nicht, wozu er
per che cosa sta facendo questo
diesen Pass machen lässt. Und so habe
passaporto. Allora io ho detto: „Eh, va
ich gesagt: „Eh, er geht arbeiten.“ Er
a lavorare.“ Lui m’aveva detto a me:
hatte mir vorher gesagt: „Du darfst
„Tu non devi dire che io vado a
nicht sagen, dass ich arbeiten gehe.“ [L.
lavorare.“ [L. lacht] Invece io, per
lacht] Ich hingegen, um ihn hier zu be-
lasciarlo lì, [.] ho detto: „Va a
halten, habe gesagt: „Er geht arbeiten.“
lavorare.“ Allora dice [.] e non hanno
Hab ich also gesagt, und sie haben den
dato il passaporto. Non glielo hanno
Pass nicht gegeben. Haben ihm keinen
dato. Poi ha continuato lui, dopo un
gegeben. Dann hat er weitergemacht,
anno [.] ha fatto di nuovo
nach einem Jahr, hat er’s wieder gemacht.
(Transkript Rosetti 1, 17/42 – 18/6) Es ist also nicht Gianna, welche die von ihren Eltern vorgelebte Handlungsoption des ‚Weggehens‘ aufgreift, um mit einer schwierigen Situation umzugehen, sondern es ist Lino, der gehen will. Damit ist es wiederum jemand anderes, der über Giannas Schicksal entscheidet. Waren es in der Kindheit die Eltern, ist es jetzt der Ehemann. Und wie Gianna in ihrer Herkunftsfamilie die ihr übertragenen familiären Pflichten bedingungslos erfüllte, die ihr zugewiesene Stellung zum Wohle der gesamten Familie akzeptierte, tut sie dies nun auch in ihrer eigenen Familie. Der Ehemann ist das Familienoberhaupt, und er entscheidet über die familiären Strategien. Doch obwohl Gianna sich nicht aktiv an der Migrationsentscheidung beteiligt, drückt sie in ihrer Erzählung doch ein Bewusstsein über eine kleine, beschränkte Handlungsmacht ihrerseits aus. Sie verweigert vorerst die Koopera-
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tion. Damit tritt Gianna erstmals in ihrer biographischen Erzählung als aktiv (wenn auch eher re-aktiv) handelndes Individuum auf. Durch die Bekanntschaft mit Lino, die Verlobung, Heirat und Familiengründung wird Gianna von einem Kind unter vielen im Schosse ihrer Familie zu einer eigenständigen Person, über die zwar nun ihr Ehemann entscheidet, dem sie aber auch etwas entgegenzusetzen weiß. Allerdings stellt sie seine Position als Familienoberhaupt nicht grundsätzlich in Frage – wozu sie durch die Tatsache, dass sie damals offenbar diejenige war, die das Geld nach Hause brachte, durchaus in der Lage gewesen wäre. Gianna betont aus der Retrospektive, dass sie damals schon gegen die Migration gewesen sei, weil ihr auch bewusst gewesen sei, dass eine Migration die räumliche Trennung der Familie bedeutete. Damit führt Gianna ein zentrales Element ihrer biographischen Selbstpräsentation ein, welches in der weiteren Erzählung zunehmend Gewicht erhält: familiäre Trennung und Wiedervereinigung. Vorerst bedeutete Trennung noch, dass Lino die Familie verließ, um in der Schweiz Arbeit zu suchen. Die Reise nach Bern und die Aneignung des neuen Lebensumfeldes Im Gesprächsverlauf nutze ich an dieser Stelle die Gelegenheit, Lino zu fragen, wie er in die Schweiz eingereist sei, mit der Absicht, ihn etwas aktiver in unser Gespräch mit einzubinden. Lino erzählt etwas unklar über seine Einreise, auch auf mehrmaliges Fragen meinerseits. Er scheint sich nicht so genau daran zu erinnern. Festhalten lässt sich, dass es dabei relativ wenig Schwierigkeiten gegeben zu haben schien. Lino hatte einen Bruder, der als Beamter in Norditalien lebte. Zuerst reiste er dorthin und traf sich mit seinem Freund aus Bern. Die beiden fuhren zusammen mit dem Zug an die Grenze. Sie hätten die Nacht in einem kleinen Bahnhof verbracht, irgendwo zwischen Domodossola und Brig, seien am nächsten Morgen mit dem ersten Zug weiter gefahren und hätten so den Einreisestempel bekommen. Lino erzählt, auch auf Nachfragen, nichts über eine grenzsanitarische Untersuchung oder sonstige Kontrollen an der Grenze, was recht außergewöhnlich ist. Denkbar ist, dass er offiziell als Tourist eingereist ist, als Besucher seines Freundes, und dass er deshalb keine speziellen Einreiseformalitäten erledigen musste. Erst in Bern, so sagt er, habe er ‚la visita‘ (die für ausländische Arbeitnehmende obligatorische medizinische Untersuchung, die in der Regel an der Grenze durchgeführt wurde) gemacht, bei einem privaten Arzt. Ob Lino den Arbeitsvertrag mit dem Herrenschneider Aeby schon vor der Einreise hatte oder erst in Bern abschloss, bleibt unklar. Was deutlich wird, ist, dass
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Lino die Stelle als durch den gemeinsamen Freund vermittelt betrachtet. Wie genau diese Vermittlung zustande kam, darauf geht er nicht ein. Die Schilderung von Linos Einreise in die Schweiz betont, gerade in ihrer Einfachheit und Unspektakularität, das Besondere, das Ungewöhnliche der Einreise und die Leichtigkeit, mit der es gelungen ist. Lino ist nicht zusammen mit Massen anderer italienischer Migranten in einem Sonderzug über die Grenze gereist und hat sich dort in die Schlangen zur grenzsanitarischen Untersuchung eingereiht. Nein, er hat den Behörden gewissermaßen ein Schnippchen schlagen können, ist nicht auf dem regulären Weg eingereist, sondern auf einem viel einfacheren, welcher ihm Unangenehmes erspart hat, ohne dass sich Lino dafür deviant hätte verhalten müssen. Diese Schilderung passt gut zum Bild, welches Lino in seinen Kriegserzählungen von sich gezeichnet hat: dem ein bisschen draufgängerischen, charmant-schlaufüchsigen, aber im Grunde gutmütigen, ja sogar etwas naiven Abenteurer. An diesem Punkt übernimmt Gianna wieder die Regie über den Gesprächsverlauf und erzählt, wie es dazu kam, dass auch sie in die Migration ging. In Bern angekommen, bestand Lino offenbar darauf, Gianna zu sich in die Schweiz zu holen, sobald er Arbeit und eine angemessene Unterkunft gefunden hatte. Bei seiner ersten Rückkehr nach Sizilien ein paar Monate später sollte Gianna mit ihm mitgehen. Gianna erwartete zu dem Zeitpunkt ihr drittes Kind. Auch zu dieser Entscheidung erzählt weder Gianna noch Lino in den Interviews viel; Gianna sagt lediglich, Lino sei sie holen gekommen. Denkbar wäre, dass Gianna mitverdienen sollte, um den Gewinn der Migration zu erhöhen. Denkbar wäre auch, dass Lino sich allein fühlte und mit seiner Ehepartnerin zusammen sein wollte, sie vielleicht auch in ihrer Schwangerschaft umsorgen wollte24. Oder aber, dass Lino jemanden brauchte, der ihn in der Migration in gewohnter Weise versorgte, für ihn kochte und putzte und seine Kleider wusch25. Es gibt im Ge-
24 Vgl. Fall Santo (Kapitel 2): Frau Santo blieb zunächst, ähnlich wie Gianna, mit ihren Kindern zurück in Sizilien, während ihr Mann als Saisonier nach Bern reiste. Im kommenden Jahr folgte sie ihrem Ehemann in die Migration, weil sie, wie sie sagt, unter der Trennung von ihm gelitten habe. Sie zog es also vor, in Gesellschaft ihres Mannes zu sein, und musste dafür ihr Kind auch vorerst einmal in Sizilien zurücklassen. 25 Vgl. Fall Morellini (Kapitel 6.7): Herr Morellini erzählt, dass er nach einer gewissen Zeit als Arbeiter in der Schweiz mit seinen Kollegen darüber gesprochen habe, dass es nun Zeit sei, eine Frau zum Heiraten zu suchen, damit er jemanden habe, der ihm den Haushalt führe. Ein Arbeitskollege habe ihn daraufhin mit einer ledigen Arbeiterin, der späteren Frau Morellini, bekannt gemacht.
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spräch einige Hinweise darauf, dass Lino die Versorgung durch Gianna sehr schätzte26. Als ich Gianna später informell noch einmal darauf anspreche, wie es war, schwanger zu migrieren, – Lino ist zu dem Zeitpunkt gerade nicht im Raum – sagt sie, dass er das damals so entschieden habe und sie es nicht hinterfragt habe. Lino sei zwar nie ein ‚padre padrone‘ gewesen wie andere Ehemänner, aber nichts desto trotz sei der Ehemann damals derjenige gewesen, der die Entscheidungen für die Familie gefällt habe. Ansätze zu eigenmächtigem oder reaktivem Handeln von Seiten Giannas fehlen in ihrer Schilderung hier ganz. Sie scheint seinen Willen zu akzeptieren und erwähnt in der Erzählung lediglich noch, wie die Unterbringung der Kinder organisiert wurde, damit sie überhaupt gehen konnte. Die beiden Kinder wurden zu Linos Eltern gebracht, und Lino reiste zusammen mit der sichtbar schwangeren Gianna in die Schweiz. Dank ihrer Schwangerschaft wurde das Paar an der Grenze nicht als neu einreisende Arbeitsmigrant/innen behandelt, die den Zug verlassen und die grenzsanitarische Untersuchung über sich ergehen lassen mussten. Die Erzählung von Gianna zu ihrer Einreise betont, wie erstaunlich leicht und unkompliziert sich die Grenzüberschreitung auch in ihrem Fall abgewickelt hat: G: Quando siamo arrivati alla frontiera [.] G: Als wir an die Grenze gekommen sind, loro hanno visto che c’erano gente
haben sie gesehen, dass es da oben
stranieri là sopra, ci hanno visto noi
Fremde hatte, haben sie uns beide gese-
due. Allora son’ venuti i poliziotti, dice:
hen. Also sind die Polizisten gekommen,
„Voi dovete scendere per passare la
haben gesagt: „Ihr müsst aussteigen,
visita.“ Lui, lui no, perché già aveva il
um die Untersuchung zu absolvieren.“
timbro. Non era necessario. Ma io sì.
Er nicht, er hatte ja schon den Stempel.
Allora mi dice che dobbiamo scendere,
Da war es nicht nötig. Aber ich schon.
prendere le valigie [.] di scarica, le
Also sagen sie mir, dass wir aussteigen
mette a terra del [.] del treno. Mentre io
müssen, die Koffer ausladen, sie auf den
scendo, si apre il mio palto- mio
Boden stellen müssen. Während ich aus-
mantello. Si apre. E allora si vede da
steige, öffnet sich mein Mantel. Öffnet
lontano che guardavano [.] io
sich. Und man sieht von weitem, haben
scendendo col piede per [.] quei gradini
sie zugesehen, wie ich über diese Stufen
che ci sono [.] si apre il mantello, e si
aussteige, sich der Mantel öffnet, und
26 Vgl. die Ausführungen von Lino zum schrecklichen Essen in Altersheimen (siehe weiter hinten), wie auch seine Anerkennung dafür, dass seine Frau ihm immer etwas Warmes vorgesetzt habe, auch wenn er erst spät nach Hause gekommen sei (die Lino im Rahmen der aufgeschriebenen Geschichte für die Enkelkinder explizit macht).
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vede il pancino. Questi ritornano [.]
man meinen kleinen Bauch sieht. Diese
allora prendono la mano di lui: „Scusi,
kommen zurück, nehmen seine Hand:
vero, scusi, scusi!“
„Entschuldigung, wirklich, Entschuldigung!“
E: Oh, veramente?
E: Oh, wirklich?
L: Mhm.
L: Mhm.
G: Sì! Ci hanno chiesto scusa, hanno preso G: Ja! Sie haben sich entschuldigt, haben
L:
le valigie, gli hanno messi là sopra,
die Koffer genommen, haben sie wieder
loro, tutto loro hanno fatto. „Mi scusi,
oben verstaut, alles haben sie gemacht.
Signora, vero, se mi scusi.“ Però, io
„Tut mir leid, Signora, wirklich, ent-
non sapevo perché! [lacht] Dopo siamo
schuldigen Sie bitte.“ Aber ich wusste
arrivati a Berna, e abbiamo raccontato
gar nicht warum! [lacht] Dann sind wir
a questo amico di mio mari-
nach Bern gekommen, und haben’s diesem Freund meines Ma-
Perché non poteva lavorare, lei. L:
Weil sie nicht arbeiten konnte.
E: Mh, ah sì!
E: Mh, ah ja!
G: Abbiamo raccontato a questo amico, e
G: Haben wir’s diesem Freund erzählt, und
la moglie, quello c’era successa alla
seiner Frau, was an der Grenze passiert
frontiera. Perché tutti passano la visita,
war. Weil alle die Untersuchung absol-
e io no! Allora lui ha detto: „E stato un
vierten, und ich nicht! Und er hat ge-
[.] un miracolo, questo per Lei“, mi
sagt: „Das war ein Wunder, für Sie“,
diceva a me. Dice: „E stata fortunata.“
sagte er mir. „Sie haben Glück gehabt.“
Dico: „Ma perché?“ Perché non
Und ich sage: „Aber warum?“ Ich wus-
sapevo, sa, la prima volta che uscivo di
ste es nicht, wissen Sie, das erste Mal
A-città, [.] allor- e poi vedendo quella
dass ich aus A-Stadt raus war, und dann
neve che non l’avevo mai vista, la neve.
dieser Schnee, ich hatte doch noch nie
Allora dice: „Sì, perché“ dice „a Lei Le
Schnee gesehen. Und er sagte: „Ja, weil
fanno subito il timbro se cerca lavoro.
Ihnen werden Sie den Stempel sofort
[.] Perché“ dice „è passata, no.“
machen, wenn Sie Arbeit suchen. Weil
Allora, infatti, dopo tre giorni [.] io ho
Sie ja [durch die Grenzuntersuchung]
trovato lavoro!
durchgekommen sind, nicht.“ Und tatsächlich, nach drei Tagen habe ich Arbeit gefunden!
(Transkript Rosetti 1, 18/25 – 19/5) Fast schon naiv schildert Gianna sich selbst während ihrer Einreise in die Schweiz, zum ersten Mal außerhalb ihrer Geburtsstadt. Ihr sei nicht bewusst ge-
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wesen, warum sie den Zug hatte verlassen müssen – nämlich um das für Arbeitsmigrant/innen übliche, sehr unangenehme Einreiseprozedere mit Registrierung und grenzsanitarischer Untersuchung über sich ergehen zu lassen. So verstand sie auch nicht, warum sie dann wieder in den Zug begleitet wurde, warum man sich derart bei ihr entschuldigt hatte und warum die Freunde in Bern der Meinung waren, sie hätte großes Glück gehabt und jetzt die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung bereits auf sicher. Lino merkt knapp und undramatisch an, warum das Paar bei der Einreise so behandelt wurde: Weil Gianna schwanger war, wurde sie von den Grenzwächtern als nicht arbeitsfähig oder arbeitswillig eingestuft, und somit als Person klassifiziert, die nicht den üblichen Einreisebestimmungen für italienische Arbeitskräfte unterlag. Dass Gianna aber genau deswegen von Lino in die Schweiz geholt wurde, nämlich dass sie auch arbeitete und damit zum Familieneinkommen beitrug, und dass sie auch sofort eine Arbeit fand, trotz sichtbarer Schwangerschaft – und zwar notabene nicht bei einem Schweizer Arbeitgeber, sondern bei einem mit italienischer Staatsbürgerschaft, der ein Schneideratelier in Bern betrieb – deute ich als Ausdruck eines ideologischen Unterschiedes. Während für die einen eine schwangere Frau nicht arbeiten kann und auch nicht arbeiten soll, ist es für die anderen eine nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit, dass Schwangere genau gleich arbeiten können und müssen wie jede/r andere auch, wenn sie die Gelegenheit dazu, sprich eine bezahlte Arbeit haben27. Ich gehe davon aus, dass es sich hier nicht in erster Linie um einen kulturellen Unterschied zwischen Italien und der Schweiz handelt, sondern um eine wohlstands- und schichtspezifische Sichtweise auf die Arbeitstätigkeit von Frauen. Die bürgerliche Vorstellung, dass Mütter nicht arbeiten, sondern ihre Kinder betreuen sollen, bedingt zuallererst ökonomische Sicherheit. Und diese war bei den Rosettis noch nicht gegeben. Gianna fand in Bern sehr rasch Arbeit im Schneideratelier eines Italieners, und wie sie sagt, fragte dort niemand nach ihrer Schwangerschaft resp. stellte ihre Arbeitsfähigkeit in Frage, bis das Kind geboren wurde. Nach der Geburt erhielt sie das Angebot, in Heimarbeit weiter zu arbeiten. Sie nahm dieses Angebot dankbar an, denn, wie sie erzählt, machte es insbesondere in dieser frühen Phase der Migration Sinn, dass beide verdienten. Die Rosettis hatten sich verschuldet, um die Reise bezahlen und die erste Zeit in der Migration überbrücken
27 In dieselbe ideologische Unterscheidung sind die Bedenken eines Berner Arbeitgebers einzureihen, dass italienische Fabrikarbeiterinnen zu wenig lange Mutterschaftsurlaub bezogen hätten, ihre Kinder viel zu früh und zu oft in fremde Hände gegeben hätten (Soom/Truffer 2000: 133).
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zu können, und diese Schulden mussten nun erst einmal zurückbezahlt werden28. Auch die Möglichkeit einer externen Betreuung des Babys wurde in Betracht gezogen, Lino hatte sogar ein Inserat in die Zeitung setzen lassen, doch darauf hin hatte sich lediglich eine Nonne gemeldet, welche das Kind die ganze Woche über in ihrer Institution aufgenommen hätte, Montagmorgen bis Freitagabend. Gianna wollte ihr Kind aber nicht so lange fremd betreuen lassen, und so entschied sie sich dafür, zu Hause zu arbeiten, so viel eben möglich war. Ihr Beruf als Schneiderin ermöglichte ihr dies, ihr Arbeitgeber, selber gerade Vater geworden, gab ihr Arbeiten mit nach Hause, die sie erledigen konnte, wann es ihr ging. Mit dieser Anmerkung macht Gianna ein erstes Mal explizit klar, dass ihr die persönliche Betreuung ihrer Kinder wichtiger war als die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Mehrmals verdeutlicht sie in der Folge, dass sie lieber weniger gearbeitet habe, ja sogar einmal auch einen Stellenverlust riskiert habe (siehe weiter unten), als dass sie ihre Kinder unbetreut gelassen oder über längere Zeit hätte fremd betreuen lassen. Die Zeichnung dieses Bildes – Gianna als liebende und sorgende Mutter, die zwar zum Einkommen der Familie beiträgt, aber nicht um den Preis der Vernachlässigung ihrer Kinder – wurde, so meine These, bereits vorbereitet durch die Schilderungen der Haushalts- und Kinderbetreuungsorganisation in ihrem Elternhaus. Gianna macht zwar ihrer Mutter keine Vorwürfe und grenzt sich nicht explizit ab von den Gepflogenheiten in ihrer eigenen Kindheit. Dennoch lese ich die Betonung der Wichtigkeit dieser Werte für Gianna in Kontrast zu ihren Erfahrungen in der Kindheit. Das biographische ‚Trauma‘: Familientrennungen und -zusammenführungen Die Migration, die Erstintegration in den Arbeitsmarkt und die Organisation des Erwerbslebens mit der Babybetreuung erscheinen in Giannas Erzählung erstaunlich leicht und kaum mit unangenehmen oder bedrohlichen Situationen verbunden. Was aber zunehmend zur Belastung und zwischenzeitlich auch zu einer
28 Lino hat sich bei einer Familie in A-Stadt, welche auch in der Nachkriegszeit über Geld verfügte, 100 000 Lire geliehen, die er mit einem Zinssatz von zehn Prozent zurückzahlen musste. Die Rosettis können, auf meine Nachfrage hin, nicht sagen, ob es üblich war unter Migrant/innen, Schulden zu machen. Sie hätten es so gemacht, wie andere das gemacht hätten, wüssten sie nicht. Gianna betont, dass es sich bei den Geldgebern nicht um Wucherer gehandelt habe, sondern um anständige Leute und eine faire Abmachung.
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akuten Bedrohung für sie wurde, war die Trennung von ihren beiden anderen Kindern. Die Erzählsequenz, in der Gianna über die in Italien zurückgelassenen Kinder spricht, beginnt ganz routiniert und alltäglich, steuert dann aber auf eine höchst dramatische Klimax hin. Gianna knüpft ihre Geschichte dort an, wo sie sich entschieden hatte, ihr in Bern geborenes Baby selber zu betreuen und nebenbei so viel wie eben möglich zu Hause zu arbeiten. Dann erwähnt sie – und damit beginnt die folgend zitierte Passage –, dass sie ihre Kinder, die sie in Sizilien zurücklassen musste, regelmäßig besucht habe. Mit dem Satz „Und dann das Baby“ greift Gianna eine Erzählung auf, die sie dann aber noch durch ein paar Vorbemerkungen in den richtigen Kontext setzen muss: G: E così [.] è passato il tempo, io andavo
G: Und so ist die Zeit vergangen, ich habe
tutti gli anni a trovare i miei figli, due
all die Jahre meine Kinder besucht, zwei
volte all’ anno. [.] L’estate, e poi per
Mal im Jahr. Im Sommer, und dann an
natale. E passarla assieme. Poi il
Weihnachten. Haben wir gemeinsam
bambino, o poi c’era la moglie dello
verbracht. Und dann das Baby, dann
chef di mio marito, che mi diceva:
war da die Ehefrau des Chefs meines
„Signora Rosetti [.] ma Lei perché non
Mannes, die mir sagte: „Frau Rosetti,
chiede se ci dann- se Le fanno portare
warum fragen Sie nicht, ob Sie auch die
anche la bambina qui?“ La
Tochter hierher holen können?“ Das
femminuccia. Dico: „Maaa [.] tutti mi
Mädchen. Ich sagte: „Aber alle sagen
dicono che è proibito portare i bambini
mir, es sei verboten, die Kinder aus Ita-
qui [.] dall’Italia, se non passano un
lien hierher zu holen, bevor ein paar
paio d’anni. Se dovevano pass-
Jahre vergangen sind. Es müssen zwei-
dovevano passare due anni e mezzo.“
einhalb Jahre vergehen.“
L: Tre anni, quasi.
L: Drei Jahre fast.
G: Prima di portare i bambini qui. E
G: Bevor man die Kinder herholen konnte.
quello, io soffrivo tanto. [.] Io soffrivo
Und ich habe so sehr gelitten. Ich habe
tanto ho preso l’esaurimento. [.]
so sehr gelitten, dass ich einen Nerven-
Depressione.
zusammenbruch hatte. Depression.
E: Mhm.
E: Mhm.
G: E ho avuto una forte depressione. [..]
G: Und ich hatte eine starke Depression.
Perché non avevo i miei bambini. [.]
Weil ich meine Kinder nicht hatte. Und
Allora, [.] poi [.] la signora mi diceva:
deshalb hat die Signora zu mir gesagt:
„Signora, forse Lei starà meglio dopo,
„Vielleicht würde es Ihnen besser ge-
quando ci avrai tutti i Suoi bambini
hen, wenn Sie alle Ihre Kinder hier hät-
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qui.“ Eh, dico: „Sì, Signora, ma se non
ten.“ Und ich sagte: „Ja, aber wenn sie
mi danno il permesso?“ „Lei ci vada,
mir die Erlaubnis nicht geben?“ „Ge-
lei ci vada.“ Allora, lo diceva a lui, lui
hen Sie hin, gehen Sie hin.“ Also hab
diceva: „E non credi che fanno
ich’s ihm gesagt, er sagte: „Und glaubst
opposizione per questo piccolo che
du nicht, dass sie Opposition machen
abbiamo qui?“ Dico: „No, la Signora
wegen dem Kleinen, den wir hier ha-
Aeby“, si chiama Aeby la [.] la chef [.]
ben?“ Sagte ich: „Nein, die Frau
dove lui lavorava, „la Signora Aeby
Aeby“, sie heißt Aeby, seine damalige
m’ha detto a me che la, che forse me la
Chefin, „die Frau Aeby hat mir gesagt,
fanno portare la femminuccia.“
dass sie mich vielleicht das Mädchen
„Allora“ dice, „senti. Puoi andare. Vai.
holen lassen.“ „Also“ sagte er „du
Vai alla [.] alla polizia.“
kannst gehen. Geh. Geh zur Polizei.“
L: A ,Fremdpolizei‘.
L: Zur Fremdenpolizei.
G: Sì, alla polizia di stranieri. „Eh, e
G: Ja, zur Fremdenpolizei. „Eh, und frag.“
chiedi.“ Sono andata [..] e loro
Ich bin gegangen, und sie haben mir ge-
m’hanno detto [.] hanno preso tutto il
sagt, haben alle unsere Dokumente ge-
documento [.] nostro. Dice: „Signora,
nommen. Haben gesagt: „Sie haben hier
[.] Lei ci ha un bambino.“ Dico: „Sì,
ein Kind.“ Ich sagte: „Ja, es ist hier ge-
mi è nato qui.“ Io, naturalmente,
boren.“ Ich dachte natürlich, wenn es
perché nascendo qui, per me, poteva
hier geboren ist, kann es bleiben. „Ah
stare. „Ah no.“, dice, „Questo
nein.“ sagten sie „Dieses Kind müssen
bambino, Lei deve portarlo in Italia.“
Sie nach Italien bringen.“
E: No!
E: Nein!
G: Mammamia, se mi davano [.] mi
G: Meine Güte, wenn Sie mir ein Messer
mettevano il coltello nel cuore, [.] io
ins Herz gestoßen hätten, ich hätte es
l’accettavo meglio.
besser hingenommen.
(Transkript Rosetti 1, 20/19 – 20/44) In dieser Episode verändert sich die Art, wie Gianna sich als Akteurin präsentiert: Sie wird hier in ihrer Geschichte zur aktiv Handelnden – wenn auch nicht völlig autonom handelnd, sondern dazu angeleitet von einer weiteren Person, und erst nachdem Lino ihr die Erlaubnis dazu erteilt hat. Und ihre Aktivität wird nicht mit Erfolg belohnt, sie muss vorerst einmal einen herben Misserfolg verzeichnen. Gianna führt die Person der Frau Aeby in ihre Geschichte ein, die sie dazu ermutigt habe, in Sachen Familiennachzug aktiv zu werden. Es schien allen klar zu sein, dass die Wiedervereinigung mit den Kindern Giannas Depression gut
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tun würde – nicht nur für Frau Aeby und Gianna, wie wir weiter unten sehen werden. Gianna fragte ihren Ehemann um Rat, und dieser wies – in fast schon orakelhafter Vorwegnahme des später eintretenden Unglücks – darauf hin, ob ein solcher Vorstoß nicht den Aufenthalt des hier geborenen Kindes bedrohen könnte, gab aber doch seine Erlaubnis, und zwar nachdem Gianna deutlich gemacht hat, dies geschehe auf Empfehlung von Frau Aeby, der Gattin von Linos Chef, zu dem dieser eine enge, respektvolle Beziehung pflegte. Dass Gianna Lino um Erlaubnis bat, bei der Fremdenpolizei vorzusprechen, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass es Lino ist, welcher die Entscheidungsgewalt in der Familie innehat (vgl. Migrationsentscheidung). Gianna ist zwar die Hauptakteurin in dieser Geschichte, sie ist es, welche aktiv wird und zu den Behörden geht, aber dadurch, dass sie Lino als eine weitere Beurteilungsinstanz in ihre Geschichte einbaut, macht sie deutlich, dass sie dies nur mit dem Einverständnis ihres Mannes tat. Damit kann sie sich allerdings auch von der Schuld über die Konsequenzen ihres Handelns entlasten. Zudem baut sie in den Bedenken von Lino das spannungssteigernde Element der Vorwegnahme des schlechtest möglichen Ausgangs der Geschichte mit ein, zeichnet gewissermaßen schon vor, wozu ihre Handlung unter Umständen führen könnte. Vorläufig aber zeichnet sich Gianna als weiterhin zuversichtlich, auf die Empfehlung der Frau Aeby vertrauend. So ging Gianna also zur Behörde mit dem bezeichnenden Namen ‚Fremdenpolizei‘, einer städtischen Behörde, welche der sog. ‚Einwohnerkontrolle‘ (heute – politisch korrekter – in ‚Einwohnerdienste‘ umbenannt) angegliedert ist. Diese Behörde ist zuständig für Ausstellung und Kontrolle von Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen bei Personen mit nicht-schweizerischer Staatsangehörigkeit, welche als Einwohner/innen der Gemeinde gemeldet sind. In dieser Funktion ist das Amt auch zuständig für die Umsetzung von migrations- und integrationspolitischen Weisungen im individuellen Fall. Zu dem für diese Geschichte relevanten Zeitpunkt, den frühen 1960er Jahren, waren diese Weisungen noch wenig präzis. Die Schweizer Migrationspolitik29 hatte sich in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg darauf konzentriert, der Wirtschaft die dringend benötigten Arbeitskräfte ohne größere Hindernisse zugänglich zu machen. Reguliert wurde der Bezug von Arbeitskraft im benachbarten Ausland vor allem insofern, als dass die einheimischen Arbeitskräfte dadurch nicht benachteiligt
29 Zu umfassenden Analysen der Schweizer Migrationspolitik siehe z.B. Wicker et al. 2003, darin insbesondere Mahning/Piguet 2003; für die Perspektive der nationalen Behörden siehe Hirt 2007, für die Sicht der Behörden in der Stadt Bern siehe Soom/Truffer 2000.
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werden sollten. Regelungen für Bereiche außerhalb der Arbeitswelt wurden über lange Zeit als nicht notwendig erachtet. Was auch nicht weiter erstaunt, wenn man bedenkt, dass alle Beteiligten vom Modell einer temporären Arbeitsmigration ausgingen. Und so sah man es auch als unnötig an, den nicht arbeitstätigen Familienangehörigen von Arbeitsmigrant/innen den Aufenthalt in der Schweiz zu gestatten. Dem entsprechend waren in den frühen 1960er Jahren die konkreten Vorgaben an die Beamten auf der Ebene der umsetzenden Behörden, wie z.B. der Fremdenpolizei, über lange Zeit recht vage (siehe dazu Hirt 2007: 174f). Dies wiederum eröffnete den Beamten ein relativ großes Spektrum an Handlungsmöglichkeiten im konkreten Fall (siehe dazu z.B. Soom/Truffer 2000). Bedenkt man, dass die Beamten wenig konkrete Vorgaben hatten und dass ihr Ermessensspielraum dementsprechend groß war, erscheint der Ratschlag von Frau Aeby durchaus nachvollziehbar, dass ein Nachfragen bei der Fremdenpolizei Aussichten auf Erfolg haben könnte, obwohl die offizielle Frist für die Einreise von Familienangehörigen drei Jahre Aufenthalt voraussetzte. Insbesondere auch Arbeitgebende, welche in größerem Rahmen auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen waren, resp. sich vornehmlich für solche Arbeitskräfte interessierten, waren mit der Zeit recht geübt im Umgang mit den Beamten der Fremdenpolizei30. Und der kleine Betrieb des Kostümmachers Aeby hat fast ausschließlich auf italienische Angestellte gebaut. So ist davon auszugehen, dass Herr und Frau Aeby eine gewisse Erfahrung im Umgang mit der Fremdenpolizei hatten. Als Gianna aber ihre Papiere auf der Fremdenpolizei präsentierte, stellten die Beamten fest, dass bereits ein Kind bei den Rosettis lebte, ein Kind, das über eine italienische Staatsbürgerschaft verfügte und durch seine Geburt in Bern nicht automatisch ein Aufenthaltsrecht erworben hatte. Deshalb musste es nach Italien zurückgeschickt werden: E l’ho dovuto portare, a nove mesi l’ho
Und ich musste ihn zurückbringen, mit neun
dovuto portare in Italia. E così sono rimasta Monaten musste ich ihn nach Italien brinsenza bambini. Lì ho preso la depressione
gen. Und so bin ich ohne Kinder geblieben.
ancora più forte. Sono stata tre mesi al letto Da habe ich eine noch stärkere Depression [.] perché io avevo nessun’ bambino più
bekommen. Ich bin drei Monate im Bett
30 Im Rahmen der Interviews mit italienischen Arbeitnehmer/innen und mit Berner Arbeitgebern, welche der Studie Soom/Truffer 2000 zu Grunde liegen, hatte sich dieser Aspekt immer wieder gezeigt: Wenn italienische Arbeitskräfte Schwierigkeiten mit den Behörden (z.B. der Fremdenpolizei) hatten, fungierten sehr häufig die Arbeitgeber resp. die direkten Vorgesetzten als Vermittlungspersonen.
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con me. Io preferivo su-, preferivo di
gewesen, weil ich kein einziges Kind mehr
sacrificarmi, di lavorare più, ma avere i
bei mir hatte. Ich hätte es vorgezogen mich
bambini con me.
zu opfern, mehr zu arbeiten, aber dafür meine Kinder bei mir zu haben.
(Transkript Rosetti 1, 21/5 – 21/8) Das Bild von Gianna als Mutter, die für ihre Kinder alles tun würde, was in ihrer Handlungsmacht steht, wird hier noch einmal gefestigt. Allerdings ist diese Handlungsmacht in Giannas Ermessen offenbar immer noch sehr begrenzt. Die Aussage des Beamten scheint genügend Autorität auszustrahlen, und Gianna gehorcht. Sie zieht es nicht in Erwägung, die ihr von außen gesetzten Grenzen zu überschreiten und nach anderen Lösungen zu suchen. Das Kind illegal hier zu behalten, es zu verstecken, war keine denkbare Alternative. Die Frage ist, was denn für Gianna denkbar gewesen wäre, konkret: Wie hätte sie sich noch mehr aufopfern können? Was hätte ihr mehr Arbeit gebracht? Am wahrscheinlichsten erscheint hier das Szenario einer Rückkehr nach A-Stadt, wo das Ehepaar Rosetti zwar seine Kinder bei sich hätte haben können, wo aber unsicher gewesen wäre, ob die Rosettis genügend Kundschaft hätten finden können, welche ihre Schneideraufträge dann auch hätte bezahlen können. Die Rosettis hätten also den guten Schweizer Lohn aufgeben müssen für eine Arbeitssituation, die nicht einzuschätzen war, wo aber zu erwarten war, dass sie mit viel Arbeitseinsatz und vielen Opfern verbunden gewesen wäre. Die These, dass Gianna hier eine Remigration im Hinterkopf hatte, findet in der Fortsetzung der Geschichte eine wietere Bestätigung. Das in Bern geborene Kind musste also zurück nach Sizilien. Rein organisatorisch war es offenbar nicht allzu schwierig, das Kind dort unterzubringen. Nachdem die beiden größeren Kinder bei ihren Großeltern väterlicherseits lebten, boten sich nun die Großmutter und Tante mütterlicherseits an, das dritte Kind bei sich aufzunehmen. Der Entzug der Kinder führte aber offenbar zu ernsthaften gesundheitlichen Problemen bei Gianna. Nicht nur die Personen in ihrem Schweizer Umfeld wie z.B. Frau Aeby schienen zu bemerken, dass Gianna litt und dass die Ursache für ihr Leiden die Trennung von den Kindern war. Auch die Verwandten in Italien bemerkten es und taten viel, um Giannas Gemütsverfassung zu bessern: G: Venivano [.] eh, una volta veniva [.]
G: Sie kamen, eh, einmal kam seine
sua sorella. La maestra. Quando aveva
Schwester. Die Lehrerin. Als sie Ferien
le vacanze. Mi portava i bambini.
hatte. Sie brachte mir die Kinder. Und
Quando, poi scriveva tutte le settimane
dann schrieb sie wöchentlich Briefe,
D AS E HEPAAR ROSETTI
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lettere, [.] mandando fotografie dei
schickte Fotos der Kinder. Dann kam
bambini. Poi veniva mia sorella. [.] A
meine Schwester. Um mir die Kinder zu
portarmi i bambini, stavano due, tre
bringen, sie blieben zwei, drei Monate,
mesi, [.] il tempo che potevano stare.
solange sie bleiben konnten. Manchmal
Qualche volta veniva mia madre, [..]
kam meine Mutter, -
L: Spesso, tua mamma.
L: Oft, deine Mutter.
G:
G:
Mamma spesso. Mia mamma. Sua mamma invece è
Mutter oft. Meine Mutter. Seine Mutter hingegen kam als–
venuta quando- e suo padre [.] son’
und sein Vater, kamen als ich das
venuti quando mi è nato l’ultimo
jüngste Kind geboren habe. Das hier
bambino. Che mi è nato qui. Sì.
geboren ist. Ja.
(Transkript Rosetti 2, 27/30 – 27/36) Ein erstaunlicher Aufwand, den die Verwandten in Sizilien hier geleistet haben, um Gianna die Trennung von ihren Kindern leichter zu machen, und vermutlich auch mit nicht unwesentlichen Kosten verbunden für die Reisen und die Briefporti. Trotzdem scheint sich Giannas gesundheitliche Situation nicht zu verbessern. Gianna definiert ihr Leiden als „Depression“, und ich frage sie an anderer Stelle, ob sie etwas dagegen unternommen habe, einen Arzt aufgesucht zum Beispiel. G: Sìsììì, [.] sììì, sììì, giravo tanti dottori.
G: Jajaaa, jaa, jaa, ich habe viele Dokto-
Tanti ne ho girato, i dottori. [.] Ma
ren abgeklappert. So viele habe ich ab-
quasi [***] nessuno capiva la
geklappert, von den Doktoren. Aber so
depressione. Quasi nessuno. [.] Mi
gut wie keiner hat die Depression ver-
dicevano che era una grande influenza.
standen. So gut wie keiner. Sie sagten
‚Grippe‘. Allora la curavano per
mir, es sei eine große Influenza. Grippe.
‚Grippe‘. Poi invece ad A-città, [.] io,
Also haben sie auf Grippe behandelt.
mia suocera, perché noi eravamo ospiti
Aber dann in A-Stadt hat meine Schwä-
da mia suocera perché lei aveva una
gerin, denn wir waren bei meiner
casa grande. Loro sta-, sono stati
Schwägerin zu Gast, weil sie ein großes
sempre bene finanziariamente. Perché
Haus hatte. Ihnen ging es finanziell im-
la sorella è maestra, e lei guadagnava
mer gut. Weil die Schwester Lehrerin
ogni mese. Era con la mamma, viveva
ist, und sie verdiente jeden Monat. Sie
con la mamma. La mamma aveva la
war mit der Mutter, lebte mit der Mut-
pensione del marito, due pensioni del
ter. Die Mutter hatte die Pension des
marito, una dell’invalidità, di guerra,
Ehemannes, zwei Pensionen des Ehe-
una dell’eh
mannes, eine von der Invalidität, vom
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Krieg, und eine vom eh E: G:
Dello stato. lo stato. Eeh, e allora
E:
Vom Staat.
G:
vom
vivevano bene. [.] E ci avevano una
Staat. Eh, und somit ging es ihnen gut.
casa bella, grande, si stava bene lì, e
Und sie hatten ein schönes Haus, groß,
lei era contenta che portavo i nipoti, [.]
es lebte sich gut dort, und ihr gefiel es,
eeh, [.] e così [.] mia suocera ha visto
dass ich die Enkel brachte, eh, und so
che io non [.] non stavo tanto bene,
hat meine Schwägerin gesehen, dass es
dice: „Senti [.] a me non mi piace come
mir nicht so gut ging, sagte sie: „Hör
tu [.] stai.“ Dice: „Andiamo da un
mal, mir gefällt nicht, wie es dir geht.“
professore.“ E mi ha curato un
Sagte sie: „Gehen wir zu einem Profes-
professore ad A-città, [.] ed è [.] per la
sor.“ Und so hat mich ein Professor in
depressione. E lui m’ha detto:
A-Stadt behandelt, und zwar auf die De-
„Signora, se c’è qualcosa, [.] anche
pression. Und er hat mir gesagt: „Wenn
che Lei è in Isvizzera, se c’è qualcosa
etwas ist, auch wenn Sie in der Schweiz
che non va, qualche pillola“, perché
sind, wenn etwas nicht geht, irgendeine
loro m’ha dato tante pillole, tante cose,
Pille“, weil die hatten mir so viele Pil-
punture, [.]„Lei mi telefona, [.] me lo
len gegeben, so viele Sachen, Spritzen,
dice se si sente bene, come si sente“, [.]
„und Sie rufen mich an, sagen mir, ob
e io mi curavo [.] per via telefono.
Sie sich gut fühlen, wie Sie sich fühlen“, und so habe ich mich übers Telefon behandelt.
(Transkript Rosetti 2, 26/28 – 27/2) Gianna hatte also intensiv nach Hilfe gesucht, hatte aber Behandlungen erhalten, die nichts mit der Ursache ihres Missbehagens zu tun hatten. Ob dies mit der Ignoranz der Ärzte oder mit der Art der Schilderung ihrer Symptome zu tun hatte, lässt sich aus der Erzählung nicht rekonstruieren. Unklar ist auch, wann und von wem genau die Diagnose Depression gestellt worden ist. Zentral erscheint mir hier, dass Gianna für ihr Leiden nur in Italien Verständnis und Hilfe gefunden hat. Gianna könnte für spätere Situationen daraus lernen, dass sie sich mehr auf ihren Herkunftsort verlassen kann als auf ihren Aufenthaltsort, was die Bearbeitung schwieriger Lebensphasen anbelangt. Dies bestätigt sich in der Folge nur teilweise: Es trifft zu, dass Gianna in schwierigen Phasen daran zu denken beginnt, wie es wäre, nach Italien zurückzukehren. Das Vertrauen in das Schweizer Gesundheitssystem scheint aber keine grundsätzlichen Einbußen erlitten zu haben. Dass die Tatsache, dass Gianna bei den Schweizer Ärzten kein Verständnis gefunden hatte für ihr Problem, etwas mit der Sprache zu tun haben könnte,
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wie ich frage, verneint sie dezidiert. Einerseits habe sie sich in der Schweiz Ärzte gesucht, die italienisch sprachen, und andererseits habe sie auch ein bisschen Hochdeutsch gelernt. Sprache scheint also nicht das Problem gewesen zu sein. Kehren wir zurück zur Geschichte über die Trennung von den Kindern: Poi son’ passati questi anni che dovevano
Dann sind die Jahre vergangen, die verge-
passare, questi due- [.] son’ passati due
hen mussten, diese zwei-, es sind uns zwei-
anni e mezzo, a noi. Allora io andavo alla
einhalb Jahre vergangen. Und so bin ich
polizia, sempre a chiedere, eh. E la polizia
zur Polizei gegangen, um wieder zu fragen.
poi m’ha detto: „Va bene, Signora“ dice
Und da hat mir die Polizei gesagt: „Ist in
„Lei come combinare col appartamento?“
Ordnung“, sagten sie, „und wie machen Sie
Io ho detto: „L’abbiamo“, perché
das mit der Wohnung?“ Ich hab gesagt:
abitavamo qui vic-, accanto. Due camere e
„Wir haben eine.“, denn wir wohnten hier
mezzo. [.] Quella volta era difficile trovare
in der Nähe. Zweieinhalb Zimmer. Damals
appartamenti. Il lavoro si trovava
war es schwierig, Wohnungen zu finden.
facilmente. Ma gli appartamenti [.] niente.
Arbeit fand man leicht. Aber Wohnungen,
Oggi, si trova gli appartamenti, ma lavoro
nichts. Heute findet man Wohnungen, aber
niente. [L. lacht] Eh! [E. lacht] E così.
Arbeit, nichts. [L. lacht] Eh! [E. lacht] So
Allora [.] io ho detto, dico: „C’ho due
ist das. Also hab ich gesagt: „Ich habe
camere e mezzo.“ Dice: „Va bene, va.“ e
zweieinhalb Zimmer.“ Sagten sie: „Gut, das
hanno dato il permesso per portare i
geht.“, und haben mir die Erlaubnis gege-
bambini. All’estate siamo andati, abbiamo
ben, die Kinder zu bringen. Im Sommer sind
portati i bambini qui. Tutte le scuole pronte
wir gegangen, haben die Kinder hierher
e tutto, la ‚Krippa‘ per [.] per il bambino
gebracht. Alle Schulen bereit und alles, die
perché ormai aveva due anni, il bambino.
Krippe für den Kleinen, weil er jetzt schon
Quando l’ho portato qui. Di nuovo.
zwei war, der Junge. Als ich ihn hierher gebracht habe. Von neuem.
(Transkript Rosetti 1, 21/9 – 21/18) Nachdem also die vorgeschriebene Frist verstrichen war, wird Gianna wieder aktiv, und diesmal mit Erfolg: Die Aufenthaltserlaubnis für die Kinder wird erteilt. Dass bei dem Gespräch auf der Fremdenpolizei, welches Gianna in die Geschichte mit einbaut, der Fokus relativ stark auf dem Thema Wohnung liegt, erfüllt hier die Funktion, eine weitere Komplikation vorweg zu nehmen. Vorerst aber verweilt Gianna noch beim Nachzug der Kinder. Die Rosettis investierten einiges, um ihren Kindern die Angewöhnung an die neue Umgebung zu erleichtern. Alles wurde im Detail vorbereitet: Krippe, Kindergarten und Schule (der älteste Sohn war bereits acht Jahre alt) wurden kontaktiert, Schul-
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wege wurden geprüft. Gianna beschloss, ihren Erwerbsalltag dem Stundenplan der Kinder unterzuordnen: Eh, e allora poi le abbiamo portati con noi,
Eh, und dann haben wir sie mit uns genom-
e io non ho lavorato più. Per tre, quattro
men, und ich habe nicht mehr gearbeitet.
mesi. [.] Perché dico: „I bambini si devono
Für drei, vier Monate. Weil ich sagte: „Die
abituare, stare qui“, da soli non potevo
Kinder müssen sich angewöhnen, hier zu
lasciarli.
sein“, ich konnte sie nicht allein lassen.
(Transkript Rosetti 1, 21/22 – 21/24) So gibt Gianna ihre Lohnarbeit vorübergehend auf, um die Kinder in die Schule begleiten zu können, um am Mittag und an den freien Nachmittagen für sie da zu sein. Das jüngste Kind wurde in eine Krippe gebracht. Später richtete sie sich so ein, dass sie über Mittag nach Hause kommen und an schulfreien Nachmittagen auch zu Hause bleiben konnte. Das Glück, mit ihren Kindern wieder vereint zu sein, bedeutete aber nicht nur eine finanzielle Einbuße, sondern auch – und das scheint den Rosettis bewusst gewesen zu sein –, den Kindern eine nicht unwesentliche Belastung aufzuerlegen. E poi la lingua. Sa, la lingua. Non era
Und dann die Sprache. Wissen Sie, die
quella dei bambini. [.] Eh, è stato difficile.
Sprache. Es war nicht diejenige der Kinder.
[.] Integrarsi bambini qui [.] è stato molto
Eh, es war schwierig. Die Kinder hier zu
difficile. Per la lingua. [.] Non per i
integrieren, war sehr schwierig. Wegen der
compagni, no no, perché loro giocavano
Sprache. Nicht wegen Spielkameraden, nein
con i compagni, perché i bambini, anche
nein, sie hatten Kameraden zum Spielen,
che non [.] non capiscono la lingua, ma per
denn auch wenn Kinder die Sprache nicht
giocare, sanno giocare.
verstehen, zusammen spielen können sie.
(Transkript Rosetti 1, 21/40 – 21/43) Eine mögliche Handlungsoption wäre es gewesen, die Kinder in eine italienischsprachige Schule zu schicken. In einigen Schweizer Städten, unter anderem auch in Bern, bestand die Möglichkeit, Kinder nach italienischem Schulsystem ausbilden zu lassen. Zweck dieser Schulen war – ganz im Sinne der Rotationspolitik (vgl. Kapitel 2.3) – die paar Jahre zu überbrücken, in denen die Eltern der Schüler/innen in der Schweiz zu arbeiten planten, und den Kindern danach die Reintegration in die italienischen Schulen zu ermöglichen. Eine solche Schule wurde in Bern von der Missione Cattolica, mit Unterstützung des italienischen Außenministeriums, betrieben. Bezeichnend für die Rosettis ist, dass sie, auf die-
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 281
se Option angesprochen, betonen, dies sei für sie keine Alternative gewesen, da sie keine Rückkehrabsichten gehabt hätten (siehe weiter hinten). Nachdem Gianna ausgeführt hat, wie gut sich die Eltern auf die Ankunft ihrer drei Kinder vorbereitet hatten und wie dann alles rund lief, mit der Einschulung, mit Spielkameraden, mit der Koordination von Giannas Erwerbstätigkeit und der Kinderbetreuung vor und nach der Schule, folgt in der Erzählung bereits die nächste Bedrohung der familiären Einheit: Comunque volevo dirLe che un’altra cosa,
Jedenfalls wollte ich Ihnen noch etwas
un’altra cosa [.] questa era un po’ triste. [.] anderes sagen, etwas anderes, das war ein Per la Svizzera, che sono umanitari, gli
bisschen traurig. Für die Schweiz, die ja
svizzeri, no? Allora, quando io avevo tutti e
humanitär sind, die Schweizer, nicht? Also,
tre bambini qui, ero felice con questi
als ich alle drei Kinder hier hatte, ich war
bambini, lavoravo, naturalmente, quello
glücklich mit diesen Kindern, ich arbeitete,
che potevo fare. [***] Tutto un bel giorno
natürlich, was ich konnte. [***] Eines
[.] mi arriva una lettera [.] dicendo [.] che
schönen Tages bekomme ich einen Brief,
io non potevo tener’ più i bambini qui [.]
dass ich die Kinder nicht mehr hier behal-
perché la ca-, l’appartamento era troppo
ten könne, weil die Wohnung zu klein sei.
piccolo. [..] Mammamia! Ma cosa mi
Du meine Güte! Aber was haben sie mir da
hanno detto! [.] Una cosa troppo triste.
gesagt! Eine dermaßen traurige Sache! Also
Allora io ho detto: „Ma guarda un po’!
hab ich gesagt: „Sieh mal an! Da haben sie
M’hanno dato il permesso. Adesso me lo
mir die Erlaubnis gegeben. Und jetzt wollen
vogliono ritirare?“ [.] Io ho detto a mio
sie sie mir wieder entziehen?“ Ich hab zu
marito: „Mi dispiace. Io ti- Questa volta ti
meinem Mann gesagt: „Es tut mir leid. Die-
dico ciao [.] e io me ne vado con i miei figli
ses Mal sage ich dir tschüss und ich gehe
[.] e tu stai qui, fai quello che vuoi. Vieni,
weg mit meinen Kindern, und du bleibst
non vieni, stai qui, lavori o non lavori, non
hier, machst was du willst. Komm mit,
mi interessa. Io me ne vado in Italia, me ne
komm nicht mit, arbeite oder arbeite nicht,
vado a cercare un lavoro.“ Allora lui ha
es interessiert mich nicht. Ich gehe nach
parlato colla sua chef. [.] La sua chef ha
Italien, suche mir eine Arbeit.“ Dann hat er
telefonato alla, alla poli- ‚Fremdepolizei‘.
mit seiner Chefin gesprochen. Seine Chefin
Dice: „Ma cosa succede con questo fatto
hat die Fremdenpolizei angerufen, sagte:
qui?“ Dice: „Eh no, Signora“ dice „la eh
„Was passiert denn da in dieser Sache?“
la [.] la signora, i [unverst.] Rosetti [.] ci
Sagen die: „Eh nein, die Frau, die Rosettis
hanno un appartamento di due camere e
haben eine 2½-Zimmerwohnung“, sagen
mezzo.“ Dice: „Bambini sono tre. [.] Non è
sie, „Kinder sind drei. Sie haben also kein
che ci hanno una stanza per, solo per i
Zimmer nur für die Kinder.“
bambini.“
(Transkript Rosetti 1, 24/17 – 24/38)
282 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Als der Aufenthalt der Kinder durch den Brief wieder bedroht scheint, setzt Gianna ihre Prioritäten ganz klar: Sie betont, dass sie in dem Moment die Gesellschaft der Kinder vorgezogen hätte, dass sie der Schweiz den Rücken kehren und zurück nach Sizilien wollte, ob mit oder ohne Lino – ein rares Anzeichen der Auflehnung gegen das Migrationsprojekt ihres Mannes, dem sich Gianna ansonsten gemäß ihrer Darstellung widerspruchslos gefügt hat. Ausgelöst wurde das Bedürfnis, die Schweiz hinter sich zu lassen und nach Sizilien zurückzukehren, durch etwas, das Gianna als behördliche Willkür empfand. Nachdem der Familiennachzug bewilligt worden war, hatte auf der Fremdenpolizei offenbar jemand bemerkt, dass es eine Vorschrift über die Wohnungsgröße gab, und dass die Rosettis diese Vorschrift nicht erfüllen würden. Unterstützung kommt in dieser Situation wieder von den weiblichen Vorgesetzten – von Frau Aeby, der Ehefrau von Linos Chef, wie auch von einer Vorgesetzten von Gianna. Beide rufen bei der Fremdenpolizei an und betonen die Rechtschaffenheit von Gianna und ihrer Familie: G: Allora [.] dice: „Allora guardi“ ci
G: Da sagten sie: „Also schauen Sie“,
hanno detto, tanto alla signora Aeby,
haben sie uns gesagt, sowohl der Frau
quanto alla mia chef, hanno detto, dice:
Aeby wie auch meiner Chefin: „Wir
„Noi dobbiamo vedere l’appartamento.
müssen die Wohnung sehen. Dann
[.] Allora [.] vediamo questo
schauen wir uns also diese Wohnung
appartamento.“ [.] Ci hanno dato
an.“ Sie haben uns einen Termin gege-
l’appuntamento [.] per veder’
ben, um die Wohnung anzuschauen, so
l’appartamento, se come tutti gli
als ob alle Italiener in Hütten leben
italiani avevano [.] una capanna [.] per
würden. Wir hingegen haben das nicht
stare lì dentro. Noi invece non
gewollt, die ersten Zeiten, ja. Da hatten
l’abbiamo voluto questo, i primi tempi
wir ein Zimmer, und es war eine große
sì. Avevamo una camera [.] e era [.] un
Wohnung. Und da war dieser Herr, an
appartamento grande. E c’era questo
dessen Name ich mich nicht erinnere,
si-, un signore che non mi ricordo come
der die Zimmer vermietete. Wir haben
si chiamava, chi affittava le camere.
also ein Zimmer gemietet [***]. Und es
Allora noi abbiamo affittato una
ging uns ganz gut dort, wir haben es
camera [***]. E stavamo benino lì
ganz so eingerichtet, wie wir das woll-
dentro, l’abbiamo fatto tutta [.] come
ten. Und wenn er das Geld abholen
abbiamo voluto noi. E lui, quando
kam: „Ach, wie Sie das schön gemacht
veniva a prendersi soldi: „Ma l’avete
haben!“ [***] Jedenfalls haben wir uns
fatta bella!“ [***] Comunque [.]
arrangiert. Nun hat also die Frau bei
facciamo andare questo. Allora, la
der Fremdenpolizei gesagt: [***] „An
signora alla ‚Fremdepolizei‘ dice:
jenem Tag kommt die Polizei schauen.“
D AS E HEPAAR ROSETTI
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[***] „Tale giorno viene la polizia a
Eh, also gut. Ist die Polizei also gekom-
vedere.“ [.] Eh, va bene. E venuto la
men, nicht in diese Wohnung, in die an-
polizia, non in quest’appartamento, ma
dere. Ist die Polizei schauen gekommen.
l’altro. [.] E venuto a vedere la polizia.
Ist eingetreten. „Ah. – Ah, Sie haben
[.] E entrato. „Ah. [.] Ah, ma qui avete
hier aber viel Platz!“ Was denn? Zuerst
tanto posto!“ Ma che? Prima non
hatten wir keinen Platz für die Kinder.
avevano posto per i bambini. Ma-
Und nun, denn die Küche war recht
perché la cucina è un po’ grandina:
groß: „Also wenn Sie wollen, können
„Ma se vuole può mettere un lettino
Sie ein Bettchen in die Küche stellen“,
nella cucina“, m’ha detto a me. Io ho
hat der zu mir gesagt. Ich hab gesagt:
detto: „Guarda, no, mi dispiace.
„Hören Sie mal, nein, tut mir leid. Lie-
Piuttosto ci dormo io nella cucina, ma
ber schlafe ich in der Küche, aber doch
no i miei figli. I miei figli dormono dove
nicht meine Kinder. Meine Kinder
devono dormire.“ [mit hoher Stimme:]
schlafen wo es sich gehört.“ [mit hoher
„No, ma qui è bello, qui avete tanto
Stimme:] „Aber hier ist’s doch schön,
posto!“ Tutto in un momento hanno
hier haben Sie viel Platz!“ Von einem
cambiato. E allora, io ho potuto
Moment auf den Anderen haben sie ge-
lasciare i miei figli. Però è stato triste
wechselt. Und so habe ich meine Kinder
per me, questo. [.] Perché lui aspettava,
hier lassen können. Aber das war trau-
lui pensava [***] di trovare una [.] un
rig für mich. Weil der erwartete, der
– dove abitavano gli italiani [.] che
dachte, [***] er würde eine – wo die
avevano questi, sai, lavoravano nella
Italiener wohnten die diese, weißt du,
ehm [.] muratori. [zu L.:] Come, dove
die arbeiteten auf der ehm – Maurer.
abitavano?
[zu L.:] Wo haben die gewohnt? L: In den Baracken.
L: Nelle baracche. G:
G:
entfallen. [lacht kurz]
dire, baracche, ma non mi veniva la parola. [lacht kurz] L: Nelle baracche hanno abitato. G:
Eh, allora lui quando ha
In den Baracken, wollte ich sagen, Baracken, aber das Wort war mir
Nelle baracche, come volevo
L: In den Baracken haben sie gewohnt. G:
Eh, also als der eine schön hergerichtete kleine
visto un appartamentino ben’ messo,
Wohnung gesehen hat, sauber, da hat er
pulito, allora ha detto, dice: „No no,
gesagt: „Nein nein, nichts auszusetzen,
po’ di testare, po’ di testare.“ Poi non
nichts auszusetzen.“ Dann haben sie uns
ci hanno disturbato più. No. No, dopo
nicht mehr belästigt. Nein. Nein, danach
non più. Dopo siamo rimasti tranquilli.
nicht mehr. Danach hatten wir Ruhe.
(Transkript Rosetti 1, 25/6 – 25/36)
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Diese Episode verstärkt einerseits Giannas Gefühl von Bedrohung der familiären Einheit durch behördliche Willkür, andererseits bringt sie noch ein neues Element dazu, nämlich dasjenige, dass der rechtschaffenen, anständigen Familie Rosetti eine Nachlässigkeit und Unkultiviertheit im Wohnen unterstellt wird, die Gianna zutiefst kränkt. Die Geschichte um die Kontrolle der Wohnung wird vor dem konkreten Hintergrund der damaligen Politik und Behördenpraxis verständlich. Der Nachzug aller drei Kinder fand 1962 statt. Die 1960er Jahre waren in der Schweizer Migrationspolitik – der Ausländerpolitik, wie man sie damals noch nannte – eine turbulente Zeit, geprägt von unzähligen Bestrebungen der Behörden, die bisher kaum eingeschränkte Migration und den Zugang von Ausländer/innen zu den Arbeitsmärkten etwas zu regulieren sowie den sich teilweise diametral entgegen stehenden Ansprüchen von verschiedenen Interessengruppen gerecht zu werden. Die Wirtschaft wünschte sich weiterhin uneingeschränkten Zugang zur Arbeitskraft der Migrant/innen, rechtspopulistische Kreise forderten eine Beschränkung des ‚Zustromes‘ ausländischer Arbeitskräfte aus Angst vor ‚Überfremdung‘ und den Schutz einheimischer Arbeitskräfte, und die Emigrationsstaaten forderten bessere Bedingungen für ihre Staatsangehörigen in der Schweiz. Im Bemühen, all diesen Ansprüchen gerecht zu werden und die Entwicklung der Schweizer Wirtschaft dabei korrigierend im Auge zu behalten, erließen die Bundesbehörden im Laufe der 1960er Jahre diverse Maßnahmen zur Erreichung einer ‚Plafonierung des Ausländerbestandes‘ (d.h. in erster Linie einer Beschränkung der Anzahl Beschäftigter mit ausländischer Staatsbürgerschaft in bestimmten Betrieben und Branchen). Die Umsetzung dieser Maßnahmen war Aufgabe der Gemeinden, welche die konkreten Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen erteilten. Die Stadtbernischen Verwaltungsberichte gewähren einen gewissen Einblick in die Praxis der Ämter und die Paradoxien, mit denen sich die Beamten herumschlagen mussten (siehe Soom/Truffer 2000: 44f). Im Rahmen dieser Verwaltungsberichte wurden in der Stadt Bern im Zuge der behördlichen Bemühungen um eine ‚Plafonierung‘ des Berner ‚Ausländerbestandes‘ in den 1960er Jahren auch für kurze Zeit über Probleme mit der Unterbringung ausländischer Arbeitskräfte berichtet, woraufhin ein paar Jahre lang regelmäßige Kontrollen von Mietshäusern und Wohnungen in der Stadt durchgeführt wurden (Soom/Truffer 2000, S. 72f). Im Visier hatten die Behörden dabei in erster Linie überfüllte Unterkünfte mit unzureichenden Sanitäranlagen und überrissenen Mieten, und es ging darum, übermäßig profitierende Vermieter/innen zu maßregeln und die Arbeitgeber/innen dazu zu verpflichten, für eine angemessene Unterbringung ihrer Arbeitskräfte zu sorgen. Es ist möglich, dass es im Rahmen dieser Bestrebungen auch zu der Kontrolle der Wohnung von Familie Rosetti gekommen ist.
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Denkbar ist, dass eine konkrete Regelung bestand, die festlegte, wie viele Personen in wie vielen Zimmern leben durften, und dass die Haushalts- und Wohnungsgröße der Rosettis deshalb kontrolliert wurde. Denkbar ist auch, dass die Geschichte mit dem – nach behördlicher Definition illegal in Bern wohnhaften – dritten Kind, das hier geboren und dann ausgeschafft worden war, noch registriert war und dass die Familie Rosetti, als bereits einmal Fehlbare, verschärft kontrolliert wurde. Ursprünglich eingeführt wurden diese Kontrollen aufgrund von gravierenden Fällen von Missbrauch. Auch die von Gianna angesprochene Unterbringung von Bauarbeitern in Baracken genügte meistens in vielerlei Hinsicht nicht den Vorstellungen einer angemessenen Lebensweise. Sehr viele italienische Arbeitsmigrant/innen wohnten in den ersten Monaten oder Jahren in sehr bescheidenen Verhältnissen. Auch Gianna und Lino bewohnten in den ersten Jahren ein einziges Zimmer in einem baufälligen Haus. Wie Gianna aber betont, legten sie und Lino sogar unter diesen einfachen Umständen Wert auf eine gepflegte Einrichtung, auf kultiviertes Wohnen. Dass die Fremdenpolizei ihr unterstellte, in Missständen zu hausen, verletzte sie zutiefst. Wie bereits bei Linos Geschichte um die gestohlene Brieftasche legt Gianna hier Wert darauf, die moralische Integrität ihrer Familie zu unterstreichen und die behördlichen Verdachtsmomente gegen sie als absolut unbegründet und willkürlich zu entlarven. Gianna zeigt in der Schilderung der Episoden rund um die Familienzusammenführung die Bereitschaft, aktiv zu werden, um das ihr überaus kostbare familiäre Glück zu schützen. Allerdings bleibt sie in ihren Handlungen immer im Rahmen der ihr unmittelbar zustehenden Möglichkeiten, ohne diese grundsätzlich in Frage zu stellen, und sie verlässt sich stark auf die Unterstützung resp. die Initiative der sie umgebenden Personen. Im Endeffekt führt ihre Strategie des Erleidens, des Aussitzens und der Betonung ihrer Rechtschaffenheit zum Erfolg, und so wie sie die Ereignisse schildert, ist dies hauptsächlich ihr Verdienst. Lino erscheint in ihrer Geschichte kaum als Akteur, und er wehrt sich im Gespräch auch nicht gegen diese Präsentation. Familiendinge scheinen Giannas Zuständigkeit zu sein. Im Gegensatz zu den Kriegserlebnissen – die andere große Bedrohung, welche Gianna in ihrem Leben als sehr einschneidend empfunden hat –, die sie fest eingebunden in den schützenden Kreis ihrer Großfamilie überwunden hat, meistert Gianna diese Bedrohung viel stärker als Individuum, wenn auch als Individuum, das in ein unterstützendes Umfeld von Verwandten und Arbeitgeber-Gattinnen eingebunden ist. Nachdem Gianna die Episoden um die zuerst verweigerte und später noch einmal bedrohte Familienvereinigung erzählt hat, kommt sie zum Schluss ihrer
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autobiographischen Erzählung. Sie fügt zunächst an, dass ihre Kinder inzwischen groß geworden und ausgezogen seien, dass sie Berufe erlernt und eigene Familien gegründet hätten (siehe dazu auch Kurzbiographie weiter oben). Dann schließt sie ihre Erzählung vorerst ab: Eh, ci ho raccontato un pochino della mia
Eh, jetzt hab ich ein bisschen von meiner
storia, da piccolina fino adesso. [.] Adesso
Geschichte erzählt, von klein auf bis jetzt.
siamo soli [.] ogni tanto vengono i figli, a
Jetzt sind wir allein, hin und wieder kom-
trovarci.
men die Kinder vorbei, besuchen uns.
(Transkript Rosetti 1, 26/35 – 26/37) Giannas lebensgeschichtliche Erzählung formiert sich um zwei einschneidende Phasen, die sie als die beiden schlimmsten Sachen bezeichnet, welche ihr in ihrem Leben widerfahren seien: In ihrer Kindheit den Krieg, und im Erwachsenenalter die Trennung von ihren Kindern durch die Migration in die Schweiz. Diese beiden Phasen, wie auch der Auftakt der Erzählung über Giannas Pflichten im Haushalt als Erstgeborene, konzentrieren sich auf die soziale Einheit Familie. Nachdem sich Gianna in ihrer Kindheit als eher passive, durch die Umstände definierte, im familiären Verbund aufgehobene Person zeichnet, beginnt sie bei ihrer Heirat und Familiengründung allmählich Kontur als eigenständiges und handlungsfähiges Individuum zu gewinnen. Die Schilderungen um die Ausschaffung ihres dritten Kindes und die Familienzusammenführung bringen dann eine in ihrer Verzweiflung sehr engagiert handelnde Gianna zum Vorschein, welche sich gegen außen vehement für die Zusammenführung ihrer Kernfamilie einsetzt, ohne dabei aber die ihr zugewiesenen Schranken zu durchbrechen, geschweige denn auch nur anzutasten. Innerhalb der Paarbeziehung hat Gianna ihre Grenzen jedoch stärker herausgefordert, indem sie damit gedroht hat, nach Italien zurückzukehren. Wie ernst sie es damit meinte und wie sehr sich Lino dadurch unter Druck gesetzt fühlte, ist nicht klar. Deutlich wird in den beiden Interviews jedoch, dass Lino grundsätzlich kein Interesse an einer Rückkehr hatte und auch seine Familie bei sich haben wollte. Deutlich wird zudem auch, dass Gianna in ihren Erzählungen mehrmals, und durchwegs in sehr schwierigen Situationen, nebenbei erwähnt, sie habe in demjenigen Moment zurückkehren wollen. Linos Art der biographischen Selbstpräsentation bleibt bruchstückhaft und macht einen ungeordneten Eindruck. Er springt zwischen verschiedenen Lebensphasen hin und her, verbindet sie kaum miteinander und schmückt sehr wenig aus. Dass ich ihn auffordere, mir die Geschichte seines Lebens zu erzählen, nachdem seine Frau schon so viel erzählt hat, hat möglicherweise dazu beigetra-
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gen. Lino scheint aber grundsätzlich eher wenig Geschichten zu haben, die er aus dem Stegreif erzählen könnte und die nicht schon von seiner Frau erzählt worden sind. Ausnahmen sind die Kriegserinnerungen. Auch dazu kann Lino Geschichten erzählen, vielleicht nicht so viele wie Gianna, aber ähnlich gut konstruierte. Lino präsentiert sich darin als abenteuerlichen, waghalsigen Jugendlichen, welcher Dinge erlebt hat, die aus heutiger Sicht gefährlich waren, deren Gefahren sich Lino aber nicht bewusst war. Bezugspersonen sind Freunde oder Brüder, also Personen desselben Alters und Geschlechts. Ähnliches gilt für die Erzählungen zum Erlernen des Berufs und zur Migration. Hier war es durchwegs ein Freund, welcher Einfluss hatte auf Linos Entscheidungen, und er hat diese Entscheidungen, so erscheint es in den Erzählungen, mit einer großen Unbekümmertheit gefällt. Wie stark Gianna diese Entscheidungen beeinflussen konnte, wird nicht explizit thematisiert. In Linos Selbstpräsentation gibt es kaum Hinweise darauf; Gianna erscheint nicht als zentrale Akteurin. Giannas Selbstpräsentation hinterlässt eher den Eindruck, dass Lino Entscheide gefällt und Gianna sich zu arrangieren hatte (siehe z.B. die Entscheidung zur Migration). Es gibt allerdings auch einige Hinweise darauf, dass Gianna sich sehr wohl zu artikulieren und zu wehren wusste. Ich gehe davon aus, dass das Thema des Aushandelns von Konsens in der Paarbeziehung im konkreten Interaktionsrahmen – Paarinterview mit einer weitgehend fremden Person – nicht zur Debatte stand. Es ging nicht um die Frage, warum das Ehepaar Rosetti ein Paar ist und unter welchen Umständen das Paar-Sein in Frage gestellt wird, sondern es ging darum aufzuzeigen, wie gut die Rosettis als Paar und als Familie funktionieren und funktioniert haben. Insofern erschien es Gianna und Lino, nach ihrer Lebensgeschichte gefragt, vielleicht nicht bedeutsam, mir allfällige paarinterne Meinungsverschiedenheiten bezüglich wichtiger Entscheidungen mitzuteilen. Grundsätzlich präsentierte sich das Ehepaar Rosetti als ein sehr harmonisches und symbiotisches Paar, welches sich nach innen wie auch gegen außen stärker als Paareinheit denn als zwei Individuen versteht.
5.3 ARBEITSERFAHRUNGEN
IN DER
S CHWEIZ
Die spontan erzählten Lebensgeschichten von Gianna und Lino enthalten relativ wenig Angaben zu Arbeit und Arbeitsverhältnissen nach der Migration. Insbesondere bei Giannas Erzählungen liegt der Schwerpunkt auf dem familiären Bereich. Sie erzählt, mit einer Ausnahme, nur am Rande von ihren Arbeitsstellen, und der Fokus liegt dabei auf der Vereinbarkeit mit ihren Vorstellungen
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von Kinderbetreuung. Lino hingegen gewichtet Ausbildung und Arbeitstätigkeit in seinen eher knappen biographischen Erzählungen vergleichsweise stark. Von außen betrachtet sind die beruflichen Laufbahnen der Rosettis eine Erfolgsgeschichte. Beide haben es geschafft, nach der Migration im selben Beruf tätig zu sein, den sie in Sizilien erlernt hatten. Und beide verfügen über eine nicht unbeträchtliche berufliche Ethik, einen bescheidenen Stolz auf ihr Können, sowie eine besondere Beziehung zu ihrer Arbeit resp. ihren Arbeitgebern in der Schweiz. Die Arbeit von Lino: ,Verheiratet‘ mit Beruf und Patron Lino arbeitete in Bern bei einem Herrenschneider, der zu seinen besten Zeiten fünf – überwiegend italienische – Schneider beschäftigte. Der Betrieb bildete auch Lehrlinge und Lehrtöchter aus. Zu Beginn seiner Arbeitstätigkeit für das Atelier Aeby wurde Lino pro gefertigtem Kleidungsstück bezahlt. Erst nach mehreren Jahren erhielt er eine Festanstellung mit regelmäßigem Gehalt und bezahlten Ferien. Sein Lohn war bescheiden, lag aber laut Lino nicht unter den branchenüblichen Gehältern. Lino beschreibt sein Verhältnis zu seiner Arbeit und zu seinem Arbeitgeber wie folgt: G: E lui ha lavorato dal primo giorno [.]
G. Und er hat vom ersten Tag an bis zur Pensionierung bei Aeby gearbeitet.
fino alla pensione da Aeby. E: Ah sì? Tutto il tempo? G:
Sì!
E: Ah ja? Die ganze Zeit?
Non ha mai cambiato. G:
Ja!
Er hat nie gewechselt.
L: Ci è stato un matrimonio. [G. und E.
L: Es war wie eine Ehe. [G. und E. lachen]
lachen] Tutt’ora ci sentiamo sempre.
Bis heute hören wir immer voneinander.
G: Sì, sì.
G: Ja, ja.
L: Tutt’ora ci sentiamo. Facciamo un po’
L: Bis heute hören wir voneinander. Wir arbeiten ein bisschen zusammen, so
di lavoro assieme, così, qualche volta.
was, manchmal. G: Qualche volta invito a mangiare qui, o
L:
G: Manchmal lade ich sie zum Essen
loro da lo-, loro anche dicono di andare
hierher ein, oder sie zu si-, sie laden uns
da loro.
zu sich ein.
Sì, è rimasto un’amicizia abbastanza [.] solida.
(Transkript Rosetti 1, 41/29 – 41/38)
L:
Ja, es ist eine ziemlich feste Freundschaft geblieben.
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| 289
‚Es war wie eine Ehe‘ spricht vor allem die lange Dauer der Beziehung zwischen Lino und seinem Arbeitgeber an. ‚Ehe‘ bedeutet hier also Treue, Beständigkeit, Verlässlichkeit, auch Nähe – eine lang anhaltende Beziehung, geprägt von gegenseitigen Verpflichtungen und gegenseitiger Solidarität. Herr Aeby ist heute offenbar der einzige Mensch, zu dem Lino im Alter regelmäßigen Kontakt pflegt. Das Ehepaar Rosetti und das Ehepaar Aeby laden sich gegenseitig zum Essen ein, und – was ich besonders bemerkenswert finde – Lino und sein ehemaliger Chef arbeiten ab und zu noch zusammen, d.h. sie schneidern gemeinsam Kleidungsstücke, vielleicht für den Eigenbedarf. Dass Herr Aeby und Lino auch nach der Pensionierung ab und zu zusammen ‚arbeiten‘, lese ich nicht nur als Ausdruck der Verbundenheit zwischen den beiden, sondern auch als Hinweis auf eine enge Beziehung zu ihrem Beruf. Lino scheint, entgegen seines anfänglichen Desinteresses am Schneiderberuf, die Arbeit bei Aeby geschätzt zu haben, und er hat sie offenbar auch gut gemacht. Herr Aeby hat Lino über lange Zeit beschäftigt, auch dann noch, als das Geschäft nicht mehr so gut lief. Trotz fehlendem Ausbildungsdiplom setzte Herr Aeby Lino auch in der Ausbildung der Lehrlinge und Lehrtöchter im Betrieb ein. Die Firma von Herrn Aeby fertigte Herrenbekleidung nach Maß: E: E ha fatto tutto il tempo la stessa, il
E: Und haben Sie die ganze Zeit dieselbe
stesso lavoro, o [..] Aeby è come un
Arbeit gemacht, oder – Aeby ist wie ein
‚couturier‘ [.], anche?
‚couturier‘, auch?
L: Sì. ‚Haute couture‘
L: Ja. ‚Haute couture‘.
G: ‚Haute couture‘, sì.
G: ‚Haute couture‘, ja.
L: Sì. Sotto, su misura, vestiti su misura.
L: Ja. Auf Maß, Maßkleider. Das war keine
[.] No, che non era confezione. ‚Maß-
Konfektion. Maßarbeit. ‚Kostüm-
arbeit‘. ‚Kostümmacherei‘ era scritto
macherei‘ stand dort geschrieben. Er
là. Faceva pezzi speciali, diciamo.
machte sozusagen spezielle Stücke.
(Transkript Rosetti 1, 42/3 – 42/9) Die Kundschaft der ‚Kostümmacherei Aeby‘ bestand vorwiegend aus gut situierten Herren, welche sich komplette Garderoben mit Anzügen, Hemden und Mänteln schneidern ließen. Obwohl die maßgeschneiderten Garderoben mit den Jahren aus der Mode kamen und wesentlich billigere Konfektionsware in guter Qualität zu kaufen war, hatte die ‚Kostümmacherei Aeby‘ offenbar einen treuen Stammkundenkreis, der zwar mit den Jahren und Jahrzehnten immer kleiner wurde, aber dennoch dafür sorgte, dass Herr Aeby zusammen mit Lino als seinem zuletzt noch einzigen Angestellten den Betrieb weiterführen konnte.
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Dass die Arbeit des Herren-Maßschneiders für Lino – trotz anfänglichem Desinteresse – eine erfüllende berufliche Tätigkeit war, zeigt sich auch in einem gewissen Stolz bezüglich der geleisteten Arbeit. Nicht etwa alltägliche Ware sei bei Aeby hergestellt worden, sondern Qualitätsware, besondere Stücke für elegante Herren. Die Spezialisierung kam Lino auch bei seiner Zweitarbeit am Stadttheater zugute. Danach gefragt, was seine Aufgabe am Stadttheater gewesen sei, spricht Lino über die verschiedenen Bekleidungsstücke, die als KostümBestandteile im Musical „My Fair Lady“ zum Einsatz kamen – Kleidungsstücke, welche heute kaum mehr alltäglich sind und die Lino ohne Mühe benennen und beschreiben kann. A: Il guardarobiere era quello che
L: Der Garderobier war derjenige, der die Kleidung für die Vorstellung bereit
preparava i vestiti [.] del ‚Vorstellung‘, no. C’è un elenco, dice: „Oggi è
machte, nicht. Es gibt einen Plan, da
questo“, succedeva [.] che un attore era
steht: „Heute gibt’s das“, und es kam
malato, non stava bene. Allora era così
vor, dass ein Schauspieler krank war,
che viene un ‚Gast‘ di fuori, o della
dass es ihm nicht gut ging. Dann war es
Germania, di un altro posto. Allora
so, dass ein Gast von auswärts kam,
questo qui è alto, uno ottanta, là è
oder aus Deutschland, von einem ande-
bisogno cercare nel ‚Fundus‘ i vestiti
ren Ort. Dann war der groß, eins acht-
per adattargli. O per stringergli o per
zig, und da muss man im Fundus Klei-
attac- eh, se può fare qualche cosa.
der suchen gehen zum Anpassen. Um sie
Perché era questo provvisorio che era
enger zu machen oder anzup-, eh, ob
un ‚Gast‘, che quello era malato o che
man etwas machen kann. Weil es dieses
non stava bene, allora questo era il
Provisorium war, ein Gast, weil jener
nostro dovere, per fare
krank war oder es ihm nicht gut ging, das war also unsere Aufgabe, die
F: A:
Fare le correzioni.
G:
le correzioni, lo ricucire o [.] fare stringere [.]
Die Korrekturen zu machen.
L:
Korrekturen zu machen, neu zu nähen, enger machen oder weiter, je
o allargare, secondo che com’era.
nachdem wie er war. F:
Ma lui gli
G:
zogen. Er hat sie auch angezogen. Jaja.
vestiva anche. [.] Lui gli vestiva. Sìsì. A:
Io gli vestivo, sì. [...] Sì, gli vestivamo perché quando
Aber er hat sie auch ange-
L:
Ich hab sie auch angezogen, ja. – Ja, wir haben sie
si faceva [.] ‚My fair Lady‘, non so se
angezogen weil wenn man ‚My fair
conosce quest’ operetta, lo conosce, no!
Lady‘ gab, weiß nicht ob Sie diese Ope-
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E ci sono cambiamenti di due, tre
rette kennen, Sie kennen sie, nicht! Und
minuti. [.] Di chi ci ha lo smoking nero,
da gibt es Wechsel von zwei, drei Mi-
che poi c’è quando c’è quella scena che
nuten. Vom schwarzen Smoking, dann
c’è [.] il galoppo dei cavalli, tutti vestiti
zu der Szene wo es den Galopp der
in grigio [.] coi cilindri, là c’è un
Pferde gibt, alle Anzüge in Grau, mit
cambiamento [.] per i, di, di corsa, di
Zylindern, da gibt es einen Wechsel für
quattro minuti si tratta di cambiare. Il
das Rennen, um vier Minuten handelte
vestito completo, il cilindro e il papillon
es sich, zum Wechseln. Den kompletten
invece della [.] della cravatta, già,
Anzug, den Zylinder und die Fliege statt
dell’inglesina. C’è un cambiamento
der Krawatte, schon, nach englischer
rapido. [.] Ed erano contenti, e questi
Manier. Das ist ein schneller Wechsel.
parlavano l’italiano.
Und sie waren zufrieden, und die sprachen auch Italienisch.
(Transkript Rosetti 1, 38/39 – 39/17) Die Arbeit am Stadttheater brachte Lino auch in Kontakt mit der illustren Welt der Schauspieler und Sänger. Mehrmals verweist er darauf, dass er über diese Arbeit viele interessante und berühmte Persönlichkeiten kennen gelernt habe. Er erwähnt auch anerkennend die Sprachgewandtheit der Schauspieler und insbesondere der Sänger, welche oft gut italienisch sprachen und mit denen sich Lino deshalb auch problemlos unterhalten konnte. Nicht nur wegen des künstlerischen Milieus aber war eine Anstellung am Stadttheater attraktiv, auch die Bezahlung war besser. Als ich im zweiten Interview nach Gründen für die niedrige Rente der Rosettis frage, erwähnt Gianna, welche durch Linos Vermittlung eine Festanstellung am Stadttheater bekommen hatte, dass sie dort besser verdient habe als er bei der ‚Kostümmacherei Aeby‘. Lino rechtfertigt dies damit, dass sie für einen öffentlichen Betrieb tätig und somit Staatsangestellte war. Meine Fragen nach der Höhe von Linos Lohn, nach Einkommen und Nationalität der anderen Angestellten der ‚Kostümmacherei Aeby‘, nach der Rentenversicherung, welche Aeby erst dann für seine Angestellten abgeschlossen hatte, als dies obligatorisch wurde etc., bringen Lino dazu zu betonen, dass die Schuld für sein geringes Einkommen und seine minimale zusätzliche Vorsorgeversicherung nicht etwa bei seinem Chef liege, sondern in der Branche allgemein üblich gewesen sei. Zudem habe sich im Laufe der Jahre die geschäftliche Situation für Herren-Maßschneider deutlich verschlechtert. Lino bringt seine Hochachtung und Loyalität gegenüber seinem Chef auch darin zum Ausdruck, dass er mich bittet, darauf zu achten, dass Herr Aeby durch Linos Aussagen im Interview nicht kompromittiert werden könne. Sein Chef habe sich ihm gegenüber immer korrekt und fair verhalten, und er wolle ihn unter keinen Umständen in ein
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schlechtes Licht rücken, da er ihm sehr viel zu verdanken habe. Insbesondere an der Art und Weise, wie Herr Aeby bei der Aufgabe seines Geschäfts Rücksicht nimmt auf Linos Penisonierung, zeigt sich dies deutlich (mehr dazu in Kapitel 5.4). Da, wie beide Rosettis betonen, die Schneiderarbeit generell nicht sehr gut bezahlt war, schätzten sie das zusätzliche Einkommen aus Linos Zweitarbeit am Abend, und Lino empfand diese Arbeit als spannend und bereichernd. Mit der Zeit jedoch wurde es zu anstrengend, und so beschloss er, nach 15 Jahren die Arbeit am Stadttheater aufzugeben. L: Appena quando ho fatto cinquant’anni,
L: Sobald ich 50 Jahre alt war, hab ich dann nicht mehr gearbeitet.
però non ho lavorato più. G:
Sì, tu, tu, lui ha detto: „Quando
G:
Ja, du, er hat gesagt: „Wenn ich 50 Jahre alt werde, arbeite ich nicht
faccio 50 anni, non lavoro più.“ E poi
mehr.“ Und dann Basta. L:
L:
[.] Che la vita a me [.] un po’ stressata,
Das reichte. Weil das Leben war für mich ein bisschen stressig, oder,
diciamo, andavo là, la sera, invece di
ich ging da abends hin, anstatt nach
venire qua. Lei doveva cucinare la sera
Hause zu kommen. Sie musste am Vor-
d’avanti, io venivo a mezzanotte
abend kochen, ich kam um Mitternacht
[unverst.]
[unverst.]
E: E ha fatto questo per i soldi o per [..]
E: Und haben Sie das wegen des Geldes gemacht oder-
L: Eh, per aumentare un po’.
L: Eh, um ein bisschen zu erhöhen.
G: Eh, perché la famiglia era grande. Eh.
G: Eh, weil die Familie groß war. Eh. Also
Allora si faceva, si faceva, io lavoravo,
haben wir das gemacht, ich habe gear-
lui lavorava, e poi dice: „Un pochino
beitet, er hat gearbeitet, und dann sagte
che lavoro la sera.“ Dice: „C’è qualco-
er: „Ein bisschen arbeite ich noch am
possiamo comprare ancora qualcosa
Abend.“ Sagte: „So gibt’s etw-, können
per i bambini, in più.“ L: Certo.
wir noch etwas für die Kinder kaufen, zusätzlich.“ L: Sicher.
(Transkript Rosetti 1, 42/18 – 42/27) Lino musste diesen Zweitjob also mit etwa 35 Jahren angenommen haben, das heißt im 1966. Die Kinder waren da zwölf, elf und sechs Jahre alt. Weitergeführt hat er ihn, bis der Jüngste 21 Jahre alt und wohl mit seiner Berufsausbildung
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| 293
fertig war und somit alle drei Kinder in der Lage waren, sich selber zu ernähren. Der Abendjob von Lino bedeutete zwar einen Zustupf in die Familienkasse und machte es vielleicht überhaupt möglich, dass die Rosettis ihren Kindern etwas Zusätzliches kaufen konnten, sich z.B. später auch Privatschulen leisten konnten, um ihnen bessere Chancen auf dem Berufsbildungsmarkt zu verschaffen. Es bedeutete aber auch, dass Lino in der Regel zu Hause abwesend war. Die Rosettis haben sich also für eine sehr ausgeprägt aufgeteilte Familienarbeit entschieden: Gianna betreute die Kinder, besorgte den Haushalt und organisierte ihre Erwerbstätigkeit in den Zeiten, in denen die Kinder außer Haus waren. Lino hingegen konzentrierte seine Ressourcen voll und ganz auf die Erwerbstätigkeit und verließ sich dabei auf ein funktionierendes Zuhause und eine warme Mahlzeit, wenn er spät abends nach Hause kam. Linos Erwerbsleben nahm sehr viel Raum in Anspruch, für Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte blieb kaum Zeit. Seine berufliche Laufbahn war von Konstanz und Ruhe geprägt, und Lino zeichnet sich selbst in seinen Erzählungen eher passiv in der Gestaltung seiner Biographie. Er hat den Beruf wegen eines Freundes und nebenbei erlernt; er hat die Stelle in Bern über die Vermittlung eines weiteren Freundes erhalten; es war auch ein Bekannter, der ihm die Möglichkeit des Zweitverdienstes beim Stadttheater eröffnete, und es war sein Chef, der ihm ermöglichte, bis zu seiner regulären Pensionierung zu arbeiten, obwohl Herr Aeby das Geschäft früher hätte aufgeben können. In dieser eher fremdbestimmten Laufbahn erscheint Lino als bescheidener, stiller und arbeitsamer Angestellter, der sich über die Jahre beträchtliche berufliche Fähigkeiten und einen treuen Stammkundenkreis erarbeitet hat, und der mit seiner Laufbahn zufrieden scheint, ohne dies besonders betonen zu müssen. Die Arbeit von Gianna: ‚Immer Glück gehabt‘ und eine kleine Revolte Giannas Berichte über ihre Arbeit in der Schweiz sind etwas ambivalent, was einerseits mit Stellenwechseln zu tun hat, die nicht immer ganz konfliktfrei waren, andererseits aber auch auf Rückenprobleme zurückzuführen sind, welche offiziell als arbeitsbedingte Invalidität eingestuft worden sind. Dennoch sagt Gianna über ihre Arbeitstätigkeit, dass sie in diesem Lebensbereich immer Glück gehabt habe. Sie betont dies wohl in Abgrenzung zu ihrem familiären Leben, wo sie Migrationserfahrungen gemacht hat, die sie als traumatisch bezeichnet (siehe oben). Glück gehabt hat Gianna zuerst einmal damit, dass sie sofort nach ihrer Einreise eine Arbeit gefunden hat, und dies trotz sichtbarer Schwangerschaft. Nach
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der Geburt des Kindes hat sie verschiedene flexible Arbeitsverhältnisse gefunden, was es ihr ermöglichte, sowohl für ihre Kinder da zu sein, als auch zur Verbesserung der ökonomischen Situation der Familie beizutragen. Wenn sie eine Arbeit verlor oder es ihr in einer Stelle nicht mehr gefiel, fand sie stets eine andere gute Stelle. Gianna ist von Beruf Schneiderin, und sie hat das Handwerk gründlich gelernt, ein Diplom erworben und sogar ein zusätzliches Jahr Ausbildung im Zuschneiden gemacht. Sie hat bereits in Sizilien in ihrem Beruf gearbeitet, zuerst als Angestellte (vermutlich ihrer Lehrmeisterin), dann als selbständig Erwerbende zusammen mit ihrem Ehemann. Gianna kann vor diesem Hintergrund als qualifizierte Arbeitsmigrantin bezeichnet werden. Dies äußerte sich zwar nicht in einem besonders hohen Einkommen, erfüllte Gianna aber mit einem gewissen Berufsstolz. Und es ermöglichte ihr, jederzeit eine passende Stelle zu finden, auch Teilzeit und Heimarbeit, wenn sie das so wollte. Diejenige Stelle, welche Gianna am längsten innehatte und wo sie offenbar auch Vollzeit gearbeitet hat, war die Anstellung im Kostümatelier des Stadttheaters, welche sie durch die Vermittlung von Lino fand und über knapp zwanzig Jahre beibehielt. Diese Arbeit scheint sie auch inhaltlich sehr erfüllt zu haben. Sie erzählt viel darüber, und ihre Erzählungen sind geprägt von einer auffallenden Lebhaftigkeit im Erzählen, von Begeisterung und Stolz auf die Art der Arbeit, auf das technische Handwerk wie auch auf das ungewöhnliche Umfeld des Theaters (Arbeit mit ‚Künstlern‘, Arbeit mit Deutschen, Arbeit mit exklusiven Materialien an ausgefallenen Schnitten, technisch sehr anspruchsvollen Stücken usw.). In der folgenden Passage erzählt Gianna, wie sie, nachdem sie ihre vorherige Stelle verloren hatte, in die Kostümschneiderei des Theaters gekommen ist31: G: Eh [.] io ho detto: „Senti, perché non
G: Und ich hab gesagt: „Du, warum fragst
chiedi al teatro, se cercano una sarta?“
du nicht am Theater, ob sie eine Schnei-
[.] E lui ha detto: „Ah perché, io posso
derin suchen?“ Und er hat gesagt:
chiedere.“ Ha parlato col questo chef
„Warum nicht, ich kann fragen.“ Er hat
del teatro, ha detto, dice: „Cercate per
mit diesem Chef vom Theater geredet,
caso una sarta?“ Dice: „Perché mia
hat gesagt: „Suchen Sie zufällig eine
31 Der Ausschnitt ist stark gekürzt, er enthält im Original mehrere parallele Erzählstränge, die ich hier der Einfachheit halber weggelassen habe. Es geht u.a. darum, dass Gianna parallel zu ihrer Aushilfsstelle bereits eine neue Stelle gesucht und gefunden hatte und wie sie sich mit verschiedenen Leuten darüber unterhält, was sie tun soll, worauf ihr alle raten, sich für diejenige Stelle zu entscheiden, die ihr besser gefalle, nämlich das Theater.
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moglie [.] hanno chiuso l’atelier, e
Schneiderin? Weil meine Frau, sie ha-
momentaneamente è senza lavoro.“ Lui
ben das Atelier geschlossen, und mo-
parla con la ‚Chefin‘ delle donne, [.]
mentan ist sie ohne Arbeit.“ Dieser re-
dice: „Senti, tu hai bisogno di una [.]
dete mit der Chefin der Frauen, sagte:
sarta?“ Dice: „Veramente, sì. [.]
„Tatsächlich, ja. Weil“, sagte sie, „wir
Perché“, dice, „ci abbiamo“, non mi
haben gerade“, ich erinnere mich nicht
ricordo quel ‚Vorstellung‘ qui era, „e
welche Vorstellung das war, „und wir
dobbiamo finirlo“, c’erano tanti vesti-
müssen sie fertig machen“, da waren so
costumi da fare. Dice: „Se vieni –“
viele Klei-, Kostüme zu machen. Sie sagte: „Wenn Sie komm-“
Forse era L:
L: ‚Gräfin Mariza‘.
G: ‚Gräfin Mariza‘ mi sembra che era.
Vielleicht war es ‚Gräfin Mariza‘.
G: ‚Gräfin Mariza‘ scheint mir war’s. Also
Allora, e m’hanno preso. Io ho finito di
haben sie mich genommen. Ich hab auf-
lavorare [.] dalla signora S. [.] al
gehört zu arbeiten, bei der Frau S., am
venerdi. Al lunedi ho incominciato al
Freitag. Am Montag habe ich am Thea-
teatro. [.] Per quello che Le dico, sono
ter angefangen. Deshalb sage ich Ihnen,
fortunata nel lavoro! Sono stata sempre
ich habe Glück bei der Arbeit! Ich habe
fortunata. Allora [.] mi [.] arrivo al
immer Glück gehabt. Also komme ich im
teatro, e allora mi dicono: „Sa,
Theater an, und da sagen sie mir: „Sie
dovrebbe fare questo, quest’altro.“ Per
müssen dieses, jenes machen.“ Für mich
me era [.] mio lavoro, non mi faceva
war das meine Arbeit, es machte mir
niente, quello che dovevo fare. Ero
nichts aus, was ich machen musste. Ich
interessante a questo lavoro. Dico:
war interessiert an dieser Arbeit. Ich
„Bello, se mi lasciassero.“ A me mi
sagte mir: „Schön, wenn sie mich behal-
piaceva di lavorare qui. M’hanno detto:
ten würden.“ Mir gefiel es, dort zu ar-
„Signora, guardi che sono [.] massimo
beiten. Sie haben mir gesagt: „Schauen
lei lavorerà qui venti giorni.“ [***] A
Sie, Sie werden maximal zwanzig Tage
ore, naturalmente. Allora [.] passano
hier arbeiten.“ [***] Im Stundenlohn,
questi venti giorni, il ‚Vorstellung‘ poi è
natürlich. Und so sind diese 20 Tage
finito, dei costumi [.] e questa non mi
vergangen, die Vorstellung war fertig,
diceva niente. [.] Io ho detto: „Ma [.]
von den Kostümen her, und sie hat mir
vado lì.“ Ancora doveva tagliare per
nichts gesagt. Ich hab gesagt: „Na, ich
altro ‚Vorstellung‘. E lei mi lasciava lì.
gehe hin.“ Sie musste ja noch für eine
[***] Allora, ho parlato con questa
andere Vorstellung schneidern. Und sie
chef un giorno, dico: „Senta, signora,
ließ mich dort. [***] Dann habe ich mit
ma io cosa dovrei fare?“ [***]„Devo
der Chefin geredet, sagte: „Hören Sie,
stare qui, devo cercarmi lavoro?“
Signora, was soll ich machen? [***]
296 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
[***].„No, signora, perché? Lei sta
Soll ich hier bleiben, soll ich mir Arbeit
male qui?“ „No, anzi, mi piace!“
suchen?“ [***]. „Nein, warum? Gefällt
„Allora“ dice „continua a lavorare.“
es Ihnen hier nicht?“ „Nein, im Gegen-
[.] E io lavoravo. A ore. [***] Poi
teil, es gefällt mir!“ „Also“, sagte sie,
m’ha, mi chiamava la chef: „Signora
„dann arbeiten Sie weiter.“ Und ich ar-
Rosetti, [.] vuole messa a [.]‚Monat-
beitete. Im Stundenlohn. [***] Später
lohn‘?“ „Ah“, dico: „Perché no?“ [.]
hat mich die Chefin gerufen: „Frau Ro-
Dico: „Be’, però Lei lo sa che io ci ho
setti, möchten Sie im Monatslohn arbei-
tre bambini? [.] E come fate qui,
ten?“ „Ah“, sagte ich, „Warum nicht?“
straordinario, non posso farlo.“ „Lei
Sagte ich: „Nun, Sie wissen aber, dass
va parlare in ufficio. Al ‚Büro‘.“ [.]
ich drei Kinder habe? Und wie Sie hier
Vado lì [.] c’era un- quel signore che si
arbeiten, mit Überstunden, das kann ich
interessava per fare i contratti. Allora
nicht machen.“ „Gehen Sie das im Büro
ho detto: „Guardi, [.] io ci ho un
besprechen.“ Ich gehe dort hin, da war
problema. A me piace lavorare al
ein-, dieser Herr der sich um die Verträ-
teatro, il lavoro lo svolgo bene“ perché
ge kümmert. Und ich hab gesagt: „Se-
altrimenti non prendevano. Dico:
hen Sie, ich hab da ein Problem. Mir ge-
„Però [.] c’è il problema dello
fällt es, am Theater zu arbeiten, die Ar-
straordinario.“ [***] Dice: „Guardi,
beit mache ich gut“, sonst hätten sie
signora. Lei lavori come può.“ [***] E
mich nicht genommen. Sagte ich: „Aber
così poi m’hanno messo ‚Monatlohn‘.
da gibt’s das Problem mit den Über-
[***] E ho lavorato invece di venti
stunden.“ [***] Sagte er: „Signora, Sie
giorni venti anni! [lacht]
arbeiten wie Sie können.“ [***] Und so haben sie mich auf Monatslohn gesetzt. [***] Und ich habe statt zwanzig Tage zwanzig Jahre gearbeitet! [lacht]
(Transkript Rosetti 1, 39/35 – 40/47) Dass Giannas Vorgesetzte die „Chefin der Frauen“ ist, bedeutet vermutlich, dass es zwei Kostümschneidereien gab, eine für Frauenkostüme und eine für Männerkostüme. Die Damen- und Herrenschneiderei sind zwei unterschiedliche Berufsausbildungen, und bei der Fertigung von Kostümen für ein größeres Theater sind die jeweils speziellen Techniken der Kleidergestaltung von deutlich größerer Bedeutung als in der Fertigung von Kleidern für den Alltag. Giannas Schilderungen zur Arbeit am Stadttheater sind geprägt von einem Geist der Selbstbehauptung, sowohl gegenüber Mitarbeiterinnen als auch gegenüber Vorgesetzten. Es gibt sehr viele schöne Erinnerungen an die Arbeit dort, es gibt aber auch schwierige Zeiten, wie die folgende Erzählung zeigt. In diesen schwierigen Zeiten verlässt sich Gianna vorerst noch auf ihr bewährtes Hand-
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 297
lungsmuster, das in erster Linie auf die eigene Rechtschaffenheit und das Vertrauen auf Unterstützung durch diejenigen Personen zählt, welchen sie als Schutzbefohlene unterstellt ist. Waren dies in der Kindheit die Eltern, dann der Ehemann, so sind es jetzt die Vorgesetzten. Die Konflikte an Giannas Arbeitsplatz drehten sich um die Sonderregelung, welche Gianna sich ausbedungen hatte: F: Poi facevano un pochino storie perché
ten gemacht dass auch ich Überstunden
[***] [P]erché quando si deve finire
machen müsse. [***] [W]eil wenn man
uno [.] un balletto o un ‚Schauspiel‘
ein Ballett oder ein Schauspiel fertig
A:
machen muss,
Un ‚Vorstellung‘.
F:
F: Dann haben sie ein bisschen Geschich-
dovevo fare straordinario anch’io.
un ‚Vorstellung‘, non è che si
A: F:
Eine Vorstellung. eine Vorstellung, da
può dire: „No, sta sera non è pronto.“
kann man nicht sagen: „Nein, heute
Si deve finire. Allora chi ci ha quel
Abend ist das nicht bereit.“ Man muss
vestito, quel costume da fare, deve fare
es fertig machen. Und wer dieses Kos-
straordinario. E tante volte per aiutare
tüm zu machen hat, muss Überstunden
anche gli altri. Allora io dicevo: „Come
machen. Und oft auch, um den anderen
faccio io? Che ci ho i bambini?“ [***]
zu helfen. Damals hab ich gesagt: „Wie
Quando arriva un certo bel momento,
soll ich das machen? Wenn ich Kinder
[.] loro le sarte si sono ribellate. „No“,
habe?“ [***] Und eines schönen Mo-
dice, „anche la signora Rosetti deve
mentes haben die Schneiderinnen rebel-
fare straordinario. [.] Perché lei non è
liert. „Nein“, sagten sie, „auch die
[.] la più bella qui dentro.“ Allora io ho
Frau Rosetti muss Überstunden machen.
detto: „Ma voi lo sapevate [.] che io
Denn sie ist nicht die Schönste hier
avevo i bambini.“ Allora hanno parlato
drin.“ Da habe ich gesagt: „Aber ihr
con la ‚Kostumebilderin‘, [.] che la
habt doch gewusst, dass ich Kinder
Frau Rosetti deve fare straordinario. La
habe.“ Da haben sie mit der Kostüm-
‚Kostumebilderin‘ ha fatto riunione [.]
bildnerin gesprochen, dass die Frau Ro-
diceva: „Venite tutti da me.“ [.] nella
setti Überstunden machen müsse. Die
stanza da lei. Be’ [.] siamo andati tutti,
Kostümbildnerin hat eine Versammlung
tutti presenti. [.] Allora dice: „Lei, cosa
gemacht, sagte: „Kommt alle zu mir“,
c’è da dire contro la signora Rosetti?“
in ihr Zimmer. Gut, sind wir alle gegan-
Dice: „No, io non ci ho niente da dire.
gen, alle anwesend. Dann sagt sie: „Sie,
Solo che deve fare straordinario.“ Tutti
was gibt es gegen Frau Rosetti zu sa-
quanti la stessa cosa. [..] Allora [.] due
gen?“ Sagten sie: „Nein, ich habe
[.] di loro [.] hanno detto: „No, io mi
nichts zu sagen. Nur dass sie Überstun-
298 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
oppongo. La signora Rosetti non deve
den machen muss.“ Alle zusammen das-
fare straordinario perché ci ha i
selbe. Dann haben zwei von ihnen ge-
bambini piccoli.“ [.] Risponde un’altra
sagt: „Nein, ich widerspreche. Frau Ro-
[.] la stessa cosa. Dice: „La maggio-
setti muss nicht Überstunden machen,
ranza sta dicendo che la signora Rosetti
weil sie kleine Kinder hat.“ Und eine
deve fare straordinario.“ Dice: „La
andere hat dasselbe geantwortet. Sagt
minoranza [***] dicono di no. E
diese: „Die Minderheit sagt nein. Und
anch’io dico di no.“ [.] ha detto lei.
auch ich sage nein.“, hat sie gesagt.
Dice: „Allora ci potete andarvi.“
„Dann könnt ihr jetzt gehen.“ Jede ist
Ognuna è andata al proprio posto
an ihren Platz zurück gegangen, „und
[.]„che la signora Rosetti straordi-
die Frau Rosetti wird keine Überstun-
nario, non ne farà.“ La ‚Kostumbild-
den machen.“, die Kostümbildnerin, und
erin‘, e ho detto: „Che sono fortunata!
ich hab gesagt: „Wie habe ich Glück! In
[.] Sul lavoro sono fortunata.“
der Arbeit habe ich Glück.“
(Transkript Rosetti 1, 29/20 – 30/23) Gianna zeigt sich hier sehr konsequent in der Aufrechterhaltung ihrer Forderung. Sie stellt das Wohl ihrer Kinder eindeutig über ihre berufliche Tätigkeit und die Solidarität mit Arbeitskolleginnen, indem sie nicht bereit ist nachzugeben und ab und zu Überstunden zu leisten, weder um ihre eigenen Kostüme fertig zu machen, noch um ihre Kolleginnen zu unterstützen. Als es zum Konflikt kommt, ist es wieder eine Vorgesetzte, die ihr ermöglicht, das Wohl ihrer Familie über alles andere zu stellen und ihre Ansprüche durchzusetzen. Gianna schafft es hier wieder, sich zu behaupten, ohne dabei anzuecken, Grenzen überschreiten zu müssen, ohne ihre Integrität zu verlieren. Und sie ist stolz auf das, was sie erreicht hat, schließt jedoch ihre Erzählung mit einer Formulierung ab, die wiederum nicht ihre eigene Handlungsmacht betont, sondern die Ursache für den Erfolg ihrem Umfeld und ihrem Schicksal zuschreibt: Sie hat ganz einfach Glück gehabt. Dennoch scheint, wie die Fortsetzung ihrer Erzählung zeigt, das Thema Überstunden nicht ganz vom Tisch gewesen zu sein, und nachdem die Kinder der Rosettis etwas grösser waren, hatte Gianna auch nichts mehr gegen außerordentliche Arbeitszeiten. Nach langjähriger Arbeitstätigkeit am Theater bahnt sich hingegen ein zweiter Konflikt an, welcher wiederum mit Überstunden zu tun hat. Der eigentliche Konflikt besteht diesmal jedoch zwischen Gianna und einer Vorgesetzten, und sowohl in dieser Konstellation wie auch in der Art, wie Gianna sich in dem Konflikt verhält, verändert sich das bisherige Muster. E così son’ rimasta, poi invece [.] è entrata
Und so bin ich geblieben, dann aber wurde
una tedesca, a fare [.]‚Kostumebilderin‘.
eine Deutsche eingestellt, als Kostümbild-
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 299
[***] E questa qui era un pochino strana.
nerin. [***] Und die war ein bisschen selt-
Una persona molto strana. Allora [.] è
sam. Eine sehr seltsame Person. Und dann
successo che io volevo più [.] più ferie.
war es so, dass ich mehr Ferien wollte.
[***] E allora avevo io 125 ore di stra-
[***] Und damals hatte ich 125 Stunden
ordinario in tutto l’anno [.] e non era
Überzeit übers ganze Jahr, und es war nicht
necessario che io dovevo [.] essere pagate
nötig, dass ich mir diese Stunden auszahlen
queste ore, non era necessario. Io potevo
lassen musste, es war nicht nötig. Ich konn-
prendere vacanze [.] potevo prendere i
te Ferien nehmen, konnte das Geld nehmen,
soldi, come si voleva, non solo io, tutti
wie man wollte, nicht nur ich, alle. Also,
quanti. Allora, chi prendeva i soldi, chi
entweder Geld oder Ferien. In jenem Jahr
prendeva [.] ferie. Io quel anno [.] che non
wollte ich, da ich noch nie in Spanien war,
ero mai stata in Espagna, [.] mio marito
hat mein Mann gesagt: „Gehen wir dieses
dice: „Andiamo in Espagna quest’anno“,
Jahr nach Spanien“, sagte ich: „Ja, schau,
dico: „Sì, guarda, io ci ho 125 ore di
ich hab 125 Stunden Überzeit, also können
straordinario, allora possiamo fare queste
wir diese Stunden nehmen. Gehen wir ir-
ore. [.] Andiamo in un altro posto.“ Eh, [.]
gendwo hin.“ Und so haben wir’s gemacht.
abbiamo fatto così. In un primo momento
Zuerst war sie einverstanden, diese Chefin.
era d’accordo, questa ‚Chefin‘. [***] Mio
[***] Mein Mann hat alles gebucht, alles
marito ha prenotato tutto, fatto tutto per
gemacht, um nach Spanien zu gehen, hat
andare in Espagna, ha mandato anche un
auch eine Anzahlung geschickt, Geld, und
acconto, di soldi [.] e dopo, „le ferie“, m’ha dann, „die Ferien“, hat sie gesagt, „nein.“ detto: „No.“ Che non potevo andare. [.]
Dass ich nicht gehen durfte. Da habe ich
Allora io ho detto: „Ah, così eh“ [.] però io
gesagt: „Ach so ist das“, aber ich habe sie
l’ho preso lo stesso, queste vacanze. Ho
trotzdem genommen, diese Ferien. Ich hab’s
fatto di testa mia. [lächelt] E dico: „No. [.]
nach meinem Kopf gemacht. [lächelt] Und
Non deve vincere sempre lei.“ Lei era
sagte: „Nein. Es soll nicht immer sie gewin-
tedesca. [.] Allora, dico a Lei, perché Lei sa nen.“ Sie war Deutsche. Also, ich sag das come sono i tedeschi. Penso che si sa [.] nel Ihnen, weil Sie wissen, wie die Deutschen mondo [.] come sono. Allora [.] dice:
sind. Ich denke, man weiß das, in der Welt,
„Nono, Lei non, Lei non può fare, qua, là.“
wie sie sind. Sie hat also gesagt: „Nein,
Allora io non ho detto più niente. [.] Ho
nein, das können Sie nicht machen, so und
mandato una lettera [.] al ‚Büro‘ [.] che io
so.“ Und ich habe gar nichts mehr gesagt.
mi assentavo per tre settimane. Il, eh, questi
Habe einen Brief geschrieben ins Büro,
[.] questo straordinario me lo prendevo [.]
dass ich drei Wochen frei nehme. Die, eh,
per fare queste vacanze. Perché poi nel
diese Überzeit würde ich nehmen, um
mese di agosto noi facevamo solo [.] ordine
Ferien zu machen. Denn im August machten
del teatro. Non si lavorava perché non ce ne wir nur Ordnung im Theater. Man arbeitete avevamo ne schizzi [.] per tagliare, ne
nicht, weil wir weder Skizzen hatten zum
stoffe, non ce ne avevamo niente. Tutti gli
Schneidern, noch Stoffe, wir hatten nichts.
300 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
anni era la stessa cosa. Ma lei, per, sa, per
Alle Jahre war es gleich. Aber sie, um,
la testa essere dura: No, non doveva
wissen Sie, wegen ihrem Dickkopf: Nein, sie
mandarmi. Va bene! Poi io sono andata, ho
konnte mich nicht gehen lassen. Na gut!
scritto questa lettera, poi [.] ho scritto io
Dann bin ich also gegangen, habe diesen
che tale giorno io mi presentavo. A quel
Brief geschrieben, dann, hab ich geschrie-
giorno mi son’ presentata [***]. Sono
ben, werde ich an dem und dem Tag wieder
arrivata lì [.] il mio tavolo non c’era più,
kommen. An diesem Tag bin ich wieder
non esisteva più. [..] Allora [.] io sono
gegangen. Ich bin angekommen, und mein
andata lì, dalla chef, dico: „Il mio tavolo?“
Arbeitsplatz war nicht mehr da, existierte
Dice: „Io avevo detto a Lei, [.] che non
nicht mehr. Ich bin zur Chefin gegangen,
doveva andare [.] in ferie.“ Dice: „Lei se
habe gesagt: „Mein Tisch?“ Sagte sie: „Ich
ne ha preso le ferie, adesso si prende
hatte Ihnen gesagt, dass Sie nicht in die
licenziamento.“ Dico: „Ma io non ci ho un
Ferien dürfen.“ Sagte: „Sie haben die
licenziamento. [.] Se non ci ho un
Ferien genommen, und jetzt nehmen Sie die
licenziamento, non posso stare a casa. [.]
Kündigung.“ Ich sagte: „Aber ich habe
Ma datemi un licenziamento che sto a casa.
keine Kündigung erhalten. Wenn ich keine
Fino che io non arriv- non ricevo il
Kündigung habe, kann ich nicht zu Hause
licenziamento, voi dovete farmi lavorare.“
bleiben. Geben Sie mir eine Kündigung,
Non c’era il lavoro. Dovevo fare i bottoni,
dann bleibe ich zu Hause. Solange ich keine
in un ordine, cose stupide. Allora lei mi
Kündigung erhalte, müsst ihr mich arbeiten
faceva la vita impossibile.
lassen.“ Es gab keine Arbeit. Ich musste die Knöpfe machen, ordnen, stupide Sachen. Sie machte mir das Leben unmöglich.
(Transkript Rosetti 1, 30/23 – 31/9) Da verlangte Gianna ein Gespräch mit der Direktion. Der oberste Vorgesetzte beruhigte Gianna, beurlaubte sie aber für einen weiteren Monat, mit dem Versprechen, dass sie dann wieder arbeiten könne. Dem war auch so, allerdings nur für kurze Zeit, dann folgte die schriftliche Kündigung. Nel mese del gennaio, [.] sarebbe dell’80,
Im Januar, das war im ’80, erhielt ich die
[***] ricevo il licenziamento. E perché?
Kündigung. Und warum? Weil ich in den
Perché io ero stata in ferie! [***] Siccome
Ferien war! Zumindest wurde auch sie
l’hanno buttato fuori anche lei. [.] Questa
rausgeschmissen. Diese Chefin, die ge-
‚Chefin‘ quella che tagliava, no. [.] La Frau schneidert hat, nicht. Die Frau Binz. GewisBinz. Sono certe cose che non andavano
se Dinge sind nicht gut gegangen mit dieser
bene con quella chef. Allora la buttavano
Chefin. Also haben sie sie rausgeschmissen.
fuori. Allora lei ha detto: „Io non faccio la
Da hat sie gesagt: „Ich blamiere mich doch
figura davanti la Frau Rosetti che io me ne
nicht vor der Frau Rosetti, dass ich gehen
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 301
vado e lei rimane qui.“ [.] Allora, erano
muss und sie bleibt.“ Das waren halt Deut-
tedeschi tra di loro. Prima a me, e poi a lei.
sche unter sich. Zuerst mich, und dann sie.
E nessuno di due ha lavorato più al teatro.
Und keine von beiden hat je wieder am Theater gearbeitet.
(Transkript Rosetti 1, 31/28 – 31/35) In diesem Konflikt am Arbeitsplatz schildert Gianna sich selbst als relativ unbekümmert und selbstbewusst ihre eigenen Interessen vertretend. Auch wenn sie sich nicht direkt vor ihre Chefin hinstellt und ihr sagt, dass sie sich deren Anweisungen widersetzen wird, sondern schweigt und dann einfach handelt, so zeigt sich hier ein deutlicher Unterschied zu Giannas Verhalten in den vorangehend erzählten Episoden. Hier überschritt sie nun erstmals eine Grenze, tat etwas, von dem sie wusste, dass sie es eigentlich nicht dürfte. Sie setzte ihren eigenen Kopf durch, wie sie sagt. Auch nachdem ihr die Chefin mitgeteilt hatte, welche Konsequenzen ihre Grenzüberschreitung haben würde, schickte sich Gianna nicht einfach, sondern wehrte sich, sowohl direkt gegenüber der Vorgesetzten, wie auch indem sie ein Gespräch mit dem höheren Vorgesetzten verlangte. Nichts desto trotz wird Gianna gekündigt. Sie hatte also im Endeffekt keinen Erfolg mit ihrem offensiven Verhalten. In ihrer Erzählung allerdings liegt der Grund für den unglücklichen Ausgang dieser Geschichte nicht bei Gianna und ihrem Verhalten, sondern bei der Chefin, deren seltsamem Charakter und der Tatsache, dass sie eine Deutsche war. In Giannas Darstellung der Ereignisse erklärt Deutschsein das Verhalten ihrer Chefin zu einem beträchtlichen Teil. Gianna sieht sich quasi als Opfer einer Intrige, einer Machtrangelei, einer Schikane, der sie sich – wenn auch nicht bis in die letzte Konsequenz erfolgreich – widersetzt hat. Die Erzählung konzentriert sich vor allem auf die kleinen Aufstände Giannas. Ihr schlussendliches Scheitern jedoch – die Entlassung – wird von Gianna nicht weiter als in obigem Zitat kommentiert. Im Zentrum der Geschichte steht Giannas Anspruch, sich mit neuem Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen zu zeigen. Neu an der Geschichte ist auch, dass Giannas Konflikte nicht mehr von wohlgesonnenen Vorgesetzten gelöst werden. Im Gegenteil, die Vorgesetzten fallen ihr hier in den Rücken, unterstützen sie, wenn überhaupt, dann nur vordergründig und vorübergehend. Gianna muss sich selbst behaupten, und sie muss die Konsequenzen selbst tragen. Gianna war zu dem Zeitpunkt, als die Geschichte sich zugetragen hat, schon relativ lange in derselben Anstellung. Auch ihre Aufenthaltsbewilligung wird zu dem Zeitpunkt bereits gesichert gewesen sein – wahrscheinlich eine C-Bewilligung, die freie Arbeitswahl und freie Niederlassung gewährleistete. Die Kinder waren groß, standen auf eigenen Beinen, und die ökonomische Situation des
302 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Paares Rosetti war, wie Gianna in ihrer Erzählung andeutet, zu dem Zeitpunkt nicht besonders prekär: Es war nicht notwendig, sich die Überstunden auszahlen zu lassen, die Rosettis konnten sich Ferien leisten. Gianna befand sich also in einer relativ komfortablen Situation, die es ihr auch erlaubte, etwas zu wagen. Dass Gianna ihre Stelle verloren hat, war für sie offenbar nicht wirklich dramatisch. Gianna war zwar darauf hin für längere Zeit zu Hause, aber, wie es scheint, geschah dies nicht unfreiwillig. Sie erzählt in der Folge kurz, dass sie sich nach einem Jahr zu Hause eine neue Stelle gesucht habe, weil sie sich einsam fühlte, weil sie wieder mehr unter die Leute wollte, und sie hat auch rasch eine neue Stelle gefunden. Es bestanden also keine unmittelbaren ökonomischen Zwänge, dass Gianna hätte mitverdienen müssen, und sie scheint auch nicht so lange arbeitslos gewesen zu sein, weil sie keine Arbeit gefunden hätte. Wie später noch einmal ausführlicher erwähnt wird, hatte Gianna zu dieser Zeit die konkretesten Rückkehr-Wünsche in ihrem Leben in der Schweiz. In welchem kausalen Zusammenhang diese Rückkehrwünsche mit dem Stellenverlust und der längeren Nichterwerbstätigkeit stehen, kann hier nicht geklärt werden. Es erscheint mir aber plausibel, dass die Zeit, nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten, für Gianna eine krisenhafte Zeit war32. Auch die Unzufriedenheit mit ihrer Arbeit fiel in diese Zeit, und diese Konstellation führte dazu, dass sich Gianna in einer für ihre biographische Selbstpräsentation untypischen Weise verhielt und Grenzen überschritt. Denn die Untätigkeit bekam ihr nicht gut: Un anno sono stata a casa. Ma mi stava
Ein Jahr bin ich zu Hause geblieben. Aber
ritornando di nuovo la depressione. [.]
da kam wieder diese Depression zurück. Als
Stando da sola a casa. Non avevo più con
ich so alleine zu Hause war. Ich hatte
chi parlare, non avevo più lavoro, non
niemanden zum reden, hatte keine Arbeit
avevo più niente. Per me [.] ero una donna
mehr, hatte nichts mehr. Für mich war ich
morta. [.] Allora io ho detto: „No, io devo
eine tote Frau. Also hab ich gesagt: „Nein,
cercarmi qualcosa di lavoro.“
ich muss mir etwas zum Arbeiten finden.“
(Transkript Rosetti 1, 31/35 – 31/39) Und so suchte sich Gianna eine neue Anstellung und arbeitete in einer Boutique als Änderungsschneiderin. Diese Stelle hatte sie während fünf Jahren. Über die Arbeit dort erzählt Gianna allerdings kaum etwas. Während dieser fünf Jahre schien sie zunehmend unter körperlichen Beschwerden zu leiden, deren Ursprung sie noch in der früheren Anstellung sieht. Die Zeit am Stadttheater war
32 Diese Lesart wird gestützt durch die Aussage Giannas, dass der Auszug ihres ältesten Sohnes für sie eine Tragödie gewesen sei (vgl. Kapitel 5.4).
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 303
für Gianna somit nicht nur ein Quell von professionellem Stolz und Erfüllung im Handwerk, sondern auch der Auslöser ihrer gesundheitlichen Probleme bei der Arbeitsausführung. Obwohl Gianna an anderer Stelle die Schneiderarbeit, im Vergleich zu anderen typischen Arbeitsgebieten von italienischen Migrant/innen wie das Baugewerbe, als nicht sehr anstrengend bezeichnet, war für sie persönlich die Arbeit doch belastend genug, um zu bleibenden körperlichen Beeinträchtigungen zu führen. Deshalb fehlte sie zunehmend bei der Arbeit und musste sich in ärztliche Abklärung begeben: A me m’hanno detto che è stato il lavoro.
Mir haben sie gesagt, dass es die Arbeit
[***] Che ho fatto sempre così [ahmt
war. [***] Dass ich immer so gemacht habe
gebeugte Körperhaltung nach], sì, sì. Poi i
[ahmt gebeugte Körperhaltung nach], ja, ja.
vestiti, i vestiti del ‚Stadttheater‘ [.] prima
Dann die Kleider, die Kleider am Stadtthea-
sono leggere. Poi arrivano pesante, pesante
ter, zuerst sind sie leicht. Dann werden sie
perché più cose si mettono, e allora dovevo
immer schwerer, weil immer mehr Sachen
prendere per mettere sopra il tavolo, per
drankommen, und ich musste sie dann neh-
guardare l’orlo, per guardare [.] eh,
men, sie auf den Tisch legen, um den Saum
diverse cose, no. Allora si dovevano mettere anzuschauen, um diverse Sachen zu schaulà. O portale giù, nel ‚Bühni‘, per mettergli.
en, nicht. Deshalb musste man sie dort hin-
E allora queste cose pesanti per me non
legen. Oder sie runtertragen, zur Bühne.
andavano bene. O lavorare in macchina, a
Und diese schweren Sachen gingen für mich
fare ‚Ruscheli‘, tante volte si dovevano fare nicht gut. Oder an der Maschine arbeiten, ‚Ruscheli‘. Per [.] le gonne, sottogonne, o
um ‚Rüscheli‘ zu machen, so oft mussten
vestiti. E lavoravo sempre a macchina, e
‚Rüscheli‘ gemacht werden. Für die Röcke,
tante volte io piangevo. Piangevo [.]
Unterröcke, oder Kleider. Und da habe ich
lavorando. E allora poi [.] dopo questi anni immer an der Maschine gearbeitet, und so [.] m’hanno messo [.] invalida. Ho preso
oft habe ich geweint. Geweint während des
l’invalidità, per un paio d’anni.
Arbeitens. Und dann, nach diesen Jahren, haben sie mich invalide geschrieben. Ich habe Invalidenrente bezogen, für ein paar Jahre.
(Transkript Rosetti 2, 36/33 – 36/44) Und so gab Gianna die Erwerbstätigkeit mit 54 Jahren endgültig auf. Sie kommentiert ihr frühzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben aber nicht weiter, kommt lediglich zum Abschluss ihrer Erzählung über ihre Arbeitsstellen noch einmal auf ihre Gesamteinschätzung zurück, dass sie bezüglich Arbeit in ihrem Leben immer Glück gehabt habe:
304 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
E così [.] ho lavorato cinque anni ancora
Und so habe ich noch fünf Jahre in dieser
da, in questa boutique. [.] E mi son’ trovata
Boutique gearbeitet. Und auch dort gefiel’s
anche bene qui. Sìsì, ho lavorato molto
mir gut. Jaja, ich habe gut gearbeitet.
bene. Veramente, dove io ho lavorato [.] mi
Wirklich, wo ich gearbeitet habe, ging es
trovavo sempre bene. Sìsì.
mir immer gut. Jaja.
(Transkript Rosetti 1, 32/6 – 32/8)
Qualifizierte Arbeitsmigration ohne ökonomischen Gewinn Die Rosettis sind als Berufsleute mit mehreren Jahren Berufserfahrung in die Migration gegangen und haben in der Schweiz auf ihrem angestammten Beruf weiterarbeiten können. Stellen zu finden, war nicht schwierig, ihre Qualifikation wurde hier nachgefragt. Doch der ökonomische Gewinn daraus war sehr bescheiden. Warum ließ sich die berufliche Qualifikation der Rosettis nicht in ökonomisches Kapital umwandeln? Gianna verfügte zwar über ein Diplom, doch sie sagt, das sei bei der Arbeitssuche in Bern in der Regel nicht von Bedeutung gewesen, außer bei der Anstellung am Stadttheater, welches als öffentlicher Betrieb formale Qualifikationen bei der Einstufung in Gehaltsklassen mit berücksichtigte. Lino seinerseits gibt an, er sei bezahlt worden wie andere auch in der Branche, und Schneider/innen seien nun mal keine besonders gut bezahlten Berufsleute. Bei ihm war, wie im Kontext der italienischen Arbeitsmigration in die Schweiz oft praktiziert (vgl. z.B. Soom/Truffer 2000: 117f), die Qualität der geleisteten Arbeit ausschlaggebend, nicht formale Qualifikationen33. Obwohl die Rosettis mit einer qualifizierten Berufsausbildung in die Schweiz migriert sind (Gianna mit einem Diplom, Lino zumindest mit fachlichem Wissen) und ihren beruflichen Status als qualifizierte Handwerker/in beibehalten konnten, und obwohl beide über die meiste Zeit arbeitstätig waren – Lino zeitweise sogar mehr als 100 % – haben die beiden sich in der Schweiz keine goldene Nase verdient. Ihre Rente liegt unter dem Existenzminimum und wird mit Ergänzungsleistungen aufgestockt, Ersparnisse gibt es kaum mehr, auch Immobilienbesitz gibt es weder in der Schweiz noch in Italien. Die Wohnung ist einfach und günstig, es gibt keine teuren Hobbies, und abgesehen von kleineren Statussymbolen des bescheidenen Wohlstandes wie einem Mittelklasse-Auto, einer gut gepflegten
33 So wurden Arbeitsverträge oft erst definitiv ausgestellt, wenn Arbeitsproben vorlagen, anhand derer Arbeitgebende die beruflichen Fähigkeiten der Bewerber/innen direkt überprüfen konnten.
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 305
Garderobe (die zumindest bei Lino teilweise auch selbst gemacht ist34), dem großen Fernseher und dem seit Jahrzehnten gehüteten Pelzmantel fallen mir keine außergewöhnlichen Luxusgüter auf. Die Reisen nach Sizilien scheinen nicht allzu viel zu kosten. Die Rosettis haben sich darauf spezialisiert, möglichst billige Reisewege zu finden. Sie reisen momentan mit dem Zug zum nächstgelegenen Flughafen, welcher eine Billigflug-Verbindung nach Sizilien anbietet (zum Zeitpunkt des Interviews ist es Mailand). In Sizilien werden sie von Verwandten abgeholt. Wohnen können sie ebenfalls bei Verwandten, meistens im Haushalt ihrer Tochter, die im Alter von etwa 20 Jahren remigriert ist. Auch wenn also in der Regel zweimal pro Jahr eine Reise nach Sizilien unternommen wird, muss dafür nicht allzu viel Geld ausgegeben werden. Den Verwandten in Italien scheint es durchwegs gut zu gehen heute, besser als den Rosettis, die vor Jahrzehnten das Wagnis der Migration aus dem armen Süden in den reichen Norden auf sich genommen hatten. Giannas Schwester zum Beispiel lebt offenbar gut von dem Restaurant, das sie mit ihrem Mann zusammen in einer touristisch begehrten Region am Meer betreibt, und ihre Töchter studieren beide an renommierten Universitäten in Norditalien. Auch Giannas Tochter hat es in Sizilien zu einem eigenen Coiffeursalon gebracht, besitzt ein neu gebautes Haus in einem Vorort von A-Stadt und kann es sich leisten, ihren beiden Kindern (also den Enkelkindern von Gianna und Lino) einen Kleinwagen zu kaufen, damit sie sich für ihren Weg ans Gymnasium resp. an die Uni nicht auf den schlecht funktionierenden Busverkehr in A-Stadt verlassen müssen. Nach dem Grund gefragt, warum trotz langjähriger Erwerbstätigkeit beider Ehepartner und trotz qualifizierter Arbeit die Rente heute unter dem Existenzminimum liege, argumentieren die Rosettis wie folgt: L: Ascolti: Eravamo tutti italiani, e aveva-
L: Hören Sie: Wir waren alles Italiener,
mo la minima. Di tariffa di paga. [.]
und wir hatten das Minimum. Des Lohn-
Poi il sarto non è che guadagna un
tarifes. Und der Schneider verdient
gran’ che [.] come [.] l’operaio sarto
nicht so gut wie – der Schneider-Arbei-
non ci ha [.] una base di stipendio
ter hat nicht annähernd die Gehaltsba-
abbastanza come che [.] uno lavora in
sis wie einer, der in der Industrie arbei-
industria, quelle cose, non so. È la paga
tet, oder so, weiß nicht. Es ist der Lohn,
34 Lino sagte mehrfach, er würde auch heute noch ab und zu etwas nähen, und bei meinen Besuchen fielen mir angefangene Stücke auf. Lino kleidet sich klassisch, trägt Hemden, Hosen und Mäntel. Gianna hingegen kauft ihre Kleidung heute, so scheint mir, im Warenhaus.
306 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
wie nach Gesetz, das Minimum, ja.
[..] come di legge, la minima, ecco. G:
Sì, ma [.]
G:
Ja, aber
questi che lavoravano per dire i mura-
diejenigen, die sagen wir mal als Mau-
tori, [.] questa gente, guadagnavano
rer arbeiten, diese Leute, verdienen
più che noi.
mehr als wir.
E: Ah sì?
E: Ah ja?
G: Sì. Perché è un lavoro più manuale,
G: Ja, weil es eine manuellere Arbeit ist,
Pesante. L:
L:
Schwer.
più G: schwerer. Unsere Arbeit hingegen ist
G:
pesante. Invece il nostro è un lavoro più
eine leichtere Arbeit. Und wir hatten
leggero. E non avevamo una grande-
keine große-
Paga. L:
L:
G: Anzi, io non posso lamentarmi, perché quando [***] io lavoravo al ‚Stadtthea-
Bezahlung.
G:
Hingegen kann ich mich nicht beklagen, weil als ich [***] beim
ter‘, l’ultimamente, io parlo del [.] ’79,
Stadttheater gearbeitet habe, habe ich
[.] ’80, [.] guadagnavo già tre mila
zuletzt, ich rede vom ’79, ’80, habe ich
franchi al mese. Quella volta. Ma mio
schon dreitausend Franken im Monat
marito guadagnava di meno di me. [.]
verdient. Damals. Aber mein Mann hat
Perché, non lo so perché, perché Aeby
weniger verdient als ich. Weil, weiß
non pagava [.] così tanto. L: Ma lei era [.] era statale, lei era dello stato. Perché ‚Stadttheater‘ è lo stato.
nicht warum, weil Aeby nicht so viel bezahlte. L: Aber sie war staatlich, sie war beim
[.] Noi eravamo privato, e non [.] non
Staat. Weil das Stadttheater ist der
si prendeva tanto.
Staat. Wir waren privat, und da verdiente man nicht so viel.
(Transkript Rosetti 2, 32/37 – 33/18) Arbeit erscheint in den biographischen Selbstpräsentationen von Gianna und Lino denn auch vor allem als Garant für Einkommen und damit für Unabhängigkeit. Von Bedeutung in ihren Erzählungen sind aber auch Elemente von Berufsstolz, von Freude an ihrem spezialisierten Können, wie auch die Freude daran, ein Teil der spannenden Welt des Theaters zu sein. Für Gianna war die Arbeit zwar nicht hauptsächlicher Lebensinhalt, und wir wissen auch schon, dass sie ihre Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig aufgab. Doch sie schätzte die Arbeit als Gelegenheit, soziale Kontakte zu pflegen, und sie war nicht glücklich, wenn sie keine Arbeit hatte. Lino seinerseits hat einen großen
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Teil seiner Zeit bei der Arbeit verbracht, war quasi ‚verheiratet‘ mit seiner Arbeit, mit seinem Chef. Für ihn bestand das Leben eigentlich nur aus Arbeit, vielleicht noch aus ein wenig Familienzeit am Wochenende. Um soziale Kontakte außerhalb der Arbeitswelt zu pflegen, blieb kaum Zeit übrig.
5.4 D AS
DRITTE
L EBENSALTER
Die biographischen Selbstpräsentationen von Gianna und Lino haben sich vorwiegend auf ihre Kindheit und Jugend in Sizilien sowie auf die Migration und die ersten Jahre in der Schweiz konzentriert. Ausschlaggebend waren dabei die Kriegserlebnisse, die Sicherstellung der ökonomischen Unabhängigkeit, die Familienzusammenführung nach der Migration und die erfolgreiche Integration der Kinder in Schule und Beruf. Die dritte Lebensphase hingegen ist kaum Thema in den biographischen Selbstpräsentationen. Vor allem für Gianna scheint das Erzählenswerte oder Erzählbare ihrer Lebensgeschichte damit aufzuhören, dass ihre Kinder ausgezogen sind – ein Ereignis, welches sie als Tragödie bezeichnet: E così [.] siamo arrivati [.] e poi i figli si
Und so haben wir’s geschafft, und dann
son’ sposati, primo è andato via il grande.
haben die Kinder geheiratet, zuerst ist der
[.] E è stato per me [.] una tragedia. Perché Große weggegangen. Für mich ist das eine abituata con tutti e tre in casa, e poi [.]
Tragödie gewesen. Weil ich’s gewohnt war
allora, il primo è andato via.
mit allen dreien im Haus, und dann, also, der erste ist weggegangen.
(Transkript Rosetti 1, 25/50 – 26/2) Gianna fährt fort zu erzählen, unter welchen Umständen die Tochter ausgezogen ist, dass nun alle verheiratet seien, die Söhne in der Nähe mit Schweizer Ehefrauen, die Tochter in Sizilien mit einem Sizilianer. Dann zeigt Gianna auf ihre Enkelkinder auf den Fotos an der Wohnzimmerwand und erklärt, welche Enkelkinder zu welchem ihrer Kinder gehören. Dann schließt Gianna ab: Eh, ci ho raccontato un pochino della mia
Nun habe ich Ihnen ein bisschen von meiner
storia, da piccolina fino adesso. [.] Adesso
Geschichte erzählt, von klein auf bis jetzt.
siamo soli [.] ogni tanto vengono i figli, a
Jetzt sind wir allein, ab und zu kommen die
trovarci.
Kinder, uns besuchen.
(Transkript Rosetti 1, 26/35 – 26/37)
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Rekonstruiert man den chronologischen Lebenslauf von Gianna und Lino, so fällt auf, dass es eine relativ lange Zeitspanne nach dem Auszug der Kinder und der Aufgabe der Erwerbstätigkeit gibt, über die kaum oder nichts erzählt wird. Insbesondere die Pensionierung und die Zeit unmittelbar nach der Pensionierung werden nicht angesprochen. Bei Gianna liegt der Zeitpunkt der Pensionierung mehr als zwanzig Jahre, bei Lino über 15 Jahre zurück. Bedeutet dies, dass es aus dem Pensionärsleben der Rosettis nichts Interessantes zu berichten gibt? Oder dass die Rosettis ihre Lebensplanung bereits sehr früh abgeschlossen haben? Festhalten lässt sich hier, dass die Pensionierung und die Zeit danach nicht Gegenstand der spontanen biographischen Selbstpräsentationen von Gianna und Lino sind. Es scheint über die ganzen Gespräche hinweg so, als wären damit keine einschneidenden Veränderungen verbunden gewesen, als hätte es keine Konflikte innerhalb des Paares über die Organisation des Haushaltes und die Ausgestaltung der neuen Freizeit gegeben, als wäre das Leben in ruhigem, gemächlichem Fluss übergegangen von der Erwerbstätigkeit über die Pensionierung bis heute, ohne Turbulenzen und Wendungen. Schauen wir deshalb etwas genauer hin, auf die Umstände der Pensionierung, die Lebensveränderung durch den Austritt aus dem Erwerbsleben, die finanzielle und gesundheitliche Situation im Alter, die Einstellungen der Rosettis zum Thema Rückkehr sowie die Vorstellungen bezüglich der eigenen Zukunft. Erwerbsaustritt und Veränderungen des Lebens durch die Pensionierung Rekapitulieren wir kurz die Umstände des Erwerbsaustritts: Lino Rosetti war bis zum Erreichen des regulären Rentenalters von 65 Jahren voll berufstätig. Auf meine Frage, wie sein letzter Arbeitstag war, antwortet Lino auf eine Weise, welche noch einmal auf das besondere Verhältnis zwischen ihm und seinem Arbeitgeber verweist: Veramente, era un [.] proprio [.] quel
Wirklich, es war, genau an jenem Tag
giorno non è che abbiamo finito completa-
haben wir ja nicht komplett aufgehört, weil
mente perché avevamo dei [.] pezzi in
wir noch Stücke in Arbeit hatten, Kunden
sospeso, [.] dei clienti che ancora venivano. die noch kamen. Es hat noch ein paar Jahre Ha durato ancora un paio d’anni ancora.
gedauert. So zu arbeiten, nicht. Die Arbeit
[.] A lavorare così, no. Per finire il lavoro
zu beenden, weil viele Kunden, denen ich
[.] perché molti clienti che [.] le dico che mi sagte, dass ich mich zurückziehe, kamen ritiravo e i clienti venivano lo stesso. E
trotzdem noch. Und so haben wir eine neue
allora [.] facevamo una nuova guardaroba,
Garderobe gemacht, haben wir gemacht für
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facevamo perché i genti che ci hanno soldi,
die Leute, die Geld haben, nicht. Man
no. Si cambiavano tre, quattro vestiti [.]
tauschte drei, vier Anzüge aus, Mäntel,
mantelli, cose, e [.] peccato a rifiutare il
Sachen, und es ist doch schade, Arbeit
lavoro.
auszuschlagen.
(Transkript Rosetti 1, 42/33 – 42/38) Lino hat also nicht einfach von einem Tag auf den anderen aufgehört zu arbeiten, sondern ist geblieben, bis alle noch anstehenden Aufträge ausgeführt waren. Der Chef von Lino, ein paar Jahre älter als dieser, hat sein Geschäft mit Lino als einzigem noch verbliebenen Angestellten so lange weiter geführt, bis auch dieser das reguläre Rentenalter erreicht hatte. Damit habe, so meinen sowohl Lino wie auch Gianna, Herr Aeby ihnen sehr viel geholfen (Transkript Rosetti 2, 11/10 – 12/3). Die ‚Kostümmacherei Aeby‘ hatte kontinuierlich weniger Aufträge, und abgehende Mitarbeiter/innen wurden nicht mehr ersetzt. Zum Schluss blieben nur noch Herr Aeby und Lino übrig. Dadurch, dass Herr Aeby bei der Geschäftsaufgabe Rücksicht nahm auf Lino, wurde diesem eine Arbeitslosigkeit kurz vor seinem Rentenalter erspart. Möglich wurde dies aber auch durch die Stammkundschaft der ‚Kostümmacherei Aeby‘. Wahrscheinlich hatte auch diese inzwischen ein fortgeschrittenes Alter, und Kleidungs- und Einkaufsgewohnheiten hatten sich in den späten 1980er Jahren, als Herr Aeby sein Pensionsalter erreicht hatte, schon so verändert, dass die Stammkundschaft nicht ohne weiteres auf Alternativen hätte ausweichen können, wenn das Geschäft geschlossen hätte. So haben sich Lino und sein Chef dank ihrer Stammkundschaft noch eine Weile weiter beschäftigt. Der Übergang vom Berufsleben zum Pensioniertenleben war für Lino demnach fließend, er vollzog sich nicht abrupt von einem Tag auf den anderen, dauerte sogar über sein reguläres Pensionsalter hinaus. Und durch die bereits erwähnte Angewohnheit Linos, zusammen mit seinem ehemaligen Chef gelegentlich zu schneidern, hat er das Arbeitsleben – in symbolischer Form – bis heute als Bestandteil seines Alltags beibehalten. Sowohl Lino wie auch Herr Aeby haben dadurch die Möglichkeit, ihre beruflichen Fertigkeiten – und damit verbunden auch ihre berufliche Identität – aufrechtzuerhalten und ihre freundschaftliche Beziehung im gewohnten Kontext zu pflegen. Giannas Austritt aus dem Erwerbsleben fand ebenfalls nicht von einem Tag auf den anderen statt, sondern zog sich eine Weile hin. Definitiv aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist sie allerdings fast zehn Jahre vor dem regulären Pensionierungsalter, mit 54 Jahren. Der Grund dafür war die schlechte Gesundheitssituation:
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E dopo non ho lavorato più perché [.] io
Und dann habe ich nicht mehr gearbeitet,
non, non ero troppo sana. Gli occh-, dovevo weil ich nicht allzu gesund war. Die Augen, operarmi gli occhi. La sciena, ci ho la
ich musste mir die Augen operieren. Der
spondylose. E non st-, tanto bene di salute
Rücken, ich habe Spondylose. Und es ging
non stavo, veramente. E non – adesso
mir gesundheitlich nicht sehr gut, wirklich.
ancora peggio. [lacht] Perché sono più
Und nicht – heute sogar noch schlechter.
vecchia, no! [lacht]
[lacht] Weil ich älter bin, nicht! [lacht]
(Transkript Rosetti 1, 32/3 – 32/6) Die aufgesuchten Ärzte attestierten Gianna neben dem Augenleiden auch eine degenerative Veränderung der Bandscheibenräume in der Wirbelsäule (Spondylose), die sich nicht beheben lässt. Aufgrund ihrer gesundheitlichen Probleme erhielt Gianna eine Teilinvalidität attestiert, was sie zum Bezug einer kleinen Rente bis zum Erreichen des Pensionsalters berechtigte. Darauf erhielt sie eine Teilrente aus der AHV. Die Pensionskassengelder35 ließ sie sich als Gesamtbetrag ausbezahlen, sie dienten in der Folge als Notnagel bei Engpässen: Eh, a me, me l’hanno dato quando io sono
Eh, mir haben sie die gegeben, als ich weg-
andata via. E questi soldi, si sa, [.] che poi
gegangen bin. Und diese Gelder, das weiß
[.] non si arriva. Allora si devono prendere
man, dass es dann nicht reicht. Also muss
se c’è un pochino di [.] riserva. Si devono
man sie nehmen, wenn man ein bisschen
prendere. E prendi e prendi, e poi non ci
Reserve hat. Man muss sie nehmen. Und du
sono più.
nimmst und nimmst, und dann sind sie nicht mehr da.
(Transkript Rosetti 2, 33/30 – 33/32 Die zum Zeitpunkt der Erwerbsaufgabe so einleuchtende Entscheidung, den großen, einmalig ausbezahlten Betrag zu beziehen, wird nun überlagert von der Erkenntnis, dass die Reserve über die Jahre versickert ist. Auch Lino hat sich die Pensionskassengelder ausbezahlen lassen, da er der Meinung war, damit die bessere Option zu wählen. Allerdings war sein Guthaben nicht besonders hoch:
35 Gelder aus einer privaten Zusatzversicherung, in die Arbeitgeber/innen und Arbeitnehmer/innen, ähnlich wie bei der staatlichen Rentenversicherung, einen Anteil des Lohnes einzahlen. Die einbezahlten Gelder kann man sich bei der Pensionierung entweder en bloc oder als Rente auszahlen lassen. Es gibt je nach dem auch verschiedene Mischformen der Auszahlung von einmaligen Beträgen und Renten.
D AS E HEPAAR ROSETTI
L: Ascolti, quella volta non c’era [.] non
L: Hören Sie, damals war das nicht obligatorisch. Dann im ’85 scheint mir ist es
era obbligatorio. Poi all’85 mi pare che è stato, G:
G:
è obbligatorio.
L:
Haben sie’s obligatorisch gemacht.
obbligatorio. Allora [.] Aeby me l’ha messo. L:
Da hat Aeby mich versichert. Quasi für mich
Quasi a me G:
obligatorisch geworden.
Hanno messo G:
G:
L:
Ja, im ’85 war das.
Sì, all’85 è stato.
L:
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Ha dovuto, ha dovuto.
L:
perché gli altri
G:
Er hat müssen, hat müssen.
L:
weil die
si son’ dovuti andare. [.] Allora quando
anderen haben gehen müssen. Und als
mi sono [.] diciamo, ho fatto i 65 anni,
ich mich, sagen wir, als ich 65 gewor-
l’assicurazione mi ha detto: „Se Lei
den bin, hat mir die Versicherung ge-
vuole, [.] ne prende tutti, [.] 30 000
sagt: „Wenn Sie wollen, können Sie al-
franchi. [.] Se no“, dice, „deve arrivare
les nehmen, 30 000 Franken. Wenn
[.] per ricuperare [.] la somma, e Le da
nicht“, sagten sie, „müssen Sie, um die
di 84 anni.“
Summe wiederzuerlangen, 84 Jahre alt werden.“
G:
Sì, però cosa di danno, 90
G:
Ja, aber was würden sie dir geben, 90 Franken im Monat?
franchi al mese? L: 90, e nemmeno. Poco.
L: 90, nicht einmal. Wenig.
G: Erano niente.
G: Es war nichts.
L: Comunque quelli erano soldi piuttosto
L: Jedenfalls waren das ziemlich freie Gelder, und so habe ich sie genommen.
liberi, [.] e le ho preso. G: Gli ha preso anche lui.
G: Auch er hat sie genommen.
E: Ha preso tutto, mhm.
E: Sie haben alles genommen, mhm.
L: E non [.] non ci ha più niente.
L: Und es hat nun nichts mehr.
G:
G:
E come Le ho detto
Und wie ich Ihnen
prima, quando non si arriva, si devono
vorhin gesagt habe, wenn’s nicht reicht,
pendere quelle.
muss man davon nehmen.
(Transkript Rosetti 2, 33/34 – 34/14
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Die Rosettis hatten sich also entschieden, die Pensionskassengelder in einmaligen Auszahlungen zu beziehen und als Reserve zurückzulegen. Kurzfristig gesehen mag dies eine gute Entscheidung gewesen sein, denn man weiß zum Zeitpunkt der Verrentung nicht, ob man alt genug werden wird, um den verlockend hohen einmaligen Betrag auch mittels der eher kleinen, monatlich ausgezahlten Renten wieder hereinzuholen. Lino wurde dies offenbar vorgerechnet, er hätte 84 Jahre alt werden müssen. Mit 65 Jahren mag das einem unendlich weit weg erscheinen; inzwischen ist Lino allerdings schon 81 Jahre alt. Und die als eiserne Reserve gedachten Pensionskassengelder sind aufgebraucht36. Das bedeutet, dass die Rosettis sich für ihr regelmäßiges Einkommen nur noch auf die AHV-Rente verlassen können, und diese ist aufgrund der eher tiefen Entlöhnung ihrer Arbeit und der beschränkten Anzahl Beitragsjahre klein. Wegen seines nicht mehr ganz jungen Alters zum Zeitpunkt der Migration brachte es Lino nicht auf die notwendige Menge von 40 Beitragsjahren bei der Schweizer Rentenversicherung. Die Erwerbstätigkeit von Lino dauerte von 1959 bis 1991, also 32 Jahre, und davon war Lino die ersten Jahre nicht fest angestellt. Gianna ihrerseits war nur bis 1985 erwerbstätig, und über längere Strecken nur in Teilzeit oder auf Auftragsbasis. Und deshalb werden den beiden nur Minimalrenten ausbezahlt. Die bestehenden Möglichkeiten zur Aufbesserung von knappen Renten über Sozialgelder haben die Rosettis ausgenutzt37. Über die entsprechenden Möglichkeiten informiert und bei der Beantragung geholfen hat ihnen dabei ein Schweizer Nachbar. Gianna erzählt: Poi [.] questo signore che abitava qui, che
Dann hat dieser Herr, der hier wohnte, des-
la moglie era ticinese, no [.] ci ha chiesto.
sen Frau Tessinerin war, nicht, hat uns ge-
Perché si sono pensionati nello stesso anno. fragt. Weil sie im selben Jahr in Pension geSono la stessa età. Allora ha detto, dice:
gangen sind. Sie haben dasselbe Alter. Also
„Rosetti“, dice, „ma [.]“ perché lui sa le
hat er gesagt: „Rosetti“, hat er gesagt,
leggi svizzeri, naturalmente. Dice: „Ci ha
„aber“ weil er kennt die Schweizer Gesetze,
36 Durchwegs alle meine Interviewpartner/innen ließen sich ihre Pensionskassengelder auszahlen, und dass diese Gelder mit der Zeit verschwinden, darüber sprechen auch alle. 37 In der Regel bestehen gute Chancen auf die Gewährung von sog. Ergänzungsleistungen. Ausschlaggebend dafür ist nicht nur die Höhe der Renten, sondern auch das Vorhandensein von Vermögenswerten. Diesbezüglich kann z.B. auch ein Hausbesitz in Italien zum Verhängnis werden (vgl. Ehepaar Lillo, Kapitel 6). Im Falle der Rosettis jedoch bestehen keine solchen Vermögenswerte, und so sind sie vollumfänglich zum Bezug von Ergänzungsleistungen berechtigt.
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 313
una buona pensione?“ Allora noi abbiamo
natürlich. Sagte er: „Haben Sie eine gute
detto: „Veramente, no.“ [.] Perché
Pension?“ Und wir haben gesagt: „Wirk-
avevamo la minima. [.] Allora dice: „No,
lich nicht, nein.“ Weil wir das Minimum
guarda che ci devono dare un supplemento.
hatten. Also hat er gesagt: „Schauen Sie,
“ Allora l’ha portato, lui stesso l’ha portato
dass sie Euch eine Ergänzung geben.“
in quest’ufficio [.] eh, nella ‚Ausgleich-
Dann hat er’s hingebracht, er selber hat es
kasse‘ [***]. Allora ci danno un’aiuto lì.
in dieses Büro gebracht, eh, in die ‚Ausgleichskasse‘ [***]. Und nun geben sie uns eine Hilfe von dort.
(Transkript Rosetti 1, 42/44 – 43/10) Das Ehepaar Rosetti verfügt also über zwei Minimalrenten aus der AHV und zusätzlich noch über 100 Franken aus der italienischen Rentenversicherung von Lino38. Dazu erhalten die beiden Ergänzungsleistungen, mit denen AHV-Renten, die unter dem Existenzminimum liegen, auf das jeweils benötigte Minimum erhöht werden. Die Höhe dieser Ergänzungsleistungen wird entsprechend der anfallenden Fixkosten alle drei Jahre neu festgesetzt. Für Unvorhergesehenes und Engpässe steht den Rosettis im Moment noch ein kleines Notpolster an Erspartem zur Verfügung. Weitere Ressourcen, wie z.B. Immobilien- oder Landbesitz, sind nicht vorhanden, auch nicht in Italien. Migrationsprojekt und Rückkehrpläne Die Migration in die Schweiz hat die Rosettis also nicht zu Reichtum gebracht, hat sie auch nicht zu stolzen Hausbesitzern gemacht. Allerdings war dies nicht unbedingt das Ziel, welches die Rosettis mit ihrem Migrationsprojekt verfolgt haben. Das Ziel war, in finanzieller Unabhängigkeit eine eigene Familie zu gründen und den Kindern den bestmöglichen Start ins Leben zu verschaffen – und dies insbesondere nach den anfänglichen Turbulenzen in der Familienzusammenführung. Und so betonen Gianna und Lino, ihr Leben und ihr Migrationsprojekt bilanzierend, vor allem die negativen Erfahrungen mit der Schweizer Fremdenpolizei bezüglich ihrer Kinder:
38 Gianna war zwar in Italien erwerbstätig – so wie es scheint, sogar mehr als Lino – war aber offenbar von ihrer Lehrmeisterin nicht angemeldet worden und hatte keine Beiträge in die staatliche Rentenversicherung bezahlt, so dass sie heute keine Altersrente aus Italien beziehen kann. Dies scheint nicht unüblich gewesen zu sein, vgl. z.B. Frau Agostino (Kapitel 5.6) und Frau Morellini (Kapitel 6.7).
314 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
L: Comunque, la vita è stata così, in
L: Jedenfalls war das Leben so, meiner
seguito a mia moglie che [.] abbiamo
Frau folgend, dass wir diese – diese
passato [.] passato questi [.] beribizzie
Blödsinnigkeiten, dieses Schlimme er-
[?], questa bettura [?] che già-
lebt haben, dass schon-
G:
Per il fatto dei
G: Kindern.
figli. L: G:
Wegen der Sache mit den
Per i figli e cose.
L:
Siamo tutti, noi siamo più G: [.] tristi, dispiaciuti [.] di quello che
Wegen der Kinder und so. Wir sind ganz, wir sind viel trauriger, enttäuschter von
abbiamo dovuto [.] attraversare per i
dem was wir haben durchmachen müs-
figli. [.] Che non avevamo un po’ di
sen für die Kinder. Dass wir nicht ein
tranquillità. [.] Quando erano piccoli.
bisschen Ruhe hatten. Als sie klein wa-
Di portarle, non portarle, e poi sì, e poi
ren. Sie bringen zu dürfen, nicht bringen
no, e poi quando eravamo tranquilli [.]
zu können, und dann ja, und dann nein,
non più. E questo per me è stato
und dann als wir Ruhe hatten, wieder
proprio una cosa che [.] no, non mi ha
nicht mehr. Und das war für mich eine
piaciuto tanto. Perché dico, gli svizzeri
Sache, die – nein, das hat mir nicht so
che sono così umanitari [.] non
gefallen. Deshalb sage ich, die Schwei-
dovrebbe succedere – Oggi entrano
zer, die so humanitär sind, da sollte das
chiunque. [.] Oggi arrivano i stranieri
nicht passieren – Heutzutage reist ein
da, di tutto il mondo, [.] si portano figli,
jeder ein. Heute kommen die Fremden
si portano nonni, si portano tutti! E
aus der ganzen Welt, sie bringen Kin-
non ci sono problemi.
der, sie bringen Großeltern, sie bringen alle! Und es gibt keine Schwierigkeiten.
(Transkript Rosetti 1, 36/29 – 36/40) Die von Lino begonnene und von Gianna explizierte Bilanzierung geht von der Reflexion ihrer persönlichen Erfahrungen über in eine unter italienischen Migrant/innen häufig angetroffene stereotypisierende Argumentationslinie, für die ihre eigenen Erfahrungen ein typisches Beispiel sind: Die Italiener/innen mussten, in ihrer Pionierfunktion, in der Schweiz sehr viele Einschränkungen auf sich nehmen, von denen die heutigen Migrant/innen profitieren, und das wird als ungerecht empfunden (vgl. auch Fall Lillo, Kapitel 6). Insbesondere für Gianna waren die Turbulenzen um die Familienzusammenführung die prägenden negativen Erfahrungen ihrer Zeit in der Schweiz: E sta-, per me è stato molto più brutto [.] a
Und es ist-, für mich ist es viel schlimmer
parte la guerra, naturalmente, quando non
gewesen, abgesehen vom Krieg natürlich,
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 315
mi hanno fatto portare i bambini qua. O
als man mich nicht hat die Kinder hierher
quando ho portato i bambini qua, e
bringen lassen. Oder als ich die Kinder
volevano che ritornavano in Italia. Quello è hierher gebracht hatte, und sie wollten, dass stato una cosa proprio brutta, brutta,
sie nach Italien zurückkehren. Das war eine
brutta. Altrimenti io non posso dire niente
ziemlich schlimme Sache, schlimm,
degli isvizzeri. Sono stati molto gentile con
schlimm. Abgesehen davon kann ich nichts
me, no, non posso dire niente. Io non ho
über die Schweizer sagen. Sie sind sehr nett
mai sentito dire a me: [.]„Tschinggali.“
gewesen mit mir, nicht, ich kann nichts
Mai una volta.
sagen. Ich habe nie jemanden zu mir sagen hören: „Tschinggeli.“ Kein einziges Mal.
(Transkript Rosetti 2, 26/7 – 26/12) Abgesehen davon, so scheint es, sind die Rosettis mit ihrem Migrationsentscheid und ihrem Leben in der Schweiz zufrieden, und sie sind – abgesehen von der Wohnungskontrolle durch die Fremdenpolizei – auch immer freundlich und korrekt behandelt worden in der Schweiz. Diskriminierende Zuschreibungen aufgrund ihrer Herkunft, wie z.B. das oben erwähnte ‚Tschinggeli‘39, haben sie nicht erlebt. Eine Rückkehr nach Italien, so sagen die Rosettis mehrmals, war nie eine ernsthafte Option in ihrem Migrationsprojekt. Beide betonen, dass es für sie schon immer klar gewesen sei, dass sie in der Schweiz bleiben würden. Dies hat mich überrascht. Allerdings fanden sich in beiden Gesprächen auch Hinweise darauf, dass die Entscheidung, nicht zurückzukehren, nicht immer ganz so klar und eindeutig war, wie sie heute sagen. Ob die Entscheidung zu bleiben tatsächlich schon ganz früh gefallen ist, wie das unten folgende Zitat suggeriert, oder ob es sich über die Jahre so ergeben hat, und wer die Entscheidung gefällt hat, ist bei genauerem Hinschauen nicht mehr ganz so klar. Der erste Verweis auf die Rückkehrintentionen der Rosettis findet sich im ersten Gespräch. Bezugnehmend auf die Schwierigkeiten, welche der älteste Sohn mit der Integration in die Schweizer Schule hatte, frage ich danach, ob der Besuch der italienischen Schule in Bern jemals ein Thema war, und erhalte darauf von Gianna eine sehr dezidierte Aussage: G: Eh, noi abbiamo pensato, abbiamo studiato tutto. [.] Ma [***] quando [.]
G: Eh, wir haben alles bedacht, alles studiert. Aber [***] wenn wir von der
39 Das Wort ‚Tschingg‘ ist eine abschätzige Bezeichnung für Italiener/innen in der Schweizer Mundart und geht vermutlich zurück auf das italienische Wort ‚cinque‘ (fünf) und ein auf dem Ausruf dieses Wortes basierendes Spiel.
316 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
abbiamo detto per la scuola italiana [.]
italienischen Schule gesprochen haben,
dicevano: „Ma quando gli mandate alla
hat man gesagt: „Aber wenn ihr sie in
scuola italiana, questi bambini, quando
die italienische Schule schickt, diese
[.] devono fare un apprendistato [.] con
Kinder, wenn sie dann eine Berufslehre
la lingua com’è, se [.] se non trovano?“
machen müssen, mit der Sprache, wie ist
[unverst., da L. auch spricht] perché
es da, wenn sie keine finden?“ [unverst.,
noi non avevamo intenzione di andare
da L. auch spricht] weil wir hatten nicht
in Italia.
die Absicht, nach Italien zu gehen.
E: Ah sì?
E: Ah ja?
G: Non l’abbiamo mai pensato. [.] Di
G: Wir haben nie daran gedacht. Nach
andare in Italia, per sempre. Se noi
Italien zu gehen, für immer. Wenn wir
avevamo l’idea di andare in Italia [.]
die Idee gehabt hätten, nach Italien zu
allora, sì, facevamo le scuole italiane, e
gehen, dann ja, hätten wir die italieni-
poi partiremmo tutti assieme. Ma [.]
schen Schulen gemacht, und dann wären
noi non avevamo niente in Italia.
wir alle zusammen gegangen. Aber wir hatten nichts in Italien.
(Transkript Rosetti 1, 23/28 – 23/40) Hier klingt Gianna sehr klar und entschlossen bezüglich des damaligen Standes der Lebensplanung. Der Besuch der italienischen Schulen wurde nicht in Betracht gezogen, weil dieser die Chancen der Kinder auf dem Schweizer Berufsbildungsmarkt erheblich verschlechtert hätte – eine relativ weitsichtige Einschätzung. Die Energien, welche die Rosettis in die möglichst gute Eingliederung ihrer Kinder in die öffentlichen Schweizer Schulen gesteckt haben, sind beträchtlich. Gianna und Lino gehören definitiv nicht zu denjenigen Eltern, welche für ihre Kinder den Weg des geringsten Widerstandes gewählt haben. Und die Kinder hatten, laut ihren Eltern, tatsächlich keinen einfachen Weg durch die Schule. Insbesondere die sprachlichen Schwierigkeiten waren ein Hemmnis für gute Noten. Die Kinder erhielten zeitweise Nachhilfeunterricht, und auch nach Abschluss der öffentlichen Schule haben Gianna und Lino in ihre Kinder investiert, haben ein Zusatzjahr in einer Privatschule bezahlt, um ihnen eine gute Berufsausbildung zu ermöglichen. In einem informellen Nachgespräch betont Gianna denn auch, dass die Belastungen, welche sie ihren Kindern mit der Migration auferlegt hätten, beträchtlich gewesen seien. Gianna und Lino hätten diese den Kindern durch eine Remigration nicht noch einmal zumuten wollen, nachdem sie sich mühevoll in die Schweizer Schulen integriert hätten. Dass Gianna und Lino von Beginn weg so viel investiert haben, ihren Kindern den Schul- und Berufsbildungsweg in der Schweiz zu erleichtern, spricht
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dafür, dass keine konkreten Rückkehrpläne bestanden. Wären diese da gewesen, hätten die Kinder den einfacheren Weg nehmen und die italienischen Schulen in Bern besuchen können – mit dem Risiko, dass sie nach Abschluss der italienischen Schulpflicht weder einen in der Schweiz anerkannten Schulabschluss, noch die vor Ort notwendigen sprachlichen Fähigkeiten gehabt hätten. Gianna und Lino scheinen sich aber sehr bewusst für die öffentliche Schweizer Schule entschieden zu haben, und zwar genau deswegen: um ihre Kinder optimal auf ihre Zukunft in der Schweiz vorzubereiten. Als Begründung für diese Fokussierung auf eine Zukunft in der Schweiz gibt Gianna an, sie hätten in Italien ‚nichts‘ gehabt. Nichts, wofür es sich zurückzukehren gelohnt hätte, nehme ich an, doch immerhin hatten beide ihre Verwandten, ihre Eltern und Geschwister zurückgelassen, sicherlich auch Bekannte – und das ist nicht ‚nichts‘. Gianna und Lino begründen die frühe und klare Entscheidung gegen eine Rückkehr vor allem mit beruflichen Argumenten: Es wäre nicht sinnvoll gewesen, nach Italien zurückzukehren, man hätte noch einmal ganz von vorne beginnen müssen. E: E [.] mi avete detto che era chiaro per E: Und Sie hatten mir gesagt dass es für Lei di stare in Svizzera [.] e di non
Sie klar war, in der Schweiz zu bleiben
ritornare.
und nicht zurückzukehren.
G: Ah. Eh perché [.] non avevamo niente G: Ah. Eh weil wir nichts hatten in Italien. in Italia noi. Quando noi lasciavamo
Wenn wir’s hier hätten sein lassen, nach
qui [.] andavamo in Italia [.] a fare che
Italien gegangen wären, was hätten wir
cosa? A iniziare di nuovo per la- fare io
getan? Neu angefangen mit dem – ich
la sarta, e lui fare sarto?
als Schneiderin, er als Schneider?
L: No. Mai.
L: Nein. Nie.
G: Eh. Cerca i, cerca i clienti che avevamo G: Eh. Such mal die Kunden, die wir hier qui!
hatten!
(Transkript Rosetti 1, 43/34 – 43/39) ‚Nichts haben‘ meint also, keine beruflichen Perspektiven und somit keine adäquaten Verdienstmöglichkeiten zu haben. Gemeint sein könnte mit ‚nichts haben‘ auch das fehlende Haus im Hinblick auf eine Rückkehr im Alter. Doch, wie Lino hier noch einmal deutlich macht, haben die Rosettis vor allem gegen einen beruflichen Neuanfang in Italien entschieden: L: No, specialmente [.] ancora ero
L: Nein, vor allem war ich noch jung, ich
giovane, lavoravo, no? [.] Cioè non [.]
arbeitete, nicht? Deshalb hat es mich
non mi interessava andare giù. [***]
nicht interessiert, runter zu gehen. [***]
318 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Perché [.] non è che [.] andando in
Weil es ist nicht so, dass – wenn du nach
Italia che puoi incominciare di nuovo.
Italien gehst, musst du neu anfangen.
[.] Hai una clientela, a lavorare, no. [.]
Du hast eine Kundschaft, für die du
Non c’è più quella [.] quella forza, le
arbeitest, nicht. Es gibt nicht mehr diese
amicizie, tutto.
Kraft, die Freundschaften, all das.
G: Certo, le amicizie, non ci sono più. Sì,
G: Sicher, die Freundschaften, die gibt’s
ci sono i fratelli, ma quello non è
nicht mehr. Ja, da sind die Brüder, aber
abbastanza. Eh. [.] Per lavorare.
das ist nicht genug. Eh. Um zu arbeiten.
L: Solo deve [.] guadagn-, deve [.] vivere
L: Man muss ja erst mal verdien-, man
anche là, no? [.] Perché se te la prendi
muss auch dort leben, nicht? Weil wenn
qua, la pensione [.] giù non si basta
du sie dir hier nimmst, die Pension,
oggi. [.] Là, con l’Euro [.] con l’Euro è
dann reicht das unten heute nicht mehr.
difficile.
Dort, mit dem Euro, mit dem Euro ist’s schwierig.
G: Con l’Euro, non se la fa più.
G: Mit dem Euro, da geht’s nicht mehr.
L: Perché a ora col cambio [.] una volta
L: Weil jetzt mit dem Wechselkurs, früher
era mille lire. Ora [.] eh, con l’Euro, un
waren es tausend Lire. Jetzt eh, mit dem
Euro sono due mila lire! [.] È stato un
Euro, ein Euro sind zweitausend Lire!
po’ dura per gli italiani. Col cambio,
Das war ein bisschen hart für die Italie-
col Euro, è un po’ [.]
ner. Mit dem Wechsel, mit dem Euro, ist’s ein bisschen –
G:
E noi, col Franco, una
G:
L:
[lachend:] Noi,
Und wir, mit dem Franken, früher war’s mit dem Franken gut.
volta col Franco andava bene. L:
[lachend:] Wir,
quando ci pagavamo col Franco
als wir mit dem Schweizer Franken
svizzero, eravamo eh!
zahlten, waren wir eh!
G: Oggi si deve pensare due volte per
G: Heute muss man zweimal nachdenken,
andare in Italia. Nei nostri casi. C’è
nach Italien zu gehen. In unserem Fall.
gente magari che ha potuto risparmiare
Es gibt allerdings Leute, die viel mehr
molto di più, di noi. [***]
haben sparen können als wir. [***]
L: Purtroppo, noi con tre [ ] bambini non si poteva fare tanto.
L: Wir mit drei Kindern konnten leider nicht so viel machen.
(Transkript Rosetti 2, 39/36 – 40/15) Eine Rückkehr wäre auch eine Rückkehr in finanzielle Abhängigkeit gewesen. Zudem wäre eine Rückkehr für die Kinder eine Belastung gewesen, gleichbe-
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deutend mit einer erneuten Migration, und nicht mit einer Heimkehr ins gemachte Nest. Dieser Preis erschien den Rosettis als zu hoch. Aber wie steht es denn mit den Beziehungen zu den Verwandten, und insbesondere zur zurückgekehrten Tochter? Die Frage danach bringt nun doch noch ein Schwanken zu Tage, und zwar bei Gianna. Bezeichnenderweise zweifelte sie zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben an der Entscheidung für Bern als Lebensmittelpunkt, der generell schwierig war. Gianna hatte damals gerade ihre Arbeit beim Stadttheater verloren und saß untätig zu Hause, unschlüssig, ob sie sich noch einmal eine Arbeit suchen sollte. Die Kinder hatten den Haushalt verlassen, und die Tochter war sogar in die Herkunftsstadt in Sizilien zurückgekehrt. E: E neanche Lei ha pensato di ritornare
E: Und Sie haben auch nicht an Rückkehr
quando la Sua figlia è stata qua?
gedacht, als Ihre Tochter dort war?
G: Eh sì! Io l’ho pensato tanto. [.] Però [.] G: Eh ja! Ich habe so viel darüber nachgeciò abbiamo ‚Wurzel ‘ier‘. Quello è. E
dacht. Jedoch haben wir schon ‚Wurzeln
poi ci abbiamo due figli. Ci abbiamo
hier‘. Das ist so. Und dann haben wir
nipoti. [.] Mia figlia, sì. Allora andiamo
hier zwei Söhne. Wir haben Enkel. Mei-
per due mesi in ferie [.] e stiamo un
ne Tochter, ja. Also gehen wir für zwei
pochino con lei. [.] Questo facciamo.
Monate in die Ferien, und wir sind ein
[.] Stiamo con l-, andiamo da lei [.] a
bisschen mit ihr. Das machen wir. Sind
fare vacanze, [.] perché lei è contenta
mit i-, gehen zu ihr, machen Ferien, weil
che ci ospita, no. E così la mamma
ihr gefällt es, uns zu beherbergen, nicht.
cerca di aiutare un pochino a mia
Und so versucht die Mama ein wenig
figlia, no. Perché mia figlia lavora. [.]
der Tochter zu helfen, nicht. Weil meine
E il mio genero lavora, naturalmente, i
Tochter arbeitet. Und mein Schwieger-
bambini vanno a scuola. Bambini,
sohn arbeitet, natürlich, die Kinder ge-
ormai sono grandi, ma vanno ancora a
hen zur Schule. Kinder, inzwischen sind
scuola. [.] Loro sono al ginnasio. Sì, sì.
sie groß, aber sie gehen noch zur Schule. Sie sind im Gymnasium. Ja, ja.
(Transkript Rosetti 1, 44/16 – 44/23) Es gab also doch Zeiten, in der zumindest Gianna über eine Rückkehr nachgedacht hat. Dass sie sich dagegen entschieden habe, habe mit ihren ‚Wurzeln hier‘ zu tun – sie benutzt hier den deutschen Begriff, was der Bedeutung der Aussage noch zusätzliches Gewicht gibt. Die Nähe zur Tochter und zu den Enkelkindern in Sizilien bei einer Rückkehr wäre aber auch auf Kosten der Nähe zu den beiden Söhnen und deren Kinder in Bern gegangen. Es ist gut nachvollziehbar, dass die Rosettis aus beruflichen Gründen nicht zurückkehren wollten, dass sie es vorzogen, ihr wenn auch bescheidenes, dann
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doch immerhin regelmäßiges Einkommen in der Schweiz beizubehalten, als ins Ungewisse nach Italien zurückzukehren. Es ist auch deutlich geworden, dass die Rosettis ihren Kindern keine zweite Migration zumuten wollten. Dennoch ist denkbar, dass im Alter, nachdem die Erwerbstätigkeit aufgegeben worden ist und die Kinder ausgezogen sind, eine Rückkehr erneut als valable Option auftauchen könnte. An einer anderen Stelle im Interview habe ich die Feststellung von Gianna und Lino aufgegriffen, dass nie eine Rückkehr geplant gewesen sei, und dabei entstand eine Unterhaltung über die Rückkehr im Alter und das Pendeln, welche noch klarer macht, dass Gianna und Lino sich nicht immer einig bezüglich Rückkehr sind: E: Chiedo perché non ha mai pensato di
E: Ich frage, weil Sie nie vorhatten, nach Italien zurückzukehren, [.] eeh [..] Ja?
ritornare in Italia, [.] eeh [..] Sì? L: Il fatto dell’Italia-
L: Die Sache mit Italien-
G:
G:
Abbiamo paura per la
Wir haben Angst wegen dem Gesundheitswesen. Wegen dem
sanità. Per la sanità.
Gesundheitswesen. L:
La sanità non è a cento
L:
Das Gesundheitswesen ist
percento. Specialmente al sud. [.] Lei lo
nicht hundertprozentig. Besonders im
sente-, non so se Lei lo sente, non la
Süden. [.] Sie hören das-, ich weiß
sente, no. [.] A televisione italiana, [.]
nicht, ob Sie’s hören, Sie hören das
succede [.] un [unverst.] che ci aveva
wohl nicht. [.] Im italienischen Fernse-
un infarto del cuore e cercano un posto,
hen, [.] es kommt vor, [.] jemand hatte
ma non c’era, non c’era, non c’era, l’ha
einen Herzinfarkt, und sie haben einen
portato in un altro posto, e già quando
Platz gesucht, es gab aber keinen, gab
arriva là, [.]
keinen, gab keinen, da haben sie ihn an einen anderen Ort gebracht, und da war er, als er dort ankam, [.]
G: L:
È morto. è morto. Allora
G: L:
war er tot. war er tot.
questo [..] noi abbiamo una vita che
Also das [..] wir haben ein Leben lang
paghiamo qua. [.] Una vita che
hier bezahlt. Ein Leben lang, und jetzt
paghiamo, [.] e ora quando ci abbiamo
wenn wir es brauchen, von der Kranken-
bisogna al profitto di questa cassa
kasse profitieren zu können, von dem
malattia, di questo che abbiamo [.]
was wir immer bezahlt haben, nicht. Wir
abbiamo pagato sempre, no. Poi siamo
sind ja auch älter jetzt und brauchen ein
più anziani e abbiamo bisogno un po’
bisschen mehr als wenn man jung ist.
D AS E HEPAAR ROSETTI
di più di quando si è giovane. Giovane
Für Junge reicht das, klar, da ist das
un po’ basta queste cose, ecco, è
normal. [.] Heute ist es nicht mehr so.
normale. [.] Oggi non è così. In Italia
In Italien haben wir deswegen diese-
per questo ci abbiamo quel- [.] G: Quella paura. L:
G: Diese Angst. L:
tanto che non ci ha [.] soldi, [.] manca un professore,
G:
Sì. [.] È così.
Solange man [.] nicht Geld hat, [.] fehlt ein Professor,
G:
Avendo soldi, paga.
L:
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Wenn man Geld hat, zahlt man.
L:
Ja. So ist das.
G: Überall ist das so! [lacht]
G: Dappertutto è così! [lacht]
(Transkript Rosetti 2, 38/26 – 39/4) Hier zeigt sich, dass das Thema einer Rückkehr nach Italien mit dem Altern eine andere Aktualität bekommen hat, und dass sich die Rosettis damit auch auseinander setzen. Von den Argumenten, die für oder gegen eine Rückkehr nach Italien sprechen, greifen sich Gianna und Lino dasjenige der Gesundheitsversorgung heraus. Dass hier das Argument des maroden italienischen Gesundheitswesens derart im Zentrum steht, erstaunt zwar einerseits nicht so sehr, da beide Rosettis nicht bei allerbester Gesundheit sind. Andererseits wäre es doch ungewöhnlich, dass Überlegungen zum Gesundheitswesen und zur medizinischen Versorgung in Italien einen derartigen Stellenwert für Gianna und Lino einnehmen, wenn die Entscheidung zum Bleiben tatsächlich schon in jungen Jahren gefallen wäre. Da das Thema zum Zeitpunkt des Interviews aber unter den italienischen Senior/innen in aller Munde war40, ist nachvollziehbar, dass auch die Rosettis sich dazu äußern, zumal sich dadurch ihre Entscheidung zu bleiben zusätzlich rechtfertigen lässt. E: Ma [.] c’erano dei tempi che ha [.] discusso di forse ritornare?
E: Aber [.] gab es Zeiten, wo Sie davon geredet haben, vielleicht zurückzugehen?
40 Solche Schauergeschichten aus italienischen Spitälern, auf welche sich Gianna und Lino in dieser Passage beziehen, wurden in den italienischen Medien immer wieder ausgiebig behandelt und waren auch in Schweizer Zeitungen eine Meldung wert. Ich habe beobachtet, wie sich pensionierte Italiener/innen zu verschiedenen Gelegenheiten über diese Geschichten unterhalten haben, sie sich gegenseitig erzählt haben, in sehr ähnlicher Weise wie Gianna und Lino dies hier mir gegenüber tun.
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G: Io. [.] Quando ero più giovane, ho detto G: Ich. [.] Als ich jünger war, habe ich zu a lui: „Senti, [.] io voglio ritornare in
ihm gesagt: „Hör mal, ich will nach
Italia.“ Lui dice: „Be’! Tu ritorni, e io
Italien zurückkehren.“ Er sagte: „Gut!
sto qui.“ Allora ho detto: „Sai,
Du gehst, und ich bleibe hier.“ Also
facciamo sei mesi qua, [.] sei mesi là.“
habe ich gesagt: „Weißt du was, wir
[.] E lui ha detto: „Senti, per me tu puoi
machen sechs Monate hier, sechs Mona-
andare, [.] fai i tuoi sei mesi,“
te dort.“ Und er hat gesagt: „Also meinetwegen kannst du gehen, mach deine sechs Monate,“
L:
G:
Eh, quello non si
L:
Eh, das geht nicht. Sechs Mona-
può fare. Sei mesi non si può fare. Per-
te geht nicht. Weil es kommen ja Sachen
ché arrivano cose da pagare, [.] arriva-
zum Zahlen, die kommen einfach, und
no [.] ogni volta che torniamo qua,
jedes Mal wenn wir zurückkommen,
La posta, è così. È così.
E:
G:
È così, sì, si deve organizzare un po’, sì.
Die Post, das ist so. Das ist so.
E:
Das ist so, ja, man muss sich ein bisschen organisieren, ja.
G:
Ooh, tante volte io non
G:
Ooh, oft verstehe ich überhaupt nichts mehr. Von der Post. Zah-
pagamenti, di questo, dell’ altro- [.]
lungen, dieses, jenes- [.] Meine Güte,
Mammamia, a ora [.] ora quando
kürzlich als wir angekommen sind, weil
siamo arrivati perché siamo andati
wir sind ja spät gegangen dieses Jahr.
tardi quest’anno. Per il fatto del, lui,
Wegen seinem Knie. Weil er bis zum 18.
del ginocchio. Che faceva terapie fino
August Therapien hatte. Und da sind
al 18 agosto. [.] E siamo partiti noi al
wir am 31. August gegangen. Und am
[.] 31 agosto. [.] Eeh, allora siamo
31. Oktober sind wir zurückgekommen.
ritornati al 31 ottobre. La posta [.]
Die Post [.] meine Güte! Ich hab ge-
mammamia! Io ho detto: „Io non ce la
sagt: „Ich schaffe das nicht mehr!“
faccio più!“ L:
G:
capisco più niente. Della posta. Dei
L: so was, eh.
Cose da pagare, così, eh. Non ce la faccio
Dinge zum Zahlen,
G:
Ich schaffe das nicht mehr! Denn
più! [.] Perché poi, non siamo più [.]
wir sind nicht mehr [.] jung, so dass uns
giovani, che le cose subito arrivano.
alles schnell klar ist. Nein, man muss
No, si deve studiare un po’ di più. [.]
ein bisschen mehr studieren. Meine
Mammamia. Era terribile questa volta.
Güte. Es war schrecklich dieses Mal.
(Transkript Rosetti 2, 39/5 – 39/23)
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In dieser Passage zeigt sich die uneinheitliche Position der beiden Ehepartner zur Rückkehr deutlich. Lino ist derjenige, der nicht zurück wollte und will. Gianna hingegen hat sich sehr wohl Gedanken dazu gemacht. Die Kompromisslösung zwischen Rückkehr und Verbleib in der Schweiz, das Pendeln, wird von Gianna favorisiert. Lino hingegen findet diesen Vorschlag in der Praxis nicht umsetzbar, weil der organisatorische Aufwand immer schwieriger zu bewältigen werde. Und darin gibt Gianna ihm Recht. Die Diskussion um eine Rückkehr ist zum Zeitpunkt des Interviews zwar nicht definitiv gelöst, aber sie scheint ad acta gelegt zu sein. Die Entscheidung über den zukünftigen Aufenthalt ist unwiderruflich gefallen, und Gianna hat sich dieser Entscheidung gefügt. Die Frage des Alters und des Aufenthaltsortes im Alter wird hier von Gianna und Lino in erster Linie als eine Frage der Gesundheitsversorgung eingeführt. Der Aspekt des Hin- und Hergerissenseins zwischen der Tochter in Italien und den beiden Söhnen in der Schweiz scheint hingegen weniger ein Thema zu sein. Dies erstaunt vor dem Hintergrund der enormen Bedeutung, welche insbesondere Gianna dem Zusammenhalt der Kernfamilie in ihrer Erzählung gibt41. Doch, wie sie oben auch sagt, es sind vor allem sie beide, die Wurzeln geschlagen haben in Bern. Dass die Rosettis sich am Diskurs über Für und Wider einer Rückkehr nach Italien beteiligen, muss nicht unbedingt auch heißen, dass die Rückkehr als ernsthafte Handlungsoption betrachtet wird. Vielmehr geht es dabei um eine Evaluation neuer Argumente im Hinblick auf die Richtigkeit einer lange zurück liegenden Entscheidung. Deshalb werden nach wie vor Argumente angeführt für den Entscheid zum Verbleib, auch solche, welche sich explizit auf die Situation im Alter beziehen (z.B. das Gesundheitswesen). Dennoch überwiegt der Eindruck, dass das Migrationsprojekt der Familie Rosetti nicht wirklich zur Verhandlung steht. Dieses sah schon zu einem frühen Zeitpunkt eine permanente Migration vor, und deshalb wurden von Beginn weg beträchtliche Ressourcen in die Integration der Kinder im Hinblick auf deren Zukunft in der Schweiz gesteckt. Die berufliche Situation schien einer der zentralen Punkte für diese Entscheidung zu sein, denn eine Rückkehr nach A-Stadt wäre mit einem hohen Risiko verbunden gewesen. In Bern hatten beide zumindest eine regelmäßige Arbeit, auch wenn sie nicht allzu gut bezahlt war und nur geringes Anhäufen von Ersparnissen erlaubte. Auch die
41 Vgl. dazu auch die Fälle Genni (Kapitel 7) und Santo (Kapitel 2), wo jeweils ein Kind (bei den Gennis die Tochter, bei den Santos einer der Söhne) nach Italien remigriert ist und wo dies, zumindest für die Mütter, ein relativ gewichtiges Argument für die eigene Rückkehr ist.
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mühselig erkämpfte Stabilität in der Kernfamilie sollte nicht durch eine Remigration aufs Spiel gesetzt werden. Während Lino vor allem den ersten Aspekt, die Einkommenssicherheit in Bern, zu schätzen schien und dies als Hauptgrund für seinen Aufenthalt in der Schweiz sah, war für Gianna der Aspekt des Wohles ihrer Familie, besonders ihrer Kinder, im Zentrum. Dies zeigt sich auch daran, dass Gianna in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung immer dann von Rückkehr spricht, wenn sie in ihrem psychischen Wohlbefinden gestört ist, und das ist jeweils dann, wenn sie von Einsamkeit bedroht ist, wenn sie ihrer familiären Betreuungsaufgaben beraubt ist, oder wenn andere soziale Kontakte, z.B. am Arbeitsplatz, verloren gehen. So sagt sie, sie habe an Rückkehr gedacht, als die erneute Ausschaffung ihrer Kinder drohte, nachdem sie dachte, der Familiennachzug sei erfolgreich abgeschlossen. Oder sie denkt an Rückkehr, als sie ihre Stelle am Stadttheater verliert und alleine zu Hause sitzt, die Kinder ausgezogen, die Tochter sogar nach Italien zurückgekehrt. Dennoch setzt Gianna ihre Ankündigungen nie in die Tat um, sie bleibt bei ihrem Ehemann in der Schweiz, arrangiert sich mit der Situation. Die Gedanken an Remigration erfüllen für Gianna also die Funktion einer fiktionalen Hintertür42, eines hypothetischen Ausweges aus schwierigen Situationen. Die auf die Lebensumstände im Alter bezogenen Argumente gegen eine Rückkehr – die Diskurse über das miserable italienische Gesundheitssystem, die über Jahrzehnte in der Schweiz bezahlten Versicherungsgelder, von denen man nun auch profitieren wolle, der starken Euro, der es verunmögliche, in Italien ein besseres Leben mit der Schweizer Rente zu führen – bestärken Gianna und Lino in einer Entscheidung, die sie schon lange gefällt haben. Mag sein, dass Lino derjenige war, der die Entscheidung traf, und dass Gianna unter Umständen gerne zurückgekehrt wäre. Mag sein, dass sie sich gefügt hat. Klar jedoch scheint mir, dass an der Entscheidung nicht mehr gerüttelt wird, dass sie fest steht, und dass sich beide voll und ganz darauf eingestellt haben. Die Gestaltung des Alltags und die Organisation des Haushaltes Die Aufteilung der Hausarbeit zwischen Gianna und Lino war während der Erwerbstätigkeit eine sehr klassische. Lino war voll berufstätig, teilweise sogar noch abends außer Haus zum Arbeiten. Gianna kümmerte sich um Haushalt und Kinder und arbeitete nebenbei, oft in flexiblen Arbeitsverhältnissen, um Familien- und Lohnarbeit optimal koordinieren zu können. Dieses Arbeitsarrange-
42 Siehe dazu insbesondere auch Kapitel 6.
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ment hat sich offenbar nicht grundlegend verändert seit der Pensionierung. Gianna putzt und kocht, und sie pflegt die Kontakte gegen außen. Dennoch übernimmt Lino einige Tätigkeiten im Haushalt: Seit der Pensionierung erledigt er das Einkaufen, macht Besorgungen mit ‚seinem‘ Auto (Transkript Rosetti 2, 36/12f); und er ist zuständig für das Bügeln – eine Tätigkeit, welche ganz normaler Bestandteil seines Berufes war. Auch scheint er das eine oder andere in der Küche zu übernehmen, den Abwasch zum Beispiel. Dass Lino sich auch ein wenig für den Haushalt zuständig fühlt, schließe ich u.a. aus der Art, wie ich während meiner Besuche von den Rosettis bewirtet wurde. Obwohl Gianna die Regie zu haben schien – sie bestimmte, wann mir etwas angeboten wurde und wie es serviert werden sollte43 – übernahm Lino einen beträchtlichen Teil der damit verbundenen Arbeiten (Kaffee kochen, servieren, abräumen, abwaschen). Das Kochen scheint allerdings nach wie vor Giannas Domäne zu sein, ebenso wie das Erledigen der übrigen Hausarbeiten. Was die außerhäuslichen Aktivitäten betrifft, ist Gianna wesentlich aktiver als Lino. G: Lui preferisce stare a casa. Lui è più
L:
G: Er zieht es vor, zu Hause zu bleiben. Er
casalingo di me. [***] La confusione a
ist häuslicher als ich. [***] Ihm gefällt
lui non piace. Gli piace più stare a
Durcheinander nicht. Es gefällt ihm
casa, [.]
besser, zu Hause zu bleiben,
Troppo- troppo rumore. [lacht]
L:
Zu viel-
zu viel Lärm.
[lacht] G:
tranquillo.
G:
ruhig. Mir hingegen gefällt das
Invece a me mi piace parlare, piace
Reden, gefällt es, mit Personen zusam-
stare con le persone, allora vado io.
men zu sein, also gehe ich.
E: [an L.:]Ma Lei lavora anche ai pezzi di
E: [an L.:] Aber Sie arbeiten auch an
sarto, come ho visto. Fa ancora lo
Kleidungsstücken, wie ich gesehen habe.
sarto.
Sie machen noch Schneiderarbeiten.
43 Im ersten Gespräch zum Beispiel bekommt Gianna Durst und holt sich etwas Wasser. Während sie in der Küche ist, stellt sie die Kaffeemaschine auf den Herd. Als sie zurückkommt, schickt sie Lino in die Küche und bittet ihn, die weitere Kaffeezubereitung zu übernehmen, damit sie weitererzählen kann. Lino tut, wie ihm geheißen. Als er den Kaffee serviert, entschuldigt sich Gianna für ein, zwei Kleinigkeiten, die er nicht so mache, wie sie es für höflich halten würde, z.B. dass er den Kaffee bereits in der Küche mit Zucker und Milch anreichert und umrührt, statt mir Zucker, Milch und einen Löffel separat zu bringen.
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L: Ja, ich mache mir so, eh ja, G:
L: Sì, mi faccio così, eh be’, G:
Fa qualcosa per lui.
L:
senza
L:
Wenn’s zu tun gibt, mache ich’s, viel-
stare, così. Quando c’è da fare, faccio,
leicht die Wäsche, dass ich sie bügle,
magari [.] la biancheria che la stiro,
mache was, helfe.
faccio qualche cosa, aiuto. Ecco, questo [.]
G:
er. Das Bügeln, jaja.
lo fa lui. Il stirare, sìsì.
L: Und dann nehme ich mir ein Stück Stoff, ich hab so viele Stoffe, nehme ein Stück
ho tante stoffe, prendo un pezzo di
Stoff und mache mir eine Jacke, einen
stoffa e mi faccio la giacca, un vestito, G:
Un paio di pantaloni.
L:
un paio di pantaloni che faccio.
G: Perché stare senza- [.] in ozio [.] non è
Anzug, G:
auch nicht schön für eine Person. Weil man fühlt sichL:
L: Eh allora guardare tutta la giornata la
E: Ja, ja, das ist so. L: Und dann, den ganzen Tag Fernsehen zu schauen-
televisioneG:
La mattina mi prepara l’insalata per mezzogiorno, [.] eh, la pulisce, me la metto al bagno, mi fa questo, mi fa l’al-, la mattina io faccio altre cose, il letto, e lui fa quello. Tante volte usciamo, per fare la spesa assieme, tante volte va lui, da solo.
(Transkript Rosetti 2, 42/25 – 43/13)
Es ist besser, mit etwas beschäftigt zu sein.
cosa. E: Sì, sì, è vero.
ein paar Hosen mache ich.
G: Weil ganz ohne-, im Müßiggang, ist
senteE meglio essere occupata di qualche
Ein Paar Hosen.
L:
anche bello per la persona. Perché si
L:
Genau, das [macht Handbewegung] ist bügeln. Und das macht
che è stirare. [macht Handbewegung] E
L: E poi, mi prendo un pezzo di stoffa, ci
ohne gar nichts zu machen, werde ich genervt, das kann ich nicht, so.
fare niente [.] mi secca, non posso
G:
Er macht was für sich.
G:
Morgens bereite ich den Salat für den Mittag zu, eh, mache sauber, gehe ins Bad, mache dieses, mache je-, vormittags mache ich andere Dinge, das Bett, und er macht das. Oft gehen wir aus, um Einkäufe zu machen, oft geht auch er, allein.
D AS E HEPAAR ROSETTI
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Gianna hat zudem oft Arzt- resp. Therapietermine, geht zur Gymnastik, und sie ist in einem Chor aktiv. Und es liegt in Linos Zuständigkeitsbereich, Gianna mit dem Auto zu ihren verschiedenen Terminen zu fahren. Generell habe ich den Eindruck, dass Gianna relativ oft außer Haus ist und ein recht volles Programm hat. Lino hingegen, so schließe ich aus seinen Bemerkungen über die schädlichen Seiten des Nichtstuns im Alter sowie aus seinem Wunsch, sich mit dem Computer vertraut zu machen, würde gerne eine Beschäftigung haben, allerdings eine, die er alleine, zu Hause verrichten kann. Die sozialen Kontakte der Rosettis konzentrieren sich auf Nachbarn, Bekannte sowie auf die italienischen Seniorengruppen. Lino ist nicht derjenige, der diese Kontakte pflegt. Er erwähnt eine einzige Person, mit der er heute regelmäßige und freundschaftliche Kontakte pflegt: Herrn Aeby, seinen ehemaligen Chef. Daneben erwähnt er zwei weitere Freundschaften, zu seinem Jugendfreund aus Sizilien und zu einem italienischen Arbeitskollegen, den Lino in Bern kennen gelernt hat. Doch beide sind bereits gestorben. Das deutet auf wenige, dafür enge und treue Freundschaften hin. Generell scheint eher Gianna für die sozialen Beziehungen zuständig zu sein. Sie sagt auch, sie würde den Kontakt zu anderen Leuten brauchen, sonst würde sie depressiv. Konkrete Freundinnen erwähnt sie jedoch nie. Sie besucht heute regelmäßig Gruppenanlässe, z.B. Veranstaltungen oder Kurse für italienische Senior/innen, und sie betreibt Freizeitbeschäftigungen, die man in der Gruppe macht (Chorsingen, Turnen). Einmal werde ich Zeugin eines kurzen Gespräches von Gianna mit einer Nachbarin, über den Balkon, und diese Beziehung macht einen vertrauten, gleichzeitig aber auch sehr distanzierten Eindruck: Man scheint sich schon länger zu kennen, ist auch per „Du“, aber trotzdem etwas förmlich. Wenn Gianna auch an sozialen Kontakten interessiert ist, so habe ich doch den Eindruck, dass auch für sie, nicht nur für Lino, Privatsphäre und Ruhe sehr wichtig sind. Damit entsprechen die Rosettis in ihren Kommunikationsgewohnheiten nicht dem Bild ‚mediterraner‘ Piazza-Plauderei, wie es im Kontext der Diskussionen um ‚mediterrane‘ Pflegeabteilungen als typisch für italienische Senior/innen gezeichnet wird (vgl. dazu auch Fußnote 166 weiter hinten sowie die Ansichten des Ehepaares Lillo in Kapitel 6). Die Kontakte zu den Kindern und Enkelkindern scheinen gut, aber eher sporadisch zu sein. Im Vergleich zu anderen pensionierten Paaren, mit denen ich in Verbindung stehe, haben die Rosettis eine eher lose Bindung zu ihren Kindern, insbesondere auch zu ihren Enkelkindern. Nachdem die Rosettis kaum etwas zur Enkelkinder-Betreuung erwähnt hatten, ergreife ich eine sich im Gespräch bietende Gelegenheit, um gezielt danach zu fragen. Als Gianna davon erzählt, wie sie im Sommer in Sizilien jeweils die Kinder ihrer Tochter gehütet habe, als die
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Tochter noch ihr Coiffeurgeschäft hatte, spreche ich das Thema der Enkelbetreuung an und bekomme folgende Antwort: E: E anche guardate gli altri [.] nipoti?
E: Und hüten Sie auch die anderen Enkel?
G: No, perché sa, [.] se erano forse [.]
G: Nein, wissen Sie, wenn sie vielleicht ita-
ragazzi italiani. [.] Allora, gli italiani
lienische Kinder wären. Nun, die Italie-
sono abituati che i nonni guardano [.] i
ner sind es gewohnt, dass die Großel-
bambini dei figli, no. [..] Ma le mie
tern die Kinder der Söhne und Töchter
nuore sono svizzere. Allora c’è una, la
hüten, nicht. Aber meine Schwiegertöch-
più piccola, la mamma di questi due
ter sind Schweizerinnen. Also da ist
bambini [zeigt auf ein Foto an der
eine, die jüngste, die Mutter dieser bei-
Wand] [.] lei dice: „Nono, mamma, tu
den Kinder [zeigt auf ein Foto an der
non devi fare niente.“ Qualche volta ci
Wand], sie sagt: „Nein nein, Mamma,
telefona: „Sai, io dovrei andare in
du musst nichts machen.“ Es kommt vor,
qualche posto, potete guardare?“ „Ma
dass sie mal anruft: „Ich würde gerne
certo! Va bene mi dai tutti i giorni, io
irgendwo hingehen, könntet ihr hüten?“
gli terrei.“ Ma è così, lei si sacrifica,
„Aber sicher! Ich würde sie auch hüten,
ma deve guardare lei i suoi figli.
wenn du sie mir jeden Tag geben würdest.“ Aber so ist es, sie opfert sich auf, aber sie muss ihre Kinder selber hüten.
(Transkript Rosetti 1, 44/27 – 44/34) Gianna sieht also den Grund dafür, dass sie und Lino relativ wenig Betreuungspflichten gegenüber ihren Enkelkindern hatten – was beide sehr bereuen, wie sie in der Folge betonen –, darin, dass ihre beiden Schwiegertöchter Schweizerinnen seien. Gianna überrascht mich hier mit dieser ethnisierenden Aussage, mit dieser grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Schweizerinnen und Italienerinnen bezüglich der Betreuungsgepflogenheiten von Kindern, da es die einzige Stelle ist, in der sie dies explizit gegenüber Schweizerinnen tut. Allerdings gibt es auch zwei oder drei Stellen im Kontext von Giannas Erzählungen über die Arbeit am Stadttheater, wo sie den Deutschen gewisse grundsätzliche Eigenschaften zuschreibt (siehe Kapitel 5.3), ähnlich wie sie dies hier den Schweizer Müttern tut. Was hat es damit auf sich? Die Betreuung der Enkelkinder ist eine oft genannte Beschäftigung von pensionierten italienischen Arbeitsmigrant/innen, die teilweise auch sehr viel Zeit einnimmt (siehe z.B. die Ehepaare Genni (Kapitel 7), Agostino (Kapitel 5.6), Santo (Kapitel 2)). Nicht selten übernehmen Großeltern regelmäßige und umfangreiche Betreuungspflichten, insbesondere dann, wenn die Kinder berufstätig sind. Diese Arrangements werden im Rahmen meiner Interviews in der Regel
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nicht speziell begründet, sondern erscheinen ganz selbstverständlich und werden mit Freude erfüllt. Das ausgeprägte Engagement der Großeltern für ihre Enkelkinder wird oft auch mit dem besonderen Familiensinn, den man Italiener/innen zuschreibt, begründet (siehe Kapitel 2.4). Von entscheidender Bedeutung sind hier aber sicher auch die soziale Schicht und die damit verbundenen Arbeitsregimes innerhalb eines Haushaltes. Wenn die Erwerbstätigkeit von beiden Eltern notwendig ist, um die ökonomischen Ziele des Haushalts zu erreichen, dann muss die Betreuung der Kinder abgegeben werden. Und da die heutigen Großeltern bereits während ihrer Erwerbstätigkeit auf die Solidarität ihrer eigenen Eltern zählen konnten, sind sie nun auch bereit, im Alter dieselbe Solidarität gegenüber ihren Kindern zu zeigen. Ausgeprägte Großelternschaft kann in einem solchen Haushaltsregime auch als bewusste und geplante Kompensation für teilweise verpasste Elternschaft betrachtet werden. Auch Gianna ethnisiert hier die Großeltern-Kind-Beziehung, jedoch nicht nur die ‚italienische‘, sondern insbesondere die ‚schweizerische‘. Sie konstatiert in obigem Ausschnitt zuerst, dass Italiener/innen es gewohnt seien, ihre Kinder den Großeltern zu überlassen, um dann in einem konkreten Beispiel zu erläutern, warum ihre Schweizer Schwiegertochter dies nicht tue. In dieser Formulierung sind implizit zwei Vorstellungen Giannas von Schweizer/innen und ihrer Einstellung zur Kinderbetreuung enthalten: Dass sie Kinderbetreuung einerseits als eine unangenehme Arbeit betrachten, die man ‚machen muss‘, und dass andererseits die Kontrolle über diese Arbeit nicht abgegeben werden kann, weil sie als alleinige Aufgabe der leiblichen Mutter betrachtet wird. Gianna schreibt die Tatsache, dass sie ihre Enkelkinder nur sehr wenig betreuen kann, den kulturellen Gepflogenheiten in der Schweiz zu. Damit nimmt sie auch die Verantwortung für das in ihren Augen unerwünschte Verhalten von ihrer Schwiegertochter weg, befreit sie von jedwedem Vorwurf eines schlechten Charakters oder gar böser Absichten gegenüber ihrer Schwiegereltern. Die Schwiegertochter handelt so, weil sie es in ihrem Umfeld so gewohnt ist, nicht weil sie einen schlechten Charakter hat. Eine ähnliche Argumentationstaktik wendet Gianna im Kontext ihrer Arbeitskonflikte am Stadttheater an. Auch mit der Ethnisierung der Deutschen und der Behauptung von deren grundsätzlicher Neigung zu Machtgehabe und Intrigen im Kontext der Arbeit am Stadttheater entlastet Gianna ihre Mitarbeiterinnen und Vorgesetzten von der bösen Absicht eines Individuums und entschuldigt somit ihr Verhalten als quasi naturgegeben: Sie konnten nicht anders, weil sie Deutsche waren. So gesehen passt die ausgeprägte Ethnisierung, die Gianna hier vornimmt, sehr gut in ihre bisher herausgearbeiteten Erklärungsansätze. In ihren Erzählungen zeigt sich eine Tendenz, Menschen als grundsätzlich gut darzustellen, und
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dasjenige Verhalten, welches negative Auswirkungen auf Gianna oder ihre Familie hatte, als durch äußere Bedingungen bestimmt zu sehen, und nicht durch individuelle, böse Absichten. Und so kann sie ihre Empfindung, dass sie um ihre Großelternschaft betrogen wurde, entpersonalisieren und dem System zuschreiben, in dem ihre Schwiegertöchter und ihre Enkelkinder integriert sind. Giannas Position zu Solidarität und Arbeitsteilung in der Drei-GenerationenFamilie erscheint mir zwiespältig: Die Pflichten, welche sie in ihrer Kindheit aufgrund der Größe der Familie und der Arbeitstätigkeit beider Elternteile übernehmen musste, scheinen sie eher belastet zu haben. Ihr Ehemann wollte aus der (finanziellen) Abhängigkeit von der Familie ausbrechen und migrierte deshalb in die Schweiz. Die Zeit der Trennung von den Kindern wiederum konnte Gianna nur dank dem Einsatz von Eltern und Schwiegereltern überbrücken. Interessanterweise erzählt Gianna im Kontext von Familienkontakten in der Migration lediglich über Eltern, Schwiegereltern und Schwester/Schwägerin. Die Schwäger und Brüder sind kaum Thema. Dies erstaunt insbesondere deshalb, weil alle vier Brüder von Gianna in ihrem Fahrwasser ebenfalls nach Bern migriert sind und einer davon heute noch in der Umgebung von Bern lebt. In den Erzählungen von Gianna und Lino hingegen erscheint die Familie Rosetti als relativ stark isolierte Kernfamilie, bestehend aus Gianna und Lino und den drei Kindern. Im Bezug auf Enkelkinder wiederum bereut Gianna den Verlust der Drei-GenerationenFamilie, wo es selbstverständlich scheint, dass Großeltern die Großkinder betreuen, während die Eltern erwerbstätig sind. Im Hinblick auf die Betreuung im Alter wiederum scheinen sich die Rosettis nicht am Ideal der Familiensolidarität zu orientieren und auf die Unterstützung ihrer Kinder zu zählen, wie wir weiter hinten noch sehen werden. Zurück zur Organisation des Alltags von Gianna und Lino: Generell frage ich in den Interviews auch danach, ob sich die Ehepartner Gedanken dazu machen, wie es einmal sein wird, wenn sie altersbedingt auf Unterstützung angewiesen sein werden. Da Gianna eine angeschlagene Gesundheit hat und da es in der Zeit unserer Interviewkontakte auch mehrmals vorkam, dass Gianna ihren Zustand als schlecht bezeichnete, bot sich die Gelegenheit, meine Frage nach den Organisationsoptionen in Krisenzeiten an ein konkretes Ereignis zu binden, denn Gianna hatte einen Interviewtermin verschoben, weil es ihr nicht gut ging: E: E se Lei non si sente bene, come la
E: Und wenn es Ihnen nicht gut geht, wie
settimana passata, c’è qualcuno che
letzte Woche, gibt es jemanden, der
aiuta?
hilft?
G: Eh, mio marito! Ha cucinato lui, [.] e la G: Eh, mein Mann! Er hat gekocht, und die spesa l’ ha fatta tutta lui, [.] e poi se
Einkäufe hat alle er gemacht, und wenn
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avevo bisogno di qualcosa, mi aiutava
ich etwas brauchte, hat er mir geholfen,
lui, [.] perché io ho detto: „Senti,
weil ich habe gesagt: „Hör mal, mach
fammi“, perché il dottore ha detto che
mir“, weil der Doktor hat gesagt, dass
avevo [.] forte infiammazione [.] qui al
ich eine starke Entzündung habe, hier
basso ventre. Allora ho detto: „Fammi
im Unterbauch. Also habe ich gesagt:
due impacchi [.] di acqua fredda, con
„Mach mir zwei Wickel mit kaltem Was-
[.] aceto.“ Che questo avvia un pochino
ser, mit Essig.“ Damit das ein wenig
quell’infiammazione. Perché io ho
diese Entzündung entfernt. Denn ich ha-
preso [.] tutto eh, eh [.] 14 pillole. E
be im ganzen 14 Pillen genommen. Und
sarebbero antibiotici. Erano 500
es waren Antibiotika. Es waren je 500
milligrammi ognuno. E questo mi ha
mg. Und das hat mir dieses Unwohlsein
portato questo disturbo. Per quello che
gebracht. Deshalb ging es mir schlecht
stavo male la settimana scorsa. Che
letzte Woche. Ich konnte kaum aus dem
non potevo alzarmi proprio dal letto. [.]
Bett aufstehen. Und da hilft er mir. Er
E mi aiuta lui. [.] Mi aiuta lui a fare
hilft mir, diese Dinge zu machen. Dann
queste cose. Poi ci abbiamo la ‚Spitex‘.
haben wir noch die ‚Spitex‘.
E: Ah?
E: Ah?
G: Sì. La cassa malattia [***] mi sta
G: Ja. Die Krankenkasse [***] zahlt mir
pagando la ‚Spitex‘. [.] Che viene una
die ‚Spitex‘. Dass sie einmal die Woche
volta la settimana, per un’ora e mezzo,
kommt, für eineinhalb Stunden, zwei,
due, un’ora, dipende quello che fa, e mi
eine Stunde, es hängt davon ab, was sie
aiuta a passare l’aspirapolvere, [.] le
macht, und hilft mir beim Staubsaugen,
cose, no, la polvere la faccio io. Ma le
hilft mir, nicht, Staubsaugen tue ich sel-
cose pesanti me le fa lei. Sì, sì.
ber. Aber die anstrengenden Sachen macht sie mir. Ja, ja.
E: E questo è regolarmente? Che viene?
E: Und das ist regelmäßig? Dass sie kommt?
G: Tutte le settimane, sì. [.] Tante volte la
E:
G: Jede Woche, ja. Oft zahlt die Kranken-
[.] la cassa malattia non-, qualche
kasse nicht, es gibt Wochen, da zahlt sie
settimana non me la paga. E allora la
sie mir nicht. Und dann die
[.] ‚Gänzungsleistung‘, come si chiama,
‚Gänzungsleistung‘, wie heisst das,
‚Gänzleistung‘?
‚Gänzleistung‘?
‚Ergänzungsleistung‘.
E:
‚Ergänzungsleistung‘.
G: Eh, ma, eh. [.] E m’ha detto che quando G: Eh, ja, eh. Und die haben gesagt, wenn la cassa malattia non mi paga, [.] posso
die Krankenkasse nicht zahlt, kann ich’s
portargli da loro.
ihnen bringen.
332 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
E: Ah, sì?
E: Ah ja?
G: Sì, che mi pagano loro.
G: Ja, dass sie’s mir zahlen.
(Transkript Rosetti 2, 37/8 – 37/30) Wenn also Gianna sich nicht gut fühlt, krank wird, besonders starke Schmerzen hat, dann muss Lino mehr übernehmen, und er übernimmt auch die Pflege von Gianna, wenn sie deren bedarf. Das Ehepaar Rosetti verlässt sich also zuerst einmal aufeinander, auf die gegenseitige Solidarität und Unterstützung innerhalb des Paares. Dass die Rosettis zu zweit sind, ist ihr spezifisches Kapital im Umgang mit altersbedingten körperlichen Einschränkungen, und dies scheint ihnen auch sehr bewusst zu sein. Ergänzend dazu erhalten die beiden einmal pro Woche etwas Hilfe im Haushalt, die von der Krankenkasse resp. mit den Ergänzungsleistungen bezahlt wird. Die Rosettis sind recht gut vertraut mit den Angeboten der Spitex und den Abrechnungsmodalitäten von deren Dienstleistungen, sie sind den Umgang mit professioneller Unterstützung bereits gewohnt. Auch dies ist eine Ressource, die in Zukunft wertvoll sein kann. Im Bedarfsfall ließe sich diese Form der häuslichen Pflege weiter ausbauen, was aufgrund des fragilen Gesundheitszustandes von beiden eine nicht zu ignorierende Option ist. E: E chi ha organizzato questo, era il
E: Und wer hat das organisiert, war das
dottore che ha detto che si deve fare
der Doktor, der sagte, dass man das so
così?
machen soll?
G: Dottore, sì.
G: Doktor, ja.
E: Ah. Bene.
E: Ah. Gut.
G: Il dottore, per me, per questo, della
G: Der Doktor, für mich, deswegen, wegen
schiena, e mio marito per il fatto del
dem Rücken, und mein Mann wegen dem
cuore, che c’è qualcosa nel cuore che
Herzen, da er etwas am Herzen hat das
non funziona tanto bene. Allora ha
nicht so gut funktioniert. Also hat er’s
scritto per me, e ha anche scritto per
für mich verschrieben, und auch für ihn.
lui. [an L.:] Cosa ci hai tu al cuore?
[an L.:] Was hast du am Herzen?
L: Un soffio [.] qualcosa che non si chiude L: Ein Geräusch, etwas das sich nicht richtig schließt. Die Pumpe vom Herz, nicht,
bene. Il pompaggio del cuore, no, c’è
G:
una pompa che [.] e quando ritira,
es hat eine Pumpe, die – und wenn sie
resta un po’ [.]
sich zurückzieht, bleibt’s ein wenig –
Aperta.
L: Aperta, no, non fa il suo movimento che
G:
offen.
L: Offen, nicht, es macht die Bewegung
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 333
chiude. E sta un po’ così, e [unverst.]
zum Schließen nicht. Und es bleibt ein
che vengono piccoli fitti, qualche cosa,
bisschen so, und [unverst.] und es kom-
e si entra, no.
men kleine Teilchen, so was, und die gehen rein, nicht.
(Transkript Rosetti 2, 37/31 – 37/43) Im Gegensatz zu den Lillos (siehe Kapitel 6) berichten die Rosettis generell über gute Erfahrungen mit dem medizinischen System der Schweiz (Ausnahme höchstens die Depressionsbehandlung Giannas). Beide Ehepartner gehen zu demselben Arzt, der auch Italienisch spricht. Insbesondere Gianna betont, dass sie ihrem Hausarzt vertraue und ihn für einen guten Arzt halte. Aufgefallen ist mir im Umgang mit den Rosettis, insbesondere bei Lino, auch das Interesse für medizinische Zusammenhänge und die einfache, aber präzise Art, wie sie medizinische Zusammenhänge beschreiben (siehe z.B. oben). Dies kann einerseits an einem spezifischen Interesse an medizinischen Zusammenhängen liegen (dazu würden auch die Erzählungen zu den frühen Erkrankungen und den ‚cure tipo campagna‘ passen), es kann aber auch damit zu tun haben, wie der Hausarzt den beiden die Dinge erklärt. Grundsätzlich stützt diese Beobachtung das Bild der zwar nicht formal gebildeten, aber an Bildung und Kultur interessierten mittelständischen Städter, das die Rosettis in verschiedener Weise pflegen44. Durch die Initiative des Hausarztes erhalten Gianna und Lino also Unterstützung im Haushalt, und in Notfällen, wenn es Gianna schlecht geht, ist Lino flexibel und übernimmt die Haus- und Pflegearbeiten. Im Moment sind die Rosettis somit relativ gut versorgt und als Paar in der glücklichen Lage, dass der eine Partner für den anderen sorgen kann, wenn dieser krank ist. Die Kinder werden nur in Notfällen um Hilfe gebeten:
44 Dieses Bild wird einerseits gepflegt durch die Anerkennung meiner Bildung und der Verweis auf die ihnen fehlende Bildung, insbesondere im Hinblick auf sprachliche Kompetenz. Zudem gibt es vielfältige Hinweise darauf, dass die Rosettis reges Interesse haben, z.B. an Theater und Oper, an Geschichte, an bildender Kunst. Die Rosettis präsentieren sich als Familie, welche selber keine Ambitionen resp. keine Möglichkeiten für höhere Bildungswege hatte, welche sich aber durchaus auch in der Welt der Gebildeten auskennt und bewegen kann. Dies zeigt sich auch im Hinblick auf die Generation der Kinder. Während keine besonderen Erwartungen an die eigenen Kinder thematisiert werden, die Rosettis sogar darauf bedacht sind, sich zufrieden mit den Leistungen und beruflichen Karrieren ihrer Kinder zu zeigen, heben sie die Bildungskarrieren ihrer Nichten und Enkelkinder in Italien besonders hervor.
334 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
E: E i ehm [..] i figli e le nuore non [.] non E: Und die ehm, die Söhne und die Schwie-
G:
sono disponibile a aiutare, o non ha
gertöchter sind nicht verfügbar zum
chiamato? In un caso che [.] è neces-
Helfen, oder haben Sie sie nicht geru-
sario di –
fen? In einem Fall wo es nötig ist zu –
In un caso proprio grave, allora
G:
In einem
arrivano. [.] Sì, sì. Quando è un caso
wirklich ernsten Fall, dann kommen sie.
grave, arrivano. Quando è una cosa
Ja, ja. Wenn es ein ernster Fall ist, kom-
così, sa, che io [.] sappiamo un pochino
men sie. Wenn es so etwas ist, wissen
arrangiarci, allora non disturbiamo
Sie, wo ich – dann wissen wir uns zu ar-
troppo.
rangieren, dann stören wir nicht unnötig.
(Transkript Rosetti 2, 38/21 – 38/25) Die Rosettis verlassen sich nicht auf ihre Kinder, sie wollen diese nicht unnötig stören. Ob dies nun heißt, dass Gianna und Lino nicht möchten, dass ihre Kinder sie betreuen müssen, oder ob sie denken, sie würden sich nicht auf die Kinder verlassen können, wird hier nicht klar. Jedenfalls stützen sich die Rosettis nicht auf die intergenerationelle Solidarität der Institution Familie, sondern auf jene der Gesellschaft als Ganzes. Ihre Bedürftigkeit soll nicht von ihren Kindern getragen, sondern von öffentlichen und privaten Institutionen aufgefangen werden. Die Rosettis haben damit auch größtenteils gute Erfahrungen gemacht. Sie haben bisher außerhalb ihrer Familie immer Unterstützung gefunden, wenn sie darauf angewiesen waren. Bei den Konflikten um die Familienzusammenführung und um die Anstellungsbedingungen von Gianna waren es Vorgesetzte, die geholfen haben. Beim Nachhilfeunterricht für die Kinder, beim Suchen einer größeren Wohnung oder beim Ausfüllen der Antragsformulare für Ergänzungsleistungen waren es Nachbarn. Bei der Invaliditätsabklärung Giannas, wie auch bei der Organisation einer Haushaltshilfe, war es der Hausarzt der Rosettis, der ihnen den Zugang zu Institutionen ebnete. Wichtig scheint mir hier festzuhalten, dass die Rosettis Erfahrungen mit Krisensituationen haben, über ein Netz von Bezugspersonen verfügen, auf die sie in Notsituationen zurückgreifen können, und auch die entsprechenden Institutionen bereits kennen, die angegangen werden können. Gianna und Lino wissen sich zu helfen, können kurzfristig die Aufgaben des anderen übernehmen, um den Alltag aufrecht zu erhalten. Sie erweisen sich, wenn man nachfragt, als durchaus handlungsmächtig und flexibel im Hinblick auf mögliche Beeinträchtigungen im Alter. Die Vorstellung, einmal nicht mehr selbständig wohnen und gegenseitig für sich sorgen zu können, oder schlimmer noch, den Partner zu verlieren und plötzlich auf sich allein gestellt zu sein, behagt beiden nicht.
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 335
Zukunftsperspektiven? Das Altersheim oder das Grab Das Leben verändert sich im Alter, dessen sind sich Gianna und Lino sehr bewusst. In ihren Augen wird vieles immer komplizierter, der Alltag wird in manchen Bereichen zunehmend zur Mühsal, wie sie u.a. im Gespräch über ständig höher werdende Krankenkassenprämien festhalten. G: È un po’ complicata. Noi paghiamo
G: Es ist ein bisschen kompliziert. Wir zah-
tanto, e loro complicano più le cose.
len so viel, und sie machen die Dinge
Specialmente per la gente anziana. Ci
komplizierter. Speziell für die alten
stanno complicando la vita. [L. lacht;
Leute. Sie komplizieren uns das Leben
G. fährt lachend fort:] Invece di farla
beständig. [L. lacht; G. fährt lachend
più semplice la vita, [.] la fanno più
fort:] Statt das Leben einfacher zu ma-
complicata. Secondo me.
chen, machen sie’s komplizierter. Meiner Meinung nach.
L: Eh vabbe’, non ha [.] le cose vanno un
L: Eh na ja, es hat nicht – die Dinge gehen
po’ [..] Vabbene, poi i soldi ci stanno in
ein bisschen – Naja also das Geld ist in
Svizzera. Vanno alle banche però. [.] E
der Schweiz. Es geht aber auf die Ban-
poi lo stato dice che se è in deficito, lo
ken. Und dann sagt der Staat, dass er im
stato, [.] lo stato svizzero, [.] il palazzo
Defizit ist, der Staat, der Schweizer
federale dice che è bisogno senza soldi.
Staat, das Bundeshaus sagt, es müsse
[G. und E. lachen]
ohne Gelder gehen. [G. und E. lachen]
G: Senza soldi siamo noi! [lacht]
G: Ohne Geld sind wir! [lacht]
(Transkript Rosetti 2, 35/26 – 35/) Lino fügt hier eine Bemerkung an, welche auf den ersten Blick nicht klar verständlich ist. Vermutlich knüpft sein Argument dort an, dass alles teurer werde. Ich verstehe ihn so, dass etwas schief gehe in der Welt, das Geld an die falschen Stelle gelange, der Staat nicht die Wahrheit sage, und dass die kleinen Leute, insbesondere die Betagten, diejenigen seien, die darunter zu leiden hätten. Gerade darin, dass diese Bemerkungen von sehr viel Lachen begleitet werden, zeigt sich der Ernst der Sache: Es ist ein sarkastisches Lachen über die ungerechte Verteilung von Reichtümern zwischen den großen Institutionen und den kleinen Leuten. Gianna und Lino betrachten sich ganz klar als alt, obwohl sie gegen außen nicht unbedingt so wirken. Gianna färbt sich die Haare und wirkt, insbesondere in Anbetracht ihrer gesundheitlichen Einschränkungen, in ihren Bewegungen sehr behende. Lino bewegt sich zwar mit Bedacht, macht aber dennoch nicht den
336 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Eindruck eines alten, hilflosen Mannes, der am Ende seines Lebens angelangt ist. Auf meine Frage hin, wie sich die Rosettis ihre Zukunft vorstellen, brechen jedoch beide in Lachen aus: E: E come vedete il vostro futuro? Adesso, in Svizzera?
E: Und wie sehen Sie Ihre Zukunft? Jetzt, in der Schweiz?
L: Il futuro è sempre la tomba.
L: Die Zukunft ist immer das Grab.
G: [lacht] Mio papà, mio papà quando è
G: [lacht] Mein Papa, mein Papa als meine
morta, quando è morta mia madre –
Mutter starb – meine Mama starb im
mia mamma è morta nel’86 – mio padre
’86 – mein Vater, als meine Mutter
quando è morta mio madre, lei aveva
starb, sie war 80, 81 Jahre alt. [***]
80, 81 anni. [***] E ha detto:
Und er hat gesagt: „Und jetzt, was kom-
[.]„Quest-, e adesso, cosa viene del mio
mt noch in meiner Zukunft?“ Er war 81
futuro?“ Aveva 81 anni. Ancora di – io
Jahre alt. Noch ein – ich bin 73, [***]
ne ho 73, [***] e la signora sta
und die Dame fragt mich, wie ich meine
chiedendo come lo vedo mio futuro!
Zukunft sehe! [lacht] Also ich kann’s
[lacht] Allora non posso dirlo. Eh come
nicht sagen. Eh, wie ich sie sehe, wie
lo vedo, come sto facendo adesso? Che
ich’s jetzt mache? Was denke ich da-rü-
penso io?
ber nach?
(Transkript Rosetti 1, 45/21 – 45/31) Linos Antwort auf die Frage nach der Zukunft ist kurz und prägnant: Die Zukunft ist das Grab. Das einzige, was er noch vom Leben erwarten kann, ist der Tod. Alles, was noch kommen wird in seinem Leben, führt dahin: ins Grab. Bei Gianna löst die Frage eine Erinnerung an etwas aus, was ihr Vater gesagt hat, als er alt war. Auch sie drückt in ihrer Geschichte aus, dass sie keine Erwartungen mehr an die Zukunft hat, respektive, dass sie aufgehört hat, darüber nachzudenken, was die Zukunft noch bringen werde. Letzteres, das Nicht-darüberNachdenken, beinhaltet neben dem Aspekt, dass da womöglich nichts Neues und Aufregendes mehr zu erwarten wäre, auch die Möglichkeit, dass es unangenehm sein könnte, über die Zukunft nachzudenken. Dass man sterben wird, oder, vielleicht schlimmer, dass man zuerst den Partner verlieren könnte. Indem Gianna nicht mehr darüber nachdenkt, muss sie sich damit nicht auseinander setzen. Das Thema, welches ich im Hinterkopf hatte bei der Frage nach der Zukunft, sind die Vorstellungen von der Gestaltung eines Lebens in Abhängigkeit von anderen, dass man aufgrund des Alters auf Unterstützung angewiesen sein könnte. Das Thema kommt zur Sprache, aber in einem anderen Kontext: Als
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 337
Gianna schildert, was ihren Alltag ausfüllt, erwähnt sie ihre Mitgliedschaft in einem Chor. Dieser Chor tritt ab und zu auf, z.B. auch in Altersheimen: G: Eeh [.] poi [.] sì, ci ho il coro che mi
G: Und dann ja, habe ich den Chor, der
passa un pochino il tempo, [.] quando,
mir ein bisschen die Zeit vertreibt,
ogni quindici giorni, adesso abbiamo
wenn, alle vierzehn Tage, jetzt haben
vacanze. [.] Ogni quindici giorni
wir Ferien. Alle vierzehn Tage gehen
andiamo a cantare, [.] e poi andiamo
wir singen, und dann gehen wir zu den
dalle gente anziana, per portare un po’
alten Leuten, um ein wenig Freude zu
d’allegria. [***]
bringen. [***]
L: Per portare un po’ di armonia [.] nelle
L: Um ein wenig Harmonie in die Häuser zu bringen.
case. G:
Armonia agli anziani poverini. E
G:
Und oft müssen wir weinen, wenn wir
vedere quelli anziani. Che ci fa-
diese Alten sehen. Es macht uns-
E:
Sì, ho voluto
E:
G:
ci fa pena,
G:
E:
Di quelle case.
G:
Eh, sono
Von diesen Häusern.
G:
Eh, sie
ben’ [.] eh, le case sono belle, sono
sind gut-, eh diese Häuser sind schön,
puliti loro, eeh le [.] le -
sind ordentlich, eeeh, sie -
L:
Gli trattano bene.
L:
gli
G:
G:
G:
Es macht uns Mitleid, viel Mitleid. Eh, viel.
molta pena. Eh, molta. E:
Ja, das wollte ich fragen, was Sie von diesen denken.
chiedere che cosa si pensa di quelli.
L:
Harmonie für die armen Alten.
tante volte ci mettiamo a piangere a
Man behandelt sie gut. man be-
trattano bene, si vede, eh. Però, vedere
handelt sie gut, das sieht man, eh. Aber
quelli anziani poverini che non [.] non
diese armen Alten zu sehen, die nicht
possono stare neanche agli piedi, e
einmal mehr auf den Beinen stehen kön-
tante volte andiamo, [.] e non troviamo
nen, und so oft gehen wir hin, und fin-
più quelli che abbiamo visti prima.
den diejenigen nicht mehr, die wir letz-
Perché sono [.] sono già anziani,
tes Mal gesehen haben. Weil sie, sie
vecchi, e
sind schon betagt, alt, und -
Partono prima, parto. Eh. Eh, sì.
L:
Sie gehen zuerst, gehen sie.
338 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
G: L: Loro ri- [.] Solo andata. [G. lacht] E ritorno non lo fanno. [lacht]
Eh. Eh ja.
L: Sie keh- Nur einfache Fahrt. [G. lacht] Und zurück machen sie nicht. [lacht]
G: Eh sì. [..] È così.
G: Eh ja. – So ist es.
L: Solo andata.
L: Nur einfach.
(Transkript Rosetti 2, 41/23 – 42/15) Wenn Gianna mit ihrem Chor auftritt, dann tritt sie vor Menschen auf, die noch älter sind als sie selber, vor ‚den armen Alten‘, die sie zum Weinen bringen. Mich bringt diese Äußerung dazu zu fragen, was Gianna von Altersheimen halte. Im Hinterkopf habe ich dabei die Frage nach den Lebensbedingungen im Heim. Gianna und Lino gehen beide kurz auf meine Frage ein, attestieren den Altersheimen prinzipiell Gutes, um dann sogleich zurück zu den Bewohner/innen zu kommen. Diese seien es, die einen traurig machen würden, deren Zustand und dass sie irgendwann nicht mehr da seien. Es ist also das Mitleid mit den wirklich alten Alten, die Konfrontation mit der Vergänglichkeit und der Endlichkeit des Lebens, welche Gianna und Lino beschäftigt. Es sind demnach nicht die Häuser an sich, die Altersheime, oder die Idee des Betreuens Betagter in außerfamiliären Institutionen, an denen sich die Rosettis abarbeiten. Es ist die Tatsache, wie Lino wieder einmal sehr kurz und prägnant ausdrückt, dass die Fahrkarte ins Altersheim eine einfache Fahrt ist, dass es keine Rückkehr gibt aus dem Heim, dass der einzige Ausweg der Tod ist. Diese Sicht auf Altersheime deutet darauf hin, dass Gianna und Lino darüber nachdenken, was es für sie persönlich bedeuten würde, in ein Altersheim zu gehen. Es geht hier nicht um die kulturalisierenden Diskurse über Schweizer Altersheime und das Abschieben der Alten, wie sie in der italienischen ‚Gemeinschaft‘ üblich sind. Es geht vielmehr um die Vorstellung vom Altersheim als Vorhof zum eigenen Tod. Noch deutlicher wird dies etwas später im Interview, als Gianna Herrn F.45, einen Sozialarbeiter der katholischen Kirche, erwähnt und erzählt, dass er sie dazu ermuntern wollte, sich bei einem Altersheim auf die Warteliste setzen zu lassen. G: Lui voleva darmi un formulario per la casa d’anziani qua, che stanno facendo
G: Er wollte mir noch ein Formular geben für das Altersheim hier, weil sie dort für
45 Der Sozialarbeiter ist mir aufgrund der Abklärungen im Vorfeld meiner Studie als einer der professionellen Akteure im Bereich Migration und Alter in der Stadt Bern bekannt, und die Rosettis wissen, dass ich ihn kenne.
D AS E HEPAAR ROSETTI
| 339
per la gente ehm [.] nuove stanze [.] qui
die Leute ehm neue Zimmer machen,
alla [.] ‚Casa X’. [***] Qua. La casa
hier im ‚X-Heim‘. [***] Das Alters-
d’anziani, la ingrandiscono. E allora [.]
heim, sie vergrößern es. Und deshalb
mi ho detto: „Si, a-“
habe ich mir gesagt: „Ja, a-“
E:
E si deve iscrive su una lista?
E:
Und man muss sich einschreiben, auf einer Liste?
G:
Iscrivere,
G:
Sich einschreiben,
sì, sì. E allora dice: „Sa, i fogli ci ho.“
ja, ja. Und er sagte: „Wissen Sie, ich
Ho detto: „Guarda, Signor F., adesso
habe die Formulare.“ Ich hab gesagt:
stiamo partendo. Quando ritorniamo
„Schauen Sie, Herr F., wir sind gerade
poi venivamo a prendere.“ Ancora non
dabei zu gehen. Wenn wir zurück sind,
ci siamo andati perché io sono stata
kommen wir eines holen.“ Wir sind im-
male per quando sono venuta, e [.]
mer noch nicht gegangen, weil es mir
quando sarà il giorno 13, lo vedo
schlecht ging seit ich zurück bin, und am
senz’altro.
13. werde ich ihn sicher sehen.
E: Era Lei che ha avuto questa idea di
E: Hatte Sie die Idee, sich einzuschreiben,
iscriversi, o era lui chi ha detto?
oder war er es, der das gesagt hat?
G: No, lui ci ha fatto la proposta a tutti.
G: Nein, er hat uns allen den Vorschlag gemacht.
E: A tutti.
E: Allen.
L: Italiani, quelli italiani. Per la casa de-
L: Italienern, jenen Italienern. Für das Altershe-
E:
Ah, vogliono fare come un reparto italiano?
E:
Ah, wollen sie etwas wie eine italienische Abteilung machen?
L: Sì, sì.
L: Ja, ja.
G: Ma ci sono anche svizzeri. Ci sono
G: Aber da sind auch Schweizer. Da sind
anche svizzeri. Eeh [.] e allora io ho
auch Schweizer. Eh, und da habe ich ge-
detto: „Be’! [.] Il foglio me lo dia. E
sagt: „Gut! Geben Sie mir das Blatt.
dopo non si sa. Fin quando siamo con
Dann schauen wir mal. Solange wir im
la testa ancora buona. Quando la testa
Kopf noch gut sind. Wenn der Kopf
non ragiona più, possiamo andare.“
nicht mehr will, können wir gehen.“
L: Meglio morire! [G. lacht]
L: Lieber sterben! [G. lacht]
E: [an L.] Lei non vuole andare in una
E: [an L.] Sie wollen nicht in ein solches
casa così?
Haus gehen?
340 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
L: No, no.
L: Nein, nein.
G: Lui non vuole. Veramente neanch’io.
G: Er will nicht. Ich eigentlich auch nicht. Aber wenn man muss, -
Però [.] se si deve, E:
Se è necessario, mhm.
G:
se si deve
E: G:
wenn man muss, was können wir da machen? Eh?–
[.] che cosa possiamo fare? Eh? […] L: Vabbe’, vediamo. [lacht kurz, kichernd]
Wenn es nötig ist, mhm.
L: Naja, wir werden sehen. [lacht kurz, kichernd] G: Wir werden später sehen. Bis da-
G: Dopo si vedrà. [.] Fino a-
Speriamo ancora. L:
L:
Hoffen wir noch. Machen wir uns keinen Kopf.
[.] Non ci facciamo la testa. E: Sì. [.] Sì. Se non è necessario non ci
E: Ja. Ja. Wenn es nicht notwendig ist, würde auch ich nicht gehen.
andrei neanch’ io. G: Eh, certo! [alle lachen]
G: Eh, sicher! [alle lachen]
E: Ma pensa che [.] sono delle stanze con
E: Aber denken Sie, dass es Zimmer sind
[.] con persone di lingua italiana che
mit, mit Personen italienischer Sprache,
lavoravano qua?
die dort arbeiten?
L: Sì. Sì, sì.
L: Ja. Ja, ja.
G: Sì, sì, sì, ci sono, [.] sì, sì, sì.
G: Ja, ja, ja, das ist so, ja, ja, ja.
E: E [.] per Lei questo è una buona cosa?
E: Und ist das für Sie eine gute Sache?
Sì, certo, G:
G:
sicher, ja!
certo, sì! L: Che faranno un piccolo appartamento
L: Dass sie eine kleine Wohnung machen,
che c’è un cucinino, la cosa, tele-
mit einer kleinen Küche, so, Fernsehen,
visione, cucinino, cosa. Un po’ più
Küche, so. Ein bisschen kleiner, sagen
ristretto, diciamo, [.] ma [.] cucina di
wir, aber Küche ist Küche, egal, oder?
là e cucina di qua, è uguale, no? [lacht]
[lacht]
E: Forse avrà la possibilità di [.] andare
E: Vielleicht gäbe es die Möglichkeit, in
in un ristorante per mangiare se non
ein Restaurant essen zu gehen, wenn Sie
vuole fare la cucina. È una cosa così?
nicht kochen wollen. Ist es so ein Haus?
G: Può darsi che, che- sì, E:
Ja, sicher,
G: Es kann sein, dass, dass, ja,
C’è un appartamento E:
Es gibt eine
D AS E HEPAAR ROSETTI
Wohnung für Sie allein, aber man muss-
a conto suo, ma si deveG:
| 341
portano anche il
G:
Sie bringen
mangiare, [.] portano il mangiare.
auch das Essen, bringen das Essen.
L: Sì, ma forse, io, lo portano mai. [.] Che
L: Ja, aber vielleicht, ich, mir würden sie’s nie bringen. Was wäre das wohl?
cos’è?
G: Eh, perché lui è [.] un pochino antipati- G: Eh, weil er ist ein bisschen heikel im co nel mangiare. Non è che [.] mangia
Essen. Er isst nicht etwa alles, eh. Er ist
tutto, eh. È tradizionalista ancora.
noch Traditionalist.
E: Con il mangiare?
E: Mit dem Essen?
G: Con il mangiare, sì.
G: Mit dem Essen, ja.
E: E tradizionalista vuol’ dire che deve
E: Und Traditionalist will heißen, dass es italienisch sein muss, oder muss es-
essere italiano, o che deve essereG:
L:
Che-
che
che le cose
G:
Dass
dass
dass die
più antiche, che a lui piacciono le cose
älteren Dinge, dass ihm die älteren
più antiche, anche ci sono [.] ricette
Dinge gefallen, es gibt ja auch moderne
moderne. E lui non ci tiene tanto, non ci
Rezepte. Und er hält nicht viel davon,
tiene tanto.
hält nicht viel davon.
Me le faccio- Le cremette, ‘ste cose qua, non tanto.
L:
Mir würden sie-, Die Cremesüppchen, diese Dinge, nicht so sehr.
E: Cosa è le cremette?
E: Was sind Cremesüppchen?
L: Le cremette, queste cose che fanno nei-
L: Diese Cremesüppchen, das was sie in
[.] crema di questo coso, di questo
den- Creme von diesem Zeugs, von je-
coso, per [deutet Zahnlosigkeit an]
nem Zeugs, für [deutet Zahnlosigkeit an]
E: Aaah! Nelle case di anziani! [E. und G. lachen]
E: Aaah! In den Altersheimen! [E. und G. lachen]
L: [lachend:] Oooh, non lo so se me vanno L: [lachend:] Oooh, ich glaube nicht, dass bene!
mir das passen würde!
(Transkript Rosetti 2, 43/33 – 45/12) Die Absicht des Sozialarbeiters hinter dem Verteilen der Anmeldebogen war, so nehme ich an, eine ganz spezifische. Er ist eine der Personen, die sich im Raum Bern besonders stark für die Situation alternder Migrant/innen einsetzen und der insbesondere spezielle Betreuungsangebote für betagte, pflegebedürftige Mig-
342 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
rant/innen verlangt hat. Eines der Altersheime in Bern, welches in einem Stadtteil steht, wo überdurchschnittlich viele Migrant/innen leben, hat nun beschlossen, bei seinem sowieso anstehenden Erweiterungsbau ein sogenannt ‚mediterranes‘ Pflegeangebot46 einzuplanen. Und ich vermute, dass die Aufforderung in der italienischen Seniorengruppe, sich im Altersheim anzumelden, nun die postulierte Nachfrage nach solchen Pflegeplätzen unter Beweis stellen sollte. Gianna, so meine Lesart, entzieht sich dieser Anforderung, sich für einen Platz im Heim anzumelden, vorerst damit, dass sie kein Anmeldeformular entgegennimmt und Herrn F. auf später vertröstet. Die Art, wie sich Gianna und Lino mit der Frage der Anmeldung im Altersheim auseinander setzen, verweist kaum auf die Diskurse um die Forderung nach ethnospezifischen Altersheim-Abteilungen, sondern auf eine stark individualisierte, existentielle Auseinandersetzung mit dem Altern und Sterben. Der ethnische Aspekt, von mir eingebracht mit der expliziten Frage nach der italienischen Abteilung, ist nicht dasjenige, was Gianna hier interessiert, und so betont sie sogleich, dass es nicht ums Italienisch-Sein gehe, dass es dort auch Schweizer habe. Für Gianna geht es aber nicht um die Frage, wie konkret sich ein Leben in diesem Altersheim gestalten würde, sondern ob sie überhaupt in ein Altersheim
46 Unter dem Schlagwort ‚mediterrane Abteilungen‘ werden in der Schweiz die Einrichtung von ethnospezifischen Angeboten in Altersheimen diskutiert. Als Paradelösung gilt dabei gegenwärtig die Schaffung von speziellen Abteilungen innerhalb regulärer Altersheime, in denen gewissen Bedürfnissen, welche man Senior/innen aus mediterranen Ländern zuschreibt (notabene unter Berufung auf Befragungen unter eben jenen Senior/innen), Rechnung getragen werden soll. Dazu gehören – durchaus nachvollziehbar – Sprache und Essgewohnheiten, aber auch im Falle der ‚mediterranen‘ Senior/innen das Bedürfnis nach Klatsch, Lärm und Ausgelassenheit, dem z.B. durch die Einrichtung von ‚Piazzas‘ genannten Begegnungsräumen und die Einplanung großer Festräumlichkeiten Rechnung getragen werden soll (siehe z.B. die Bedürfnisabklärung im Auftrag der städtischen Arbeitsgruppe Alter & Migration vom Januar 2006, zugänglich unter , 7. September 2007). Als erstes Altersheim in der Schweiz hat das Pflegezentrum Erlenhof in Zürich eine sogenannte ‚mediterrane Abteilung‘ eingerichtet. Laut Homepage bietet diese Abteilung ihren Bewohner/innen ein spezifisch mediterranes kulturelles Verständnis: „Auf dieser Station werden Menschen aus dem mediterranen Sprach- und Kulturraum betreut. Die Mitarbeiter identifizieren sich mit dieser Kultur, den Bräuchen und Sitten, und so ist es möglich, dass die Bewohner verstehen und verstanden werden.“ (, 7. September 2007)
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gehen wolle. ‚Schauen wir mal‘, meint sie, und schiebt damit die Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt auf. ‚Solange wir noch gut im Kopf sind‘, kann sich Gianna das Leben im Altersheim nicht vorstellen. Erst ‚wenn der Kopf nicht mehr denken kann‘, wenn eine geistige Einschränkung der Autonomie eintritt, kann sich Gianna den Umzug in ein Altersheim vorstellen. Körperliche Bedürftigkeit, körperlicher Autonomieverlust allein scheidet also als Grund für Gianna aus. Lino ist noch radikaler, er würde lieber sterben, als ins Altersheim zu gehen. Auch Gianna will eigentlich nicht, sieht aber ein, dass es Umstände gibt, unter denen ‚man muss‘, wo es nicht mehr anders geht, zum Beispiel, wenn man nicht mehr gut im Kopf ist. Im Moment bemühen sich beide darum, die konkrete Auseinandersetzung mit dieser Frage noch vor sich herzuschieben – ‚wir werden später sehen‘, ‚wir hoffen noch‘ etc. Ihre Taktik ist diejenige des Abwartens, bis man wirklich nicht mehr anders kann, bis man in ein Heim gehen muss. Meine Frage danach, wie die neu zu schaffende Abteilung wohl aussehen werde, mündet in eine Schilderung Linos dazu, wie er sich Alterswohnungen vorstellt. Er hebt dabei hervor, dass die Wohnungen über eine eigene Küche verfügen würden, die zwar klein sei, aber doch immerhin eine Küche. Die Option, die ich zusammen mit Gianna einbringe, dass man nicht unbedingt selber kochen müsse, sondern sich auch Essen aus der Großküche bringen lassen könne, wird von Lino dann aber ziemlich dezidiert abgelehnt. Auf ein solches Angebot, meint er, würde er sicherlich verzichten, deutet auch an, dass ihm ein solches Essen nicht schmecken würde, schon gar nicht in der Form von ‚Cremesüppchen‘, von pürierten Speisen für Zahnlose. Gianna bemüht sich sofort darum zu erklären, dass Lino mit dem Essen etwas eigen sei, heikel, sehr ungern Abweichungen vom Gewohnten auf sich nehme. Kochen und Essen wird in dieser Passage zum Sinnbild für den drohenden Autonomieverlust im Alter. Lino schätzt das Essen, welches Gianna für ihn kocht, offenbar sehr – das zeigt sich auch in seiner anerkennenden Bemerkung andernorts (z.B. in der Niederschrift der Lebensgeschichte für die Enkelkinder), dass seine Frau ihm immer ein warmes Essen vorgesetzt habe, auch wenn er erst um Mitternacht von der Arbeit gekommen sei. Der Verlust dieses vertrauten Essens ist für Lino eine sehr unangenehme Vorstellung. Gianna nährt ihn, bekocht ihn, und Lino schätzt diese Umsorgung, er schätzt das Vertraute, das Altbewährte. Er würde diese eingespielte Zweisamkeit nur unter Zwang aufgeben. Insofern stützt die metaphorische Geschichte um das altbewährte und hochgeschätzte Essen seiner Gattin, das er nicht eintauschen möchte gegen altersgerechte Süppchen und Breie aus der Großküche des Altersheimes – lieber würde er sterben –, auch die eher nüchterne Analyse von Gianna, die sich das Aufgeben der intimen Zweisamkeit zu Hause erst vorstellen kann, wenn sie nicht mehr gut
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im Kopf sei. Sollte dies aber der Fall sein, wäre sie auch nicht mehr in der Lage, für Lino zu kochen, sprich: ihn zu versorgen. Während für Lino das wahrscheinlichste Szenario – oder die Wunschvorstellung – ist, dass er sterben wird, rechnet Gianna eher mit der Möglichkeit, dass sie nicht mehr für sich selber sorgen und auch nicht mehr auf Lino zurückgreifen kann, vielleicht weil auch sie davon ausgeht, dass er vor ihr sterben wird. Und ihr wahrscheinlichstes Szenario – oder eben auch ihre Wunschvorstellung – ist es, dass sie dann ‚nicht mehr gut im Kopf ist‘, was auch bedeuten würde, dass sie den Umstand, im Altersheim leben zu müssen, nicht mehr mitbekommen würde. So ernst das Thema auch ist, so finden Gianna und Lino dennoch eine leichtfüßige Art des gemeinsamen Scherzens darüber, in die sie auch mich mit einbeziehen. Es mag hier ein eher sarkastisches Scherzen sein. Dennoch ist es ein Weg, sich über unangenehme Dinge zu unterhalten, ohne dass sie einem zu nahe kommen können. Und Gianna und Lino machen auf mich den Eindruck, als wären sie in der Lage, sich auch mit unangenehmen Seiten ihrer Zukunft auseinander zu setzen und sich darüber auszutauschen.
5.5 D IE UND
ZENTRALEN T HEMEN : AUTONOMIE
F AMILIÄRE E INBINDUNG
Das Bild des Ehepaares Rosetti, das wir aus ihren Erzählungen haben gewinnen können, entspricht in verschiedener Hinsicht nicht dem Stereotyp der ‚italienischen Gastarbeiter/innen‘. Sie stammen zwar, wie so viele, aus dem Süden Italiens, sind aber nicht in ländlich-ärmlichem Milieu aufgewachsen47, sondern städtische, beruflich qualifizierte Migrant/innen, die in einem mittelständischen Milieu sozialisiert wurden. Zudem waren Gianna und Lino nicht mehr jung, sondern bereits in Berufs- und Familienleben etabliert, als sie sich zur Migration entscheiden. Das Ziel, welches die Rosettis mit der Migration verfolgten, ist denn auch nicht in erster Linie die Verbesserung der ökonomischen Situation, sondern die Eigenständigkeit. Ziel ist nicht, sich am Herkunftsort eine bessere Existenz aufbauen zu können. Es geht vielmehr darum, ein Umfeld zu finden, in dem das Ehepaar Rosetti seine Kinder ernähren und aufziehen kann. Und so haben sich die Rosettis sehr stark auf ihre Existenz hier in der Schweiz und auf den Zusammenhalt ihrer Kernfamilie konzentriert, und sie haben dabei eine
47 Die Migration der späten 1950er und frühen 1960er Jahre aus Süditalien in den Norden war in erster Linie eine Migration der ländlichen Bevölkerung, Migration aus den Städten des Südens war eher selten (Ginsborg 1990: 222).
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geradezu protestantisch anmutende Arbeitsethik verfolgt. Trotz harter Arbeit scheint aber das Geld immer sehr knapp und die Freuden im Leben eher spärlich gewesen zu sein. Doch immerhin, die Kinder sind alle groß geworden, haben einen Beruf erlernt, haben Familien gegründet, und das erfüllt die Rosettis mit Stolz und Freude. Auch jetzt im Alter entsprechen die Rosettis nicht so recht dem Klischee der pensionierten ‚Gastarbeiter/innen‘, welche sich für Kinder und Enkelkinder aufreiben, sich auch aktiv an deren Leben beteiligen und darauf hoffen, dass diese sie dafür später einmal pflegen würden. Gianna und Lino verlassen sich sehr ausgeprägt aufeinander, aktivieren punktuell funktionale Netzwerkbeziehungen (ehem. Arbeitgeber, Nachbarn, z.B. auch mich) oder weichen auf professionelle Dienstleistungen aus. Das Verhältnis zu den Kindern ist gut, doch alltägliche Kontakte und regelmäßige gegenseitige Hilfeleistungen sind nicht besonders ausgeprägt. Die Kontakte zur italienischen ‚Gemeinschaft‘ sind zwar vorhanden, doch sind die Rosettis auch hier darauf bedacht, eine gewisse Distanz aufrecht zu halten und dadurch ihre Privatsphäre und ihre Eigenständigkeit zu wahren. Die Option einer Rückkehr wird, vor allem unter beruflichen Kriterien betrachtet, früh verworfen. Die Rosettis konzentrieren sich voll und ganz auf ihre Arbeit und ihr Leben in Bern, setzen viel daran, ihren Kindern den schwierigen Start zu erleichtern und scheuen davor zurück, deren aufmerksam umsorgtes ‚Wurzelschlagen‘ durch eine Remigration wieder zu gefährden. Zumindest für Lino ist klar, dass der neue Lebensort nun im Zentrum steht, dass er hier ein Auskommen hat, welches ihn seine Rolle als Familienoberhaupt angemessen erfüllen lässt. Gianna hingegen liebäugelt doch ab und zu mit einer Rückkehr. Sie tut dies in ganz bestimmten Situationen, wenn ihre Familie bedroht ist, wenn es schwierig ist, wenn sie einsam ist, wenn ihr Depressionen drohen. Dann, so sagt sie in der Retrospektive, habe sie ein Verlangen nach Rückkehr gepackt. Die Tatsache, dass Gianna migriert ist, dass sie vor dem jetzigen Zuhause ein anderes hatte, verspricht ihr in solchen Situationen einen Ausweg: Da gibt es noch den Ort, von dem man her gekommen ist, an den man auch zurückgehen könnte. Die Verlockung, aus schwierigen Situationen einfach wegzulaufen, bekommt dadurch ein mögliches Ziel. Remigration wird zur Hintertür, zum möglichen Ausweg, doch da Lino sich nie darauf einließ, ist auch Gianna nie ernsthaft aktiv geworden. Wenn ‚weggehen‘ in ihrem Erfahrungsschatz auch eine biographisch bewährte Strategie ist, so sind die Wahrung der familiären Einheit und die Erfüllung ihrer Pflichten innerhalb der Familie am Ende immer wichtiger gewesen.
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5.6 E INE
ANDERE S ICHTWEISE AUF F AMILIE UND AUTONOMIE : D IE A GOSTINOS
Die Geschichte des Ehepaares Agostino gleicht derjenigen der Rosettis in einigen Aspekten, trotz anderer Herkunft und anderer Migrationsgeschichte. Auch die Agostinos sind in ihrer Kindheit unmittelbar vom Krieg betroffen gewesen und verbinden ihre Emigration mit diesen Erlebnissen. Auch in ihrer Geschichte spielt das Motiv der Suche nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit in der Migration eine große Rolle. Auch sie haben ein Kind in der Schweiz geboren, das nicht bei ihnen bleiben durfte. Die Betreuung der Kinder und die Reflexion darüber, was aus ihnen geworden ist, nimmt auch in diesem Fall sehr viel Platz ein. Alba Agostino hat, wie schon Gianna Rosetti, viel Energie darauf verwendet, ihre Erwerbstätigkeit den Bedürfnissen der Familie anzupassen und ihre Kinder gut aufzuziehen, doch fällt die Beurteilung des Ergebnisses ihrer Bemühungen ganz anders aus. Der Kontakt zum Ehepaar Agostino wurde mir durch die Gennis (siehe Kapitel 7) vermittelt. Frau Genni und Frau Agostino sind gut befreundet und teilen einige Interessen, so z.B. die kirchliche Freiwilligenarbeit, das Chorsingen und das Laientheater. Frau Agostino zeigte in den Interviews einen ausgeprägten Hang zur philosophischen Reflexion und schien sich über diese Gelegenheit zum Sprechen sehr zu freuen. Es gelang mir aber nicht, auch Herrn Agostino in die Interviews mit einzubeziehen. Er sei kein ‚parlatore‘, sagte Alba Agostino, und während meiner Anwesenheiten im Haushalt der Agostinos sah ich ihn jeweils nur kurz hereinkommen, durchs Zimmer gehen und wieder weggehen. Beim zweiten Gespräch ging es ihm zudem gesundheitlich schlecht, er zog sich ins Schlafzimmer zurück. Ich habe entschieden, das von beiden Ehepartnern signalisierte Desinteresse an einem Einbezug von Herrn Agostino in die Interviews zu respektieren. Die Geschichte der Agostinos basiert also, auch dort wo sie sich auf Tullio bezieht, nur auf den Erzählungen von Alba. Alba und Tullio Agostino sind je alleine aus Norditalien in die Schweiz migriert und haben sich erst in Bern kennen gelernt. Beide stammen aus dem Veneto – allerdings aus unterschiedlichen Regionen – und haben die Entscheidung zur Migration eigenständig gefällt48. Tullio wurde 1928 geboren und wuchs mit fünf Brüdern und einer Schwester auf. Die Familie hatte ihr bäuerliches Herkunftsdorf in den Bergen verlassen und sich in einer Kleinstadt mit aufstrebender Textilindustrie niedergelassen. Tullio lernte das Maurerhandwerk und arbeitete
48 Wie bei den Rosettis auch, bestanden im Umfeld von Alba und Tullio keine Netzwerkbeziehungen, welche auf eine Kettenmigration hindeuten würden.
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mehrere Jahre auf dem Bau, bevor er – als einziger in seiner Familie – wegen des besseren und sichereren Verdienstes für eine Saison in die Schweiz fuhr. Alba, geboren 1935, wuchs mit zwei Brüdern und einer jüngeren Schwester in einem kleinen Städtchen auf. Die Verhältnisse, in denen sie groß wurde, beschreibt sie als äußerst schwierig und ärmlich, insbesondere bedingt durch den Krieg, der ihre Familie hart getroffen habe. Der Vater, sagt sie, arbeitete in einem Laden, und die Mutter versuchte, da das Geld nicht ausreichte, mit der Bestellung eines kleinen Stücks Land etwas dazu zu verdienen. Weil, so erzählt Alba, selbst für Schuhe, Schreibfedern und Hefte kein Geld da war, ging sie im Alter von etwa zehn Jahren vorzeitig von der Schule ab und half fortan ihrer Mutter im Haushalt und bei der Feldarbeit. Sie übernahm mehr und mehr Verantwortung zu Hause, als ihre Mutter erkrankte. Auch die Geschwister, so beurteilt Alba es in der Retrospektive, hätten ihre Betreuung zunehmend gebraucht, sie seien wohl damals durch das Kriegsgeschehen traumatisiert worden und hätten sich mehr schlecht als recht im Alltag zurecht gefunden. Nicht nur, dass Alba und ihre Familie Kriegshandlungen in ihrem unmittelbaren Umfeld beobachtet hatten, sie waren auch direkt involviert, hatten Bombenangriffe erlebt und waren ins Kreuzfeuer geraten, hatten Menschen sterben sehen, auch unbeteiligte Zivilisten. Dieses schwierige Umfeld und die viele zusätzliche Arbeit, welche die Mutter mit dem kleinen Feld auf sich genommen hatte, führten auch zu deren Erkrankung und in der Folge dazu, dass Alba die Rolle der Mutter in der Familie übernehmen musste. Alba musste also, wie Gianna auch, bereits in ihrer Kindheit weit reichende familiäre Betreuungspflichten übernehmen. Während Gianna dies aber als normal betrachtet, als ihre Aufgabe innerhalb der Familie, sieht Alba ihre Einbindung in Betreuungs- und Haushaltpflichten als ein singuläres Ergebnis besonderer äußerer Umstände, nämlich des Zweiten Weltkrieges: „Diciamo che sono figlia anche della seconda guerra mondiale“/„Man kann sagen, dass ich auch Tochter des Zweiten Weltkrieges bin“ (Transkript Agostino 1, 1/6), sagt Alba ganz zu Beginn ihrer biographischen Selbstpräsentation, gleich nachdem sie Vater, Mutter und Geschwister erwähnt hat. Den harschen Bedingungen, welche Krieg und Nachkriegszeit für ihre Familie schufen, musste Alba als Stärkste in der Familie gewachsen sein: „Io ho avuto la fortuna di avere un carattere forte, di superare queste difficoltà“/„ich hatte das Glück, einen starken Charakter zu haben, um diese Schwierigkeiten zu überwinden“, sagt sie (Transkript Agostino 1, 7/10). Während Gianna ihre Aufgabe unhinterfragt erfüllte, handelte Alba in ihrer Selbstdarstellung eigenständig, in gewissem Sinne auch eigenmächtig. Sie selber entschied mit zehn Jahren, nicht mehr zur Schule zu gehen, sie war es, die ihre Familie versorgte, sie übernahm die Rolle der Mutter, für ihre eigene Mutter
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wie auch für ihre Geschwister. Konsequenterweise ging sie dann auch als Teenager weg von zu Hause, in die Lohnarbeit. Passend zu dem, was sie konnte, suchte sie sich Arbeiten in Privathaushalten und fand schließlich eine gute, feste Anstellung als Köchin bei einer wohlhabenden Familie. Dort habe es ihr gefallen, sie sei ‚in regola‘49 angestellt gewesen und gut behandelt worden, habe sogar ihren Familienangehörigen mit der Zeit auch Arbeit dort besorgen können. Doch irgendwann, so erzählt Alba, sei es ihr zu viel geworden, 24 Stunden lang für diese Familie zur Verfügung stehen zu müssen. Sie habe schon zu Hause die Mama sein müssen, und hier auch wieder, dabei sei sie doch jung gewesen. Die inzwischen knapp Zwanzigjährige packte „la smania di cambiare“/„die Begierde nach Veränderung“ (Transkript Agostino 1, 8/40), und so begab sie sich eines Tages auf eine Arbeitsvermittlungsagentur, die ihr eine feste Anstellung in einer Fabrik in Bern anbot. Alba griff zu und reiste, lediglich in Begleitung einer anderen jungen Frau, die sie flüchtig kannte und zufällig auf der Arbeitsvermittlung getroffen hatte, im Herbst 1956 nach Bern. Dort landete sie in einer Fabrik, die Schlachtabfälle verarbeitete, lebte im firmeneigenen Wohnheim und musste zusehen, dass sie mit dem knappen Verdienst durchkam, insbesondere da sie auch noch Geld an ihre Familie schickte. Andererseits hatte sie nun auch die Möglichkeit, neben der Arbeit ihr Bedürfnis nach altersgerechten Vergnügungen auszuleben, zusammen mit den Kolleginnen im Wohnheim, mit denen sie sich auch Unternehmungen außerhalb des Heimes zutraute. Die Migration hatte ihr damit Freiheiten ermöglicht, die sie vorher nicht kannte, ein kleines bisschen Luxus, ein wenig Zeit für sich, um jugendliche Bedürfnisse auszuleben. Eines dieser Bedürfnisse war das Tanzen: Die jungen Arbeiterinnen trafen sich samstags ab und zu in einem Restaurant, in dem es eine Jukebox gab, und dort trafen sich auch junge Männer, die irgendwo in Bern arbeiteten. Man ging gemeinsam mit den Kolleginnen hin, tanzte mit den jungen Männern und ging dann wieder mit den Kolleginnen nach Hause. Auch Tullio besuchte diese Tanzanlässe und begann, Alba den Hof zu machen. Ihretwegen, so sagt sie, habe er eine weitere Saison angehängt und sei im Frühling 1957 wieder nach Bern gekommen. Alba ließ sich noch etwas Zeit, fand eine neue Stelle und zog in eine eigene Wohnung auf dem Land, bevor sie Tullio 1958 heiratete: „Mi son’ ripresa un po’ del mio tempo che non avevo“/„ich hab mir ein bisschen von der Zeit genommen, die ich [als Kind] nicht hatte“, sagt sie zu ihren ersten Jahren in Bern (Transkript Agostino 1, 10/15).
49 D.h. in einer sozialversicherten Anstellung.
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In ihrer biographischen Erzählung konzipiert Alba somit ihre Migration als eine selbstbestimmte, aktive Strategie, um sich aus ‚düsteren‘ Verhältnissen zu befreien, ohne dabei die von ihr abhängige Herkunftsfamilie ganz im Stich zu lassen. Auch in der Schilderung ihrer eigenen Eheschließung und Familiengründung legt sie Wert darauf, sich als eigenständig und handlungsmächtig zu zeichnen. Erst als das erste Kind der Agostinos geboren wird, gerät Alba wieder in eine Situation, in der ihr etwas ‚passiert‘, auf das sie vorerst keinen Einfluss hat und das ihr Leben noch lange prägen wird: 1959 wurde das erste Kind, ein Sohn, geboren, in dem Dorf auf dem Land, wo Alba als Jahresaufenthalterin (d.h. mit B-Bewilligung50) in einer Textilfabrik arbeitete. Doch das Baby war in den Augen der Behörden das Kind Tullios, eines Saisoniers, der kein Recht dazu hatte, seine Familie bei sich zu haben, und so wurden die Agostinos aufgefordert, das Kind aus der Schweiz wegzubringen51. Zudem wurde Tullio gebüßt, weil er wegen der Geburt des Babys nicht rechtzeitig ausgereist war. Mit diesen beiden ‚Vergehen‘ geriet das Paar offenbar in den Fokus besonderer Aufmerksamkeit, denn auch später, als Albas Mutter ab und zu mit dem kleinen Jungen zu Besuch kam, wurden die Aufenthaltsfristen von der Fremdenpolizei minuziös kontrolliert und die Ausreise umgehend eingefordert, sobald die vorgeschriebenen Fristen abgelaufen waren. Alba, die sich im Nachhinein zwar fragt, ob die höfliche, warme Art der Menschen auf dem Lande, die sie so geschätzt hatte, bei jemandem vielleicht nur vordergründig war, ob jemand sie vielleicht angeschwärzt habe bei der Fremdenpolizei, gibt aber vor allem sich selber die
50 Eine B-Bewilligung war an eine Festanstellung gekoppelt und berechtigte zum ganzjährigen Aufenthalt in der Schweiz. Diese Bewilligung musste jährlich neu beantragt werden. Die B-Bewilligung berechtigte nach einer gewissen Aufenthaltsdauer auch zum Familiennachzug. Nach einer bestimmten Zeitspanne – für italienische Staatsbürger/innen fünf Jahre, in der Regel aber zehn Jahre – konnte die Jahresaufenthaltsbewiligung in eine Niederlassungsbewilligung (C-Bewilligung) umgewandelt werden, welche umfassendere Freiheiten in Bezug auf Arbeit und Wohnort beinhaltete. 51 Eine Saisonier-Bewilligung (A-Bewilligung) sah vor, dass Arbeitskräfte kurzfristig für saisonale Arbeiten einwanderten und das Land daraufhin wieder verließen. Saisoniers mussten bis spätestens Mitte Dezember ausreisen und im kommenden Jahr ein neues Gesuch stellen. Das Gesetz sah zu dieser Zeit noch vor, dass einer Familie ein männliches Oberhaupt voranstehe, und so war es die Bewilligungsart des Ehemannes, die den Status der Angehörigen – in diesem Fall des hier geborenen Kindes – bestimmte. Deshalb erhielten die Agostinos eine Ausreiseaufforderung für ihr Kind, denn Saisoniers hatten keinen Anspruch darauf, Familienangehörige bei sich zu haben.
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Schuld: Sie und Tullio seien ignorant gewesen, nicht informiert, hätten diese Weisungen ohne zu hinterfragen akzeptiert. Und vor allem: Alba empfindet es heute als großen Fehler, dass sie sich damals von ihrem Kind getrennt hat, dass sie sich nicht dazu entschlossen hat, mit dem Kind zusammen nach Italien zurückzugehen, sondern in der Schweiz abgewartet hat, bis Tullio 1962 die BBewilligung bekam und das Kind offiziell bei seinen Eltern leben durfte. Und damit ist in Albas Biographie der Grundstein gelegt für ein weiteres zentrales Thema neben dem autonomen, selbstbestimmten Leben, nämlich das, was ihre Migration, die für sie selbst eine Befreiung war, ‚mit ihren Kindern gemacht hat‘. Ausführlich spricht Alba in beiden Interviews über ihre Beziehung zu den erwachsenen Kindern, die dadurch geprägt ist, dass Alba diese jetzt, im Erwachsenenalter, nicht versteht und dass sie nicht akzeptieren kann, wenn die Kinder der Meinung sind, dass ihr Lebenswandel Alba nichts angehe. Die Reflexion darüber, warum die Leben von Albas Kindern sich ihrer Meinung nach ‚unglücklich‘ entwickelt haben und welche Kontextbedingungen daran schuld sind, nimmt sehr viel Raum ein. Dabei bleibt vieles unklar, insbesondere spricht Alba wenig über konkrete Ereignisse, welche sie zu ihren Einschätzungen gebracht haben. Sie denkt eher laut darüber nach, worin denn eigentlich ihr ‚NichtVerstehen‘ begründet liegt und wie es soweit kommen konnte. Alba hat mit Tullio drei Kinder aufgezogen, zwei Jungen und ein Mädchen. Zur Geburt des zweiten Jungen 1964 zog die Familie Agostino wieder nach Bern zurück, in die Nähe von Tullios Arbeitsort, einem Bauunternehmen, welches vor allem Renovationsarbeiten an Gebäuden in der Stadt Bern ausführte. Alba gab ihre Erwerbstätigkeit auf und kümmerte sich in den nächsten Jahren nur um Familie und Kinder. Erst als die 1967 geborene Tochter ein paar Jahre alt war, begann Alba wieder zu arbeiten, zuerst unregelmäßig als Putzhilfe und Glätterin, dann ab 1979 wieder Vollzeit in der Fabrik, diesmal einer Käsefabrik. Die drei Kinder haben allesamt die öffentlichen Schulen in Bern besucht. Welche Berufsausbildungen sie gemacht haben und was sie heute beruflich tun, ist kaum Thema in Albas Ausführungen, doch lässt sich aus dem Wenigen, was sie sagt, herauslesen, dass sich die Kinder eher schwer taten in der Schule und dass einer der Söhne zwar das Potenzial gehabt hätte für ein solides Studium, dass er aber einen künstlerischen Beruf vorgezogen habe. Ansonsten sind die beruflichen Werdegänge ihrer Kinder kein Thema in Albas Selbstpräsentation. Was Alba hingegen enorm beschäftigt, sind die Familienformen, welche von ihren Kindern gelebt werden. Alle drei hätten keine glückliche Hand in der Auswahl von Partner/innen gehabt, und sie würden die partnerschaftliche Beziehung, insbesondere die Bedeutung einer Ehe, absolut unterschätzen. Leichtfertig würden Beziehungen eingegangen, und genauso leichtfertig wieder aufgegeben,
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und dies habe insbesondere für die Enkelkinder fatale Folgen, meint sie. Keines der drei Kinder hat eine Familie, wie Alba sie sich vorstellt. Und was Alba besonders beschäftigt, ist der Umstand, dass ihre Kinder offenbar Mühe damit haben, wenn Alba ihre Meinung dazu äußert. Ihre Kinder seien nicht in der Lage, ihre Gefühle mit Alba zu teilen. Und dabei, so Alba, sei das in italienischen Familien doch so, dass man alles teile, auch die Gefühle. Ihre Kinder hingegen hätten ihre Wurzeln verloren, hätten etwas anderes gelernt, nämlich zu sagen: Das geht dich nichts an. Der Grund dafür, dass Alba ihre Kinder nicht mehr versteht, liegt, so deutet sie mehrfach an, in der Migration begründet, insbesondere darin, dass die Kinder hier aufgewachsen sind und eine andere Sprache sprechen als die Eltern. Doch meine Nachfragen dazu und Albas weitere Reflexionen darüber bringen wenig Klarheit, wo denn nun eigentlich der Grund dafür genau liegt. Es ist eine Frage der Migration, denn in vielen italienischen Familien in Bern sei Ähnliches passiert, auch wenn andere darüber nicht gerne sprechen52. Es ist aber auch irgendwie eine Frage der kulturellen ‚Wurzeln‘, und es ist eine Frage der Generationen. Bildung hat etwas damit zu tun, Sprache auch, insbesondere im übertragenen Sinn des Nicht-dieselbe-Sprache-Sprechens, und religiöse Werte haben auch etwas damit zu tun. Und all das hat mit ihrer Migration zu tun, und so sieht Alba auch bei sich eine gewisse Schuld: La cosa che mi pento moltissimo di non
Die Sache, die ich wirklich sehr bereue, ist
essere ritornata [..] a casa [.] finché i
nicht zurückgekehrt zu sein – nach Hause,
ragazzi erano ancora giovani. [..] Sì.
solange die Kinder noch jung waren. – Ja.
Questa è una cosa [leise:] che abbiamo
Das ist etwas, [leise:] das wir falsch ge-
sbagliato. [.] Perché loro sono- [.] non è
macht haben. Weil sie sind- es ist nicht so,
che sono integrati, l’integrazione io la
dass sie integriert sind, Integration verstehe
intendo [.] rispettare la propria, le proprie
ich so: die eigene, die eigenen Wurzeln
radici, [.] fa fa coltivare le proprie radici e
respektieren, die eigenen Wurzeln kultivie-
vivere anche [.] in una realtà ch’è qui nella
ren und auch in einer Realität leben, die
Svizzera però no-, invece i ragazzi della
hier in der Schweiz ist, aber nicht-, stattdes-
seconda generazione [.] si sono lasciati
sen haben sich die Jugendlichen der zweiten
assimilare completamente. Non- [.] hanno
Generation komplett assimilieren lassen.
dimen- [.] dimenticato [.] le proprie
Sie haben nicht-, haben die eigenen Ur-
origini. [.] Completamente. Questo mi
sprünge vergessen. Komplett. Das gefällt
52 Hier spricht Alba das Phänomen der statistisch gehäuft auftretenden Schwierigkeiten in der sog. „Zweiten Generation“ in Schule und Beruf an (siehe dazu z.B. Juhasz/Mey 2003).
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dispiace. Perché è una grande pe- perdita, è mir nicht. Weil es ein großer Verlust ist, una povertà, è una cosa brutta. Ai miei figli
eine Armut, eine schlimme Sache. Meinen
è successo questo.
Kindern ist das passiert.
(Transkript Agostino 1, 2/40 – 2/48) Wäre sie also rechtzeitig zurückgekehrt, bevor ihre Kinder in die Schule kamen, dann hätte sie dieses Nichtverstehen zwischen ihr und ihren Kindern vermeiden können, hätte verhindern können, dass der eine Sohn eine äußerst komplexe Patchworkfamilie organisieren und ernähren muss, dass die Tochter zwei Kinder von zwei verschiedenen Vätern alleine aufzieht, und dass der andere Sohn keine dauerhafte Beziehung, geschweige denn eine eigene Familie hat. Die frühzeitige Rückkehr wäre in Albas Retrospektive die einzige Möglichkeit der Einflussnahme darauf gewesen. Und dies umzusetzen, wäre einzig und allein in den Händen von Alba und Tullio gelegen. Die Kinder hingegen, das macht Alba hier auch deutlich, können nichts dafür, haben auch nichts falsch gemacht, ihnen ‚ist das passiert‘. Alba scheint, trotz des von ihr beklagten fehlenden Verständnisses zwischen ihr und ihren Kindern, sehr regen Kontakt zu pflegen. Jedenfalls hat sie oft ihre Enkelkinder bei sich zu Besuch, hütet sie, springt als Betreuungsperson in Notsituationen ein – und davon gebe es in den unsteten Familienleben der Kinder so einige, deutet Alba an. Regelmäßige Betreuungspflichten, so sagt sie, will sie jedoch nicht mehr übernehmen. Ein zentraler Grund dafür ist, so stellt sich heraus, die schwierige Beziehung zu ihrer Tochter, welche sehr früh selber Mutter geworden ist. Alba war offenbar sehr eng involviert in die Betreuung dieses ersten Enkelkindes. In Albas Version der Geschichte war die Tochter damals zu jung, um allein für ihr Kind zu sorgen, der Vater des Kindes nicht da, und so habe Alba ihre Arbeit in der Fabrik aufgegeben, um sich um die Enkelin zu kümmern und der Tochter die Fortsetzung ihrer Arbeit, und wohl auch ein wenig ihrer jugendlichen Freiheiten, zu ermöglichen. Doch die Einschätzung Albas, dass im Endeffekt sie ihre Enkelin großgezogen habe, nicht ihre Tochter, werde von letzterer ganz und gar nicht geteilt. Und genau darum scheinen sich immer wieder Konflikte zwischen Alba und ihrer Tochter zu entfachen. Dass Alba in jungen Jahren selbst eines ihrer Kinder in fremde Obhut gegeben hat, spielt in diesem Konflikt auch eine Rolle, das lässt Alba anklingen. Insgesamt setzt sich Alba sehr intensiv mit dem Umfeld auseinander, in dem ihre Kinder groß geworden sind, und sie fragt sich, inwiefern sie selbst durch ihre Entscheidungen darauf eingewirkt hat. Die Kinder hingegen werden in ihren Erzählungen behutsam vor jeder Schuldzuweisung bewahrt, kein einziges Mal lässt Alba Zweifel oder Kritik an deren Handlungsentscheidungen aufkommen.
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Ihnen sind Dinge ‚passiert‘, das Schulsystem hat ihren Charakteren nicht entsprochen, sie hätten ihre Verhaltensweisen von ihrem (außerfamiliären) Umfeld gelernt, sie hätten Pech gehabt bei der Partnerwahl etc. Den einzigen Vorwurf, den sie ihnen macht, ist, dass sie sich nicht mit ihr auseinander setzen würden. Die Kinder lassen sich nicht dreinreden, wimmeln sie ab mit der Floskel ‚das geht dich nichts an‘, teilen ihre ‚Emotionen‘ nicht mit ihr, sprechen ihre Muttersprache nicht mehr, interessieren sich nicht für ihre ‚Wurzeln‘. Ganz anders hingegen die Enkelkinder, die interessieren sich für Sprache und Herkunft der Großeltern, die sind gut in der Schule, machen ihren Weg, genießen die emotionale Nähe zu Alba und Tullio. Das, was Alba sich unter ‚Familie‘ vorstellt – ‚man spricht miteinander, man teilt die Dinge, Mütter kennen das Leben ihres Kindes‘ – das kann sie mit ihren Enkelkindern ausleben. Und so eröffnet sich für Alba über die dritte Generation ein Weg, um das Zerwürfnis zwischen erster und zweiter Generation, und damit auch die mittelbaren Konsequenzen ihrer Migrationsentscheidung, doch noch auf ein gutes Ende hin zu lenken. Dass Alba ihre Beziehung zu den Kindern so gründlich hinterfragt, dass sie nach allgemeinen Umschreibungen für ihre Konflikte sucht, nach Begründungen und Erklärungen, dass sie auch sehr pointierte Meinungen dazu hat, was richtig und falsch ist, verweist auf ein drittes Thema, das in ihrer biographischen Selbstpräsentation relevant wird, nämlich auf Bildung. An den Erörterungen Albas zur Entfremdung zwischen den Generationen zeigt sich die bereits mehrmals angesprochene Reflektiertheit Albas, sowie ihre Fähigkeit, sich auf verschiedene abstrakte Konzepte zu beziehen. Alba macht den Eindruck einer gebildeten Frau, die gerne nachdenkt und debattiert, hat jedoch kaum formale Schulbildung. Da wir in Albas Erzählung sehr wenig über ihre Eltern, insbesondere ihren Vater, erfahren, können wir nur darüber spekulieren, ob Alba in einem bildungsnahen oder bildungsfernen Milieu aufgewachsen ist. Aus Albas Kindheitserzählungen lässt sich vor allem der Krieg und die daraus folgende Armut als bestimmende Faktoren für ihre mangelhafte Bildung in Kindheit und Jugend feststellen. Auf die Schulzeit ihrer Kinder in der Schweiz angesprochen, sagt Alba, Schulerfolg sei abhängig vom Charakter, gewisse Kinder in gewissen Lebensumständen könnten gar nicht erfolgreich sein in der Schule. Dann beginnt sie von sich selber zu erzählen: Sie sei zwar immer schon sehr interessiert gewesen, doch das Schulsystem habe ihr nicht entsprochen. Kinder in belasteten Situationen – Armut, Krankheit, Krieg – würden vom Schulsystem benachteiligt und an den Rand gedrängt. Und genauso, das schwingt hier mit, ist es ihren eigenen Kindern gegangen, auch sie waren in einer belasteten Situation, als ‚Gastarbeiter‘-Kinder in der Schweizer Schule, und auch sie hat das System, in das sie nicht gepasst haben, an den Rand gedrängt. Die öffentliche Schule ist nach Albas
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Ansicht ein Umfeld, welches es Kindern unter gewissen Umständen schwierig macht, auch wenn es sich um intelligente, wissbegierige und aufgeweckte Kinder handelt, wie sie eines war. Die Migration hat Alba dann aus diesen schwierigen Bedingungen befreit, und so konnte sich irgendwann auch ihre Wissbegierde frei entfalten: Sai, [***] quando tu hai la libertà [.] quasi Weißt du, [***] wenn du die Freiheit hast, economica, quando hai [.] eh, che hai [.]
ökonomisch quasi, wenn du viele Bedürf-
soddisfatto molti bisogni allora io dovevo
nisse befriedigt hast, damals musste ich Be-
soddisfare bisogni delle scarpe, non avevo
dürfnisse nach Schuhen befriedigen, hatte
una penna, [murmelnd:] non avevo non lo
keine Schreibfeder, [murmelnd:] hatte weiß
so. [.] Non avevo i quaderni. Quando
ich was nicht. Hatte keine Hefte. Wenn das
questo è risolto, poi nella tua anima
dann gelöst ist, dann, in deinem Geist [auf-
[aufschnaufend:] riscopri altre cose! [***]
schnaufend], entdeckst du andere Sachen!
Eh! Allora ti viene la voglia, ti accorgi che
[***] Eh! Und so bekommst du Lust, be-
sei una persona, che [.] che vuoi conoscere, merkst, dass du eine Person bist, die etwas eh! Eh, per me è stato così.
wissen will, eh! Eh, für mich war das so.
(Transkript Agostino 2, 20/34 – 20/41) Mit 40 Jahren – da waren die Kinder schon etwas grösser, Tullio war zum Vorarbeiter aufgestiegen und verdiente relativ gut, auch Alba arbeitete wieder ein bisschen – bot sich ihr eine Gelegenheit, ihren Wissensdurst etwas zu stillen: Die italienische Regierung ermöglichte ihren Staatsbürger/innen im Ausland, den fehlenden Grundschulabschluss im Rahmen eines einjährigen, berufsbegleitenden Kurses nachzuholen. Alba ergriff diese Möglichkeit und besuchte 1975 den Abendkurs, der in Bern in der Missione Cattolica durchgeführt wurde. Viele, so erzählt Alba, hätten den Kurs besucht, weil sie Pläne für eine Rückkehr gehabt hätten und mit ihrem Ersparten in Italien ein Geschäft aufmachen wollten, und dazu brauchte man damals von Gesetzes wegen den Nachweis eines Schulabschlusses. Diese Anmerkung Albas passt gut in die Zeit Mitte der 1970er Jahre, eine Zeit der Ernüchterung nach den Jahrzehnten des wirtschaftlichen Booms in der Schweiz, ausgelöst durch die weltweite Ölkrise. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt war angespannt, und die italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘ hatten ihr ‚Gastsein‘, trotz bereits jahrzehntelangem Aufenthalt in der Schweiz, tief inkorporiert und fürchteten sich vor Entlassungen. Auch die politische Lage war
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unsicher, der Schock der ‚Schwarzenbach-Initiative‘53 saß noch tief, die Angst davor, ausgeschafft zu werden, war weit verbreitet. Die 1970er Jahre waren eine Zeit, in der viele ehemalige ‚Gastarbeiter/innen‘ beschlossen, selber zu handeln, bevor die wirtschaftliche Krise und die schwelende Ausländerfeindlichkeit sie dazu zwingen würden. Sie entschieden sich dazu, das bisher Ersparte zu nehmen und sich in Italien damit noch einmal eine kleine Existenz aufzubauen. Im Gegensatz dazu machte Alba den Kurs aus reinem Interesse, zu ihrem ganz privaten Vergnügen. Sie dachte nicht an Rückkehr, die Kinder jetzt aus ihrem Umfeld zu reißen, das kam für sie gar nicht in Frage. Alba genoss den Aphabetisierungs- und Formalisierungskurs, der ihr die Erfüllung eines geistigen Verlangens eröffnete und somit als weiterer Schritt Albas hin zu Freiheit und Autonomie interpretiert werden kann: Nachdem ihre Migration ein Befreiungsschlag war, um ihrem wachsenden Begehren nach einem selbstbestimmten Leben Raum zu geben, nutzte sie hier die Chance, einem wachsenden Bedürfnis nach intellektueller Nahrung Raum zu geben. Etwa zehn Jahre später – die Kinder waren da wohl alle mehr oder weniger selbständig – meldete sie sich für ein einjähriges ‚Theologiestudium‘ am CSERPE in Basel an, einem katholischen Studien- und Bildungszentrum, welches von einem auf Migration spezialisierten Orden der italienischen katholischen Kirche betrieben wird54. In monatlichen Treffen wurden, so erzählt Alba, verschiedene theologische Themen diskutiert. Aus der Selbstbeschreibung des CSERPE schließe ich, dass dort insbesondere auch migrationsspezifische Themen erörtert wurden. Das Theologie-Studium scheint Alba sehr gut gefallen zu haben und eröffnete ihr den Weg zu kirchlicher
53 Die sog. ‚Schwarzenbach-Initiative‘ (vgl. Kapitel 2.3) hat sich in den Erinnerungen vieler Italiener/innen nachhaltig festgesetzt, führte sie doch den ‚Gastarbeiter/innen‘ vor Augen, dass ihr Aufenthaltsstatus in der Schweiz nach wie vor prekär war. 54 Aus der Selbstbeschreibung: „Das Studien- und Bildungszentrum für Migrationsfragen (CSERPE) in Basel wird von der Kongregation der Scalabrini Missionare getragen, die in 25 Ländern der Welt im Pastoral-, Sozial- und Ausbildungsbereich zugunsten der Auswanderer und der Flüchtlinge verschiedener Nationalitäten wirken und eine Sensibilisierungsarbeit in den Aufnahmegesellschaften durchführen. Neben dem direkten Einsatz im Bereich der menschlichen Mobilität haben die Missionare auch ein weltweites Netz von Studienzentren gegründet, um die Entwicklung der Wanderungsbewegungen zu verfolgen. Die Forschungs- und Dokumentationsarbeit des Zentrums in Basel findet in Verbindung mit dieser Organisation statt. Zu unseren Aktivitäten gehören auch Referate, Bildungsangebote, Beiträge für Zeitungen und Fachzeitschriften, Forschungen und Studien.“ (, 3. April 2009)
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Arbeit: Eine Zeit lang, so erzählt sie, habe sie Katechese betrieben, doch jetzt schone sie sich ein wenig, habe ihre außerhäuslichen Aktivitäten aus gesundheitlichen Gründen etwas reduziert und die Katechese aufgegeben. Die Bildungsbestrebungen Albas im mittleren Erwachsenenalter haben ihr einen Weg eröffnet, sich mit ihrer persönlichen und familiären Situation auf einer abstrakteren Ebene auseinander zu setzen, ihre Erfahrungen in weiteren Zusammenhängen zu betrachten. Wie sie in obigem Zitat andeutet, empfindet sie dies als große Bereicherung für ihren ‚Geist‘, als Grundlage dafür, sich als ‚Person‘ zu entdecken und zu entwickeln. Und dieses Feld steht Alba auch jetzt noch, im Alter, offen. Albas Zeit ist ausgefüllt, sie hat genügend Aufgaben und Anreize, aktiv zu sein, wie sie sagt. Ihr Alltag ist bestimmt durch die Arbeiten im Haushalt, die Pflege sozialer Kontakte und ihre kulturellen Hobbies (Theater, Chor), die Enkelbetreuung und die Freiwilligenarbeit. Tullio seinerseits konzentriert sich, so sagt Alba, im Pensioniertenleben sehr ausgiebig auf die Pflege seines Schrebergartens und der damit verbundenen Männerfreundschaften. Er verlasse das Haus zur selben Zeit wie früher, komme wie früher zum Mittagessen nach Hause und gehe dann wieder, wie schon zu Arbeitszeiten. Zudem ist Tullio im Vereinsleben aktiv. Im häuslichen Bereich unterstützt er Alba vor allem bei der Enkelbetreuung, die ihm, so sagt sie, großen Spaß mache und in die er viel Energie stecke. Beide Ehepartner scheinen im Pensionsalter also individuell passende tägliche Routinen gefunden zu haben, scheinen sich ausgefüllt zu fühlen, ohne überfordert zu sein. Die generelle Lebenslage der Agostinos im Alter wird demnach von Alba als nicht speziell problematisch eingeschätzt – abgesehen von zunehmenden gesundheitlichen Beschwerden, die ihr Sorgen bereiten, insbesondere diejenigen ihres Ehemannes. Auf die Frage, ob Alba mit ihrem Mann über die Zukunft redet, darüber, dass einer von beiden pflegebedürftig werden könnte, sagt sie, dass sie und Tullio bisher nie über so etwas gesprochen hätten, da es beiden – insbesondere ihm – ja bisher gut gegangen sei. Im zweiten Gespräch jedoch äußert sich Alba sehr besorgt über den Gesundheitszustand von Tullio, und es scheint, als mache sie sich gerade sehr intensive Gedanken über die Zukunft. Alba ihrerseits hat schon länger gelegentlich Probleme mit ihren Knien und ist sich bewusst, dass sie in ihrer Mobilität zunehmend eingeschränkt sein wird. Obwohl sie dies als ‚schlimm‘ einschätzt, hat sie dennoch Ideen, wie sie mit einer solchen Situation umgehen würde. Die Formen von Unterstützung, auf die sie sich beruft, sind allesamt kostenpflichtige Dienstleistungen, wie die Spitex oder Taxifahrten. Der Rückgriff auf solch formelle Dienstleistungsangebote passt dazu, dass Alba großes Gewicht auf ihre Selbständigkeit und Autonomie legt. Familiäre Unterstützung erwähnt sie mit keinem Wort, sie ist ja schließlich
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diejenige, welche stark und unabhängig ist, welche immer die Mama für alle anderen war, warum sollte sie sich dann zugestehen, irgendwann abhängig von ihren Kindern zu sein? Finanziell, so Alba, komme das Paar gerade so über die Runden. Doch da gab es, so stellt sich heraus, auch eine kurze turbulente Phase, als Tullio bereits in Rente war, Alba aber offiziell noch nicht, und als das Ehepaar quasi von einem Tag auf den anderen nicht mehr vom gewohnten, als relativ gut empfundenen Einkommen, sondern einer bescheidenen Minimalrente leben sollte. Während Tullio eine sehr beständige Arbeitskarriere in der Schweiz hatte – konstant bei demselben Arbeitgeber, mit einem Aufstieg zum Vorarbeiter und mit relativ gutem Gehalt – und regulär in Pension ging, war Albas Austritt aus dem Erwerbsleben – wie schon ihre Arbeitskarriere – von Verpflichtungen gegenüber ihren Kindern und Enkelkindern geleitet. Alba hat die Erwerbstätigkeit mit 55 Jahren aufgegeben, um das erste Kind ihrer Tochter mit zu betreuen. Bis zu ihrer regulären Pensionierung mit 62 Jahren, im Jahr 1997, wird Alba nicht mehr erwerbstätig. Die Zeitspanne zwischen ihrem Erwerbsausstieg 1990 und dem Jahr, in dem beide Ehepartner die reguläre Rente bezogen, war offenbar finanziell etwas turbulent. Tullio, der 1995 im Alter von 65 Jahren in Rente ging, kam damit auf 37 Jahre Erwerbstätigkeit in der Schweiz – knapp zu wenig, um Anspruch auf eine volle AHV-Rente zu haben. Und so wurden aus den etwa 5 000 Franken pro Monat lediglich noch 1 900 Franken regelmäßiges Einkommen. Erst nachdem auch Alba zwei Jahre später offiziell in Pension ging, erhöhte sich das laufende Einkommen auf 3 000 Franken, mit dem das Paar dank billiger Wohnung gerade so über die Runden kommt. Die Zeit zwischen der Pensionierung von Tullio und derjenigen von Alba haben die beiden mit den Ersparnissen aus seiner Pensionskasse überbrückt, und deshalb sind nur noch kleine Reserven vorhanden. Die einzige Unterstützungsleistung, welche die Agostinos bisher in Anspruch genommen haben, um ihre ökonomische Situation aufzubessern, sind die kantonalen Subventionen der Krankenkassenbeiträge bei geringen Einkommen. Nachdem diese gekürzt wurden, hat Alba es trotz ihrer mangelhaften Deutschkenntnisse und trotz bürokratischer Wirren geschafft, ihre eigene Versicherung und die von Tullio so anzupassen, dass die weggefallenen Subventionen mit niedrigeren Prämien wieder wettgemacht wurden. Da beide vor der Migration in Italien bereits erwerbstätig waren, haben sie auch von italienischer Seite her einen Rentenanspruch. Alba hat sich ihre Rentenraten auf ein Konto ausbezahlen lassen und hat, wie sie sagt, dank Staatsanleihen ein ‚hübsches Sümmchen‘ zusammengespart. Damit haben sich die Agostinos 1978 ein kleines, altes Haus im Herkunftsdorf von Tullio gekauft, das
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dieser in den Ferien selber renoviert hat. Dieses Haus war, so sagt Alba, von Beginn weg als reines Ferienhaus gedacht, damit man etwas Eigenes zum Schlafen habe, wenn man die Verwandten besuche, und nicht ständig bei jemandem unterkommen müsse. Inzwischen sei das Haus fast zu klein, denn die Kinder und Enkelkinder kämen gern mit, wenn Alba und Tullio hinfahren, und es sei schwierig, allen einen Platz zum Schlafen einzurichten. Zunehmend schwierig wird es für Alba auch, alleine zu reisen. Alba fährt selber nicht Auto, und die Wohnung ist abgelegen, schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen, und das Ein- und Aussteigen in den Zug wird zunehmend zur Qual mit den kaputten Knien. Dadurch wird die ohnehin nur ganz vage Idee, eventuell auch mal länger im Haus in Italien zu leben, zunehmend unrealistisch.
5.7 F AMILIÄRE S OLIDARITÄT , I NDIVIDUALITÄT UND DAS L EBEN DER K INDER Sowohl die Geschichte, die Gianna und Lino Rosetti gemeinsam erzählen, als auch die Geschichte, die Alba Agostino präsentiert, sind einerseits Geschichten über den Autonomiegewinn durch die Migration, andererseits aber auch Geschichten über Investitionen in Kinder unter erschwerten Kontextbedingungen. Beide Geschichten erzählen vom Streben nach Unabhängigkeit und Individualität unter Aufrechterhaltung familiärer Bindungen und Verpflichtungen. Die Suche nach Eigenständigkeit bringt Alba Agostino zunächst zwar zu einem Befreiungsschlag aus familiären Verpflichtungen, die Gründung einer eigenen Familie in der Migration aber führt sie wieder zurück zu einer ausgeprägten Ausrichtung des eigenen Lebens an den Bedürfnissen und dem Wohle der Familie. Im Fall Rosetti erscheint die Gründung und erfolgreiche Entwicklung einer eigenen Familie sogar als der eigentliche Auslöser des Wunsches nach Autonomie und Unabhängigkeit. Migration erweist sich in beiden Fällen als Ausweg aus einer Lebenslage, welche von ausgeprägten Abhängigkeiten gezeichnet ist. Die Ursache dafür ist in erster Linie der Krieg und der noch mehrere Jahre andauernde desolate Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Krieg. Wäre es für die Rosettis möglich gewesen, ihre Kinder in der sizilianischen Stadt zu ernähren und aufzuziehen, sie wären vermutlich nicht weggegangen. Auch Tullio wäre wohl nicht in die Migration gegangen, wenn er seinen Lohn als Maurer ausbezahlt bekommen hätte. Arbeit hatten alle genügend, doch Geld war nicht vorhanden. Für Alba hingegen sind die besseren Verdienste und sicheren Anstellungsverhältnisse in der Schweiz nicht das Ausschlaggebende, sie hatte beides bereits in Italien. Ihr
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Problem war vielmehr, dass ihr die Erwerbstätigkeit keine Freiheiten erlaubte. Dass dem so war, liegt in der Art der Arbeit begründet, den Möglichkeiten, die ihr als junger Frau ohne Schul- und Berufsbildung im Norditalien dieser Zeit offen standen (vgl. auch Frau Morellini (Kapitel 6.7) und Frau Rocca (Kapitel 7.6)). Hätte Alba vielleicht die Möglichkeit gehabt, ihren Lohn in einer Fabrik zu verdienen, einer Fabrik, die ein Stück weg von ihrem Elternhaus gewesen wäre, hätte sie dadurch Freiheiten gewinnen können, ohne die Verpflichtungen gegenüber ihrer Familie aufgeben zu müssen (vgl. Herr Morellini (Kapitel 6.7)). Mit einer Anstellung in einem Privathaushalt hingegen hat Alba nicht nur keine Freiheiten gewonnen, sondern sogar eine zusätzliche Einbindung in Verantwortlichkeiten erfahren, da sie damit für das Wohl von zwei Familien zuständig war. Beide Fälle stehen eher für individuelle Pioniermigration als für gut eingebettete Kettenmigration. Die Wege in die Migration waren für die Agostinos zweifelsohne naheliegender als für die Rosettis, schon nur durch die geographische Nähe und die lange Tradition der meist temporären Migration zwischen Norditalien und der Schweiz. Arbeitsvermittlungsagenturen waren in Norditalien weit verbreitet, und die offiziell vermittelte Migration, die Reise mit Arbeitsvertrag und zugesicherter Unterbringung in der Tasche, in gewisser Weise auch niederschwellig. Die Entscheidung der Rosettis hingegen, ihre bescheidene Existenz aufzugeben, sich Geld zu leihen, die Kinder zurück zu lassen und die Tausende von Kilometern Zugfahrt zu wagen, brauchte eine Absicherung. Diese bot sich in der engen freundschaftlichen Beziehung Linos zu einem bereits erfahrenen Migranten, der die Rosettis mit den nötigen Informationen und Hilfestellungen versorgen konnte. Zudem haben die Rosettis ein städtisches Umfeld verlassen und sich in ein anderes städtisches Umfeld begeben. Wenn also auch die geographische Distanz groß war, welche die Rosettis auf sich genommen hatten, so war die soziokulturelle Distanz zwischen altem und neuem Lebensmittelpunkt gar nicht so wahnsinnig groß. Auch im beruflichen Leben, in dem sich beide vor der Migration schon etabliert hatten, ergab sich kein Bruch. Der Prüfstein der Migration war in beiden Fällen nicht das neue Lebensumfeld, nicht die berufliche Tätigkeit, sondern es war die Familie. Ob nun die Gründung einer Familie und das Aufziehen von Kindern explizites Migrationsziel war wie bei den Rosettis, oder ob es sich so ergeben hat wie bei den Agostinos, beide machen ähnliche Erfahrungen mit dem Familienleben in der Migration. Beide Familien wurden von den Behörden des Aufenthaltslandes aufgefordert, sich von ihren Kindern zu trennen, und beide Familien kommen dieser Aufforderung nach, ohne ernsthaft Alternativen zu prüfen. Die Trennung von den Kindern hinterlässt insbesondere bei den Müttern Spuren – zumindest sind sie es, die in den Interviews darüber reden. Beide Familien konzentrieren sich in
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der Folge darauf, alle ihre Kinder möglichst bald bei sich zu haben, und beide Mütter entscheiden sich dazu, ihre Arbeit zurückzustellen, um mehr Zeit für die Kinder zu haben. Dass die Mütter ihre Erwerbsarbeit der Familienarbeit anpassen und nicht die Väter, wird in den Interviews in keiner Weise kritisch hinterfragt, es erscheint selbstverständlich. Die Familien berufen sich hier auf ein bürgerlich-mittelständisches Arbeitsteilungs-Modell, welches dem Vater die Erwerbsarbeit und der Mutter die Familienarbeit zuweist. Da aber alle auch Erfahrungen mit wirtschaftlicher Prekarität hatten, ist es auch keine Frage, dass die Ehefrauen neben ihren Verpflichtungen als Hausfrauen und Mütter nach Möglichkeit durch Lohnarbeit zur Generierung von Familieneinkommen beitragen. Auffällig ist diesbezüglich, dass in den Interviews beide Ehefrauen, deren Lebensläufe sich stärker den Familienzyklen angepasst haben als diejenigen der Ehemänner, sehr früh in ihren biographischen Selbstpräsentationen auf die Arbeitsteilung in ihren eigenen Herkunftsfamilien und die starke Einbindung in diese arbeitsteiligen Arrangements zu sprechen kommen. Wie in der Fallrekonstruktion Rosetti ausführlich dargelegt, interpretiere ich die Erzählungen zur familiären Einbindung in der Kindheit als Vorlagen, aufgrund derer die Biographieträgerinnen ihre eigenen Modelle familiärer Arbeitsteilung entwickeln und begründen. In den Erzählungen erscheinen die Arrangements der Kindheit dabei als Modelle, die als nicht nachahmungswürdig erscheinen, und die selbst umgesetzten Modelle als Alternativen dazu. Besonders deutlich wird dies bei Gianna Rosetti, die ihre Entscheidung für die Kinder und gegen die Erwerbstätigkeit als sehr bewusste und auch selbstbestimmte Entscheidung präsentiert: Sie will für ihre Kinder da sein. Dass in der Kindheit die eigenen Handlungsfreiräume durch die Erwerbstätigkeit der Mutter eingeschränkt waren, ist in beiden Fällen Thema. Das Moment der Abgrenzung vom Modell, wie es im eigenen Elternhaus praktiziert wurde, ist jedoch im Fall Agostino besonders zentral. Daneben erscheint die Ausgestaltung der Arbeitsteilung in der eigenen Familie bei Alba eher als etwas, das sich ergeben hat, und wenn es eine bewusste Entscheidung war, dann war es eine, die vor allem in den Erfahrungen begründet liegt, welche Alba mit der Trennung von ihrem ersten Kind gemacht hat. Inwiefern in den beiden Fällen mit der Wahl eines bürgerlichen Arbeitsteilungsmodelles tatsächlich Alternativmodelle zu denjenigen der Eltern entwickelt werden, oder vielleicht doch familiäre Traditionen reproduziert werden, welche durch äußere Umstände in der Generation der Eltern nicht umsetzbar waren, ist schwierig abzuschätzen. Jiménez Laux (2000: 154f) entwirft aufgrund ihrer Fallrekonstruktionen aus biographischen Interviews mit spanischen Migrantinnen der selben Generation die These, dass die Ehefrauen in der Migration die familiären Arbeitsteilungsmodelle, in denen sie im Rahmen ihrer Herkunftsfa-
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milien sozialisiert worden sind, in der Migration reproduzieren. Städtisch-bürgerliche Herkunft korreliert in ihren Fallrekonstruktionen mit der Umsetzung bürgerlicher Konzepte der zu Hause bleibenden Ehefrau, während ländliche Herkunft mit dem Modell der arbeitstätigen, selbstbestimmten und gleichberechtigten Ehefrau im Migrationskontext einher geht. Es ist nun durchaus denkbar, dass auch meine Fallanalysen die Reproduktion von schichtspezifischen Familientraditionen beinhalten. Insofern könnte die Hervorhebung der Notwendigkeit familiärer Mitarbeit in der Kindheit der beiden Ehefrauen in den hier diskutierten Fallrekonstruktionen auch als Hinweise auf Anomalien gedeutet werden, welche – und das geschieht wiederum in beiden Fällen explizit – durch äußere Umstände, nämlich den Krieg, notwendig wurden. Zumindest im Fall der Rosettis kann davon ausgegangen werden, dass familiäre Traditionen in beiden Herkunftsfamilien ein bürgerliches Ideal verfolgt haben könnten, insbesondere wohl in Linos Familie. So gesehen erscheint auch Linos Beitrag zur Familienökonomie, der darin bestand, zeitweise zwei verschiedenen Erwerbstätigkeiten nebeneinander nachzugehen und dadurch mehrheitlich zu Hause abwesend zu sein, als dem Ideal entsprechende Erfüllung seiner Aufgabe innerhalb der Familie. Lino sieht diese darin, seine Familie zu ernähren, und damit er dieser Aufgabe gerecht werden kann, setzt er die Migration der gesamten Familie durch und fokussiert sein Leben dann voll und ganz auf die Arbeit. Gianna und Lino präsentieren sich denn auch als Paar, das klare Vorstellungen von familiärer Arbeitsteilung hatte und diese konsequent umsetzen konnte. Ihre Migrationsgeschichte, die genau diesem Zwecke diente, wird denn auch als schließlich erfolgreiche Geschichte präsentiert: Die Kinder sind erfolgreich groß gezogen worden, das Projekt Kernfamilie in der Migration ist zur Zufriedenheit der Rosettis abgeschlossen. Die kleinen Trübungen in dieser Geschichte – die Trennung von den Kindern zu Beginn der Migration, die jahrzehntelange harte Arbeit, die spärliche Einbindung der Rosettis in die Enkelbetreuung – werden als spezifische Prüfungen für die Rosettis als Eltern präsentiert, welche erfolgreich bestanden wurden und den Erfolg des Projektes eher bestärken denn in Frage stellen. Die Beurteilung des Projektes Familie fällt bei Alba Agostino ganz anders aus. Ihr Familienprojekt ist weder abgeschlossen, noch von Erfolg geprägt. Alba, die sich als selbstbestimmt handelnde, autonome Person präsentiert, begründet ihren ersten Rückzug ins Familienleben weniger als bewusste Entscheidung für die Familie. Die Schilderung der Einbindung in familiäre Arbeit als Kind dient in ihrem Fall zur Begründung der Migration, und die Konzentration auf die eigenen Kinder wird eher in Verbindung gebracht mit der Tatsache, dass Alba ihr erstes Kind kurz nach der Geburt weggegeben hat, anstatt – was sie im Nach-
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hinein als richtig erachtet hätte – zusammen mit dem Kind wegzugehen. Den zweiten Rückzug aus dem Erwerbsleben zur Betreuung der Enkelin präsentiert Alba stärker als bewusste Entscheidung zum Wohle ihrer Familie – doch ist es auch diese Entscheidung, welche in Albas Erzählung exemplarisch aufzeigt, dass ihr Projekt Familie (noch) nicht zu einem erfolgreichen Ende gefunden hat. Das Gleichgewicht zwischen den Generationen ist in Albas Familie aus dem Lot, Konflikte sind (noch) nicht ausgetragen, alte Geschichten wie die Frage, wer denn nun Albas erste Enkelin aufgezogen habe, sind nach wie vor virulent. Die Suche nach Begründungen und Ursachen, die Auseinandersetzung mit Schuldzuweisungen und Schuldentlastungen sind zentrale biographische Themen. Die unterschiedliche Beurteilung dessen, was aus den Kindern geworden ist und welchen Beitrag die Eltern dazu geleistet haben, welche Opfer sie bringen mussten und welche Fehler sie gemacht haben, betreffen Familien, die von außen betrachtet gar nicht so unterschiedlich sind. Vielleicht haben die Kinder der Rosettis etwas solidere Berufe gewählt als die Kinder der Agostinos, doch auch sie haben keinen fulminanten sozialen Aufstieg hinter sich. Auch ihre Familien sind zum Teil Patchworkfamilien, und die Beziehungen zu den Enkelkindern scheinen bei den Agostinos wesentlich intensiver zu sein als bei den Rosettis. Während aber Familie bei den Rosettis ein konkretes, auf das Durchbringen der eigenen Familie bezogenes Migrationsziel war, ist in Albas Darstellung Familie eher ein Nebenprodukt der Migration. Erst im Nachhinein macht sich Alba Gedanken dazu, welcher Zusammenhang zwischen ihrer Migration und der Art, wie sich ihr familiäres Leben entwickelt hat, besteht. Alba tendiert dazu, die Migration als zentrale Ursache ihres familiären Ungleichgewichtes zu sehen: Ihre eigene Familie leidet so gesehen darunter, dass Alba sich durch die Migration aus ihrer Herkunftsfamilie und den damit verbundenen Verpflichtungen ein Stück weit hat befreien wollen. Der Grund wiederum, warum Alba überhaupt weggehen wollte, der Grund für ihre starke Einbindung in die familiäre Arbeitsteilung als Kind, ist der Krieg. Und dies führt mich zu einer weiteren Beobachtung in den beiden Fällen: Die unterschiedliche Art, wie Krieg und Kriegserinnerung thematisiert wird. In beiden Fällen wurden die Erzählenden mit expliziten und bedrohlichen Kriegshandlungen konfrontiert, in beiden Fällen werden lebhafte und detailreiche Kindheitserinnerungen an den Krieg wach. Und dennoch ist die biographische Funktion, die der Krieg in den Selbstpräsentationen einnimmt, eine ganz unterschiedliche. Während in Albas Geschichte der Krieg biographie-bestimmend ist bis zum heutigen Zeitpunkt – sie ist ‚Kind des Krieges‘ –, erscheint der Krieg in der Geschichte von Gianna und Lino als eine abgeschlossene biographische Episode, aus der es zahlreiche süffige Geschichten zu erzählen gibt. Die Rosettis, so
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scheint es, haben im kollektiven Erzählen ihrer Erlebnisse einen Weg gefunden, das damals Erlebte zu benennen, einzuordnen und es damit auch auf sich beruhen zu lassen. In Albas Familie hingegen hat der Krieg implizit noch lange Spuren hinterlassen: Albas Mutter wurde krank vor lauter Belastung und Sorge, ihre Geschwister litten unter Depressionen, Albas Bruder blieb zeitlebens labil, und die Mutter steigerte sich im Alter noch in eine Art religiösen Wahn. Alba entzog sich diesem Umfeld und den Belastungen, die es ihr auferlegte, indem sie emigrierte. Doch auch ihre Migration zeitigte langfristig negative Folgen, nämlich dass sie ‚ihre Kinder nicht mehr versteht‘. Der Krieg und die Kriegserlebnisse setzen in Albas Biographie somit den alles erklärenden und begründenden Ursprung, die entscheidende Bedingung, unter der ihre Biographie begann. Ich möchte mir hier nicht anmaßen zu beurteilen, inwieweit Kriegserlebnisse in der Kindheit ihre Spuren hinterlassen, inwieweit sie über Generationen weiter gegeben werden, und vor allem nicht, ob die unterschiedliche Art der Präsentation von Kriegserlebnissen Aufschluss gibt über mehr oder weniger verarbeitete oder verdrängte Traumen55. Was mich hier interessiert, ist die Funktion, welche Kriegserzählungen in den biographischen Erzählungen einnehmen, und die Art und Weise, ob und wie der Krieg als Kontextbedingung für die Migrationsentscheidung beigezogen wird. Beiden Fällen gemeinsam ist, dass der Krieg erlebt wird als äußere Macht, welche weitreichende Auswirkungen auch nach seinem Ende hat und dadurch Abhängigkeiten produziert hat. Die Erkenntnis, dass ein außergewöhnliches Ereignis der Grund für Abhängigkeiten ist, ermöglicht auch die Option, etwas zu verändern. Migration bot sich in beiden Fällen an als Weg aus diesen Abhängigkeiten heraus in ein autonomes, selbstbestimmtes Leben. Auch die in beiden Fällen vorhandenen Bildungsaspirationen zeugen von Vertrauen in die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Die Aneignung von Bildung wurde den Biographieträger/innen durch strukturelle Einschränkungen verhindert, das machen insbesondere Alba und Gianna deutlich. Die Migration und die dadurch erreichte bescheidene ökonomische Sicherheit erlaubten, wie Alba es so schön ausdrückt, das Zulassen und Pflegen von intellektuellen Bedürfnissen, und sie eröffneten Räume für Eigeninitiative. Bücher lesen, Fragen stellen, Kurse besuchen, ja sogar, wie Alba es getan hat, Schulabschluss nachholen und Studien betreiben, auch das sind Freiheiten, die sich die hier zur Sprache gekommenen ‚Gastarbeiter/innen‘ als Migrationsgewinn herausnehmen konnten. Und das sind
55 Ansätze zu Erklärungen, die auf innerpsychische Auswirkungen des Krieges und ihre Ausdrucksformen abzielen, finden sich im Hinblick auf die italienische Migration bei Frigerio Martina/Merhar 2004: 91f; im Hinblick auf Manifestationen von Täter-/Opferschaft in Biographien siehe die Arbeiten von Rosenthal (1995, 1999).
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auch Vorlieben und Freiheiten, die von der Entbindung der Subjekte aus dem Erwerbsleben profitieren können, d.h. für die das Pensionärsleben Raum zur Entfaltung bieten kann. Kurse für Senioren besuchen, sich im Chor oder im Laientheater engagieren, historische Sachbücher lesen, die Feinheiten des Gemüseanbaus im Schrebergarten diskutieren, ja selbst sich um Versicherungsdetails kümmern oder Beschwerdebriefe schreiben, das alles zeugt auch von Selbstreflexivität, von der Bereitschaft, über sich selbst und die Voraussetzungen und Folgen des eigenen Handelns nachzudenken. Und vielleicht ist es gar nicht so, dass Alba ihre Biographie als unabgeschlossene Misserfolgsgeschichte versteht. Vielleicht ist es vielmehr die Muße des Alters und die reine Freude am Nachdenken und Fragenstellen, die Alba dazu bringt, ihre Biographie in der Form einer ungelösten familiären Misserfolgsgeschichte zu formulieren. Zumindest erscheint ihr alltägliches Familienleben sehr eng und lebendig zu sein, und Alba wie auch Tullio nehmen darin einen zentralen Platz ein. Alba tendiert sogar dazu, sich als diejenige Figur zu zeichnen, welche die Geschicke von Ehemann, Kindern und Enkelkindern besorgt überwacht und wenn nötig korrigierend eingreift. Und so ist das schlimmste Szenario, welches sie im Hinblick auf die Zukunft im Interview formulieren kann, dasjenige, dass sie wegen einer Knieoperation ausfällt. Sie, die alle Fäden in der Hand hat, sie, die autonom und selbständig ist, thematisiert mit keinem Wort die Möglichkeit, dass sie von ihrer Familie abhängig werden könnte, dass sie auf Pflege und Unterstützung von Ehemann oder Kindern zurückgreifen könnte. Dafür, so sagt sie, gibt es Dienstleistungen56. Familie erscheint in Albas Selbstpräsentation als strikt hierarchisch geordnetes System, in dem sie Mutter ist und Mutter bleibt, auch wenn sie selber bedürftig werden sollte. Sie ist die Sorgende, und sie formuliert kein Bedürfnis nach Umsorgtwerden durch ihre Familie. So wie sie, auch über die Distanz, ihre Mutter bis zu deren Tod umsorgte und ein wachsames Auge auf ihre Geschwister hatte, hat sie nie aufgehört, sich um ihre Kinder zu sorgen. Auch jetzt, da diese ihr eigenes Leben leben, ihr eigenes Geld verdienen und eigene Familien haben, bleibt Alba die Sorgende, ja selbst für die Enkelkinder sorgt sie noch. Doch die eigene Autonomie aufgeben und von ihrer Familie abhängig werden, das hat in Albas Selbstpräsentation gegen außen keinen Platz. Auch Gianna und Lino bleiben im Hinblick auf ihr Alter dem Motto der Autonomie treu und zeichnen sich nicht als zu Umsorgende. Im Unterschied zu
56 Eine Zukunftsvision, die Alba nur andeutet, scheint allerdings – insbesondere im zweiten Interviews – so beängstigend zu sein, dass sie nicht explizit ausgesprochen werden kann, nämlich die Angst davor, den langjährigen Ehepartner zu verlieren.
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Alba betonen die Rosettis diesbezüglich jedoch ihre Einheit als Paar: Gianna und Lino setzen voll auf die gegenseitige Unterstützung. Und dafür sind sie auch bereit, die klare geschlechtliche Rollenaufteilung im Alter pragmatisch handzuhaben: wenn eine/r ausfällt, springt der/die Andere fraglos ein57. Ihre Kinder, für die sie so viel getan haben, sollen nur im äußersten Notfall von ihnen belangt werden. Es ist Aufgabe der Eltern, für die Kinder zu sorgen, und das Sorgen der Rosettis für ihre Kinder hat aufgehört, als diese ausgezogen sind und eigene Familien gegründet haben. Eigentlich hätte es den Rosettis durchaus gefallen, weiter zu sorgen, sich um die Enkelkinder zu kümmern, doch die Kinder haben das nicht gewollt, und das wurde von Gianna und Lino auch so akzeptiert. Die eigene Unabhängigkeit wahren und auch den Kindern Unabhängigkeit zugestehen, das versuchen die Rosettis im Alter umzusetzen. Die ausgeprägte Fokussierung auf die Familie, insbesondere auf das Aufziehen und Umsorgen der Kinder, dominiert beide Fallanalysen. In der Umsetzung des Projektes Familie ziehen beide Ehepartner am selben Strick, auch wenn sie dabei größtenteils klar getrennte Aufgaben übernehmen. Rückkehrabsichten werden relativ früh verworfen, notabene zum Wohle der Kinder, und die Lebensgestaltung konzentriert sich auf das aktuelle Lebensumfeld der Kernfamilie, auf die Arbeit als Ernährer und auf die Schullaufbahnen der Kinder. Ethnische Bezüge spielen, wohl primär aufgrund der starken Einbindung in familiäre Zusammenhänge, aber auch wegen der Fokussierung auf das Lebensumfeld in Bern, nur eine untergeordnete Rolle. Die Statuspassagen vom Erwerbsleben ins Pensioniertenleben werden in den beiden Fällen eher am Rande thematisiert und irritieren das Leben vor allem in finanzieller Hinsicht: Die Verrentungen sind mit spürbaren Einschränkungen des regelmäßigen Einkommens verbunden, und auf diese muss man sich zuerst wieder einstellen. Davon abgesehen empfinden alle den Zeitpunkt ihres Erwerbsaustritts aus der Retrospektive als richtig und begründet. Die nach der Pensionierung neu zu definierende Alltagszeit ist bei allen in einer Weise gefüllt, mit der sie sich zufrieden zeigen. Seien dies routinierte Tagesabläufe und die Gemeinschaft im Schrebergarten bei Tullio, seien es die Aufrechterhaltung der beruflichen Fertigkeiten, gepaart mit genügend Muße zum ausruhen bei Lino, oder seien es die Verfolgung von Bildungs- und Kulturinteressen bei gleichzeitiger Pflege sozialer Kontakte, wie Gianna und Alba es schätzen. Auch körperliche Beschwerden und Gebrechen prägen den Alltag, füllen die Zeit aus, zwingen dazu, die Dinge ruhiger anzugehen und sich gegen-
57 Dies gilt in der Praxis insbesondere für Lino, der durch die Pensionierung von seiner Hauptverantwortung, der Erwerbsarbeit, entbunden wurde und nun vermehrt auch Aufgaben im Bereich der Hausarbeit oder der Pflege übernimmt.
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seitig zu helfen. Daneben bleibt aber beiden Paaren – ob nun wohlwollend aus der Ferne beobachtend oder genau hinsehend und kommentierend – der Blick auf das, worauf sie sich all die Jahre so sehr konzentriert haben: auf das Leben der Kinder und deren Familien.
6.
Altwerden ‚hier‘ in der Schweiz oder ‚bei uns‘ in Italien? Das Ehepaar Lillo
6.1 D IE L ILLOS
KENNENLERNEN
Kontaktaufnahme und Interviewsituation Der Kontakt zum Ehepaar Lillo kommt auf Initiative von Herrn Lillo zustande. Offenbar ist er von einer der Schlüsselpersonen, die ich betreffend Interviewkontakte angesprochen hatte, gebeten worden, sich bei mir zu melden. Herr Lillo stellt es am Telefon in scherzhaftem Ton so dar, als sei er geradezu genötigt worden, sich endlich bei mir zu melden. In den Interviews zeigt sich dann, dass die Lillos ein idealtypisches Beispiel dessen sind, was sozialpolitisch als problematisches Altern in der Migration diskutiert wird. Ich habe den Eindruck, dass sie gebeten worden sind, sich bei mir zu melden, um mir einen besonders illustrativen Fall für die Notwendigkeit von spezifischen sozialen Maßnahmen für alternde Migrant/innen zu präsentieren. Ein erstes Interview findet im März 2004 vormittags statt und dauert bis zum Mittag. Frau Lillo ist während der ersten halben Stunde nicht anwesend. Das zweite Gespräch führen wir einige Monate später, im Dezember 2004 am Nachmittag. Diesmal sind beide Ehepartner während des ganzen Gespräches zusammen anwesend. Als ich zum verabredeten ersten Termin an die Wohnadresse der Lillos komme, spricht mich vor der Haustür ein Herr an, und wie sich herausstellt, ist es Herr Lillo. Mir fallen die klassisch-elegante Kleidung und das schwarz gefärbte und sorgfältig frisierte Haar auf. Herr Lillo scheint Wert auf seine äußere Erscheinung zu legen. Ob er wohl zufällig vor dem Haus ist oder auf mich gewartet hat? Vielleicht hat er die Gelegenheit für eine Zigarette genutzt, während er auf meine Ankunft wartete. Auch später während der Interviews verschwindet Herr Lillo ab und zu ohne Erklärung auf den Balkon oder in
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die Küche und bemüht sich anschließend, den Rauchgeruch mittels Parfum zu beseitigen. Leonardo und Angela Lillo wohnen im Westen der Stadt Bern, in einem Stadtteil, der in den 1960er und 1970er Jahren eine ausgeprägte Siedlungsexpansion erfahren hat und geprägt ist von Hochhäusern mit billigen Wohnungen und von kleineren Industrie- und Gewerbebetrieben. Der Stadtteil liegt verhältnismäßig weit entfernt vom Stadtzentrum und gilt als Arbeiter- und Ausländerquartier. Die Wohnung der Lillos ist eine eher kleine, gut in Stand gehaltene oder kürzlich renovierte Blockwohnung, erbaut vermutlich in den 1970er Jahren, mit einem Wohn-/Esszimmer, einem abgeschlossenen Schlafzimmer und einer sehr kleinen Küche. Das Wohn-/Esszimmer ist mit auffallend hellen und modernen Möbeln ausgestattet, im Prinzip aber ähnlich eingerichtet wie andere Wohnzimmer, in denen ich während meiner Forschungen in Bern zu Besuch war. Es steht dort eine hellgraue Couch, eine Wohnwand, ein großer Fernseher und ein kleiner Esstisch mit vier Stühlen. Das Zimmer ist dekoriert mit viel Nippes, Souvenirs, Plastikblumen und Spitzendeckchen. An den Wänden hängen die üblichen Fotos mit Portraits und Schnappschüssen von Menschen, hier aber vor allem ältere, schwarz-weiße Fotos. Ein Bilderrahmen an der Wand zeigt eine Collage mit zwei herzförmigen Portraits, wahrscheinlich Herr und Frau Lillo in jungen Jahren. Ich sehe keine Bilder von Kindern. Ein kleines Eckregal ist mit religiösen Bildchen und Figuren geschmückt, wirkt wie ein kleiner Hausaltar. Frau Lillo ist nicht in der Wohnung. Herr Lillo sagt, sie weile noch beim Arzt und werde später dazu stoßen. Wir setzen uns an den Esstisch, auf dem bereits ein Tablett mit Kaffeegeschirr und ein Teller steht, der mit einer Papierserviette abgedeckt ist. Die Interviewsituation erscheint mir anfänglich ziemlich angespannt, obwohl Herr Lillo einen höflichen und aufgeschlossenen Eindruck macht. Zuerst bin ich etwas verunsichert, weil Frau Lillo nicht anwesend ist, und sobald sie da ist, habe ich den Eindruck, dass sie sich unwohl fühlt. Dadurch dass Frau Lillo später zum Gespräch dazu stößt, hat sie nicht denselben Wissensstand über mein Projekt und mein Anliegen wie Herr Lillo. Ihr Einbezug in unser Gespräch ist denn auch etwas schwierig, und ich bin mir ihrer Motivation für das Gespräch nicht so sicher. Herr Lillo, so habe ich den Eindruck, ist sehr motiviert. Vielleicht will er mit seiner Teilnahme an meiner Studie nicht nur dem kirchlichen Sozialarbeiter, der uns vermittelt hat, einen Gefallen tun. Es scheint mir, als würde es Herrn Lillo auch Spaß machen, mit mir zu reden, Besuch zu haben, Interesse zu bekommen. Er scheint grundsätzlich ein geselliger Mensch zu sein, und er zeigt während des Gespräches immer auch mal wieder einen gewissen Schalk. Seine Haltung ist mir sympathisch, irritiert mich aber auch hin und wieder, zum Beispiel, als Herr Lillo mir, während ich mitten im Gespräch
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mit Frau Lillo bin, plötzlich meinen Leitfaden aus der Hand nimmt und beginnt, ihn zu studieren. Frau Lillo macht mir hingegen den Eindruck, als wäre ihr die Interviewsituation unangenehm. Dieser Eindruck schwächt sich zwar im Laufe des Gesprächs etwas ab, ganz los werde ich ihn jedoch erst beim zweiten Gespräch. Ich bin mir zunächst auch nicht sicher, ob ihr Unbehagen etwas mit meiner Person zu tun haben könnte. Mit der Zeit jedoch wird Frau Lillo zusehends geselliger. Sie redet freier und enthusiastischer, und sie unterbricht ihre Ausführungen von Zeit zu Zeit, um ein kleines Kompliment einfließen zu lassen: dass ich sie an eine Nichte erinnern würde, dass ich ein fröhliches Lachen hätte, dass ich gut Italienisch sprechen würde etc. Im Nachhinein deute ich ihre anfängliche Zurückhaltung und Verschlossenheit nun einerseits verursacht dadurch, dass ihr die Rahmenbedingungen des Interviews nicht klar waren. Andererseits ist dies wohl auch in Angelas Charakter und ihren biographischen Erfahrungen begründet. Die Beziehung, die sich während unserer Zusammenarbeit zwischen den Lillos und mir entwickelt, ist nicht unbedingt eine professionelle, sondern eher eine informelle, alltägliche Beziehung, wie unter flüchtigen Bekannten. Viele Gesprächspassagen drehen sich um allfällige gemeinsame Bekanntschaften, um Ferien in Italien, um selbstgemachtes Gebäck. Das inhaltliche Interesse der Lillos an meinem Projekt erscheint mir eher gering. Das zweite Treffen verläuft dann auch kaum mehr wie ein Interview, sondern eher wie ein angeregtes Gespräch unter Bekannten. Vielleicht geht es dem Ehepaar Lillo bei der Kooperation mit mir in erster Linie um den sozialen Aspekt: den Kontakt mit mir einerseits, andererseits auch darum, der Bitte des Sozialarbeiters an sie nachzukommen. Darüber hinaus erhoffen sich die Lillos auch einen persönlichen Mehrwert aus der Zusammenarbeit mit mir bezüglich ihrer prekären Situation im Alter. Ich versuche, dieser Erwartung gerecht zu werden, indem ich im Anschluss an das zweite Gespräch den Kontakt zwischen den Lillos und der zuständigen Fachperson bei einer privaten Schweizer Interessenvertretung für ältere Menschen, der Pro Senectute, herstelle. Es geht darum zu klären, ob die Lillos allenfalls Anrecht auf spezifische Unterstützungsleistungen dieser Organisation haben. Ich verlasse die Lillos nach dem ersten Gespräch mit einem etwas beklommenen Gefühl, bin tief beeindruckt und verunsichert von der manchmal ausweglos erscheinenden Lebensperspektive. Da mir das Gespräch wenig biographisch-narrative, dafür aber ganz viele argumentative Passagen zu enthalten scheint, habe ich den Eindruck, dass mir das Interview nicht gut gelungen sei. Das zweite Gespräch hat eine deutlich unbeschwertere Grundstimmung und, noch ausgeprägter als das erste Gespräch, einen dialogischen Charakter. Dialogisch einerseits zwischen Herrn und Frau Lillo, die sich gegenseitig ergänzen,
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wenn sie auf meine Fragen eingehen, aber auch dialogisch zu dritt, da ich immer mehr davon abkomme, Fragen aus meinem Leitfaden zu stellen, und mich von der Entwicklung unserer Interaktionsbeziehung leiten lasse. Grundsätzlich folgen beide Gespräche keiner klaren thematischen oder temporalen Linie, sondern mäandern zwischen verschiedenen Themen hin und her. Narrative Passagen sind meist kurz und führen sehr oft zu argumentativen oder reflexiven Passagen über die Moral aus der eben erzählten kurzen Geschichte und über den Zustand der Welt früher und heute. Im Gegensatz zu den knappen biographischen Erzählungen werden diese argumentativen Ausführungen sehr reich ausgeschmückt und mit vielen Beispielen unterlegt. Der stark interaktive und thematisch hin- und herspringende Gesprächsverlauf machte es im Fall des Ehepaars Lillo besonders schwierig, für die nun folgende Fallrekonstruktion eine angemessene Struktur zu finden, die sowohl die Entwicklung der Gespräche wie auch die Nachvollziehbarkeit der über verschiedene Etappen erfolgten Entfaltung thematischer Felder angemessen wiedergibt. Kurzbiographie von Leonardo und Angela Lillo Leonardo und Angela Lillo sind beide in den Dreißigerjahren in einem ländlichen Umfeld in Apulien geboren und aufgewachsen, in nahe beieinander gelegenen Dörfern der Provinz Lecce. Die Region, aus der die Lillos stammen, kann in mehrfacher Hinsicht (wirtschaftlich, historisch, politisch) als peripher bezeichnet werden – zumindest was die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts betrifft. Weder in der Literatur, noch in den autobiographischen Erzählungen von Leonardo und Angela ist denn auch viel darüber zu erfahren. Die Gegend war in den 1940er und 1950er Jahren vermutlich größtenteils landwirtschaftlich geprägt, vornehmlich von Kleinbauern bewirtschaftet, die einen beträchtlichen Teil ihrer Produktion als Pacht abgeben mussten. Auch die Familien von Angela und Leonardo bestritten ihren Lebensunterhalt als kleine Pächter in der Landwirtschaft. Größere Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur Apuliens entwickelten sich erst, als die Lillos bereits seit Längerem in der Schweiz lebten. Auch politisch schien die Region von marginaler Bedeutung zu sein. So seien Angela und Leonardo nach eigenen Angaben zum Beispiel vom Zweiten Weltkrieg nicht tangiert worden, außer vielleicht, dass Armut und Hunger herrschte. Die ökonomische Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit scheint tatsächlich recht dramatisch gewesen zu sein, häuften sich doch da einerseits Aufstände von Bauern und
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Landarbeitern in Apulien, andererseits stieg die Zahl der aus der Region in die industriellen Zentren im Norden Abwandernden rapide an1. Angela, die ältere von beiden, ist 1933 geboren worden. Ihre Eltern waren Bauern, und sie hatte zwei Schwestern und einen Bruder. Angela bezeichnet ihre Familie als arm, aber nicht Hunger leidend, da man die notwendigen Lebensmittel ja selber produziert habe. Angela besuchte die Schule bis zur ‚Terza Media‘; nach der Schule wurde sie zur Lehre zu einer Schneiderin geschickt und verrichtete dann Näh- und Stickarbeiten in Heimarbeit. Zudem half sie im elterlichen Landwirtschaftsbetrieb mit. Angela heiratete mit 29 Jahren den Arbeitsmigranten Leonardo und folgte ihm in die Schweiz, wo er ihr eine Arbeit besorgt hatte. Sie trat eine Vollzeitstelle in einer Fabrik an, die elektrische Apparate herstellte, und blieb in dieser Anstellung bis zu ihrem Erwerbsaustritt 1989, welcher aufgrund gesundheitlicher Probleme im Alter von 56 Jahren stattfand. Angela ist nicht die einzige in ihrer Familie, die migriert ist; zwei ihrer Geschwister lebten und arbeiteten ebenfalls im Ausland (Belgien und USA). Beide Geschwister sind nach einigen Jahren in der Migration nach Süditalien zurückgekehrt. Leonardo ist 1937 geboren. Auch er bezeichnet seine Eltern als Bauern (‚contadini‘); sein Vater arbeitete im Rebbau, hatte ein Grundstück gepachtet, und Leonardo half als Kind bei dieser Arbeit mit. Er besuchte die Schule bis zur ‚Seconda Media‘ und begleitete 1956 mit 18 Jahren seinen Schwager für eine erste Saison mit in die Schweiz, wo er im Straßenbau arbeitete. Er wechselte nach kurzer Zeit in eine Betonfabrik, und von dort nach zwei, drei Jahren in eine Fabrik, die mechanische Apparate produzierte. Dort blieb Leonardo 34 Jahre lang tätig, bis er kurz vor seinem 60sten Geburtstag wegen Auftragsmangel entlassen und dann frühzeitig pensioniert wurde. Geheiratet hat Leonardo im Alter von 25 Jahren. Bei einem Ferienaufenthalt 1962 in seinem Herkunftsort suchte Leonardo sich eine Braut und hielt um Angelas Hand an. Im Dezember fand die Hochzeit statt, und im Frühling 1963 folgte Angela ihrem Ehemann nach Bern. In Leonardos Familie wanderten fast alle Familienangehörigen zumindest temporär in die Schweiz. Leonardo folgte seinem Schwager, die Schwester von Leonardo zog bald darauf mit ihren Kindern nach und ging in Bern einer Vollzeit-Arbeit nach. Leonardos Vater gab darauf hin – 1958 oder 1959 – sein Pachtland in Apulien auf und verbrachte ebenfalls einige Jahre als Saisonnier in Bern. Dann setzte er sich in Apulien zur Ruhe. Leonardos Mutter blieb während dieser Zeit mehrheitlich in Apulien.
1
Siehe u.a. Jansen 2007: 90f. Eine kurze Charakterisierung des Salento findet sich in Wessendorf 2007b: 1085.
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Das Leben der Lillos in Bern spielte sich innerhalb eines eher kleinen Radius ab. Wohn- und Arbeitsorte lagen relativ nahe beieinander und haben sich im Laufe der Jahre nicht groß verschoben. Wohnungswechsel fanden vor allem in den ersten Jahren statt und bewegten sich innerhalb desselben Stadtteils. Die Lillos haben keine Kinder. Ein Cousin lebt in der Westschweiz, alle weiteren Verwandten sind in Apulien.
6.2 D IE BIOGRAPHISCH - NARRATIVEN S ELBSTPRÄSENTATIONEN Der Einstieg ins Gespräch Beginnen wir die Fallrekonstruktion Lillo damit, wie sich Leonardo und Angela als Biographieträger/in in das Gespräch einführen2. Angela ist zu Beginn des Gespräches noch nicht anwesend, und so steht die Plattform der Selbstpräsentation also vorerst einmal Leonardo allein zur Verfügung. Vor dem Einschalten des Aufnahmegerätes beginne ich das Gespräch, wie üblich, mit einer Einführung in mein Projekt, informiere über meine Interessen am Interview und über die Gründe für die Tonbandaufnahme. Herr Lillo signalisiert während dieser Ausführungen eine gewisse Ungeduld und gibt mir sein Einverständnis zur Aufnahme ohne weitere Fragen oder Bemerkungen. Sein Verhalten erweckt bei mir den Eindruck, dass er möglichst rasch mit dem Interview beginnen möchte. Die Interview-Aufnahme setzt ein, nachdem ein Telefonanruf uns unterbrochen und Herr Lillo sich mit dem Handy auf den Balkon zurückgezogen hat. Herr Lillo beginnt das Gespräch mit einer Rückversicherungsfrage, um zu klären, ob er meinen Auftrag richtig verstanden hat: L: Allora, devo raccontare da quando io
in die Schweiz gekommen bin, so was –
cosa devo dire?
was soll ich sagen?
E: Per me sarebbe interessante tutta la vita.
2
L: Also, ich soll erzählen von da an, wo ich
son’ venuto in Svizzera, qualcosa [.]
E: Für mich wäre das ganze Leben interessant.
Das Kapitel 2 setzt im Material beim Einstieg ins erste Interview ein und verfolgt die Gesprächsentwicklung chronologisch bis zu dem Punkt, als wir eine Kaffeepause einlegen und ich einen ersten biographischen Nachfrageteil einleite (Transkript Lillo 1, 9/33).
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L: Tutta la vita. Eh.
L: Das ganze Leben. Eh.
E: Eh, e la [.] la parte più importante per
E: Eh, und der wichtigste Teil für mich ist
me è la Svizzera, perché mi interessa la
die Schweiz, weil mich interessiert die –
[..] i processi della migrazione, ma
die Migrationsprozesse, aber
L:
Sisi, allora-
E:
comincia avanti, se per Lei va bene.
L:
Jaja, also-
E:
beginnen Sie vorher, wenn das für Sie in Ordnung ist.
L: Sisi, sisi, io posso dire che […] Posso parlare? E: Si!
L: Jaja, jaja, ich kann dazu sagen dass – Kann ich sprechen? E: Ja!
(Transkript Lillo 1, 1/1 – 1/10) Leonardo Lillo ist der Meinung, dass die Lebensgeschichte, die ich von ihm hören möchte, bei seiner Migration in die Schweiz beginnt. Meinen Hinweis, dass mich das zwar besonders interessiere, er aber das ganze Leben erzählen solle, nimmt er bestätigend entgegen. Er zeigt sich in seiner Bestätigung jedoch etwas ungeduldig, signalisiert mit seinen wiederholten ‚jaja‘, dass er schon verstanden habe und nun das Wort übernehmen möchte. Nachdem ich meinen Satz beendet habe, ist Leonardo Lillo eigentlich schon bereit zu übernehmen. Die Formulierung ‚ich kann dazu sagen dass‘ klingt so, als würde Leonardo ein bilanzierendes Statement zu einem bestimmten Thema einleiten, welches auf die von mir gestellte Aufgabe an ihn eingeht. Dass Leonardo sich hier etwas ungeduldig in der Startposition verharrend gibt, begierig darauf, mit seiner Erzählung loszulegen, deute ich so, dass Leonardo mir etwas Bestimmtes zu sagen hat. Leonardos biographische Selbstpräsentation L: Allora, io qui in Svizzera [.] sono venuto il [..] il ’56. E: Mhm.
L: Also, ich, hier in die Schweiz bin ich im – im ‘56 gekommen. E: Mhm.
L: Sono venuto, e dopo ho lavorato [..] eeh L: Bin ich gekommen, und dann habe ich come manuale [.] dentro una fabbrica
gearbeitet – eeh als Handlanger, in ei-
di [.] di cementeria [.] ho lavorato,
ner Fabrik, Zementfabrik habe ich ge-
abbiamo fatto un brutto lavoro diciamo,
arbeitet, wir haben eine üble Arbeit ge-
quella polvere [.] e tutto, abbiamo
macht, kann man sagen, dieses Pulver
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dovuto lavorare fortissimo. E dopo poi
und alles, wir haben sehr schwer arbei-
ho trovato una fabbrica, dove sono
ten müssen. Und dann habe ich eine Fa-
stato 35 anni [.] qui a Bümpliz [.] una
brik gefunden, wo ich 35 Jahre geblie-
fabbrica di meccanica [.] dove ho fatto
ben bin, hier in Bümpliz, eine Mechanik-
tutta la mia vita diciamo [.] ho
Fabrik, wo ich sozusagen mein ganzes
imparato un mestiere, ho imparato,
Leben gemacht habe, habe einen Beruf
della meccanica, ho lavorato verso le
gelernt, habe gelernt, Mechanik, habe
[.] nel eh [.] nei torni, bancari, nelle
da bei den, im eh, an den Drehbänken,
frese, [.] dopo abbiamo montato degli
den Bänken, Fräsen, dann haben wir
apparecchi [.] delle, del contametri di
Apparate montiert, Stoffmeterzähler,
stoffa, [.] dopo, manomano, manomano,
dann, allmählich, allmählich hat es sich
mano è passato come [.] non dico come
ergeben, wie, ich sage nicht wie, Abtei-
[.] capo reparto. Ho fatto la finale, chi
lungsleiter. Ich hab das Finale gemacht,
è le donne montavano i pezzi, e io
das heißt die Frauen haben die Stücke
venivo a controllarle, diciamo. Dopo
montiert, und ich bin sie kontrollieren
tanti anni poi dopo, la ditta [.] non
gekommen, sozusagen. Dann, nach so
aveva più lavoro [.] mi hanno
vielen Jahren hatte die Firma dann kei-
licenziato, tutti gli uomini, hanno tenuto
ne Arbeit mehr, haben mich entlassen,
solo [.] cinque, sei donne. Ed allora poi
alle Männer, haben nur fünf, sechs
ho cominciato a stampare, [.] stampare,
Frauen behalten. Und so habe ich dann
poi dopo quando sono arrivato quasi a
angefangen zu stempeln, und als ich
65 anni, mi hanno dato la [.] una
dann fast bei 65 Jahren angekommen
piccola pensione.
war, haben sie mir die, eine kleine Pension gegeben.
(Transkript Lillo 1, 1/11 – 1/24) Leonardo setzt nun doch, wie er ursprünglich vorhatte, den Einstieg in seine biographische Selbstpräsentation beim Zeitpunkt seiner Einreise, dem Jahr 1956. Davon ausgehend rollt er seine Arbeitstätigkeit in der Schweiz in chronologischer Form auf. Dabei verweilt er vor allem bei derjenigen Stelle, an der er ‚sein Leben gemacht‘ hat bis zur Pensionierung. Hier setzt er einen ersten Schlusspunkt. Unter seiner Lebensgeschichte, erzählt an eine Schweizerin, die sich für die italienische ‚Gastarbeiter‘-Migration interessiert, versteht Leonardo das Leben nach der Migration, in der Schweiz, und er beschränkt sich darin auf seine Arbeitsgeschichte. Leonardos Biographie ist eine Arbeitsbiographie, seine Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte, die erst zum Schluss und beinahe nebensächlich gebrochen wird. Die Arbeitsbiographie begann mit einer Stelle als Handlanger in einer Zementfabrik, einer Arbeit, die Leonardo als ‚brutto‘, als
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hässlich, übel, dreckig bezeichnet. Die Belastung durch die Arbeit wird von Leonardo im Symbol des Pulvers zum Ausdruck gebracht. Pulver steht einerseits für Dreck, für die Schmutzigkeit und Niedrigkeit der Arbeit, andererseits auch für die Belastung der Lungen, für die Gesundheitsgefährdung bei der Arbeit. Dass Leonardo von ‚wir‘ spricht, betont die grundsätzlich schlechte Qualität der Arbeit und macht deutlich, dass es sich nicht um eine subjektive Empfindung Leonardos handelt, sondern um eine quasi kollektive Erfahrung im Kontext der italienischen Arbeitsmigration in die Schweiz. Es scheint fast, als ob Leonardo sich hier als Beispiel für ‚die Gastarbeiter‘ und deren harte und entbehrungsreiche Lebensumstände präsentiert. Erst als er eine neue Stelle findet, wird er zum Individuum, zum ‚ich‘. Die Formulierung, die neue Stelle ‚gefunden‘ zu haben, deutet darauf hin, dass sich Leonardo gezielt darum bemüht hat, diese erste ‚üble‘ Anstellung hinter sich zu lassen, und dass er in seinen Bestrebungen auch erfolgreich war. Dann hat Leonardo also zu der Fabrik gewechselt, bei der er ‚sein Leben gemacht hat‘, und er formuliert dies sehr liebenswert, fast so, als hätte er hier eine enge Vertraute, die Partnerin fürs Leben gefunden. Dann umschreibt er, was es für ihn bedeutet, in einer Fabrik ‚sein Leben zu machen‘. Einerseits hat er etwas gelernt, hat sich eine berufliche Qualifikation erworben, d.h. er ist vom einfachen Handlanger ohne Ausbildung zum Berufsfachmann aufgestiegen. Und er hat, das beschreibt er vergleichsweise ausführlich, eine kleine Karriere gemacht, hat sich hochgearbeitet von den Drehbänken und Fräsen, wo vermutlich Einzelteile hergestellt wurden, über die Montage, wo aus den Einzelteilen Apparate entstanden, bis hin zur Endkontrolle, zur Überprüfung der Montagearbeiten anderer. Er hat sich also – ganz ‚allmählich‘, durch Geduld und Beständigkeit – hochgearbeitet in eine bessere berufliche Position. Sich selbst entschuldigend für den Ausdruck, von dem er unsicher zu sein scheint, ob er angemessen ist, bezeichnet er diese Position als ‚Abteilungsleiter‘. In der herantastenden, relativierenden Formulierung schwingt gleichzeitig Stolz auf das Erreichte und Bescheidenheit mit. Ähnliches drückt sich aus in der Umschreibung, es habe sich so ergeben, es sei passiert, was ein passives Bild evoziert: Nicht durch eigenes Bestreben ist er in diese Position vorgerückt, sondern durch seine Geduld und den Lauf der Zeit. Leonardo schließt seine biographische Präsentation, die er ausschließlich auf die Arbeit beschränkt, passend dazu mit dem Ende seiner beruflichen Laufbahn und dem Übertritt ins Rentnerdasein ab. Etwas abrupt nach der schon fast liebevollen Schilderung seiner Karriere in der Fabrik kommt allerdings die Erkenntnis des/der Zuhörende/n, dass die Arbeitgeberin, diese lebenslange Vertraute von Leonardo, ihre Beziehung zu ihm aufgekündigt hat, ihn also entlassen hat. In der
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Art, wie Leonardo dieses Ereignis einführt, bemüht er sich, der Partnerin keine Schuld zuzuweisen: Die Firma war zu Entlassungen gezwungen, es gab keine Arbeit mehr, und nicht nur er, sondern alle Männer seien entlassen worden. Es lag also nicht an ihm oder an dem nicht mehr innigen Verhältnis zwischen Leonardo und der Arbeitgeberin, sondern an äußeren Umständen, welche der Firma keine andere Wahl ließen, als das Verhältnis aufzulösen. Auch gegenüber der paar Frauen, welche die Arbeitgeberin behalten habe, will Leonardo keinen Groll zum Ausdruck bringen, obwohl aus seiner Geschichte zu schließen ist, dass es sich dabei um seine ehemaligen Untergebenen gehandelt haben könnte, um diejenigen Frauen, deren Arbeiten er zu kontrollieren hatte. Dass die Firma Männer entließ und Frauen behielt, deutet auf eine Branche hin, in welcher gewisse Arbeiten ausschließlich an Frauen und andere nur an Männer vergeben wurden, und dass die Firma jene Bereiche aufgab, in denen die Männer tätig waren. Möglicherweise war es eine Firma, welche sowohl im mechanischen (typischerweise von Männern ausgeführte Arbeiten) als auch im elektronischen (oft von Frauen geleistete Arbeiten) Bereich tätig war (vgl. z.B. Soom/Truffer 2000). Leonardo hat dort möglicherweise zuerst im mechanischen Bereich gearbeitet, allein an einer lärmenden Maschine (‚ich‘), hat dann in eine Montagehalle gewechselt, in der man, vielleicht gemeinsam, vielleicht gleichzeitig, etwas montierte (‚wir‘). Im Fall von Leonardo waren das sog. Stoffmeterzähler – vermutlich eine Apparatur für die Textilindustrie, welche sowohl mechanische (Auf-/Abwickeln von Stoffbahnen) als auch elektronische (Laufmeter zählen) Komponenten aufwies. Der nächste Schritt in Leonardos beruflicher Laufbahn führte ihn dann wieder vom ‚wir‘ zum ‚ich‘, von der Montagehalle zu einer übergeordneten Kontrollfunktion, vielleicht räumlich abgetrennt, vielleicht auch im selben Raum, aber separiert vom montierenden ‚wir‘ und beauftragt mit der Überprüfung von dessen Arbeiten. Die Arbeitswelt, in der Leonardo ‚sein Leben gemacht hat‘, war eine sowohl hierarchisch wie auch geschlechtlich segregierte Welt, und Leonardo empfindet seinen Weg durch die verschiedenen Arbeitsbereiche als eine Aufwärtskarriere. Der Verlust seiner komfortablen, über lange Jahre erlangten Position muss bitter gewesen sein. Leonardo konstatiert hier seine Entlassung aber fast beiläufig, gibt sich schicksalsergeben, hat sich arrangiert mit der Situation, für die seine Arbeitgeberin ja gemäß seiner Darstellung nichts kann, und ist stempeln gegangen, bis ‚sie‘ ihn mit 65 Jahren in Rente geschickt haben. Wen Leonardo mit ‚sie‘ meint, bleibt unklar, möglicherweise die Arbeitgeber, oder die Sozialdienste. Die Formulierung, dass ‚sie‘ ihm ‚die Pension geben‘, hat etwas Gönnerhaftes von oben, was aber implizit auch Abhängigkeit beinhaltet. Dieses zwiespältige Verhältnis zum Arbeitgeber/Pensionsgeber artikuliert sich auch darin, wie Leonardo weiterfährt:
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E: Mhm. Con 65.
E: Mh. Mit 65.
L: Si. Si. Si, con questa pensione, non si
L: Ja. Ja. Ja, mit dieser Pension kann man
può vivere, diciamo, qui adesso, ora, in
nicht leben, sozusagen, hier jetzt, heut-
Svizzera. [.] Eh, non so adesso cosa
zutage, in der Schweiz. Eh, ich weiß jetzt
dobbiamo fare. O dobbiamo andarci in
nicht, was wir machen sollen. Sollen wir
Italia, [.] o dobbiamo rimanere ancora
nach Italien gehen, oder sollen wir noch
qualche anno qua? [.] Perché la moglie
ein Jahr oder so hier bleiben? Weil
pure [.] ha male alle spalle,
meine Frau hat auch Rückenschmerzen,
complicazioni [.] e la vita è un po’
Komplikationen, und das Leben ist ein
stressata, diciamo, è stata [.] questi, gli
bisschen gestresst, sozusagen, war es,
ultimi anni. E dopo, con quello che ci
die letzten Jahre. Und dann, mit dem
danno adesso, lo facciamo appena
was sie uns jetzt geben, machen wir’s
appena qui perché [.] a me mi danno
gerade so knapp hier, weil mir geben sie
1615 franchi di pensione. La moglie, gli
1615 Franken Pension. Der Frau geben
danno 1100 franchi di pensione [.] e
sie 1100 Franken Pension, und hier
qui si paga 1350 franchi [.] di
zahlen wir 1350 Franken für die Woh-
appartamento, poi ci è la cassa malattia
nung, dann ist da die Krankenkasse, al-
[.] da solo, e facendo tutto, il totale dei
lein, und im Ganzen, alles zusammen-
conti [.] nullo ce la facciamo. Allora
gezählt, bleibt nichts mehr. Also wissen
non sappiamo cosa dobbiamo fare? [.]
wir nicht, was wir tun sollen? Ob – ob
Se [.] se andiamo in Italia o se restiamo
wir nach Italien gehen oder ob wir hier
qui, o [.] Qui l’assistenza non ti aiuta
bleiben, oder – Hier erhältst du keine
niente, dopo tanti anni, nullo. Loro
Unterstützung, nach all den Jahren,
pagano solo quelli [.] quelli stranieri
nichts. Die zahlen nur diesen, diesen
diciamo quelli [.] jugoslavi qualcosa,
Ausländern sozusagen diesen Jugosla-
loro gli aiutano, ma noi che abbiamo
wen, so was, denen helfen sie, aber uns,
fatto una vita qua, da 46 anni, [.] non ci
die wir ein Leben hier gemacht haben,
[..] non ci aiutano niente insomma devo
seit 46 Jahren, uns – uns helfen sie
dire. Non so come, come dobbiamo fare
nichts schlussendlich muss ich sagen.
oggi [lacht kurz auf].
Ich weiß nicht wie, wie wir’s heute machen sollen [lacht kurz auf].
(Transkript Lillo 1, 1/25 – 1/38) Leonardo führt seine biographische Selbstpräsentation nun dadurch weiter, dass er über die niedrige Rente und die offenbar gerade sehr aktuelle Frage einer Rückkehr nach Italien redet. Die Rente sei so niedrig, dass ‚man‘ damit nicht leben könne: Es ist nicht nur für ihn zu wenig, keiner könnte davon leben. Es liegt also nicht an einem unverhältnismäßigen Lebensstil, an fehlender Beschei-
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denheit oder an ungeschicktem Umgang mit Geld. Schuld an der Misere ist nicht der Empfänger – Herr Lillo –, sondern der Geber der Rente, das nicht genauer definierte ‚sie‘. In der Formulierung seines Anliegens, dass das Geld nicht reiche, bemüht sich Leonardo nicht nur in Bezug auf sich um eine objektive, unpersonifizierte Darstellung, die betont, dass es die allgemeinen Verhältnisse sind, die ihn nicht bleiben lassen, nicht etwa das Verschulden einer konkreten Person oder Institution. Es ist jedoch, so ist ihm klar, seine ganz eigene Entscheidung, wie er auf diese durch ungünstige Umstände verursachte Situation reagiert, und er sieht nur einen, allerdings nicht vollständig überzeugenden Ausweg, nämlich nach Italien zu gehen. Die direkte Konsequenz aus der nicht ausreichenden Rente ist für Leonardo die anstehende Entscheidung über weiteren Verbleib oder Rückkehr, und er macht deutlich, dass auch das Nach-ItalienGehen seine Nachteile hat. Der einzig mögliche Weg, an der Situation etwas zu ändern, scheint also derjenige zu sein, nach Italien zu gehen. Es klingt auch so, als wäre eine Rückkehr bereits definitiv geplant, als ginge es nur noch darum zu entscheiden, wann sie stattfinden soll: jetzt oder erst in ein, zwei Jahren. Und ausschlaggebend für die Rückkehr scheint die Hoffnung zu sein, dass es sich mit der Rente in Italien etwas besser leben ließe als hier und jetzt, in der Schweiz. Dieser Entscheid hat u.a. auch etwas mit den Rückenschmerzen von Angela Lillo zu tun, mit ‚Komplikationen‘ und ‚Stress‘-Faktoren, die in den letzten Jahren das Leben erschwert hätten. Hinzu kommt dann noch das bereits angesprochene finanzielle Problem, das Leonardo nun mit ein paar Zahlen illustriert. Deshalb die Planung einer Rückkehr, die jetzt, als Leonardo sie ein zweites Mal erwähnt, nicht mehr ganz so konkret erscheint. Ein weiterer Aspekt im Abwägen von Handlungsoptionen – hier sind es lediglich zwei Optionen: bleiben oder gehen – wird angefügt, nämlich die fehlende ‚assistenza‘ hier in der Schweiz, womit vor allem eine institutionalisierte Form von Unterstützung gemeint ist, konkreter noch, eine finanzielle Hilfe, wie aus den weiteren Ausführungen von Leonardo klar wird. Darin bringt Leonardo seine Verbitterung darüber zum Ausdruck, dass er den Eindruck hat, benachteiligt zu werden gegenüber anderen Migrant/innen, die nicht wie er und Angela ‚ein Leben hier gemacht haben‘. Damit kreist Leonardo das Agens hinter der prekären finanziellen Lage etwas genauer ein: das ‚sie‘, welches ihm eine zu kleine Pension gibt, bestimmt allgemein über Sozialleistungen und ist somit im öffentlichen Sozialsystem zu lokalisieren. Leonardo lenkt das Gespräch hier sehr zielstrebig weg von seiner Migrations- und Arbeitsbiographie – nach der ich konkret gefragt hatte – und bringt dasjenige Thema auf, von dem er weiß, dass es mich im Hintergrund interessiert, und zu dem er aus seiner konkreten Erfahrung etwas zu sagen hat: Das Altern in
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der Migration. Vor diesem Hintergrund erscheint nun auch sein Einstieg – ‚dazu kann ich sagen dass‘ – sinnvoll. Während ich erwarte, dass Leonardo mir etwas aus seiner Vergangenheit erzählt, über sein Leben vor und nach der Migration, will Leonardo über seine gegenwärtigen Lebensumstände sprechen, über seine finanziell knappe Situation, über eine allfällige Rückkehr und was dafür resp. dagegen spricht. Ich greife dieses Gesprächsangebot vorerst einmal auf und beginne nachzufragen. Daraus entwickelt sich ein kurzes Gespräch über Renten, Pensionskassengelder, Ergänzungsleistungen und altersspezifische Sozial- und Dienstleistungen. Dabei erfahre ich, dass die Lillos ein Haus in Italien besitzen und dass insbesondere deshalb die Rückkehr für sie eine ernsthaft diskutierte Handlungsoption darstellt. Ich versuche in der Folge, Leonardo dazu zu bewegen, etwas mehr aus seinem Leben zu erzählen, insbesondere zur Zeit vor der Migration. Auf meine erste Frage danach, woher er komme, antwortet Leonardo zuerst romantisierend: Er komme aus dem Süden, „della terra calda“/„aus dem heißen Land“, „dove c’è bello il mare“/„wo das Meer schön ist“ (Transkript Lillo 1, 2/40ff). Wir unterhalten uns kurz über die Schönheit und die touristischen Vorzüge der Herkunftsregion von Leonardo. Während dieser Zeit kommt Frau Lillo nach Hause, zieht sich aber nach einer kurzen Begrüßung zuerst in die Küche zurück und setzt sich erst später zu uns. Vorerst noch allein mit Leonardo, frage ich nochmals nach seinem Leben vor der Migration: E: Allora, per me sarebbe anche
E: Also, für mich wär’s auch interessant,
interessante di sapere un po’ di più da
ein wenig mehr zu wissen, woher– wann
dove [.] quando e dove Lei è nato, e
und wo Sie geboren sind, und wo Sie
dove è cresciuto, e [.] come ha deciso di
aufgewachsen sind, und wie Sie ent-
venire in Svizzera.
schieden haben, in die Schweiz zu kommen.
L: Sì, sì, sì. [.] Be’, io avevo qui [.] avevo una sorella qua. Chi ha
L: Ja, ja, ja. Nun, ich hatte hier, hatte eine Schwester hier. Die hier viele Jahre ge-
lavorato qui tanti anni. Dopo io ero
arbeitet hat. Und ich war noch, ein
più, ragazzo, più piccolo che la
Junge, kleiner als die Schwester, und ich
sorella, eeeh dovevo partire
musste weggehen [unverst. 2 sec.] Mi-
[unverst. 2 sec.] militare. Dopo la
litär. Da hat die Schwester gesagt: „Wir
sorella ha detto: „Ti facciamo un
machen dir einen Vertrag, kommst hier-
contratto, vieni qui a lavorare e [.]“
her zum arbeiten und –“ Und so bin ich,
E allora, sono, mi ha fatto contratto
hat sie mir einen Vertrag gemacht und
e sono venuto qui a lavorare, no. [.]
ich bin hierhergekommen zum Arbeiten,
Perché io sono dal 1937, nato. Il 20
nicht. Weil ich bin vom 1937, geboren.
380 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
marzo. […]
Am 20. März. [Pause]
E: A Lecce? Stesso? Nella città?
E: In Lecce? Selbst? In der Stadt?
L:
L:
Sì, a Lecce.
Certo. E
dopo poi [.] sono stato quattro,
Ja, in Lecce.
Sicher. Und
dann bin ich vier, fünf Jahre geblieben,
cinque anni, da solo, dopo ho
allein, dann habe ich meine Frau im
conosciuto la moglie al paese, ci
Dorf kennen gelernt, wir haben geheira-
siamo sposati, [.] eeh, e l’abbiamo
tet, eeh, und wir haben auch ihr einen
fatto un contratto a venire pure lei.
Vertrag gemacht zum kommen. Sie ist
Lei è venuta dopo poi, [.] è venuta
dann später gekommen, ist hierherge-
qui. […] Vuole sapere ancora
kommen. [Pause] Wollen Sie sonst noch
qualche cosa altra?
etwas wissen?
(Transkript Lillo 1, 3/13 – 3/24) Von den verschiedenen Möglichkeiten, die ich anbiete, um über das Leben vor der Migration zu reden, greift Leonardo die letzte auf und fährt mit den Umständen seiner Migrationsentscheidung fort, nicht mit seiner Herkunft oder seiner Kindheit. In seiner Erzählung war es nicht er selber, der sich zur Migration entschieden hat, sondern seine ältere Schwester, die ihn nach Bern geholt hat. Sie tat dies zu einem Zeitpunkt, als Leonardo einem Druck ausgesetzt war, von zu Hause wegzugehen, und dieser Druck hatte mit etwas Militärischem zu tun. Ob sich Leonardo vielleicht durch eine Migration einem anstehenden Militärdienst entziehen sollte? Mehr erfahren wir hier dazu noch nicht. Dann greift Leonardo noch die erste meiner Bitten auf und erwähnt sein Geburtsjahr, ohne jedoch weitere Angaben zu machen. Sogleich kehrt er wieder zurück zur Migration und fügt knapp an, dass er mit Angela eine Frau aus seinem Herkunftsdorf geheiratet habe, die dann ebenfalls zum Arbeiten nach Bern migriert sei. Leonardo hat seine Ehepartnerin also nicht in der Migration gefunden, sondern ‚im Dorf‘, wo er herkommt. Es scheint sich aber nicht um jemanden zu handeln, den Leonardo schon immer gekannt hat, eine Kindheitsfreundin zum Beispiel, sondern um eine Frau, die er erst ‚kennen lernte‘, als er bereits migriert war. Vielleicht war das Dorf groß genug, dass man nicht alle heiratsfähigen Mädchen kannte, oder vielleicht war die junge Frau zugezogen? Es klingt so, als hätte Leonardo eine Frau kennen gelernt, die ohne viel Aufhebens bereit war, ihm in die Schweiz zu folgen. Vielleicht hat jemand Leonardo auf eine heirats- und migrationswillige junge Frau aufmerksam gemacht? Vieles würde mich als Zuhörerin hier noch interessieren. Doch mehr erzählt Leonardo nicht
D AS E HEPAAR L ILLO
| 381
über seine Herkunft und seine Lebensgeschichte. Die gemachten Angaben erscheinen ihm genug Information zu seinem Leben vor der Migration zu sein. Er schließt ab und schiebt mir den Ball zu. Angelas biographische Selbstpräsentation Leonardos Frage, ob ich noch etwas anderes wissen wolle, erscheint mir eine gute Gelegenheit, die inzwischen bei uns sitzende Angela in das Gespräch mit einzubeziehen. Als ich versuche, sie ins Gespräch zu integrieren, gelingt dies nicht auf Anhieb. Angela ist – verständlicherweise – nicht klar, was von ihr erwartet wird, und sowohl ich wie auch Leonardo versuchen etwas unbeholfen, die Situation zu klären. E: Ehm […] se forse ehm, abbiamo la
E: Ehm – wenn vielleicht ehm, wir haben
possibilità più tardi, se forse Lei vuole
später noch Gelegenheit, wenn vielleicht
[an A. gewandt] -
Sie wollen [an A. gewandt] -
A: Cosa devo dire?
A: Was soll ich sagen?
E: Ah, ja. [..] Non ho dato l’informazione
E: Ah ja. – Ich hab Ihnen die Information
a Lei. Comincio con le storie di vita,
nicht gegeben. Ich fange mit den
[…] di, di
Lebensgeschichten an, – von, von
L:
Lei, la vita che hai vissuta, lei si fa
L:
Sie, das Leben,
le interviste per la vita che hai vissuta,
das du gelebt hast, sie macht Interviews
tutto, quella.
wegen dem Leben, das du gelebt hast, alles, das.
A: Eh, qui?
A: Eh, hier?
L: Sì.
L: Ja.
A: Eh! [.] Lavorando!
A: Eh! Hab’ gearbeitet!
E: Un po’ tutto, da dove viene, dove Lei è
E: Ein bisschen alles, woher Sie kommen, wo Sie aufgewachsen sind, wie Sie hier-
cresciuta, come è venuta qui. [.] E che cosa ha fatto qui, che cosa ha lavorato,
hergekommen sind. Und was Sie hier
e com’era la vita qui. Tutto. [.] Tutto
gemacht haben, was Sie gearbeitet ha-
che Lei pensa è importante.
ben, und wie das Leben hier war. Alles. Alles, wovon Sie denken, es sei wichtig.
A: Io ho lavorato [unverst.]
A: Ich hab gearbeitet [unverst.]
L:
L:
Eh, „io sono venuto di G., un
Eh, „ich bin aus G. gekom-
382 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
paese [.] della provincia di Lecce“.
men, einem Dorf in der Provinz Lecce“.
A: Di Lecce, anche.
A: Aus Lecce, auch.
L: E dopo? Forza. Vai avanti.
L: Und dann? Los. Fahr fort.
A: Che cosa ci devo dire altro? Cosa [.]
A: Was soll ich denn noch sagen? Was –
cosa ho fatto? La vita? [.] Eh? L:
Eh, la vita, cosa hai
was ich gemacht habe? Das Leben? Eh? L:
Eh, das Leben,
fatto, dove hai lavorato per quanti anni,
was du gemacht hast, wo du gearbeitet
dove sei stata.
hast für wie viele Jahre, wo du gewesen bist.
(Transkript Lillo 1, 3/25 – 4/2) Die zitierte Passage macht die Verständigungsschwierigkeiten deutlich, darüber, was von Angela jetzt erwartet wird, aber auch darüber, was eine Lebensgeschichte beinhalten könnte. Ich bin davon ausgegangen, dass Angela, obwohl ich bis hier noch keinen persönlichen Kontakt mit ihr hatte, darüber informiert ist, warum ich da bin. Das Kaffeegeschirr stand schon bereit, als ich kam, und auch daraus schließe ich, dass sie auf meinen Besuch vorbereitet war3. Jedoch scheint sie, zumindest im Moment, als ich sie anspreche, nicht zu wissen, was nun von ihr erwartet wird4. Angela fragt zuerst nach, ob ich das Leben ‚hier‘ meine – ‚hier‘ in der Schweiz, meint sie vermutlich. Ihre erste spontane Antwort auf die
3
Natürlich wäre auch denkbar, dass Leonardo sich um den Kaffee kümmern könnte, doch dann hätte er das Kaffeegeschirr nicht bereits im Voraus hinstellen müssen. Meine Vermutung bestätigt sich später im Gespräch: Es ist Angela, die aufsteht, Kaffee kocht und serviert, die auch fragt, was ich dazu wünsche und ob die Süßigkeit schmeckt. Leonardo verhält sich während des Kaffeetrinkens so, wie ich als Gast mich verhalte.
4
Dies bestätigt sich, als Angela etwas später unvermittelt fragt, was ich denn eigentlich mit dem Erzählten vorhabe, ob ich Journalistin sei oder so etwas (Transkript Lillo 1, 13/40f). Leonardo erklärt ihr dort, dass ich eine Studie machen würde für meinen UniAbschluss, und ich erzähle von einer möglicherweise daraus entstehenden Buchpublikation, die u.a. Einblick geben soll in die Geschichte der italienischen Arbeitsmigration aus der Perspektive der Migrant/innen. Da signalisiert Angela Verständnis – es gehe also darum, wie das Leben früher war – und ergreift etwas später, als Leonardo sich meinen Leitfaden anschaut, sogar die Initiative und klärt ihn darüber auf, was ich mache (Transkript Lillo 1, 16/34f): Ich wolle wissen, ‚come era la vita di prima‘/‚wie das Leben früher war‘, belehrt sie ihn.
D AS E HEPAAR L ILLO
| 383
Frage, wie sie ihr Leben gelebt habe, lautet dann lapidar: ‚lavorando‘/ ‚arbeitend‘. Das Leben, zumindest das Leben ‚hier‘ in der Schweiz, bedeutete zuallererst einmal Arbeit, und mehr gibt es vorläufig nicht dazu zu sagen. Interessant ist hier, dass Leonardo, nachdem Angela ihre Lebensgeschichte mit der Arbeit beginnen will, darauf besteht, dass sie bei ihrer Geburt anfangen soll – gleich wie ich vorher darauf bestanden hatte, dass er nicht nur aus seiner Arbeitsgeschichte nach der Migration erzählen solle. Nun versuchen Leonardo und ich beide, Angela auf dieselbe Weise zum Erzählen ihrer Lebensgeschichte vor der Migration zu bringen, indem wir sie darauf hinweisen, dass Lebensgeschichte auch heißen könnte, wo man herkommt, wo man geboren wurde und wie man aufgewachsen ist. Leonardo ist offensichtlich angespannt und setzt Angela unter Druck, mir etwas zu liefern. Er beharrt dabei auf seiner Referenzgröße, der Arbeitsbiographie. Und ich beharre auf dem Vorschlag, dass die Lebensgeschichte bei der Geburt beginne: E: Lei è anche nata a Lecce?
E: Sie sind auch in Lecce geboren?
A: A Lecce, sìsì, e siamo un po’ -
A: In Lecce, jaja, und wir waren ein wenig-
E:
E:
Nella città, anche?
Auch in der Stadt?
L: Sì, un piccolo paese. Si chiama G., in
L: Ja, ein kleines Dorf. Es heißt G., in der Provinz Lecce.
provincia di Lecce. A: Eeh, [..] da ragazza andavo alla
A: Eeh – als Mädchen bin ich zur Meisterin gegangen, um Schneiderin zu lernen. So
maestra per imparare la sarta. Questo così. Poi dopo [...] son’ cresciuta e mi
war das. Und dann – wurde ich erwach-
son’ sposata! [lacht] Questo do-, da
sen und habe geheiratet! [lacht] Das
giù, da noi, quando ero giovane, così.
wa-, da unten, bei uns, als ich jung war,
[.] Poi son’ venuta qua. [.] Ho co-,
so. Dann bin ich hierhergekommen.
sono entrata a Berger [.] a lavorare. E
Habe angef-, bin eingetreten bei der
ho lavorato 27 anni.
Berger [Industriebetrieb], zum Arbeiten. Und habe 27 Jahre gearbeitet.
E: Lei è venuta quando?
E: Wann sind Sie gekommen?
A: Al 1962, no? Siamo venuti.
A: Im 1962, nicht? Sind wir gekommen.
L:
L:
mille-
A: L: ’62 ci siamo sposati.
sessantadue.
Neunzehn-
zweiund-
A: L: ’62 haben wir geheiratet.
sechzig.
384 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
A:
Eh be’, ci siamo sposati al ’62.
A:
Eh ja, wir haben im ’62 geheiratet.
(Transkript Lillo 1, 4/3 – 4/16) Nachdem Leonardo meine Annahme berichtigt hat, dass Angela nicht aus der Provinzhauptstadt stamme, sondern aus einem kleinen Dorf, ist der Ball wieder bei Angela, die nach kurzem Überlegen keines der ihr gemachten Angebote aufgreift, sondern da einsetzt, wo sie ihr Arbeitsleben begann: bei der Ausbildung im Schneidern, bei ‚der‘ Meisterin. Mehr gibt’s auch dazu nicht zu sagen (‚questo così‘), Angela erachtet dies als aussagekräftig genug. Nach erneutem kurzem Nachdenken fügt sie das Erwachsenwerden und Heiraten als nächste erwähnenswerte Station ihrer Biographie an. Das war zu der Zeit an dem Ort der normale Lauf der Dinge, deshalb gibt es dazu nicht mehr zu sagen, konstatiert Angela ihre knappe und nüchterne Aufzählung von Stationen ihrer Biographie. Sie führt die Aufzählung in gleicher Weise fort, über die Migration zu ihrer Arbeit in Bern, und gibt die Dauer ihrer Anstellung dort an. Im Kontrast zur knappen Schilderung und zur Betonung, dass dies so üblich gewesen wäre, damals, dort unten, was impliziert, dass Angelas Weg klar vorgezeichnet, ja sogar unabänderlich vorgegeben war, entscheidet sie sich für eine sehr ausgeprägt ich-bezogene, zielgerichtete, handlungsorientierte Formulierung ihrer Geschichte: ‚ich bin gegangen‘, ‚ich bin erwachsen geworden‘, ‚ich habe geheiratet‘, ‚ich bin hierhergekommen‘, ‚ich bin in die Firma eingetreten‘. Sie zeichnet sich nicht als machtloses Opfer, auch nicht als gegen ihren Willen von den üblichen Verhältnissen auf diesen Weg Gezwungene. Sie entwirft sich auch nicht als eines von vielen Mädchen, die in einer unpersönlichen, fremdbestimmten Masse über den Weg geschoben werden. Vielmehr beschreibt sie von außen beobachtend, wie sie sich als eigenständige Person durch einen vorgegebenen Lebenslauf bewegt hat, nicht damit hadernd, nicht darüber urteilend, auch nicht besonders viel darüber nachdenkend, sondern einfach den Weg abschreitend. Das Jahr von Angelas Migration – 1962 – hängt offenbar eng zusammen mit dem Zeitpunkt ihrer Heirat. Dies lässt vermuten, dass Angela unmittelbar nach ihrer Heirat ihrem Ehemann in die Schweiz gefolgt ist. Kennenlernen, Heiraten und Migrieren scheinen zeitlich nahe beieinander zu liegen. Es gab demnach offenbar keine Übergangsregelungen, dass die Ehefrau vorläufig noch im Dorf blieb und später nachreiste, oder dass sie so lange allein im Dorf blieb, bis der Ehemann nach zwei, drei Jahren mit dem im reichen Norden verdienten Geld zurückkam. Entweder war das Ziel klar – eine Frau zu haben, die mit Leonardo zusammen das Leben in der Migration teilte –, oder die Zeit drängte, weil die
D AS E HEPAAR L ILLO
| 385
beiden nicht ohne einander sein konnten z.B., oder weil Angela aus dem Dorf weg wollte oder musste. Doch mehr erfahren wir hier dazu vorerst nicht. Zuerst lenke ich das Gespräch noch auf die Firma, bei der Angela in Bern gearbeitet hat – ein alteingesessener Industriebetrieb, vor allem im Bereich Kommunikationsgeräte tätig, und mir bereits bekannt als einer der wichtigsten Arbeitgeber für ‚Gastarbeiter/innen‘, vor allem für Frauen. Angela sagt, sie habe dort mit elektronischen Dingen zu tun gehabt, habe gelötet, Telefonapparate, Schreibgeräte, militärische Übermittlungsgeräte etc., das habe man ihr zumindest so gesagt (Transkript Lillo 1, 4/17 – 4/26). Ich will wissen, wie Angela zu dieser Arbeit gekommen ist. Leonardo antwortet für sie und beschließt auch gleich ihre Arbeitsbiographie, mit demselben Ereignis wie seine eigene, der Pensionierung: Ho fatto io, il contratto, alla moglie, no. [.]
Den habe ich gemacht, den Vertrag, für
Perché la moglie stava in Italia, [.] e dopo
meine Frau, nicht. Weil meine Frau in
lei è venuta qui, [.] è venuta nel ’62. [.] Hai
Italien war, und dann ist sie hierhergekom-
cominciato a lavorare, lavorare, e [..] e [.]
men, im ’62 ist sie gekommen. Du hast
dopo poi [..] siamo arrivati in pensione [.]
angefangen zu arbeiten, arbeiten und – und
siamo arrivati, non lavora neanche lei.
dann – sind wir bei der Pension angekommen, sind wir angekommen, auch sie arbeitet nicht mehr.
(Transkript Lillo 1, 4/29 – 4/31) Angela hatte demnach keine andere Arbeit in der Schweiz außer den 27 Jahren Fabrikarbeit bei der Firma Berger, und sie hat aus gesundheitlichen Gründen aufgehört5. Sie ist sich nicht sicher, was den genauen Zeitpunkt ihres Erwerbsaustrittes betrifft, da sie, wie sie sagt, in den letzten Monaten ihrer Erwerbstätigkeit kam und ging, da sie immer wieder in Spitalbehandlung oder krankgeschrieben zu Hause war. Ungefähr, meint sie, war es im 1989. Meine Frage, ob sie in der Schweiz nie als Schneiderin – ihrem erlernten Beruf – gearbeitet habe, verneint sie. Sie hätte ja dann geheiratet und sei hierhergekommen. Und wäre das nicht gewesen, dann hätte sie wohl mit ihrer Familie Landwirtschaft betrieben.
5
Ich hatte explizit nach Entlassungen in der Firma Berger gefragt, da ich in anderen Interviews gehört hatte, dass es in dieser Firma größere Entlassungswellen gegeben habe. Als Grund wurde angegeben, dass es technische Entwicklungen gab, welche die Lötarbeiten – die fast ausschließlich von Frauen durchgeführt wurden – überflüssig gemacht habe. Angela betonte daraufhin, dass sie nicht davon betroffen gewesen sei, und sie meint, dass sie erst nach ihrer Pensionierung von Entlassungen bei der Firma Berger gehört habe.
386 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
So erfahre ich, dass Angelas Familie ihren Lebensunterhalt als „contadini“/ „Bauern“ verdient hatte, genauso wie diejenige von Leonardo (Transkript Lillo 1, 5/25f). Leonardo ergänzt noch, dass sein Vater nicht nur Bauer gewesen sei, sondern auch ein paar Jahre in der Schweiz war, als Saisonier auf dem Bau. Leonardos Schwester habe zuerst Leonardo nach Bern geholt, und kurz darauf auch den Vater. Leonardo war also in der Migration keineswegs isoliert, sondern mit verschiedenen Mitgliedern seiner Kernfamilie zusammen. Dies könnte es auch für Angela einfacher gemacht haben, sich als frisch Verheiratete in dem neuen Umfeld einzuleben. Die Migration und die Erwerbstätigkeit fügen sich in Angelas biographischer Selbstpräsentation ganz nahtlos und selbstverständlich in den normalen Lauf der Dinge ein. Angela ist in einem ländlichen Umfeld aufgewachsen und hat ein für ihr Umfeld typisches Leben gelebt, hat zu Hause mitgearbeitet und eine mädchentypische Ausbildung erhalten, hat geheiratet, wie es eben üblich war. Dass sie in die Migration geheiratet hat, erscheint ihr nicht erklärungsbedürftig, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Angela dann eine Fabrikarbeit annahm. Auch das erscheint in ihrer biographischen Selbstpräsentation als normaler Lauf der Dinge. Die Etablierung der Relevanzen: Reden über Gegenwart und Zukunft Die Erwähnung seiner Schwester bringt Leonardo zurück zum Sinnieren über das Älterwerden, und dies gibt auch Angela die Gelegenheit, ein erstes Mal dazu Stellung zu nehmen: L: Sìsì. [..] Eh, è una vita, io ho avuto una sorella qua che [.] che ha lavorato pure
L: Jaja. – Eh, das ist ein Leben, ich hatte eine Schwester hier die, die auch so vie-
tanti anni, [.] qua, col marito. [.] E
le Jahre gearbeitet hat, hier, mit ihrem
dopo se ne sono andati [.] in Italia, che
Mann. Und dann sind sie weggegangen,
hanno fatto un piccolo hotello [.] hanno
nach Italien, haben ein kleines Hotel ge-
costruito, no. Dopo tanti anni è morto il
macht, gebaut, nicht. Nach all den Jah-
[.] il marito della sorella, no. Tutto
ren ist der Mann der Schwester gestor-
quello che ha fatto, [.] è morto, diciamo
ben, nicht. All das was er gemacht hat,
[.] molto giovane. 72 anni. [.] Dopo la
ist er gestorben, sagen wir, sehr jung.
sorella è rimasta lì al paese, e noi
72jährig. Danach ist die Schwester dort
stiamo qua ancora. [.] Stiamo in
im Dorf geblieben, und wir sind noch
decidere se andiamo o non andiamo,
hier. Wir sind dabei zu entscheiden, ob
ma [..] dobbiamo andarci perché no [.]
wir gehen oder nicht gehen, aber – wir
qui, la vita [..] è un po’ caruccia qua.
müssen gehen weil, nicht, hier, das Le-
D AS E HEPAAR L ILLO
| 387
Un po’ cara, e allora [..] non possiamo
ben – ist ein wenig teuer hier. Ein wenig
più permettere [.] Prima quando
teuer, und so – können wir’s nicht mehr
lavoravo io [.] con la moglie [.]
erlauben – Früher als ich gearbeitet
potevamo magari comprare dei vestiti,
habe, mit meiner Frau, da konnten wir
tutto quello che vogliamo, diciamo
vielleicht Kleider kaufen, alles was wir wollten, sozusagen
Ehm adesso A:
A:
L:
L:
Ehm adesso, diciamo
A:
Ehm heute nicht mehr!
no!
Non si può comprare
Ehm heute, sozusagen
A:
Können wir’s uns
più! Se teniamo in giallo [?], perché [.]
nicht mehr kaufen! Wenn wir im Gelben
di quello che ci danno non [.] no,
bleiben [?] weil mit dem was sie uns ge-
paghiamo qua 1500 franchi, di ca-
ben, nicht, wir zahlen hier 1500 Fran-
L:
ken, Kra-
mille tre cinquanta.
A: Mille tre. [.] Mille tre e cinquanta. E
L:
Tausenddreifünfzig.
A: Tausenddrei. Tausenddreifünfzig. Und
cassa malattia, io pago [.] ogni tre mesi
Krankenkasse, ich zahle alle drei Mona-
mille duecen- [an L. gerichtet:] mille
te tausendzweihun- [an L. gerichtet:]
duecento o millecento? Millecento e
tausendzweihundert oder tausendein-
tanto. Quello paga ottocento e tanto.
hundert? tauseneinhundert und etwas.
Eh, quasi sono novecento. E, eh [..]
Dieser zahlt achthundert und etwas. Eh,
quello che ci danno, no [.] ci dobbiamo
fast sind es neunhundert. Und eh – was
arrangiare. [..] Non è che [.] [kurz
sie uns geben, nicht, wir müssen uns ar-
unverst.] andare a comprarmi questo,
rangieren. Es ist nicht so dass [kurz un-
comprare, adesso questo è finito. [.]
verst.] mir dieses kaufen gehen kann,
Non puoi comprare più! [.].
kaufen, nun ist das vorbei. Du kannst nicht mehr kaufen!
(Transkript Lillo 1, 6/11 – 6/31) Das von Leonardo schon gesetzte Relevanzthema Nummer eins ist, so wird hier klar, ein gemeinsames Thema des Paares. Ganz ähnlich wie Leonardo zu Beginn, fängt Angela an, mit Beträgen zu hantieren, um zu betonen, dass ‚quello che ci danno‘, die Rente, nicht reichen würde für all die Ausgaben, die zu tätigen seien. Und hier etabliert sich auch ein Format, das insbesondere Angela gerne für ihre Gegenwartsanalysen benutzt: die Kontrastierung zwischen früher und heute.
388 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Anschließend an obige Passage versuche ich nun, das Gespräch wieder auf die familiären Netzwerke zu lenken. Dass es in Italien noch Verwandte gibt, habe ich soeben erfahren: Leonardos Schwester zum Beispiel lebt verwitwet im Herkunftsdorf. Meine Frage, ob die Lillos auch hier in der Schweiz noch Familienangehörige haben (Transkript Lillo 1, 6/33), veranlasst Leonardo und Angela dazu, ein weiteres Thema einzuführen, das insbesondere im zweiten Gespräch relativ viel Raum gewinnt und das weiter hinten in diesem Kapitel ausführlich behandelt werden wird: Die von unglücklichen Entwicklungen, Pfuschereien und Missverständnissen gezeichnete Krankheitsgeschichte von Angela, hier am konkreten Beispiel der Kinderlosigkeit des Ehepaares Lillo. E: Lei ha ancora famiglia qui?
E: Haben Sie hier noch Familie?
L: No, non l’abbiamo qui.
L: Nein, haben wir hier nicht.
A: No, non abbiamo nessuno, siamo soli.
A: Nein, wir haben niemanden, sind allein.
L: La moglie [.] ha avuto dei pericoli
L: Meine Frau war in Gefahr, weil sie einige Male schwanger war – eeh
perché è rimasta qualche volte incinta [..] eeh A:
A:
L:
Dopo ha
Ich hatte eine große Operation.
Ho avuto una grande operazione. L:
Dann hatte sie eine
avuto una grande operazione, [.] che
große Operation, die [unverst., evtl.:
[unverst., evtl.: l’altro poco fa schifo].
der andere versaut hat]. Eh, sie haben
[.] Eh, l’hanno ammazzato, il dottore di
sie erledigt [wörtl. getötet], jener Dok-
qua [.] l’hanno fatto l’operazione che
tor da, sie haben eine Operation ge-
non è andata bene.
macht, die nicht gut gegangen ist.
E: Ah sì?
E: Ah ja?
L: Sì, si stava [.] abituale all’ospedale,
L: Ja, man war schon ans Spital gewöhnt,
dico. [.] Che [.] l’altro poco [?, siehe
sag ich. Weil der andere da das Leben
oben] lasciava la vita. Lasciava. Eh.
verlassen hat. Verlassen hat. Eh.
A: Sì, m’hanno fatto un’operazione che
A: Ja, sie haben mir eine Operation ge-
non, non la dovevano fare. E dopo mi è
macht, die nicht, die sie nicht hätten
venuto l’infiamma [.] e sono stata sei
machen dürfen. Und darauf hab ich eine
mesi [.] a, tre mesi dentro, no. Tre mesi,
Entzündung bekommen, und ich bin
e tre mesi a casa, così. [***]
sechs Monate geblieben, drei Monate drin, nicht. Drei Monate, und drei Monate zu Hause, so. [***]
D AS E HEPAAR L ILLO
E: E questo aveva qualcosa da fare con il
| 389
E: Und das hatte etwas zu tun mit dem, dem Kind? Nein.
[.] il bambino? No.
A: Per il bambino era, no, per avere questi A: Für das Kind war das, nicht, um diese bambini, quasi dire, perché ci avevo
Kinder zu bekommen, sozusagen, weil
sempre gli aborti, no.
ich immer Fehlgeburten hatte, nicht.
E: Ah sì! E allora ha [..] provato di, di [.]
E: Ah ja! Und so haben Sie – versucht zu, zu verbessern –
migliorare la – Allora hanno fatto, sì, per vedere A:
A:
So haben sie, ja, um zu sehen
[unverst.] e hanno fatto un’operazione
[unverst.], und haben eine Operation
che non si doveva fare. [..] Questo poi
gemacht, die man nicht machen sollte. –
dopo me l’hanno detto altri dottori,
Das haben mir später andere Doktoren
dice: „Chi ha fatto quest’operazione?
gesagt, haben gesagt: „Wer hat diese
Eh! [abschätziger Laut]“ Ma che cosa
Operation gemacht? Eh! [abschätziger
sapevo io, ho detto. Eh, io ero la
Laut]“ Aber was wusste ich schon, hab
paziente, ma lui era il dottore, era lui
ich gesagt. Eh, ich war die Patientin, er
che doveva dire, deve dire: „Facciamo
war der Doktor, es war an ihm zu sa-
una cura“ deve dire ma non „facciamo
gen: „Machen wir eine Behandlung“,
un’operazione.“ Quello: „Sìsì,
hätte er sagen sollen, aber nicht „ma-
facciamo operazione, per quindici
chen wir eine Operation.“ Der sagte:
giorni, e va tutto bene.“ Quindici
„Jaja, machen wir Operation, vierzehn
giorni, io sono stata sei mesi! [.] Tre
Tage, und alles ist in Ordnung.“ Vier-
mesi a ca- all’ospedale. Perché sono
zehn Tage, ich bin sechs Monate geblie-
entrata a novembre, dicembre, gennaio,
ben! Drei Monate zu Ha- im Spital.
e marzo sono uscita. Dall’ospedale.
Denn ich bin im November eingetreten, Dezember, Januar, und März bin ich rausgekommen. Aus dem Spital.
E: E era il vostro medico che ha detto.
E: Und es war Ihr Arzt, der das gesagt hat.
L: Sì.
L: Ja.
A: Sì! Sì, sì. [..] Poi dopo [.] mi è venuto
A: Ja! Ja, ja. – Dann hab ich diese Entzün-
questa infiamma. Perché non si doveva
dung bekommen. Weil man nicht operie-
operare. Solo per durare, mi diceva un
ren durfte. Nur auf Dauer, sagte mir ein
professore. Questo non c’era dovuto
Professor. Das hätte man nicht machen
fare, questa operazione. [.] Eh, ma
dürfen, diese Operation. Eh, aber jetzt,
adesso, e dopo, posso far- avere un
und dann, ich kann- hab was gut! Ich
bene! Ho avuto il male perché dopo [.]
hab’s schlecht gehabt, weil ich darauf-
stavo per morire. [.] [gedehnt:] No. Oh,
hin am Sterben war. [gedehnt:] Nein.
io ringrazio in dio adesso. Che sono
Oh, heute danke ich Gott. Dass ich noch
390 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
ancora qua. [.] Era questa. La vita è
hier bin. So war das. So ist das Leben. –
questa. [..] Farsi un po’ di bello e un
Mal ist es gut, und mal ist es schlecht.
po’ di male.
(Transkript Lillo 1, 6/33 – 7/30) Die einleitenden Sätze von Leonardo zur Begründung, warum das Ehepaar Lillo ‚allein ist‘, bleiben etwas unklar und wirr. Klar wird, dass ‚Familie haben‘ hier als ‚Kinder haben‘ verstanden wird, und dass dadurch erklärungsbedürftig wird, warum die Lillos allein sind. Das hat, so erfahren wir, mit Schwangerschaften und einer Operation zu tun. Leonardos weitere Ausführungen bringen vorerst nicht viel Klarheit, lassen aber Dramatisches anklingen (‚es versauen‘, ‚umbringen‘, ‚das Leben lassen‘). Angela übernimmt nun die Regie und erzählt, in einer ersten, sehr knappen Fassung von einer Operation mit Komplikationen. Nun wird auch klarer, worauf Leonardo in seinen einleitenden Sätzen hinaus wollte, nämlich dass er die Schuld für die Komplikationen beim behandelnden Arzt sieht. Verunsichert durch die unklare Geschichte, frage ich nach, was die Operation genau mit Schwangerschaften zu tun hatte. Angela geht nur ganz kurz darauf ein, um dann gleich wieder auf den anderen Aspekt dieser Geschichte, nämlich demjenigen des Ärztefehlers zurück zu kommen: Entscheidend für sie ist in dieser Geschichte, dass man ihr Problem falsch behandelt habe, dass der Arzt ihr geschadet habe. Im Erzählen dieser Geschichte reflektiert Angela auch ihre eigene Rolle, befasst sich damit, dass sie damals des Doktors Anweisungen unhinterfragt akzeptiert habe. Die Erwartungen an die klare Rollenzuschreibung – der Arzt ist der Experte und weiß genau, was er tut, und die Patientin kann sich darauf verlassen – wurden bitter enttäuscht. In ihrer Erzählung erscheint die angekündigte Operation als eine Kleinigkeit. Die Erfahrungen, die Angela dann aber machen musste, waren offenbar sehr einschneidend, nicht nur für Angela, sondern auch für Leonardo. Längerfristig stellte sich bei verschiedenen anderen Arztkonsultationen heraus, dass der vermeintliche Fachmann, dem sie vertraut hatte, offensichtliche Fehler gemacht hatte, und diese Fehler hatten ganz einschneidende Konsequenzen für Angela. Der explizierte Schaden, den Angela durch diese falsche Behandlung davon trägt, ist in dieser Geschichte der lange Spitalaufenthalt und die Erfahrung des ‚fast Sterbens‘. Dass Angela damals die Operation auf sich genommen hatte mit dem Ziel, nachher nicht nur Kinder empfangen, sondern auch austragen und gebären zu können, und dass diese Hoffnung durch die Komplikation gänzlich zerstört wurde, darauf geht Angela in ihrer Erzählung nicht ein. Es ist gut möglich, dass sie nicht darüber sprechen will oder kann. Es ist aber auch möglich, dass hier für sie nicht der Umgang mit der Kinderlosigkeit relevant ist, sondern
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Angelas Schicksal als Opfer eines Pfuschers wie auch als Opfer ihres eigenen naiven Vertrauens. Angela schließt die Geschichte ab mit der Überlegung, dass ihr Schicksal und der Umstand, dass Gott sie damals vor dem Tod bewahrt habe, auch sein Gutes haben müsse. Dass das Leben halt so sei – eine Floskel, die beide gern benutzen, um Erzählungen über bittere Erlebnisse oder Erörterungen über die Schlechtigkeit der Welt abzuschließen. Die Erzählung über die Operation, die fast zum Tode geführt habe, entstand aus meiner Frage nach Verwandten, und darauf komme ich noch einmal zurück. Nachdem ich bereits erfahren habe, dass die Lillos in der Schweiz allein sind, frage ich nach Verwandten in Italien. Solche hätten sie zwar schon noch – einen Bruder, eine Schwester – doch die seien alle verheiratet und hätten eigene Haushalte, und deshalb seien die Lillos, so betonen sie noch einmal, eben einfach allein (Transkript Lillo 1, 7/31f). Allein sein heißt hier für die Lillos, keine Familie zu haben, und Familie haben bedeutet in erster Linie, eigene Kinder zu haben. Die weit entfernten Geschwister in Apulien, die ihrerseits Kinder und Enkelkinder haben, mindern das Alleinsein ebenso wenig wie der geographisch nahe gelegene Cousin in der Westschweiz und die Nichte in der Nordwestschweiz, die von den Lillos im zweiten Gespräch erwähnt werden. Das von Angela und Leonardo später wiederholt betonte ‚allein sein‘ scheint für sie eins der zentralen Charakteristika ihrer Biographien zu sein, und dazu noch eines, das sich insbesondere im Alter bemerkbar macht: Allein sein, ohne Kinder sein, hat Konsequenzen für die Zukunftsplanung im Alter. Wären Kinder da, dann würde der Lebensort der Kinder auch den Lebensort der alternden Eltern bestimmen. Sind keine Kinder da, drängt sich kein Aufenthaltsort auf. Das ‚allein sein‘ hat wahrscheinlich auch etwas mit der unentschiedenen Situation der Lillos bezüglich Rückkehr zu tun. Leonardo schlägt nun eine Pause vor und fragt, ob ich einen Kaffee nehmen würde (Transkript Lillo 1, 9/23). Ich akzeptiere nach einer kurzen Höflichkeitskonversation, worauf Angela sich in die Küche begibt. Anschließend folgen verschiedene Nachfragen meinerseits zu Dingen, die bisher nur ganz kurz oder gar nicht angesprochen wurden. Das Interview bewegt sich weiterhin mäandernd durch verschiedene Themen und wechselt zwischen ausführlichen argumentativen und eher knappen narrativen Passagen. Ich werde nun den Pfad der Gesprächsentwicklung verlassen und in der Folge eine thematische Gruppierung vornehmen, die sich schwergewichtig an der Themensetzung durch Leonardo und Angela orientiert (Arbeit, Krankheit, Situation im Alter, Rückkehrgedanken) und sich an einer temporalen Strukturierung des Lebenslaufes orientiert. Dabei werden sowohl Interviewpassagen aus dem ersten wie auch aus dem zweiten Gespräch beigezogen.
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Zuerst aber eine kurze Rekapitulation dessen, was wir bisher über Angela und Leonardo Lillo erfahren haben. Beide betrachten den Zeitpunkt ihrer Migration als den relevanten Einstiegspunkt in ihre Lebensgeschichte. Und das, was die Geschichte dann füllt, ist die Arbeit, das wann, wo und wie lange der Erwerbstätigkeit. Leonardo füllt dieses Aufzählen von Informationen zudem an mit kurzen Beschreibungen der Arbeit und entwirft eine berufliche Erfolgsgeschichte, die durch äußere Ereignisse ein etwas abruptes Ende findet. Angelas Angaben zu ihrer beruflichen Biographie bleiben hingegen karg und knapp. Durch seine alleinige Anwesenheit zu Beginn hat Leonardo eine ideale Plattform erhalten, seine Vorstellungen und Themen für das Interview zu entfalten. Auch Angela hatte – trotz Einstiegsschwierigkeiten – erste Gelegenheiten, ihre Anliegen und Sichtweisen einzubringen. Und ich konnte auf die Kommunikationsangebote reagieren, die mir die Lillos bis hier gemacht haben. Die Relevanzen für unsere weitere Interaktion sind also gesetzt: Es geht den Lillos in erster Linie um ihre aktuelle finanzielle Situation und um das Abwägen einer Entscheidung zum Verbleib oder zur Rückkehr. Biographisch erscheint ihnen das Thema Arbeit in der Schweiz relevant zu sein. Daneben versteht insbesondere Angela ihre Aufgabe auch dahingehend, mir zu vermitteln, wie das Leben früher im Vergleich zu heute war, in Form einer Art moralischer Zeitanalyse. Angela und Leonardo haben bis hierher relativ wenig von ihren persönlichen Erfahrungen und Erlebnissen preisgegeben, und was sie mich wissen ließen, bezog sich auf ihre Arbeitsbiographien nach der Migration und auf ihre gegenwärtige Situation im Alter, die sie als schwierig bezeichnen. Dies scheinen die Themen zu sein, die beide für ihre Biographie und für mein Anliegen als relevant erachten. Oder anders gesagt: die Themen, über die sie im Rahmen des Interviews sprechen wollen. Bevor ich mich diesen Themen ausführlich widme, möchte ich hier zuerst noch diejenige Phase der Lebensgeschichten rekonstruieren, welche Leonardo und Angela nicht ausführlich thematisieren, die mich aber auch interessiert und nach der ich auch mehrfach gefragt habe: die Lebensphase vor der Migration.
6.3 B IOGRAPHISCHE AUSLASSUNGEN : HERKUNFT UND M IGRATIONSENTSCHEIDUNG Das Leben vor der Migration wird weder von Angela noch von Leonardo ausführlich thematisiert. Es scheint nicht zu derjenigen Biographie zu gehören, die hier für sie relevant ist. Das Herkunftsmilieu wird, auf hartnäckiges Nachfragen meinerseits, lediglich mit einigen knappen Linien skizziert. Daraus entsteht ein
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allgemeines, etwas klischiert wirkendes Bild eines marginalen Lebensumfeldes mit wenig individuellen Gestaltungsmöglichkeiten – das klassische süditalienische Auswanderungsmilieu. Angela und Leonardo stammen aus derselben ländlichen Gegend in Apulien, aus benachbarten Dörfern. Beide sind in eher armen Bauernfamilien aufgewachsen, beide hatten Geschwister, und in beiden Familien sind mehrere Familienmitglieder in die Migration gegangen. Leonardo arbeitete zusammen mit seinem Vater auf den gepachteten Feldern, auf denen Getreide und Weintrauben angebaut wurden. Wie in Süditalien damals üblich, musste die Hälfte des Ertrages dem Landbesitzer abgetreten werden. Leonardo war der einzige Sohn. Mutter und Schwestern arbeiteten im Haus, nähten auch in Heimarbeit. Leonardo habe seinem Vater helfen müssen, und als er 18 Jahre alt war, sei es Zeit gewesen, wegzugehen. Er habe keinen Beruf erlernt. Auch Angelas Familie war eher arm und lebte von der Landwirtschaft. Nach der Schulausbildung wurde Angela zu einer Schneiderin in die Lehre geschickt und machte daraufhin, neben der Mithilfe in der Landwirtschaft, Näh- und Stickarbeiten in Heimarbeit. Sie verließ ihr Zuhause relativ spät, nämlich als sie Leonardo heiratete und ihm in die Schweiz folgte. Sie war damals 29 Jahre alt. Die Migration von Leonardo: Familiäre Kettenmigration Es sei Zeit gewesen wegzugehen, sagt Leonardo, und in dieser lapidaren Feststellung sind keine Alternativen vorgesehen. Die von außen betrachtet naheliegendste Alternative, das Pachtland des Vaters zu übernehmen, scheint keine valable Option zu sein. Es ist offenbar an der Zeit, aus dem Milieu auszubrechen, und für diejenige Handlungsstrategie, die Leonardo schließlich wählt, gibt es im unmittelbaren Umfeld, so ist anzunehmen6, genügend Vorbilder: die Emigration. Wie es dazu gekommen ist, dass Leonardo in die Schweiz gereist ist, erzählt er erst im zweiten Gespräch auf mein Nachhaken hin. Leonardos Schwager arbeitete damals in Bern – also nicht seine Schwester, wie Leonardo im ersten Gespräch gesagt hatte, sondern deren Ehemann: E: E Lei mi ha raccontato che la sorella era già qui in Svizzera quando Lei è
6
E: Und Sie hatten erzählt, dass die Schwester schon hier in der Schweiz war, als
Das Milieu, über das Leonardo und Angela so wenig zu erzählen haben, könnte vergleichbar sein mit den trist und dumpf anmutenden Dorfgemeinschaften in Kalabrien und Apulien, wie sie in den ethnographischen Klassikern z.B. von Banfield (1958) oder Cornelisen (1978) gezeichnet werden: Bilder von Gemeinschaften, in denen Auswanderung als der einzig mögliche Ausweg erscheint.
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Sie gekommen sind.
venuto. L:
Sì dopo la sore- n- la sorella [.] no
L:
Ja, nach der Schwe- n-
[.] prima son’ partito io e po- mio
die Schwester, nein, zuerst bin ich ge-
cognato c’era, il marito stava qua.
gangen und da-, mein Schwager war da, der Ehemann lebte hier.
E: Di sua sorella?
E: Von Ihrer Schwester?
L:
L:
Di mia sorella, sì.
E:
Ah solamente il
Von meiner Schwester, ja.
E:
Ah nur der Ehemann, ich dachte, sie sei auch
marito ho pensato che anche lei era qui.
hier gewesen. L:
Solamente
L:
Nur der Ehemann von, dann bin
il marito di, dopo son’ venuto io, e dopo
ich gekommen, und dann ist meine
è venuto mia sorella. Ecco. Perché
Schwester gekommen. So war’s. Weil
prima [.] non era facile a portare la
früher, da war es nicht einfach, die
moglie quando partiva in Svizzera no?
Ehefrau mitzunehmen, wenn man in die
Doveva sempre partire il marito [.] tutti
Schweiz ging, nicht? Da musste immer
i uomini, e dopo poi [..] ha portato la
der Ehemann gehen, alle Männer, und
sorella [.] e ha portato anche i bambini,
dann erst – hat er die Schwester mitge-
ehh [..]
bracht, und hat auch die Kinder mitgebracht, eeh –
(Transkript Lillo 2, 4/37 – 5/6) Nachdem also Leonardo ursprünglich sagte, er sei seiner Schwester in die Migration gefolgt, korrigiert er dies nun. Wie es so üblich war, nach Leonardos Ansicht, seien die Ehemänner zuerst gekommen, die Ehefrauen erst später, die Kinder zum Schluss – das klassische Bild einer männlich dominierten PionierMigration und einer weiblich dominierten Migration zur Familienzusammenführung. Dies trifft in meinem Sample bei allen aus Süditalien stammenden Paaren so zu, auch wenn die aktiven Kräfte hinter der Migration nicht unbedingt immer die Männer waren (vgl. Ehepaar Santo). Alle Ehepartnerinnen in meinem Sample, die alleine migriert sind, kamen aus den grenznahen Regionen im Norden Italiens oder aus Mittelitalien. Als ich Leonardo frage, wie sein Schwager dazu gekommen sei, nach Bern zu migrieren, bringt er eine weitere klassische Vorstellung davon, wie die italienische Migration war, zum Ausdruck: Der Schwager sei gekommen wie alle damals, und das war in Leonardos Verständnis über eine Kettenmigration, die über informelle Beziehungen organisiert war:
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Io conoscevo magari l’altra ditta, qualche
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Ich kannte vielleicht jene Firma, ein Freund
amico mi diceva: „Leonardo, c’è lavoro per sagte zu mir: „Leonardo, gibt es Arbeit für me?“, parlavi con altra ditta, „Sì eh“ si
mich?“, da sprach ich mit der anderen
faceva il contratto e dopo venivano piano
Firma, „Ja eh“, man machte den Vertrag,
piano. Tutto [.] tutta roba a catena diciamo
und dann kamen sie ganz langsam. Alles, all
di [.] di parlare [lacht kurz] per vedere la,
dieses Kettenzeugs, sagen wir, sozusagen
la migrazione era prima, così.
[lacht kurz] um zu sehen, die Migration war früher so.
(Transkript Lillo 2, 5/20 – 5/23) Nachdem Leonardo die grundsätzliche Funktionsweise der Arbeitsmigration, wie er sie kennt, dargelegt hat, frage ich nach seinen ursprünglichen persönlichen Vorstellungen und Wünschen bezüglich Migration: E: Che cosa ha pensato era, i suoi progetti E: Und was haben Sie gedacht, Ihre Pläne
L:
per il futuro erano di andare in
für die Zukunft, waren die, in die
Svizzera, o-
Schweiz zu gehen, o-
Sì [..] no erano tutti diversamente
L:
Ja – nein, die waren ganz
erano. Perché [.] io ero un figlio unico
anders, waren die. Weil ich war der ein-
a casa con la sorella. [.] Avevo fatto la
zige Sohn zu Hause, mit der Schwester.
domanda per appartire nella polizia
Ich hatte einen Antrag gestellt um zur
no? Guardia finanza. [.] E dopo eh [..]
Polizei zu gehen, nicht? Finanzpolizei.
ho fatto la domanda, a diciott’anni, la
Und dann eh, habe ich diesen Antrag
domanda non veniva [.] e allora mio
gestellt, mit 18 Jahren, der Antrag kam
cognato, [.] che sta- che si trovava qui
nicht, und so hat mein Schwager, der
in Svizzera, mi fece il contratto per
sich in der Schweiz befand, mir den Ver-
venire qui in Svizzera. E son’ venuto
trag gemacht, um hier in die Schweiz zu
qua. Quando io dopo sei sett- sei mesi
kommen. Und so bin ich hergekommen.
che ero qua è venuta la domanda [.]
Als ich dann, nach sechs, sieb-, sechs
per partire [.] nella finanza [.] è
Monate war ich hier, ist das Aufgebot
venuta. E dopo mio cognato [.] ha
gekommen, um zur Polizei zu gehen, ist
scritto a mia mamma dice „Eh [.] non è
gekommen. Und dann hat mein Schwa-
bello che Leonardo parte alla finanza
ger meiner Mutter geschrieben, sagte:
perché un figlio solo avete [.] se lui va
„Eh, es ist nicht schön dass Leonardo
alla finanza dopo non lo vedete più
zur Polizei geht, denn ihr habt nur einen
perché sai sta lontano. Invece se sta in
Sohn, wenn er zur Polizei geht, dann
Svizzera stiamo co- sta con la sorella“
seht ihr ihn nicht mehr, denn weißt du,
ha detto mio cognato „sta con me, e
er wird weit weg sein. Wenn er hingegen
stiamo tutti in famiglia“ e dopo non
in der Schweiz ist, sind wir mit-, ist er
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sono andato più in finanza son’ rimasto
mit der Schwester“, hat mein Schwager
in Svizzera. [..] Questa è la -
gesagt, „ist er mit mir, und wir sind alle in der Familie“, und danach bin ich nicht mehr zur Polizei gegangen, bin in der Schweiz geblieben. – Das ist-
E:
Ma sono stati i
E:
genitori che hanno deciso che, o L:
No, ho deciso L:
Aber waren es die Eltern, die entschieden haben, oder Nein, ich habe auch ent-
io pure, poi anche i genitori no dico,
schieden, und auch die Eltern, nicht, ich
„bah, ormai [.] sto con la sorella qua“
sagte „Bah, jetzt bin ich bei der Schwes-
eeh [.] e dopo poi è venuto anche mio
ter hier“ eeh, und dann ist auch mein
papà [.] ha lavorato pure qua, mia
Papa gekommen, hat auch hier gearbei-
mamma veniva ogni tanto in ferie [..] e
tet, meine Mutter kam immer mal in den
siamo [..] siamo rimasti qui poi dopo.
Ferien, und so sind wir hier geblieben.
(Transkript Lillo 2, 5/26 – 6/8) Nun bekomme ich also eine erklärende Erzählung zur Einstiegssequenz, dazu, dass die Schwester ihn in die Schweiz geholt habe wegen etwas Militärischem. Leonardos Migrationsprojekt ist, so wird hier deutlich, Teil eines Familienprojektes – man könnte es auch die Etablierung eines transnationalen Haushaltes nennen. Das ‚Militärische‘ entpuppt sich hier als Wunsch, die Ausbildung zum Finanzpolizisten machen zu können. Ob dies der Wunsch Leonardos oder seiner Eltern oder aller zusammen ist, bleibt unklar. Vielleicht ist es für Leonardo nicht relevant, vielleicht unterscheidet er in Bezug auf diese Phase seines Lebens nicht zwischen seinen eigenen Vorstellungen und denjenigen seiner Familie. Das familiäre Beziehungsnetz, das sich durch die Migration verschiedener Familienmitglieder zunehmend zwischen zwei Orten aufspannte, wird hier von Leonardo als starke, das Leben entscheidend strukturierende Kraft dargestellt, die keinen Raum lässt für die Entwicklung individueller Berufswünsche, aber offenbar auch keine Bedürfnisse weckt nach jugendlicher Abgrenzung oder Freiräumen. Die von außen betrachtet doch recht erstaunliche Entscheidung, sich als Sohn von landlosen Bauern für den Staatsdienst zu bewerben, erachtet Leonardo als nicht weiter kommentierungswürdig. Mir erscheint es außergewöhnlich, ich lese es als einen Versuch der Familie, über den Sohn das gewohnte Milieu zu verlassen und einen sozialen Aufstieg anzustreben. Über die Umstände, die zu dieser Strategie führten, kann ich hier nur spekulieren. Vielleicht führten die nach dem Zweiten Weltkrieg eingeleiteten nationalen Maßnahmen zur ‚Entwicklung‘ des Südens (siehe dazu z.B. Ginsborg 1990, Jansen 2007) in Leonardos Region zu einem
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massiven Ausbau des Beamtentums, was diese Laufbahn als berufliche Option für Leonardo realistisch machte. Vielleicht war Leonardo besonders gut in der Schule, und die Idee mit dem Staatsdienst wurde vom Lehrer/von der Lehrerin vorgeschlagen? Vielleicht sahen Leonardos Eltern in der Landwirtschaft keine Zukunft und befürworteten deshalb eine andere Laufbahn für ihren ‚einzigen‘ Sohn. Vielleicht war dann auch die Migration eine genauso viel versprechende Möglichkeit, das gewohnte Umfeld zu verlassen und neue Perspektiven zu erproben. Die These, dass die Suche nach neuen Horizonten nicht ein individuelles Projekt Leonardos, sondern ein familiäres Projekt war, wird auch dadurch gestützt, dass zeitweise fast die gesamte Familie in Bern lebte und arbeitete. Die Migration Leonardos nach Bern ist zuerst eine Zwischenlösung. Als das Aufgebot der Polizei endlich vorliegt und Leonardo sich in den Staatsdienst begeben könnte, interveniert Leonardos Schwager und überzeugt die Eltern davon, dass es doch nicht gut sei, den einzigen Sohn im Staatsdienst zu haben, wo er wer weiß wohin versetzt werden könne. Die Variante, dass Leonardo zwar noch weiter weg, aber dort zumindest im Schosse der Familie lebe, wird – von allen, wie Leonardo betont – als die bessere Alternative betrachtet. Formale Berufsqualifikation, Prestige und gesicherte Laufbahn scheinen hier hinter das ‚wir sind alle in der Familie‘ und, vielleicht auch, die verlockend schnellen Verdienstmöglichkeiten in der Schweiz zurückzutreten. Und dabei war die Arbeit, die Leonardo zu Beginn in Bern machte, keineswegs eine gute Arbeit. Interessant ist, dass die treibende Kraft hinter der Entstehung dieses transnationalen Haushaltes der angeheiratete Schwager Leonardos ist. Dass dieser, zumindest erscheint es hier so, ein integraler Bestandteil der erweiterten Familie Lillo geworden ist und das eine lokale Standbein des transnationalen Haushaltes aufgebaut hat, in dem er neben seinem jüngeren Schwager auch seinen Schwiegervater aufnimmt, passt nicht so recht ins Klischee der patriarchalen Familienstruktur, die man für typisch süditalienisch hält7. Danach würde man erwarten,
7
Einerseits passt das familiäre Arrangement der Lillos nicht ins Bild der patriarchalen Familie, deren einflussreichste Person der Vater ist, gefolgt vom erstgeborenen Sohn, und deren Töchter aus der Familie heraus in die Familien ihrer Ehemänner hinein heiraten. Andererseits ist dieses Arrangement auch ein gutes Beispiel für die dem Süden Italiens zugeschriebene ausgeprägte Solidargemeinschaft Familie und ihre Anpassungsfähigkeit an die jeweils relevanten Erfordernisse (vgl. dazu auch Kapitel 2.4). Verwandtschaftsregeln und typische Familienstrukturen sind immer nur Richtlinien, die den jeweiligen Anforderungen angepasst werden, und dafür sind die Haushaltsstruktur der Lillos und die zentrale Rolle, welche der Schwiegersohn hier einnimmt, ein illustratives Beispiel.
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dass der Schwager in das Vorankommen seiner eigenen Herkunftsfamilie investiert, nicht in diejenige seiner Ehefrau. Dass der Schwager so stark in die Familie Lillo integriert war, könnte mit einer familiären Isolation des Schwagers zu tun haben, aus welchen Gründen auch immer. Jedenfalls übernahm der Schwager gegenüber Leonardo die Rolle des großen Bruders, des erstgeborenen Sohnes in der Familie Lillo. Für die spezifischen Gegebenheiten und Bedürfnisse der Lillos erwies sich diese Organisationsform aber offensichtlich als sehr effizient und befriedigend für alle Beteiligten, bot Sicherheit und Erleichterungen des Alltags jeweils an dem Ort, wo es gerade notwendig war. Während sich der Schwerpunkt der Familie zeitweise fast ganz nach Bern verlagert hatte – nur Leonardos Mutter lebte noch regelmäßig in Süditalien – verschoben die Familienmitglieder ihren Lebensmittelpunkt nach und nach wieder zurück. In der Schweiz geblieben ist nur eines der vier Kinder von Leonardos Schwester, sowie Leonardo mit seiner Ehefrau. Doch zurück zu Leonardos Migration: Die Familie Lillo betrachtete es damals als die bessere Option, dass Leonardo mit kaum 20 Jahren bei seinem unqualifizierten, körperlich belastenden und sozial kaum abgesicherten Saisonverdienst als ‚Gastarbeiter‘ in der Schweiz blieb, anstatt eine Polizeikarriere in Italien anzutreten. Begründen tut Leonardo dies mit dem familiären Zusammenhalt, dem nicht nur symbolischen Zusammengehören, sondern dem räumlichen Beisammensein. Auch Leonardos Ehefrau wird zunächst Teil dieser erweiterten LilloFamilie in der Migration. Die Nachmigration von Angela: Eine klassische Heiratsmigrantin Angelas Weg in die Migration war derjenige einer frisch getrauten ‚Gastarbeiter‘-Ehefrau: Sie heiratete und folgte ihrem Mann unmittelbar darauf in die Migration. Meine Frage, wie sich die beiden Eheleute kennen gelernt haben, führt zu einer der wenigen etwas ausführlicheren Erzählungen aus dem Leben vor der Migration: E: E [.] come Lei ha fatto conoscenza, Lei
E: Und wie haben Sie Bekanntschaft gemacht, Sie beide?
due? L: Ah! [..] La conoscenza, be’!
L: Ah! – die Bekanntschaft, na!
A:
A:
Ah, be’ [.] le conoscenze giù da noi! [lacht]
Ach ja, die Bekanntschaften, bei uns da unten! [lacht]
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L: La conoscenza [lacht] è un po’ difficile
L: Die Bekanntschaft [lacht] ist ein wenig
perché [.] lei era da un paese. [.] Io ero
schwierig weil, sie war aus einem Dorf.
da un altro, eravamo ragazzi [.] io
Ich war aus einem anderen, wir waren
avevo una moto [.] e giravo, andavo in
jung, ich hatte ein Motorrad, und bin
giro [.] nei paesi, no. [A. lacht vor sich
herumgefahren, ging auf Tour, durch
hin.] Andavo in giro. [.] E prima non
die Dörfer, nicht. [A. lacht vor sich hin.]
era come qua, diciamo. E allora ho
Bin herumgekurvt. Und früher war das
visto lei [.] mentre giravo con la Vespa.
nicht wie hier, gewissermaßen. Und
Io cercavo una donna, no, e [.]
dann hab ich sie gesehen, während ich mit der Vespa herumgekurvt bin. Ich suchte eine Frau, nicht, und
A:
Prima era
A:
Früher war das so! Aber heute nicht! [lacht] Heute
così! Ma adesso no! [lacht] Adesso no. [alle lachen] Prima si girava l’uomo
nicht. [alle lachen] Früher kurvte der
per trovare una ragazza, no [.] per
Mann herum, um sich ein Mädchen zu
vedere [.] se gli piace. Eh, adesso
suchen, nicht, um zu schauen, ob sie ihm gefällt. Eh, heute
L:
E allora
L:
Und so bin ich dort mit dem
giravo con la moto lì, dopo [.] ho visto
Motorrad herumgekurvt, dann hab ich
lei che camminava per la strada, con le
sie gesehen, wie sie auf der Straße ging,
sorelle, dico: „Quella lì mi piace.“ [.]
mit den Schwestern, sagte: „Die dort
Eeh [..] Lì non puoi [.] non puoi
gefällt mir.“ Eeeh – Dort kannst du
fermare a parlare subito. Perché ci è
nicht, kannst du nicht anhalten und
‚verbote‘. [lacht] Non era come [.]
gleich reden. Weil das ist verboten.
come adesso, no.
[lacht] Es war nicht wie, wie jetzt, nicht.
A: Non ce ne ascoltano, non ti ascolta-
A: Sie haben dich nicht angehört, dir nicht
vano, era [.] un po’ [.] la cosa più
zugehört, es war ein wenig eine ernste
seria,
Sache,
L: Allora ho visto che lei no-
L: Also habe ich gesehen, dass sie ni-
A:
A:
la cosa, invece adesso no.
L: Ho visto che lei non mi guardava in
diese Sache, heute hingegen nicht.
L: Ich hab gesehen dass sie mich nicht an-
faccia, che ogni tanto si girava, sai,
schaute, dass sie sich immer wieder
come [.] E dopo io [.] sono andato a
wegdrehte, weißt du, wie – Und dann
casa [.] adagio ho bussato la porta, [.]
bin ich zum Haus gegangen, habe vor-
ho parlato con i genitori, no, e ho detto:
sichtig angeklopft, habe mit den Eltern
„Guarda, sono [..] innamorato di Sua
geredet, und habe gesagt: „Schauen Sie,
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figlia, diciamo, mi ha piaciuta, se [.] se
ich bin in Ihre Tochter verliebt, sozusa-
vuole [.] ci sposiamo.“ E lei, suo padre
gen, sie hat mir gefallen, wenn Sie wol-
dice: „Come ti chiami? [.] Come tu ti
len, heiraten wir.“ Und sie, ihr Vater
chiami? [.] Di quale paese sei.“ [..]
sagte: „Wie heißt du? Wie heißt du
Prima, prima si usava questo, questo
denn? Aus welchem Dorf bist du?“ –
[unverst.]
Früher, früher war das so üblich, dieses [unverst.]
A:
Si prendevano informazioni.
L:
E allora,
A:
Man holte Informationen ein.
L:
Und so hat
l’indomani [.] ha detto suo, suo padre
am nächsten Tag ihr Vater gesagt: „Ich
dice: „Io devo [.] devo prendere un po’
muss mir ein wenig Zeit nehmen.“
di tempo.“ Dopo [.] prima si usava che
Dann, früher war es üblich, dass wenn
quando una persona non si conosceva,
man eine Person nicht kannte, ging der
il papà andava a prendere informazioni
Vater Informationen einholen, ob ich ein
[.] se io ero un criminale [.] o se io ero
Krimineller sei, oder ob ich ein braver
un bravo ragazzo, o un cattivo ragazzo,
Junge sei, oder ein böser Junge, weißt
sai.
du.
A: Eh, si prendevano informazioni.
A: Eh, man holte Informationen ein.
L:
L:
E dice: „Prima
Und er sagte:
che si fa-, prima che si piglia mia figlia,
„Bevor er sich, bevor er sich meine
[.] devo sapere chi è questa persona,
Tochter greift, muss ich wissen, wer
no!“
diese Person ist, nicht!“
A: Se la famiglia era brava [unverst.]
A: Wenn die Familie anständig war [unverst.]
L:
E dopo poi,
L:
Und dann, als ihr Vater all diese
suo padre quando ha preso tutte queste
Informationen eingeholt hatte, – habe
informazioni, [..] ho domandato io
ich gefragt, wie es aussieht, hat er ge-
come va, dice: „Lei è perfetta persona,
sagt: „Sie sind die perfekte Person, ge-
adatto a questi informazioni, tutto okay.
mäß den Informationen, alles okay. Sie
Lei può venire a casa, [.] può venire,
können ins Haus kommen, können kom-
poi parlare con la figlia, e [.]“
men, dann reden, mit der Tochter, und“
A: Ma non si poteva uscire. [.] Per uscire,
A: Aber man konnte nicht ausgehen. Um
come adesso, no, viene il ragazzo, si
auszugehen, wie jetzt, nein, kommt ein
prende la ragazza, vanno via, stanno –
Junge, nimmt sich ein Mädchen, gehen
nonono, non era così! [lacht]
sie weg, bleiben sie – neineinein, so war das nicht! [lacht]
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L:
No, eh, primo
L:
si veniva A:
A:
| 401
Nein, eh zuerst kam man nach
a casa, si parlava, stava un’ora, due,
Hause, man redete, blieb eine Stunde,
così. Si chiacchierava [.] e poi dopo
zwei, so. Man schwatzte, und dann
L:
Quando
L:
Wenn wir
giravamo, doveva venire la sorella, i
spazieren gingen, musste die Schwester,
fratelli o qualche sua sorella assieme.
die Brüder oder eine ihrer Schwestern
Non è che potevamo andare al cinema
mitkommen. Es ist nicht so, dass wir al-
da soli. Allora. Adesso sì, adesso è tutto
lein hätten ins Kino gehen können. Da-
cambiato, oggi la conosci, e domani la
mals. Jetzt ja, jetzt ist das ganz anders,
porti pure al letto! [lacht] Adesso.
heute lernst du sie kennen, und morgen
Prima no! Ou, prima si-, prima di
trägst du sie vielleicht schon ins Bett!
sposarvi, [.] non la potevi neanche
[lacht] Jetzt. Früher nicht! Ou, früher
baciare. [lacht]
ha-, bevor ihr geheiratet habt, konntest du sie nicht mal küssen. [lacht]
(Transkript Lillo 1, 17/10 – 18/12) Auch diese Erzählung ist allerdings nicht so stark auf die Wiedergabe eigener Erfahrungen und Erlebnisse aufgebaut, sondern dient als Exempel dafür, ‚wie es war‘, ‚früher‘, ‚da unten bei uns‘. Die Geschichte geht denn auch über in ein Philosophieren beider Ehepartner über den moralischen Zerfall in heutiger Zeit, über die Jugend, die nicht mehr wisse, was harte Arbeit sei, die viel zu früh alles bekomme – Mädchen, Autos, Drogen –, ohne dafür etwas tun zu müssen, und dann noch erwarten würden, dass man sie unterstütze, wenn sie durch soziale Netze fallen (Transkript Lillo 1, 18/13 – 20/13). Was wir hier zudem erfahren, ist, dass Leonardo sich gezielt eine Frau suchte. Mit 25 Jahren – da hatte er schon einige Jahre als Saisonier in der Schweiz verbracht – sah er offenbar die Zeit gekommen, sich nach einer eigenen Ehefrau umzuschauen. Er hatte die ersten zwei, drei Saisons in Bern, so erzählt Leonardo irgendwann, auf dem Bau gearbeitet und dabei in Baracken gewohnt. Da Leonardo aber mit 25 Jahren nicht mehr auf eine Unterbringung in Baubaracken angewiesen war, sondern eine feste Anstellung in der Zementfabrik hatte, die es ihm erlaubte, im Haushalt seiner Schwester zu leben, wird dabei eher mittelfristig ausschlaggebend gewesen sein, dass Leonardo sich durch eine Heirat ein geordnetes Zuhause in der Migration schaffen wollte. Leonardo fühlte sich offenbar wohl im Haushalt von Schwager und Schwester, er äußert sich keineswegs negativ über seine enge Anbindung an die Familie in der Migration. Vielmehr scheint er diese als ganz normal zu empfinden. Vielleicht war es dann
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auch genauso normal und unhinterfragt Zeit, eine Frau zu finden und eine eigene Familie zu gründen. Und vielleicht war es genauso selbstverständlich, dass man diese Frau ‚da unten bei uns‘ suchte: Eine Frau, die denselben Hintergrund hatte, die in einem Alter war, wo man von ihr erwartete, dass sie das Elternhaus verließ, und die in einem ländlichen Umfeld lebte, wo es neben der elterlichen Landwirtschaft und der Heimarbeit kaum Erwerbsmöglichkeiten für junge Frauen ohne höhere Bildung gab. Und vor allem ein Umfeld, in dem die Mechanismen zur Überprüfung der passenden Verbindung bekannt waren, wo man wusste, wie potentielle Ehepartner/innen beurteilt werden konnten – nämlich über das Einholen von Informationen, wie Leonardo und Angela das oben beschreiben. Ein ‚Gastarbeiter‘ auf Heimaturlaub hat nicht alle Zeit der Welt, sich eine passende Braut zu suchen. Natürlich wäre auch denkbar gewesen, sich eine Braut in der Migration zu suchen, eine allein stehende Fabrikarbeiterin zum Beispiel, die ebenfalls im Alter war, wo es angebracht war zu heiraten. Man hätte Erkundigungen unter den Arbeitskolleg/innen einziehen können, ob jemand eine solch heiratswillige ‚Gastarbeiterin‘ kannte, wie Herr Morellini (Kapitel 6.7) dies getan hat. Es wäre auch möglich gewesen, dass sich Leonardo verliebt hätte in eine Frau, der er in der kleinen Welt, in der er sich in der Migration bewegte – bei der Arbeit (wie das Ehepaar Rocca, Kapitel 7.6) oder in der knappen Freizeit (wie das Ehepaar Agostino, Kapitel 5.6). Dadurch, dass Leonardo in der Zementfabrik wohl in einer typischen Männerbeschäftigung arbeitete und im Haushalt seiner Schwester lebte, waren die Gelegenheiten, jemanden per Zufall kennen zu lernen, wohl eher spärlich. So gesehen erscheint die Entscheidung, sich anlässlich eines Heimaturlaubes eine passende Frau zu suchen, ganz vernünftig. Die Paarwerdung von Leonardo und Angela fand über eine relativ kurze Zeitspanne statt: Leonardo befand sich 1962 in den Ferien in seinem Heimatdorf. In dieser Zeit lernte er Angela kennen, und die Hochzeit fand am 31. Dezember statt. Dann reiste Leonardo wieder in die Schweiz, besorgte einen Arbeitsvertrag für Angela, und nachdem sie diesen erhalten hatte, reiste sie im März, zusammen mit Leonardos Vater, nach Bern zu ihrem frisch angetrauten – und wohl noch kaum vertrauten – Ehemann, um mit ihm in einem kleinen Zimmerchen zu wohnen, in einer Wohnung, die dessen Schwester und ihrem Ehemann gehörte. Die Geschichte zur Paarwerdung wird hauptsächlich von Leonardo erzählt, und es erscheint so, als wäre er auch die treibende Kraft hinter der Eheschließung gewesen. Diese Rolle war ihm ja auch zugewiesen in dem Spiel ‚come si fa le conoscenze giù da noi‘. Angela scheint dabei kaum Mitspracherecht gehabt zu haben – zumindest wird von den beiden in ihrer Schilderung, wie man es gemacht hat damals, nichts dergleichen erwähnt. Persönliche Einschätzungen ih-
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rerseits fehlen ganz, nicht nur hier. Das Bild aus Angelas Einstiegssequenz aufgreifend, nach dem sie sich als eine ihren vorgeschriebenen Weg Beschreitende zeichnet, könnte man spekulieren, dass Angela damit rechnete, früher oder später zu heiraten. Sie hatte dies in ihrer einleitenden biographischen Selbstpräsentation ja auch schon angedeutet. Mit 29 Jahren war es vielleicht auch höchste Zeit, einen Antrag anzunehmen. Vielleicht war für Angela – z.B. aufgrund der Emigration junger Männer im heiratsfähigen Alter – die Auswahl an potentiellen Ehepartnern ebenfalls stark eingeschränkt. Festhalten lässt sich hier, dass Angela keine aktive Rolle in der Partnerwahl hatte, dass diese aber recht einschneidende Konsequenzen hatte, war die Heirat doch gleichzeitig auch mit einer Migration verbunden. Angela kommentiert dies weder positiv noch negativ, sie scheint es ganz einfach akzeptiert zu haben. Die Frage danach, ob Angela eine Migration geplant hatte und was sie für Erwartungen an die Schweiz hatte, beantwortet sie nur ganz einsilbig. Es war einfach so: Sie hat zu Hause gearbeitet, und als Leonardo ihr die Ehe anbot, habe sie geheiratet und sei hierhergekommen, punkt. Wenn wir uns vorstellen, dass Leonardo in Bern im Kreise seiner Kernfamilie lebte (lediglich Angelas Schwiegermutter lebte nicht hier), dann war der von außen besehen fundamentale Wechsel vom ländlichen Bauernleben im peripheren Süditalien zum Leben als Fabrikarbeiterin in einer mitteleuropäischen Stadt vielleicht nicht so viel anders als der Wechsel vom Haushalt der eigenen Familie zum Haushalt des Ehemannes, wie er ‚giù da noi‘ als üblich vorausgesetzt werden kann8. Statt vom Haus am einen Ende des Dorfes ins Haus am anderen Ende des Dorfes zog Angela über mehrere tausend Kilometer in die Wohnung in Bern, in der Leonardo mit seiner Schwester, deren Mann und Kindern, und mit seinem Vater zusammenlebte. Vielleicht war die Migration also, entgegen der Erwartungen der Forscherin, nichts Besonderes für Angela? Ich versuche, mehr von Angela darüber zu erfahren, wie sie Heirat und Migration erlebt hat: E: E [.] Lei è venuta [.] dopo il
E: Und Sie sind nach der Hochzeit gekom-
matrimonio? A:
L:
men?
Sì sì dopo sposata do- dov- ri-
Ja ja nachdem verheiratet nachwo- be- bekommen, den Vertrag der
dopo sono rientrata.
Fabrik, und dann bin ich eingereist.
Eh, dopo quattro me- dopo L: cinque mesi è venuta la moglie, no.
8
A:
ricevere il contratto della fabbrica e
Eh, nach vier Mo-, nach fünf Monaten ist die Ehefrau
Vgl. dazu auch die Geschichte von Serafina Santo in Kapitel 2.
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A:
gekommen, nicht.
Sì a marzo [..] al 19 marzo sono entrata aaa
L:
sì
A:
sposati adaa A:
L:
al trentunooo [..] dicembre
L:
del sessantadue
L:
wir haben geheiratet am am 31.
– Dezember L:
am 31. Dezember
A:
e lei è venuta a marzo qua dopo. Sìsì.
im ’62
L:
und sie ist im März darauf gekommen. Jaja.
A: Al v- al diciannove marzo sono entrata in fabbrica.
A: Am zw- am neunzehnten März bin ich in die Fabrik eingetreten.
L: Sìsì.
L: Jaja.
E: Si ricorda quando è arrivata qui, è arrivata alcuni giorni davanti di
E: Erinnern Sie sich, als sie hier ankamen, sind Sie einige Tage vor Arbeitsbeginn
cominciare a lavorare? Si ricorda? A:
ja
A:
al trentuno dicembre
A:
Ja, im März – am 19. März bin ich eingetreten bei
noi ci siamo
Ssì sono rientrata voglio dire [.] una settimana prima [.] di mar- eh pe- per entrare in fabbrica u- u- una settimana prima [.] sono rientrata. Poi dopo soo rientrata g- giorno diciannove [.] marzo in fabbrica [.] alla ‚Grunfeldstraße’.
angekommen? Erinnern Sie sich? A:
Jja ich bin eingereist sozusagen eine Woche vorher, vor Mär- eh um- um in die Fabrik einzutreten, e- e- eine Woche vorher bin ich eingereist. Taa- dann also bin ich eingetreten am Tag 19 des März, in die Fabrik, an der Grünfeldstraße.
(Transkript Lillo 2, 10/7 – 10/26) Auch hier bleibt Angela sehr nüchtern beobachtend und beschränkt sich auf die Schilderung des Arbeitsantrittes. Das junge Eheleben, die Ankunft in einer fremden Familie in einem fremden Land hingegen wird von ihr nicht angesprochen. Auch die Migration an sich, die weite Reise und der Grenzübertritt, erscheinen nebensächlich. Angela erinnert sich an einige Daten ganz genau, vor allem an das Eintrittsdatum in der Fabrik; an das Einreisedatum hingegen kann sie sich nicht erinnern. Auch zur Reise an sich fällt ihr kaum etwas Erwähnenswertes ein. Aus der Retrospektive scheint das einschneidendste Erlebnis im Zusammenhang mit der Migration das Arbeiten in der Fabrik gewesen zu sein.
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Interessant an der oben zitierten Passage ist die Wortwahl: Während Leonardo das Wort ‚venire‘/‚kommen‘ für die eigentliche Migration benutzt und ich das Wort ‚arrivare‘/‚ankommen‘, entscheidet sich Angela für ‚rientrare‘, das ich hier mit ‚einreisen‘ übersetzt habe. Wörtlich übersetzt bedeutet es jedoch ‚wieder eintreten‘, ‚zurückkommen‘ oder ‚(in einen Raum) hineingehen‘. Dasselbe Wort benutzt Angela auch für ihren Arbeitsantritt. Das Wort evoziert, vor allem in der letzten oben genannten Bedeutung, das Übertreten einer Schwelle und das Sich-Begeben in einen abgeschlossenen Raum. In dieser Bedeutung passt der Begriff sowohl zur Einreise in die Schweiz wie auch zum Eintritt in die Fabrik. Die relevante Fremdheitserfahrung für Angela war also der Eintritt in eine neue Arbeitswelt, und nicht, wie man erwarten könnte, die neue familiäre Rolle und der Haushaltswechsel. Auch nicht besonders einschneidend scheint für sie das Umziehen in ein anderes Land, die Erfahrung der Migration an sich zu sein. Migration könnte in dem Kontext, in dem Angela aufgewachsen ist, ein integraler Bestandteil kollektiver Erfahrung sein. Die Region war peripher und insbesondere in der Nachkriegszeit von Hunger und Armut gezeichnet, so dass vermutlich viele von dort weggingen. Angela hatte Geschwister, die ebenfalls migrierten – vermutlich bevor Angela in die Schweiz ging9. Deren Migrationen führten sie auf unterschiedliche Pfade. Der Bruder arbeitete in Belgien im Bergbau und war dort auch mit einer Belgierin verheiratet. Nun ist er geschieden und lebt pensioniert in Italien, seit Kurzem in zweiter Ehe mit einer Italienerin. Auch eine der beiden Schwestern von Angela verließ ihr Heimatdorf, lebte und arbeitete für einige Zeit in den USA. Auch diese Schwester kehrte zurück nach Italien in ihr Herkunftsdorf. Dass Auswandern (wie auch Rückwandern) in dem Kontext, in dem Angela und Leonardo aufgewachsen sind, üblich war, spiegelt sich in der Selbstverständlichkeit, der Unhinterfragtheit und der stoischen Ruhe, wie sie hier an einem weiteren Beispiel durchscheint. Auf meine Frage, ob Angelas Schwester auch zum Arbeiten nach Amerika gegangen sei, antwortet sie: Sì ehee [lachend] quando esci di casa tua
Ja, ehee [lachend] wenn du dein Zuhause
non è che esci per villeggiatura! [..] Esci
verlässt, dann ist es nicht so, dass du zum
9
Das schließe ich daraus, dass ihr Bruder bereits als Teenager migriert sei, wie Angela sagt, und aus der eher späten Migration Angelas, mit knapp dreißig Jahren. Ich habe keine Angaben dazu, welche Stellung Angela in der Geschwisterfolge hatte und wie groß der Altersunterschied unter den Geschwistern war, gehe aber davon aus, dass letzterer nicht außergewöhnlich groß waren. Ich könnte mir vorstellen, dass Angela die letzte noch zu Hause verbliebene Tochter der Familie war, als sie Leonardo heiratete und nach Bern migrierte.
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per cosa- ah magari! [***] Una che esce
Ferienmachen weggehst! Du gehst weg um
per villeggiatura c’ha i soldi! [.] Ma no
zu – ah das wär’ ja noch! [***] Eine, die
[lacht] quando usciamo noi siamo [.] che lì
weggeht zum Ferienmachen, die hat Geld!
guadagnavamo soldi [.] è quello, per
Aber nicht [lacht] wenn wir weggehen,
lavorare.
dann um Geld zu verdienen, das ist es, zum arbeiten.
(Transkript Lillo 2, 8/23 – 8/28) Man geht also weg zum Geld-Verdienen, und das ist nun mal nötig. Viel Aufheben macht man dabei nicht, alle müssen Geld verdienen, und wenn man’s zu Hause nicht kann, geht man eben anderswo hin. Da ist nicht viel dabei, meint Angela. Da muss aber doch Einiges an neuer Erfahrung gemacht worden sein, finde ich, und will wissen, ob Angela sich denn noch an ihren ersten Tag in Bern erinnern könne. Die Aneignung des neuen Lebensumfeldes Auch diese Frage bringt kaum Erzählung in Gang. Aus ein paar wenigen Sätzen erfahre ich, dass Angela mit ihrem Schwiegervater gereist ist, weil Leonardo nach der Hochzeit in Süditalien gleich wieder zur Arbeit zurück musste, und dass er sie später habe nachkommen lassen, als sie den Arbeitsvertrag per Post erhalten hatte. Auch zum Grenzübertritt sagt Angela nichts konkretes, er sei wie üblich verlaufen. Leonardo beantwortet die Frage nach dem ersten Tag in der Schweiz mit einer Schilderung der unhaltbaren Zustände in den Baracken, die er aus seinen ersten Monaten in der Schweiz kennt (Transkript Lillo 1, 9/33f). Daraus entwickelt sich ein längeres Gespräch über die Wohnverhältnisse von früher und wie sich die Wohnsituation der Lillos nach der Heirat entwickelt hat. Das Paar bewohnte nach der Heirat ein eigenes kleines Zimmer in der Wohnung von Leonardos Schwester, dann eine alte, einfache Wohnung ohne Komfort, bis es endlich in den frühen 1980er Jahren mit der komfortablen, modernen Blockwohnung klappte, die sich die Lillos wünschten und in der sie heute noch wohnen. Alle Wohnorte befanden sich, wie auch die Arbeitsorte, im selben Stadtteil. Die anfänglichen Schwierigkeiten, eine angemessene und komfortable Wohnung zu finden, führen die Lillos nicht etwa darauf zurück, dass sie als Migrierte auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt gewesen wären. Vielmehr behandeln sie auch dieses Thema im Rahmen des Diskurses der harten, aber guten alten Zeiten. Grundsätzlich, so erzählen sie, hätten die Wohnungen damals keine Sanitäranlagen gehabt, man habe sich außer Haus waschen müssen. So erzählt Angela zum
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Beispiel, dass sie ihren Toilettengang immer hinausgeschoben habe, bis sie nach Arbeitsantritt die vergleichsweise modernen Anlagen mit Warmwasser in der Fabrik benutzen konnte. Und Leonardo erzählt, dass er regelmäßig zum Duschen ins nahe gelegene Hallenbad ging. Die Migration und die Auseinandersetzung mit dem fremden Umfeld nach der Migration werden von den Lillos auch auf Nachfragen hin kaum thematisiert, ausser im Hinblick auf die Wohnsituation. Die Geschichte der Wohnverhältnisse des Ehepaares Lillo ist gezeichnet von langsamen, aber stetigen Verbesserungen, die sich mit dem Laufe der Zeit, der Modernisierung ergeben. Das Verhalten der Lillos in diesem Prozess ist ähnlich wie ihre Haltung in der Migration resp. bei der Arbeit: Sie akzeptieren die Bedingungen in ihren Grundzügen, nehmen sie nicht persönlich, sondern ‚es war halt damals so‘. Sie stellen sich auf diese Bedingungen ein, richten ihr Leben und ihre alltäglichen Gewohnheiten danach aus. Nur in sehr bescheidenem Maße versuchen sie, die ihnen von außen vorgegebenen Bedingungen zu verändern: Sie suchen nach neuen Wohnungen und warten geduldig, bis sich ihnen günstige Gelegenheiten bieten, und wenn sie intervenieren, dann stellen sie es keineswegs so dar, als wäre ihr Aktivwerden ausschlaggebend gewesen für die Veränderung. Die Zeiten haben sich in dieser Hinsicht einfach günstig für sie entwickelt – ganz ähnlich, wie in der Einstiegssequenz Leonardo seine Arbeitskarriere schildert. Es ist meistens auch Leonardo, der aktiv wird, wenn sich eine Chance bietet. Bezeichnenderweise tut er dies über persönliche Beziehungen. Er spricht Personen direkt an, bittet sie aktiv um Unterstützung, präsentiert deren Einsatz für ihn dann aber als deren ganz ureigenen Verdienst. Leonardo arbeitet also sehr wohl aktiv an der Veränderung der Handlungsbedingungen, ohne aber explizit darauf hinzuweisen. Im Gegenteil, er zieht es vor, sich als bescheidene, zurückhaltende Person zu zeichnen, der von anderen Personen in machtvolleren Positionen gönnerhaft geholfen wird – genau wegen seiner aufrichtigen und bescheidenen Wesensart. Diese Zeichnung seiner Person widerspiegelt sich auch in Leonardos Beziehung zu seiner Arbeit und seinem Arbeitgeber. Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist es nicht die Migration als Wechsel von einem gesellschaftlichen Kontext in einen anderen und die integrativen Auseinandersetzungen mit dem fremden gesellschaftlichen Umfeld, die im Zentrum der biographischen Selbstpräsentationen von Angela und Leonardo stehen, sondern die Arbeit. Arbeit ist, wie anhand der Einstiegssequenzen bereits dargelegt, der zentrale Inhalt der Lebensgeschichten nach der Migration, ja in der gesamten Biographie von Angela und Leonardo. Dies bestätigte sich im weiteren Gespräch: Auch wenn die Lillos durch meine Fragen immer wieder Angebote bekommen, über ihre Migrationserfahrungen außerhalb des Arbeitsle-
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bens zu reden, nutzen sie diese Gelegenheiten kaum. Über ihre Arbeit in der Schweiz hingegen reden beide ausführlich.
6.4 ARBEIT IM Z ENTRUM DER S ELBSTPRÄSENTATION
BIOGRAPHISCHEN
Angela hat auf die Frage, wie sie ihr Leben verbracht habe, mit ‚Lavorando!‘ geantwortet, als wäre damit ihr Leben allumfassend umschrieben. Leonardo begann seine Lebensgeschichte mit der Arbeitsmigration in die Schweiz und füllte sie dann aus mit einer Anstellung, bei der er ‚sein Leben gemacht‘ hat. Für beide ist also Arbeit ein zentraler Aspekt ihrer Biographien. Angelas Arbeit in der Fabrik: Die Herausforderung sozialer Integration Als Angela migrierte, verfügte sie über keine qualifizierte Berufsausbildung. Sie hatte vorher vor allem in der Subsistenz- und Landwirtschaft gearbeitet, und ihre Erfahrung mit Lohnarbeit war gering. Wie viele junge Frauen in Süditalien war auch Angela zu einer Schneiderin in die Lehre gegangen. Danach hatte sie, auch das nichts Ungewöhnliches, in Heimarbeit für eine Firma Stickarbeiten gemacht. Die Heimarbeit diente vor allem dazu, etwas Bargeld für den Haushalt zu generieren. Wenn Angela in Italien geblieben wäre, so sagt sie, wäre sie auch in der Landwirtschaft geblieben, wie der Rest ihrer Familie (Transkript Lillo 1 5/22f). Doch sie blieb nicht, sondern heiratete einen Mann, der als ‚Gastarbeiter‘ in der Schweiz lebte. Und es war so selbstverständlich, dass sie ihm dorthin folgte, dass sie dies nur ganz kurz als Station in ihrer Lebensgeschichte erwähnt, ohne Details dazu zu erzählen. Genauso klar war es, dass man ihr in Bern eine Arbeit organisierte. So wie sie zu Hause mittels Arbeit zur Familienökonomie beigetragen hat, trägt sie auch nach der Heirat und dem Umzug in den Haushalt des Ehemannes zu deren Familienökonomie bei. Ohne Arbeitsvertrag hätte Angela zudem damals, auch als Ehefrau, keine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz bekommen. Und eine Arbeit zu finden, war sehr einfach: Leonardos Schwester fragte bei ihrem Arbeitgeber und bekam ohne Umschweife einen Vertrag für ihre zukünftige Schwägerin (Transkript Lillo 2, 11/18f). Arbeit war ein unhinterfragter Teil des Lebens, eine unerlässliche Bedingung zur Sicherung der Existenz. So war es im Dorf in Süditalien, und so war es auch in der Migration. Doch das Umfeld, in dem Angela arbeitete, veränderte sich mit der Migration deutlich.
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Insomma, per venire qua, certo non lo
Im Ganzen, herzukommen, klar wusste ich
sapevo che cos’era che affrontavo. [.]
nicht, was mich erwartete. Weil gewohnt
Perché abituata che ero in casa mia voglio
wie ich es war, zu Hause, will heißen, ich
diree [.] mi alzavo, stavo seduta in casa
stand auf, blieb zu Hause sitzen, arbeitete,
mia, lavoravo [.] ma per venire qua [.] ah
aber um hierher zu kommen, ah, ich wusste
non sapevo che io dovevo andare aaa
nicht, dass ich in die Fabrik gehen würde
lavorare in fabbrica. Sai, ero un pooo’ [.]
zum Arbeiten. Weißt du, ich war ein wenig
paurosa per il lavoro [.] come si mh si
ängstlich wegen der Arbeit, wie man mh
doveva presentare voglio dire mh su questo
man sich präsentieren muss, will sagen, auf
lavoro queste cose, no? Ma dopo piano
dieser Arbeit, so was, nicht. Aber dann, mit
piano mi sono [.] abituata così [.] e son’
der Zeit, hab’ ich mich daran gewöhnt, und
passati questi anni. [.] Grazie a Dio.
so sind die Jahre vergangen. Gott sei Dank.
(Transkript Lillo 2, 9/28 – 9/34) Der große Wechsel in Angelas Alltag bestand darin, dass sie für die Arbeit das Haus verlassen musste, sich in einen anderen Lebensbereich begeben musste, in dem andere Regeln galten. Regeln, die Angela nicht kannte, und das ist es, was sie damals am meisten beunruhigt hat: Wie verhält man sich in der Fabrik richtig? Die ‚Fabrik‘, die Angelas neuer Arbeitsort wurde, war die Firma Berger, die elektronische Apparate hergestellte. Angela erhielt von Beginn weg eine Bewilligung als Jahresaufenthalterin (B-Ausweis). Angelas Aufgabe dort war das Löten von Kabeln auf Leiterplatten. In dieser Anstellung blieb Angela, bis sie aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig pensioniert wurde. Die Arbeit an sich bereitete Angela wenig Mühe: E: E che cosa ha fatto alla Berger? Che
E: Und was haben Sie bei der Berger
cosa ha lavorato qua?
gemacht? Was haben Sie da gearbeitet?
A: Cose di elettronica, così, telefoni,
A: Für Elektronik-Dinge, so was, Telefone,
L:
L:
Saldare.
Löten.
A: saldare. Capire ‚saldare‘?
A: löten. Verstehen Sie ,löten‘?
L: ‚Löt‘, ‚löt‘.
L: [übersetzt:] ‚Löt‘, ‚löt‘.
E: Sì, sì. Penso che, mhm.
E: Ja, ja. Glaube schon, mhm.
A:
A:
Saldare, così.
Löten, so was. Wir
Facevamo le macchine per telefoni, per
machten die Maschinen für Telefone, für
[..] poi di quello che conosco, mi
– also soviel ich weiß, sagten sie mir,
dicevano, no. [.] Per telefoni, o per
nicht. Für Telefone, oder für militäri-
cosa [.] militare, queste cose. Così. [.]
sches Zeugs, solche Dinge. So was. Und
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E [.] degli scriventi, tutte queste cose si
Schreiber, all die Sachen hat man gear-
lavorava. Questo.
beitet. Das.
(Transkript Lillo 1, 4/17 – 4/26) E: Allora erano 26 anni, 27 anni che Lei ha lavorato alla Berger?
E: Also waren das 26 Jahre, 27 Jahre, die Sie bei der Berger gearbeitet haben.
A: 27 anni. Sì.
A: 27 Jahre. Ja.
E: 27 anni. Mhm. [.] E tutto il tempo ha
E: 27 Jahre. Mhm. Und die ganze Zeit
fatto lo stesso lavoro? A: Sì. Eh be’ [.] tutti i lavori c’erano là di
haben Sie dieselbe Arbeit gemacht? A: Ja. Nun ja, all die Arbeiten die’s dort zu
fare, ho detto, saldare, controllare, ehm
tun gab, hab schon gesagt, löten, kon-
[.] tutto c’era da fare.
trollieren, ehm, alles was zu machen war.
E: Sì.
E: Ja.
A: Sìsì, ho fatto di tutto.
A: Jaja, ich hab alles gemacht.
(Transkript Lillo 1, 5/15 – 5/21) Angela hat also 27 Jahre lang tagein tagaus gelötet, ohne sich besonders dafür interessiert zu haben, was in dem industriellen Prozess entsteht, zu dem sie mit ihrer Arbeit einen Teil beitrug. In dem kleinen Bereich, mit dem sie zu tun hatte, hat sie ‚alles gemacht, was es dort zu tun gab‘ – Kabel gelötet und die gelöteten elektrischen Verbindungen auf ihre Funktionsfähigkeit hin kontrolliert. Details dazu erscheinen ihr hier jedoch nicht erwähnenswert. Die Firma Berger war einer der größeren Industriebetriebe in der Stadt Bern und beschäftigte viele italienische Arbeiter/innen, insbesondere auch Frauen (Soom/Truffer 2000: 126f.). Sie produzierte verschiedene Kommunikationsapparate, vor allem Telefonapparate, und in dieser Art Produktion war es üblich, unqualifizierte Arbeiten wie die Lötarbeiten – das Verkabeln der Leiterplatten – von Frauen verrichten zu lassen10. In den Zeiten des wirtschaftlichen Auf-
10 Frauen verrichteten innerhalb der Firma Berger durchaus auch andere Tätigkeiten, arbeiteten z.B. in der Stanzerei, in gewissen mechanischen Werkstätten oder in der Qualitätskontrolle – Tätigkeitsbereiche, die weniger explizit geschlechtlich segregiert waren. Die Lötarbeiten hingegen galten als typische Frauenarbeit, man hielt Frauen für besonders exakt und zuverlässig (Soom/Truffer 2000: 132). Becker-Schmidt (2007: 259f) interpretiert dies als Übertragungen von klischierten weiblichen Haushaltstugenden auf die Erwerbsarbeit von Frauen, durch welche sie in bestimmten, un-
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schwungs der 1950er und 1960er Jahre waren dies zunehmend ‚Gastarbeiterinnen‘, vor allem Italienerinnen, aber auch Spanierinnen. Die Strategie von Angelas Schwägerin, bei der Firma Berger zu fragen, ob es Arbeit für die Ehefrau ihres Bruders geben würde, war offenbar nichts Außergewöhnliches für die Firma Berger, die ihren Bedarf an Arbeitskräften zu einem großen Teil über informelle Wege deckte (Soom/Truffer 2000: 127). So war es durchaus üblich, dass Frauen, die in die Schweiz migrieren wollten – Bräute, Schwestern, nachreisende Ehefrauen, aber auch alleinstehende junge Frauen – über Verwandte und Bekannte an die Firma Berger vermittelt wurden. Für die Lötarbeiten brauchte man keine spezifischen Vorkenntnisse, wichtig waren Geschicklichkeit und Sorgfalt, alles Weitere wurde den Arbeiterinnen beigebracht. Poi al lavoro c’era anche quelle Italiane
Dann gab es bei der Arbeit auch diese
che insegnavano [***] come si chiama
Italienerinnen, die ausbildeten, [***] wie
questo filo, come non si chiama, come si ve-
dieses Kabel heißt, wie jenes, wie man sah-
Ma noi ci avevamo i libri. [.] E allora su
Aber wir hatten dafür die Bücher. Und in
questi libri c’era [.] l’Italiano e in tedesco.
diesen Büchern war’s Italienisch und in
No! E allora imparavi così, no. Ma solo per
Deutsch. Nicht! Und so hast du’s gelernt,
il lavoro io ho imparato questo. Ma per
nicht. Aber nur für die Arbeit hab ich das
parlare [.] è stato un po’ difficile, non lo so, gelernt. Aber zum sprechen, das war ein perché eravamo tutti Italiane.
bisschen schwierig, weiß nicht, weil wir alle Italienerinnen waren.
(Transkript Lillo 1, 25/6 – 25/21) Die Tatsache, dass Angela bei ihrer Arbeit vor allem mit anderen Italienerinnen zu tun hatte (oder mit Angestellten, die Italienisch sprachen, z.B. im Personalbüro) und dass die Arbeitsabläufe auf italienisch-sprachige Arbeiterinnen ausgerichtet waren (Arbeitsanleitungen in italienischer Sprache), führte dazu, dass Angela 27 Jahre lang in Bern arbeiten konnte, ohne die Umgangssprache erlernen zu müssen. Die konkrete Arbeitsleistung, die ihr die Fabrik abverlangte, konfrontierte Angela nicht mit größeren Schwierigkeiten. Dennoch war die Fabrikarbeit eine gänzlich neue Arbeitserfahrung für Angela, die sie zwar nicht vom Arbeitsinhalt her forderte, sondern es war eher das soziale Gefüge der neuen Arbeitswelt, das ihr fremd war. Der Wechsel von einer ländlichen, frühindustriell anmutenden Arbeitswelt, die durch Landwirtschaft, Subsistenzwirtschaft und Heimarbeit geprägt war, in eine industrialisierte, städtische, fordistisch geprägte
tergeordneten Segmenten der Erwerbsarbeit konzentriert würden, zum Beispiel in der monotonen Routinearbeit mit kleinen Werkteilen.
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Arbeitswelt, in der man in jungen Jahren ‚eintrat‘ und dem Unternehmen über lange Jahre treu blieb, in der man aber auch jeden Morgen mit den Massen der Arbeiter/innen durch das Fabriktor ‚eintrat‘ und tagein tagaus die immer gleiche Arbeit ausführte. Eine Arbeitswelt also, die einerseits von einem engen, paternalistischen, manchmal auch fast familiären Verhältnis zum Arbeitgeber geprägt war, deren Arbeitsalltag andererseits aus monotonen Arbeitsfolgen bestand11. Diese beiden Aspekte widerspiegeln sich in Angelas Schilderungen zu ihrer Arbeitswelt in Bern. E: E com’era il primo giorno? Alla
E: Und wie war der erste Tag? In der Fabrik?
fabbrica? A: Aaah, ma ero un po’ paurosa, timida,
A: Aaah, da war ich also ein wenig ängst-
sa! Eh [.] a confronto vuol’ di dire
lich, schüchtern, wissen Sie! Eh, kon-
della gente che confrontavo per vedere
frontiert, will sagen, mit den Leuten ge-
se era brava se era cattiva se era, ero
genüber, die sehen wollten, ob sie gut ist oder böse oder was, ich war ein wenig
un po’ timida su questi rami, ha capito?
schüchtern in dieser Hinsicht, verstehen Sie?
E: mhmh A:
Perché non conoscevo tanto la gente come vuol’ di dire come [.] era,
E: mhmh A:
Weil ich die Leute nicht so gut
come si rappresentava, no, poi
kannte, wie will heißen wie sie waren,
insomma [..] sono stata contenta pe-
wie sie sich darstellten, nicht, dann kurz
come i svizzeri si sono stati molto bravi
und gut – war ich zufrieden we- wie die
[.] mh come superiori vuol’ di dire
Schweizer sie waren sehr gut, als Vor-
molto bravi.
gesetzte, will sagen, sehr gut.
E: E le colleghe?
E: Und die Kolleginnen?
A: Sì sì, come devo dire finché non ho,
A: Ja ja, wie soll ich sagen solange ich
prendevo l’abitudine di conoscerle [.] e
nicht, ich hab mir angewöhnt, sie ken-
così le ho trovate brave.
nen zu lernen, und so hab ich sie gut gefunden.
E: Ma non c’era nessuna persona che ha
E: Aber war keine einzige Person da, die
conosciuto quando ha cominciato di
Sie gekannt haben, als Sie angefangen
lavorare non era una cugina, o una-
haben zu arbeiten, war da keine Kusine,
11 Zum Fordismus als die Gesellschaft nachhaltig prägendem Organisationsmodus der industriellen Produktion vgl. Mikl-Horke 2007: 71f, Parnreiter 1994: 48f.
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oder eineA:
No no no no no no no no no. Erano tutte altre italiane.
A: Nein nein nein nein nein. Es waren alles andere Italienerinnen. Alles andere Ita-
Tutte altre italiane. Sì c’erano anche
lienerinnen. Ja, sicher waren da auch
pure dalle nostre parti e così. Piano
solche aus unserer Gegend oder so.
piano li cominciavo aaa conoscerle no?
Ganz langsam hab ich sie kennen ge-
Sì ma non c’era nessuno di svizzeri [.]
lernt, nicht? Ja aber da war niemand
non c’era prenessuno perché no i- i- io
Schweizerisches, da war niemand, weil,
e- ero spaventata dicevo io non so
nicht, ich hatte mich erschreckt, sagte,
parlare come faccio io a parlare?
ich kann nicht sprechen, wie mache ich
Invece c’erano delle e- altre italiane
das mit dem Sprechen? Stattdessen wa-
che parlavano svizzero e in tede- aa e in
ren da andere Italienerinnen, die
tedesco e in italiano no? E loro chee mi
Schweizerisch und De-, und Deutsch
imparavano vuol’ di dire no che- sul
und Italienisch sprachen, nicht? Und die
lavoro. [.] Il lavoro. Io lavoravo coi
haben’s mir beigebracht, will nicht hei-
libri, italiano e in tedesco ma si trattava
ßen, dass – auf der Arbeit. Die Arbeit.
cose di colori, cose di lavoro. Tutto
Ich arbeitete mit Büchern, Italienisch
questo, andava bene, ma se dovevo
und in Deutsch, aber es ging um Sachen
parlare non parlavo perché non sapevo
mit Farben, Arbeitssachen. All das, das
[lacht kurz]. Solo questo. Come lavoro
ging gut, aber wenn ich sprechen sollte,
andato tutto bene. [.] Però come per
ich sprach nicht weil ich’s nicht konnte
parlare, così [.] parlavano tutti italiano
[lacht kurz]. Nur das. Was die Arbeit
e il [.] capo parlava italiano, la
betraf, ging alles gut. Aber zum Spre-
segretaria parlava italiano, ma mi
chen, so, sprachen alle Italienisch und
trovavo bene [.] per me [.] per me è
der Chef sprach Italienisch, die Sekre-
andato tutto bene, così. Solo che per
tärin sprach Italienisch, aber ich fühlte
parlare [..] nooo co- non capivo niente,
mich wohl, für mich, für mich ist alles
niente proprio. Per il lavoro andavo
gut gegangen so. Nur fürs Sprechen
bene perché io c’avevo i libri e-e-, tutti
nicht, ich verstand nichts, so gut wie
abbiamo avuto i libri, abbiamo
nichts. Für die Arbeit ging’s mir gut,
imparato tutto per memoria. [..] Tutto
weil ich diese Bücher hatte, wir alle hat-
sapevamo, no, che cosa significa in
ten diese Bücher, wir hatten alles aus-
tedesco tutto questo lavoro. Eh! Solo
wendig gelernt. – Alles wussten wir,
per parlare non era [..] per questo. Ma
nicht, was es in Deutsch heißt, all diese
a me si è trovato bene. Abbastanza
Arbeit. Eh! Nur zum Sprechen war es
bene. [.] Così. Sto contenta.
nicht – dafür. Aber mir ist es gut gegangen. Ziemlich gut. So. Ich bin zufrieden.
(Transkript Lillo 2, 10/27 – 11/13)
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Angelas Ängste vor dem Fremden der Arbeitswelt Fabrik richteten sich vor allem auf die Mitarbeitenden und Vorgesetzten, und nicht auf die Arbeit. Einerseits fürchtete sie sich davor, wie sie als Person aufgenommen werden würde und mit welcher Art Leute sie zu tun haben würde. Dass sie so sehr betont, niemanden gekannt zu haben, wo doch ihre Schwägerin auch bei der Firma Berger gearbeitet hat, lässt annehmen, dass Angela in eine andere Abteilung, eine andere Produktionseinheit eingeteilt worden war. Und es unterstreicht die Hauptaussage Angelas, dass ihr Eintritt in die Fabrik mit einer einschneidenden Fremdheitserfahrung verbunden war. Angela macht zudem deutlich, dass sie sich auch gefürchtet hatte, weil ihr bewusst wurde, dass sie bei ihrer neuen Arbeit mit einer Sprache konfrontiert werden würde, die sie nicht verstand. Die Vermählung mit Leonardo und die Organisation von Angelas Nachreise in die Schweiz wurden über eine sehr kurze Zeitspanne vorbereitet und gänzlich von Angelas Schwiegerfamilie organisiert. Nachdem sie mit ihrem Schwiegervater eingereist und sofort im Haushalt ihrer Schwägerin in Bern aufgenommen wurde, trat sie ihre Stelle bereits nach wenigen Tagen an. Dies war der Zeitpunkt, in dem sie wohl zum ersten Mal bemerkte, dass sie sich zwar noch in einem einigermaßen vertrauten engeren sozialen Netz befand, nämlich demjenigen ihrer Schwiegerfamilie12. Diese lebte jedoch in einem gänzlich fremden Umfeld, und mit dem Arbeitsantritt musste Angela sich nun zum ersten Mal allein darin bewegen. Die mit einer Migration verbundene elementare Fremdheitserfahrung machte Angela also nicht bei der Abfahrt, beim Grenzübertritt oder bei der Ankunft, sondern beim Arbeitsantritt. Beide Ängste, diejenige vor ‚den Leuten‘ wie auch diejenige vor der fremden Sprache, lösten sich mit der Zeit. Eine einfache Lösung eröffnete sich bezüglich der Sprache: Unter den Kolleginnen waren sehr viele andere Italienerinnen, und darauf hatte sich die Firma Berger schon eingestellt. Es gab Handbücher in italienischer Sprache, und es gab Kolleginnen, die etwas Deutsch sprachen und helfen konnten. Die Vorgesetzten wiederum – mehrheitlich Schweizer/innen – sprachen genügend italienisch, um alles, was Arbeit und Anstellungsverhältnis betraf, besprechen zu können. Sprache war also bei der Arbeit kein Problem, da sich Angela mit Italienisch gut durchschlagen konnte und nur einige Fachbegriffe in Deutsch auswendig lernen musste. Angelas Angst vor ‚den Leuten‘ in
12 Obwohl Angela ihre angeheirateten Verwandten vermutlich noch nicht sehr gut kannte, befand sie sich dennoch in einer Situation, die ihr insofern bekannt war, als sie in vergleichbarer Weise entstanden wäre, wenn Angela in Süditalien geheiratet hätte. Auch dort wäre sie nach der Heirat wahrscheinlich in den Haushalt ihrer Schwiegerfamilie gezogen.
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der Fabrik hingegen schien sich etwas langsamer zu legen. Im Gegensatz zu den Sprachproblemen, die Angela vorerst nicht anzupacken brauchte, musste Angela offenbar daran arbeiten, sich nicht mehr als ängstliches ‚ich‘ gegenüber von ‚diesen Leuten‘ in der Fabrik zu fühlen. Und das schien ihr nicht leicht von der Hand zu gehen: Sie musste sich anstrengen, hat sich ‚angewöhnt, sie kennen zu lernen‘, hat nur ‚ganz langsam‘ Kontakt gefunden – Formulierungen, die darauf hindeuten, dass Angela die soziale Integration an ihrem Arbeitsort als mühselige Anstrengung empfand. Wie in ihrer biographischen Einstiegserzählung schildert sich Angela auch hier als eigenständige, aber auch etwas isolierte Person, die handlungsfähig ist und tut, was zu tun ist. Sie tut dies allerdings erst dann, wenn es nicht anders geht, wenn niemand anderes da ist, der/die für sie organisiert und sie mitnimmt. Vielleicht könnte man sagen, dass Angela sich von ihrem Schicksal treiben lässt, dass sie als gegeben nimmt, was sie tut – zu Hause mitarbeiten, zur Schneiderin gehen, heiraten, dem Mann folgen. Diese Stationen in ihrem Leben zählt sie lediglich auf, zwar aus einer subjektiv handelnden Perspektive, doch ohne auf Motivationen oder Folgen dieses Handelns einzugehen. Bei ihrem Arbeitsantritt nun schildert Angela erstmals eine Situation, in der sie handeln muss, um etwas zu verändern. Und sie muss handeln, weil ihre Emotionen aus dem Lot sind: sie ist ‚ängstlich‘, ‚schüchtern‘, und dies sind rare Schilderungen eines retrospektiven emotionalen Zustandes in Angelas biographischer Selbstpräsentation. Die angestrebte Veränderung bezieht sich jedoch nicht auf das Verändern des Kontextes, sondern auf das Verändern ihrer Einstellung zu und ihrer Position in diesem Kontext. Es geht für Angela nicht darum herauszufinden, ob ‚la gente‘/ die anderen ‚Leute‘ nun tatsächlich ‚brava‘/‚gut‘ oder ‚cattiva‘/‚böse‘ waren, sondern es geht darum, Angelas Sicht der ‚Leute‘ zu ändern. Darin schwingt auch wieder ein Akzeptieren des Umfeldes als gegeben mit. Sie ist nun mal in der Schweiz und muss in dieser Fabrik mit all den anderen Arbeiterinnen zusammenarbeiten, also tut sie, was sie tun muss, dass es ihr in diesem Umfeld ‚gut geht‘, dass sie ‚zufrieden‘ sein kann. Ähnlich pragmatisch verhält sich Angela, als sich abzeichnet, dass sie aufgrund wiederholter gesundheitlicher Schwierigkeiten nicht mehr arbeitsfähig sein wird. Über die Umstände ihrer gesundheitlichen Probleme und ihrer frühzeitigen Pensionierung (vermutlich erhielt sie eine IV-Rente bis zum regulären Pensionsalter) spricht Angela kaum. Als ich aber frage, welche Vorstellungen die Lillos vom Pensionärsleben hatten, als sie um die vierzig waren, erzählt Angela kurz davon, wie sie mit ihrer Arbeitsunfähigkeit und dem frühzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben umgegangen ist:
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E: Si ricorda ancora se ha avuto, quando
E: Können Sie sich noch erinnern, ob Sie,
aveva [.] forse 40, 45 anni, delle pro-
als Sie vielleicht 40, 45 Jahre alt waren,
spettive, come sarà l’età di pensiona-
Perspektiven hatten, wie das Pensions-
mento?
alter sein würde?
A: Ma chi la pensava ‘sta cosa? Si
A: Ach wer hätte schon an so was gedacht? Man arbeitete mit 40 Jahren, stell dir
lavorava a 40 anni, tu figurati! [***] non si pensava a quel momento là, per
vor! [***] man dachte nicht an diesen
il pensionamento, no? Si pensava solo
Moment, an die Pensionierung, nicht?
per lavorare, per acquistare e per fare.
Man sorgte sich nur ums Arbeiten, ums
Ma [...] quando è arrivato il tempo [.]
Verdienen und ums Machen. Aber –
per lo pensionamento, così che siamo
wenn die Zeit gekommen ist, die Pensio-
sta-, specialmente io che sono stata
nierung, so wie das bei uns-, besonders
ammalata [.] di questo [.] dopo sì.
ich die ich krank war, davon, dann ja.
E: Lei ha smesso [.] ‘89
E: Sie haben‚’89 aufgehört
A:
A:
E:
a lavorare Sì
A:
’89. [.] E
E: A:
zu arbeiten Ja ’89. Und
allora dopo cosa vuoi che aspetti più, o
dann also was willst du noch erwarten,
dici [..] aspettavo, voglio dire, che non
oder du sagst – ich wartete, will sagen,
potevo più andare a lavorare. Che il
dass ich nicht mehr arbeiten gehen
dottore m’ha detto „No no, Lei signora
konnte. Dass der Doktor mir gesagt hat-
[.] non può lavorare più con queste
te: „Nein nein, Sie können unter diesen
condizioni“ perché non ero capace più
Bedingungen nicht mehr arbeiten“ weil
[.] andare a lavorare. E allora [..] mi
ich nicht mehr fähig war, arbeiten zu
dovevo rassegnare, voglio dire, sì oddio
gehen. Und so – musste ich mich damit
mi alzavo [.] alla mattina con
abfinden, will heißen, ja oh Gott ich
quell’attenzione così, dicevo che, boh,
stand auf, am Morgen, mit der Haltung
adesso andavo a lavorare. Mi sentivo
dass, sagte mir dass, nun, ich arbeiten
più meglio, voglio dire, no? Poi dopo,
gehen würde. Ich fühlte mich so besser,
quando è passato un po’ di periodo di
will ich sagen, nicht? Und dann, als
tempo, voglio dire che lo pensavo il
eine gewisse Zeitspanne vergangen war,
lavoro, capito? Mi piaceva. Eh ma
will sagen dass ich mir die Arbeit dach-
dovevo stare a casa, mi dovevo
te, verstanden? Es gefiel mir so. Aber
rassegnare oramai, hai capito? Mi
ich musste zu Hause bleiben, musste
passavo [..] così. Eh beh, insomma,
mich jetzt schon damit abfinden, hast du
adesso ci siamo rassegnati, no? Dopo
verstanden? Bin zurechtgekommen – so.
[lacht] la ruota è girata! [..] Non era
Na ja, im Ganzen, nun haben wir uns
D AS E HEPAAR L ILLO
che [.] torna indietro!
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abgefunden, nicht? Danach [lacht] hat sich das Rad weiter gedreht! – Nicht dass es sich zurückgedreht hätte!
(Transkript Lillo 2, 41/2 – 41/26) Angelas Strategie im Umgang mit der sich abzeichnenden Arbeitsunfähigkeit ist wiederum geprägt von einer in der Vorbestimmtheit und Unveränderbarkeit ihrer Situation dennoch erstaunlich aktiven Haltung. Sich vorzustellen, man würde arbeiten gehen (‚che lo pensavo il lavoro‘), um sich dann besser zu fühlen, zeugt von Wille und Anstrengung, mit einer schwierigen Situation umzugehen, in der Erkenntnis der Unausweichlichkeit der Bedingungen einen Weg zu finden, sich damit zu arrangieren. Wie schon in der narrativen Konzeption ihrer Kindheit und Jugend sowie ihrer Arbeitsbiographie zeichnet sie sich hier als Subjekt, das in ganz bestimmten, klar begrenzten strukturellen Konstellationen lebt und diese zwar erkennt, aber nicht zu verändern vermag. Dennoch ist sich Angela als Subjekt eines Handlungsspielraumes bewusst, nämlich dass sie ihre ‚Haltung‘, ihre Einstellung zu den sie umgebenden Bedingungen beeinflussen kann. Sie vermag das ‚Rad‘, das sich ständig ‚weiterdreht‘, nicht anzuhalten, sie kann es auch nicht ‚zurückdrehen‘, aber sie kann sich damit ‚abfinden‘, sie kann zurechtkommen, indem sie sich den Bewegungen des Rades anpasst. Leonardos Arbeitskarriere: Unspektakulär erfolgreich mit unperfektem Abschluss Auch Leonardo hatte keine berufliche Qualifikation, als er in die Schweiz kam. Er war noch sehr jung, kaum zwanzig Jahre alt, und hatte ursprünglich vor, in den Staatsdienst einzutreten. Dass er dies überhaupt hätte tun können, spricht dafür, dass Leonardo relativ gut in der Schule war und dass seine Eltern ihn auch länger als unbedingt notwendig zur Schule gehen ließen – obwohl seine Arbeitskraft auch vom Vater für die Landwirtschaft beansprucht wurde. Doch wie weiter oben ausgeführt, entschied sich die Familie Lillo dafür, dass Leonardo die ‚Gastarbeit‘ in der Schweiz dem Staatsdienst vorziehen solle. Leonardo bekam seine erste Arbeit in der Schweiz 1956 über seinen Schwager. Dieser besorgte ihm eine Saisonanstellung als Handlanger bei einer Baufirma, die auf Straßenbau spezialisiert war. Leonardo lebte in Baubaracken, und sowohl die harte Arbeit als auch die unkomfortable Unterbringung sind ihm in lebhafter Erinnerung geblieben. Nach einer oder zwei Saisons wechselte Leonardo in eine Zementfabrik, verrichtete dort allerdings eine nur wenig angenehmere Arbeit. Immerhin ermöglichte ihm die Anstellung in der Fabrik, in beque-
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meren Verhältnissen zu leben, in einem Zimmer bei seiner Schwester und ihrer Familie. Und er konnte mit der Zeit seinen Aufenthaltsstatus verbessern, von der Saisonier-Bewilligung (Ausweis A) zum Jahresaufenthalter (Ausweis B). Dadurch, so hält Leonardo fest, mussten beim Hin- und Herreisen zwischen Apulien und Bern weniger migrationsregulatorische Kontrollen in Kauf genommen werden. L: Als wir herkommen mussten weil wir –
L: Quando noi dovevamo venire che eravamo [.] adesso abbiamo la
jetzt haben wir die Niederlassung hier in
residenza qui in Svizzera [.] quando noi
der Schweiz – als wir die Niederlassung
non avevamo la residenza qui in
hier in der Schweiz nicht hatten, als wir
Svizzera, [.] quando arrivavamo a
in Brig ankamen, mussten wir alle aus-
Briga [.] dovevamo tutti scendere. [.]
steigen.
A:
A passar’ la visita.
L:
A:
A: L:
Um die Untersuchung zu machen. Alle. Alle,
A passar’ la visita. [.] Tutti. Tutti, tutti. A passar’ la visita, uno [.]
alle. Die Untersuchung machen, einer –
eravamo quasi [.] due, tre cento.
wir waren etwa zwei-, dreihundert.
C’era un
A:
Eh! E
Da gab es eine Kontrolle, auf Krankheiten, so.
controllo [.] in caso di malattia, così. L:
Um die Untersuchung zu machen.
L:
Eh! Und
quando una persona era un po’ amma-
wenn eine Person ein wenig krank war,
lato, diciamo, qualcosa, doveva ritor-
gewissermaßen, irgendwas, musste sie
nare dietro. [.] Doveva. [.] Io non sono
zurück umkehren. Musste sie. Ich bin nie
stato mai malato. Ma tutti gli anni [.]
krank gewesen. Aber jedes Jahr wenn
che noi, perché eravamo stagionali,
wir, denn wir waren Saisoniers, wir ar-
lavoravamo [.] sette, otto mesi [.] dopo
beiteten sieben, acht Monate, dann
ritornavamo in Italia, dopo quando,
kehrten wir zurück nach Italien, dann,
dopo la ditta mi mandava il contratto,
wenn, dann hat die Firma mir den Ver-
[.] venivi, dovevi fermare [.] tutti gli
trag geschickt, kamst du, musstest du
anni dovevi fermare a Briga, dovevi
anhalten, jedes Jahr musstest du anhal-
scendere, di passare una visita, quattro
ten in Brig, musstest aussteigen, um eine
ore, di controllo. Intanto, finivano tutte
Untersuchung zu machen, vier Stunden
le persone, dopo il treno [.] aspettava
Kontrolle. Währenddessen, alle wurden
per noi, treno [.] senza riscaldamento.
fertig, dann der Zug, der wartete auf uns, ein Zug ohne Heizung.
(Transkript Lillo 1, 12/17 – 12/31)
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In den frühen 1960er Jahren gelang Leonardo dann die Konsolidierung von Arbeit und Privatleben. 1962 zog seine eben erst geehelichte Frau nach Bern, und kurz darauf fand das Paar eine erste eigene Einzimmerwohnung. Ungefähr in der Zeit, wahrscheinlich etwas vor der Heirat, erhielt Leonardo die Stelle bei derjenigen Arbeitgeberin, bei der er ‚sein ganzes Leben gemacht hat‘: der Firma F. Pauli Apparatebau. Diese Anstellung bei der Firma Pauli, die Leonardos biographische Einstiegssequenz komplett ausfüllt (siehe weiter oben), ermöglicht Leonardo geordnete und saubere Arbeitsbedingungen, und sie erlaubt ihm eine bescheidene Karriere mit Weiterbildungsmöglichkeiten. Zu dieser Firma dazu zu gehören, erfüllt Leonardo mit Stolz. „Quella mia ditta era una ditta che è conosciuta“/„Meine Firma war eine Firma, die man kennt“ (Transkript Lillo 2, 16/39), sagt er zur Begründung, warum er früher bei der Wohnungssuche Wert darauf legte zu erwähnen, wo er angestellt war. Die F. Pauli AG ist eine kleine Firma im Bereich Feinmechanik und Elektronik, die in den 1960er Jahren noch ein klassisches Familienunternehmen war. Damals beschäftigte die Firma etwa dreißig Mitarbeitende, ungefähr die Hälfte davon waren Schweizer, die andere Hälfte ‚Gastarbeiter/innen‘ aus Italien und Spanien (Transkript Lillo 2, 28/34). In der Pauli AG wurden Bestandteile grösserer industrieller Produktionsanlagen entwickelt und produziert. Auch diese Anstellung wurde durch Leonardos Schwager vermittelt. Auf den Stellenwechsel angesprochen, beginnt Leonardo im zweiten Interview noch einmal damit, die fast 35 Jahre Arbeit für die Pauli und seinen langsamen Aufstieg vom unqualifizierten Hilfsarbeiter zum Qualitätskontrolleur Revue passieren zu lassen. L: Dopo ho lavorato [.] nel sotto, nelle
L: Da habe ich dann unten gearbeitet, an
macchine del [.] dei torni. Capisce i
den Maschinen, den Drehbänken. Ver-
torni cosa sono?
stehen Sie, die Drehbänke, was das ist?
E: mhmh
E: mhmh
L: Eh. Ho lavorato per due o tre anni [.]
L: Eh. Habe zwei oder drei Jahre dort
ho lavorato, e dopo [.] dopo di là mi
gearbeitet, und dann, dann haben sie da
hanno visto che ero [.] troppo bravo, [.]
gesehen, dass ich also gut war, haben
mi hanno portato [.] sopra, al reparto
sie mich nach oben gebracht, in die Ab-
delle donne, dove si montavano dei
teilung der Frauen, wo Stücke montiert
pezzi [.] dei pezzi dii [.] conta-metri di
wurden, Stücke zum Stoffmeter-Zählen,
stoffa, [gemurmelt:] Metrizahler.
[gemurmelt:] Metrizahler.
E: Meterzähler, mhm.
E: Meterzähler, mhm.
L: Meterzähler. [.] E lì poi sono stato [..]
L: Meterzähler. Und dort bin ich dann sie-
sette anni col- ho montato questi questo
ben Jahre geblieben mit-, habe dieses
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affare, questi coso qui, e do- sì questi
Zeug montiert, diese Dinger da, und da-
‚metrizahl‘. E dopo poi mi hanno dato
ja diese ‚Metrizahl‘. Und dann haben
la [.] il la roba finale, l’ultima finale,
sie mir die, das die Schlusssache gege-
mi hanno fatto [.] il controllo, sono
ben, das letzte Finale, haben sie mir ge-
stato al controllo, le donne montavano
geben, die Kontrolle, ich bin in der Kon-
delle piccoli pezzi, qualcosa e allora me
trolle gewesen, die Frauen montierten
li portavano a me [.] per controllarli,
kleine Stücke, so was, und dann brach-
per vedere se vanno bene, se non vanno
ten sie sie zu mir, um sie zu kontrollie-
bene [.] e dopo lì sono stato quasi
ren, um zu sehen, ob sie gut liefen oder nicht, und da bin ich dann fast dreißig
trent’anni.
Jahre geblieben. E: mhmh
E: mhmh
L: Sono stato.
L: Bin ich.
E: Mhmh. E questo era un lavoro che Le
E: Mhmh. Und das war eine Arbeit, die Ihnen gefiel?
ha piaciuto? L: Sì, molto molto!
L: Ja, sehr sehr!
E:
E:
L:
Sì? Uh, uh, uh. Avevo
L:
Ja? Uh, uh, uh. Ich hatte
come [.] avevo una [.] una cameretta
wie ein, hatte ein, ein Zimmerchen wo
che la moglie ogni tanto veniva,
meine Frau ab und zu kam, manchmal
qualche volta veniva, avevo il telefono,
kam sie, ich hatte ein Telefon, alles für
tutto per conto mio. No, stavo [.] stavo
mich selbst. Nein, es ging mir, es ging
bene, come un ufficio.
mir gut, wie ein Büro.
(Transkript Lillo 2, 27/5 – 27/29) Leonardo beginnt seine Karriere bei der Pauli AG in einer klassischen Männerdomäne, an den Drehbänken. Räumlich wird diese Arbeit ‚unten‘ ausgeführt, und von dort wechselt Leonardo noch ein paar Jahren ‚nach oben‘. Dieser Wechsel ist nicht nur räumlich eine Bewegung nach oben, sondern auch vom Anspruch an die Arbeit her: Er konnte wechseln, weil man sah, dass er gut arbeitete. Während er an den Drehbänken vermutlich Einzelteile herstellte, wurde in der Abteilung ‚oben‘ montiert – vielleicht das, was vorher ‚unten‘ produziert worden war. Ob der Aufstieg ‚nach oben‘ auch mit einer Verbesserung von Leonardos Position in der Firmenhierarchie verbunden war? Mit einer besseren Entlöhnung auch? Da Leonardo die Montageabteilung ‚il reparto delle donne‘ nennt, ist anzunehmen, dass dort vorwiegend Frauen gearbeitet haben, und ich nehme an, dass montierende Frauen, die keine besonderes Fachausbildung brau-
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chen, wohl kaum besser bezahlt waren als die ‚unten‘ arbeitenden MechanikFacharbeiter. Leonardo hingegen hatte keine mechanische Fachausbildung, sondern zeichnete sich durch seine Zuverlässigkeit und Genauigkeit aus – Eigenschaften, welche ‚oben‘ in der ‚Frauenabteilung‘ gefragt waren. Dass Leonardo als Mann in der ‚Frauenabteilung‘ arbeitete, erscheint ihm hier nicht erklärungsbedürftig. Leonardos weitere Karriere führte ihn, nach mehreren Jahren Montieren unter ‚den Frauen‘, von der Montagehalle noch einmal einen Schritt weiter: im übertragenen Sinne ‚nach oben‘, räumlich nach nebenan, weg vom GroßraumArbeitsplatz zum eigenen ‚Zimmerchen‘ mit Telefon, das Leonardo vorkam wie ein eigenes ‚Büro‘. Im eigenen ‚Büro‘ zu arbeiten, bedeutete einen erheblichen Statusgewinn, es gab Leonardo das Gefühl, einen Wechsel vom Blue-Collar-Job zum White-Collar-Job geschafft zu haben: vom Fabrikarbeiter, der bei der tendenziell schmutzigen Arbeit ein blaues Übergewand braucht, zum Bürolisten, der seine Arbeit am Schreibtisch im weißen Hemd verrichten kann. Büroarbeit ist nicht nur sauberer und weniger anstrengend, sie ist auch mit mehr Freiheiten verbunden. In der Montagehalle Besuch von seiner Ehefrau zu bekommen, wäre undenkbar gewesen, im eigenen ‚Zimmerchen‘ jedoch war das möglich. Das ‚Zimmerchen‘ separierte Leonardo nicht nur räumlich von ‚den Frauen‘ in der Montagehalle, sondern auch im Bezug auf seinen Status. Er machte fortan nicht mehr die Frauenarbeit des Montierens, sondern überprüfte das, was ‚die Frauen‘ vorher montiert hatten. Er wurde dadurch zwar nicht unbedingt formal zu ihrem Vorgesetzten, rückte aber dennoch in eine den Frauen übergeordnete Position vor. Die Qualitätskontrolle war ein verantwortungsvoller Posten: Io li controllavo. Qualche pezzo che non
Ich habe sie kontrolliert. Ein Stück das nicht
andava, io l’avevo imparato un po’ a
ging, ich hatte ein wenig schreiben gelernt
scrivere un po’ il tedesco, [.] quando il
in Deutsch, wenn das Stück nicht ging, habe
pezzo non andava, li scrivevo allora li
ich das geschrieben, dann habe ich es
portavo dietro, me lo riparavano e dopo me
zurückgebracht, sie haben es repariert und
lo riportavano a me. Quando poi dopo [.] si dann haben sie es wieder zu mir gebracht. finiva il controllo che io li controllavo
Wenn dann die Kontrolle fertig war, wenn
questi pezzi qua, ogni pezzo dovevo mettere
ich diese Stücke da kontrollierte, musste ich
lo stampo e il nome mio [..] che quello era
für jedes Stück den Stempel und meinen
già controllato e partivano poi in
Namen setzen, dass dieses schon kontrol-
Americaaa, andavanooo [..] esportazione
liert worden war, und dann gingen sie nach
diciamo.
Amerika, gingen – in den Export sozusagen.
(Transkript Lillo 2, 27/34 – 27/39)
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Dadurch, dass die Belegschaft in der Firma Pauli relativ gut durchmischt war – sie bestand aus Schweizer/innen wie auch aus Italiener/innen und Spanier/innen (Transkripte Lillo 1, 25/22f und Lillo 2, 27/31f) – hatte Leonardo nicht nur mündliche, sondern, wie er oben sagt, auch schriftliche Deutschkenntnisse erworben – eine weitere Qualifikation, die er sich erarbeitet hat. Besonders stolz ist Leonardo auf die Verantwortung, die er mit seinem Posten in der Qualitätskontrolle übernommen hat: Er bürgt mit seiner Unterschrift dafür, dass die ‚Stücke‘, die sein Pult passiert haben, auch funktionstüchtig ihren Weg in den Export antreten. Mit jedem ‚Stück‘ der Firma Pauli AG reist damit auch Leonardos Name in die weite Welt hinaus. Leonardo kontrolliert aber nicht nur die ‚Stücke‘, sondern auch die ‚Frauen‘. Auf dem Weg zu dieser verantwortungsvollen Position in der Qualitätskontrolle, hatte er ja zuerst selber in der ‚Frauenabteilung‘ ‚Stücke‘ montiert, sieben Jahre lang. Eine lange Zeit, in der Leonardo, als Mann unter lauter Frauen, diese Arbeit verrichtet hat. Was hat ihn wohl gereizt an dieser Arbeit? Gewiss, sie war anspruchsvoller als die typische Männerarbeit an den Fräsen, wie er oben erwähnt hat. Aber war sie wirklich auch mit mehr Prestige verbunden? Und mit höherer Entlöhnung? Ich bezweifle das. Was dachten die Männer unten an den Fräsen über Leonardos Wechsel in die ‚Frauenabteilung‘? Und wie wurde Leonardo von seinen Arbeitskolleginnen wohl wahrgenommen? Und dieser vielleicht einzige Mann wird dann befördert, um die Frauen zu kontrollieren. Die Geschlechterverhältnisse am Arbeitsplatz und deren hierarchische Ordnung interessieren mich, und ich versuche, mehr darüber zu erfahren: E: E primo [.] mi ha detto che ha anche
E: Und vorher haben Sie mir gesagt, dass Sie diese Stücke auch montiert haben.
montato questi pezzi. L:
Sì sì, l’ho montato sì sì,
L:
Ja ja, hab
sì sì, ho montato per [.] per sette anni,
ich montiert, ja ja, ja ja, habe montiert,
sette o otto anni ho montato quelli.
sieben Jahre lang, sieben oder acht Jahre habe ich die montiert.
E: Perché mi ha detto che s- erano le donne, mi ha chiesto se erano le donne che hanno fatto questo lavoro.
E: Weil Sie mir gesagt haben, dass es die Frauen waren, habe ich mich gefragt, ob es die Frauen waren, die diese Arbeit gemacht haben.
L: Sì.
L: Ja.
E: E Lei era il solo uomo che ha lavorato
E: Und Sie waren der einzige Mann, der
qua o erano piuttosto donne ma anche
dort gearbeitet hat, oder waren es eher
uomini che hanno fatto questo lavoro?
Frauen, aber auch Männer, die diese
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Arbeit gemacht haben? L: No c’erano pure uomini c’erano no?
L: Nein, es hatte auch Männer, hatte es, nicht?
E: Pure uomini.
E: Auch Männer.
L: Sì sì, sì sì. Soltanto che io [.] sono
L: Ja ja, ja ja. Nur dass ich immer vor-
andato sempre avanti ero, non dico il
wärts ging, ich war, würde nicht sagen
più migliore. [..] Ero m- ero moltoo [.]
der Beste. – Ich war s-, war sehr, Dings,
coso, che capivo le cose no? E allora
dass ich die Sachen begriff, nicht? Und
mi hanno dato il il [.] il controllo finale
so haben sie mir die die, die Schlusskon-
[.] dopo lì non potevi più andare avanti
trolle gegeben, und dort konntest du
perché già i pezzi [.] per potere
nicht mehr weiter gehen, weil die Stücke
controllare, li dovevi prima montare, di
ja schon, um sie kontrollieren zu kön-
sapere [.] come si montano. Se non
nen, musstest du sie zuerst montieren,
sapevi come si montano non potevi fare
um zu wissen, wie sie montiert werden.
il controllo no? E allora io ho imparato
Wenn du nicht weißt, wie sie montiert
sette anni alla [.] montaggio, e dopo ho
werden, kannst du die Kontrolle nicht
fatto il controllo. E sono rimasto poi [.]
machen, nicht? Und so habe ich sieben
sono rimasto a quel livello.
Jahre in der Montage gelernt, und dann habe ich die Kontrolle gemacht. Und ich bin dann geblieben, bin auf dieser Ebene geblieben.
(Transkript Lillo 2, 28/1 – 28/17) Leonardos Antworten auf meine vorsichtigen Fragen im ersten Teil dieses Zitats machen deutlich, dass für ihn nach wie vor kein Erklärungsbedarf besteht bezüglich der Geschlechterspezifik in seinem Arbeitsumfeld, auf die er in seiner Erzählung auch mehrmals verwiesen hat. Nachdem ich insistiere, bietet er dann eine Erklärung an, nämlich diejenige, dass er aufgrund seiner guten Auffassungsgabe ‚immer vorwärts gegangen‘ sei und so von den Drehbänken, wo die Männer gearbeitet haben, über die Montage in der ‚Frauenabteilung‘ die Qualitätskontrolle, das für ihn höchstmögliche Niveau innerhalb der Firma Pauli, erreicht habe. Um dorthin zu gelangen, war es notwendig, diese sieben Jahre in der Montage zu arbeiten, zu lernen, wie die Stücke zu montieren sind, damit man deren Funktionstüchtigkeit überprüfen und beurteilen konnte. So gesehen waren die sieben Jahre ‚Frauen‘-Arbeit ein notwendiger Schritt zum Ziel – einem Ziel, das Leonardo vielleicht schon früh vor Augen hatte. In seinen Erzählungen stellt er seine Karriere so dar, als hätte sie sich ergeben, als sei sie ihm passiert, weil man bemerkt habe, wie zuverlässig und geschickt er sei. Vielleicht hatte er sie
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aber auch aktiv verfolgt, oder man hatte ihm in Aussicht gestellt, dass er in die Position der Qualitätskontrolle aufrücken könne, wenn er zuerst in der Montage arbeite. Seine Beförderung zur Qualitätskontrolle – eine Arbeit, welche seine ebenfalls sehr erfahrenen Mitarbeiterinnen genauso hätten übernehmen können – erzeugte auch keine Störungen in der Harmonie des Betriebes. Mit den Frauen, die er ‚kontrollierte‘, verband ihn, wie Leonardo betont, ein sehr gutes Verhältnis: Perché io ero uno [..] che quando la donna,
Weil ich war einer – der wenn die Frau, da
c’era il capo di là [.] ma il capo quello non
gab es einen Chef, aber der Chef, dieser,
stava mai là, come l- gli chiedevi qualcosa,
war nie da, wenn du ihn was fragtest, floh
lui scappava. Invece come mi chiedevano a
er. Hingegen wenn sie mich etwas fragten,
me qualcosa mi dicevano: „Leonardo, [.] n- mir sagten: „Leonardo, dieser Schraubennon va questo giravite, non be-, puoi
zieher geht nicht, kannst du mir was fin-
trovarmi qualche cosa?“ magari
den?“ vielleicht, oder es gab ein Stück das
oppuramente c’era un pezzo che dovevi fare du machen musstest, etwas um besser arbeiqualcosa per lavorare meglio no? E io
ten zu können, nicht? Und ich hab selber
inventavo la roba per conto mio [.] poi
etwas erfunden, dann hab ich dieses Stück,
dopo passavo questo pezzo che io
das ich erfunden hatte, weitergegeben, habe
inventavo, glielo facevano vedere al capo
es dem Chef gezeigt, und dann hat der Chef
[.] e dopo il capo comandava i meccanici e
die Mechaniker bestellt, und sie haben viel-
ne facevano magari dieci, venti pezzi e li
leicht zehn, zwanzig Stück davon gemacht
davano uno [.] ognuno. Però il primo pezzo
und haben allen eines gegeben. Aber das
lo inventavo io, lo inventavo. [.] Sì. E mi
erste Stück habe ich erfunden, hab’s erfun-
volevano molto bene perché quando faceva
den. Ja. Und so mochten sie mich sehr gut,
una donna, eh „Tu Leonardo, non vanno
weil wenn eine Frau machte, eh: „Du,
questo qua sai“, „Dammi qua, te lo t- ti
Leonardo, die da gehen nicht, weißt du“,
aiuto io“. L’ho sempre aiutati io quelli. [.]
„Gib’s mir, ich helfe dir.“ Ich habe denen
No no, mi volevano molto bene, mi
immer geholfen. Nein nein, die mochten
volevano.
mich sehr gern, mochten sie mich.
(Transkript Lillo 2, 31/9 – 31/19) Leonardo konzipiert hier sein Verhältnis zu den Frauen nicht als hierarchisches, sondern als harmonisches: Er ist zwar der Chef der Frauen, er kontrolliert sie, doch ist er nach wie vor auch ihr Verbündeter. Sie tragen ihm die hierarchisch höhere Position, in die er vorgerückt ist, nicht nach, im Gegenteil, sie schätzen ihn. Leonardo bewährt sich, einmal mehr, durch seine Geschicklichkeit und seine Integrität.
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Leonardo schildert seine Karriere in der Pauli AG als lineare Bilderbuchkarriere. Es ging aber nicht ‚immer vorwärts‘, seine Laufbahn ist auch von langen Phasen des Ausharrens geprägt, das Zimmerchen blieb für Jahrzehnte Leonardos Arbeitsplatz. Auch das unschöne Ende seiner Berufskarriere erwähnt Leonardo nur ganz beiläufig: Wenn wir uns an die Einstiegssequenz erinnern, dann wissen wir, dass Leonardo nach etwa dreißig Jahren Arbeit in der Qualitätskontrolle entlassen wurde, die Frauen jedoch ihre Stelle behalten konnten. Eine bittere Erfahrung: Leonardos Posten war also entbehrlich, auf die Qualitätskontrolle konnte man verzichten, nicht aber auf die montierenden Frauen. Leonardo bearbeitet auch diese Erfahrung in seiner biographischen Rekapitulation, indem er narrativ Kontinuität herstellt. E:
L:
E [.] quando la ditta non aveva più il
E: Und als die Firma keine Arbeit mehr
lavoro era questo riparto che era
hatte, war es diese Abteilung, die ge-
chiuso?
schlossen wurde?
Sì sì ques-. La ditta poi non aveva [.]
L: Ja ja dies-. Die Firma hatte dann keine
più ordinazioni dell’America, pezzi n-.
Bestellungen mehr aus Amerika, Stücke
Era in crisi, [.] era. E allora tutti i
n-. Sie war in der Krise, war sie. Und
uomini poi, la [.] ha detto „guarda“,
deshalb dann alle Männer, die – hat ge-
ci hanno chiamato, dice „non c- si può
sagt „schau“, sie haben uns gerufen,
andare avanti“. Dalle volte io me ne
sagten „w- man kann nicht weiterma-
vergognavo [.] che mi dava lavori [.]
chen“. Manchmal habe ich mich ge-
piccoli, come come ai bambini. Mi
schämt, dass er mir kleine Arbeiten gab,
piaceva a me, però hm [.] per il
wie wie für Kinder. Mir gefiel es, aber
padrone [..] non era buono per fare
hm, für den Patron – war das nicht gut,
lavoretti di donna, qualche lavoretto
kleine Frauen-Arbeitchen zu machen,
piccolino no? E allora un giorno poi
irgendein kleines Arbeitchen, nicht?
mi chiamò ha detto [.] „Eh signor
Und so hat er mich dann eines Tages
Lillo [.] Lei“ [.] come altri persone
gerufen, hat gesagt „Eh Herr Lillo,
che- [.] „non c’è più lavoro.“ Io mi
Sie“, wie andere Personen die- „es hat
so’ stato licenziato uno dei [.]
keine Arbeit mehr.“ Ich wurde entlassen
dell’ultimi che sono andato via. Mi
als einer der, der letzten die weggegan-
hanno tenuto per vedere se mi arriva il
gen sind. Sie haben mich behalten um zu
lavoro, se arriva lavoro. Ma visto poi
sehen, ob für mich noch Arbeit kommt,
che lavoro no- non ce n’era, [.] ha
ob Arbeit kommt. Aber da es dann keine
detto „dobbiamo darci“ dice „i tre
Arbeit mehr gab, hat er gesagt „wir
mesi“ dico „no no, non fa niente, se
müssen euch“ sagte er „die drei Monate
non c’è lavoro, cosa vuoi fare?“ E
geben“, sagte ich „nein nein, das macht
dopo mi hanno dato i tre mesi, e hanno
nichts, wenn’s keine Arbeit hat, was
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tenuto solo quattro donne, [.] hanno
willst du da machen?“ Und so haben sie
tenuto, e stanno lavorando con quattro
mir die drei Monate gegeben, und haben
cinque donne ancora, è ancora aperta
nur vier Frauen behalten, haben sie be-
la fabbrica.
halten, und sie arbeiten immer noch mit vier, fünf Frauen, die Fabrik ist noch offen.
(Transkript Lillo 2, 28/18 – 28/30) In dieser Erzählung darüber, wie es zu Leonardos Entlassung gekommen ist, bemüht er sich sehr ausgeprägt darum, die Firma Pauli und insbesondere den Patron von jedweder Schuld zu entlasten. So nennt Leonardo den konkreten Überbringer der Nachricht über die Notwendigkeit von Entlassungen nicht beim Namen, lässt das Substantiv im Satz einfach weg: Die Männer wurden zusammengerufen, jemand – die Firma vielleicht – hat gesagt, dass ‚man‘ – und nicht, wie Leonardo zuerst sagen wollte, ‚wir‘ – nicht mehr weitermachen könne. Konkreter Ausdruck davon, dass die Geschäfte für die Pauli AG schlecht liefen, dass die Bestellungen aus Amerika ausblieben, war für Leonardo, dass er nichts mehr zu tun hatte. Die Firma, personifiziert im Patron, bemühte sich um Leonardo und wies ihm Arbeiten zu, die nicht zu seinem normalen Aufgabenfeld gehörten, die auch nicht seiner Qualifikation entsprachen. ‚Lavoretti di donna‘ nennt Leonardo das, kleine Arbeiten, wie Frauen und Kinder sie erledigen können. Nicht dass Leonardo etwa damit ein Problem gehabt hätte, nein! Und ‚geschämt‘ hat sich Leonardo auch nicht deswegen, weil er Arbeiten erledigen musste, die unter seiner Würde lagen. Geschämt hat er sich für die Erniedrigungen, die der Patron auf sich nehmen musste, indem er gezwungen war, Leonardo solch unwürdige Arbeiten zuweisen zu müssen. Und so hat Leonardo in seiner narrativen Konstruktion im Endeffekt seinem Patron einen Gefallen getan, als er ging, hat dem Leiden des Patrons damit ein Ende gesetzt. Leonardo ist also keineswegs aufgrund eigenen Verschuldens entlassen worden – im Gegenteil, er war einer der letzten, man hatte ihn möglichst lange behalten, gehofft, dass es wieder würdigere Arbeiten für ihn gäbe. Dem Patron, so Leonardos Darstellung, war sehr an Leonardo gelegen, er hätte ihn wirklich gern weiter beschäftigt, wurde aber durch äußere Umstände, durch strukturelle Zwänge dazu genötigt, nicht nur die unpersönlich bleibende Gruppe der anderen männlichen Arbeiter in der Montage, sondern auch Leonardo in der Qualitätskontrolle zu entlassen. Somit entlastet Leonardo seinen Patron und seine Firma auch vom Motiv der Gewinnsucht, des unternehmerischen Denkens auf Kosten der sozialen Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern. Dass die anderen Männer, die an den Fräsen arbeiteten, entlassen wurden, kann durchaus mit Um-
D AS E HEPAAR L ILLO
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strukturierungen und Redimensionierungen zu tun haben. Vielleicht verzichtete die Firma vorübergehend auf die Entwicklung neuer Apparate, vielleicht verlagerte sie die Produktion der zu montierenden Einzelteile ins Ausland. Die Montage hingegen wurde offenbar beibehalten. Nur Leonardo als Garant für die Funktionstüchtigkeit der Apparate wurde überflüssig, nicht jedoch die Apparate selbst und die sie montierenden Frauen. Die Kontrolle derjenigen Stücke, die noch produziert wurden, füllte offenbar Leonardos Arbeitszeit nicht mehr aus. Er hätte für die restliche Zeit in der Montage eingesetzt werden können – er, der ja über solch fundierte Kenntnisse über die Montage verfügte. Dass dies nicht der Fall war, könnte damit erklärt werden, dass Leonardos Arbeitskraft vielleicht, verglichen mit derjenigen ‚der Frauen‘, zu teuer war. Gegen Leonardo könnte auch gesprochen haben, dass er zu alt geworden war, dass ‚die Frauen‘ inzwischen schneller und besser montierten als er. Oder dass Leonardos Qualitätskontrolle durch andere Kontrollmechanismen ersetzt wurde. Doch darüber will Leonardo nicht reden, er konstruiert sich den Schluss der Geschichte lieber so, dass er dem Patron und der Firma einen Gefallen getan hat, indem er die Kündigung akzeptiert habe. Immerhin, so beschließt er seine Geschichte, hat die Firma die schwierigen Zeiten erfolgreich überstanden, sie produziert heute noch in der personell abgespeckten Form weiter. L: E vanno avanti così, piano piano, e
L: Und so machen sie weiter, langsam, und
c’hanno [.] sette otto donne così. [.] E
sie haben etwa sieben, acht Frauen.
ma a me mi piaceva quel lavoro, ogni
Und aber mir gefiel diese Arbeit, jedes
volta, ogni anno io vado sempre a
Mal, jedes Jahr gehe ich noch vorbei zu
trovarli, no? E vado „Eeh! Wie
Besuch, nicht? Und ich sage „Eeh! wie
geht’s?“ [lächelt]
geht’s?“ [lächelt]
[***]
[***]
E: E Lei conosce anche quelle donne che
E: Und Sie kennen diese Frauen noch, die
lavorano qua o non sono più le stesse?
dort arbeiten, oder sind es nicht mehr dieselben?
L:
Sì
eh beh sono L: Ja
eh ja es sind drei Frauen, drei
[.] sono tre donne, tre [.] tre donne che
Frauen, die ich kenne drei oder vier von
conosco tre o quattro donne di quelle
damals als ich noch arbeitete, nicht?
[.] che quando lavoravo io no? Ma poi
Aber dann sind da noch fünf andere
ci sono cinque donne altre che sono [.]
Frauen, die sind, die ich nicht kenne.
che io non conosco. Però ogni anno io
Aber jedes Jahr gehe ich immer noch im
vado sempre a dicembre lì a trovarli lì
Dezember hin, sie besuchen und, nicht,
a noo ee [.] li do la mano a tutti, sto lì
eh, schüttle allen die Hand, bleibe ein
428 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Stündchen dort und gehe. Und er,
un’oretta là e vado. E lui, „Lillo“ fa „non c’è lavoro qua, andiamo avanti
„Lillo“, macht er, „es gibt hier keine
giusto“ perché il padrone non paga
Arbeit, wir kommen gerade so durch“,
l’affitto della fabbrica perché la
weil der Patron zahlt keine Miete für die
fabbrica è sua no?
Fabrik weil die Fabrik gehört ihm, nicht?
E: È sua.
E: Gehört ihm.
L: Sì. Se doveva pagare l’affitto, ehh
L: Ja. Wenn er Miete zahlen müsste, eeh
doveva pagare quindici ventimila
müsste fünfzehn- zwanzigtausend Fran-
franchi di a- e allora, doveva chiudere.
ken bezahlen, dann müsste er schließen.
Perché io, il papà suo, di questo Pauli,
Weil ich, sein Vater, von diesem Pauli,
mi voleva bene, molto bene a me.
der meinte es gut mit mir, sehr gut, mit
Perché quando sono entrato io ero il
mir. Weil als ich eintrat, war ich der
più ragazzo delle altre persone. Io sono
jüngste, verglichen mit den anderen. Ich
entrato [.] giovanissimo là no. Mi
bin dort sehr jung eingetreten, nicht. Er
voleva molto bene perché sapeva che
meinte es sehr gut mit mir weil er wusste
quello che mi diceva [.] già subito non
dass was er mir sagte, war sofort schon
c’era problemi. [.] Non c’era- [.]
erledigt. Es gab kein- Es gab Schweizer,
C’erano i svizzeri che so- erano di
Berufsleute, die studiert hatten, und ich
mestiere [.] che hanno studiato, [.] e io
arbeitete mit Praxis. Aber mit meiner
lavoravo con pratica. Però la mia
Praxis arbeitete ich dreimal mehr als
pratica lavoravo per tre volte più di
sie. Und der Patron hat geschaut und
loro io. E allora il padrone guardava
gesagt: „Wie, du mit deiner Schule
dice „Come, tu c’hai la scuola monti
montierst dieses Stück, und er, und du
questo pezzo qua e lui [.] e l’hai
hast dieses Stück studiert, Theorie und
studiato questo pezzo, teoria e pratica“
Praxis“, ich hingegen machte alles auf
io invece facevo tutto in via di pratica e
dem praktischen Weg und arbeitete –
io lavoravo [..] il tre doppio di più,
dreimal so viel, arbeitete ich. Und der
lavoravo. Eh il padrone era molto
Patron war sehr zufrieden. Sehr zufrie-
contento. Molto contento, sì sì.
den, ja ja.
E: Poi più tardi ha cambiato, il figlio ha
E: Dann später hat das gewechselt, der Sohn hat die Firma übernommen?
preso la ditta? L: Sì e dopo lui è morto poveretto [.] è
L: Ja und dann ist er gestorben, der Arme, ist sein Papa gestorben.
morto suo papà. E: Quando Lei ha lavorato qua?
E: Als Sie dort gearbeitet haben?
L:
L:
Quando io stavo là sì sì. È morto lì e poi dopo ha [.] il
Als ich dort war, ja ja. Er ist gestorben, und dann hat der
D AS E HEPAAR L ILLO
figlio perché il figlio quando era
| 429
Sohn, weil der Sohn als er Junge war,
ragazzo, piccolino, [.] eh adesso c’ha
klein, eh jetzt ist er fünfundfünfzig,
cinquantacinque cinquantasei anni, l’ho
sechsundfünfzig Jahre alt, habe ich ihn
dovuto imparare io, no, perché il figlio
lehren müssen, nicht, weil der Sohn als
quando andava alla scuola che aveva le
er zur Schule ging, wenn er Ferien
ferie [.] faceva il figl- il papà dice: „Tu
hatte, ließ er den Sohn-, sagte der Va-
adesso [.] vai dal signor Lillo e ti dà il
ter: „Du gehst jetzt zum Herrn Lillo und
lavoro, quello che devi fare.“ Gliel’ho
der gibt dir Arbeit, sagt dir was du ma-
dato io il lavoro a lui no? Adesso lui è
chen musst.“ Ich hab ihm Arbeit gege-
b- è il padrone perché è morto il papà.
ben, nicht? Und jetzt ist er der Patron,
Sì sì. È morta pure la moglie, [.] del
weil der Papa tot ist. Ja ja. Auch die
padrone che la conosco pure. Sì sì. Eh
Ehefrau ist tot, vom Patron, die ich auch
eravamo come una famiglia in quella
kannte. Ja ja. Eh wir waren wie eine
fabbrica lì, mi piaceva molto. Molto, mi
Familie in dieser Fabrik da, mir gefiel
piaceva.
das sehr gut. Sehr gut gefiel es mir.
(Transkript Lillo 2, 29/4 – 29/41) Die oben schon spürbare enorme Loyalität Leonardos gegenüber seiner Firma wird hier nun konkret mit der Person des Patrons und derjenigen seines Sohnes in Verbindung gebracht. Leonardo empfand die Beziehung zur Besitzerfamilie der Fabrik als eine besondere, als eine familiäre Beziehung. Seine Loyalität galt dem älteren Patron in gleichem Maße wie dem jüngeren. Während der SeniorPatron ihm eine fast väterliche Figur war, kannte er den Junior-Patron bereits als Kind, ja hat ihm früher sogar die Arbeiten zugewiesen. Die besondere Beziehung zu den Fabrikbesitzern führt Leonardo in erster Linie auf seine Qualitäten als Arbeiter zurück. In dieser Begründung zeigt sich Leonardos Stolz auf seine beruflichen Fähigkeiten und Errungenschaften noch einmal von einer anderen Seite: dem Verhältnis zwischen theoretischem Wissen und praktischem Können. Als ungebildeter Handlanger ohne formale Qualifikation konnte sich Leonardo ohne weiteres mit den Schweizer Facharbeitern im Betrieb messen, ja arbeitete sogar besser als diese. Und was vor allem zählt: Der Patron anerkannte seine Leistung, nicht nur stillschweigend, sondern öffentlich. Leonardo, der als Jugendlicher eigentlich zur Polizei wollte und seine Berufslaufbahn dann als unqualifizierter Arbeiter in der Schweiz begann, schaffte es durch seine rasche Auffassungsgabe, seine Geschicklichkeit und seine Hilfsbereitschaft, sich eine berufliche Karriere zu erarbeiten, und dies ganz ohne formale Qualifikation. Eine solche hätte er sich durchaus auch in der Schweiz noch erwerben können, auf dem aufwändigen Weg im Schweizer Berufsbildungssystem, oder auf dem einfacheren Weg über Kurse an der italienisch-spra-
430 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
chigen Berufsbildungsschule CISAP in Bern. Formale Anerkennung seiner Fähigkeiten scheint jedoch nicht das zu sein, was Leonardo angestrebt hat. Ansonsten hätte er mir gegenüber sicher stärker betont, dass er die Möglichkeit gehabt hätte, zur Polizeischule zu gehen. Vielmehr scheint ihm an der Anerkennung seines Verstandes und seiner praktischen Fähigkeiten durch sein unmittelbares Umfeld gelegen zu sein. Und diese Anerkennung hat er bekommen, vielleicht nicht von den Facharbeitern, aber umso mehr von seinen Patrons und von den ‚Frauen‘ in der Montageabteilung. Das frühzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben tut dem Bild der erfolgreichen Laufbahn, wie Leonardo sie in seiner Erzählung entwirft, keinen Abbruch. Durch seine Bestrebungen, die Ursachen seiner Entlassung außerhalb des Mikrokosmos Pauli AG zu verorten, sowie durch das Aufrechterhalten der Beziehung zum früheren Arbeitsort schafft sich Leonardo eine Konstanz, eine Verbindung zwischen seinem Erwerbsleben und seinem Leben als Pensionär, welches die Entlassung, die darauf folgende Phase der Arbeitslosigkeit und die frühzeitige Pensionierung als kontinuierliche und konfliktfreie Entwicklung einordnen lassen. Durch die offenbar nach wie vor regelmäßigen Besuche am Arbeitsplatz wirkt die als erfolgreich und erfüllend präsentierte Arbeitskarriere Leonardos auch im ‚dritten Lebensalter‘ noch nach.
6.5 D AS
DRITTE
L EBENSALTER
Schon ganz zu Beginn des ersten Gespräches wurde deutlich, dass in den Interviews mit dem Ehepaar Lillo vor allem ein Thema im Vordergrund stehen würde: das Alter. Beide hatten ihre biographischen Selbstpräsentationen vornehmlich auf ihr Erwerbsleben in der Schweiz und die prekären Bedingungen ihres Alterns ausgerichtet. Das Dilemma, in dem sich Leonardo und Angela sehen, dreht sich um die Entscheidung über ihren zukünftigen Aufenthaltsort: Sollen sie hier bleiben oder nach Italien zurückkehren? Dass diese Entscheidung nun gefällt werden muss, scheint klar zu sein, jedoch zeigen sich die Lillos hinund hergerissen darüber, welche Entscheidung die richtige sei. Ausschlaggebend sind vor allem zwei Dinge: die knappen finanziellen Mittel, die für eine Remigration sprechen, und die gesundheitliche Situation von Angela, welche gegen eine Rückkehr nach Süditalien spricht. Beginnen wir mit ersterem.
D AS E HEPAAR L ILLO
| 431
Erwerbsaustritt und Veränderungen des Lebens durch die Pensionierung Gegenwärtig verfügen die Lillos über ein regelmäßiges Einkommen von etwa dreitausend Franken monatlich, inklusive Ergänzungsleistungen13, sowie einer Hauswarts-Entschädigung von 500 Franken. Nach Abzug der Miete (1350 Franken) und der Krankenkassenprämien (ca. 800 Franken) bleibt wenig für die Begleichung der laufenden Ausgaben übrig. Die Pensionskassengelder haben sich die Lillos ausbezahlen lassen, doch die einst beachtlich erscheinenden 80 000 Franken sind, wie Leonardo sagt, zu einem großen Teil aufgebraucht: Wenn außerplanmäßige Ausgaben anstehen, dann wird auf diese Reserve zurückgegriffen. Die Mittel der Lillos sind knapp, und die Möglichkeiten zur sozialen Unterstützung sind ausgeschöpft. Besonders zwiespältig an der schwierigen finanziellen Situation der Lillos ist, dass sie in Italien Wohneigentum14 besitzen. Zur Beurteilung der Einkommens- und Vermögenssituation von Seiten der öffentlichen und privaten Unterstützungsinstitutionen ist ein häufig beigezogener Anhaltspunkt das in der Steuererklärung ausgewiesene Einkommen und Vermögen. Immobilienbesitz in Italien wird dort als Vermögen angerechnet, und auch wenn das Haus nicht vermietet wird, das Vermögen also keinen Gewinn abwirft, so wird es trotzdem bei Bedürftigkeitsabklärungen mit eingerechnet15. Andererseits ist ‚la casa‘ in Italien im Falle der Lillos auch gerade der Hoffnungsschimmer am Horizont, das Versprechen, bei einem Umzug nach Italien dank der eingesparten Mietkosten ein etwas besseres Leben führen zu können. Die Ursache für die knappen monatlichen Renten der Lillos liegt vor allem im vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beider Ehepartner. Leonardo hatte seine Stelle im Alter von 59 Jahren verloren – ein äußerst ungünstiges Alter, um noch einmal eine Anstellung zu finden. Leonardo bekam, so sagt er,
13 Ergänzungsleistungen heben niedrige Renten mithilfe von Sozialgeldern auf das Niveau des jeweiligen Existenzminimums. 14 Um welche Art Wohneigentum es sich handelt, ist mir nicht bekannt. In der italienischen Sprache wird der Begriff casa sowohl für Haus wie auch für Wohnung gebraucht. 15 Gemäß der Auskunft einer Mitarbeiterin der Pro Senectute, einer privaten Organisation, die in kleinem Umfang auch finanzielle Unterstützungsleistungen an Bedürftige im Alter auszahlt, ist der Immobilienbesitz im Ausland ein oft unterschätzter Stolperstein auf der Suche nach sozialer Unterstützung für alternde Migrant/innen in prekären finanziellen Situationen.
432 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
denn auch keine passenden Angebote von der Arbeitsvermittlungsbehörde. Er besuchte während der Zeit, in der er arbeitslos geschrieben war, auf eigene Kosten einen Massagekurs, für den er ein Diplom erhielt. Nach zwei Jahren Stempeln drohte die Aussteuerung, und zu diesem Zeitpunkt entschied man, Leonardo frühzeitig in Pension zu schicken. Das Massagediplom ermöglicht es ihm heute, ab und zu ein wenig in einem Fitnesscenter zu arbeiten, welches er als Kunde regelmäßig besucht, um ‚in Form zu bleiben‘, wie er sagt. Angela Lillo wurde 1989 im Alter von 56 Jahren pensioniert, nachdem sie während zwei Jahren mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen gekämpft hatte – zeitweise krankgeschrieben oder sogar in Spitalbehandlung – und sich abzeichnete, dass eine Wiedereingliederung in den Arbeitsalltag nicht realistisch war. Insgesamt war Angela also 27 Jahre lang erwerbstätig – deutlich zu wenig, um die für eine volle AHV-Rente notwendige Mindestbeitragsdauer von 40 Jahren zu erreichen. Leonardo war zwar ungefähr 40 Jahre lang erwerbstätig – er war mit etwa 18 Jahren zum ersten Mal in der Schweiz und hat mit 59 Jahren seine Stelle verloren. Ob ihm jedoch die ersten zwei, drei Jahre als Saisonier voll angerechnet wurden, ist nicht klar. Ob nun aufgrund von fehlenden Beitragsjahren oder weil Leonardo in seinem Erwerbsleben sehr tiefe Löhne erhalten hat, ändert nichts an der Tatsache, dass die finanziellen Mittel der Lillos heute knapp sind. Der Alltag der Lillos im Alter ist klar strukturiert, die Aufgaben und Tätigkeiten sind aufgeteilt. Die Erledigung der Arbeiten im Haushalt ist voll und ganz Aufgabe von Angela, während Leonardo relativ viel Zeit außer Haus verbringt. Jeden Morgen verlässt er das Haus und kehrt zum Mittagessen zurück. Dabei erledigt er auch kleinere Einkäufe, kauft frisches Brot, findet aber vor allem Zeit, seine sozialen Kontakte zu pflegen. Dies ist ihm sehr wichtig, er verweist öfter nebenbei auf verschiedenste soziale Beziehungen, die er im Bedarfsfall auch zu nutzen weiß (z.B. bei Papierangelegenheiten, oder früher bei der Wohnungssuche). Solche Beziehungen müssen gepflegt sein, sei es durch Besuche oder gemeinsames Kaffee-Trinken, oder sei es durch ein beiläufiges Schwätzchen auf der Straße. Auch abends verlässt Leonardo das Haus regelmäßig, dreimal die Woche geht er ins nahe gelegene Fitnesscenter, macht etwas Gymnastik, ab und zu hat er Kunden für Massagen, und anschließend trifft er sich mit Freunden zum Kaffee. Angela ist, wie hier und auch an anderen Stellen von beiden angedeutet wird, keine allzu gesellige Person, sie meidet Feste und Menschenansammlungen. Sie pflegt ihre sozialen Kontakte über Telefonanrufe und trifft ab und zu die eine oder andere Freundin für einen kurzen Spaziergang. Die Nachmittage, an denen keine Verabredungen bestehen, verbringen die Lillos zusammen zu Hause. Sie ruhen sich nach dem Mittagessen ein wenig aus oder sehen
D AS E HEPAAR L ILLO
| 433
fern. Aber auch gelegentliche gemeinsame Ausflüge gehören zum Alltag, oder eine kleine spontane Unvernünftigkeit anlässlich des wöchentlichen Einkaufes: E: E durante il giorno, Lei fa anche le
E: Und tagsüber, machen Sie da auch die Einkäufe, zum Beispiel,
spese, per esempio, L:
Sì. s-. No, durante il giorno,
L:
Ja j-. Nein, tagsüber sagen
diciamo, [.] qualche volta usciamo con
wir, manchmal gehen wir mit meiner
la moglie, qualche volta, però normale
Frau zusammen aus, manchmal, aber
la spesa la facciamo una volta alla
normalerweise machen wir die Einkäufe
settimana con la moglie. [***]Andiamo
einmal die Woche mit meiner Frau.
con la macchina, spendiamo 200.- alla
[***] Wir gehen mit dem Auto, geben
settimana e [.] poi compriamo la spesa
200.- pro Woche aus und dann kaufen
per tutta la settimana e [.] dalle volte
wir für die ganze Woche ein, und
andiamo lì al [.] a Schönbühl, [***]
manchmal gehen wir dort ins, in Schön-
compriamo un po’ di vino mercato o
bühl, [***] kaufen etwas günstigen
dove [.] dobbiamo guardare, dove c’è
Wein oder wo, wir müssen schauen, wo
la
es die
A:
dove c’è il mercato, dove c’è
A:
Wo es günstig ist, wo es Aktionen gibt. [lacht]
l’azione. [lacht] L: Andiamo là e
L: Da gehen wir hin und
A:
A:
Andiamo a guardare qualche
Gehen etw- schauen, wo
co-, dove c’è il meno di spendere soldi,
wir weniger Geld ausgeben müssen,
no?
nicht?
L: Dalle vo-
L: Manchm-
A:
A:
Se no non facciamo in tempo
L:
Dalle volte arriva mezzo-
Sonst reicht’s nicht rechtzeitig [lacht] nicht einmal
[lacht] neanche L:
Manchmal wird’s Mittag
giorno e noi stiamo là [..], abbiamo
und wir bleiben dort – haben eingekauft,
fatto la spesa poi c’è quello che vende
dann gibt’s dort diesen, der Bratwürste
‚Bratewürste‘, no?
verkauft, nicht?
E: Sì
E: Ja
L: Allora prendiamo
L: Also nehmen wir
A:
A:
Prendiamo uno di quelli! [lacht]
Nehmen wir eine von denen! [lacht]
434 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
L:
due ‚Bratewürste‘ lì, un po’ di patate fritte e stiamo lì, eh.
L:
zwei Bratwürste dort, ein wenig Pommes Frites, und bleiben dort eh.
(Transkript Lillo 2, 45/13 – 45/38) Für Angela sind das die wenigen Abwechslungen zu ihrem Alltag, und dies hat auch seinen Grund, wie Leonardo anklingen lässt, als ich ihn auf das Klischee der aktiven und junggebliebenen Rentner/innen anspreche: E: Normalmente si dice che quando si è
E: Normalerweise sagt man, dass wenn
pensionato si ha tanto tempo libero e si
man pensioniert ist, hat man so viel freie
ha delle possibilità di fare cose che non
Zeit, und man hat Möglichkeiten, Dinge
si è fatto prima.
zu machen, die man früher nicht gemacht hat.
L: Sì, se è, no, lì bisogna vedere se uno è
L: Ja, wenn man, nein, hier muss man
di salute. Eh, se mia moglie magari no
schauen, ob jemand gesund ist. Eh,
[.] prima anzi, faceva più prima che
wenn meine Frau vielleicht nicht – frü-
adesso. Perché adesso, ti dico, maga-
her jedoch, da hat sie mehr gemacht als
facciamo la camminata e quella si
heute. Weil heute, ich sag dir, viellei-
stanca [.] dopo dobbiamo ritornare a
machen wir einen Spaziergang, und sie
casa [..] Ma io no, appena meno male,
ermüdet, dann müssen wir umkehren,
che sto bene. Eh ma mia moglie come
nach Hause – Aber ich nicht, kaum
cammina un po’ [.] hai in mente, si
schlechter, mir geht es gut. Eh aber
stanca, deve venire a casa allora, allora
wenn meine Frau ein wenig läuft, denk
la cosa più bella era prima, non adesso,
daran, wird sie müde, muss nach Hause
adesso [.] è tutta pieno di sacrifici,
kommen, und so, also das Schönere war
diciamo, quanto più vai più [..] eh [.]
früher, nicht jetzt, jetzt ist alles voller
più complicazioni ci sono. [...] [leise:]
Opfer, sozusagen, viel mehr gehst du
Quello è grave.
nicht mehr – eh, es gibt mehr Komplikationen. – [leise:] Das ist schlimm.
(Transkript Lillo 2, 42/4 – 42/16) Zentral für ein aktives Leben im Alter ist, so betont Leonardo hier, dass man bei guter Gesundheit sei. Ohne dass Leonardo hier explizit wird, wird klar, dass Angelas gesundheitliche Probleme, die bereits mehrfach angedeutet wurden, den Alltag zunehmend prägen – nicht nur denjenigen von Angela, sondern auch den von Leonardo. ‚Das Schöne war früher‘, das Alter hingegen ist in ihrem Fall ‚voller Opfer‘, sagt Leonardo – keine besonders positive Lebenseinstellung. Denn nicht nur die gesundheitlichen, sondern auch die ökonomischen Bedingungen haben sich verschlechtert – dies ist auch derjenige Punkt, den Leonardo und
D AS E HEPAAR L ILLO
| 435
Angela erwähnen, wenn sie danach gefragt werden, was sich in ihrem Leben seit der Pensionierung verändert hat. E: Forse si può dire della prospettiva di
E: Vielleicht kann man sagen, aus der
oggi, come la vita ha cambiato. La vita
heutigen Perspektive, wie das Leben
di lavoro e adesso la vita
sich verändert hat. Das Erwerbsleben und jetzt das
L:
L:
sì
di pensionamento. E:
E:
L: Beh ha cambiato, diciamo, perché
Pensionärsleben.
L: Nun, es hat sich verändert, sagen wir,
prima si lavorava adesso stiamo a casa,
weil früher hat man gearbeitet jetzt sind
diciamo eh! [lacht]
wir zu Hause, sozusagen eh! [lacht]
A: Si guadagnava [.] si spendeva di più,
A: Man hat verdient, man hat mehr ausgegeben. – Du könntest sagen –
[..] Potevi dire [...] L:
ja
L:
Prima ero più–
A:
Adesso non possiamo spendere [lacht, nervös]
Früher war ich –
A:
Jetzt können wir nicht ausgeben [lacht, nervös]
L: Prima ero più soddisfatto perché
L: Früher war ich zufriedener weil wir
avevamo la paga sua, la paga mia,
hatten ihren Lohn, meinen Lohn: so
allora eravamo più contenti. [.] Adesso
waren wir zufriedener. Jetzt
A:
Se vole-
A:
L:
la paga di
Wenn wir etwas wollten, haben wir’s gekauft
vano qualcosa la comperavano L:
der Pensionärslohn,
pensionanti con questo che si paga e
mit dem was man zahlt und dem was sie
quello che ci danno [.] dobbiamo un
uns geben, müssen wir ein wenig ruhig
po’ [..] stare un po’ calmi [lacht]
bleiben [lacht]
A:
stare calmi, calmi! [alle lachen]
A:
ruhig bleiben, ruhig! [alle lachen]
(Transkript Lillo 2, 40/24 – 41/1) Bedenkt man, dass beide in ihrem Erwerbsleben eine Vollzeitbeschäftigung mit wenn auch nicht sehr hohem, so dennoch regelmäßigem Lohn hatten und dass keine Kinder zu ernähren und anzukleiden waren, so kann man davon ausgehen, dass das Ehepaar Lillo sich ein relativ angenehmes Leben leisten konnte, solange
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beide verdienten. Man konnte sich kaufen, was man wollte, ohne jeden Rappen vorher umdrehen zu müssen. Man konnte sich ein Auto kaufen, man konnte Wohneigentum in Italien erwerben, und man konnte dort jedes Jahr Ferien machen. Und dies war, verglichen mit den Lebensbedingungen im apulischen Dorf, ein schöner Erfolg. Doch der war nicht von Dauer, sondern nahm kontinuierlich ab, schon vor der Pensionierung. Durch das frühzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, zuerst von Angela und dann auch noch von Leonardo, wurde das eheliche Einkommen schrittweise reduziert. Die weitere Reduktion zum Zeitpunkt der Verrentung wurde vielleicht vorübergehend etwas dadurch abgemildert, dass gleichzeitig die Pensionskassengelder ausbezahlt wurden. Die finanzielle Situation der Lillos hat sich aber dennoch langsam, aber beständig verschlechtert, die Mittel, die einst reichlich erschienen, wurden immer knapper, je älter die Lillos wurden. Und diese Erfahrung ist es vor allem, die ihr Leben im Alter prägt. Die spezifischen Umstände der Verrentung im Falle von Angela und Leonardo hatten keine zeitlich konkret festgelegte Statuspassage, keine von einem Tag auf den anderen sich verändernden Lebensumständen zur Folge, wie dies im Regelfall bei Pensionierung aus einer Vollzeittätigkeit heraus ist. Vielmehr verlief die Pensionierung in einem langsamen, Jahre dauernden Prozess, der wie oben ausgeführt durch graduelle Verringerung des monatlichen Einkommens bestimmt war. Der Ausstieg aus dem Berufsleben vollzog sich seinerseits nicht von einem Tag auf den anderen, sondern über eine längere Zeitspanne. Bei Angela wurde dieser Prozess durch krankheitsbedingte Abwesenheiten eingeleitet und mündete nach über einem Jahr in die Erkenntnis, dass eine Wiedereingliederung in die Arbeitswelt zusehends unrealistisch wurde. Leonardos Ausstieg aus dem Berufsleben war vorerst ein provisorischer, der sich dann über die Jahre des Stempelns zu einem definitiven wandelte. Selbst Leonardos Entlassung war aufgrund der fehlenden Arbeit über längere Zeit schon zu erahnen. Die Pensionierung und die damit einher gehenden Veränderungen überfielen die Lillos somit nicht aus heiterem Himmel, sondern schlichen sich langsam aber stetig in ihren Alltag ein. Dies gab wenig Anlass, sich mit abrupten Veränderungen reflektierend auseinander zu setzen, aber viel Gelegenheit, die alltäglichen Routinen der sich verändernden Situation anzupassen. Dies widerspiegelt sich auch in der rückblickenden Beurteilung von Leonardo und Angela, wie sich ihre Anpassung an den neuen Lebensabschnitt als Pensionäre vollzogen hat: L: I primi momento era un po’
L: Am Anfang war’s ein wenig
A:
A:
un po’, sì sì
ein wenig, ja ja
D AS E HEPAAR L ILLO
coso, L:
L:
daran gewöhnen.
abituare A:
sì, è vero. L: Ti devi abituare perché [.] prima era
dings, sozusagen, eh aber dann musst du dich
diciamo, eh ma poi ti devi abituare. A:
| 437
gewöhnen ja, das ist wahr.
L: Du musst dich daran gewöhnen weil
un’altra, una vita e adesso c’è un’altra
früher war das ein anderes Leben und
vita che [.] che si deve superare,
jetzt gibt’s ein anderes Leben, das, das
diciamo, deve andare. [.] Si deve
man bestehen muss, sozusagen, es muss
andare sempre con la salute, si deve
gehen. Man muss immer mit der Ge-
andare sempre avanti, per
sundheit gehen, man muss immer vorwärts gehen, damit
A:
sì, veramente
A:
per
L:
L: continuare a stare bene, diciamo.
ja, wirklich damit es einem weiterhin gut geht, sozusagen.
(Transkript Lillo 2, 41/33 – 42/1) Leonardo äußert hier, von Angela bekräftigt, eine sehr pragmatisch-praktische Haltung im Umgang mit sich verändernden Lebensbedingungen – eine Haltung, wie sie sich bisher vor allem in Angelas Erzählungen über Veränderungen in ihrem Leben gezeigt hat. Obwohl Leonardo die konkreten Veränderungen des Lebens nach der Pensionierung nicht benennen kann (‚ein wenig dings‘), versteht Angela genau, wovon er spricht. Die Strategie, auf die sich hier nun auch Leonardo beruft, ist die altbewährte von Angela: Man kann nichts an den Umständen ändern, die sind nun mal anders als früher, aber man kann sich damit abfinden, sich darauf einstellen, dann geht es einem besser. Wichtig im Zusammenhang mit den Lebensbedingungen im Alter erscheint Leonardo der Verweis auf die Gesundheit: Auch der muss man sich anpassen, muss insbesondere im Alter damit rechnen, dass sich da etwas verändert. Diese pragmatische Einstellung passt gut zu der grundsätzlich pessimistischen Haltung gegenüber der Welt und dem Lauf der Dinge, die Leonardo und Angela immer wieder gerne äußern. In verschiedensten Kontexten kommen die beiden auf die sich verändernde Welt zu sprechen, das bereits angesprochene ‚Rad der Zeit‘, das sich unaufhaltsam dreht, und zwar tendenziell nicht zum Guten, sondern zum Schlechten. So wird auch das alltägliche Leben der beiden von diesem ‚Rad der Zeit‘ beeinflusst, und dies unabhängig davon, dass die Lillos migriert sind. Die Migration erscheint in Angelas biographischer Selbstpräsentation allgemein nicht als grundlegend prägende Erfahrung, sondern eher als ein Zufall. Auch Leonardo teilt diese
438 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Sichtweise: Danach gefragt, wie das Leben jetzt wäre, wenn er nicht migriert wäre, findet er, es wäre genau dasselbe, er hätte genauso eine Arbeit finden müssen, um seine Familie voranzubringen (Transkript Lillo 1, 25/43 – 26/8). Das Leben von Angela und Leonardo war geprägt von Arbeit zur Existenzsicherung, und das wäre überall so gewesen, das wird von ihnen nicht mit der Migration in Verbindung gebracht. Dabei ist es nicht so, dass die Lillos, wenn sie auf ihr Leben zurückblicken, nicht auch betonen, wie hart dieses war. Aber sie bringen diese Härte nicht mit ihrer Migration in Verbindung, sondern mit dem ‚Rad der Zeit‘. In Leonardos und Angelas Philosophie ist es nicht die Dichotomie ‚vor der Migration‘ und ‚nach der Migration‘, die ihr Leben prägt, sondern die Dichotomie ‚früher‘ und ‚heute‘. L: Abbiamo fatto una vita veramente [..]
L: Wir hatten ein wirklich – etwas hartes Leben, eh.
un po’ dura, eh. A: Un po’ sacrificato, la gente di prima.
A: Ein wenig voller Opfer, früher.
L:
L:
Dura,
Hart, hart, das sind
dura, non sono questi tempi di oggi.
nicht die heutigen Zeiten. Diese Jungen
Questi giovani di oggi [.] non sanno
heute wissen noch nichts vom Leben.
ancora la vita. [.] Che cosa era la vita.
Wie das Leben war.
Madonna! A:
A:
L: La vita vecchia. Adesso, i giovani di
Madonna!
L: Das Leben von früher. Jetzt, die Jungen
oggi, [.] per quanto sono contenti, [.] a
von heute, wann sind sie denn zufrieden,
18 anni [.] ci hanno la macchina.
mit 18 Jahren haben sie ein Auto.
A: Eeh!
A: Eeh!
L: A [.] a 22 anni, 23, [.] ci hanno la
L: Mit 22 Jahren, 23, haben sie Drogen,
droga, si [unverst.] la droga. E dopo si
sie [unverst.] sich die Drogen. Und
comincia a spruzzare. Prima, quelle
dann fangen sie an zu spritzen. Früher,
cose lì [.] non c’erano.
da gab es solche Sachen nicht.
A:
Non c’erano, non
A: die gab es nicht.
c’erano. L: Era una vita [.] era una vita povera. A:
Die gab es nicht,
L: Es war ein – war ein armes Leben.
Era povera, A:
Es war arm,
la vita povera, però era [.] pulita. [.]
ein armes Leben, aber es war sauber.
Adesso invece ricca, ma è sporca, di
Jetzt hingegen reich, aber dreckig, in
tutto. [.] Non c’è più niente pace, non
allem. Es gibt gar keinen Frieden mehr,
D AS E HEPAAR L ILLO
| 439
c’è più pace. Era meglio prima che
keinen Frieden mehr. Es war besser
erano [.] eh, si mangiava [.] pane e
früher, als sie, eh, man aß Brot und
cipolla, si dice, no! E stavano bene. [.]
Zwiebeln, sagt man, nicht! Und es ging
Adesso che si mangia [.] tutti giorni
ihnen gut. Jetzt wo man jeden Tag gut
bene, noi stiamo male, non stiamo bene
isst, sind wir krank, geht es uns nicht
più! [.] Perché si è girato proprio il
mehr gut! Weil sich die Welt wirklich
mondo, ci ha girato. [.] È vero, è vero,
gedreht hat, hat sich gedreht. Das ist
mammamia, quello che abbiamo
wahr, das ist wahr, meine Güte, was wir
passato noi! Solo dio lo sa. Però [.]
durchgemacht haben! Nur Gott weiß
oggi c’è tanto, ma non c’è pace, niente.
das. Dennoch, heute gibt es so viel, aber keinen Frieden, nichts.
(Transkript Lillo 1, 13/1 – 13/20) Zu der festen Überzeugung, dass sich die Welt immer weiter und immer schneller dreht, mit einer grundsätzlichen Tendenz zum Schlechten, passt die fatalistische Einschätzung der eigenen Handlungsmöglichkeiten, die sowohl Leonardo wie auch Angela wiederholt äußern: Dass es nichts Anderes zu tun gebe, als sich den Umständen anzupassen und nicht zu sehr mit dem eigenen Schicksal zu hadern. L: Abbiamo passato tutti i colori. [.] Un po’ triste, e dopo manomano [.] non
L: Wir haben alle Farben erlebt. Ein wenig traurig, und dann langsam, man darf
dovrei pensare [.] e se no, quando la
nicht denken, weil sonst, wenn die Per-
persona pensa [.] alle cose che non
son denkt, an die Dinge die nicht gehen,
vanno, diventa più ammalata. [.]
wird sie kränker. Wird sie. Und so ha-
Diventa. E allora abbiamo provato
ben wir im Leben versucht vorwärts zu
nella vita di andare avanti e [..] di non
gehen und – nicht blockiert zu sein, so-
essere abbarrato, diciamo.
zusagen.
A: Chi devi adattare [.] arrangiare, voglio
A: Du musst dich anpassen, dich arran-
dire, di quello che si può. Non è che [.]
gieren, sozusagen, so gut man kann.
dire: „Uh, adesso“, no! Devi adattare,
Man soll nicht sagen: „Uh, jetzt“, nein!
oggi questo, domani quello, eh! Devi
Du musst dich anpassen, heute dies,
stare così, basta. Finito. Non ci
morgen das, eh! Musst so bleiben,
dobbiamo fare problemi in modo di dire
basta. Fertig. Wir dürfen uns nicht Pro-
che [.] al posto di stare bene [.] stai
bleme machen, sozusagen, anstatt dass
malato, no. Eh allora [.] è così. [.] Non
es dir gut geht, bist du krank, nicht. Eh
ci finisce più.
also, so ist das. Das hört nicht mehr auf.
(Transkript Lillo 1, 23/27 – 23/34
440 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Angela spricht hier ganz zum Schluss, als Beispiel, einen konkreten Umstand an, in dem man nicht mit dem Schicksal hadern solle, sondern es akzeptieren und sich darauf einstellen müsse: wenn man krank sei nämlich. Und da ist Angela eine, die weiß, wovon sie redet. Angelas Krankheitsgeschichten Durch beide Gespräche hindurch gibt es vielfältige Hinweise und Anzeichen dafür, dass es mit Angelas Gesundheit nicht zum Besten steht. Ihr Alltag ist geprägt von Beschwerden, die ihr die Verrichtung täglicher Aufgaben und Besorgungen erschweren und die sie in ihrer Bewegungsfreiheit außerhalb des Hauses einschränken. Das Gehen fällt ihr auf Dauer schwer, Treppensteigen nimmt ihr den Atem, Bücken bereitet ihr Schmerzen, Lasten kann sie nicht tragen, nicht einmal den Wäschekorb. In der Erledigung ihrer Arbeiten im Haushalt ist sie auf Leonardos Hilfe angewiesen. Deshalb empfindet sich auch Leonardo in seinem Alltag eingeschränkt, und er zeigt sich wenig flexibel im Hinblick auf die Übernahme ihrer Arbeiten im Haushalt. Leonardo findet, er sei bereits genügend ausgelastet durch seine Arbeit als Hauswart, die er im Laufe des zweiten Interviews nebenbei erwähnt – eine Arbeit, die immerhin 500 zusätzliche Franken in die Haushaltskasse einbringt. L: Devo pulire un po’ la moglie non fa
L: Ich muss ein wenig putzen, meine Frau
niente perché non può fare. Devo fare
macht nichts weil sie nicht machen
io.
kann. Das muss ich machen.
E: Sì ho pensato che per Lei [.] forse non è E: Ja ich hab mir gedacht, dass es für Sie vielleicht nicht möglich ist, diese Arbei-
possibile fare questi lavori.
ten zu machen. A:
L: A:
No io non posso no
A:
Nein ich kann nicht nein nein
no no no no no io non posso fare un
nein nein nein ich kann kein Glas
bicchiere voglio dire
machen, das heißt L:
no meno male che c’ho la macchina, una piccola
A:
nein zumindest habe ich nun hier die (Abwasch-)Maschine, eine
macchina che hanno messo adesso no!
kleine Maschine haben sie mir nun hin-
[.] Per lavare così [aufrecht] allora
getan, nicht! Umso [aufrecht] zu wa-
metto tutto dentro, per stare in piedi, se
schen, also tue ich alles rein, aufrecht
no che devo stare piegata così, perché
stehend, sonst müsste ich so gebeugt
la schiena non mantiene [.] perché ho
stehen, weil der Rücken hält nicht, denn
D AS E HEPAAR L ILLO
| 441
avuto un ,Unfall‘ e qua nella schiena ho
ich hatte einen Unfall und hier im Rü-
avuto [leise] eh e adesso [..]
cken hatte ich [leise] eh und jetzt –
E: Unfall?
E: Unfall?
A: Sì perché il primo anno che vinni in
A: Ja, weil im ersten Jahr als ich in die Schweiz kam, hatte ich zwei oder drei
Svizzera ebbi due o tre cadute.
Stürze. E: Ah sì?
E: Ah ja?
A: E allora l’osso lombaro qua [.] che gli
A: Und also der Lendenknochen da, da
anelli si hanno schiacciato. E allora
haben sich die Glieder gequetscht. Und
non mi danno più quando cammino per
deshalb helfen sie nicht mehr, wenn ich
un po’ così mi devo fermare [leicht
ein wenig gehe, und so muss ich anhal-
leidender Unterton] perché non resisto
ten [leicht leidender Unterton] weil ich’s nicht aushalte stehen zu bleiben.
stare in piedi. Allora [.] devo stare così.
Also muss ich so stehen. Eh quando L:
L:
A:
A:
le scale
L:
Und wenn du die Treppen steigst, nicht?
sale le scale no?
[atmet tief] si fa ööh
die Treppen
L:
[atmet tief] macht es ööh
E: le scale
E:
A:
A:
sì perché non c’ho il respiro per
ja weil ich keine Luft bekomme um zu atmen.
potere respirare
E: Und wie sind Sie gefallen?
E: E come è caduta? A:
die Treppen
Ah, sono scivolata sulla neve A:
Ah, ich bin ausgerutscht auf dem Schnee, und so ist das
e cosa così le cose
halt E: A:
quando era giovane
E:
als Sie jung waren
eeeh sì primi A:
eeeh ja die ersten
anni primi anni è stato, primi anni. Poi
Jahre, die ersten Jahre war das, ersten
mi disse il dottore che mi voleva [.]
Jahre. Dann sagte mir der Doktor, dass
imbustare [..] e io il primo ann-
er mich [wörtl.] eintüten wollte – und ich im ersten Jah-
442 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
E:
Cosa è?
E:
Come si A:
A:
L:
Wie sagt man, Leonardo?
dice Leonardo? Eh?
L:
Eh?
Fare lo gesso, per per A:
A: L:
Was ist das?
il gesso [..] Gips, là come si chiama?
L:
Den Gips machen, für für den Gips – Gips, heißt das doch?
E: Ah Gips mhmh
E: Ah Gips mhmh
A: Eh. E non volevo dissi „dammi pure
A: Eh. Und ich wollte nicht, sagte „gib mir
no“ e dopo mi disse „ah, quando
den lieber nicht“ und da sagte er mir,
arriverai agli miei anni allora ti
„ah, wenn du in mein Alter kommst,
ricordi“ ha detto. Eh. Perché io non
wirst du dich erinnern“, hat er gesagt.
volevo, no? Ma se l’ero fatto era stato
Eh. Denn ich wollte nicht, oder. Aber
meglio. [.] Allora dissi „voglio andare
wenn ich’s gemacht hätte, wär’s besser
a lavorare, non voglio stare a casa,
gewesen. Damals sagte ich: „Ich will
devo [.] mi dia questi medicamenti“. Eh
arbeiten gehen, will nicht zuhause blei-
ma [.] hanno fatto niente [.] adesso.
ben, muss – geben Sie mir diese Medika-
L: Eh è così.
mente.“ Eh aber die haben nichts gebracht jetzt. L: Eh, so ist das halt.
(Transkript Lillo 2, 19/9 – 20/9) Die schon mehrmals angedeuteten Rückenprobleme Angelas, und vielleicht auch die Atemnot, gehen also auf einen Sturz in jungen Jahren zurück, bei dem sich Angela, wenn ich sie richtig verstanden habe, eine Lendenwirbel-Verletzung zugezogen hat. Die Ironie an der Geschichte ist, dass die Auswirkungen dieser Verletzung, respektive der verweigerten Behandlung, sich erst im Alter manifestieren – Angela lässt dies in ihrer Geschichte vom Arzt orakelhaft voraussagen. Sie stellt dies nüchtern fest, drückt weder Ärger noch Bedauern über ihr damaliges Verweigern aus. Ob die nicht adäquat behandelte Lendenverletzung auch die Ursache für Angelas frühzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben war, wird nicht explizit so gesagt, liegt aber nahe. Rekapitulieren wir kurz: Was wissen wir denn eigentlich bisher über Angelas Gesundheit? Wir haben in den Erzählungen Einiges nebenbei erfahren, u.a. dass Angela keine Kinder haben konnte und dass sie ihre Arbeit aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Und wir haben Beobachtungen: Angelas Abwesenheit wegen Arzttermin beim ersten Interview z.B., oder ihre Atemnot nach dem
D AS E HEPAAR L ILLO
| 443
Treppensteigen. Das Thema Gesundheit ist somit latent ständig präsent. Obschon die beiden Interviews mehrere Gelegenheiten bieten, auf Angelas Gesundheitszustand und ihre Krankheitsgeschichte zu sprechen zu kommen, tun wir das alle zuerst nicht. Einerseits verhalte ich mich zu Beginn vorsichtig, bin unsicher, ob ich direkt fragen darf, andererseits zeigt sich Angela, so habe ich den Eindruck, ausweichend, sie geht nicht auf das Thema ein oder berichtet nur knapp und nüchtern. Angela will oder kann nicht ausführlich über ihre Krankheitserfahrungen sprechen. Das Thema prekärer Gesundheit ist latent dauernd präsent, expliziert sich aber kaum in narrativen Sequenzen, die Aufschluss über ihre konkreten Erfahrungen und ihren Umgang damit geben könnten. Mit einer Ausnahme: Im zweiten Gespräch beginnt Angela unvermittelt sehr ausführlich, dramatisch und kreativ eine Krankheitsepisode zu erzählen, die über mehrere Seiten Transkription läuft, lediglich von zwei, drei Zwischenfragen meinerseits kurz unterbrochen (Transkript Lillo 2, 21/38 – 25/36). Und es ist nicht etwa eine Erzählung zu derjenigen Krankheitsepisode, die ich erwartet hätte, zur Fruchtbarkeitsbehandlung, die aufgrund von Komplikationen zum Gegenteil geführt hat. Nein, es ist eine andere, bisher noch gar nicht angesprochene Geschichte. Diese lange, sehr lebendige Narration ist die absolute Ausnahme in den Gesprächen mit den Lillos, in denen es sonst kaum längere Geschichten gibt, und wenn, dann werden sie von Leonardo, und nicht von Angela erzählt. In diesem Fall aber ist es Angela, die erzählt. Sie wird dabei förmlich in einen Erzählsog gerissen, während Leonardo und ich fast ganz verstummen. Ausgelöst wird die Geschichte durch mein Insistieren auf dem Thema Gesundheit, nachdem Angela von ihren früheren Stürzen und den im Alter daraus resultierenden Bewegungsbeeinträchtigungen erzählt hat. Im ersten Gespräch hatte Angela eine Operation mit Komplikationen erwähnt, die sie 1964 auf sich genommen hat. Im zweiten Gespräch frage ich Angela danach. Sie sagt wiederum nicht allzu viel dazu, und was sie sagt, konzentriert sich auf ihr eigenes Verhalten in der Sache: A: Eeeh [.] perché quando io sono andata
A: Eeeh weil als ich zu anderen Doktoren
da altri dottori e gli ho parlato che ho
gegangen bin und ihnen erzählt habe,
fatto questa operazione, e mi ha detto
dass ich diese Operation gemacht habe,
„perché ha fatto questa operazione?“
und er mir gesagt hat: „Warum haben
ma cavoli ho detto io „Io non sapevo“
Sie diese Operation gemacht?“, aber
[.] dice „Sì sì ma quando si tratta di
hallo, hab ich gesagt: „Ich wusste das
operazione non lasciare questo dottore
nicht“, sagte er: „Ja ja, aber wenn es
andare a un altro [.] capito?“ Ma io ho
um Operation geht, darf man diesen
detto „non so, non sapevo che mi
Doktor nicht machen lassen, muss zu ei-
444 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
andava male così“ ho detto se- ero io la
nem anderen gehen, klar?“ Aber ich
paziente, e lui era il dottore doveva dire
hab gesagt: „Ich weiß nicht, wusste
„non si può fare questa operazione“.
nicht, dass das schlecht für mich gehen
[***] Come ho avuto questa
würde“ hab ich gesagt, wenn- ich war
operazione, dopo due o tre giorni è
die Patientin, und er war der Doktor, er
venuto questo infiammo.
hätte sagen müssen, „man kann diese Operation nicht machen“. [***] Als ich diese Operation gehabt habe, nach zwei oder drei Tagen ist diese Entzündung gekommen.
E: Sì.
E: Ja.
A: E dopo sono stata sei mesi [.] sei mesi
A: Und dann bin ich sechs Monate geblie-
[.] e dopo mi è andato un’ pochettino
ben, und dann ging es mir ein klein we-
cominciato ad andare un pochettino
nig, fing es an, ein klein wenig besser
meglio meglio meglio, ma bambini non
besser besser zu gehen, aber Kinder
ne ho potuto avere più [..] perchéee [..]
konnte ich keine mehr haben – weeil –
non si poteva fare più.
man konnte nichts mehr machen.
E: Mhmh. Sì, non sono sicuro se ho capito
E: Mhmh. Ja, ich bin nicht sicher, ob ich
bene, Lei non ha potuto avere bambini e
das richtig verstanden habe, Sie konnten
Lei ha pensato o questo dottore ha detto
keine Kinder haben und haben gedacht,
che quando si fa questa operazione è
oder dieser Doktor hat gesagt, dass wenn Sie diese Operation machen, es
A:
Lui diceva „no,
A:
Er sagte: „Machen wir diese kleine Operation,
facciamo questa piccola operazione“
nicht“ E:
e poi sarà
E:
la possibilità di avere bambini A:
ma questa è A:
und dann wäre es möglich, Kinder zu haben Aber das war eine große Operation,
stata una grande operazione non
keine kleine Operation. Und als mich
piccola operazione. E quando me
die anderen Doktoren gefragt haben
l’hanno chiesto gli altri dottori perché
warum [***] und ich gesagt habe, eh,
[***] e io ci ho detto eh io cosa
was wusste ich schon? Eh, ich war die
sapevo? [.] Eh io ero la paziente e lui
Patientin und er war der Doktor, nicht?
era il dottore no? E adesso tutti i
Und nun haben mir alle Professoren
professori me li hanno detto „adesso
gesagt: „Jetzt kannst du keine Kinder
non puoi avere più bambini signora [.]
mehr haben, absolut nicht mehr“.
D AS E HEPAAR L ILLO
non puoi assolutamente“. E: E Lei ha pensato che se fa questa operazione avrà uno. A: È logico lu- lui diceva „no, facciamo questa piccola operazione e dopo vengono i bambini no? [.] Vengono“ Ma dopo non son’ venuti proprio più perché [..] non si poteva avere più. [..] Eh cosa vuoi fare, la vita è così.
| 445
E: Und Sie dachten, dass wenn Sie diese Operation machen, würden Sie eines haben. A: Logisch, er- er sagte: „Machen wir diese kleine Operation, nicht, und dann kommen die Kinder, nicht? Sie kommen“, aber danach sind sie überhaupt nicht mehr gekommen weil – man konnte keine mehr haben. – Eh, was willst du machen, das Leben ist so.
(Transkript Lillo 2, 20/30 – 21/24 Angela konzentriert sich hier auf ihren Umgang mit dem Vorwurf, dass sie vorsichtiger hätte sein sollen, dass sie die Empfehlungen ihres Arztes hätte hinterfragen sollen. Offenbar war für die verschiedenen Ärzte, mit denen Angela später konfrontiert war, ganz klar, dass der damals behandelnde Arzt einen vollkommen unangebrachten Eingriff vorgenommen hatte, und diesen dann auch noch unsachgemäß ausgeführt hatte. Angela scheint mehrmals darauf hingewiesen worden zu sein und wird dadurch in eine Erklärung verlangende Position gedrängt. Sie verweist auf ihr Vertrauen in die professionelle Kompetenz des Arztes, sie hat sich auf die klassische Aufteilung der Rollen in der Arzt-Patienten-Interaktion verlassen, hat erwartet, dass der Arzt sie auf Risiken hinweisen würde. Das Ergebnis war genau gegenteilig zu dem vom Arzt Versprochenen: Die Operation war groß statt klein, und statt dass die Kinder dann einfach so kamen, kamen gar keine mehr. Doch Angela verzichtet hier darauf, ihrem damaligen Arzt die Schuld dafür zuzuweisen – im Gegensatz zu Leonardo, der bei der ersten Erwähnung dieser misslungenen Fruchtbarkeitsbehandlung ziemlich explizit wurde (siehe Kapitel 6.2). Immerhin hat dessen Behandlung auch noch die letzte Hoffnung auf Kinder zerstört, und es hätte mich nicht erstaunt, wenn Angela einen Groll gegenüber ihm geäußert hätte. Doch darum scheint es ihr hier nicht zu gehen, sondern um ihr eigenes Verhalten. Und auch diesbezüglich weist sie ein Verschulden von sich, ‚was habe‘ sie ‚denn schon gewusst‘, das es ihr ermöglicht hätte, sich eigenmächtig über die Meinung ihres Arztes hinweg zu setzen? Vielmehr vertritt sie eine fatalistische und objektivierende Haltung. „Man (und nicht: ich) konnte keine Kinder mehr haben“, so war es einfach, „was willst du machen“. Bedeutet das, dass Angela ihre Kinderlosigkeit akzeptiert hat, sich mit ihrem Schicksal abgefunden hat? Oder ist es eher ein Ausweichen, eine Taktik, um hier im Gespräch einer allzu nahen Auseinandersetzung mit ihren Erlebnissen und Erinnerungen aus dem Weg zu gehen? Oder unter-
446 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
stelle ich der Kinderlosigkeit ganz einfach eine viel zu hohe Bedeutung? Nachdem Angela ihre Ausführungen zur misslungenen Fruchtbarkeits-Operation mit ihrer Standardfloskel abgeschlossen hat, frage ich noch nach der gegenwärtigen Atemnot-Behandlung, die ebenfalls im ersten Gespräch beiläufig erwähnt worden war. Angela geht nur ganz kurz darauf ein, um dann ihre große Geschichte anzukündigen: A: Perché öh c’ho sempre un dolore qua
E:
A: Weil öh ich hab da immer einen
[gehaucht] sempre così no? ci- dovevo
Schmerz [gehaucht], immer so, nicht?
prem- [atmet tief] così per avere questa
Ich musste press- [atmet tief] so, damit
respirazione allora il dottore mi ha
ich Luft bekam, und so hat der Doktor
mandato [.] a questo del cuore no? per
mich geschickt, zu dem fürs Herz, nicht?
vedere com’è come non è queste cose
Um zu sehen, was Sache ist, all das,
no? [.] Ma lui mi ha detto che va tutto
nicht? Aber er hat mir gesagt, dass alles
bene [..] però
in Ordnung ist – aber E:
Con il cuore.
Mit dem Herzen.
Sì m’ha detto che va A:
A:
E:
E con il respiro?
A:
Ja, er hat mir gesagt, alles sei in Ordnung. Aber ich
tutto bene. [.] Però io E:
Eh questo respiro io non lo so perché. [.] Questo
Und mit dem Atem?
A:
Eh, dieser Atem, weiß ich nicht
res- Oh, questa cosa, la devo dire,
warum. Dieser At- Ach, diese Sache, die
devo- devo farla sapere questa cosa mi
muss ich sagen, muss – muss Sie das
hanno fatto.
wissen lassen, diese Sache, die sie mir angetan haben.
(Transkript Lillo 2, 21/29 – 21/39) Die Frage nach ihrem Atem assoziiert Angela mit einer Geschichte, die sie nun erzählen ‚muss‘. Etwas, das ihr widerfahren ist, ja ihr sogar ‚angetan‘ wurde, und das sie nun bekannt machen muss – eine sehr dramatische Einführung, die eine spektakuläre Enthüllungsgeschichte erwarten lässt: Questa cosa [.] è stato successo all’ottanta- Diese Sache ist passiert im Neunundachtzig, nove [***] perché si faceva male ai denti,
[***] weil es an den Zähnen weh machte,
no? Trovammo un dottore per fare questa
nicht? Haben wir einen Doktor gefunden,
una come si dice un controllo così perché
um diese, eine zu machen, wie heißt das,
noi avevamo un dottore qui vicino e morse.
eine Kontrolle so weil wir hatten einen Dok-
D AS E HEPAAR L ILLO
[.] E allora mo’ cercavamo un altro. [.]
| 447
tor hier nebenan und der starb. Und so ha-
Allora eh una amica mia disse „vai a [.] vai ben wir einen anderen gesucht. Da hat mir questo numero“ ha detto „che io l’ho
eine Freundin gesagt „geh zu, geh zu dieser
trovato questo dottore è a Berna“. E siamo
Nummer“ hat sie gesagt „dort hab ich die-
andati là per chiedere questo dottore.
sen Doktor gefunden, er ist in Bern“. Und
Siamo andati, e appena ci ha visti la
so sind wir da hingegangen, um diesen Dok-
segretaria ha detto „ah sì sì“ dice eh „se
tor zu fragen. Wir sind hingegangen, und
volete fermare“ subito eh! „se volete
kaum hat uns die Sekretärin gesehen, hat sie
fermare“ dice „il dottore“ dice [.]„eeh non
gesagt „ah ja ja“ sagte sie eh „wenn ihr
c’aveva nessuno“ [.]e ci siamo fatti una
bleiben wollt“ sofort eh! „wenn ihr bleiben
meraviglia ho detto „come mai che a questo wollt“ sagte sie „der Doktor“ sagte sie, devi prendere sempre l’appuntamento“ ho
„eeh hat gerade niemanden“ und wir haben
detto „e mo’ ci fanno subito subito?“ ho
uns gewundert ich hab gesagt „wie kommt
detto [.] L’ha fatto lui insomma ci ha fatto
das, dass du beim anderen immer einen Ter-
lui questo [.] visionamento e [***] ha detto: min nehmen musst“ hab ich gesagt „und „Signora va tutto bene [.] questi denti,
hier geht’s sofort-sofort?“ hab ich gesagt.
però“ ha detto „questo dentino non ti va
Der hat’s dann gemacht, kurz und gut, hat
bene“ [..] Ma sai io ho sentito così, [***]
er uns diese Untersuchung gemacht und
ho detto: „Beh dottore, io non sento niente.
[***] gesagt: „Es sieht alles gut aus, die
[.] Com’è che questo dentino non va
Zähne, aber“ hat er gesagt „dieses Zähn-
bene?“ „Sì sì signora, questo dentino no va
chen hier ist nicht gut.“ – Aber weißt du,
bene“„Ma, cosa ci da a fare“ ho detto. „Ah ich hab das so gehört, [***] hab gesagt: niente“ ha detto. Mi ha messo là, m’ha fatto „Gut, Doktor, ich spüre nichts. Wie kommt una puntura [.] e questo dente [.] andava e
es, dass dieses Zähnchen nicht in Ordnung
veniva di sopra e sotto e sopra e sotto. „Oh
ist?“ „Doch doch, Frau Lillo, dieses Zähn-
madonna mia“ ho detto „cosa c’è questo
chen ist nicht in Ordnung.“ „Ja aber, was
dente che non mi va bene adesso, prima
gibt es da zu tun?“ hab ich gesagt. „Ah
stavo bene“ ho detto „mo’ e adesso no?“
nichts“ hat er gesagt. Hat mich da hingetan, hat mir eine Spritze gemacht, und dieser Zahn, [das] ging und kam von oben nach unten und oben und unten. „Jesses Maria“ hab ich gesagt „was soll das, dieser Zahn, dass es mir jetzt nicht gut geht und vorher war alles gut“ hab ich gesagt „und jetzt nicht?“
(Transkript Lillo 2, 21/39 – 22/20) Die hier etablierte Struktur der Geschichte – Angela sucht mit einem nichtigen Anliegen einen Zahnarzt auf und wird dann auf ein viel gravierenderes Problem
448 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
aufmerksam gemacht, das man unbedingt behandeln müsse, worauf Angela zwar Zweifel hegt, mangels besseren Wissens und aufgrund des Vertrauens in die Kompetenz des Arztes aber in die Behandlung einwilligt, die dann jedoch nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einer Verschlechterung führt – wiederholt sich in ähnlicher Weise nun mehrmals und steigert sich in ungeahnte dramatische Höhen. Vorerst geht es noch einigermaßen harmlos weiter: All’indomani sono andata e a questa
Am nächsten Tag bin ich zu diesem Fräu-
signorina, la segretaria e gli ho detto:
lein gegangen, der Sekretärin, und habe ge-
„Senta, ieri il dottore mi disse che così e
sagt: „Hören Sie, gestern hat mir der Dok-
così“ ho detto „io non sentivo niente“ ho
tor so und so gesagt“ hab ich gesagt „ich
detto „questo dente, adesso questo dente mi
hab nichts gespürt“ hab ich gesagt „dieser
balla sopra e sotto“ ho detto „cosa c’è a
Zahn, jetzt tanzt mir dieser Zahn rauf und
questo?“ Subito quella si hanno guardati
runter“ hab ich gesagt „was soll das?“ So-
tutti due no? Ha detto: „Cosa c’è“ in
fort haben die beiden einen Blick gewech-
tedesco n’ha detto no? „Cosa c’è che
selt, nicht? Hat sie gesagt: „Was ist los?“
adesso a questa qua non va così“ „Ah vieni
hat sie auf Deutsch gesagt, nicht? „Was ist
vieni vieni“ ha detto. Questo non era
los, dass es jetzt bei dieser da nicht in Ord-
normale questo dottore. [..] Allora sono
nung ist?“ „Ah, kommen Sie, kommen Sie,
andata là l’ha f- l’ha fermato. [..] Ma il
kommen Sie“ hat er gesagt. Der war nicht
dolore me lo sentivo no? [***] E dopo dico
normal, dieser Doktor. Also bin ich hinge-
„Mamma mia ma guarda questo dente cosa gangen, er hat’s be-, hat’s befestigt. Aber mi ha fatto quello, wie, was?“. Parlando
den Schmerz hatte ich immer noch, nicht?
così ha detto „Bah, per quello sei andata,
[***] Und dann hab ich gesagt: „Meine
ma quello non è normale“ ha detto [.]„Ah
Güte, nun schau mal diesen Zahn an, was
madonna santa benedetta“ ho detto, beh!
hat mir der gemacht, wie, was?“ So beim Reden hat [er? sie?] gesagt: „Ach, zu dem bist du gegangen, aber der ist doch nicht normal“ hat [er? sie?] gesagt. „Ah, bei der gebenedeiten Jungfrau“ hab ich gesagt, na!
(Transkript Lillo 2, 22/20 – 22/31) Neu kommt hier hinzu, dass in Angela der Verdacht keimt, dass sie hintergangen wird, dass man – hier sind es der Zahnarzt und seine Assistentin – mutwillig und in böser Absicht gegen sie vorgegangen sei. Nachdem Angela von jemandem – von wem genau, wird hier nicht klar, vielleicht von einer Freundin – darauf hingewiesen worden ist, dass ihr Zahnarzt ‚nicht normal‘ sei, sucht sie sich sofort einen anderen. Sie erklärt dem neuen Zahnarzt ihre Beschwerden und dass
D AS E HEPAAR L ILLO
| 449
der Grund dafür die Behandlung des anderen Zahnarztes sei, dass sie aber nicht wisse, warum dieser sie so behandelt habe (Transkript Lillo 2, 22/31 – 22/36). Doch ihre Hoffnung, beim neuen Zahnarzt Hilfe zu finden, wird bitter enttäuscht: Eh, quello cos’ha fatto? Ha cominciato a
Und dieser, was hat der gemacht? Hat an-
fare delle punture, questo [.] delle punture
gefangen Spritzen zu machen, dieser, Spri-
nelle guance: [.] d’infiammazione. [***]
tzen in die Wangen: Entzündung. [***] Hab
Ho detto: „Ma cosa fa questo?“ Li fa
ich gesagt: „Aber was macht der?“ Macht
sempre alle guance m- mi fa la visita ha
mir immer an den Wangen, die Untersu-
detto „signora“ dice „Lei c’ha tutti i denti
chung macht er, hat gesagt: „Frau Lillo“
tutti bucati“ ha detto. Quello disgraziato là
sagte er, „Sie haben alle Zähne ganz durch-
[schlägt auf Tisch] ma mi viene ogni volta
löchert“, hat er gesagt. Dieser Schurke da
che mi viene, mi viene un nervoso proprio.
[schlägt auf Tisch] mir geht der, jedes Mal
Eh c’è tutti i denti bucati „come ce l’ho tutti wenn, geht der, geht der mir wirklich auf i denti bucati“ „Sì sì signora, ce li
die Nerven. Eh, alle Zähne sind durch-
dobbiamo riparare“ ha detto. [..]„Aha“ ho
löchert, „wie, alle Zähne hab ich durch-
detto io son’ rimasta io questo que- son’
löchert“, „Ja ja, Frau Lillo, wir müssen sie
rimasta come una stupida così. Non mi è
reparieren“, hat er gesagt. – „Aha“ hab ich
venuto in mente di dire „dottore che io i
gesagt bin geblieben, ich Idiotin bin geblie-
denti li tengo sani li tengo buoni i- io sono
ben. Mir ist nicht in den Sinn gekommen zu
venuta per questo non che ho i denti così“
sagen „Doktor, meine Zähne sind gesund,
niente no? Ha incominciato a fare ‘ste
denen geht’s gut, ich bin wegen diesem ge-
punture alle guance. All’indomani quando
kommen, nicht wegen der Zähne“, nichts,
sono andata ho detto „dottore perché mi fai
oder? Er hat angefangen, diese Spritzen in
‘ste punture alle guance?“ „Ah io le faccio
die Wangen zu machen. Am nächsten Tag,
dove voglio signora.“ [..] Ma io ho detto
als ich gegangen bin, hab ich gesagt: „Dok-
ma se questa è è ‘na cosa moderna [.]
tor, warum machst du mir diese Spritzen in
pensavo io so’ forse una cosa moderna non
die Wangen?“ „Ah, ich mache die dort wo
lo so. Va bene, faceva che puliva faceva chi
ich will.“ – Na, hab ich gesagt, wenn das so
lo sa che cosa faceva insomma quando ti
eine moderne Sache ist, habe ich gedacht,
dormentava quello non sapevi.
vielleicht ist das eine moderne Sache, ich weiß nicht. Also gut, hat er gemacht, poliert, wer weiß was er alles gemacht hat, schließlich weißt du das nicht, wenn du betäubt bist.
(Transkript Lillo 2, 22/36 – 22/50)
450 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Auch dieser Zahnarzt entpuppt sich als ‚Schurke‘, der sie böswillig schädigt. Auch diesmal wehrt sich Angela nicht und ärgert sich im Nachhinein über ihre Naivität. Und dann taucht auch schon das nächste Unheil am Horizont auf, ein Zahn, dem es eigentlich gut geht, den man nun aber laut Zahnarzt polieren müsse. Und wie sich schon erahnen lässt, geht dabei etwas schief: Die Assistentin zerstört ihr beim Polieren den benachbarten Zahn, worauf Angela Schmerzen hat, wenn sie etwas Kaltes isst oder trinkt. Sie verlangt wiederum einen Termin und kehrt in die Praxis zurück, konfrontiert die Assistentin mit dem Vorwurf, dass sie ihr die Zähne beim Polieren kaputt gemacht habe, und verlangt den Zahnarzt zu sprechen. Der will jedoch nicht auf ihre Beschwerde einsteigen, er und seine Assistentin hätten ihre Arbeit ordnungsgemäß gemacht. An diesem Punkt der Geschichte fragt sich Angela nun, an wen sie sich denn noch wenden könne. Nach einer kurzen Reflexion darüber, dass sie zu diesem Zeitpunkt eine Beschwerde beim Zahnärzteverband oder so hätte einreichen sollen, dass sie dies aber nicht gewusst habe, fährt sie fort in ihrer Geschichte. Diese scheint sich zunächst zum Guten zu wenden, da der Zahnarzt zu einer korrigierenden Nachbehandlung einwilligt – aber, wie schon zu erahnen ist, auch diese Hoffnung wird herb enttäuscht: Allora mi dice „beh vieni doma- domani a
So sagt er mir: „Gut, kommen Sie morgen
sera“ ha detto [.] dice „domani a sera,
am Abend“, hat er gesagt, „morgen Abend,
verso le cinque, le sei così“ Era di sera, non gegen fünf, sechs, so.“ Es war abends, niec’era nessuno dentro l’ufficio. Viene un
mand war im Büro. Da kommt ein Junge,
ragazzo, un ragazzo che quelli chiamano eh
ein Junge, den sie eh Lehrling nennen. –
apprendistati. [..] Forse che si
Vielleicht sind sie wütend geworden weil ich
arrabbiarono che io gli dissi „Dottore“
sagte: „Doktor“ sagte ich, „aber ich will
dico „ma io non voglio fa-“ e quello voleva
doch nicht-“ und das wollte ich sagen, „ich
dire io „non voglio fare di un apprendista-
will nicht von einem Lehrling behandelt
to, io voglio un dottore, voglio Lei, no, che
werden, ich will einen Doktor, ich will Sie,
me lo faccia Lei, non di un apprendistato“
nicht, dass Sie mir das machen, nicht der
io dicevo „non voglio il ragazzo voglio [.]
Lehrling“ hab ich gesagt, „ich will nicht
voglio Lei, dottore.“ Ma quello [lacht]
den Jungen, ich will Sie, Doktor.“ Aber der
diceva, no: „Ma quello è un dottore lo s- lo
[lacht] sagte, nicht: „Aber der ist ein Dok-
stesso, è un dottore.“ „Ma io [***] non
tor, genau gleich, ist ein Doktor.“ „Aber ich
voglio i ragazzi“ dice io non vo- volevo dire [***] will keine Jungs“, sagte ich, wollte io non voglio apprendistati volevo dire e
nich- wollte sagen, dass ich keine Lehrlinge
non mi arrivavano.
will, wollte ich sagen, es fiel mir nicht ein.
(Transkript Lillo 2, 23/28 – 23/36)
D AS E HEPAAR L ILLO
| 451
Der Verdacht, dass etwas nicht mit rechten Dingen zugehe, kommt Angela auch diesmal, und zum ersten Mal äußert sie ihn auch, zweifelt die Kompetenz des ‚Jungen‘ an, wird aber sogleich zurecht gewiesen und kapituliert. Allora, fine conti, mi fece questo ragazzo
Also, unterm Strich, hat mich dieser Junge
qua, questo apprendistato. Venne con una
da gemacht, dieser Lehrling. Er kam mit
[.] una siringa così ne, che dentro ‘sta
einer, mit so einer Spritze, und in dieser
siringa c’era un liquido [.] blu, così. [.]
Spritze war eine blaue Flüssigkeit, so. Mh.
Mh. E sa quando metti l’ago dopo a quella
Und wissen Sie, wenn man die Nadel dann
siringa così? Non c’era ago, c’era solo
auf die Spritze setzt? Da war keine Nadel,
dove doveva puntare l’ago, no? Allora ha
da war nur das wo man die Nadel aufsetzen
fatto che mi [.] finta di fare la la puntura e
müsste, nicht? Also hat er mir nur vorge-
mi schiacciarono a qua [***] il nervo, mi
macht, dass er eine Spritze machen würde,
spezzarono. Mi fecero gridare [.] dentro [.]
und sie haben mir hier [***] den Nerv
e poi fecero finta che cominciano a fare mi
zerquetscht, haben sie mir. Sie haben mich
cominciare a mettere le la cosa aggiustare
zum Schreien gebracht, drinnen, und dann
il dente no? Ero nera tutta la bocca era
haben sie mir vorgemacht, sie würden be-
nera come quella cosa così. E mo’ s- sai e
ginnen, das Zeug rein zu tun, den Zahn an-
che cosa ne sapevo io di questa roba così e
zupassen, nicht? Ich war schwarz, der gan-
mi hanno fatto bere questa roba. Perché là
ze Mund war schwarz wie das hier. Und
quando mi spruzzarono questa si era china
aber weißt du, was wusste ich schon von
la gola no? e io gli dissi „No“ e la sv- e la
dieser Sache, und sie haben mich das Zeug
svuotai. Poi dopo [***] mi disse „No no, la
trinken lassen. Weil da, als sie mir das ge-
devi fare, la devi ingoiare, non fa niente
spritzt haben, war der Hals gebeugt, nicht?
questa, la devi ingoiare [.] che non ti fa
Und ich hab ihnen „Nein“ gesagt und hab
niente“.
ihn entleert. Und dann [***] haben sie gesagt „Nein nein, du musst das schlucken, das macht nichts, du musst das schlucken, es wird dir nichts machen.“
(Transkript Lillo 2, 23/36 – 23/49) Immer drastischer werden die Verletzungen, immer deutlicher Angelas Unwillensäußerungen, immer dreister die bösen Absichten der Zahnärzte, und die Geschichte steuert auf ihren Kulminationspunkt zu: Me la fecero ingoiare ma dopo due tre
Sie haben mich das schlucken machen, aber
giorni mi dovettero ricoverare all’ospedale,
nach zwei, drei Tagen mussten sie mich ins
all’Inselspitale. [***] Eh perché
Spital einliefern, ins Inselspital. [***] Eh
incominciavo a venire diarrea, vomiti,
weil ich bekam Durchfall, Erbrechen,
452 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
diarrea e tutto questo qua. Ma dopo ero
Durchfall und all das. Aber dann war ich
diventata fredda come ghiaccio. E questo
kalt geworden wie Eis. Und das war in der
era di notte [.] e quando mi ha vista così ha
Nacht, und als er mich so gesehen hat, hat
chiamato subito l’autobulanza per portarmi
er sofort die Ambulanz gerufen, um mich ins
all’Inselspitale. Quando mi ha portata là
Inselspital zu bringen. Als man mich dort
m’ha cominciato a d-domandare che cosa è
hingebracht hat, hat man angefangen zu
successo, io non sapevo che era per tutto
fragen, was passiert sei, ich wusste nicht,
questa roba che mi avevano dato per
dass es wegen all dem Zeugs war, das mir
ingoiare questo. E dopo la lingua non ero
dieser zum Schlucken gegeben hatte. Und
capace a parlare, insomma e- era tutta- mi
dann die Sprache, ich war nicht fähig zu
hanno fatto un disastro. Un disastro.
sprechen, jedenfalls war alles- haben sie mir ein Desaster gemacht. Ein Desaster.
(Transkript Lillo 2, 23/49 – 24/9) Damals, erzählt Angela weiter, stellte sich dann heraus, dass auch andere Leute aus Angelas Bekanntenkreis, frühere Arbeitskolleg/innen zum Beispiel, mit demselben Zahnarzt schlechte Erfahrungen gehabt hatten, auch Schweizer/innen. Diese Erkenntnis macht es aber nur ein ganz klein wenig tröstlicher, dass Angela ‚siebentausend Franken‘ für ‚immer noch geschwollene Wangen‘ bezahlt habe (Transkript Lillo 2, 24/35). Selbst heute, Jahre danach, leide sie unter Entzündungen im Mund und müsse sich immer wieder behandeln lassen. Durch die Aussage ihres jetzigen Zahnarztes, dass sie ‚ruiniert‘ worden sei (Transkript Lillo 2, 25/7), fühlt sich Angela immer wieder bestätigt darin, dass ihr mutwillig etwas angetan wurde. Und sie fügt hier, fast beiläufig, noch an, dass auch die Sprache ein Faktor war, dass sie nicht habe sprechen können. Angelas Wehrlosigkeit ist also auch eine Sprachlosigkeit, die nicht nur auf Autoritätsgläubigkeit beruht, nicht nur auf der mechanischen Sprachlosigkeit auf dem Zahnarztstuhl, mit Zahnarztinstrumenten und Zahnarztfingern im Mund, sondern auch auf der Unfähigkeit, sich in der hier gesprochenen Sprache auszudrücken. Angela ist mehrfach sprachlos, dafür spricht ihr Körper umso deutlicher. Warum erzählt Angela mir diese schier unglaubliche Geschichte? Was bezweckt sie damit? Warum spricht sie so ausführlich über eine Zahnbehandlung, die schief gegangen ist, und kaum über diejenige schiefgelaufene Behandlung, deren Konsequenzen ich als viel einschneidender beurteile, nämlich die Fruchtbarkeitsbehandlung? Oder unterstelle ich hier unrechtmäßig, dass es schlimmer ist, keine Kinder bekommen zu können, als unter ständig entzündetem Zahnfleisch zu leiden? Doch irgendwie klingt die Zahnarzt-Geschichte derart unglaublich, dass ich stutzig werde. Und es ist, wie schon gesagt, die einzige Gelegenheit, bei der Angela über längere Zeit erzählt, ja sich richtig in
D AS E HEPAAR L ILLO
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Fahrt redet. Ganz erschlagen von der Geschichte und ihrer überwältigenden Tragik, bemühe ich mich daraufhin um einen passenden Kommentar, auf den ich eine überraschende Antwort bekomme: E: Lei è stata un po’ come si dice infelice con i dottori qui in Svizzera, hm. A: Noo non posso dire che sono stata solo quando ho avuto questa grande
E: Sie hatten ein wenig, wie sagt man, Unglück mit den Doktoren hier in der Schweiz, hm. A: Neein, das kann ich nicht sagen, dass
operazione no? Eee quando che mi è
ich, nur als ich diese große Operation
venuto questo infiammo, questa cosa
hatte, nicht? Und als ich diese Entzün-
così, no. E quando sono andata a altri
dung bekommen habe, diese Sache da,
dottori vuol’ di dir’ che mi hanno
nicht. Und als ich zu anderen Ärzten ge-
domandata ad andar’ a un professore
gangen bin, will sagen dass sie mich
[..] e allora mi domandava quello se ho
gefragt haben, ob ich zu einem Profes-
avuto delle malattie se ho avuto dico
sor gehen würde – und da hat der mich
„no io ho avuto solo unnn’operazione
gefragt, ob ich Krankheiten gehabt hätte
che mi è andata male“ ho detto.
oder so, sagte ich: „Nein, ich hatte nur
Quando ha sentito questa operazione,
eine Operation, die schlecht gegangen
[.] questo si è arrabbiato! [mit lauter
ist“, hab ich gesagt. Als er diese Opera-
und hoher Stimme:] „Noo signora
tion gehört hat, ist er wütend geworden!
perché hai fatto questa cra- questa
[mit lauter und hoher Stimme:] „Nein,
operazione? Questa è stata una grande
Frau Lillo, warum haben Sie diese-,
operazione per Lei, signora“ ha detto.
diese Operation gemacht? Das war eine
Lo sai? E allora questo dottore tutti lo
große Operation für Sie, Frau Lillo“,
conoscevano. [.] Dice lui non l’era
hat er gesagt. Weißt du? Und dann ha-
dovuto fare questa operazione. Questo
ben alle diesen Doktor gekannt. Sagten,
era dovuto farti solo delle cure, non
dass er diese Operation nicht hätte ma-
fare operazioni. „E adesso“ dice „con
chen dürfen. Der hätte dir nur Behand-
questo che t’ha fatto“ dice „Lei non
lungen geben dürfen, keine Operatio-
può avere più bambini“ ha detto. Eh.
nen. „Und jetzt“ sagte er „können Sie
[***] Che al posto del bene mi ha fatto
keine Kinder mehr haben“, hat er ge-
male [***] ha detto „una piccola
sagt. Eh. [***] Hat mir statt Gutem
operazione, una piccola operazione“
Schlechtes getan [***] hat gesagt, „eine
che mi ha fatto l’operazione di una
kleine Operation, eine kleine Opera-
gamba all’altra. Eh, è così. Curata?
tion“, und mich dann von einem Bein
Eh! Figurati. È già era una piccola
zum anderen operiert hat. Eh, so ist das.
operazione. […] E ho parlato il fatto, di
Geheilt? Eh! Stell dir vor. Das war mir
quello che mi è successo.
eine kleine Operation. – Und ich hab die
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Wahrheit gesagt, was mir passiert ist.
(Transkript Lillo 2, 25/9 – 25/27) Ich hätte erwartet, dass auf meine Anmerkung, die Mitgefühl signalisieren sollte, Angela die Gelegenheit ergreifen und über die ‚schurkischen‘ Zahnärzte schimpfen würde. Angela hingegen relativiert zuerst zu meinem Erstaunen, dass sie keine schlechten Erfahrungen mit Ärzten gemacht hätte. Und dann wechselt sie wieder von der Zahnarzt-Geschichte zurück zur Fruchtbarkeits-Geschichte und weist nun erstmals dem damals behandelnden Arzt explizit die Schuld am Misslingen der Fruchtbarkeitsoperation zu. Sie rekapituliert noch einmal, wie diese Erkenntnis in ihr gereift ist, um dann noch einmal zu betonen, dass lediglich dieser eine Doktor, der Gynäkologe, ihr Anlass zur Klage gegeben habe, sonst keiner. Bei der Zahnarzt-Geschichte weist Angela hingegen ganz explizit Schuld zu, fühlt sich falsch behandelt, und zwar auch willentlich und wissentlich falsch behandelt. Sie unterstellt böse Absichten, Mutwilligkeit, Wahnsinn. Und obwohl hier auch dem Arzt, welcher die Fruchtbarkeitsbehandlung durchgeführt hat, eine Schuld zugewiesen wird, macht Angela dies bei Weitem nicht in derart drastischer Form, wie sie es bei den Zahnärzten tut. Zudem gibt es in der Zahnarzt-Geschichte eine emanzipatorische Entwicklung Angelas vom naiven Dummchen hin zu einer Patientin, die sich wehrt, die ihre Anliegen und Bedenken artikuliert und die an Bildung und Kompetenzen deutlich überlegenen Ärzte auch mit ihren Empfindungen und Beurteilungen konfrontiert. In der ZahnarztGeschichte lernt Angela aus schlechten Erfahrungen und kann sich in ähnlichen Situationen anders verhalten – eine Chance, die ihr bezüglich der Fruchtbarkeitsbehandlung verwehrt blieb. Könnte die Zahnarztgeschichte eine Art Ventil sein, eine Stellvertreter-Geschichte, um über Erfahrungen zu reden, über die Angela im Hinblick auf die misslungene Fruchtbarkeitsoperation nicht reden kann oder will? Um damit umgehen zu können, dass sich Angela nicht über den Arzt und den vorgeschlagenen Eingriff informiert hat? Dass sie damals nicht skeptisch geworden ist? Nichts desto trotz: Sowohl die Fruchtbarkeitsbehandlung wie auch die Zahnbehandlung haben Angela ‚ruiniert‘, haben unwiederbringlich etwas zerstört. Genauso wie die dritte Krankheitsgeschichte, die Angela erwähnt: den Ausrutscher auf dem Schnee und die daraus entstandenen Rückenprobleme. Könnte die Zahnarzt-Geschichte auch ein Ventil sein, um über diese Ausrutsch-Geschichte zu reden? Dort ist die Lage etwas anders, und doch auch wieder gleich: Der Arzt empfiehlt eine Therapie, welche Angela verweigert, weil sie eben erst in die Schweiz gekommen ist und ihrer Arbeit nicht fernbleiben will. Die Folgen davon zeigen sich erst jetzt, Jahrzehnte später. Angela hat selber
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entscheiden können, was mit ihr geschehen soll, dieser Arzt überließ ihr die Verantwortung, und auch das ist im Endeffekt schiefgegangen. Vielleicht ist die Zahnarzt-Geschichte ja auch ein Ventil mit grundsätzlicheren Ausmaßen, in denen Angela exemplarisch die Ungerechtigkeiten ihres Schicksals beklagen kann? Sich selbst stellt Angela in ihren Krankheitsgeschichten einerseits unwissend und naiv dar, andererseits – gerade in der Zahnarzt-Geschichte – auch hartnäckig darauf beharrend, dass ihr Leiden noch nicht in Ordnung ist. Die ‚anderen‘ Ärzte jedoch wirken gerecht und informiert, nehmen ihr Leiden durchaus ernst. Es ist also nicht das Gesundheitswesen generell, mit dem Angela hadert. Und so kann Angelas Krankheitsgeschichte auch nicht unmittelbar als Leiden an der Aufnahmegesellschaft interpretiert werden, quasi als Somatisierung eines migrationsbedingten Traumas. Die Komplikationen sind entweder ihr eigenes Verschulden (wie z.B. dass sie es vorzog zu arbeiten, anstatt einen Gips zu tragen, aber auch durch ihre Naivität), oder aber das Verschulden einzelner ‚Verrückter‘, an die Angela durch Zufall geriet. Die Sprachlosigkeit Angelas hingegen hat, wie oben bereits ausgeführt, auch eine migrationsspezifische Komponente. Ein zentrales Thema in der Geschichte ist die nicht erhobene und nicht erhörte Gegenstimme Angelas. Dass sie den behandelnden Ärzten so lange nicht widerspricht, hat nicht nur mit deren Autorität zu tun, sondern auch mit Angelas Unsicherheit, ob sie richtig verstanden hat, sowie mit der Unfähigkeit, ihre Einwände unmittelbar in der Umgangssprache zu formulieren. Was mir zudem bezeichnend erscheint, ist die Tatsache, dass die Leiden von Angela erst Jahre später, erst im Alter, ihre vollen negativen Auswirkungen entfalten. Wie Angelas Arzt nach ihrem Ausrutscher auf dem Schnee sagte: Sie werde im Alter noch an ihn denken. Hätte sie damals ein Korsett getragen, hätte sie heute vielleicht weniger Rückenschmerzen. Hätte sie sich damals gegen den Fruchtbarkeitseingriff gewehrt, dann wäre sie heute nicht so allein, ohne Familie, ohne sorgende Kinder. Ich vermute, die biographische Bedeutung der Krankheitsgeschichten liegt für Angela in der Bearbeitung ihres Verhaltens in den Arzt-Patienten-Interaktionen, vielleicht auch in der Frage, ob ihr Schicksal allenfalls hätte anders verlaufen können, wenn sie sich anders verhalten hätte. Vielleicht wären ihr dann einige der Beschwerlichkeiten, die sie jetzt im Alter begleiten, erspart geblieben? Angela muss davon ausgehen, dass sie kein besonders angenehmes Altern vor sich hat. Sie weiß schon seit Jahren, ja sogar Jahrzehnten, was es bedeutet, körperlich eingeschränkt zu sein, und sie kann offenbar auf einen reichen Erfahrungsschatz im Umgang mit Heil- und Pflegeinstitutionen zurückgreifen. Auch Leonardo hatte Anteil an diesen Erfahrungen – wenn nicht als Betroffener, so
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doch als naher Angehöriger. Schlägt sich diese Erfahrung in einer besonders reflektierten Auseinandersetzung mit Möglichkeiten nieder, wie mit allfälligen zukünftigen Pflegebedürftigkeiten im Alter umgegangen werden könnte? Und welche Rolle spielt diese Erfahrung im Abwägen des Remigrationsentscheides? Bevor wir uns mit dem Abwägen für und wider eine Rückkehr beschäftigen und zusammen mit den Lillos in die Zukunft blicken, werfen wir zuerst noch einen Blick zurück in die Vergangenheit und lassen Leonardo und Angela ihre ursprünglichen Pläne und Vorstellungen bezüglich ihrer Migration in die Schweiz rekapitulieren. Das Migrationsprojekt und die hinausgeschobene Rückkehr E: Quando Lei, loro due sono venuti in
E: Als Sie, Sie beide in die Schweiz gekom-
Svizzera, [..] per quanto tempo ha
men sind, – wie lange wollten Sie hier in
voluto stare qui in Svizzera, ha pensato
der Schweiz bleiben, haben Sie gedacht,
che si vede, o ha pensato che facciamo
Sie schauen mal, oder haben Sie ge-
due o tre anni e poi ritorniamo?
dacht, machen wir zwei, drei Jahre und dann kehren wir zurück?
L: Eh beh io [.] sì, io io ho pensato dico
L: Nun ja ich, ja, ich habe gedacht, sagte:
„Beh mo’ facciamo la casa, vediamo,
„Gut, machen wir uns ein Haus, werden
poi dopo così torniamo a casa, in Italia
sehen, dann kehren wir nach Hause zu-
vediamo qua-“ e ma però dopo ogni
rück, nach Italien, werden dort sehen-“,
anno, ogni anno che è passato, più mi
und aber nach jedem Jahr, jedes Jahr
piaceva, perché dopo [.] abbiamo
das verging, gefiel es mir besser, weil
lavorato, poi dopo avevamo da ogni [.]
wir dann gearbeitet haben, weil wir
ogni quattro anni, cinque anni
dann alle vier Jahre, fünf Jahre ein
cambiavamo la macchina nuova,
neues Auto hatten, gewechselt haben.
cambiavamo. Allora ho detto [.] se
Und so hab ich gesagt, wenn wir in Ita-
stiamo in Italia non si può lavorare
lien bleiben, wo können wir arbeiten?
dove? Ormai siamo [..]
Jetzt sind wir –
A:
Sì ma che lavoro dovevi fare
A:
Ja aber was für eine Arbeit
in Italia, non è che c’era un mestiere,
hättest du in Italien machen können, es
‘na cosa
war ja nicht so, dass es einen Beruf gab, irgendwas
L: A:
ormai Solo di contadino c’era, la terra l’aveva data, dove dovevamo
L: A:
Jetzt Nur die Landwirtschaft gab es, das Land war abgetreten, wo hätten wir hingehen sollen, also war’s
D AS E HEPAAR L ILLO
besser zu bleiben
andare, allora la conviene stare qua L:
„Ormai“ ho
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L:
„Jetzt“, hab ich zur Frau
detto io alla moglie „stiamo ancora un
gesagt, „bleiben wir noch ein weiteres
altro anno qui, stiamo ancora un po’ di
Jahr hier, bleiben noch ein paar Jahre
anni qui“ e piano piano piano piano
hier“, und langsam langsam langsam langsam
A:
E ci siamo
A:
[lacht]
fatti vecchietti [lacht] L:
Und so sind wir alte Leute geworden
ci siamo abituati qua
L:
wir haben uns hier angewöhnt, eh
[.] eh [lacht] però è facile fra un anno o
[lacht] aber es ist einfach in einem Jahr
due è facile che dopo ce ne andiamo
oder zwei es ist einfach, dann gehen wir
perché [.] non lo so, non lo so eh?
weil, ich weiß nicht, ich weiß nicht eh?
A:
Sì ma
A:
Ja aber jetzt mi- weil jetzt ist ein anderes Alter
adesso coo perché adesso è un’altra età non lo L:
L:
A:
Abbiamo la
ich weiß nicht wie es enden wird, eh?
so come va a finire eh? A:
Wir haben die
pensione come di diree [.] dove vuoi
Pension, wie sagt man, wo willst du da
andare a lavorare. [.] Ma quando si
arbeiten gehen. Aber als man gehen
doveva andaree a quel tempo là [.] più
musste damals, jünger, da gab es keine
giovane [.] non c’era lavoro, la casa
Arbeit, das Haus, das wir uns gemacht
che ci dovevano d- fatta la dovevano
hatten, hätten wir verkaufen müssen fürs
vendere per mangia’ [lacht kurz]
Essen [lacht kurz]
L: Ehh!
L: Eeh!
A: Allora [.] siamo stati qua!
A: Also sind wir hier geblieben!
L:
L:
Sì sì. Be’ adesso
A:
Eh ma adesso non fa
A:
A:
Eh aber jetzt ist das egal
niente L:
Ja ja. Nun, jetzt wissen wir nicht wann –
non si sa quando [..]
per il momento quando arriva.
(Transkript Lillo 2, 31/34 – 32/22)
L: A:
im Moment wenn’s soweit ist.
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Das Migrationsprojekt von Leonardo und Angela war ein ganz klassisches: Man geht arbeiten, um das nötige Geld zu verdienen, um sich ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung leisten zu können (‚per fare la casa‘). Auch die Umsetzung dieses Projektes nahm einen klassischen Verlauf: Als ‚la casa‘ dann erreicht war, zögerte man die ursprünglich geplante Rückkehr immer wieder hinaus, weil es einem hier gefiel, man hatte Arbeit und verdiente nicht schlecht, man hatte Freunde und Bekannte, man hatte eine gute Wohnung. Zudem waren die Perspektiven in Italien doch recht ungewiss. Angela und Leonardo beurteilten ihre Chancen, in Italien ein ausreichendes, geschweige denn ein ebenbürtiges Auskommen zu finden, als schlecht, ohne Besitz von Land oder Landrechten und ohne berufliche Qualifikation. Im Erzählen darüber, was in der Vergangenheit gegen eine Rückkehr sprach, taucht auch die Frage danach auf, was in der Zukunft liegt. Beide deuten an, dass man zurück gehen wird, doch entwickeln sich parallel zueinander unterschiedliche Subtexte: Während Angela anführt, dass mit dem Pensioniert-Sein das Problem des ungewissen Einkommens ja weggefallen sei und deshalb nichts mehr gegen eine Rückkehr spreche, schwingt bei Leonardo ein Wechselbad zwischen absoluter Klarheit und absoluter Unklarheit über die Zukunft mit. ‚Es ist einfach, in ein oder zwei Jahren gehen wir‘, sagt er, doch als er es begründen will, fehlen ihm die Argumente: ‚ich weiß nicht, ich weiß nicht‘. Leonardo weiß weder, ‚wann‘ man gehen wird, noch weiß er, wie ‚das enden wird‘, und so klammert er sich an den ‚Moment‘ und lässt die Zukunft in der Schwebe. Angela hingegen zeigt sich voller Optimismus und Tatendrang, für sie scheint die Rückkehr nur noch eine Frage der Zeit zu sein – ‚wenn’s so weit ist‘, dann werden sie gehen. Doch dabei bleibt offen, was ausschlaggebend dafür sein könnte, dass es irgendwann ‚soweit‘ sein wird zu gehen. Die Region, aus der Leonardo und Angela in den späten 1950er resp. frühen 1960er Jahren weggezogen sind, hat sich in dem halben Jahrhundert, das inzwischen vergangen ist, verändert. Dennoch scheint es sich nach wie vor um eine eher marginale Region zu handeln. Auch wenn Apuliens Wirtschaft sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat und inzwischen neben einer für den internationalen Markt produzierenden Landwirtschaft auch Industrie- und Dienstleistungsbetriebe aufweist, so scheint die unmittelbare Umgebung der beiden Herkunftsdörfer nach wie vor landwirtschaftlich geprägt zu sein. Allenfalls indirekt von Bedeutung geworden sein könnte der sich in Apulien zunehmend entwickelnde Tourismus: die Herkunftsdörfer von Leonardo und Angela liegen nur wenige Kilometer vom Meer entfernt. Ökonomisch relevant für eine allfällige Rückkehr im Alter sind aber nicht mehr die Verdienstmöglichkeiten, wie Angela feststellt. Kein Land und keine beruflichen Perspektiven in Apulien zu haben,
D AS E HEPAAR L ILLO
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das war früher relevant, aber ‚ist jetzt egal‘. Was im Alter relevant ist, sind einerseits die Lebenskosten und andererseits die räumliche Anbindung an Dienstleistungen, die im Alter von Bedeutung werden können, wie z.B. öffentlicher Verkehr oder medizinische Versorgung. Während erstere, insbesondere unter dem Einfluss eines sich entwickelnden Tourismus, sich den überregionalen Entwicklungen angepasst haben werden, könnte sich im Hinblick auf Letztere die Marginalität der Region als ungünstig für eine Rückkehr im Alter erweisen. Doch nicht nur deshalb hegt selbst Angela Zweifel, ob die Rückkehr eine so gute Idee ist. Relevant ist ein anderer Aspekt, etwas sehr Diffuses, das oben von Leonardo angesprochene ‚angewöhnt sein‘ vielleicht. Als ich sie explizit darauf anspreche, ob sie vorhat, nach Italien zurückzukehren, sagt sie nicht: Ja, ich will zurück, oder: Ja, ich werde zurückgehen. Sie wählt eine sehr vorsichtige, passive Formulierung: E: Allora Lei pensa che una volta, un
E: Also, Sie denken, dass Sie einmal, eines Tages, nach Italien zurückkehren wer-
giorno, Lei ritornerà in Italia.
den. L:
Sì, penso, sì.
A:
Speriamo.
L:
Ja, ich denke, ja.
A:
Hoffen wir’s.
E: E Lei pensa la stessa cosa.
E: Und Sie denken dasselbe.
L: Sì sì, speriamo.
L: Ja ja, hoffen wir’s.
A:
A:
Speriamo [.] che vada tutto
Hoffen wir, dass alles gut gehen möge.
bene. L: No perché se noi
L: Nicht, weil wenn wir
A:
A:
Se no, qua mi piace io di
Wenn nicht, hier gefällt’s
stare, qua mi piace, però non abbiamo
mir zum leben, hier gefällt’s mir, aber
nessuno, siamo soli, hai capito?
wir haben niemanden, wir sind allein, verstehst du?
L:
Perché se io
L:
A:
Se avessi dei figli,
Weil wenn ich hätte – wenn ich Kinder hätte
avevo [..] se avevo dei figli A:
Wenn du Kinder hättest, würdest
dici „beh, ci sono i figli“ e allora [.]
du sagen: „Nun, hier sind die Kinder“,
anche pure che non sono [..] Però se
und dann, auch selbst wenn sie nicht –
sono lontani quando non mi sentono
auch wenn sie weit weg sind, wenn es
bene vengono, no? Eh, e c’è una
mir nicht gut geht, kommen sie, nicht?
460 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
speranza. Ma noi figli non ne abbiamo.
Eh, und es gibt eine Hoffnung. Aber wir
[..] Sì oddio, andiamo pure in Italia ma
haben keine Kinder. – Ja oh Gott, selbst
abbiamo sempre [..] di parenti, come di
wenn wir nach Italien gehen, aber da
dire, non è che i parenti vengono tutti i
haben wir immer noch – Verwandte, wie
giorni.
soll ich sagen, es ist nicht so, dass die Verwandten jeden Tag kommen.
(Transkript Lillo 2, 43/28 – 44/3) Angela wünscht sich die Rückkehr nicht, sie ‚hofft‘ auf eine Rückkehr, und sie ‚hofft‘, dass eine allfällige Rückkehr auch gut gehen möge. ‚Hoffen‘ impliziert auch, keinen Einfluss darauf zu haben, ob und wie sich eine Rückkehr vollziehen wird. Die Entscheidung zur Rückkehr liegt also vielleicht gar nicht in der Macht der Lillos, vielleicht warten sie darauf, dass jemand oder etwas anderes für sie die Entscheidung fällt. Insofern passt Angelas Haltung hier doch auch zu der Art, wie sie sich in der biographischen Retrospektive als Handelnde zeichnet: Angela setzt sich zwar mit ihren spezifischen Handlungsbedingungen auseinander, doch tut sie dies in Reaktion auf äußere Vorgaben. Wahrscheinlich würde sie, wenn nun jemand oder etwas ihr Hoffen erhören würde, wenn die Lillos zurückkehren würden, wieder auf den veränderten Kontext reagieren, indem sie an ihrer inneren Einstellung zum Umfeld arbeiten würde. Leonardo seinerseits schließt sich in der obigen Passage zwar der Sichtweise seiner Frau an. Er scheint aber über einer allfälligen Rückkehr differenzierter nachzudenken. Würden die Lillos zurückkehren, würde er, so denke ich, eine aktivere Handlungsstrategie wählen, würde sich vielleicht auf den Aufbau und die Pflege sozialer Netzwerke konzentrieren. Die Entscheidung zu fällen vermag aber auch er nicht. Doch wer oder was könnte den Lillos die Entscheidung abnehmen? Gehen möchten sie, weil die Rente hier nicht reicht, und halten tut sie nichts, weil sie hier allein sind. Was sie erwarten würde, weiß Angela nicht, doch sie weiß, was sie dafür aufgeben müsste: Ein Leben, das eigentlich ein gutes Leben war, und immer noch ein gutes Leben ist, trotz niedriger Rente. Was in Angelas Argumentation hier aber eindeutig gegen ein Leben ‚hier‘ spricht, ist das Alleinsein, das ohne Kinder sein. Wären Kinder da, so denkt Angela, dann wäre die Zukunft klar, dann gäbe es auch ‚hier‘ eine ‚Hoffnung‘. Doch alleine hier alt werden, das erscheint nicht erstrebenswert. Dann schon lieber in Italien, da gibt es wenigstens noch ein paar Verwandte. Allerdings ist Angela auch bewusst, dass diese Verwandten – Geschwister, Cousin/en – die eigenen Kinder nicht ersetzen. Die Pflicht der Kinder, sich um die alternden Eltern regelmäßig zu sorgen und zu kümmern, ist keinesfalls vergleichbar mit der gegenseitigen Verpflichtung zur Sorge unter Geschwistern. So keimt auch die Furcht davor, in Italien vielleicht
D AS E HEPAAR L ILLO
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genau so allein zu sein wie in der Schweiz. Es ist also klar, dass die Lillos in Zukunft weder in Bern noch in Apulien mit einer täglichen Unterstützung von Verwandten rechnen können, sollten sie einmal darauf angewiesen sein. Und dass zunehmende Abhängigkeit nicht ferne Zukunftsmusik ist, sondern eine durchaus konkrete Perspektive darstellt, haben beide schon ansatzweise in ihrem Alltag erfahren. Optionen für den Ernstfall: Altenpflege ‚hier‘ in der Schweiz und ‚bei uns‘ in Italien Es ist nun deutlich geworden, dass Angela und Leonardo mit einer Rückkehr gerechnet haben und das auch jetzt noch tun – Angela wahrscheinlich etwas fester als Leonardo. Die Hoffnung, dank der wegfallenden Mietkosten im eigenen Haus und der kostenlosen gesundheitlichen Grundversorgung in Italien etwas komfortabler leben zu können, ist das Eine. Die Angst davor, mit dem Verlust des Vertrauten und der sozialen Beziehungen zu Freunden und Bekannten in der Schweiz nicht umgehen zu können, ist das Andere. Und dann ist da auch noch die Furcht vor dem Qualitätsverlust in der medizinischen Behandlung. Wenn wir an Angelas Krankheitsgeschichten und ihre Erfahrungen mit Ärzten zurückdenken, dann erscheint es sehr plausibel, dass sich die Lillos darüber Sorgen machen. Spezialisten und Spitäler sind schwer zugänglich in Süditalien. Dies ist aber nur im Ernstfall wirklich relevant. Die Möglichkeiten hingegen, wie der ganz normale Alltag im Alter gestaltet werden kann, wenn man auf Unterstützung angewiesen ist und diese nicht mehr nur durch den/die Ehepartner/in getragen werden kann, wurden bisher noch nicht thematisiert. Die spontane Antwort auf die Frage, was sie sich für einen solchen Fall vorstellen, ist wiederum eindeutig: Dann sehen sich Leonardo und Angela einhellig ‚bei uns‘ in Italien, und nicht ‚hier‘ in der Schweiz: E: E che cosa pensa se una volta ha
E: Und was denken Sie, wenn Sie einmal Hilfe nötig haben werden
bisogno di aiuto L: E:
L:
Eh!
Eh!
a casa o non può più E:
im Haus,
essere qui a casa da solo [***], ha
oder wenn Sie nicht mehr allein hier im
delle idee che cosa vuole fare? Vuole
Haus sein können [***], haben Sie
andare in una casa per gli anziani,
Ideen, was Sie machen wollen? Wollen
vuole ritornare in Italia?
Sie in ein Altersheim gehen, wollen Sie nach Italien zurückkehren?
462 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
L: L:
No, eh
A:
A:
E: Haben Sie darüber nachgedacht, das diskutiert?
E: Ha pensato, ha discusso questo?
L: Ja aber
L: Sì ma Un po’, oddio, questo non c’è,
A:
L:
ancora deve arrivare, qua-
L: dann sind wir in Italien.
Italia.
A: Sicher.
A: Sicuro. L: In Italia [.] da noi, è tutto diversa-
L: In Italien, bei uns, ist das ganz anders, im Süden. Es ist nicht wie hier. Aber
mente, al sud. Non è come qua. Ma qui
hier, wenn jemand vielleicht soweit ist,
quando la persona magari c’ha [.]
dann geht sie ins –heim [4 sec]
allora va [.] nella casa di [4 sec]
E: Alters-?
E: Anziani? Oddio pure in Italia
L:
di anziani. Invece
A:
ci sono ‘ste cose.
L: Sì ma sono pochi da noi dal sud, da là.
Oh Gott auch in Italien
L:
Altersheim. Bei uns jedoch
da noi A:
gibt es diese Dinger.
L: Ja, aber es gibt wenige bei uns im Süden, dort. A: Ja im Süden.
A: Sì dal sud. L: E allora da noi è poco che ti mandano
L: Und so ist es bei uns selten, dass sie dich – in ein Altersheim schicken.
[...] alla casa di riposo. A:
das muss noch kommen, we- wenn das kommt –
quando arriva questo [..] noi stiamo in
A:
Ein wenig, oh Gott, dass es nicht so weit kommt, hoffen wir dass nicht
speriamo di no
A:
Nein nein nein nein nein nein
No no no no no no no
A:
Nein, eh
C’è l’aiuto di famigliari, che c’aiutiamo uno con quell’altro, così, hai capito?
L: C’è l’aiuto dei famigliari, così, e dopo sa, quando non ti senti bene [.] stai all’ospedale, poi dopo quando arriva
A:
Da gibt es die familiäre Hilfe, dass wir uns helfen, einer dem anderen, so, verstehst du?
L: Es gibt die familiäre Hilfe, so, und dann, wissen Sie, wenn man sich nicht gut fühlt, ist man im Spital, und wenn dann
D AS E HEPAAR L ILLO
l’ultimo momento dici eh! [lacht]
| 463
der letzte Moment kommt, sagst du eh! [lacht]
A: Devi partire e parti!
A: Du musst gehen, und gehst halt.
L: Aqqui, aqqui abbiamo tutte le
L: Hier, hier haben wir alle Annehmlich-
comodità, qua.
keiten, hier.
A: Sì, è vero.
A: Ja, das ist wahr.
L: Veramente, perché qua c’è gli anziani,
L: Wirklich, weil hier gibt’s die Alten,
c’è quell’ospizio per gli anziani, c’è
gibt’s dieses Hospiz für die Alten, es
tutto. Ma da noi, dal sudo [.] non
gibt alles. Aber bei uns, im Süden, ha-
l’abbiamo tutte ‘ste [.] ‘sta roba qua.
ben wir all diese, all das Zeugs da nicht.
Se vuoi and-, se vuoi andare allo coso
Wenn du ge-, wenn du in dieses Dings,
del, per gli l’anziani devi fare la
für die Alten gehen willst, musst du ei-
domanda, la dopodomanda, eh n-, dopo
nen Antrag stellen, einen Folgeantrag,
non sai se ti prendono. È tutta un’altra
und dann weißt du nicht, ob sie dich
cosa, lì non c’è.
nehmen. Es ist ganz anders, das gibt’s dort nicht.
(Transkript Lillo 2, 42/17 – 43/12) Sollte der Fall eintreten, dass Leonardo und/oder Angela pflegebedürftig werden, dann wollen sie also in Italien sein. Pflegebedürftig sein ‚da noi‘ in Süditalien heißt, im familiären Rahmen betreut zu werden, und erst im äußersten Notfall in ein Spital eingewiesen zu werden. ‚Hier‘ in der Schweiz hingegen, geht man ins Altersheim. Die Lillos betonen zwar dessen Wohlorganisiertheit und Komfort, doch scheint ihnen die Vorstellung vom Altersheim gar nicht zu behagen. Die Möglichkeiten, um die Unterbringung in einer Pflegeinstitution herum zu kommen, sind in Italien viel besser, und vielleicht ist das der entscheidende Punkt für die Lillos: ‚Da noi al sud‘ hilft man sich gegenseitig, wird zu Hause gepflegt, und erst wenn ‚der letzte Moment kommt‘, muss man in eine Institution eintreten, nämlich ins Spital, um dort hoffentlich rasch zu sterben. Das Sterben in Italien hat etwas Leichtes, wenn man gehen muss, dann geht man halt, was soll’s! Davor ist man zu Hause, bei der Familie, Spitalaufenthalte sind kurz, und auch das Sterben ist kurz – eine Idealvorstellung, ein Gegenentwurf zum wohlorganisierten Dahinsiechen in den komfortablen Altersheimen der Schweiz und zur hochtechnisierten Lebenserhaltung in den qualitativ hoch stehenden Schweizer Spitälern. Was Leonardo und Angela in ihrem Szenario vollkommen ausblenden, ist die Tatsache, dass ein System, wie es ‚da noi al sud‘ üblich ist, nur funktionieren
464 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
kann, wenn auch Familienangehörige vorhanden sind, welche bereit sind, die familiäre Pflicht zur Pflege zu übernehmen. Am nahe liegendsten wären eigene Kinder, bei ihnen wäre die familiäre Solidaritätsbeziehung und insbesondere die Reziprozitätsverpflichtung am größten. Doch eigene Kinder haben die Lillos nicht. Auch Geschwister kämen als Pflegende in Frage, und Leonardo und Angela haben noch Geschwister, die in ihrem Herkunftsdorf leben. Doch die sind alle selber in ihre Familien eingebunden. Wäre denn überhaupt noch jemand bereit, eine pflegebedürftige Angela und/oder einen pflegebedürftigen Leonardo zu betreuen? Auch dafür haben die Lillos eine Lösung parat: E: E Lei pensa che ha ancora i parenti qua E: Und Sie denken, dass Sie noch Verwandte haben dort in Italien für
in Italia per L:
L:
Ma, i parenti [stöhnt], eh
Ach, die Verwandten [stöhnt], eh
E:
E:
Perché penso che è
Weil ich denke, dass das nötig ist, wenn man nach Italien ge-
necessario se si vuole andare in Italia
hen will Sì L:
L: E: e non si può più fare tutto da solo e
Ja
E:
und nicht mehr alles selber machen kann, muss man jemanden ha-
bisogna di avere qualcuno
ben L:
Sì, di aiuto. Eh, qualcuno.
A:
L: A:
se uno
eine Frau rufen, sagst, für L:
„vieni, a pulisci, a casa“ eh,
A:
A:
nicht?
c’ha la donna di servizio, magari, se uno c’ha
„komm, zum putzen, nach Hause“, eh, musst sie zahlen, genauso wie hier,
la devi pagare, lo stesso come qua, no? L:
wenn einer Geld hat, nicht
c’ha i soldi, no A:
Oh Gott, nun, es gibt, das ka-, kannst du auch
Oddio, beh, c’è, questo pu- puoi anche chiamare una donna, dici, per
L:
Ja, eine Hilfe. Eh, jemanden.
L:
hast eine Haushaltshilfe, vielleicht,
[..] qualche soldo, magari, paghi la
wenn einer – etwas Geld hat, vielleicht,
donna, ti fa le
zahlst eine Frau, sie macht dir die
i servizi
A:
Dienste
D AS E HEPAAR L ILLO
L:
la roba in casa, diciamo.
| 465
L: das Zeug im Haus, sozusagen.
(Transkript Lillo 2, 43/13 – 43/27) Relativ nüchtern und unpersönlich beschreiben Leonardo und Angela hier die Alternative: Falls man in Süditalien altert und pflegebedürftig wird, und falls keine Familienangehörigen vorhanden sind, die diese Pflege übernehmen, kann man sich immer noch eine Haushalthilfe besorgen. Wie Leonardo richtigerweise anmerkt, braucht es dafür jedoch die finanziellen Möglichkeiten. Haushalthilfen kosten, auch wenn sie in Süditalien vielleicht weniger kosten als in der Schweiz (vgl. dazu auch Serafina Santo in Kapitel 2.4). Die Option der bezahlten Haushaltshilfe erleichtert wohl den Alltag im Alter, wenn das Erledigen von Hausarbeiten zu anstrengend geworden ist. Dass Alter aber auch mit zunehmenden körperlichen Beschwerden verbunden sein kann und dass auch pflegerische Hilfe notwendig werden kann, das wird hier ausgeblendet. Bezahlte medizinische Pflege zu Hause ist sicherlich auch in Italien zu organisieren. Dennoch ersetzen solche Dienste nicht die alltägliche Pflege und Anteilnahme durch nahe Angehörige wie Ehepartner oder Kinder. Eine weitere mögliche Option, mit zukünftiger Pflegebedürftigkeit umzugehen, wäre auch, sich für eine sog. mediterrane Abteilung in einem Altersheim ‚hier‘ in Bern zu bewerben. Was halten denn die Lillos von den ethnospezifischen Abteilungen in Schweizer Altersheimen? Eine Gelegenheit, danach zu fragen, ergibt sich, als Angela darüber spricht, wie unterschiedlich die ‚modi di parlare‘ in der Schweiz und in Italien seien, dass es ihr manchmal so vorkomme, als würden in ihrem Heimatdorf alle laut schreien. Das erinnert mich daran, dass die unterschiedlichen Sprechgewohnheiten eines der zentralen Argumente für den Erfolg bereits bestehender ‚mediterranter Abteilungen‘ in Altersheimen sind: Den ‚Mediterranen‘ sollen eigene Räume zum Klatschen und Tratschen zur Verfügung gestellt werden, damit sie mit ihrem lauten Debattieren die Schweizer Heimbewohner/innen nicht in deren Ruhebedürfnis stören würden. Wenn hier aber Angela anführt, dass sie das ‚mediterrane‘ laute Reden in ihrem Herkunftsdorf inzwischen störe, dann könnte dies ja auch bedeuten, dass sie eine ruhigere, ‚schweizerischere‘ Atmosphäre im Altersheim eigentlich vorziehen würde. Doch so linear ist die Geschichte mit den Gewohnheiten und den ‚kulturspezifischen Bedürfnissen‘ eben dann doch nicht. E: Adesso mi viene in mente un’altra
E: Jetzt fällt mir eine andere Frage ein,
domanda, se parla di questo. Ancora
wenn Sie davon sprechen. Immer noch
sulle case di anziani, perché [..] si
zu den Altersheimen, weil – man disku-
discuta adesso se è necessario fare
tiert jetzt, ob es notwendig ist, Alters-
466 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
delle case degli anziani specialmente
heime speziell für die Italiener zu ma-
per i italiani, e l’argomentazione è
chen, und die Argumentation ist exakt
esattamente questo, che – hanno fatta
diese, dass – sie haben eines in Zürich
una a Zurigo
gemacht
L:
L:
Ah sì.
E:
che hanno detto che il
Ah ja.
E:
dass sie gesagt haben,
modo di parlare per la gente della
dass die Art zu reden für die Leute aus
Mediterranea
dem mediterranen Raum
A:
A:
Sì sì
E:
E:
è differente
L:
Ja ja
L:
Sì.
E:
anders ist
e per
Ja.
E: und deshalb ist es notwendig, ein Altersheim nur für
questo è necessario avere una casa per gli anziani solamente per solamente per quelli L:
L: là sì sì. E:
E
Eh lì lo trovo
die Italiener, Spanier, Portugiesen.
gli italiani, spagnoli, portoghesi.
L:
E:
nur für diese, ja ja.
L:
Eh, das finde ich
E:
Was denken Sie davon?
Che cosa pensa di questo?
L: Io penso che lo trovo normale.
L: Ich denke, dass ich das normal finde.
A: O bene, perché
A: Oder gut, weil
L:
L:
La trovo giusto.
E: Di fare [***] delle case speciali L:
E: Solche [***] speziellen Häuser zu machen.
Sì. Sì, sì. Perché oggi è cambiato il mondo. Perché prima [..] gli italiani quando
Ich finde das richtig.
L:
Ja. Ja, ja. Weil heute hat sich die Welt verändert. Weil früher – die Italie-
lavoravano qui dieci anni, quindici
ner, als sie hier zehn Jahre, fünfzehn
anni, se ne andavano in Italia. [.] Gli
Jahre gearbeitet haben, gingen sie nach
spagnoli [.] lo stesso. [.] Però adesso
Italien. Die Spanier genauso. Aber jetzt,
che ci sono [.] parecchi, parecchi
wo es ziemlich viele Italiener hat, die
italiani, che già stanno in Svizzera, che
schon in der Schweiz sind, die hier
D AS E HEPAAR L ILLO
Kinder haben, die hier bleiben, da sind
ci hanno dei figli, che rimangano qui, ci sono molti italiani, e allora, quando
viele Italiener, und deshalb, wenn es
pare [.] quando vale che, che questi
scheint, wenn es gilt dass, dass diese
signori qua manomano che diventano
Leute da langsam alt werden,
vecchi, A:
| 467
A:
wirklich um sie kümmert.
che ci fanno provvede veramente.
L:
che sono
dass man sich
L:
dass sie alle in
tutti in un istituto, assieme con gli
einem Institut sind, zusammen mit
italiani, diciamo. No, lo trovo bene, lo
Italienern, sozusagen. Nein, ich find’s
trovo bene questo.
gut, ich finde das gut.
(Transkript Lillo 2, 59/28 – 60/18) Vor allem Leonardo ergreift hier die Gelegenheit, sich zur Frage der ethnospezifischen Altersheime zu äußern, und es wird rasch klar, dass die Lillos solche Angebote uneingeschränkt befürworten. Sie formulieren dies jedoch nicht als konkrete Alternative für sich selbst, sondern ganz allgemein als ideales Angebot insbesondere für diejenigen, die ihre Kinder und Enkelkinder hier haben. Das entscheidende Kriterium für Leonardo ist die Menge: dass inzwischen ‚viele‘ ehemalige ‚Gastarbeiter/innen‘ hier alt werden. Die Frage, ob es überhaupt spezielle Angebote für Italiener/innen, Spanier/innen und Portugies/innen braucht, stellt sich für die Lillos gar nicht: Sie brauchen eigene Abteilungen oder Heime, damit man sich ‚wirklich um sie kümmern‘ kann, damit sie ‚zusammen mit Italienern‘ sein können. Italiener/innen unterscheiden sich also nach Ansicht der Lillos so deutlich von der Mehrheitsgesellschaft, dass man sich anders um sie kümmern muss und dass sie sich nicht wohl fühlen würden, wenn sie nicht unter sich wären. Das ‚Italiener/in-Sein‘ wäre also verbindender als das ‚Bewohner/in-desselben-Quartiers-Sein‘ zum Beispiel: E: Anche se questo vorrebbe dire che si
E: Auch wenn das heißen würde, dass man
deve forse andare in un’altra città,
L:
vielleicht in eine andere Stadt gehen
perché è difficile avere una piccola
muss, weil es schwierig ist, ein kleines
casa
Haus
Eh, beh, dovevano fare
E:
per solamente tre, quattro
L: E:
persone. L:
Dovevano fare ‘na. Non è che ne possono fare uno [.] uno per ogni
Nun ja, sie müssen für nur drei, vier Personen zu machen.
L:
Sie müssen eins machen. Nicht dass sie eines für jedes kleine Dorf
468 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
piccolo paese. Però qui a Berna [.]
machen müssen. Aber hier in Bern
possono fare uno [..] grande, per tutti.
können sie eines machen – groß, für
[.] Gli italiani o spagnoli o quello che
alle. Die Italiener, oder Spanier oder
sia. Dopo magari [.] da Berna magari
was auch immer. Dann vielleicht, von
ti sposti [.] a Friburgo, ne fanno un
Bern gehst du vielleicht nach Freiburg, da machen sie ein anderes. In jedem
altro. Ogni cantone ne fanno uno, e
Kanton machen sie eins, und A:
È logico,
A:
Das ist logisch,
poi se [***] vengono figli [.] come devo
und wenn [***] Kinder kommen, wie
dire, da Friburgo non è che possono
soll ich sagen, von Freiburg können sie
venire tutte le settimane aqqua per
nicht jede Woche hierher kommen, um
trovare i genitori.
die Eltern zu besuchen.
L:
Appunto.
L:
Genau.
Allora trovandosi A:
A:
Also sich vor Ort zu befinden, die Kinder, dass sie
giù sul posto, i figli, che stanno là, possono andare ai genitori per fare una
dort sind, dann können sie zu den Eltern
visita, un controllo, una cosa così.
zu Besuch gehen, zur Kontrolle, solche
Capito, perché se uno lavora [.] e sta a
Sachen. Verstehst du, weil wenn einer
Friburgo e il padre lo mandano qui a
arbeitet und in Freiburg wohnt und den
Berna, questo neanche è giusto, che si
Vater schicken sie hierher nach Bern,
deve partire, da Friburgo per arrivare
das ist auch nicht richtig, dass man
qua. [***] Allora facendo blocco, come
weggehen muss, von Freiburg, um hier
di dire, per gli italiani, che, così, e ci
anzukommen. [***] Also soll man einen
mettono i spagnoli, ci mettono
Block machen, wie soll ich sagen, für
portoghesi, quelli che siano, che
die Italiener, dass, so, und dort tun sie
mescolano questa gente così [.] C’è un
die Spanier hin, tun die Portugiesen hin,
po’, un po’ di dire [.] fra di loro, per
wer auch immer, dass sie diese Leute so
parlare, per, per discutere, mo’ di dire,
mischen. So gäbe es ein wenig, ein
è un’altra cosa.
wenig sozusagen, unter sich, zum Sprechen, zum Diskutieren, sozusagen, ist das was Anderes.
L:
No, lo dovevano fare,
L:
A:
Dovrebbero fare da veramente
Nein, das müssen sie also machen.
questo. A:
Das müssen sie also wirklich
questa cosa, capito? Aqqui, a posto che
machen, verstanden? Hier, vor Ort, dass
ci sono due blocchi per [.] tutti i
da zwei Blocks sind für alle Schweizer,
svizzeri, voglio dire. Fagli ‘no blocco
will ich sagen. Einen Block machen für
D AS E HEPAAR L ILLO
| 469
per gli italiani, un blocco per dire per
die Italiener, will heißen einen Block
sta- qua, se vogliono scambiare, a
zum wo-, da, wenn sie wechseln wollen,
parlare, voglio dire, a posto che ‘stu
zum Reden, will ich sagen, dass in die-
locale che stanno per mangiare tutti
sem Lokal zum Essen alle gleich sind.
uguali. Gli svizzeri, sai come sono [.]
Die Schweizer, du weißt wie sie sind, sie
sono sempre, mo di dire, separati, le
sind immer, sozusagen, für sich, die
cose. Allora metti, quelli stranieri una
Dinge. Also tust du diese Ausländer auf
parte, e quelli, se si vogliono parlare si
die eine Seite, und jene, wenn sie reden
parlano, se non vogliono parlare, eh!
wollen, reden sie, und wenn sie nicht reden wollen, eh!
(Transkript Lillo 2, 60/19 – 61/7) Was die Lillos hier als ideale Lösung vertreten, ist die Einrichtung von speziellen Abteilungen, in denen die Migrant/innen aus dem Mittelmeerraum unter sich bleiben können, vielleicht mit Räumen, die auch den Schweizer Heimbewohner/innen offen stehen sollen, oder mit gemeinsamen Speiseräumen. Das heißt also, keine gänzlich segregierte Lösung, sondern nur eine teilsegregierte, wo man zwar unter sich ist, wo ‚die Schweizer‘ aber gern zu Besuch kommen dürfen. Oder wo man sich zum gemeinsamen Essen trifft. Das bedeutet, dass Essensgewohnheiten – ein weiteres Argument, das häufig für die Einrichtung ethnospezifischer Abteilungen angeführt wird – nach Ansicht der Lillos nicht unbedingt segregierend wirken, die Sprechgewohnheiten hingegen schon: L: Come i svizzeri magari [.] stanno con
L: Wie die Schweizer, vielleicht wohnen sie
gli italiani, sono dieci svizzeri che
mit den Italienern, sind da zehn Schwei-
stanno [.] ammezzo a quindici italiani.
zer, die mitten unter fünfzehn Italienern
Lo svizzero, sai, dice „Io preferisco
wohnen. Der Schweizer, weißt du, sagt:
stare con gli svizzeri pure, no?“ E così
„Ich ziehe es auch vor, mit den
è l’italiano. [.] Ognuno c-
Schweizern zu wohnen, nicht?“ Und so ist der Italiener. Jeder
A:
Ognuno cerca la
A:
sua lingua. L:
Ogni una nazionalità vogliono
L:
stare assieme, che A:
Jeder sucht seine Sprache.
Può darsi poi di dire perché noi abbiamo la v-, la voce più
Jede Nationalität will unter sich bleiben, dass
A:
Es kann auch vorkommen, sozusagen, weil wir haben eine größere
grande, mo di dire, parliamo più
Stimme, kann man sagen, wir reden
grande. Quelli c’hanno l’abitudine di
grösser. Die hingegen haben die
470 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
lingua, di parlare piano piano, e allora
Sprechgewohnheit, ganz leise zu reden,
stanno più tranquilli.
und deshalb sind sie ruhiger.
(Transkript Lillo 2, 61/20 – 61/28) Sprache ist das entscheidende Kriterium für die Lillos, doch ist es nicht Sprache im Sinne eines nicht verfügbaren Verständigungsmittels, was ethnospezifische Angebote zur Einebnung eines integrativen Defizites notwendig machen würde. Sprache wird hier anders verstanden, nämlich als essentielle kulturelle Besonderheit, die ethnospezifische Abteilungen notwendig macht, weil ‚Nationalitäten unter sich bleiben wollen‘, weil sie spezifische Sprechgewohnheiten haben, die sich nicht mit den Sprechgewohnheiten anderer ‚Nationalitäten‘ vertragen. Wo gehören die Lillos hin? – Weder hier noch dort Vor dem Hintergrund dieser Sichtweise macht es auch durchaus Sinn, dass die Lillos eine Rückkehr als den richtigen Schritt ansehen, würden sie doch nach diesem essentialistischen Kulturverständnis dorthin gehören, wo sie ursprünglich herkommen, nach ‚da noi al sud‘. Und da es keine Kinder gibt, die sie hier in Bern zurück halten würden, ist der Fall doch eigentlich klar. Wenn da nicht etwas wäre, was die klare Zuordnung stören würde: E: E che cosa pensa che […] se andate in
E: Und was denken Sie dass – wenn Sie nun nach Italien gehen?
Italia adesso? L: Be’, se andiamo in Italia, diciamo [.] si
L: Nun, wenn wir nach Italien gehen,
può vivere un po’ [.] un po’meglio.
sagen wir, man könnte ein wenig besser
Soltanto [..] [mit lauter Stimme, jedes
leben. Nur dass [mit lauter Stimme, je-
Wort einzeln betont:] che noi siamo
des Wort einzeln betont:] dass wir’s ge-
abituati [.] qui in Svizzera, dopo tanti
wohnt sind, hier in der Schweiz, nach all
anni [.] è un po’ difficile la vita, come
den Jahren, ist es ein wenig schwierig,
cambia, di una persona. Dopo ta-
das Leben, wie es ändert. Nach all-
A:
Tutto quello che sentiamo in Italia.
L: Dopo tanti anni, perché abbiamo qui a
A:
All das was wir in Italien hören.
L: Nach all den Jahren, weil hier in Bern
Berna tutti gli amici [.] abbiamo tutto
haben wir alle Freunde, haben alles,
[.] e non è magari che noi [.] che siamo
und es ist nicht etwa so, dass wir, dass
stati due anni, tre anni, che dopo
wir zwei, drei Jahre hier gewesen wä-
magari [.] [unverst.] e vai via. Dopo 46
ren, dann vielleicht [unverst.] und gehst
anni [..] andare [.] andare in Italia,
weg. Nach 46 Jahren – gehen, nach Ita-
D AS E HEPAAR L ILLO
| 471
non c’è gli amici. [.] C’è la sorella [.]
lien gehen, da hat’s keine Freunde. Da
fratello [.] ma [.] non conosciamo
hat’s die Schwester, Bruder, aber sonst
nessuno. E dopo a noi, quando sarà, è
kennen wir keinen. Und so ist es für uns,
un po’ dura. Quando andiamo. Perché
wenn’s soweit ist, ist es ein wenig hart.
la nostra vita è stata qui in Svizzera. E
Wenn wir gehen. Denn unser Leben war
quando un giorno partiremo [..] giù in
hier in der Schweiz. Und wenn wir eines
Italia, e allora e ehm [..]
Tages gehen werden – runter nach Italien, und dann und ehm –
A:
Un po’ triste.
A:
Ein wenig traurig.
L: Rimane un po’ di [..] [unverst.]
L: Bleibt ein wenig – [unverst.]
A:
A:
Si, rimane con
Ja, dann bleibt,
quanto tempo lasciato un pezzo di noi
mit all der Zeit, ein Stück von uns hier
qua, no.
zurück, nicht.
L: Perché noi [..] tanti anni
L: Weil wir – all die Jahre
A:
A:
Noi l’abbiamo
Uns hat’s hier gut
trovato bene qua, l’abbiamo trovato,
gefallen, hat es uns, nicht. Zum Arbei-
no. [.] Per lavorare, [.] per la, avere,
ten, zur, zu haben, sozusagen, Kontakte
così dire, contatti con le persone, siamo
mit den Personen, ist es uns sehr gut ge-
stati molto bene. [.] Gli ho trovato
gangen. Ich habe sie freundlich gefun-
gentili, siamo gentili [.] eh, così, ci
den, wir sind freundlich, eh, so, uns ge-
piace stare qua, no. E le possibilità che
fällt es, hier zu sein, nicht. Die finan-
non si può stare. Perché per quello che
ziellen Möglichkeiten sind so, dass man
ci danno, può andarsi anche in Italia,
nicht bleiben kann. Denn für das was sie
che andiamo bene, un pocchettino
uns geben, da kann man auch nach Ita-
meglio, però [.] non sappiamo. Ne qua
lien gehen, ginge es uns gut, ein klein
ne là adesso.
wenig besser, aber wir wissen’s nicht. Weder hier noch dort jetzt.
(Transkript Lillo 1, 7/37 – 8/16) Was die vermeintlich eindeutige Zugehörigkeit der Lillos irritiert, ist ein Gefühl, sich in Bern so sehr angewöhnt zu haben, dass man auch hier hin gehört. ‚Unser Leben war hier in der Schweiz‘, und nicht dort, wo die Lillos eigentlich dachten, dass sie hin gehören, nämlich dort, wo sie einmal her gekommen sind. Dort haben sie keine sozialen Netzwerke mehr, die Netzwerke haben sie hier, und wenn sie diese zurücklassen müssten, dann würden sie ‚ein Stück von sich‘ verlieren. Das, was einen ausmacht, das, was definiert, wohin man gehört, ist also nicht nur die Herkunft, sondern vor allem eben auch der Lebensmittelpunkt, der
472 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Ort und das soziale Umfeld, mit dem man im Alltag interagiert. Diese Erkenntnis bringt Leonardo hier sehr prägnant zum Ausdruck, bis er vor dem Ausmaß der Zerrissenheit zwischen der Zugehörigkeit zum Ort, wo man herkommt, und dem Ort, wo man gelebt hat, schier die Worte verliert. Dann übernimmt Angela, die bisher eigentlich als klare Verfechterin einer Zugehörigkeit zum Herkunftsort aufgetreten ist, und thematisiert auch ihrerseits die Erfahrung, dass Zugehörigkeit nicht eindeutig ist. Sie bemüht sich aber darum, die Argumentation wieder von der emotionalen Ebene wegzuführen, die Leonardo zum Verstummen bringt. Sie bringt diesen emotionalen Zwiespalt zuerst auf den Punkt (‚ein Stück von uns bleibt zurück‘), um dann wieder zu einer sachlicheren Auseinandersetzung über ‚Kontakte zu netten Personen‘ und ‚es ging uns gut hier‘ zu den ‚finanziellen Möglichkeiten‘ zu kommen, welche die Lillos im Alter ‚nicht bleiben lassen‘. Wo gehören die Lillos also hin? Gehören sie ‚dort hin‘ nach Italien, wo sie vor langer Zeit her gekommen sind und wohin sie eigentlich immer zurückkehren wollten? Dort, wo es sich – vielleicht – mit der bescheidenen Rente etwas komfortabler leben ließe? Oder ‚hier hin‘, nach Bern, wo sie ihr Leben gelebt haben, wo ihre Freunde und Bekannten sind? Wo ihnen ihr Umfeld vertraut ist? Wo sie ihre Netzwerke haben, ihre Ärzte kennen, wo die Gesundheitsversorgung so gut ist? Die Lillos ‚wissen nicht‘, wo sie im Alter hin gehören, sie gehören jetzt ‚weder hier noch dort‘ hin. Die Option, dass sie vielleicht sowohl hier als auch dort hingehören, wird nicht angesprochen. Wo man lange lebt, gehört man mit der Zeit immer auch ein wenig hin (vgl. dazu Elias/Scotson 2002). Angela vor allem scheint aber über die Jahre in der Schweiz an einer festen und klaren Zugehörigkeit zum Herkunftsort festgehalten zu haben. Solange es keinen Anlass gab, die eigene Zugehörigkeit zu benennen, respektive solange die tatsächliche Rückkehr nicht konkret war, wurde die eindeutige Zuordnung Angelas auch nicht in Frage gestellt. Vielleicht hätten Kinder bewirkt, dass die absolute Zugehörigkeit schon früher hinterfragt worden wäre, dass sich Angela und Leonardo hätten damit auseinander setzen müssen, wohin sie gehören. Vielleicht würden sie ihre Situation dann auch eher als ein ‚sowohl als auch‘ verstehen, und weniger als ein ‚weder hier noch dort‘. Denn die Erfahrung, sich sowohl dem Herkunftsort wie auch dem konkreten Aufenthaltsort verbunden zu fühlen, ist wohl eine der elementarsten Migrationserfahrungen überhaupt. Die entscheidende Frage hier ist, wann und unter welchen Umständen es notwendig wird, die eigene Zugehörigkeit explizit zu definieren. Bisher hat sich diese Frage bei den Lillos vielleicht noch nicht aufgedrängt. Es gab keine pubertierenden Kinder, welche die Frage ihrer Zugehörigkeit gestellt hätten. Es gab keine einschneidenden Diskriminierungserfahrungen, keine Krisen am Arbeitsplatz, welche Anlass hätten sein können, in der Rückmigration einen Aus-
D AS E HEPAAR L ILLO
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weg zu sehen. Im Hinterkopf war die Idee immer präsent, dass man später einmal zurückkehren würde, doch konkrete Anlässe, die eine Entscheidung aufgedrängt hätten, gab es nicht. Nicht einmal eine zeitlich klar festgelegte Pensionierung gab es, also kein im Voraus absehbares und planbares Ende der Arbeitstätigkeit, das Anlass zur Vorbereitung einer Rückkehr hätte sein können. Die Befreiung aus der Pflicht zur Erwerbsarbeit als Lebenssituation, in der einen nichts mehr hier hält und es Zeit wäre zu gehen, hat sich durch die Hintertür in das Leben der Lillos eingeschlichen. Nichts und niemand drängt eine Entscheidung von außen auf, es liegt einzig und allein an Angela und Leonardo, ob und wie sie eine Entscheidung treffen. Und die Konfrontation mit solch uneingeschränkter Entscheidungsfreiheit ist für die Lillos ein ungewohntes Terrain.
6.6 D IE
ZENTRALEN T HEMEN : ALTERN OHNE FAMILIÄRES N ETZ UND R ÜCKKEHROPTION
Die Art, wie Angela und Leonardo ihre individuelle wie auch ihre gemeinsame Βiographie konstruieren, thematisiert kaum eigene Handlungs- und Entscheidungsfreiheiten, sondern betont einerseits kollektive Entscheidungen, andererseits fremdbestimmte Handlungsvorgaben. So wurde der Entschluss zur Migration kollektiv gefasst, in den Familien nämlich. Weder Leonardo noch Angela haben eigenständig darüber entschieden, noch haben sie eine Pionierfunktion in der Ausführung übernommen. Beide sind anderen gefolgt – Leonardo folgte seinem Schwager, Angela folgte Leonardo –, und beide sind in ihrem neuen Lebensumfeld durch andere eingewiesen worden. Arbeitsstellen waren organisiert, die Unterkunft ebenfalls. Den Schritt zum eigenständigen Wohnen machten Angela und Leonardo nicht allein, sondern gemeinsam, aus dem Haushalt der Schwester/Schwägerin heraus, nachdem die Arbeitsverhältnisse der beiden schon konsolidiert waren. Sowohl das Leben von Angela wie auch dasjenige von Leonardo ist vom Umfeld gelenkt worden. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Lillos in ihren Biographien nicht als eigenständige Individuen konzipieren würden. Ihre Erzählungen und Berichte aus dem Arbeitsleben zum Beispiel lassen sehr individuell gefärbte Bilder der Fabrikarbeiterin Angela und des Qualitätskontrolleurs Leonardo entstehen. Deren Handlungs- und Entscheidungsmacht jedoch ist gering, bestimmen tun andere über sie. Manchmal sind dies konkrete Personen: die Familie, der Schwager, der Patron, die Freundin, der Arzt, der Sozialarbeiter zum Beispiel. Und auf diese Entscheidungsträger, das zeigt sich insbesondere bei Leonardos Selbstpräsentation, können selbst die eher handlungs-unmächtig
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erscheinenden Lillos einen gewissen Einfluss nehmen. So führt z.B. Leonardo seine berufliche Laufbahn auf seine Geschicklichkeit, seine Geduld und seine Loyalität zum Patron zurück, was dieser bemerkt und ihn deshalb gefördert habe. Netzwerke pflegen und integer bleiben, das sind Leonardos biographisch bewährte Strategien. Manchmal sind es aber auch diffuse äußere Akteure, welche das Schicksal bestimmen, die wirtschaftliche Entwicklung, die Sozialwerke, das Rad der Zeit, oder Gott. Insbesondere Angela sieht ihr Schicksal von unkontrollierbaren äußeren Mächten gelenkt, und ihr biographisches Bearbeitungsmuster konzentriert sich auf das Aushalten, auf die Anpassung an diese äußeren Umstände durch die Arbeit an sich selbst. Angela lässt sich nicht klein kriegen, sie ist hart im Nehmen, sie gewöhnt sich an jede neue Situation und schafft es, auch drastische Verletzungen zu überleben und schier unglaubliche Schicksalsschläge auszuhalten. Die Migrationserfahrung widerspiegelt sich in Angelas biographischer Selbstdarstellung insofern, als es Hinweise darauf gibt, dass Angelas Handlungsmacht nicht nur, aber auch durch ihre Sprachlosigkeit beschränkt ist. Insbesondere ihre medizinischen Erfahrungen sind, neben Schicksalsergebenheit und Autoritätsgläubigkeit, auch geprägt von der Erfahrung, sich nicht ausdrücken zu können, nicht zu verstehen, sich nicht rechtzeitig wehren zu können. Während die Migration auf Angelas Leben zunächst kaum tiefgreifende Auswirkungen zeigt, werden ihr der Körper und die medizinische Behandlung des Körpers zum Prüfstein. Die Entwicklung ihrer körperlichen Gebrechen und die Erfahrungen, die sie mit der Behandlung ihrer Leiden macht, prägen ihr Altern entscheidend. Daneben macht sich Leonardos potenziell traumatische Erfahrung, seine Entlassung von der Arbeit, die er so gewissenhaft erfüllt hat, durch seinen Patron, dem er so loyal verbunden war, in seiner biographischen Selbstpräsentation ganz klein. Die paar Jahre zwischen Entlassung und Pensionierung lassen sich gut schönreden. Lediglich die indirekten Nachwirkungen der Entlassung – in Form einer geringeren Rente – sind nun noch ein biographisches Thema. Die Körpererfahrungen von Angela und deren sich potenzierenden negativen Auswirkungen im Alter prägen nicht nur ihr Leben entscheidend, sondern haben auch einschneidende Konsequenzen auf ihren Ehepartner. Er musste mit ansehen, wie seine Ehefrau beinahe starb, die Ehe blieb daraufhin kinderlos, seine Frau musste nicht nur ihre Erwerbstätigkeit früh aufgeben, sondern ist auch zusehends in der Ausübung ihrer Hausarbeiten eingeschränkt. Mehr und mehr geht damit die Verantwortung auf Leonardo über, er ist die einzige Bezugsperson, ist allein verantwortlich für sie, und er ist gleichermaßen abhängig von ihr, wie sie es von ihm ist. Die Erkenntnis dieser gegenseitigen Abhängigkeit äußert sich auch darin, dass die beiden sich ihre Sätze gegenseitig zu Ende bringen –
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ein besonders sichtbares Indiz dafür, dass die Lillos in ihrer biographischen Konstruktion sehr darauf bedacht sind, Konsens zu demonstrieren. Das Ehepaar Lillo, dessen Leben geprägt war von Fremdbestimmung, wird im Alter mehr und mehr auf sich selber zurückgeworfen. Die beiden haben keine Eltern mehr, keine Arbeitgeber mehr, die wenigen nahen Verwandten sind weit weg in Italien und mit ihren eigenen Familien beschäftigt, und die Bekannten hier in Bern teilen zwar ab und zu etwas Freizeit, sind aber kein integraler Bestandteil des ehelichen Alltags. Auch der kirchliche Sozialarbeiter kann diesen Alltag nicht mit Leonardo und Angela teilen. Die Lillos haben keine eigene Familie, sie sind allein, und sie müssen ihr Leben nun auch allein führen, ihre Entscheidungen allein fällen. Es ist absehbar, dass Angela immer mehr auf Leonardos Unterstützung angewiesen sein wird, dass er ihren Part im Haushalt teilweise wird übernehmen müssen – eine Vorstellung, die ihm nicht behagt, er scheint sich nicht so vertraut zu fühlen mit häuslichen Aufgaben wie z.B. Herr Rosetti (siehe Kapitel 5.4). Und insofern ist nicht nur Angela von Leonardo, sondern Leonardo auch von Angela abhängig. Zudem ist Leonardos kleine Autonomie, das Freizeitleben außer Haus – die morgendlichen Treffen mit Freunden im Café, die Schwätzchen auf der Straße und die abendlichen Besuche im Fitnesszentrum – dadurch auch gefährdet. Am liebsten wäre ihm eine Haushaltshilfe, doch die können die Lillos nicht selber bezahlen, ihre finanziellen Möglichkeiten sind zu beschränkt. Die Lebenslage der Lillos im Alter ist nicht nur durch gesundheitliche, sondern auch durch finanzielle Einbußen geprägt. Und dabei ging es den Lillos früher eigentlich gar nicht so schlecht, wie sie sagen: Sie hatten feste Arbeit und ein regelmäßiges Einkommen. Man konnte sich kaufen, was man wollte, man leistete sich alle fünf Jahre ein neues Auto, man fuhr in die Ferien nach Italien, und man investierte dort Geld in Immobilien. Die Lebensphase, in der andere ihre ökonomischen Ressourcen in ihre Kinder stecken, haben Leonardo und Angela bei voller Erwerbstätigkeit in bescheidenem Wohlstand verbracht. Das Alter hingegen ist in ihrer Sicht nun geprägt durch Einschränkungen und steht für Leonardo und Angela unter dem prägenden Motto des Verzichts, des Verlustes, der sich kontinuierlich reduzierenden Lebensqualität, in körperlicher wie in finanzieller Hinsicht. Und der Immobilienbesitz in Italien? Auch dieser stellt eine Reserve dar, er könnte verkauft werden, oder er könnte genutzt und damit Mietkosten gespart werden. Ein Verkauf wird von den Lillos nicht thematisiert, die Nutzung hingegen schon: Würden die Lillos in ihr Haus nach Italien ziehen, würden sie Miete sparen und könnten so eventuell besser von ihrer Rente leben. Die ‚casa in Italia‘ ist in der biographischen Konstruktion der Lillos jedoch nicht nur als finan-
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zielle Ressource präsent, sondern auch als symbolische Ressource, als Ausweg aus der gegenwärtigen Lebenslage. Das Haus in Italien steht für die Möglichkeit, das Leben in Bern verlassen zu können, es verspricht ein besseres Leben, nicht nur durch die Einsparung der Miete. Diese Funktion hat das Haus wahrscheinlich nicht erst im Alter bekommen, auch wenn es in der biographischen Selbstpräsentation der Lillos erst in diesem Kontext erwähnt wird. Die symbolische Bedeutung des Hauses als Hintertür aus dem Leben in der Migration, wie auch seine Bedeutung als bleibendes Indiz für den früheren Erfolg, von dem heute nicht mehr viel zu sehen ist, macht auch nachvollziehbar, warum die Option eines Verkaufes nicht erwähnt wird. Doch eine tatsächliche Rückkehr wurde bisher nicht ernsthaft geplant, und sie erscheint auch wenig wahrscheinlich. Zu viele Unsicherheiten sind damit verbunden, zu groß ist die Angst davor, nichts dabei zu gewinnen, sondern noch mehr zu verlieren: Die sozialen Kontakte nämlich, und die gute medizinische Versorgung der Schweiz. Und so wird das Haus vielleicht eine symbolische Hintertür bleiben, wird präsent bleiben als Versprechen eines besseren Lebens, aber nie ein langfristig bewohntes Zuhause sein. Denn allein sind die Lillos sowohl hier wie dort, daran lässt sich nichts mehr ändern. Die Lebenslage der Lillos zeichnet sich im Alter aus durch geringe finanzielle Ressourcen und gesundheitliche Beeinträchtigungen, sowie durch soziale Isolation. Alle drei Aspekte sind Merkmale, die typischerweise biographische Wurzeln haben und im Alter spezifische Wirkungen entfalten. Es sind Nachwehen früherer Lebensumstände. Die Migration hat diese Lebenslage insofern geprägt, als beide eine für ‚Gastarbeiter/innen‘ typische Erwerbstätigkeit als unqualifizierte Arbeiter/in in Bau und Industrie gefunden haben. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen Angelas sind darauf zurückzuführen, dass sie die eben erst angetretene Stelle nicht gefährden wollte durch eine Krankschreibung. Dies hat insofern mit Angelas Migrationserfahrung zu tun, dass sie in einem Umfeld sozialisiert wurde, in dem industrielle Lohnarbeit selten war, und dass sie deshalb nicht sehr vertraut war mit den möglichen Konsequenzen einer Krankschreibung. Die biographische Verankerung des Umstandes, dass die Ehe der Lillos kinderlos geblieben ist, hat hingegen eine sehr ausgeprägte migrationsspezifische Komponente, nämlich diejenige der fehlenden Sprachkompetenz und der daraus resultierenden eingeschränkten Handlungsfähigkeit Angelas bei medizinischen Beratungen und Behandlungen. Die aus der Kinderlosigkeit resultierende soziale Isolation im Alter ist nicht per se migrationsbedingt. Ihre Konsequenzen sind allenfalls etwas verstärkt, z.B. dadurch, dass die fehlenden kernfamiliären Netzwerke wegen der weiten Distanzen nicht so einfach durch erweiterte familiäre Beziehungen ersetzt werden können, da alltägliche Bezie-
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hungspflege und gegenseitige Unterstützung geographische Nähe voraussetzt. Die außerfamiliäre soziale Integration der Lillos scheint hingegen relativ gut zu sein. Doch diese Kontakte sind nicht diejenigen, auf die man sich im Alter verlassen kann, und deshalb empfinden sich die Lillos als ‚allein‘. Die deutlichste Nachwirkung der Migration im Alter ist im Falle der Lillos die unklare Zugehörigkeitssituation, symbolisiert durch das Haus in Italien als Alternative zum jetzigen Leben. Das Bewusstsein, dass es einen anderen Ort gibt, von dem man einst hergekommen ist und zu dem man – theoretisch oder wie bei den Lillos auch ganz praktisch – zurückkehren könnte, ist eine elementare Besonderheit der Migrationserfahrung. Bei den Lillos wird diese Option eines anderen Ortes im Alter zum zentralen Topos, und zwar insbesondere im symbolischen Sinn einer nicht verwirklichten, hypothetischen Option. Dass diese Option besteht, ja sich angesichts des Immobilienbesitzes sogar aufdrängt, bietet den biographisch fremdbestimmten Lillos nun eine konkrete Handlungsoption im Umgang mit der als schwierig empfundenen Alterssituation. Eine Handlungsoption, die nach einer bewussten, eigenständigen Entscheidung für oder gegen den Verbleib, für oder gegen eine Remigration verlangt. Und mit dieser Entscheidung, so scheint es, sind die beiden bisher nicht zurechtgekommen. Ihr biographisch akkumuliertes Erfahrungskapital, ihre biographisch bewährten Handlungsstrategien des Aussitzens, des Sich-Bewährens, damit andere zuvorkommend über sie entscheiden, haben sich im Arbeitsleben wie auch in der Bewältigung schwieriger Situationen wie z.B. den Krankheitsepisoden zwar gut bewährt. Für die offenbar nun anstehende große Entscheidung über eine Rückkehr hingegen fehlt den Lillos eine entsprechende Handlungsroutine. Und zudem hat die lange gehegte Vision, irgendwann einmal zurück zu kehren, inzwischen auch ihre Ecken und Kanten bekommen – Erkenntnisse, die eine Entscheidung noch schwieriger machen. Das Reden der Lillos übers Altern, geprägt von sozialer Isolation aufgrund der Kinderlosigkeit sowie von kontinuierlichen gesundheitlichen und ökonomischen Verlusten, arbeitet sich in erster Linie an der Frage der Rückkehr ab. Werfen wir nun einen Blick auf die Kurzanalyse eines weiteren Paares, welches in einer vergleichbaren Lebenslage eine ganz andere Form des Umgangs damit entwickelt hat.
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6.7 E INE ANDERE S ICHTWEISE AUF SOZIALE I SOLATION UND R ÜCKKEHR : D IE M ORELLINIS Die Lebenslage der Morellinis im Alter weist gewisse Parallelen zu den Lillos auf: Sie ist gezeichnet durch prekäre finanzielle Verhältnisse und soziale, insbesondere familiäre Isolation. Beide Ehepartner haben in der Schweiz Arbeitskarrieren absolviert, die mit denjenigen der Lillos vergleichbar sind. Und beide schieden vorzeitig aus dem Erwerbsleben aus, Ilaria aus gesundheitlichen Gründen, Sergio wurde entlassen. Dennoch ist ihre Art zu Altern eine ganz andere, und die Frage der Rückkehr stellt sich wiederum ganz anders. Sergio und Ilaria Morellini sind zum Zeitpunkt des Interviews 71 und 77 Jahre alt. Beide sind in den 1950er Jahren alleinstehend in die Schweiz migriert. Sergio stammt aus Norditalien, Ilaria aus Mittelitalien. Kennen gelernt haben sie sich in den ersten Jahren hier in der Schweiz. Beide haben in typischen ‚Gastarbeiter‘-Branchen gearbeitet und langjährige Anstellungen gefunden, welche sie bis zu ihrer Pensionierung behielten. Die Verrentung fand bei beiden leicht verfrüht statt: Ilaria schied aus gesundheitlichen Gründen aus dem Erwerbsleben aus, Sergio wurde wegen schlechter Konjunkturlage zwei Jahre vor Erreichen des regulären Pensionsalters entlassen. Die gegenwärtige finanzielle Situation ist knapp, aber (noch) nicht prekär genug, um zum Bezug von Sozialleistungen zu berechtigen. Die Morellinis haben keine Kinder, sie besitzen kein Haus in Italien und hegen keine Rückkehrabsichten. Ihr dominierendes Thema bezüglich der Lebensphase nach der Erwerbsarbeit ist der Kampf um die vollständige Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Erhöhung ihrer Renten und ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber Behörden und Beratungsstellen. Auch mir und meinem Anliegen gegenüber zeigen sich Ilaria und Sergio zuerst äußerst misstrauisch. Der Kontakt zu den Morellinis wurde mir über eine italienische Beratungsstelle für Arbeits- und Rechtsfragen, ein sog. ‚patronato‘16, vermittelt. Sergio macht gleich zu Beginn des Gespräches klar, dass er nur deshalb mit mir rede, weil ich vom Leiter dieser Beratungsstelle empfohlen worden sei – der einzigen Person, der Sergio noch vertraue. Aufgrund der geäußerten Skepsis investiere ich bei den Morellinis mehr Zeit als gewöhnlich in die Vorbe-
16 Die ‚patronati‘ sind Einrichtungen von italienischen Gewerkschaften, Berufsverbänden und Arbeiterbewegungen, die Beratungen bezüglich Arbeitsrecht und sozialer Sicherheit in Italien, aber auch im Ausland, anbieten. In der Stadt Bern werden gegenwärtig fünf verschiedene solche Beratungsstellen betrieben. Deren Dienstleistungen sind in etwa dieselben, die ‚patronati‘ unterscheiden sich aber, je nach institutioneller Affiliation, in ihrer grundsätzlichen politischen Ausrichtung.
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reitung des Interviews. Das eigentliche Interview beginnt mit der biographischen Selbstpräsentation von Ilaria; Sergio erzählt seine Lebensgeschichte später. Die Morellinis erzählen tendenziell eher zwei individuelle Biographien, als eine gemeinsame Paarbiographie. Beide richten ihre Geschichten auf Arbeit aus, und darin speziell auf Fragen der fehlenden Sozialversicherung und daraus entstehenden langwierigen Verhandlungen mit Behörden zum Zeitpunkt der Pensionierung. Dieses Thema ist insbesondere Sergios Anliegen. Ilaria, so erfahren wir gleich zu Beginn ihrer biographischen Selbstpräsentation, stammt aus einer ländlichen Gegend in den Abruzzen (Mittelitalien). Ihre Eltern hatten sechs Töchter – Ilaria ist die zweitälteste – und bestritten den Lebensunterhalt mit Landwirtschaft ‚in mezzadria‘17. Das Herkunftsmilieu von Ilaria ist, so lässt sich aus diesen Angaben schließen, ein ländliches, ärmliches Umfeld, in dem die Familie von Ilaria sehr ausgeprägt als ökonomische Einheit funktionierte. Ilaria spricht explizit und wiederholt von ‚wir‘, einer kompakt erscheinenden ökonomischen Einheit bestehend aus ihren Schwestern und den Eltern, resp. später nur noch der Mutter. Zuerst wurde gepachtetes Land bewirtschaftet, und bei dieser Arbeit mussten alle mithelfen. Nachdem der Vater gestorben war, wurde die Landwirtschaft aufgegeben. Ilaria sagt, es gäbe zu viele Arbeiten in der Landwirtschaft, die Männerarbeiten seien, und sieben Frauen allein könnten keinen Hof betreiben. Die Familie wird durch den Tod des Vaters aus der äußeren strukturellen Verankerung gelöst und schließt sich gegen innen noch stärker zu einer ökonomischen Einheit zusammen. Mutter und Schwestern verlassen das Dorf, ziehen herum, suchen Arbeit, leben das unstete Leben von Tagelöhnern, bleiben aber dicht beieinander und fällen Entscheidungen zum Wohle des ‚Wir‘. E poi eh [.] siamo andati un po’ qua un po
Und dann eh sind wir hier- und dorthin
là e [.] prima abbiamo lavorato [.] privato.
gegangen und, zuerst haben wir privat ge-
Abbiamo lavorato privato, ma [.] vedi,
arbeitet. Haben privat gearbeitet, aber
anche là, [.] da questi padroni ricchi, no.
weißt du, auch dort, bei diesen reichen
Andavamo a pulire la casa, no. Fare da
Herrschaften, nicht. Sind wir das Haus
mangiare, e non mi aveva messo delle
putzen gegangen, nicht. Essen gemacht, und
marchette. Perché a quei tempi là, avevo
der hat mir keine Marken gesetzt. Denn
bisogno dei soldi, e allora mi davano i
damals hatte ich Geld nötig, und so gaben
soldi, invece di fare un’assicurazione.
sie mir das Geld, statt mir eine Versiche-
17 Die ‚mezzadria‘ war ein in Mittel- und Süditalien verbreitetes Pachtsystem, bei dem die Hälfte des landwirtschaftlichen Ertrags an den Grundbesitzer, den ‚padrone‘ abgetreten werden muss.
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rung zu machen.
(Transkript Morellini, 1/35 – 1/39) Dabei blieb, wie Ilaria hier schon ganz früh in ihrer biographischen Selbstpräsentation andeutet, der Gedanke an die Absicherung des Rentenalters auf der Strecke. Ilaria wehrte sich nicht, als der oben erwähnte Arbeitgeber sie nicht sozialversicherte. Damals, so rechtfertigt sie sich heute, ging es darum, etwas Geld für die Familie zu verdienen, der Rest war unwichtig. Erst später, als Ilaria pensioniert wurde und Schwierigkeiten hatte, ihren Rentenanspruch in Italien zu belegen, bekam dies für sie eine Relevanz. Die Entscheidung, dass Ilaria in die Migration gehen sollte, wurde im Familienverbund gefällt. Die Idee zur Migration kam von Freundinnen, welche bereits in der Schweiz arbeiteten. Ilaria legt diesen Freundinnen die Aussage in den Mund, dass sie und ihre Schwestern doch zu mehr fähig seien als der erniedrigenden Arbeit für reiche Herrschaften. Eine der Freundinnen organisierte 1958 einen Vertrag für Ilaria und zwei andere Schwestern18. Zu dritt reisten sie in die Schweiz und arbeiteten im ersten Jahr auch zusammen, als Küchenhilfen im Gastgewerbe eines touristischen Zentrums im Berner Oberland. Es folgen weitere Saisonanstellungen im Gastgewerbe, u.a. auch in Bern. Dort hatte Ilaria eine Arbeitskollegin, welche dann in den Industriebetrieb Berger wechselte und Ilaria nachzog. 1962 trat Ilaria ihre Anstellung als Fabrikarbeiterin an und blieb bis zu ihrem Rückzug aus dem Erwerbsleben im Jahr 1989. Ihre beiden Schwestern kehrten nach wenigen Jahren zurück nach Italien, doch Ilaria blieb, wie sie explizit betont, allein hier. Dies ist der Punkt in ihrer biographischen Selbstpräsentation, an dem sie den Modus des ‚wir‘ verlässt und zu einem ‚ich‘ wird, zu einer eigenständigen Person, frei von familiären Bindungen und Verpflichtungen, für sich alleine verantwortlich. Die Heirat mit Sergio vervollständigt in Ilarias Darstellung diesen durch die Migration bereits eingeschlagenen Weg zur Eigenstän-
18 Von den sechs Schwestern der Familie gingen diejenigen in die Migration, die zu dem Zeitpunkt nicht verheiratet waren, wie ich auf gezieltes Fragen hin erfahre. Gleichzeitig sind es die drei älteren Schwestern, die weggingen. Ilaria selbst, die mittlere der drei, war zum Zeitpunkt der Migration 31 Jahre alt – ein Alter, in dem eine Heirat zunehmend unwahrscheinlich wurde. Die drei jüngeren Schwestern hingegen hatten offenbar Ehepartner gefunden. Ilaria kommentiert ihr Unverheiratet-Sein nicht. Vielleicht waren die Umstände von Mutter und Töchtern in der Nachkriegszeit so schwierig, die Arbeitszeiten in den Privathaushalten so lang, das Leben so unstet, die Ortswechsel so häufig, dass sich für die älteren Schwestern zunächst keine Möglichkeiten ergaben, potentielle Ehepartner zu finden, bis sie schon fast zu alt waren.
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digkeit. Als verheiratete Frau konnte Ilaria aus der Wohngemeinschaft mit ihrer Schwester und deren Mann auszuziehen und einen eigenen Hausstand gründen. Ilaria lernte ihren Ehemann Sergio in Bern kennen. Sie arbeitete bereits ein gutes Jahr bei der Firma Berger und hatte eine feste Aufenthaltsbewilligung (BBewilligung). Sergio hingegen unterstand damals, obwohl schon die achte Saison auf dem Bau, immer noch dem Saisonier-Statut (A-Bewilligung). Er hatte keinen festen Wohnsitz, sondern lebte in Baracken auf den Baustellen, und er war verpflichtet, die Schweiz nach dem Ende der Bausaison zu verlassen. So arbeitete er schon seit sechs Jahren bei derselben Berner Baufirma, ohne geregelte Lebensumstände. Seine Brüder in Italien waren inzwischen verheiratet und hatten eigene Haushalte, seine Freunde und Arbeitskollegen in Bern auch. Sergio beschloss, es sei nun an der Zeit, selber auch zu heiraten. Also suchte er eine Frau, sprach darüber auch mit Arbeitskollegen, und einer davon wusste von einer Kollegin seiner Ehefrau, die unverheiratet war. Ilaria und Sergio wurden einander vorgestellt und heirateten ein halbes Jahr später. Beide kommentieren dies mit kurzen Floskeln, die darauf schließen lassen, dass die Sache schnell und unkompliziert abgewickelt wurde und dass diese Ehe pragmatisch beschlossen wurde und für beide ein Gewinn war. I: Quella [sorella] lo stesso dopo [.] si è
I: Diese Schwester ist dann auch runter
andata in giù, e [.] si è sposata con un
gegangen, hat einen Leccese geheiratet.
Leccese. [.] E io rimasta qui! [.] Io
Und ich bin hier geblieben! Ich hier ge-
rimasta qui, sono andata alla Berger,
blieben, bin zur Berger gegangen – bin
[..] sono andata al ’62, a fine all’89. [.]
im ’62 gegangen, bis ins ’89. Hab ich
Ho lavorato alla Berger, io. [.] Dopo
bei der Berger gearbeitet. Dann hab ich
ho conosciuto questo. [***] Eh, dopo
diesen hier kennen gelernt. [***] Eh,
ci siamo sposati, alla Missione
dann haben wir geheiratet, in der
Cattolica, e via!
Missione Cattolica, und weg!
E: E come ha fatto conoscenza?
E: Und wie haben Sie sich kennen gelernt?
I: Ah! Lui lavorava alla Raetz dove era
I: Ah! Er arbeitete bei der Raetz, war dort
muratore. [..] S: Parlando con un amico, sono stato parlando [.] che i problemi sono tutte di
Maurer. – S: Als ich mit einem Freund sprach, hab mit ihm darüber gesprochen, dass all
cose, [..] e dopo lui ha detto: „Eh, io, la
diese Probleme da sind, – und da hat er
moglie lavora là e c’è una signora,
gesagt: „Eh, meine Frau arbeitet dort
signorina“, insomma così. Ed è stato
und da ist diese Frau, Fräulein“, etwa
conoscere, ci siamo conosciuti e sei
so. So hat man sich kennen gelernt, ha-
mesi siamo sposati, buona notte, perché
ben wir uns kennen gelernt, und sechs
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poi dopo ridi così.
Monate später sind wir verheiratet, gute Nacht, dann ist alles in Butter.
(Transkript Morellini, 2/28 – 2/40) Die Eheschließung von Ilaria und Sergio war eine Art Zweckgemeinschaft, die eine gewisse Unabhängigkeit und einen bequemeren Lebensstil ermöglichte. Vielleicht waren sie glücklich, es mit 37 resp. 31 Jahren doch noch unter die Haube geschafft zu haben19. Sicherlich haben beide etwas von der Verbindung gehabt, die Aussicht auf eine ordentliche Wohnung, Sergio ein warmes Abendessen und gewaschene Kleider, und Ilaria die Unabhängigkeit von ihren Schwestern. Zur Gründung eines eigenen Hausstandes suchte das frisch vermählte Ehepaar eine eigene gemeinsame Wohnung. Kurz darauf erhielten sie über den Bauunternehmer, bei dem Sergio angestellt war, eine firmeneigene Wohnung am Stadtrand. Dort wohnen die Morellinis auch heute noch. Die Ehe blieb kinderlos. Sergio äußert sich gar nicht dazu. Ilaria deutet in einigen Bemerkungen an, dass sie nicht unglücklich darüber war, von Kinderlärm und Problemen mit adoleszentem Nachwuchs verschont gewesen zu sein. Ob die Kinderlosigkeit dem ausdrücklichen Wunsch des Paares entsprach, oder ob die von Ilaria geäußerte Zufriedenheit eine nachträgliche Rationalisierung ist, dazu fehlen weitere Hinweise.
19 Das Heiratsalter ist, wie Bell (2007 (1979): 78f) im Hinblick auf Italien festhält, abhängig von unterschiedlichen Variablen. Zu bedenken sind u.a., zumindest auf den hier relevanten geographischen und historischen Kontext bezogen, ökonomische Aspekte (Heirat bedeutet z.B. die Gründung eines eigenen Hausstandes, und dies wiederum bedingt ökonomische Ressourcen), politische Aspekte (z.B. Militärdienste und Fronteinsätze von potenziellen Ehemännern), soziokulturelle Aspekte (wie die Durchlässigkeit von Klassengrenzen, sozial akzeptable Altersabstände, regulative Kontrolle von Begegnungsräumen zwischen Männern und Frauen) und demographische Aspekte (Geburten- und Sterblichkeitsraten, Geschlechterverhältnis etc.) beeinflussen alle die potenzielle Auswahl von Ehepartner/innen wie auch die Anforderungen, welche an eine Ehe gestellt werden. Knappe Ressourcen, unstete Lebensumstände wie Armut und Krieg etc. führen also durchaus zu eher spätem Heiratsalter. Migration kann einerseits das Feld möglicher Heiratspartner/innen zusätzlich einschränken (vgl. dazu die Situation von Leonardo Lillo weiter oben), andererseits löst Migration das Individuum auch aus den Regulierungen des unmittelbaren sozialen Umfeldes und eröffnet damit mehr individuellen Spielraum in der Auswahl von Heiratspartner/innen (Bell 2007(1979): 91).
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Ilaria war in der Schweiz ohne Unterbruch erwerbstätig. Sie arbeitete in einem anderen Bereich der Firma Berger als Angela Lillo20, nämlich als Stanzerin im Akkord, eine Arbeit, mit der sie sehr zufrieden war. Ihr Arbeitsumfeld beschreibt sie als heterogen: Frauen wie Männer, aus Italien, Spanien und der Schweiz. An der Akkordarbeit schätzte sie die Möglichkeit, bei schneller Arbeit mehr verdienen zu können. Als Ilaria auf die 60 zuging, reduzierte sie ihr Pensum, zuerst um einen halben Tag, später um einen Tag. Ilaria begründet dies damit, dass sie mehr Zeit für die Arbeiten im Haushalt haben wollte. Sergio ermahnt sie hier, sie müsse zugeben, dass sie ermüdet war, die Arbeit zu anstrengend wurde, das Akkord-Soll schwierig zu erreichen. So habe er ihr geraten, weniger zu arbeiten. Mit 62 Jahren (1989) ging Ilaria dann in Pension. Offenbar gab es bei den Morellinis Unklarheiten und Komplikationen mit der Auszahlung von Renten, Treueprämien und Alterskapitalien, und diese rücken im Interview nun ins Zentrum. Einerseits war die Einforderung der Rente vom italienischen Staat schwierig: Die Behörden in Italien erkannten Ilarias Arbeitsleistungen in Privathaushalten nicht an, da sie dafür keine ‚marchette‘/ ‚Marken‘ vorweisen konnte. Zudem gab es, nicht zuletzt aufgrund der schrittweisen Reduzierung des Arbeitspensums vor dem eigentlichen Erwerbsaustritt, Schwierigkeiten mit der Pensionskasse von Ilarias Arbeitgeber in der Schweiz. Sergio holt hier weit aus, empfindet die Informationspolitik des Arbeitgebers, der Behörden und der Beratungsstellen als verwirrend, die bürokratischen Wege – besonders in Italien – als verschlungen. Er scheint viel investiert zu haben, um Ansprüche zu klären und Absagen zu hinterfragen, fühlt sich in gewisser Weise auch abgewimmelt und hintergangen, erzielte aber auch kleinere Erfolge. Klar wird hier, dass Finanzen eindeutig sein Zuständigkeitsbereich sind und dass er nicht so leicht locker lässt, wenn er sich im Recht wähnt. Nachdem Sergio sich ausführlich zum Thema Renten und Pensionskassengelder geäußert hat, fragt er Ilaria, ob sie fertig sei mit Erzählen. Ilaria betont, ihre biographische Selbstpräsentation abschließend, dass sie ein gutes Leben geführt habe, es sei ihr immer gut ergangen in der Schweiz, am Arbeitsplatz wie am Wohnort. Es seien keine Kinder da gewesen, die hätten Lärm machen können, nur sie beide, ganz in Ruhe, ab und zu vielleicht Freunde. Diese Freunde bräuchten sie nur anzurufen, wenn sie etwas nötig hätten, dann kämen die sofort vorbei. Ilaria setzt damit ihrer biographischen Präsentation ein explizit schönes Ende, zeichnet ein erfolgreiches, ausgefülltes biographisches Gesamtbild, in dem zudem die positive Seite des Alleinseins herausgestrichen wird, die Ruhe, die ungestörte Zweisamkeit. Nun beginnt Sergio mit seiner Geschichte.
20 Mir ist nicht bekannt, ob Angela und Ilaria sich von der Arbeit kennen oder nicht.
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S: Allora, adesso tocca me, no? Comincio daccapo, io, no? La mia.
S: Also, dann bin ich jetzt dran, nicht? Beginne von vorn, nicht? Mit meiner.
E: Mhm!
E: Mhm!
S: Io, qua, son’ venuto in Isvizzera come
S: Ich bin hierher in die Schweiz gekom-
io ho detto. Prima, in Italia, io sono
men, wie schon gesagt. Zuerst, in Ita-
stato alle risaie. Ho fatto di tutto. Prima
lien, war ich auf den Reisfeldern. Hab
sono stato in Italia a lavorare perché
alles Mögliche gemacht. Zuerst habe ich
[.] siccome io ero il più vecchio di [.]
in Italien gearbeitet, denn da ich der
miei [..] miei fratelli, no? Papà era
älteste der Brüder war, nicht? Papa war
invalido. [..] Manca una gamba, senza
invalide. – Es fehlte ein Bein, ohne – eh,
[..] eh, senza pensione. Non ha mai
ohne Rente. Er hat nie eine Rente be-
avuto una pensione, no? E allora [***]
kommen, nicht. Und so [***] wurde ich
a 18 anni io ero passato [.] come si
mit 18 Jahren zum, wie sagt man, Fami-
dice, capo di famiglia, al posto di mio
lienoberhaupt, anstelle meines Vaters.
padre. E ci davano il lavoro solo
Und sie gaben uns nur vierzehn Tage
quindici giorni per uno, allora che era
Arbeit jedem, denn damals gab es wenig
poco lavoro. [***] E siccome io avevo
Arbeit. [***] Und da ich für zwei Brü-
in carico [..] due fratelli e la sorella,
der und die Schwester sorgen musste,
mia madre e padre, a me mi davano un
für Mutter und Vater, gaben sie mir ei-
mese invece di, quando c’era lavoro,
nen Monat anstelle von, wenn es Arbeit
no.
hatte, nicht.
(Transkript Morellini, 8/5 – 8/12) Sergio setzt den Anfangspunkt seiner Lebensgeschichte bei der Schilderung seiner Arbeitssituation in Italien und bereitet damit die Begründung seiner späteren Emigration vor. Sergio führt sich als ältester Sohn ein, der den Unterhalt für seine Familie verdienen musste. Die Familie von Sergio lebte in Norditalien, im Umland von Modena. Sein Vater war seit Sergios Geburt invalide, er hatte bei einem Arbeitsunfall ein Bein verloren und bekam keine Invaliden-Rente vom Staat, weil er zum Zeitpunkt des Unfalls nicht vorschriftsgemäß versichert war. Er versuchte, die Familie mit Gelegenheitsarbeiten durchzubringen, und auch Sergio trug schon als Kind so gut wie möglich durch Arbeit zum Familieneinkommen bei. Die Familie bewirtschaftete zusätzlich kleine Landstücke auf dem Dorf für den Eigenbedarf. Sergio ging früh von der Schule ab und suchte eine ausreichend bezahlte Arbeit, um seine Aufgabe als Familienoberhaupt erfüllen zu können. Meist bekam er nur kurzfristige Anstellungen, für ein paar Wochen. Die Suche nach fester Lohnarbeit führte Sergio auch in die großen Städte Norditaliens. Er verwendet viel Zeit auf die Beschreibung der Arbeitsbedingungen,
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die er als ungerecht empfand: Arbeit war knapp, Arbeitswillige gab es viele, Arbeitgeber konnten sich Einiges erlauben, zahlten z.B. Löhne nicht aus, versicherten ihre Arbeitnehmer nicht ordnungsgemäß. Am gerechtesten empfand Sergio die Arbeitsbedingungen im Reisanbau, wo er als Jugendlicher als Wasserträger arbeitete und die Reispflanzerinnen auf den Feldern mit Trinkwasser versorgte. Die Arbeit dort sei zwar sehr hart gewesen, insbesondere für die Reispflanzerinnen, doch zumindest seien die Bedingungen in den Kooperativen klar gewesen und der Lohn immer bezahlt worden. Doch, so erwähnt Sergio explizit, weder die Arbeit auf den Reisfeldern noch diejenige in Mailand sei rentenversichert gewesen. Sergio ist in einem Umfeld sozialisiert worden, in dem die Arbeitswelt – selbst in der Landwirtschaft – durch Lohnarbeit geprägt war. Norditalien war zu dieser Zeit bereits deutlich stärker industrialisiert als der Süden und bot deshalb vor allem Arbeitsmöglichkeiten in der Fabrik21. Landwirtschaft wurde nicht in Patron-Klient-Verhältnissen betrieben, wie Ilaria und auch die Lillos sie erlebt haben, sondern von Unternehmern oder Kooperativen und auf großräumigen Anbauflächen. Neben der auch in Norditalien üblichen Subsistenzproduktion in kleineren Gemüsegärten dominierten Monokulturen wie z.B. der Reisanbau. Die Arbeiter/innen – zum großen Teil Frauen – waren angestellt und erhielten einen festen Lohn, es gab Gewerkschaften, die sich um die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen kümmerten. Sergio bekam die Nützlichkeit von geregelten Arbeitsbedingungen und insbesondere die Vorteile von ordentlichen Sozialversicherungen sehr anschaulich an seinem Vater vorgeführt und erlebte die Konsequenzen von fehlender Sozialversicherung am eigenen Leib. Wäre sein Vater zum Zeitpunkt seines Arbeitsunfalls22 regulär angestellt und damit auch invalidenversichert gewesen, hätte seine Familie ein wesentlich bequemeres Leben mit staatlicher Rente führen können. So aber konnte der Vater nur selten eine Gelegenheitsarbeit finden, die er mit dem invaliden Bein erledigen konnte, und die Familie lebte in Armut. Die angenehmen und begehrten Arbeitsstellen in der Fabrik bekam man nur, so erzählt Sergio, wenn man eine Vermittlungsprämie auf-
21 Für eine Beschreibung des norditalienischen Arbeitsmarktes Ende der 1950er Jahre (aus der Perspektive der süditalienischen Binnenmigration) siehe Ginsborg 1990: 223f. 22 Der Unfall passierte einige Monate vor Sergios Geburt, also wahrscheinlich im Jahr 1932; die Alters- und Invalidenversicherung wurde in Italien jedoch schon 1919 für obligatorisch erklärt (, 17. September 2008).
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bringen konnte23, und das konnte sich seine Familie nicht leisten. Zudem war Krieg – Sergio sagt zwar kaum etwas dazu, führt den Krieg aber als Grund für die knapp vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten, wie auch als Begründung für seine mangelnde Schulbildung an. Die Schule hat er kaum besucht; er sagt lachend, er sei fünf Jahre lang in die erste Klasse gegangen. Nicht nur Kriegsereignisse verunmöglichten den Schulbesuch. Sergio deutet an, dass er schon als Kind auch ab und zu Gelegenheitsarbeiten verrichtet habe. Und es war an ihm als ältestem Sohn, mit 18 Jahren die Rolle des Familienoberhauptes zu übernehmen und die Familie zu ernähren. Ob dies seinem persönlichen Verantwortlichkeitsgefühl entsprang oder eine Familienstrategie darstellte, wird nicht deutlich. Sergio spricht fast ausschließlich von sich allein, davon, wie er als Individuum von seiner familiären Situation und der Invalidität des Vaters betroffen war und wie er seinen Weg im Feld der Lohnarbeit gemacht hat. Wie seine Mutter, seine Brüder und die Schwester in die Familienökonomie eingebunden waren, erfahren wir nicht. In seinen Bemühungen, ein Einkommen für die Familie zu erzielen, zahlt Sergio weiteres Lehrgeld. Zuerst findet er nur kurzfristige Beschäftigungen, ein paar Wochen lang. Einer der ersten Arbeitgeber, welcher Sergio eine längerfristige Anstellung gibt (in einem Handwerksbetrieb in der Großstadt), verspricht ihm, einen Teil seines Lohnes direkt an die Familie zu schicken, doch dort kommt, so findet Sergio nach ein paar Monaten heraus, nie etwas an. Zudem ist die Arbeit hart, die Arbeitstage sind lang. Allgemein sind die Arbeitsbedingungen schlecht, die Arbeit knapp und die langfristigen Erwerbsmöglichkeiten äußerst begehrt, und das versetzt Arbeitnehmer wie Sergio in eine schwache Position. Ganz anders ist es im nördlichen Nachbarland Schweiz, da sind die Arbeitnehmer knapp, die Arbeit dort verspricht guten Lohn und angenehme Arbeitsbedingungen. Der Mann, der Sergio dorthin vermittelt, verlangt für die begehrte Arbeitsmöglichkeit in der Schweiz deshalb auch eine hohe Prämie24. Dabei wäre es, merkt Sergio später, ganz einfach gewesen, sich eine solche Arbeit selbst zu organisieren.
23 Auch Isabella Rocca berichtet von den Schwierigkeiten, einen der offenbar begehrten Fabrikarbeitsplätze zu bekommen. Bei ihr ist es das fehlende Parteibuch, das ihr die begehrte Fabrikarbeit bei einem Bierproduzenten verunmöglicht. 24 Die Prämie von 20 000 Lire entspricht, so lässt sich aus Sergios Angaben schließen, in etwa dem Tagelöhner-Einkommen von 20 Arbeitstagen. Diesen Betrag konnte Sergio erst nach seinem Aufenthalt in der Schweiz aufbringen.
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1956 reiste Sergio für eine erste kurze Saison in die Schweiz, in eine alpine Region im Graubünden, vermutlich im Straßen- oder Tunnelbau25, und wird im nächsten Jahr direkt vom Arbeitgeber wieder angefordert. Nach der zweiten Saison in den Bergen erhielt Sergio von einer Bekannten die Adresse einer Baufirma in der Stadt Bern. Dort, so hatte er erfahren, dauere die Bausaison nicht nur bis zum Herbst, sondern bis in den Dezember hinein. Sergio ließ sich den Brief nach Bern von jemandem schreiben. Die Antwort mit Arbeitsvertrag kam knapp zwei Wochen später per Post. Von da an fuhr Sergio jeden Frühling nach Bern, arbeitete als Handlanger auf dem Bau, lebte in den Barackensiedlungen der Baufirma und kehrte kurz vor Weihnachten wieder nach Italien zurück. 1964, als Sergio Heiratspläne schmiedete, fragte er seinen Chef, ob es keine Möglichkeit gäbe, die Jahresaufenthaltsbewilligung zu bekommen, um einen eigenen Hausstand in der Schweiz zu gründen26. Als Handlanger war dies, so sagte man ihm, nicht möglich, unqualifizierte Arbeitskräfte bekamen keine Niederlassungs-Bewilligung zugesprochen. Doch sein Patron setzte sich mit einem komplizierten Arrangement dafür ein, dass Sergio die B-Bewilligung bekam: Sergio wurde auf dem Papier von einer anderen Firma, mit der Sergios Patron zusammenarbeitete, als Gerüstbauer angestellt, arbeitete aber weiterhin als Handlanger auf den Baustellen seines Patrons. Mit der Zeit verbesserte Sergio seine Position innerhalb der Baufirma, ohne jedoch formale Qualifikationen zu erlangen. Er übernahm besondere Funktionen, lernte, bestimmte Maschinen zu bedienen, kümmerte sich um Magazine und Lagerbestände. Sergio war zufrieden mit seiner Arbeit. In der Schweiz fühlte er sich als Arbeiter gut behandelt, man begegnete im respektvoll, und das Arbeitsverhältnis war verlässlich. Er zahlte, wie alle seine Kollegen auf der Baustelle, seine Beiträge an die Gewerkschaft, beteiligte sich auch an deren Manifestationen, und er begann, in Italien die Kommunisten zu wählen. Sergio war bereits aufgrund seiner früheren Erfahrungen in Italien sensibilisiert für Ungerechtigkeiten gegenüber Arbeitnehmern. Nun lernte er, dass es Möglichkeiten gab, sich zu wehren, dass es wichtig war, über seine Rechte informiert zu sein, und dass man etwas erreichen konnte, wenn man kämpfte und insistierte. Direkt anwenden konnte er diese Erkenntnis dann bei der Verrentung von Ilaria. Als sie pensio-
25 Zur Arbeit, die er dort gemacht hat, sagt Sergio kaum etwas, außer dass man dort aufgrund der Höhe nur ein paar Monate im Sommer arbeiten konnte und dass es um Verkehrswege nach Italien ging. 26 Der Aufenthaltsstatus des Ehemannes war relevant für den Zugang der Familie zu Rechten, so z.B. auch bezüglich Niederlassungsrecht oder Familiennachzug, vgl. dazu z.B. auch Ehepaar Agostino (Kapitel 5.6).
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niert wurde, kümmerte er sich um die Formulare und Abklärungen, beantragte die Renten in Italien und befasste sich mit den Modalitäten der PensionskassenAuszahlung. Hier profitierte er von der politischen Sensibilisierung und der Wissensvermittlung im Umfeld von Gewerkschaften und linksgerichteten Parteien. Trotz seiner Annäherung an die Gewerkschaften und seiner Beteiligung an Arbeitskämpfen fühlte sich Sergio seinem Patron sehr verpflichtet. Ilaria bringt im Gespräch einen kleinen Wermutstropfen in Sergios Arbeitsidylle ein, indem sie erwähnt, dass die Firma, von deren Patron Sergio sich so gut behandelt fühlte, ihn zwei Jahre vor seiner regulären Pensionierung entlassen habe. Sergio verteidigt daraufhin die Firma vehement, verweist auf die damals herrschende Krise. Die Firma habe ihm zwei Optionen angeboten: eine frühzeitige Pensionierung bei Rückkehr nach Italien, oder zwei Jahre Arbeitslosigkeit bis zur regulären Pensionierung. Sergio entschied sich gegen die Rückkehr und für die Arbeitslosigkeit. Obwohl man ihm versichert hatte, dass er keine Schwierigkeiten mit seinen Rentenansprüchen bekommen würde, gab es zwei Jahre später dann doch Probleme mit der Pensionskasse. Hier nun begann ein langer Kampf Sergios gegen die Bürokratie. Er wurde wütend, forderte von allen Seiten Erklärungen: beim Arbeitgeber, den Behörden, den Gewerkschaften, den patronati, der Bank. Er beharrte auf seinem Standpunkt, und schließlich war er erfolgreich und bekam seine Pensionskassengelder ausbezahlt. Doch dann folgte der nächste Rückschlag, nämlich eine Steuernachforderung von mehreren tausend Franken. Auch mit der beantragten Rente aus Italien gab es wieder Probleme, wie schon bei Ilarias Pensionierung ein paar Jahre früher. Nicht nur fehlten Sergio die Nachweise aus seiner Erwerbstätigkeit in Italien, auch die dortigen Dienstwege nahmen Jahre in Anspruch. In dieser Auseinandersetzung entwickelte sich ein Berater auf einem der patronati zum letzten wirklichen Freund und Helfer für Sergio. Er sei der einzige, der Sergio nicht abgewimmelt, sondern ernst genommen habe, und der sich auch für ihn eingesetzt und einiges erreicht habe. Dass ein Verbündeter für Sergio so bedeutsam ist, wird vielleicht noch dadurch verstärkt, dass Sergio immer noch Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben hat. Er erwähnt dies zwar nicht mehr nach seinem Hinweis auf den Brief, den er aus Italien nach Bern hatte schreiben lassen, und es ist durchaus auch möglich, dass er im Laufe seiner Arbeitstätigkeit in Bern einen Alphabetisierungskurs besucht hat. Genauso gut ist aber auch möglich, dass er gelernt hat, sich die entsprechende Hilfe zu holen, wenn er anspruchsvolle Texte zu verstehen, Beschwerdebriefe zu schreiben oder komplexe Formulare auszufüllen hat. Durch seine Hartnäckigkeit ist es Sergio gelungen, die kleinen Renten der Morellinis ein wenig zu erhöhen. Auch wenn die Lebenslage der Morellinis im
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Alter durch knappe finanzielle Mittel charakterisiert ist, scheint es fürs Leben in Bern zu reichen. Besonders beklagen tun sich die beiden nicht; auch viele Schweizer Rentner müssten auf ihr Geld schauen, sagen sie. In Bern fühlen sich Sergio und Ilaria wohl, und hier haben sie ihre sozialen Kontakte – auch wenn diese durch Remigration und altersbedingt immer weniger werden. Auf dem Bankkonto besteht auch noch ein kleines Polster für Unvorhergesehenes. Die Morellinis haben inzwischen kein Auto mehr, sind aber noch mobil genug, um ihre Erledigungen und gelegentlichen Ausflüge mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu tätigen. Ein Haus in Italien gibt es nicht. Wo hätten sie auch bauen sollen, fragt Sergio rhetorisch. Beide kommen aus unterschiedlichen Gegenden, aus armen Verhältnissen, auch die Geschwister sind durch Heirat und Arbeit überall in Italien verstreut. Sergio und Ilaria Morellini sprechen als Einzige in meinem Sample überhaupt das Problem der Rentenbeantragung in Italien und der nicht regulären Arbeitsverhältnisse an, die zu Rentenkürzungen führen können. Und insbesondere Sergio zeigt sich im Interview immer wieder sehr gut informiert und differenziert argumentierend. Darüber hinaus bemüht er sich wiederholt und unermüdlich um Information und Erklärung, wenn er etwas nicht versteht. Dadurch wirkt er auf den ersten Blick sehr streitbar und auch etwas starrköpfig, hat sich damit aber auch eine beachtliche Eigenständigkeit errungen. Und Ilaria, die auf den ersten Blick etwas lethargisch wirkt, erscheint mir auf den zweiten Blick als Individuum, das durch Durchhaltewillen und dicke Haut eine von außen betrachtet vielleicht bescheidene, von ihr aber offenbar sehr geschätzte Unabhängigkeit und Ruhe erreicht hat.
6.8 AUTONOMIE ALS M IGRATIONSGEWINN UND R EMIGRATION ALS H INTERTÜR Autonomiebestrebungen sind das zentrale Thema in der Selbstdarstellung des Ehepaares Morellini, und diesbezüglich sind deren Biographien auch Erfolgsgeschichten. Sowohl Ilaria wie auch Sergio haben durch die Migration eine gewisse Unabhängigkeit erreicht, haben sich nicht nur aus ökonomischen Zwängen, sondern auch aus familiären Verpflichtungen ein Stück weit befreien können. Die ökonomische Situation der Morellinis mag noch etwas komfortabler sein als diejenige der Lillos – sie mussten bisher noch keine Ergänzungsleistungen beantragen –, ihre Zufriedenheit mit dem Leben hingegen ist deutlich grösser, ihre Grundhaltung optimistischer. Ich habe zwar den Eindruck gewonnen, dass die Morellinis sozial isolierter sind als die Lillos – sie betonen immer wie-
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der ihre Skepsis gegenüber Bekannten, Behörden und Beratern und pflegen keine Kontakte zu den kirchlichen und sozialen Gruppierungen der italienischen ‚Gemeinschaft‘, in denen die Lillos wiederum sehr gut integriert sind. Während die Lillos den Kontakt zur ‚ethnischen Gemeinschaft‘ aktiv suchen, bemühen sich die Morellinis diesbezüglich um Abgrenzung. Und sie scheinen sich mit ihrer sozialen Lage wohl zu fühlen. Sie bezeichnen sich nie als ‚allein‘, vielleicht gerade auch deshalb, weil sie es schätzen, sich aus dem Kollektiv ihrer Herkunftsfamilien befreit zu haben, es also als Gewinn betrachten, allein zu sein. Dass keine Kinder da sind, wird im Rahmen unseres Interviewkontaktes nie in negativer Konnotation erwähnt, im Gegenteil, man hat seine Ruhe, man hat keine Sorgen mit dem Nachwuchs. Das Leben, wie es im Moment ist, scheint in Ordnung zu sein. Wenn das Leben in der Migration ein gutes Leben ist und das Leben vorher ein schlechtes war, wie es in den Biographien von Ilaria und Sergio gezeichnet wird, dann wird auch nachvollziehbar, dass eine Rückkehr keine Bedeutung als Handlungsoption bekommt. Beide Herkunftsfamilien waren arm, Ilarias Familie hatte zudem kein eigenes Zuhause mehr, und so gibt es keinen Ort in Italien, der auf die beiden warten würde. Und sich ein eigenes Zuhause zu schaffen, an einem dritten, für beide wiederum fremden Ort in Italien, danach haben die Morellinis nie ein Bedürfnis gehabt. Der Ort, an den sie hingehören, ist hier in Bern. Im Gegensatz zu den Lillos sind die Morellinis schon in ihrer Kindheit und im jungen Erwachsenenalter vor der Migration mit Lohnarbeit konfrontiert worden, sie haben Armut erlebt, und sie haben schwierige Arbeitsverhältnisse kennen gelernt. Auch die Lillos haben Armut erlebt, allerdings in einem ganz anderen Kontext: Im isolierten apulischen Dorf hatte man immerhin noch die landwirtschaftlichen Produkte, und das Wenige, was man darüber hinaus brauchte, konnte man eintauschen oder mit dem Nebenverdienst der Frauen aus der Heimarbeit bezahlen. Die Verhältnisse der Familien von Sergio und Ilaria waren ganz andere, man war abhängig von Lohnarbeit zur Sicherung der Existenz, und in beiden Familien war kein potenter Haupternährer vorhanden, der mit einer gut bezahlten Lohnarbeit die ganze Familie hätte aushalten können. Den Frauen in Ilarias Familie standen zu der Zeit und in der Region wahrscheinlich wenig andere Möglichkeiten zur Verfügung, als sich in wohlhabenden Privathaushalten zu verdingen. Auch Alba Agostino (siehe Kapitel 5.6) fand nur so Arbeit, und Isabella Rocca (siehe Kapitel 7.6), die sich um eine Arbeit in der Fabrik bemühte, landete dort auf der untersten Hierarchiestufe und verlud Schlachtabfälle auf Lastwagen. Und der hinkende Vater von Sergio stand in der langen Reihe von arbeitsuchenden Männern wohl oft zuhinterst und wurde für untauglich befunden. Aus dieser Perspektive war die Arbeit in der Schweiz für beide eine
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sehr deutlich spürbare Verbesserung schon bekannter Existenzsicherungs-Bedingungen und der Ausgangspunkt für ein Leben, das im Großen und Ganzen als ein gutes Leben beurteilt wird. Für die Lillos hingegen war der Wechsel von der landwirtschaftlich-vorindustriellen Dorfgemeinschaft in das industrialisierte, städtische Bern mit mehr Veränderungen verbunden, insbesondere was die Arbeit betraf. Die Strategie, welche Angela und Leonardo wählten, um mit diesem Wechsel des Arbeitsumfeldes umzugehen, war diejenige der Bewahrung von Konstanz im privaten Bereich, und darin, so scheint es, waren sie auch sehr erfolgreich. Zur Absicherung wurde aber die Option einer Rückkehr in das Herkunftsmilieu kontinuierlich offen gehalten, die sozialen Beziehungen zu den Verwandten wurden gepflegt, es wurde ein Haus gebaut, und man dachte sich, man werde dann irgendwann zurückkehren. So nahm das Leben seinen Lauf, und solange es ein insgesamt guter Verlauf war, blieben die Lillos. Ob es dann einen konkreten Auslöser für die intensive Auseinandersetzung mit der Option Rückkehr gab, die sich in den Lillo-Interviews so deutlich zeigt, oder ob die Lillos sich schon seit längerer Zeit daran abarbeiten, bleibt unbeantwortet. Sehr deutlich wird hingegen, wie schwer sich das Paar mit der Entscheidung tut. Ein Aspekt, der diese Entscheidung so schwierig macht, ist das ‚Alleinsein‘ der Lillos. Keine eigenen Kinder zu haben, ist ein Argument für die Rückkehr, denn familiäre Beziehungen halten die Lillos nicht mehr in Bern. Doch ob das Gefühl des ‚Alleinsein‘ durch die im Herkunftsdorf lebenden Geschwister, die mit ihren eigenen Kindern und Enkelkindern beschäftigt sind, abgefangen werden kann, ist fraglich. Und die anderen Dorfbewohner/innen sind zu Unbekannten geworden. Hier in Bern hingegen gibt es zwar keine Kinder, auch keine Verwandten, aber es gibt verschiedene Freunde und Bekannte, und es gibt die ‚ethnische Gemeinschaft‘, zu der die Lillos Zugang über eine italienische Seniorengruppe im Rahmen der katholischen Kirche gefunden haben. Die soziale Einbindung ist also jetzt im Alter, und das ist den Lillos auch bewusst, ‚hier‘ in Bern eigentlich besser als ‚bei uns‘ im Herkunftsdorf. Und damit hat die Option der Remigration über all die Jahrzehnte viel von ihrer ursprünglichen Überzeugungskraft verloren. Und diese Erkenntnis schleicht sich nun auch in Angelas und Leonardos unhinterfragt aufrecht erhaltene Überzeugung, dass die Remigration eines Tages stattfinden werde. In Kapitel 2.3 habe ich argumentiert, dass die Erfahrung des Weggehens von einem Ort und des sich – mehr oder weniger guten – Zurechtfindens an einem anderen Ort eine potenzielle biographische Ressource für den Umgang mit zukünftigen schwierigen Situationen ist. Die einmal erfolgreiche Strategie des Weggehens kann jederzeit wieder als Option in Betracht gezogen werden, und je enger der Bezug zum ursprünglichen Herkunftsort, desto einfacher zu realisieren
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kann eine Rückkehr auf den ersten Blick erscheinen. Auf der anderen Seite ist die Migrationserfahrung auch mit Unsicherheitserfahrungen und mit viel Neuordnung von Sinnstrukturen verbunden, mit biographischer Anstrengung quasi. Und deshalb ist die Option der Remigration (oder auch der Migration an einen dritten Ort) sicherlich nicht eine Option, die leichtfertig ergriffen wird. Für die Morellinis zum Beispiel ist sie eine sehr weit entfernt liegende Möglichkeit, ihre Verbindungen zum Herkunftsort sind nur noch lose, zudem ist es nicht derselbe Herkunftsort, bei Ilaria nicht einmal ein konkreter Ort. Und ihr Leben in Bern ist, so erscheint es mir, gegenwärtig ruhend, die beiden strahlen – trotz auch verbitterter Momente – eine Zufriedenheit mit ihrer Biographie und mit ihrer gegenwärtigen Lebenslage aus. Ganz anders ist dies bei den Lillos: Ihre Bindungen an den Herkunftsort wurden bewusst gepflegt, und ihr Leben hier in Bern, das lange Zeit ein angenehmes war, ist erst jetzt im Alter dabei, aus den Fugen zu geraten. Die lange Zeit nur hypothetische Hintertür Rückkehr bietet sich nun, da das Geld knapp wird und da Wohneigentum in Italien vorhanden ist, als aus ökonomischen Überlegungen vernünftige Alternative zum Leben in Bern an. Aber nicht zuletzt aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen sind die Lillos auch in der Lage, die möglichen Kosten einer Remigration abzuschätzen, und das macht diese Handlungsoption zu einer Hintertür, durch die man nicht so leichtfertig tritt. Das Abwägen des Für und Wider und das Hinausschieben der Entscheidung haben die Lillos in ein Dilemma geführt, aus dem es kaum mehr ein Entrinnen zu geben scheint. Die Option zweier Orte, an denen man leben könnte, ist inzwischen keine positive Ressource mehr, sondern ist den Lillos im Alter zur Belastung geworden.
7.
Italienisch, aber keine ‚Gastarbeiter‘: Das Ehepaar Genni
7.1 D IE G ENNIS
KENNENLERNEN
Kontaktaufnahme und Interviewsituation Marco Genni wird mir anlässlich meines Besuches an einem Mittagstisch für italienisch sprechende Senior/innen vorgestellt. Er ist dort ohne seine Ehefrau, was aber nicht weiter ungewöhnlich scheint. Dieser Mittagstisch wird zwar nicht nur, aber doch zu einem beträchtlichen Anteil von Männern besucht. Marco wird mir als bedeutendes Mitglied der italienischen ‚communità‘/‚Gemeinschaft‘ vorgestellt. Er zeigt gegenüber dem Thema Altern in der Migration eine ambivalente Haltung. Einerseits signalisiert er umgehend, dass er keine geeignete Auskunftsperson für mich sei, indem er herausstreicht, dass er nicht als ‚Gastarbeiter‘ in die Schweiz gekommen, sondern wegen seiner Qualifikation berufen worden sei (‚mi hanno chiamato‘). Außerdem rede er sehr ungern über das Alter, das sei keine angenehme Angelegenheit. Andererseits hat Marco offenbar eine Neigung für Rhetorik und sprachliche Selbstinszenierung. Dies äußert sich konkret darin, dass er während des ganzen Essens ausführlich über die italienische ‚Gastarbeit‘ und das Altwerden referiert. Dabei betrachtet er nicht nur mich als sein Publikum, sondern den ganzen Ess-Saal. Zu guter Letzt überlässt mir Marco Genni trotz der geäußerten Skepsis seine Telefonnummer, damit ich ihn später kontaktieren könne. Für eine erste kurze Verabredung bestellt mich Marco ins Büro derjenigen Person, die uns einander vorgestellt hat. Marco sagt erneut, dass er sich nicht erklären könne, warum ich ihn zu seiner Lebensgeschichte interviewen wolle. Ich erkläre daraufhin ausführlich, warum mich die Lebensgeschichten von italienischen Migrant/innen interessieren. Schließlich willigt Marco ein, mich bei sich zu Hause zusammen mit seiner Ehefrau für ein Interview zu empfangen. Das
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nächste Treffen findet dann bei den Gennis zu Hause statt. Das Ehepaar wohnt in einem Reiheneinfamilienhaus in einer Vorortsgemeinde von Bern. Laura Genni, die ich jetzt zum ersten Mal sehe, öffnet mir die Tür und begrüßt mich freundlich. Der Eingangsbereich führt direkt in ein Wohnzimmer, das bürgerlich-elegant mit Stilmöbeln und Ölbildern an den Wänden eingerichtet ist. Ich werde an einen kleinen Tisch am Fenster geführt, umgeben von gepolsterten Lehnstühlen, mit der Begründung, dass es hier heller sei als in der Sofa-Ecke. Hier findet das eigentliche Interview statt. Dieser Teil des Gespräches umfasst die beiden biographisch-narrativen Selbstpräsentationen und meine Nachfragen dazu. Auf die Bitte von Marco, die Aufnahme abzubrechen und einen Kaffee zu trinken, setzen wir uns auf die Terrasse. Laura serviert Kaffee, Eistee und Kuchen. Dabei reden die Gennis weiter über Themen, die im aufgenommenen Gespräch bereits angesprochen wurden. Diese ausführliche Unterhaltung habe ich anschließend in Form von Feldnotizen festgehalten. Ein zweites Gespräch findet ein knappes halbes Jahr später statt. Diesmal äußert Marco keine Vorbehalte mehr, ich werde umgehend freundlich empfangen. Die Gennis zeigen sich sehr hilfsbereit und stehen mir geduldig Red’ und Antwort auf meine Fragen. Das Gespräch beginnt mit Nachfragen meinerseits zu Kindheit und Herkunftsfamilien in Italien – ein Bereich, der von beiden im ersten Gespräch fast ganz ausgeklammert wurde – und wendet sich dann den Umständen der Pensionierung und dem Alltag des Pensionärslebens zu. Beide entscheiden sich für Italienisch als Kommunikationssprache mit mir. Marco verfügt, wie er sagt, über gar keine Deutschkenntnisse; er habe sich immer nur mit Italienisch und Französisch verständigt. Laura spricht ein wenig Hochdeutsch. Wenn sie in den Interviews den Eindruck hat, ich hätte einen italienischen Ausdruck nicht verstanden, dann ergänzt sie in Deutsch. Mir fällt auf, dass die Gennis Wert auf eine gepflegte Sprache (‚il buon italiano‘) legen. Nicht nur im sprachlichen Ausdruck, generell sind sie, so scheint es mir, sehr darauf bedacht, sich kultiviert und standesgemäß zu geben. Marco versteht es gut, sich mit der Aura eines bedeutenden Mannes zu umgeben, und ich fühle mich dadurch zeitweise auch etwas eingeschüchtert. Ich habe vor allem beim ersten Gespräch den Eindruck, Marco empfinde es als unter seiner Würde, sich mir für das Interview zur Verfügung zu stellen. Beim nachträglichen Kaffeetrinken hingegen herrscht eine angenehme Stimmung. Lauras Verhalten im Interview empfinde ich von Beginn weg als kooperativ. Sie scheint, wie Marco auch, grundsätzlich Freude am Nachdenken und Debattieren zu haben. Beide haben klare Meinungen, die sie auch zu vertreten und zu begründen wissen. Sowohl dort, wo Laura und Marco einer Meinung sind, wie auch dort, wo sie es nicht sind, zeigt sich, dass die beiden sich intellektuell und rhetorisch ebenbürtig sind,
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und ich haben den Eindruck, dass sie gerne diskutieren. Die Art, wie die Gennis sich als Paar präsentieren, erinnert mich an ein bürgerliches Ideal geschlechtsspezifischer Rollenaufteilung und standesgemäßer Repräsentanz nach außen. Sowohl ich als Forschende wie auch das Thema meiner Forschung werden von den Gennis als zur Öffentlichkeit gehörend wahrgenommen, und dem entsprechend erfüllen die beiden im Gespräch auch die dafür vorgesehenen Rollen: Marco repräsentiert das Paar und seine Sichtweise gegen außen, und Laura repräsentiert die egalitär ausgehandelte interne Welt des Paares. Kurzbiographie von Laura und Marco Genni Marco wurde 1931 in Apulien geboren, als jüngstes von sechs Geschwistern. Die Region, aus der Marco stammt, liegt im Landesinneren und ist eine bekannte Weinbauregion. Marcos Vater war denn auch Weinbauer. Er verfügte über eigenes Land und beschäftigte mehrere Arbeiter, was darauf schließen lässt, dass die Familie Genni einen relativ hohen sozialen Status innehatte. Die Mutter von Marco versorgte die Familie als Hausfrau. Die beiden deutlich älteren Brüder Marcos unterstützten den Vater im Weinbau und übernahmen später den Betrieb. Eine der drei Schwestern studierte und ließ sich zur Grundschullehrerin ausbilden, die beiden anderen Schwestern wurden Schneiderinnen. Marco studierte in Bari Rechtswissenschaften und schlug dann eine Anwaltskarriere ein. Laura kam 1933 in Kampanien zur Welt, als mittlere von drei Töchtern. Ihre Mutter versorgte als Hausfrau die Familie, ihr Vater war zuerst Polizist und arbeitete später im Stoffhandelsgeschäft des Großvaters mit. Alle drei Töchter der Familie haben ein Studium absolviert. Laura entschied sich für die Ausbildung zur Grundschullehrerin und unterrichtete anschließend. Anlässlich einer Weiterbildung an der Universität Bari lernte Laura Marco kennen. Im Jahr 1961 heiratete das Paar und zog daraufhin in den Norden Italiens, ins Veltlin, wo Marco in einer Anwaltskanzlei tätig war und Laura als Lehrerin arbeitete. Zwei Kinder wurden dort geboren, ein Sohn und eine Tochter. 1970 bewarb sich Marco auf eine Stelle als Jurist in der Schweiz, in einer italienisch-sprachigen Sektion der Bundesverwaltung, bei der es um die sprachliche Synchronisierung von Schweizer Gesetzestexten ging. Er bekam die Zusage und trat die Stelle im Frühling 1970 an. Er lebte für einige Zeit im Hotel, suchte eine Wohnung, und im Dezember 1970 zogen Laura und die Kinder nach. Die Kinder wurden in die erste resp. zweite Klasse eingeschult, und Laura übernahm eine Teilzeit-Anstellung als Lehrerin beim italienischen Konsulat. Sie unterrichtete dort die Kinder von Eltern, welche eine baldige Rückkehr nach Italien planten, in den Fächern Italienisch, Geschichte, Geographie und Mathematik. Nach eini-
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gen Jahren, als das Konsulat sein migrationsspezifisches Schulangebot einstellte, gab Laura die Berufstätigkeit auf und konzentrierte sich von da an auf Haushalt und Kinderbetreuung. Die beiden Kinder besuchten die öffentlichen Schulen in Bern. Nach der Beendigung der obligatorischen Schulpflicht absolvierten sie weiterführende Schulen in Italien. Sie besuchten ein Gymnasium nahe der Schweizer Grenze, später dann die Universität in Rom. Betreut wurden die Kinder dort von Verwandten Lauras; Laura selbst blieb mit Marco in Bern. Die Tochter der Gennis lebt heute mit ihrer Familie in Rom. Sie hat einen Studienabschluss in Sprachen (Deutsch, Englisch, Spanisch). Der Sohn ist nach dem Studium an einer Filmhochschule nach Bern zurückgekehrt, wohnt ganz in der Nähe seiner Eltern und arbeitet als Kameramann. Er ist mit einer Asiatin verheiratet und hat zwei Söhne. Da beide berufstätig sind, werden die Kinder oft von den Großeltern betreut. Marco blieb bis zu seiner regulären Pensionierung im Jahr 1996 für die Bundesverwaltung tätig, wo er juristische Texte in italienischer Sprache bearbeitete, deren Übersetzungen in Zusammenarbeit mit französisch- und deutschsprachigen Kolleg/innen sprachlich aufeinander abstimmte und zur Veröffentlichung vorbereitete. Die Stelle ermöglichte ihm eine Tätigkeit in seinem Beruf und seiner Muttersprache. Die Kommunikation mit seinen Arbeitskollegen erfolgte in Französisch. Laura ihrerseits hat nach dem Austritt beim Konsulat keine Erwerbsarbeit mehr verrichtet. Neben Hausarbeit und Kinder-/Enkelbetreuung schreibt sie Texte für eine Laien-Theatergruppe und ist sehr aktiv in der kirchlichen Wohltätigkeitsarbeit. Die finanzielle Situation der Gennis ist aufgrund der qualifizierten Arbeit Marcos und der konstanten Anstellung beim Bund komfortabel. Das Haus, das Marco und Laura bewohnen, haben sie nach dem Umzug ihrer Kinder nach Italien gekauft. Es bietet reichlich Platz für einen Zwei-Personen-Haushalt. Auch in weitere Liegenschaften haben die Gennis investiert, so zum Beispiel in eine Wohnung in Apulien, die von einer Schwester von Marco bewohnt wird, oder in die Wohnung, in welcher der Sohn heute mit seiner Familie lebt. Die gesundheitliche Situation der beiden ist ebenfalls gut, beide sind uneingeschränkt mobil und machen insgesamt einen aktiven Eindruck.
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7.2 D IE BIOGRAPHISCH - NARRATIVEN S ELBSTPRÄSENTATIONEN Der Einstieg ins Gespräch Da dem Interview mit dem Ehepaar Genni bereits zwei Gespräche mit Marco voraus gingen, in denen ich mein Anliegen ausführlich erklärt hatte, fällt die Konversation unmittelbar vor dem Interviewbeginn entsprechend kurz aus. Laura scheint schon informiert zu sein, und wir setzen uns zu dritt hin. Ich fasse wie üblich zuerst kurz zusammen, worum es im Interview geht und weise darauf hin, dass ich eine Tonbandaufnahme machen möchte. Dann stelle ich das Tonband an. Da ich in den früheren Interviews die Erfahrung gemacht habe, dass in der Regel diejenige Person mit der biographischen Erzählung beginnt, mit der ich zuerst Kontakt hatte, richte ich mich zuerst an Marco: E: Io ho pensato che se per Lei va bene, se forse [..] M: Ma, incominci con mia moglie.
E: Ich hab gedacht dass, wenn das für Sie in Ordnung ist, wenn vielleicht – M: Ach, beginnen Sie doch mit meiner Frau.
(Transkript Genni 1, 1/1 – 1/2) Wie schon in den Vorgesprächen stellt sich Marco hier ein wenig quer. Einerseits hat er zugesagt, das Interview zu geben, andererseits sträubt er sich auch. Hier äußert sich dies so, dass Marco nicht auf meine Aufforderung zum Sprechen eingeht, sondern den Ball seiner Frau zuspielt. Warum sich Marco so ziert, mit dem Erzählen zu beginnen, hat wohl verschiedene Gründe. Er macht sich damit rar, schwierig erreichbar, und er behält so die Definitionsmacht über die Interaktion auf seiner Seite. Er umgeht damit auch, sich auf etwas einzulassen, von dem er noch nicht genau weiß, wohin es führen wird. Wenn seine Frau mit dem Erzählen beginnt, dann kann er vorerst einmal zuhören, sich anschauen, wie ich das so mache, und sich zurecht legen, was er aus seinem Leben erzählen will. Laura ihrerseits nimmt das Angebot zum Erzählen bereitwillig an und beginnt mit ihrer biographischen Erzählung. Lauras biographische Selbstpräsentation E: Come ho già detto [..] Le prego di
E: Wie ich schon gesagt habe – bitte ich
raccontarmi un po’ della Sua vita, [..] e
Sie, mir ein wenig aus ihrem Leben zu
sono interessata a tutto questo, a tutta
erzählen – und mich interessiert alles,
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das ganze Leben.
la vita. L: C’è – Da dove sono nata, cresciuta?
L: Da ist – Von Geburt an, Kindheit?
E:
E:
Sì, esattamente, sì. Mhm.
L: Allora, io sono nata – mi chiamo [.][deutlich und langsam:] Laura
Ja, genau, ja. Mhm.
L: Also, ich bin geboren worden – ich heiße [deutlich und langsam:] Laura
Genni. [..] Non so se vuole anche il
Genni. – Ich weiß nicht, ob Sie auch den
cognome da signorina, ma penso che
Mädchennamen wollen, aber ich denke,
non serva.
das dient nicht.
E: Non è [..] importante per me.
E: Es ist – nicht wichtig für mich.
(Transkript Genni 1, 1/5 – 1/11) Nach meiner Einstiegsfrage, die noch keine explizite Struktur für die Lebensgeschichte vorgibt, aber betont, dass ich eine umfassende Biographie erwarte, schlägt Laura eine chronologische Ordnung vor, die – der typischen LebenslaufLogik folgend – bei Geburt und Kindheit anfängt. Laura möchte diese vorgeschlagene Logik von mir bestätigt haben. Sie zeigt damit Gesprächsbereitschaft, gepaart mit dem Bestreben, ihre Aufgabe richtig zu erfüllen, mir also das zu erzählen, was ich von ihr erwarte. Ich gebe ihr diese Bestätigung, und so setzt Laura zum Erzählen an. Dann bricht sie wieder ab und schiebt etwas vor, was ihr offenbar wichtig erscheint als Vorbemerkung zu ihrer Lebensgeschichte: Sie nennt ihren Namen und ist bedacht, dass dieser auch richtig verstanden wird. Der korrekte Ausgangspunkt für Lauras Biographie ist also der Name, vielleicht als Label dafür, wer sie jetzt ist, am vorläufigen chronologischen Ende ihrer Lebensgeschichte, bevor sie beginnt zu erzählen, wie sie zu dem geworden ist. Die Erwähnung ihres vollen Namens ist für Laura eine notwendige Vorbedingung für ihre biographische Erzählung. Sie bemüht sich damit um Ordentlichkeit, um Struktur, um formelle Korrektheit. Die Nennung des Namens, den ich ja bereits kenne, deutet auch darauf hin, dass sie ihre Geschichte nicht nur an mich als unmittelbare Zuhörerin, sondern an ein abstrakteres Publikum richtet. Laura ist bemüht, ihre Geschichte von Beginn weg gut und richtig zu erzählen, und dazu gehört die Klärung, wer sie ist. Dass sie überlegt, ob auch ihr Mädchenname von Bedeutung ist, lese ich in erster Linie auch als Reflexion darüber, wie eine Lebensgeschichte korrekt ad acta gegeben wird. Nachdem ich die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges bestätigt habe, fährt Laura fort:
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Ecco. E sono nata in un paese nella
Also. Und ich bin in einem Dorf in der Pro-
provincia di S., [.] S. si trova [.] in
vinz S. geboren, S. befindet sich in Kampa-
Campania. Vicino a Napoli, da quella
nien. In der Nähe von Neapel, in der Ge-
parte. [.] Eeh [..] ho studiato a S., [.] sono
gend. Eeh – ich habe in S. studiert, bin aufs
andata al [.] al ginnasio, [.] poi ho dovuto
Gymnasium gegangen, dann habe ich wech-
cambiare, sono andata al magistrale, sono
seln müssen, bin aufs Lehrerseminar gegan-
diventata ,Lehrerin’, [.] maestra. [.] E ho
gen, bin Lehrerin geworden. Und ich habe
conosciuto mio marito [.] lì in Puglia
meinen Mann kennen gelernt, dort in Apuli-
quando facevo un corso, [..] un corso
en als ich einen Kurs gemacht habe, – so ei-
appunto come, per la mia professione, e ho
nen Kurs wie, für meinen Beruf, und da ha-
conosciuto mio marito. [.] Ci siamo sposati, be ich meinen Mann kennen gelernt. Wir [.] e siamo andati a vivere [.] in Valtellina,
haben geheiratet, und wir sind ins Veltlin
a A. Perché mio marito svolgeva lì la sua
gezogen, nach A. Weil mein Mann dort sei-
professione di avvocato. [.] Ho insegnato
nen Beruf als Advokat ausübte. Ich hab eini-
alcuni anni a A., ho avuto due bambini, [.]
ge Jahre in A. unterrichtet, habe zwei Kin-
un maschio e una femmina, [.] e la vita
der bekommen, einen Jungen und ein Mäd-
andava così, normale, scorreva normale.
chen, und so lief das Leben, normal, es verlief normal.
(Transkript Genni 1, 1/12 – 1/20) Nun geht Laura vom Jetzt wieder zurück zu ihrer Geburt, also dorthin, wo sie vorhin anfangen wollte und dann abgebrochen hat. Was sie zu ihrer Kindheit sagt, beschränkt sich auf die geographische Situierung ihres Geburtsortes. Wir erfahren lediglich, dass sie in einem dörflichen Umfeld geboren wurde. Sie fährt fort, indem sie ihren Ausbildungsweg beschreibt: Gymnasium in der Provinzhauptstadt, dann das Lehrerseminar. Diese Strukturierung der Lebensgeschichte erinnert stark an einen beruflichen Lebenslauf, beschränkt sich auf die Aufzählung der absolvierten Ausbildungen und die geographische Situierung. Schilderungen des Familienlebens und andere Kindheitserinnerungen fehlen. Ein einziger Hinweis auf etwas Individuelles, etwas vielleicht nicht Geplantes oder Geordnetes, ist die Bemerkung, dass Laura ‚hat wechseln müssen‘. Ob sich diese Formulierung auf einen Schulwechsel, einen Wechsel im Ausbildungsziel oder auf einen Wohnortswechsel bezieht, wird nicht klar. Nahe liegend ist aber, dass Laura, in einem ‚Dorf‘ aufgewachsen, das Lehrerseminar in der nächsten größeren Stadt besucht hat, vielleicht auch dort gewohnt hat. Laura beendet die Beschreibung ihrer Ausbildungszeit als Grundschullehrerin, geht dann jedoch nicht dazu über, die Stationen ihres Berufslebens aufzuzählen, wie man nach der Logik des beruflichen Lebenslaufes nun erwarten würde. Nein, Laura erzählt, wie sie ihren Mann kennen gelernt hat. Ob Laura
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auch als Grundschullehrerin gearbeitet hat, wird nicht erwähnt. Dass sie nach ihrer Ausbildung berufstätig war, lässt sich annehmen, da sie in Apulien einen beruflichen Weiterbildungskurs besuchte. Warum sie dazu nach Apulien ging und wann genau das war, erfahren wir nicht. Laura ist sich da offenbar selber nicht sicher, vermutlich ist es auch nicht wichtig für ihre Lebensgeschichte. Wichtig ist, dass sie da war, wo Marco war, wo er an der Uni studierte, dass sie sich dort kennen gelernt haben, dass sie dann – nach wie langer Zeit, bleibt unklar – geheiratet und zusammen vom untersten Süden in den obersten Norden, nahe der Grenze zum Graubünden gezogen sind. Und zwar weil Marco ‚dort seinen Beruf ausübte‘, weil er eine eigene Kanzlei hatte, ein ‚studio legale‘. Es scheint, als war das für Marco die erste berufliche Tätigkeit nach dem Studium. Doch warum hat sich das Paar wohl dazu entschieden, so weit zu gehen, vom äußersten Süden in den obersten Norden? War dies die einzige Möglichkeit? Oder war es eine besonders attraktive Gelegenheit? Oder wollte das Paar aus irgendeinem Grund weg aus Süditalien? Oder gab es eine persönliche Verbindung ins Veltlin, zu diesem Anwaltsbüro? Wir erfahren nichts dazu. Laura beschränkt sich auf die grobe Strukturierung ihrer Geschichte, auf das knappe Aneinanderreihen von Stationen und Orten ihres Lebens, das bisher die Geburt, die Ausbildung, die Heirat, den Umzug und die Familiengründung umfasst. Obwohl sie ihrer eigenen Bildung in der Erzählung große Bedeutung zukommen lässt, ist es dann die berufliche Tätigkeit ihres Ehemannes, die relevant für Lauras Biographie ist. Die eigene berufliche Tätigkeit wird nur ganz nebenbei in die Struktur ihrer Lebensgeschichte eingebunden. Auch nur ganz sachlich und nebenbei erwähnt, bekommt Laura zwei Kinder, von jedem Geschlecht eines – wie es sich gehört für ein ‚normales Leben‘. Dass Laura die Normalität des Verlaufs ihres Lebens hier so herausstreicht, lässt schon Wendungen in der Geschichte vorausahnen, die zu einem nicht mehr ganz so normalen Leben führen könnten: L: Poi mio marito [..] è venuto qui in
L: Dann ist mein Mann – hier in die Schweiz gekommen,
Svizzera, M: L:
Chiamato, devi precisare. Sì.
Non per
M: L:
Gerufen worden, musst du präzisieren. Ja.
Nicht
[.] volontà nostra, [lacht kurz]
aus unserem Willen, [lacht kurz] expli-
esplicita, no! Perché avevamo lavoro
zit, nicht! Weil wir ja Arbeit hatten. Ich
intanto. Io insegnavo, e lui faceva
unterrichtete, und er war als Advokat
l’avvocato. [.] Eeh, ma cì fù proposto,
tätig. Eeh, aber es wurde uns vorge-
di venire qui in Isvizzera, e lui [.]
schlagen, hierher in die Schweiz zu
D AS E HEPAAR G ENNI
accettò. [.] Accettò con riserve, dice:
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kommen, und er hat akzeptiert. Akzep-
„Prima [.] vedo se mi trovo bene.“
tiert unter Vorbehalt, sagte: „Zuerst
Comunque venne in Isvizzera, io fecivo
schaue ich, ob es mir gefällt.“ So ist er
un corso al ministero degli esteri, e fui
also in die Schweiz gekommen, ich
assegnata [.] al consolato [.] di Berna.
machte einen Kurs im Außenministeri-
Consolato d’Italia in Berna. [.] Dove
um, und wurde dem Konsulat in Bern
ho lavorato alcuni anni. Poi, dovendo
zugewiesen. Dem italienischen Konsulat
rientrare in Italia, [..] eh mi sono messa
in Bern. Wo ich einige Jahre gearbeitet
in pensione perché non mi conveniva
habe. Dann, als ich hätte nach Italien
andarmene, lasciare lui, i ragazzi che
zurückkehren müssen, – eh habe ich
erano ancora [.] in età [.] che avevano
mich pensionieren lassen weil es mir
bisogno della mamma. [..] Eeeh, questo
nicht gelegen kam wegzugehen, ihn zu
è tutto.
verlassen, die Kinder waren noch in einem Alter wo sie die Mutter brauchen. – Eeeh, das ist alles.
(Transkript Genni 1, 1/20 – 1/31) Die Wendung, die Lauras ‚normaler‘ Lebenslauf dann nimmt, ist also die Migration des Ehemannes in die Schweiz. Diese Migration – die eigentlich über eine viel kürzere Distanz erfolgt als die erste Migration von Süditalien ins Veltlin – gewinnt von außen betrachtet an Besonderheit dadurch, dass nun nationalstaatliche Grenzen überschritten werden. Auch für Laura ist diese Migration etwas Außergewöhnliches. Bevor aber Laura dazu kommt auszuführen, worin die Besonderheit, die Anomalie dieses ‚in die Schweiz kommen‘ liegt, wird sie von Marco unterbrochen. Er ermahnt sie zu einer Präzisierung der Art und Weise, wie er über die Grenze gekommen sei: er sei ‚gerufen worden‘. Laura weiß, so signalisiert sie mit ihrem sofortigen ‚ja‘, worauf Marco hinaus will, und spinnt den Faden bereitwillig weiter. Die Gennis haben Italien nicht etwa so wie die meisten Italiener/innen verlassen, die aus purer Not emigriert sind, oder aus dem Willen, ihre unbefriedigende Lebenssituation zu verbessern. Die Gennis hatten nicht nur irgendeinen Broterwerb, sondern sie waren qualifizierte Berufsleute. Und gerade diese berufliche Qualifikation war es, die auf der anderen Seite der Grenze begehrt wurde – zumindest diejenige von Marco. Und Marco hat sich der Schweiz nicht etwa aufgedrängt, sondern man hat ihm ein Angebot gemacht. Die Migration der Gennis war somit kein Ausweg aus einer Not, sie wurde den Gennis ‚vorgeschlagen‘ – von wem oder was, wird nicht genannt. Und sie wurde ‚uns‘, das heißt dem Paar resp. der Familie, vorgeschlagen, doch ‚er‘, der Ehemann, hat akzeptiert. Damit betont Laura, dass zwar einerseits ihr Mann das
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Arbeitsangebot erhalten und darüber entschieden hat, dass andererseits aber Laura und die Kinder von Beginn weg Teil des Szenarios waren. Marco nimmt das Angebot vorerst nur auf Probe an, will zuerst schauen, ob es ihm auch gefällt. Laura bleibt, so erfahre ich später, vorerst einmal mit den Kindern zurück. Doch sie ergibt sich dem Entscheid ihres Mannes nicht einfach und wartet ab, sondern sie wird aktiv, organisiert sich gewissermaßen die Möglichkeit, ebenfalls eine qualifizierte Arbeit am potentiellen neuen Wohnort in der Schweiz annehmen zu können. Sie belegt einen Kurs im Außenministerium, der sie befähigt, im Ausland italienische Kinder zu unterrichten, und sie erhält eine Anstellung im Berner Konsulat. Nun ist Laura bereits wieder auf der narrativen Schiene des beruflichen Lebenslaufs, hat das nicht ‚Normale‘ ihres Lebenslaufes, die Migration über nationalstaatliche Grenzen, eingeführt und kontextualisiert, und kann nun ihre berufliche Karriere zu Ende führen, wie es sich gehört, wie es ‚normal‘ ist: mit dem Erwerbsaustritt durch ‚Pensionierung‘. Der Zeitpunkt ihrer ‚Pensionierung‘ ist allerdings sehr früh, und dadurch wird er erklärungsbedürftig. Da Laura im italienischen Staatsdienst war, eine Angestellte des Außenministeriums, hätte sie nach einer bestimmten Zeit an eine andere Stelle versetzt werden müssen, in ein anderes Konsulat zum Beispiel, oder zurück nach Italien. Das hätte bedeutet, wie oben deutlich wird, dass Laura hätte weggehen müssen, doch war offenbar klar, dass weder Marco noch die Kinder mit ihr gehen würden. Es gab laut Lauras Erzählung nur zwei Optionen: Entweder blieb Laura berufstätig und musste ihre Familie verlassen, oder sie gab ihre Berufstätigkeit auf und blieb bei ihrer Familie. Die Option eines Wegzugs aus Bern als Familie stand demnach ebenso wenig zur Debatte wie eine temporäre Trennung der Familie. Auch ein durchaus denkbarer Wechsel Lauras von der Arbeit für den italienischen Staat zu einem Schweizer Arbeitgeber – zum Beispiel als Lehrerin für italienische Sprache an einer Sprachschule, oder als Lehrerin für Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur an öffentlichen Schweizer Schulen – ist hier als Handlungsoption nicht existent. Und so hat sich Laura pensionieren lassen, und damit ist ihre Geschichte abgeschlossen, ‚das ist alles‘, was es zu ihrer Biographie zu sagen gibt. Biographie bedeutet für Laura zuerst einmal die berufliche Biographie, die sie im dafür vorgesehenen Modus chronologisch auflistet. Sie zeichnet sich darin als eine Person, die eine qualifizierte berufliche Laufbahn verfolgt hat. Es wird aber auch deutlich, dass sie ihre Karriere zu einem beträchtlichen Teil derjenigen ihres Ehemannes und den Bedürfnissen ihrer Familie angepasst hat. Zudem habe ich den Eindruck, dass sie, wäre ihr die Berufstätigkeit so wichtig gewesen, durchaus auch Wege gefunden hätte, noch länger berufstätig zu bleiben. Halten
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wir vorläufig fest: Laura definiert Biographie als qualifizierte Berufsbiographie, und sie gibt ihre eigene Berufslaufbahn zugunsten der Familie auf. Wir haben bis hier etwas über Lauras Ausbildung und Arbeit erfahren, wie auch Hinweise auf Lauras Ehemann erhalten. Klar geworden ist auch, dass Laura ihre Familie als Kernfamilie versteht: Außer den beiden Kindern werden keine Verwandten erwähnt. Als Akteure erscheinen in Lauras biographischer Selbstpräsentation bis jetzt nur sie selbst und ihr Mann. Laura zeichnet sich dabei als aktiv handelnde und eigenständige Person, die ihren Lebensweg zuerst allein, dann nach der Heirat in enger Teamarbeit zusammen mit ihrem Mann verfolgt. In der selbstverständlich wirkenden Partnerschaft mit Marco beschreibt sich Laura als gleichberechtigt. Zwar ordnet sie ihren Lebenslauf demjenigen des Mannes unter, bestimmt aber dennoch zusammen mit ihrem Mann die Entwicklung des Lebens und integriert Veränderungen scheinbar problemlos in den eigenen Lebenslauf. Laura könnte hier abschließen und entweder mir oder Marco das Feld überlassen. Sie tut dies aber nicht, sondern fügt ihrer Biographie nach dem obigen ‚das ist alles‘ noch eine weitere Facette an: Poi, per quanto riguarda [.] i miei figli, [.]
Dann, was meine Kinder betrifft, sie sind
son’ venuti qui che avevano [.] sei e sette
hierhergekommen, als sie sechs und sieben
anni. [.] Be’. Lì, è incominciato il nostro [.]
Jahre alt waren. Gut. Da hat unser Dilem-
dilemma, il nostro trauma. I nostri problemi ma angefangen, unser Trauma. Unsere Prosi sono incominciati con la scuola. [..] Lì
bleme haben mit der Schule angefangen.–
non sono contenta, [.] è stato un periodo
Da bin ich nicht zufrieden, das war eine
triste, brutto. Perché i bambini parlavano
traurige Zeit, schlimm. Weil die Kinder
l’italiano. [..] E [.] il maschio aveva
sprachen Italienisch. – Und der Junge hatte
frequentato in Italia la prima elementare.
in Italien die erste Klasse besucht. Und er
[.] Ed era bravissimo. Anche la femmina.
war sehr gut. Auch das Mädchen. Hier hin-
[.] Qui invece [..] furano traumatizzati. [.]
gegen – wurden sie traumatisiert. Der
L’ingresso a scuola fu un trauma. Non
Schuleintritt war ein Trauma. Sie kannten
conoscevano la lingua. Avevano imparato
die Sprache nicht. Sie hatten ein bisschen
un po’ di buon tedesco, però loro dicevano:
Deutsch gelernt, doch sie sagten: „Wir ver-
„Noi non capiamo niente. [.] Perché noi
stehen gar nichts. Weil wir nicht das spre-
non parliamo quello che dici tu!“, [lacht
chen, was du sagst!“, [lacht leicht] sagten
leicht] dicevano a me. „Noi parliamo
sie zu mir. „Wir sprechen eine andere Spra-
un’altra lingua. Però dobbiamo scrivere
che. Aber schreiben müssen wir wieder an-
diversamente. [.] E leggere diversamente.“
ders. Und anders lesen.“ Und deshalb ha-
E quindi piangevano perché non [.] non si
ben sie geweint, weil sie sich nicht zurecht-
ritrovavano, non eh [..] Eeeh [.] quindi,
gefunden haben, sich nicht eh – Eeeh also
prendevamo degli insegnanti, a ore, privati,
haben wir Lehrer gesucht, stundenweise,
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ma [.] lo stesso fu un disastro. Perché era
privat, aber trotzdem gab es ein Desaster.
troppo tardi per iniziare la scuola svizzera,
Weil es zu spät war, mit der Schweizer
avrebbero dovuto iniziare all’asilo. Allora
Schule zu beginnen, sie hätten im Kinder-
sì. Eh, neanche con l’asilo si sarebbero
garten beginnen sollen. Dann ja. Eh, nicht
trovati bene. Comunque sia, poi, finito alla
einmal im Kindergarten hätten sie sich wohl
scuola dell’obbligo, [.] poiché la ragazza
gefühlt. Wie dem auch sei, dann, nach der
specialmente era molto intelligente, infatti
obligatorischen Schulzeit, weil besonders
fu un maestro svizzero [.] che aveva
das Mädchen war sehr intelligent, da gab es
insegnato a Milano, che ci disse: „Signora,
nämlich einen Schweizer Lehrer der in Mai-
[.] Sua figlia non andrà mai avanti qui. [.]
land unterrichtet hatte, der uns sagte: „Sig-
La porta in Italia.“ E io, per diretta, la
nora, Ihre Tochter wird hier nie vorwärts
porto in Italia, ha frequentato il liceo, [.]
kommen. Bringen Sie sie nach Italien.“ Und
frequentato l’università, si è laureata col
ich habe sie sofort nach Italien gebracht, sie
119, insomma con il massimo dei voti. [..]
hat das Gymnasium besucht, hat die Uni-
Ehm, e il maschio idem. Lo portavamo in
versität besucht, hat mit 119 abgeschlossen,
Italia, ha frequentato un periodo
kurz, mit der Bestnote. – Ehm, und der Jun-
d’università, ma poi [.] gli piaceva tanto [.]
ge ebenfalls. Wir haben ihn nach Italien
il mondo del cinema, che ha voluto fare il
gebracht, er hat eine Zeit lang die Universi-
cameraman. Regia, cameraman, ed è
tät besucht, doch dann ihm gefiel die Welt
andato a scuola a Roma, tre anni, di scuola
des Kinos sehr gut, und er wollte Kamera-
di cameraman, [.] e poi [.] ha trovato qui
mann werden. Regie, Kameramann, und er
lavoro, [.] gli ha piaciuto, ed è rimasto,
ist in Rom zur Schule gegangen, drei Jahre,
anche perché a lui piace la Svizzera. [.]
Kamera-Ausbildung, und dann hat er hier
Perché lui è un tipo tranquillo, gli piace la
Arbeit gefunden, es hat ihm gefallen, und er
calma. L’unica cosa che non accetta [lacht] ist geblieben, auch weil ihm die Schweiz geè la pioggia, come oggi, il tempo cattivo.
fällt. Weil er ist ein ruhiger Typ, ihm gefällt
Vorrebbe il sole. Invece la ragazza no. La
die Stille. Das einzige was er nicht akzep-
ragazza [.] si sposò, andò via, ha sposato
tiert [lacht] ist der Regen, wie heute, das
un Romano, è andata a Roma, [.] reside a
schlechte Wetter. Er hätte lieber Sonne. Das
Roma, ha due bambini, [.] perché a lei non
Mädchen hingegen nicht. Das Mädchen hat
piaceva stare qui. Aveva brutti ricordi, [.] e
geheiratet, ist weggegangen, hat einen
poi [.] lei è un tipo un po’ [..] come devo
Römer geheiratet, ist nach Rom gegangen,
dire? [..] che va in malinconia, un tipo
lebt in Rom, hat zwei Kinder, weil ihr gefiel
malinconico, dice: „Qui mi deprime.“ [.]
es nicht, hier zu leben. Sie hatte schlimme
Invece in Italia c’è più allegria, più [.] ha
Erinnerungen, und dann sie ist eher ein
più amici e ha voluto rientrare in Italia. [..]
bisschen – wie soll ich sagen? – ein melan-
E questa è la mia vita. [.] Sono andata in
cholischer Typ, sie sagte: „Hier deprimiert
pensione giovane, [.] col minimum. [.] La
es mich.“ In Italien hingegen gibt es mehr
pensione italiana, naturalmente, col minimo Fröhlichkeit, sie hat mehr Freunde und hat
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di pensione. [.] E poi adesso [.] ci sono i
| 505
deshalb nach Italien zurückkehren wollen. –
nipoti. Cresciamo i nipoti, seguiamo i
Und das ist mein Leben. Ich bin jung in
nipoti. Che mi stanno dando gli stessi
Pension gegangen, mit dem Minimum. Die
problemi dei miei figli. [.] Anche loro.
italienische Pension, natürlich, mit der Minimalrente. Und nun also sind da die Enkel. Wir ziehen die Enkel auf, kümmern uns um die Enkel. Und sie machen mir die gleichen Probleme wie meine Kinder. Auch sie.
(Transkript Genni 1, 1/31 – 2/15) Nachdem Laura in sehr nüchterner Weise über ihre Biographie in Form eines beruflichen Lebenslaufes gesprochen hat, kommt nun noch der emotionale Teil ihrer Biographie: Neben dem für beide Ehepartner erfolgreich vollzogenen beruflichen Wechsel in die Schweiz gibt es auch noch ein migrationsbedingtes familiäres ‚Trauma‘. Dasjenige, was an der Migration schwierig war und was sich nicht in die berufliche Erfolgsgeschichte des ehelichen Teams Laura und Marco einordnen lässt, sind die Schwierigkeiten der Kinder in der Schule. Die Familie Genni ist also, auch das steckt in Lauras Formulierung drin, einerseits zwar privilegiert im Vergleich zur Mehrheit der italienischen Arbeitsmigrant/innen, andererseits verfügt sie aber, wie die anderen auch, über ein spezifisches familiäres Migrationstrauma. Laura beginnt die Sequenz sehr emotional, bekräftigt mehrmals, wie schlimm das war, was sie jetzt ausführen wird. Dann beginnt sie zu erklären, worin das Problem bestand: Dass ihre eigentlich sehr intelligenten Kinder, die in Italien ihre ersten schulischen Gehversuche mit Bravour bestanden hatten, in der Schweizer Schule plötzlich Schwierigkeiten hatten. Den Grund dafür lokalisiert Laura in der Sprache. Zwar waren die Kinder schon vor der Migration auf die neue Sprache vorbereitet worden – ein weiterer Hinweis für die gründliche und reflektierte Vorbereitung der Migration –, scheiterten dann aber an der spezifischen Gegebenheit, dass in Bern ein Dialekt gesprochen wird, der neben der deutschen Schriftsprache auch in der Schule zur Anwendung kommt. Damit hatten die Gennis nicht gerechnet, und dass die Kinder nun plötzlich schulische Schwierigkeiten hatten, belastete die Eltern sehr, die Kinder ‚weinten‘, sie ‚wurden traumatisiert‘ dadurch. Auch der Nachhilfeunterricht durch private Lehrer half nicht weiter, die Schulkarriere der Kinder entwickelte sich zu einem ‚Desaster‘. Die starken emotionalen Begriffe, die Laura hier anwendet, werden verständlicher, wenn wir uns vor Augen halten, dass Laura selber Lehrerin ist und damals auch in Bern unterrichtet hat, doch lehrte sie nach einem anderen System und in einer anderen Sprache als die Lehrpersonen, mit denen ihre eige-
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nen Kinder konfrontiert waren. Das machte Laura machtlos, erschwerte es ihr erheblich, korrigierend einzugreifen, und zwang sie dazu, das Bildungsschicksal ihrer Kinder in fremde Hände zu geben. Und es war für sie womöglich eine persönliche Kränkung, dass ihre eigenen Kinder, trotz besten Voraussetzungen, es dennoch nicht geschafft haben, in der Schweizer Schule erfolgreich zu sein. Die Kinder absolvierten dennoch die gesamte obligatorische Schulzeit in der öffentlichen Schweizer Schule1. Erst danach gelingt es den Gennis, ihr ökonomisches Kapital gewinnbringend für die Bildungskarrieren der Kinder einzusetzen. Sie schickten die Kinder in ein Gymnasium in Italien, und von da an verlief deren Bildungsweg wesentlich erfolgreicher – insbesondere derjenige der Tochter, des zweitgeborenen Kindes. An dieser Stelle der biographischen Selbstpräsentation Lauras bekommen die Kinder ein erstes Mal ein individuelles Gesicht. Laura schildert deren Karrieren und begründet deren Entscheid über ihren Lebensort mit deren charakterlichen Eigenheiten. Daraus entsteht für mich das Bild einer jüngeren Tochter, die doch noch alle Erwartungen erfüllt hat, die zielstrebig und entschlossen ihre Chance in Italien gepackt hat, mit Bestnote ihr Studium abgeschlossen, geheiratet, zwei Kinder bekommen hat. Die in der Schweiz unglückliche Tochter ist in Italien aufgeblüht, hat dort reüssiert und sich entschieden, auch in Zukunft dort zu leben. Der erstgeborene Sohn hingegen folgte seiner jüngeren Schwester etwas zaghafter. Er hat ein paar Semester studiert, hat sich dann aber für seine künstlerische Neigung entschieden und eine Filmhochschule besucht. Und er hat es geschafft, sich damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er tut dies in der Nähe seiner Eltern, und offenbar auch mit materieller und immaterieller Unterstützung durch diese2. Nachdem Laura die Karrieren und Lebensumstände der Kinder umrissen hat, schließt sie auch diesen zweiten Teil ihrer Geschichte ab. Während ihre erste biographische Selbstpräsentation sich auf Beruf und Erwerbsleben konzentriert hat, fokussiert diese zweite Passage auf die Kinder und auf Lauras Sorgen um deren schulischen Erfolg. Die eigenen beruflichen Erfolge und die schulischen Erfolge der Kinder machen für Laura die erfolgreiche präsentierbare Biographie
1
Denkbar wäre auch die Verlegung der Kinder in eine Privatschule gewesen, oder in eine der beiden Schulen in Bern, die nach italienischem Schulsystem unterrichteten: die Schule der Missione Cattolica oder diejenige des Konsulates, an der Laura selbst als Lehrerin angestellt war. Auch ein Internat in Italien oder in der italienisch-sprachigen Schweiz wäre für die Gennis wohl erschwinglich gewesen.
2
So unterstützen die Gennis ihren Sohn z.B. nicht nur in der Betreuung und Erziehung der Kinder, sondern haben ihm auch den Kauf einer Eigentumswohnung ermöglicht.
D AS E HEPAAR G ENNI
| 507
aus. Drohende Misserfolge verursachen Ängste und emotionale Dramen. Laura definiert sich in ihrer biographischen Selbstpräsentation über Bildung und Bildungserfolg, nicht nur über ihren eigenen, sie projiziert ihren Ehrgeiz auf ihre Kinder – ja sogar auf ihre Enkelkinder, denn ‚auch sie‘ machen Laura ‚dieselben Probleme wie die Kinder‘ – und sie erwartet viel von ihnen, sei es aufgrund ihres Berufsethos als Lehrerin, sei es aus bildungsbürgerlichem Statusbewusstsein. Dabei liegt die Ursache für den Misserfolg in Lauras Sichtweise nicht bei den Kindern, die ja eigentlich intelligent sind. Und obwohl Laura oben erwähnt, dass ‚es zu spät war‘ für die Kinder, um sich noch zurecht finden zu können in den Schweizer Schulen – was ja bedeuten würde, dass Laura und Marco eine gewisse Schuld trifft, weil sie über die Migration entschieden haben – lokalisiert Laura im Endeffekt die Ursache in den Sprach- und Schulstrukturen der Schweiz. Sie korrigiert sich denn auch gleich, als sie den vielleicht ungünstigen Zeitpunkt der Migration tangiert, und verweist darauf, dass selbst der Kindergartenbesuch die Schulchancen nicht wesentlich verbessert hätte. Als weiteren Beweis für ihre These führt sie an, dass selbst die Enkelkinder, die ja hier geboren sind, dieselben Probleme in der Schule hätten. Laura fährt im Anschluss an obige Passage fort zu erläutern, wie sich die Schulprobleme ihrer Enkel konkret ausgestalten und wo sie die Ursachen für deren Schwierigkeiten sieht. Die Biographieträgerin wird hier nun zur Bildungsexpertin, analysiert das Schweizer Schulsystem, verweist auf die Pisa-Studien, lokalisiert das Problem in der sprachlichen Zweigesichtigkeit von Dialekt und Hochsprache, zu der die Schule keine eindeutige Haltung einnehme, sprich: dem Dialekt viel zu viel Raum einräume, anstatt sich auf die Hochsprache zu konzentrieren, wie dies in Italien vorgeschrieben sei. Ma io penso proprio che sia lì il problema,
Aber ich denke, dass das eigentliche Pro-
il problema sta [.] nel parlare in dialetto, e
blem dort ist, das Problem liegt [.] darin,
pretendere [.] che scrivano bene, e parlino
dass man Dialekt spricht, und vorgibt [.]
bene, e leggano il tedesco, quello è il
gut schreiben zu können, und gut reden zu
problema.
können, und Deutsch lesen zu können, das ist das Problem.
(Transkript Genni 1, 2/19-2/21) Hochsprache wird von Laura höher bewertet als Dialekt, gilt ihr als erstrebenswerter, als Basis jeglicher guter Bildung. Laura macht deutlich, dass sie nichts von Berner Schulen hält, und dass sie es sehr bedaure, dass die italienischen Schulen, wie das Konsulat sie in den frühen 1970er Jahren noch angeboten habe,
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nicht mehr existieren würden3. Damit sei eine wichtige Wahlmöglichkeit verloren gegangen: L: Dobbiamo mandargli per forza alla
L: Wir müssen sie gezwungenermaßen in
scuola svizzera, dove non imparano il
die Schweizer Schule schicken, in der
tedesco. Escono di lì, che non sanno
sie nicht Deutsch lernen. Dort kommen
una lingua. [.] Mia figlia che è laureata
sie raus, ohne eine Sprache zu können.
in lingue, tedesco, inglese, [.] spagno-,
Meine Tochter, die einen Hochschulab-
e ha dovuto andare in Germania per
schluss in Sprachen hat, Deutsch,
imparare il tedesco.
Englisch, Span-, und sie musste nach Deutschland gehen, um Deutsch zu lernen.
E: Mhm. È un problema della lingua, sì.
E: Mhm. Es ist ein Sprachproblem, ja.
L:
L:
È un grande problema.
Es ist ein großes Pro-
[.] Qui non sanno una lingua. [.] Un
blem. Hier können sie keine Sprache.
po’ di matematica, e finisce lì. Perché
Ein wenig Mathematik, und dort hört’s
cultura generale non gli danno.
auf. Weil generelle Kultur lehren sie hier nicht.
(Transkript Genni 1, 4/25 – 4/31) In dieser Passage wird noch einmal deutlich: Laura definiert das Sprachproblem nicht als ein Problem ihrer Kinder, sondern als ein Problem des Schulsystems, das dem Erwerb der Hochsprache zu wenig Gewicht beimisst. Die Hochsprache versteht sie als Ausdruck der ‚cultura generale‘ eines Landes – etwas, was in Schweizer Schulen ihrer Meinung nach nicht vermittelt wird. Das Problem des
3
Die Schule des Konsulates wie auch diejenige der Missione Cattolica di Berna wurden eingerichtet, um Kindern von ‚Gastarbeiter/innen‘, die nach wenigen Jahren wieder zurückkehren wollten, den Besuch von Schulen nach italienischem System zu ermöglichen. Ziel war es, eine Reintegration der Kinder in die italienische Schule nach der Rückkehr zu erleichtern. Die Berner Schulbehörde beobachtete dies zuerst mit Wohlwollen, dann zunehmend argwöhnisch, tolerierte die italienischen Schulen aber über mehrere Jahre. Ende der 1980er Jahre wurden die letzten Klassen geschlossen; dies wurde von den Behörden in internen Verwaltungsberichten damit begründet, dass die italienischen Schulen zunehmend auch von Eltern bevorzugt wurden, die nicht vor hatten, in nächster Zeit zu remigrieren. Um die Konsolidierung paralleler Ausbildungswege zu verhindern, beschlossen die lokalen Behörden, auf er Integration aller Kinder in die öffentlichen Schulen zu insistieren (vgl. Soom/Truffer 2000: 143f).
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Dialektes kennt Laura, wie sie betont, aus eigener Erfahrung: Auch in Italien werde vielerorts ein Dialekt gesprochen, der sich stark von der Hochsprache unterscheide. Das italienische Schulsystem kenne jedoch, im Gegensatz zur Schweiz, keine Toleranz und bestehe auf der Hochsprache. Laura sagt, sie fände das absolut richtig, auch sie habe sich in ihrer Lehrtätigkeit immer für das Erlernen einer ‚lingua pura‘ eingesetzt (Transkript Genni 1, 4/39 – 5/20). Ich frage daraufhin, ob die Gennis für ihre Kinder denn nicht den Besuch einer italienischen Schule – wie derjenigen, an der Laura unterrichtete – in Betracht gezogen hätten. Io volevo che andassero alla scuola italiana Ich wollte, dass sie in die italienische Schuperché allora c’era la missione cattolica,
le gehen würden, weil damals gab es die
che aveva [.] le classe italiane. [.] Eh, la
Missione Cattolica, die italienische Klassen
scuola italiana. Ma mio marito non volle.
hatte. Eh, die italienische Schule. Aber mein
Disse: „Nonono, altrimenti non [.] manca
Mann wollte nicht. Er sagte: „Nein nein
l’integrazione, non si integrano, quindi
nein, sonst fehlt die Integration, sie integrie-
dobbiamo mandargli subito nella scuola [.]
ren sich nicht, also müssen wir sie sofort in
svizzera.“ Io non volevo perché [.] loro già
die Schweizer Schule schicken.“ Ich wollte
frequentavano in Italia il maschio la
nicht, weil sie hatten in Italien ja schon, der
seconda elementare e la femmina la prima
Junge die zweite und das Mädchen die erste
elementare. Erano molto bravi, e non
Klasse besucht. Sie waren sehr gut, und ich
volevo. Ma [..] gli amici di mio marito:
wollte nicht. Aber – die Freunde meines
„No! Così [.] imparano tante lingue,
Mannes: „Nein! So lernen sie so viele Spra-
imparano tante lingue!“ e mi fregarano in
chen, lernen so viele Sprachen!“ und so ha-
questo modo [lacht kurz] perché io [..] non
ben sie mich reingelegt [lacht kurz] weil ich
avrei [..] perché furano traumatizzati, i
– hätte nicht – weil sie wurden traumati-
ragazzi. Molto.
siert, die Kinder. Sehr.
(Transkript Genni 1, 5/32 – 5/40) Offenbar waren sich diesbezüglich die Eltern nicht einig, und wieder war es Marco, der sich durchgesetzt und die Entscheidung schließlich gefällt hat, wie bei der Migration. Und wieder sind es Dritte, welche seine Entscheidung beeinflussen. Diesmal sind es zumindest etwas konkretere Personen, nämlich ‚Freunde meines Mannes‘. Mehr erfahren wir nicht über diese Freunde; ich gehe davon aus, dass es sich entweder um Freunde im Umfeld des Lebens in Norditalien handelte, oder aber um bereits gewonnene Freunde am neuen Arbeitsplatz von Marco. Diese Freunde ‚legen‘ Laura dann ‚herein‘, packen sie an ihrem verwundbaren Punkt: der soliden kulturellen Bildung. Das Argument, dass die Kinder bei einem Besuch der Schweizer Schulen mehr Sprachen lernen würden,
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bringt Laura dann schließlich dazu, dem Plan ihres Mannes und seiner Freunde zuzustimmen. Es ist also nicht unbedingt das Argument der besseren Integration, das Laura überzeugt, sondern das Argument der erweiterten Bildung. Umso bitterer war es, dann zu realisieren, dass das Gegenteil der Fall war: Die Kinder lernten nicht mehrere Sprachen, sondern gar keine Sprache richtig. Diese Bitterkeit drückt sich darin aus, dass Laura ‚sich hereingelegt‘ fühlt: Sie hat sich übertölpeln lassen, hat unter dem Einfluss dieser Freunde und ihrem vordergründig so einleuchtenden Argument kapituliert. Rückblickend ist sie der Ansicht, dass sie damals nicht hätte nachgeben sollen, dass sie die Traumatisierung der Kinder so hätte verhindern können. Laura zeichnet sich im Hinblick auf die ‚traumatische‘ Schullaufbahn ihrer Kinder ziemlich handlungs-ohnmächtig. Erst auf Anraten von Dritten, als die Kinder grösser sind, unternehmen die Gennis erfolgreich etwas gegen die mangelhafte Ausbildung ihrer Kinder durch die Schweizer Schulen. Sie werden in ein passendes schulisches Umfeld geschickt, besuchen nahe der Grenze ein Gymnasium in Italien. Ich frage, wie dies organisiert wurde, wer sie dort betreut habe. Ich erfahre: Die Kinder waren nicht in einem Internat, sondern in einem normalen Gymnasium nahe der Schweizer Grenze, und sie lebten dort mit Lauras verwitweter Mutter, die dafür in den Norden Italiens zog. Laura und Marco setzten sich jeden Freitagabend ins Auto und fuhren zu den Kindern. Am Sonntag kehrten sie zurück nach Bern. Laura war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr erwerbstätig. Dennoch begleitete sie ihre Kinder nicht nach Italien, sondern blieb mit ihrem Mann in Bern. Sie sagt dazu lediglich, dass ihre Kinder durch die Großmutter gut versorgt gewesen seien. Mehr wird darüber anlässlich des Interviews nicht gesprochen. Laura hat zwar die Aufgabe ihrer beruflichen Karriere damit begründet, dass ihre Kinder sie gebraucht hätten. Doch nun schienen sie ihre Mutter nicht mehr zu brauchen. Laura wird auch nicht müde zu betonen, wie sehr ihr deren Bildung am Herzen gelegen habe und dass sie italienische Schulen für besser geeignet halte, ihren Kindern diese Bildung angemessen zu vermitteln. Warum also hat Laura nicht mehr investiert in die Durchsetzung ihrer Ansichten, warum wurden die Kinder nicht schon früher in andere Schulen geschickt? Und warum begleitete Laura die Kinder nicht nach Italien, um sie zu versorgen? Schaffte sie es nicht, sich gegenüber ihrem Mann durchzusetzen? Obwohl Marco durchaus sehr autoritär wirken kann, wenn er es darauf anlegt, erscheint mir das innereheliche Machtverhältnis des Ehepaares Genni dennoch relativ ausgeglichen. Dies gilt zumindest für die Artikulations- und Definitionsmacht im Interview, die vielleicht sogar etwas ausgeprägter bei Laura liegt als bei Marco. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Laura ihre Bedenken nicht hätte äußern können und dass Marco sie nicht ange-
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hört hätte. Ich kann mir aber vorstellen, dass Marco nicht bereit war, sich darauf einzulassen, ohne die ihn versorgende Ehefrau in Bern zu bleiben. Vielleicht war es auch für Laura selbstverständlich, dass ihr Mann, in gehobener Stellung und mit gutbürgerlicher Herkunft, eine Ehefrau zum Unterhalt seines Lebensstandards und seiner Repräsentierfähigkeit benötigte. Jedenfalls wurden die Anliegen des Ehemannes über diejenigen der Kinder gestellt, wie Laura vorher auch schon ihre berufliche Karriere derjenigen von Marco untergeordnet hatte. Und vielleicht hat Laura es auch genossen, zumindest teilweise aus ihren mütterlichen Verpflichtungen und der Sorge um die Schulerfolge der Kinder entbunden zu werden. Im Gegensatz zur Aufgabe ihrer beruflichen Tätigkeit jedoch hadert Laura heute mit der damaligen Hintanstellung der schulischen Belange ihrer Kinder. Marco hält sich während Lauras biographischer Erzählung, wie auch während ihrer Ausführungen zum Schul-Debakel der Kinder aus dem Gespräch heraus. Einmal schaltet er sich ein, als es um die italienischen Schulen in Bern geht, und will etwas klären. Er wird jedoch von Laura freundlich, aber bestimmt darum gebeten, ihr hier das Wort zu überlassen (Transkript Genni 1, 4/11f). Marco akzeptiert das umgehend und verhält sich wieder ganz ruhig. Erst als es darum geht, das genaue Migrationsdatum und die Adresse der ersten Wohnung anzugeben, übergibt Laura das Wort an Marco. Die darauf folgenden Anmerkungen dazu, wie schwierig es war, eine erste Wohnung zu finden, und weitere Klärungen dazu, wo und wie lange die Kinder welche Schule besucht haben, bestreiten die Gennis gemeinsam. Als dann eine längere Gesprächspause entsteht, bitte ich Marco darum, nun auch noch seine Biographie zu erzählen. Marcos biographische Selbstpräsentation E: Allora, forse Lei mi racconta un po’
E: Also, vielleicht erzählen Sie mir ein
della Sua vita? M: Ma io, la mia vita l’ho già raccontata a
bisschen aus Ihrem Leben? M: Ja, aber ich habe doch mein Leben
quella Sua collega chi è stata [.] da C.
schon jener Kollegin von Ihnen erzählt, die bei C. war.
E: Sì, ma [.] quella è un’altra donna che fa E: Ja, aber das ist eine andere Frau, die un progetto – M:
Mi faccia le domande, signora, e io rispondo.
L: Eh, come me, dove sei nato, da dove vieni.
ein Projekt – M:
Stellen Sie mir ihre Fragen, und ich antworte.
L: Eh, wie ich, wo du geboren bist, woher du kommst.
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E:
Allora, mi dice, dove e quando Lei è nato.
E:
Also, sagen Sie mir doch, wo und wann Sie geboren sind.
(Transkript Genni 1, 7/41 – 8/6) Wieder ziert sich Marco, signalisiert sein Unverständnis dafür, dass er seine Biographie noch einmal erzählen soll, bringt mein Forschungsprojekt mit einem anderen Projekt in Zusammenhang4. Meine Erklärungen dazu unterbricht er und bittet mich, ihm doch konkrete Fragen zu stellen. Im Moment des Interviews fühle ich mich verunsichert durch diese etwas barsch vorgetragenen Einwände von Marco. Im Nachhinein interpretiere ich sein Verhalten nicht als Ausdruck von Unklarheit der Situation, sondern eher als Spiel um die Definitionsmacht im Interview: darum, wer darüber bestimmt, was hier gemacht wird und wie es gemacht wird. Eigentlich würde diese Aufgabe mir als Interviewerin zukommen, und Marco weiß das auch, stellt dies mit seinem Verhalten aber in Frage, wodurch ich auch verunsichert werde. Doch so richtig ernsthaft verweigern will sich Marco gar nicht; ich interpretiere sein Verhalten eher als Strategie, seine Kooperation wertvoller zu machen. Laura übernimmt hier eine vermittelnde Rolle und macht ihm einen Vorschlag, wie er vorgehen könne. Schließlich beginnt Marco eine sachliche und kompakte biographische Selbstpräsentation, sehr ähnlich strukturiert wie diejenige von Laura. Ma, io sono nato [..] tanti anni fa. [lächelt]
Nun, ich bin geboren – vor so vielen Jahren.
Nel 1931. A N. [.] In provincia di Taranto.
[lächelt] Im 1931. In N. [.] In der Provinz
Ho frequentato le scuole elementari [.] a
Taranto. Ich habe die Grundschulen be-
M., [.] ho frequentato sempre nella stessa
sucht in N., habe, immer noch in derselben
città [.] le scuole medie. Poi, dopo le scuole
Stadt, die Sekundarschule besucht. Dann,
medie, ho frequentato [.] il ginnasio, e dopo nach der Sekundarschule, habe ich das il ginnasio ho frequentato i tre anni del
Gymnasium besucht, und nach dem Gymna-
liceo classico. [.] Perché mentre oggi da
sium habe ich die drei Jahre des ‚liceo
qualsiasi diploma si può accedere a
classico‘ besucht. Weil während man heute
qualsiasi [.] facoltà universitaria, a miei
mit jedem beliebigen Diplom in jede belie-
tempi, soltanto dal liceo classico, o la
bige universitäre Fakultät eintreten kann,
maturità classica, [.] si poteva iscrivere alla konnte man sich zu meinen Zeiten nur aus facoltà di giurisprudenza. [.] Quindi dopo
4
dem ‚liceo classico‘, oder mit der klassi-
Marco Genni hatte bereits im Rahmen eines dokumentarisch ausgerichteten Projektes eine kurze schriftliche Lebensgeschichte verfasst. Dieses Projekt war durch dieselbe Kontaktperson vermittelt worden, und Marco ist wohl davon ausgegangen, dass mein Projekt und das dokumentarische in irgendeiner Form zusammen gehören.
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gli esami di maturità classica, [.] mi sono
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schen Matur in der juristischen Fakultät
iscritto alla giurisprudenza, alla facoltà di
einschreiben. So habe ich mich nach den
giurisprudenza all’università di Bari. [.]
Maturaprüfungen in der Jurisprudenz ein-
Dove mi sono laureato, [.] e l’attività
geschrieben, in der juristischen Fakultät der
professionale [.] l’ho incominciata in
Universität Bari. Wo ich meinen Abschluss
Valtellina, a A. Fu a A., [.] che mi fu
gemacht habe, und die berufliche Tätigkeit
comunicato [.] che la cancelleria federale
habe ich im Veltlin aufgenommen, in A. Es
cercava [.] dei giuristi di lingua italiana. [.] war dann in A., wo mir mitgeteilt wurde, Partecipai [..] con la mia offerta, [.] e ho
dass die Bundeskanzlei Juristen italieni-
prestato la mia collaborazione [.] alla
scher Sprache suchte. Ich habe teilgenom-
cancelleria federale svizzera [.] come
men – mit meiner Bewerbung, und bin in
giurista di lingua italiana, per 28 anni. [.] E den Dienst der Schweizer Bundeskanzlei allora sono in pensione.
getreten als Jurist italienischer Sprache, für 28 Jahre. Und jetzt bin ich in Pension.
(Transkript Genni 1, 8/7 – 8/19) Auch Marco wählt für seine biographische Erzählung eine chronologische Ordnung, die sich auf Ausbildung und Beruf konzentriert. Er legt zielstrebig und sachlich seinen Ausbildungsweg sowie seinen beruflichen Werdegang bis zum Zeitpunkt seiner Anstellung in der Schweiz dar. Damit macht er in etwa diejenigen Angaben zu seinem Leben, die man in einem Lebenslauf im Rahmen einer Stellenbewerbung erwarten würde. Nachdem Marco seine berufliche Laufbahn so weit entwickelt hat, bis klar ist, wie er in die Schweiz gekommen ist und worin seine Arbeit hier bestand, kommt seine narrative Selbstpräsentation zu einem unvermittelten Schluss mit den Hinweis auf seine Pensionierung. Wie Laura ist auch Marco sehr präzise, was die Abfolge seiner Ausbildungsschritte betrifft. Dem Umstand, dass er das ‚klassische Gymnasium‘ besucht hat, widmet er besonders viel Aufmerksamkeit. Es ist ihm offensichtlich wichtig zu betonen, dass er eine ‚klassische‘ Ausbildung genossen hat, dass diese Ausbildung der einzige Weg war, um ‚zu seinen Zeiten‘ diejenige Laufbahn einzuschlagen, die er dann auch verfolgt hat. Die im Vergleich zu heute frühe Verengung der Ausbildungsoptionen spricht dafür, dass der Entscheid über das Berufsziel bewusst gefällt wurde und dass dem Prestige dieses Bildungsganges große Bedeutung beigemessen wurde. Obwohl Marco bis hier seine familiäre Herkunft nicht erwähnt und auch sonst keine Hinweise auf seinen sozialen Hintergrund gegeben hat, ist anzunehmen, dass er in einem bildungsnahen und/oder ökonomisch gut gestellten Haushalt mit höherem sozialem Status aufgewachsen ist. Er könnte der Sohn eines Anwaltes oder eines Arztes sein, der die berufliche Tradition der Familie fortsetzt. Er könnte auch einer der jüngeren Söhne aus einer gut
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gestellten Familie sein, deren traditionelle Profession bereits von älteren Geschwistern fortgesetzt wird, so dass für Marco die Freiheit bestand, einen eigenen beruflichen Weg zu wählen – solange es sich um einen prestigereichen Beruf handelte5. Ein Studium der Jurisprudenz bedingt zwar erhebliche Investitionen von Seiten des Elternhauses, ist aber auch ein Ausbildungsweg, der mit ziemlicher Sicherheit zu finanzieller Unabhängigkeit und zu Status führt. Insofern wären die Ressourcen zweifelsohne auch dann vernünftig angelegt worden, wenn Marco aus einem nicht ganz so noblen und reichen Elternhaus stammen würde. Marco macht durch die Strukturierung seiner Biographie als erfolgreiche Bildungsbiographie klar, dass er seine Karriere zielgerichtet verfolgt hat. Die berufliche Laufbahn schildert er im Vergleich zur Ausbildung dann eher knapp. Am meisten Aufmerksamkeit verwendet er dabei auf die akkurate Formulierung der Umstände, die zu seiner Migration in die Schweiz geführt haben. Mit seiner Wortwahl betont er seine eigene berufliche Kompetenz und den Status seiner Anstellung in der Schweiz. Den Aspekt der Migration von einem Nationalstaat in den anderen erwähnt er mit keinem Wort, und die Binnenmigration vom Süden in den Norden nur am Rand. Marcos Biographie ist nicht eine Migrationsbiographie, sondern eine Berufs- und Karrierebiographie. Damit setzt er seine bereits in den Vorgesprächen etablierte Strategie der Distinktion gegenüber der Masse der Arbeitsmigrant/innen fort. Marco macht hier klar: Es war die interessante berufliche Perspektive, welche ihn bewog, in die Schweiz zu migrieren. Nur in einem Nebensatz konstatiert er, dass zwischen dem Ort seiner Ausbildung und dem Ort, an dem er seine ‚berufliche Tätigkeit aufgenommen‘ hat, eine beträchtliche geographische und soziale Distanz liegt. Marco ist bis hierher der einzige Akteur in seiner biographischen Selbstpräsentation. Angedeutet wird lediglich noch ein nicht genauer definiertes Agens, das Marco auf die Stelle in Bern aufmerksam gemacht hat. Mit keinem Wort erwähnt er sein familiäres Netzwerk, weder seine Herkunftsfamilie, noch seine Ehefrau und Kinder. Dies kann mit der Interaktionssituation zu tun haben, dass seine Frau anwesend ist und bereits von sich erzählt hat. Es wird aber auch damit zu tun haben, dass Marco seine Geschichte hier als beruflichen Lebenslauf konzipiert, und ein solcher verlangt nach einem individuellen, auf eine ganz bestimmte Person und ihre persönlichen Errungenschaften und Leistungen bezoge-
5
Vielleicht war es auch in Apulien nicht unüblich, dass den jüngeren Kindern von etwas besser gestellten Familien ein Studium oder eine klerikale Karriere ermöglicht wurde, wenn das elterliche Geschäft oder der elterliche Gutsbesitz bereits von älteren Geschwistern geführt wurde, wie dies Gower Chapman (1971) für Sizilien beschreibt.
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nen Modus der Selbstpräsentation. Auch Gianna hatte den ersten Teil ihrer Selbstpräsentation als beruflichen Lebenslauf konzipiert, hat diesen anfangs auch auf sich als einzige Akteurin beschränkt, doch dann um die Person von Marco erweitert. Während ihre Biographie diejenige einer Ehefrau ist, die ihre Berufskarriere bei der Heirat derjenigen des Ehemannes unterordnet, wodurch sie zu einer sozial verwobenen Biographie wird, bleibt Marcos Berufsbiographie auch mit der Heirat eine individuelle. An diesem Punkt versuche ich, Marco durch eine Nachfrage zu weiterem Erzählen zu animieren. Beeindruckt von der gewählten Sprache, die er benutzt – eine weitere Distinktionsstrategie Marcos –, bemühe ich mich, die Frage danach, warum er sich damals für eine Stelle im Ausland interessiert habe, etwas gewählter zu formulieren – so gut es meine italienischen Sprachkenntnisse zulassen. Der Versuch scheint zu misslingen, Marco versteht mich nicht und teilt dies – interessanterweise – nicht mir, sondern seiner Ehefrau mit. Ob es sich hier wirklich um Nicht-Verstehen handelt, oder vielleicht auch wieder um ein Definitionsmacht-Spiel? Oder betrachtet er die Arbeit mit mir als eine Angelegenheit seiner Frau, obwohl ich den Kontakt über ihn geknüpft habe? Empfindet Marco Biographiearbeit als Frauenarbeit? Oder geht es schlichtweg darum, dass Marco tatsächlich nicht verstanden hat und Laura hier um Hilfe bittet? E: E quali erano i motivi di [.] andare, di
E: Und welches waren die Motive zu
[.] come si dice? [.] Di pensare di
gehen, zu, wie sagt man? Daran zu den-
andare in Svizzera e prendere questo
ken, in die Schweiz zu gehen und diese
lavoro?
Arbeit anzunehmen?
M: [zu L.] Non ho capito.
M: [zu L.] Ich hab’ nicht verstanden.
L: Eh. Perché sei venuto in Svizzera, quei
L: Eh. Warum du in die Schweiz gekommen
erano i motivi.
bist, welches die Motive waren.
M: Ma io non è – [.] Ma io non è che sia
M: Aber es ist nicht – Aber es ist nicht so,
venuto in Isvizzera.
dass ich in die Schweiz gekommen bin.
E: No, [.] la cosa che voglio –
E: Nein, was ich wissen will –
M:
M:
In effetti mi
In der Tat haben sie
chiamarano [.] mi offrirano il posto in
mich gerufen, sie haben mir den Posten
Isvizzera come giurista di lingua
als Jurist italienischer Sprache in der
italiana, ma accettai [.] sotto
Schweiz angeboten, doch ich habe unter
condizione [.] in quanto vedevo che la
Vorbehalt akzeptiert, weil ich sah, dass
mia partecipazione alla cancelleria
eine Anstellung in der Schweizer Bun-
federale svizzera [.] mi dava la
deskanzlei mir eine gute Karrieremög-
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possibilità di una buona carriera. [.] La
lichkeit bot. Diese Karriere habe ich
carriera che effettivamente l’ho svolta
dann effektiv auch im Großen und Gan-
in tutto per tutto, pur rimanendo
zen verfolgt, wenn auch als Italiener.
italiano. [.] Perché ero italiano, e sono
Weil ich Italiener war, und Italiener bin.
italiano. [.] Ho ancora la cittadinanza
Ich habe immer noch die italienische
italiana. [.] Molti mi [.] invitavano [.] a
Staatsbürgerschaft. Viele haben mich
richiedere la cittadinanza svizzera. Ma
eingeladen die Schweizer Staatsbürger-
io rispondevo: „Guardate, io resterò
schaft zu beantragen. Aber ich habe ge-
sempre italiano, perché sono nato
antwortet: „Schaut, ich werde immer
italiano.“ Ho studiato in Italia, [.]
Italiener bleiben, weil ich als Italiener
cambierà soltanto il colore del
geboren wurde.“ Ich habe in Italien stu-
passaporto. Non cambierà molto.
diert, es würde sich lediglich die Farbe
Perché la mia funzione come giurista di
des Passes ändern. Es würde nicht viel
lingua italiana, l’ho svolta nella sezione
ändern. Weil meine Funktion als Jurist
di lingua italiana, alla cancelleria
italienischer Sprache habe ich in der
federale svizzera.
italienisch-sprachigen Sektion der Schweizer Bundeskanzlei ausgeübt.
(Transkript Genni 1, 8/20-8/36) Die Formulierung ‚sie haben mich gerufen‘ evoziert ein Bild von Kompetenz, von exzellenter Qualifikation Marcos für die entsprechende Stelle. Sie erweckt den Eindruck eines Spezialisten, der wegen seiner spezifischen Kompetenzen gezielt angefragt wird, weil man genau ihn für die Stelle haben will. Marco ist, so erfahre ich an anderer Stelle, von Berufskollegen in Norditalien auf die Ausschreibung der Stelle aufmerksam gemacht worden. Er ist nach Bern gekommen, weil er in der angebotenen Stelle eine gute Karriereoption sah. Marco zeichnet sich hier explizit nicht als Arbeitsmigrant, sondern als erfolgreicher Berufsmann, der für seine Karriere auch größere Distanzen zurücklegt und für den es selbstverständlich ist, sich auch in neuen gesellschaftlichen Umfeldern problemlos zurecht zu finden. Und die Karriereoption, die sich Marco bot, war wohl in der Tat eine viel versprechende. Anstellungen beim Bund galten in der Schweiz bis vor wenigen Jahren als ausgesprochen sicher, verbunden mit komfortablem, mit dem Dienstalter automatisch ansteigendem Einkommen6. Den Hinweis auf die beibehaltene Staatsbürgerschaft verstehe ich vor dem Hintergrund, dass ich meine, Bundeskarrieren seien nur Personen mit Schweizer Staatsbürgerschaft
6
Marco verweist auch explizit auf die gute Bezahlung dieser Stelle. Er gibt an, etwa 2 500 Franken im Monat verdient zu haben, und vergleicht dies mit dem Einkommen eines italienischen Arbeiters, das maximal 800, 900 Franken betragen habe.
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zugänglich. Ich spreche ihn später darauf an, worauf er ein älteres internes Adressbuch der Bundeskanzlei holt. Darin ist bei allen Mitarbeitenden vermerkt, aus welchem Kanton sie stammen, und bei einigen Personen steht in der entsprechenden Kolonne ein A für ‚Ausländer‘. Damit will er mir zeigen, dass er bei Weitem nicht die einzige Person in der Bundeskanzlei mit ausländischer Staatsbürgerschaft war. Für seine Stellung war, so erzählt er weiter, ausschlaggebend, dass er ein Studium der Jurisprudenz hatte und dass er die italienische Sprache sowie eine zweite Amtssprache gut beherrschte. Seine Arbeit bestand in der Überarbeitung, Übersetzung und Publikation von Gesetzestexten, und zwar, wie er in obigem Zitat herausstreicht, in der italienisch-sprachigen Sektion der Bundesverwaltung. Auch deshalb hätte eine Einbürgerung nichts geändert, er hätte gleichwohl in einem italienisch-sprachigen Umfeld gearbeitet. Zwar gehörte zu seiner Arbeit die Kooperation mit deutsch- und französischsprachigen Juristen, doch Umgangssprache an seinem Arbeitsplatz war französisch, und Marco sprach bereits vor seiner Migration in die Schweiz, so sagt er, sehr gut französisch. Deutsch spricht er hingegen kaum. Anlässlich meines zweiten Besuchs bei den Gennis spreche ich das Thema der Staatsbürgerschaft noch einmal an (Transkript Genni 2, 5/14f). Die Reaktion von Marco erstaunt auf den ersten Blick: Marco betont seine politische Integrität, die sich durch absolute Enthaltsamkeit gegenüber der Schweizer Politik auszeichne. Er respektiere die Gesetze des Staates, der ihn beherberge, und betrachte die Schweiz als seine zweite Heimat. Aber dennoch bleibe er Italiener. Auf meine Frage nach der politischen Partizipation, die in der Schweiz in hohem Maße an die Staatsbürgerschaft gekoppelt ist, betont Marco, dass er sich nie aktiv an politischen Aktionen in der Schweiz beteiligt habe, dass er und seine Frau aber in Italien wählen würden. Eine sehr diplomatische Antwort, denn damit drückt Marco einerseits aus, dass er politisch sehr wohl interessiert und informiert ist, dass er aber keineswegs in politische Aktivitäten von italienischen Staatsbürger/innen im Ausland involviert war7. Indirekt betont Marco damit auch, dass er sich in der Schweiz nicht vollumfänglich zugehörig fühlt. Der Erwerb des Bürgerrechtes würde ihm durchaus offen stehen, das machen auch
7
Denkbar wären z.B. arbeitspolitische Aktivitäten, wie sie vor allem von der italienischen Linken in der Migration gepflegt wurden, oder innenpolitische italienische Querelen, welche auch unter Migrant/innen im Ausland ausgetragen wurden, wie z.B. der Konflikt zwischen Faschisten und Kommunisten oder parteipolitische Ausmarchungen zwischen Kommunisten und Sozialisten (vgl. dazu z.B. Soom/Truffer 2000; Halter 2003).
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die ‚Einladungen‘ aus seinem Umfeld8 deutlich. Doch er will es nicht, er empfindet es als nicht passend, er fühlt sich als Italiener und ist überzeugt, dass er es auch bleiben wird. Und er will sein Bürgerrecht zur politischen Partizipation in Italien ausüben, dort wo er geboren wurde, wo er studiert hat, und nicht dort, wo er seit mehr als drei Jahrzehnten lebt und – wenn es nach seinen Vorstellungen geht – auch bleiben wird. Kehren wir zurück zum Zeitpunkt der Migration: Damals war Marco offenbar skeptisch gegenüber einem Leben in der Schweiz. Dass er in der oben zitierten Passage erwähnt, er habe die Stelle in der Schweiz unter Vorbehalt (‚sotto condizione‘) angenommen, kommt nun noch einmal zur Sprache: L: Era, più che altro, una curiosità. [lacht
L: Es war vor allem aus Neugierde. [lacht
kurz] Eravamo ancora giovani,
kurz] Wir waren noch jung, liebten ein
amavamo un po’ l’avventura. Dice:
bisschen das Abenteuer. Sagten: „Lass
„Avventuriamoci!“ Infatti lui [.] non
es uns wagen!“ Denn er hat die Kanzlei
chiuse lo studio. [.] Ma lo lascia aperto
nicht geschlossen. Er hat sie noch einige
con la segretaria per parecchi mesi.
Monate offen gelassen, mit der Sekretärin.
M: Quasi un anno.
M: Fast ein Jahr.
L: Eh! Perché dice: „Se mi va male in
L: Eh! Weil er sagte: „Wenn es mir in der
Isvizzera, io ritorno.“ Veniva, lui veniva
Schweiz schlecht geht, kehre ich zu-
il sabato e la domenica. [***]
rück.“ Er kam dann am Samstag und am Sonntag. [***]
M: Io partivo da Berna il venerdì, [.] e
M: Ich bin am Freitag in Bern weggegan-
ritornavo qui lunedì mattina. [.]
gen, und bin am Montagmorgen hierher
Sbrigavo tutte le pratiche che potevo
zurückgekommen. Ich habe alle Ge-
sbrigare in quei due giorni, [.] perché
schäfte erledigt, die ich in den zwei Ta-
lo studio legale era sempre aperto, [.] e
gen erledigen konnte, weil die Kanzlei
c’era la mia segretaria.
war immer offen, und meine Sekretärin war da.
L: Nel caso qui fosse andato male.
L: Falls es schlecht gegangen wäre.
M:
M:
8
Dopo
dopo un anno,
Nach
nach einem
Wie auch im Hinblick auf seine Migrationsentscheidung zeichnet sich Marco hier als Person, die man darum bittet, etwas zu tun, worum sich andere wie z.B. die italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘ bemühen und bewerben müssen: in die Schweiz einreisen zu dürfen, und die Staatsbürgerschaft zu erhalten.
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dopo un anno [.] licenziai la segretaria,
Jahr, nach einem Jahr habe ich die Sek-
[.] tutte le pratiche che avevo ancora in
retärin entlassen, habe alle pendenten
pendenza, le passai a un mio collega.
Geschäfte an einen Kollegen übergeben.
[.] Che le porta a termine.
Der sie dann abgeschlossen hat.
E: E [.] tutta la famiglia è venuta qui.
E: Und die ganze Familie ist hierhergekommen.
M: La famiglia era già venuta, ma la famiglia qui venne, io venne il primo
M: Die Familie war schon hergekommen, aber sie kam, ich kam am ersten März,
marzo, [.] prese servizio [.] in primo
habe den Dienst angetreten am ersten
marzo del 1970, e la famiglia venne [.]
März 1970, und die Familie kam am 23.
il 23 dicembre dello stesso anno.
Dezember desselben Jahres.
(Transkript Genni 1, 9/20-9/39) Die Gennis haben sich so eingerichtet, dass Marco die Migration quasi auf Probe vollziehen konnte, dass sich die Familie für eine Übergangsfrist beide Optionen offen halten konnte. Schließlich hatten sie ein gutes Auskommen und ein behagliches Leben im Veltlin. Marco trat seine Stelle in Bern zuerst einmal allein an und lebte unter der Woche im Hotel. Hätte ihm die Stelle in Bern nicht gefallen, hätte er sie ohne Risiko wieder aufgeben können. Dies ermöglichte Marco auch, in Ruhe eine geeignete Wohnung zu finden, bevor er seine Familie nachholte – ein Unterfangen, das gar nicht so leicht war, wie wir noch sehen werden. Wenn man sich vorstellt, wie der Alltag für die Gennis in dieser Zeit organisiert werden musste, kann man sich lebhaft vorstellen, wie aufwändig dieses Arrangement gewesen sein muss. Es war wohl nicht nur ein aufregendes kleines Abenteuer, es bedeutete für Marco vor allem auch ständiges Hin- und Herfahren, Arbeiten sowohl unter der Woche wie auch am Wochenende. Zudem gab es für ihn in Bern keinen Raum für ein Leben neben der Arbeit, außer dem Hotelzimmer. Und für Laura bedeutete es, unter der Woche allein für die Kinder und den Haushalt zu sorgen, während sie unterrichtete und gleichzeitig den Kurs für den Konsulatsdienst besuchte, wie sie in ihrer biographischen Selbstpräsentation erwähnt hatte. Von Mühsal aber ist in den beiden biographischen Selbstpräsentationen kaum etwas zu hören. Mit diesen Ausführungen Marcos zu seiner Arbeit ist das Erzählen der Lebensgeschichten für alle Beteiligten vorerst einmal abgeschlossen, und der Rest des ersten Gespräches widmet sich nun noch dem Leben nach der Pensionierung (auf das ich weiter hinten zu sprechen kommen werde). Relativ abrupt beendet Marco das erste Interview, indem er mich bittet, das Band jetzt auszuschalten, damit wir zur Kaffeepause übergehen können.
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Die Etablierung der Relevanzen: Schichtzugehörigkeit, Beruf und Bildung Marco Genni ist das, was in der Migrationsforschung als „highly skilled migrant“ (Kofman/Raghuram 2006: 291, bezugnehmend auf eine Definition der OECD) bezeichnet wird. Er hat einen Universitätsabschluss, ist zum Zeitpunkt der Migration in die Schweiz erfolgreich berufstätig, und er hat aus beruflichen Gründen bereits eine interne Migration vollzogen. Marco hatte also, im Gegensatz zur Mehrheit der zeitgenössischen italienischen Migrant/innen, keinen ökonomischen Druck, in die Migration zu gehen. Dies zu betonen, darauf legt er großen Wert, und damit grenzt er sich bewusst vom Stereotyp des armen, ungebildeten süditalienischen Arbeitsmigranten ab, der aus purer Not seine Heimat verlässt und ohne konkrete Pläne in die nördlichen Nachbarländer zieht, um sein Glück zu suchen. Die biographische Selbstpräsentation von Marco zielt denn auch darauf ab, seine Distinktionsbestrebungen gegenüber den klassischen Arbeitsmigrant/innen solide zu fundieren. Marco konzentriert sich in seinem Narrativ voll und ganz auf die zielstrebige Entwicklung seiner beruflichen Qualifikation und seiner Karriere, in deren Rahmen eine Migration als ganz selbstverständlicher Bestandteil erscheint. Dabei bleibt die berufliche Karriere einziger Inhalt der Selbstpräsentation, und Marco individualisierter Akteur seiner Geschichte. Auch Laura folgt in ihrer Selbstpräsentation zunächst dem Leitmotiv der erfolgreichen Berufskarriere. Obwohl sie sich der Karriere ihres Mannes anpasst und ihm jeweils dorthin folgt, wo sein Beruf ihn hinführt, verfolgt Laura dennoch auch eine eigene Berufstätigkeit. Im Gegensatz zu Marco spielen in der biographischen Präsentation von Laura neben der Arbeit auch die Kinder eine Rolle, und zwar insbesondere die Auswirkungen der Migration in die Schweiz auf die Schulleistungen der Kinder. In Lauras Selbstpräsentation nehmen die Schulprobleme ihrer Kinder und Lauras Bemühungen, dafür Begründungen zu finden, viel Raum ein. Indem Laura zum Abschluss ihrer Erzählung das SchulThema noch auf die Enkelkinder ausweitet, spannt sie ihre Lebensgeschichte über drei Generationen. Laura folgt in ihrer biographischen Selbstpräsentation also im Prinzip der Logik der Berufslaufbahn, konzipiert ihre Biographie aber nicht als individualisierte Berufsbiographie, sondern als ‚interwoven biography‘ (Hagestad/Neugarten 1985). Sie beginnt ihre Geschichte zwar als individuelle, verwebt ihre Biographie dann aber sehr eng mit derjenigen ihres Ehemannes. Erst nach der Migration in die Schweiz werden auch die Kinder integraler Bestandteil von Lauras Biographie. Auffällig ist auch, dass weder Laura noch Marco weitere konkrete Akteure – weder familiäre noch freundschaftliche noch
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arbeitsbezogene – in ihre Geschichten einbauen. Die Gennis zeichnen sich als individualisierte, mobile Kernfamilie, die voll und ganz auf die Karriere von Marco fokussiert. Dessen erfolgreiche Karriere stellt dann auch genügend ökonomische Ressourcen zur Verfügung, um auf die negativen Auswirkungen der Migration zu reagieren. Dass die schulischen Leistungen der Kinder hier eine derart zentrale Position einnehmen, hat vermutlich zu einem gewissen Teil auch mit Lauras Beruf als Lehrerin zu tun. Durch ihre berufliche Tätigkeit für die Schule des Konsulates ist sie auch vertraut mit den Auseinandersetzungen zwischen den italienischen Migrationsorganisationen und der Berner Schuldirektion um die ethnospezifischen Bildungsangebote, die in Bern entstanden sind und z.T. auf Druck der Berner Behörden wieder geschlossen werden mussten (siehe dazu auch Soom/Truffer 2000: 138f). Und so bietet sich für Laura das Thema Schulbildung besonders gut an, um über die Migration und deren Auswirkungen nachzudenken. Die Schulkarriere ihrer Kinder ist derjenige Bereich, in dem die Gennis durch ihre Migration Benachteiligungen erlebt haben, die sich zuerst nicht so einfach mittels ihrer ökonomischen Ressourcen beheben ließen: Das Anstellen von Privatlehrern zur Nachhilfe fruchtete nicht. Später entschlossen sich die Gennis dazu, ihre Kinder nach Italien zu schicken, um ihnen dort den Besuch weiterführender Schulen sowie ein Studium zu ermöglichen. Diese Lösung wurde einerseits durch soziale Ressourcen ermöglicht (durch die Großmutter, die bereit war, die Betreuung der Kinder zu übernehmen), andererseits durch die vorhandenen ökonomische Ressourcen für die Fahrten der Eltern, die Unterbringung der Kinder, für allfällige Schul- und Studiengebühren. Zusammen mit den Kindern nach Italien zurückzukehren, war offenbar keine ernsthafte Option. Etwa zu dem Zeitpunkt, als die Kinder nach Norditalien übersiedelten, kauften sich die Gennis ein Reihenhaus in Bern. Frau Genni begründet dies damit, dass die Mietwohnung nach dem Wegzug der Kinder zu groß geworden sei, und dass sich die laufenden Kosten die Waage gehalten hätten. Dass zu dem Zeitpunkt ein Haus gekauft wurde, deutet aber auch darauf hin, dass die Gennis mit einem längeren, wenn nicht sogar definitiven Verbleib in Bern rechneten, auch wenn die Kinder nun in Italien lebten. Die beiden biographischen Selbstpräsentationen vermitteln das Bild einer auf kulturelles Kapital und Status bedachten Familie und eines beruflich erfolgreichen Familienoberhauptes, nach dessen Karriereerfordernissen sich die Familie zu richten hat. Neben der Darlegung der Ausbildungs- und Erwerbswege gewinnt vor allem das Bemühen um Erhaltung und Fortsetzung der Bildungstradi-
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tion in der nachfolgenden Generation viel Gewicht. Die Art der Selbstpräsentation der beiden lässt viele Bereiche aus, über die ich auch gerne etwas erfahren hätte und nach denen ich auch frage.
7.3 B IOGRAPHISCHE AUSLASSUNGEN : H ERKUNFT , M IGRATIONSERFAHRUNGEN , SOZIALES L EBEN Drei dieser Auslassungen werden nun ansatzweise gefüllt: der Herkunftskontext der Gennis, die konkreten Erfahrungen nach der Migration sowie die soziale Einbettung außerhalb der Kernfamilie. Zur Herkunft von Laura und Marco Genni Nachdem sowohl Laura wie auch Marco in ihren biographischen Selbstpräsentationen Angaben zu ihrem Herkunftsumfeld (zu Kindheit, Familienverhältnissen, Berufe der Eltern etc.) vollumfänglich ausgelassen hatten, frage ich gezielt danach. Ich erhalte darauf Angaben, die einen gewissen Rückschluss auf die soziale Schicht im Elternhaus zulassen. Erzählungen zu Kindheits- oder Jugenderinnerungen bleiben aber nach wie vor aus. Gefragt danach, was seine Eltern beruflich gemacht haben, bezeichnet Marco den Beruf seines Vaters als ‚agricoltore‘/‚Landwirt‘ (Transkript Genni 2, 1/39) der über eigenes Land verfügte – große Flächen, wie Marco betont. Auf diesem Land wurde Wein angebaut. Marco beschreibt ausführlich die jährlich wiederkehrenden Arbeitsschritte, die ständige Gefahr eines Hagelschlages und die finanziellen Rückstellungen, mittels derer auch Jahre mit zerstörter Ernte überbrückt werden konnten. Dabei hält er seine Beschreibung aber ganz allgemein und unpersönlich. Er erzählt nicht, was sein Vater konkret gemacht hat, sondern er nennt das berufliche Label, das auf seinen Vater passt, und beschreibt dann den Inhalt dieses Berufes. Deshalb bleibt der Einblick in Privates aus Marcos Kindheit und Jugend spärlich. Ich erfahre aus seinen Ausführungen, dass sein Vater und seine beiden älteren Brüder das Gut zusammen verwaltet haben und dass die arbeitsintensive Produktion mit mehreren fest angestellten Arbeitern betrieben wurde, plus zusätzliche Arbeiter zur Erntezeit. Marco selber war zu klein zum Mitarbeiten, er sei 20 Jahre jünger gewesen als seine Brüder. Er war also ein Nachzügler, ein Nesthäkchen. Die beiden älteren Brüder haben sich voll auf den väterlichen Betrieb konzentriert, diesen dann auch übernommen und noch vergrößert. Inzwischen sind die Brüder gestorben und die Ländereien verkauft worden. Zu den
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Frauen in Marcos Familie erfahren wir noch weniger. Zwei von Marcos Schwestern sind Schneiderinnen geworden, und eine dritte Schwester hat ebenfalls studiert, ist Grundschullehrerin geworden. Marcos Mutter, so erwähnt er auf meine Nachfrage hin, habe keinen Beruf gehabt, sie sei Hausfrau gewesen. Marco, der jüngste Spross der Familie, hat also den höchsten Bildungsabschluss gemacht. Seine Mitarbeit im väterlichen Betrieb war nicht mehr notwendig, und so hatte er vermutlich gewisse Freiheiten bei der Wahl von Ausbildung und Beruf. Die Familie muss relativ wohlhabend gewesen sein, wenn sie über solch große Ländereien verfügt hat und wenn es möglich war, den finanziellen Verbrauch für ein Jahr zur Seite zu legen, um allfällige Ernteausfälle auszugleichen. Dennoch handelte es sich vermutlich bei der Familie Genni nicht um alteingesessenen Adel, denn dann hätten sich die Männer wohl nicht selber um den Betrieb gekümmert, sondern ihre Ländereien zur Pacht (zur sogenannten ‚mezzadria‘) vergeben. Dennoch war die Familie wohlhabend genug, um dem jüngsten Sohn eine universitäre Ausbildung zu bezahlen, und da der Familienbetrieb schon in guten Händen war, spielte es auch keine Rolle, dass Marcos berufliche Karriere ihn weit von seinem Elternhaus weg führte. Auch Laura frage ich nach den beruflichen Tätigkeiten in ihrer Herkunftsfamilie. Sie beginnt mit ihrem Vater, der Polizist war, dann aber den Dienst quittierte, um im Stoffgeschäft des Großvaters mitzuarbeiten. Auch als Goldschmied habe er gearbeitet. Lauras Mutter war Hausfrau. Alle drei Töchter der Familie – Laura war die mittlere – haben studiert. Diese eher knappen Angaben lassen darauf schließen, dass auch Laura aus einem einigermaßen wohlhabenden Elternhaus kam, dessen ökonomische Ressourcen wohl weniger dem Beamteneinkommen ihres Vaters zu verdanken waren, aber durchaus aus dem Stoffgeschäft des Großvaters stammen könnten. Die Familie Lauras hat, so schließe ich aus ihren Angaben, eine Affinität zum Handel und zum Kunsthandwerk, und sie legt genug Wert auf Bildung, um allen drei Töchtern ein Studium zu ermöglichen. Beide stammen also aus Verhältnissen, in denen ein gewisser Wohlstand vorhanden war, der jedoch nicht schon über Generationen vererbt, sondern eher von den unmittelbar vorangegangenen Generationen erarbeitet worden war. Vor diesem Hintergrund erscheint die starke Orientierung an individueller Leistung und beruflichem Ethos der Gennis als Fortsetzung der familiären Vorgeschichte. Aufgrund des Wohlstandes der Eltern hatten sowohl Marco wie auch Laura die Möglichkeit, ausbildungsintensivere Berufe zu wählen, die einen gewissen Idealismus bedingen, aber auch Berufe, welche gute Arbeitsaussichten und ein komfortables Einkommen garantierten. Die Milieus, in denen Marco und Laura auf-
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gewachsen sind, sind sich zwar nicht gleich, jedoch auf mehr oder weniger ähnlichem sozioökonomischem Niveau anzusiedeln. Die starke Betonung von Bildung scheint das verbindende Element zu sein. Migrationserfahrungen: Fremdzuschreibungen und Distinktion Eines der Charakteristika in der Art, wie die Gennis von sich erzählen, sind die ausgeprägten Distinktionsbestrebungen gegenüber ‚dem italienischen Arbeiter‘. Herr und Frau Genni sind zwar italienische Staatsbürger/in, die zum Arbeiten in die Schweiz gekommen sind, doch sie sehen sich keineswegs als gewöhnliche ‚Gastarbeiter/innen‘. Das klassisch italienisch-schweizerische ‚Gastarbeiter‘System bleibt als Referenzrahmen der Selbst- und Fremdzuschreibung dennoch überaus relevant. Denn von Seiten der Aufnahmegesellschaft wie auch von Seiten der ‚Gemeinschaft‘ italienischer Arbeitsmigrant/innen in Bern werden die Gennis durchaus auch als Mitglieder eben dieser ‚Gemeinschaft‘ betrachtet. Laura und Marco nehmen somit eine gesonderte Position in einem komplexen Feld von Selbst- und Fremdzuschreibungen ein, und sie agieren in diesem Feld mittels feiner Distinktionsstrategien, welche sowohl national-ethnischer (wir sind (Süd-)Italiener und anders als die Schweizer), als auch schichtspezifischer Natur sind (wir sind gebildete Leute mit Kultur, nicht ungebildete Arbeiter wie die anderen Italiener/innen hier in der Schweiz). Beide Ehepartner stammen, wie viele der italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘, aus Süditalien, aus Regionen, in denen nicht nur in der Nachkriegszeit beträchtliche Abwanderungsprozesse stattfanden. Doch sind die Gennis in Kontexten aufgewachsen, in denen kaum ökonomischer Druck zur Abwanderung bestand. Der Diskurs des durch Armut zur Migration gezwungenen italienischen ‚Gastarbeiters‘ ist in den Gesprächen mit den Gennis vordergründig abwesend, implizit jedoch als Gegendiskurs, von dem man sich bewusst immer wieder abgrenzt, dennoch sehr präsent. Der Zeitpunkt der internationalen Migration der Gennis war vergleichsweise spät, sowohl im Hinblick auf die Lebensläufe der beiden Ehepartner, wie auch im Hinblick auf die Migrationstendenzen zwischen Italien und der Schweiz. Das Ehepaar Genni migrierte in den frühen 1970er Jahren nach Bern, zu einem Zeitpunkt, als die meisten italienischen Arbeitsmigrant/innen die ersten Auswirkungen der weltweiten Ölkrise an ihren Arbeitsplätzen zu spüren bekamen und als die Neuzuzüge aus Italien beinahe zum Erliegen kamen. Laura war zu dem Zeitpunkt Mitte dreißig, Marco fast vierzig Jahre alt – im Gegensatz zu den meist sehr jung migrierten italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘. Zudem ist die Migration der Gennis keineswegs ein verzweifelter Befreiungsschlag aus ausweglosen Verhältnissen, sondern ein weiterer Schritt in einer Kette von Verschiebungen
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des Lebensmittelpunktes in Anlehnung an die Verschiebungen des Arbeitsortes von Marco. Zum Zeitpunkt der Migration in die Schweiz verfügten sowohl Laura wie auch Marco bereits über Binnenmigrations-Erfahrungen. Dennoch: Eine internationale Migration bringt die Besonderheit mit sich, dass man am neuen Lebens- und Arbeitsort ‚Ausländer/in‘ ist, hat also spezifische Qualitäten im Vergleich zu einer Binnenmigration, die auch nach einem anderen Umgang mit dem neuen Lebensumfeld verlangen. Und auch wenn deren Bedeutung für die Biographieträger/innen an sich nicht relevant wäre, so werden sie dennoch bedeutsam durch Fremdzuschreibungen im Rahmen von Politik, Verwaltung und Gesellschaft des Aufnahmelandes. Auch wenn also die Gennis der Migration in die Schweiz in ihren biographischen Selbstpräsentationen eine klare Nebenrolle zuweisen, so beharre ich im Interview dennoch auf Fragen nach den unmittelbaren Migrationserfahrungen, wie z.B. der Frage nach Erinnerungen an die ersten Tage in der Schweiz. Und nun reden Marco und Laura auch davon, dass die ersten Monate in Bern nicht nur angenehm und einfach waren. Exemplarisch vorgeführt wird das von den Gennis anhand der Wohnsituation. Marco erzählt, er habe vor allem in den ersten Tagen Mühe gehabt, habe sich im Hotel nicht wohl gefühlt, war nicht an die dicken, warmen Federbetten gewöhnt. Auch die Suche nach einer angemessenen Wohnung für die Familie war schwierig: L: E non trovavamo casa, non trovavamo,
L: Und wir fanden keine Wohnung, fanden keine, oh!
oooh! E: Era difficile?
E: War es schwierig?
M: Era difficile.
M: Es war schwierig.
L:
L:
Molto! Non davano case agli
Sehr! Sie gaben Italienern
Italiani, non davano gli appartamenti
keine Häuser, keine Wohnungen. Sie ha-
agli Italiani. Non affittavano agli
ben nicht an Italiener vermietet. Er ist
Italiani. [.] Lui un giorno andò con la
eines Tages mit der Sekretärin gegan-
segretaria. A chiedere. Perché messe
gen. Fragen. Weil die im Anzeiger wa-
sul ,Anzeiger‘, questi appartamenti,
ren, diese Wohnungen, ist er fragen ge-
andava a chiedere, [.] e rispossero:
gangen, und sie haben geantwortet:
„Noi non affittiamo casa agli Italiani.“
„Wir vermieten nicht an Italiener.“
M: Specialmente se hanno i bambini.
M: Vor allem wenn sie Kinder haben.
L: Eh, se hanno i bambini. [.] Quindi, se
L: Eh, wenn sie Kinder haben. Wenn wir
avevamo un cane o un gatto, ci
also einen Hund oder eine Katze gehabt
l’avrebbero affittato, ma i bambini no.
hätten, hätten sie an uns vermietet, aber
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[.] Allora era terribile. [.] Adesso è
mit Kindern nicht. Das war also furcht-
cambiato tanto, tanto.
bar. Jetzt ist es ganz, ganz anders.
M: Forse avrò scritto [..] 3, 400 offerte [.] per trovare casa. L: Una casa decente. [.] Dio mio.
M: Ich hab vielleicht 3, 400 Bewerbungen geschrieben, um eine Wohnung zu finden. L: Eine passable Wohnung. Mein Gott.
(Transkript Genni 1, 6/27 – 6/38) Laura und Marco beschreiben hier eine Situation, in der die Fremdzuschreibung als ‚italienische Gastarbeiter/innen‘ in ihrem Alltag wirksam wird: Aufgrund ihres symbolischen Kapitals als Italiener mit Kindern wurden die Gennis von vielen Vermietern prinzipiell abgewiesen, ungeachtet ihres beachtlichen ökonomischen und kulturellen Kapitals. Die qualifizierte Anstellung Marcos in Bern und sein gutes Einkommen konnten bei der Wohnungssuche zunächst nicht als korrigierende Ressource eingesetzt werden. E: E di avere un posto che è abbastanza
E: Und eine relativ gute Anstellung zu
alto, non era un aiuto di poter [.] per
haben, war das keine Hilfe, um eine
trovare un appartamento?
Wohnung zu finden?
M: Anzi, mi rispondevano: „Lei che è un
M: Im Gegenteil, sie antworteten mir:
funzionario della confederazione, vada
„Wenn Sie Funktionär beim Bund sind,
a vivere in albergo.“ Così mi
dann gehen Sie doch ins Hotel woh-
rispondevano.
nen.“ So haben sie mir geantwortet.
E: Perché pensavano che Lei ha [.] i soldi?
E: Weil sie dachten, dass Sie das Geld haben?
L: Avesse la possibilità di pagare.
L: Weil er die Möglichkeit hätte zu zahlen.
M: Eh vabbé, ma io sono stato in albergo
M: Nun gut, jedenfalls ich war für einige
per diverso tempo all’inizio, perché non
Zeit im Hotel am Anfang, weil ich keine
trovavo casa.
Wohnung fand.
(Transkript Genni 1, 11/8 – 11/15) Irgendwann gelang es Marco schließlich doch noch, eine passende Wohnung zu finden: Io riuscì a trovare con raccomandazione [.]
Ich hab es geschafft, diese Wohnung [***]
questo appartamento [***], regalando al
mit Empfehlung zu finden, indem ich dem
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signore che melo procurò [.] 300 franchi
Herrn, der sie mir besorgt hat, 300 Franken
allora.
geschenkt habe, damals.
(Transkript Genni 1, 6/27 – 6/38) Marco ist sich bewusst, dass er sich in einer privilegierten Situation gegenüber dem Großteil der italienischen Arbeitsmigrant/innen befindet, und er betont dies auch immer wieder, ohne dabei seine Zugehörigkeit zur ‚Gemeinschaft‘ der in Bern ansässigen italienischen Staatsbürger/innen aufzukündigen. Durch beide Gespräche hindurch arbeiten sowohl Marco wie auch Gianna daran, ihre Beziehung zur Gruppe der italienischen Migrant/innen zu definieren: Sie inszenieren sich zwar einerseits klar und deutlich als ein Teil dieser ‚Gemeinschaft‘, weisen sich jedoch eine distinkte Position innerhalb dieser Gruppe zu. Im folgenden Zitat zeigt sich dieses Spiel zwischen Zugehörigkeit und Distinktion gegenüber der italienischen ‚Gemeinschaft‘, wie auch die Distinktion gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, der man sich nicht zugehörig fühlt, die man aber gleichzeitig sehr gut kennt. M: Ma all’epoca [.] lo straniero – ed io mi
M: Aber damals war der Ausländer – und
riporto soprattutto agli italiani – lo
ich beziehe mich vor allem auf die Ita-
straniero italiano qui in Isvi- era
liener – der italienische Ausländer hier
bistrattato. Era bistrattato, infatti ci
in der Schw- wurde misshandelt. Er
furono molte iniziative, ci fu la-
wurde misshandelt, in der Tat waren da
l’iniziativa ,Swarzenbak‘, ne avrà
viele Initiativen, da war die ‚Schwarzen-
sentito parlare. Che dopo la prima o la
bach-Initiative‘, Sie werden davon ge-
seconda volta andò a monte [.], perché
hört haben. Die dann beim ersten oder
il popolo svizzero se- respinse sempre
zweiten Mal bachab ging, denn das
quelle iniziative [hustet leicht]. Poi
Schweizer Volk lehnten diese Initiativen
successivamente ci fu la- l’iniziativa
immer ab [hustet leicht]. Dann folgte
,Ohen‘, io lo pronuncio male, era un
die Oehen-Initiative, ich spreche das
altro deputato che cercava la- di
schlecht aus, das war ein anderer Abge-
ridurre il numero degli stranieri, e
ordneter, der versuchte zu-, die Anzahl
quelli- e quell’iniziativa fu anche
der Ausländer zu reduzieren, und diese
respinta [.]. Ma ripeto, io non ho
Initiative wurde auch abgelehnt. Aber
trovato nessuna difficoltà, pur essendo
ich wiederhole, ich habe nie irgendeine
italiano, ma non ho trovato difficoltà
Schwierigkeit gehabt, weil ich immer
perché ho sempre parlato bene il
gut Französisch gesprochen habe und
francese e poi, ripeto, ero alla dit- alla
dann, ich wiederhole, war ich in der
sezione di lingue italiane.
italienisch-sprachigen Sektion.
L: Ma all’epoca veramente stranieri
L: Aber damals waren Ausländer eigent-
528 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
c’erano italiani, altri stranieri [***]
lich Italiener, andere Ausländer [***]
pochissimi, qualche spagnol- no, dico
kaum, einige Spani-, nicht, ich meine in
[***] nella Svizzera in generale. [***]
der Schweiz allgemein. Es hatte viele
C’erano molti italiani. [..] Ecco perché
Italiener. – Denn heute hingegen gibt es
[.] oggi invece ci sono tutte le razze
alle Rassen, da beginnen sie die Euro-
incominciano ad apprezzare gli
päer zu schätzen, die Italiener zumin-
europei, gli italiani per lo meno. [.] Eh.
dest. Eh. Damals gab es nur Italiener. –
All’ora c’erano solo gli italiani. [..]
Auch dass der Italiener ein großartiger
Anche se l’italiano è stato un grande
Arbeiter war, der die Straßen gemacht
lavoratore, che ha fatto le strade, i
hat, die Häuser, Bahnhöfe, hat so viel
palazzi, stazioni, ha fatto un sacco. [.]
gemacht. Und jetzt wo sie diese anderen
Adesso se vedono quelli altri stranieri
Ausländer sehen, die nur verlangen,
che [.] chiedono soltanto, ma non, non
aber nichts geben. Da beginnen sie, uns
danno niente. Incominciano ad
zu schätzen. [lächelt]
apprezzarci. [lächelt]
(Transkript Genni 1, 11/17 – 11/40)
Soziales Leben: Isolation und Distinktion Dieses Bemühen um Distinktion ist vielleicht nicht zuletzt ein Grund dafür, dass die Gennis auf mich nicht nur einen individualisierten, sondern auch einen sozial isolierten Eindruck machen. In den biographischen Selbstpräsentationen gibt es kaum Hinweise auf Verwandte, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen, welche die soziale Welt der Gennis teilen würden. Die Gennis, die in ihren Narrativen den Schwerpunkt auf die Konstruktion ihrer Individualität, ihres kleinfamiliären Zusammenhalts und ihrer beruflichen Laufbahn legen, müssen aber doch auch ein privates Netzwerk haben, denke ich mir. Eines, das über die unmittelbaren Belange der Kernfamilie hinaus führt und sich nicht ausschließlich auf den Arbeitsplatz beschränkt. E: E come Lei ha trovato le amicizie e
E: Und wie haben Sie Freundschaften und so gefunden, haben Sie welche gefun-
tutto questo, Lei ha trovato?
den? L:
[zögernd:] Nno.
L:
Sul
E:
E:
Sul consolato. Sul con-
Bei der Arbeit, beim Konsulat oder-
lavoro, sul consolato oL:
[zögernd:] Nnein.
L:
Beim Konsulat. Beim Kon-
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solato. Nono, nel mondo svizzero solo
sulat. Nein nein, in der Schweizer Welt
una persona, un assistente sociale [.]
nur eine Person, eine Sozialarbeiterin,
dalla- qua- lì andai proprio per aiuto
von der- dort- ich bin eigentlich dorthin
per i miei figli, per la lingua, „cosa
gegangen für Hilfe für meine Kinder,
devo fare come devo fare“, „non voglio
wegen der Sprache, „was muss ich ma-
che diventino operai“, dicevo io. [.]
chen, wie muss ich’s machen“, „ich will
Solo questa signora, ancora oggi
nicht, dass sie Arbeiter werden“, sagte
abbiamo amicizia, ci telefoniamo, lei
ich. Nur diese Frau, noch heute sind wir
avrà- avrà più di ottant’anni. Mh! Ma
befreundet, wir telefonieren, sie muss
poi basta, non- con gli svizzeri no. Ho
wohl, muss wohl über achtzig Jahre alt
tentato tante volte, ho tentato, invitato a
sein. Mh! Aber dann fertig, kein-, mit den Schweizern nein. Ich habe so oft
casa, quando abbiamo-
probiert, habe probiert, eingeladen nach E: esempio? L:
Hause, als wir-
Con i vicini per
sí, quando abbiamo inaugurato
E:
Mit den Nachbarn zum Beispiel?
L:
ja, als wir
questa casa. [.] Eh tutta la combina-
dieses Haus eingeweiht haben. Eh, das
zione [sehr schnell gesprochen], trenta
ganze Programm [sehr schnell gespro-
persone, più i vicini, ma poi non li ho
chen], dreißig Personen, plus die Nach-
più visti, non mi hanno mai telefonato,
barn, aber danach habe ich sie nie mehr
mai- [.] La segretaria di mio marito,
gesehen, haben mich nie angerufen, nie-
l’ho invitato tante volte a pranzo, a
Die Sekretärin meines Mannes, ich habe
cena [leise]. Ma lei- non conosco casa
sie so oft eingeladen, zum Mittagessen,
sua, non conosco- mai, mai che
Abendessen [leise]. Aber sie- ich kenne
abbiano detto „viene a prendere un
ihr Zuhause nicht, kenne es nicht- nie,
caffè a casa“ oppure „incontriam-“,
nie hätten sie gesagt „Kommen Sie doch
no. Io ho avuto amicizie con italiani. [.]
einen Kaffee trinken zu uns“, oder „tref-
Incontrati alla Missione Cattolica,
fen wir-“, nein. Ich hatte Freundschaf-
incontrati sul lavoro. [.] Con gli
ten mit Italienern. Die ich bei der Mis-
svizzeri, sì, brava gente, ci salutiamo, ci
sione Cattolica getroffen hatte, bei der
rispettiamo e basta. Finisce lì.
Arbeit. Mit den Schweizern, ja, rechtschaffene Leute, wir grüßen einander, respektieren einander und fertig. Da hört es auf.
(Transkript Genni 1, 11/41 – 12/15) Laura hat also in all den Jahren kaum Bekanntschaften und Freundschaften geschlossen, und sie sieht den Grund dafür in ‚der Schweizer Welt‘. Sie empfindet
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die Schweizer als unzugänglich, ist enttäuscht davon, dass ihre Bemühungen, Kontakte zu knüpfen, auf so wenig Gegenreaktion gestoßen sind. Sozial empfindet sich Laura als reduziert auf eine ‚italienische Welt‘, innerhalb derer sie sich gut aufgehoben fühlt, wo sie auch Freundschaften und Bekanntschaften pflegt. Die ‚Schweizer Welt‘ jedoch ist ihr verschlossen geblieben. Eine einzige Ausnahme wird von Laura erwähnt, und diese Ausnahme zeigt eine zusätzliche Perspektive auf die lebensweltliche Praxis der Gennis auf: Die Sorge darum, dass die Schulleistungen der Kinder sich nicht verbessern würden, dass sie – vor dem sozialen Hintergrund der Eltern nicht als standesgemäß empfunden – als Arbeiter enden könnten, war so groß, dass Laura eine Sozialarbeiterin aufgesucht hat. Und diese Sozialarbeiterin ist dann für Laura zum einzigen freundschaftlichen Kontakt in ‚die Schweizer Welt‘ geworden. Nicht anders erging es, so sagt Laura, den Kindern. Im Kontext ihrer Ausführungen zu den Schulschwierigkeiten der Kinder frage ich nach deren Bekanntschaften: E: Ed era anche difficile per loro di trovare degli amici?
E: Und war es auch schwierig für sie, Freunde zu finden?
L: Sìsì. [.] No, avevano degli amici, ma
L: Jaja. Nein, sie hatten Freunde, aber ita-
italiani. Mia figlia fece amicizie con
lienische. Meine Tochter hat sich mit ei-
uno, due – una italiana e una [.]
ner, zwei befreundet – einer Italienerin
svizzera. Mio figlio [.] aveva anche
und einer Schweizerin. Mein Sohn hatte
degli amici. Sìsì. No, fecero amicizie, i
auch Freunde. Jaja. Nein, sie haben
ragazzi. [.] Ma poche. Due, tre.
Freundschaften geschlossen, die Kinder. Aber wenige. Zwei, drei.
(Transkript Genni 1, 5/41 – 6/2) Das gleiche gilt auch für ihren Mann, so ist Laura überzeugt. Im Kontext des Abwägens über die Vor- und Nachteile einer allfälligen Rückkehr nach Italien kommt die Rede auf alte Jugendfreunde Marcos, die er bei Ferienaufenthalten in seinem Herkunftsort immer noch trifft. Laura betrachtet diese sozialen Kontakte als ein Argument für die Rückkehr, denn sie unterstellt ihm, in der Schweiz unter seiner sozialen Isolation zu leiden: M: Maa- m [.] in fondo io sto bene qui.
M: Aber – im Grunde geht es mir gut hier.
L: Sì sta bene, però ogni tanto gli viene la
L: Ja, es geht ihm gut, aber immer mal
malinconia perché si sente solo, si
wieder überkommt ihn die Melancholie,
sente isolato, lui è molto compagnolo, a
weil er sich allein fühlt, sich isoliert
lui piace la camp- la compagnia. Piace
fühlt, er ist sehr gesellig, ihm gefällt die
D AS E HEPAAR G ENNI
discutere, parlare, stare in compagnia,
| 531
Gesellschaft. Ihm gefällt es zu diskutie-
cenare assieme [sehr schnell
ren, zu reden, in Gesellschaft zu sein,
gesprochen]. Questo, qui, [.]
zusammen zu essen [sehr schnell ge-
raramente, con qualche italiano.
sprochen]. Das, hier, selten, mit irgendeinem Italiener.
(Transkript Genni 1, 15/19 – 15/23) Auch Marco wird also von Laura als sozial isoliert beschrieben, und auch hier ist es nicht seine Schuld – er ist ein sehr geselliger Mensch –, sondern es ist das Umfeld, das ihm keine Gelegenheiten gibt, seine Geselligkeit auszuleben. Und wenn, dann ist es nur ‚mit irgendeinem Italiener‘ möglich. Die Gennis sind in ihrem sozialen Leben also reduziert auf die italienische ‚Gemeinschaft‘, nehmen aber innerhalb dieser Gruppe eine Randposition ein, und der Zugang zu einer schweizerischen sozialen Welt hat sich nicht wirklich eröffnet. Versuche der Kontaktaufnahme zu Nachbarn blieben unerwidert, und die Beziehungen Marcos in der Arbeitswelt ließen sich nicht auf den privaten Bereich ausweiten und verflüchtigten sich nach seinem Ausstieg aus dem Erwerbsleben.
7.4 D AS
DRITTE
L EBENSALTER
So erstaunt es nicht weiter, dass die Gennis ihr soziales Leben auch nach der Pensionierung in erster Linie im familiären Bereich ausleben, wie die nun folgenden Ausführungen zur Lebensphase nach der Pensionierung zeigen. Erwerbsaustritt und Veränderungen des Lebens durch die Pensionierung Zeitpunkt und Umstände des Erwerbsaustrittes werden von den Gennis bereits zu Beginn eingeführt. Die auf Ausbildung und Beruf fokussierten Biographien von Marco und Laura beinhalten beide die Pensionierung als logischen Abschluss der Berufstätigkeit. Passend zum bürgerlichen Modell geschlechtsspezifischer ‚Normalbiographien‘ (vgl. dazu z.B. Dausien 1996) bildet die Pensionierung für Marco den Schlusspunkt seiner biographischen Selbstpräsentation, während Laura damit vorerst nur das Ende ihrer beruflichen Tätigkeit abschließt, nicht jedoch ihre biographische Selbstpräsentation, die sich daraufhin noch ausführlich den Kindern und Enkelkindern widmet. Laura gibt die Erwerbsarbeit zu einem relativ ungewöhnlichen Zeitpunkt auf, nicht etwa bei der Geburt der Kinder, wie es zu einer bürgerlich-weiblichen
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‚Normalbiographie‘ passen würde. Sie bleibt so lange erwerbstätig, bis äußere Umstände es nicht mehr erlauben, in ihrem angestammten Berufsfeld tätig zu sein. Statt sich neu zu orientieren, gibt sie den Lehrerberuf auf. Die Möglichkeit, dem bürgerlichen Ideal der perfekten Hausfrau und Mutter zu entsprechen, erschien vielleicht als weniger starker Statusverlust, als die Option, sich als Nachhilfe- und Sprachlehrerin im Schweizer Bildungssystem durchzuschlagen, wo ihre Qualifikation und ihre Berufserfahrung nicht gleichwertig anerkannt gewesen wäre wie im italienischen Bildungssystem. Die Bezeichnung ‚Pensionierung‘ erscheint Laura als das passende, die Qualifiziertheit ihrer beruflichen Tätigkeit unterstreichende Label für ihren relativ frühen endgültigen Ausstieg aus dem Erwerbsleben und die Konzentration auf Familie und Haushalt. Dass sie den Zeitpunkt in ihrem Lebenslauf, an dem sie den Lehrerberuf aufgegeben hat – damals müsste Laura ungefähr 40, 45 Jahre alt gewesen sein –, als ‚Pensionierung‘ bezeichnet, unterstreicht noch die Endgültigkeit dieses Schrittes. Eine Wiederaufnahme der Berufstätigkeit zu einem späteren Zeitpunkt wird nicht als ernsthafte Option erwähnt. Auch alternative, von ihrem Berufsbild leicht abweichende Erwerbstätigkeiten wie privater Unterricht, Sprachunterricht oder Nachhilfeunterricht, die sie in der Schweiz durchaus hätte ausüben können, sind als Handlungsoptionen nicht präsent. Die Art, wie Laura ihre biographische Selbstpräsentation – oder, genauer gesagt, den ersten Teil davon – gestaltet und mit einer ‚Pensionierung‘ abschließt, macht ihre berufliche Laufbahn nicht zu einer abgebrochenen, sondern zu einer in sich abgeschlossenen Karriere. Marcos Pensionierung hingegen vollzog sich ganz regulär – und damit bildet er die Ausnahme im Rahmen der hier präsentierten Fallrekonstruktionen. Marco ist nicht nur der einzige, der bis exakt zu seinem 65. Geburtstag arbeitstätig war, sondern er ist auch der einzige, der die Pensionierung in Form einer ritualisierten Statuspassage erlebt hat: Am letzten Arbeitstag gab es eine Verabschiedungsfeier – wenn auch eine, die er selber ausrichten musste: Ho fatto io [.] l’ho fatto a spese mie. [.]
Das hab ich gemacht, hab’s auf eigene
Detti un ricevimento [.] invitai tutti i
Rechnung gemacht. Ich gab einen Empfang,
colleghi della cancelleria federale [.]
lud alle Kollegen der Bundeskanzlei ein,
compreso il cancelliere e i due vice
inklusive den Kanzler und die beiden Vize-
cancellieri [.] e tutti i colleghi della
kanzler, und alle Kollegen der Bundeskanz-
cancelleria federale. Però il ricevimento lo
lei. Aber wir hielten diesen Empfang in den
tenemmo [.] negli uffici della cancelleria
Büros der Bundeskanzlei ab. Wir haben uns
federale. [.] Ci salutammo, [.] ci furono le
gegrüßt, es gab Personen, die mich in
persone che mi salutarono in tedesco, [.]
Deutsch gegrüßt haben, andere Kollegen
altri colleghi che mi salutarono in francese
die mich in Französisch gegrüßt haben, ich
D AS E HEPAAR G ENNI
[.] io dovetti rispondere [.] alle due lingue
| 533
musste auf beide Sprachen antworten, habe
però pregai di ascoltarmi in italiano [.] in
aber darum gebeten, mich in Italienisch an-
quanto io sono stato sempre un giurista di
zuhören, da ich ja immer ein Jurist italieni-
lingua italiana. [.] Parlai in italiano [.]
scher Sprache war. Ich sprach Italienisch,
accettarono quello che io dissi [.] mi fecero
sie akzeptierten was ich sagte, gaben mir
l’applauso [.] e chiudemmo la vita [.]
einen Applaus, und so beschlossen wir mein
lavorativa [.] mia. [.] Con un brindisi [.]
Arbeitsleben. Mit einem Trinkspruch be-
chiudemmo la vita lavorativa.
schlossen wir das Arbeitsleben.
(Transkript Genni 2, 16/6-16/14) Die Formulierung von Marco, dass ‚man sich gegrüßt‘ habe, interpretiere ich aus dem Kontext des ganzen Zitates heraus als Ansprachen und kurze Reden, die von Kolleg/innen – wohl mehrheitlich Kollegen – zu Ehren von Marco gehalten wurden, und auf die Marco geantwortet hat. Ich stelle mir eine etwas förmliche Feier vor, bei der Marco und seine Kolleg/innen aus der Bundesverwaltung die Gelegenheit ergreifen, ihre Eloquenz öffentlich unter Beweis zu stellen, indem sie Marcos Leistungen für die Bundeskanzlei würdigen und auch dem zukünftigen Pensionärsleben von Marco die eine oder andere Anekdote widmen. Eine schöne Feier, die dem Gefeierten geschmeichelt haben wird, die seine Arbeitsleistungen symbolisch anerkannt und ihm damit einen würdigen Übergang vom Berufsleben ins Pensionärsleben bereitet haben wird. Obwohl sich aus den obigen Ausführungen schließen lässt, dass Marco ein geschätzter Mitarbeiter war, dem seine Arbeit durchaus Spaß gemacht hat – „Con piacere e con responsabilità ho sempre lavorato.“/„Mit Freude und Verantwortung hab ich stets gearbeitet.“ (Transkript Genni 2, 19/14) –, hat er seine Pensionierung dennoch auch ein wenig herbeigesehnt: Per me [.] il mio desiderio di andare in
Für mich war der Wunsch, in Pension zu
pensione [.] era determinato dall’odio che
gehen, bestimmt vom Hass, den ich auf den
avevo per il computer. [.] Perché volevo
Computer hatte. Denn ich wollte in Pension
andare in pensione [.] per non lavorare sul
gehen, um nicht von morgens bis abends auf
com-, sul computer [.] dalla mattina alla
dem Com-, dem Computer arbeiten zu müs-
sera. [.] Perché mentre prima noi giuristi
sen. Denn während wir Juristen früher alles
[.] eh procedevamo tutto a scrivere a mano
handschriftlich bearbeitet haben, äh, Unter-
[.] äh ricerche che poi si trasferi-
suchungen, die man nachher auf Papier
trasferivano sulla carta sempre con la
übert- übertrug, immer mit dem Stift. Dann
penna. [.] Poi da un giorno all’altro ci
von einem Tag auf den anderen gaben sie
dettero il computer, [.] nessuno lo sapeva
uns den Computer, niemand wusste ihn zu
usare, [.] neanch’io lo sapevo usare. Però
benutzen, auch ich wusste nicht, wie man
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con il passare del tempo imparai a usarlo
ihn benutzt. Doch im Zuge der Zeit lernte
[.] ee io pregavo gli- [.] di poter andare in
ich, ihn zu benutzen, und ich bat darum, in
pensione [.] per non usare più il computer.
Pension zu gehen, um den Computer nicht mehr benutzen zu müssen.
(Transkript Genni 2, 17/29-17/36) Die Erfahrung, in seinem Beruf nicht kompetent zu sein, welche die Einführung von PC’s ihm beschert hat, bringt ihn, der doch sonst so eloquent ist, hier sogar zum Stolpern über Worte. Die Abneigung gegenüber dem neuen Arbeitsinstrument, das seine Kompetenz derart erschüttert hat, bringt Marco wie folgt auf den Punkt: L: Eeeh no [.] per lui, lui stava bene,
kam wunderbar mit seinen Kollegen
colleghi [.] mah l’avvento del
aus, aber die Ankunft des Computers-
computerM:
L: Eeeh nein, für ihn, ihm ging’s gut, er
andava perfettamente d’accordo coi
M:
habe mich immer geweigert, den Com-
No no [.] mi sono sempre rifiutato
puter als Arbeitsmittel zu akzeptieren. –
di accettare il computer come mezzo di lavoro. [..] Perché il computer
Weil der Computer entpersonalisiert die
spersonalizza la personalità. [.] La
Persönlichkeit. Die Person, die Intelli-
persona, l’intelligenza della persona.
genz der Person.
E: [lacht] Allora per Lei era piuttosto un
E: [lacht] Also war es für Sie eher ein, eine positive Sache, die Arbeit aufzugeben.
[.] una cosa positiva di di smettere di lavoro? L:
Nein nein, ich
Una liberazione [lacht].
M: Mi liberai del computer.
L:
Eine Befreiung [lacht].
M: Ich habe mich vom Computer befreit.
(Transkript Genni 2, 18/34-19/3) Das Motiv, sich aus den Zwängen des Arbeitslebens – hier symbolisiert durch den Computer – befreit zu haben, wird von Marco dann noch weiter entwickelt zu einem Loblied auf die Freiheiten des Pensionärslebens. Auf die Veränderungen angesprochen, welche die Pensionierungen im alltäglichen Leben bewirkt habe, gibt sich Marco sehr entspannt: M: Ma credo che non ci sia stato un
M: Also ich glaube, dass es keine substanti-
cambiamento sostanziale. [.] L’unico
elle Veränderung gab. Die einzige Ver-
cambiamento consiste nel beneficio di
änderung besteht im Vorteil, dass man
D AS E HEPAAR G ENNI
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potersi alzare la mattina all’ora che si
morgens aufstehen kann, wann man
vuole. [.] E anche [.] la notte si arriva
will. Und auch, nachts kommt es vor,
[.] ad avere dei dubbi: che giorno è
dass man Zweifel hat: welcher Tag ist
oggi?
heute?
E: Aha.
E: Aha.
M: Che giorno a è- a è sabato, no pensavo
M: Welcher Tag, ist es Samstag, ich dachte,
fosse venerdì, [.] pensavo fosse domeni-
vielleicht ist Freitag, vielleicht Sonntag,
ca [.] perché in fondo quando non si
weil im Grunde wenn man nicht mehr
lavora più [.] tutti i giorni sono [.]
arbeitet, sind alle Tage auf dem Kalen-
scritti sul calendario con il termine
der beschriftet mit dem Begriff Sonntag,
domenica, [.] la domenica non si
am Sonntag arbeitet man nicht.
lavora. L: Quindi, è sempre domenica.
L: Es ist also immer Sonntag.
M: È semp- tutti i giorni o è sabato o è
M: Ist imm- jeden Tag ist Samstag oder
domenica. [.] Però con i bambini si
Sonntag. Wobei mit den Kindern arbei-
lavora tutti giorni.
tet man jeden Tag.
L: C’è questo che lui ha smesso di
L: Er hat zwar aufgehört zu arbeiten, aber
lavorare però poi ha trovato la casa
er hat auch ein gemütliches Zuhause
accogliente, ha trovato i bambini [.]
gefunden, hat die Kinder gefunden, und
quindi non è che sia stato tanto
so ist es nicht allzu traumatisch gewor-
traumatico.
den.
(Transkript Genni 2, 15/1-15-13) Dank des häuslichen Umfeldes, das Laura geschaffen hatte und in das Marco bereitwillig aufgenommen wurde, hat Marco durch den Erwerbsausstieg keinen traumatischen Bedeutungsverlust erlitten. Er hat, so lässt sich aus dem Zitat lesen, zu Hause neue Aufgaben gefunden, hat seinen Platz bekommen, hat sich dort ein neues Tätigkeitsgebiet erschlossen, nämlich ‚die Kinder gefunden‘. Interessant ist hier vor allem die Bemerkung von Marco zu den Kindern: Nachdem er die Vorzüge des verpflichtungsfreien Pensionärslebens gepriesen hat, weist er darauf hin, dass ein Leben zu Hause auch Arbeit sei, und zwar jeden Tag, nicht nur wochentags. Marco meint damit allerdings einen ganz bestimmten Teil häuslicher Arbeit, nämlich die Arbeit der Kinderbetreuung. Dies scheint derjenige Bereich häuslicher Arbeit zu sein, für die er sich auch zuständig fühlt. Dennoch anerkennt er hier indirekt auch die vor seiner Pensionierung von Laura übernommenen Haus- und Erziehungsarbeiten. Marco, mit seinem starken Bildungs- und Statusbewusstsein und seinem ausgeprägten Berufsstolz, achtet da-
536 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
mit auch die Errungenschaften von Laura, die ihm stets durch seine berufliche Laufbahn gefolgt ist und ihre Berufstätigkeit, trotz der offensichtlichen Begeisterung für ihren Beruf, aufgegeben hat, um mehr für die Kinder da zu sein – und wohl auch mehr für Marco. Dies relativiert meine Irritation bezüglich Lauras Erwerbsaufgabe und des unterlassenen Wiedereinstieges. Ihr Ausstieg aus dem Beruf empfand ich als nicht passend zu ihrer biographisch starken Gewichtung von Ausbildung, Beruf und Arbeit, wie auch zu ihrer aktiven Berufstätigkeit zu Zeiten, als sie bereits zwei Kinder hatte. Aus der Perspektive, dass bezahlte Berufsarbeit einen höheren Stellenwert hat als unbezahlte Haus- und Erziehungsarbeit, irritiert Lauras Berufsaufgabe tatsächlich. Aus dem Blickwinkel, dass Haus- und Erziehungsarbeit ebenso viel wert ist wie Erwerbsarbeit, erscheint Lauras Aufgabe des Lehrerberufs nicht als Rückschritt, sondern als Wechsel von einem Tätigkeitsbereich in einen gleichwertigen anderen. Allerdings bedingt die Perspektive, dass bezahlte und unbezahlte Arbeit gleichermaßen als wertvolle Arbeit geschätzt wird, auch eine mit Ressourcen ausreichend ausgestattete Position. Die Kinder, von denen hier die Rede ist, sind inzwischen übrigens nicht mehr die eigenen Kinder, die zum Zeitpunkt von Marcos Pensionierung schon längst erwachsen waren und auf eigenen Beinen standen, sondern es sind die Enkelkinder. Deren Betreuung füllt einen großen Teil des Pensionärs-Alltags von Marco und Laura aus. Die Kinder des Sohnes – sowohl er wie auch seine Ehefrau arbeiten – essen mittags und oft auch abends bei den Gennis und verbringen tagsüber die freie Zeit bei den Großeltern. Marco ist diese ‚Arbeit‘ mit ‚den Kindern‘ sehr wichtig, und er meint mit ‚Kindern‘ insbesondere die Enkelkinder – für die er auch wesentlich mehr Zeit aufbringt als er für die eigenen Kinder aufwenden konnte. E: Ho voluto chiedere se [.] äh con i suoi
E: Ich wollte fragen, ob, äh mit Ihren
bambini, quando Lei ha lavorato ha
Kindern, als Sie gearbeitet haben, hat-
avuto tempo per i bambini, per la
ten Sie Zeit für die Kinder, für die Fa-
famiglia come adesso per i nipoti?
milie, wie jetzt für die Enkel?
M: Sì sì,
M: Ja ja.
E: Sì?
E: Ja?
M: Sì sì. Io per esempio quando Stefano
M: Ja ja. Als Stefano in den Kindergarten
andava al ,Kindergarten‘ della
der Mission ging – eeh versuchte ich,
missione [..] eeh cercavo di uscire in
rechtzeitig aus dem Büro zu kommen,
tempo utile dall’ufficio, [.] venivo a
kam nach Hause, nahm das Auto, und
casa qui, prendevo la macchina [.] e
ging dann das Kind in der Stadt holen.
D AS E HEPAAR G ENNI
| 537
poi andavo a prendere il bambino in
Denn ich wusste, dass es dem Kind ge-
città. [.] Perché al bambino piaceva
fiel, im Auto zu fahren.
andare in macchina.
(Transkript Genni 2, 15/14 – 15/21) Auf ‚seine Kinder‘ angesprochen, spricht Marco hier ganz selbstverständlich von seinem Enkel Stefano. Meine eigentliche Frage, ob er für Sohn und Tochter auch so viel Zeit hatte wie für die Enkelkinder, überhört er. Es ist Laura, die sie aufgreift: L: Il tempo lo abbiamo avuto più per i
L: Zeit hatten wir mehr für die Enkel als
nipoti che per i figli. [***] Che io
für die Kinder. [***] Da ich gearbeitet
lavoravo. Che insegnavo.
habe. Unterrichtet habe.
E: Aha.
E: Aha.
L: E quindi [..] per i figli si-. Però si [.]
L: Und so – für die Kinder ha-. Aber das
sa, si era stanchi [.] non si poteva dare
kennt man, man war müde, man konnte
tanta soddisfazione ai figli [.] si era un
den Kindern nicht so viel Zufriedenheit
po’ stanchi. Bisognava lavorare fuori
geben, man war ein wenig müde. Es war
di casa, continuare a lavorare in casa,
notwendig, außer Haus zu arbeiten,
preparare da mangiare [.] eeh invece
dann zu Hause weiterzuarbeiten, das
adesso ai nipoti si dà quello che non è
Essen zuzubereiten, und jetzt hingegen
stato dato ai figli, [.] il tempo.
gibt man den Enkeln das, was den Kindern nicht gegeben wurde, die Zeit.
(Transkript Genni 2, 15/22 – 15/34) Auch Laura hat gearbeitet, als ihre Kinder noch klein waren. Sie hatte vor der Migration eine Stelle als Lehrerin in Norditalien, und sie unterrichtete einige Jahre in Bern. Vermutlich war sie nicht zu 100 % berufstätig, aber dennoch war die Zeit für die Kinder knapp. Und dies insbesondere auch, da es ja nicht nur die Berufsarbeit gab, sondern auch noch die Arbeit zu Hause, die auch gemacht werden musste. Laura sagt hier zudem, sie hätte außer Haus arbeiten müssen, es sei ‚notwendig‘ gewesen. Sie sagt nicht, sie hätte unbedingt berufstätig sein wollen. Die naheliegendste Assoziation dazu ist, dass Lauras Verdienst für die Familienökonomie wichtig war. Obwohl es objektiv betrachtet so erscheint, als hätte die Familie Genni sehr gut von Marcos Gehalt als höherem Bundesangestellten mit akademischer Qualifikation leben können, ist durchaus denkbar, dass die finanziellen Ressourcen der Familie noch nicht den Erwartungen entsprachen. Denkbar wäre auch, dass es für Laura ‚notwendig war, außer Haus zu
538 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
arbeiten‘, um die Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz zu erhalten. Darauf gibt es aber ansonsten keine Hinweise in den Gesprächen, und es erscheint mir auch wenig plausibel, wenn man bedenkt, dass die Gennis 1970 migrierten, während die Bestimmungen zum Familiennachzug von Seiten der Behörden doch im Laufe der 1960er Jahre gelockert worden waren. Interessant ist hier, wie Laura, ähnlich wie weiter oben auch Marco, Arbeit konzipiert. In der Beschreibung ihrer Doppelbelastung wählt Laura eine Formulierung, die Hausarbeit und Erwerbsarbeit explizit auf die gleiche Ebene stellt: Sie arbeitete außer Haus, und setzte nach ihrer Rückkehr die Arbeit im Haus fort. Inzwischen ist der Anteil der Erwerbsarbeit weggefallen, und der Großteil von Lauras und Marcos Alltag im Alter wird ausgefüllt durch die tagtägliche Arbeit zugunsten der Enkelkinder. Ein weiterer wichtiger Aktivitätsbereich der Gennis ist die wohltätige Arbeit in der Kirchgemeinde ihres Wohnortes, wie auch im Umfeld der Missione Cattolica Italiana9. Mit diesen beiden Aktivitäten – die kirchliche Freiwilligenarbeit und die Betreuung der Enkelkinder – sind die Gennis in ihrem Alltag ausgefüllt, wie Laura sagt: L: Oggi ci dedichiamo ai nipoti, [.] ci
L: Heute widmen wir uns den Enkeln, wir
dedichiamo a opere di beneficenza [.] e
widmen uns Wohltätigkeitsarbeiten, und
via alla missione cattolica, all’Emmaus,
über die katholische Mission, die Em-
facciamo delle ore di beneficenza, [.]
maus, leisten wir Arbeitsstunden der Wohltätigkeit, -
E:
Tutti e due?
M:
Cioè facciamo
E: M:
molto volontariato. L: M:
9
Alle beide? Das heißt, wir machen viel Volontariat.
Volontariato.
L:
Volontariat.
Il primo volonta- M:
Das oberste Volon-
riato lo facciamo per ragione di
tariat machen wir aus familiären Grün-
famiglia con i nostri bambini, [L. lacht]
den mit unseren Kindern, [L. lacht] die
che li teniamo dalla mattina alla sera. E
wir von morgens bis abends haben. Und
poi abbiamo [.] il volontariato esterno.
dann haben wir das externe Volontariat.
Alla missione cattolica, italiana, [.] ed
In der katholischen Mission, der italie-
Die Missione Cattolica Italiana ist ein kirchliches Zentrum, das die in Bern lebenden Italiener/innen religiös betreuen soll. Sie wird von Missionaren eines Ordens betrieben, der sich explizit der Begleitung von Migrant/innen verschrieben hat (für mehr Informationen siehe Soom/Truffer 2000: 138f).
D AS E HEPAAR G ENNI
all’Emmaus.
| 539
nischen, und im Emmaus.
(Transkript Genni 1, 13/14-13/23)
L: Un giorno all’Emmaus, poi la missione
L: Einen Tag im Emmaus, dann die katholische Mission, oft, wie es kommt, und
cattolica [.] spesso quando capita, e poi io faccio parte del coro della missione
dann mache ich im Chor der italieni-
cattolica [.] eeh [.] insomma basta. E
schen Mission mit, und das reicht ei-
poi ci sono ‘sti nipoti che-. Io, noi
gentlich. Und dann sind da die Enkel,
abbiamo libero solo il sabato e la
die-. Ich, wir haben nur am Samstag
domenica [.] e il mercoledì pomeriggio
und Sonntag frei, und am Mittwochnachmittag, der Rest ist immer für die
[.] poi il resto è sempre per i nipoti.
Enkel.
(Transkript Genni 2, 20/19 – 20/23) Obschon die Gennis nicht müde werden zu betonen, wie viel Zeit sie in ihre Enkelkinder investieren und wie wichtig ihnen dieses Engagement ist, so scheint die wohltätige Arbeit im Rahmen kirchlicher Organisationen dennoch auch sehr viel Raum einzunehmen. Das wohltätige Engagement passt gut zum Standesbewusstsein der Gennis: Man ist wohlhabend, ist sich auch seiner christlich-moralischen Verantwortung bewusst, seinen Wohlstand auch mit den Bedürftigen zu teilen – aber auch nur mit den ‚wirklich Bedürftigen‘. Diese Ansicht zeigt sich in Lauras Antwort auf meine Frage nach den Beweggründen für das Volontariat: L: Eh, [il motivo] [.] è sempre quello di di
M:
L: Eh, [das Motiv] ist immer das das das
di di pensare agli altri. Per altro io
das Denken an andere. Unter anderem
sono entrata nel volont- nel volontaria-
bin ich zum Volontariat gekommen, weil
to sempre pensando ai bambini. [.] Sì,
ich immer an die Kinder gedacht habe.
ai bambini, [.] perché [.] i rifugiati non
Ja, an die Kinder, weil die Flüchtlinge
mi interessano. [***] Il volontariato è
interessieren mich nicht. [***] Das
per i bambini [.] tutti i bambini del
Volontariat ist für die Kinder, alle
mondo.
Kinder der Welt.
Per aiutare i bambini.
M:
Um den Kindern zu helfen.
L: Per aiutare i bambini.
L: Um den Kindern zu helfen.
E: Sì, sì.
E: Ja, ja.
L: Infatti io chiesi: [.]„Questo danaro [.]
L: In der Tat habe ich gefragt: „Dieses
che si ricava dove va a finire? Va ai
Geld, das man sammelt, wo wird es
540 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
bambini del terzo mondo?“ Sì, allora io
landen? Geht es an die Kinder der drit-
ci sto. [.] Per gli altri non- i bambini e
ten Welt?“ Ja, und so stehe ich dafür
le donnee [.] maltrattate, sa quelle che
ein. Und für die anderen nicht- die Kinder und die misshandelten Frauen, wis-
[unverst.]
sen Sie, die [unverst.] M:
M:
Emarginate.
L:
Äh äh a con l’acido
Ausgestoßenen.
L:
Äh äh mit Säure, verä-, wie sagt man [zögert kurz]
acidit- [.] come si dice [.] [zögert kurz] lì [.] quando specialmente in India la
dort, wenn speziell in Indien die verlas-
donna abbandonata, il marito allora
sene Frau, dann der Mann
Ah, [.] sì. E:
E:
L: gettono l’acido e vengono accecate.
Ah, ja.
L:
werfen sie Säure, und sie werden verätzt.
E: Sì [.] sì.
E: Ja, ja.
L: Io sono per le donne maltrattate [.] e
L: Ich bin für die misshandelten Frauen,
per i bambini che i bambini non hanno
und für die Kinder, denn die Kinder ha-
difesi, non hanno- [.] mentre per gli
ben keine Verteidigung, haben keine-
uomini [.] no! Gli uomini non muovo
aber für die Männer nicht! Für die Män-
una piega allora [.] neanche per i
ner bewege ich also keinen Falt, nicht
rifugiati, non ci sto con i rifugiati [.] i
einmal für die Flüchtlinge, ich stehe
rifugiati [.] perché prima di tutto tra i
nicht ein für die Flüchtlinge, die Flücht-
rifugiati [.] ci sono anche [.] eeh [.]
linge, denn vor allem unter den Flücht-
spacciatori di droga [.] eeh c’è questa
lingen gibt es auch eeh Drogendealer
gente. Già non ci sto. E poi non ci sto
eeh, gibt es diese Leute. Und schon ste-
perché gli uomini [.] che vogliono la
he ich nicht dafür ein. Und dann steh ich
guerra, vogliono qua vogliono là,
nicht dafür ein, weil die Männer, die den
devono rimanere nel proprio paese a
Krieg wollen, dies wollen, das wollen,
combattere. [.] A combattere per il bene
sollen in ihrem eigenen Land bleiben
del proprio paese, ritornare nel proprio
zum kämpfen. Um für das Wohl des ei-
paese. Se se ne scappano tutti [.] chi
genen Landes zu kämpfen, kehre man
resta?
zurück in sein eigenes Land. Wenn alle flüchten, wer bleibt?
M: Le donne e i bambini.
(Transkript Genni 2, 20/27 – 21/13)
M: Die Frauen und die Kinder.
D AS E HEPAAR G ENNI
| 541
Auch früher schon, so sagen die Gennis, haben sie sich karitativ betätigt, damals aber vor allem mit Geldspenden. Doch nachdem sie ein Bekannter darauf aufmerksam gemacht habe, dass u.a. ihre Spendengelder missbraucht worden seien, hätten sie damit aufgehört (Transkript Genni 2, 21/34f). Nun wollen sie wissen, wer oder was durch ihren karitativen Aufwand gefördert wird. Deshalb beteiligt sich vor allem Laura aktiv an gezielten gemeinnützigen Aktionen (wie z.B. Kunst-Basaren, Chorkonzerten oder Theateraufführungen) zur Generierung von Spendengeldern für konkrete Projekte. Es ist ihr wichtig, ihre Nächstenliebe sinnvoll einzusetzen, ihre karitative Pflicht nicht missbraucht zu sehen. Und die karitative Arbeit in der katholischen Gemeinde erlaubt ihr zudem, ihre Profession als Lehrerin und ihr Streben nach Kulturvermittlung in diesem Rahmen auszuleben. Nicht zuletzt eröffnet die kirchliche Wohltätigkeitsarbeit neue soziale Netzwerke, die sich nicht nur auf die ‚italienische Welt‘ der Missione Cattolica Italiana beziehen, sondern auch auf die ‚schweizerische Welt‘ einer Organisation, zu der die Gennis über die schweizerische katholische Kirche in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld gefunden haben. Und in diesem Rahmen werden sich auch Gelegenheiten zum Knüpfen sozialer Kontakte bieten. Die karitative Arbeit ist offenbar vor allem Lauras Aktivitätsfeld. Marco schließt sich den Ansichten seiner Ehefrau an, scheint aber eine weniger aktive Rolle zu übernehmen. Er betrachtet das katholische Volontariat nicht nur als moralische Pflicht, sondern vor allem auch als soziales Ereignis. Die Funktion, die er sich im Rahmen des gemeinnützigen Engagements der Gennis selber zuschreibt, ist diejenige des Unterstützers im Hintergrund: Noi partecipiamo alla missione cattolica [.]
Wir machen bei der Missione Cattolica mit,
perché siamo cattolici [.] perché è un unico
weil wir katholisch sind, weil es ein einzig-
punto di riferimento dove può, incontriamo
artiger Bezugspunkt ist, wo man, wo wir
degli amici italiani [.] e anche perché mia
italienische Freunde treffen, und auch weil
moglie fa parte della corale. [.] Canta
meine Frau beim Chor mitmacht. Sie singt
[theatralisch ausgesprochen]. [.] Ed io
[theatralisch ausgesprochen]. Und ich
faccio l’autista, ‚le chauffeur‘ a mia moglie, mache den Fahrer, ‚le chauffeur‘ für meine perché l’accompagno, l’aspetto e poi
Frau, ich begleite sie, warte auf sie und
ritorniamo a casa. [.] Se i bambini ce lo
dann kehren wir nach Hause zurück. Wenn
permettono sempre è! [.] Perché se i
es die Kinder erlauben, heißt das immer!
bambini non sappiamo a chi lasciarli [.] e
Denn wenn wir nicht wissen, bei wem wir
allora non andiamo. [..] Perché [.]
die Kinder lassen, dann gehen wir nicht. –
vogliamo tanto bene ai nostri bambini io
Denn wir haben unsere Kinder so gern,
non dico mai „i miei nipoti“ dico: „i miei
dass ich nie sage „meine Enkel“, ich sage:
bambini“. [.] Eh e vivono con noi. È com- a „meine Kinder“. Eh und sie leben mit uns.
542 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
me fa tanto piacere [.] che possano vivere
Es ist wie- mir machts so viel Freude, dass
[.] con noi.
sie mit uns leben können.
(Transkript Genni 2, 7/34 – 7/42) Marco sieht seine Hauptaufgabe im innerfamiliären Bereich: In der Unterstützung der Aktivitäten seiner Frau, und vor allem auch in der Betreuung ‚seiner Kinder‘, der beiden Söhne ihres Sohnes, die er hier sehr umfassend für sich in Anspruch nimmt. Man hat den Eindruck, dass die Enkelkinder den größten Teil ihrer Zeit bei den Großeltern verbringen, dass sie ‚mit den Gennis leben‘. Deren Eltern sind, so erfahre ich im Laufe der beiden Gespräche, beide erwerbstätig, der Vater zu 100 Prozent, die Mutter in Teilzeit, jedoch so, dass sie oft über Mittag noch nicht zu Hause ist. So kommen die Enkelkinder in der Regel nach der Schule zu den Gennis, essen dort und verbringen einen Teil des Nachmittags mit den Großeltern. Die Eltern der beiden Jungen wohnen ganz in der Nähe, so dass die Kinder auch selbständig zwischen elterlicher Wohnung und großelterlichem Haus hin und her wechseln können. Und gemäß Laura ziehen es die Enkelkinder oft auch vor, ihre Zeit bei den Großeltern zu verbringen. Und die Eltern der Jungen scheinen damit auch einverstanden zu sein. Ein familiäres Arrangement also, das allen zum Vorteil gereicht, auf das Marco stolz ist und in das er mit Freuden den Großteil seiner Energien steckt. Die übrig bleibende Zeit investiert Marco zu einem großen Teil in die Unterstützung der karitativen Aktivitäten seiner Frau. Dasjenige außerfamiliäre Aktivitätsfeld jedoch, in dem sich Marco wirklich zu Hause fühlt, sind Vorträge, die er über ‚kulturelle Themen‘ wie z.B. die klassische italienische Literatur hält. Er tut dies einerseits im Rahmen der Società Dante Alighieri, einer italienischen Organisation, die sich weltweit für die Förderung italienischer Sprache und Kultur einsetzt. Andererseits plant Marco zum Zeitpunkt der Interviews auch regelmäßige ‚conferenze culturali‘ für die in Bern wohnhaften pensionierten Italiener/innen. Vorgesehen sind Treffen, an denen neben dem sozialen Aspekt auch ‚Kulturvermittlung‘ stattfindet, an denen Vorträge gehalten und Diskussionen geführt werden. Eine Art Bildungsveranstaltung für Pensionierte also, Vermittlung von kulturellem Wissen an italienische Rentner/innen. Als Marco im zweiten Gespräch von diesem Projekt erzählt, geht er vorsorglicherweise auch gleich gegen den eventuell entstehenden Eindruck vor, dass Marco als gebildeter und standesbewusster Bourgeois mit dieser Veranstaltungsreihe die Defizite der ‚Gastarbeiter/innen‘ an kulturellem Kapital im Bourdieu’schen Sinne bearbeiten wolle, indem er sie gönnerhaft an seinem Wissen teilhaben lasse:
D AS E HEPAAR G ENNI
| 543
Ripeto per il momento mi sono [.] offerto io Ich wiederhole, für den Moment habe ich a tenere queste conferenze. [..] Ripeto [.] se
mich zur Verfügung gestellt, um diese
ci saranno persone molto vole- volen-
Konferenzen zu halten. Ich wiederhole,
volentieri saranno accettate [.] per gli
wenn es Personen gibt, sind sie sehr gern
argomenti che vorranno trattare.
akzeptiert, um ihr Thema zu behandeln.
(Transkript Genni 2, 24/38 – 24/41)
Chiunque abbia una certa cultura e
Wer auch immer eine gewisse Kultur hat
chiunque abbia un argomento da trattare
und wer auch immer ein Thema zu behan-
[.] per noi sarà il benvenuto.
deln hat, ist uns willkommen.
(Transkript Genni 2, 23/35 – 23/36) Marco betont zwar seine Offenheit gegenüber anderen potentiellen Referent/innen im Rahmen dieser Veranstaltungen. Dennoch: durch die Betonung des Wortes ‚wenn‘ macht Marco deutlich, dass er im Grunde nicht daran glaubt, dass sich außer seiner Person jemand finden lassen wird, der/die in diesem Rahmen etwas Substantielles vorzutragen hätte. Dass sich Marco hier aber ungefragt dazu äußert, wie offen die Veranstaltungsreihe für andere Redner/innen sein wird, lässt auch annehmen, dass er bereits mit dem Vorwurf des elitären Denkens konfrontiert wurde. Auch ich frage mich während des Gespräches im Stillen, was denn ‚eine gewisse Kultur haben‘ bedeute und ob Marco hier nicht eine etwas paternalistische Haltung gegenüber der italienischen Migrationsgemeinschaft und deren Bildungsniveau einnehme. In der Art, wie Marco sich schon von vornherein gegen diesen Vorwurf wehrt, bestätigen sich aber gerade seine elitären Ansichten. M: Ma sarà difficile, sarà difficile perché
M: Aber es wird schwierig werden, schwie-
potremmo suscitare le invidie di molte
rig weil wir den Neid vieler Personen
persone. [.] Noi non vogliamo essere
hervorrufen könnten. Wir wollen von
invidiati da nessuno.
niemandem beneidet werden.
L: No perché molti si vogliono mettere per forza in vista. M: Non sono capaci neanche di parlare, perché necessario anzitutto è che nelle
L: Denn viele wollen sich unbedingt in Szene setzen. M: Sie sind nicht einmal in der Lage zu reden, denn vor allem notwendig für
conferenze culturali [.] ci sia la
diese kulturellen Konferenzen ist die
conoscenza [.] oltre che dell’argomento
Kenntnis, über das Thema hinaus, über
[.] oltre al fatto di saperlo esporre [.]
die Fähigkeit, es darzulegen, hinaus,
544 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
ma soprattutto è che ci sia la
aber vor allem braucht es Kenntnis des
conoscenza del buon italiano.
guten Italienisch.
(Transkript Genni 2, 25/6 – 25/12) Das ‚gute Italienisch‘, also das grammatikalisch korrekte Beherrschen der italienischen Schriftsprache, ist in Marcos Augen die wichtigste Voraussetzung dafür, dass man über ‚eine gewisse Kultur‘ verfüge. Vor dem Hintergrund der Ausführungen Lauras zum Umgang mit Dialekt in den Schulen weiter oben wird hier noch einmal deutlich, dass die Gennis ‚Kultur‘ mit Bildung gleichsetzen, und dass sie sich als die Ausnahme unter den italienischen Migrant/innen in Bern verstehen. Sie haben eine gute Bildung genossen und sind in der Lage, sich in der hochsprachlichen Form ihrer Muttersprache auszudrücken, während ‚der italienische Arbeiter‘ in der Regel aus ärmlichen, ländlichen Verhältnissen stammt und kaum Schulbildung genossen hat. Die Gennis sind kultiviert, ‚der italienische Arbeiter‘ hingegen ist unkultiviert. Und das merkt man, so die implizite Botschaft von Marco, auch der gegenwärtigen Organisationsstruktur der italienischen Migrant/innen in Bern an, die aus einer Vielzahl von migrationsspezifischen Vereinen hervorgegangen ist10. Denn mit den Andeutungen oben, dass es Personen gäbe, die seiner kulturellen Initiative skeptisch begegnen würden, sich damit aber selbst in Szene setzen wollen, wird hier ein Konflikt mit Vertretern aus dem Umfeld der italienischen Migrationsorganisationen angesprochen. Denn was die Gennis vom Vereinswesen der italienischen Migranten‚Gemeinschaft‘ in Bern halten, hatte Marco früher im Gespräch bereits deutlich kundgetan. M: Le associazioni italiane a Berna non mi interessano.
M: Die italienischen Vereine in Bern interessieren mich nicht.
E: Non Le interessano?
E: Die interessieren Sie nicht?
M: Non mi interessano completamente. A
M: Die interessieren mich ganz und gar
me interessa un’unica associazione che
nicht. Mich interessiert nur ein einziger
è composta da me, da mia moglie, dai
Verein, der sich zusammensetzt aus mir,
miei figli e dai miei nipoti e che
meiner Frau, meinen Kindern und mei-
considero la vera associazione che si
nen Enkeln, und den ich als den wahren
chiama associazione familiare.
Verein betrachte, der sich Familienverein nennt.
10 Zur Geschichte dieser Organisationsstruktur siehe Soom/Truffer 2000 und Soom Ammann 2006.
D AS E HEPAAR G ENNI
E: Aha. [.] E questa [unverst.]
E: Aha. Und diese [unverst.]
M:
M:
È un’associazione a gestione familiare.
Das ist ein Verein unter familiärer Führung.
E: Mmh.
E: Mhm.
M: Perché le associazioni che esistono [.]
M: Weil die Vereine, die bestehen, im
all’estero [.] hanno uno scopo preciso
| 545
Ausland, haben zum Zweck, die Leute
di allontanare [.] le persone [.] dalla
eben gerade von der Familie zu ent-
famiglia.
fremden.
E: Mmh.
E: Mhm.
M: È vero Giovanni? [spricht den
M: Nicht wahr, Giovanni? [spricht den
Besucher an] Perché anche lui è
Besucher11 an] Denn auch er ist Italie-
italiano, frequenta qualche
ner, besucht den einen oder anderen
associazione. [..] Perché si pensano
Verein. – Denn die denken alle, sie seien
tutti di essere dei grandi uomini [.]
große Männer, verdienstvolle Männer,
degli uomini a-rrivati [.] ma ripeto per
aber ich wiederhole, für mich existiert
me esiste soltanto un’unic- rispetto tutti
nur eine einzig-, ich respektiere alle an-
gli altri, rispetto le idee degli altri, per
deren, respektiere die Ideen der ande-
l’amor di dio [sehr schnell gespro-
ren, um Gottes Willen [sehr schnell ge-
chen], se gli altri vogliono creare
sprochen], wenn die anderen Vereine
associazione ritenersi persone
gründen wollen, sich für wichtige Leute
importanti, [.] nulla questio è merito
halten, keine Frage, dass sie verdienter-
che siano importanti e che creino
weise wichtig sind und dass sie noch
ancora tante associazione, ma ripeto
viele Vereine gründen werden, aber ich
per me ne esiste una sola [sehr schnell
wiederhole, für mich existiert ein einzi-
gesprochen]: [.] associazione familiare
ger [sehr schnell gesprochen]: der Fa-
Genni-Moreglio [.] e i figli [.] e i
milienverein Genni-Moreglio, plus Kin-
nipoti.
der, plus Enkel.
(Transkript Genni 2, 7/13-7/31) Die abschätzige Haltung gegenüber Migrationsvereinen teilt Marco mit Laura, und es gibt mehrere Gelegenheiten in unseren Gesprächen, bei denen sie dies zum Ausdruck bringen (siehe z.B. auch zum Thema Altersheime weiter unten).
11 Zu dem Zeitpunkt ist ein Besucher beim Gespräch anwesend, ein Bekannter der Gennis, der um das Haus herum ein paar Arbeiten erledigt (ob gegen Bezahlung oder als Freundschaftsdienst, entzieht sich meiner Kenntnis) und sich dann zum Kaffee zu uns setzt.
546 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
Auf den Punkt gebracht lautet ihre Meinung: Migrationsorganisationen sind Profilierungsfelder für geltungssüchtige Männer, und der einzige Zweck von Migrationsvereinen ist es, Familien zu zerstören, indem sie die Männer zum Geld-Ausgeben, zum Spielen und zum Trinken animieren. Ich gehe davon aus, dass Aussagen dieser Art von den Gennis nicht unbedingt an mich als Kennerin der italienischen Vereinslandschaft in Bern gerichtet sind. Obwohl ich in den vorbereitenden Gesprächen in der Regel auch darauf verwiesen hatte, dass ich bereits eine Studie zur italienischen Migration nach Bern verfasst habe, gehe ich nicht davon aus, dass den Gennis bewusst war, dass der Hauptfokus dieser Studie auf der Organisationsstruktur lag (vgl. Soom/Truffer 2000). Vielmehr nehme ich an, dass verbale Spitzen dieser Art zum alltäglichen Kommunikationsrepertoire der Gennis gehören. Marco und Laura bewegen sich in einem fast ausschließlich italienisch geprägten Netzwerk, das sie sich im Umfeld kirchlicher Institutionen aufgebaut haben. Die Vereinslandschaft hingegen ist geprägt von Vereinen und Institutionen, die ihren Ursprung in linkspolitischen (kommunistischen und sozialistischen) Organisationen haben (vgl. Soom/ Truffer 2000 und Soom Ammann 2006). Die ideologischen Differenzen zwischen katholischer Kirche und linker Arbeitspolitik, die in Italien so vergnüglich durch die Figuren Don Camillo und Peppone personifiziert wurden, bleiben als Topos auch in der Migration bestehen und haben auch die Entwicklung der Berner Migrationsorganisationen geprägt. In einer Aufnahmepause – Marco ist gerade im Garten und raucht eine Zigarette – erzählt mir Laura, dass Marco früher einmal Kontakt zu den Migrationsorganisationen gesucht habe, dass er sich dann aber mit deren Führern überworfen habe, weil er ihre Korrespondenz korrigieren wollte, da sie seiner Meinung nach in unhaltbar schlechter Sprache verfasst gewesen seien. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Marcos Verhältnis zu den italienischen Migrationsorganisationen eher angespannt ist. So beschränkt er sein Engagement auf diejenigen Aktivitäten, die aus dem kirchlichen Umfeld heraus organisiert werden. Und er schützt seinen ganz persönlichen Verein, seine Familie, indem er sie eng zusammen hält, sie über andere soziale Bezüge stellt, sie gegen außen abschirmt. Sein eigener Verein ist auch einer, in dem er unbestritten der Chef ist, und er versteht sich als klassischer Patron, der beschützt und ermöglicht, ohne Gegenleistungen einzufordern. Das Verhältnis der Gennis zu ‚ihrer‘ Gemeinschaft ist ein zwiespältiges. Die italienischen Migrant/innen in Bern sind die soziale Gruppe, in der sich Marco und Laura bewegen. Dennoch bemühen sie sich sehr stark darum, ihre Besonderheit zu betonen. Ich habe den Eindruck, dass sich die Gennis auch zur italienischen Gemeinschaft zugehörig fühlen müssen, weil ihnen der Einschluss in ein
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schichtspezifisches Milieu in der Schweiz nicht gelungen ist. So bleiben die Gennis auf dasjenige soziale Netz beschränkt, zu dem sie aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft und ihrer Sprache gehören. Ihre Aktivitäten in diesem sozialen Netzwerk, die über religiöse Organisationen vermittelt werden, bringen die Gennis in eine Position, in der sie an Diskussionen darüber, was für die italienische Migranten-‚Gemeinschaft‘ in Bern zu tun sei und wie es zu tun sei, Anteil nehmen. Die Art und Weise, wie sich Laura und Marco mir gegenüber dazu äußern, widerspiegelt ein Ringen um und Ringen mit ihrer Außenseiterposition in der sozialen Gruppe der italienischen Migrant/innen in Bern. Zukunftsperspektiven Besonders deutlich zeigt sich diese zwiespältige Außenseiterposition von Marco und Laura in ihrer Haltung zur Frage, wie mit pflegebedürftigen Migrant/innen im Alter umgegangen werden soll. Laura ist es, die unser Gespräch auf das Thema bringt, und daraus ergibt sich für mich auch die Gelegenheit, nach den persönlichen Vorstellungen und Wünschen der Gennis für die Zukunft zu fragen. Marco und Laura engagieren sich im Rahmen ihrer karitativen Arbeit einerseits sehr für die Anliegen der Italiener/innen in Bern, auch für die Älteren unter ihnen. Andererseits aber deutete sich bereits eine kritische Haltung an gegenüber den Migrationsvereinen als denjenigen, welche beanspruchen, die Anliegen der ‚Gemeinschaft‘ legitim zu vertreten (vgl. Soom/Truffer 2000, Schrover/Vermeulen 2005). Und es sind auch genau diese, die sich in den letzten Jahren um die Pensionierten italienischen Ursprungs in Bern zu kümmern begannen. Deshalb versuche ich in den Gesprächen, mehr über das Verhältnis der Gennis und ihrer Kinder und Enkelkinder zu den Vereinen zu erfahren. Während ich Fragen zu konkreten Aktivitäten und Kontakten im Rahmen des Vereinswesens stelle, begibt sich Giovanni, der Besucher, wieder nach draußen zu seinen Unterhaltsarbeiten. Marco beantwortet meine Fragen bereitwillig und äußert sich dabei erneut kritisch bezüglich der Vereine und ihrer Angebote. Irgendwann bittet er mich, die Aufnahme zu unterbrechen, weil er, wie er es formuliert, nun ‚velenoso‘/‚giftig‘ (Transkript Genni 2, 9/32) werde. In der Aufnahmepause geht es um Personen, die sich nach Marcos Ansicht als Vereinsfunktionäre viel zu wichtig nehmen. Laura greift dieses Thema auf, und als Marco sich nach draußen begibt, um eine Zigarette zu rauchen, beginnt Laura über die Diskussion rund um die Schaffung eines italienischen Altersheimes in Bern und die Rolle der Vereinsfunktionäre darin zu reden. Ich bitte darum, das Aufnahmegerät wieder einschalten zu dürfen, da das Thema der Altersheime für mich wichtig sei, und Laura willigt sofort ein. Sie beginnt sich darüber zu enervieren, dass
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sich die Migrationsorganisationen heute die Forderung nach der Schaffung von Altersheimen speziell für italienische Pensionär/innen zuoberst auf die Agenda gesetzt hätten. Auf meine Anmerkung hin, dass es diese Organisationen als ihre Aufgabe verstünden, etwas für die italienische ‚Gemeinschaft‘ in Bern zu tun, antwortet sie: Sì, ma non più per quelli della terza età. [.]
Ja, aber nicht mehr für die Alten. Jetzt ist es
Adesso bisogna [lacht kurz] lottare per i
notwendig [lacht kurz] für die Jungen zu
giovani. Vede che non c’è più lavoro per i
kämpfen. Sehen Sie, es hat keine Arbeit
giovani. Lottate per questo. Non per queste
mehr für die Jungen. Kämpft dafür. Nicht
scemenze, [.] la casa per gli, eh ehm [.] per
für diese Dummheiten, das Heim für die, eh
gli ita-, il riposo per gli italiani. Ma come?
ehm für die Ita-, das Altersheim für Italie-
Dopo tanti, tanti anni d’emigrazione adesso ner. Wozu? Nach all den vielen Jahren che la prima generazione sta finendo, [.]
Emigration jetzt wo die erste Generation
vogliano fare questa casa per [.] per gli
dem Ende zugeht, wollen sie dieses Heim
anziani italiani. Per emarginarli a
für die italienischen Alten machen. Um sie
quell’età, a ottant’anni, stando
in dem Alter zu marginalisieren, mit 80
emarginarle. [.] Io non lo so. [.] Hanno
Jahren, werden sie marginalisiert. Ich weiß
lottato tanto. Hanno fatto chiudere le
nicht. Sie haben so viel gekämpft. Sie haben
scuole. E [.] perché? Per [.] per
die Schulen schließen lassen. Und wozu?
l’integrazione. Perché bisognava
Für, für die Integration. Weil es nötig war,
integrarsi, integrarsi. Nella società
sich zu integrieren, sich zu integrieren. In
svizzera. E adesso, che fanno? A settant’,
die Schweizer Gesellschaft. Und jetzt, was
ottant’anni, [.] emarginano. Gli anziani. I
machen sie? Mit siebzig, achtzig Jahren,
giovani ormai sono integrati. Quindi,
marginalisieren sie. Die Alten. Die Jungen
queste case [.] fra dieci anni [.] resteranno
sind bereits integriert. Und so, diese Häu-
chiuse. Perché la vecchia generazione
ser, in zehn Jahren werden sie geschlossen
finisce. Sta finendo. [..] Il fatto è [.] che
sein. Weil die alte Generation endet. Sie ist
loro [.] devono far’ qualcosa. Non sanno
am enden. Fakt ist, dass sie etwas tun müs-
dove aggrapparsi, cosa fare, e adesso
sen. Sie wissen nicht, woran sie sich klam-
s’aggrappano agli anziani. [..] Dice „ci
mern sollen, was sie tun sollen, und so
sono alcuni anziani“, ma sono pochissimi,
klammern sie sich an die Alten. – Sie sagen,
questi anziani. „Ci sono alcuni anziani,
„es gibt einige Alte“, aber es sind ganz
vogliono una cucina italiana, vogliono [.]
wenige, diese Alten. „Es gibt einige Alte,
parlare in italiano“, [.] eh be’! La cucina
die wollen italienische Küche, wollen
italiana: [.] prendete se volete una cuoca
italienisch sprechen“, ja gut! Italienische
italiana e [.] fate il piatto di spaghetti. [.]
Küche: nehmt wenn ihr wollt eine italieni-
Oppure, non so, [.] invitate un parente di
sche Köchin und macht einen Teller Spa-
questo anziano una volta alla settimana, a
ghetti. Oder, weiß nicht, ladet einmal die
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cucinare qua per tutti, a fare la cucina
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Woche einen Verwandten von diesem Alten
italiana. Trovate altri soluzioni! [.] Ma
ein, um dort für alle zu kochen, italienisch
questo fatto di [.] di emarginare [..] questi
zu kochen. Findet andere Lösungen! Aber
anziani, io non lo trovo giusto. Io non ci
dieses Marginalisieren – der Alten, das
andrei. In una casa di riposo italiana, non
finde ich nicht richtig. Ich würde da nicht
ci andrei. Mi sentirei [.] messa da parte, mi
hingehen. In ein italienisches Altersheim,
sentirei emarginata, mi sentirei appestata,
ginge ich nicht. Ich würde mich beiseite-
sa! Gli appestati che venivano messi da
geschoben fühlen, mich marginalisiert
parte [.] mi sentirei così! [..] Ma, si può
fühlen, mich pestkrank fühlen, wissen Sie!
realizzare anche qualcosa di italiano nelle
Die Pestkranken, die man beiseiteschiebt,
case di riposo svizzere [.] ad invento non so
so würde ich mich fühlen! – Aber man kann
una sala [.] quando gli italiani si vogliono
auch etwas Italienisches in den Schweizer
riunire in questa saletta discutere tra di
Altersheimen realisieren, zum Beispiel, weiß
loro, perché non penso [.] chee [.] non ci
nicht, einen Saal, wenn die Italiener sich
siano italiani in ogni casa di riposo, ci
treffen wollen in diesem Raum, unter sich
saranno, [.] ticinesi, italiani. [..] E invitare
diskutieren wollen, denn ich meine nicht,
ogni tanto qualche parente a, a cucinare,
dass es keine Italiener in den Altersheimen
una cuoca se proprio desiderano gli
gäbe, es gibt sie, Tessiner, Italiener. – Und
spaghetti. Ma anche loro stessi [.] se hanno
ab und zu einen Verwandten einladen, zum
un cucinino [.] possono fare qualcosa no?
Kochen, eine Köchin, wenn sie wirklich
Perché s’abbandonano così non fanno più
Spaghetti wünschen. Aber auch sie selbst,
niente [.] a casa sono autosufficienti io vedo wenn sie eine kleine Küche haben, können novantenni che cucinano, lavano,
sie etwas machen, nicht? Denn so geben sie
puliscono. [.] Lì poi s’abbandonano, alla
sich auf, machen nichts mehr, zu Hause sind
fine non fanno più niente [..] aspettano solo
sie selbstversorgend, ich sehe Neunzigjähri-
la morte. Per me [.] è l’anticamera della
ge, die kochen, waschen, putzen. Dort [im
morte [.] la casa di riposo. [.] Già è
Altersheim] geben sie sich dann auf, am
l’anticamera della morte [.] figuriamoci se
Ende machen sie nichts mehr – warten nur
li emarginiamo per dire metterli in quel
noch auf den Tod. Für mich ist es das Vor-
cantuccio e „aspetti il tuo turno“.
zimmer des Todes, das Altersheim. Es ist schon das Vorzimmer des Todes, stellen wir uns vor, wenn wir sie marginalisieren, das heißt, sie in diesen Winkel tun und „warte bis du dran bist“.
(Transkript Genni 2, 9/38-10/28) Laura vertritt hier eine sehr pointierte Meinung zu ethnospezifischen Pflegeangeboten. Sie betrachtet diese nicht als Segen, sondern als im Endeffekt ausschließendes, segregierendes, ‚marginalisierendes‘ und ‚ghettoisierendes‘ Ange-
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bot. Damit positioniert sich Laura sehr deutlich gegen die Sichtweise, welche zu dem Zeitpunkt den lokalen Diskurs um ethnospezifische Altersangebote in Bern dominiert. Die Einrichtung eines ethnospezifischen Pflegeangebotes für Italiener/innen wurde zum Zeitpunkt des Interviews sowohl von Seiten der städtischen Behörden, von Vertretern der Migrant/innen wie auch von Organisationen im Pflegebereich vertreten. Inzwischen ist ein solches Konzept auch umgesetzt worden. Das Altersheim ‚Schwabgut‘ musste renoviert werden und ist bei dieser Gelegenheit umstrukturiert worden vom spitalähnlichen Pflegeheim mit Zweibettzimmern zu einem Wohnheim mit verschiedenen kleineren Wohngemeinschaften. Eine dieser Wohngemeinschaften wurde zur ‚mediterranen Wohngemeinschaft‘ erklärt. Die Umgangssprache dort ist italienisch, der Menuplan fokussiert auf Pasta anstelle von Birchermüesli, im Aufenthaltsraum steht eine Madonna, in der Gemeinschaftsküche eine Espressomaschine (Däpp 2008). Weit herum wird dieses Angebot gewürdigt und geschätzt. Doch der Einwand, den Laura hier anbringt, hat auch etwas für sich. Ein solches Angebot sondert eine Gruppe von Menschen von den übrigen Heimbewohner/innen ab, und zwar aufgrund eines Kriteriums, mit dem pauschale Annahmen über verschiedenste Vorlieben und Eigenheiten verbunden sind. Etwas polemisch gesagt: Spricht eine Seniorin italienisch, dann isst sie nur Pasta, ist erzkatholisch und trinkt rabenschwarzen Kaffee. Und nachdem man ihr ein Arbeitsleben lang Anpassung und Toleranz abverlangt hat, soll sie im Alter nun plötzlich ihre ethnische Identität, die als gegeben vorausgesetzt wird, in der mediterranen Abteilung dem Klischee gemäß ausleben. Sonderbehandlung beinhaltet immer auch eine Segregierung, und die Frage bleibt: Wenn auf spezifische Bedürfnisse eingegangen wird, wie weit haben auch andere spezifische Bedürfnisse ein Anrecht auf Berücksichtigung? Braucht es z.B. auch eine gesonderte Abteilung für rumantsch-sprechende Bündner/innen, für Atheist/innen, für Vegetarier/innen, für Homosexuelle, für Ex-Junkies, für Teetrinker/innen? Spezifische Bedürfnisse im Alter sind individuell und vielfältig. Sie lassen sich nur unter Vernachlässigung von gewissen Differenzen und Betonung anderer Differenzen gruppieren. Gruppenbildung bedingt immer auch Grenzziehung, und Grenzziehung bedeutet Ein- und Ausschluss. In Lauras Ausführungen wird nicht ganz klar, wen Laura mit ‚sie‘ genau meint. Angesprochen wird zum einen ein ‚sie‘ aus der ‚Schweizer Welt‘, das bisher immer Integration von Ausländer/innen verlangt habe und nun ein derart segregierendes Angebot einführen wolle. Daneben lässt sich auch ein ‚sie‘ aus der ‚italienischen Welt‘ ausmachen, das nach Lauras Auffassung an der falschen Front kämpft, das Sonderbehandlung für die Alten fordere, wo doch die Jungen diejenigen sind, die soziale Probleme hätten. Ich möchte ein konkreteres Bild
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derjenigen bekommen, die ‚die Alten marginalisieren‘, und frage nach, wer denn Lauras Meinung nach das Bedürfnis nach solchen Einrichtungen vertrete. Nachdem Laura vorangestellt hat, dass sie die Diskussion nur von der italienischen Seite her kenne und dass sie nur drei oder vier Senior/innen kenne, die auch tatsächlich an einem Platz in einem solchen Altersheim interessiert seien, fährt sie fort: Io so che sono italiani [.] che sono a capo
Ich weiß, dass es Italiener sind, die Vereine
di associazioni. [.] Che per [.] non lo so [.]
leiten. Die aus, weiß nicht, aus Überheb-
per presunzione diciamo [.] per dire io ho
lichkeit sagen wir mal, um sagen zu können,
fatto questo [.] ho fatto qualcos- per gli
ich hab das gemacht, hab etwas gemach-,
italiani. Certamente per presunzione [.]
für die Italiener. Sicherlich aus Überheb-
penso che lo vogliano fare, perché non
lichkeit, denke ich, wollen sie das machen,
l’hanno fatto nel passato quando c’erano
warum haben sie das nicht gemacht in der
tantissimi italiani che non conoscevano la
Vergangenheit, als es so viele Italiener gab,
lingua? [.] Erano tantissimi, [.] la prima
welche die Sprache nicht konnten? Es gab
generazione, perché non l’hanno fatto [.]
so viele, die erste Generation, warum haben
per quelli? E lo fanno adesso per quattro
sie es für die nicht gemacht? Und machen
gatti che sono rimasti della vecchia
es jetzt für vier Knochen, die noch von der
generazione? Io mi domando questo. [.]
ersten Generation übrig sind? Das frage ich mich.
(Transkript Genni 2, 11/14-11/21) Mit ihren Vorwürfen meint Laura also die Vereinsvertreter, die sich ihrer Meinung nach an die alternden italienischen Migrant/innen als Zielgruppe und die Notwendigkeit der Schaffung von spezifischen Altersheimen als Aufgabe ‚klammern‘. Und sie tun dies, weil ihnen die angestammten Zielgruppen und Ziele abhanden gekommen sind: Die erste Generation verschwindet, und die zweite Generation ist integriert und braucht keine spezifischen italienischen Vereine mehr. Diese Einschätzung stimmt im Grundsatz auch mit der Selbsteinschätzung der Vereine überein (vgl. Soom/Truffer 2000: 137f), deren angestammte Angebote und Tätigkeiten auf abnehmendes Interesse stoßen und denen es zunehmend schwer fällt, Mitglieder zu gewinnen. Die einst zahlreichen Vereine und Organisationen lösen sich auf, schließen sich zusammen, suchen sich neue Aktivitätsgebiete oder erweitern den Kreis von Personen, den sie ansprechen. Diejenigen, die im sozialen Bereich tätig sind und sich neue Aktivitätsgebiete suchen, konzentrieren sich auf zwei Zielgruppen innerhalb der italienischen ‚Gemeinschaft‘ in Bern, die momentan noch mit migrationsspezifischen Schwierigkeiten konfrontiert sind: diejenigen aus der zweiten Generation, die mit Ar-
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beits- und/oder Drogenproblemen zu kämpfen haben, sowie die Pensionierten, insbesondere die Hochbetagten unter den ehemaligen italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘. Dies sind also tatsächlich Aktivitätsfelder, in denen man sich als Vertreter/in einer Migrationsorganisation potentiell profilieren kann. Und es sind diejenigen Bereiche, in denen Aussichten auf konkrete Kooperationen mit Institutionen der Aufnahmegesellschaft bestehen, z.B. in der Finanzierung von Projekten. Nicht nur die Vereine, auch die Missione Cattolica bewegt sich in diesem Feld und strebt Kooperationen mit der Schweizerischen Katholischen Kirche an. Und auch die Missione Cattolica sieht sich mit einer zunehmenden Verengung ihres Aktivitätsfeldes und damit auch mit zunehmendem Legitimationsdruck konfrontiert. So gesehen buhlen in Bern zwei Parteien – die kirchlichen und die sozialpolitisch orientierten Migrationsorganisationen – um ein kontinuierlich abnehmendes Tätigkeitsfeld und um knapper werdende Ressourcen. Zu den besten Zeiten der italienischen Organisationstätigkeit in Bern in den 1960er und 1970er Jahren hatte jede dieser Parteien einen eigenen Platz. Neben ihrem Kerngebiet – den religiösen Riten und der Seelsorge auf der einen, der Gestaltung der arbeitsfreien Zeit auf der anderen Seite – brachten sich beide Organisationstypen auch in je spezifische Interessenfelder ein. Die kirchlichen Aktivitäten konzentrierten sich auf den sozialen, insbesondere den familiären Bereich und beschränkten sich darauf, bestehende Schwierigkeiten durch ergänzende Angebote zu korrigieren12. Die Aktivitäten der sozialpolitischen Vereine hingegen konzentrierten sich auf den Bereich der Arbeit und der an die Arbeit gebundenen rechtlichen Bedingungen. Diejenigen Organisationen, die sich der Verbesserung der rechtlichen Bedingungen widmeten, wurden dafür auch politisch aktiv, gegenüber dem Aufnahmestaat wie auch gegenüber dem Herkunftsstaat13. Je länger je mehr jedoch überschneiden sich die Aktivitäten, und insbe-
12 So bot die Missione Cattolica neben individueller Seelsorge z.B. Möglichkeiten, die Freizeit zu verbringen und private religiöse Feste wie Hochzeiten und Taufen zu feiern, sie besuchte Kranke, die sprachlich und sozial isoliert in Spitälern lagen, sie richtete Betreuungs- und Bildungsangebote für die Kinder von Gastarbeiter/innen ein. Die Aktivitäten der Missione Cattolica beschränkten sich auf die italienische ‚Gemeinschaft‘ und vermieden eine Einmischung in die Aufnahmegesellschaft (Details dazu siehe Soom/Truffer 2000: 138-153). 13 Während die meisten Migrationsvereine sich zu Beginn auch auf die Erleichterung des Alltags von Gastarbeiter/innen durch Verpflegungs- und Freizeitangebote konzentrierten, spezialisierten sich ein paar Organisationen auf die Frage, wie die bestehenden Bedingungen verbessert werden könnten und wer dafür die richtigen Ansprechpartner wären. Über informelle Kontakte zu Parteien und Gewerkschaften richteten
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sondere der Bereich des Alterns in der Migration ist sowohl für kirchliche wie auch für sozialpolitische Organisationen eines der wenigen noch nicht vollständig erschlossenen Aktivitätsfelder. Laura stellt die Situation nun als eine Art Eindringen der ‚Vereine‘ in ein Gebiet vor, das traditionsgemäß der kirchlichen Arbeit überlassen war, und unterstellt ihnen, nun eine Tendenz zu vertreten, die sie früher abgelehnt hätten. Während die Vereine früher konsequent eine Integration der Italiener/innen in die Aufnahmegesellschaft gefordert hätten, würden sie sich heute, in der Frage der ethnospezifischen Altersheime, für die ‚Marginalisierung‘, für die ‚Exklusion‘ der italienischen Migrant/innen einsetzen. Laura konkretisiert ihren Vorwurf, indem sie auf die Schulfrage verweist – ein Gebiet, in dem sie als Lehrerin der Konsulatsschule am Rande auch Zeugin der Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen und vielleicht auch ein Opfer der Konsequenzen daraus war. Das Beispiel der Auseinandersetzungen um die Schulbildung der Kinder italienischer Migrant/innen zeigt die Konfliktlinien und Lauras Position darin deutlich auf. Laura spricht davon, dass ‚sie so sehr gekämpft haben‘, dass ‚sie die Schulen haben schließen lassen‘, und zwar ‚für die Integration in die Schweizer Gesellschaft‘. Und sie macht weiter unten klar, dass sie mit ‚sie‘ die Führungsfiguren der italienischen Vereine in Bern meint. Nun wurden die beiden in Bern existierenden italienischen Schulen, die Scuola Elementare der Missione Cattolica und die Scuola Lombardo Radice des Konsulates, zwar von Seiten der Berner Behörden geschlossen (siehe Soom/ Truffer 2000: 143 – 150), doch waren auch die sozialpolitisch aktiven Vereine der italienischen Migrant/innen involviert in die Diskussion, wer für die Bildung der Migrant/innen und ihrer Kinder zuständig sei (ebd. S. 174 – 179). Es gab Vertreter, die eine vollständige und bedingungslose Integration von Schul- wie auch Berufsbildung in die Schweizer Gesellschaft forderten, und auf diese Exponenten bezieht sich Laura hier wohl. Es gab aber durchaus auch Stimmen, die eine migrationsspezifische Lösung befürworteten, wie sie sich dann auch im
sich deren Aktivitäten zunehmend auch an die politischen Institutionen von Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft. Es ging um die Verbesserung von Anstellungsbedingungen und Sozialleistungen, um die Sicherung des Aufenthaltes und die Erleichterung der Rückkehr, um Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung sowohl in der Herkunfts- wie auch in der Aufnahmegesellschaft. Die Migrationsorganisationen nutzten hier vor allem die Möglichkeiten zur Mobilisierung und Sensibilisierung der ‚Gastarbeiter/innen‘ über Bildungs- und Informationsangebote und stellten den nicht unbestrittenen Anspruch, die Anliegen der ‚Betroffenen‘ auf politischer Ebene zu vertreten (Details dazu siehe Soom/Truffer 2000: 153-179).
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Hinblick auf die Berufsbildung durchgesetzt hat14. Was jedoch die Schulbildung der Kinder betrifft, setzte die Schulbehörde ein Verbot der italienischen Schulen durch und nahm damit auch derjenigen Schule die Existenzberechtigung, an der Laura unterrichtete. Ob Laura deswegen ihre Stelle verloren hat, ist unklar. Sie stellt es in ihrer biographischen Selbstpräsentation nicht so dar. Jedenfalls spricht aus Lauras Worten eine kaum verhohlene Verachtung für diejenigen, welche gegen die Schule ‚gekämpft‘ haben, weil sie segregiere, und die jetzt ‚kämpfen‘ würden für migrationsspezifische Altersheime, welche ja genauso segregieren würden. Beide Auseinandersetzungen dienten lediglich als Profilierungsfelder für einige wenige Exponenten des Vereinswesens, und gerade darin, dass das anhand der Schulfrage postulierte Ideal der bedingungslosen, umfassenden Integration nun verraten würde, sieht Laura den Beweis dafür, dass deren Motive von ‚Überheblichkeit‘ gelenkt würden. Soweit die eine der Diskurslinien in Lauras Monolog zu den Altersheimen: ihre Abscheu vor den Vereinspräsidenten, die sich unter dem Vorwand des Einsatzes für die Gemeinschaft wichtigmachen wollen. Dann gibt es noch eine andere Argumentationslinie, nämlich diejenige des ‚Vorzimmers zum Tod‘, als welches Laura Altersheime generell empfindet. Direkt im Anschluss an obiges Zitat fährt sie fort: L: Vabbé che io ho un’altra mentalità [.]
L: Mag sein, dass ich eine andere Mentali-
perché vengo dal sud, dove non è
tät habe, weil ich aus dem Süden kom-
ammesso [.] öh ai genitori andare nelle
me, wo es nicht geduldet wird, öh dass
case di riposo, i figli si sentono [..] non
die Eltern ins Altersheim gehen, die
so [sehr leise]. Eeh ai figli non piace
Kinder fühlen sich – weiß nicht [sehr
che i propri genitori vadano a finire i
leise]. Eeh den Kindern gefällt es nicht,
propri giorni nelle case di riposo. Io
wenn die eigenen Eltern ihre Tage im
quella mentalità lì- se uno ha figli [.]
Altersheim beenden müssen. Ich, diese
come la mamma ha accudito il figlio
Mentalität-, wenn jemand Kinder hat,
quand’era piccolo che l’ha pulito, i
wie die Mama das Kind gepflegt hat, als
14 Die Bestrebungen der Vereine richteten sich vor allem auf die Verbesserung der beruflichen Qualifikation der italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘, die aufgrund von fehlender beruflicher Ausbildung oder auch aufgrund fehlender Nachweise erworbener Qualifikationen als ungelernte Arbeiter/innen behandelt und dem entsprechend entlöhnt wurden. Die Lösung, die sich durchsetzte, war ein italienisch-sprachiges Berufsbildungszentrum, das Kurse anbot und Diplome abgab, die jedoch nicht den offiziell anerkannten Fähigkeitsausweisen entsprachen (Details dazu siehe Soom/Truffer 2000, insbesondere 183f).
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pannolini, la cacca ecce-, adesso che
es klein war, es gereinigt hat, die Win-
siano i figli ad accudire i genitori. [.]
deln, das Gagga etce-, so ist es jetzt an
Eh cioè questa è la nostra mentalità del
den Kindern, die Eltern zu pflegen. Und
sud. [..] A nord già è diverso: Milano,
das heißt, dies ist unsere Mentalität im
Torino già è come qui [.] però io quella
Süden. – Im Norden ist es schon anders:
mentalità non ci posso fare niente,
Mailand, Turin, da ist es schon wie hier,
perché per me la casa di riposo è
aber ich kann mit dieser Mentalität
l’anticamera della morte. [..] Eeh non
nichts anfangen, denn für mich ist das
ci posso far niente. [..] Io spero che i
Altersheim das Vorzimmer zum Tod. –
miei figli non mi mandano a finire gli
Eeh da kann ich nichts machen. – Ich
ultimi giorni [.] in questa casa.
hoffe, dass meine Kinder mich nicht in so ein Heim schicken, um meine letzten Tage zu verbringen.
E: Allora questo vuol dire che lei
E: Also das heißt, Sie würden es vorziehen-
preferisceL: Stare in famiglia.
L: In der Familie zu bleiben.
E: Stare in famiglia.
E: In der Familie zu bleiben.
L: Stare in casa.
L: Zu Hause zu bleiben.
E: Ha già parlato con i suoi [.] figli
E: Haben Sie mit Ihren Kindern schon
L:
Nooo
L:
Neein
E: su questo tema, perché-
E: über dieses Thema gesprochen, weil-
L:
L:
No non ne parl-,
Nein,
non ne parliamo per la semplice
darüber spre-, darüber sprechen wir
ragione [.] chee [.] mi sento ancora
nicht, aus dem simplen Grund, dass ich
attiva. [.] Mi sento ancora in buona
mich noch aktiv fühle. Ich fühle mich
salute.
noch in guter Gesundheit.
E: Allora non è attuale?
E: Also ist es nicht aktuell?
L:
L:
Più in là si vedrà. [.] Già mia figlia dice „più in là te ne devi
später mal sehen. Meine Tochter sagt
venire a Roma e devi venire a vivere
bereits: „Später mal musst du nach Rom
vicino a me“. Eeh [.] perché noi
kommen und in meiner Nähe leben.“
abbiamo quella mentalità.
Eeh weil wir diese Mentalität haben.
E: Allora [.] se lei fa quello sarebbe la
E: Also, wenn Sie das tun würden, dann wär’s die Tochter, und nicht der Sohn?
figlia e non il figlio? L:
Wir werden das dann
Ma io penso anche il
L:
Na, ich
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figlio.
denke, auch der Sohn.
E: Anche il figlio?
E: Auch der Sohn?
L: Perché mia nuora ha anche quella
L: Weil meine Schwiegertochter hat auch
mentalità e nel suo paese [.] i vecchi
diese Mentalität, und in ihrem Land
vengono accuditi, vengono rispettati [.]
werden die Alten gepflegt, werden res-
e amati.
pektiert und geliebt.
(Transkript Genni 2, 11/21 – 12/5) Es sind also nicht nur die ethnospezifischen Altersheime oder Pflegeabteilungen, die Laura nicht gutheißen will. Es ist auch die grundsätzliche Idee, das Alter in einem Altersheim zu verbringen, die Laura als unpassend empfindet. Ihre Vorstellungen vom idealen Altern sind ganz andere, nämlich die Betreuung innerhalb der Familie. Die Art, wie sie dies äußert, ist sehr vorsichtig: Weder stellt sie ihre Vision als die moralisch richtige dar, noch sagt sie, dass sie von ihren Kindern erwartet, dass sie die Pflege Lauras übernehmen würden – sie hofft lediglich darauf. Statt dessen argumentiert sie mit der ‚südlichen Mentalität‘, die vorgibt, wie ideales Altern zu sein hat, und diese Vorgaben wirken nicht etwa auf Laura als Angehörige der Alten-Generation, sondern auf die erwachsenen Kinder. So formuliert ist es nicht an Laura, entsprechende Forderungen zu stellen, hin zu stehen und zu sagen, dass sie von ihren Kindern gepflegt werden möchte. Nein, es ist an ihren Kindern, dies zu leisten, ja sogar leisten zu wollen, und zwar, weil sie es durch ‚ihre Mentalität‘ als das einzig Richtige empfinden. So skizziert Laura ihr Ideal15. Konkret darüber gesprochen hat sie mit ihren
15 Die moralische Norm, dass Altenpflege Aufgabe der Kinder sei, begründet mit einer Reziprozitäts-Schuld, die Kinder ihren Eltern gegenüber haben, wird auch in der Literatur gelegentlich als spezifisch italienische oder südeuropäische Norm bezeichnet (z.B Ganga 2006: 1403). Ich betrachte diese Vorstellung hingegen weniger als ‚kulturelle‘ Norm, sondern eher als eine universelle, die aber in komplexen Gesellschaften mit zunehmender Differenzierung und Institutionalisierung sozialer Aufgaben zu denjenigen gehört, die aus der Familie heraus an andere Institutionen delegiert werden (Altersheime, Pflegedienste etc.). Die Verschiebung einiger sozialisierender und pflegender Aufgaben vom familiären in den öffentlichen Bereich (z.B. in der Schulbildung, Krankenversorgung, Altenpflege) enthebt die Familie jedoch nicht ihrer elementaren Solidaritätsfunktionen (vgl. Hareven 1994: 35f). In gesellschaftlichen Umfeldern oder historischen Kontexten, in denen institutionelle Sozialisations- und Pflegeeinrichtungen nicht oder ungenügend vorhanden sind, werden diese Aufgaben auch stärker in der Familie wahrgenommen. Dass die Vorstellung intergenerationeller Re-
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Kindern offenbar noch nicht, und sie ist sich auch nicht absolut sicher, dass diese auch tatsächlich bereit sein werden, ihre Pflege zu übernehmen. Dennoch: Lauras Tochter hat offenbar schon grundsätzliche Bereitschaft signalisiert. Auf meine Frage hin, ob auch der Sohn dazu bereit sein könnte, sie im hohen Alter zu pflegen, verweist Laura wieder auf die Mentalität, diesmal jedoch auf diejenige ihrer Schwiegertochter, die aus Asien stammt. Auch dort herrsche im Hinblick auf den Umgang mit Alten eine vergleichbare Einstellung. So ist sich Laura sicher, dass die Schwiegertochter – in Erfüllung der familiären Pflichten des Sohnes16 – bereit sein würde, eine gebrechliche Laura zu pflegen. Dennoch, solange Laura sich gesund fühlt, solange es keinen konkreten Anlass gibt, an Pflegebedürftigkeit und die Organisation der Pflege zu denken, will Laura auch keine konkreten Verpflichtungen von ihrer Tochter und Schwiegertochter einfordern. Am liebsten wäre es Laura, wenn sie möglichst lange selbständig zu Hause bleiben könnte, und sie ist zuversichtlich, dass ihr dies gelingen wird, da sie über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, um sich bei Bedarf Hilfe ins Haus zu holen. Poi non ho problemi di danaro per dire eeh
Zudem habe ich keine Geldprobleme, sozu-
[.]. No, io sto bene a casa mia! Finché
sagen eeh. Nein, mir geht es gut zu Hause!
avremo forza, salute [.] stiamo bene,
Solange wir Kraft haben, gesund sind, es
quando non staremo bene mi metterò una
uns gut geht, wenn es uns nicht mehr gut
donna, ma in casa mia. [.] Se poi dovessi
gehen wird, werde ich mir eine Frau besor-
diventare [.] scema proprio che mi devono
gen, aber bei mir zu Hause. Wenn ich dann
accudire [lächelt]: [.] Oh, chi? I figli ci
schwachsinnig werden sollte, richtig, so
penseranno, come fare, cosa fare. Ma io
dass sie mich pflegen müssten [lächelt]: Oh,
non devo capire. Per andare alla casa di
wer? Die Kinder werden sich drum küm-
riposo io non devo capire [.] devo perdere
mern, wie und was man tun soll. Aber ich
ziprozität bei alternden italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘ besonders oft geäußert wird (vgl. z.B. Bolzman et al. 1999: 87), hat meiner Meinung nach nicht in erster Linie mit deren Herkunft und den dort gepflegten kulturellen Werten zu tun, sondern vielmehr mit der Migrationserfahrung an sich und der damit möglicherweise verbundenen besonders großen Opfern, welche, wie Ganga (2006: 1403) herausstreicht, bei italienischen Migrant/innen zur Erwartung führen, dass die Kinder, für die man die Opfer ja schließlich auf sich genommen habe, dafür ihre Eltern im Alter pflegen sollen. 16 Auch in modernen Industrieländern wird, gleich wie in der professionellen Altenpflege, die unbezahlte Pflege Betagter vorwiegend von Frauen geleistet (z.B. Höpflinger 2003b, Schweppe 2007), insbesondere von nahen Angehörigen (Ehefrauen, Töchtern und Schwiegertöchtern, vgl. Höpflinger 1997: 100).
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la ragione [.] altrimenti non ci vado. [..] E
darf das nicht kapieren. Um ins Altersheim
non ci andrei mai [.] nell’anticamera della
zu gehen, das darf ich nicht kapieren, muss
morte. [..] Questo è tutto [lacht kurz]. [.]
den Verstand verlieren, sonst geh ich nicht.
Già è diverso se vanno marito e moglie
Und ich werde nie gehen, ins Vorzimmer
assieme [.] in un appartamentino [***] poi
des Todes. – Das ist alles [lacht kurz]. Das
c’è la donna che fa le pulizie, c’è il pranzo
ist schon anders, wenn Mann und Frau zu-
pronto, già è un [.] po’ diverso se sono in
sammen gehen, in eine kleine Wohnung, da
due marito e moglie. [.] Ma pure così io
gibt’s dann die Frau, die putzt, das Essen ist
dico perché non prendersi un [.] un piccolo
gemacht, das ist schon ein wenig anders,
appartamento in affitto e prendersi ‘na
wenn sie zu zweit sind, als Ehepaar. Aber
donna che fa le pulizie. [.] Cioè, quel- il
selbst dann sage ich, warum nimmt man
danaro che io lo devo dare alla casa di
sich nicht eine, eine kleine Wohnung zur
riposo [.] tutta la mia pensione, [.] ma tanto Miete und eine Frau, die putzt. Das heißt, vale che mi prenda ‘na donna che
dies- das Geld das ich dem Altersheim ge-
m’accudisce. E sto- e sono libera. [..] Per
ben muss, meine ganze Pension, da kann ich
me è un senso di libertà, stare a casa mia.
doch genauso gut eine Frau nehmen, die mich pflegt. Und bleibe- und bin frei. – Für mich ist das ein Gefühl von Freiheit, zu Hause zu leben.
(Transkript Genni 2, 12/13-12/27) Sich ‚eine Frau zu nehmen‘, welche Unterstützungs- und Pflegeaufgaben übernimmt, das ist eine weitere Möglichkeit, wie Laura das Altersheim zu umgehen gedenkt. Doch auch dieses Pflegemodell stößt irgendwann an Grenzen, selbst wenn man über reichlich Ressourcen verfügt. Eine Vollzeitpflege zu Hause kostet viel Geld17, vermutlich mehr als ein Altersheim-Platz, und eine Betreuung rund um die Uhr ist schwierig zu organisieren. Aufgrund dessen jedoch, was die Gennis bisher an Einschränkungen erlebt haben, halten sie die Einrichtung einer bezahlten Pflege und Betreuung im eigenen Haus für durchaus machbar. Als ich Marco, der inzwischen wieder zu uns gestoßen ist, nach seinen Vorstellungen frage, schließt er sich der Meinung seiner Frau an, dass sich die Zukunft noch lange im eigenen Haus gestalten lassen wird:
17 Aus diesem Grund wird im Bereich der häuslichen Altenpflege, parallel zu den Bereichen Haushalt und Kinderbetreuung, auch in der Schweiz zunehmend auf billige ausländische weibliche Arbeitskräfte zurückgegriffen und an Versicherungen und Steuern gespart, sprich: schwarz angestellt.
D AS E HEPAAR G ENNI
E: E com’è per Lei? Ehm [.] abbiamo
| 559
E: Und wie ist das für Sie? Ehm wir haben
parlato delle case degli anziani. Per
von den Altersheimen gesprochen. Für
Lei, come [.] vede il suo futuro quando
Sie, wie sehen Sie Ihre Zukunft, wenn es
avrà bisogno?
notwendig wird?
M:
La penso come mia moglie.
M:
Ich denke wie meine Frau.
E: Come?
E: Wie?
M: Sono d’accordo con mia moglie.
M: Ich bin derselben Meinung wie meine Frau.
L: [lacht laut] Ne abbiamo discusso, ne
L: [lacht laut] Wir haben das diskutiert,
abbiamo discusso, abbiamo parlato [.]
haben das diskutiert, haben darüber ge-
e per questo che siamo d’accordo [.]
sprochen, und deshalb sind wir dersel-
che lui poi peggio di me [.] le case di
ben Meinung, er noch mehr als ich, Al-
riposo non le vuole neanche vedere da
tersheime will er nicht einmal von Wei-
lontano. [.] Lui non è per la casa.
tem sehen. Er ist nicht für das Altersheim.
M: Il giorno in cui non ce la farò più a
M: Am Tag, an dem ich es nicht mehr
salire quelle scale per andare a dormire
schaffen werde, diese Treppen dort
[..] mi farò aiutare.
hochzusteigen, um schlafen zu gehen – werde ich mir helfen lassen.
E: Qualcuno che viene in casa, mhm.
E: Jemand der nach Hause kommt, mhm.
M:
M:
Mi farò
Ich werde
aiutare [.] maa cercherò di vivere
mir helfen lassen, aber ich werde versu-
sempre in casa mia.
chen, immer zu Hause zu leben.
L: Oppure si metterà un un letto
L: Oder man stellt ein Bett
M:
M:
Un letto. La stanza-
L:
L:
da letto la sposteremo in
M:
Sposteremo la stanza da letto in basso.
E: Più in basso sì.
-zimmer werden wir nach unten verlegen.
basso. L:
Das Schlaf-
La stanza-
M:
Ein Bett. Das Schlaf-
L:
Wir werden das Schlafzimmer nach unten verlegen.
E: Mehr nach unten, ja.
560 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
L: Eh mah-
L: Eh aber-
M:
M:
Perché quando noi prendemmo
L:
Eravamo
L:
Sì, sì sì sì.
L: Non ci ponemmo quel problema [.] delle scale. M: Infatti quando io caddi che mi ruppi la
Waren wir jünger.
giovani. E:
Denn als wir dieses Haus genommen haben, waren wir jünger.
questa casa eravamo più giovani
E:
Ja, ja ja ja.
L: Dieses Problem hat sich nicht gestellt, mit den Treppen. M: In der Tat, als ich fiel und mir das Rück-
spina dorsale [.] la mia paura era come
grat kaputt gemacht habe, galt meine
salire le scale. [..] Mi aggrappavo, mi
Angst dem Treppen-Steigen. – Ich hab
facevo aiutare, adesso rito- sono
mich festgeklammert, habe mir helfen
ritornato normale, ce la faccio. Il
lassen, jetzt ist’s wieder normal, ich
giorno in cui [.] avrò dei dubbi che le
schaffe es. Am Tag, an dem ich den Ver-
forze vengano meno [.] troverò qualche
dacht habe, dass die Kräfte weniger
sistema.
werden, werde ich eine Lösung finden.
(Transkript Genni 2, 12/42-13/26) Die Einhelligkeit, die nicht nur von beiden explizit betont wird, sondern sich auch darin zeigt, dass Marco und Laura sich gegenseitig die Sätze fortführen, lässt darauf schließen, dass sich die Gennis tatsächlich bereits öfter darüber unterhalten haben, wie sie mit einer allfälligen Pflegebedürftigkeit im Alter umgehen würden. Die von Marco erwähnte Rückenverletzung hat ihn bereits einmal mit der Erfahrung konfrontiert, nicht mehr selbständig die Treppen hochsteigen zu können. Das Haus der Gennis ist nicht nur inwendig auf zwei Stockwerken angelegt, auch der Eingang zum Haus ist nur über eine Treppe zu erreichen. Dennoch: die finanzielle Situation der Gennis macht es ihnen einfach, über privat organisierte und bezahlte Alternativen zum Altersheim nachzudenken. Es kommt sie, so hoffen die beiden, unter dem Strich vielleicht sogar günstiger, Umbauten am Haus vorzunehmen und die notwendigen Dienstleistungen einzukaufen, als in eine Alterswohnung oder ein Altersheim umzuziehen, in dem sie einen ihrem Einkommen und Vermögen entsprechenden regelmäßigen Betrag entrichten müssten. Auch im Hinblick auf die Beurteilung der Bestrebungen, ethnospezifische Altersangebote einzurichten, demonstriert Marco jetzt, da er wieder am Gespräch beteiligt ist, dieselbe Einhelligkeit. Er formuliert die Ansicht, dass solche Pflegeangebote segregierend sind, dass die Debatte lediglich als Profilierungs-
D AS E HEPAAR G ENNI
| 561
feld diene und dass es wesentlich sinnvollere Ziele geben würde, für die man sich einsetzen könnte, in noch einmal pointierterer Form: Ecco per esempio [.] invece di tutte queste
Also, zum Beispiel, anstatt dass all diese
associazioni che cercano di ghettizzare gli
Vereine versuchen würden, die Alten zu
anziani, [in hartem, befehlendem Ton:]
ghettoisieren, [in hartem, befehlendem
gruppo italiano distaccato dal gruppo
Ton:] italienische Gruppe abgetrennt von
tedesco [.] che [.] un gruppo di questi si
der deutschen Gruppe, dass eine Gruppe
fosse mosso [.] per i pensionati [.] ed i
von denen sich einsetzen würde für Pensio-
pensionati non percepiscono più la
nierte, Pensionierte bekommen keinen drei-
tredicesima. [.]Bene. [.] Cioè male. [.]
zehnten mehr. Gut. Das heißt schlecht. Wa-
Perché non prendiamo un’iniziativa [.]
rum starten sie keine Initiative, damit die
affinché ai pensionati [.] venga data almeno Pensionierten zumindest eine Weihnachtsuna gratifica natalizia. [.] Cento, duecento
gratifikation bekommen. Hundert, zweihun-
franchi. [***] Nessuno parla di assegnare
dert Franken. [***] Keiner redet davon,
una gratifica natalizia [.] agli anziani.
den Alten eine Weihnachtsgratifikation zu-
[***] Ma perché il primo ha parlato di
zuteilen. [***] Aber warum wenn der erste
ghettizzare gli anziani e tutti:
davon redet, die Alten zu ghettoisieren, und
„ghettizziamo gli anziani!“, tutti indiet-,
alle: „Ghettoisieren wir die Alten!“, alle
non si son resi conto di quello che vogliono. dahint-, habe sich nicht überlegt, was sie da [.] Pur di mettersi in mostra, pur di mettersi wollen. Anstatt sich in Szene zu setzen, sich in evidenza, perché [.] ah l’ha detto quello,
zu bestätigen, weil, ah, der hat’s gesagt,
lo dico anch’io, ah lo dice anche l’altro e
dann sag ich’s auch, dann sagt’s der andere
tutti insieme [.]„ghettizziamo gli anziani“,
auch, und alle zusammen „ghettoisieren wir
[.] affinché agli anziani vengono dati gli
die Alten“, damit die Alten ihre Spaghetti
spaghetti.
bekommen.
(Transkript Genni 2, 16/26 – 17/14) Die Beobachtung, die Marco hier in markige Worte fasst, hat etwas für sich: Die Arenen, in denen Institutionen und informelle Vereinigungen Anliegen zur Diskussion stellen, welche sie im Namen einer Gruppe formulieren, die sie zu vertreten postulieren, sind zweifelsohne auch Arenen für Selbstdarsteller und Mitläufer. Und die Frage, wen eine Interessenvertretung nun tatsächlich vertritt und wen nicht, ist immer eine heikle Angelegenheit. Wie sich z.B. die ‚italienische Gemeinschaft in Bern‘ zusammensetzt, ob alle dieselben Interessen teilen und ob sich auch alle von den Interessensvertretern vertreten lassen wollen, ist stets auszuhandeln. Und Institutionen, die sich der Interessenvertretung verschrieben haben, entwickeln auch einen gewissen Selbsterhaltungstrieb, und spätestens dann, wenn sie auch Strukturen ausgebildet und Gelder zur Verfügung haben,
562 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
stehen sie unter Legitimationsdruck und müssen beweisen, dass sie auch etwas tun für diejenigen, deren Interessen sie vertreten wollen. So gesehen ist das, was Laura und Marco hier anführen, die unausweichliche Kehrseite der Medaille Interessenvertretung, deren Vorderseite hier keine Würdigung findet. Die Gennis waren ja auch nie in der Position, dass sie auf Vertretung ihrer Interessen angewiesen gewesen wären. Sie haben, auch was ihre Lebenszeit in der Schweiz betrifft, immer über genügend Ressourcen verfügt, um ihre Interessen selber durchzusetzen. Das komfortable Leben in Bern und die Option der Rückkehr Das Ehepaar Genni befindet sich, nicht zuletzt aufgrund ihrer Ressourcen, auch jetzt im Alter in einer relativ bequemen und ruhigen Situation. Beide sind körperlich in guter Verfassung, um die Finanzen brauchen sie sich nicht zu sorgen, so dass auch eine allfällige zukünftige Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder eine Einschränkung der Selbständigkeit nicht allzu bedrohlich erscheint. In der gemeinnützigen Arbeit im Rahmen kirchlicher Initiativen und insbesondere in der Betreuung der Enkelkinder haben Marco und Laura zudem eine Aufgabe gefunden, die sie mit Befriedigung und Freude erfüllt. Aufgrund der finanziell gesicherten Situation der Familie hat Laura ihre Erwerbstätigkeit früh aufgegeben und sich darauf konzentriert, ein ‚gemütliches Zuhause‘ zu schaffen, in dem auch Aufgaben für Marco warteten, als er seine Berufstätigkeit aufgab. Daneben blieb Laura genug Raum, um eigenen Interessen nachzugehen, die sie früher auch im Rahmen ihres Berufes als Lehrerin ausleben konnte: das Singen im Chor, das Schreiben von Texten, das Nachdenken und Debattieren über moralische Fragen – Dinge, die sich sehr gut im Rahmen der kirchlichen Freiwilligenarbeit verwirklichen lassen. Marco hat sich nach seiner Pensionierung, offenbar sehr bereitwillig, voll und ganz in die familiären Pflichten und außerhäuslichen Aktivitäten von Laura einbinden lassen. Dadurch profitiert er jetzt auch von Netzwerken, die Laura aufbauen und pflegen konnte, während sie ihre Ressourcen nicht mehr in Erwerbsarbeit und auch nicht mehr voll in die Betreuung der Kinder stecken musste. Eine Wohlstands-Idylle also, die auf einer klaren geschlechtlichen Arbeitsteilung beruht, welche jedoch für beide Ehepartner ein passendes und lohnendes Arrangement gewesen zu sein scheint, eine Rechnung, die für beide aufgegangen ist. Für den Moment also scheint alles in Ordnung zu sein, und es gibt keinen Anlass, etwas an der Situation zu ändern. Dennoch ist, wie grundsätzlich für alle Migrant/innen, auch für die Gennis die Option einer Rückkehr latent vorhan-
D AS E HEPAAR G ENNI
| 563
den18. Diese Option könnte in der Zukunft wieder realistischer werden: Laura wünscht sich ja, sobald sie nicht mehr für sich selber sorgen kann, von Tochter oder Schwiegertochter umsorgt zu werden, und falls es die Tochter sein sollte, so müsste Laura nach Italien zurückkehren. Die Option einer Rückkehr könnte aber auch in der Vergangenheit präsenter gewesen sein, als sie es im Moment ist, und deshalb frage ich auch bei den Gennis bereits im ersten Gespräch danach: E: Eeh, il tema di ritornare, non era mai
E: Eeh, das Thema des Rückkehrens, war
un tema per Lei?
das nie ein Thema für Sie?
L: Eeeh sì, avevamo una mezza intenzione, L: Eeeh ja, wir hatten eine halbe Intention, eeh ma poi abbiamo comprato la casa
eeh aber dann haben wir das Haus ge-
[schnell gesprochen] e poi eh sono
kauft [schnell gesprochen] und dann eh
arrivati i bambini di mio figlio e
sind die Kinder meines Sohnes gekom-
quando ci sono i bambini- altrimenti,
men, und wenn Kinder da sind- sonst
magari avremmo fatto sei mesi là e sei
hätten wir vielleicht sechs Monate dort
mesi qua.
und sechs Monate hier gemacht.
M: No, non avremmo fatto sei mesi là e sei
M: Nein, wir hätten nicht sechs Monate
mesi qua. L:
Luglio e agosto qui. Ma [.] sarei
dort und sechs Monate hier gemacht. L:
Juli und
andata io volentieri in Italia. Sarei
August hier. Aber ich wäre gern nach
andata volentieri. Lui no, è più qui. Io e
Italien gegangen. Wäre gern gegangen.
mia figlia tendiamo più verso l’Italia,
Er nicht, er ist mehr hier. Ich und meine
lui e i figli più verso qui. [***]
Tochter tendieren mehr Richtung Italien, er und die Kinder mehr Richtung hier. [***]
M: Ma poi dato che noi ormai viviamo qui da trentaquattro anni, non da un
M: Aber da wir ja jetzt seit vierunddreißig Jahren hier leben, nicht seit einem Tag,
giorno, [.] ci siamo abituati [.] con
haben wir uns, mit viel Leiden, an dieses
molta sofferenza [.] a questo ambiente.
Ambiente gewöhnt.
L: Beh, lui ogni tanto [***] dice: „Le mie
L: Nun, er, immer mal wieder [***] sagt
18 Remigration (oder auch eine erneute Migration) ist immer eine mögliche Handlungsstrategie in Situationen, die nach einer Veränderung verlangen – unabhängig vom Fall Genni. Migrationserfahrungen lagern sich in Erfahrungsaufschichtungen ab, und insbesondere wenn die Migration sich als im Großen und Ganzen ‚erfolgreiche‘ oder ‚praktikable‘ Strategie bewährt hat, dann bleibt sie als mögliche Handlungsstrategie auch für die Zukunft bestehen, so meine These.
564 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
prigioni“, dico „chi telo fa fare le tue
er: „Mein Gefängnis“, sage ich: „Wer
prigioni? Andiamo!“, „e i bambini? “
lässt dich das zu deinem Gefängnis machen? Gehen wir!“ – „und die Kinder?“
M:
Dove
M:
L: M:
Wo gehen wir hin? Mit zwe-
andiamo? [.] A settE i bambini? A sett- a
L:
Und die Kinder?
M:
Mit zwe-, mit
settantadue anni devo andare, dove
zweiundsiebzig Jahren muss ich gehen,
vuoi che vada [sehr leise gesprochen]?
wo denkst du soll ich hin [sehr leise gesprochen]?
(Transkript Genni 1, 14/37-15/31) Laura hatte also eine ‚halbe Intention‘, wäre ganz gerne zurückgekehrt, hätte sich auch ein Pendeln vorstellen können. Marco fällt ihr hier unverzüglich ins Wort, macht klar, dass er die Vision des Sowohl-hier-als-auch-dort für unrealisierbar hält. Lauras Reaktion macht dann noch klarer, dass die beiden nicht gleicher Ansicht waren bezüglich einer Rückkehr, und es scheint so, als hätte Laura sich nicht durchsetzen können. Die halbe Intention zur Rückkehr, die Laura hatte, wurde in ihrer Darstellung durch den Hauskauf im Keim erstickt. Der Hauskauf hat also die Frage der Rückkehr entschieden. Zeitlich fällt der Hauskauf in die Periode, in der die Kinder der Gennis nicht mehr in Bern zur Schule gingen. Die angemietete Wohnung war nun viel zu groß für Laura und Marco (Transkript Genni 1, 10/15). Dass für Laura gerade in diesem Moment eine Rückkehr zur realistischen Handlungsoption wurde, erstaunt nicht. Laura hatte ihre Berufstätigkeit aufgegeben, um besser dafür sorgen zu können, dass die Kinder in der Berner Schule zurechtkamen. Nun entfiel diese Aufgabe, es waren keine Kinder mehr zu versorgen, nur noch der Haushalt und der Ehemann. Während sich Lauras Alltag veränderte und Raum öffnete für neue Perspektiven, für die Suche nach neuen Aufgaben, blieb Marcos Alltag größtenteils derselbe: er war nach wie vor fünf Tage die Woche erwerbstätig. Man könnte nun denken, dass Marco sich durchgesetzt hat, dass Laura zurück wollte, er aber nicht auf ihren Wunsch einging. Doch in der gemeinsamen Erzählung der Gennis dazu, wie es zum Hauskauf kam, sagt Marco, dass Laura ihn damals auf die Neubauten aufmerksam gemacht habe (Transkript Genni 1, 10/17f), dass er nicht einmal gewusst habe, wo die Gegend liege, in der gebaut wurde. Der Hauskauf ist also nicht allein auf Marcos Initiative hin getätigt worden. Und er ist auch nicht das Einzige, was Laura davon abhält, ihre Vision von einer Rückkehr nach Italien durchzusetzen, denn dann kommen noch ‚die Kinder des Sohnes‘, und diese
D AS E HEPAAR G ENNI
| 565
Kinder klärten die Frage vollends: ‚wenn Kinder da sind‘, dann kommt Pendeln nicht mehr in Frage. Zumindest wenn diese Kinder auf die regelmäßige Betreuung der Großeltern angewiesen sind, und das sind sie in der Darstellung von Marco und Laura sehr ausgeprägt. Für Laura, die ja sagt, sie sei diejenige gewesen, die habe zurückkehren wollen, bringen die Kinder des Sohnes eine neue Aufgabe in ihr Leben, zu einem Zeitpunkt, wo die eigenen Kinder selbständig geworden und der Ehemann noch erwerbstätig war. Somit ist Lauras Rückkehrintention vorläufig vom Tisch. Als Vision, als mögliche Option bleibt sie jedoch bestehen, wie auch Lauras Abwägen über ihre Pflege im Alter weiter oben zeigt. Denn vor allem auch das Argument der Kinder, welche die Großmutter brauchen, kann sowohl eines für den Verbleib in Bern wie auch für die Rückkehr nach Italien sein. Im Moment scheint es, als würden die Enkelkinder in Bern die Betreuung der Gennis mehr benötigen als die Enkelkinder in Italien. Doch die Entscheidung für den Verbleib in Bern will Laura dennoch nicht als definitiv verstanden wissen. Sie achtet darauf, die Rückkehroption im Spiel zu behalten. Für Marco hingegen scheint die Entscheidung definitiv gefallen zu sein. Er macht deutlich, dass er sich hier in Bern zu Hause fühlt und dass er hier zu bleiben gedenkt. Während Laura für etwas votiert, was nicht ist, aber sein könnte, beharrt Marco auf dem Zustand, der momentan ist. Das macht es für ihn auch wesentlich einfacher, eine klare Position zu vertreten. Dennoch unterlässt Marco es nicht zu betonen, dass die ‚Gewöhnung‘ an ‚das Ambiente‘ in Bern mit beträchtlichem ‚Leiden‘ verbunden war. Für Marco ist es also auch in gewisser Weise passiert, dass er hier bleiben will, es war nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung für die Schweiz. Damit entlastet sich Marco auch von der Lesart, durch seine berufliche Karriere Tatsachen geschaffen zu haben, die nicht den Wünschen von Laura entsprechen. Doch ‚im Grunde‘ geht es ihm gut hier in Bern. Laura ihrerseits macht darauf aufmerksam, dass auch Marco sich seiner Sache nicht immer so sicher ist. Sie besteht darauf, dass auch er manchmal unglücklich sei, dass er hier in Bern etwas nicht ausleben könne, was er in Italien ausleben könnte, nämlich seine Geselligkeit. Die wenigen freundschaftlichen Kontakte, die sich Marco hier aufbauen konnte, sind Kontakte zu Italienern, und diese nehmen – vermutlich nicht zuletzt durch Remigration – zunehmend ab. Und so führt Laura an, dass Marco die Schweiz manchmal auch als ‚Gefängnis‘ empfinde, was ihr wiederum eine Möglichkeit gibt, ihn auf das immer noch bestehende Hintertürchen der Remigration aufmerksam zu machen. Laura, die hier mir gegenüber von ihrem Mann in der dritten Person spricht, als wäre er nicht anwesend, beansprucht damit auch die Definitionsmacht über seine Befindlichkeit: Sie ist diejenige, die mir erklären kann, wie er sich fühlt,
566 | EIN L EBEN HIER GEMACHT
die mir sagen kann, dass auch er seine ambivalenten Momente hat. Damit bricht Laura die klaren Positionen – Marco für den Verbleib, Laura für die Rückkehr – kurz auf, um dann aber in ihrem abschließenden fiktiven Dialog diese Positionszuweisungen gleich wieder zu bestätigen. Es wäre denkbar, dass die Entscheidung über den Aufenthaltsort zwischen Marco und Laura immer noch ausgefochten wird, dass Marco derjenige ist, der über die größere Macht verfügt und seine Präferenz bisher durchgesetzt hat, dass Laura aber diese Entscheidung immer mal wieder herausfordert und in Frage stellt. Die klare Zuordnung von Positionen in der oben zitierten Passage könnte aber, so habe ich den Eindruck, nicht nur ein immer noch aktuelles Ringen um eine Entscheidung widerspiegeln, sondern auch der Artikulation und Legitimation einer bereits gefällten Entscheidung dienen, zu der beide eine ambivalente Beziehung haben, was aber gerade auch durch die Zuspitzung der Positionen und der Anbindung dieser Positionen an Laura und Marco kommunizierbar wird. So gesehen dient die eindeutige Zuordnung der Entwicklung einer klaren Argumentationslinie und der Illustrierung des Für und Wider im Rahmen der Interviewinteraktion. Unter diesem Fokus weichen sich die Positionen auch im Hinblick auf das eheliche Machtgefüge etwas auf: Laura ist nicht mehr unbedingt die Unterlegene und Marco derjenige, der sich durchgesetzt hat, sondern er übernimmt den Part des Verteidigens des Ist-Zustandes, während sie die Rolle übernimmt, die Gegenargumente anzuführen. So erscheint Marco als derjenige, der gegen außen auf seiner Position beharrt, der die Entscheidung als eindeutig und definitiv bezeichnet, während Laura abwägt und auch andere Möglichkeiten offen lässt. Doch wohin würde das Ehepaar Genni überhaupt ‚zurückkehren‘? An den letzten Wohnort vor der Migration in die Schweiz? An den Geburtsort von Marco? Oder an denjenigen von Laura? Oder dort, wo Verwandte leben? Am nahe liegendsten wäre wohl eine Rückkehr an einen Ort, wo man bereits ein Dach über dem Kopf hat. Ich erinnere mich, dass Marco in einem ersten Kontakt einmal einen Immobilienerwerb in Apulien erwähnt hat, ein Haus, in dem seine Schwester jetzt lebe und in dem sich auch ein kleines Geschäft befinde. Im Kontext der Rückkehr darauf angesprochen (Transkript Genni 1, 15/32f), betont Marco jedoch, das Haus habe er zwar gekauft, aber es gehöre nicht ihm, sondern seiner Schwester. Damit macht Marco diese Option zu einer nicht zur Debatte stehenden Möglichkeit. Laura ihrerseits kann sich zumindest eine Rückkehr nach Apulien auch nicht vorstellen, doch eine andere Option erscheint ihr sehr wohl denkbar, nämlich zur Tochter in Rom: Nostra figlia ci accoglierebbe a braccia
Unsere Tochter würde uns mit offenen Ar-
aperte, [.] ha l’appartamento grande,
men aufnehmen, hat eine große Wohnung,
D AS E HEPAAR G ENNI
potremmo vivere da lei, ma – Tante volte
| 567
wir könnten bei ihr leben, aber – So oft sag
dico: „Vado un poco in Italia, vado da mia
ich: „Ich gehe ein wenig nach Italien, gehe
figlia a vedere gli altri nipoti“ [schnell
zu meiner Tochter, um die anderen Enkel zu
gesprochen] e poi dico: „E come fanno
sehen“ [schnell gesprochen] und dann sag
questi altri due?“ [***] La mamma lavora
ich: „Und wie machen es die anderen bei-
tutto il giorno, il papà lavora, dove vanno a
den?“ [***] Die Mama arbeitet den ganzen
mangiare?
Tag, der Papa arbeitet, wo sollen sie essen gehen?
(Transkript Genni 1, 16/9 – 16/17) Wenn also eine Rückkehr nach Italien, dann zur Tochter, die in Rom lebt, und erst dann, wenn die Enkelkinder in Bern ihre Großeltern nicht mehr brauchen. Und im Moment empfindet sie ihre Anwesenheit und ihren Einsatz für die Kinder des Sohnes als unentbehrlich, sie fühlt sich verantwortlich für deren Wohlergehen. Und es scheint für sie klar zu sein, dass die Enkelkinder in Bern ihre Großeltern dringender brauchen als die Enkelkinder in Rom. Für Laura ist also ausschlaggebend, wo sie gebraucht wird. Für Marco hingegen ist wichtig, wo er sich wohl fühlt, und das ist, trotz der mageren sozialen Kontakte, inzwischen in Bern: M: Vado in Italia, sto volentieri 15 giorni,
M: Ich gehe nach Italien, bleibe gerne 14
[.] perché ancora incontro dei vecchi
Tage, denn ich treffe immer noch alte
amici [.] di quando si studiava e al
Freunde, von der Studienzeit, am Gym-
liceo e all’università. Però devo
nasium und an der Universität. Jedoch
confessare che quando io ritorno e
muss ich gestehen, dass wenn ich zu-
scendo alla stazione di Berna [.] dico:
rückkomme und am Bahnhof Bern aus-
„Finalmente [gedehnt] a casa mia!“
steige, sage ich: „Endlich [gedehnt] zu
L:
Hause!“
Ai ai ai che pace!
L:
Ei ei ei welche Ruhe!
M: Ed è la verità.
M: Und das ist die Wahrheit.
L:
L:
Perché lì è troppo caotico. Lì
Denn dort ist’s zu
è troppo caotico, troppo chiasso, si
chaotisch. Dort ist es zu chaotisch, zu
strilla.
viel Lärm, man schreit.
(Transkript Genni 1, 16/18 – 16/22) Marco fühlt sich also hier zu Hause, will in Bern bleiben – trotz der gelegentlichen Anflüge von Einsamkeit, die Laura ihm zuschreibt. Wie stellt er sich denn zu der von Laura portierten Option, in die Nähe der Tochter zu ziehen, wenn die
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Gennis (oder auch eine/r der beiden Ehepartner allein) auf Unterstützung angewiesen sein werden? E: E si potrebbe immaginare di ritornare
E: Und könnten Sie sich vorstellen, nach Italien zurückzukehren wenn’s vielleicht
in Italia se forse sarebbe necessario?
notwendig wäre? No, no [..] No. M:
M:
L: Non lo sappiamo, non lo sappiamo,
L: Wir wissen es nicht, wir wissen es nicht, das wissen wir nicht.
questo non lo sappiamo. Non credo lo escludo M:
M:
Ich glaube nicht, schließe es aus, kompl-, schließe es aus.
compl-, lo escludo. L:
Nein, nein. – Nein.
Noo tu non lo escludi
L:
Neein du
perché questo è un punto interrogativo,
schließt es nicht aus weil das ist ein
non si sa, [.] non si può sapere.
Fragezeichen, man weiß es nicht, man kann es nicht wissen.
Vabbé [.] non M:
M:
Na gut, ich weiß es-, weiß-,
lo s- non lo, nonn non lo so. Perché
weiß es nicht. Weil wir sind es schon
ormai siamo abituati a vivere qua in
seit so vielen Jahren gewohnt, hier in
Isvizzera da tanti anni, -
der Schweiz zu leben-
L:
No ma la signora
L:
Nein, aber die Dame sagt etwas anderes. Dass wir, nehmen
dice un’altra cosa. Che siamo, ammettiamo il giorno in cui, tra tanti
wir den Tag an, an dem, in so vielen
anni, noi non ce la faremo più a riusci-
Jahren, wir es nicht mehr schaffen, nicht
re ne eh! Eeh [.] non abbiamo tante
eh! Und wir haben nicht so viele
amicizie, non abbiamo tanti parenti
Freundschaften, haben nicht so viele
come in Italia [.] ma anche loro ormai
Verwandte wie in Italien, aber auch sie
sono diventati vecchi! [L. lacht laut]
sind jetzt alt geworden! [lacht laut]
M: Sono diventati vecchi.
M: Sind alt geworden.
E: Ma c’è la figlia, e c’è-
E: Aber da ist die Tochter, und da ist-
L:
L:
C’è la figlia in Italia
M:
Sì, c’è la figlia
L:
M:
ci sono i nipoti in Italia [.] ma c’è L: un figlio anche qui eeh- Forse per il
Da ist die Tochter in Italien Ja, da ist die Tochter da sind die Enkel in Italien, aber da ist auch ein
D AS E HEPAAR G ENNI
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Sohn hier, und- Vielleicht wegen dem
clima, forse per il clima, sì.
Klima, vielleicht wegen dem Klima, ja. M: Ma io cercherò in principio di non
M: Aber ich werde im Prinzip versuchen, nie zu gehen-, nie zu stören –
andare mai- di non disturbare mai [.] L:
I figli?
L:
Die Kinder?
M: l’esistenza dei figli.
M: die Existenz der Kinder.
L: Loro se hanno bisogno ricorrono a noi,
L: Wenn sie es nötig haben, wenden sie sich an uns, wir sind immer bereit,
noi siamo sempre pronti ad aiutarli.
ihnen zu helfen. M: E lo facciamo molto volentieri.
M: Und das machen wir sehr gern.
L:
L:
Lo stiamo facendo. Io sto sempre in cucina, [.]
das schon. Ich stehe immer in der
pranzo, cena e accudisco i bambini
Küche, Mittagessen, Abendessen und
sempre. [.] Ma che io debba dare
versorge die Kinder immer. Aber dass
fastidio a loro, [.] mai [.] mai.
ich sie belästigen müsste, nie, nie.
M:
No no.
L: Finché ce la farò stringerò i denti ma
M: L:
Wir machen
M:
Nein, nein.
L: Solange ich kann, werde ich auf die
mai – i figli devono vivere la loro vita,
Zähne beißen, aber nie – die Kinder
essere felici e contenti. [.] E poi non lo
müssen ihr Leben leben, glücklich und
so. Si vede! [lacht]
zufrieden sein. Und so weiß ich nicht. Wir werden sehen! [lacht]
Si vedrà, si vedrà. Si vedrà.
M:
Wir werden sehen, werden sehen.
L:
Werden sehen.
(Transkript Genni 2, 13/27 – 14/17) Interessant an dieser Passage ist insbesondere auch das Argumentationsverhalten von Laura. Marco beginnt damit, seine Position wie gewohnt in absoluter Weise zu vertreten, worauf Laura ihn mit Bestimmtheit und Hartnäckigkeit herausfordert, seine Absolutheit relativiert, um dann dazu überzugehen, sein Argument selbst zu vertreten und mir gegenüber zu erklären, als wäre es ihr Argument. Diese Passage stützt die These, dass es hier nicht um einen offen ausgetragenen Machtkampf geht, sondern um die performative Funktion des exemplarischen Abwägens von Argumenten für und gegen Rückkehr und Altenpflege in der Familie, in der Marco und Laura bestimmte Rollen übernehmen. Und so vertritt
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Laura hier überzeugend die Ansicht, dass sie ihren Kindern um keinen Preis zur Last fallen wolle, dass die Kinder ein Recht darauf hätten, ihr eigenes Leben zu leben. Die Pflege über Generationen wird hier also von Laura als eine einseitige Verpflichtung dargestellt, die lediglich von Eltern zu Kindern zu fließen hat. Diese Darstellung widerspricht der Sichtweise, die sie weiter oben – Marco war gerade abwesend – vertreten hat, als sie die ‚Mentalität‘ der Menschen ‚aus dem Süden‘ beschreibt. Dort bezeichnet sie die intergenerationelle Pflege-Verpflichtung als eine zyklisch-reziproke, in der die Rolle der Pflegenden und Pflegeempfangenden zwischen Eltern und Kindern, je nach Lebensphase, wechselt. Während es oben an den Kindern ist, die als Kleinkind empfangenen Pflegeleistungen an die betagten Eltern zurückzugeben, ist es hier die Pflicht der Eltern, Betreuung an die Kinder zu geben, ohne daraus ein Recht ableiten zu können, die Kinder in ihrer Freiheit einzuschränken. Fast erscheint es, als vertrete Laura hier nun eine ‚nördliche Mentalität‘, in der die Eltern eigenständig dafür zu sorgen haben, dass sie im Alter zurechtkommen, und dazu gehört das Delegieren von Pflegeleistungen an Dritte, das Einkaufen von Dienstleistungen, in letzter Konsequenz auch in Form von Altersheim-Plätzen. Vielleicht nimmt sie hier nun die Position von Marco ein, der ja nun anwesend ist, eine patronale Haltung, welche zwar ein großzügiges Geben an die Abhängigen vorsieht, aber die Option einer Umkehrung der Verhältnisse, oder nur schon den Gedanken, einmal selber von diesen abhängig zu werden, nicht zulässt. Dennoch ist auch Lauras implizit geäußerter Wunsch, bei allfälliger Pflegebedürftigkeit eventuell auf das Angebot ihrer Tochter zurück zu kommen, in deren Nähe zu ziehen, auch vereinbar mit der hier geäußerten Maxime, dass die Kinder ein Recht auf ihre Freiheit haben und dass Laura sie unter keinen Umständen belästigen wolle. Erinnern wir uns daran zurück, dass es in Lauras Formulierung ja nicht explizit die Alten sind, die eine ‚südliche Mentalität‘ der familiären Pflege vorziehen würden, sondern die Jungen, insbesondere die Töchter. Diese Sichtweise ermöglicht es Laura, auf die Unterstützung ihrer Tochter und Schwiegertochter zu zählen, ohne diese explizit einfordern zu müssen. Und Marco, dessen Sichtweise Laura hier mir gegenüber vertreten und erklären will – was dieser auch bereitwillig zulässt – gefällt sich in der Rolle des Patrons, der es zu etwas gebracht hat, der es sich leisten kann, seiner Schwester eine Wohnung zu schenken, seinen Kindern gute Ausbildungen zu finanzieren, der alles tut für seine Enkelkinder. Die Autonomie, die es ihm ermöglicht, so viel zu geben, ohne etwas dafür zu nehmen, will Marco auch in Zukunft möglichst beibehalten, möchte nicht in die Lage kommen, dass er selber zum Empfänger von wohltätiger Hilfe wird und in ein umgekehrtes patronales Verhältnis zu seinen Kindern gerät.
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7.5 D IE ZENTRALEN T HEMEN : S TATUS , Z UGEHÖRIGKEIT
UND
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D ISTINKTION
Laura und Marco Genni präsentieren sich mir, ausgeprägter als die anderen Ehepaare, in einer öffentlichen Paar-Version. Sie geben in den Interviews nicht nur, aber doch schwergewichtig das harmonische, perfekt organisierte gutbürgerliche Ehepaar, das seine moralischen Verpflichtungen gegenüber Familie, Gemeinschaft und Gesellschaft mit Freude wahrnimmt. Die Aufgabenbereiche sind in dieser öffentlichen Version des Paares klar aufgeteilt: Er kümmert sich um Beruf und Finanzen, sie um Haushalt und Kinder. Dabei werden die beiden Aufgabenbereiche behutsam als egalitäre Betätigungsfelder konstruiert: Beide Ehepartner tragen in separaten, aber sich ergänzenden Tätigkeitsfeldern in professioneller Weise zur Schaffung einer gegen innen harmonischen und gegen außen repräsentablen, vorbildhaften familiären Einheit bei. Obwohl in der paarbiographischen Repräsentation der Gennis die unterschiedlichsten Themen und Motive anklingen und einige davon auch ausführlich entwickelt werden, konzentriere ich mich hier auf die Themen Zugehörigkeit, Repräsentanz und Distinktion. Denn es ist insbesondere das Altern in der Migration, das mich interessiert, und dazu haben die Gennis etwas zu sagen. Sie vertreten explizit eine Meinung, und es ist eine Meinung, die quer liegt zum gegenwärtigen Konsens in der lokalen Politik, den Pflegeinstitutionen und der italienischen Migranten-‚Gemeinschaft‘. Das macht sie für mich als Interviewpartner interessant, und das macht für sie auch mein Projekt als Plattform der Meinungsentfaltung interessant. Und deshalb konzentriert sich das Fazit zum Fall Genni auch auf die biographische Herleitung und Kontextualisierung dieser Meinungsäußerung zum Altern der italienischen Migrant/innen in Bern. Es geht bei dem, was die Gennis zu sagen haben, um eine Botschaft an eine Teilöffentlichkeit, nämlich an diejenigen, welche sich an der Debatte beteiligen, ob und wie italienische Migrant/innen in Bern spezifisch altern und welche Maßnahmen diesbezüglich von wem zu ergreifen seien. Und gemäß dem arbeitsteiligen Modell des Ehepaares Genni obliegt die Öffentlichkeit dem Ehemann; an der internen Ausdifferenzierung aber ist die Ehefrau gleichberechtigt beteiligt. So ist es auch in den Interviews Marco, der die Meinungen, in markige Worte gefasst, kundtut, und es ist Laura, die differenziert, ausführt, kontextualisiert, erklärt. Gleichsam ist es auch Marco, der in der Präsentation der Paargeschichte die biographisch relevanten Entscheidungen gefällt hat, doch ist Lauras Einfluss auf das Geschehen keineswegs unbedeutend. Passend zum öffentlichen Idealbild der gutbürgerlichen Ehe ist Marco das gegen außen sicht- und hörbare
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Familienoberhaupt und Laura die starke und einflussreiche Partnerin im Hintergrund. Die Meinung, welche die Gennis im Hinblick auf die Debatte um das Altern in der Migration vertreten, wird über die Betonung von Status, Zugehörigkeiten und Distinktion von Beginn weg vorbereitet. Die ersten Worte, die ich mit Marco Genni gewechselt habe, haben sich diesbezüglich als charakteristisch für seine biographische Selbstpräsentation erwiesen: ‚mi hanno chiamato‘/,man hat mich gerufen‘, das ist es, was seine Migrationsgeschichte ausmacht. Marco bemüht sich auf verschiedenen Ebenen um Distinktion. Er betont damit seine Professionalität, sein kulturelles Kapital, und er demonstriert Standesbewusstsein. Damit schafft sich Marco im sozialen Gefüge, in dem er sich seit der Migration bewegt, eine singuläre Position. Einerseits versteht er sich als Teil der italienischen ‚Gemeinschaft‘ hier in Bern und wird von dieser auch als solcher wahrgenommen. Er spricht italienisch, ist italienischer Staatsbürger und pflegt Kontakte in migrationsspezifischen Netzwerken. Dennoch nimmt er innerhalb dieser Gemeinschaft auch eine Sonderposition ein. Er ist kein ‚Gastarbeiter‘, sondern aufgrund seiner hohen beruflichen Qualifikation hier, man hat ihn gebeten, hierher zu kommen, und er hat angenommen, weil es eine gute Karriereoption war, nicht weil er darauf angewiesen gewesen wäre. Marco verfügt über deutlich mehr ökonomische Ressourcen, und er gibt sich ‚kultivierter‘ als die ‚Gemeinschaft‘ Seine Ausstattung mit ökonomischem und kulturellem Kapital prädestiniert Marco für eine besondere Rolle innerhalb der italienischen ‚Gemeinschaft‘. Andererseits sticht Marco gerade deshalb auch aus der Gemeinschaft heraus, und dadurch wird er zum Außenseiter. Marco ist sich seiner Kapitalmacht bewusst und ist, entsprechend seiner ‚paternalistischen‘ Grundhaltung, auch sehr gerne bereit, insbesondere sein kulturelles Kapital auch weiterzugeben. Damit positioniert er sich als potenzieller Meinungsführer, ist aber gleichzeitig eben kein ‚Gastarbeiter‘ und kann die ‚Gemeinschaft‘ somit nur in einem hierarchischen Verhältnis vertreten. Während die einen ihn als würdigen Vertreter achten, zweifeln die anderen an, ob jemand wie er die italienische ‚Gemeinschaft‘ in Bern adäquat repräsentieren könne. Und deshalb nehmen die Distinktions-Bemühungen von Marco, insbesondere im Hinblick auf Fragen des Alterns, eine derart zentrale Stellung ein. Marcos Distinktionsbestrebungen richten sich insbesondere auf den ‚öffentlichen‘ Bereich der italienischen ‚Gemeinschaft‘ in Bern und darauf, wie diese die spezifischen Bedürfnisse von italienischen Migrant/innen im Alter auf die lokale politische Agenda setzen soll. Wie sich diese Gemeinschaft zusammensetzt, die
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man als ‚ethnische Gemeinschaft‘ bezeichnen kann19, wer dazu gehört und wer nicht, und inwiefern es sich tatsächlich um eine ‚Gemeinschaft‘ handelt, ist eine weitläufige Frage. Was ich hier, auch in Anlehnung an deren Selbstbeschreibung, als Ausdruck einer ‚ethnischen Gemeinschaft‘ behandle, ist ein loses Netz von Kooperationen zwischen verschiedenen Migrationsorganisationen, die postulieren, die ‚communità italiana a Berna‘ zu vertreten und mit Dienstleistungen zu versorgen. Aus dem vielfältigen und breit gefächerten Angebot von Vereinen und Institutionen, die in Bern im Kontext der italienischen ‚Gastarbeiter‘-Migration entstanden sind, sind dies ein paar wenige, und es sind insbesondere jene, die über finanzielle und personelle Ressourcen verfügen, sei es von öffentlichen Stellen, von Gewerkschaften oder von religiösen Institutionen. Die Frage, wer in diesem Konglomerat von unterschiedlichen Organisationen mit unterschiedlichen Interessen nun wen vertreten kann und muss, war immer umstritten (vgl. Soom/Truffer 2000 und Soom Ammann 2006) und ist es auch noch heute. Bezeichnend für die Frage des Alterns in der Migration ist hier, dass das Vereinswesen sich zusehends in der Krise befindet, dass die ursprünglichen Funktionen, welche die Vereine für die Migrant/innen erfüllt haben, inzwischen an Bedeutung verloren haben. Migrationsorganisationen entstehen häufig als Mittel zur Selbsthilfe in der Migration und tendieren allgemein dazu, im Laufe einer Migrationsgeneration wieder zu verschwinden (Schrover/Vermeulen 2005: 824) Einige Vereine jedoch etablieren sich, werden zu Institutionen mit eigenen Ressourcen und müssen über ihre Arbeit auch Rechenschaft ablegen. Diese Organisationen tendieren dazu, ihre Tätigkeitsbereiche den sich wandelnden Erfordernissen der Umwelt anzupassen. Und das Thema des Alterns in der Migration ist eines der wenigen Themen, die sich gegenwärtig als Aktionsfelder für die verbleibenden Migrationsorganisationen anbieten. In Bern sind es gegenwärtig zwei Typen von Organisationen, die sich in diesem Feld betätigen. Einerseits sind es kirchliche Stellen, andererseits sind es Organisationen, die sich im Laufe der sozialpolitischen Auseinandersetzungen um Arbeits- und Sozialrechte für ‚Gastarbeiter/innen‘ herausgebildet resp. etabliert haben. Während die einen im Laufe der Geschichte eher dazu tendiert haben, die Symptome sozialer Missstände zu mildern und ‚kulturelle Werte‘ zu bewahren, haben die anderen sich eher darauf konzentriert, soziale Missstände mittels verschiedenster Maßnahmen (durch Information, Bildung, Dienstleistung
19 Die ‚Gemeinschaft‘ italienischer Migrant/innen in Bern wird in der Regel als verbunden durch das Kriterium der Herkunft aus demselben Staat wahrgenommen; innerhalb dieser Gruppen finden sich jedoch auch diverse andere Differenzlinien, insbesondere regionale, die je nach Kontext bedeutsamer werden können als die nationale.
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und politische Arbeit) zu beheben. Während diese beiden Typen sich lange parallel zueinander entwickelt haben, sind sie nun mit der Verengung ihre Aktivitätsfelder zunehmend darauf angewiesen, zusammenzuarbeiten und trotz der traditionell divergierenden Auffassungen und Ziele einen Konsens zu finden, um Kräfte zu bündeln und Anliegen durchsetzen zu können. Die Fragen, was die alternden Mitglieder der ‚Gemeinschaft‘, welche diese Organisationen repräsentieren wollen, denn nun wirklich brauchen, wie entsprechende Angebote einzurichten sind, wer sie finanzieren soll und welche Kooperationspartner/innen mit einbezogen werden müssen, bestimmen dieses Aktivitätsfeld. Und in diese Auseinandersetzungen über Bedürfnisse und Repräsentanzen ist Marco geraten durch seine paternalistische Haltung und seine Kontakte zur kirchlichen Freiwilligenarbeit. Marco ist einerseits ein Vertreter der Zielgruppe – pensionierter italienischer Migrant – und andererseits verfügt er über ein Gut, das sich einsetzen lässt in der Altenarbeit, nämlich sein kulturelles Kapital. Deshalb wird er von Organisationsvertretern der kirchlichen Linie angegangen, ob er sich im Rahmen eines Volontariats nicht für die Alten in der ‚ethnischen Gemeinschaft‘ einsetzen und Bildungsveranstaltungen anbieten wolle. Marco fühlt sich geschmeichelt und ist grundsätzlich der Überzeugung, dass es Aufgabe derjenigen ist, die mehr haben, diejenigen zu unterstützen, die weniger haben. Doch diese Haltung verträgt sich schlecht mit der politisch orientierten Linie der Organisationstätigkeit, die sich mit Fragen von Gleichheit und Gerechtigkeit in geschichteten Gesellschaften und insbesondere im transnationalen Raum des ‚Gastarbeiter‘-Systems beschäftigt hat, und zwar aus der Perspektive der Unterschicht. Aus dieser Perspektive betrachtet wird nachvollziehbar, warum Marcos wohlwollendes Engagement für Bildung im Pensionsalter nicht nur auf positives Echo gestoßen ist und Marco in eine Randposition innerhalb der ‚ethnischen Gemeinschaft‘ gedrängt wurde, in der er sich durch Distinktion verteidigen muss. Auch im Bereich der Familie widerspiegelt sich die ‚paternalistische‘ Haltung von Marco, und dort wird sein Anspruch auf Repräsentanz gegen außen nicht angefochten20. Seine Familie ist sein persönlicher ‚Verein‘, dessen Präsident er ist, und in diesen ‚Verein‘ steckt er sein ganzes Herzblut. Insbesondere die nachfolgenden Generationen der Kinder und Enkelkinder sind das Ziel seiner Bemühungen, und der Fluss von Unterstützungsleistungen ist nach Marcos Vor-
20 Seine Position als Patron der Familie – oder, um im symbolischen Bild zu bleiben, als Vereinspräsident – wird von Gianna offiziell gestützt, doch an der Ausformulierung der inneren Struktur und der Inhalte der ‚associazione Genni-Moreglio‘ ist sie genauso beteiligt wie er.
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stellungen auch hier einseitig: er gibt, und die Nachkommen nehmen. Auch wenn ihn die Enkelbetreuung glücklich macht, wenn diese Aufgabe seinen Alltag als Pensionär mit Sinn füllt, so ist es – in der offiziellen Repräsentation – dennoch ‚Arbeit‘, es ist seine Leistung zum Wohle seiner Familie. Es ist seine Verantwortung als Patron, den nachfolgenden Generationen Freiheiten zu ermöglichen, aber keinesfalls denkbar, deren Leben durch Ansprüche an sie einzuschränken, ihnen zur Last zu fallen. Laura vertritt eine etwas andere Sichtweise, sie versteht familiäre Solidarität stärker als ein zyklisches Geben und Nehmen. Im außerfamiliären Bereich hingegen unterstützt sie Marco in seinen Ansichten. Sie teilt seine Argumente, und sie ist auch diejenige, welche seine markigen Ansichten erklären und in diplomatischere Worte fassen kann. Laura hat sich dem Lebensentwurf von Marco überhaupt perfekt angepasst, ohne aber den Eindruck zu erwecken, als dass sie sich hätte unterordnen müssen oder als dass sie ihm nicht ebenbürtig wäre. Laura und Marco sind auf der einen Seite ein bürgerliches Ehepaar, in dem eine strikte Arbeitsteilung gilt: Er macht die berufliche Karriere, versorgt die Familie mit ökonomischen Ressourcen und ist zuständig für die sozialen Kontakte, die sich aus seinem Berufsleben ergeben. Sie organisiert ein perfekt organisiertes Zuhause und ist verantwortlich dafür, dass die Kinder versorgt sind und möglichst gute Schulkarrieren absolvieren. Die Entscheidungsmacht liegt offiziell bei Marco als dem Patron der Familie Genni – er entschied über die Migration, über die Einschulung der Kinder, über die Remigration. Laura ihrerseits macht aber keineswegs einen untergeordneten, sondern einen ebenbürtigen Eindruck. Sie unterstreicht dies damit, dass sie sich – gleich wie Marco – als Subjekt mit Bildung und vor allem mit einer Profession präsentiert. Sie ist Lehrerin, sie ist ihrem Mann intellektuell ebenbürtig, und sie ist nach der Heirat keineswegs nur Hausfrau und Mutter, sondern auch berufstätig. Und auch sie verfügt über Standesbewusstsein, denn sie gibt ihre Berufstätigkeit genau dann auf, wo es sich mit ihrem Familienleben nicht mehr vereinbaren lässt, auf dem vorgesehenen Niveau berufstätig zu sein. Und ein Rückschritt in der Karriere, das liegt nicht drin, dann schon eher die für eine bürgerliche Ehefrau mit Prestige verbundene Arbeit im häuslichen und karitativen Bereich. Das Standesbewusstsein der Gennis drückt sich auch darin aus, dass sie ihre Ressourcen im Rentenalter nicht nur in ihre Familie stecken, sondern auch in die kirchliche karitative Arbeit. Wohlhabend zu sein bringt die moralische Verpflichtung mit sich, andere auch teilhaben zu lassen, so sehen es die Gennis. Während Laura klassische kirchlich-karitative Aufgaben wahrnimmt, setzt Marco dies einerseits darin um, dass er Laura mit Begleitung und Fahrdiensten unterstützt, andererseits damit, dass er andere an seiner Bildung teilhaben lässt,
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indem er Vorträge hält. Auch in dieser Hinsicht äußert sich das patronale Verständnis, das die Gennis auch in ihrer Familie pflegen: Patrons geben. Allerdings erwarten sie als Gegenleistung dafür auch Dankbarkeit, Respekt und Ehrerbietung. Im Kreise der Familie wie auch in der kirchlichen Wohltätigkeitsarbeit ließ sich dieses Konzept umsetzen. Im Hinblick auf die ‚Gemeinschaft‘ italienischer Migrant/innen in Bern hingegen schien dieses hierarchische Konzept von Solidarität und Wissensvermittlung nicht nur auf Akzeptanz gestoßen zu sein. Das Ehepaar Genni sticht in verschiedener Hinsicht aus dem Stereotyp der alternden Migrant/innen heraus, welches von mehrfach marginalisierten Subjekten ausgeht. Auf der einen Seite sind die Gennis in besonderem Maße privilegiert, z.B. was das ökonomische Kapital betrifft. Und nicht zuletzt auch aufgrund der beruflichen und ökonomischen Privilegiertheit erfreuen sich die beiden auch eines guten gesundheitlichen Zustandes. Auf der anderen Seite sind die Gennis aber auch sozial marginalisiert. Innerhalb der ‚Gemeinschaft‘ italienischer Migrant/innen ist ihre Privilegiertheit ein Sonderfall, und ihr Statusbewusstsein hat verhindert, dass sie in der ‚Gemeinschaft‘ uneingeschränkt akzeptiert sind. Auch in der Gesamtgesellschaft sind die Gennis ein Sonderfall geblieben, es ist ihnen nicht gelungen, die wenigen sozialen Beziehungen, die sich außerhalb der italienischen ‚Gemeinschaft‘ im Alltag ergeben haben, zu bleibenden sozialen Kontakten auszubauen: Die Arbeitsbekanntschaften von Marco hielten nicht über die Verrentung hinaus, und die nachbarschaftlichen Kontakte blieben distanziert. So gesehen durchkreuzen Marco und Laura Genni das Stereotyp der spezifischen Altersprozesse von Migrant/innen aufgrund ihrer Marginalisierung in mehrfacher Weise. Schichtspezifische Herkunft, berufliche Qualifikation, Ausstattung mit Ressourcen und davon abgeleitetes Statusbewusstsein geben dem Altern allgemein und dem migrationsspezifischen Altern in diesem Fall eine ganz andere Konnotation. Allerdings ist, und das zeigt dieser Fall auch, ökonomisch privilegiertes Altern nicht zwangsläufig auch ein problemloses Altern. Soziale Isolation und fehlende Anerkennung sind ein kontroverses Thema, und die Auseinandersetzung mit den Kosten der Migration, insbesondere für die Kinder, ist auch in diesem Fall präsent. Ebenfalls quer zur Kategorie ‚alternde italienische ‚Gastarbeiter/innen‘ in der Schweiz‘ liegt das Ehepaar Rocca. Im Falle der Roccas ist es nicht die soziale Schicht, sondern das Kriterium der Staatszugehörigkeit, das sie zu ‚untypischen‘ italienischen Migrant/innen macht. Wie die Gennis, so durchkreuzen auch die Roccas die stereotypisierten Vorstellung von einem ‚ethnischen‘ Altern, und wie die Gennis sind auch die Roccas marginalisiert, allerdings in ganz anderer Weise.
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7.6 E INE ANDERE S ICHTWEISE AUF Z UGEHÖRIGKEIT UND D ISTINKTION : D IE R OCCAS Das Ehepaar Rocca fällt mir beim Besuch eines Senioren-Nachmittags in einer kirchlichen Organisation auf. An diesem Nachmittag wird Bingo gespielt. Während vorne die gezogenen Zahlen in italienischer Sprache ausgerufen werden, beobachte ich, wie ein etwas untersetzter Mann in Hosenträgern immer mal wieder laut mit „Hä?“ reagiert, worauf die kleine, kurzhaarige Frau an seiner Seite ihm die gezogenen Zahlen noch einmal laut aufsagt, und zwar in Berndeutsch mit italienischem Akzent. Das macht mich neugierig. Ein paar Wochen später sehe ich das Paar wieder, diesmal am Seniorennachmittag einer anderen kirchlichen Institution. Dort spreche ich die beiden an und stoße mit meinem Interesse an Lebensgeschichten bei Herrn Rocca auf weit geöffnete Türen. Während Herr Rocca mir beteuert, wie viel er da zu erzählen habe, zieht Frau Rocca sich zurück und wendet sich anderen Personen im Saal zu. Herr Rocca meint, ich dürfe gerne zu ihm kommen, aber bitte nur, wenn ich auch genügend Zeit mitbringen würde. Einmal sei eine Journalistin zu ihm gekommen, um seine Geschichte aufzuzeichnen, doch die habe nur eine Stunde Zeit gehabt. Da habe er sie gleich wieder vor die Tür gesetzt. Johann Rocca, so schließe ich aus dieser ersten Begegnung, hat also Gewichtiges zu erzählen. Erst im Laufe des zweiten Gespräches gelingt es mir, Isabella Rocca einzubeziehen, und es stellt sich heraus, dass auch sie gerne und lebhaft erzählt. Nachdem sie sich das Gesprächsterrain einmal erobert hat, gibt sie auch nicht so rasch wieder auf, obwohl Johann immer mal wieder versucht, auf seine Geschichten zurück zu kommen. Zwar entsteht die eine oder andere gemeinsame Erzählung, doch dominieren anekdotenhafte Geschichten aus dem Leben der einen oder anderen Person. Die Roccas als Familie sind kaum Gegenstand dieser Erzählungen. Im Mittelpunkt steht, wie gut, wie spektakulär, wie außergewöhnlich die zu erzählenden Geschichten sind. Johann erzählt seine Geschichten assoziativ und verbindet die einzelnen Episoden nur minimal miteinander. Sein Erzählprojekt als Ganzes hingegen verfolgt er sehr konsequent. Auf Zwischenfragen meinerseits reagiert er so gut wie nie. Johann spricht Berner Dialekt, Isabella italienisch mit regelmäßigen berndeutschen Einschüben. Ihre Erzählweise ist gekennzeichnet von Witz und Ironie und legt viel Wert auf die Einbindung von Freunden und Bekannten. Isabella besitzt ein kleines Notizbuch, in dem sie die Eindrücke ihrer Migration in prosaischer und auch in Versform festgehalten hat. Aus diesem Buch liest Isabella während des Interviews vor. Isabella, geboren 1920 im norditalienischen Friaul, und Johann, geboren 1921 im luzernischen Entlebuch, lernten sich in Bern kennen und sind seit 1955
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verheiratet. Isabella und Johann – oder Nanni, wie sie ihn nennt – necken sich zwischendurch, manchmal recht derb, worüber beide herzlich lachen. Mir gegenüber verhalten sie sich sehr offen und informell. Andererseits zeigen sie relativ wenig Interesse an meiner Person und meinem Projekt. Wahrscheinlich schätzen sie an der Zusammenarbeit mit mir vor allem die Geselligkeit und die Gelegenheit, ihre Geschichten zum Besten geben zu können. Steigen wir nun ein in die Lebensgeschichten: Johann beginnt seine Geschichte mit der Schilderung einer Reihe von Erkrankungen und Unfällen, die ihm als Kind widerfahren sind und aus denen er wie durch ein Wunder unversehrt hervorgegangen ist. Dennoch hinterlassen diese Erlebnisse auch Spuren – Narben, bleibende Störungen, körperliche Fehlentwicklungen. Doch Johann findet Wege, um mit diesen Schwächen umzugehen, ja sie sogar in Stärken umzuwandeln. Ein Beispiel: „Damals als ich diese Rachitis gehabt habe, wissen Sie, [2 sec. unverst.] schütteln, wenn ich Krampfanfall bekommen habe. Das ganze Dorf hat mich heulen gehört [.] vor Schmerzen, he. Dreijährig. [.] Nachher [..] ist eine Frau gekommen noch, [..] da hatte man noch keine Mittel gehabt, nichts, für das [.] sagt sie: ‚Wir machen Wechselbäder.‘ [.] 60 Grad warm. 60 Grad warm! Kalt, warm, kalt, warm. Hat mir geholfen. [..] 60 Grad warm, stellen Sie sich vor, das brennt ja! [..] Und nachher eh [.] mir ist der Nachteil geblieben, ich habe [.] kurze Arme [.] behalten [..] aber unheimlich starke! [lacht]“ (Transkript Rocca 1, 1/34 – 1/41)
Diese erste Serie setzt Johann mit weiteren, ähnlich konstruierten Geschichten fort, die er chronologisch und thematisch ordnet und die im Prinzip allesamt Belegerzählungen für die gleichen Themen sind. So etabliert Johann bereits mit seinen Kindheitsgeschichten sein dominierendes biographisches Thema, nämlich dass er sein Leben, welches unter ungewöhnlich schlechten Vorzeichen stand, dennoch ungewöhnlich gut gemeistert hat, und dies dank seiner Kraft, seines Humors und seines Glücks. Die Geschichte zu Johanns Familienverhältnissen ist eine dramatisch-tragische: Johanns Mutter, eine Bauerntochter aus dem Entlebuch, hatte sich verliebt in einen italienischen Soldaten, der kurz darauf in den Krieg zog und irgendwo in den Wirren des Ersten Weltkrieges verschollen blieb. Die junge Frau blieb schwanger und unverheiratet zurück, woraufhin der Vater ihres Geliebten ihr die Ehe anbot. Sie akzeptierte und wurde zur dritten Ehefrau eines deutlich älteren, italienischen Bauarbeiters, der schon seit den 1890er Jahren in der Schweiz lebte und arbeitete. Das Kind, ein Mädchen, wuchs also mit seinem Großvater auf, welcher gleichzeitig der Vater seiner vier Geschwister war: drei weitere Mäd-
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chen und Johann, das mittlere der fünf Kinder. Ein weiteres Kind wurde tot geboren – es wäre ein Junge gewesen, ein kleiner Bruder für Johann, wie er mit Bedauern feststellt. Johanns Mutter, aus einer wohlhabenden Bauernfamilie stammend, erlebte durch die voreheliche Schwangerschaft und die Heirat einen sozialen Abstieg. Ihr Ehemann hatte es zwar als Migrant zu etwas gebracht – er ist vom Handlanger im Tunnelbau aufgestiegen zum selbständigen Kleinunternehmer im Baugewerbe – war aber dennoch, auch nach über 20 Jahren in der Schweiz, immer noch Italiener, und das war damals nicht sehr gut angesehen, wie Johann mehrfach andeutet. Darüber hinaus war die Rechtslage in den 1920er Jahren so, dass die Staatsbürgerschaft des Vaters auch diejenige der Kinder bestimmte. Johann und seine Schwestern wuchsen also, obschon in der Schweiz geboren und trotz der Schweizer Mutter, als Ausländer/innen mit italienischer Staatsbürgerschaft auf. Hinzu kommt noch, dass die Ehe zwischen Johanns Eltern schwierig war. Johann schreibt die Schuld dafür allein seinem Vater zu, den er als schlechten Menschen beschreibt, eifersüchtig, gewalttätig, parteiisch zum Vorteil seiner Kinder aus erster Ehe. Als Johann 13 Jahre alt war, verließ der Vater die Familie, und Johann verweigerte von da an jeglichen Kontakt zu ihm. Johanns Mutter war von nun an alleinerziehende Mutter von fünf halbwüchsigen „Italienerkindern“. Diese familiäre Geschichte manövriert Johann in eine Position, von der aus er sein Leben als „Zweitklassmensch“ bestreiten muss. Daraus ergibt sich eines der großen Themen, um die sich zahlreiche Geschichten drehen, nämlich all die Ungerechtigkeiten, die ihm in seinem Leben widerfahren sind. Hänseleien, Foppereien und böse Streiche als Kind, aber auch Beleidigungen und Diskriminierungen als Erwachsener prägen Johanns Erfahrungen. Nicht nur sein Humor habe ihm geholfen, darob nicht verrückt zu werden, vor allem auch seine „grenzenlose Kraft“ – ein weiterer Topos, um den sich viele seiner Geschichten ranken: „Wenn sie einem den Lohn gegeben hätten nach Kraft, dann wäre ich Millionär geworden“. Johann hat, so sagt er, seine außergewöhnliche Kraft von seiner Mutter geerbt. Diese hatte zusammen mit Johanns Vater gearbeitet, der eine Zeit lang als Stör-Maurer21 unterwegs war, und da habe sie ihm jeweils mühelos zwei Zementsäcke hinterher getragen. Die körperliche Kraft empfand Johann als sein großes Kapital, und er hat verschiedentlich versucht, daraus etwas zu machen, sich mithilfe seiner Kraft aus seiner benachteiligten Position als „Zweitklassmensch“ herauszuarbeiten. Eine
21 Stör-Handwerker sind Berufsleute, die auf eigene Rechnung arbeiten und in ländlichen Gebieten von Hof zu Hof resp. von Haushalt zu Haushalt ziehen, um ihre Dienste anzubieten.
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Möglichkeit war der Sport, und darin hat es Johann weit gebracht. Er erzählt davon, dass er Trainingspartner für einen Profi-Velorennfahrer war, dass er geboxt, geschwungen und gerungen hat. Im Ringen stand er, wie er sagt, kurz vor einer eigenen Profikarriere, als ihm 1943 ein besonders schwerer Kampf und ein seiner Meinung nach unfairer, ja bösartiger Gegner eine derart schwere Verletzung zufügte, dass er die Sportlerkarriere im Alter von 22 Jahren abbrechen musste. Beruflich hat Johann den Moment verpasst, an dem er eine solide Ausbildung hätte absolvieren können. Eigentlich hätte er gute Möglichkeiten gehabt, war gut in der Schule, obschon er oft zu Hause im Geschäft der Eltern mitarbeiten musste. Er wollte nach der Sekundarschule Architekt werden, und dann später einmal das Baugeschäft seines Vaters übernehmen. Doch das Geschäft ging Pleite (wie sich herausstellte, hatte der Vater das Geld unterschlagen und seinen Kindern aus erster Ehe im Ausland Immobilien davon gekauft), der Vater war weg, und aus dem Berufstraum wurde nichts mehr. Johann musste zum Lebensunterhalt für seine Mutter und zwei der Schwestern beitragen. Daneben konzentrierte er sich auf den Sport. Für Berufsschule oder Lehre blieb da weder Zeit, noch waren die finanziellen Mittel vorhanden. Durch die Trennung von ihrem Mann sank Johanns Mutter noch tiefer in der sozialen Hierarchie des bäuerlich geprägten Dorfes. Die beiden kleinen Geschäfte (Lebensmittel und Grabschmuck), die sie sich im Windschatten des einst florierenden Baugeschäfts ihres Mannes aufgebaut hatte, liefen nicht mehr. Johann sagt, der Vater hätte sie sabotiert und ihr die Kundschaft abspenstig gemacht. Die Situation für die Familie war in diesem Umfeld nicht mehr tragbar, und so zog die alleinerziehende Mutter im Jahr 1938 aus dem Entlebuch nach Bern um, ins Mattequartier (ein traditionelles Unterschichtsquartier), wo ihre älteste Tochter einen netten Mann kennen gelernt hatte. Johann musste nun möglichst schnell Geld verdienen, um seine Familie zu ernähren, und er fand Arbeit bei einem Eisenwarenhändler als Ausläufer. Hier half ihm seine körperliche Kraft, die schweren Gegenstände wie Öfen, Leitern etc. zur Zufriedenheit aller auszuliefern, und auf dieser Eigenschaft begann er nun, neben der Sportlerkarriere auch seine berufliche Laufbahn aufzubauen. Er ergänzte seine körperliche Kraft mit dem Lastwagen-Führerausweis, ließ sich als Chauffeur anstellen und transportierte weiterhin schwere Dinge wie z.B. Mehlsäcke und Konzertflügel. Doch selbst bei Johann mit seiner ‚grenzenlosen Kraft‘ hinterließen solch schwere Arbeiten Spuren, die sich später in seinem Leben zu ernsthaften Problemen entwickeln: fünf kaputte Bandscheiben und bleibende Rückenschmerzen zum Beispiel.
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1941, Johann war gerade 20 Jahre alt geworden, kam ein Aufgebot von der Italienischen Gesandtschaft: Er als italienischer Staatsbürger sollte in die italienische Armee einrücken und in den Krieg ziehen. Johann missachtete das Aufgebot, und dafür wurde er – paradoxerweise, wie ihm erscheint – von den Schweizer Behörden gemaßregelt. Er musste Strafdienst leisten, absolvierte mehrere Einsätze mit Zwangsarbeit, zusammen mit Kriminellen und Verbrechern, wie er unterstreicht22. Die Arbeitsbedingungen waren äußerst hart, wie Johann anhand von vielen kurzen Geschichten sehr eindrücklich illustriert. 1948 ließ sich Johann in der Schweiz einbürgern, wurde nun auch zum Bürger desjenigen Landes, in dem er seit seiner Geburt lebte, wo seine Verwandtschaft mütterlicherseits schon seit jeher das Staatsbürgerrecht besaß. Umso paradoxer erscheint es Johann, dass er dafür auch noch die für damalige Verhältnisse horrende Gebühr von 3 000 Franken bezahlen musste. Kurz nach der vollzogenen Einbürgerung wurde Johann dann in die Schweizer Armee eingezogen, absolvierte als 27jähriger zusammen mit den zehn Jahre jüngeren Rekruten die militärische Grundausbildung. Bei einer seiner Chauffeurs-Anstellungen – er lieferte einen italienischen Apéritiv-Likör an Stadtberner Gaststätten aus – lernte Johann in einer Bar im Zentrum von Bern die Buffett-Angestellte Isabella kennen. Die beiden wechselten jeweils ein paar scherzhafte Worte, wenn Johann auslieferte, und Isabella offerierte ihm einen Kaffee. Johann fand die junge Frau hübsch, die auf seine Frage, ob sie Italienerin sei, mit Nein antwortet, sie sei nicht Italienerin, sie sei Friulana. Eine Zeit lang dann ‚verlor‘ Johann seine ‚Friulana‘ aus den Augen, die nach Italien zurückgekehrt war, doch dann, so erzählt er, ‚tauchte sie wieder auf, verkaufte Popcorn am Käfigturm‘, da habe er sie ‚wieder gehabt‘, und 1955 heirateten die beiden im Alter von 35 resp. 34 Jahren. 1960 besucht Johann mit seiner Frau zum ersten Mal das Land, als dessen Bürger er geboren wurde. Als Doppelbürger hätte Johann vorher wegen seiner Kriegsdienstverweigerung eine Verhaftung riskiert, wäre er nach Italien gereist. Mit 39 Jahren endet in Italien die Wehrpflicht, und so war es von da an für Johann möglich, das Land seines Vaters und seiner Ehefrau auch selber zu bereisen, was er dann auch intensiv tat. Unzählige Fotos zeugen von den „vielen
22 Vermutlich wurde Johann hier, aufgrund seiner italienischen Staatsangehörigkeit, als zu Internierender behandelt und zusammen mit politischen Flüchtlingen und Deserteuren aus der italienischen Armee in Arbeitslager gesteckt – mit dem Unterschied, dass es Johann erlaubt war, das Lager an Wochenenden zu verlassen und zu seiner Familie in Bern zu gehen. Zu den Internierungslagern für italienische Staatsbürger/innen siehe z.B. Bieri/Corrà 1991.
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Hochzeitsreisen“, die Johann mit Isabella unternommen hat, in Italien wie auch in der Schweiz. Isabella, die ihre biographische Selbstpräsentation mit dem Tag der Einreise in die Schweiz und der sarkastisch überspitzten Schilderung von grenzsanitarischer Untersuchung und klosterhafter Atmosphäre im firmeneigenen Wohnheim beginnt, war im Rahmen einer Anwerbeaktion als Fabrikarbeiterin in die Schweiz gekommen. Isabella konzentriert die Hauptlinie ihrer Erzählung auf ihre Arbeitsgeschichte in der Schweiz und auf die Personen, denen sie an ihren verschiedenen Arbeitsstellen begegnet ist und mit denen sie sich gut verstanden hat: „Ach, was wir dort gelacht haben zusammen!“ ist eine häufige Bemerkung Isabellas. Ihre erste Arbeit in der Schweiz führt sie im Jahr 1946 im Alter von 26 Jahren in die Ostschweiz, in einen großen Industriebetrieb. Die Arbeit in der Fabrik beschreibt Isabella als „un bel lavoro“, doch mit den strengen Hausregeln des von Nonnen geführten Wohnheimes kam sie nicht zurecht. Eravamo cento e venti persone. [..] Tutte
Wir waren 120 Personen. Alle aus dem
del Friuli. Era tutto pieno di camere, quat-
Friaul. Alles voller Zimmer, vier im Ganzen
tro per stanza insomma. [..] Troppo. Si
pro Zimmer. Zu viel. Wir mussten alles
doveva fare tutto noi, i lavori, eh. [.] E poi
machen, die ganzen Arbeiten, eh. Und die
le suore erano maleducate! [..] Come un
Nonnen waren ungezogen! Wie ein Teufel.
diavolo. [.] Ho detto: „Io chiedo [.] al
Hab ich gesagt: „Ich frage den Chef“, das
chef”, era un bravo chef, [.] perché già
war ein guter Chef, und ich kannte schon
sapevo qualche parola in tedesco, „voglio
ein paar Wörter in Deutsch, „ich will mit
parlare col direttore.“ Se è possibile che mi
dem Direktor reden.“ Ob es wohl möglich
dia una stanza, [.] eeh mi ha detto che non
wäre, ein Zimmer zu bekommen, und er hat
c’è niente da fare perché dice [.] „Se io gli
gesagt, da könne man nichts machen, weil
do una stanza a Lei, e le altre vogliono
„wenn ich Ihnen ein Zimmer gebe, dann
anche uscire. “ Beh, ho detto: „Allora io
wollen die anderen auch raus.“ Gut, hab
[…] finito il contratto, me ne vado.“ [.] E
ich gesagt: „Also dann, Schluss mit dem
son’ venuta a Berna. [.] Mediante una
Vertrag, ich gehe.“ Und ich bin nach Bern
signorina [.] che ho conosciuto a Cham, [.]
gekommen. Über ein Fräulein, das ich ken-
e mi ha detto: „Isabella, io vado a Berna.“
nen gelernt hatte, die mir gesagt hatte:
[.]„Trovami un posto che voglio uscire da
„Isabella, ich gehe nach Bern.“ „Finde mir
questo convito“, io ho detto. [***] E siamo
eine Stelle, ich will raus aus diesem Klos-
state amiche fino a che è morta, quella
ter“, hab ich gesagt. [***] Und wir sind
donna.
Freundinnen geblieben bis sie gestorben ist, diese Frau.
(Transkript Rocca 2, 4/36 – 4/47)
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In Bern arbeitete sie dann mehrere Jahre am Buffet eines Konzertlokales. Irgendwann wollte sie etwas mehr verdienen als die 130 Franken im Monat, von denen nach Abzug der 40 Franken Zimmermiete nicht mehr viel blieb. So kam Isabella zu der Anstellung in einer Bar im Stadtzentrum, wo sie Johann kennen lernte. Diese Bar genoss allerdings, so sagte man Isabella, einen etwas zweifelhaften Ruf als Homosexuellentreff, und so suchte sie weiter, fand zuerst nichts und kehrte deshalb für ein paar Monate nach Italien zurück. Dann klappte es doch noch mit einer Arbeit in Bern, bei einem Ehepaar, das zusammen ein Coiffeurgeschäft betrieb. Isabella übernahm Hilfsarbeiten im Geschäft und besorgte dem Ehepaar den Haushalt. Auch nach der Heirat und der Geburt ihrer Tochter arbeitete Isabella weiterhin dort, sie konnte ihre kleine Tochter mitnehmen zur Arbeit. Als diese dann in den Kindergarten ging, suchte sich Isabella eine andere Arbeit und fand eine Anstellung in einer Kalenderfabrik, wo sie 26 Jahre lang bis zur Pensionierung blieb. Auf Nachfrage hin erfahre ich über ihre Herkunft, dass sie als jüngstes von sechs Geschwistern in einem Dorf im Umland von Udine aufgewachsen ist. Ihr Vater, Tramchauffeur von Beruf und Sozialist, verließ Italien zwei Jahre nach Isabellas Geburt aus politischen Gründen. Er reiste zusammen mit seinem Bruder nach Argentinien und half diesem dabei, dort ein Transportunternehmen aufzubauen. Er hätte sich gewünscht, dass die Familie nachreiste, doch Isabellas Mutter fürchtete sich vor der langen Seereise und zog es vor, mit ihren Kindern allein in Italien zurückzubleiben. Erst nach Mussolinis Tod, 1945, kehrte der Vater zurück aus Argentinien, mittellos und für die 25jährige Isabella ein Unbekannter. Isabella war es sich gewohnt zu arbeiten. Sie wäre gern weiter zur Schule gegangen, doch ihre Mutter hielt es für angebracht, dass sie möglichst schnell Geld verdienen gehe wie ihre Geschwister auch. Nach dem Abschluss der fünfjährigen Grundschule sollte sie „Haushaltung“ lernen und arbeitete deshalb eine Zeit lang ohne Entgelt in einem Privathaushalt. Danach war sie erwerbstätig, als Hausangestellte in verschiedenen größeren Städten, teilweise auch in Fabriken. Einmal, so erzählt sie, habe sie sich bei einem Bierproduzenten bewerben wollen, doch da sie kein Parteiheft der Faschisten vorweisen konnte, habe man sie gar nicht erst vorgelassen. Dafür bekam sie dann eine Anstellung bei einem Knochenleimproduzenten, wo sie – zusammen mit anderen Frauen – die stinkenden Schlachtabfälle von Lastwagen abladen musste. Es waren also nur zwei Arbeitsmöglichkeiten, die ihr als Frau ohne Verbindungen und Vermögen in
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Italien offen standen: Einerseits die Arbeit in Privathaushalten23, andererseits die niedrigsten und unangenehmsten Arbeiten im industriellen Bereich24. Da erschien das Angebot des italienischen Missionars, der in Luzern arbeitete und von einem großen Ostschweizer Industrieunternehmen beauftragt worden war, italienische Arbeiterinnen zu rekrutieren, sehr verlockend. Isabella meldete sich und schloss sich im Sommer 1946 mit drei anderen jungen Frauen aus ihrem Dorf einem Tross an, der mehrere Dutzend junge Frauen aus dem Umland von Udine in die Fabrik in der Ostschweiz führte. Die Migration ermöglichte Isabella nicht nur „un bel lavoro“ mit angenehmen Arbeitsbedingungen und regelmäßiger Bezahlung, sie manövrierte sie darüber hinaus in die Selbständigkeit und versetzte sie als Jüngste innerhalb der Familie in eine machtvolle Position, so dass es an ihr war, die Kosten für die Begräbnisse der Eltern zu stellen. Sie veranlasste auch, dass einer ihrer Brüder sie nach Bern begleitete und dort bis zu seinem Tod vor ein paar Jahren arbeitete und mit seiner Familie in Isabellas Nachbarschaft wohnte. Johann und Isabella stammen nicht unbedingt aus Unterschichts-Verhältnissen, sondern sind beide durch die Umstände ihrer Kindheit und Jugend – durch familiäre, historische, lokale Besonderheiten – in ökonomisch marginale Positionen manövriert worden. Für Schul- und Berufsbildung gab es weder Zeit noch Geld, oberste Priorität hatte das möglichst rasche Geld-Verdienen. Die Arbeitsbiographien ähneln sich, beide beginnen als ungelernte Arbeiter/in und wechseln zu Beginn häufig die Stellen, erzielen kontinuierlich kleine Verbesserungen, bis sie in den frühen 1960er Jahren eine Anstellung finden, die sie bis zur Pensionierung behalten. Während Isabella ihre in bescheidenem Maße erfolgreiche Arbeitslaufbahn (erfolgreich, da kontinuierlich etwas besser bezahlt und da angenehme Arbeitsbedingungen und Chefs) vor allem ihrer Persönlichkeit und ihren Netzwerken zuschreibt, erklärt Johann seine Laufbahn mit seinen persönlichen Besonderheiten und seiner Zuverlässigkeit. Johann unternahm auch Einiges, um sich durch nebenberufliche Qualifikationsbestrebungen eine bessere Position zu erarbeiten. In diesen Bestrebungen ist Johann nur bedingt erfolgreich. Seine Arbeitskarriere führte ihn nicht wirklich zu seinem Wunschziel – dem Chauffieren von Linienbussen – und fand aufgrund von zunehmenden körperlichen Beschwerden zu einem vorzeitigen Ende. Im Laufe seines Erwerbslebens besuchte Johann
23 Vgl. die Optionen, die Frau Morellini und ihrer nur noch aus weiblichen Mitgliedern bestehenden Familie offen standen. 24 Vgl. die Schilderungen von Herrn Morellini zum Reisanbau, wo die anstrengendste Arbeit, das Pflanzen und Ernten, ausschließlich von Frauen gemacht wurde.
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mehrere Mechaniker-Kurse, machte den Lastwagen-Fahrausweis und fand Arbeit als Chauffeur wie auch als Automechaniker. 1963 wurde er von den Städtischen Verkehrsbetrieben angestellt, doch für seinen großen Traum, den Chauffeurdienst, wurde er nur aushilfsweise eingesetzt. Er blieb meistens als Werkstattmechaniker im Depot und machte diese Arbeit bis zur frühzeitigen Pensionierung 1979, mit 58 Jahren. Johann musste seine Arbeit wegen des kaputten Rückens aufgeben. Die Mechaniker-Arbeiten an Trolleybussen auf Hebebühnen verlangten eine Körperhaltung – Arme erhoben, Rücken im Hohlkreuz – die Johann zunehmend Mühe bereitete. Irgendwann in seinen 50ern suchte Johann den Betriebsarzt auf, der ihn zu 50 % arbeitsunfähig schrieb. Nun begann ein längeres Seilziehen zwischen Johann, seinem Arbeitgeber, der Invalidenversicherung und der Pensionskasse darum, wie die wenigen Jahre bis zum Pensionsalter überbrückt werden könnten: Der Arbeitgeber wollte keine Teilzeitarbeit ermöglichen. Aufgrund des Arztzeugnisses konnte sich Johann dann seinen Lohn für ein weiteres Jahr erkämpfen. Daraufhin wurde der Ball vom Arbeitgeber an die IV weiter geschoben. Die IV wollte Johann im Arbeitsprozess behalten, bot ihm jedoch nur Arbeit an, die ihm zu schwer war. Schließlich bekam Johann eine IV-Rente von 500 Franken im Monat zugesprochen. Vier Monate später übernahm dann die Pensionskasse und begann, eine Rente von 824 Franken auszuzahlen. Dass diese Rente so klein ausfällt bei dem stattlich erscheinenden Sparkapital von 75 000 Franken, das sich in 17 Jahren angesammelt hat, kommentiert Johann mit bitteren Worten. Auch dass sein voller körperlicher Einsatz bei der Arbeit nicht gewürdigt wurde, erfüllt ihn jetzt mit Bitterkeit. Über die Arbeit beim Klavierbauer, wo seine Rücken-Gebrechen angefangen haben, sagt er: „Bin ich zum Verwalter gegangen, habe gesagt, ich könne einfach nichts mehr tragen. ‚Eh, dann suchen Sie eben etwas anderes.‘ [.] Das ist die Antwort gewesen. Meine Gesundheit habe ich geopfert für ihn, und er hat einkassiert. [..] So geht’s einem.“ Aufgrund der frühzeitigen Pensionierung Johanns entschloss sich Isabella dazu, etwas länger zu arbeiten. Sie sagt, sie habe erst mit 68 aufgehört, in der Kalenderfabrik zu arbeiten. Johann habe, als er pensioniert war, nach ihrer Anleitung begonnen, das Mittagessen zuzubereiten, habe sie um zwölf abgeholt zum Essen und um halb zwei wieder zur Arbeit gefahren. Nachdem sie auch pensioniert war, habe sie eine Beschäftigung gesucht, und die habe sie bei ihrer Tochter gefunden, die damals zwei kleine Kinder hatte und berufstätig war. Einmal die Woche fuhr Johann Isabella nun zur Tochter, wo diese den Haushalt erledigte. Erst als die Tochter sich scheiden ließ und mit ihrem neuen Partner in eine andere Gegend der Schweiz zog, habe sie sich richtig zur Ruhe gesetzt.
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Die konstante Berufstätigkeit beider Ehepartner hat den Roccas zwar ermöglicht, ein Auto zu haben, Reisen zu unternehmen und ihre vielfältigen sozialen Kontakte zu pflegen. Doch jetzt im Alter sind ihre Mittel knapp. Obschon beide Ehepartner seit früher Jugend erwerbstätig waren, verfügen sie nur über eine kleine Rente und kaum über private Altersvorsorge. Am knappen Einkommen nagen die ständigen Arzt- und Behandlungskosten. Die Steuern zu zahlen, belastet den Haushaltsetat empfindlich, und die Roccas verstehen nicht, warum sie so viel von ihrem mageren Einkommen dafür abgeben müssen. Beide geizen nicht mit boshaften Seitenhieben auf Politiker, Beamte und andere Gutverdiener, deren Rechtschaffenheit von den Roccas ernsthaft bezweifelt wird. Dabei ist Johann stolz darauf, keinem je etwas schuldig geblieben zu sein. Johann und Isabella sind sehr reisefreudig, erzählen viel von vergangenen Ausflügen, Bergwanderungen vor allem, auch von unmittelbar geplanten Bergausflügen mit Verwandten von Isabella, die zu Besuch kommen. Viele dieser Ausflüge sind dokumentiert; Johann und Isabella lagern große Mengen von Fotos, Dias und Super-8-Filmen und fragen sich, was damit wohl geschehen werde, wenn sie mal nicht mehr da sind. Nicht nur allein haben Johann und Isabella Ausflüge unternommen, auch Gelegenheiten zu organisierten Reisen haben sie genutzt, wie z.B. die Pensionärsausflüge der Arbeitgeber oder die Ausflüge des Luzerner Fastnachtsvereins und des Samariterbundes, wo Johann Mitglied war. Altersbedingt hat sich die Mobilität der beiden jedoch in den letzten Jahren etwas eingeschränkt. Autofahren geht nicht mehr, doch die öffentlichen Verkehrsmittel werden noch rege genutzt. Gesundheitlich geht es beiden nicht allzu gut. Insbesondere Johann hat mehrere ernsthaftere Gebrechen. Er läuft schlecht, ist sehr kurzatmig, und er hört nicht gut – körperliche Einschränkungen, die Johann als Spuren seines Lebens versteht. Er kann zu jedem seiner Leiden die genaue Ursache benennen, wann und warum er sich dieses zugezogen habe, doch er hat eine fast unerschütterliche Zuversicht in seine robuste Natur wie in die positive Wirkung seines Humors und seiner täglichen Portion Milch. Auch Isabella erscheint mir als sehr optimistischer Mensch. Sie lacht über ihre Gebrechen und macht Witze über ihr eigenes Altern, wie auch dasjenige ihres Mannes. Sie wirkt auch relativ mobil und energievoll, selbst im zweiten Gespräch, das sie wegen Therapieterminen in der Folge einer Operation einige Wochen hinausgeschoben hatte. Sozial sind die Roccas offenbar sehr gut integriert: Nicht dass sie allzu viel ausgehen würden, doch gibt es die eine oder andere italienische Gruppierung, die sie regelmäßig besuchen. So geht Johann einmal die Woche zum Kartenspielen, und beide besuchen regelmäßig die italienischen Altersnachmittage der kirchlichen Organisationen. Zudem werden immer wieder Besucher/innen erwähnt, die
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auf einen Kaffee vorbei kommen würden. Dieser weite Freundeskreis ist auch eine Ressource, die genutzt werden kann, wenn Hilfe benötigt wird. Die kurz vor dem zweiten Interview anstehende Operation Isabellas mit anschließendem Kuraufenthalt und einigen Wochen an Krücken bietet im Interview Anlass, sich darüber zu unterhalten, wie die Roccas sich im Alltag unter eingeschränkter Mobilität organisieren. Auf die nahe liegendsten Ressourcen – die Tochter und die Schwägerin – konnte sich Isabella offenbar nicht verlassen. Die Schwägerin, die jahrelang in unmittelbarer Nachbarschaft mit den Roccas in Bern gelebt hat, ist inzwischen verwitwet und lebt wieder in Italien. Isabella hat sie angerufen und um Hilfe gebeten, hat sie zu sich eingeladen, damit sie Unterstützung im Alltag hätte, doch die Schwägerin sei dazu nicht bereit gewesen. Die Tochter hat Isabella offenbar gar nicht gefragt. Generell sprechen die Roccas nicht viel über sie. Auf mehrmaliges Nachfragen hin deuten sie an, dass es Unstimmigkeiten gibt zwischen den Roccas und dem momentanen Partner der Tochter. Zudem wohne die Tochter weit weg im Graubünden und fahre nicht mehr Auto, da sei es für sie zu kompliziert, nach Bern zu fahren, um die Eltern zu unterstützen. Diesen Part übernehmen teilweise die beiden Enkelkinder, die in der Nähe wohnen, und zu denen Johann und Isabella eine gute und rege Beziehung zu pflegen scheinen. Und eben auch die zahlreichen Freunde und Bekannten der Roccas, von denen zwar niemand regelmäßig eingespannt werden kann, wo aber doch immer wieder mal jemand zu Besuch kommt und dabei auch gleich eine kleine Erledigung machen kann. Und so schlagen sich die Roccas, trotz beträchtlicher körperlicher Einschränkungen, ganz erfolgreich durch den Alltag.
7.7 M ARGINALISIERUNG , ETHNISCHE Z UGEHÖRIGKEIT UND I NSULATION Altern in der Migration ist, das zeigen die hier diskutierten Fälle Genni und Rocca, auch im Kontext der italienischen Migration in die Schweiz nicht reduzierbar auf ‚Gastarbeiter-Migration‘ und ‚marginalisiertes Altern‘. Die Bildung von Kategorien bedingt das Ziehen von klaren Grenzen, doch in der sozialen Welt sind diese Grenzen nicht klar, sondern fließend. Die Querungen der Kategorie ‚alternde italienische Gastarbeiter/innen in Bern‘ zeigen sich in der einen oder anderen Form in allen Fallanalysen, in diesen beiden letzten jedoch besonders augenfällig. Die Gennis sind keine ‚Gastarbeiter/innen‘, und Johann Rocca ist kein Migrant, jedenfalls kein internationaler. Beide Ehepaare sind mir aber in demjenigen Feld begegnet, welches ich als Forschende als das relevante soziale Feld im Hinblick auf ‚alternde italienische Gastarbeiter/innen‘ bestimmt habe:
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Die Klientel der entsprechenden Beratungs- und Aktivitätsangebote von Migrationsorganisationen und kirchlichen Institutionen. Und diese Klientel ist das, was – zumindest von den Exponent/innen der Vereine und Institutionen – wiederum als die ‚ethnische Gemeinschaft‘ bezeichnet wird, mit deren spezifischem Altern sich Forschung und Politik – und auch diese Arbeit – beschäftigt. Die Fallanalysen Genni und Rocca haben jedoch aufgezeigt, dass nicht nur die Zugehörigkeit zur ‚ethnischen Gruppe‘ der italienischen Migrant/innen in Bern und deren Bedeutung für das Altern in der Migration eine komplexe Angelegenheit sind. Auch die Frage, wie sich Marginalisierung respektive Privilegierung auf das Altern auswirken, ist eine höchst komplexe, und auch das lässt sich an den Fällen Genni und Rocca aufzeigen. Marco und Laura Genni sind zu einem Teil des sozialen Feldes ‚alternder italienischer Migrant/innen in Bern‘ geworden, weil sie dieselbe Sprache sprechen und dieselbe Staatsbürgerschaft haben wie die ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘. Sie frequentieren migrationsspezifische Altersaktivitäten im Rahmen der italienischen ‚ethnischen Gemeinschaft‘ allerdings weniger als Klient/in, sondern vielmehr als Anbieter/in von Dienstleistung im weiteren Sinn. Die karitative Arbeit im Rahmen kirchlicher Organisationen, das Schreiben von Texten für Theatergruppen und das Halten von Vorträgen machen die Gennis zu Personen, die als wichtige und wertvolle Mitglieder der ‚Gemeinschaft‘ angesehen werden. Dennoch sind sie anders als die anderen, sowohl in ihrer eigenen Zuschreibung wie auch in derjenigen der ‚Gemeinschaft‘, denn ihre soziale Schicht und insbesondere ihr schichtspezifischer Habitus unterscheiden sich deutlich von ‚dem italienischen Gastarbeiter‘. Der Zugang zu schichthomogenen sozialen Netzwerken in der Gesamtgesellschaft ist den Gennis, vielleicht auch wegen der fehlenden Kompetenzen in der Mehrheitssprache Deutsch, trotz entsprechender Bemühungen verschlossen geblieben. Sozial sind die Gennis also marginalisiert: Ihre Netzwerke sind größtenteils auf Kontakte innerhalb der ‚ethnischen Gruppe‘ italienischer Staatsangehöriger beschränkt, innerhalb der sie aber Außenseiter geblieben sind. Ökonomisch hingegen sind die Gennis keineswegs marginalisiert, sondern privilegiert. Ihr Altern ist deshalb vor allem durch die Schichtzugehörigkeit und die damit verbundenen Ressourcen geprägt, weniger durch die Migration, die Herkunft oder das ‚Ausländer-Sein‘. Abgesehen von den Auswirkungen der Migration auf die Bildungskarrieren der Kinder sind die Gennis auch zufrieden mit ihrem Leben und ihrem Altern. Das soziale Feld, in dem sie sich im Alter bewegen, wurde durch Herkunft und Migrationshintergrund bestimmt. Der Migrationshintergrund hat sie einer bestimmten sozialen Gruppe zugewiesen, während die fehlende Sprachkompetenz und die ‚Verschlossenheit der Schweizer‘
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den Zugang zur Gesamtgesellschaft erschwert haben. Das Kriterium der Staatszugehörigkeit und die Muttersprache haben die Gennis also, trotz Status und Ressourcen, dennoch marginalisiert. Herr und Frau Rocca ihrerseits entsprechen von ihrer Schichtzugehörigkeit und ihrer Arbeitsbiographie her sehr wohl dem Stereotyp der mehrfach marginalisierten alternden ‚Gastarbeiter/innen‘. Beide haben größtenteils unqualifizierte Arbeit verrichtet, und Herr Rocca hat aus seiner Arbeit auch ernsthafte gesundheitliche Probleme davongetragen. Während Frau Roccas Lebensgeschichte noch als eine relativ typische ‚Gastarbeiter‘-Geschichte bezeichnet werden kann, ist Herr Rocca kein ‚Gastarbeiter‘, sowieso kein ‚Migrant‘. Was er einmal war, ist ‚Ausländer‘, und dazu wurde er gemacht, einerseits durch den Pass seines Vaters, andererseits durch die Reaktionen seines Umfeldes auf diesen Pass. Den Pass konnte Johann dann im Erwachsenenalter zwar ändern, doch die Folgen seiner sozialen Ausgrenzung in Kindheit und Jugend trug er ein Leben lang. Die Fremdzuschreibung als ‚Soutschingg‘25 wurde für Johann nachhaltig biographisch relevant, und die Ehe mit der italienischen Migrantin Isabella bot ihm dann die Möglichkeit, seine Bezüge zu Italien nicht nur in negativer, sondern auch in positiver Ausprägung zu erkunden. Auch dass Johann sich im Alter in der ‚Gemeinschaft‘ der italienischen Migrant/innen in Bern bewegt, begründet er damit, dass seine Frau ihn dorthin mitnehme. Die Roccas sind grundsätzlich gesellige Leute, die schon seit jeher Freizeitangebote von Vereinen und Organisationen genutzt haben, zu denen eine/r der beiden Ehepartner/in einen losen Bezug hatte, nicht nur zu den italienischen Migrationsorganisationen, sondern auch zum Luzerner Fastnachtsverein, zum Samariterverein, zum Sportklub oder zu Pensioniertentreffen ehemaliger Arbeitgeber. Die Roccas betreiben also im Alter mitnichten eine ‚ethnische Insulation‘ (Dietzel-Papakyriakou 1993, siehe auch Kapitel 2.1), sondern nutzen diejenigen Möglichkeiten soziokulturellen Lebens, die ihnen aufgrund ihrer biographisch erarbeiteten Netzwerke offen stehen. Dass sie gewisse Veranstaltungen nun im Alter weniger häufig besuchen als andere, das begründen sie ganz praktisch, nämlich mit Erreichbarkeit und Bequemlichkeit, und nicht ideologisch mit ethnischer Zugehörigkeit. Die Roccas empfinden sich selber zwar als marginalisiert, aber nicht unbedingt aufgrund ihres Ausländer-Seins oder aufgrund der Migration, sondern vielmehr aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit. Sie als kleine Leute empfinden sich den großen Institutionen wie Versicherungen und Verwaltungen ausgelie-
25 Der Begriff beinhaltet eine doppelte Beleidigung als Schwein (‚Sou‘) und als Ausländer: ‚Tschingg‘ ist ein in der Schweiz früher sehr gebräuchliches Schimpfwort für Italiener/innen.
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fert, fühlen sich von den Politikern betrogen. Johann Rocca fühlt sich zusätzlich – wen wundert’s – auch ein wenig von seinem Schicksal betrogen. „So ist es mir immer danebengegangen“, kommentiert er, nachdem er erzählt hat, wie seine jüngste Schwester, die zu kinderlosen Verwandten gegeben worden war, von diesen später dann eine zünftige Erbschaft erhalten habe. Doch selbst er, der von außen betrachtet mehr als genug Anlass hätte, sein Schicksal zu beklagen, geht erstaunlich gut und optimistisch mit seinen Altersgebrechen um, macht einen zufriedenen und erfüllten Eindruck, wie Isabella auch. Sowohl das Ehepaar Rocca wie auch das Ehepaar Genni ist marginalisiert: Während die Roccas aufgrund ihrer Schichtzugehörigkeit wie auch ihrer ethnischen Zugehörigkeit multiple Marginalisierungserfahrungen gemacht haben, ist ihre soziale Einbettung sehr gut, und zwar in der ‚ethnischen Gemeinschaft‘, in der Nachbarschaft wie auch in Netzwerken, die sich aus der Erwerbsarbeit ergeben haben. Einzig im Hinblick auf familiäre Beziehungsnetzwerke deuten sich Marginalisierungstendenzen und unausgesprochene Konflikte an. Im Fall der Gennis sind es hingegen insbesondere die familiären Netzwerke, welche als soziales Auffangnetz dienen. Die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen außerhalb der Familie wurde von den Gennis nicht explizit gewählt, sondern ihnen entweder zugewiesen, oder aber verwehrt. Außerhalb der starken familiären Beziehungen und trotz privilegierter ökonomischer Situation gehören die Gennis nirgends wirklich dazu. Die Beziehungen im Arbeitsleben ließen sich nicht über die funktionale und zeitliche Begrenzung hinaus ausbauen, die nachbarschaftlichen Beziehungen blieben sehr distanziert, in der ‚ethnischen Gemeinschaft‘ sind die Gennis akzeptiert, aber dennoch Außenseiter, und in den kirchlichen Kreisen bleiben sie aufgrund der Sprachkompetenz auf italienisch-sprachige Kontakte beschränkt. Beiden Paaren gemeinsam ist die teilweise, aber doch nicht ganz und gar komplette und allumfassende Zugehörigkeit zur ‚ethnischen Gemeinschaft‘. Beide Paare können diese teilweise Zugehörigkeit nach ihren Bedürfnissen nutzen, können sich aber auch davon abgrenzen. Für Gennis stehen dabei Aushandlung und Reflexion von Zugehörigkeit und Zuschreibung im Vordergrund, für Roccas vielmehr der praktische Aspekt punktueller Aktivität und Geselligkeit. Dass die Beziehungen zur ‚Gemeinschaft‘ funktional bleiben, hat aber nicht nur mit der nicht eindeutigen Zuordbarkeit der Gennis und der Roccas zur ‚ethnischen Gruppe‘ zu tun, sondern auch damit, dass beide Paare eine grundsätzliche Zufriedenheit mit ihrem Leben und ihrem Altern ausstrahlen. Und deshalb ist es für sie nicht notwendig, sich über die – zugeschriebene oder gewählte – ethnische Zugehörigkeit zu definieren und umfassenden Anschluss an die ‚ethnische Gruppe‘ zu suchen, wie die These der ‚ethnischen Insulation im Alter‘ dies
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suggeriert. Marginalisierung ist somit nicht unbedingt problematisch, und Privilegierung garantiert keine Problemfreiheit im Alter. Die Frage, was denn nun Migrant/innen anders altern lässt als Nicht-Migrant/innen, und wie wichtig ökonomische Ressourcen für ein sog. ‚erfolgreiches‘ Altern sind, erscheint angesichts dieser beiden Fallanalysen definitiv nicht mehr undifferenziert beantwortbar. Die Gennis und die Roccas führen vor, was in allen Fallanalysen in mehr oder weniger ausgeprägter Form präsent ist: Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe ist keine eindeutige Sache, sondern obliegt individueller und situativer Ausdeutung und entsteht in einem komplexen Gefüge von Selbst- und Fremdzuschreibungen. Und hoher sozialer Status und ökonomische Ressourcen schützen nicht vor sozialer Marginalisierung. Ob die Gennis oder die Roccas nun zur Gruppe der alternden Migrant/innen gehören, ob sich deren Altern als ein migrationsspezifisches gestaltet und ob migrationsspezifisch gleich ethnisch gleich marginalisiert gleich prekär ist, das lässt sich nur im Rahmen von extensiven Fallanalysen differenziert beantworten. Deutlich geworden ist in diesen beiden Fällen, dass zwar beide Paare in der einen oder anderen Form Beziehungen im Rahmen desjenigen sozialen Gebildes pflegen, das als ‚ethnische Gemeinschaft‘ bezeichnet werden kann26. Dies gilt in gleicher Weise für alle weiteren Paare in dieser Studie. Einige von ihnen nutzen die Angebote dieser ‚ethnischen Gemeinschaft‘ sehr ausgeprägt, andere kaum. Doch kann man das Pflegen von Kontakten und das Nutzen von Angeboten als ‚ethnische Insulation‘ bezeichnen? Vielleicht könnte man das, wenn die ‚ethnische Gemeinschaft‘ homogen wäre und wenn die Angebote von einer einzigen, von allen akzeptierten Repräsentanz dieser ‚ethnischen Gemeinschaft‘ angeboten würden, und wenn darüber hinaus die Nutzer/innen der Angebote keine anderen Netzwerkbeziehungen hätten – also keine Nachbar/innen, keine behandelnden Ärzt/innen, keine ehemaligen Arbeitskolleg/innen, keine Kinder mit Ehepartner/innen und Freund/innen etc. Und ein solches Szenario erscheint doch sehr unwahrscheinlich.
26 Wäre dem nicht so, dann hätte ich sie mit meinem Forschungskonzept und dem gewählten Vorgehen bei der Suche nach Interviewpartner/innen wohl auch kaum erreicht.
8. Schlussdiskussion: Wie werden italienische Ehepaare in der Schweiz alt?
Der detaillierte Blick auf spezifisch gelagerte Einzelfälle, wie er im empirischen Teil dieser Arbeit ins Zentrum gestellt wurde, ermöglicht es, die Frage des Alterns in der Migration biographisch zu entfalten und strukturell zu verankern. Damit wird die komplexe Verflechtung unterschiedlichster Aspekte aufgezeigt, welche das Leben von italienischen Migrant/innen im Alter auszeichnen. Das Altern wird in meiner Studie einerseits als paar- und familienbiographisch, andererseits als migrationsbiographisch konstituierte Umgangsweise mit einer bestimmten Lebensphase verstanden. Diese Herangehensweise betont, dass individuelles Altern immer auch sozial verflochtenes Altern ist, und dass die Besonderheiten des Alterns eine Geschichte haben. Letztere verstehe ich hier als eine Geschichte der subjektiven Erfahrungen im Umgang mit gesellschaftlichen Strukturen und historischen Kontexten. Migrationsbiographien zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf Erfahrungsaufschichtungen rekurrieren, welche eine, oder auch mehrere Verlagerungen des Lebensmittelpunktes beinhalten. Diese Verlagerungen führen in der vorliegenden Studie auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg. Somit verfügen die Biographieträger/innen über Erfahrungen im Umgang mit mindestens zwei gesellschaftlichen Kontexten, die zusätzlich dadurch geprägt sind, dass mit der Migration über nationalstaatliche Grenzen auch ein Wechsel im rechtlichen Status – vom/von der Staatsbürger/in zum/zur Migrant/in – stattgefunden hat. Ich argumentiere also, dass Migrationserfahrung durch das Verlassen eines bekannten und das sich zurecht Finden in einem neuen Umfeld charakterisiert ist. Die Erfahrungen in diesem neuen Umfeld sind im Falle von internationaler Migration zudem verbunden mit Exklusionserfahrungen aufgrund des rechtlichen Status als Nicht-Staatsbürger/innen am neuen Aufenthaltsort. Bisher wurde die Thematik des Alterns in der Migration im Schweizer Kontext fast ausschließlich aus der Perspektive von statistischen Analysen und Be-
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dürfnisabklärungen betrachtet (vgl. Kapitel 2.1). Die altersspezifischen Problemlagen von Migrant/innen wurden zudem anhand von besonders schwierigen Einzelfällen aus der sozialen Praxis illustriert und damit tendenziell auch problematisiert. Daraus entwickelte sich ein Diskurs über das Altern in der Migration, der besagt, dass Migrant/innen nicht nur aufgrund ihrer strukturellen Position in der Aufenthaltsgesellschaft, sondern auch aufgrund ihrer Herkunftskultur spezifisch altern und deshalb besondere Maßnahmen und Angebote im Alter brauchen würden. Alte Menschen, die zu einem früheren Zeitpunkt in ihrem Leben in die Schweiz migriert sind, werden zu Gruppen zusammengefasst, denen aufgrund ihrer ursprünglichen Herkunft Besonderheiten im Alter zugewiesen werden. Migrantisches Altern wird somit homogenisiert, stereotypisiert und ethnisiert. Ziel meiner Studie war es, dieser unterstellten ethnischen Besonderheit des Alterns in der Migration kritisch nachzugehen. Mittels narrativ-biographischer Interviews mit pensionierten Paaren habe ich Einblick in die Alltagswelt alternder Migrant/innen und ihrer familiären Netzwerke gewonnen. Der Fokus auf Migrant/innen einer bestimmten nationalen Herkunft hat es erlaubt, neben dem Aufenthaltskontext auch den Herkunftskontext differenziert zu berücksichtigen. Der Mehrwert einer biographischen Herangehensweise ist, dass Lebenslagen im Alter von einer subjektorientierten Perspektive aus betrachtet und als etwas biographisch Gewordenes verstanden werden. Das Aufrollen dieses Werdensprozesses aus der subjektiven Perspektive, wie es im Rahmen der hier angewendeten Methode der autobiographischen Stegreiferzählungen geschieht, bietet die Möglichkeit vielfältiger struktureller Verknüpfungen und birgt damit die Chance, ethnisch-kulturelle Besonderheiten, falls relevant, zu berücksichtigen, ohne ihnen aber übermäßiges Gewicht zu geben und darob andere Faktoren zu vernachlässigen. Zudem werden in dieser Studie nicht besonders problematische Fälle ins Zentrum gestellt, sondern es wird bewusst ein Blick auf das Unauffällige, das Alltägliche, das in sozialarbeiterischer Sicht ‚Unproblematische‘ gewählt. Nachdem nun die individuellen Paarbiographien extensiv ausgelegt worden sind, geht es hier darum zu beurteilen, welche Erkenntnisse der differenzierte biographische Blick auf einige wenige Fälle für die Diskussion des Alterns in der Migration erbracht hat. Dafür werden die eingangs aus der Literatur herausgearbeiteten Thesen zum Altern in der Migration noch einmal aufgegriffen und auf der Grundlage der Fallrekonstruktionen neu beurteilt.
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8.1 „L EGITIMATIONSZWANG “: S TATUSPASSAGE P ENSIONIERUNG UND B ILANZIERUNG DES M IGRATIONSPROJEKTES Der Statuspassage Pensionierung wird in soziogerontologischen Studien allgemein große Bedeutung zugeschrieben. Sie ist einer der zentralen Übergänge, welche den Lebenslauf in modernen Gesellschaften institutionalisieren (Kohli 1985, 2003). Für Erwerbstätige ist sie mit fundamentalen Rollen- und Funktionsveränderungen verbunden (Kohli 1990), und das bedeutet für Paare eine potentielle Neureflexion der paarspezifischen Arbeits- und Rollenteilung (Haddad/Lam 1994, Gather 1996). Die biographischen Herausforderungen in dieser dritten Lebensphase sind denn auch die Anpassung an die veränderte Lebenslage, die sinnvolle Ausfüllung der zur Verfügung stehenden Alltags- und Lebenszeit und der Umgang mit allfälligen finanziellen und zunehmend auch körperlichen Einschränkungen. Die Statuspassage Pensionierung ist also, so legt die Literatur nahe, grundsätzlich mit Verunsicherung und Neuorientierung verbunden. Für diejenigen alternden Migrant/innen, um die es im Schweizer Kontext gegenwärtig vor allem geht, die Arbeitsmigrant/innen nämlich, kommt nun noch eine Besonderheit hinzu: Die Statuspassage Pensionierung zeichnet sich für sie dadurch aus, dass der Übertritt vom Erwerbsleben ins Pensionsalter mit einer Legitimationskrise des Aufenthalts und deshalb auch mit einer Bilanzierung des Migrationsprojektes verbunden ist. Migrant/innen, so wird in der Literatur postuliert, müssen bei der Pensionierung einen neuen Legitimationsgrund für ihren Aufenthalt finden, da der Aufenthaltszweck Arbeit hinfällig wird (Bolzman et al. 2001). Die Notwendigkeit, den Aufenthalt legitimieren zu müssen, ist in der Regel keine formale: Der Aufenthaltsstatus von ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘ ist nach Jahrzehnten der Erwerbstätigkeit in der Schweiz gesichert. Dennoch, so wird argumentiert, bleibt eine moralische Verpflichtung zur Legitimation bestehen, nicht nur gegenüber der Aufenthaltsgesellschaft, sondern vor allem auch gegenüber sich selbst, gegenüber Familie und Freunden sowie den Zurückgebliebenen am Herkunftsort (Bolzman et al. 2001, Dietzel-Papakyriakou 1993). Denn Arbeitsmigration, insbesondere die ‚Gastarbeiter‘-Migration zwischen Süd- und Nordeuropa, zeichnet sich durch Rückkehrorientierung aus und wird deshalb auch von anhaltender Beziehungspflege und Verbundenheit mit dem Herkunftskontext begleitet (z.B. Dietzel-Papakyriakou 1993, Pagenstecher 1996, Treibel 2003). Ziel des Migrationsprojektes ist die erfolgreiche Rückkehr, und eine nicht vollzogene Rückkehr unterliegt dem Verdacht des Misslingens eines Migrationsprojektes (Dietzel-Papakyriakou 1993: 3f). Deshalb ist spätestens mit dem Ausstieg aus der Erwerbsarbeit auch der Zeitpunkt gekommen, dieses Mig-
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rationsprojekt zu bilanzieren und über Erfolg resp. Misserfolg zu befinden (ebd.). Die Literatur suggeriert also, dass in Arbeitsmigrations-Biographien der Statuspassage Pensionierung eine besondere, migrationsspezifische Bedeutung zukommt. Meine Interviewpartner/innen haben die Pensionierung alle bereits hinter sich, zum Teil schon seit einiger Zeit. Dies ist mit ein Grund dafür, dass in den biographischen Stegreiferzählungen kaum ausführlich auf die Statuspassage an sich und ihre Auswirkungen eingegangen wird. Selbst auf gezieltes Fragen hin können sich die meisten nicht mehr genau daran erinnern, wann sie pensioniert wurden, wie der letzte Arbeitstag war und was sich durch die Pensionierung – abgesehen vom eingeschränkten regelmäßigen Einkommen – verändert hat. Vielleicht wäre die Statuspassage dominanter gewesen, wenn die biographischen Interviews unmittelbar vor oder kurz nach der Pensionierung stattgefunden hätten. Ich gehe davon aus, dass die Veränderungen im Leben durch die Pensionierung entweder als nicht besonders einschneidend empfunden wurden, oder dass sie inzwischen ausreichend biographisch bearbeitet und deshalb nicht mehr erwähnenswert sind. Meine Daten zeigen zudem, dass der Übergang vom Erwerbsleben zum Pensionärsleben in fast allen Fällen nicht zu einem klar definierten Zeitpunkt erfolgt und auch nicht durch entsprechende Übergangsrituale markiert wird. Einzig Herr Genni (Kapitel 7), in gehobener, sicherer Position angestellt, hat seine Pensionierung als ritualisierte Statuspassage erlebt. Die Regel sind aber frühzeitig einsetzende und schleichende Erwerbsaustritte, sei es aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, schlechter Konjunkturlagen oder aufgrund familiärer Betreuungspflichten. Geschlechts- und schichtspezifische soziale Positionierungen führen zu irregulären, frühzeitigen Erwerbsaustritten. Die Tatsache, dass es sich hier um Migrant/innen handelt, wirkt sich insofern aus, als deren geschlechts- und schichtspezifisch schwache Position durch den Status als Ausländer/innen noch zusätzlich geschwächt wird (Parnreiter 1994). Arbeitsmigration, insbesondere die italienische Arbeitsmigration in die Schweiz, zeichnet sich in der idealtypischen Form durch die von allen Beteiligten geteilte ursprüngliche Idee der zeitlichen Beschränkung aus (vgl. Kapitel 2.3). Migration dient dem Zweck der Erwerbsarbeit und sieht eine Rückkehr an den Herkunftsort vor, sobald sich die ökonomische Situation verbessert hat. Insofern erscheint es plausibel, dass in der wissenschaftlichen Literatur der Legitimation des Aufenthalts und der Bilanzierung des Migrationsprojektes im Alter so große Bedeutung zugeschrieben wird. Die Migrationsprojekte der interviewten Paare entsprechen aber nicht unbedingt diesem idealtypischen Migrationsprojekt. Nicht nur die Rückkehrorientierung, über die ich weiter unten noch
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ausführlich sprechen werde (Kapitel 8.3), ist in so eindeutiger Weise nicht feststellbar. Auch die Beweggründe zur Migration und das, was man sich als Migrationsgewinn erhoffte, folgten nicht nur simplen ökonomischen Überlegungen. Die diesbezüglich idealtypischen italienischen ‚Gastarbeiter/innen‘ sind vielmehr diejenigen, die tatsächlich nur einige Jahre im Ausland gearbeitet haben, wie z.B. die Geschwister von Frau Santo (siehe Kapitel 2.3). Oder es sind diejenigen, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre einer befürchteten Entlassung durch eine Remigration zuvorkamen, wie sie Alba Agostino anlässlich ihrer Abendschule begegnet sind (siehe Kapitel 5.6). Oder diejenigen, die bei der Pensionierung die Koffer gepackt haben und in die Häuser und Wohnungen gezogen sind, die sie sich am Herkunftsort mit dem in der Schweiz verdienten Geld gebaut oder gekauft hatten. Die statistischen Zahlen deuten erhöhte Rückkehrbewegungen zwischen den 1970er und 1990er Jahren an (Fibbi 2003: 242), und es gibt Schätzungen, wonach in etwa ein Drittel der italienischen Migrant/innen die Rückkehr vollzogen hat (Wessendorf 2007b: 1084, Bolzman et al. 2001: 69). Vielleicht haben auch diejenigen eine Remigration unternommen, die nach der Pensionierung in eine Sinnkrise gefallen sind, die tatsächlich eine persönliche Krise bezüglich der Legitimation ihres Aufenthaltes erlebt haben. Die von mir analysierten Geschichten von Menschen, die auch nach ihrer Pensionierung geblieben sind, weisen hingegen keine tiefgreifenden Verunsicherungen im Kontext der Statuspassage Pensionierung aus. Darüber hinaus zeugen sie von komplexen Migrationsprojekten, in denen nicht, oder nicht nur, die Arbeit und die möglichst erfolgreiche Rückkehr im Zentrum standen. Deshalb bedürfen die hier präsentierten Ehepaare auch keiner simplen Legitimationserklärungen für den Aufenthalt in der Schweiz. Die Idee, dass der Aufenthalt durch den Wegfall der Erwerbstätigkeit begründungspflichtig geworden ist, findet sich in keinem der Fälle, schon gar nicht gegenüber der Aufenthaltsgesellschaft. Niemand bezweifelt das Recht, sich nach wie vor in der Schweiz aufzuhalten, obwohl man ja nun kein/e ‚Gastarbeiter/in‘ im eigentlichen Sinne mehr ist. Die Legitimation des Rentnerlebens gegenüber der Aufenthaltsgesellschaft erfolgt, wenn überhaupt, dann nicht über einen migrationsspezifischen, sondern über einen allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs. Dieser nimmt Bezug auf den individuellen Beitrag der Erwerbsarbeit zum Wohlstand der Gesamtgesellschaft und das daraus abgeleitete Anrecht auf Ruhe und Rente im Alter (vgl. dazu auch Bolzman et al. 2001: 71, Fibbi 2003: 245f). So legitimiert z.B. Frau Santo die insgeheime Zufriedenheit ihres Mannes mit seiner Entlassung und frühzeitigen Pensionierung damit, dass er müde gewesen sei von der belastenden Arbeit, die er über Jahrzehnte gemacht habe (vgl. Kapitel 2.3). Und die Rosettis (Kapitel 5) scheuen sich nicht, Linos spärliche Aktivitäten im
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Alltag damit zu erklären, dass er es genieße, nun nichts mehr tun zu müssen. Selbst Herr Lillos Klage (Kapitel 6), dass er sich im Alter mehr Unterstützung durch die Sozialwerke wünschen würde, nachdem er doch in der Schweiz ein ganzes Leben gemacht habe, spricht eine deutliche Sprache. Legitimationsnotstände für das Nichtstun im Alter in der Schweiz finden sich in meinen Daten nicht. Der Aufenthaltsstatus der ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘ ist inzwischen gesichert, das Vertrauen in die Gesellschaft groß genug, so dass man sich diesbezüglich als vollwertige Gesellschaftsmitglieder versteht, und nicht mehr als rechtlose Migrant/innen, deren Aufenthalt jederzeit in Frage gestellt werden könnte. Auch gegenüber sich selber und dem persönlichen Umfeld scheinen die hier repräsentierten Ehepaare keine Legitimationsnotstände bei der Pensionierung erlebt zu haben. Entweder war längst klar, dass der Lebensmittelpunkt permanent in die Schweiz verschoben worden war und dass auch die Pensionierung kein Anlass dazu sein würde, die Legitimation des Aufenthaltes in Frage zu stellen (siehe z.B. Ehepaar Rosetti in Kapitel 5, Herr Genni in Kapitel 7). Oder es fragte am Herkunftsort gar niemand mehr danach, ob und wann man zurückkommen würde (siehe z.B. Ehepaar Lillo und Ehepaar Morellini, Kapitel 6). Die eigenen Kinder, die in der Literatur (Bolzman et al. 2001b) als Legitimationsersatz bezeichnet werden, sind tatsächlich ein zentrales Kriterium für die Auseinandersetzung damit, ob die Arbeitsmigration temporär bleibt oder zu einer permanenten Migration wird. In den hier präsentierten Fällen findet diese Auseinandersetzung jedoch nicht zum Zeitpunkt der Pensionierung statt, sondern beginnt in der Regel viel früher – beim Familiennachzug, der Geburt von Kindern in der Migration, der Einschulung, der Pubertät. Und sobald die Kinder eigene Kinder haben, wird der Aufgabe als Großeltern viel Bedeutung zugemessen: Man wird gebraucht und kann deshalb gar nicht daran denken, wegzugehen (siehe z.B. Ehepaar Genni, Kapitel 7, und Frau Agostino, Kapitel 5.6). Und selbst wenn keine Kinder da sind, stellt sich mit dem Erwerbsaustritt keineswegs automatisch die Frage nach der Legitimation des Aufenthaltes, wie die Fallrekonstruktionen Lillo und Morellini (Kapitel 6) zeigen. Hinsichtlich der Bilanzierung des Migrationsprojektes hingegen bekommen Kinder eine spezifische Relevanz. Während in Bezug auf Bilanzierungstendenzen weder der Zeitpunkt der Pensionierung noch die Frage der ökonomischen Ziele zentral ist, finden sich die augenfälligsten und auch selbstkritischsten Auseinandersetzungen damit, warum man gegangen ist und was es gebracht hat, im Hinblick auf die Kinder. Schauen die Interviewpartner/innen aus der Perspektive des Alters zurück auf ihr Leben, so werden Migrationsentscheidung und Migrationsgewinn respektive –verlust für sich als Individuen und als Ehepaar
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kaum kritisch beurteilt. Die Frage jedoch, was die Migration mit den Kindern gemacht hat, ist eine ganz zentrale – am augenfälligsten in den Fällen Rosetti, Agostino (beide Kapitel 5) und Genni (Kapitel 7). Insbesondere in der Lebensphase nach der Pensionierung kann diese Frage wieder Bedeutung bekommen, weil nun mehr Raum da ist, sich um die Geschicke der Kinder zu kümmern, und weil über die Betreuung von Enkelkindern eine Wiederannäherung an deren Lebensalltag stattfindet. Dass im Alter Migrationsprojekte bilanziert werden, lässt sich auch in meinen Daten beobachten. Hingegen kann ich nicht bestätigen, dass diese Bilanzierung speziell zum Zeitpunkt der Pensionierung stattfinden würde (siehe dazu Kapitel 5.4, 6.5 und 7.4). Der konkrete Übergang von der Erwerbstätigkeit zum Pensionärsalter hat in den hier rekonstruierten biographischen Erzählungen allgemein deutlich weniger Gewicht erhalten als erwartet. Sowohl der Übergang an sich, wie auch seine biographische Bearbeitung zeigen sich in meinen Daten prozesshaft und komplex. Und selbst wenn der Erwerbsausstieg als verunsichernde Statuspassage erlebt worden ist, so ist diese Verunsicherung jetzt, zum Zeitpunkt der Interviews, kein Thema mehr. Als einschneidendste Veränderung durch die Pensionierung wird von allen das deutlich geringere regelmäßige Einkommen genannt. Und damit kann auch, wie z.B. bei Frau Agostino (Kapitel 5.6) und beim Ehepaar Lillo (Kapitel 6), eine gewisse Ernüchterung einher gehen: Nachdem es die Paare geschafft hatten, sich in der Schweiz ein gutes Leben in bescheidenem Wohlstand aufzubauen, kam mit der Pensionierung ein empfindlicher Rückschlag, der ein Haushaltseinkommen gut und gerne wieder in den Bereich des Existenzminimums führen konnte. Es sind also auf den ersten Blick insbesondere fehlende ökonomische Ressourcen, d.h. im weiteren Sinne schichtspezifische Kriterien, welche das migrantische Altern im Hinblick auf die Statuspassage Pensionierung prägen. Migrationsspezifisch daran ist hingegen zum Einen die besonders schwache Position von Migrant/innen auf dem Arbeitsmarkt (siehe z.B. Parnreiter 1994, Juhasz/ Mey 2003, Wicker et al. 2003), was sich – stärker als bei Schweizer/innen in derselben sozialen Schicht – in schlecht bezahlter Arbeit und unsicheren Anstellungsverhältnissen äußerte. Die marginale Position und die daraus folgende Konzentration von Migrant/innen in gefährlichen und belastenden Arbeitsmarktsegmenten führten darüber hinaus zu vermehrten Erwerbsausfällen aufgrund von Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit. Dies wiederum hatte zusätzliche Beitragslücken in der Altersvorsorge zur Folge, die schon aufgrund des anfänglichen Ausschlusses von Migrant/innen aus dem Sozialversicherungssystem der AHV (Alters- und Hinterbliebenenversicherung) das Pensionsalter nur eingeschränkt absichern konnte. Geringe Löhne, zu wenig Beitragsjahre, nicht ord-
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nungsgemäß abgerechnete Verdienste usw. führten deshalb im Alter zu überdurchschnittlichen Einbußen und zu teilweise sehr knappen Renten unter italienischen Migrant/innen. Zum Andern ist auch migrationsspezifisch, dass diesen Menschen überhaupt Fragen nach der Legitimation des Aufenthaltes und nach der Bilanzierung des Migrationsprojektes gestellt werden. Wären sie Staatsbürger/innen des Aufenthaltslandes und/oder wären sie nicht irgendwann einmal von anderswo her gekommen, dann würde auch niemand erwarten, dass sie irgendwo hin zurückkehren wollten. Die These, dass Migrant/innen im Alter ihren Aufenthalt in der Schweiz neu legitimieren müssen, hat also mit der Perspektive der Aufenthaltsgesellschaft zu tun, die Migrant/innen immer noch tendenziell als Außenseiter/innen betrachtet: als Gäste, die eigentlich dorthin gehören, wo sie geboren wurden. Die Frage nach der Legitimation des Aufenthalts verweist somit auf eine unterstellte anhaltende Nicht-Zugehörigkeit der Befragten. Herkunftsspezifisch ist am Altern von italienischen Migrant/innen in der Schweiz das idealtypische Projekt einer zeitlich begrenzten Migration zur Generierung von ökonomischem Kapital. Ein solches Projekt setzt ein gewisses Wohlstands- und Sicherheitsgefälle zwischen Herkunfts- und Aufenthaltsort voraus, so dass sich die Migration einerseits ökonomisch lohnt, andererseits aber auch eine Rückkehr nicht verunmöglicht ist. Dass dieses Projekt eine gewisse Bedeutung für die Lebensplanung wie auch für die retrospektive Bilanzierung hat, möchte ich keineswegs bestreiten. Dass jedoch der Zeitpunkt der Pensionierung dafür besonders relevant ist, bestätigen meine Daten eben so wenig wie einen allfälligen Legitimationsnotstand bezüglich des Aufenthaltes im ‚Gastland‘. Die Erkenntnis aus meinen Daten, dass die Statuspassage Pensionierung bei Migrant/innen nicht zu spezifischen Bilanzierungs- und Legitimationszwängen geführt hat, entspricht einer neueren Erkenntnis zum Altern in der Schweizer Gesellschaft allgemein. Auch im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms Alter (vgl. Kapitel 2.2) hat sich gezeigt, dass die Übergänge vom Erwerbs- ins Pensioniertenleben nicht unbedingt krisenhaft und einschneidend sein müssen. Wie Höpflinger und Stuckelberger (1999: 21) festhalten, liegt der Grund dafür in biographisch erworbenen Kompetenzen und Ressourcen, die im Umgang mit früheren Herausforderungen erworben wurden und den Übergang in den Ruhestand erleichtern. Aus dieser Perspektive können Migrant/innen als mit besonderen Kompetenzen ausgestattete Subjekte betrachtet werden: Migrationsprozesse stellen hohe Anforderungen an den subjektiven Umgang mit neuen Umständen, und so gesehen sind erbrachte Anpassungsleistungen und bearbeitete Verunsicherungen aufgrund von Migration wertvolle Erfahrungsressourcen, die bei er-
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neuten Anpassungsanforderungen im Leben hilfreich sein können. Dies ist meine Erklärung dafür, dass die hier vorgestellten Ehepaare ihre Statuspassagen ins Pensioniertenleben so gut überstanden haben. Migrationserfahrung ist, so meine Schlussfolgerung, eine wertvolle biographische Ressource zur Bearbeitung späterer Veränderungen im Leben. Migrant/innen sind also, um das Argument noch weiter zu ziehen, nicht häufiger von Verunsicherungen und Legitimationskrisen durch die Pensionierung betroffen, sondern im Gegenteil aufgrund ihrer biographischen Ressourcen sogar besonders gut gewappnet, die Statuspassage Pensionierung zu verarbeiten. Reflexion und Bilanzierung sind durchaus Bestandteile des migrantischen Alterns, aber nicht in ausgeprägterer Form als bei Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft. Zudem richten sie sich nicht zwingend an Statuspassagen des institutionalisierten Lebenslaufs wie z.B. der Pensionierung aus.
8.2 „R ÜCKKEHRORIENTIERUNG “: H ANDLUNGSOPTION R EMIGRATION Wie in Kapitel 8.1 schon angesprochen, wird der italienisch-schweizerischen Migration ein für Arbeitsmigration spezifisches, idealtypisches Migrationsprojekt unterstellt, in dem Migration der Verbesserung der ökonomischen Situation im Herkunftskontext dient und die Rückkehr als erfolgreicher Abschluss des Projektes gilt (z.B. Dietzel-Papakyriakou 1993, Treibel 2003, Fibbi 2003, Ganga 2006). Die Erwartung einer Rückkehr steht, und dies gilt insbesondere für das italienisch-schweizerische System der ‚Gastarbeit‘, darin aber nicht nur für die Migrant/innen im Zentrum ihres Migrationsprojektes. Auch aus dem Umfeld werden diese Anforderungen gestellt, aus den unmittelbaren (Dietzel-Papakyriakou 1993) und mittelbaren (Pagenstecher 1996, Mahnig/Piguet 2003) sozialen Kontexten Italiens und der Schweiz. Nachdem in Kapitel 8.1 die Frage im Zentrum stand, ob Rückkehrorientierung bei der Pensionierung zur Bilanzierung des Migrationsprojektes und zu einer damit verbundenen Legitimationskrise führt, geht es hier darum, wie sich der biographische Umgang mit Rückkehrideen, Rückkehrerwartungen und Rückkehroptionen in den analysierten Fällen konkret gestaltet. Die subjektive Auseinandersetzung mit Rückkehrorientierungen, welche Dietzel-Papakyriakou (1993: 3) als eines der Hauptmotive des migrantischen Alterns bezeichnet, hat sich zwar auch in den Fallrekonstruktionen dieser Studie durchwegs als biographisch präsentes Thema erwiesen. Die Rückkehrorientierung als dominant zu bezeichnen, wäre aber übertrieben. Rückkehr wird in den präsentierten Fallanalysen in erster Linie als hypothetische Handlungsoption
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relevant. Und als solche ist sie, so meine These, in jeder Migrationsbiographie präsent: Wer einmal migriert ist und seinen Lebensmittelpunkt über nationalstaatliche Grenzen hinweg verschoben hat, behält die Option einer erneuten Migration – ob nun Re-Migration oder Migration an einen weiteren Ort – durch die Ablagerung der entsprechenden Erfahrungen in seiner/ihrer Erfahrungsaufschichtung abrufbereit. Ob diese Option aber erneut in Betracht gezogen wird, und wenn ja, unter welchen Umständen, das ist unterschiedlich. Und ob das InBetracht-Ziehen auch zu einer konkreten Umsetzung führt, ist noch einmal eine andere Frage. Dabei ist zu bedenken, dass sich die vorliegende Studie mit Menschen befasst, welche die durchaus realisierbare Option einer Remigration – verstanden als dauerhafte Verschiebung des Lebensmittelpunktes zurück an den Herkunftsort – auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt in der Schweiz nicht in die Tat umgesetzt haben (vgl. Kapitel 8.1). Während die einen sich schon sehr früh darauf festgelegt haben, nicht zurückzukehren, trugen die anderen die Idee einer Rückkehr während langer Zeit mit sich herum. Einige haben in ihre Visionen investiert, andere nicht. Einige halten ihre Rückkehrpläne aufrecht, andere hinterfragen sie, wieder andere haben sie verworfen. Die offensichtlichste Investition in eine geplante Rückkehr ist der Kauf oder Bau von einem Haus resp. einer Wohnung am Herkunftsort. Die Santos (Kapitel 2) haben ein solches Zuhause am Herkunftsort, und auch die Lillos (Kapitel 6) besitzen eines. Beide Ehepaare haben schon bald nach ihrer Migration damit begonnen, sich dieses zweite Zuhause, verstanden in erster Linie als zukünftiges Zuhause, aufzubauen. Die jahrelangen Investitionen haben zwar ein Haus entstehen lassen, doch zu einem Zuhause ist es (noch) nicht geworden. Deshalb ist sowohl im Fall Lillo wie auch im Fall Santo tatsächlich auch eine intensive Auseinandersetzung mit dieser ursprünglichen Rückkehrorientierung auszumachen. Das Haus in Italien erinnert immer wieder an die ursprünglichen Pläne. Dass es seit Jahren leer steht, allenfalls für ein paar Wochen in den Ferien benutzt wird, erscheint unverhältnismäßig, insbesondere wenn die ökonomischen Ressourcen knapp sind (siehe auch La Rosa 2003). Wurde das Haus nicht einfach nur als Wohnhaus konzipiert, sondern darüber hinaus noch als Statussymbol, als Beweis dafür, dass man im Norden erfolgreich verdient hat (siehe z.B. Bachmann 2003: 133-136), macht das den Unterhalt noch aufwändiger. Das unbewohnte, unvermietete Haus in Italien ist ein Luxus, muss es doch in der Schweizer Steuererklärung als Vermögen deklariert werden. Aus ökonomischen Überlegungen wäre es sinnvoller, es entweder zu bewohnen, oder zu verkaufen. Der symbolische Gehalt des Hauses, als sichtbares Zeichen des Erfolgs und gleichzeitig auch Mahnmal der dafür notwendigen Entbehrungen und Opfer, ist hingegen wiederum beträchtlich, so dass es nicht so einfach ist, sich davon zu
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trennen. Und dem Bewohnen stehen Vorbehalte, Ängste und Unsicherheiten entgegen, wie die Fälle Santo und Lillo aufzeigen. Das Haus in Italien wird so zunehmend zum Symbol einer zweiten Lebensoption, die man sich offen halten wollte, die man aber lange, vielleicht zu lange, nicht gelebt hat. Und das über Jahrzehnte imaginierte zweite Zuhause zu einem realen Zuhause zu machen, ist mit hohen, vor allem emotionalen und sozialen Kosten verbunden. Denn was es bedeutet, seinen Lebensmittelpunkt zu verschieben, das haben die Ehepaare Santo und Lillo bereits erlebt. Jetzt im Alter fehlt die Kraft, der Abenteuergeist, die Energie, um sich noch einmal neu einzurichten. Denn eine Remigration, das ist allen klar, ist nicht mehr eine Rückkehr ins vertraute Nest. Das ehemalige Zuhause ist inzwischen nicht nur den Lillos (Kapitel 6) ein wenig fremd geworden. Diese Einschätzung beruht auf Gegenseitigkeit: Auch von den einstigen Nachbar/innen und Freund/innen werden die ehemaligen ‚Gastarbeiter/innen‘ inzwischen als Fremde betrachtet und bezeichnenderweise als ‚svizzerotti‘ (La Rosa 2003: 294) bezeichnet. Man hat sich über die Jahrzehnte verändert, und auch das Umfeld am Herkunftsort hat sich verändert. Und was eine Migration an einen (ent-)fremd(et)en Ort bedeutet, den man sich zuerst (wieder-)aneignen muss, das wissen Migrierte aus eigener Erfahrung. Auch die Agostinos (Kapitel 5.6) besitzen ein Haus in ihrem Herkunftsort, doch war dieses nie als dauerhaftes Zuhause geplant. Es ist Ferienort, Zweitwohnsitz, Bleibe für die befristeten Zeiten, in denen man Verwandtenbesuche macht. Das Haus ist kein Zuhause, sondern nur eine temporäre Unterkunft, kein Statussymbol, sondern eine praktische Angelegenheit. Dementsprechend ist es auch klein und einfach konzipiert, hat nicht viel des Ersparten verschlungen, und ist symbolisch nicht so stark aufgeladen. Ihr Haus ist weder sichtbarer Beweis für den Erfolg des Migrationsprojektes, noch heimlicher Notnagel für den Fall, dass das Leben hier misslingt1. Für die Agostinos ist klar, dass ihr Lebensmittelpunkt in Bern ist und auch hier bleiben wird. Dennoch: Auch Alba Agostino hat in ihrem Leben schon an Rückkehr gedacht, nämlich als ihr erstes Kind nicht in der Schweiz bleiben durfte. Die Frage, ob sie damals richtig entschieden hat, zu
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Noch deutlicher wird dieser Unterschied zwischen Hausbesitz und ‚Zuhause‘ im Falle des Ehepaares Genni, welches ebenfalls in ein Haus am Herkunftsort investiert hat. Allerdings ist dieses Haus eine reine Kapitalanlage – ein größeres städtisches Haus mit Geschäften und Mietwohnungen –, und entfaltet aus diesem Grund keine symbolischen Zugehörigkeitsgefühle, ja nicht einmal die Notwendigkeit einer biographischen Einflechtung der Information. Was in der Paarbiographie der Gennis hingegen erwähnt wird, das ist der Besitz eines Hauses hier in der Stadt Bern, sowie auch die Investition in eine Eigentumswohnung für den Sohn.
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bleiben und das Baby nach Italien zu bringen, oder ob das vielleicht der Moment gewesen wäre, selber auch zurückzukehren, diese Frage beschäftigt sie noch immer. Alba Agostino, die Italien mit dem Wunsch verlassen hatte, für sich als Individuum mehr Freiheit und Autonomie zu gewinnen, hätte sich eine Rückkehr nicht für sich, sondern zum Wohle ihrer Kinder vorstellen können. Das Ehepaar Rosetti (Kapitel 5) hat zwar früh beschlossen, nicht nach Sizilien zurückzukehren, und hat seine materiellen und immateriellen Investitionen von Beginn weg auf den Aufenthaltsort konzentriert. Dennoch spricht auch Gianna Rosetti über Rückkehr. Erste Rückkehrgedanken tauchten bei ihr auf, als die Trennung von den Kindern drohte. Rückkehr wird von da an in ihrem Leben immer dann ein Thema, wenn die Zeiten für Gianna schwierig werden, wenn Stellenverlust droht, wenn Krankheiten sie plagen, wenn die Kinder ausziehen. Doch es bleibt jedes Mal bei den Gedanken. Damit nimmt Rückkehr bei Gianna am ausgeprägtesten die Form einer hypothetischen Handlungsoption an. Schließlich hat man schon einmal erfolgreich eine schwierige Situation verlassen, und so bietet sich das Weggehen als Handlungsstrategie in schwierigen Situationen an. Andererseits ist aber auch der Preis dieses Weggehens als Erfahrungswissen vorhanden, und gerade für Gianna, die ihre Biographie so ausgeprägt als ein in familiäre Verpflichtungen eingebundenes Leben versteht und deren Ehemann die Rückkehroption stets kategorisch abgelehnt hat, war der Preis doch immer zu hoch. Alleine wegzugehen, das kam für sie nicht in Frage. Doch allein schon der Gedanke daran, aus der schwierigen Situation wegzulaufen, war für Gianna eine Möglichkeit der Bearbeitung. Es ist beruhigend zu wissen, dass die Hintertür Rückkehr für alle Fälle da ist. Denn der Migration inhärent ist auch die hypothetische Option eines anderen, ‚ungelebten Lebens‘ (Dausien 1996: 60f, Jimenez Laux 2001: 216f), das auch hätte sein können, wenn man nicht migriert wäre. Und in dieses Leben könnte man, zumindest hypothetisch, nach wie vor hinüberwechseln. Der Gedanke an Rückkehr wird so zur imaginären Fluchtmöglichkeit aus schwierigen Situationen. Es bleibt bei der Imagination, denn die Kosten einer Remigration sind auch Gianna bewusst: Vor den Problemen hier wegzulaufen bringt andere Probleme dort mit sich. Und so bleibt Giannas Rückkehr eine Phantasie, deren Stärke gerade darin liegt, dass sie ein Traum ist, eine ‚nostalgische Illusion‘ (Braun 1970), die der Bearbeitung von Verunsicherung dient. In anderen biographischen Selbstpräsentationen wiederum, zum Beispiel in derjenigen von Giannas Ehemann Lino, aber auch bei den Morellinis (Kapitel 6.7) oder bei Frau Rocca (Kapitel 7.6), spielt Rückkehrorientierung keine Rolle. Zentrales Motiv in diesen biographischen Selbstpräsentationen ist der Autonomiegewinn durch die Migration. Unter der Voraussetzung, dass Eigenständigkeit
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gesucht und in der Migration auch gefunden wurde, erscheint die Remigration kaum als attraktive Handlungsoption. Zusätzlich wird dies verstärkt, wenn das Umfeld, welches mit der Migration verlassen wurde, so desolat war, wenn die Lebensumstände so unstet und unsicher und Bezugspersonen so verstreut waren, dass es gar keinen Ort gibt, an den man zurückkehren könnte. Dies ist z.B. ausgeprägt der Fall bei Ilaria Morellini, die kein festes Zuhause hatte und deren Geschwister überall verstreut sind. Rückkehrorientierung, so schließe ich aus meinen Daten, braucht einen Ort, auch wenn es ein imaginierter2 bleibt. Oder, wenn sich kein Ort anbietet, dann braucht es zumindest eine nahe stehende Person. Dies ist es auch, was Laura Gennis (Kapitel 7) Rückkehrvision vorsieht. Für Laura gibt es keinen klaren Herkunfts- oder Zugehörigkeitsort mehr in Italien, doch es gibt eine remigrierte Tochter. Wenn Laura an Rückkehr denkt, dann denkt sie daran, zu ihrer Tochter zu ziehen. Auch die Santos (Kapitel 2) und die Rosettis (Kapitel 5) haben Kinder, die remigriert sind, und auch bei ihnen sind diese remigrierten Kinder ein Faktor im Abwägen von Rückkehrgedanken, wenn auch nicht der dominante wie bei Laura Genni. Serafina Santos Sohn ist kürzlich remigriert. Dies macht für Serafina einerseits die Rückkehroption sozial attraktiver, denn wenigstens eines ihrer Kinder wäre dann in ihrer Nähe. Andererseits wird dadurch, dass ihr Sohn remigriert ist, das Haus nun bewohnt, und die paradox wirkende Situation des leer stehenden Zuhauses fällt weg. Gianna Rosettis Tochter ist schon länger remigriert und ist nun diejenige Person, welche die Rosettis bei ihren Heimatbesuchen beherbergt. Doch die Rückkehr eines der Kinder hat in allen drei Fällen nicht genug Überzeugungskraft entwickelt, um den Umgang mit Rückkehrplänen nachhaltig zu verändern. Als Begründung dafür wird angegeben, insbesondere von Laura Genni und Serafina Santo, dass die zurückbleibenden Kinder die Unterstützung der Eltern benötigen würden und dass man sie nicht im Stich lassen könne. Sowohl die Santos wie auch die Gennis übernehmen für ihre berufstätigen Kinder regelmäßig die Betreuung der Enkelkinder. Familiäre Verpflichtungen werden damit, wie Bolzman et al. (2001) herausgestrichen haben, in diesen beiden Fällen tatsächlich zu einem bestimmenden Legitimationsfaktor für den Verbleib. Dass aber beide Paare auch
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Orte der Zugehörigkeit können gerade auch unter verstärkten Deterritorialisierungsund Mobilisierungstendenzen, wie sie als typisch für die moderne, globalisierte Welt beschrieben werden, zunehmend bedeutsam werden, im Sinne eines Bestrebens nach der ‚Verwurzelung‘ von Zugehörigkeit an einem imaginierten Ort (vgl. Wessendorf 2007b: 1091). Gardner (2002) z.B. befasst sich ausführlich mit diesem Phänomen, insbesondere mit der narrativen Ausformulierung imaginierter Orte.
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Kinder haben, die (re)migriert sind und die ihre Unterstützung genauso gut gebrauchen könnten, zeigt auf, dass familiäre Verpflichtungen und ‚Gebrauchtwerden‘ allein keine Ursachen für Verbleib oder Remigration sind, sondern Begründungen liefern. Im Gegensatz zu anderen Studien, die festgestellt haben, dass Rückkehr eher von Männern vorgezogen wird, während Frauen sich tendenziell eher für einen Verbleib entscheiden (z.B. Richter 2000, Bolzman et al. 2001, Fibbi 2003), zeigen meine Daten, dass Rückkehr als biographische Handlungsoption tendenziell von den Ehefrauen ins Spiel gebracht wird. So war es Frau Agostino (Kapitel 5.6), die überlegte, ob sie bei der Geburt des ersten Kindes nicht hätte zurückkehren sollen. Frau Rosetti (Kapitel 5) liebäugelte jedes Mal, wenn ihre Harmonie bedroht war, mit der Rückkehr, während Herr Rosetti fand, er habe keine beruflichen Optionen in Italien. Herr Genni (Kapitel 7) bestand darauf, dass seine Kinder die öffentliche Schweizer Schule besuchten und die Sprache des Aufenthaltsortes lernten, während Frau Genni ihre Kinder lieber nach italienischem System ausgebildet gesehen hätte. Und es ist Frau Genni, die sich ein Pendeln im Alter durchaus vorstellen könnte. Sie könnte sich auch vorstellen, zu ihrer Tochter nach Italien zu ziehen, wenn sie später einmal Pflege bräuchte. Herr Genni hingegen ist glücklich, wenn er in Bern aus dem Zug steigt, er fühlt sich dann ‚endlich wieder zu Hause‘. Auch Herr Rosetti ist jedes Mal froh, wenn das Leben wieder seinen gewohnten Gang in Bern geht, das Pendeln findet er zu anstrengend. Frau Santo (Kapitel 2) würde gerne das Haus in Italien bewohnen, doch ihr Mann will das vertraute Umfeld in Bern nicht mehr verlassen. Und Frau Lillo (Kapitel 6) gibt sich überzeugt davon, dass die Rückkehr ins Haus in Italien der richtige Weg ist, während ihr Mann durchaus auch Schwierigkeiten sieht. In meinen Daten zeigen sich also die Männer tendenziell eher auf den Aufenthaltskontext fokussiert, während die Frauen diejenigen sind, welche die Option einer Rückkehr im Spiel halten. Dass andere Studien zu anderen Ergebnissen gekommen sind, könnte auf eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Handhabung von hypothetischen versus vollzogenen Rückkehroptionen hindeuten. Die oben zitierten Studien (Richter 2000, Bolzman et al. 2001, Fibbi 2003) beziehen sich auf Absichtserklärungen kurz vor der Pensionierung respektive auf bereits vollzogene Remigrationen. Die Daten meiner Studie hingegen stützen sich auf Migrant/innen, welche eine allfällig in Betracht gezogene Remigration bis ins fortgeschrittene Alter nicht vollzogen haben und sie höchstwahrscheinlich auch nicht mehr vollziehen werden. Möglicherweise würden sich bei denjenigen, die remigriert sind, auch Tendenzen finden, die vollzogene Remigration hypothetisch wieder rückgängig zu machen, sich also immer wieder damit auseinander zu
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setzen, wie es wäre, wenn man nicht remigriert wäre. Interessant wäre zu untersuchen, ob es bei solchen Paaren auch tendenziell die Frauen sind, welche die hypothetische Handlungsoption ins Spiel bringen, während die Männer die tatsächlich vollzogene Variante bestärken. Im Rahmen meines Datensamples drängt sich auch die Hypothese auf, dass die Remigrationsgedanken der Ehefrauen in Verbindung stehen mit der Rolle, welche sie im ursprünglichen Migrationsprojekt übernommen haben. Die ihren Männern nachziehenden Ehefrauen Rosetti, Santo, Lillo und Genni tendieren dazu, eine Remigration als Option im Spiel zu halten, während die selbständig migrierten Ehefrauen Agostino, Morellini und Rocca sich offenbar klar für einen Verbleib in der Schweiz entschieden haben. Auch Herr Lillo, der einzige unter den Männern, für den die Option einer Rückkehr nach wie vor besteht, ist nicht selbständig migriert, sondern seinem Schwager nachgezogen. Aus der Perspektive auf biographische Erfahrungsressourcen lässt sich diese Beobachtung leicht erklären: Bei einer selbständigen Migration oder Pioniermigration ist die Schwelle zum Vollzug einer Migration deutlich höher als bei nachziehenden Migrant/innen, und auch die Reorganisation der Lebensumstände und die Bearbeitung der Verunsicherungen am neuen Ort bedingen mehr Investitionen. Selbständige resp. Pioniermigration ist also, um das weiter oben schon benutzte Bild noch einmal aufzugreifen, mit höheren Kosten verbunden, und diese Erfahrung lässt, so meine These, die Remigrationsoption für selbständig Migrierte als zu kostspielig erscheinen. Rückkehr erscheint in den hier präsentierten empirischen Fallanalysen, wenn überhaupt, dann eher in Form einer hypothetischen Option, in das andere, ungelebte Leben zu wechseln, jedoch nicht als eine fixe Idee, welche eine ausgeprägte und über Jahrzehnte anhaltende Orientierung am Herkunftskontext mit sich bringt. Dementsprechend wird die nicht vollzogene Rückkehr im Alter auch nicht als ein Versagen, oder als ein nicht zu Ende gebrachtes Migrationsprojekt empfunden, sondern als Handlungsoption betrachtet, die mit Kosten verbunden ist, deren man sich durchaus bewusst ist. Und selbst wenn die Rückkehr längst zur Illusion (Pagenstecher 1996), zur Sehnsucht nach dem ‚anderen Ort‘ (Gardner 2002, Wessendorf 2007b) geworden ist, so sind sich die Subjekte dessen durchaus auch bewusst. Rückkehr als hypothetische Handlungsoption erscheint unter dieser Perspektive nicht als unreflektierte Selbsttäuschung, sondern als sinnvolle und handlungsmächtige ‚Handhabung der Lebensbedingungen‘ in der Migration (Pagenstecher 1996: 174, in Anlehnung an Bommes/Scherr 1991). Der Ort der Rückkehr, ob nun real oder imaginiert, wird zum idealisierten Gegenstück des Ortes, an dem man sich gerade aufhält, und dessen imaginäre Ausgestaltung ist eine Form der Bearbeitung der subjektiven Beziehung zum konkreten Lebensumfeld. Zum biographisch belastenden Thema wird die Rückkehr-
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orientierung in meinen Daten dann, wenn der Ort der Rückkehr materielle Manifestationen erhalten hat: Wenn Häuser gebaut wurden, wenn Geld investiert wurde in ein zukünftiges Zuhause. Gerade wenn die Häuser als ideales Zuhause betrachtet oder wenn sie als Erfüllung des Traumes auf ein besseres Leben konzipiert werden, dann kann diese Materie gewordene Rückkehrorientierung durchaus zur ökonomischen und symbolischen Belastung im Alter werden. Dass die Handlungsoption Remigration überhaupt besteht, ist, wie ich oben argumentiert habe, der Migrationserfahrung an sich inhärent. Die besonderen Ausformungen, welche Alternsprozesse dadurch bekommen, ist demnach explizit migrationsbedingt. Herkunftsspezifisch an der Rückkehrorientierung sind die Bedingungen, unter denen Migrant/innen den Herkunftsort verlassen und sich am neuen Ort niedergelassen haben, und ob eine Rückkehr rechtlich und ökonomisch überhaupt möglich ist. Die italienische Migration zeichnet sich diesbezüglich durch geographische Nähe und geordnete lokale und nationalstaatliche Verhältnisse aus. Spezifisch für die Migration aus Italien in die Schweiz war, dass auf der einen Seite ein staatliches und gesellschaftliches System stand, welches temporäre Migration förderte und sich um die Aufrechterhaltung der nationalen Einbindung der Emigrierten bemühte (z.B. D’Amato 2001). Auf der anderen Seite fand sich das passende Gegenstück: Temporäre Immigration wurde begrüßt, Einbindung in Nation und Gesellschaft hingegen möglichst unterbunden (z.B. Piguet 2004). Während im Lauf der Zeit auf der einen Seite die Option einer Rückkehr durchwegs bestehen blieb, verbesserten sich auf der anderen Seite die strukturellen Bedingungen der Option Verbleib kontinuierlich. Die ökonomischen Kontextbedingungen hingegen entwickelten sich so, dass sich das Wohlstandsgefälle zwischen Herkunftsort und Aufenthaltsort tendenziell verringerte, so dass die Vorstellung, einmal als gemachte ‚Herrschaften‘ zurückzukehren und rein schon durch die Remigration einen markanten sozialen Aufstieg zu erfahren, zunehmend an Kraft verlor. Mit fortschreitendem Alter werden zudem andere Dinge im Leben bedeutsam, zum Beispiel die Qualität der medizinischen Versorgung, oder die Einbindung in soziale Netzwerke – beides Aspekte, die im Rahmen des italienisch-schweizerischen Migrationssystems in der Regel gegen die Handlungsoption Rückkehr sprechen. Die Konstellation von Faktoren, welche in der italienisch-schweizerischen ‚Gastarbeiter‘-Migration Rückkehrorientierungen entstehen ließen und aufrechterhalten haben, ist also ein sehr spezifisches, historisch, politisch und geographisch eingebundenes Phänomen. Dadurch werden zum einen die strukturellen Kontexte bestimmt, innerhalb derer Optionen abgewogen werden. Zum anderen entwickeln sich, wie die Fallanalysen dieser Studie gezeigt haben, im Rahmen spezifischer Migrationssysteme auch spezifische biographische Haltungen der Zugehörigkeit zum Aufent-
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halts- wie auch zum Herkunftskontext, welche das Aufrechterhalten und Abwägen von Optionen entscheidend beeinflussen. Aus dieser Perspektive ist das migrantische Altern von Italiener/innen in der Schweiz einerseits geprägt durch explizite Zugehörigkeits- resp. Nichtzugehörigkeitsangebote zu Beginn der Migration, andererseits durch die permanent bestehen bleibende praktische Realisierbarkeit beider Optionen – des Verbleibs wie auch der Rückkehr.
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FAMILIÄRE
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Wie in Kapitel 2.4 ausgeführt, lässt sich nicht nur in der Literatur zu Migration und Alter, sondern auch in der Migrationsforschung allgemein eine Tendenz feststellen, die der familiären Solidarität besondere Bedeutung zuweist. Dies wird gerne auch mit traditionellen, aus dem Herkunftskontext mitgebrachten Werten begründet. Diese Tendenz findet sich insbesondere in der Literatur zur italienischen Familie in der Migration, der man einen besonders stark ausgeprägten, kulturell begründeten Zusammenhalt zuschreibt. Daraus wird abgeleitet, dass die familiäre Pflege von Betagten die ideale Form der Altenpflege für Migrant/innen sei, welche sowohl von den Betagten wie auch von ihren Angehörigen, insbesondere den Kindern, bevorzugt werde (siehe z.B. Dietzel-Papakyriakou 2001: 89f, Ganga 2006: 1403). Die weiteren Ausführungen in Kapitel 2.4 haben hingegen gezeigt, dass sich so etwas wie ‚die italienische Familie‘ nicht eindeutig ausmachen lässt. Vielmehr ist ‚Familie‘ eine äußerst flexible soziale Organisationsform, die je nach Kontext und Anforderungen unterschiedlich definiert und mit verschiedenen solidarischen Aufgaben ausgestattet werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint es logischer, dass die empirisch beobachtete besondere Bedeutung familiärer Solidaritätsnetzwerke in der Migration (siehe z.B. Bryceson/Vuorela 2002, Grillo 2008, Zontini 2007) weniger mit der Herkunftskultur als mit der „condition immigrée“ (Bolzman et al. 1999: 87), also der Migrationserfahrung und der Position als Migrant/in in der Aufenthaltsgesellschaft zu tun hat. Familiäre Netzwerke sind grundsätzlich und unabhängig vom Migrationskontext potenziell solidarische Netzwerke (Ostner 2004), und bieten sich an, in Zeiten von erhöhtem Solidaritätsbedarf aktiviert und funktionalisiert zu werden. Und da Migration in der Regel mit Herauslösung aus bekannten Ordnungen und etablierten Netzwerken verbunden ist, erhöht sich im Migrationskontext oft auch der Solidaritätsbedarf (vgl. z.B. Hareven 1994, Zontini 2006). Meine Erkenntnisse aus den Fallrekonstruktionen im empirischen Teil der Arbeit stützen diese Sichtweise.
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Die in der Literatur erwähnte große Bedeutung der Solidaritätsbeziehung zwischen Ehepartnern im Alter (z.B. Höpflinger 1997, Allan 1999) zeigt sich auch in meinen Daten. Die hier vorgestellten Ehepaare bilden, auch nach dem Wegzug der Kinder, eine Haushaltseinheit mit jahrzehntelang eingespielter Arbeitsteilung. Diese Arbeitsteilung zeichnet sich durch eine relativ deutliche geschlechtliche Zuweisung aus, und dies trotz der Tatsache, dass alle Ehefrauen auch erwerbstätig waren. Der Haushalt liegt im Zuständigkeitsbereich der Ehefrau. Während die kinderlosen Frauen neben der Hausarbeit voll erwerbstätig waren, passten die Ehefrauen mit Kindern ihre Erwerbsarbeit den Anforderungen der familiären Betreuungspflichten an. Doch die Organisation eines Haushaltes, in dem beide Ehepartner erwerbstätig sind, verlangt die Einbindung der Ehemänner in die Haus- und Familienarbeit. So haben auch die Ehemänner ihre klar zugewiesenen Zuständigkeitsbereiche im Haushalt, und wenn es die Umstände verlangen, so werden diese Aufgabenbereiche durchaus auch überschritten (vgl. auch Haddad/Lam 1994): Geschlechtliche Arbeitsteilung im Haushalt wird pragmatisch gehandhabt. Johann Rocca (Kapitel 7.6) begann zum Beispiel damit, Mittagessen zu kochen, nachdem er bereits pensioniert und Isabella noch berufstätig war, hörte aber wieder damit auf, sobald beide in Rente waren. Lino Rosetti (Kapitel 5) ist in der Lage, das Nötigste im Haushalt zu erledigen, wenn Gianna Rückenschmerzen hat. Tullio Agostino (Kapitel 5.6) steuert nach der Pensionierung zum Haushalt bei, indem er sich ausgiebig der Gemüseproduktion im Familiengarten widmet – einem unter italienischen Migrant/innen sehr beliebten, aber vorwiegend männlichen Arbeitsfeld. Marco Genni (Kapitel 7) verlegt sich nach dem Wegfall seines Arbeitsfeldes auf das angestammte Arbeitsfeld seiner Frau und betätigt sich gemeinnützig im Rahmen von Kirche und ethnischer ‚Gemeinschaft‘. Und auch wenn die Betreuung der Kinder in erster Linie den Ehefrauen oblag, so beteiligen sich alle Ehemänner ausgiebig und mit Freuden an der Betreuung der Enkelkinder. Dennoch bleiben auch im Hinblick auf die Enkelbetreuung die Grenzen geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung aufrechterhalten: Die Großmütter füttern, wickeln, waschen und kleiden die Enkel/innen, während die Großväter sich in erster Linie ums Spielen, um Hausaufgaben und um die Transportlogistik der Enkelkinder kümmern. Spürbar ist in den biographischen Selbst- und Paarpräsentationen aber nicht nur eine routinierte und kaum hinterfragte Arbeitsteilung, sondern auch ein Gefühl der Gleichwertigkeit der Ehepartner3. Dies führe ich einerseits auf die
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Dieselbe Beobachtung haben auch Bolzman et al. 2003c und Fibbi 2003 gemacht. Fibbi begründet dies mit der hohen Bedeutung, welche dem Beitrag der Ehefrauen in der Verwirklichung des familiären Migrationsprojektes zukommt (Fibbi 2003: 245).
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Migrationserfahrungen zurück, in welchen sich die eheliche Partnerschaft – das gilt zumindest für die hier präsentierten Fälle – als Vorteil im Umgang mit schwierigen Situationen erwiesen hat. Andererseits mag auch die Tatsache, dass beide Ehepartner mit Lohnarbeit zur ökonomischen Absicherung des gemeinsamen Haushaltes beigetragen haben, eine Rolle spielen. Auffällig ist jedoch, dass auch die unbezahlte Haus- und Erziehungsarbeit geschätzt wird, dass sie, in Anlehnung an Becker-Schmidt (2007: 250), nicht nur als gleich wichtig, sondern auch als gleichwertig betrachtet wird. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Feststellung von Marco Genni, dass die Arbeit für ihn mit der Pensionierung nicht aufgehört, sondern sich verlagert hat in Arbeitsfelder, in denen seine Frau bereits seit Längerem tätig war: Familienarbeit und gemeinnützige Arbeit (vgl. Kapitel 7.4). Im Vordergrund, so scheint es, stand und steht das familiäre Wohlergehen, nicht der individuelle Macht- und Erfolgsanspruch. Innerhalb dessen ergaben sich jedoch durchaus auch Freiräume für kleine individuelle Emanzipationsprojekte, wie sie z.B. in Lino Rosettis (vgl. Kapitel 5.2), Serafina Santos (vgl. Kapitel 2.3) und Alba Agostinos biographischer Selbstpräsentation (vgl. Kapitel 5.6) anklingen. Die Lohnarbeit, welche die Frauen in der Schweiz verrichtet haben, wirkt sich in meiner Untersuchung nicht unbedingt im Sinne einer durch die Migration entstandenen Mehrbelastung aus, und sie kann auch nicht als migrationsbedingte Emanzipationsleistung von vorher finanziell abhängigen Ehefrauen gelesen werden. Sowohl die Frauen wie auch die Männer waren bereits in Italien erwerbstätig oder zumindest in beträchtlichem Maße in Subsistenz- oder Hausarbeiten mit eingebunden. Diesbezüglich lassen sich in meinen Daten auch keine schichtspezifischen Unterschiede bemerken: Selbst die bürgerliche Frau Genni hatte einen Beruf und war sowohl vor wie auch nach der Migration berufstätig. Studien zur italienischen Arbeitsmigration weisen gelegentlich darauf hin, dass Migrationsprojekte einen sozialen Aufstieg vorsehen, der nicht unbedingt innerhalb einer Generation verwirklicht werden muss, sondern auch als Aufstieg über zwei Generationen geplant werden kann. Aus diesem Grund sind, so stellen z.B. Bolzman et al. (2001) fest, Transfers von Dienstleistungen und materiellen Gütern von den Eltern an die Kinder sehr ausgeprägt. Dies wiederum stattet, so postuliert z.B. Johnson (1994), die Eltern auch mit einer gewissen Macht gegenüber den Kindern zur Einforderung von Gegenleistungen für die erbrachten Opfer aus. Der Topos der Aufopferung zum Wohle der Kinder taucht in dieser ausgeprägten Form jedoch in den hier präsentierten biographischen Selbstpräsentationen nicht auf. Und ich bin der Überzeugung, dass er selbst in der hier vorliegenden Form biographischer Selbstpräsentation, die sich an ein nicht bekanntes und dadurch auch öffentliches Publikum richtet, erkennbar wäre,
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wenn er zur dominanten Sinnstruktur geworden wäre. Es wird zwar deutlich, dass das Wohl der Kinder ein zentrales Anliegen ist und dass Überlegungen dazu die Handlungsentscheidungen immer wieder prägen. Den Paaren ist zudem durchaus bewusst, dass die Kosten ihrer Migration zu einem beträchtlichen Teil auch von ihren Kindern getragen wurden (vgl. Allemann-Ghionda/Meyer Sabino 1992: 122). Jedoch äußert sich die Beziehung der Paare zu ihren Kindern in ihrer biographischen Selbstdarstellung nicht als eine einfordernde, sondern als eine nach wie vor sorgende und ermöglichende: Die Eltern beschäftigen sich damit, was aus ihren Kindern geworden ist und welche Art Leben sie führen, sie nehmen Anteil am Leben der erwachsenen Kinder. Und darin unterscheiden sich italienische Ehepaare, davon gehe ich aus, nicht wesentlich von der Mehrheitsgesellschaft. Dass das Motiv der Aufopferung für die Kinder und der damit verbundenen Reziprozitätsschulden der Kinder gegenüber den Eltern in meinen Daten nicht auftaucht, bedeutet nicht unbedingt, dass es nicht existiert. Die hier präsentierten Ehepaare haben durchaus auch schwierige Zeiten erlebt und Misserfolge einstecken müssen, und in der biographischen Bearbeitung von belastenden Erfahrungen würde sich u.a. die Argumentation anbieten, dass dies zum Wohle der Kinder und deren Zukunft erduldet werden musste. Wenn Konflikte zwischen Eltern und Kindern anstehen, wenn Erwartungen der Eltern von den Kindern nicht erfüllt werden, so ist schon denkbar, dass Eltern auf das Argument der altruistischen Aufopferung zurückgreifen, oder dass Kinder den Eltern dies unterstellen. Ich möchte nicht behaupten, dass den Ehepaaren Santo, Rosetti, Agostino, Genni und Rocca solche Gedanken fremd sind. Und ich halte es durchaus auch für möglich, dass – wie übrigens auch einige meiner Interviewpartner/innen angemerkt haben – nicht unbedingt die Eltern Erwartungen an die Kinder stellen, sondern vielmehr die Kinder entsprechende Vorstellungen von den Erwartungen resp. Ansprüchen der Eltern haben. In keinem der hier präsentierten Fälle aber wird der Topos der Aufopferung für die Kinder so dominant, dass er zu einem Bestandteil der biographischen Selbstpräsentation geworden wäre. Die Bezugnahmen in den Interviews auf Konzepte intergenerationeller Solidarität beschränken sich fast ausschließlich auf die nachfolgenden Generationen der Kinder und Enkelkinder. Sie zeichnen sich durch Vorstellungen von tendenziell einseitiger Verpflichtung der Eltern gegenüber Kindern und Enkelkindern aus. Ein Anrecht auf Einforderung von Solidaritätsleistungen von den Kindern wird, wenn überhaupt, in den biographischen Selbstpräsentationen nur ganz vorsichtig thematisiert. Einzig Laura Genni (Kapitel 7) konzipiert intergenerationelle Solidarität als zyklisches Konzept, welches bei Geburt und Aufziehen eines Kindes einseitige Unterstützungsleistungen der Eltern bedingt, dafür aber
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den Eltern im Alter das Recht auf Gegenleistungen durch die Kinder einräumt. Davon abgesehen betont Laura Genni, wie die anderen auch, den Wunsch nach Aufrechterhaltung der eigenen Unabhängigkeit und den Vorsatz, die Kinder nach Möglichkeit nicht belästigen zu wollen. Dieser Diskurs der Autonomiewahrung, für sich wie auch für die Kinder, begründet auch die tiefe Abwehrhaltung gegenüber Pflegeinstitutionen und Alterswohnheimen, und nicht, wie in der Literatur (z.B. Dietzel-Papakyriakou 2001: 89f, PRIAE 2004: 3) angeregt, kulturelle Werte der Herkunftsgesellschaft. Die Vorstellung, abhängig zu werden, ist grundsätzlich unangenehm, und vielleicht für Migrant/innen noch stärker als für Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, denn ein zentrales Thema in den biographischen Selbstpräsentationen ist der Autonomiegewinn durch die Migration. Und dass es schwer fällt sich vorzustellen, diese teilweise auch teuer erkaufte Autonomie im Alter wieder aufzugeben, das ist gut nachvollziehbar. Sollte man doch einmal auf Pflege angewiesen sein, dann wäre die von meinen Interviewpartner/innen bevorzugte Lösung diejenige, welche am meisten Autonomieerhalt verspricht: Die Pflege durch professionelle, bezahlte Personen in den eigenen vier Wänden. Dies würde ermöglichen, den Kindern nicht zur Last zu fallen, und auch nicht von ihnen abhängig zu werden. Allerdings muss ein solches Pflegemodell auch finanziert werden können. Das Ehepaar Lillo (Kapitel 6) und Serafina Santo (Kapitel 2), also diejenigen, die ein Haus in Italien haben und sich nach wie vor auch mit der Rückkehroption auseinander setzen, könnten sich eine solche Lösung insbesondere in Italien vorstellen, wo die häusliche Pflege der gängige Weg der Altenpflege ist. Dies nicht zuletzt, weil Pflegeinstitutionen in Italien, insbesondere in Süditalien, nicht so verbreitet sind wie in der Schweiz. Die häusliche Pflege ist in Italien zudem auch verbreitet, weil Arbeitskraft im häuslichen Bereich noch günstiger zu haben ist. Darin manifestiert sich ein Paradoxon der Migrationsgeschichte, dass das ehemalige Emigrationsland Italien jetzt zum Immigrations-Tor in die EU geworden ist und dadurch auf sehr billige und rechtlich wenig abgesicherte immigrierte Arbeitskraft zurückgreifen kann (vgl. Elrick/Lewandowska 2008). Und so wird die Alterspflege in Italien für die ehemals marginalisierten ‚Gastarbeiter/innen‘ nun dank der noch stärker marginalisierten Migrant/innen aus Osteuropa zum erschwinglichen Luxus (vgl. Frau Santo, Kapitel 2.4). Die Vorstellung von bezahlter Pflege im eigenen Zuhause, die in meinen Daten dominiert, geht zudem von einer geringen bis mittleren Pflegebedürftigkeit aus. Eine vollumfängliche Pflege zu Hause lässt sich, sowohl in Italien wie auch in der Schweiz, nur noch schwierig organisieren und finanzieren. Doch darüber, dass es einmal so weit kommen könnte, denkt man nicht gerne nach, das gilt auch für die Ehepaare dieser Studie. Nur andeutungsweise lassen sich
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Auseinandersetzungen mit dauerhafter Pflegebedürftigkeit und Tod ausmachen. Frau Lillo zum Beispiel, die bereits über vielfältige Erfahrung mit Krankheit und medizinischer Betreuung verfügt (vgl. Kapitel 6.5), misst der Qualität und Erreichbarkeit von medizinischer Versorgung sehr viel Bedeutung bei, wenn sie über ihre Zukunft nachdenkt. Dass das Gesundheitsversorgungssystem in Italien einen schlechten Ruf hat und dass die Rückkehr an den peripher gelegenen Herkunftsort die Aussichten der Lillos auf rasche und qualitativ hochstehende medizinische Versorgung im Notfall erschweren könnte, deutet Leonardo Lillo positiv um (vgl. Kapitel 6.5): Sterben in Italien ist ein kurzer, schmerzloser Prozess, man ist zu Hause, und wenn man gehen muss, dann geht man. Sterben in der Schweiz hingegen ist ein institutionell und medizintechnisch bestens versorgtes, aber dadurch auch hinausgezögertes Dahinsiechen (vgl. z.B. Salis Gross 2001). Lino Rosetti (Kapitel 5.4) bezeichnet seinerseits den Weg ins Pflegeheim als Einweg-Ticket. Auch er hofft, dass der Tod ihn vorher kurz und schmerzlos heimsuchen wird. Gianna Rosetti ihrerseits wünscht sich, dass sie, falls sie einmal auf Pflege im Heim angewiesen sein wird, nicht mehr gut im Kopf sein wird und so auch nicht mehr richtig mitbekommen wird, was mit ihr geschieht. Die übrigen Interviewten vermeiden dieses Thema und halten sich an der Idealvorstellung eines möglichst autonomen Lebens in den eigenen vier Wänden fest. Die in den Interviews geäußerte Präferenz für professionelle Betreuungslösungen im eigenen Haushalt bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass die befragten Ehepaare und Ehefrauen tatsächlich keine Ansprüche an Solidaritätsleistungen ihrer Kinder stellen würden. Sie zeugt aber von einer differenzierten Sichtweise, welche eingesteht, dass die eigene Versorgung bei Pflegebedürftigkeit den Lebensumständen aller Beteiligten angepasst sein muss. Und sie verweist auch auf die Fähigkeit, die zur Verfügung stehenden Optionen reflektiert beurteilen zu können. Den Paaren ist durchaus bewusst, dass die präferierte Option der bezahlten Pflege im eigenen Haus eine Idealvorstellung ist, die auch organisiert und finanziert werden muss. Ebenso ist ihnen klar, dass sie als Paare in einer privilegierten Situation sind, weil sie sich in weiten Bereichen gegenseitig helfen können und so bisher sehr gut zurecht gekommen sind, selbst in Krisensituationen und während Krankheitsepisoden. Und bei allen Paaren, die Kinder haben, ist es nach wie vor so, dass auch die Kinder Unterstützungsleistungen von den Eltern bekommen, insbesondere was die Betreuung von Enkelkindern betrifft. Weitere Unterstützungsformen der Eltern an die Kinder umfassen finanzielle Beiträge: Verschiedene Paare deuten an, dass von den bescheidenen Ersparnissen oder von den ausbezahlten Pensionskassen-Geldern auch mal das eine oder andere an die Kinder gegeben wird. Es besteht also nach wie vor eine beträchtliche Unabhängigkeit der Ehepaare, und das Reziprozitätsverhältnis zwischen
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Eltern und Kindern steht immer noch eher zu Gunsten der Eltern. Die Kinder hingegen werden von den Eltern z.B. beigezogen, wenn es um Sprachkompetenz geht: Frau Rosetti bittet ihre Söhne darum, ihr beim Verfassen eines Beschwerdebriefes auf Deutsch zu helfen, und Frau Agostino regelt die Anpassung ihres Krankenkassen-Modells mit Hilfe der Deutschkenntnisse ihrer Tochter. Keine/r der von mir Interviewten ist – abgesehen vom Ehepaar Rocca – in der Lage, sich fließend in deutscher Sprache oder in Berner Mundart zu unterhalten. Diese fehlende Sprachkompetenz wird aber auch in keinem der Interviews als problematisch im Hinblick auf das Altern in der Schweiz thematisiert. In der Regel wird dies gar nicht angesprochen, und wenn ich gezielt danach gefragt habe, dann beteuern die Interviewten meistens, dass sie eigentlich ganz gut zurecht gekommen seien. Herr Genni (Kapitel 7) zum Beispiel hat in der Bundesverwaltung gearbeitet und beherrschte mit Italienisch und Französisch zwei der offiziellen Landessprachen. Auch Herr Rosetti (Kapitel 5) kam bei seiner Arbeit ohne Deutschkenntnisse aus. Während er in der Kostümmacherei Aeby wohl eher wenig sprach und sich im Stadttheater mit den Opernsänger/innen auf Italienisch unterhalten konnte, schnappte Frau Rosetti die Fachbegriffe von ihren deutschen Vorgesetzten auf. Frau Lillo hatte bei der Arbeit Handbücher in italienischer Sprache, und wenn sie medizinische Hilfe brauchte, so suchte sie sich italienisch sprechende Ärzte. Frau Santo hat insbesondere während ihrer Arbeit als Stoffverkäuferin relativ viel Berner Mundart gelernt, zieht aber nach wie vor das Italienische als Umgangssprache vor. Auffällig ist insbesondere, dass alle Interviewten Möglichkeiten haben, sich bei etwas komplizierteren Angelegenheiten wie Versicherungsfragen oder behördlichen Angelegenheiten gezielt Hilfe und Unterstützung zu holen. Ob dies nun die Kinder sind, Vertreter/innen der Migrationsorganisationen, Nachbar/innen oder auch ehemalige Arbeitskolleg/innen oder Vorgesetzte, man weiß sich bei Bedarf Hilfe zu holen. Und im Alltag hat man ja immer noch den/die Ehepartner/in zur Seite, um sich in der Muttersprache zu unterhalten. Dies kann sich durchaus auch ändern in Zukunft, doch dass aus der fehlenden Sprachkompetenz auch ernsthafte Probleme entstehen könnten, wird nicht thematisiert. Nicht einmal Angela Lillo, die zwar in ihrer Zahnarzt-Geschichte eindrücklich davon erzählt, wie sie gelitten hat, weil sie sich nicht artikulieren konnte, bringt Sprachkompetenz als migrations- und alternsspezifisch problematischen Aspekt auf. Die intergenerationellen Beziehungen der Interviewten zu den eigenen Eltern werden, im Gegensatz zu denjenigen zu den Kindern, kaum je thematisiert, insbesondere nicht im Hinblick auf das Altern der Eltern. Gezielte Nachfragen dazu haben zwar ergeben, dass alle in der einen oder anderen Form an der Betreuung ihrer Eltern im Alter teilgenommen haben. Übliche Unterstützungsleistungen
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umfassten kontinuierliche, nicht erst im Alter einsetzende Geldüberweisungen und vermehrte Heimatbesuche im Falle von Krankheit resp. Gebrechlichkeit. Außerdem wurden die Eltern häufig im eigenen Haushalt aufgenommen, jedoch eher in der Form von befristeten Besuchen als in der Form einer permanenten Kohabitation. Dennoch wird in den Interviews selten Detailliertes zu Unterstützungs- und Pflegeleistungen an die Eltern thematisiert. Insbesondere wird nicht darauf eingegangen, ob und wie eine Aufteilung von Betreuungsaufgaben unter den Geschwistern ausgehandelt wurde. Ob dazu keine relevanten Erfahrungen vorliegen, ob dem Thema von den Interviewten keine Bedeutung zugewiesen wird, oder ob es im Gegenteil mit schlechtem Gewissen, Unterlassungsvorwürfen, Beschuldigungen und unausgetragenen Konflikten belastet ist, das kann im Rahmen dieser Studie nicht beantwortet werden. Die extensiven Fallanalysen bestätigen also die in Kapitel 2.4 erarbeitete These, dass Familien höchst anpassungsfähige soziale Gebilde sind und dass Veränderungen in der Familie im Zuge einer Migration weder als kulturassimilatorische Angleichungstendenz an die typischen Familienstrukturen des Aufenthaltskontextes, noch als kulturessentialisierende Traditionalisierungsprozesse in der Fremde zu interpretieren sind. Vielmehr schließe ich aus meiner Analyse, dass familiäre Solidaritätsnetzwerke flexible Anpassungsleistungen an die Anforderungen des sozio-ökonomischen Umfeldes sind. Spezifische Ausformungen familiärer Solidarität im Alter sind also insofern in erster Linie migrationsbedingt, als sie sich auf biographische Erfahrungen mit Solidaritätsbedürfnissen und Unterstützungsleistungen stützen, die erforderlich wurden aufgrund der Migration an sich wie auch aufgrund der Position als Migrant/innen in der Aufenthaltsgesellschaft. Zudem zeugen die in den Interviews dokumentierten alltäglichen Praxen wie auch geäußerten Ansichten und Erwartungen von einer differenzierten Auseinandersetzung mit den Bedingungen und Gegebenheiten des Lebensumfeldes. Bezugnahmen auf traditionell-kulturelle Familienwerte finden sich ansatzweise auch in meinem Material, entfalten aber in keinem Fall eine so starke definitorische Macht, als dass ich die familiären Solidaritätsformen, die sich in meinen Daten zeigen, als herkunftsbedingt bezeichnen könnte.
8.4 „E THNISCHE I NSULATION “: Z UGEHÖRIGKEITEN UND B EDÜRFTIGKEITEN IM ALTER Eine besonders breit vertretene These in der Debatte um migrantisches Altern ist diejenige des Rückzugs in die ethnische Gruppe, auch als ethnische Insulation bezeichnet (Dietzel-Papakyriakou 1993: 3, 11). Wie in Kapitel 2.1 ausgeführt,
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erfreut sich die These, dass sich Migrant/innen im Alter aufgrund von Integrationsdefiziten nicht nur auf ihre eigene ‚ethnische Gruppe‘ zurückziehen müssen, sondern dies auch so wollen, insbesondere auch in der politischen und pflegerischen Praxis großer Beliebtheit. Daraus lässt sich die sozialpolitische Maxime ableiten, dass bestehende ethnische Strukturen4, die sich bereits um Belange ihrer ‚Landsleute‘ kümmern, unterstützt und erweitert werden sollen. Die Verantwortung für die Betreuung von benachteiligten und/oder vereinsamten Betagten wird so von der Gesamtgesellschaft an eine Teilgesellschaft delegiert. Dies schließt für Migrationsorganisationen aber auch die Definitionsmacht darüber ein, was die ethnische ‚Gemeinschaft‘ ist, wer dazu gehört und was ein ethnisches Altern überhaupt ausmacht. Dass Migrationsorganisationen einerseits wichtige Dienste für die ‚Gemeinschaft‘ leisten, andererseits aber auch beanspruchen zu definieren, wen sie vertreten und welche Bedürfnisse diese Vertretenen haben, lässt sich im untersuchten Feld gut beobachten. Die These der ethnischen Insulation, im Sinne eines Rückzuges von alternden Migrant/innen in ethnische Enklaven, hat sich im Rahmen meiner Forschung jedoch nicht bestätigt. Zugehörigkeiten, Zugehörigkeitsbedürfnisse und Opportunitätsstrukturen zur Einforderung von Zugehörigkeit sind unterschiedlich und keineswegs nur auf die ethnische Gruppe beschränkt. Von den sieben hier präsentierten Fallanalysen lassen sich in drei Fällen Tendenzen zur Auseinandersetzung mit Zugehörigkeiten zu Gruppen feststellen, die als ethnisch definiert werden können (Genni und Rocca, beide Kapitel 7, sowie Lillo, Kapitel 6). Doch nur im Fall Lillo bekommt die Suche nach Zugehörigkeit im Alter eine besondere migrationsspezifische Bedeutung, auf die ich noch eingehen werde. In der Migration bestehen, so postuliere ich aufgrund meiner Beobachtungen, gewisse Parallelen zwischen familiär-verwandtschaftlichen Gruppen, der ethnischen Gruppe (also der ‚Gemeinschaft‘) und der ethnischen Strukturen (also der Migrationsorganisationen) (vgl. auch Dietzel-Papakyriakou 2005: 402, Meyer Sabino 2003a). Alle drei Formen sozialer Organisation können in der Migration zu wertvollen Solidaritätsnetzwerken werden. Alle drei werden in der Diskussion rund um das Altern in der Migration auch als wichtige Referenzpunkte und Unterstützungskontexte benannt (siehe z.B. Olbermann 2003: 247, Nationales Forum Alter & Migration/SRK 2008). Während die familiären Netzwerke im vorangehenden Kapitel im Zentrum standen, sind es nun die ethnisch definierten
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Ethnische Strukturen sind in der Regel Migrationsorganisationen, also Vereine zur Freizeitgestaltung, politische Vereine, ethnospezifische Beratungsstellen und religiöse Institutionen (vgl. Schrover/Vermeulen 2005).
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sozialen Gruppen und Zugehörigkeiten auf der einen Seite, sowie die Migrationsorganisationen als Institutionen, welche die Repräsentanz der ethnischen Gruppen beanspruchen, auf der anderen Seite. Die Institutionen der Migrationsbevölkerung werden durch den Anspruch, eine bestimmte, meist über Herkunft definierte Gruppe zu vertreten, auch in Bern sichtbar. Sowohl in der Erschließung des Feldes von Akteur/innen, die sich in Bern um migrantisches Altern allgemein und alternde italienische Migrant/innen als Pioniergruppe im Besonderen kümmern, wie auch in der Analyse der Interviews habe ich ein besonderes Augenmerk auf Gruppenbildungen, Zuschreibungen und Zugehörigkeiten gelegt. Dabei haben mir die Kenntnisse der italienischen Organisationstätigkeit in Bern aus früherer Forschungsarbeit (Soom/Truffer 2000, Soom Ammann 2006) geholfen. Meine Beobachtungen der während dieser Forschung zu Migration und Alter laufenden Diskussionen und Auseinandersetzungen unter den Akteur/innen der Stadt Bern5 über die zu ergreifenden Maßnahmen wurden für die vorliegende Studie als empirische Daten genutzt. Ein Nebenzweig meiner Forschung bestand so auch in der teilnehmenden Beobachtung innerhalb jener Arena, in welcher – über die Diskussion der spezifischen Bedürfnisse von alternden Italiener/innen – italienische Migrant/innen als ‚ethnische Gruppe‘ konstruiert und italienische Migrationsorganisationen als legitime Vertretung dieser Gruppe gegenüber der Gesamtgesellschaft konsolidiert werden. Die Frage, ob migrantisches Altern ein ethnospezifisches Altern ist, erhält in diesem Kontext eine besondere Bedeutung. Denn hier wird darüber entschieden, ob Migrant/innen im Alter besonderer Maßnahmen bedürfen, und wenn ja, wie diese Maßnahmen zu konzipieren sind und von wem sie für wen angeboten werden sollen. Vertreter/innen der italienischen Staatsangehörigen sind in diesen Auseinandersetzungen besonders aktiv. So ist es ihnen auch gelungen, das bisher einzige klar ethnospezifische Alterspflegeangebot in Bern durchzusetzen. Die neu geschaffene ‚mediterrane Abteilung‘ in einem Alterspflegeheim ist, obschon der Name eine gewisse Offenheit suggeriert, im Moment eine italienische Abteilung, in der italienisch gesprochen und italienisch gekocht wird. Vor dem Hintergrund der Bedeutung, welche in der Literatur eth-
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Diese Akteur/innen umfassten insbesondere das Alters- und Versicherungsamt (AVA) der Stadt Bern als Vertretung der Behörden, die Pro Senectute als Interessensvertreterin der alternden Bevölkerung der Gesamtgesellschaft, die privaten Pflegeinstitutionen (Alters-/Pflegeheime und Pflegedienstleistende wie z.B. die Spitex) sowie unterschiedliche sog. ‚Migrantenvertreter/innen‘, die sich im Falle Berns aus der kirchlichen Sozialarbeit und aus dem Koordinationsorgan des regionalen italienischen Vereinswesens rekrutierten.
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nischen Bezugnahmen im Alter beigemessen wird (siehe insbesondere DietzelPapakyriakou 1993), ging es in der Analyse meiner Daten darum, einerseits ein Augenmerk auf ethnische Bezüge und Definitionen in den Interviews zu haben, und andererseits herauszufinden, wie die Befragten zu obigen Repräsentationsinstanzen und Akteuren stehen und wie sie deren konkreteste Forderung – die Einrichtung eines ethnospezifischen Alterspflegeangebotes – beurteilen. Explizite ethnische Bezugnahmen sind in den biographischen Paarinterviews relativ selten. Gelegentlich kommt es vor, dass bestimmte Umstände oder Verhaltensweisen damit begründet werden, dass ‚die Italiener/innen‘ oder ‚die Schweizer/innen‘ einfach so seien. In keinem der Fälle jedoch werden solche Bezugnahmen zu einem zentralen biographischen Thema. Auch das Verhandeln der eigenen Zugehörigkeit nimmt selten dominanten Raum ein. Ansätze dazu zeigen sich z.B. bei Frau Agostino (Kapitel 5.6), wenn sie nach Gründen für das Unverständnis zwischen ihr und ihren Kindern sucht, oder bei Frau Rosetti (Kapitel 5.4), wenn sie zu erklären versucht, warum ihre Schweizer Schwiegertöchter ihr die Enkelkinder nicht regelmäßig zur Betreuung überlassen wollen. Zur geplanten Einrichtung eines ethnospezifischen Pflegeangebotes äußern sich die meisten Interviewten nicht oder nur nebenbei. Alle sind sich einig, dass sie es nach Möglichkeit verhindern möchten, selber einmal in ein solches Pflegeheim umziehen zu müssen, dass sie nur im äußersten Notfall überhaupt in ein Altersheim gehen würden. Ob es sich dabei im Endeffekt um ein ‚gängiges‘ Pflegeheim handelt, in dem nicht explizit auf Herkunft und ethnische Zugehörigkeit Bezug genommen wird, oder ein ethnospezifisches, ist dabei zweitrangig. Nur zwei Paare vertreten pointierte Meinungen zum ethnischen Pflegeangebot, und es sind just auch diejenigen Paare, die in besonders enger Verbindung zu den Migrationsorganisationen und Interessenvertreter/innen stehen, welche sich für ein solches Pflegeangebot stark gemacht haben: das Ehepaar Lillo (Kapitel 6) und das Ehepaar Genni (Kapitel 7). Während die meisten sich vor dem Gedanken sträuben, überhaupt je in ein Altersheim gehen zu müssen, müssen sich diese beiden Paare, für welche die Zugehörigkeit zur ‚ethnischen Gruppe‘ bedeutsam ist, auch zum Diskurs bezüglich der ethnospezifischen Pflegeangebote positionieren. Die je spezifische Beziehung dieser zwei Paare zur ‚ethnischen Gruppe‘ und insbesondere zu deren ‚Repräsentant/innen‘ aus dem Umfeld der Migrationsorganisationen drängt dies auf. Sowohl die Lillos (Kapitel 6) wie auch die Gennis (Kapitel 7) unterhalten eine besondere Beziehung zu organisationellen oder personellen ‚Repräsentant/innen‘ der ‚ethnischen Gruppe‘. Die Position der Gennis ist diejenige von Meinungsführern, deren Meinung jedoch nicht dem dominanten Diskurs entspricht. Sie sind in der ethnischen Gruppe akzeptiert und werden angehört, sind
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aber nicht wirklich integriert. Sie sind Außenseiter innerhalb der Gruppe geblieben. Parallel dazu ist auch ihre Meinung zu ethnospezifischen Pflegeangeboten eine, die vom dominanten Diskurs abweicht. Obwohl inhaltlich sehr differenziert und durchdacht, ist die ethnische Bezugnahme an sich hier nicht auf das eigene Altern in der Migration zurückzuführen, sondern auf ihre Position als subversive Intellektuelle innerhalb der ethnischen Gruppe und auf das damit verbundene kleine Machtspiel unter den verschiedenen Akteur/innen im bunten Konglomerat von Vereinen und Institutionen, die bei der Aushandlung einer adäquaten Repräsentanz der ‚ethnischen Gruppe‘ mitwirken. Die Lillos hingegen gehören nicht zu den Meinungsführern. Sie nutzen die Institutionen der ‚ethnischen Gruppe‘ als Sozialisationsfeld und identifizieren sich insbesondere mit einer spezifischen Gruppe und einem Meinungsführer, dessen Meinung sie vertreten und dessen Aktivitäten und Repräsentationsanspruch sie damit auch unterstützen. Ursprünglich in familiärer Kettenmigration nach Bern gekommen und ‚hier allein zurück geblieben‘, leiden die Lillos unter sozialer Isolation im Alter. Deshalb suchen sie in der ‚ethnischen Gemeinschaft‘ sozialen Anschluss, und vielleicht suchen sie darin auch Personen, welche die Reihe ihrer biographischen Leitfiguren fortsetzen: der Eltern, des älteren Schwagers, der Vorgesetzten bei der Arbeit (vgl. Kapitel 6). Die Lillos, deren wichtige Referenzpersonen nach und nach aus ihrer Biographie verschwunden sind, suchen Anschluss, und die ethnisch definierte Freizeitgruppe, in der sie sich bewegen, bietet ihnen die Möglichkeit dazu. Das Verhältnis von Subjekten zu ethnisch definierten Gruppen manifestiert sich in meinen Daten also in Form einer Option, um Zugehörigkeit einzufordern. Dies vor allem dann, wenn ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit erfüllt werden muss und keine anderen Netzwerke bestehen, über die ebenfalls Zugehörigkeit eingefordert werden kann (familiäre, nachbarschaftliche, freundschaftliche Netzwerke, aber auch über Arbeit, Freizeitaktivitäten oder Sport). Wenn sich folglich unter Migrant/innen Tendenzen zur ethnischen Insulation im Alter beobachten lassen, dann ist dies nicht als essentielles Bedürfnis von Migrant/innen im Alter zu verstehen, sondern als Handlungsstrategie, welche auf bestehende Möglichkeiten zur Bezugnahme zurückgreift, also Opportunitätsstrukturen kreativ nutzt.
8.5 E IN P LÄDOYER FÜR DIE R ELEVANZ DER M IGRATIONSERFAHRUNG Wie einleitend dargelegt, liegt der innovative Beitrag dieser Studie zur wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussion des migrantischen Alterns in dessen biographischer Herangehensweise. Im Gegensatz zu den bisher dominie-
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renden Ansätzen, das Thema Migration und Alter mittels statistischer Analysen und Meinungsumfragen zu beforschen, helfen extensive biographische Fallanalysen zu verstehen, wie sich migrantisches Altern konstituiert und worin seine Besonderheiten im Vergleich zum Altern allgemein in der Schweiz liegen. Meine Analyse zeigt, dass die Statuspassage Pensionierung nicht als einschneidendes, das bisherige Leben verunsicherndes Ereignis erlebt wird. Ebenso wenig ist sie ein spezifischer Anlass zur Bilanzierung des Migrationsprojektes respektive zur Legitimation des Aufenthaltes im ‚Gastland‘. Bilanzierungstendenzen finden sich in allen Biographien, sind aber nicht an institutionalisierte Statuspassagen gebunden, sondern vielmehr an subjektive Verunsicherungsmomente. Eng gekoppelt daran ist auch die biographische Auseinandersetzung mit der Rückkehroption. Diese wird in meinen Daten in unterschiedlicher Hinsicht relevant, in erster Linie in Form einer ständig vorhandenen hypothetischen Handlungsoption, welche in der spezifischen Ausformung des italienisch-schweizerischen ‚Gastarbeiter‘-Systems begründet ist. In der biographischen Bearbeitung von Statuspassagen, Veränderungen und Verunsicherungen kann sich diese latent vorhandene Handlungsoption zur Ressource in der Handhabung von Lebensbedingungen entwickeln, indem sie das Gefühl von Handlungsmacht durch Wahlmöglichkeit vermittelt. In den hier präsentierten Fallanalysen bekommt die Handlungsoption Rückkehr in der Lebensphase Alter dann eine potenziell konflikthafte Ausprägung, wenn die latent vorhandene Rückkehrorientierung die materielle Ausdrucksform eines ‚(Zu)Hauses‘ am Herkunftsort erhalten hat. Die Familienorientierung kommt in meinen Daten sehr ausgeprägt zum Ausdruck, allerdings nicht in Form einer traditional-essentialisierenden Referenz an die Herkunftskultur, sondern in Form einer auf die Migrationserfahrung rekurrierenden und auf den Aufenthaltskontext bezogenen Handlungsausrichtung. Insbesondere die biographische Bedeutung von familiären Beziehungsnetzen zeigt sich deutlich. Die hier präsentierten Migrationsprojekte sind von Beginn weg oder münden relativ rasch in Paar- resp. Familienprojekte. Solidarität und Unterstützung waren unter den Bedingungen der Migration notwendig, und diesbezüglich haben sich familiäre Netzwerke in den hier präsentierten Fällen bewährt. Meine Daten zeigen zudem eine klare Fokussierung auf die Generation der Kinder. Andere verwandtschaftliche Beziehungen, insbesondere diejenige zu den eigenen, inzwischen verstorbenen Eltern, erhalten deutlich weniger Raum in den hier präsentierten Paarbiographien. Die Beziehung zu den Kindern wird in der Regel nach wie vor als eine in erster Linie sorgende und ermöglichende präsentiert. Auch im Hinblick auf die Frage danach, wie einer zukünftigen Pflegeabhängigkeit begegnet werden soll, wünschen sich die Paare den Erhalt ihrer Auto-
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nomie und Unabhängigkeit und würden deshalb eine professionelle Pflege im eigenen Haushalt der Betreuung durch die Kinder vorziehen. Die alternden Migrant/innen gemeinhin unterstellte Tendenz zum Rückzug in die eigene ethnische Gruppe lässt sich in der vorliegenden Studie nicht feststellen. Wenn in den hier betrachteten Fällen ethnische Bezugnahmen im Alter eine Rolle spielen, dann geht es einerseits um das Verhandeln von Zugehörigkeit, wenn diese unter Druck gerät oder in Frage gestellt wird, andererseits um eine Suche nach Zugehörigkeit bei sozialer Isolation. Ethnische Insulation im Kontext von migrantischem Altern interpretiere ich deshalb als eine Strategie der Einforderung von Zugehörigkeit unter anderen möglichen Strategien. Abschließend lässt sich festhalten, dass die eingehende Auseinandersetzung mit den Biographien der sieben Ehepaare im Rahmen dieser Studie aufzeigt, wie migrantisches Altern biographisch gewordenes Altern ist, das sich durch drei miteinander verzahnte Besonderheiten auszeichnet. Zum einen wird deren Altern durch die Sozialisation der Biographieträger/innen in einem bestimmten Kontext, also durch die Herkunft beeinflusst. Herkunft wird hier nicht als essentielle kulturelle Prägung verstanden, sondern als Gewordensein eines Subjektes im Rahmen eines spezifischen strukturellen Umfeldes. Zum anderen prägt auch die Struktur der Aufenthaltsgesellschaft und die rechtliche und sozioökonomische Position als Migrant/in darin das Altern. Entscheidend aber, so mein Argument, ist die Tatsache, dass Migrant/innen vom einen in den anderen Kontext gewechselt haben und dass sie aus der Auseinandersetzung mit dem Verlassen eines vertrauten Umfeldes und dem Sich-zurecht-Finden in einem neuen Umfeld, das einen zudem als partiell nicht zugehörig klassiert, spezifische Erfahrungsressourcen gewinnen. Diese Ressourcen, die ich unter der Bezeichnung Migrationserfahrung fasse, können in späteren Lebensphasen hilfreich sein, die ebenfalls mit dem Verlust von Vertrautem, mit Zwängen zu Neuorientierung und mit Verunsicherung verbunden sind. Reflektierte Erfahrung wird, wie in Kapitel 3.2 beschrieben, im alltäglichen Handeln als Ressource genutzt. Die jeweiligen biographischen Erfahrungsaufschichtungen (Alheit/Hoerning 1989) sind somit Kapitalien (Hoerning 1989, 1995; Lutz 2000) für gegenwärtige und zukünftige Handlungen. Migration ist, wie in Kapitel 3.3 ausgeführt, mit spezifischen Erfahrungen verbunden, die nach Bewältigung im Sinne von Anpassung an eine veränderte Handlungsumwelt verlangen. Die Leistung, welche Migrant/innen im Prozess des Sich-zurecht-Findens im neuen Umfeld erbringen, besteht darin, dessen Sinnstrukturen und Handlungsmuster zu erkennen und sich anzueignen (Lanfranchi 1995: 249). Durch Migration werden vertraute Handlungsmuster und die Bezugnahme auf gemeinsam geteiltes Alltagswissen in Frage gestellt, und darin liegt sowohl ein Zwang wie auch eine Chance, sich selbst und seine
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Beziehung zum Umfeld normkritisch zu reflektieren und innovative Handlungsmuster zu entwickeln. Unabhängig davon, wie ‚erfolgreich‘ Individuen mit veränderten Umwelten umgehen, ist hier ein erhöhtes Maß an Reflexivität und Interpretation notwendig. Dies wird über die Erfahrungsaufschichtung zu einem Bestandteil des biographischen Kapitals und kann in späteren Lebensphasen reaktiviert, reproduziert und adaptiert werden. Und deshalb, so argumentiere ich, präsentieren sich die biographischen Selbstbeschreibungen der alternden Ehepaare Santo, Rosetti, Agostino, Lillo, Morellini, Genni und Rocca nicht als arme, desorientierte, heimwehkranke, über körperliche und seelische Gebrechen klagende wurzellose Migrant/innen, sondern als reflektierte, ihre Lebensbedingungen aktiv und kreativ handhabende, kompetente Bewohner/innen eines Umfeldes, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht haben und mit dem sie sich in zweifelsohne nicht nur harmonischer Beziehung, aber dennoch im Reinen befinden. Ich plädiere also für einen Forschungsfokus auf migrantisches Altern, welcher nicht einfach nur den Fokus auf Herkunft und ethnische Zugehörigkeit ablöst durch eine Schwerpunktlegung auf die Bedingungen und Strukturen der Aufenthaltsgesellschaft. Zentral ist, so postuliere ich, insbesondere die Migrationserfahrung als vermittelnde subjektive Instanz zwischen Herkunftskontext und Aufenthaltskontext und ihre Bedeutung für migrantische Alternsprozesse. Anknüpfungspunkte für weitere Forschung ergeben sich meines Erachtens aus dieser Studie verschiedene. Mein Forschungsprojekt hat den Fokus auf Paare gelegt und damit Migrant/innen ins Zentrum gerückt, die im Alter insofern nicht sozial isoliert sind, als sie zumindest noch einander, in der Mehrheit der Fälle zudem auch erwachsene Kinder haben. Damit wurde u.a. beabsichtigt, den Fokus des Interesses am Altern in der Migration weg von den offensichtlich problematischen Fällen hin zum Alltäglichen zu lenken. An diesem Punkt nun wäre es interessant, auch Alleinstehende wieder in den Fokus zu nehmen. Insbesondere eine biographische Studie mit Verwitweten würde es erlauben, den Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Altern als Paar oder als Alleinstehende/r nachzugehen. Weitere Möglichkeiten des kontrastierenden Vergleichs drängen sich z.B. auf im Hinblick auf die oben entwickelte These, dass Migrationserfahrung eine spezifische Ressource zur Bearbeitung von Veränderungen und Verunsicherungen bietet. Diesbezüglich wäre es interessant, die hier analysierten Fälle um sozialstrukturell ähnlich gelagerte Fälle von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft zu erweitern. Auch ein vertiefter Fokus auf die Frage der Rückkehr erscheint mir aufgrund der oben präsentierten Ergebnisse interessant. Eine Studie, die sich mit der biographischen Verarbeitung von Remigration befasst, würde nicht nur die Debatte um das Altern in der Migration bereichern, sondern
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zudem auch einen wertvollen Beitrag leisten zur allgemein vernachlässigten Rückkehrforschung. Ein weiteres zentrales Thema, welches im hier präsentierten Datenmaterial in unterschiedlichsten Dimensionen angelegt ist, ist dasjenige der informellen Pflege. Hier gäbe es mehrere Fragestellungen, welche eines intensiveren Blickes würdig wären. Was würde sich verändern, wenn tatsächlich ein/e Ehepartner/in pflegebedürftig werden würde? Oder wenn die Lillos oder Frau Santo zurückkehren würden? Wie organisiert man transnationale Pflege? Wie hat man das bei der Elterngeneration gemacht? Warum sind die eigenen Eltern und deren Pflegebedürftigkeit hier kein Thema? Wie sehen die Kinder der Ehepaare die Frage der Pflege? Auch im Bereich der professionellen Pflege bieten sich verschiedene interessante Fragestellungen an. Dort beschäftigt im Hinblick auf migrantisches Altern insbesondere die Frage, ob es eine Anpassung der bestehenden Angebote an spezifische Bedürfnisse braucht. Einen Beitrag, den diese Studie dazu zu leisten vermag, ist dass diejenigen alternden Migrant/innen, deren biographische Selbstpräsentationen hier entfaltet wurden, keine unverstehbaren Exot/innen sind, sondern normale, reflektierte und umgängliche Menschen, die sich mit ihrer Situation und ihrem Umfeld aktiv auseinander setzen und die ihre Einschätzungen und Bedürfnisse auch artikulieren können, wenn sie die Gelegenheit dazu erhalten. In diesem Sinne plädiere ich, nicht nur im sozialwissenschaftlichen Forschungskontext, sondern auch im Bereich der praxisorientierten Forschung und im pflegerischen Alltag für eine Perspektive, welche das biographische Gewordensein von Subjekten mit der Analyse struktureller Kontexte und der Reflexion von Interaktions- und Kommunikationspraktiken zu verbinden sucht. Deshalb liegt meines Erachtens der entscheidende Punkt in der Frage, wie der Umgang mit migrantischem Altern zu konzipieren ist, in der Schaffung von Kontexten, welche eine solche Kommunikation ermöglichen. Individueller und institutioneller Umgang mit migrantischem Altern muss aus dieser Perspektive hinschauen, fragen und zuhören und dabei ein Augenmerk auf sprachliche Verständigungsmöglichkeiten richten. Die Biographien von alternden Migrant/innen sind, aufgrund ihres Status von partieller Nicht-Zugehörigkeit im Aufenthaltskontext, von Ausschluss geprägt, dessen Auswirkungen sich zum Teil bis ins Alter fortsetzen oder sogar erst im Alter entfalten. Einerseits lohnt sich der detaillierte Blick auf das Altern von italienischen Migrant/innen deshalb, weil sich daran langfristige Wirkungen von politischen und gesellschaftlichen Ein- und Ausschlussmechanismen studieren lassen. Diese Erkenntnis kann genutzt werden, um aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen und zukünftige Migrationspolitiken und Integrationsmaßnahmen anders zu gestalten. Andererseits jedoch macht die Studie auch deutlich, dass
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migrantisches Altern keineswegs kompetenzloses und de-privilegiertes Altern ist. Die hier präsentierten alternden Migrant/innen – Arbeitsmigrant/innen, die schon seit Jahrzehnten hier leben – bewegen sich schon sehr lange im Kontext der Aufenthaltsgesellschaft und können bereits auf vielfältige und elaborierte Handlungsstrategien zurückgreifen, die ihrem Umfeld angepasst sind. Dies wird ihnen im Alter zum Vorteil und ermöglicht einen handlungsmächtigen Umgang mit dem Altern und den Spätfolgen von migrationsbedingten Besonderheiten. Ich plädiere also für eine Perspektive auf migrantisches Altern, die sowohl strukturelle Schwierigkeiten und Mängel sucht und die gesellschaftliche Verantwortung dafür benennt, als auch die individuellen Ressourcen und Kompetenzen der Migrant/innen anerkennt und ihrer Individualität Rechnung trägt.
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Meyer Sabino, Giovanna 2003b: Emigration und Metalitätswandel. In: Halter, Ernst (Hg.): Das Jahrhundert der Italiener in der Schweiz. Offizin, Zürich: 185-189 Meyer Sabino, Giovanna 2003c: Frauen in der Emigration. In: Halter, Ernst (Hg.): Das Jahrhundert der Italiener in der Schweiz. Offizin, Zürich: 203-220 Mihciyazgan, Ursula 1986: Wir haben uns vergessen. Ein intrakultureller Vergleich türkischer Lebensgeschichten. EB-Verlag Rissen, Hamburg Mikl-Horke, Gertraude 2007: Industrie- und Arbeitssoziologie. 6. Auflage, Oldenbourg, München Morokvasic-Müller, Mirjana et al. (eds.) 2003: Crossing Borders and Shifting Boundaries, vol. I: Gender on the Move. Leske + Budrich, Opladen Myerhoff, Barbara 1994 (1978): Number our days. In: Sokolovsky, Jay (ed.): Growing Old in Different Societies: Cross-cultural Perspectives. Copley, Acton: 179-185 Nationales Form Alter & Migration und Schweizerisches Rotes Kreuz SRK 2008: Kriterien der Gesundheitsförderung mit älteren MigrantInnen in der Schweiz. SRK, Bern Nave-Herz, Rosemarie 2004: Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde. Juventa, Weinheim/München Niederberger, Josef Martin 2004: Ausgrenzen, Assimilieren, Integrieren. Die Entwicklung einer schweizerischen Integrationspolitik. Seismo, Zürich Oevermann, Ulrich 2000: Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In: Kraimer, Klaus (Hg.): Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Suhrkamp, Frankfurt a. M.: 58-156 Olbermann, Elke 2003: Soziale Netzwerke, Alter und Migration: Theoretische und empirische Explorationen zur sozialen Unterstützung älterer Migranten. Dissertation Fachbereich 14, Universität Dortmund, , 3. Mai 2009 Ostner, Ilona 2004: Familiale Solidarität. In: Beckert, Jens et al. (Hg.): Transnationale Solidarität. Chancen und Grenzen. Campus, Frankfurt: 78-94 Pagenstecher, Cord 1996: Die „Illusion“ der Rückkehr. Zur Mentalitätsgeschichte von „Gastarbeit“ und Einwanderung. Soziale Welt 47/2: 149-179 Parnreiter, Christof 1994: Migration und Arbeitsteilung. AusländerInnenbeschäftigung in der Weltwirtschaftskrise. Promedia, Wien Patel, Naina (ed.) 2003: Minority Elderly Care in Europe: Country Profiles. PRIAE Policy Research Institute on Ageing and Ethnicity, Leeds
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Dank
Über all die Jahre, in denen diese Arbeit entstanden ist, haben mich viele Menschen begleitet; einige nur ein Stück weit, einige auf dem ganzen Weg. All diesen Menschen bin ich überaus dankbar für ihre Anteilnahme, ihr Mitdenken, ihr kritisches Kommentieren und konstruktives Beraten, ihr Zulassen und Ermöglichen. Die Seele dieses Buches steckt im empirischen Material, und deshalb stehen die zwölf Menschen, welche sich bereit erklärt haben, mir ihre Geschichten zu erzählen, zuoberst auf meiner Verdankungsliste. Dass sie mir ihr Vertrauen entgegen gebracht haben, mich an ihrem Leben haben teilhaben lassen, schätze ich sehr. Dafür, dass dieses Dissertationsprojekt überhaupt entstehen konnte, danke ich dem Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung IZFG der Universität Bern, welches mich im Frühling 2002, als noch nicht viel mehr als eine vage Forschungsidee vorhanden war, ins Graduiertenkolleg „Shifting Gender Cultures“ aufgenommen hat. Das Arbeitsumfeld im Rahmen des Kollegs und der intensive und bereichernde Austausch mit meinen Mitkollegiat/innen haben mir ganz neue Dimensionen akademischen Arbeitens eröffnet. Brigitte Schnegg, Carolin Arni und Christa Binswanger anerbiete ich meinen Dank für die materielle und ideelle Unterstützung während des dreijährigen Kollegs und für die Gewährung des Gastrechtes am IZFG bis zur endgültigen Fertigstellung der Dissertation. Darüber hinaus bin ich dem Schweizerischen Nationalfonds zu Dank verpflichtet, der mir mit der Zusprache eines einjährigen Stipendiums im Rahmen des Marie-Heim-Vögtlin-Programms ermöglicht hat, meine Arbeit nach einer unfreiwilligen Pause wieder konzentriert aufzunehmen. Meinem Erstbetreuer Prof. Hans-Rudolf Wicker danke ich dafür, dass er das Vertrauen hatte, mich in interdisziplinärem Umfeld arbeiten und meine Idee umsetzen zu lassen. Prof. Bettina Dausien danke ich für die methodologischen Anregungen und für die Gelegenheiten, im Rahmen von Blockseminaren und Forschungswerkstätten von ihren theoretischen und forschungspraktischen Kompetenzen zu lernen. Ich
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danke ihr zudem insbesondere für ihre Empathie und ihr Interesse an meiner Arbeit und für die Zeit, die sie sich zur Beantwortung meiner Fragen im Rahmen ihrer Funktion als Zweitbetreuerin genommen hat. Meinen Mitkollegiat/innen danke ich für den regen inhaltlichen Austausch und die warme und wohlwollende Arbeitsatmosphäre im Kolleg, die mich zu neuen Ideen inspiriert und auch durch die schwierigen Phasen des Dissertierens hindurch getragen hat. Aus diesem Arbeitszusammenhang heraus haben mich einige Personen auch nach Abschluss des Kollegs weiter begleitet, und neue Personen sind im Laufe der Jahre dazu gestoßen. Dadurch hatte ich das Glück, der mitunter einsamen Arbeit des Dissertierens in einem angenehmen und hilfsbereiten sozialen Umfeld nachzugehen. Insbesondere Anna Bally, die während Jahren nicht nur das Büro, sondern auch Sorgen, Nöte und Freuden der alltäglichen Forschungsarbeit mit mir geteilt und mir unzählige Versionen meiner Fallanalysen gegengelesen hat, bin ich zu Dank verpflichtet. Ebenfalls mehr als rein akademische Anregung und Unterstützung verdanke ich Bettina Fredrich. Ich erinnere mich mit Freude an die Text-Intervisionssitzungen mit den beiden wie auch mit Sabin Bieri und Claudia Michel. Die theoretischen Auseinandersetzungen mit denjenigen Mitkollegiatinnen, die mein Interesse an Migrationsforschung teilten, haben über die Jahre zur Formierung des Vereins ‚PASSAGEN Forschungskreis Migration und Geschlecht‘ geführt. Dieser Gruppe verdanke ich nicht nur anregende inhaltliche Diskussionen, sondern auch viel instrumentelle und ideelle Unterstützung. Insbesondere danke ich Marina Richter, Jana Häberlein, Nadja Baghdadi, Anne Juhasz, Yvonne Riaño, Cecilia Speranza und Silvia Büchi für kluge Ratschläge, kritische Kommentare, anregende Vorschläge und ermunterndes Schulterklopfen. Von unschätzbarem Wert für die Forschungsarbeit und mit viel Lust und Freude verbunden war auch die kollektive Interpretationsarbeit im Rahmen der Materialgruppe. An diesen inspirierenden Sitzungen haben mich, neben einigen der bereits genannten Kolleginnen, auch Anja Sieber, Bettina Büchler, Kathrin Zehnder und Serena Dankwa begleitet. Für das geduldige Lesen und Kommentieren einzelner Kapitel danke ich meinen Freund/innen Sandra Knoll, Franziska Egli, Rolo Böhlen, Silvia Hugi und Karin van Holten. Mit dem Gedeihen dieser Arbeit sind auch meine beiden Kinder Anouk und Silas herangewachsen. Ihnen und meinem Mann Yves danke ich dafür, dass sie mich immer wieder in die akademische Welt haben gehen lassen und dass sie die Geduld hatten, mich machen zu lassen, bis nun das Produkt der Arbeit fassbar und sichtbar vorliegt.
Kultur und soziale Praxis Sylke Bartmann, Oliver Immel (Hg.) Das Vertraute und das Fremde Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs Juni 2011, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1292-9
Gabriele Cappai, Shingo Shimada, Jürgen Straub (Hg.) Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse Hermeneutik und die komparative Analyse kulturellen Handelns 2010, 304 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-793-6
Silja Klepp Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz Eine Ethnographie der Seegrenze auf dem Mittelmeer Mai 2011, ca. 384 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1722-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Claudia Schirrmeister Bratwurst oder Lachsmousse? Die Symbolik des Essens – Betrachtungen zur Esskultur 2010, 230 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1563-0
Doris Weidemann, Jinfu Tan Fit für Studium und Praktikum in China Ein interkulturelles Trainingsprogramm 2010, 188 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1465-7
Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht August 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Aida Bosch Konsum und Exklusion Eine Kultursoziologie der Dinge 2010, 504 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1326-1
Anne Broden, Paul Mecheril (Hg.) Rassismus bildet Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft
Daniel Gaxie, Nicolas Hubé, Marine de Lassalle, Jay Rowell (Hg.) Das Europa der Europäer Über die Wahrnehmungen eines politischen Raums März 2011, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1626-2
Jörg Gertel Globalisierte Nahrungskrisen Bruchzone Kairo
2010, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1456-5
2010, 470 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1114-4
Nesrin Z. Calagan Türkische Presse in Deutschland Der deutsch-türkische Medienmarkt und seine Produzenten
Sabine Hess, Nikola Langreiter, Elisabeth Timm (Hg.) Intersektionalität revisited Empirische, theoretische und methodische Erkundungen
2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1328-5
Lucyna Darowska, Thomas Lüttenberg, Claudia Machold (Hg.) Hochschule als transkultureller Raum? Kultur, Bildung und Differenz in der Universität 2010, 136 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1375-9
Kathrin Düsener Integration durch Engagement? Migrantinnen und Migranten auf der Suche nach Inklusion 2010, 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1188-5
Özkan Ezli (Hg.) Kultur als Ereignis Fatih Akins Film »Auf der anderen Seite« als transkulturelle Narration
Mai 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1437-4
IPSE – Identités Politiques Sociétés Espaces (Hg.) Doing Identity in Luxemburg Subjektive Aneignungen – institutionelle Zuschreibungen – sozio-kulturelle Milieus 2010, 304 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1448-0
Arne Weidemann, Jürgen Straub, Steffi Nothnagel (Hg.) Wie lehrt man interkulturelle Kompetenz? Theorien, Methoden und Praxis in der Hochschulausbildung. Ein Handbuch 2010, 572 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1150-2
2010, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1386-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de