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German Pages 326 Year 2014
Teresa Leonhardmair Bewegung in der Musik
Musik und Klangkultur
Teresa Leonhardmair (Dr. phil.) ist Wissenschaftlerin, Künstlerin und Rhythmik-Pädagogin in Salzburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Harmonik, Musikästhetik, Gender Studies und Performance Studies.
Teresa Leonhardmair
Bewegung in der Musik Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen
Gefördert durch die Österreichische Forschungsgemeinschaft, die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg und das Benediktinerstift Admont.
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Inhalt
Vorwort | 7
Einleitung | 11
»Die Zukunft ist mobil« – Mensch und Bewegung im 21. Jahrhundert | 11 Bewegung und Musik | 14 Musik erleben – Musik definieren | 16 Zum Inhalt | 18 Zu den Methoden | 19 Musik/Kunst/Mensch ist mobil | 24
BEWEGUNG ALS BEGRIFF UND PHÄNOMEN Zur Doppelnatur von Bewegung als Begriff und Phänomen | 29 1. Etymologische Aspekte | 37 2. Kulturgeschichtlicher Abriss | 45
2.1 Vom bewegten Kosmos zur Messbarkeit von Bewegung | 45 2.2 Dynamisierung und Fragmentisierung von Bewegung | 61 3. Phänomenologische Aspekte | 75
3.1 Bewegung und Leben | 75 3.2 Bewegung in den Anfängen und Grundbausteinen des Lebens | 82 3.3 Ausgewählte Formen und Funktionen im Feld der Lebensbewegungen | 85 3.4 Bewegung im Kontext des Humanen | 95
BEWEGUNG ALS MUSIKIMMANENTES PHÄNOMEN Vorbemerkung zur Systematik | 119
1. Bewegung im Kontext intramusikalischer Parameter | 121
1.1 Schwingung | 122 1.2 Zahl und Proportion | 128 1.3 Muster I | 139 1.4 Rhythmus | 142 1.5 Muster II | 163 1.6 Melodie | 165 1.7 Harmonie | 170 1.8 Form | 174 1.9 Raum, Zeit und Raum-Zeit-Kontinuum | 185 1.10 Dynamik | 201 2. Bewegung im Zwischenraum von Mensch und Musik | 205
Mensch und Musik | 205 2.1 Resonanzen | 206 2.2 Anwendung von Resonanzphänomenen | 215 2.3 Interaktion | 225 2.4 Ausdruck und Darstellung | 229 2.5 Hören und Horchen | 242 2.6 Spielbewegung | 247 2.7 Kreation | 253 2.8 Visualisierung | 265 2.9 Leiten, Begleiten und Übersteigen | 287 Musik als Bewegung – Abschließende Bemerkungen | 313
Reflexion | 313 Bewegung in der Rede von Musik | 314 Zum Umgang mit dem Bewegungsbegriff in der Musik | 314 Erscheinweisen von Bewegung – Diversität und Universalität | 317 Musik – Bewegung – Leben | 317 Bewegung – musikimmanentes Prinzip | 318 Musikinhärente Dimensionen von Bewegung | 319
Vorwort
In den Jahren meiner Studien hat sich der Zwischenraum als charakteristischer Ort für meine künstlerische, pädagogische und wissenschaftliche Arbeit herauskristallisiert. Diesem Buch liegt eine im Rahmen des Interuniversitären Doktoratsstudiums an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und der Universität Wien im Jahr 2012 eingereichte Dissertation zugrunde, die sich nicht nur im Zwischenraum positioniert, sondern in der theoretischen Präzisierung des untersuchten Phänomens auch die grenzüberschreitende Bewegung und die Suche nach Relationen forciert. Die Forschungstätigkeit im Rahmen der Promotion war von vielen interdisziplinären Begegnungen gezeichnet und ließ in Wechselwirkung verschiedene künstlerische Arbeiten entstehen. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank gegenüber all jenen Menschen ausdrücken, die zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben. Allen voran danke ich meinem Doktorvater Werner Schulze. Er hat mich auf dem Weg in die Wissenschaft begleitet und mich auch in künstlerischer Hinsicht unterstützt. Mit seinem Hinweis auf die Bedeutung des Terminus Bewegung in den Quellen zur Harmonik wurde der Grundstein für meine weiteren Forschungen gelegt. Mein Dank gilt ebenso meinem Zweitbetreuer Toni Reinelt, der mir mit seinen wohl gesetzten Bemerkungen aus der Außenperspektive im Besonderen geholfen hat, die Phänomene einzuordnen und die Darstellung gleichsam entlang eines Ariadnefadens anzulegen. Von Herzen bedanke ich mich bei meinem Mann Jakob. In seiner Aufgeschlossenheit gegenüber meinen Tätigkeiten und seiner Anteilnahme in fachlicher wie emotionaler Hinsicht war er mir eine große Stütze. Mein besonderer Dank richtet sich an meine Freundin Mirjam und meine Schwester Miriam, die mir in engagierter Art und Weise beim Lektorat und in der Satzerstellung geholfen haben. Viele Erkenntnisse konnte ich in Gesprächen mit meinen Kommilitonen gewinnen. Ich danke Mehrdad, Angela, Marialena, Felix, Judith, Sigrid, Anna und Martina für den lohnenden Austausch. Außerdem gilt mein Dank meinem Schwager Reinhard, meiner Schwester Christine, meiner Freundin Gudrun und meiner Schwägerin Maria für ihre Hilfestellungen praktischer und theoretischer Natur. Zuletzt möchte ich mich bei
meinen Eltern Margareta und Manfred und meinen Schwiegereltern Christine und Max aufrichtig für ihre Unterstützung und ihr Vertrauen bedanken.
Newton sah, was Apfel, Erde und Mond einte. Der Tanz der Energie. Elektrizität, Kohlenstoff, Nahrung, alles ist Energie. Energie ist die Drehung, durch die es Tag und Nacht gibt. Sie schafft Ebbe und Flut Sommer und Winter: Längerwerdende Nächte, die die Knospen schrumpfen lassen, längerwerdende Tage, die die Früchte schwellen lassen. Der dauernde Tanz der Energie. Bewegung und Rhythmus sind Grundeigenschaften der Materie. Die Musik der Sphären. Die Melodie der Wellen des Universums. Alles ist Welle. Bewegung und Rhythmus: die Daseinsform der Materie. Die Musik der Sphären und die Musik der Atome und der Moleküle. Und der Herzschlag. Das Kommen und Gehen der Zugvögel, die den halben Erdball umfliegen, um sich zu lieben (und die Wale über ganze Ozeane). Und der Rhythmus des Herzens: Harfenharmonie des Universums. Ernesto Cardenal Gesänge des Universums. Cántico Cósmico Dreißigster Gesang, Sternentanz
Einleitung
»D IE Z UKUNFT IST MOBIL « – M ENSCH UND B EWEGUNG IM 21. J AHRHUNDERT Der nun bereits einige Jahre alte Slogan eines großen österreichischen Unternehmens – »Die Zukunft ist mobil« – verweist mit seiner Prognose auf ein seit der Moderne existierendes gesellschaftliches Zentralmotiv: Bewegung. Sie ist Anforderung an den Menschen des 21. Jahrhunderts, insofern sie geradezu als Prämisse des Fortschrittes zu bezeichnen ist.1 Dabei geht es um den Aspekt des Ortswechsels ebenso wie um die Heranbildung des »flexiblen Menschen« (Richard Sennett), der sich als homo mobilis in einem rasant erneuernden Umfeld behände zu bewegen wissen sollte, um den Vorgaben einer insgesamt bewegbaren – um ein altes Synonym für mobil heranzuziehen2 – Gesellschaft entsprechen zu können. Ein hoher Grad an Emanzipation des ökonomischen und kulturellen Tempos sowie verschiedene Arten von Migration setzen Identitäten in Bewegung, die sich in Bezug auf Herkunft, Religion und Lebensstil ständig neu definieren und einen Modus zwischen Adaption und Autonomie gegenüber einer Kultur finden müssen.3 Räumliche, soziale, virtuelle und informationelle Beweglichkeit bestimmen unser Leben. Die Bewegung des Leibes als ganzheitliche psychomotorische Leistung, kinästhetisch und interaktiv
1
Vgl. Klein, Gabriele: »Bewegung und Moderne: Zur Einführung«, in: Dies. (Hg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte (= Sozialtheorie), Bielefeld: transcript 2004, S. 7-19, hier S. 13.
2
Vgl. Adelung, Johann Christoph/Soltau, Dietrich Wilhelm/Schönberger, Franz Xaver (Hg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. Band 1, Wien: Bauer 1811, S. 965.
3
Dass jeder Kultur auch ein (gesellschafts-)spezifisches Tempo eigen ist, beschreibt der Psychologe Robert Levine in seiner Untersuchung des Phänomens Zeit (vgl. Levine, Robert: Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen, München: Piper 2001, S. 37ff.).
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erfahrene Qualität, wird einerseits mehr und mehr durch die Maschine ersetzt4, während andererseits gleichzeitig ein »kompensatorischer Übereifer« (Bernhard Waldenfels) zu konstatieren ist. Die Begriffe Fitness und Wellness stehen stellvertretend für eine Gesellschaft, die rein physisch betrachtet zu wenig in Bewegung ist und nach Ausgleich strebt.5 Von Anbeginn der Zeit ist es Charakteristikum des Lebendigen, in Bewegung zu sein. »Es regt sich alles zwar, doch er [Anm.: Gott] bleibt unbewegt.«6 Der Barockdichter Angelus Silesius bringt eine Jahrhunderte gültige philosophischtheologische Grundannahme in wenigen Worten auf den Punkt: Bewegung definiert das genuin Humane, insofern als diese das Leben auf der Erde vom göttlichen unveränderlichen Sein differenziert. Mithilfe moderner Technologie erzeugte und heute unbedingt notwendig erscheinende Bewegung stellt das Kennzeichen irdischen Lebens in ein neues Licht. Ein in uns und um uns wirkendes Phänomen, das die menschliche Existenz begleitet, wird seit der in der Aufklärung einsetzenden Säkularisierung durch Mess- und Berechnungsmöglichkeiten – und damit Beherrschbarkeit – maßgeblich zweckorientiert eingesetzt. Machbarkeit und Gestaltbarkeit von Bewegung verändern die Beziehung des Menschen zu Bewegungsphänomenen. Die globalisierte Welt versteht sich in einem neuen Sinn als Perpetuum mobile. So reicht der ökonomische Faktor von Bewegung von der Informationstechnologie über Maschine und Verkehrswesen bis zur ›Emotionalisierung‹ von Konsumgütern. Stillstand ist hingegen meist negativ konnotiert – repräsentiert dieser doch vielleicht zu sehr das Faktum Tod. Die kulturgeschichtliche Fundamentalität des Terminus Bewegung, die im postmodernen Zeitalter ihre besondere Gültigkeit erhält, zeigt sich im aktuellen Sprachgebrauch. Die Rede von Bewegung ist populär, in Folge der übermäßig häufigen Verwendung fast inflationär; so kann der Begriff im Sinne eines ›umbrella term‹ doch vor unzählige Substantive gesetzt werden. Der Sparten überschreitende Charakter führt dazu, dass Bewegung zwar stets kontextuell determiniert, jedoch disziplinunabhängig allgegenwärtig ist. Fachspezifischen Festlegungen mangelt es dabei allerdings meist an einer vorausgehenden Festlegung des jeweils angenommenen
4
Dieser Umstand wird z.B. bei Virilio, Paul: Revolutionen der Geschwindigkeit (= Internationaler Merve-Diskurs, Band 177), Berlin: Merve 1993, S. 15 bzgl. der Mobilität der Reisenden beschrieben: »Wir sind nicht mehr Reisende, sondern Pakete, die in Flugzeugen [...] transportiert werden [...].«
5
Vgl. Schierz, Matthias: »Bewegung verstehen - Notizen zur Bewegungskultur«, in: Prohl, Robert/Seewald, Jürgen (Hg.), Bewegung verstehen. Facetten und Perspektiven einer qualitativen Bewegungslehre, Schorndorf: Hofmann 1995, S. 99-118, hier S. 99 zur Auseinandersetzung mit der Bewegungskultur, die der Kulturkritik nicht entkommen könne.
6
Angelus Silesius: Der cherubinische Wandersmann, Zürich: Diogenes 1979, S. 10.
E INLEITUNG
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Begriffsinhalts, wie auch Florian Deltgen in seiner soziologischen Untersuchung aus dem Jahr 1969 kritisch notiert: »[...] so ziemlich jeder Autor versteht unter ›Bewegung‹, was er will, und jeder etwas anderes.«7 Die Frage, was Bewegung ist, mündet in die Antwort, was Bewegung sein kann. Denn ihr polymorphes Erscheinungsbild erschwert allgemeingültige Definitionen und entspricht der Komplexität des Problems, das sie als Begriff umschließt. Dies ist zugleich ihr Spezifikum. Der Schriftsteller Semier Insayif nimmt auf diesen Umstand in seinem Gedicht »grund sätze über bewegung« Bezug und findet dafür eine poetische Gestalt: »dazwischen liegt zu grunde sich bewegung [...] zugriff auf sein wesen im begriff zu fassen – fast unmöglich da gleichsam sich das fassen ändernd fort bewegt und fort bewegt was greifend es zu fassen sucht zu jeder zeit sich regend in der schwebe [...] einverleibt umfassend und so un-ab-lässig [...] als ein moment unausgedehnt und einfach dauernd sich zum augenblick ereignend in sich selbst verstehend zu umspannen was war und wird im ist bewegung«8
Eine Beschreibung von Bewegung muss sich zwischen den Polen einer kritischen, detaillierten Analyse ihrer konkreten Erscheinungsformen und einer einheitlichen, abstrahierten Erklärung bewegen.9 Dabei mag eine der größten Schwierigkeiten im Eindringen in das genetische Element liegen; denn Schaffendes und Geschaffenes liegen zugleich vor: Es ist weder möglich, von Bewegung zu schreiben oder zu sprechen, ohne sich zu bewegen, geschweige denn zu existieren. Die Untersuchungen zur Bewegung scheinen eine »fortschreitende, aber endlose Anpassung der Theorien an die unendliche Komplexität der Wirklichkeit darzustellen«, wie der Philosoph Enrico I. Rambaldi für das 20. Jahrhundert konstatiert10. Das Fehlen ei-
7
Deltgen, Florian: »Bewegung« als historischer und soziologischer Begriff. Versuch einer theoretischen Präzisierung. Dissertation, Köln 1969, S. 9.
8
Insayif, Semier: Über Gänge verkörpert. Oder vom Verlegen der Bewegung in die Form
9
Vgl. Rambaldi, Enrico I.: »Artikel ›Bewegung‹«, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hg.), Enzy-
der Körper. Gedichte, Innsbruck: Haymon 2001, S. 57. klopädie Philosophie. Band I, Hamburg: Meiner 1999, S. 160-167, hier S. 161 sowie ebd., S. 162: »Wie tiefgreifend [.] eine Theorie der B. auch sein mag, die Vielschichtigkeit des Phänomens scheint unerschöpflich, so daß sich in der Geschichte des Denkens die diesbezüglichen Theorien mehr und mehr entfalten.« 10 Ebd., S. 164.
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nes unbedingten Endes eines solchen Prozesses spiegelt nur wider, dass die Realität nicht vollends in der Theorie erfasst werden kann. Dem kann zumindest mit einem kindlichen Staunen im Sinne einer unvoreingenommenen Begegnung der Diversität des Daseins entgegnet werden, was vielleicht eine im Bewegungsbegriff vorhandene Transzendenz erahnen lassen mag.
B EWEGUNG
UND
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Dass zwischen Musik und Bewegung – zwei Phänomene mit einer jeweils ausgeprägten anthropologischen Dimension – viele Verbindungen bestehen und dass Wechselwirkungen vorhanden sind, kann als Allgemeingut bezeichnet werden und wird in der Praxis durchaus als selbstverständlich hingenommen. In Bezug auf die Konjunktion und zwischen den genannten Untersuchungsgegenständen stellt sich die Frage nach seiner Bewandtnis: Ist die genannte Koppelung als eine rein additive gekennzeichnet? Handelt es sich um ein Bedingungsgefüge oder geht es um einen Mangel? Die facettenreiche Wissenschaft von der Musik gibt darauf zwar keine eindeutige Antwort, zeugt aber von einer Realität dieser Verbindung. Wird nun die Bewegung aus der Perspektive der Musik untersucht bedeutet dies, dass ein Weg vom Verhältnis hin zur Musikimmanenz von Bewegung entworfen wird. Das Erbe ästhetischer Kommunikation und Produktion sowie gegenwärtiges wissenschaftliches und literarisches Material offenbaren eine Fülle an Quellendokumenten und Publikationen, die zumindest fragmentarisch auf ein Bild von Musik schließen lassen, für das der Bewegungsbegriff als relevant zu erachten ist.11 Auffallend sind die Intensität des Auftretens und der völlig unterschiedliche Kontext hinsichtlich des Raumes und der Zeit, des Themengebietes und der Autorschaft. So heterogen die Zusammenhänge der Präsenz, so verschiedenartig die Formen des Umganges mit dem Bewegungsbegriff: hinsichtlich dessen, was er meint und auf welchen Bereich er bezogen wird. Weiters wird der Terminus Bewegung in mehreren alten Quellen zur Definition von Musik herangezogen. Diese Beobachtungen geben Anlass zur Vermutung, es handle sich bei Bewegung im Kontext der Musik
11 Dieses Buch beschränkt sich mit einigen wenigen Ausnahmen auf die Musikkultur des Abendlandes – im Bewusstsein um die terminologische Problematik einer »abendländischen Musikkultur«. Zum Wissen um die Existenz des Bewegungsbegriffes in der Musik von alters her vgl. Engel, Hans: »Sinn und Wesen der Musik« (1950), in: Karbusicky, Vladimir (Hg.), Sinn und Bedeutung in der Musik. Texte zur Entwicklung des musiksemiotischen Denkens (= Texte zur Forschung, Band 56), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, S. 50-60, hier S. 52 sowie Kurth, Ernst: Musikpsychologie, Nachdruck der Ausgabe von 1931, Hildesheim/Zürich/New York: G. Olms 1990, S. 78.
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um mehr als eine bloße Komponente von vielen, ein Hilfswort zur Beschreibung oder ein bloßes Wechselverhältnis zweier getrennter Größen. So lautet eine erste These, dass Musikereignisse Bewegungsereignisse einschließen. Dass auch Bewegungen außerhalb der Musik mit ihr verbunden sind, kann insofern gedeutet werden, als Musik nie isoliert vom Menschen und der Welt existieren kann; Musik und die »Sonderwelt« (Bernhard Waldenfels) Musik, die alle von ihr tangierten Lebensbereiche umfasst, werden hier als Einheit begriffen. In der Interpretation von Musik als Urphänomen des Humanen, ergo untrennbar mit dem Lebendigen verbunden, mit dem Prinzip des Schöpferischen gleichsam als seine Natur im Menschen verankert12, zeigt sich die enge Verbundenheit von Bewegung im Sinne einer Universale und Conditio sine qua non mit dem Musikalischen. So geht mit einem veränderten Musikverständnis auch eine Transformation der Verwendung und der Deutung des Bewegungsbegriffes einher. Im Zuge der Genese des Musikbegriffes, dem im Laufe von zweieinhalb Jahrtausenden eine kaum überschaubare Zahl an Bedeutungen zugewachsen ist, weist auch der Bewegungsbegriff innerhalb dieser Entwicklung vielfältig ineinander gespiegelte Bedeutungsebenen auf. Nicht zuletzt deswegen scheint es angebracht zu sein, vom Plural der musikalischen Bewegung zu sprechen. Ausgehend von der Reflexion des Sprachverständnisses einer Zeit (und damit des Gesellschaftsbildes inklusive seiner Prioritäten) in Lexika und Wörterbüchern kann eine Reduktion in der Auseinandersetzung mit Bewegung im Kontext der Musik und damit einhergehend eine Einengung des Terminus festgestellt werden. Legen Nachschlagewerke aus dem 17. bis 19. Jahrhundert z.T. höchst interessante und heute ungewöhnlich erscheinende Sichtweisen der Fragestellung dar, erschöpft sich eine Darstellung desselben heute in wenigen bis einzelnen Sätzen oder eine Betrachtung wird gänzlich vermieden. Da Musik »im Schnittpunkt verschiedenster Disziplinen steht und [...] mehreren Bedeutungsdimensionen unterliegt«13, haftet der Konfrontation mit einem weiteren mehrdimensionalen Phänomen per se ein Problem an. So sind gewisse Schwierigkeiten einer Klärung des Auftretens und der Bedeutung des Bewegungsbegriffes, bezogen auf den vielschichtigen Terminus Musik, bereits vorgezeichnet. Kurzum,
12 Vgl. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden: Aula 1986, S. 316f. 13 Allesch, Christian G.: »Musikpsychologie und Musikerziehung«, Vortrag beim »Tag der Musikpädagogik« an der Universität Mozarteum Salzburg am 16.11.2001, http://www. uni-salzburg.at/pls/portal/docs/1/550027.PDF vom 08.07.2007. Zur Problematik der Musikdefinition im Alltag vgl. Spitzer, Manfred: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, Stuttgart/New York: Schattauer 2006, S. 17: »Jeder weiß, was Musik ist, aber soll man sagen, was es wirklich ist, gerät man in Schwierigkeiten [...].«
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der Bewegungsbegriff stellt sich in der Musik durchaus als Schwierigkeit dar14 und wird wohl nicht zuletzt deswegen in der Wissenschaft zusehends gemieden werden; dementsprechend rar sind eingehende Reflexionen. Dies erscheint insofern paradox, als seitens verschiedener Theoretiker15 die Relevanz des Bewegungsphänomens in der Musik hervorgehoben wird. So ist z.B. bei Eduard Hanslick Mitte des 19. Jahrhunderts zu lesen: »Der Begriff der Bewegung [...] dünkt uns als der wichtigste und fruchtbarste.«16 Man ist sich jedoch uneinig, ob diesem Begriff in der Musikwissenschaft kontinuierlich oder nur temporär Bedeutung zugemessen wurde17, was wiederum das Problem der uneinheitlichen Erscheinweise von Bewegung markiert und zeigt, dass durchaus Einzeluntersuchungen existieren, aber eine Gesamtschau, die sich der verschiedenen Ebenen und Varianten annimmt, ein Desiderat darstellt.
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ERLEBEN
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DEFINIEREN
Die Frage nach der Musik und ihrem Wesen ist so elementar wie rätselhaft. Noch immer fordert die Faszination ihrer Deutung zur Erkundung heraus, wenngleich zu beobachten ist, dass sich aktuelle Definitionen zumeist in der kurzen Erklärung von Musik als »Schallereignis« erschöpfen. Wie wird Musik erlebt und worauf basiert eine Sprachfähigkeit, dieses Ereignis Musik – d.h. jenes Geschehen in der Musik selbst und jenes zwischen Mensch und Musik – zu verbalisieren? Die Praxis verdeutlicht die Konkretheit psychophysischer Bewegung im Wahrnehmen, Erleben
14 Vgl. Scruton, Roger: The aesthetics of music, Oxford: Clarendon Press 1997, S. 49: »The phenomenon [Anm.: musical movement] has seemed puzzling to many who have written about it.« 15 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint. 16 Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen. Nachdruck der Ausgabe von 1966, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1989, S. 27. 17 Während »musikalische Bewegung« als für die Musikwissenschaft und spezifisch die Musikbeschreibung bei Timmermann, Henry: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, Hamburg: Niemann & Moschinski 1940, S. 10 und Pfleiderer, Martin: Rhythmus. Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik, Bielefeld: transcript 2006, S. 94 als bedeutsam erwähnt wird, wird bei Albersheim, Gerhard: Zur Musikpsychologie, Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1983, S. 47 konstatiert, »musikalische Bewegung« sei in der musikwissenschaftlichen Literatur inkonsequent behandelt worden und bei E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 27 ist zu lesen: »Der Begriff der Bewegung ist bisher in den Untersuchungen des Wesens und der Wirkung der Musik auffallend vernachlässigt worden [...].«
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und Gestalten von Musik. In der Theorie offenbaren sich Dimensionen von Bewegung als Schlüsselbegriffe musikalischen Vokabulars – modulieren, transponieren, resonieren, abweichen, fortschreiten oder kreieren – um nur einige zu nennen. Im Rückblick auf vergangene Definitionsversuche erscheint das heutige (westeuropäische) Musikverständnis ästhetisch leer. Auch in der Praxis hat sich die Erfahrung des breiten musikalischen Spektrums ganz im Sinne der antiken musiké trotz entsprechender musikpädagogischer Angebote, die darauf abzielen, noch nicht vollends durchgesetzt. Im Verständnis der musiké offenbart sich der tiefere Zusammenhang, der den Menschen mit Klang, Tanz und Sprache in Erziehung und Gesellschaft in einem Spiel der Kräfte vereint. Derartige Musikerfahrungen bedeuten mit den Worten des Psychoanalytikers Michael B. Buchholz eine »[...] Erschließung einer Dimension des Humanen, die nicht etwa als kulturelles Extra, als luxurierender Überschuss Eliten vorbehalten bleiben muss, sondern die Sicht des Menschen als eines bloß auf Überleben und kognitives Problemlösen orientiertes Wesen nachhaltig korrigieren muss«18. Solch ein Nexus an Perspektiven fehlt in der heutigen Musikkultur des Westens – zumindest in der Welt der Erwachsenen, weshalb sich auch die Notwendigkeit von Musik respektive Kunst in der Definition durch sich selbst in der Öffentlichkeit schwer vermitteln lässt. Durch populäre Schlagwörter und Argumente, die um Intelligenz- oder Gesundheitsförderung kreisen, wird Musik zur Ware.19 Musik ist v.a. in ihrer passiven Form omnipräsent. Woran es mangelt, ist ein Begreifen der Musik und des Wesentlichen der Kunst, die »keine hübsche Zuwaage« (Nikolaus Harnoncourt) ist, sondern uns in unserem MenschSein auszeichnet – also selbstreferenziell und (zunächst) zweckfrei ist. Zwar werden z.B. die vielfältigen Ergebnisse der aktuellen Musikwirkungsforschung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich – die Komplexität von Bewegung in der Musik manifestiert sich jedoch nicht in Einzeluntersuchungen. Vielmehr sind es die Vernetzung unterschiedlicher Fachbereiche und die (transdisziplinäre) Verbindung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Kunst, die der Problemstellung und dem
18 Buchholz, Michael B.: »Die Geburt der Sprache aus dem Geist der Musik. Evolutionstheoretische Überlegungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Musik«, in: Oberhoff, Bernd (Hg.), Die seelischen Wurzeln der Musik. Psychoanalytische Erkundungen, Gießen: Imago 2005, S. 87-122, hier S. 89. 19 Zur Trivialisierung der Musik aufgrund ihrer Allgegenwärtigkeit vgl. Sacks, Oliver: Der einarmige Pianist. Über Musik und das Gehirn, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 377 sowie Palacios, Fernando: »Kunst erleben - in Kunst erziehen«, in: Orff-Schulwerkinformationen Winter 05/06, S. 21-28, hier S. 25: »Die Musik als beständige Gesellschafterin um sich zu haben, bewirkt ein immer schwächer werdendes Interesse an Musik. Sie ist so allgegenwärtig, dass sie verschwindet [...].«
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Wesen der Musik entsprechen.20 Eine derartige Auseinandersetzung forciert außerdem jene Form des Verstehens, die hinsichtlich der Musik besondere Bedeutung erlangt: ein ästhetisches Verstehen, das in den Sinnen verortet ist. So werden unweigerlich Berührungsflächen verschiedener Erkenntnisebenen generiert. »What does music have to do with sound?«21 Die provokante Frage des Komponisten Charles Ives wird zum Anlass genommen, Musik und ihren wesentlichen Prinzipien auch abseits des Hörbaren nachzugehen. So wird hier nach Darstellungsmöglichkeiten gesucht, die von Bewegung ausgehen und einen Beitrag für eine Hermeneutik und Vermittlung der Musik leisten können sowie zu Verknüpfungen zwischen den Teilbereichen der Musik auffordern. Dadurch erhalten herkömmliche Gestaltungs- und Handlungsspielräume einen Impuls zur Öffnung und werden bestehende Intermedialitätskonzepte in ihrer Verbindung befragt.
Z UM I NHALT Der erste Teil widmet sich zunächst terminologischen und etymologischen Fragen, fußend auf dem Gedanken, die Begriffsgeschichte eröffne einen Zugang zur Problemgeschichte. Darauf folgt eine Behandlung des Bewegungsbegriffes aus kulturgeschichtlicher Perspektive, die sich auf die Historizität des Phänomens Bewegung im Allgemeinen bezieht und schließlich in phänomenologisch orientierte Fragen nach Aspekten von Bewegung im Kontext des Lebens überleitet. Der zweite Teil versteht sich als Paradigmenwechsel hinsichtlich musikästhetischer Fragestellungen: Subfragen, die sich der Bewegung im musikalischen Kontext widmen, werden weder ausschließlich aus chronologisch-historischer Perspektive noch nach den im konventionellen Diskurs sortierten Bereichen erforscht. Vielmehr geht es darum, neue Ordnungen zu finden, die dem Charakteristikum der Vernetzung und der Polyvalenz relevanter Bewegungsbegriffe in der Musik entsprechen. An der (phänomenologischen) These einer Präsenz von Bewegung in der Musik im historischen und disziplinären Querschnitt ansetzend liegt der Fokus der Studie auf Akkumulationen von Aussagen, die in Bezug auf einen Themenbereich aus dem Blickwinkel der Bewegung getroffen werden. Musikalische Parameter sowie die Beziehung zwischen Mensch und Musik betreffend wird eine jeweils spezifische Intensität des Vorkommens von Bewegung sichtbar und der Interpretation unterzogen. Die The-
20 Vgl. Eggebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart (= Serie Piper, Band 2301), München/Zürich: Piper 2005, S. 264ff. 21 Charles Ives zit.n. Kaden, Christian: Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel u.a.: Bärenreiter/Metzler 2004, S. 17.
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men werden systematisch voneinander geschieden; Bewegung fungiert als gemeinsamer Bezugspunkt – so werden zwischen den Bereichen Unterschiede wie Gemeinsamkeiten in der Bedeutung von Bewegung offenkundig. Das weite Spektrum der untersuchten Schauplätze ermöglicht Analogieschlüsse zu anderen Künsten und Wissenschaften, die ihrerseits wiederum auf die musikalische Sichtweise einwirken. Zwischen den untersuchten Bereichen sind fortwährend Querverbindungen zu beobachten, die exakte Trennungen manches Mal verhindern, aber Indiz dafür sein können, dass allgemeine Bewegungsprinzipien in der Musik wirken. Zahlreiche Exkurse vertiefen das jeweilige Kapitel oder greifen zusätzliche Aspekte auf. Im dritten Teil erfolgt eine Synopsis der Ergebnisse in Form einer Klassifikation von Bewegungsdimensionen; Letztere erweisen sich zugleich als elementare Lebensbewegungen und lassen rückwirkend Anbindungen an den ersten Buchteil zu.
ZU
DEN
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Über das Sprechen von Bewegung zu sprechen bedeutet, der Bewegung sowohl im Modus der Begrifflichkeit als auch der Erfahrbarkeit zu begegnen. Ästhetische Theorien, objektiv-wissenschaftliche oder subjektiv-künstlerische Ergebnisse konstituieren einen Raum, innerhalb dessen sich Bewegung als ein Terminus mit hoher Extension in der Musik manifestiert. Ist es möglich, diesen Raum zu gliedern, ohne redundant und oberflächlich zu sein? Die Frage nach der Systematik impliziert die Frage nach dem Ziel der Arbeit: Bewegung in Musik, Mensch und Welt in einem Gefüge zusammenhängender Phänomene zu analysieren und den Stellenwert von Bewegung transparent werden zu lassen. Wo ist der Locus der Erkenntnis zu situieren, der eine spezifische Sprache und Form der Auseinandersetzung zulässt? Die Untersuchung versteht sich im Anschluss an die skizzierte Problematik als musikästhetische Grundlagenstudie. Musikästhetik ist keine geschlossene Disziplin, so der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus22 (– und damit scheint der interdisziplinäre Dialog geradezu vorgegeben). Was sie lt. Dahlhaus kennzeichnet, ist das Befragen der Musik auf Prinzipien und die Orientierung an philosophischen Theorien. Musik soll hier um ihren im Allgemeinen als bekannt geltenden Phänomenbereich erweitert werden. Der Fokus auf Bewegung eröffnet ein Spannungsfeld diverser Bereiche, ja ungewohnter Sichtweisen auf Musik und weicht daher einer Einordnung und Bewertung der untersuchten Teilbereiche in Parameter des gängigen musikwissenschaftlichen Diskurses aus. Die Suche nach neuen Ordnungen für das durch Bewegung erschaffene Gefüge bedeutet einen Paradigmenwechsel; die Unmöglichkeit
22 Vgl. Dahlhaus, Carl: Musikästhetik (= Musik-Taschen-Bücher: Theoretica, Band 8), Köln: Gerig 1967, S. 10.
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der Einordnung in den konventionellen Diskurs führt die Untersuchung über die Grenzen des Wissenschaftlichen hinaus. Im Sinne der Interdisziplinarität Zwischenräume zu generieren und dadurch zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, erscheint nicht radikal genug. Vielmehr muss der Zwischenraum selbst als dynamischer Forschungsort etabliert werden, von dem aus Bewegungen in verschiedene Richtungen möglich sind. In der so ermöglichten Transdisziplinarität treffen die Diszipline, wissenschaftliches und praktisches Wissen, die Künste und die Perspektiven aufeinander. So werden trotz der möglichen Problematik, mit einer perspektivengebundenen Materialfülle ein kohärentes Aussagengefüge zu erstellen, neben wissenschaftlichen Quellen auch populärwissenschaftliche, biografische und literarische Dokumente sowie speziell für diese Publikation geführte Gespräche herangezogen, repräsentieren diese doch Orte der Lebenswelt und schaffen vielfältige Zugänge zur Thematik.23 Die Analyse der unterschiedlichen (Realitäten erzeugenden) Diskurse und ihre Gegenüberstellung macht die Bedeutungsebenen der Bewegung für die Musik sowie die Sinngebungen Handelnder, Fühlender und Erlebender sichtbar. Dieser durch die genannten Zugänge geschaffene Topos im Zwischen soll rekurrierend auf die Terminologie des Philosophen Bernhard Waldenfels als »Antwortraum« verstanden werden: Fremdes begegnet sich und der Anspruch des Antwortens tut sich auf. Als besonders wesentlich ist weiters ein phänomenologisch orientierter Forschungsansatz herauszustreichen.24 Eine Theorie der Bewegung ist im ursprünglichen Wortsinn der theoría als Wesensschau zu verstehen, die den Untersuchungsgegenstand einsichtig machen und dessen »Formung und Wirkung« (Hans Heinrich Eggebrecht) zur Sprache bringen will.25 Ein deskriptives Herangehen, das einer Bedeutungsanalyse vorausgeht, stellt den Gegenstand in seiner Gegebenheit ins Zentrum. Die Beobachtung von Bewegung ist dabei stets an etwas gekoppelt, das bewegt ist; an etwas, das sich bewegt, worauf der Arzt und Denker Viktor von Weiz-
23 Vgl. Anschütz, Georg: Abriss einer Musikästhetik. Reprint von 1930, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1976, S. 5: »Wenngleich es nicht ausgesprochen wissenschaftlichen Charakter hat, so trägt doch ein [.] Gebiet zu den Erkenntnissen der Musikwissenschaft bei, nämlich die allgemeine musikalische Literatur. [...].« Vgl. Richard Wagner: »Beethoven« (1870) zit.n. Pfrogner, Hermann: Musik. Geschichte ihrer Deutung (= Orbis academicus, Band 1), Freiburg/München: Alber 1954, S. 306: »Eine Aufklärung über das Wesen der Musik als Kunst glauben wir, so schwierig sie ist, am sichersten auf dem Wege der Betrachtung des Schaffens des inspirierten Musikers zu gewinnen.« 24 Phänomenologisch meint hier im einfachen Sinne die Wesensnatur sowie alltägliche Situationen im unmittelbaren Sinn beschreibend. 25 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 38. Vgl. ebd., S. 21 zu Theorie; diese verleihe einer Sache das Moment einer ars.
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säcker in seinem bekannten Werk »Der Gestaltkreis« hinweist.26 Vom Phänomen ausgehendes Forschen stellt die unvoreingenommene Erfahrung, die offene Begegnung und die Neugier gegenüber dem scheinbar Alltäglichen an den Beginn des Fragens. In der dafür typischen Haltung des Zurücktretens – die phänomenologische Philosophie kennt dafür den Begriff epoché – wird deutlich, wie Begriffe im Wechsel von Ein- und Ausdruck zu ihren Bezeichnungen gelangen und zueinander und zum Betrachter in Beziehung gesetzt werden. Dies macht Begriffe lebendig und zeigt, dass sie je nach Erfahrung in den verschiedenen Disziplinen jeweils eine andere Rolle spielen und doch immer als solche erkennbar bleiben.27 Dadurch mögliche Vernetzungen lenken zu einer Synopsis hin. Für Bewegung gilt, dass sie innerhalb dieses Prozesses einerseits selbst Untersuchungsgegenstand, andererseits aber auch roter Faden ist. Bezug nehmend auf den griechischen Begriff phainómenon ist die Vielfalt bereits wesentliches Kennzeichen des Erscheinenden, das den Menschen mit einer »überwältigend unsystematischen Wirklichkeit« (Erich Neumann) konfrontiert; so ist es gleichsam Postulat, nicht nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu suchen, sondern mehrdimensional zu Sinn und Bedeutung eines die menschliche Existenz betreffenden Agens vorzustoßen.28 Dies geschieht hier, wie es der
26 Weizsäcker, Viktor von: Gesammelte Schriften 4. Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmung und Bewegung, hrsg. von P. Achilles und D. Janz, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 285ff. 27 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 1472), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 106: »Der Rückgang zur Wahrnehmung bedeutet [.] den Rückgang zu einer Welt, in der die Dinge noch vieles bedeuten können.« 28 Da die Behandlung fundamentaler Fragen zur musikalischen Existenz das Umgraben eines weiten Gebietes erfordert, wird das Fehlen einer Vertiefung in spezielle Probleme gebilligt. Vgl. Schrödinger, Erwin: Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987, S. 29f. im Vorwort zu dieser grundsätzlichen Problematik: »Wir haben von unseren Vorfahren das heftige Streben nach einem ganzheitlichen [...] Wissen geerbt. [...]. Aber das Wachstum in die Weite und Tiefe, das die [.] Wissenszweige [...] zeigen, stellt uns vor ein seltsames Dilemma. Es wird uns klar, daß wir erst jetzt beginnen, verläßliches Material zu sammeln, um unser gesamtes Wissensgut zu einer Ganzheit zu verbinden. Andererseits aber ist es einem einzelnen Verstande beinahe unmöglich geworden, mehr als nur einen kleinen spezialisierten Teil zu beherrschen. Wenn wir unser wahres Ziel nicht [...] aufgeben wollen, dann dürfte es nur einen Ausweg [...] geben: daß einige von uns sich an die Zusammenschau von Tatsachen und Theorien wagen, auch wenn ihr Wissen teilweise aus zweiter Hand stammt und unvollständig ist und sie Gefahr laufen, sich lächerlich zu machen [...].«
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Bewegung und ihren manifesten wie latenten Bedeutungen in unserer Kultur29 entspricht, als Collage. In der Kunst gilt die Collage als Ambiguität erzeugendes Verfahren. Die Uneindeutigkeit der Dinge, die in Bezug auf den Bewegungsbegriff besondere Relevanz erhält, provoziert eine Spannung in der Auseinandersetzung mit ihnen. Nicht zuletzt in möglicherweise provokanten Verbindungen von einzelnen, historisch wenig kontextualisierten Textpassagen oder divergierenden Diskursen wird dazu herausgefordert, eine Koexistenz der Gegensätze in wechselseitiger Deutung zuzulassen, um die den Forschungsgegenstand betreffenden inneren Zusammenhänge sichtbar zu machen. Wesentliche Impulse fließen aus dem Fachgebiet Harmonik, das sich mit der Lehre von den Zahlgrundlagen der Musik und den Musikgrundlagen der Welt beschäftigt, ein.30 Harmonik eröffnet hinsichtlich der Fragestellung nicht nur häufig zu wenig beachtete Themenbereiche, sondern steuert auch methodische Ansätze – aufbauend auf der grundlegenden, mit ihrer konkreten Musik-Theorie korrespondierenden Denkweise – bei. Ziel der harmonikalen Grundlagenforschung ist das Auffinden von Beziehungen zwischen Zahlen und Mustern. Maß und Auswirkung von Bewegung stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, da die Proportion und somit das Ereignis im Zwischen interessiert. Dieser Bezug der Größen in ihren Bewegungen31 führt von der erklingenden Musik, über Formen und Muster hin zu anderen Künsten und Wissenschaften. So erwächst die Dynamik des Fachgebietes Harmonik erst im Austausch von Wissenschaft und Kunst, in der Synthese von Kognition
29 Vgl. M. Schierz: Bewegung verstehen, S. 99. 30 Der erwähnte Fachbereich ist nicht zu verwechseln mit dem gleichlautenden Terminus für musikalische Akkordlehre und Satztechnik. Der Begriff Harmonie stammt aus der griechischen Antike. Das Substantiv harmonía entwickelte sich aus dem Verb harmóttein, das sich im Bedeutungsraum von zusammenpassen, zusammenfügen und ordnen bewegt. Dies wird zunächst an der Verwendung in Bezug auf konkrete Objekte offensichtlich; auch erscheint das Wort in personifizierter Form und in weiterer Folge immer abstrakter in unterschiedlichen philosophischen Kontexten, auch über die Antike hinausgehend. Die Übertragung dieses Denkens auf die Zahlengesetzlichkeit hängt unmittelbar mit der Idee einer musikalischen Harmonie zusammen, die in ursprünglicher, weit gefasster Bedeutung das stimmige Zusammenfügen von Tönen meint. Harmonie manifestiert sich in der pythagoreischen Tradition konkret in Zahlenverhältnissen – analog zu den musikalischen Proportionen offenbart sich hierin auch ein Strukturmodell der Welt. 31 Vgl. Schneider, Norbert J.: »Musikgeschichte - harmonikal betrachtet«, in: Neubäcker, Peter (Hg.), Harmonik & Glasperlenspiel. Beiträge 1993, München: Neubäcker 1994, S. 192-205, hier S. 192f.
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und Perzeption, von Rationalem und Irrationalem.32 Harmonik bereitet Grundlagen zum Verstehen, indem die analogía gesucht, auf ihre Sinnhaftigkeit befragt, gegebenenfalls verworfen und schließlich (neu) aufgestellt wird. Über die gewonnenen Verknüpfungen kann letztlich wieder das Eigene, das Musische befragt und weiterentwickelt werden. Mag in der Anwendung dieser Methode eine potenzielle Gefahr bestehen, gegenüber der Einzelwissenschaft zu unwissenschaftlich zu erscheinen, so überwiegt die Chance, darüber neue Erkenntnisse zu erlangen. Harmonik repräsentiert schließlich den für diese Untersuchung fundamentalen Impetus künstlerischen Forschens. Gemeint ist damit nicht bloß ein ›Be-forschen‹ von Kunst, sondern der Erkenntnis stiftende Charakter des Künstlerischen selbst.33 Arbeiten unterschiedlicher Künstler aus Vergangenheit und Gegenwart (auch der Verfasserin) zählen als ästhetische Praxen zu wesentlichen Quellen oder werfen neue Fragen auf. Forschungsfrage und Methoden dieser Untersuchung verlangen nach einer ihnen adäquaten Systematik im inhaltlichen Aufbau. Die Kategorisierung der mit Bewegung assoziierten Phänomene erweist sich als schwieriges Unternehmen; es existiert die Option, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, von wo aus und wie Bewegung gedacht werden kann. Der Musikpädagoge Karl Hörmann konstatiert das Begriffspaar Musik-Bewegung betreffend, dass sich der Bedeutungszusammenhang über die Verwandtschaft der Begriffe, die ein Feld generieren, erschließe.34 Als besonders geeignet erscheint hier also die Konstruktion eines Wortfeldes. Das Wortfeld basiert auf den linguistischen Theorien von Jost Trier, die wissenschaftshistorisch in einem Umfeld anzusiedeln sind, das sich von der isolierenden Betrachtung eines Gegenstandes abwendet und sich stattdessen um eine ganzheitliche Sichtweise bemüht.35 Mit dem Wortfeld werden partiell synonyme Wörter oder solche ähnlichen/verwandten Inhaltes als Gefüge gedacht, das seinen Sinn nur aus dem Ganzen heraus erhält und dessen Einzelteile erst durch die Beziehungen untereinander lebendig werden; ergo hat der Bedeutungswandel eines Wortes Aus-
32 Vgl. den unveröffentlichten Briefwechsel zwischen Hans Kayser und Gustav Fueter vom 26.8.1934 sowie von Gertrud Mertens und Gustav Fueter vom 25.10.1934. Vgl. Kayser, Hans: »Der Ton im All« (1928), in: Kreis der Freund um Hans Kayser (Hg.), Im Anfang war der Klang. Was ist Harmonik? Nachdruck vergriffener Texte von Hans Kayser, Rudolf Haase, André M. Studer, Bern: Schriften über Harmonik 1986, S. 11-14, hier S. 12. 33 Vgl. die englischen Begriffe Artistic Research und Art based Research. 34 Vgl. Hörmann, Karl: »Artikel ›Musik und Bewegung‹«, in: Gieseler, Walter (Hg.), Kritische Stichwörter zum Musikunterricht (= Kritische Stichwörter, Band 2), München: W. Fink 1978, S. 54-59, hier S. 54. 35 Vgl. Lee, Anthony van der/Reichmann, Oskar: »Einführung in die Geschichte der Feldtheorie«, in: Trier, Jost: Aufsätze und Vorträge zur Wortfeldtheorie, hrsg. von A. van der Lee und O. Reichmann, The Hague/Paris: Mouton 1973, S. 9-39, hier S. 9.
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wirkung auf das gesamte Feld.36 So wird Bewegung aus musikalischer Perspektive als offenes Wortfeld bestimmt. Dieses Vorgehen ermöglicht, eng an das Bewusstsein des Sprachgebrauches heranzukommen und das Phänomen in seinen Wesen bildenden Relationen beschreiben und analysieren zu können.
M USIK /K UNST /M ENSCH
IST MOBIL
Musik ist mobil. Mobilität erschöpft sich nicht in mp3-Standard und einer wachsenden Industrie, die ermöglicht, Musik aus der Konserve immer und überall verfügbar zu machen – womit das Adjektiv heute vielleicht vorschnell assoziiert wird.37 Vielmehr scheint Bewegung im umfassenden Sinn unmittelbar an die Existenz des Musikalischen gekoppelt zu sein: als innere und äußere, als sicht- und unsichtbare, als umfassend wahrgenommene. Kunst ist mobil. Bewegung als künstlerisches Agens hält den Prozess am Leben. Als Prinzip offenbart sich Bewegung gerade in den Künsten und steht einem anthropologischen Kunstbegriff nahe.38 Kunst als spezielle Ausformung des Lebendigen bewegt sich zwischen einem Innen und Außen, zwischen Chaos und Ordnung und bedarf einer menschlichen Disposition in Bewegung, um erlebt, erfasst und begriffen zu werden. Mensch ist mobil. Den Komplex von Körper, Geist und Seele umfassend ist die Universale Bewegung Wesensbeschreibung des Menschlichen schlechthin. Damit stellt sich der Inhalt dieses Buches in einen übergeordneten Nexus und fokussiert mit dem Menschen in seiner ästhetischen Disposition das eigentlich Humane und den Prozess anstelle des Punktuellen.39 Eine transdisziplinäre Untersuchung zeigt auf, dass Musik, Kunst und Mensch nie losgelöst vom Anderen existieren, sondern als Bezugspunkte in einem größeren, komplexen Systems in einer polyvalenten
36 Vgl. Trier, Jost: »Sprachliche Felder« (1932), in: Ders., Aufsätze und Vorträge zur Wortfeldtheorie (1973), S. 93-109, hier S. 94 sowie Ders.: »Über Wort- und Begriffsfelder« (1931), in: Ders., Aufsätze und Vorträge zur Wortfeldtheorie (1973), S. 40-65, hier S. 40ff. 37 Vgl. Wellek, Albert: Musikpsychologie und Musikästhetik. Grundriß der systematischen Musikwissenschaft, Bonn: Bouvier 1987, S. 280 zu Mobilität sowie zu Raum- und Zeitfreiheit von Musik durch ihre Verbreitung über Tonträger. 38 Vgl. Laban, Rudolf von: Kunst der Bewegung, Wilhelmshaven: Noetzel 2003, S. 97 sowie Harlan, Volker: Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Beuys, Stuttgart: Freies Geistesleben & Urachhaus 2001, S. 15. 39 Vgl. Winckel, Fritz: Phänomene des musikalischen Hörens. Ästhetisch-naturwissenschaftliche Betrachtungen, Berlin/Wundsiedel: Hesse 1960, S. 7.
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Realität fungieren. »Improvement makes straight roads, but the crooked roads without improvement are roads of genius«, so der Dichter William Blake40. Der Umweg gilt im Folgenden als methodisches Prinzip, womit punktuelles Interesse vermieden, die »Strahlkraft auf den Gesamtverband« (Fritz Winckel)41 aber gesucht wird. Eine vollständige Klärung des untersuchten Phänomens kann nicht gegeben werden. Stattdessen wird eine (kontextualisierte) Phänomenologie von Bewegung angestrebt, die Anregung zur Wahrnehmung der Erscheinungsformen von Bewegung sein will, Analogien liefert, Zusammenhänge verdeutlicht und darüber zu Erkenntnis gelangt.42 So sollen Verknüpfungen unter den verschiedenen Bereichen innerhalb der Musik aufgezeigt werden, deren Gewahrwerden zu neuen Entdeckungen, zur Diskussion des Musikverständnisses anregt und zum polyästhetischen Dialog ermutigt.
40 Blake, William: Songs of innocence and of experience and other works, hrsg. von R.B. Kennedy, London: Collins 1970, S. 252. 41 Vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 7. 42 Vgl. ebd., S. 134.
Bewegung als Begriff und Phänomen
Zur Doppelnatur von Bewegung als Begriff und Phänomen
Bewegung ist seit der Antike Gegenstand theoretischer wie praktischer Untersuchungen. Der Begriff scheint in unterschiedlichen Disziplinen auf und ist im wissenschaftlichen Diskurs von hohem Stellenwert. Bewegung begleitet das menschliche Leben als Kontinuum und fordert in der Vielfalt ihrer Erscheinungsweisen im Besonderen auf, diese zu begreifen und in ein Wort zu fassen. Begriff und Phänomen hängen also unmittelbar miteinander zusammen und greifen ineinander. So weist der Bewegungsbegriff eine Vielzahl von Bedeutungen auf, die sich für gewöhnlich aus dem Gebrauchskontext erschließen. Die spezifische Bedeutung wird mit bestimmten, als kontextuell wesentlich erachteten Eigenschaften eingegrenzt.1 Das Konglomerat der Phänomene eröffnet eine Perspektive, die eine Untersuchung von Bewegung in der Musik neu konstituieren und hinsichtlich der Vielfalt an Erscheinungsweisen und terminologischen Gebrauchsweisen vertiefen kann. So ist der erste Teil ad modum einer Hinführung zum Kernthema des Buches zu lesen. Trotzdem Bewegung als Begriff und Phänomen dadurch begreifbarer wird – vollständig greifbar kann sie nie sein; darin mag aber auch gleichzeitig die Attraktion, sich Bewegung in ihrer Mannigfaltigkeit auf die Spur zu begeben. Und es ist wiederum eine (transzendentale Denk-)Bewegung, die von dieser Mannigfaltigkeit schließlich zur Einheit führt; diese »Eins-heit im Vielen« ist, wie Friedrich Kaulbach mit Bezug auf die Philosophie Immanuel Kants erklärt, als »ontologische
1
Vgl. Jeschke, Claudia: Tanz als BewegungsText: Analysen zum Verhältnis von Tanztheater und Gesellschaftstanz (1910-1965) (= Theatron, Band 28), Tübingen: Niemeyer 1999, S. 7. Vgl. Haselbach, Barbara: »Über die Beziehung von Musik und Bewegung«, in: Holzheuer, Rosemarie (Hg.), Musik- und Bewegungserziehung in Kindergarten und Grundschule, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 1980, S. 39-48, hier S. 40 zu Bewegung: »Der Begriff ist zu umfassend, als daß man ihn ohne Einschränkung oder nähere Charakterisierung gebrauchen könnte.«
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Struktur« der Grund für die Erfahrung.2 Die Annäherung an das AbstraktumKonkretum Bewegung erfolgt sowohl über die Frage nach der Etymologie und der Bedeutung des Terminus in der Sprache als auch über die Darstellung kulturgeschichtlicher Entwicklungen; anschließend werden insbesondere für das Leben bedeutsame Bewegungsphänomene geordnet und untersucht. Eine Einleitung in die Terminologie bedürfe immer einer ergänzenden Beziehung auf das Ganze, so der Philosoph Theodor W. Adorno und er hält fest: »Isolierte Worterklärungen können nicht gegeben werden. Die Worterklärungen [...] werden erst durch die explizite Beziehung auf den Zusammenhang, in dem Worte stehen, ermöglicht«3. Bewegung erscheint auf den ersten Blick nicht als schwer verständlicher Begriff. Was Johan Huizinga in seiner kulturhistorischen Abhandlung »Homo ludens« (1938) auf den Spielbegriff bezieht, gilt auch für Bewegung: Sie ist »etwas Bekanntes«4. In dieser »Bekanntheit« soll Bewegung einer Begriffsanalyse unterzogen werden, stellt dies für die weitere Operation mit dem Begriff doch eine Notwendigkeit dar. Semantische Fragen prägen die folgenden Kapitel: Was bedeutet Bewegung und wie kann von Bewegung in unterschiedlichen Kontexten, insbesondere in der Musik, gesprochen werden? Derartige Überlegungen sind grundsätzlicher Natur und betreffen Begriffe im Allgemeinen; in Lewis Carrolls Erzählung »Through the Looking-Glass« (1871) diskutieren die Figuren Alice und Humpty Dumpty die fundamentale Frage nach der Bedeutung eines Wortes: »›When I use a word‹, Humpty Dumpty said [...], ›it means just what I choose it to mean, neither more nor less.‹ ›The question is‹, said Alice, ›whether you can make words mean so many different things.‹ ›The question is‹, said Humpty Dumpty, ›which is to be master – that’s
2
Vgl. Kaulbach, Friedrich: Der philosophische Begriff der Bewegung. Studien zu Aristoteles, Leibniz und Kant, Köln/Graz: Böhlau 1965, S. 174. Vgl. weiters den RenaissancePhilosophen Marsilio Ficino zit.n. Kristeller, Paul Oskar: Die Philosophie des Marsilio Ficino (= Das Abendland, Forschungen zur Geschichte europäischen Geisteslebens, Neue Folge, Band 1), Frankfurt am Main: Klostermann 1972, S. 168 zur Vielfalt der Bewegungsformen: »Jede natürliche Bewegung geht auf eine bestimmte Weise vonstatten. [.] verschiedene Arten werden in verschiedener Weise bewegt, und jede Art bewohnt in ihrer Bewegung immer denselben Verlauf.«
3
Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie. Band 1 (= Taschenbuch-Wissenschaft, Band 23), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 15. Vgl. weiters Sedmak, Clemens: Erkennen und verstehen. Grundkurs Erkenntnistheorie und Hermeneutik, Innsbruck: Tyrolia 2003, S. 47.
4
Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel (= Rowohlts Enzyklopädie, Band 55435), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, S. 37.
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all.‹«5 Epistemisches Arbeiten ist häufig mit einer »Vagheit von Begriffen« (Clemens Sedmak) konfrontiert. Indem der Begriff die abstrakte Gesamtheit einer konkreten Sache definiert und dadurch die Heterogenität zusammenfasst6, wird einerseits gleichzeitig etwas verschwiegen, verstellt oder verkürzt; indem der Oberbegriff eine Gesamtvorstellung umfassend repräsentiert, kompensiert er andererseits, was er vergessen macht.7 Begriffsdefinitionen gehen mit der Scheidung von Innen und Außen einher. Präzise wird erfasst, was dazugehört; Unwesentliches wird ausgesondert.8 Im Rahmen einer Analyse werden zunächst der Alltagsgebrauch reflektiert und verschiedene Fälle der Verwendung, die auf die Mannigfaltigkeit der Phänomene verweisen, unterschieden; schließlich werden Besonderheiten einzelner Fälle untersucht, verwandte Kontexte aufgezeigt und Regeln aufgestellt.9 Neben den erwähnten semantischen Fragen soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich in der Arbeit mit Begriffen auch stets die Problematik deren ungeklärten ontologischen Status zeigt; d.h., existieren Begriffe im Sinne des klassischen Empirismus lediglich als bewusstseinsmäßige Vorstellung oder sind diese mit Vertretern des Begriffsrealismus als abstrakte unveränderliche Größe zu deuten, die unabhängig von unserer Sprache und unserem Bewusstsein bestehen?10 Näher wird auf diese Fragen hier nicht eingegangen. Wörter, als eigenständige, geradezu lebendige Wesen11 betrachtet, unterliegen im Verlauf der Geschichte einer Entwicklung. Diesen Wandel zurückzuverfolgen eröffnet auch für gegenwärtige Zusammenhänge interessante Perspektiven – im Auffinden von Bedeutungsinhalten gleichermaßen wie in der Erkenntnis der zugrunde liegenden Phänomene. Von der Wortgeschichte, die sich in der Heterogenität lexi-
5
Carroll, Lewis: Through the Looking-Glass, and what Alice found there. Reprint, London: Macmillan 1911, S. 125.
6
Vgl. Hügli, Anton/Lübcke, Poul (Hg.): Philosophie-Lexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2003, S. 84: »Der B.inhalt (die B.intention) ist die Summe der B.merkmale, die ein Gegenstand aufweisen muß, um unter den B. zu fallen.«
7
Vgl. Dobberstein, Marcel: Mensch und Musik. Grundlegung einer Anthropologie der
8
Vgl. ebd.
9
Vgl. C. Sedmak: Erkennen und verstehen, S. 53; vgl. ebd., S. 47 zum Beispiel; dieses sei
Musik (= Historische Anthropologie, Band 31), Berlin: Reimer 2000, S. 29.
zwar Basis von Begriffsbestimmungen, reiche aber für die Wesensbestimmung nicht aus. 10 A. Hügli/P. Lübcke (Hg.): Philosophie-Lexikon, S. 85. 11 Vgl. Ross, Werner: »Vorbemerkung«, in: Osman, Nabil (Hg.), Kleines Lexikon untergegangener Wörter. Wortuntergang seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München: Beck 1971, S. 7-9, hier S. 7.
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kaler Begriffe und in der expliziten Thematisierung über den Sprachgebrauch ausdrückt, kann auf die Bedürfnisse und Tendenzen einer Gesellschaft geschlossen werden.12 »Sprachwandel ist Begriffswandel, und Begriffswandel ist Verhaltenswandel.«13 Mit dieser Formel bringt der Psychologe Julian Jaynes den skizzierten Nexus auf den Punkt. Die stetige Veränderung des Lebensstiles innerhalb einer Gesellschaft zeigt sich nicht zuletzt an der sich wandelnden Bevorzugung gewisser Termini – respektive am jeweiligen Umfang und Inhalt eines Begriffes. Der Linguist Ferdinand de Saussure stellt der individuellen Rede (Parole) die Sprache (Langue) als überindividuell gegenüber und verdeutlicht damit, dass Sprachgeschichte stets auch die Sozialgeschichte und damit das Wesen der Sprachgemeinschaft widerspiegelt.14 Gleichsam ein »sensibler Seismograph«, der auf Veränderungen einer Kultur reagiere, sei Sprache, so der Philosoph Clemens Sedmak15. Als »dynamischer Teil menschlicher Beziehungen« (Emil Brix)16 passt sie sich der Umgebung an und reflektiert die sich wandelnde Lebenswelt, d.h. auch die Denk- und Erlebnisweisen einer Generation oder Kultur. Bedingen Wort- und Kulturgeschichte einander, so sind Begriffe also nicht durchgehend festgelegt, sondern jeweils unter dem Aspekt ihrer historisch gewachsenen und sich verändernden Bedeutung zu betrachten. Sowohl einschneidende Neuerungen in Wissenschaft und Kunst, die sich in der Phylogenese manifestieren, als auch die stetige Umgestaltung des Bewusstseins prägen Begriffe. Für Bewegung zählen z.B. Erkenntnisse über kinetische Vorgänge in der Umwelt, über den menschlichen Körper und seelische Prozesse, die Entstehung neuer Fortbewegungsmittel oder Innovationen im Bereich der Informa-
12 Vgl. Stötzel, Georg: »Wandel im öffentlichen Sprachgebrauch seit 1945«, in: EichhoffCyrus, Karin M./Hoberg, Rudolf (Hg.), Die deutsche Sprache zur Jahrtausendwende. Sprachkultur oder Sprachverfall? (= Thema Deutsch, Band 1), Mannheim u.a.: Dudenverlag 2000, S. 129-142, hier S. 129. 13 Jaynes, Julian: Der Ursprung des Bewußtseins (= Sachbuch, Band 9529), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1997, S. 355. 14 Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin/Leipzig: De Gruyter & Co. 1931, S. 11ff. 15 Vgl. C. Sedmak: Erkennen und verstehen, S. 45. Vgl. weiters Roelcke, Thorsten: »Verhalten und Veränderung. Ansatzpunkte einer ethologischen Grundlegung sprachlicher Kulturgeschichte«, in: Gardt, Andreas/Hass-Zumkehr, Ulrike/Roelcke, Thorsten (Hg.), Sprachgeschichte als Kulturgeschichte (= Studia linguistica Germanica, Band 54), Berlin/New York: de Gruyter 1999, S. 19-40, hier S. 19 zum interdisziplinären Ansatzpunkt, der in der Auffassung von Sprachgebrauch als Kulturgeschichte liegt. 16 Brix, Emil: »Vorwort«, in: Panagl, Oswald/Goebl, Hans/Brix, Emil (Hg.), Der Mensch und seine Sprache(n) (= Wissenschaft - Bildung - Politik, Band 5), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2001, S. V-XI, hier S. V.
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tionstechnologie zu einschneidenden Impulsen hinsichtlich ihres Bedeutungsinhaltes. Indem ihr das Moment der Veränderung per definitionem eigen ist, stellt sie gleichzeitig den Auslöser für eine Umgestaltung des Begriffes ihrer selbst dar. Anhand der Kulturgeschichte kann ergo die Entwicklung des Wortes in seinem »Dasein, Aufblühen, Wuchern« (Werner Ross) oder in seiner Reduktion nachvollzogen und verstanden werden. Für abstrakte Begriffe konstatiert Jost Trier hinsichtlich einer »Bezeichnungsgeschichte« jedoch Schwierigkeiten: Man habe diese nur »mit dem Worte«; das Einzelwort liege eingebettet in einem »mosaikartig zusammengesetzten Zeichenmantel«, und für jede sprachliche Epoche müsse neu von der Ganzheit dieses Zeichenmantels und von der Ganzheit des von ihm dargestellten Blockes der Bewusstseinsinhalte ausgegangen werden.17 Innerhalb des Sprachwandels kann das Verhältnis von Begriff und Begriffsinhalt unterschiedliche Entwicklungen nehmen. Der Begriff Bewegung lässt sich in diesem Kontext nicht in eine einzelne Kategorie einordnen. Zum einen ist der Begriff noch heute der Gleiche; sein Inhalt hat sich – mit Blick auf die Etymologie und Kulturgeschichte – jedoch geändert; nicht nur der Begriffsinhalt wurde weiter – auch der Sachverhalt wandelte sich durch die Entstehung neuer Formen von Bewegung, z.B. durch Neuerungen im Bereich der Fortbewegung. Schließlich können aber bei gleichbleibender Wirklichkeit auch den Begriff betreffend Veränderungen beobachtet werden, insofern als heute bestimmte Synonyme für Bewegung nicht mehr gebraucht werden oder spezifische Termini bevorzugt eingesetzt werden.18 Die Entstehung von Begriffen nimmt ihren Anfang in der Erfahrung der »Vielfalt des Seienden« (Aristoteles)19. Sprache beruht auf Sensationen, d.h. auf sinnlichen und sinnvollen Empfindungen und Eindrücken: Vom Wahrnehmen über das Begreifen des Diffusen und Amorphen kommt es zum sprachlichen Ausdruck, wenn einzelne Artbegriffe sich schließlich im Brennpunkt der Verzweigungen treffen. »Nicht eine forschende Wissenschaft, sondern die schöpferische Sprache hat Wort und Begriff zusammen geboren.«20 »Schöpferische Sprache«, um die Diktion Huizingas weiter zu bemühen, basiert auf den unmittelbaren leiblichen Erfahrungen, die schließlich objektiviert und verallgemeinert werden.21 Auf dem Fundament der
17 Vgl. J. Trier: Über Wort- und Begriffsfelder, S. 55f. 18 Vgl. Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 58f. 19 Vgl. Aristoteles: Physik. Vorlesungen über die Natur. Erster Halb-Band. Bücher I-IV. Griechisch-deutsch (= Philosophische Bibliothek 38), Hamburg: Meiner 1987, I,185b. 20 J. Huizinga: Homo ludens, S. 37. 21 An dieser Stelle sei auch auf den ursprünglichen Zusammenhang von Lautsprache und Gebärde hingewiesen.
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Erfahrung entsteht der Begriff, der das vorangegangene Erleben in Sprachvermögen und Verhalten integriert.22 Es braucht die Sprache, um die Rezeptionen im Bewusstsein zu verarbeiten. In »Ursprung und Gegenwart« (1949), seinem kontrovers diskutierten kulturanthropologischen Beitrag zur phylogenetischen Struktur der Menschheit, verweist Jean Gebser im Kontext der Entstehung von Allgemeinbegriffen in der prähistorischen Phase zunächst auf die sogenannte »magische Struktur«. Diese sei gekennzeichnet von einer »Ichlosigkeit« in einer noch »unitären Welt«, unabhängig von räumlichen und zeitlichen Ordnungen.23 Ähnlich beschreibt der Philosoph Ernst Cassirer den Weltaspekt in frühen Bewusstseinsformen: Beweglichkeit und Flüchtigkeit der Gestalten prägten die Wahrnehmung, d.h., das »Gesicht der Welt« war in »rastlosem Wechsel« begriffen.24 Das undurchbrochene Einssein mit der Natur ist also durch einen emotionalen Aspekt charakterisiert, der sich in polymorphen Weltbeschreibungen äußerte. Dieses konkrete Denken basierte auf dem deskriptiven Anteil der Sprache und zog zwischen übergeordnetem Begriff und anschaulicher Vorstellung zunächst noch keine Trennlinie. In einem nächsten Entwicklungsschritt wurden die Eindrücke unter dem Gesichtspunkt einander ähnelnder Phänomene miteinander verknüpft.25 Der Weg zur Verallgemeinerung – im Sinne einer »Widerspiegelung der wesentlichen Einheit in der Vielfalt« (Lasar O. Resnikow)26 – ist quasi menschliches Bedürfnis, wird dadurch eine Distanz zur Natur, zwischen Subjekt und Objekt, hergestellt.27 In Novalis (Friedrich von Hardenberg) Erzählung »Die Lehrlinge zu Sais« (1798-1799) findet dieser Entwicklungsschritt in der Geschichte des menschlichen Bewusstseins Erwähnung: »Es mag lange gedauert haben, ehe die Menschen darauf dachten, die mannigfaltigen Gegen-
22 Vgl. R. Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 58. 23 Vgl. Gebser, Jean: Gesamtausgabe Band II und III. Ursprung und Gegenwart. Erster Teil (Das Fundament der aperspektivischen Welt. Beitrag zu einer Geschichte der Bewußtwerdung) und zweiter Teil (Die Manifestationen der aperspektivischen Welt. Versuch einer Konkretion des Geistigen), Schaffhausen: Novalis 1978, S. 91. 24 Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Band I. Die Sprache, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 125. 25 Vgl. J. Huizinga: Homo ludens, S. 38 sowie Resnikow, Lasar O.: »Das Problem der Begriffsbildung in sprachgeschichtlicher Sicht« (1946), in: Ders., Zeichen, Sprache, Abbild, hrsg. von A. Eschenbach, Frankfurt am Main: Syndikat 1977, S. 55-124, hier S. 77ff. 26 Ebd., S. 92. 27 Vgl. R. Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 58.
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stände ihrer Sinne mit einem gemeinschaftlichen Namen zu bezeichnen und sich entgegen zu setzen.«28 Bewegung in einen Begriff zu fassen, kann als ›Spezialfall‹ bezeichnet werden, denn diese manifestiert sich selbst im Akt des Begreifens wiederum als Bewegung und tritt in der Sprache im Sinne der Gebärde hervor. »Der Begriff, welcher Bewegung zu fassen versucht, muß sich gleichsam selbst bewegen, um ihr nachzukommen«, konstatiert Friedrich Kaulbach mit Bezug auf die Bewegungslehre des Aristoteles29. Für den Bewegungsbegriff gilt im Besonderen, dass er wesentlich auf dem Eindruck auf das und den Ausdruck im Leiblichen beruht. Bewegung tangiert nicht nur die menschliche Mit- und Umwelt, sondern bereits den Einzelnen in fundamentaler Weise. Der Konstruktion des Begriffes Bewegung geht die Summe einzelner Erlebnisse voraus.30 Die kollektive wie auch die individuelle Verwendung machen deutlich, dass es sich um einen interdisziplinären und polymorphen Begriff handelt. Auf die Frage nach der Bedeutung des Begriffes Bewegung werden die Antworten derart unterschiedlich geartet sein, wie ihre Urheber es sind, wenngleich das abstrakte Allgemeine alle Inhalte unter sich vereint.31 Hinsichtlich eines steten Wechselspieles von Phänomen und Begriff ist also darauf hinzuweisen, dass durchaus die Gefahr besteht, im theoretischen Bemühen, die genuine Erscheinung aus den Augen zu verlieren, was in Anlehnung an den Dichter Rainer Maria Rilke auch das Risiko in sich bergen könnte, dass dem, »der zu viel begreifen will, das Ewige vorbei geht«32.
28 Novalis: »Die Lehrlinge zu Sais«, in: Ders., Gedichte. Die Lehrlinge zu Sais (= Universal-Bibliothek, Band 7991 [4]), hrsg. von J. Mahr, Stuttgart: Reclam 1984, S. 61-98, hier S. 65. 29 F. Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung, S. 3. 30 Vgl. R. Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 58 zum Zusammenhang von Begriff und anschaulicher Vorstellung bzw. zu Einzelbegriff vs. Artbegriff. 31 Vgl. die Heterogenität der Angaben zum Stichwort Bewegung in Nachschlagewerken und die Uneinigkeit hinsichtlich der Begriffsdefinition innerhalb einzelner Teildisziplinen. 32 Rilke, Rainer Maria: Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Gedichte aus den Jahren 1906-1926, Leipzig: Insel 1978, S. 29.
1. Etymologische Aspekte
Der Begriff Bewegung scheint in genau dieser Form erstmals im Frühneuhochdeutschen, d.h. ab dem 14. Jahrhundert auf.1 Dem heute gängigen Substantiv gehen mhd. bewegunge und bewegede voraus; mit Bewegung, Reizung und Rührigkeit kann bereits ein mit der heutigen Bedeutung vergleichbarer Inhalt festgestellt werden. Hinsichtlich des entsprechenden Verbums bewegen zeigen sich verschiedene Implikationen; so meint es gleichermaßen verändern der Lage/des Ortes, sich auf den Weg machen, abwenden, sich seitwärts bewegen, meiden, jemanden rühren, erschüttern, beunruhigen, zu etwas veranlassen oder sich entschließen (innerlich bewegen). Synonyme wie entsweben, erwegen, inleiten, regen, gerüeren, movieren, wandeln, ringen und wiegen verdeutlichen weiters, womit mhd. bewegen in Verbindung gebracht wurde.2 Die Präfigierung be- ist spätestens ab dem 16. Jahrhundert Konstante vor dem einfachen ahd. wegen und lässt sich auf die althochdeutsche Vorsilbe bi- zurückführen.3 Mhd. bewegunge wurzelt also in ahd. biwegunga. Für das ahd. Verb (bi-)wegan ist die wiegende Bewegung zentral. Neben wägen, im Gleichgewicht halten, schätzen, wofür halten, erwägen, ein Gewicht haben, bedrücken, bestimmen, festsetzen steht es auch für meiden, sich wegbewegen, verzich-
1
Vgl. Baufeld, Christa (Hg.): Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Lexikon aus Dichtung und Fachliteratur des Frühneuhochdeutschen (1350-1600), Tübingen: Niemeyer 1996, S. 32.
2
Vgl. Lexer, Matthias von (Hg.): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Erster Band. Nachdruck der Ausgabe von 1872-1878, Stuttgart: Hirzel 1992, S. 254 sowie Schade, Oskar (Hg.): Altdeutsches Wörterbuch. Erster Teil, Halle/Saale: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1872-1882, S. 58 und Koller, Erwin/Wegstein, Werner/Wolf, Norbert R. (Hg.): Neuhochdeutscher Index zum mittelhochdeutschen Wortschatz, Stuttgart: Hirzel 1990, S. 68.
3
Vgl. ebd. sowie Kluge, Friedrich (Hg.): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin/New York: de Gruyter 2002, S. 118. Vgl. z.B. mhd. wegelich, das zu nhd. beweglich wurde.
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ten oder sich entschließen. Ahd. (bi-)wegen/weggen meint hingegen schütteln, erregen und erzittern machen.4 Gerhard Köbler führt in dem von ihm herausgegebenen Wörterbuch einige Verben an, die spezifische Formen von Bewegung bezeichnen; es sind dies biweggen (erregen, sich rühren), giweggen (berühren, regen), irweggen (erschüttern, aufwühlen, antreiben, heraubewegen), forairweggen (vorwärtsbewegen), uzirweggen (herausbewegen, ausrenken) und widarweggen (sich zurückbewegen).5 Das dem althochdeutschen Verb zugrunde liegende gotische wigan/weg-s ist einerseits desselben Inhaltes, wenn es bewegen und wiegen meint; andererseits liegt darin auch die konkrete Bedeutung von Kampf, Sturm oder Erschutterung.6 Mit dem neuhochdeutschen Bewegung sind die Begriffe Rege und Rührung synonym, die als solche gegenwärtig zwar wenig gebraucht werden, in diversen Begriffen wie z.B. Aufregung, Erregung oder Berührung jedoch weiterhin aufscheinen. Während das mittelhochdeutsche regen einerseits den Bezug zum Lebendigen7 impliziert und neben bewegen, erregen ebenso die Bedeutung von sich aufrichten, sich erheben und emporragen8 in sich birgt, stecken im althochdeutschen ruora/ruoren (rühren, bewegen) die Aspekte Berührung, Spiel und Antrieb.9 Aufgrund der kulturellen Wurzeln des europäischen Kulturkreises in der griechisch-römischen Antike und der dadurch bedingten Prägung seiner Sprachen sollen auch die analogen griechischen und lateinischen Bewegungstermini thematisiert werden.10 Das griechische kínesis kann sowohl mit Bewegung im Allgemeinen als
4
Vgl. O. Schade (Hg.): Altdeutsches Wörterbuch, S. 72 sowie Ders. (Hg.): Altdeutsches Wörterbuch. Zweiter Teil, Halle/Saale: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1880, S. 1109 und G. Köbler: Althochdeutsch - neuhochdeutsch - lateinisches Wörterbuch. Teil 2, S. 1157.
5
Ebd., S. 1158f.
6
Vgl. O. Schade (Hg.): Altdeutsches Wörterbuch. Zweiter Teil, S. 1109 und Köbler, Gerhard (Hg.): Gotisches Wörterbuch, Leiden u.a.: E. J. Brill 1989, S. 627ff.; vgl. die indogermanischen Wurzeln von got. weg/wig (Erschütterung, Sturm, Weg, Kampf) in bewegen, ziehen, fahren sowie germ. wagjan (bewegen, ziehen, fahren), weiters vega (heftige psychische Bewegung) aus dem Sanskrit und russ. dwigatjsja (sich bewegen/bewegen).
7
Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Band 14. Nachdruck der Erst-
8
Vgl. G. Köbler: Althochdeutsch - neuhochdeutsch - lateinisches Wörterbuch, S. 785 zu
ausgabe von 1893, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 493f. rekken (strecken, ausdehnen, hervorbringen, erregen, treiben) sowie ahd. rigen (nicht eingereiht) und germ. wrigon (sich wenden, winden, drehen, biegen). 9
Vgl. ebd., S. 815 und ahd. ruorida (Bewegung, Berührung) und ruorig (rührig).
10 Vgl. das Fortleben von lat. motus/movere in den romanischen Sprachen (z.B. franz. mouvement, ital. movimento, span. movimiento), in engl. movement und motion und in Fremd-
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auch mit spezifischen Begriffen übersetzt werden: So meint kínesis auch Erschütterung, Unruhe und Aufstand; das Verbum kinein bezeichnet sowohl äußere wie innere Vorgänge, z.B. fortführen, verjagen, aufbrechen, schütteln, erregen, aufreizen, herausfordern, verursachen oder veranlassen.11 Das wesentliche Moment von kínesis liegt im antiken philosophischen Verständnis von Veränderung12 im Sinne eines Überganges von einer Seinsweise in eine andere. Kínesis meint im aristotelischen Denken »das Vermittelnde, wodurch alles aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit strebt [...]«13. Das lateinische motus stellt neben dem, dem Griechischen vergleichbaren, Sinngehalt von Verwandlung und Veränderung einen signifikanten Bezug zur leiblichen Bewegung her, insofern als sich der Begriff auch konkret auf Geste und Tanz beziehen kann. Ähnlich wie für kínesis sind auch für motus Begriffsinhalte aus dem Bereich geistig-seelischer Vorgänge – sei es Antrieb, Aufruhr, Unruhe oder sei es Leidenschaft – zu konstatieren; für das Verbum movere neben Formen der Fortbewegung, Aktionen wie beeinflussen, begeistern, anregen oder denken. In allen untersuchten Termini berühren sich physische und psychische, abstrakte und konkrete Bedeutungsebenen in einem Wort. Es wird deutlich, dass Bewegung sich nicht eindeutig auf einen spezifischen Vorgang festlegen lässt, sondern vielfältige Erscheinungsformen mit einem Begriff bezeichnet. Während die entsprechenden griechischen und lateinischen Ausdrücke in den meisten Fällen ihres Sinngehaltes korrespondieren, ist die etymologisch enge Beziehung des deutschen Begriffes bewegen zu wägen/wiegen evident und erlaubt die Vermutung, dass es sich hier um ursprüngliche menschliche Wahrnehmungen handelt, die auch auf den sich entwickelnden Allgemeinbegriff eingewirkt haben. Der Kontext von Gravitation, Richtung und einem Hin-und-Her lässt sich auf fundamentale Erscheinweisen von Bewegung beziehen, die in den folgenden Kapiteln zur Sprache kommen werden. Besondere Relevanz hat für spätere Ausführungen auch der Aspekt der Abweichung, wie er im Mittelhochdeutschen aufscheint. Außerdem stellen die in den Begriffen Rührung und Rege aufscheinenden Aspekte von Spiel und Berührung sowie der explizit erwähnte Bezug zum Lebendigen lohnende Komponenten für weiterführende Untersuchungen dar. Die Ausdrücke motus und kínesis sind wichtige Anhaltspunkte
wörtern im Deutschen (z.B. Motor, Motivation und Emotion) sowie von altgriech. kínesis (z.B. Kino, Kinetik und Kinematik). 11 Vgl. altgriech. kinetér (Beweger). 12 Vgl. Töpfer, Frank: »Artikel ›kinêsis‹«, in: Horn, Christoph/Rapp Christof (Hg.), Wörterbuch der antiken Philosophie, München: Beck 2002, S. 239-240, hier S. 239. 13 Kappes, Matthias (Hg.): Aristoteles-Lexikon. Erklärung der philosophischen termini technici des Aristoteles in alphabetischer Reihenfolge, Paderborn: Schöningh 1894, S. 34.
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für eine Abstraktion von Erscheinweisen der Bewegung innerhalb dieses Oberbegriffes. Die mit ihnen assoziierten und philosophisch erörterten Vorgänge verdeutlichen übergreifende Parameter, welche die Vielfalt des Bedeutungsinhaltes zusammenfassen. Der folgende Exkurs zur Bedeutung ausgewählter Bewegungswörter, die den zuletzt angesprochenen Termini entstammen, exemplifiziert das vielfältige Vorkommen von Bewegung in Begriffen der Alltagssprache. Exkurs: Bewegungswörter Emotion Der Begriff Emotion ist ein gängiges Fremdwort der deutschen Sprache, nicht mehr ausschließlich im wissenschaftlichen Diskurs14 verwendet, sondern – nicht zuletzt über den Umweg von Anglizismen – populär gebraucht, wurde dieser sogar zum Namensgeber eines sogenannten »Near-Water«-Getränkes. Die heute übliche deutsche Übersetzung von Emotion im Wort Gefühl zeigt sich bar jeden Hinweises auf Bewegung; doch gerade der mediale und ökonomische Gebrauch von Emotion zeugen davon, was an Assoziationen verloren gegangen ist. Wird durch die Werbebotschaft des erwähnten Produktes versucht zu suggerieren, dass unser Inneres durch den Konsum eines Getränkes namens »Emotion« in Bewegung versetzt und belebt wird, zeigt sich, was das lateinische e-movere meint: Mit hinausschaffen, herausheben, herausbewegen wird eine von innen nach außen gebrachte Bewegung bezeichnet. Dies charakterisiert jenen Vorgang, der Gefühlen verleiht, was sie auszeichnet, und worauf auch die im Kontext gebrauchten deutschen Begriffe wie Aufregung oder Erregung verweisen, schließen sie doch direkt an den alten Begriff der Rege (Regung) an.15
14 Vgl. Klages, Ludwig: Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, Bonn: Bouvier 1982, S. 154 im Jahr 1935 zur Substitution der Begriffe Gemütsbewegung, Wallung oder Erregung durch Fremdwörter wie Affekt oder Emotion im wissenschaftlichen Sprachgebrauch. 15 Vgl. Schulze, Werner: »Heilung und Heil in der Musik und Harmonik. Von den Wurzeln des therapeutischen Umganges mit Musik. Grundlagenaspekte und Dialoge«, in: Kim, Eun/Schadel, Erwin/Uwe Voigt (Hg.), Aktive Gelassenheit. Festschrift für Heinrich Beck zum 70. Geburtstag (= Schriften zur Triadik und Ontodynamik, Band 17), Frankfurt am Main u.a.: P. Lang 1999, S. 591-616, hier S. 595: »Verstehen wir die Erregung als Bewegung, als motio, emotio, öffnet sich ein Zugang zum in Misskredit geratenen Begriff Gefühl: Gefühl als die Amplitude des Mitschwingens oder Zitterns [...].«
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Motivation Um etwas geschehen zu machen bedarf es eines Motivs – einer causa movens im Sinne eines aktivierenden Momentes zur Erreichung eines Zieles.16 So ist Motivation Summe all jener subjektiven Motive, in denen ein bestimmtes Verhalten gründet. Sie setzt den Willen in Bewegung und leitet den Entschluss.17 Obwohl der Bewegungsaspekt im Begriff Motivation unmittelbar aufscheint, ist zu bezweifeln, dass diese Verknüpfung in der heutigen Alltagssprache noch als solche wahrgenommen wird. Synonyme wie Anlass, Anstoß, Antrieb, Anregung oder Auslöser veranschaulichen eher, dass es sich bei Motivation um jene Ursache handelt, die Aktion bewirkt.18 Noch klarer drücken der Terminus Beweggrund, der im älteren Bewegungsgrund wurzelt – jener Grund, »der das Gemüth in Bewegung setzet«19 – oder das mittelhochdeutsche bewegnis aus, dass der fundamentale Charakter von Motivation in ihrem Wesen als Bewegerin liegt. Kino Nicht nur das im Deutschen gebrauchte Fremdwort Kino bezieht sich auf das, was den Film ausmacht – auch andere Sprachen bringen in ihren entsprechenden Termini die Intention der Erfinder des Kinematografen/Kinetoskops zum Ausdruck20 : Bewegung – losgelöst von der realen Körperlichkeit als Illusion des Realen – darstellen.21 Der Bewegungsbegriff wird verbildlicht, das »Leben materialisiert« und »der Zeit wird getrotzt« (René Clair).22 Weil es sich um bewegte Bilder handelt, entsteht jene anziehende, als real wahrgenommene unmittelbare Scheinwelt, die Lebendigkeit, das Empfinden einer Gegenwärtigkeit und Emotionen im Be-
16 Vgl. Theo R. Payk zit.n. Hohl-Radke, Felix: »Zur Psychopathologie und Neurobiologie des Begriffs Antrieb«, in: Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 159/6 (2006), S. 365-377, hier S. 367, der Motivation analog zu Antrieb versteht. 17 Vgl. Pschyrembel medizinisches Wörterbuch. Sonderausgabe Klinisches Wörterbuch, Hamburg: Nikol 1994, S. 993 sowie Paul, Hermann (Hg.): Deutsches Wörterbuch. Bedeutungsgeschichte und Aufbau unseres Wortschatzes, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 167. 18 Vgl. F. Hohl-Radke: Zur Psychopathologie und Neurobiologie des Begriffs Antrieb, S. 367 zum Antrieb, der Bewegung aller psychischen Funktionen bewirke. 19 J.Ch. Adelung/D.W. Soltau/F.X. Schönberger (Hg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Band 1, S. 967. 20 Vgl. amerikan. the movies; in niederländ. Bioscoop, serb. Bioskop, schwed./isländ. Biograf scheint der Zusammenhang von Leben und Bewegung durch. 21 Als historisch gültiges Ereignis gilt das Patent der Brüder Lumière. Als Kinetoskop wird jener Apparat bezeichnet, der die Filmstreifen in Bewegung versetzt und vor das Glühlämpchen bringt. Als Kinemato- oder Kinetograf wird das Aufnahmegerät bezeichnet. 22 Clair, René: Kino. Vom Stummfilm zum Tonfilm. Kritische Notizen zur Entwicklungsgeschichte des Films 1920-1950, Zürich: Diogenes 1995, S. 218.
42 | B EWEGUNG IN DER M USIK trachter auslöst.23 Die Bewegung der Abbildung verdeutlicht, dass die Ästhetik des Filmes sowohl in der Herstellung als auch in der Erzählstruktur und Wahrnehmung auf Bewegung beruht.24 Insofern sich diese im Wechsel von einem Bild zum nächsten manifestiert, unterlegt sie das Filmische einem »Gewebe« (Ulrich Meurer) gleich und wird damit selbst zum Filmtext.25 Kurzum, Bewegung ist das wesentliche Konstituens des Filmes schlechthin; der Film entwickelte sich zum Medium der Bewegung: Denn mittels kinematografischer Technik wurde es möglich, bis dato unsichtbare Momente des Bewegungsprozesses zu erforschen oder Bewegungsgestaltungen wie z.B. Tanz visuell aufzuzeichnen. Möbel Möbel sind res moventes. Als Mobiliar bezeichnet fundiert ihre Benennung im Faktum, dass es sich um »bewegliches Gut« handelt, um Sachen, die nicht »niet- und nagelfest« sind, wie in Lexika aus vergangenen Jahrhunderten konstatiert wird.26 Die Beweglichkeit des meuble ist ursprüngliche Erfordernis an den Gegenstand, welcher der Bewegung seines Eigentümers folgen können muss. Dies zeigt sich exemplarisch an einem weit verbreiteten Möbel des Mittelalters – der Truhe: Diese kommt dem hohen Stellenwert der Beweglichkeit des Möbels entgegen.27 Für denjenigen Teil der Bevölkerung, der sich auf Reisen einen Transport des gesamten Mobiliars nicht leisten konnte, wurde die Truhe als »fahrende Habe« zur Begleiterin. Der Grad an Beweglichkeit des Möbels steht unmittelbar in Beziehung zum gesellschaftlichen Umfeld und damit verbundenen Phänomenen. Denn Parameter wie gesellschaftliche Werte, politische Situation, Flexibilität am Arbeitsmarkt oder das Maß an individueller Unabhängigkeit wirken sich insofern auf das Möbel aus, als es sich an die Bedürfnisse seiner
23 Vgl. Grissemann, Stefan: »Die Idiotenmonarchie«, in: Profil vom 11.06.2007, S. 120f.: »Die heitere Anmutung des bewegten Bildes ist bereits seine ganze Pointe.« 24 Vgl. R. Clair: Kino, S. 217. Alle Ebenen von Bewegungen hängen wiederum miteinander zusammen, vgl. z.B. den Zusammenhang von Bildfrequenz, visueller Wahrnehmung von Bewegung und Ästhetik bzgl. des Inhaltes. 25 Vgl. Meurer, Ulrich: »24 Indizien pro Sekunde – keine Leiche: Peter Greenaways The Draughtsman’s Contract«, http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/frontdoor/index/index/ docId/19858 vom 14.07.2014. Bewegung im Film scheint als Thema bei Gilles Deleuze ebenso wie bei Umberto Eco auf. 26 Vgl. J.Ch. Adelung/D.W. Soltau/F.X. Schönberger (Hg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Band 3, S. 253 zum Stichwort Mobilien: »[...] in weiterer Bedeutung alles bewegliche Vermögen, doch mit Ausschluß der Thiere, [...], des Getreides aus dem Halme, des Obstes auf den Bäumen, des Brau- und Ackergeräthes u.s.f. [...]. In engerer Bedeutung wird aller Hausrath unter dem Namen Mobilien verstanden, wofür man auch wohl den Französischen Ausdruck Meublen, Möbeln, (Meubles) zu gebrauchen pflegt. [...].« 27 Die Truhe verwahrte Kleidung, Taschen, Bücher, haltbare Lebensmittel oder Geschirr; der Schrank entwickelte sich erst im 15. Jahrhundert.
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Besitzer anpasst. So stehen Perioden mit einer hohen Mobilität des Inventars Phasen der Unbeweglichkeit des Möbels gegenüber. Wie Anbieter darauf reagieren, wird gerade heute deutlich, wenn die Flexibilität in unterschiedlichen Kontexten ansteigt.28
28 Vgl. Virilio, Paul: Der negative Horizont. Bewegung, Geschwindigkeit, Beschleunigung (= Sozialwissenschaft, Band 12511), Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1995, S. 52 zum Zusammenhang von spezifischen Möbel und Charakteristika der Gesellschaft im 18. Jahrhundert; vgl. die Möglichkeit, mithilfe von Bauanleitungen Möbel selbständig zusammenzubauen; weiters die steigende Flexibilität von Büromöbel und den Wunsch nach ›aktivem‹ Sitzen sowie Materialien, die eine aufgrund häufiger Wohnsitzwechsel entstehende Mobilität ermöglichen.
2. Kulturgeschichtlicher Abriss
2.1 V OM
BEWEGTEN K OSMOS ZUR VON B EWEGUNG
M ESSBARKEIT
Die Frühgeschichte des Menschen, in der abstrakte Begriffe noch nicht existierten, sondern in der das Phänomen im Zentrum des Erkennens stand1, ist durch das Leben innerhalb einer »Einheitswirklichkeit« charakterisiert, wie der Psychologe und Psychoanalytiker Erich Neumann erklärt2: Die primäre Identität menschlichen Seins in der prähistorischen Phase bestand noch als »participation mystique« an der ungeteilten Realität.3 Erleben, Wahrnehmen und Deuten innerer wie äußerer Bewegungsphänomene mögen in der von Jean Gebser bezeichneten »magischen Struktur« einem zusammenhanglosen »immer neuen Aufblitzen, Ausfahren und Sichhinwirken der Kraft« (Martin Buber)4 unterworfen gewesen sein. Wurde auf Bewegungsphänomene der Umwelt noch abseits einer Kausalität oder abstrakten Zuordnung reagiert, forderten Naturphänomene und damit verbundene Notwendigkeiten die Menschen heraus, neue motorische Varianten zu entwickeln, um zu überleben und Leben zu gestalten. Die enge Verflochtenheit von Mensch und Kosmos erweist sich auch in der – ca. ab dem zweiten Jahrtausend vor Christus einsetzenden – »mythischen Struktur« als Charakteristikum des Welt-Erlebens, wenngleich sich aus der ehemals »eindimensionalen Unität« eine »zweidimensionale Polarität« herausbilde-
1
Vgl. Neumann, Erich: Der schöpferische Mensch, Frankfurt am Main: Fischer 1998, S. 72 zu »extranem Wissen«, das am Anfang von Phylo- und Ontogenese stehe. Vgl. Buber, Martin: Ich und Du (= Universal-Bibliothek, Band 9342), Stuttgart: Reclam 2002, S. 25 zum vorgeburtlichen Leben des Kindes als »reine, naturhafte Verbundenheit«.
2
Ebd., S. 81. Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 100 zu Raum- und Zeitlosigkeit.
3
Vgl. E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 61ff.; vgl. Lukács, Georg: Ästhetik II (= Sammlung Luchterhand, Band 64), Neuwied/Berlin: Luchterhand 1972, S. 35 zum »Eingehülltsein« des Urmenschen.
4
M. Buber: Ich und Du, S. 21.
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te, wie Gebser zeigt.5 Dass diese Phase eine Genese von der emotional geprägten Erfahrung der Einheitswirklichkeit zur Erfahrung von Partialwelten, von Objektwelt und objektiver Psyche repräsentiert6, manifestiere sich anschaulich in ersten Darstellungen des Mundes und an der nach rechts gerichteten Bewegung des Kopfes in frühen Malereien: Dies gelte als Indiz für eine Bewusstwerdung der Außenwelt und eine Entwicklung der Ich-Empfindung.7 Als Anzeichen für eine deutliche Abgrenzung von Subjekt und Objekt respektive Impuls und Aktion dienen Vorkommnisse in den großen Mythen der griechischen Antike.8 Im Zuge des entstehenden Hiatus zwischen ratio und emotio wurde eine Differenzierung in der Wahrnehmung von Außen- und Innenwelt in Gang gesetzt. Der damit aufkeimende Übergang vom Mythos zum Logos mündete schließlich in die »mentale Struktur« des Bewusstseins.9 Trotz dieser Entwicklungen blieb der Mensch der Antike noch Teil der ihn umgebenden Welt im Sinne eines gemeinsamen Kosmos, der im platonischen Sinne selbst als mit einem »Weltleib« und einer »Weltseele« ausgestattet zu denken ist.10 Der Kosmos ist Inbegriff lebendiger, sich selbst bewegender Wesen (auto-kínesis); dementsprechend erweist sich Bewegung als Teil des Ganzen und Prinzip des Lebendigen schlechthin. Menschen und Tiere sowie Gestirne werden als Komponenten einer großen bewegten Ordnung verstanden.11 Diesen sich in Wandlung befindlichen Kosmos und seine phänomenale Vielfalt zu deuten, zu ordnen und zu verstehen, verlangte Werkzeuge. Sprache wurde zum órganon, Welt zu
5
Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 106ff.
6
Vgl. E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 107.
7
Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 101ff.; vgl. J. Jaynes: Der Ursprung des Bewußtseins, S. 311ff. und dessen These eines tief greifenden Bewusstseinswandels um die Jahrtausendwende vor Christi Geburt.
8
Vgl. Danzer, Gerhard: Merleau-Ponty. Ein Philosoph auf der Suche nach Sinn, Berlin: Kadmos 2003, S. 87 zur Einheit von Affekt, Wille und Motorik beim »homerischen Menschen«; Odysseus sei das erste »literarische Modell« gewesen, das diese Einheit insofern aufgebrochen habe, als er gegen den dominierenden Affekt gehandelt hat. Vgl. Hell, Daniel: Seelenhunger: der fühlende Mensch und die Wissenschaften vom Leben, Bern: Hans Huber 2003, S. 56 zu Archilochos, der sich als Dichter selbst ins Zentrum seiner Gefühle gestellt habe.
9
Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 125ff.
10 Vgl. Platon: »Timaios«, in: Ders., Sämtliche Werke. Band 4. Timaios, Kritia, Minos, Nomoi, hrsg. von B. König (= Rowohlts Enzyklopädie, Band 55564), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, 32c. 11 Vgl. Philipp von Opus [Platon]: »Epinomis«, in: Ders., Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und Deutsch. Band 10, hrsg. von K.H. Hülser, Frankfurt am Main: Insel 1990, 981b.
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verstehen.12 So vollzog sich etwa um 500 vor Christus in Griechenland ein Prozess der Zusammenführung von Denken und Verstehen, der in die Fähigkeit zur Abstraktion mündete.13 Platon und Aristoteles fragen »Was ist...?« bzw. nach dem to kathólou14 und verweisen in ihren Reflexionen auf das Potenzial von Begriffen: die Erkenntnis des Universalen als terminologisches Erfassen der wesenhaften Einheit in der Vielfalt. Die Philosophie der griechischen Antike misst der Frage nach der Seinsweise von Bewegung als Begriff und dem Ereignis an sich große Bedeutung bei. Spätestens seit Parmenides wurde diese Thematik in den Blick genommen und infolge dessen zu einem zentralen Problem im abendländischen Denken.15 Dabei kristallisierten sich bereits in der Antike unterschiedliche Auffassungen und Ansätze heraus. Während Parmenides das Sein als ruhend auffasste, begriff Heraklit alles in einer unendlichen Bewegung.16 Platon separierte den Bereich der Bewegung in allen körperlichen Erscheinungen vom Bereich des Beständigen in den ihnen zugrunde liegenden Ideen. Diese ontologischen Ansätze führte Aristoteles weiter. Er widmete sich speziell der Frage nach der Seinsweise von Bewegung als Universale und ortete diese in der Veränderung und im Übergang von einem Zustand in einen anderen.17 Im theoretischen Diskurs der Antike wurde auf einer abstrakten Ebene bisher Erfahrenes thematisiert: Bewegung betrifft per se das Seiende und berührt die Existenz der Realität. Die Frage nach dem Leben ist damit in Eins Suche
12 Vgl. Aebli, Hans: Denken. Das Ordnen des Tuns. Band 2. Denkprozesse, Stuttgart: KlettCotta 1994, S. 83. Zu gewissen bewegten Prozessen, die den Menschen der Antike in der Welt begegnen und verunsichern vgl. Gebauer, Gunter: »Ordnung und Erinnerung. Menschliche Bewegung in der Perspektive der historischen Anthropologie«, in: Klein, Bewegung (2004), S. 23-42, hier S. 39. 13 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 126. Diese Entwicklung wurde lt. Gebser in Europa erst im 13. Jahrhundert nachgeholt. 14 Vgl. Tugendhat, Ernst/Wolf, Ursula: Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart: Reclam 1983, S. 129. 15 Vgl. Gigon, Olof/Zimmermann, Laila (Hg.): Platon-Begriffslexikon, Zürich: Artemis 1974, S. 77. 16 Vgl. Kaulbach, Friedrich: »Artikel ›Bewegung/I. Antike‹«, in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1, Basel/Stuttgart: Schwabe & Co. 1971, S. 865. Zenon versuchte, Parmenides These von der Nichtexistenz der Bewegung begrifflich zu beweisen. Vgl. die Heraklit zugeschriebene Wendung »pánta rhéi«. 17 Vgl. ebd., S. 866 sowie Aristoteles: Physik III,200b und Ders.: Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, hrsg. von F.F. Schwarz (= Universal-Bibliothek, Band 7913), Stuttgart: Reclam 2005, IV,1012b. Vgl. weiters Brugger, Walter (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Freiburg/Basel/Wien: Herder 1976, S. 45.
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nach der Bewegung. Entsprechend dem antiken Lebensgefühl, unmittelbar am Kosmos zu partizipieren, impliziert die Auseinandersetzung mit Bewegung die Aktivität der Gestirne ebenso wie jene des menschlichen Körpers, der Seele oder des Denkens.18 Neben philosophischen Reflexionen und Analysen war die Auseinandersetzung mit Bewegung naturgemäß auch eine konkrete und sie erhielt in der Antike maßgeblich praktische Impulse: Sowohl in körperlich-motorischer Hinsicht als auch in Bereichen angewandter Physik, in handwerklichen Belangen wie im künstlerischen Ausdruck kam es zu einem Progress.19 Die Erkenntnis vom praktischen Nutzen der Bewegung erfuhr aufgrund des neuen technischen Wissens einen Aufschwung; sie veränderte den Alltag der Menschen und griff damit direkt in sein Weltbild ein. Als Beispiel für diese Prozesse sei die Fortbewegung zu Wasser und zu Lande genannt. Die Mobilität war deutlich im Ansteigen begriffen, wie mit dem Ausbau natürlicher Wasserläufe durch Kanäle zu einem Wasserstraßennetz oder tausenden Kilometer Straße auf dem Festland am Höhepunkt des Römischen Reiches exemplarisch dargelegt werden kann.20 Diese hinsichtlich des Tempos der Fortbewegung stattfindende Veränderung, ebenso die Intensivierung der Reisetätigkeit – »Form der Bewegung im sichtbaren Raum« (Karin Hlavin-Schulze) – an sich, tangierten, leiblich konkret erfahrbar, das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, insofern als sie ihn stetig der Symbiose mit der Natur enthoben. Verschiedene technische Neuerungen auch abseits der Lokomotion machten die Sonderstellung des Menschen immer deutlicher erfahrbar: Es war ihm in zunehmenden Maße möglich, in die Natur einzugreifen und von ihren Bewegungen zu profitieren. Darüber, wie diese Bewegungen vom Menschen der Antike subjektiv erlebt wurden, kann nur spekuliert werden. Wohl aber scheint die Vermutung plausibel, es handle sich trotz stattfindender theoretischer Analysen noch um ein ursprünglich im Menschen verhaftetes, leibbewusstes Erkennen.
18 Vgl. ebd.; vgl. Platon: Phaidon (= Universal-Bibliothek, Band 918), Stuttgart: Reclam 1987, I,59a zur Gefühlsbewegung. Vgl. die Umsetzung der Verbindung von physischer und kognitiver Bewegung in der griechisch-antiken Schule der Peripatetiker. Vgl. Claudius Ptolemaeus: Die Harmonielehre. Harmoniká, hrsg. von I. Düring, Göteborg: Elander/Göteborgs Högskolasårsskrift 1930, III,4-5 zu Gestirnsbewegung und Bewegung der menschlichen Seele. 19 Vgl. G. Gebauer: Ordnung und Erinnerung, S. 37 zum aristokratischen Charakter der athletischen Bewegung in der Antike und ihrem Wesen als »Geste der Macht«. 20 Vgl. Ohler, Norbert: Reisen im Mittelalter, Düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler 2001, S. 56.
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Das auf die Antike folgende Mittelalter schloss an dieses Erleben an; hinsichtlich einer rationalen Auseinandersetzung mit Bewegung bestand allerdings ein Nachholprozess, der erst mit dem 13. Jahrhundert beendet wurde.21 In der Beschäftigung mit dem Gang der Planeten22 spiegelt sich exemplarisch das in der Verknüpfung zwischen Mensch und Kosmos fundierende leibbewusste Erkennen wider, indem dieser Bewegung auch in Bezug auf den Menschen existenzielle Bedeutung beigemessen wurde: »Jedem Planet wurde eine besondere Wirkung auf einzelne Organe zugeschrieben«, merkt Ortrun Riha in ihrem Aufsatz über Konzepte mittelalterlicher Medizin an23. Parallel zu diesen Erlebnissen auf der Ebene der Widerfahrnis kam es auch zu Erfahrungen mit Bewegung der Außenwelt, die von einem aktiven Entgegentreten gekennzeichnet sind: So wurden etwa von mittelalterlichen Gelehrten Versuche angestellt, die Bewegung der Himmelssphäre als Energiequelle zu nutzen – idealiter in Form eines Perpetuum mobile, was jedoch naturgemäß scheitern musste.24 Der Wunschgedanke einer sich selbst erhaltenden Bewegung leuchtet angesichts der Tatsache, dass physische Bewegung im Mittelalter einer Strapaze des Alltages glich, besonders ein. Der mit dem Hochmittelalter aufkommende Wandel in der Wirtschaftsstruktur, mit dem ein Aufschwung des Handels sowie des Geld- und Verkehrswesens einherging, ließ die Bewegung auf Fernhandelswegen zu Lande oder zu Wasser – ein hohes Maß an Gefahr und Beschwerlichkeit inklu-
21 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 126. 22 Vgl. C. Baufeld (Hg.): Kleines frühneuhochdeutsches Wörterbuch, S. 32 zum mittelalterlichen Terminus (Himmels-)Umschwung als Synonym für Bewegung. Vgl. Fischer, Johann K. (Hg.): Physikalisches Wörterbuch oder Erklärung der vornehmsten zur Physik gehörigen Begriffe und Kunstwörter, Göttingen: Dieterich 1801, S. 62: »Ohne Zweifel konnte es [.] gar nicht fehlen, dass man sich von der Bewegung der Körper überhaupt gar bald Begriffe zu bilden suchte, wozu besonders die so sehr in die Augen fallenden größeren Himmelskörper hinlängliche Veranlassung gaben.« 23 Riha, Ortrun: »Körperwelten. Säfte und Symbole - Konzepte mittelalterlicher Medizin«, in: Spektrum der Wissenschaft. Spezial: Forschung und Technik im Mittelalter (2002), S. 48-53, hier S. 51. 24 Vgl. Lohrmann, Dietrich: »Vom Magnetismus der Himmelspole zum Ewigen Rad«, in: Spektrum der Wissenschaft. Spezial: Forschung und Technik im Mittelalter (2002), S. 74. Die Idee eines Perpetuum mobile scheint auch in späteren Jahrhunderten auf; so z.B. in der 1627 veröffentlichten utopischen Erzählung »Nova Atlantis« von Francis Bacon. Vgl. die Definition des Perpetuum mobile bei Zedler, Johann Heinrich (Hg.): Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Band 27, Halle/Leipzig: Zedler 1741, S. 537 als Maschine, die »vermöge ihrer Struktur die Bewegung fortsetzet, wenn sie nur einmal darein gebracht worden ist, so, daß sie ewig dauern würde, wenn die Materie, woraus sie besteht, nur nicht eingienge [...].«
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dierend – ansteigen. Dieser konkreten Erfahrungsebene der Mühsal körperlicher Bewegung ist die geistige Ebene der latenten Leibfeindlichkeit hinzuzufügen. Es ist anzunehmen, dass ein durch das Christentum verbreiteter »Antagonismus von Leib und Seele« (Gerhard Danzer) – eine Degradation des Physischen – das Körperbewegungserleben insgesamt beeinflusst hat. Vermutlich gehen damit auch Tendenzen einher, der zweckfreien, gestalteten Körperbewegung wie dem Tanz künstlerisch wenig Wert beizumessen. Stand die Seele im Brennpunkt des Interesses des mittelalterlichen Menschen, richtete sich sein Blick – metaphorisch gesprochen – weniger in die Tiefe denn in die Höhe. Die Bewegung im irdischen Raum zählte nicht zum zentralen Interesse der alltäglichen Realität. Denn was das Fortkommen der Seele nach oben ermöglicht, wird nicht in der Bewegung, sondern in der Ruhe lokalisiert.25 Die unbedingte Ruhe ist »der Ewigkeit eigentümlich« (Marsilio Ficino)26 und damit an das antike Denken anschließend per definitionem Gott – der primum movens immotum, der unbewegte Beweger. Der Anstoß zur Lebens-Bewegung erfolgt über das Sein Gottes in Bewegungslosigkeit.27 Die erfolgte Bewegung der Welt ist durch die höhere Macht bestimmt – Omne quod movetur, ab deo movetur.28 Bewegung ist im Anschluss an die Denker des Mittelalters also existenziell an Ruhe gebunden; ist »nacheinander geordnete Ruhe [...] also die Entfaltung der Ruhe«, wie Nicolaus Cusanus später, in der Zeit der Renaissance niederschreibt.29 Das Statische ist nicht nur theologischphilosophischer Ansatzpunkt im Nachdenken über Bewegung, sondern bestimmendes Moment für das Leben im Mittelalter insgesamt. Eine beständige Gegenwart in der Struktur einer materiellen Welt manifestierte sich sowohl in der absoluten ständischen Ordnung und damit verbunden in den Lebensregeln, Normen und Gesetzen, als auch in Sitten und Gebräuchen sowie in der Kunst.30 Diese »scheinbare Re-
25 Vgl. die stabilitas in der Regula Benedicti IV, 78. 26 Marsilio Ficino: De Amore. Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Lateinisch-deutsch (= Philosophische Bibliothek, Band 368), Hamburg: Meiner 2004, VI,16. 27 Vgl. Melderis, Hans: Der biologische Urknall. Entstehung von Kosmos und Leben aus der Bewegung, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1999, S. 59 und vgl. weiters ebd., S. 100 zur Vermutung, das Phänomen Bewegung habe im Mittelalter aufgrund des Bezuges zum unbewegten Beweger keine (philosophischen) Schwierigkeiten bereitet. 28 Vgl. A. Hügli/P. Lübcke (Hg.): Philosophie-Lexikon, S. 244. 29 Nicolai de Cusa: De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit. Buch II. LateinischDeutsch (= Philosophische Bibliothek, Band 264b), Hamburg: Meiner 1999, III, 106. 30 Vgl. Teilhard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos, München: Beck 1999, S. 221 sowie Borscheid, Peter: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt/New York: Campus 2004, S. 22f.
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gungslosigkeit ackerbautreibender Jahrhunderte« (Pierre Teilhard de Chardin) reflektiert nicht zuletzt ein Eingebundensein in und eine Prägung durch die wesentlich zyklisch bestimmten Vorgänge in der Natur.32 Beharrungsvermögen und Stabilität des »ewigen Kreis-Laufes der Natur« (Peter Borscheid) wirken sich auf Leben und Erleben aus.33 Das Moment des Statischen in der zyklischen Zeit zeigt sich in der Gestaltgleichheit und Wellenförmigkeit; mit den Worten der Soziologin Heide Inhetveen: in der »Eigentümlichkeit der Zyklen, die nicht vergehen, ohne schon wieder im Kommen zu sein [...]«34. Exkurs: Spezifika des Zirkulären Die zirkuläre Bewegung zählt zu den herausragenden, elementaren Bewegungsformen35 und wird seit frühester Menschheitsgeschichte thematisiert. Ihr Stellenwert liegt neben ihrem besonderen Charakter v.a. in ihrer historisch, anthropologisch und kulturübergreifend bedeutsamen Position.36 Was die Kreisbewegung von allen anderen Bewegungsformen unterschei-
31 P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 22. Vgl. die von Minnesängern beschriebene Tugend der staete (Unwandelbarkeit). 32 Vgl. P. Gendolla: Zeit, S. 6ff.; vgl. weiters P.O. Kristeller: Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 175 zur Idee der zyklischen Bewegung in der Philosophie des Marsilio Ficino, die Mensch, Natur und Gott verbindet: »So ist die natürliche Bewegung gleichsam ein Gegenstrom, der die aus Gott herausragenden Dinge wieder zu ihrem Ursprung hinführt, und es schließt sich der große Kreislauf der Welt, indem die Gottheit gleichsam auf dem Umweg über die geschaffenen Dinge in sich selbst zurückkehrt.« 33 P. Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 22. Vgl. Schneider, Norbert Jürgen: Die Kunst des Teilens. Zeit, Rhythmus, Zahl, München: Piper 1991, S. 37 zur zyklischen Zeit als »Naturzeit« und vgl. ebd., S. 39 zum Vorkommen der Naturzeit in den Anfängen der Phylound Ontogenese. 34 Inhetveen, Heide: »›Schöne Zeiten, schlimme Zeiten‹. Zeiterfahrungen von Bäuerinnen«, in: Zoll, Rainer (Hg.), Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit (= Edition Suhrkamp, Neue Folge, Band 411), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 193-222, hier S. 195. 35 Vgl. Aristoteles: Physik, IV,223b zur Kreisbewegung als ursprünglichste Form der Veränderung und vgl. weiters Dessauer-Reiners, Christiane: Das Rhythmische bei Paul Klee. Eine Studie zum genetischen Bildverfahren (= Manuskripte zur Kunstwissenschaft, Band 51), Worms: Wernersche 1996, S. 105f. zum Maler Paul Klee und dessen Verständnis vom Kreis als »urbeweglich«. 36 Der Kreis zeigt sich auf unterschiedliche Art in der Körperbewegung: z.B. als Drehung, als Formation (einer Gruppe) oder als Raumweg. Die Symbolik des Kreises wird z.B. in der Kunst bei Paul Klee, in der Psychologie bei Carl Gustav Jung behandelt oder in den
52 | B EWEGUNG IN DER M USIK det, ist die Kongruenz von Ausgangs- und Zielpunkt.37 Das damit verbundene Streben, »in sich selbst zurückzukehren«, wie Platon im »Timaios« schreibt38 , erzeugt den Eindruck, die Kreisbewegung bliebe auf der Stelle und löse daher das Empfinden von Gleichmaß, Beständigkeit und Ordnung aus.39 Nicht nur Anfang und Ende fallen im Kreis zusammen; auch die Polarität von Ruhe und Bewegung insgesamt scheint in der unaufhörlichen Wiederkehr des Zirkulären aufzugehen wie auch die unterschiedlichen Elemente des Prozesses. So lautet ein Fragment des Empedokles: »Abwechselnd [.] gewinnen die Elemente und Kräfte die Oberhand im Umschwung des Kreises und vergehen ineinander und wachsen im Wechsel der Bestimmung.«40 Bleibt die Kreisbewegung »am meisten sie selber« (Bernhard Waldenfels), repräsentiert sie im idealen Sinn Unendlichkeit und damit göttliches Sein.41 Bereits Platon stellte das Dogma vom Ideal der Kreisbewegung auf; ergo bewege sich auch die Seele kreisförmig.42 In der Aristoteles zugeschriebenen Abhandlung »Über die Welt« wird nach dieser ›Idealbewegung‹ gefragt, die im Lauf der Gestirne, »die ihre Bahn im genauesten Gleichmaß von einer Ewigkeit zur anderen ziehen« und der dadurch erzeugten Ordnung am Himmel erkannt wird.43 Im Umkehrschluss veranschaulicht die ungeordnete, unregelmäßige, begrenzte Bewegung die Unvollkommenheit des Menschen, wie es Nicolaus Cusanus in seinem »Globusspiel« eindrucksvoll umsetzte.
Religionen (vgl. z.B. das »Lebensrad« und das »Rad der Lehre« im Buddhismus oder Kreis und Zirkel als Symbole des Göttlichen im Christentum) thematisiert. 37 Vgl. Prohl, Robert: »Die Zeitlichkeit der Selbstbewegung«, in: Prohl/Seewald, Bewegung verstehen (1995), S. 17-56, hier S. 27 bzgl. Platon und Aristoteles, die beide auf das Zusammenfallen von Anfang und Ende in der Kreisbewegung hinweisen. 38 Platon: Timaios, 58a. 39 Vgl. ebd., 36b. Vgl. R. Prohl: Die Zeitlichkeit der Selbstbewegung, S. 24 zur kosmologischen Zeit bei Platon als Spiegelung der ewigen, unveränderlichen Ideensphäre; die Figur des Kreises komme diesem Ideal am nächsten. 40 Empedokles: »Fragmente über die Natur«, in: Diels, Hermann (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker (= Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, Band 10), Hamburg: Rowohlt 1957, S. 62 (Frag. 26). 41 So wird das Göttliche z.B. bei Boëthius als Ruhe, als Unbewegtheit verstanden. Besondere Relevanz erhält die Kreisbewegung im Kontext der Theologie z.B. in der »LogoMystik« (Werner Schulze) des Ramon Llull (13. Jahrhundert). 42 Vgl. O. Gigon/L. Zimmermann (Hg.): Platon-Begriffslexikon, S. 79 sowie Platon: Timaios, 37a. Bei Marcus Tullius Cicero: De re publica. Der Staat. Lateinisch und deutsch (= Sammlung Tusculum), hrsg. von K. Büchner, München/Zürich: Artemis 1993, VI wohnen die »Seligen« in einem »von Flammen geschützten strahlenden Kreis«. 43 Aristoteles: Über die Welt (Universal-Bibliothek, Band 8713), Stuttgart: Reclam 2005, 397a.
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Die Spezifika des Zyklischen zeigen sich in der Natur und im Menschen an verschiedenen Stellen. Der »Tanz der Gestirne« (Joseph Gregor) zählt in diesem Kontext zu den elementarsten Phänomenen; die Verehrung der Gestirnsbewegung kann bereits in der altbabylonischen Kultur nachgewiesen werden und wurde schließlich von der griechisch-römischen Antike übernommen. In der Bewegung der Sterne und Planeten scheint sich das Charakteristikum einer ewigen und unveränderlichen Kreisbewegung – im aristotelischen Sinne initiiert durch den »ihr anfangs vom Schöpfer mitgeteilten Drehimpetus«44 – im Besonderen zu zeigen: »Erfüllt mit göttlichen Körpern, die wir gewöhnlich Gestirne nennen, ist er [Anm.: der Himmel] in ewiger Bewegung und tanzt in kreisendem Umschwung mit all diesen Körpern ewig und unaufhörlich den Reigen.«45 Auch wenn sich die Bewegung der Gestirne auf elliptischen Bahnen vollzieht, so zeigt sich doch ein Grundcharakter des Kreishaften, der im Makro- wie auch im Mikrokosmos beobachtet werden kann. Neben den großen Kreisläufen in Natur und Mensch scheint die Kreisbewegung auch in kleinsten Teilchen auf: So gilt es als wahrscheinlich, dass Elektronen auf Bahnen um den Kern kreisen; weiters ist der Drehimpuls (Spin) als eine entscheidende Eigenschaft von Elektronen, Protonen und Neutronen bekannt.46 Auf der Metaebene lassen kybernetische Prozesse die Effektivität der Kreisbewegung erkennen: Die Vielschichtigkeit komplexer Phänomene, v.a. das System Mensch in seiner Eingebundenheit in die Um- und Mitwelt, werden erst durch Regelkreise erklärbar.47 Ferner ist auch der Prozess des Denkens einerseits auf neurologischer Ebene kybernetisch geprägt48, andererseits erscheint in der Rede vom Denken häufig die Metapher des Kreishaften: Eine »Sache, um die es sich ›dreht‹, wird ›umkreist‹ [...]«.49 Der Bewegungsmodus Kreis durchzieht nicht zuletzt
44 Krafft, Fritz: »Artikel ›Bewegung‹«, in: Avella-Widhalm, Gloria et al. (Hg.), Lexikon des Mittelalters II, Valencia, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1999, S. 24-28, hier S. 26. 45 Aristoteles: Über die Welt, 391b. 46 Vgl. http://www.science.orf.at/science/news/147676 vom 23.08.07. Der Spin erklärt diverse physikalische Phänomene; die Ursache des Drehimpulses ist Gegenstand der Forschung. 47 Vgl. z.B. Norbert Wiener: »Cybernetics. Or control and communication in the animal and the machine« (1948) und Rudolf Hernegger: »Psychologische Anthropologie. Von der Vorprogrammierung zur Selbststeuerung« (1982). 48 Vgl. Linke, Detlef B.: Das Gehirn (= C.-H.-Beck-Wissen, Band 2121), München: Beck 2000, S. 81f. zum Grundrhythmus der Hirnströme, der seinen Ursprung in einem komplexen Zusammenwirken verschiedener Regelkreise hat. 49 B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 124. Vgl. ebd., S. 123 zur Kreisbewegung als »Eigenart des metaphysischen Denkens, das sich am Bleibenden ausrichtet«. Vgl. Platon: Timaios, 47b.
54 | B EWEGUNG IN DER M USIK das Künstlerische und manifestiert sich insbesondere in der Musik- und Tanzkultur – sowohl im Werk selbst als auch in Ausführung und Rezeption, wofür es zahlreiche Beispiele gibt.50
Die Erschließung neuer Räume in Folge der großen Entdeckungsfahrten am Beginn der Neuzeit und die Entwicklung der Uhr im Hochmittelalter stehen exemplarisch für den Übergang von der zyklischen, qualitativ erlebten zur linearen, quantitativ erlebten Zeit, vom »gelebten Raum« (Otto Friedrich Bollnow)51 zum messbaren, von einer tendenziell passiven Einstellung zur Natur hin zu einer intentionalen, aktiveren. Die Wahrnehmung von Uhrzeit und Perspektive vermittelte den Bewegungen des Menschen einen klaren Orientierungspunkt und richtete Verhaltensweisen ein.52 Bewegung wurde in Bezug auf Raum und Zeit, auf Vergangenheit und Zukunft deutlich erkenn-, plan- und kontrollierbar: »Die Idee des Fortschritts setzt den Menschen in ein operatives Verhältnis zu seiner Geschichte der Zukunft.«53 Auf die spekulative Bewegungslehre der Scholastik z.B. bei Albertus Magnus und Thomas von Aquin, die auf der Rezeption der Schriften von Aristoteles sowie spätantikarabischer Quellen beruht54, folgte eine neuzeitlich ausgerichtete Forschung, insbesondere eine Physik der Kinetik. Angeregt durch ein wachsendes Interesse am Bewegungsproblem der Naturwissenschaften wurden zunehmend wissenschaftliche
50 Im Bereich der Musik können die Minimal Music, Meditationsmusik oder Notation in Kreisform als Beispiele genannt werden; im Bereich des Tanzes zählen der kreisförmige Tanz der Entrückung der Derwische, der Reigentanz alter Kulturen, der Reiftanz in der österreichischen Volksmusik, der Walzer oder die Kreisform in Trance-Ritualen zu Beispielen. 51 Vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 1963, S. 18 zum »gelebten Raum«, in dessen Mittelpunkt der Mensch selbst stehe. 52 Vgl. P. Gendolla: Zeit, S. 45. Vgl. außerdem Saftien, Volker: Ars saltandi. Der europäische Gesellschaftstanz im Zeitalter der Renaissance und des Barock, Hildesheim/ Zürich/New York: G. Olms 1994, S. 50ff. zum veränderten Umgang mit dem Raum im Tanz ab dem 16. Jahrhundert. Vgl. weiters R. Levine: Eine Landkarte der Zeit, S. 101 zur bestehenden Orientierung an der Natur bis ins 19. Jahrhundert – trotz rasch zunehmender Qualität der Zeitmessgeräte. 53 Klein, Jürgen: »Nachwort«, in: Bacon, Francis: Neu-Atlantis, hrsg. von J. Klein (= Universal-Bibliothek, Band 6645), Stuttgart: Reclam 2003, S. 64-79, hier S. 75. 54 Vgl. F. Krafft: Artikel »Bewegung«, S. 24 zu Abweichungen, Weiterführungen und schließlich Loslösungen von der aristotelischen Lehre, die sich z.T. aus dem Bestreben einer Systematisierung der aristotelischen Lehre und ihrer Anpassung an christliche Glaubenssätze erklären lassen.
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Grundlagen erarbeitet.55 Die in Beobachtungen wurzelnden Konzepte von Bewegung wurden in Berechnungen umgesetzt: »Um ihre Gesetze zu erkunden, wird Bewegung still gestellt und als ein vom Betrachter losgelöstes Phänomen wahrgenommen«, schreibt die Soziologin, Kultur- und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein in ihrem historischen Überblick zu Bewegung56. Dafür mussten Techniken entwickelt werden, mittels derer Bewegungen und Veränderungen handhabbar sind: Mathematik, Physik und mechanistische Naturphilosophie fanden Wege, die Frage nach Bewegung als fundamentale Erscheinung der materiellen Welt in Formeln gefasst zu beantworten. In Folge arbeiteten Theoretiker wie Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei, Johannes Kepler, Thomas Hobbes, René Descartes, Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz an Konzepten, die bewegte Vorgänge mathematisch beschreibbar machten.57 Orientiert am Rationalismus und Empirismus war es Ziel der scientia nova, »die Ursachen des Naturgeschehens zu ergründen, die geheimen Bewegungen in den Dingen [...] zu erforschen und die Grenzen der menschlichen Macht [...] auszudehnen [...]«, wie Francis Bacon in seiner utopischen Erzählung »Nova Atlantis« (1627) festhält58. Die ehemals enge Verbindung von Mensch und Natur unterlag in Folge dieser Umbrüche seit dem 15. Jahrhundert einer wachsenden Spaltung, die sich im Übergang vom Denken der freien Natur zum Denken der »gefesselten Natur« (Friedrich Kaulbach) manifestierte: Einer ursprünglich kosmologischen Kinetik folgte nun eine Umwandlung des Kosmos in eine Natur, in der mechanisch erklärbare Vorgänge an die Stelle innerer Impulse der Bewegung traten.59
55 Vgl. z.B. das von William Heytesbury, John Dumbleton und Richard Swineshead Mitte des 14. Jahrhunderts entwickelte »Theorem der mittleren Geschwindigkeit«. 56 G. Klein: Bewegung und Moderne, S. 8f. 57 Vgl. Taschner, Rudolf: Der Zahlen gigantische Schatten. Mathematik im Zeichen der Zeit, Wiesbaden: Vieweg 2004, S. 90. Vgl. z.B. Abhandlungen wie Nikolaus Kopernikus: »De revolutionibus orbium coelestium« (1543), Johannes Kepler: »Harmonices mundi libri V« (1619), Galileo Galilei: »Discorsi e dimostrazioni matematiche« (1638) oder Isaac Newton: »Philosophiae naturalis principica mathematica« (1687). 58 Vgl. F. Bacon: Neu-Atlantis, S. 43. 59 Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 40: »Nimmt man Galileis freien Fall [...] so würde Aristoteles das Fallen des Steines etwa so beschreiben: ein schwerer Körper bewegt sich selber dem Erdmittelpunkt zu, weil er seinen natürlichen Ort in der Nähe des Erdmittelpunktes hat. In der Mechanik von Galilei wird Bewegung schlicht als eine Ortsveränderung angesetzt, die bestimmten Kräften und Gegenkräften gehorcht.«
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In der gleichen Intensität, in der sich der Mensch die Natur Untertan gemacht hat , erfuhr der Begriff Bewegung durch den sich nunmehr ›Bewusstseinswesen‹ (res cogitans) nennenden Menschen eine Betrachtung von außen und wurde mit neuen Inhalten und Assoziationen gespeist. Der Verstand wurde zum absoluten Mittel, Welt – und damit Bewegung – zu durchdringen. So führte der Weg in der Betrachtung der Phänomene von der »Wesensnatur« zur »Gesetzesnatur« (Friedrich Kaulbach). In Alexander Popes »Essay on Man« (1744) scheint dieser neue Fortschrittsgedanke durch: »Go, wond’rous creature! Mount where Science guides,/ Go, measure earth, weight air, and state the tides;/ Instruct the planets in what orbs to run,/ Correct old Time, and regulate the sun.«61 Die »Vermessung der Welt« (Daniel Kehlmann) als neue Geisteshaltung62 löste mit bahnbrechenden Erkenntnissen verschiedenste Impulse aus, die sowohl in konkreten Ergebnissen hinsichtlich der Steuerung und Präzisierung von Bewegung63 als auch anhand von Einflüssen auf philosophischer, politischer, ökonomischer und nicht zuletzt künstlerischer Ebene manifest wurden.64 Die mit der Entzauberung des 60
60 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 654 in seiner Reflexion »Fortschreiten und Fortschritt«. Vgl. Waldenfels, Bernhard: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 1397), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 89 zum Menschen als »Zweck der Natur«, der das Vorrecht genieße, über alle übrigen Naturwesen als Mittel und Werkzeuge zu verfügen. 61 Pope, Alexander: Essay on Man. Vom Menschen. Englisch-deutsch (= Philosophische Bibliothek, Band 454), Hamburg: Meiner 1993, Ep. II, I/19-22. 62 Vgl. Kant, Immanuel: »Kritik der Urteilskraft« (1790), in: Ders., Werke in sechs Bänden. Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Band V, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1966, S. 171-620, hier S. 346 zur Messung als »Beschreibung«, als »objektive Bewegung in der Einbildung«. Vgl. weiters die Bedeutung des Messens als Fundament in der bildenden Kunst der beginnenden Neuzeit, z.B. bei Albrecht Dürer: »Opera Alberta Dureri« (1604). 63 Vgl. Devlin, Keith: Muster der Mathematik. Ordnungsgesetze des Geistes und der Natur. Heidelberg/Berlin: Spektrum, Akademischer Verlag 2002, S. 3. Vgl. z.B. Erkenntnisse zu den Planetenbewegungen, Fallbewegungen von Körpern oder Mechanismen von Maschinen; weiters Forschungen im Bereich des Magnetismus oder der Elektrizität sowie der Tier- und Pflanzenwelt. Dass moderner Kapitalismus und Blutkreislauf etwa zeitgleich entdeckt worden sind, mag kein Zufall sein; vgl. dazu Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation (= Suhrkamp-Taschenbuch, Band 2669), Berlin: Suhrkamp 1997, S. 319. 64 Z.B. spielen in der Philosophie von Thomas Hobbes und Immanuel Kant kinematische/ mechanische Grundbegriffe, die auf die Human- und Geisteswissenschaft übertragen wurden, eine wichtige Rolle.
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Kosmos einhergehende Vorherrschaft des Intellekts wirkte sich zudem auf das Selbstbewusstsein aus, wurde dieses doch in erkenntnistheoretischer wie psychologischer Hinsicht erstarkend erlebt.65 Aus dem Mund des Predigers Johann Geiler von Kaysersberg stammt das Diktum »Die größern Bewegungen vertreiben die mindern«66, das hier stellvertretend für die Haltung des Fortschrittes steht. Trotz dieser Entwicklungen blieb der Respekt vor der Natur erhalten, insofern als diese nicht nur als Ressource, sondern weiterhin auch als Bedrohung erlebt wurde67 und ein Eingebundensein in ihre Abläufe fortbestehen blieb. So kam es zunehmend zu jenem konfliktreichen Verdikt von Profanem und Säkularem, von Diesseits und Jenseits, von Natur und Technik, das schließlich im Besonderen das barocke Zeitalter prägte. Exemplarisch offenbart sich dieser Zwiespalt in der Popularität der Maschine – »System endloser Bewegungen« (Günter Bock). Im Zuge der im 16. Jahrhundert entstandenen und im 17. Jahrhundert zur tragenden Bewegung ausgereiften Kategorie des Fortschrittes68 repräsentierte die Idee der Maschine das Leben: »La tranquillité absolue est le mort« (Blaise Pascal). Wie im Großen die Welt zur machina mundi, wurde im Kleinen der menschliche Leib zum »l’homme machiné« degradiert. In der gleichnamigen Schrift von Julien Offray de la Mettrie aus dem Jahr 1748 ist zu lesen: »Le corps humain est une machine qui monte elle-même ses ressorts; vivante image du mouvement perpetuel.«69 Der menschliche Körper und seine innerlich und äußerlich stattfindenden Bewegungen unterlagen nun auch einem intensiven wissenschaftlich-analytischen Interesse, worauf mit Untersuchungen und Kommentaren reagiert wurde; die Disziplinen Medizin, bildende Kunst, Tanz oder Pädagogik bildeten die Naturbeherrschung am menschlichen Leib weiter aus.70 Und dieses Bild von der Maschine im
65 D.B. Linke: Das Gehirn, S. 11. 66 Johann Geiler von Kaysersberg zit.n. Wander, Karl F.W. (Hg.): Deutsches Sprichwörterlexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Band 1. Nachdruck der Ausgabe von 1867, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, S. 367. 67 Vgl. Zur Lippe, Rudolf: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance (= Rowohlts Enzyklopädie, Band 446), Hamburg: Rowohlt 1988, S. 19. 68 Vgl. J. Klein: Nachwort, in: Bacon, Neu-Atlantis, S. 75 und H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 654. 69 La Mettrie, Julien Offray de: L’homme machine. Die Maschine Mensch. Französischdeutsch (= Philosophische Bibliothek, Band 407), hrsg. von C. Becker, Hamburg: Meiner 1990, S. 34f. (»Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Triebfedern aufzieht – ein lebendes Abbild der ewigen Bewegung.«). 70 Vgl. z.B. die Beschreibung des Lungenkreislaufes durch Miguel Serveto (1553) und die Entdeckung des Blutkreislaufes durch William Harvey Anfang des 17. Jahrhunderts (vorweggenommen durch Ibn an-Nafis Beschreibung des »kleinen« Blutkreislaufes im
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Kontext des Leiblichen hatte nachhaltige Konsequenzen auf das Verständnis von Körper, Sein und Ästhetik: Aus dem natürlichen Körper des Menschen der aufblühenden Neuzeit, der ihm auch als »vollkommener Ausdruck seiner Seele« (Claudia Jeschke) galt, wurde im Zeitalter des Barock eine »Erscheinung der physischen Welt«; seine Natürlichkeit wurde dem Blick so weit wie nur möglich entzogen.71 Für die Funktionen und Bedeutungsebenen der Bewegungshandlungen bedeutete dies eine Transformation in eine »Kategorie der Machbarkeit« (Gabriele Klein), im Sinne eines »gelehrigen Körpers« (Michel Foucault).72 So wurde auch am AlltagsKörper manifest, was sich in den Wissenschaften vollzogen hat – eine Suche nach formalistischen Zugängen, um Bewegung fassbar und analysierbar zu machen. Der Philosoph Michel Foucault legt in seinem Werk »Überwachen und Strafen« (1976) eindrücklich dar, welcher Art sich »Disziplinarprozeduren« am Körper manifestieren. »Im Laufe des klassischen Zeitalters spielt sich eine Entdeckung des Körpers als Gegenstand und Zielscheibe der Macht ab.«73 Der Körper geht, mit Foucault gesprochen, in diese »Machtmaschinerie« ein; Haltung und Betragen als Modi sichtbarer Bewegung wurden einer zunehmenden Kodifizierung unterzogen. Gesten, Mienen und Gebärden dechiffrierten die innere Verfassung; immer detailreichere Vorschriften formten die Bewegung des Menschen.74 Auch die Mode entsprach der
13. Jahrhundert); vgl. weiters Arbeiten von Michelangelo und Leonardo da Vinci am Ende des 15. Jahrhunderts sowie folgende Schriften, in denen eine analytische Untersuchung der Bewegung Thema ist: Erasmus von Rotterdam: »De civilitate morum puerilium« (1530), Fabian von Auerswald: »Ringerkunst« (1539), Gérard Thibault d'Anvers: »Académie de L’Espée« (1628), Thomas Bartholin: »Anatomia« (1677) oder Albrecht Dürer: »Vier Bücher von menschlicher Bewegung« (1528). 71 Vgl. Jeschke, Claudia: »Körperkonzepte des Barock - Inszenierungen des Körpers und durch den Körper«, in: Dahms, Sybille/Schroedter, Stephanie (Hg.), Tanz und Bewegung in der barocken Oper, Innsbruck/Wien: Studien-Verlag 1996, S. 85-105, hier S. 85. 72 Vgl. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 184), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 175ff.; vgl. weiters Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 1. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 158), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 65ff. zur Darstellung des Zivilisationsprozesses als Zivilisation des Körpers. 73 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 174. 74 Vgl. Revel, Jacques: »Vom Nutzen der Höflichkeit«, in: Ariès, Philippe/Chartier, Roger (Hg.), Geschichte des privaten Lebens. 3. Band: Von der Renaissance zur Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer 1991, S. 173-211, hier S. 173ff. sowie J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 174 und N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, S. 89ff.
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absoluten Regelung und Artifizierung des Körpers. Dass der spontane Drang nach motorischer Äußerung im wachsenden »Zwang zur Selbstkontrolle« (Norbert Elias) unterbunden und menschliches Verhalten in ein Innen und ein Außen aufgespalten wurden, demonstriert der Soziologe Norbert Elias in seiner Analyse von Manierenschriften.75 Mit diesen Entwicklungen ging die Herausbildung des akademischen Tanzes konform. Infolge der Etablierung des Tanzes an den Renaissancehöfen Burgunds und Italiens kam es im Zuge der Trennung zwischen Laien und professionellen Tänzern zur Herausbildung des maestro di danza.76 Dieser war – dem aufkeimenden analytischen Interesse an Bewegung entsprechend – über die Gestaltung hinausgehend auch für die Verschriftlichung von Bewegung zuständig. Die seit Mitte des 15. Jahrhunderts erscheinenden Tanzbücher77 vereinen Tanzmuster (als Definition tänzerischer Bewegung), Analysen von Bewegungsprinzipien (in Anlehnung an antike Quellen), Bewegungsregeln, Beschreibungen der populären Tänze, Informationen zur Musik und Hinweise zu Etikette und Accessoires.78 Im künstlerischen Kontext bot sich die Möglichkeit einer vollkommenen Externalisierung der Verhaltensregeln als eine konventionelle Rhetorik der Gesten. So ist der akademische Tanz im Speziellen Teil des Zivilisationsprozesses: Die Sinne wurden diszipliniert, der Körper artifiziert, die eigene Natur bezwungen. Durch die steigende »Repräsentation des Körper-Ichs« (Claudia Jeschke) im höfischen Tanz79 wurden Chancen einer Funktionalisierung von Bewegung als Ausdruck sozialen Ranges und damit als ideales Mittel der Zurschaustellung weltlicher Macht bewusst. Der »Sonnenkönig« Louis XIV. von Frankreich bildete diese schließlich par exellence aus. Die Errichtung des ballet de cours an der durch ihn initiierten academie royale de danse stellt den Höhepunkt einer gänzlich auf den Herrscher ausgerichteten Bewegungsgestaltung dar. In Symmetrie, Haltung, Raumwegen und Gruppierung der
75 Vgl. N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, S. LXIII. Elias analysiert eingehend Erasmus von Rotterdams »De civilitate morum puerilium« (1530). 76 Berufstanzlehrer sind grundsätzlich seit der Antike bekannt; die Jaculatores des Mittelalters können als Vorstufe in der Entwicklung eines selbständigen und angesehenen Standes der Tanzmeister gesehen werden, der sich Mitte des 15. Jahrhunderts entwickelte. 77 Z.B. Domenico da Piancenza: »De arte saltandi et choreos ducendi« (ca. 1435), Fabritio Caroso: »Il ballarino« (1581) sowie Ders.: »Nobilità di dame« (1600), Cesare Negri: »Le gratie d’amore« (1602) und Claude-François Ménestrier: »De ballet anciens et modernes« (1682). 78 Vgl. C. Jeschke: Körperkonzepte des Barock, S. 94ff. 79 Ebd., S. 86.
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Tänzer fand die künstlerisch ausgestaltete Huldigung des Machthabers ihren formvollendeten Ausdruck.80 Das mit Beginn der Neuzeit eklatant ansteigende und im Zeitalter des Barocks weiter zunehmende Interesse an der Bewegung des menschlichen Körpers manifestierte sich einerseits in Analyse und Zivilisierung derselben; andererseits kann diese Entwicklung auch in den Kontext einer Aufwertung von Bewegung hinsichtlich ihrer positiven Wirkungen als gesundheitspräventives Mittel sowie einer Ästhetisierung des Körpers gestellt werden. Diese durchaus nicht neuen Gedanken, die in einer Reminiszenz an die Antike81 die Bedeutung körperlicher Ertüchtigung für das physische, psychische und mentale Wohlbefinden hervorheben, wurden schließlich auch in der Zeit der Aufklärung bis ins 19. Jahrhundert weitergeführt, umgestaltet und reformuliert, wovon Dokumente des privaten Lebens wie theoretische Schriften gleichermaßen zeugen.82 Zu erwähnen sind z.B. der rousseausche Kommentar, es sei ein Bedürfnis des Neugeborenen, »seine Glieder auszustrecken und sie zu bewegen«83 oder Johann Wolfgang von Goethes Bemerkungen zu ärztlichen Ratschläge, die sich auf »Bewegung als beste Arznei«84 beziehen; und schließlich verdeut-
80 Vgl. ebd., S. 108. 81 Vgl. Decimus Iunius Iuvenalis: Satiren (= Universal-Bibliothek, Band 8598), Stuttgart: Reclam 2000, IX 10,356: »Orandum est ut sit mens sana in corpore sano.« Das bekannte Zitat wurde allerdings häufig falsch interpretiert. Iuvenalis parodierte die sportlichen Ideale seiner Zeit. Vgl. Plutarch: Die Kunst zu leben, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2000 (= Insel-Taschenbuch, Band 2603), I,28: »Man sollte seinen Körper behandeln wie das Segel eines Schiffes und es bei gutem Wetter weder einziehen noch zu stark raffen [...]. Vielmehr sollte man [...] den Körper leicht und beweglich machen [...].« Vgl. Aristototeles: Physik, II,195a: »Es kommt auch wechselseitige Verursachung bei einigen Dingen vor, z.B. körperliche Anstrengung als Ursache guter Verfassung.« 82 Vgl. Kommentare zur Bedeutung von Bewegung für die psychophysische Gesundheit in barocken Tanzbüchern wie z.B. bei Fabritio Caroso: »Nobilità di dame« (1600) oder Thoinot Arbeau: »Orchésographie« (1588). Vgl. weiters diverse Nachschlagewerke aus dem 19. Jahrhundert, die Bewegung als Heilmittel erwähnen. Auch in Paul Valérys Schrift »Die Seele und der Tanz« (1927) wird dieser Aspekt angesprochen. 83 Jean-Jacques Rousseau zit.n. Hoffmann, Freia: Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur (= Insel-Taschenbuch, Band 1274), Frankfurt am Main: Insel 1991, S. 44f. 84 Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1785 in einem Brief an Charlotte von Stein, zit.n. Dobel, Richard (Hg.): Lexikon der Goethe-Zitate (= dtv, Band 3361), München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1999, S. 69.
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lichen das zunehmende Angebot an konkret für Gesundheit und Vergnügen propagierten Geräte wie das Velociped einen Wandel in der Körperwahrnehmung.85
2.2 D YNAMISIERUNG VON B EWEGUNG
UND
F RAGMENTISIERUNG
Mit der wachsenden Positiv-Bewertung des Motorischen einhergehend erfolgte im ausgehenden 18. Jahrhundert auch eine Würdigung des Psychischen. Oblag es dem barocken Menschen, Herrscher über die Spontaneität seines ganzleiblichen Ausdruckes zu werden, gewann die Bewegung im Inneren des Menschen schließlich deutlich an Wert: Empfindung und Gefühl erlangten den Status eines Mittels zur Welt-Erfahrung; und die sinnliche Form der Erkenntnis – fundierend auf dem Prinzip Bewegung – wurde der Ratio zumindest gleichgestellt.86 Gefühl als Bewegung wurde bei Johann Wolfgang von Goethe exemplarisch zum zentralen Schaffensmoment und nach ihm für die nächsten hundert Jahre zum literarischen Merkmal schlechthin; in der Literatur des 18. Jahrhunderts stellte die Gefühlsbewegung und ihr physischer Ausdruck eine primäre Assoziation zum Bewegungsbegriff dar.87 Der sprachliche Ausdruck schöpfte dabei insbesondere aus dem Zusammenhang von Psyche und Physis sowie aus dem reichen Fundus von Metaphern aus der Welt sichtbarer Erscheinungen.88 Der Begriff Bewegung ist aber nicht nur im künstlerisch-literarischen Schaffen evident, sondern in der deutschen Sprache des 18. und
85 Vgl. Hochmuth, Andreas: Kommt Zeit. Kommt Rad. Eine Kulturgeschichte des Radfahrers, Wien: ÖBV 1991, S. 11. 86 Vgl. Jeßing, Benedikt/Lutz, Bernd/Wild, Inge (Hg.): Metzler Goethe-Lexikon, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2004, S. 100. Vgl. weiters Sanders, Daniel (Hg.): Handwörterbuch der deutschen Sprache, Leipzig: Wigand 1878, S. 117 zum Stichwort bewegen und den Bedeutungsebenen der inneren Bewegung: »Etwas im Geist, Herzen, Sinn, in der Seele bewegen, gleichsam hin- und herwälzend« (im Sinne von erwägen); »etwas in heftig wallende, aufbrausende Erregung versetzen« und «jemandes Gemüth, Herz, Brust, Seele« bewegen. 87 Vgl. Oschmann, Dirk: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist , München: W. Fink, S. 9f. 88 Vgl. z.B. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie erster Teil (= UniversalBibliothek, Band 1), Stuttgart: Reclam 1986, Vers 3375: »Seine Gegenwart bewegt mir das Blut.« Bzgl. der Natur als allegorische Zeichenwelt vgl. z.B. das Gedicht »Zwei Segel« (1882) von Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Gedichte (Universal-Bibliothek, Band 9885 [3]), Stuttgart: Reclam 1978, S. 119: »Wie eins in den Winden/ Sich wölbt und bewegt,/ Wird auch das Empfinden/ des andern erregt.«
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19. Jahrhunderts überhaupt vielfach präsent.89 Davon zeugen insbesondere die im Kontext einer seit dem 18. Jahrhundert bewusst thematisierten Begriffsgeschichte entstehenden Nachschlagewerke90: Lexika und Wörterbücher räumen dem Bewegungsbegriff in seiner Bedeutungsvielfalt breiten Raum ein und verweisen damit in Eins indirekt auf die Problematik einer allgemeinen Definition. Die Präsenz des Bewegungsbegriffes geht Hand in Hand mit dessen Dynamisierung. Bewegung als solche wurde aufgewertet, insofern die Maxime des Dynamischen das Statische, die Mobilität die Immobilität und die Gefühlsregung die Zähmung des Inneren ablöste. Bis dahin nicht erlebte Erscheinungsweisen von Bewegung traten auf und prägten insbesondere das neue Bürgertum. Diese Intensivierung und Gerichtetheit von Bewegung tangierte sowohl die Ebene des Handelns als auch jene des Geistes und jene der Emotionalität.91 Kontinuierliches Planen und Kalkulieren veränderten das Wesen der Berufsarbeit; technische Möglichkeiten revolutionieren die Fortbewegung; geistige Bildung wurde einer breiteren Masse der Bevölkerung zugänglich; Empfindung und Gefühl wurden zentral; Kunst und Ästhetik perspektivierten Bewegung als eigenständigen Wert.92 Indem sich das bürgerliche Subjekt diesen Bewegungen aussetzte, erhob es gegen die »vermeintlich starre Immobilität des ›vormodernen‹ Subjekts den Anspruch von Aktivismus und Mobilität«, konstatiert der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz93. Dieser Anspruch äußerte sich auch im Geistigen. In Alfred Polgars Novelle »Bewegung ist alles«, erschienen am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, wird dies zum Ausdruck gebracht: »Nichts begeisterte diesen Jüngling mehr als zerebrale Beweglichkeit. [...] Pauls Stammtisch war eine Art geistiger Turnverein. Da gab es ›Bewegung‹, und da
89 So wurde Bewegung häufig zur Erklärung verwandter Begriffe eingesetzt, z.B. bei J.H. Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universallexicon. Band 35 (1743), S. 1111, wo zum Stichwort Schrecken als Erklärung »geschwinde Bewegung der Sinnen und des Leibes« oder in Band 57 (1748), S. 596 zu Wind »empfindliche Bewegung der Lufft« angegeben wird. Auffallend häufig erscheint Bewegung auch im militärischen Kontext, vgl. z.B. die Begriffe Truppenbewegung, Mouvement und mobil (im Sinne von kriegsbereit). 90 Vgl. R. Koselleck: Begriffsgeschichten, S. 10. 91 Vgl. Reckwitz, Andreas: »Die Gleichförmigkeit und die Bewegtheit des Subjekts: Moderne Subjektivität im Konflikt von bürgerlicher und avantgardistischer Codierung«, in: Klein, Bewegung (2004), S. 155-184, hier S. 165. 92 Vgl. D. Oschmann: Bewegliche Dichtung, S. 8f. 93 A. Reckwitz: Die Gleichförmigkeit und die Bewegtheit des Subjekts, S. 165. Vgl. ebd. zur Thematisierung von Bewegung in aufklärerischen Wochenschriften und Ratgebern für Erziehung und Arbeit.
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waren bewegliche Menschen [...].«94 Beweglichkeit und Bewegtheit des Inneren stehen im direkten Austausch mit der »öffentlichen Bewegung«95, mit Aufruhr und Unruhe: Wurde der Fortschritt programmatisch zum Namensgeber von Parteien und Vereinen, Zeitschriften und Manifesten96, veränderten soziale Bewegungen den politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Die (neben der inneren) zunehmende äußere Mobilität basierte auf immer neuen Möglichkeiten, sich zu Lande, zu Wasser oder sogar auch in der Luft fortzubewegen.97 Infolge eines Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Modernisierungsschubes kam es zu einer Transformation des Bewegungskonzeptes98: Das Tempo der Bewegung wurde maßgeblich beschleunigt, ein »Zeitalter der Bewegung« (Paul Virilio) eingeläutet. Mit Hilfe der Dampfkraft und der »Bewegungsmaschine Eisenbahn« (Peter Borscheid) war dem Menschen ein weiteres Werkzeug zur Beherrschung der Naturgewalten gegeben – Synonym des Fortschrittes und der Unabhängigkeit: ein erstes ›auto-mobil‹, eine Maschine, die sich ohne körperlichen Kraftaufwand von der Stelle bewegt. Während dieser rasanten Entwicklung kam es zu einem merkwürdigen Paradoxon, zu einem Ineinandergreifen neuer Mobilität und rückwärtsgewandter Immobilität. Werte der Mäßigung, Gleichförmigkeit und Kontinuität standen einer steigenden Bewegungsintensität gegenüber. Eine die Bewegung beherrschende Kraft und eine immobile Haltung zur Welt konterkarieren – genährt von Skepsis und diffusen Ängsten gegenüber einem Zuviel an Bewegung – den Aufbruch von Bewegungen in Raum und Zeit, in menschlicher Physis und Psyche.99 So schreibt Adalbert Stifter in der Vorrede zu »Bunte Steine« (1853): »Ein
94 Polgar, Alfred: Bewegung ist alles. Novellen und Skizzen, Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1909, S. 27f. 95 Vgl. das gleichlautende Stichwort in J. und W. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Band 14 (1893), S. 1775. 96 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 654. 97 Vgl. die Entwicklung im Bereich der Fortbewegung gegen Ende des 18. Jahrhunderts/Anfang des 19. Jahrhunderts, z.B. das Fahrrad, das Unterseeboot oder das Luftexperiment der Brüder Montgolfier. 98 Vgl. G. Klein: Bewegung und Moderne, S. 11f. 99 Dieses Paradoxon kann exemplarisch am aristokratischen Subjekt beobachtet werden. Es ist Repräsentant immobiler Starrheit und gleichzeitig Ausdruck fluider unberechenbarer Beweglichkeit aufgrund rascher Meinungswechsel (vgl. A. Reckwitz: Die Gleichförmigkeit und die Bewegtheit des Subjekts, S. 166). Gesellschaftliche Macht drückte sich auch noch im Bürgertum durch Ruhe aus, wie bei F. Hoffmann, Instrument und Körper, S. 43 angemerkt wird. Die Beherrschung der inneren Bewegung wird z.B. beim »starken männlichen Ich« in Johann Wolfgang von Goethes »Willkommen und Abschied« deutlich, wie bei B. Jeßing/B. Lutz/I. Wild (Hg.): Metzler Goethe-Lexikon, S. 480 erwähnt wird. Die
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ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner Selbst [...] halte ich für groß: Mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einher rollenden Zorn [...] den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert [...] halte ich [...] für kleiner [...].«100 Diese Ängste erwiesen sich insofern als begründet, als die weiter zunehmende Dynamisierung der Bewegung am Fin de Siècle als Produkt von Industrialisierung und Rationalisierung, gleich einer Woge an Innovationen auf dem Sektor der Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft den Menschen unweigerlich veränderte. Die Moderne habe aus ihm ein neues Wesen gemacht, so der Philosoph Pierre Teilhard de Chardin in seinem Hauptwerk »Der Mensch im Komos« (1955): »Erde, erfüllt vom Rauch der Fabriken, erbebend von Betriebsamkeit, von hundert neuen Strahlungen zum Schwingen gebracht. Dieser große Organismus lebt schließlich nur für und durch eine Änderung der Seele. Hinter dem Wechsel des Zeitalters eine Änderung des Denkens.«101 Mit alten Traditionen wurde gebrochen, herkömmliche Bilder von Mensch und Welt unterlagen infolge einer Vielzahl an Entdeckungen – sei es Lichtgeschwindigkeit, Radiowelle, Elektromagnetismus, Relativitätstheorie, Psychoanalyse, Telegrafie, Telefon oder Kinematograf – einem radikalen Wandel. Mit Bewegung als Unsichtbarer – wirkend im Unbewussten, in der Datenübertragung oder in kleinsten Teilchen – eröffnete sich für den Menschen eine vollkommen neue Dimension. An die Stelle des Gleichförmigen, Bekannten trat das Prinzip der Relativität, Heterogenität und Dynamik; mit den Worten des Musikwissenschaftlers Marcel Dobberstein zusammengefasst: »[...] alles ontisch Gedachte gerät in Bewegung. [...]. Das Verhältnis von Sein und Werden bedarf der Neuinterpretation.«102
Skepsis vor der Körperbewegung – sei es aus politischen oder gesundheitlichen Gründen – zeigt sich z.B. am Preußischen Turnverbot (1820) oder an der Praxis, den Säugling zu bandagieren, um die Entwicklung eines ›wohlgestalteten‹ Körpers zu unterstützen; und ähnlich kritisch eingestellt war man gegenüber neuen Fortbewegungsmitteln. 100 Stifter Adalbert: Bunte Steine. Alle sechs Erzählungen, Salzburg: A&M 2005, S. 8 (Vorrede, 1852). Gustav Mahler beklagt in einem Brief an Max Marschalk vom 26.03.1896 zit.n. Schneider, Klaus (Hg.): Lexikon Programmusik: Stoffe und Motive, Kassel u.a.: Bärenreiter 1999, S. 71 das »unaufhörlich bewegte, nie ruhende, nie verständliche Getriebe des Lebens«. Und eine Protagonistin in PICNIC AT HANGING ROCK (AU 1975, R: Peter Weir) schwelgt im Jahr 1900 in Erinnerungen an alte Zeiten, in denen sich nichts verändert hat: »Arthur [...] and I always took our holidays in Bournemouth. It’s a delightful place [...]. Nothing changed ever of a forty years; The pier, the sands and the people [...] so dependable, completely and absolutely dependable.« 101 P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 219. 102 M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 45.
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Fundamentalen Einfluss auf das Erleben und Benennen von Bewegung hatte neben den wissenschaftlichen Neuerungen die Industrialisierung, die den Alltag menschlicher Existenz, die Arbeits- und Lebensbedingungen radikal berührte.103 Denn die motorischen Abläufe wurden einer Ökonomisierung unterzogen, die sowohl den Aspekt der Beschleunigung als auch jenen der Raumveränderung umfasste104; ausgebildet zu einem »anatomisch-chronologischen Verhaltensschema«105 , das Michel Foucault folgendermaßen beschreibt: »Von einem Befehl, der die Gesten misst [...], ist man zu einem Raster übergegangen, der sie im Lauf ihrer ganzen Verkettung zusammenzwingt [...]. Jeder Bewegung wird eine Richtung, ein Anschlag, eine Dauer zu geordnet [...]. Die Zeit durchdringt den Körper und mit der Zeit durchsetzen ihn all minutiösen Kontrollen der Macht.«106
Ausgehend von einem neuen Raum-Zeit-Modell körperlicher Bewegung im Arbeitsprozess, das auf biomechanischen Erkenntnissen und systematischen Untersuchungen von Bewegungsabläufen gründet und wesentlich eine Temposteigerung impliziert, wurde eine Fragmentation der Bewegungsgestalt in kleinste Teileinheiten forciert, die schließlich in die repetitive Teilarbeit mündete.107 Die time and motion study von Frederic W. Taylor, Frank B. und Lillian E. Gilbreth produzierte dafür mit Hilfe von Kamera und Stoppuhr ein neues Wissen über Bewegung, indem Arbeitsschritte isoliert und aufgezeichnet sowie in Folge optimiert und eingespart wurden.108 Orientiert an einer Leistungseffizienz von Bewegung als Wirtschaftsfak-
103 Vgl. Laban, Rudolf von: Der moderne Ausdruckstanz in der Erziehung. Eine Einführung in die kreative tänzerische Bewegung als Mittel zur Entfaltung der Persönlichkeit, Wilhelmshaven: Noetzel 2001, S. 17 zum Unterschied von Arbeitsprozessen des mechanisierten Zeitalters und jenen der vorrevolutionären Epochen europäischer Zivilisation. 104 Vgl. G. Klein: Bewegung und Moderne, S. 12 sowie P. Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 179. Vgl. R. Levine: Eine Landkarte der Zeit, S. 41 zu den Auswirkungen der industriellen Revolution auf die Temposteigerung der westlichen Welt. Vgl. außerdem das »Manifest des Futurismus« von Filippo Tommaso Marinetti aus dem Jahr 1909, in welchem er dem ›neuen Zeitalter der Bewegung‹ huldigt. 105 Foucault bezieht sich auf eine militärische Verordnung von 1766 (vgl. Überwachen und Strafen, S. 195). 106 Ebd. 107 Vgl. R. Zur Lippe: Vom Leib zum Körper, S. 14. 108 Vgl. Frank B. Gilbreth: »Bewegungsstudien. Vorschläge zur Steigerung der Leistungsfähigkeit des Arbeiters« (1921). Ungefähr zeitgleich entwickelte Rudolf von Laban seine »Kinetographie Laban« als Tanznotationssystem. Vgl. R.v. Laban: Der moderne Ausdruckstanz in der Erziehung, S. 17 zu Frederic W. Taylor: »Er ahnte den erzieheri-
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tor wurde der menschliche Körper als funktionalisierter und zu perfektionierender Bewegungsapparat dem Diktat der Maschine unterworfen: Tempo und Rhythmus wurden vorgegeben. Für eine effiziente Motorik im Sinne einer Biomechanik stellen seelische Regungen eine Behinderung dar. Eine Steigerung der Leistungsfähigkeit des Arbeiters bedarf einer Distanz zur Emotion, um ablenkende Bewegungen weitgehend zu reduzieren.109 Dieses neue Bewegungskonzept machte aus der ursprünglichen Funktion der Bewegung als ›Sprache‹, als Interface im Arbeitsraum, einen neutralen »Transmitter von Kräften« (Sabine Huschka).110 Mangelt es der Arbeit an der Maschine an »organischer Prozessualität« (Sabine Huschka)111 und stehen umgekehrt Fragmentation und Diskontinuität von Bewegung im Zentrum, wurde auf die zunehmende Industrialisierung mit einem Identifikationsverlust reagiert, der wesentlich auf dem Rückgang eines dem Gefühl erwachsenden Bewegungsspektrums als Qualität menschlicher Existenz beruhte.112 In Verbindung mit der Kritik an den noch vorherrschenden bürgerlichen Konventionen ist Ende des 19. Jahrhunderts der Beginn der Körperreformbewegungen zu markieren, die eine Zentralisierung des Leibes, das Interesse am Fremden, die Hinwendung zur Natur und den Künsten, und damit im Gesamten ein neues Lebensgefühl propagierten.113 In Folge entstand eine veränderte Beziehung zum Bewegungsbegriff, die am ehesten im häufig aufzufindenden Terminus Bewegungsempfinden erkannt werden kann.114 Der Erste Weltkrieg setzte dieser Entwicklung ein jähes Ende. Die Zwischenkriegszeit in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ermöglichte eine kurze Phase der Reorientierung, in der reformpädagogische Inhalte sowie der künstlerische Aufbruch zum zweiten Mal auflebten; doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg
schen Wert der Bewegung [...].« Vgl. ebd., S. 19 zur Spezialisierung des Industriearbeiters auf eine »relativ einfache Bewegungssequenz«. 109 Vgl. P. Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 279ff.; neben Fabriken kam es auch in Büros und im Haushalt zur Auseinandersetzung mit effizienter Bewegungsausführung. 110 Vgl. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 155. 111 Vgl. weiters Heuser, Inge: »Rhythmus als Ausdruck des Lebendigen«, in: Röthig, Peter (Hg.), Beiträge zur Theorie und Lehre vom Rhythmus. Theorie der Leibeserziehung. Texte - Quellen - Dokumente 2, Schorndorf bei Stuttgart: Hofmann 1966, S. 122-136, hier S. 125 zur Arbeitsbewegung an der Maschine, die in mathematisch berechenbaren Wiederholungen in vollkommener Gleichförmigkeit verläuft. 112 Vgl. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 12. 113 Vgl. Fitzthum, Elena: Von der Reformbewegung zur Musiktherapie. Die Brückenfunktion der Vally Weigl (= Wiener Beiträge zur Musiktherapie, Band 5), Wien: Präsens 2003, S. 22. 114 Dieser Terminus scheint z.B. bei Ernst Mach: »Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen« (1875) auf.
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konnte das »alte ›neue‹ Gedankengut« (Elena Fitzthum) in vollem Ausmaß aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Umgeben vom technischen Fortschritt um die Jahrhundertwende, dem man nicht vollständig entrinnen wollte und konnte auf der einen und einer unausweichlichen, gleichzeitig gefühlten Entfremdung auf der anderen Seite, kam es Anfang des 20. Jahrhunderts einmal mehr zu gegenläufigen Tendenzen. Die Tanzwissenschaftlerin Sabine Huschka konstatiert: »Interessanterweise folgen sie [Anm.: die neuen dynamisch bewegten Körper] dem Selbstverständnis eines kulturell und technologisch aufbrechenden Jahrhunderts in gleichem Maß, wie sie einer drohenden Entfremdung des Menschen in einer industrialisierten [...] Lebenswelt entgegenzuwirken versuchen.«115 Doch entgegen der noch im 19. Jahrhundert aufscheinenden Neigung, die Spannung zwischen zwei Polen des Empfindens aufzulösen, wurde im 20. Jahrhundert die Bewegung der Verbindung komplementärer Phänomene als paralleles Wirken unterschiedlicher Aspekte essenziell, um auf die Thesen des Historikers August Nitschke zu rekurrieren.116 Diese Bewegung auf der Metaebene kommt auch im Briefwechsel zwischen dem Kaufmann und Mäzen für avantgardistische Künstler Gustav Fueter und dem Harmoniker Hans Kayser (1932) zur Sprache: »Die Art der Bewegung ist ein Spannungsspiel zwischen zwei oder mehreren Gegensätzen, zwischen Extremen und Kräften, Komponenten oder wie wir es nennen wollen.«117 So zeigt sich der Bewegungsbegriff auch im Sinne eines Prinzips gesellschaftlichen und individuellen Umganges mit einer sich neu situierenden Lebenswelt. Möglicherweise aufgrund des Erlebens von gefühlten Gegensätzen sowie aufgrund einer Rückbesinnung auf die organische Wurzel wurden dem Begriff Bewegung und dessen Synonymen in dieser Zeit der Umbrüche auffallend häufig die Attribute elementar, harmonisch oder dynamisch beigefügt. Insbesondere bewegungsaffine Protagonisten aus den Bereichen performativer und bildender Künste bezogen diese in ihre Ausdrucksweise ein: Im Bereich des Tanzes spricht Rudolf von Laban von Bewegung als »elementarer Lebenskraft«, Maja Lex und Graziela Padilla nennen ihre Methode »Elementarer Tanz«, Isadora Duncan sucht die »harmonische Verbindung« von Bewegungen und Mary Wigman definiert Kraft als das »dynamisch Bewegte und Bewegende«. Für den Theaterreformer Konstantin S. Stanislawski ist die »unsichtbare Bewegungslinie der Energie« von Bedeutung; der Architekt Gottfried Sempers spricht vom »Dynamischen in der Bewegung«.
115 S. Huschka: Moderner Tanz, S. 87f. 116 Vgl. Nitschke, August: Körper in Bewegung. Gesten, Tänze und Räume im Wandel der Geschichte, Stuttgart: Kreuz 1989, S. 331. 117 Gustav Fueter in einem unveröffentlichten Brief an Hans Kayser vom November 1932.
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Wurde der Bewegungsbegriff bereits im 19. Jahrhundert geradezu zum Synonym für gesellschaftlichen und politischen Aufbruch, griff Adolf Hitler diesen im 20. Jahrhundert bewusst auf und machte ihn zu einem zentralen Terminus des NaziJargons. In der Rede vom Dynamischen wurde sowohl auf den Parteicharakter als auch auf den Charakter des »nordischen Menschen« verwiesen.118 Der Begriff und das Phänomen Bewegung – nicht zuletzt in den Propagandaveranstaltungen in verschiedenen Formen auch sichtbar – erhielten im Zuge der Einverleibung durch das nationalsozialistische Regime und auch durch andere faschistische Systeme einen fahlen Beigeschmack. Mit der ästhetischen Avantgarde des 19. und 20. Jahrhunderts, die vor dem Zweiten Weltkrieg Erfolge feierte und sich nach einer Unterbrechung infolge der Befreiung vom Nationalsozialismus wieder ausbreiten konnte, stand den eintönigen, vorgegebenen, unantastbaren Bewegungen totalitärer Systeme einerseits und dem bürgerlichen Subjektmodell andererseits die Idee »unberechenbarer Fluidität von körperlicher, geistiger und emotionaler Bewegung« (Andreas Reckwitz) gegenüber.119 Bewegung wurde gerade auch in den bildenden Künsten zu einem bewusst eingesetzten, wesentlichen Element und zur Maxime für die Gestaltung; dies spiegelt letztlich eine erhöhte Bewegtheit des Lebens und eine erhöhte Beweglichkeit in der Wahrnehmung des Lebens wider.120 Die Entstehung neuer Raum-Zeit-Verhältnisse bildete neue Erfahrungstendenzen aus; diese Wechselwirkung wurde in verschiedenen künstlerischen Strömungen evident, zeigt sich aber im Besonderen in der Entwicklung der kinetischen Kunst und der Performance Kunst in der Mitte des 20. Jahrhunderts – die traditionelle Statik des bildnerischen Kunstwerkes wich dem Prinzip Bewegung. Exkurs: Die Frage nach der natürlichen Bewegung Im Zuge des Umbruches vom 19. auf das 20. Jahrhundert, der Industrialisierung und der sich daraus entwickelnden gegenläufigen Strömungen einer neuen Körperkultur sowie im Kontext reformpädagogischen Gedankengutes gewann die Rede vom Natürlichen in der Bewegung enorme Popularität.121 Mag diese nun einen Kontrapunkt markieren, greift sie den alten Diskurs über das Verhältnis von Künstlichem und Natürlichem auf, der überdies nicht nur die
118 Vgl. Brackmann, Karl-Heinz/Birkenhauer, Renate: NS-Deutsch. »Selbstverständliche« Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus, Straelen/Niederrhein: Straelener Manuskripte 1988, S. 37 und vgl. ebd., S. 55. 119 Vgl. A. Reckwitz: Die Gleichförmigkeit und die Bewegtheit des Subjekts, S. 171. 120 Vgl. Danckert, Werner: Ursymbole melodischer Gestaltung, Kassel: Bärenreiter 1932, S. 176 zum Motorischen als »bevorzugtes Ausdrucksgebiet des modernen Menschen«. 121 Vgl. das rousseausche Diktum »Zurück zur Natur«.
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Bewegung von Körpern – organischer oder anorganischer Natur –, sondern auch Musik und bildende Künste einbezieht. Allgemeingültige Kennzeichen des Natürlichen haben jedoch nie existiert; mehr noch kann sowohl in der Auffassung von Natürlichkeit als auch in der Betrachtung ihres Stellenwertes im Verlauf der Geschichte ein Wandel konstatiert werden.122 Für die progressiven Kräfte am Ende des 19. Jahrhunderts implizierte das Natürliche ein Aufbrechen festgefahrener Muster und Normen, die das Bild vom menschlichen Körper und seiner Bewegung in alltäglicher wie in künstlerischer Hinsicht tangieren. So wurde das Natürliche zum vordergründigen Thema und wurde Natürlichkeit im atavistischen Sinne als ideale Lebensform propagiert.123 Natürlichkeit wurde im Besonderen in den Kontext des Lebendigen gestellt; d.h., das Bild von der Maschine steht der Natürlichkeit diametral gegenüber. Die Maschine repräsentiert durch die strenge, emotionslose, sukzessive Wiederholung des Immergleichen und den damit verbundenen Mangel an Spontaneität in typisierter Form das Inhumane.124 Der natürlichen Körperbewegung des Menschen gehört – im Gegensatz zur Maschine – eine »phantasmische Seite« (Günter Bock), eine gewisse Unbewusstheit an125; sie
122 Vgl. exemplarisch einige Assoziationen quer durch die Geschichte: Für die Denker der Antike bezog sich das Attribut natürlich auf eine innere Neigung des Körpers zur Bewegung; im aristotelischen Sinn hören künstliche Bewegungen auf, sobald die Bewegungsursache fehlt. In seinem »Libro dell'arte del danzare« (1455) widmet sich Antonio Cornazzano den neun »natürlichen Körperbewegungen«. In der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (18. Jahrhundert) spielen die Begriffe des Kunstschönen (aus dem Geist geboren) und Naturschönen (unvollständig/unvollkommen) eine wichtige Rolle. Kritisch gegenüber dem Natürlichen äußert sich der Schriftsteller Charles Baudelaire (19. Jahrhundert) im Kapitel über das »Lob der Schminke« im Aufsatz »Der Maler des modernen Lebens«, in: Ders., Der Künstler und das moderne Leben. Essays, »Salons«, Intime Tagebücher, hrsg. von H. Schumann (= Reclam-Bibliothek, Band 1501), Leipzig: Reclam, S. 290-320, hier S. 313: »Man überblicke und analysiere [.] alles, was natürlich ist, alle Handlungen und Begierden des rein natürlichen Menschen: nur Abscheuliches wird man finden.« Eine spezielle Bedeutung hat die natürliche Bewegung in der Physik – sie wird als gleichförmige Bewegung, die mit konstanter Geschwindigkeit vor sich geht, definiert. Vgl. außerdem H.H. Eggebrechts Notizen zum Gegensatz natürlich-künstlich in der Musik (vgl. Musik im Abendland, S. 317). 123 Vgl. Schlicher, Susanne: Tanztheater. Traditionen und Freiheiten. Pina Bausch, Gerhard Bohner, Reinhild Hoffmann, Hans Kresnik, Susanne Linke (= Rowohlts Enzyklopädie/ Kulturen und Ideen, Band 441), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987, S. 100. 124 Vgl. I. Heuser: Rhythmus als Ausdruck des Lebendigen, S. 125 zur »toten« Bewegung. 125 Der Neurologe Oliver Sacks beschreibt im Kapitel »Die körperlose Frau«, in: Ders., Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte (= rororo-Sachbuch, Band 18780), Hamburg: Rowohlt 2006, S. 69-83 eine Patientin, die an Ausfall der Eigenwahrnehmung leidet und deren bewusst kontrollierten Bewegungen künstlich wirken.
70 | B EWEGUNG IN DER M USIK geht über eine rein funktionale Mechanik der Glieder hinaus. Natürliche Bewegungen zeichnen sich zwar dadurch aus, dass sie einem Automatismus unterliegen, doch erscheinen sie menschlich aufgrund einer Kontinuität und einem Ineinandergreifen von Innen und Außen, durch eine Bindung an ein Bewegungszentrum, wodurch immer der ganze Körper einbezogen ist.126 Der echte Mensch offenbart sich erst infolge der natürlichen – da lebendig erscheinender – Bewegung. So beschreibt es der Schriftsteller Oskar Panizza in seiner Erzählung »Die Menschenfabrik« (1890): »Ich sah wohl, das war ein Mensch wie ich auch, durch natürliche Zeugung entstanden, das war keine Kunstrasse. [...] er nahm zuweilen die Pfeife aus dem Mund, rückte den Hut, sah in die Luft, schaute nach dem Wind.«127 Und der Philosoph Henri Bergson führt in seinem Essay »Das Lachen« (1914) aus, wie das Mechanische irritiert, tritt es am Menschen auf: »Ein Mechanismus als Überzug über Lebendigem [...]. Was war dabei so komisch? Daß der Körper zur Maschine erstarrte [...].«128 Besondere Bedeutung erhielt die natürliche Bewegung des Körpers als Material in den neuen tänzerischen Formen des 20. Jahrhunderts, die sich deutlich von den rational gesteuerten artifiziellen Bewegungen des klassischen Tanzes distanzierten.129 Stattdessen wurde ein »empfindungsdurchlässiges Bewegen« (Nicole Faust) idealisiert ins Zentrum künstlerischer Postulate gestellt: »Truly creative dancers discover natural movement«, wie die Tänzerin und Choreografin Isadora Duncan verlautete130 ; die natürliche Bewegung des Körpers wurde zum ersten Ausdrucksinstrument; natürliche Bewegung ermögliche die Verständlichkeit des Tanzes, weil durch sie eine direkte Sinnbeziehung zum Menschen gegeben sei, wie Mary Wigman in ihrem Aufsatz »Sprache des Tanzes« (1963) schreibt.131 Der Körper müsse also hinsichtlich seiner natürlichen Bewegungsmöglichkeiten befreit und anschließend gelehrt
126 Vgl. I. Heuser: Rhythmus als Ausdruck des Lebendigen, S. 124f.; die Turnpädagogin und Reformerin des österreichischen Schulturnens Margarete Streicher definiert in ihrer Schrift »Das Prinzip des Natürlichen«, in: Dies., Natürliches Turnen. 1. Teil (= Pädagogik der Gegenwart, Band 107), Wien/München: 1971, S. 96 Natürlichkeit als »Prinzip der untrennbaren Einheit ›Mensch‹«. 127 Panizza, Otto: »Die Menschenfabrik«, in: Ders., Die Menschenfabrik und andere Erzählungen, hrsg. von W. Rösler, Berlin: Der Morgen 1984, S. 42-70, hier S. 69. 128 Bergson, Henri: Das Lachen, Meisenheim/Glan: Hain 1948, S. 31. 129 Vgl. den Begriff »natural dancing« (Mary Porter Beegle und Margaret H’Doubler). Vgl. C. Jeschke: Tanz als Bewegungstext, S. 21 zu Rudolf von Laban, für den natürliches Tanzen »gefühlsmäßig« bedeutete. 130 Isadora Duncan zit.n. J.B. Alter: Dance and mixed media, S. 37. 131 Vgl. Wigman, Mary: »Sprache des Tanzes«, in: Wilke, Elke/Hölter, Gerd/Petzold, Hilarion (Hg.), Tanztherapie. Theorie und Praxis. Ein Handbuch (= Kunst, Therapie, Kreativität, Band 9), Paderborn: Junfermann 1991, S. 53-78, hier S. 53.
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werden, naturgemäße Bewegungen auszudrücken.132 Letztere sind Bewegungen, die (für gewöhnlich) jedem Menschen möglich sind – z.B. gehen, laufen, hüpfen oder springen.133 Die im Rahmen dieses Exkurses aufgeworfenen Fragen verweisen auf die natürlichkünstliche Lebenswelt des Menschen: Sein natürliches Wesen und seine natürlichen Bewegungen unterliegen kulturellen Determinationen134 und sind in eine technomorphe Welt eingeschrieben.135 Natürlichkeit steht damit im Spannungsfeld von Neutralität und Individualität, von Relationalität und Universalität, von Situationsgebundenheit und Unabhängigkeit und kann von Künstlichkeit nicht immer klar getrennt werden; so scheint es lohnenswert, vorerst die beiden Attribute am Menschen im aktiven Wechselspiel zu denken, anstatt Definitionen eines Entweder-oder zu bemühen.
Die ›Befreiung‹ der Bewegung hat sich im europäischen Kulturkreis spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig durchgesetzt. Prozesshaftigkeit, Relationalität und Mobilität konstituieren die Postmoderne. Beschleunigung, Linearisierung und Virtualisierung sind wesentliche Grundzüge einer Entwicklung des Phänomens Bewegung am Weg ins dritte Jahrtausend. Die ununterbrochene Erforschung spezieller Dimensionen von Bewegung durch wissenschaftliche Teildisziplinen geht mit einer Veränderung des Konzeptes von Bewegung ebenso einher wie mit neuen Bedürfnissen, Notwendigkeiten und Weltanschauungen.136 Eine globalisierte und digitalisierte Welt zeichnet sich maßgeblich durch Bewegung aus, wenngleich diese
132 Vgl. Chladek, Rosalia: »Über den Sinn der Gymnastik«, in: Radrizzani, René (Hg.), Rosalia Chladek. Schriften - Interviews (= Beiträge zur Tanzkultur, Band 3), Wilhelmshaven: Noetzel 2003, S. 17-23, hier S. 18. 133 Vgl. J.B. Alter: Dance and mixed Media, S. XIII. Vgl. Schoop, Trudi: »... komm und tanz mit mir!« Ein Versuch, dem psychotischen Menschen durch die Elemente des Tanzes zu helfen (= Pan, Band 161), Zürich: Musikhaus Pan 1981, S. 80 zum Gehen als allgemeinste und natürlichste Art der Fortbewegung. Bewegungsarten wie kriechen, wälzen, kugeln, wiegen, werfen, nehmen, geben, hopsen, springen, hüpfen, lachen oder weinen bezeichnet sie als »Urthemen« der Bewegung zur Welt-Erfahrung (vgl. ebd., S. 72). 134 Vgl. Ernst Cassirer zit.n. Faust, Nicole: Körperwissen in Bewegung. Vom klassischen Ballett zum Ausdruckstanz (= Kleine Mainzer Schriften zur Theaterwissenschaft, Band 8), Marburg: Tectum 2006, S. 4 sowie Klein, Gabriele: »Bewegung denken. Ein soziologischer Entwurf«, in: Dies., Bewegung (2004), S. 131-154, hier S. 150. 135 Vgl. Hösle, Vittorio: Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge (= Beck'sche Reihe, Band 432), München: Beck 1991, S. 73f.: »Zum Irrsinn versteigt sich der Wille, in einer technomorphen Welt zu leben [...], wenn er das Lebendige durch ein Totes ersetzt, das es nur jämmerlich abbildet.« 136 Vgl. G. Klein: Bewegung und Moderne, S. 9.
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vielfach in Unsichtbarkeit mündet. Diese Entwicklung wird z.B. am Arbeitssektor deutlich: Leibliche Bewegung in Interaktion mit dem Anderen wurde zunächst von der Arbeit mit der Maschine abgelöst und schließlich in die Virtualität geführt. Ähnliches lässt sich für die Mobilität des Alltags konstatieren: Computer, Mobiltelefon und Internet haben das Auto als Leittechnologie abgelöst.137 Das mit der Moderne einsetzende Generalthema der raumzeitlichen Optimierung und Linearisierung von Bewegung bleibt auch in darauf folgenden Zeiten gesellschaftlicher Wesenszug.138 Beschleunigung, die bis ins Zwanghafte reichen kann, macht deutlich: Der Mensch hat das Tempo bis ins Irrationale entfesselt, kommt jedoch selbst zum Stillstand.139 Das Erfordernis körperlicher Bewegung zur Bewältigung des Alltages ist erheblich reduziert oder ökonomisiert; Geräte und Fortbewegungsmittel – Fahr-Stuhl, Roll-Treppe, Fließ-Band, Fahr-Zeug, allesamt »bewegliche Orte« (Andreas Bernard) des modernen Zeitalters – substituieren motorischen Aufwand. Der Mensch wird bewegt und muss sich als solcher in einer neuen Wahrnehmungssituation – eine bewegte Welt perzipierend – zurechtfinden. Dagegen erfüllt die authentische, konkrete Körperbewegung nun vielmehr die Funktion des Ausgleiches, des Ausnahmezustandes und der Ästhetisierung.140 Sie wird neu definiert als Mittel zum eigenen Wohlbefinden oder als »Lifestyle-Element« (Gunter Gebauer)141 und als solches institutionalisiert mit dem Ziel einer temporären Wiederherstellung von leiblichen Erfahrungen, denen eine Desensibilisierung des Menschen aufgrund spezifischer Bewegungen vorangeht.142 Doch entgegen dem Trend in Richtung des ›ultima-
137 Vgl. Höller, Christian: »Abgefahren. Jugend und Mobilität«, in: VCÖ 1 (2010), S. 1 sowie P. Virilio: Der negative Horizont, 210ff. 138 Vgl. bereits Werner Sombart zit.n. P. Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 9 in der Zeit der Weimarer Republik zum Drang nach Beschleunigung: »Mit Vorliebe setzt man das Wort ›Schnell‹ vor alle möglichen Vorgänge und Vornamen: Schnellzug, Schnelldampfer, Schnellpresse, [...].« 139 Vgl. P. Virilio: Revolutionen der Geschwindigkeit, S. 12ff.; vgl. weiters K. Bonacker: Hyperkörper in der Anzeigenwerbung, S. 16 zur Tendenz vorwärts gerichteter Bewegung in der Werbung im Kontext allgemeiner Beschleunigung und vgl. P. Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 13 zur Verbesserung um Hundertstelsekunden im Sport. Vgl. H. Melderis: Der biologische Urknall, S. 206 zu Akzelerationen der Lebens- und Genusserwartung und Auswüchsen in Freizeit und Konsumverhalten. 140 Vgl. G. Gebauer: Ordnung und Erinnerung, S. 39. 141 Vgl. ebd. sowie G. Klein: Bewegung denken, S. 150. 142 Vgl. P. Virilio: Der negative Horizont, S. 24 zum Empfindungsverlust, den wir erleiden. Vgl. Schönhammer, Rainer: In Bewegung. Zur Psychologie der Fortbewegung (= Quintessenz der umweltpsychologischen Forschung, Band 1), München: Quint Essenz
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tiven Kicks‹ ist auch der vielfach postulierte Umschwung zur langfristig leiblichsensomotorisch orientierten Wiederentdeckung der Bewegung hinsichtlich pädagogischer, therapeutischer und ökologischer Maßnahmen bereits in vollem Gange. Bewegung hat sich ihre Janusköpfigkeit bewahrt: Als Grundprinzip einer realen Globalität im Alltag manifestieren sich gleichermaßen Vor- wie Nachteile in ihren mannigfaltigen angewandten Dimensionen. Das Potenzial unterschiedlichster Bewegungsphänomene – sei es in Natur und Umwelt, in menschlicher Psyche und Physis, im Bereich der Technik, in politischer und sozialer Hinsicht etc. – wird auf verschiedenen Ebenen, nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht, bewusst genutzt und eingesetzt. Auf der anderen Seite wächst die Kluft zwischen Beweglichkeit und Unbeweglichkeit: Hypermobilität steht konträr zu Tendenzen einer seelischen Immobilität.143 Und die Frage ist offen, inwieweit das sensible System Mensch einem stetig steigenden Informationsfluss, mit dem neue Formen der Bewegung gekoppelt sind, gewachsen ist. Fest steht, dass die zunehmende Bewegung in virtuellen Welten, in denen Zeit und Raum beliebig kombinierbar werden144, eine Kinästhese des Augenblickes in Frage stellt und damit eine »taktile Krise« (Richard Sennett) des modernen mobilen Individuums mitverantwortet. Bewegung heute bedeutet nicht nur einen ungeahnt weiten Begriffsinhalt, sondern auch das Umgehen mit den daraus erwachsenden Spannungen, die das Leben prägen. Von der Implikation des bewegten Kosmos in Bewegung am Beginn der Menschheit haben eine zunehmende Betrachtung der Bewegung von außen und ein kontinuierliches Wissenswachstum dazu geführt, dass der Begriffsinhalt unmessbar wurde und bestenfalls in selektiven Bereichen erfassbar ist. Gleichzeitig scheint in terminologischer Hinsicht eine Entvitalisierung hinsichtlich des Allgemeinbegriffes stattgefunden zu haben. Trotz einer Omnipräsenz des Begriffes heute stellt sich angesichts eines Vergleiches mit Nachschlagewerken aus dem 18. und 19. Jahrhundert die Frage, ob es im Allgemeinverständnis nicht zu einer inhaltlichen Reduktion und
1991, S. 251 zur Suche nach der Eigenwahrnehmung in spektakulären Bewegungsweisen. 143 Vgl. H. Melderis: Der biologische Urknall, S. 207. 144 Vgl. Bergermann, Ulrike, »Gebärden im Computer. Bewegung und Geschlecht in Kleists Marionettentheater und in Bildern von Virtueller Realität«, Vortrag beim Symposium »Künstliches Lebens://Mediengeschichten« von 1.-2.11.1997, http://www.thealit.de/lab/LIFE/LIFEfiles/r_08_8.htm vom 22.01.2007: »Das Neue an der Virtuellen Realität ist neben der Interaktivität vor allem das Element der Bewegung: Nachdem der Film die fotografischen Bilder zum Laufen brachte, ist es jetzt auch der Betrachter selbst, der in Bewegung gerät.«
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Einengung gekommen ist.145 In welcher Form sich der Begriffsinhalt von Bewegung weiter verändern wird – wohin er sich bewegt – bleibt offen.
145 Vgl. G. Stötzel: Wandel im öffentlichen Sprachgebrauch seit 1945, S. 131ff. zum gegenwärtig allgemein stattfindenden Bezeichnungswandel, der aufgrund veränderter Arbeitswelt, gesellschaftlicher Öffnung nach außen sowie des Umweltdiskurses geschieht.
3. Phänomenologische Aspekte
3.1 B EWEGUNG
UND
L EBEN
Bewegungsphänomene wecken seit jeher das Interesse des Menschen1, was nicht zuletzt daher rühren mag, dass Bewegung ein existenzielles Moment des Lebendigen2 und eine organische Grundfunktion darstellt. Die Annahme, ohne Bewegung würde die Natur tot und wirkungslos sein, ist zugleich ursprünglicher, menschlicher Erfahrungsschatz wie Status quo moderner Naturwissenschaft.3 Mit dem empirischphänomenologischen Moment geht eine lange Tradition einher, Bewegung im Sinne eines sowohl primär fundamentalen wie fortdauernden formenden Lebensprin-
1
Diese Interesse an Bewegungsphänomenen wird z.B. in Francis Bacons Erzählung »Nova Atlantis« zum Ausdruck gebracht: »Unsere Gründung hat den Zweck, [...] die geheimen Bewegungen in den Dingen [...] zu erforschen [...].« (F. Bacon: Neu-Atlantis, S. 43). Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 20 zum »menschlichen Sinn« für Bewegung.
2
In der Antike galt die Fähigkeit zur Selbstbewegung als Kennzeichen des Lebendigen; vgl. Platon: »Nomoi«, in: Ders., Sämtliche Werke (2006), 895c: »[.] Lebewesen sind solche, die sich selbst zur Tätigkeit bewegen [...].« Als Beispiele für dieses implizite Wissen seien Aussagen zweier Künstler genannt: vgl. Itten, Johannes: »Analysen alter Meister« (1921), in: Ders., Bildanalysen, hrsg. von R. Wick, Ravensburg: Maier 1988, S. 105: »Alles Lebendige offenbart sich [...] durch [...] Bewegung.« Und vgl. Raymond Duncan zit.n. J.B. Alter: Dance and mixed media, S. 30: »Thus every phenomenon is [...] the expression of a movement.«
3
Vgl. Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch oder Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Band 1, Leipzig: Schwickert 1787, S. 320: »Alle Veränderungen der Körperwelt geschehen durch Bewegung, ohne welche die ganze Natur todt und unwirksam seyn würde.« Und vgl. auch J.K. Fischer (Hg.): Physikalisches Wörterbuch, S. 61: »Nichts in der Natur ist älter als die Bewegung.«
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zips zu denken und sie dahingehend zu untersuchen: Anfänglich mythisch-spekulative Ansätze in der frühen Menschheitsgeschichte, die schließlich in eine philosophische Auseinandersetzung in der griechischen Antike münden und einen Fortgang vom Mittelalter in die Neuzeit aufweisen, reichen in die Gegenwart der Quantenphysik und Mikrobiologie. Perspektiven verschiedener Disziplinen bestätigen die Vorstellung, dass Leben sich regt: »Utique vivere motus quidam est«, wie Nicolaus Cusanus in der Zeit der Renaissance niederschrieb4. Leben ist, einer Diktion des Thomas von Aquin folgend, demgemäß das »Sein jener Natur, der es zukommt, sich zu bewegen«5. Heute wird davon ausgegangen, dass die Kreation des Universums auf einer ersten, enormen Expansionsbewegung beruht, die Impuls für Leben ist, das sich selbst als stetiges Werden und Vergehen manifestiert und damit die antike Bedeutung von Bewegung als Übergang vom Seienden zum Nichtseienden und vom Nichtseienden zum Seienden exemplarisch repräsentiert6: Es zeigt sich weniger als Sein, denn als »Unterwegssein« (Michel de Montaigne)7. Demgemäß es als Gestaltwandel erscheint, werden für das Leben häufig Metaphern aus dem Bereich der Bewegung herangezogen: »Das Leben ist eine Frau, welche tanzt«, wie der Poet
4
Nicolai de Cusa: Dialogus de ludo globi. Gespräch über das Globusspiel. LateinischDeutsch (= Philosophische Bibliothek, Band 467), Hamburg: Meiner 2000, I 22,16. Vgl. H. Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, S. 56f. zu Empedokles Lehre von der Spannung zwischen Liebe und Hass als Welt bewegende Kräfte. Und vgl. ebd., S. 13f. zu Anaximandros Lehre vom ápeiron, das aufgrund eines ewig bewegenden Zeugungsprinzips die elementaren Gegensätze hervorbringe. Die beiden Beispiele zeugen von einem frühen Denken des Bewegungsprinzips als Lebensursprung.
5
Thomas von Aquin: Summe der Theologie. 1. Band: Gott und Schöpfung, Stuttgart: Kröner 1985, 18. Unters./1. Art. Im biblischen Buch Kohelet 1,8 ist zu lesen: »Alle Dinge sind rastlos tätig.« Und ähnlich bei Montaigne, Michel de: Essais, München: Goldmann 2000, III,2: »Alles wankt und schwankt ohne Unterlaß [...].«
6
Z.B. bei Heraklit und Parmenides sowie bei Platon: Phaidon, 87d: »[...] der Leib [ist] immer in Fluß [...], solange der Mensch lebt [...].« Und auch bei Aristoteles: De anima. Über die Seele. Griechisch-Deutsch (= Philosophische Bibliothek, Band 476), Hamburg: Meiner 1995, III,432b wird die Bewegung, die sich im Wachsen und Schwinden vollzieht beschrieben.
7
M.d. Montaigne: Essais, III,2; vgl. eine Aussage aus jüngerer Zeit bei Dürr, Hans-Peter/ Österreicher, Marianne: Wir erleben mehr als wir begreifen. Quantenphysik und Lebensfragen, Freiburg/Basel/Wien: Herder 2001, S. 103: »Es ›gibt‹ eigentlich nur das Werden. Die Wirklichkeit ›ist‹ nicht, sie wirkt!«
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und Philosoph Paul Valéry in »Die Seele und der Tanz« (1927) anmerkt8. Es ist also evident, dass Sein Passivität ausschließt9, was impliziert, dass auch Stabilität und Statik scheinbar unbewegter Körper nicht mehr als bloße Ruhe, sondern im Sinne eines »Gleichgewichtszustands einander entgegenwirkender Kräfte« (Günter Bock) zu denken sind. Es muss also hinsichtlich des Lebendigen anstatt von kontradiktorischen Momenten wie Ruhe und Bewegung oder Geschehen und Zustand, vielmehr von einer Koinzidenz beider Komponenten ausgegangen werden. Hinter dem ›Schleier scheinbarer Ruhe‹ verbirgt sich eine äußerste Bewegtheit als Ruhe höherer Ordnung, die in Bewegung gründet und erst durch die bewegte Gestalt erfahrbar wird10, wie auch Lukrez in seinen Betrachtungen über die Natur festhält: »[...] omnia cum rerum primordia sint in motu,/ summa tamen summa videatur stare quiete [...].«11 Die Aktivität des Seins schließt Entwicklung ein. Entwicklung, verbunden mit Zweckmäßigkeit und Zielstrebigkeit, bedingt eine, auch gegen Widerstände stattfindende, produktive Vorwärtsbewegung im Sinne eines »Elan vital« (Henri Bergson).12 Die These einer teleologischen Dynamik, die am Aufbau des realen Seins beteiligt ist, zeigt sich als Charakteristikum der organischen Welt: Wachstum als zweckbestimmte Handlung verfolgt eine Zielidee.13 Der Mensch entstammt nicht nur phylogenetisch betrachtet einer »Totalanstrengung des Lebens« (Pierre Teilhard de Chardin); bereits am Ursprung der individuellen fötalen Genese ist eine nach vorne gerichtete Bewegung zu beobachten, wurzelnd in der Vereinigung von Ei-
8
Valéry, Paul: »Die Seele und der Tanz«, in: Ders., Eupalinos oder der Architekt, eingeleitet durch Die Seele und der Tanz (= Bibliothek Suhrkamp, Band 370), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 7-38, hier S. 10.
9
Vgl. Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1979, S. 90 und R.v. Laban: Die Kunst der Bewegung, S. 96.
10 Vgl. einige Aussagen zu dieser Koinzidenz: z.B. Aristoteles: Physik, IV,211a zum sich in Bewegung befindlichen Himmelsgewölbe, weiters J.S.T. Gehler (Hg.): Physikalisches Wörterbuch, S. 324 zur scheinbaren Ruhe der Atome als Produkt von Bewegungen und Gilles Deleuze zit.n. G. Klein: Bewegung denken, S. 151 zur Beunruhigung durch die stetige Bewegung dessen, was unbeweglich erscheine (bzgl. der Beweglichkeit des Sozialen). Vgl. außerdem P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 20. 11 Lucretius Carus, Titus: De rerum natura. Welt aus Atomen. Lateinisch-Deutsch (= Universal-Bibliothek, Band 4257), Stuttgart: Reclam 1977, II 309. (»[...] obgleich doch alle Atome sind in Bewegung,/ doch das Ganze sich in Ruhe scheint zu befinden [...].«). 12 Vgl. G. Lukács: Ästhetik II, S. 257 zu Entwicklung als qualitative Dimension einer zeitlichen Richtung im Menschen und in der Natur. 13 Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 147.
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und Samenzelle und weitergeführt in verschiedenen Bewegungsprozessen, die zur Entstehung der Zygote führen.14 Vitalität ist somit an die Bewegung und Dynamik der Zeugung gebunden, die mitunter auch verschiedenen Hindernissen ausgesetzt ist, was in Analogie zum individuellen Lebensverlauf steht.15 Dies deutet bereits exemplarisch darauf hin, dass in der Diversität der Erscheinungsformen von Bewegung, einhergehend mit einer Vielfalt an Lebensformen in Natur, Mensch und Kultur, anhand der Bewegungsart Analogien innerhalb und zwischen verschiedenen organischen und kulturellen Prozessen erkennbar werden.16 Die originäre Union von Leben und Bewegung zeigt sich weiters maßgeblich am Stellenwert des Sich-Bewegens.17 Das Reflexivpronomen sich kennzeichnet dabei das notwendige wie fundamentale Moment dieses Vorganges und ist »gleichsam Rätsel dieser Formel« (Bernhard Waldenfels).18 Es bezieht sich nämlich auf die Bewegung selbst, auf ihren Träger. Denn leibliches (Sich-)Bewegen ist keine bloße Widerfahrnis; vielmehr geht die Bewegung sich selbst voraus: Subjekt und Objekt fallen zusammen.19 Der sich bewegende Mensch ist Bewegung und ist an ihr beteiligt. Bewegungen werden nicht lediglich produziert, sondern, um noch einmal Waldenfels zu zitieren, »das Wunder der leiblichen Bewegung liegt gerade darin, daß eine Phantasie sich organisiert, eine Inkohärenz funktioniert, eine Unordnung Wirkungen entfaltet und daß aus einer ›Kakophonie‹ von Ursachen und Wirkungen eine Gesamtbewegung entsteht.«20 Der Mensch in seiner Leiblichkeit ist Ursache und tragender Grund der Bewegung und ihres Inhaltes, was den Leib in seiner Rolle als »Schwungrad unseres Lebens« (Maurice Merleau-Ponty) bestätigt. Taktile und pro-
14 Vgl. z.B. Bewegungen der Chromosomen (in der Zelle), der Eizelle oder der Spermien. 15 Vgl. H. Melderis: Der biologische Urknall, S. 99. 16 Zur Komplexität des Lebensbegriffes, zur Fülle von Erkenntnissen und außerfachwissenschaftlichen Konnotationen vgl. Teilhard de Chardin, Pierre: Die Entstehung des Menschen, München: Beck 2006, S. 23 sowie Toellner, Richard: »Artikel ›Leben/VI. Der biologische L.-Begriff‹«, in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 5 (1980), S. 97-103, hier S. 97. 17 So galt Selbstbewegung (auto-kínesis) in der Philosophie der griechischen Antike als Kennzeichen des Lebendigen. Zur Selbstbewegung vgl. außerdem Buytendijk, Frederik Jacobus Johannes: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung, Berlin u.a.: Springer 1956, S. 21ff. 18 Waldenfels, Bernhard: »Sichbewegen«, in: Brandstetter, Gabriele/Wulf, Christoph (Hg.), Tanz als Anthropologie, München: W. Fink 2007, S. 14-30, hier S. 16. 19 Vgl. ebd., S. 17f. 20 Waldenfels, Bernhard: Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 1973), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2010, S. 212f.
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priozeptive Wahrnehmung spielen in diesem Vorgang als Mittler eines SelbstBewusstseins einerseits sowie in der nach außen gerichteten Kommunikation andererseits eine zentrale Rolle – dies bereits im Mutterleib.21 In der Korrelation von Spüren und Bewegen vollzieht sich auf basaler Stufe die Wahrnehmung der eigenen Existenz, des leiblichen Umfeldes sowie der damit verbundenen Handlungsoptionen; mit den Worten des Körper-Psycho-Therapeuten Vladimir Iljine: »Bewege ich mich, so lebe ich und bewege die Welt [...].«22 Auch aus der Außenperspektive fungiert Bewegung als primäres Kriterium, um Lebendiges von Unlebendigem zu unterscheiden. Die »wahre Gestalt«, so E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung »Der Sandmann« (1817), differiert vom »verfließenden Schattengebilde«, eben weil sie sich regt.23 Ähnlich Rainer Maria Rilke in »Auguste Rodin« (1903): Das Gesicht des Lebendigen offenbare sich darin, voll von Bewegung zu sein.24 In dem Maße Bewegung Kennzeichen des Lebens ist, ist sie dem Menschen Bedürfnis, auf physio- wie psychologischer Ebene. Problematisch erscheint indes die »Unspürbarkeit« (Horst Rumpf) einer Welt, die durch Technik oder »Totalerhellung« (Horst Rumpf) vollkommen verfügbar gemacht wurde – obwohl das Bewegungspotenzial des Körpers nach Provokationen, die spontane, zeitaufwändige Reaktionen hervorrufen, verlangt. Der Mensch unterliegt heute harten Bewegungsnormen und ist einer Repression ursprünglicher Bedürfnisse ausgesetzt25: Denn, so
21 Vgl. Reinelt, Toni: »Spüren - Fühlen - Denken. Entwicklungspsychologische Anmerkungen zur Prophylaxe, Psychotherapie und Rehabilitation«, in: Hutterer-Krisch, Renate/ Pfersmann, Vera/Farag, Ingrid S. (Hg.), Psychotherapie, Lebensqualität und Prophylaxe. Beiträge zur Gesundheitsvorsorge in Gesellschaftspolitik, Arbeitswelt und beim Individuum, Wien/New York: Springer 1996, S. 301-314, hier S. 305f. 22 Vladimir Iljine zit.n. Petzold, Hilarion: »Unfamiliarity, Alenitation and the Ardent Desire for Bonds. Anthropological Reflections«, in: Grüner, Micaela et al. (Hg.), International Symposium. The Inherent - The Foreign - In Common. Documentation, Salzburg: Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mozarteum 1995, S. 20-31, hier S. 21. Zur Bedeutung der Bewegung für die Selbstwahrnehmung vgl. Fechner, Gustav Theodor: »Über den Tanz«, in: Dr. Mises [d.i. Fechner, Gustav Theodor], Stapelia Mixta, Leipzig: Voß 1824, S. 1-16, hier S. 10: »[...] nur der Tanz ist’s, der ihm Leben, der ihm Seele einzuflößen vermag [...].« 23 Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann (= Universal-Bibliothek, Band 230), Stuttgart: Reclam 1996, S. 20. 24 Vgl. Rilke, Rainer Maria: Auguste Rodin (= Insel-Taschenbuch, Band 766), Frankfurt am Main: Insel 1985, S. 25. 25 Rumpf, Horst: »Die andere Aufmerksamkeit - über Ästhetische Erziehung im Zeitalter der Weltbewältigung«, in: Haselbach, Barbara/Grüner, Micaela/Salmon, Shirley (Hg.), Im Dialog. Elementare Musik- und Tanzpädagogik im Interdisziplinären Kontext. Do-
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der Erziehungswissenschaftler Horst Rumpf, »unter der Firnis der in unserer Gesellschaft eingeschliffenen und für normal erklärten Bewegungsformen schläft eine Vielfalt von Bewegungsmöglichkeiten.«26 Exkurs: Die erste Bewegung Ein ursächlicher Zusammenhang von Leben und Bewegung wurde bereits in frühen Hochkulturen vermutet; mehr noch wurde schon früh angenommen, Bewegung stehe am Beginn jeglicher Existenz und v.a. der Welt als solcher.27 Doch liegt in der Ursache einer Bewegung stets das Moment eines infiniten Regresses: Ein Bewegtes braucht ein anderes Bewegtes, wovon es in Bewegung versetzt wird. So musste die Frage nach dem Ursprung einer ersten Bewegung folgen: »Welches [.] in dem ganzen Welt-Gebäude das primum mobile sey, darüber ist bisher unter den Gelehrten vielfältig gestritten worden.«28 Ortete Platon den Ursprung der Bewegung des Kosmos in der sich selbst bewegenden Weltseele29, stützten sich antike, im Anschluss vom Christentum übernommene und vielfach rezipierte Erklärungsansätze einer ersten Bewegung auf den demiurgós.30 Als erste Bewegungsursache muss ein erster Beweger durch sich selbst bewegt werden. Bewegung wird umgekehrt zum Gottesbeweis schlechthin.31 Der primum movens immotum ist die vollkommene Bewegungskraft in absoluter Ruhe, der, mit den Worten des griechischen Dichters Mesomedes, einem Uhrzeiger gleich »[...] mit eigenen Maßes festem Stand/ zieht, ohne zu wandern, den sichtbaren Weg/ den Reigen des Ewigen ordnend im Raum«32. Dieser dynamische Gott ist Schöpfer von allem, doch unterscheidet sich sein Wirken von den Mühen, die der Mensch auf sich nehmen muss, entsteht es im Gegensatz zum Menschen aus der Bewegungslosig-
kumentation Orff Schulwerk Symposium Salzburg 2006, Mainz u.a.: Schott 2007, S. 4566, hier S. 55 und vgl. Ders.: Mit allen Sinnen lernen, S. 124. 26 Ebd., S. 122. 27 Die Frage nach der Ursache des Universums ist auch jene nach dem Ursprung der Bewegung. Vgl. hierzu Aristoteles: Metaphysik I,983a. 28 J.H. Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universallexicon. Band 21 (1739), S. 677. 29 Vgl. Platon: Nomoi, 894c und 895b sowie Mesch, Walter: »Artikel ›autokinêtos (selbstbewegt)‹«, in: Horn/Rapp, Wörterbuch der antiken Philosophie (2002), S. 77-78, hier S. 78. 30 Das Theorem vom unbewegten Beweger erschien erstmals bei Xenophanes. 31 Vgl. Aristoteles: Physik, VIII,258b. 32 Mesomedes: »Die Sonnenuhr« zit.n. Ebener, Dietrich: Griechische Lyrik in einem Band (= Bibliothek der Antike), Berlin/Weimar: Aufbau 1980, S. 452. Vgl. Angelus Silesius: Aus dem cherubinischen Wandersmann und anderen geistlichen Dichtungen (= Universal-Bibliothek, Band 7623), ausgew. von E. Haring, Stuttgart: Reclam 1977, S. 25: »Gott ist die ew’ge Ruh [...].«
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keit.33 Marius Victorinus, spätantiker Gelehrter, fand dafür in seinem Hymnsu folgende Worte: »Operatur ergo cuncta Christus, qui omnis est virtus die./ Namque Christus, in quiete motus, est summus deus./ Atque ipse motus sapientia est et virtus dei,/ Nullo a substantia distans, quia quod motus, hoc substantia est,/ [...].«34 Das göttliche Wesen manifestiert sich in der unauflöslichen »Eingestaltigkeit« und dem inhärenten Willen, Welt zu bewegen.35 Bernhard Waldenfels beschreibt den »ersten Beweger« als Verkörperung »reiner Energeia« und »einer Aktualität, die durch keine Potentialität, durch kein Noch-nicht-Sein getrübt ist«36 . Darin sind, in der Diktion des Thomas von Aquin, »erste Wirkursache« (causa prima) und »notwendiges Sein« (necesse esse) vereint. Der primus motor ist also dynamisches Prinzip, das kraft seines Wirkens Leben verursacht und die Evolution vorwärts treibt und das gleichzeitig das Ziel des evolutionären Prozesses darstellt: Gott ist das Ende der Dinge; ist in Eins »status/ progressio/ regressus« (Marius Victorinus). In dieser Kohärenz von Anfangs- und Endpunkt ist die Ewigkeit seines Seins impliziert. Der Impuls zum Leben entsteht aus der Bewegung des Gottes. Um dieses Leben zu erhalten, bedarf es der Seele, der »ersten Urheit des Lebens« (Thomas von Aquin)37 , die als primärer motor in mobili das wirkend-wirksame Moment des Seienden darstellt.38 Platon, der bereits die »erste« Bewegung in der Seele gründend deutete, spricht von der »Weltseele«, die all das lebendig macht, was der Kosmos umfängt.39 Dieses belebende Prinzip in der Welt, ein »Weltgeist, der alles ernährt, eint, verbindet, hegt und bewegt« (Nicolaus Cusanus)40, steht in direkter Analogie zur menschlichen Seele.41 Sie führt den Menschen in den psycho-physisch, ko-
33 Vgl. Aristoteles: Über die Welt, VI,397b sowie Ders.: Metaphysik, XII,1072b. Aus der Unbewegtheit Gottes schließt Thomas von Aquin dessen Unkörperlichkeit (vgl. Summe der Theologie, 26). 34 Marii Victorini Afri: Opera theologica, hrsg. von A. Locher, Leipzig: Teubner 1976, hymn. I,1141A. Vgl. die Rolle des Unbewegten/der Bewegung im »Tao-de-jing« des Lao Tse. 35 Vgl. Platon: Phaidon, 80b sowie Aristoteles: Über die Welt, VI,398b. Vgl. Angelus Silesius: Der cherubinische Wandersmann, S. 18: »Es wäre kein Bewegen/ Wenn er den Trieb zu sich nicht/ wollt in alle legen.« 36 B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 209. 37 Thomas von Aquin: Summe der Theologie, 18,1; vgl. Platon: Nomoi, X,896b. 38 Vgl. Platon: Nomoi, VII,817 sowie Ders.: Phaidon, 105a-d. Vgl. Aristoteles: De anima, I,404b ebd., II,415b und Ders.: Metaphysik, IX,1046b zu Seele und Bewegung. 39 Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 39 und ebd., S. 109. 40 Nicolai de Cusa: Dialogus de ludo globi, I,40,1-9. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, V,1014a: »Von Natur spricht man auch als dem, woher in jedem Ding, das von Natur aus ist, die Bewegung ausgeht, die ihm selbst zukommt, [...].« 41 Vgl. Platon: »Phaidros«, in: Ders., Sämtliche Dialoge. Band 2, hrsg. von O. Apelt Hamburg: Meiner 1988, 245a-246e.
82 | B EWEGUNG IN DER M USIK gnitiv-kreativen Dimension seiner Leiblichkeit42 : »Sic forte et de anima dici posset: qua existente in corpore homo movetur.«43 Der Begriff Seele steht in direktem Bezug zum ›Lebensatem‹, wie auch die verwandtschaftlichen Beziehungen und vielfältigen Inhalte von Termini wie pneuma, ruach, psyche, atman und spiritus demonstrieren.44 Die Lebendiges auszeichnende auto-kínesis ist insbesondere in der Seele verwirklicht. Die Seele befindet sich – den Lehren der Denker aus der griechischen Antike zufolge – in ständiger Kreisbewegung, ergo ist ihre Bewegung vollkommen, was sie ihrer Substanz nach unvergänglich und damit unsterblich macht. Dennoch hat sie in ihrer Verbundenheit mit dem Leib auch Anteile am Irdisch-Vergänglichen, in ihrer Tätigkeit Anteile am Verlauf der Zeit.45
3.2 B EWEGUNG IN DEN A NFÄNGEN UND G RUNDBAUSTEINEN DES L EBENS Im Kontext des Lebens kann vom Makrokosmos bis in die Grundbausteine des Vitalen Bewegung als elementares Faktum beobachtet werden, das die Entstehung der Welt genauso maßgeblich geprägt hat, wie sie die stete Neuerschaffung der Natur46 und das individuelle Dasein seither bestimmt. Mit dem Anfangsszenario des Urknall-Modells (Hot Big Bang) kann ein Impuls für eine erste große Fluchtbewegung der Galaxien angenommen werden, die – ausgehend von einem extrem kleinen Universum mit einer unvorstellbaren Dichte – in eine kontinuierliche Expansion desselben mündete.47 In dieser, durchaus kontrovers diskutierten, Theorie einer Ur-
42 Vgl. Platon: Nomoi, X,896d. 43 Ebd., 22,10 (»[...] solange sie im Leib existiert, bewegt sich der Mensch.«). 44 Im »Abrogans-Vocabularius« aus dem 8. Jahrhundert, Sp. 99 (http://www.e-codices.unifr.ch/en/csg/0911/4 vom 08.04.2011) wird der dulce spiritus mit snuozzi atum übersetzt. Das ahd. saiwalô ist wahrscheinlich mit altgriech. aiólos (beweglich, schnell, gewandt) sinnverwandt. In der griechischen Antike galt pneuma als lebendige, zeugende Kraft (vgl. z.B. bei Aristoteles: Über die Welt, IV,394b). 45 Zur Bewegung der Seele vgl. z.B. Lucretius: De rerum natura, III,203 wie auch Platon: Nomoi, X,896d oder Aristoteles: Physik, VIII,252b und Marsilio Ficino: De Amore, VI,16. Vgl. außerdem W. Mesch: Artikel »autokinêtos (selbstbewegt)«, S. 77. 46 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke (Sophienausgabe), Weimar: Böhlau 1896, S. 316, in »Falkonet« (1775): »[...] weil die Natur sich ewig in sich bewegt, ewig neu erschafft [...].« 47 Der Hubble-Effekt zeigt, dass sich sämtliche Galaxien von uns entfernen; d.h., eine Expansion des gesamten Weltalls findet statt. Diese Beobachtung war Ausgangspunkt für die Frage nach dem Anfang dieser Expansion; die Auseinandersetzung mündete in die »Urknall-Theorie«.
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Bewegung, die als Gedanke bereits in der Mythologie und Naturphilosophie des antiken Griechenlands aufscheint, ist die Voraussetzung für die Herausbildung unseres Sonnen- und Planetensystems zu vermuten.48 In Folge der Planetenbewegungen und des Erreichens einer adäquaten Distanz zwischen Erde und Sonne konnte sich eine kosmische Nische als Grundlage der Entwicklung des Lebens und damit verbundener Redoxsysteme und Moleküle bilden: »Ein [...] Planet – war geboren, der in seiner [...] Bewegung die Zukunft des Menschen eingeschlossen hielt.« 49 In der Erd-Urzeit fanden fundamentale geologische und chemische Prozesse statt, welche die Grundstoffe für die Ausbildung von Leben bereiteten. Damit sich aus der Ur-Atmosphäre anfangs kleine, später größere Moleküle bilden und schließlich zu komplexeren Verbindungen zusammenlagern konnten, bedurfte es der Einwirkung verschiedener Energieformen.50 Als wesentliche Grundstoffe, die sich nun entwickelten, gelten Aminosäuren – niedermolekulare Bausteine, auf deren Basis komplexere Makromoleküle entstehen konnten.51 Dazu zählen Proteine, jenes Basismaterial der Zelle, das in der aktuellen Forschung als hochdynamisch und flexibel erkannt wurde. Bewegungsprozesse der Proteine sind maßgeblich an humanbiologischen Prozessen wie Atmung, Fortpflanzung oder Verdauung, beteiligt: Leben basiert gleichsam auf Proteinbewegungen.52 Um das entstandene Leben im Sinne eines biokosmischen Ordnungszustandes aufrechtzuerhalten, bedarf es charakteristischer Bewegungserscheinungen der Elementarteilchen53, wie auch ansatzweise bereits von antiken Theoretikern angenommen54: Materie lebt aus einer Dynamik heraus, aufgrund von Aktivität, Bewegung und Austausch mit der Umwelt55: »[...] le repos entier est la mort« (Blaise Pascal)56.
48 Vgl. z.B. die These des Anaxagoras, wonach eine ursprünglich qualitätslose Masse ungeschiedener Teile vom Geist in Bewegung gesetzt werde (vgl. H. Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, S. 88). 49 P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 57. 50 Vgl. Lesch, Harald/Zaun, Harald: Die kürzeste Geschichte allen Lebens: eine Reportage über 13,7 Milliarden Jahre Werden und Vergehen, München: Piper 2008, S. 13. Die damit in Verbindung stehende Energie, die für chemische Reaktionen und damit für Leben verantwortlich ist, stammt aus kosmischen und irdischen Quellen (z.B. Meteoreinschläge, UV-Strahlung, Vulkanausbrüche, Gewitter oder Starkregen). 51 Vgl. ebd., S. 14ff. 52 Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 147. Proteine sind Grundsubstanz des Chromosoms; im Organismus wirken sie v.a. als Enzyme, Hormone, Stütz-/ Gerüsteiweiße, als Struktur-/Plasma-/Transportproteine und als Antikörper. 53 Z.B. Protonen, Neutronen, Elektronen, Photonen, Positronen, Myonen und Pionen. 54 Vgl. z.B. die Atomistik bei Leukipp und Demokrit. 55 Vgl. E. Schrödinger: Was ist Leben, S. 123.
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Leben geht einher mit dem physikalischen Begriff der Wärme als Energie, die aus der ungeordneten (thermischen) Bewegung der Teilchen (Brownsche Bewegung) resultiert. Es existiert eine Vielzahl an Wärmequellen; jedoch stellt die Sonne für die Herausbildung und Aufrechterhaltung des Lebens die wichtigste dar. Der Ursprung dieser, von der Sonnenoberfläche aus abstrahlenden, Energie liegt in der Proton-Proton-Reaktion, jenem Fusionsprozess, in Folge dessen Wasserstoffkerne in Heliumkerne umgewandelt werden.57 Wärme und Licht sind dynamische Grundprinzipien und halten irdische Entwicklungsprozesse in Bewegung; aufgrund dieser Bedeutsamkeit sind sie zentrale Metaphern für Leben.58 Mit der Etablierung der Quantentheorie in der Physik des 20. Jahrhunderts erfuhr die Auseinandersetzung mit mikrokosmischer Bewegung einen Paradigmenwechsel. Die von Max Planck im Jahre 1900 formulierte »Quantenhypothese«, die sich mit der prinzipiellen Möglichkeit einer Vielzahl an Bewegungsformen im Inneren eines räumlich ausgedehnten Atoms auseinandersetzte, wurde zum Ausgangspunkt eines neuen Denkens, das schließlich von Physikern wie Niels Bohr, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg und Albert Einstein fortgesetzt wurde. Das daraus entstandene Theorem des »Welle-Teilchen-Dualismus« markiert eine Doppeldeutigkeit des mikrophysikalischen Objektes: Je nach Versuchsanordnung kann es als
56 Pascal, Blaise: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (= Pensées), hrsg. von E. Wasmuth, Heidelberg: Schneider 1972, II,129. 57 Vgl. altgriech. prton (vorher, zuerst). Vgl. den Terminus prôton kinoun (das erste Bewegende, die erste bewegte Ursache) in der griechischen Philosophie. 58 Vgl. P. Weinberg, Kohärentes Bewegen, S. 195. Vgl. Aristoteles: Metaphysik I,986b zu Parmenides, der die Wärme dem Seienden zurechnete. Zur Bedeutung des Lichtes für das Leben vgl. Textstellen in der Bibel (z.B. Gen 1,3 oder Joh 1,4) und Traktakte wie z.B. Philo von Alexandrien: »Über die Weltschöpfung«, Robert Grosseteste: »De luce« (14. Jahrhundert), Tommaso Campanella: »Civitas solis« (1602) und Robert Fludd: »Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris Metaphysica, physica atque technica Historia« (1617). Vgl. zwei literarische Beispiele zu Wärme als Metapher für das Leben: Shakespeare, William: Romeo and Juliet. Englisch/Deutsch (= Universal-Bibliothek, Band 9942), Stuttgart: Reclam 1983, IV, Scene III: »I have a faint cold fear thrills through my veins/ That almost freezes up the heat of life.« Vgl. Zweig, Stefan: Angst (= UniversalBibliothek, Band 6540), Stuttgart: Reclam 1982, S. 6: »Sie tastete ihre Hände an, die erstarrt und kalt wie abgestorbene Dinge an ihrem Körper niederhingen [...].« Und bzgl. der Umsetzung des Lichtes in der Musik vgl. exemplarisch Joseph Haydn: »Die Schöpfung« (Hob. XXI:2) – die Erschaffung des Lichtes wird mit dem C-Dur-Akkord umgesetzt.
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räumlich streng lokalisierbar (Teilchen) oder diffus (Welle) aufgefasst werden.59 Die neuere Quantentheorie geht noch darüber hinaus, insofern als der Materiebegriff obsolet wird und nunmehr die Beziehung zu einer Maxime des physikalischen Denkens erhoben wird.60
3.3 A USGEWÄHLTE F ORMEN UND F UNKTIONEN IM F ELD DER L EBENSBEWEGUNGEN Eine Kategorisierung der mit Bewegung assoziierten Phänomene, v.a. im Bereich des Lebendigen, erweist sich als schwieriges Unternehmen. Deskriptive und funktionale Spezifizierungen greifen hinsichtlich ihres Bezuges zu Bewegung in den im Folgenden untersuchten Termini ineinander. Dies verweist auf die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Je nachdem, ob das Objekt der Betrachtung das Bewegungsgeschehen selbst oder der sich in Bewegung befindliche Körper ist, können Begriffe wie Transport, Rhythmus oder Spirale anders verstanden und erläutert werden: Ihnen kann Bewegung per se inhärent sein (d.h., dem Transport-Begriff wohnt eine Bewegung inne, die eine bestimmte Distanz überbrückt). Oder sie können a priori als Bewegung aufgefasst werden (d.h., die Spirale ist eine Muster erzeugende Bewegung). Sie können als die Bewegung näher beschreibende Adjektive eingesetzt werden (d.h., eine Bewegung ist rhythmisch). Und schließlich besteht auch die Möglichkeit, durch Bewegung als Genetiv-Attribut näher definiert zu werden (d.h., eine spezielle Reihung ist die Reihung von Bewegungen).61 Trotz dieser Komplikation, die in der eindeutigen Bezugsetzung besteht, werden in diesem Kapitel einige phylo- und ontogenetisch relevante, kontinuierlich aufzufindende, elementare Formen, Synonyme und Funktionen von Bewegung herausgegriffen und in ihrer fundamentalen Bedeutung für das Lebendige skizziert.62 Die Bezüge
59 Vgl. Weizsäcker, Carl Friedrich von/Koslowski, Peter: Carl Friedrich von Weizsäcker im Gespräch mit Peter Koslowski (= Ullstein-Buch: Zeugen des Jahrhunderts, Band 33254), hrsg. von W. Homering, Berlin: Ullstein 1999, S. 23 zur »Unschärferelation«. 60 Vgl. ebd., S. 26f. zur Bedeutung der Quantentheorie bzgl. des »geheimnisvollen« Verhältnisses zwischen dem, was Materie und dem, was Bewusstsein genannt wird. Vgl. die neue Quantenphysik z.B. bei Hans-Peter Dürr sowie Thomas Görnitz: »Quanten sind anders« (2008). 61 Vgl. F. Kaulbach: Artikel »Bewegung/I. Antike«, S. 869 zur ähnlich gelagerten philosophischen Frage, ob Bewegung eine fließende Form habe (forma fluens) oder Fließen der Form sei (fluxus formae). 62 Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 99ff.; vgl. Ders.: Die Entstehung des Menschen, S. 31 zu Grundbewegungen in Mensch und Welt.
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der untersuchten Phänomene zueinander entstehen durch die jeweilige Interdependenz von Bewegung und Leben. Mit dem methodischen Gedanken von Bewegung als Feld – um den systematischen Zugang im zweiten Teil dieser Arbeit bereits vorwegzunehmen – eröffnet sich ein extensiver Bereich für die Untersuchung, der weiträumige Assoziationen und Überlagerungen zulässt. Rhythmus Der Verlauf des Lebens kann im Sinne einer durch Werden und Vergehen geschaffenen Klammer als eine große Bewegung oder in der Betrachtung verschiedener, einzelner Ebenen als eine Summe vieler kleiner Bewegungen begriffen werden. Gleich welcher Perspektive zeigt sich stets eine maßgeblich rhythmische Determination.63 Ohne präziser auf den im interdisziplinären Diskurs so umfangreich wie divergierend diskutierten Rhythmus-Begriff64 einzugehen, kann dieser zunächst als gegliederter (aber nicht absolut gleichmäßiger) Bewegungsablauf aufgefasst werden und bezeichnet damit schwerpunktmäßig das Ergebnis einer Gliederung; ein anderes Verständnis hingegen betont eine Sicht von Rhythmus als die der Bewegung zugrunde liegende, kennzeichnende, dynamische Struktur, ergo das Rhythmische und Rhythmisierende.65 Substantivischer und adjektivischer Gebrauch scheinen ineinanderzugreifen. Meint Rhythmus eine sowohl variabel-azyklische als auch wiederkehrend-zyklische, spezifische Ordnung, resultiert diese aus dem Wechselspiel von Gliederung und Bewegung: Gliederung lässt bestimmte Bewegungsabfolgen, Bewegung lässt charakteristische Anordnungen entstehen. In dieser Doppeldeutigkeit wird Rhythmus generiert und in ihr ist eine wesentliche Komponente für die Entstehung menschlicher Gestalt und die Erhaltung der organischen Integrität grundgelegt.66
63 Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 262: »Jeder Größenordnung ihren Rhythmus.« Vgl. Dewey, John: Art as experience, New York: Minton/Balch 1934, S. 150 zu Rhythmus als »universal scheme of existence«. 64 Vgl. Spitznagel, Albert: »Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung«, in: Müller, Katharina/Aschersleben, Gisa: Rhythmus. Ein interdisziplinäres Handbuch, Bern: Huber 2000, S. 1-40, hier S. 13ff. und Aschoff, Jürgen: »Der Rhythmus im Leben des Menschen«, in: Wendt, Herbert/Loacker, Norbert (Hg.), Kindlers Enzyklopädie. Der Körper des Menschen. Band III (= Der Mensch), Zürich: Kindler 1983, S. 639-658, hier S. 639ff. zum etymologischen/definitorischen Problem bzgl. des Rhythmusbegriffes. 65 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 64 zur den Rhythmus kennzeichnenden Frage nach der »Art der Bewegtheit«. 66 Verwiesen sei hier auf die Bedeutung des Rhythmus in biophysikalischen und -chemischen Prozessen mit unterschiedlichen Frequenzen (vgl. J. Aschoff: Der Rhythmus im Leben des Menschen, S. 639ff.). Die inneren Zeitgeber rhythmischer Prozesse werden in
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Da Rhythmus in seinem ordnenden Wesen in direkter Beziehung zum »menschlichen Maß« (Leopold Kohr) steht, ist er fundamentales und mehrdimensionalanthropomorphes Moment. Der Mensch ist Teil eines umfassenden, flexiblen raumzeitlichen Ordnungsgefüges. Abfolgen in zu ihm gehörenden endo- wie exogenen, chrono- wie topologischen Strukturen sind rhythmisch geprägt: Oberflächen der Organe, Proportionen der Gliedmaßen oder Atmosphäre und Landschaft der Umwelt markieren die rhythmische Disposition des Menschen in räumlicher Hinsicht. Im Kunsthandwerk, v.a. im Bereich der Ornamentik und im Werk verschiedener bildender Künstler wie bei Paul Klee findet der räumliche Rhythmus seinen gestalterischen Ausdruck.67 Die besondere Aufgabe des regelmäßigen Bewegungsmusters in zeitlichen Abfolgen liegt in der Aufrechterhaltung der Ordnung im Inneren des Organismus und damit einhergehend in der Orientierung.68 Die temporale Matrix menschlicher Physis erstreckt sich von der ›inneren Uhr‹ der einzelnen Körperzelle bis zum Wechsel der Jahreszeiten und wird – je nach Größenausdehnung der Bewegung – als schneller, äußerst variabler Rhythmus evident wie etwa bei Puls, Atmung und Nervensystem oder als langsamer, wenig veränderlicher, wie es beim weiblichen Menstruationszyklus oder beim Wechsel von Schlaf- und Wachphase der Fall ist.69 Die elastischen, z.T. divergierenden Prozesse im zirkadianen System und in der Interaktion mit der Umwelt korrelieren und synchronisieren in einem offenen Feld. Rhythmische Muster kennzeichnen nicht nur den individuellen Organismus, sondern gleichermaßen Lebensprozesse biologischer, ökonomischer, religiöser oder sozialer Art. Mit diesen exo- und endogenen Rhythmen ist der Mensch sowohl als passiver, empfangender konfrontiert als auch als aktiver, gestalterischer
der Großhirnrinde und im limbischen System vermutet (vgl. P. Gendolla: Zeit, S. 49). Visuelle, kinästhetische und akustische Rhythmus-Wahrnehmung ist vermutlich in der rhythmischen Organisation des Leibes grundgelegt. 67 Vgl. Frohmann, Erwin/Grote, Vincent/Avian, Alexander/Moser, Maximilian: »Im Rhythmus der Landschaft. Psychophysiologische Messungen bei den Krimmler Wasserfällen«, in: Zoll+. Österreichische Schriftenreihe für Landschaft und Freiraum 11 (2007), S. 4855, hier S. 48: »Landschaften erzeugen Rhythmen und Lebensfelder.« Vgl. Hans Kayser in einem unveröffentlichten Brief an Gustav Fueter vom 05.11.1932 zu den »Rhythmen der Berge«. 68 Vgl. J. Aschoff: Der Rhythmus im Leben des Menschen, S. 369 und N.J. Schneider: Die Kunst des Teilens, S. 43 zur Vergegenwärtigung des Pulses als Selbst-Orientierung sowie Rittelmeyer, Christian: Pädagogische Anthropologie des Leibes. Biologische Voraussetzungen der Erziehung und Bildung, München: Juventa 2002, S. 110f. zur Abhängigkeit des subjektiven Zeitempfindens von physiologischen Rhythmen. 69 Vgl. J. Aschoff: Der Rhythmus im Leben des Menschen, S. 640ff. zu Rhythmen im Nervensystem, in der Atmung sowie in der Bewegung der Darmmuskulatur.
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verbunden.70 Aus den vielfältigen Interaktionen der Rhythmen in Natur, Physis, Psyche und Gesellschaft geht ein Konnex hervor; diesen können in seiner Gesamtheit bereits Unregelmäßigkeiten einzelner rhythmischer Abläufe beeinflussen. Dass auch Momente von außerhalb Dysfunktionen einer geordneten Abfolge verursachen können sowie dass Rhythmusstörungen negative Auswirkungen auf externe Momente haben können, zeigt, wie sensibel das Gefüge konstituiert ist und es zu reagieren vermag.71 Spirale Es geschieht, dass Bewegungen, die im Bereich des Lebendigen erscheinen, typische Muster erzeugen; die Spiral-Form erweist sich in dieser Hinsicht als fundamental und symbolträchtig. Ihr Bewegungsmuster verweist auf Unendlichkeit, doch differiert sie vom Kreis, insofern als sie in ihrer Dynamik teleologisch ausgerichtet ist – sie ist gleichsam in ständigem Wachsen begriffen. Im Unterschied zur Geraden meint sie aber eine krumme Linie, die unendlich viele Umläufe um einen festen Punkt macht.72 Der Um-Weg im direkten Wortsinn und damit das ›verschwenderische‹ Moment in der Bewegung zeichnet sie auch in ihrer transzendenten, mystischen Dimension aus, wie bei Hildegard von Bingen anhand einer Analogie illustriert wird: »die Engel fliegen in Spiralen, der Teufel nur geradeaus«.73
70 Vgl. Seidel, Wilhelm: Rhythmus. Eine Begriffsbestimmung (= Erträge der Forschung, Band 46), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976, S. 6ff.; vgl. weiters Imhof, Arthur E.: »Leib und Leben unserer Vorfahren: Eine rhythmisierte Welt«, in: Ders. (Hg.), Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit, Berlin: Duncker & Humblot 1983, S. 21-38, hier S. 21ff. zur bestimmenden Rhythmik im Leben traditioneller, v.a. bäuerlicher (d.h. körperbezogener) Gesellschaft. Bei P. Gendolla: Zeit, S. 51 wird auf die mit der Umwandlung der agrarischen in die manifakturielle Gesellschaft einhergehende Veränderung der großen Lebens- und Arbeitsrhythmen (14.-18. Jahrhundert) verwiesen. 71 Vgl. zahlreiche Untersuchungen des Chrono-Mediziners Gunther Hildebrandt zu Störungen der biologischen Rhythmik. Diese können von außen verursacht werden, z.B. durch Schichtarbeit oder Jet-Lag. Umgekehrt wirken sich körperliche Arhythmien negativ auf das Allgemeinbefinden sowie Lern- und Arbeitsverhalten aus. Starke Abweichungen organischer Prozesse dienen als Grundlagen für die medizinische Rhythmusdiagnostik (vgl. C. Rittelmeyer: Pädagogische Anthropologie des Leibes, S. 112f.). 72 Vgl. Brockhaus Konversations-Lexikon. 15. Band, Leipzig/Berlin/Wien: F.A. Brockhaus 1896, S. 169. 73 Vgl. Hildegard von Bingen zit.n. Mislin, Hans: »Die Spirale als Gestalt und Symbol«, in: Hartmann, Hans/Mislin, Hans (Red.), Die Spirale im menschlichen Leben und in der Natur. Eine interdisziplinäre Schau (Ausstellung im Museum für Gestaltung, Gewerbemuseum Basel, 18. Juni-15. Sept. 1985), Basel: Edition MG 1985, S. 10-17, hier S. 12. Vgl.
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Bereits bei frühen Denkern in der griechischen Antike, z.B. bei Archimedes, ist die Spiralbewegung (Wirbel) in naturphilosophischen Auseinandersetzungen sowie in der Mathematik von elementarer Bedeutung.74 Weiters ist beobachtbar, dass viele Phänomene in der Natur und im Menschen die Form der Spirale tragen. Dazu zählen der pflanzliche Samenstand, die Milchstraße oder das menschliche Innenohr ebenso wie motorische Handlungen und organische Entwicklungsformen.75 Dass sie darüber hinaus als Sinnbild von Denkformen, als Metapher für Entwicklung oder Zusammenballung in gesellschaftlicher, politischer, sozialer und psychologischer Hinsicht sowie als Grundform künstlerischer Gestaltung dient, macht sie zur Universale schlechthin.76 Transport Eine grundlegende Funktion, die Bewegung in der Erhaltung menschlichen Lebens charakterisiert, ist der Transport. Der Terminus wird gebraucht als Synonym für eine spezifische Bewegung: für das Befördern von Substanzen, Waren oder Nachrichten. Lat. trans-portare (hinüberbringen, über-setzen) weist auf eine Strecke hin, die bewältigt werden muss; deutet auf einen Ort, der dadurch erreicht werden soll; und im aristotelischen Sinn bezieht sich die Bedeutung auf eine akzidentelle Bewe-
Heitzer, Johanna: Spiralen. Ein Kapitel phänomenaler Mathematik, Leipzig: Klett 1998, S. 32 zu Robert Fludd (17. Jahrhundert), der den Weg der menschlichen Seele vom Irdischen zum Himmlischen in Form der Spirale zeichnete. 74 Vgl. ebd., S. 36. Vgl. die Erwähnung des (Welt- oder Ur-)Wirbels bei verschiedenen Theoretikern der Antike: z.B. bei Demokrit: »Denksprüche«, in: Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker (1957), S. 108 (Frag. 167) sowie bei Aristoteles: Physik, II,196a und Lucretius: De rerum natura, I,294. 75 Vgl. Kükelhaus, Hugo: Mit den Sinnen leben, Oldenburg: Transform 1989, S. 12. Vgl. Erscheinungsformen der Spirale wie z.B. den Rauch-/Luftwirbel, das Gewinde, die DNAStruktur, den Aufbau der Peptidketten der Proteine, die Bewegungen des ersten kindlichen Kritzelns. 76 Der Spiral-Begriff scheint auch im soziologischen und ökonomischen Kontext auf; vgl. z.B. Diktionen wie »Spirale der Gewalt« (Hélder Camara), »Lohn-Preisspirale« (Frederic Vester) oder »Wachstums-Spirale« (Hans Christoph Binswanger). Und bei Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Band 1. Der Produktionsprozess des Kapitals, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1968, S. 607 ist zu lesen: »Der Kreislauf der einfachen Reproduktion verändert sich [...] in eine Spirale.« Im Kontext der Musik ist bei Hans Kayser die Rede von der »harmonikalen Tonspirale« und als Symbol erscheint die Spirale in der »Universe Symphony« (1915-28) von Charles Ives. Als Form lässt sich die Spirale in bildender Kunst und Architektur vielfach entdecken, z.B. in der Form des Guggenheim-Museums New York.
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gung des Transportierten, das sich trotz fehlender Selbstbewegung in Bewegung befindet.77 Der Vorgang des Transportierens ist sowohl im Kontext körperlicher Abläufe als auch im Sinne der Mobilität – ökonomischer, kultureller oder persönlicher Art – von grundlegender Bedeutung. Leben bedingt gleichermaßen mikroorganische Transporte innerhalb des Körpers wie physiologischen Austausch mit der Außenwelt, wodurch Welt-Erleben erst ermöglicht wird.78 Die primäre Rolle des Transportes im Bereich des Organischen wird nicht zuletzt an jenen Stoffen evident, die – häufig auch in ihrer Bezeichnung erkennbar – für ein Über-Tragen zuständig sind. Dazu zählt neben chemischen Botenstoffen wie Hormonen auch die MessengerRNA, auf deren Transport die Bildung des genetischen Codes beruht.79 Dass sich deren Eigenschaften hinsichtlich Umweltveränderungen – nämlich Mobilität, Anpassungsfähig und Sensibilität80 – mit jenen des modernen homo mobilis decken, zeugt von Kohärenzen des Phänomens Transport auf unterschiedlichen Ebenen. Das Leben des mobilen Menschen basiert auf Transporten, die für das Gelingen weitreichender ökonomischer Prozesse, den Informationsaustausch und Wissenstransfer, die Vernetzung sozialer Individuen und nicht zuletzt den Ausbau von Macht und Herrschaftsansprüchen mitverantwortlich sind.81 Diese Transporte sind abhängig von der gegebenen (Infra-)Struktur: Erst durch den Bau von Straßen, Wasserwegen und Flugstrecken sowie die Entstehung von Fortbewegungsmitteln und technischen Geräten kann der Transport realer Güter bis zum virtuellen Datentransport in unseren Tagen bewältigt werden.82
77 Vgl. Aristoteles: De anima, I,406a. 78 Vgl. z.B. den Im-/Export von Stoffwechsel-Substanzen, den Ionen-/Proteintransport, den intrazellulären/axonalen Transport in Nervenfasern, den Aminosäuren-Transport, den O2-Transport (von der Lunge ins Blut), den Elektronen-/Protonen-Transport während zellulärer Prozesse oder den Strom der Nervenimpulse während der Informationsübermittlung. 79 Vgl. altgriech. ornumi (in Bewegung setzen, veranlassen, antreiben). Hormone wirken bei der Regulierung von Organfunktionen und bei Stoffwechselvorgängen mit (vgl. Mörike, Klaus D./Betz, Eberhard/Mergenthaler, Walter: Biologie des Menschen, Wiesbaden: Quelle & Meyer 1997, S. 699). Die mRNA verbindet Formen von aktiven Ribosomen miteinander (vgl. ebd., S. 11). 80 Vgl. J. Huber: Geheimakte Leben, S. 196ff. 81 Vgl. P. Virilio: Der negative Horizont, S. 61. 82 Vgl. P. Gendolla: Zeit, S. 69 und M. Gleich: Mobilität, S. 46ff.
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Fließen Eine Sonderform des Transportes stellt die Fließ-Bewegung dar, die neben dem Befördern von Waren83 insbesondere für das Leben von Organismen fundamental ist: Das fließende Blut transportiert zahlreiche Stoffe, Wärme und Signale; die Flüssigkeit in der Zelle (Zytosal) ist in steter Bewegung und nicht zuletzt die Lymphe sind von Flüssigkeitsströmen durchzogen.84 Das Flüssige in der Natur kann in einen ontologischen Zusammenhang mit Bewegung gebracht werden und markiert nicht nur im Körper, sondern auch außerhalb desselben, exemplarisch sichtbar am Wasser, den Konnex zum Leben.85 Wasser ist eine stoffliche Grundlage des Lebens; es könne, so der Naturforscher Viktor Schauberger, als »Ursprung der Gestaltbewegung«86 betrachtet werden; zudem stellt Wasser ein Symbol der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt dar.87 Die Beziehung zwischen Flüssigem und Lebendigem ist weiters an der archaisch-assoziativen Kraft festzumachen, die das Bewegungsphänomen Fließen auf den Menschen ausübt.88 Das Spezifische des Fließens ist in dessen Eigenschaft als gleichmäßiges, scheinbar mühelos sich fortbewegendes Kontinuum, das eine ungetrennte Ganzheit einer Abfolge zum Ausdruck bringt, aufzufinden.89 In dieser Bedeutung werden
83 Vgl. historisch bedeutsame Wasser-Wege wie denjenigen von der Nordsee über Rhein, Aare, Rhone bis hin zum Mittelmeer. 84 Der beständig zirkulierende Flüssigkeitsstrom hat für die Lebens-/Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Organismus fundamentale Bedeutung (vgl. N.J. Schneider: Die Kunst des Teilens, S. 44). Vgl. weiters die Fließbewegung in der Physik und Fachbegriffe wie elektrischer Strom oder magnetischer Fluss. 85 Vgl. F. Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung, S. 73. Vgl. J. Itten: Analysen alter Meister, S. 111: »[...] alle Kräfte und alle Formen schuf Gott [...] aus fließender Bewegung.« 86 Schauberger, Viktor: Das Wesen des Wassers, hrsg. von J. Schauberger, Baden/München: AT 2006, S. 240. Vgl. lat. fluo (fließen, strömen, rinnen, hervorströmen). Vgl. Novalis: Lehrlinge zu Sais, S. 92f.: »Nicht unwahr haben alte Weisen im Wasser den Ursprung der Dinge gesucht [...].« 87 Vgl. Dreiseitl, Herbert: »Wasser ist universell«, in: Ders./Grau, Dieter/Ludwig, Karl H.C. (Hg.), Waterscapes. Planen, Bauen und Gestalten mit Wasser, Basel/Berlin/Boston: Birkhäuser 2001, S. 40-71, hier S. 42. 88 Vgl. den Flussgott Fluvius in den Mythen der römischen Antike oder die symbolische Rolle des (fließenden) Wassers in der Bibel wie den Nil (z.B. Ex 2,3) oder die Sintflut (z.B. Gen 6,5 und Jes 54,9). 89 Vgl. F. Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung, S. 58. Vgl. das deutsche Fremdwort permanent und dessen lateinische Wurzel permano (hin-durchfließen).
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fließen, Fluss und Flüssiges in den unterschiedlichsten Disziplinen zur Beschreibung leiblicher Bewegung sowie als Metaphern herangezogen.90 Zu einem zentralen Motiv wird das Fließen im philosophischen Diskurs über die Zeit und die Vergänglichkeit des Lebens, wie er seit der griechischen Antike besteht.91 Die Bewegung des Fließens zeige eine »Spur des Vergessens«, so der Philosoph Kai van Eikels92. Diese Irreversibilität des steten Wandels verdeutlichen Heraklits Fragmente, vereinfacht im Diktum pánta rhei subsumiert: »In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht [...].«93 Der Fluss der Zeit – fluunt tempora – manifestiert sich nicht nur in der Vergänglichkeit des Lebens, sondern markiert auch das subjektive Erlebnis eines Ineinander-Übergehens von sukzessiven Augenblicken, das Kontinuum zwischen vergangenen und künftigen Momenten und das daraus entstehende Gefühl einer besonderen Gegenwärtigkeit: Flow. Fließen ist zum Paradigma modernen Lebens schlechthin geworden: »Liquid modernity« (Zygmunt Baumann) ist eine der vorherrschenden (Bewegungs-) Metaphern für ein aktuelles gesellschaftlich-soziales Stadium und auch für damit
90 Fluss oder fließen bezeichnet auch ein Moment der Verbindung; v.a. im Tanz oder im Sport ist mit Fluss jener Bewegungsfaktor gemeint, der einzelne Bewegungen zu einem Ganzen verbindet. Martin Buber gebraucht fließen in diesem Sinne als Metapher, wenn er vom vorgeburtlichen Leben als naturhafter, im »Zueinanderfließen« begriffener Verbundenheit spricht (vgl. M. Buber: Ich und Du, S. 25). In der Sprache wird das Flüssige als Bild für den literarischen Schreib-/Inspirationsprozess gebraucht; der (psychologische) Begriff (word-)fluency bezeichnet den raschen Ideenfluss. Häufig gebraucht wird die Wendung fließend sprechen, z.B. bei Mann, Thomas: Buddenbrooks, Frankfurt am Main: Fischer 2004, S. 272: »Er erzählte [...] in mühelosem Fluß [...].« Schließlich bedeutet Wasser in der Literatur einen Metaphernfundus, ist häufig formales Leitbild und dient als Sinnbild. 91 Fließen produziert im Sinne Platons Sterbliches. Die Fließbewegung hatte für die Zeitmessung im konkreten Sinne eine Bedeutung; d.h., wenn mithilfe von Schatten, Sand oder Wasser Zeit gemessen wurde (vgl. R. Levine: Eine Landkarte der Zeit, S. 10). 92 Eikels, Kai van: »Die erste Figur. Zum Verhältnis von Bewegung und Zeit«, in: Brandstetter, Gabriele/Peters, Sibylle (Hg.), de figura. Rhetorik - Bewegung - Gestalt, München: W. Fink 2002, S. 33-50, hier S. 34. 93 Heraklit: »Fragmente«, in: Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker (1957), S. 26 (Frag. 49a). Vgl. ebd., S. 29 (Frag. 91): »Man kann nicht zweimal in den denselben Fluß steigen.« und vgl. ebd., S. 24 (Frag. 12): »Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und wieder andere Wasserfluten zu.« Vgl. altgriech. rhein (fließen) und die lateinische Wendung cuncta fluunt (alles ist in stetem Wandel). Vgl. F. Kaulbach, Artikel »Bewegung/I. Antike«, S. 869 zu Avicennas Auffassung von Bewegung als Fließen.
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verbundene Anforderungen an die Infrastruktur.94 Die Identifikation mit der fluiden Bewegtheit erzeuge »transgressive Subjekte«, wie der Philosoph Jens Badura in seinem Artikel schreibt.95 Grenzen lösen sich auf; Besitz verflüssigt sich. Zuletzt genanntes Phänomen spiegelt sich beispielhaft am Finanzsektor wider, insofern als umlaufendes Geld, nahezu alchemistisch deutbar, im Sinne des Ökonomen Hans Christoph Binswanger als eine faustische Verflüssigung von Bodenschätzen gelesen werden kann.96 So wird Geld – mit dem Anspruch einer totalen Liquidität – zum Repräsentanten eines, wie Georg Simmel es in seiner »Philosophie des Geldes« (1900) ausdrückt, »absoluten Bewegungscharakters der Welt«97. Kette/Reihe Ökonomische Prozesse sind in mehrerlei Hinsicht mit Bewegung assoziierbar. Was sie neben dem Geld als Träger von Bewegung98 kennzeichnet, ist die Zusammenführung einzelner Prozesse zu einem großen Ganzen.99 Wiederum zeigt sich, dass es sich hierbei nicht nur um ein Spezifikum der Wirtschaft handelt; vielmehr stellt dies ein grundlegendes Phänomen in Mensch und Welt dar. Eine übergeordnete Bewegung/Handlung erweist sich als Kette mehrerer Bewegungsaktionen auf unte-
94 Vgl. T. Alkemeyer: Bewegung und Gesellschaft, S. 71. Vgl. die StVO (§7) bzgl. der »Flüssigkeit des Verkehrs«. Vgl. Meinharter, Erik: »Die Stadt - ein zähes Fließen?«, in: Zoll+. Österreichische Schriftenreihe für Landschaft und Freiraum 11 (2007), S. 66-67, hier S. 66f. zum Bewegungsfluss von Menschen und Gütern, der eine »zähe Veränderung der Stadt« generiere. 95 Badura, Jens: »Nicht mehr hier und noch nicht dort. Leben im Übergang«, in: Der blaue Reiter. Journal für Philosophie 29 (2010), S. 12-15, hier S. 12. Vgl. weiters A. Reckwitz: Die Gleichförmigkeit und die Bewegtheit des Subjekts, S. 169. Das Paradigma des »transgressiven Subjektes« zeigt sich z.B. in der Auflösung/Verbindung künstlerischer Genres (vgl. die Fluxus-Bewegung, die das transgressive Moment im Namen trägt) oder in der Verflüssigung von Rollenkonzepten/sozialen Geschlechtern (Floatiness of Gender Roles) und schließlich anhand der virtuellen Realität – Stichwort surfen. 96 Vgl. Binswanger, Hans Christoph: Geld und Magie. Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust, Hamburg: Murmann 2005, S. 26f. 97 Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, hrsg. von D.P. Frisby, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 714. Vgl. die ökonomischen Termini Liquidität und Float. 98 Vgl. ebd. 99 Vgl. P. Gendolla: Zeit, S. 66 zu Ketten der Ökonomie, z.B. Produktion+Transport+Verteilung+Verbrauch. Vgl. J.Ch. Adelung/D.W. Soltau/F.X. Schönberger (Hg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Band 2, S. 1561 zu Kette in der figürlichen Bedeutung als »Reihe mehrerer, unmittelbar auf einander folgender und in einander gründender Begebenheiten«.
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ren Ebenen. Als wesentlich sind dabei die stattfindenden, die Verkettung verursachenden Interaktionen sowie die adäquate Synchronisation der einzelnen Momente zu erachten.100 Die Aneinander-Reihung steht in unmittelbarem (teleologischen) Zusammenhang mit den sich daraus ergebenden, raumzeitlich sich ausdehnenden Wirkungen, die schließlich zum Ziel führen.101 Ökonomische oder soziale Prozesse unterliegen diesen Verkettungen ebenso wie die menschliche Motorik. In Letzterer konkretisiert sich die Fundamentalität sowohl für die basale Alltags- als auch die komplexere Arbeitshandlung und insbesondere für komplizierte Bewegungsfolgen in Sport und Tanz.102 Bereits die einzelne sichtbare Körperbewegung bedarf einer Aneinanderreihung verschiedener physischer Aktivitäten. Zur Zeit der Theoretiker in der griechischen Antike vermutete man Verbindungen zwischen Geist und Bewegungsapparat und stellte darauf aufbauend die These von den »Lebensgeistern«, d.h. feinen Partikeln in den Nervenbahnen, die Sinneseindrücke in das Gehirn transferieren und dadurch den Impuls zur Bewegung liefern, auf.103 Gegenwärtige Erkenntnisse veranschaulichen die Komplexität eines scheinbar simplen Bewegungsaktes, der aus einer sukzessiven Reihe resultiert: Am Anfang stehen neuronale Prozesse, die als Steuerungsmechanismen sowie als Schnittstellen zwischen Bewusstsein und Materie agieren. Die Kontraktionsbewegung des Herzens bewegt Sauerstoff, wodurch die Motorproteine des Muskels initiiert werden; aus der Kombination der verschiedenen Muskeltätigkeiten ergibt sich schließlich ein einfaches Bewegungsmuster.104 Aus mechanischer
100 Vgl. F. Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung, S. 70 sowie P. Gendolla: Zeit, S. 47. 101 Zur Kette von Wirkungen und Bestimmungen vgl. Lucretius: De rerum natura, II 251. Zum Problem der Kausalität vgl. den Kunstfilm DER LAUF DER DINGE (CH 1987, R: Peter Fischli/David Weiss). 102 Vgl. Donald Davidson zit.n. T. Alkemeyer: Bewegung und Gesellschaft, S. 45, der jedes Handeln auf einfacher Ebene als Kette von Körperbewegungen definiert. Verkettung von Bewegungen spielt im Bereich manueller Arbeit sowie in der Verbindung von Mensch und Maschine hinsichtlich der Produktionsoptimierung eine wesentliche Rolle. Vgl. weiters Lukács, Georg: Ästhetik I (= Sammlung Luchterhand, Band 63), Neuwied/ Berlin: Luchterhand 1972, S. 186 zur Einübung komplizierter Bewegungsabläufe; diese zu beherrschen meint lt. Lukács, nur noch die »Knotenpunkte« der Bewegungsfolgen »herauszuholen«, während die Zwischenphase automatisiert abläuft. 103 Vgl. A. Hügli/P. Lübcke (Hg.): Philosophie-Lexikon, S. 372. 104 Vgl. Schadé, Johannes P. (Hg.): Anatomischer Atlas des Menschen, Lübeck u.a.: G. Fischer 1998, S. 46 zu Motorik als Sammelbegriff dieser Bewegungsmuster. Zum Begriff Motorik vgl. weiters F.J.J. Buytendijk: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung, S. 253ff.
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Perspektive stellt der Bewegungsapparat, v.a. das Skelett, eine Verbindung von Hebeln dar, deren Bewegung auf den Kraftlieferanten Nerven und Muskeln sowie auf der Gravitation basiert.105 Im Sinne der newtonschen Mechanik bilden Masse und Dichte eines Körpers zusammen mit der Abfolge einwirkender Kräfte ein System, anhand dessen die Bewegung physikalisch analysierbar wird.
3.4 B EWEGUNG
IM
K ONTEXT
DES
H UMANEN
Die vielfältigen Dimensionen von Bewegung, welche Individualität, Sozialität und Kulturalität des Menschen prägen, erweisen sich als Teile des Fundamentes des einzelnen Menschen und als Medien innerhalb der sozialen Interaktion. In diesem Sinne sind Konzepte von Bewegung historisch kontextualisiert, d.h. mit Regeln und Normen einer Gesellschaft verknüpft, und deswegen auch wandelbar, wie der kulturgeschichtliche Abriss bereits gezeigt hat.106 Im Folgenden wird auf Phänomene von Bewegung eingegangen, die im Speziellen das Wesen des Menschen betreffen und in enger Verbindung zur Frage nach der Lebendigkeit stehen. Der Mensch ist ontologisch betrachtet psychophysisch bewegte Leiblichkeit; dieser Umstand kennzeichnet ihn maßgeblich in seiner Vitalität. Motionalität und Emotionalität – Rühren und Gerührt-Sein, Regung und Aufgeregt-Sein – kehren ein genuin Lebendiges menschlicher Bewegung hervor107 : Beweglichkeit ist Körper und Seele übergreifendes Prinzip. Die menschliche Motorik zählt diesbezüglich zu den primären Assoziationen: »Das Ich ist vor allem ein körperliches [...]«, konstatiert Sigmund Freud in »Das Ich und das Es« (1923)108. Demgemäß stellt eine Stö-
105 Vgl. R.v. Laban: Die Kunst der Bewegung, S. 28. 106 Vgl. G. Klein, Bewegung denken, S. 150 sowie Klaes, Regina/Walthes, Renate: »Über Sinn und Unsinn von Bewegungsstörungen«, in: Prohl/Seewald, Bewegung verstehen (1995), S. 237-262, hier S. 256. 107 Zum Zusammenhang von Bewegung (Rührung, Rege) und Gefühl vgl. folgende Beispiele: Aristoteles meint, wir werden »durch die Affekte bewegt« (Nikomachische Ethik, II,1106a). Thomas von Aquin schreibt, dass der »Betrübende den Betrübten rührt« (Summe der Theologie, 105. Unters. 2. Art.). Und Ingeborg Bachmann konstatiert: »[...] die wenigen Stellen in der Literatur, die mich immer aufgeregt haben, die sind für mich das Leben.« (Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, hrsg. von C. Koschel u. I.v. Weidenbaum, München: Piper 1991, S. 69). 108 Freud, Sigmund: Das Ich und das Es, Leipzig/Wien/Zürich: Psychoanalytischer Verlag 1923, S. 28. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen (= Universalbibliothek, Band 7111-7113/13a), Stuttgart: Reclam 1950, S. 28: »Leib bin ich ganz und gar, und Nichts außerdem [...].«
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rung der Motorik nicht lediglich den Ausfall einer einzelnen Komponente, sondern eine Pathologisierung des gesamten individuellen Daseins dar, insofern als die Verbindung mit der Welt unterbrochen ist.109 Motorische Prozesse unterliegen einer bereits im intrauterinen Raum festellbaren Logik des Spürens.110 Das Spüren in der Bewegung – kinästhetisches Empfinden – ist gleichzeitig Vorgang und Erfahrung, Bewegen und Bewusst-Sein dieser Bewegung111 und vermittelt unaufhörlich SelbstBewusstsein. In enger Beziehung dazu steht das Empfinden auf Gefühlsebene: Metakinetisch betrachtet lösen körperliche Bewegungen auch Resonanzen auf emotionaler Ebene aus112, was nicht zuletzt in der Entwicklungspsychologie und schließlich in der Therapie eine maßgebliche Rolle spielt. So merkt Alfred Adler in »Menschenkenntnis« (1927) an, dass der Fortschritt all dessen, was die Seele erfülle, durch freie Beweglichkeit des Organismus bedingt sei.113 Auch umgekehrte Korrespondenzen zählen zum menschlichen Erfahrungsgut, wie es nicht zuletzt in folgender Bibelstelle zum Ausdruck kommt: »Ein fröhliches Herz tut dem Leib wohl/ ein bedrücktes Gemüt lässt die Glieder verdorren.«114 Um Gefühlen verbal Ausdruck zu verleihen, werden somatische Begriffe eingesetzt, die nicht nur metaphorisch aufzufassen sind, sondern sich durchaus am subjektiven Erleben orientieren.115 Die gegenseitige Durch-
109 Vgl. O. Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, S. 80 sowie G. Gebauer: Ordnung und Erinnerung, S. 24. Vgl. Krankheitsbilder wie z.B. Ataxie, Chorea, Apraxie, Morbus Parkinson oder Tourettsches Syndrom. 110 Vgl. Fuchs, Marianne: »Haben wir ein zeitgemäßes, verbindliches Menschbild?«, in: Voglsinger, Josef/Kunz, Stephan (Hg.), Bewegung ist Leben, Leben ist Bewegung. Vorträge und Praxisbeiträge anlässlich des Jubiläumssymposiums 10 Jahre Bewegte Klasse, Wien: J&V 2005, S. 21-24, hier S. 23. 111 Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 39f. 112 Vgl. den von John Martin geprägten Begriff der »Metakinesis«. 113 Adler, Alfred: Menschenkenntnis. Studienausgabe, hrsg. von K.H. Witte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 35. Vgl. Platon: Nomoi, VII,790c zur Wichtigkeit der Bewegung bei Kleinkindern. Vgl. die Bedeutung der Koordination von Wahrnehmung und Motorik in den ersten beiden Entwicklungsstadien des Kindes in den Theorien von Jean Piaget. 114 Spr 17,22. Vgl. Aristoteles: De anima, I,403a: »Wie es scheint, sind [...] alle Affekte [...] mit dem Körper verbunden.« 115 Als Beispiele für die Verbindung von Psyche und Soma in der Sprache vgl. deutsche Redewendungen wie z.B. etwas geht an die Nieren, läuft über die Leber oder schlägt sich auf den Magen oder englische Ausdrücke wie z.B. to have no stomach for something oder to learn something by heart. In einem Brief an Charlotte von Stein schreibt Johann Wolfgang von Goethe: »Ich habe eine solche Freude, daß sich mir alle
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dringung von Gefühls- und Körperbewegung besteht bereits auf neurophysischer Ebene. Die Entstehung von Gefühlen und deren Kontrolle sind durch das limbische System bedingt; weiters existieren Beziehungen emotionaler Prozesse zum chemischen Profil des Körpers und zu Aktivitäten in den Nervenzellen.116 Neben neurophysischen Phänomenen ist auch eine Verbindung zu exogenen rhythmischen Abläufen gegeben. So beschreibt z.B. Carl Gustav Carus in seiner Entwicklungsgeschichte der Seele von 1846 den Einfluss der Jahreszeiten auf den Menschen wie folgt: »[...] welch eigenthümlichen Einfluß [.] dieser immer sich wiederholende Cyklus von strengerem In-sich-gekehrt-sein bei winterlichen Zuständen, durch die belebend aufregende Wirkung des Frühlings, zu der gewissen schön gesättigten Fülle des Sommers, und zu den, halb ersterbenden, halb Künftiges vorbereitenden Ergebnissen des Herbstes, auf Gemüth und Geist hervorbringt, ist kaum zu berechnen.«117
Die reziproke Beziehung von Psyche und Soma wird am Terminus Emotion (lat. emovere, hinausschaffen, herausheben) evident, handelt es sich dabei um ein Drängen nach außen, das körperlich als fühl- und sichtbare Bewegung manifest wird.118 Dies wird bereits an der ersten existenziellen Handlung des Menschen nach der Geburt ersichtlich, die darin besteht, dass das Neugeborene aufgrund seiner inhärenten
Eingeweide bewegen.« (J.W.v. Goethe zit.n. Goethe-Wörterbuch. Band 2, hrsg. von der Akadamie der Wissenschaften der DDR, in Göttingen, in Heidelberg, Stuttgart: Kohlhammer 1989, S. 591). Vgl. weiters Thomas Morus in »Utopia« (1516) zum Vergnügen als »Bewegung [...] der Seele und des Leibes« (Utopia, Köln: Anaconda 2007, S. 97). Vgl. die Thematik der Synthese von Leib und Seele bei Kierkegaard, Sören: Der Begriff Angst (= Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft, Band 71), hrsg. von L. Richter, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1960, S. 42. 116 Vgl. Reinelt, Toni: »Die Wirkung kleiner Reize. Ein Essay über die Funktionelle Entspannung«, in: Heilpädagogik. Fachzeitschrift der Heilpädagogischen Gesellschaft Österreich 51 (2008), S. 1-11, hier S. 5 und Cytowic, Richard E.: Farben hören, Töne schmecken. Die bizarre Welt der Sinne, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 229. 117 Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele, Pforzheim: Flammer und Hoffmann 1846, S. 394f. 118 Hans-Peter Dürr stellt eine Psychosomatik als reine Addition aus quantentheoretischer Sicht in Frage: »Wir [...] fragen uns [...], wie [.] die Psyche auf die Physis [...] wirkt? Ja, in Analogie zur Quantenphysik gesehen, sind sie beide einfach die beiden Seiten derselben Münze.« (H.-P. Dürr/M. Österreicher, Marianne: Wir erleben mehr als wir begreifen, S. 81).
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Todesangst den notwendigen, Atem verursachenden ersten Schrei ausstößt.119 Der Körper ist also gleichsam plastisches Material, worin temporäre Emotionen oder konstante Persönlichkeitsmerkmale zum Ausdruck gelangen und sich imprägnieren.120 Umgekehrt lösen motorische Handlungen sowie Haltungen und körperliches Befinden unmittelbare Bewegungen auf der Gefühlsebene aus. Eine exakte Trennung von Emotion und Motion, von Psyche und Physis mag im Erleben also nicht gegeben sein, weshalb der (phänomenologische) Begriff des Leibes121 – genannte Dimensionen umfassend – für weitere Ausführungen dienlich scheint. Die ›Plastizität‹ des Leiblichen ist Prämisse für die Wahrnehmung von Welt und die in ihr stattfindende Interaktion. In der Synergie von Motorik, Emotion und Sinnen (Sensomotorik) können leibliche Innenwelt und gemeinsamer Außenraum zueinander in Sinn und »Heimat« konstituierende sym-pathische Beziehung gesetzt werden.122 Spüren und Bewegen, Eindruck und Ausdruck unterliegen einem kybernetischen System, in dem die Aufnahme umweltbedingter Afferenzen und deren cerebrale Verarbeitung, die motorische Reaktionen und die Wahrnehmung über das Gleichgewichtsorgan miteinander verbunden sind. In diesem Regelkreis ist ein órganon für die Bewältigung des Alltages begründet, worin leiblicher Bewegung nicht nur die Rolle eines Materials zukommt – bereitet sich in ihr die Handlung doch schon vor.123 Ist die gesamte Leiblichkeit spürend daran beteiligt, alltägliches
119 Vgl. J. Huber: Geheimakte Leben, S. 126f. 120 Die Ausdrucksbewegung unterscheidet sich von der zielgerichteten Handlung (vgl. F.J.J. Buytendijk: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung, S. 204). Zum Manifestwerden des Charakters in der Körper-Bewegung vgl. z.B. L. Klages: Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, S. 148 oder R.v. Laban: Die Kunst der Bewegung, S. 9f. 121 Vgl. Petrus Hispanos (13. Jahrhundert) zit.n. Schipperges, Heinrich: Kosmos Anthropos. Entwürfe zu einer Philosophie des Leibes, Stuttgart: Klett-Cotta 1981, S. 19: »Der Mensch ist Leib, nicht nur beseelter Körper oder bewegte Sinnlichkeit [...].« 122 Vgl. G. Lukács: Ästhetik II, S. 153. Vgl. G. Gebauer: Ordnung und Erinnerung, S. 24. Auf konkreter, physischer Ebene kommt den Proteinmolekülen bzgl. der Durchlässigkeit der Barriere der Zellmembran zwischen Mensch und Umwelt eine wesentliche Rolle zu; Wahrnehmung kann in dieser Hinsicht auch als Schnittfläche zwischen der Umwelt und der Expression der Zelle betrachtet werden (vgl. S. Silbernagl/A. Despopoulos: Taschenatlas der Physiologie, S. 2). 123 Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 166. Vgl. Reinelt, Toni: »Staunen - Bewegen - Bilden«, in: Heilpädagogik. Fachzeitschrift der Heilpädagogischen Gesellschaft Österreich 3 (2007), S. 1-18, hier S. 12 zu Transformationsprozessen des Sinnessystems und des zentralen Nervensystems, deren Ergebnis die Beschaffenheit der Außenwelt sei.
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Handeln im Verhältnis zur Mitwelt zu bewerkstelligen, muss jene Frage berücksichtigt werden, die Ergebnissen interdisziplinärer Forschungen im Konnex von Bewegung, Gesundheit und Entwicklung von Lebensqualität immanent ist: Wie ist eine Umwelt zu gestalten, die im Spannungsfeld von Mensch, Natur und Technik steht und auf genuine menschliche Bedürfnisse und solche, die künstlich erzeugt werden, reagieren muss? Technische Neuerungen erweisen sich hinsichtlich dieser Zusammenhänge als ambivalent: So kann gegenwärtig beobachtet werden, dass Technik einerseits die Wahrnehmung des Menschen von seiner körperlichen Eigenbewegung als deren Voraussetzung entbindet und eine Entsinnlichung forciert wird;124 andererseits können neue Erfahrungs- und Wahrnehmungsräume geschaffen werden. Veränderte Bedingungen für Bewegung können sich also sowohl positiv, im Sinne einer Erweiterung des Erlebnisraumes, als auch negativ, im Sinne degenerativer Einwirkung, auf das Sensorium auswirken. Die Bewegung und das Spüren dieser Bewegung prägen außerdem kommunikative Prozesse.125 Die Bedeutung des Leibes für das zwischenmenschliche Zusammenleben ist enorm, konstituiert dieser doch den Ort und die Vermittlung von Vertrauen und Empathie bereits in einem frühen Entwicklungsstadium.126 Bewegung und Berührung in ihrer emotionalen Prägung bilden ein Medium in der Hinwendung zum Anderen, sind Grundvoraussetzung für die Entwicklung sozialen Lebens und erweisen sich als vielschichtige, z.T. auch universelle nonverbale ›Sprachen‹.127 Körper-Sprache in ihrer Pluralität128 verdeutlicht die Semantik von Bewegung: »[...] man teilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken
124 Vgl. H. Rumpf: Mit allen Sinnen lernen, S. 123. 125 Vgl. John Martin zit.n. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 74: »We have lost all awareness of the fact that movement can be and is a means of communication.« 126 Vgl. Weißmann, Eva: Tanz-Theater-Therapie. Szene und Bewegung in der Psychotherapie, München: Reinhardt 1999, S. 60, weiters T. Reinelt: Spüren - Fühlen - Denken, S. 310 sowie Kükelhaus, Hugo/Zur Lippe, Rudolf: Entfaltung der Sinne. Ein Erfahrungsfeld zur Bewegung und Besinnung, Frankfurt am Main: Fischer 1990, S. 26. Hingewiesen sei auf die Bedeutung des »tonisch-emotionalen« Dialoges im zwischenmenschlichen Kontakt sowie auf den Leib als Ort der Entwicklung von Selbstwertgefühl, Bindung und Individuation und diesbzgl. auf die ethnologischen Studien von Jean Liedloff. 127 Vgl. Flusser, Vilém: Kommunikologie (= Forum Wissenschaft: Kultur & Medien, Band 13389), Frankfurt am Main: Fischer 2007, S. 10: »Hat man den Code der Gesten gelernt, denkt man nicht mehr daran, daß Kopfnicken nur für jene ›Ja‹ bedeutet, welche sich dieses Codes bedienen.« Vgl. F.J.J. Buytendijk: Allgemeine Theorie der menschlichen Haltung und Bewegung, S. 213 zur Gebärde als »willkürliche Verkörperung«. 128 Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 230ff.
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hin zurückgelesen werden«, so Friedrich Nietzsche.129 Ausschlaggebend für das Verstehen des ›Innenlebens‹ einer Bewegung ist die visuelle, illustrative genauso wie die individuelle Komponente.130 Die besondere Eigenart der Physiognomie und der Bewegungshandlung offenbaren das Selbst und damit verbundene Parameter; an einem Zitat aus Arthur Schnitzlers »Traumnovelle« (1925) wird dies evident: »[...] – an ihrem Gang, ihrer Haltung, [...] hätte er sie [...] unwidersprechlich erkannt.«131 In der Betrachtung der menschlichen Identität fokussierend auf Bewegung wird, wie dargestellt wurde, von einer Wechselbeziehung zwischen moveo und e-moveo ausgegangen. Des Weiteren sollen nun außerdem (neuro-)biologische sowie philosophische Aspekte von Bewegung skizziert werden, die hinsichtlich der Identität als grundlegend erscheinen. Die modernen Neurowissenschaften belegen eine Veränderungsfähigkeit kortikaler Kartierungen und verweisen damit auf eine fundamentale Dynamik und Plastizität des Gehirnes.132 Neben diesem Wandlungspotenzial verdeutlichen noch weitere Phänomene den Stellenwert von Bewegung in Bezug auf die Frage nach dem menschlichen Bewusstsein und nach der Identität. So ist die Informationsverarbeitung von zwei gegenläufigen Bewegungen gekennzeichnet, die, die Aktivität der Hemisphären zusammenhaltend, persönlichkeitsstiftend wirken könnten, wie vermutet wird.133 Die Bewegung in den Ionenkanälen an der Oberfläche der Nervenzellen ist wahrscheinlich ebenso maßgeblich für das mensch-
129 Nietzsche, Friedrich: Werke IV. Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. Briefe (18611889), Frankfurt am Main: Ullstein 1969, S. 346. 130 Vgl. G. Gebauer: Ordnung und Erinnerung, S. 34 zum »Bewegungs-Bild« sowie die Tänzerin Pauline Koner zit.n. C. Jeschke: Tanz als BewegungsText, S. 79 zur Geste und damit verbunden dem »inner life of the movement that makes it ring through«. 131 Schnitzler, Arthur: »Traumnovelle«, in: Ders., Traumnovelle. Die Braut (= UniversalBibliothek, Band 18159), Stuttgart: Reclam 2002, VI 94. Vgl. als weiteres Beispiel aus der Literatur William Shakespeare: King Lear. Englisch/Deutsch (= Universal-Bibliothek, Band 9444-46), hrsg. von R. Borgmeier, Stuttgart: Reclam 1973, I, Scene 4: »Doth any here know me? This is not Lear/ Doth Lear walk thus? Speak thus? [...]«. Vgl. außerdem Johann Caspar Lavater: »Von der Physiognomik« (1772). 132 Vgl. Sacks, Oliver: Der einarmige Pianist, S. 157 sowie Altenmüller, Eckhart: »Neurowissenschaften im Dialog mit Musik- und Tanzpädagogik - zu den neuronalen Auswirkungen musikalischen Lernens«, in: Haselbach/Grüner/Salmon, Im Dialog (2007), S. 173-193, hier S. 173. 133 Vgl. D.B. Linke: Das Gehirn, S. 33. Linke spricht von den Bewegungen der Hemisphären als »Bewegungen des Lebens«.
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liche Selbst.134 Auffallend scheint überdies, dass die Entstehung menschlichen Bewusstseins in jenen Arealen des assoziativen Kortex lokalisiert wird, die einen spannungsreichen Kreuzungspunkt von Kognition und Emotion markieren.135 Auch molekulargenetisch ist von einem dynamisch-interaktionistischen Konzept auszugehen: Gene sind nicht statisch, sondern reagieren auf verschiedene exogene Veränderungen mit der Wandlung ihrer Struktur. Springende Gen-Abschnitte in der menschlichen DNA (Jumping Genes) sind ständig im Austausch mit anderen Prozessebenen und verdeutlichen damit unter anderem den Einfluss der Umwelt auf die Identität; in den Wechselwirkungen der genetischen Aktivität gründen außerdem humane Stoffwechsel- und Entwicklungsprozesse.136 Was heute an genetischen, zellulären oder neuronalen Prozessen in einem physiologischen Sinne lesbar wird, thematisierte bereits die Philosophie der Antike: Im Leben koinzidieren beständiger Wandel und Konstanz der Person – ein Dasein ohne Veränderung ist nicht existent.137 Das aristotelische Denken einer Form von kínesis verdeutlicht dies in dem Sinne der Bedeutung, dass Seiendes seine Qualität wechselt; Bestehendes wird aufgelöst; Umgestaltungen werden in Gang gesetzt. Der griechischen Bedeutung von krísis (Wendung) ist ein dafür nötiger Bewegungsimpuls inhärent. Identität ist einer Diversität von Bewegungen des Lebens ausgesetzt und kann nicht auf ein ab einem gewissen Zeitpunkt vollendetes Sein als Person reduziert werden. Vielmehr stoße man im Diskurs zur Identität schnell auf die Figur des Paradoxons, wie der Schriftsteller John von Düffel notiert.138 Gemeint ist jener Widerspruch in Bewegung, den Georg Wilhelm Friedrich Hegel als die »Wurzel« des Lebendigen definiert und der sich in einem fortlaufenden Prozess neuen Infragestellens einer einmaligen Festlegung der Persönlichkeit entzieht.139
134 Vgl. Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 1678), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 224. 135 Vgl. Rudolfo Llinás zit.n. O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 53f. zu Interaktionen zwischen Kortex und Thalamus. 136 Vgl. Asendorpf, Jens B.: Psychologie der Persönlichkeit, Berlin u.a.: Springer 1999, S. 316f. und J. Huber: Geheimakte Leben, S. 191ff. 137 Vgl. Plato: Das Gastmahl. Griechisch-Deutsch (= Philosophische Bibliothek, Band 81), Hamburg: Meiner 1981, 207d bzgl. Konstanz und Wandel der Person innerhalb des Lebens. 138 Düffel, John von: Wovon ich schreibe. Eine kleine Poetik des Lebens, Köln: Du Mont 2009, S. 13. 139 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Band 6: Wissenschaft der Logik II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 65. Vgl. den Ansatz postkolonialer Theorien, Identität als dynamisch-diskursives Konstrukt zu denken.
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Persönlichkeit ist auf das Engste mit Bewusstsein verbunden. Letzteres ist auf reflexiver Ebene von Vorgängen des Denkens und Prozessen im Kontext von Sprache durchdrungen.140 In einem radikalen Sinne meint bereits das Hervorbringen des Denkvorganges und der Verbalisierung eine Bewegung.141 Die Bedeutung von Bewegung geht darüber hinaus: Sie ist auch unerlässliche Grundlage lebendigen Geschehens, wie bei Buffon anklingt: »Le style n’est que l’ordre et le mouvement que l’on met dans ses pensées.«142 Denken im Sinne einer Bewegung, die von einem Problem zu einer Lösung oder zu einem nächsten Problem führt143 , korreliert mit einem Spiel der Fragen: Prozesse wie Sondieren, Ordnen, Verknüpfen und Auseinanderentwickeln setzen Festgelegtes in Bewegung.144 Eine spezifische Figur des Denkens ist die kreis- oder spiralartig imaginierte Bewegung von außen nach innen; im Terminus Konzentration wird das denkende Umkreisen145 eines Gegenstandes
140 Vgl. E. Ionesco: Tagebuch, S. 31 zum Denken als Ausdruck des Wesens. 141 Vgl. Plotin zit.n. Dolidse, Tina: »Der Begriff der Bewegung in der Gotteslehre Plotins und Gregors von Nyssa«, in: Kobusch, Theo/Mojsisch, Burkhard/Summerell, Orrin F. (Hg.), Selbst - Singularität - Subjektivität. Vom Neuplatonismus zum deutschen Idealismus, Amsterdam: B.R. Grüner 2002, S. 41-76, hier S. 52: »[...] die Bewegung an sich hat das Denken hervorgebracht, dergestalt, dass sie sich selber als Bewegung und Denken hervorbrachte.« 142 Buffon: Discours sur le style, Paris: Librairie Hachette et Cie 1879, S. 12 (»Stil ist nichts als Ordnung und Bewegung in Gedanken.«). Zum Denken als Bewegung vgl. diverse Schriften wie z.B. Lucretius: De rerum natura, V,1010, Aristoteles: De anima, I,408b sowie Nicolai de Cusa: Dialogus de ludo globi I,2,1 oder M.d. Montaigne: Essais, III,8. 143 Vgl. K.v. Eikels: Die erste Figur, S. 33. Vgl. altgriech. méthodos (nachgehen) und die Begriffe Gedanken-/Beweisgang. 144 Vgl. Kayser, Hans: Akróasis. Die Lehre von der Harmonik der Welt, Basel: Schwabe 1989, S. 128. Vgl. M.d. Montaigne: Essais, III,2: »So vermag ich den Gegenstand meiner Darstellung nicht festzuhalten [...] er wankt und schwankt«. Und vgl. Valéry, Paul: »Philosophie des Tanzes« (1936), in: Ders., Werke. Band 6. Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, hrsg. von J. Schmidt-Radefeldt, Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, 1995, S. 243-257, hier S. 256f. zu Metapher, Reim, Inversion und Antithese als Figuren eines »geistigen Tanzes«. Vgl. außerdem die Bedeutung der Bewegung in der Logik bei Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Band 5: Wissenschaft der Logik I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 70ff. und Metaphern wie Vorwärts-/Rückwärts-/Fort-/ Übergehen, Vermittlung und Kreis. 145 Vgl. F. Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung, S. 51ff. zum »Gedankengang des Dialogs« bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 147 sowie ebd., S. 173. Teilhard de Chardin beschreibt am Bei-
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manifest. Wie die letzten Beispiele zeigen, handelt es sich also stets um eine dem Denken implizite Vitalität und Flexibilität146, ohne der die Inhalte zu erstarren drohen: »Wir denken immer, wenn auch vieles Denken so schnell vor sich geht, dass wir den Begriff des ›Wissens‹ gebildet haben und meinen, das sei nur mehr das Material für das Denken [...]. Diese Auffassung ist das, was das Wissen tot macht [...].«147 Diese, phylo- wie ontogenetisch relevante, Beweglichkeit des Geistes ist nicht nur evolutionäres Epiphänomen, sondern Ausdruck des Fortschrittes einer Entwicklung des Geistigen: So gründet die Geburtsstunde moderner Philologie und modernen Denkens um 1800 wesentlich darin, dass sich Denken selbst als Bewegung entdeckt und dadurch ein verändertes Sprachbewusstsein provoziert wird.148 Trotz Abstrahierung der Bewegung auf der Ebene des Geistigen, ist Denken und Bewusstsein fest im Leiblichen verankert. Der Philosoph Maurice Merleau-Ponty setzt noch vor aller Kognition ein »Denken in statu nascendi in den Sinnen wohnend« (Paul Good) an.149 Der Schnittpunkt von Bewegen und Denken wird in der phänomenologischen Philosophie im Bereich des Leiblichen angesetzt.150 Dieser zeigt sich nicht nur auf der subjektiven Ebene des Erlebens; auch auf neurophysio-
spiel der Insekten den »Bewusstseinsparoxysmus« als Gegenteil von Konzentration, insofern als deren Bewusstseinsbewegung sich von innen nach außen in starren Regelungen materialisiere (vgl. ebd., S. 154f.). 146 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: »Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge«, in: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays (= Philosophische Bibliothek, Band 357), hrsg. von H.W. Arndt, Hamburg: Meiner 1984, S. 115-134, hier S. 115 zur »Elastizität der Ideen«. Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1128a zum Scherzen als Gewandtheit und als Wissen, sich wohl zu wenden. 147 Howard, Walter: Die Tonmittel der Musik in ihren natürlichen Beziehungen. Intervallische Melodie-Harmonielehre in 250 Thesen, Appeldoorn: Auras 1950, S. 11. Vgl. ähnlich gelagerte Aussagen bei Eugène Ionesco und Friedrich Nietzsche: vgl. E. Ionesco: Tagebuch, S. 28: »Begriffe haben heißt, [...] erstarrt zu sein [...]. Doch ein einfaches, ein neues Warum kann bewirken, daß man weitergeht [...] und alles kommt wieder in Bewegung.« Und vgl. F. Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, S. 462: »In unserm Denken ist das Wesentliche das Einordnen des neuen Materials in die alten Schemata, [...] das Gleich-machen des Neuen.« 148 Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 225 und K.v. Eikels: Die erste Figur, S. 43. 149 Vgl. Good, Paul: Maurice Merleau-Ponty. Eine Einführung, Düsseldorf/Bonn: Paerga 1998, S. 86 zur Erkenntnis, die auf Stufe der Sinnlichkeit geschieht. Vgl. Begriffe wie »Körpergedächtnis« (William Forsythe) und »körperlich-kinästhetische Intelligenz« (Howard Gardner). 150 Vgl. B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 208.
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logischer, zellulärer, hormoneller oder biochemischer/-physikalischer Ebene ist er anzusiedeln.151 Dass die Lokomotion wie z.B. Flanieren oder Reisen die mentale Leistung beeinflusst und ein ›heterotopisches‹ Denken freisetzt, verdeutlicht der Dichter Jean Paul mit seinem Zitat, das eine Wertschätzung gegenüber der motorischen Handlung als einer inspirierenden Quelle literarischer Gedanken ausdrückt: »Wie glänzet man, wie dichtet, erfindet und philosophiert man, wenn man dahin läuft, so wie Montaigne, Rousseau und die Meernesseln nur leuchten, wenn sie sich bewegen.«152 Als Denkender, Fühlender und Handelnder partizipiert der Mensch am soziokulturellen Umfeld. Hineingeboren in eine kollektive Geschichte und Gegenwart von Handlungsprozessen ist seine Stellung sowohl eine exponierte als auch die eines aktiven Mitgestalters.153 Bewegung, Beweglichkeit und Bewegtheit sind innerhalb der sich daraus ergebenden Prozesse bedeutende Begrifflichkeiten und erscheinen, v.a. auch in Verbindung mit dem Leiblichen, als Momente, die Abstraktes und Konkretes überspannen oder Handlungsprozesse bezeichnen.154 So sind z.B. in der Sprache der Politik und Ökonomie, der Verwaltung und Gesetzgebung häufig Termini anzutreffen, die dem Somatischen entlehnt sind.155 Im Sinne eines Geschehens tangiert der Bewegungsbegriff das menschliche Subjekt einerseits im soziologischen Begriff Bewegung, wie noch näher ausgeführt werden wird; andererseits im Reden von Mobilität, meint diese hinsichtlich des postmodernen Individuums im Besonderen auch eine Beweglichkeit zwischen gesellschaftlichen Schichten, die sich parallel zur geografischen Ortsveränderung und zum Raumwechsel als Transgression dar-
151 Der ganze Körper ist am Lernprozess beteiligt (vgl. Vester, Frederic: Denken, Lernen, Vergessen. Was geht in unserem Kopf vor, wie lernt das Gehirn, und wann läßt es uns im Stich?, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1997, S. 157). Neurologisch betrachtet ist die Grundlage kognitiver Prozesse in der Aktivität der Neuronen aufzufinden (vgl. D.B. Linke: Das Gehirn, S. 72). Umgekehrt hat die Körperbewegung große Bedeutung für die kognitive Entwicklung des Kindes; dies wird in den Arbeiten von Jean Piaget und Maria Montessori thematisiert. 152 Jean Paul zit.n. M. Gleich: Mobilität, S. 199. Vgl. Ette, Ottmar: »Aufbruch ins Neue«, in: Der blaue Reiter. Journal für Philosophie 29 (2010), S. 24-28 zu Reisen als Aufbruch ins Neue und zum Denken in/aus dieser Bewegung. 153 Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 174 zum Aufstieg der bewussten Psychen zur Gemeinschaft als »Bewegung von Bewegungen«. 154 Vgl. G. Klein: Bewegung denken, S. 151. 155 Vgl. z.B. Ersitzung (eines Rechts), Einverleibung, Leibrente, Körperschaft, Wirtschaftskörper, Mood Management, Emotionalisierung, Emotiondesgin.
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legt.156 Der Stellenwert von Körper und Bewegung zeigt sich nicht nur in Begrifflichkeiten, sondern spiegelt sich v.a. in deren Rolle als Quelle kultureller Merkmale und gesellschaftlicher Informationen wider. Eine Reflexion auf die Leiblichkeit als Projektionsfläche kultureller Diskurse kann hier sinnvolle Basis sein, da die psycho-physische Existenz auch auf theoretischer Ebene miteinbezogen ist.157 August Nitschke führt in seiner Theorie aus, wie der Mensch in der Interaktion mit der Umgebung spezifische Wirkungen erfährt, die historisch kontextuell verknüpft sind. Kommt es zu notwendig werdenden Veränderungen der Bewegungsweise, ändere sich lt. Nitschke auch die menschliche Wahrnehmung der Welt und gesellschaftlicher Wandel ereigne sich.158 Transformationen von Bewegungsweisen der Menschen führen zu neuen Wahrnehmungen und eröffnen ein neues Feld des Denkens. »Great astronomers understood the motion of the stars because their bodies have experienced motion«, so der Tänzer und Denker Raymond Duncan.159 Diagonal zu den wissenschaftlichen Disziplinen manifestiert sich die Veränderung von leiblicher Bewegung und Wahrnehmung in der Kunst als ästhetischer Ausdruck menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns und wirkt als solcher wiederum auf Denkmodelle und Verstehensweisen zurück. Bewegung in ihrer politischen Dimension ist eng an den Begriff Aufruhr gebunden und wird seit Beginn des 19. Jahrhunderts auch lexikografisch mit der Bedeutung einen Auflauf verursachen, das Volk bewegen registriert, existiert jedoch in diesem Sinne bereits früher.160 Es handelt sich beim Bewegungsbegriff und seinen Synonymen in diesem Kontext also um einen besonderen »sozialen Aggregatszustand« (Florian Deltgen) einer Menschenmenge. Die direkte Wechselwirkung von sozialer Bewegung, bürgerlicher Emanzipation und individueller Leiblichkeit zeigt sich beispielhaft am Aufkommen des Walzer-Tanzes, dem eine primär egalitäre, revolutionäre und demokratische Dimension innewohnt; diese Relevanz unterstreicht das Faktum, dass der Walzer im ausgehenden 18. Jahrhundert ob seiner schnell
156 Vgl. M. Gleich: Mobilität, S. 8 und N. Faust: Körperwissen in Bewegung, S. 54. 157 Vgl. T. Alkemeyer: Bewegung und Gesellschaft, S. 45. 158 Vgl. A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 357ff. 159 Isadora Duncan zit.n. J.B. Alter: Dance and mixed, S. 30. Vgl. A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 346. 160 Vgl. Frese, Jürgen: »Artikel ›Bewegung, politische‹«, in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 1 (1971), S. 880-882, hier S. 880 zur umgangssprachlichen Verwendung von Bewegung seit dem 17. Jahrhundert für eine spontane, schwach koordinierte, vorrevolutionäre Handlung. Vgl. H. Paul (Hg.): Deutsches Wörterbuch, S. 167 zu (bürgerliche) Bewegung, bereits seit 1684 als Synonym für Aufruhr belegt. Vgl. bereits Apg 21,30 zu der sich in Er-/Aufregung befindenden Stadt (altgriech. ekinéthe).
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wirbelnden und autonomen Kreisbewegungen von höfischer Seite als zu vulgär abgelehnt wurde. Doch sein Durchbruch, zunächst auf Ebene der Alltagskultur und schließlich auch des öffentlichen Lebens, führte in einen statusunabhängigen paneuropäischen ›Walzer-Rausch‹, der einen parallel geschehenden revolutionären Umbruch161 innerhalb dieser Epoche markiert.162 Auch im Sprachgebrauch hielt Bewegung – ausgehend vom französischen Vokabel mouvement – zu dieser Zeit in die politisch-soziale Terminologie Einzug, paradigmatisch für die stattfindenden Veränderungen.163 Bewegung wurde zum Synonym für eine organisatorisch lose, jedoch subjektiv erfahrene Einheit, der ein genuin destabilisierendes Moment inhärent ist: (Politische) Bewegungen wollen im kollektiven Vorgehen, ein gemeinsames Interesse fokussierend, festgefahrene Muster auflösen und Verhältnisse umgestalten; charakteristischerweise siedeln sie sich außerhalb etablierter Institutionen an.164 Exemplarisch für diese Bewegungen stehen radikaldemokratische und sozialistische Gruppen mit emanzipatorischen Zielen wie jene um Karl Marx oder Friedrich Engels im ausgehenden 19. Jahrhundert. Ihre Theorien stellten den Bewegungsbegriff ins Zentrum, insofern als sie Fragen nach einem Wandel des gesellschaftlichen Zustandes behandelten.165 Dass sich demgegenüber auch absolutistische, faschistische oder totalitäre Systeme der Bewegung bedienen, verdeutlicht, wie breit sich ihr Bedeutungsspektrum darstellt. Körperliche Bewegungshandlungen können im Sinne der Machtausübung instrumentalisiert und
161 Vgl. den Begriff Revolution – eine starke Bewegung, die Veränderung verursacht. 162 Zur gesellschaftlichen Bedeutung des Walzers vgl. Rémi Hess: »Der Walzer. Geschichte eines Skandals« (1996) sowie J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 271. Vgl. ebenso Klein, Gabriele: FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes, Weinheim/Berlin: Quadriga 1992, S. 105ff. 163 Vgl. J. Frese: Artikel »Bewegung, politische«, S. 880 zum Sieg der »Parti de mouvement« im Jahr 1830. 164 Vgl. Villa, Paula-Irene: »›Sich bewegen, um Verhältnisse zu ändern‹. Räumliche, subjektbezogene und politische Dimensionen des Bewegungsbegriffs in der feministischen Theorie und Praxis«, in: Klein, Bewegung (2004), S. 239-262, hier S. 239ff.; vgl. außerdem folgende Nachschlagewerke: Schnell, Ralf (Hg.): Metzler Lexikon: Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 62f. und Holtmann, Everhard (Hg.): Politik Lexikon München/Wien: Oldenbourg 2000, S. 630. Beispiele für soziale/politische Bewegungen sind die Frauen-, Arbeiter- oder Antiglobalisierungsbewegung, die Zionistische Bewegung, die Black-Power-Bewegung und die Occupy-Wall-Street-Bewegung. 165 Vgl. J. Frese: Artikel »Bewegung, politische«, S. 882 und Nohlen, Diether/Schultze, Rainer-Olaf: Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, München: Beck 2004, S. 868ff.
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deren Einsatz oder Entzug zu wesentlichen Mitteln werden, Herrschaftsansprüche auszudrücken.166 Im Rang eines theoretischen Begriffes, unter Streichung der emanzipatorischen Inhalte, wurde Bewegung im Nationalsozialismus Grundlage definitorischer Aspekte der NSDAP und sollte das dynamische Element der politischen Einheit markieren. Dies steht in Kohärenz mit dem Phänomen einer Massenbewegung der Bevölkerung und einer inhärenten Unruhe. »Alle im Haus waren in der Bewegung, alles war in Bewegung«, schildert der Protagonist in Eginald Schlattners Roman »Der geköpfte Hahn« (1998) die Situation zu dieser Zeit.167 In der Betrachtung von Bewegung als Spiegel gesellschaftlicher Entwicklung zählt auch die Kunst zu Informationsquellen, wird Bewegung als Basis schöpferischen Ausdruckes begriffen. Bewegung ist je nach ästhetischem Schwerpunkt in visuellen und akustischen Künsten unterschiedlich konnotiert; jedoch erweist sie sich nicht nur im Tanz als zentral. Der Tanz ist naturgemäß in Bewegung (im Sinne körperlichen Handelns) verankert – ist diese doch sein Material, weshalb die Kunst des Tanzes rückbezüglich auf die Fundamentalität der Bewegung als elementar aufgefasst werden kann168: Denn sie gehe aus dem Leben selbst hervor, hält Paul Valéry fest.169 Bewegung meint im Tanz spezifisch das Lebendige. Dies kommt v.a. mit der veränderten Ästhetik des modernen Tanzes, verstanden als »dynamisierte Kinetik«, im 20. Jahrhundert zum Tragen170, lässt sich aber auch schon davor feststellen, wie aus einer Anmerkung im »Dictionnaire de la Danse« von 1895 hervorgeht: »[...] ›Donnez plus de mouvement à votre danse‹. Ce qui implique un déploiement plus grand de vie [.] demande à l’élève.«171 Den Tanz zeichnet aus, über das alltägliche Potenzial der Bewegung hinauszugehen; er lebe von den Überschüssen einer Beweglichkeit, erklärt Bernhard Wal-
166 Vgl. P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos, S. 263f. zur Gefahr der Kristallisation der Bewegung. In totalitären Staaten zählt die Einschränkung der Beweglichkeit der Bürger zu wesentlichen Maßnahmen der Beherrschung. 167 Schlattner, Eginald: Der geköpfte Hahn, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2006, S. 185f. 168 Vgl. R.v. Laban: Der moderne Ausdruckstanz in der Erziehung, S. 15ff. sowie M. Wigman: Sprache des Tanzes, S. 53 zu Bewegung als Grundlage des Tanzes. Vgl. G.T. Fechner: Über den Tanz, S. 1 zum Tanz als erste Kunst auf der Welt; Fechner bezieht sich dabei auf den »Tanz der Gestirne«. 169 P. Valéry: Philosophie des Tanzes, S. 243. 170 Vgl. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 9ff. 171 Desrat, George (Hg.): Dictionnaire de la Danse. Historique, Théoretique, Pratique et Bibliographique, Paris: Librairies-Imprimeries Réunies 1895, S. 250.
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denfels, die apragmatisch und nicht zielgerichtet sei.172 Damit, aber auch aufgrund spezifischer Dimensionen wie der Bewegungsrichtung in die Höhe oder der sich entfaltenden Bewegung173, grenzt sich der Einsatz von Bewegung im Tanz von der Bewegung im Alltag, in der Arbeit und im Sport ab. Eine »Artifizierung des Körpers« (Sabine Huschka), wie sie im Tanz geschieht, initiiert lt. Claudia Jescheke eine theatrale Radikalisierung von Bewegungsverhalten und -inszenierung in der bewegten Form.174 Tanz bedient sich menschlicher Bewegungen nicht nur; er setzt die Beweglichkeit explizit in Szene175, um expressive Bewegungsgestalten zu formieren. Der tanzende Körper ignoriert und übersteigt die »Prosa menschlicher Bewegung« (Paul Valéry), die den Alltag bestimmt; trotzdem ist sie ihm Text und damit Basis seiner Sprache und der entstehenden Muster und Techniken.176 Im zeitgenössischen Tanz wird Bewegung wesentlich als Material einer diskursiven Kompetenz verstanden, insofern als der Körper selbst zum komplexen Gebilde und Ereignis von künstlerischer Kommunikation wird.177 Mit diesen Entwicklungen ist eine auf professioneller Ebene praktizierte radikale kinetische epoché verbunden. Das Anhalten gewohnter Bewegungen und eine Verfremdung der vertrauten Bewegungswelt kennzeichne den Tanz zwar generell, meint Waldenfels, mehr noch allerdings zeitgenössische Formen, die damit über tradierte tänzerische Formen, Formeln und Konventionen hinausgehen – ja das Fremde im Tanz selbst aufsuchen.178 Auch der bildenden Kunst widerfährt mit Bewegung ein konstitutives Moment: »Das bildnerische Werk entstand aus Bewegung, ist selber festgelegte Bewegung und wird aufgenommen in Bewegung.«179 Was Paul Klee manifestartig beschreibt, ist einerseits die Rezeption des Kunstwerkes in einem chronologischen Verlauf, die dabei stattfindende Erfahrung des Werkes und der im sukzessiven Lesen gründende
172 B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 226. Vgl. P. Valéry: Philosophie des Tanzes, S. 269. 173 Vgl. Ettel, Helga: »Artikel ›Tanz‹«, in: Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.), Theaterlexikon 1. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles (= Rowohlts Enzyklopädie, Band 55673), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 974-985, hier S. 974. 174 Vgl. C. Jeschke: Tanz als BewegungsText, S. 47. 175 Vgl. B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 234. 176 Vgl. ebd., S. 236. 177 Vgl. C. Jeschke: Tanz als BewegungsText, S. 47. 178 Vgl. B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 234. 179 Paul Klee zit.n. C. Dessauer-Reiners: Das Rhythmische bei Paul Klee, S. 84f.; in Maurice Merleau-Pontys Essay »Das Auge und der Geist« (1961) wird das Thema »Sehen und Bewegen« ausführlich behandelt. Vgl. die Künstlerin Esther Stocker, in: Magazin MuMoK Wien 3 (2006/2007), S. 7: »Was mich fasziniert, ist das Sehen als Handlung, als Bewegung, die noch nicht abgeschlossen ist.«
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Modus der Bildkonstitution; anderseits nimmt er Bezug auf das Fundament des Werkes. Für den Künstler Johannes Itten ist Bewegung in diesem Sinne Grundlage der elementaren Formen Punkt, Linie und Fläche. Diese wiederum verwirklichen abstrakt oder konkret Bewegung im bildnerischen Werk: »Die vollbrachte Menschentat, die das Lebendige, das Bewegende [...] in einem Form- und Farblebewesen realisiert, ist ein Kunstwerk.«180 Im Kunstwerk ist Bewegung als Herausgehobenes eines transitorischen Momentes, in Form einer »außerikonischen Zeitlichkeit« (Christiane Dessauer-Reiners)181 vorhanden – worin sich schließlich das Werk in der bildenden Kunst von jenem in performativen Künsten differenzieren lässt, wie auch in Gottfried Ephraim Lessings Abhandlung über die »Laokoon-Gruppe« ausgeführt wird. Die Arbeit an Plastiken und an der bildlichen Darstellung des beweglichen und bewegten Menschen ist als Spiegel einer kulturanthropologischen Entwicklung ›vom Festen zum Bewegten‹ denkbar: Während das Ideal der Plastik in der griechischen Antike auf dem geschlossenen Sein anstatt auf der Bewegung als stetem Zerbrechen von Festgefügtem gründete, kam es in der Gotik zur Gestaltung des Körpers als Träger der Bewegtheit im Sinne des religiösen Pathos. Michelangelo nutzte die Bewegtheit des Leibes ferner als Mittel, die Plastizität des Körperlichen auszudrücken.182 Für Auguste Rodin am Ende des 19. Jahrhunderts, so Georg Simmel, war die Bewegung Voraussetzung der Harmonie schlechthin: Er habe ein neues Maß von Bewegung in die Figur gebracht, wodurch die innere Lebendigkeit des Menschen, mit allem Fühlen, Denken und Erleben anschaulich gemacht wurde.183 Die weitere Entwicklung führte zur Öffnung der Kunst gegenüber neuen Ausdrucksformen, die Bewegung im Besonderen explizit werden lassen. Die Avantgarde am Umbruch vom 19. auf das 20. Jahrhundert erhob die Wiedergabe der Bewegung als Unsichtbare und der ihr zugrunde liegenden Energie zum Manifest: Bewegung sollte für den Betrachter erlebbar werden. Diese Forderung wurde exemplarisch in der kinetischen Kunst und ihren bewegten Objekten realisiert und schließlich Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung der Performance Kunst radikalisiert, d.h., der Künstler und sein bewegter Leib wurden selbst zum Material.
180 Itten, Johannes: »Über Komposition« (1921), in: Ders., Bildanalysen (1988), S. 92. 181 Vgl. die Thematisierung des »fruchtbaren« Augenblickes, den der bildende Künstler aufgreift und umsetzt in Gottfried Ephraim Lessings »Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie« (1766). 182 Vgl. Jormakka, Kari: Genius locomotionis, Wien: Selene 2005, S. 92. 183 Simmel, Georg: »Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv der Plastik«, in: Nord und Süd. Eine deutsche Monatsschrift 33/386 (1909), S. 189-196, hier S. 190ff.; vgl. B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 239f. zu Auguste Rodins Fähigkeit, die gesehene Bewegung in eine malende Tanzbewegung umzusetzen.
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Abschließend soll nun jenes bewegungsinhärente Moment in den Fokus genommen werden, das über das irdische Leben hinausweist. Der damit konnotierte Begriff Transzendenz fußt auf dem lateinischen transcendere (überschreiten, hinübersteigen) und schließt Bewegung ein. Dem philosophischen Bewegungsbegriff der Antike sind der Vollzug des Überschreitens von Grenzen, das Umschlagen, Heraustreten und Hinüberwechseln wesentliche Bedeutungen.184 Bewegung markiert in diesem Kontext auch einen Prozess der Transformation, einen Vorgang der Verwandlung185 , der das Problem einer Kontradiktion von Aktivität und Ruhe186 auflöst. So kann Ruhe im Sinne einer ›zusammengefalteten‹ Bewegung gedacht werden. Der Gottesbegriff bei Nicolaus Cusanus, dem der Gedanke der ›Ein-Faltung‹ zugehörig ist, verweist auf die complicatio als Kennzeichen des Unbewegten, im Gegensatz zur lebendigen Welt, der als Bewegte die explicatio, die ›Aus-Faltung‹ charakteristisch ist. Auf einer Metaebene durchdringen sich complicatio und explicatio, Ruhe und Aktivität in dynamischer Bewegung.187 Termini, die mit der Frage nach Transzendenz konnotiert sind wie Liebe, Tod, Geist oder Seele zeigen eine Nähe zu Dimensionen von Bewegung. Während Liebe und Geist zumeist im Bild des Lebensmotors aufscheinen, gilt für den Tod dasjenige vom Hinüberführen in eine andere Daseinsform.188 Dieser Transfer wird in der Vorstellung des Totentanzes auf künstlerischer Ebene thematisiert.189 Die Idee des
184 Vgl. F. Kaulbach: Der philosophische Begriff der Bewegung, S. 3ff. 185 Vgl. P. Valéry: Philosophie des Tanzes, S. 243. 186 Bzgl. dieser Kontradiktion vgl. T. Dolidse: Der Begriff der Bewegung in der Gotteslehre Plotins und Gregors von Nyssa, S. 48 sowie B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 109. 187 Vgl. Schulze, Werner: »Musik und Harmonik bei Nikolaus Cusanus«, in: Neubäcker, Harmonik und Glasperlenspiel (1994), S. 5-25, hier S. 14. 188 Vgl. Dante, Alighieri: La divina commedia. Die göttliche Komödie. Italienisch und deutsch (= Sammlung Überlieferung und Weisheit), Basel u.a.: Herder 1989, X,1 sowie XXXIII,144: »L’amore, che move il sole e l’altre stelle«. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, XII,1075b zu Anaxagoras Annahme vom Guten als bewegendes Prinzip. Vgl. T. Dolidse: Der Begriff der Bewegung in der Gotteslehre Plotins und Gregors von Nyssa, S. 65 zu Gregor von Nyssas Ausführungen zur unendlichen Liebesdynamik Gottes. Und vgl. Plotin zit.n. ebd., S. 48 zum »transzendenten Geist«, der durch Bewegung lebt. Vgl. den hebräischen Begriff ruah (Geistin); dieser befindet sich meist mit Verben der Bewegung in Verbindung. Vgl. das Motiv der Bewegung des Übersetzens sowie den Transport über den Fluss Styx in das Totenreich Hades in der griechischen Mythologie. 189 Vgl. Breede, Ellen: Studien zu den lateinischen und deutschsprachlichen Totentanztexten des 13. bis 17. Jahrhunderts, Halle (Saale): Niemeyer 1931, S. 16: »›Totentanz‹ heißt, der Mensch tanzt zu einem anderen Leben ein.«
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›tanzenden Todes‹ und des ›Ständereigens‹ reicht bis in das Altertum zurück und ist später anhand mittelalterlicher Berichte von nächtlichen Tänzen und Liedern der Toten nachweisbar.190 Das Moment des Beweglichen ist hier im Bereich des Visuellen präsent; d.h. in Mimik, Handlungen und Tänzen, speziell im Herumspringen des personifizierten Todes und in der Herabführung der Opfer. Weiters manifestiert es sich im emotionalen – verbal wie physisch expliziten – Ausdruck einer inneren dramatischen Dynamik. Ferner ist auf Ebene der ambivalenten Beziehung zwischen Opfer und personifiziertem Tod eine Spannung auszumachen – erfolgt der Tanz mit dem Schnitter doch meist widerwillig.191 Die nachhaltige Wirkung des Totentanzes wird durch dessen Rezeption in der Musik, Literatur und im (Bühnen-)Tanz belegt.192 Eine Totentanz-Praxis der Gegenwart ist einhergehend mit einer gesellschaftlichen Distanz gegenüber dem Tod jedoch kaum mehr bekannt. Beschreibt der Totentanz den Weg vom Irdischen ins Reich der Toten, ist Bewegung auch für den Weg zum Göttlichen während des Lebens relevant. Die Suche nach Gott193 ist umzudeuten in einen Versuch auf Gott: eine Bewegung, die Gott (suchend) näher kommt.194 Fundierend auf diesem Bild konzipierte Nicolaus Cusanus im 15. Jahrhundert das »Globusspiel«, das die individuelle Bewegung des Men-
190 Vgl. J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 177 zu antiken Kunst-/Bauwerken, auf denen musizierende Skelette und Schreitaufzüge im Bereich der Gräber dargestellt werden. Das älteste noch erhaltene Totentanzspiel »Danza general de la muerte« stammt aus dem 14. Jahrhundert. 191 Vgl. E. Breede: Studien zu den lateinischen und deutschsprachlichen Totentanztexten, S. 88: »›Sagt Ja, sagt Nein/ Getantzt muss sein.‹« 192 Vgl. Welzin, Leonore: »Totentanz. Postmoderne Rückbesinnung und semantischer Wandel«, in: tanzjournal 3 (2007), S. 31-33, hier S. 31 zur »makabren Erotik« des Totentanzes als Persiflage in Claudio Monteverdis »Il ballo delle ingregate« (1608). Als Beispiele für weitere Musikwerke, die auf die Totentanz-Thematik Bezug nehmen, seien folgende genannt: György Ligeti: »Le Grand macabre« (1978), Hugo Distler: »Totentanz (op. 12, 2)« (1934) und Werner Schulze: »Concerto Roberto/Totentanz« (2008). Zum Vorkommen des Totentanzes in der Literatur vgl. z.B. Abraham a Sancta Clara: »Mercks Wienn« (1680), Johann Wolfgang von Goethe: »Totentanz (Gedicht)« (1815) und Bertolt Brechts Dramenfragment »Salzburger Totentanz« (1948). Tanzwerke, die eine Anknüpfung zum Totentanz aufweisen sind z.B. Kurt Jooss: »Der grüne Tisch« (1932) und John Neumeier: »Tod in Venedig« (2003). 193 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die Fröhliche Wissenschaft (= Universalbibliothek, Band 7115), Stuttgart: Reclam 2000, S. 141, III (480): »Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie ›Ich suche Gott! [...]‹.« 194 Nicolai de Cusa: Dialogus de ludo globi, I 59,5.
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schen, Reflex auf sein Leben, zu Gott als Mitte des Seins und daraus folgend ein transcendere zum Inhalt hat195 : Eine deformierte Kugel, Metapher für den imperfekten Menschen, rollt spiralartig auf das Zentrum der Spielfläche zu. Ziel ist, dass »der Globus im Innern des Kreises zur Ruhe kommen soll von der Bewegung. Und je näher dem Mittelpunkt, umso mehr gewinnt er nach der Zahl.«196 Das im lateinischen Vokabel transcendere aufgefundene Bewegungsmoment des Überschreitens kann, wie bereits der Totentanz und das Globusspiel gezeigt haben, auf die Ebene konkreter Bewegungshandlungen transferiert und damit sichtbar gemacht werden. Darüber hinaus kann im Tanz per se ein transzendentes Moment verortet werden, das in einer absoluten Befreiung aus alltäglichen Zwängen197 sowie in einem Transzendieren der Zeit im erfüllten Augenblick besteht: »Dancing is related to boundary situations« (Paul Spencer)198. Aufgrund dieser gleichzeitigen Angebundenheit an Leiblichkeit wie Transzendenz ist der Tanz auch ideales Medium, um Trancezustände zu induzieren. Tänze sind traditionell Auslöser einer mystischen Erfahrung, welche die Grenzen des Erkenn- und Fassbaren erweitert und den Bruch mit einem kulturellen normierten Wachheitszustand vollzieht.199 In den verschiedenen kulturell gebundenen Kulten weist der Tanz eine herausragende Bedeutung auf; selbst im Christentum sind einer verbreiteten Leibfeindlichkeit zum Trotz subkulturelle Spuren eines Einbezuges des Tanzes innerhalb der Liturgie aufzufin-
195 Vgl. ebd., I 54,1. 196 Ebd., I 50,12 sowie I 58,25. 197 Vgl. H. Ettel, Artikel »Tanz«, S. 979f. sowie Lex, Maja /Padilla, Graziela: Elementarer Tanz, Wilhelmshaven: Noetzel 2006, S. 160 und Zacharias, Gerhard: Ballett - Gestalt und Wesen. Die Symbolsprache im europäischen Schautanz der Neuzeit (= Fischer-Taschenbücher: Geist und Psyche, Band 12655), Frankfurt am Main: Fischer 1997, S. 41. 198 Paul Spencer zit.n. Gerlitz, Peter: »Artikel ›Tanz I. Religionsgeschichtlich‹«, in: Müller, Gerhard (Hg.), Theologische Realenzyklopädie. Band XXXII, Berlin/New York: Walter de Gruyter 2001, S. 642-647, hier S. 642 sowie Fermor, Gotthard: »Artikel ›Tanz II. Praktisch-theologisch‹«, in: Müller, Theologische Realenzyklopädie (2001), S. 647655, hier S. 648. Vgl. Fritz Böhme zit.n. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 71 zu Mary Wigmans Tanz »Götzendienst« und der Ekstase als schöpferische Grundlage: »Wenige ahnten, daß in diesem Tanz [...] ein Reich entriegelt wurde [...]. Das waren erste Schöpfungen, die aus der Bewegungsekstase stammten [...].« 199 Vgl. N. Faust: Körperwissen in Bewegung, S. 37 und Hengst, Dirk Patrick: Tanz, Trance und Ekstase. Die rituellen Wurzeln der Kreativität, Bad Honnef: Horlemann 2003, S. 98. Vgl. Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft, Band 126), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 172 zum Eintritt der Trance des Schamanen durch den Tanz. Vgl. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 108: »Nur im Tanze weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden.«
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den. Belegte Beispiele sind der Reigen von St. Léonard, der Tanz des Bischofs in der Kirche von St. Martial, der österliche Tanz der Geistlichen in Besançon oder das rituelle österliche Tanzspiel in Auxerre.200 Außerhalb der Liturgie befindliche ekstatische Tanzpraxen verlaufen als »signa einer religiösen Volkskultur« (Gotthard Fermor) parallel zur Haltung der Amtskirche.201 Die damit assoziierte »Tanzwut« bildete einen Kulminationspunkt tänzerischen Wahns, ekstatischer Zustände und religiöser Vorstellung in unterschiedlichen Ausformungen, die von christlicher Seite mit Sündhaftigkeit aufgeladen wurde.202 Es handelt sich bei Äußerungen der »Tanzwut«, wie Stefan Winkle in seinen Artikeln darlegt, um komplexe Konstellationen, die historisch und kulturell bedingt aus verschiedenen Aspekten zusammensetzt zu betrachtet sind. Komponenten wie medizinische Diagnosen, zwanghafte Nachahmung grotesker Krämpfe sowie exogen beeinflusste seelische Erregung müssen bei Deutungen miteinander verknüpft werden, um diesem vielschichtigen Phänomen gerecht zu werden.203 Um tranceartige Zustände zu erzeugen, bedarf es bestimmter Bewegungsfiguren, die sich in gleichmäßig insistierender Wiederkehr in ihrer Intensität steigern
200 Vgl. G. Fermor: Artikel »Tanz II. Praktisch-theologisch«, S. 649 sowie J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 129. 201 Vgl. G. Fermor: Artikel »Tanz II. Praktisch-theologisch«, S. 649 sowie Jungmann, Irmgard: Tanz, Tod und Teufel. Tanzkultur in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung des 15. und 16. Jahrhunderts (= Musiksoziologie, Band 11), Kassel u.a.: Bärenreiter 2002, S. 69ff. zu Normen und Verboten der Kirche bzgl. des Tanzes im 15. Jahrhundert. Vgl. Winkle, Stefan: »Die Tanzwut. Echte und scheinbare Enzephalitiden«, in: Hamburger Ärzteblatt 8 (2000), S. 319-325, hier S. 320 zur mystischen Praxis in der Gotik als eine Ausnahme dieser Verbote. 202 Vgl. den Terminus Chorea sancti Viti (Veitstanz). Vgl. R. Hess: Der Walzer, S. 122ff. sowie J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 123 zu Euphorie und hysterischer Hypnose. Vgl. S. Winkle: Die Tanzwut, in: Hamburger Ärzteblatt 6-7 (2000), S. 240245, hier S. 240: Meist handelte es sich um Enzephalitis oder Epilepsie. Vgl. ebd., S. 320f. zu einzelnen Kranken als Auslöser psychischer Tanzepidemien. Auch der Tarentismus zählt hier dazu. Vgl. Ders.: Die Tanzwut, in: Hamburger Ärzteblatt 9 (2000), S. 374-380, hier S. 378: Die panische Angst vor der Tarantel, die angeblich eine tödliche Tanzwut auslöste, veranlasste die Betroffenen – similia similibus curentur – wild zu tanzen, wovon sich auch Umstehende zum Mitttun haben anregen lassen. 203 Vgl. S. Winkle: Die Tanzwut, in: Hamburger Ärzteblatt 8 (2000), S. 319-325, hier S. 319f. zu Aspekten wie gesellschaftlichen Umwälzungen, Epidemien, Kriegen, religiösen Bewegungen und extremen Temperaturen.
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und beständig akzelerieren, wozu insbesondere die Drehung zählt.204 Paul Valéry etwa greift in seinem Tanzdialog die konstitutive Bedeutung des Drehens um die eigene Achse für das »Vordringen in eine andere Welt« auf.205 Die Bewegungsmystik der Derwische im Islam steht exemplarisch für diese Drehtanzpraxis. In »Zur Philosophie der Musik« (1974) beschreibt Ernst Bloch die Drastik dieses Rundtanzes, dem »Krämpfe, Ohnmacht und siderische Ekstase« folgen.206 Aber selbst die westeuropäische Kultur kennt Formen ekstatisch anmutender Drehtänze; bekanntestes Beispiel ist der Walzer. Sein Charakteristikum besteht – der Choreografie der tanzenden Derwische ähnlich – in der doppelten Bewegung, die einerseits die Drehung um die eigene Achse und andererseits die Erzeugung von Kreisfiguren in der Gruppe und im Raum meint. Lehnt sich der Walzer mit diesem Grundprinzip an die Bewegung der Gestirne an, wird mit ihm eine kosmische und transzendente Dimension assoziiert.207 Das rhythmische Grundmuster – ein Dreier-Takt mit betonter Eins – gleicht einem »bakchischen Bekenntnis zum Taumel«208 und übt eine starke Anziehungskraft aus: »Es gibt doch gewiß auf der Welt keine bessere Motion, als einen recht raschen Walzer nach einer gut gestrichenen Geige«, schreibt Gustav Theodor Fechner in seinem Aufsatz »Über den Tanz« (1824)209. Dass sich dies im 19. Jahrhundert förmlich zu einer Manie entwickelte210, bestätigen auch literarische Zeugnisse wie folgendes Zitat aus dem Roman »David Copperfield« (1849/50) von
204 Vgl. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt am Main: Athenäum 1964, S. 241, weiters G. Klein: FrauenKörperTanz, S. 108 sowie G. Zacharias: Ballett, S. 100ff.; das Motiv des Schwebens weist ebenso eine Verbindung zur Transzendenz auf. Vgl. Herloßsohn, Carl G.R.: Damen Conversations Lexikon. Band 10, Leipzig: Volckmar 1838, S. 26: »Wenn du den Boden kaum berührest/ Hinschwebend [...]/ In jedem Aug’ ist dann zu lesen,/ Du seiest nicht ein irdisch Wesen/ Du seiest Äther, Seelen ganz«. 205 P. Valéry: Die Seele und der Tanz, S. 36. Vgl. Mary Wigman zit.n. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 185: »Am selben Fleck gebannt und sich einspinnend in die Monotonie der Drehbewegung, sich allmählich verlierend [...].« 206 Bloch, Ernst: Zur Philosophie der Musik (= Bibliothek Suhrkamp, Band 398), hrsg. von K. Bloch, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 59. 207 Vgl. R. Hess: Der Walzer, S. 19 und Wosien, Bernhard: Der Weg des Tänzers. Selbsterfahrung durch Bewegung, hrsg. von M.-G. Wosien, Linz: Veritas 1988, S. 49 zum makrokosmischen Vergleich. 208 Vgl. J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 269. 209 G.T. Fechner: Über den Tanz, S. 2f. 210 Vgl. R. Hess: Der Walzer, S. 126 und J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 269.
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Charles Dickens zeigt: »Ich tanze den Walzer [...] ich schwimme im Raum in einem Zustand seliger Trunkenheit [...].«211 An dieser Stelle schließt sich der Kreis im phänomenologischen Abriss von Bewegung. Die Untersuchung von Bewegungserscheinungen, die Vitales generieren und aufrecht erhalten, stand am Anfang; Betrachtungen, die über die konkrete Realität hinaus führen, haben das Kapitel beendet.
211 Dickens, Charles: David Copperfield, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2009, S. 357. Vgl. auch Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werther, hrsg. von E. Trunz, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978, S. 24ff.
Bewegung als musikimmanentes Phänomen
Vorbemerkung zur Systematik
Die These, Bewegung sei der Musik in vielerlei Hinsicht implizit, kann zunächst noch nicht auf das Phänomen Musik generell bezogen werden; vielmehr bedarf es der Auseinandersetzung mit einzelnen Parametern, Bereichen und Erscheinweisen von Musik, an denen Bewegung insbesondere explizit wird oder mit jenen Gegebenheiten in der Musik, die auf Bewegung verweisen.1 Dabei werden im Kleinen »überwölbende Sinnbezirke« (Jost Trier) und wird im Großen schließlich ein Feld (an Wörtern) generiert; die Zusammengehörigkeit der versammelten Wörter ist rein inhaltlicher Natur und besteht – linguistisch betrachtet – weder unbedingt aufgrund etymologischer Verwandtschaft, noch aufgrund von Wortbildungsarten, grammatischen Kategorien oder Flexionsklassen.2 Begriffliche Diversität wie auch Fragen nach Zusammenhängen der aufgefundenen Ergebnisse in den Antworten auf die Subfragen prägen die kommenden Kapitel. Als adäquater Ausgangspunkt für eine systematische Gliederung bietet sich der Grundgedanke der von Jost Trier begründeten Wortfeldtheorie an. Werden mit dem Feldbegriff lebendige sprachliche Wirklichkeiten zwischen den Einzelworten und dem Wortschatzganzen offenbar3, kann dieser innerhalb der Untersuchung von Bewegung in der Musik als ein geradezu prädestiniertes Denkmittel bezeichnet werden. Wortfeld meint im Sinne Triers eine »Gruppe von Wörtern, die inhaltlich einander eng benachbart sind und die sich vermöge Interdependenz ihre Leistungen gegenseitig zuweisen«4. Über den Bereich
1
Explizit wird Bewegung in der Musik z.B. am Rhythmus hingegen z.B. Visualisierung
2
Vgl. Trier, Jost: »Deutsche Bedeutungsforschung« (1934), in: Ders., Aufsätze und Vor-
3
Vgl. Ders.: »Das sprachliche Feld. Eine Auseinandersetzung« (1934), in: Ders., Aufsätze
4
Ders.: »Altes und Neues vom sprachlichen Feld« (1968), in: Ders., Aufsätze und Vorträ-
von Musik mehr auf Bewegung verweist. träge zur Wortfeldtheorie (1973), S. 110-144, hier S. 129. und Vorträge zur Wortfeldtheorie (1973), S. 145-178, hier S. 148. ge zur Wortfeldtheorie (1973), S. 188-199, hier S. 189. Im Gegensatz zur Behandlung des Wortfeldes in der Linguistik kommt es hier jedoch weder zu einem vertikalen (verschie-
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Bewegung in der Musik wird also ein »Netzwerk geworfen«, dessen spezifische »Knüpfstruktur« bestimmte begriffliche Entitäten herausgreift.5 Es handelt sich beim Wortfeld – und damit auch bei folgenden Kapiteln – nicht um eine bloß summativ angelegte Collage von Wörtern, sondern um ein erfülltes Kraftfeld, innerhalb dessen das Einzelwort seine inhaltliche Definition erst aufgrund der Zugehörigkeit zum Feld erfährt.6 In diesem »Miteinandersein der Worte« (Jost Trier) verteilt sich der Fokus gleichmäßig auf alle Termini. Einerseits entsteht dadurch ein inhaltlich zusammengehöriger Teilausschnitt, andererseits werden durch die einzelnen Wörter Grenzen konstituiert.7 Zum Begriff Bewegung, wie er in der Musik aufscheint, zurückkehrend: Dieser ist im Sinne eines spezifischen Phänomens sowohl Teil des Gefüges als auch im Sinne eines Verbindenden zwischen allen Feldbegriffen von ihnen abgehoben.8 Erzeugt die Vielfalt der Bewegungsdimensionen in der Musik auch Überlappungen, Vagheiten und Widersprüche, wird dieses methodische ›Defizit‹ konstruktiv auf eine positive Ebene verschoben: Denn jedes flexibel positionierte Einzelwort empfängt seine inhaltliche begriffliche Bestimmtheit erst vom Gefüge des Ganzen9; so Trier: »Wir haben das Wort nur im Zusammenhang dieses Ganzen. [...] es WIRD verstanden IM MASSE der Gegenwärtigkeit dieses Ganzen.«10 Basierend auf der theoretischen Klärung der Termini im Wortfeld und der Relevanz der Begriffe bezogen auf das Feldganze lassen sich die Ergebnisse der Frage nach dem Phänomen Bewegung in der Musik vielschichtig darstellen. Im Wissen darum, dass die Musik nicht existiert, wird von einer gedanklich organisierten Einheit ausgegangen, deren Un-Fassbarkeit zugleich im Wortfeld Bewegung veranschaulicht wird. Die nun folgenden Kapitel erfassen den Bewegungsbegriff bezüglich seiner Erscheinungsweisen und seines Stellenwertes und klassifizieren die im Wortfeld auffindbaren Gemeinsamkeiten.
dene Epochen) noch zu einem horizontalen (verschiedene Sprachen) Vergleich des Wortfeldes. 5
Vgl. ebd., S. 191.
6
Vgl. A.v.d. Lee/O. Reichmann: Einführung in die Geschichte der Feldtheorie, S.13.
7
Vgl. J. Trier: Über Wort- und Begriffsfelder, S. 40f.
8
Vgl. A.v.d. Lee/O. Reichmann: Einführung in die Geschichte der Feldtheorie, S. 29ff.
9
Vgl. J. Trier: Über Wort- und Begriffsfelder, S. 41.
10 Ebd., S. 43f.
1. Bewegung im Kontext intramusikalischer Parameter
Intramusikalische Parameter stellen die elementaren Grundlagen der Musik dar. Sie stehen im Umfeld von Fragen nach dem ästhetischen Material der Musik sowie nach dem performativen Prozess, d.h. nach Musik als »Sucession« (Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling) im Sinne einer »fortströmenden zeitlichen Bewegung« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel).1 Sind diese Parameter Teile des Wortfeldes Bewegung, so werden in dieser Zugehörigkeit einerseits ihre unterschiedlichen Bezüge zueinander, andererseits die Unschärfen in der Abgrenzung ihres Wesens und damit verbundener Funktionen manifest. In der Musik-Literatur werden sie als physikalische Realitäten und Maße, als Faktoren, Material und Gestaltungsprinzipien verstanden, werden als Bezeichnung für spezifische Aktivitäten gebraucht, sind Voraussetzung für Bewegung und Vitalität oder deren Synonyme; kurzum, sie unterliegen einer Bedeutungsvielfalt und greifen vielfach ineinander.2 Die Quellen antiker Autoren verdeutlichen, dass Bewegung in Theorie und Praxis der musiké3 mehrdimensional als fundamental für das Material und die Grundprinzipien, auf denen der gestaltete Verlauf des Musischen gründet, erachtet wurde: Demnach beruht Erklingendes (phoné) auf (unsichtbarer) Bewegung und ist (in) Bewegung; Rhythmus, Tempo und Form beziehen ihr Wesen unmittelbar aus der subjektiv wahrnehmbaren und von außen sichtbaren kínesis sómatos. Und in allen genannten bewegungsaffinen Parametern des Musischen entäußern sich zudem sinnvolle Verhältnisse von Zahlen. Was sich in diesem musiké-Verständnis aus1
Der Musiktheoretiker und -psychologe Ernst Kurth widmete sich den Parametern Melodik, Rhythmik und Form unter dem Aspekt der Erscheinungsformen eines Bewegungsablaufes (vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 123).
2
Vgl. verschiedene Nachschlagewerke sowie die musiktheoretische Fachliteratur quer
3
Angemerkt sei, dass der musiké-Begriff inhaltlich signifikant vom aktuellen Musikbegriff
durch die Jahrhunderte. divergiert.
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drückt, ist die Verortung musikalischer Grundlagen im begrifflich-phänomenalen Milieu von Bewegung wie sie von vielen Theoretikern auch nach der Antike bis in die Gegenwart erwähnt wird. Eine Charakteristik elementarer Wesensmomente wie Schwingung, Proportion, Rhythmus, Melodie und Harmonie über ihre Verbindung mit oder ihre Wurzel in Bewegung kennzeichnet nicht zuletzt die zwischen den am musikalischen Geschehen beteiligten Parameter bestehende Interdependenz und verweist schließlich auf die interferierenden Koordinaten Zeit, Raum, Kraft und Form, die wiederum für Bewegung konstitutiv sind. Zeit und Raum bilden Handlungsmodalitäten, über die sich Kräfte äußern können und eine Gestaltung von Bewegung, eine Form realisieren lässt. Im ästhetischen, spezifisch auch im musikästhetischen Diskurs spielt die Auseinandersetzung mit Fragen nach räumlichen, zeitlichen, formalen und energetischen Determinanten sowie deren Interaktionen eine wesentliche Rolle; der Bewegungsbegriff bildet hier vielerorts einen zentralen Anknüpfungspunkt.4
1.1 S CHWINGUNG Die physikalische Realität des Klanges zeugt von einem Ereignis in Raum und Zeit5: »Whatever they are, sounds are either events or processes.«6 Klänge manifestieren sich in der menschlichen Hörwelt nicht als in sich ruhende, dinghafte Substanzen, sondern vielmehr als Werdende und daher Ortlose, wie Bernhard Walden-
4
Die Interdepenzen von Raum, Zeit, Kraft und Form werden vielfach in der bildenden Kunst thematisiert, z.B. bei Johannes Itten: »Analysen alter Meister« (1921) oder Wassily Kandinsky: »Über die Formfrage« (1912), aber auch in der (Musik-)Ästhetik, z.B. bei Georg Lukács: »Ästhetik. II« (1972), Carl Dahlhaus: »Musikästhetik« (1967) oder Ernst Kurth: »Bruckner. Band 2« (1925). In der Musiktheorie ist der Begriffskomplex KraftEnergie-Dynamik, der auch auf Raumempfindungen verweist ein zentrales Thema bei Heinrich Schenker, Ernst Kurth, Hans Mersmann und August Halm. In der Rhythmischen Erziehung sind Zeit, Kraft, Raum und Form als Musik und Bewegung übergreifende Parameter von grundlegender Bedeutung, vgl. z.B. Elfriede Feudel: »Dynamische Pädagogik« (1963).
5
Dies wird bei Schilling, Gustav (Red.): Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften oder Universal-Lexicon der Tonkunst. Erster Band, Stuttgart: H. Köhler 1840, S. 610 betont, wenn hinsichtlich der Musik eine Bewegung im Raum und eine in der Zeit unterschieden und Ton als »Ereignis« (im Raum) und »Veränderung« (in der Zeit) beschrieben wird.
6
R. Scruton: The aesthetics of music, S. 9.
B EWEGUNG IM K ONTEXT INTRAMUSIKALISCHER P ARAMETER
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fels anmerkt.7 Mit Bewegung wird hier – über ein metaphorisches Verständnis im Sinne einer Umwandlung hinausgehend – ein konkretes Phänomen auf mehreren Ebenen bezeichnet, das für den Klang verantwortlich zeichnet. »Wenn alles unbeweglich wäre, müsste auch alles todstill sein – Schall, Klang rühren aus Bewegung her«, schreibt Johann Mattheson in seinem Traktat aus dem 18. Jahrhundert.8 So hat eine Deskription des musikalischen Basismaterials Klang wesentlich mit jenen Formen der Bewegung zu tun, die in Relation zum Klang-Körper, zur Luft und menschlichen Physis, im Speziellen zu den Sinnesorganen, stehen.9 »Sonus autem causatur ex motu.«10 Dieses Zitat des Thomas von Aquin verweist darauf, dass die Elastizität des potenziell klingenden Objektes sowie die impulshafte Be-Rührung, die den Körper aus der Ruhe bringt und – wie ältere Nachschlagewerke es ausdrücken – in »Zitterung« versetzt, Voraussetzungen jeder Klangerzeugung darstellen.11 Sowohl die körperliche Materialität als auch die Art und Weise der Anregung sind maßgeblich für das spezifische Klangergebnis verantwortlich.12 Die entstandene Schwingung wird zur »Nachricht der Entstehungsbedingungen« (Helmut Lachenmann), worin sich die jeweils unterschiedlichen Formen mechanischer Überwindung des Ruhezustandes und die daraus resultierende Bewegung des Materials, dem spezifische »Mitgeräusche« bereits immanent sind, akustisch bemerkbar machen; mit Waldenfels beinahe poetisch ausgedrückt: »[...] das Holz der Stradivari behält
7
Vgl. Waldenfels, Bernhard: »Klangereignisse«, in: Kilger, Gerhard (Hg.), Macht Musik. Musik als Glück und Nutzen für das Leben, Köln: Wienand 2005, S. 20-29, hier S. 23 sowie Ders.: Sinnesschwellen, S. 194.
8
Vgl. Mattheson, Johann: Der vollkommene Capellmeister. Nachdruck von 1739 (= Do-
9
Die Ursache des Klanges in Bewegung wird auch bei Theoretikern der griechischen An-
cumenta musicologica, Band V), Kassel/Basel: Bärenreiter 1954, S. 9 (§6). tike thematisiert, so z.B. bei Euklid: »Sectio canonis«, Archytas von Tarent: »Fragmente der Harmonik« oder Aristeides Quintilianus: »De musica«. 10 Thomas von Aquin zit.n. Burbach, Hermann-Josef: Studien zur Musikanschauung des Thomas von Aquin (= Kölner Beiträge zur Musikforschung, Band XXXIV), Regensburg: Bosse 1966, S. 28 (»Der Klang aber wird durch Bewegung verursacht.«). 11 Vgl. ebd.; zur Bewegung (Operation, Berührung) des Körpers bei der Klangerzeugung vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: »Tonlehre«, in: Ders., Schriften zur Botanik und Wissenschaftslehre (= Gesamtausgabe, Band 39), München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1963, S. 208-121, hier S. 210. 12 Vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Band II, Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1955, S. 293: »Die [.] Töne erhalten nicht nur ihren Klang, sondern auch die näher abgeschlossene Bestimmtheit desselben durch einen schwingenden Körper.« Vgl. weiters Sachs, Curt: Handbuch der Musikinstrumentenkunde, Hildesheim: G. Olms 1967, S. 14 sowie ebd., S. 123 zu Erregungsart und Klangerregern.
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etwas Hölzernes und das Blech, das als Trompete aufwacht, behält etwas Blechernes. Glasharfe und Hammerklavier erinnern uns an die Stofflichkeit der Klänge.«13 Im Körperlichen seine Ursache nehmend teilt sich die Schwingung der Luft mit. Ton ist gleichsam »Luftsubstanz« (Novalis); die erzeugte Vibration pflanzt sich in der Umgebung fort.14 Dies bedeutet, dass in der Luft periodische Druckschwankungen evoziert werden, die aus der Einwirkung von Stößen auf die Luft resultieren, was eine Verdichtung der ungleichmäßig verteilten Luftmoleküle verursacht. Die kleinsten Moleküle schwingen nun (lokal) um ihre Ruhelage. Aufgrund der periodisch wechselnden – sich annähernden und wieder distanzierenden – Bewegung der Moleküle, ergo in der Weitergabe der Bewegung eines bewegten Teilchens an ein anderes, entsteht eine spezielle Dichtewelle: die Schallwelle. Im Gegensatz zur lokalen Schwingung der Teilchen stellt diese in ihrer Ausbreitung ein räumliches und zeitliches Fortschreiten eines Bewegungs-›Zustandes‹ auf dem Übertragungsweg vom Sender zum Empfänger dar. Es handelt sich, präzise formuliert, jedoch nicht um eine Bewegung der Luft, sondern um das Signal, das sich in der Luft fortbewegt.15 Die Schallwelle als »Klangbewegung«16 zeichnet eine innere Dynamik
13 B. Waldenfels: Klangereignisse, S. 23. 14 Der Aspekt der in Bewegung versetzten Luft scheint in der Literatur an vielen Stellen auf. So wird auch bei Aristeides Quintilianus: De musica. Von der Musik, erl. von R. Schäfke, Berlin-Schöneberg: Hesse 1937, I,7 nach erschütterter Luft und Erschütterung der Luft gefragt. Bei Vitruv: Zehn Bücher über die Architektur (De architectura libri decem), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, V,109 wird Schall als »fließender Hauch von Luft« bezeichnet. Vgl. weiters Boëthius, Anicius Manlius Severinus: Fünf Bücher über die Musik, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1985, I,14: »Wenn [...] ein Luftstoss einen Ton erzeugt hat, so treibt er zunächst einen anderen Luftstoss an und setzt [...] einen runden Luftstrom in Bewegung.« Verschiedene Nachschlagewerke aus dem 18. und 19. Jahrhundert beschreiben die Luft als Medium, deren Elastizität, den Schall als Impuls für die Bewegung der Luft und den Klang als Bewegung der Luft. 15 Vgl. Borucki, Hans: Einführung in die Akustik. Mannheim/Wien/Zürich: BI-Wissenschaftsverlag 1989, S. 111f., weiters Mazzola, Guerino: Geometrie der Töne. Elemente der mathematischen Musiktheorie, Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser 1990, S. 15 sowie Hall, Donald E.: Musikalische Akustik, Ein Handbuch (= Veröffentlichung des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe), Mainz u.a.: Schott 1997, S. 22, Brüderlin, René: Akustik für Musiker. Eine Einführung für Lernende, Ausübende und Musikliebhaber (= Bosse-Musik-Paperback, Band 10), Regensburg: Bosse 1990, S. 19f. und Guicking, Dieter: »Artikel ›Schwingung‹«, in: Rieländer, Michael M. (Hg.), Reallexikon der Akustik, Frankfurt am Main: E. Bochinsky 1982, S. 344f., hier S. 344. 16 Mendel, Hermann (Hg.): Musikalisches Conversations-Lexikon. Eine Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften. Band 1, Berlin: L. Heimann 1878, S. 113.
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aus, die in der Bewegung von einem Ort zum anderen und gleichermaßen in der ihr innewohnenden Entwicklung und Veränderung innerhalb eines Zeitraumes gründet. Aufgrund dieser Elastizität und Bewegungskraft ist es möglich, dass die Schwingungsenergie der Luftmoleküle über eine Aktionskette den Empfänger erreicht und sich der Klangimpuls in Form einer bewegten Struktur in der menschlichen Physis einprägt.17 Gelangt die Schallwelle zum menschlichen Ohr, affizieren die periodischen Schwingungen das Trommelfell (membrana tympanica)18, von wo aus die initiierte Bewegung über die Mechanik der Gehörknöchelchen im Mittelohr zur Basilarmembran am Eingang des Innenohres weitergeleitet wird und wellenartig in der Flüssigkeit der Schnecke (Cochlea) expandiert. Hier befinden sich die Härchen des Corti-Organes. Werden die Stereozilien einer Haarzelle in eine bestimmte Richtung gelenkt, kommt es in den Neuronen zur Auslösung elektrischer Impulse, die schließlich an das Gehirn transferiert werden.19 Die spezielle Bewegungsform Schwingung verbindet also Klangquelle, Spieler, Übertragungsmedium und Empfänger miteinander und führt im Zusammenspiel von Körper, Luft und/oder Flüssigkeiten zum Tonereignis in der menschlichen Wahrnehmung.20 Dass bei diesem von einem ›ganzleiblichen‹ Resonieren auszugehen ist, das neben der auditiven auch weitere sensorische Ebenen inkludiert, unterstreicht das konkrete Moment der Schwingung; v.a. die taktile Wahrnehmung nimmt eine wichtige Rolle ein. Im Bewegungsmoment der Schwingung kreuzen sich Zu-Hören, Be-Rühren, Sich-Rühren und An-Rühren. So schreibt Ernst Bloch: »[.] wir können als Hörende auch gleichsam noch nahe tasten. Das Ohr ist zu einem geringen Teil stärker als das Auge in die Haut noch eingebettet.«21 Obwohl Ton-
17 Vgl. Roederer, Juan G.: Physikalische und psychoakustische Grundlagen der Musik, Berlin/Heidelberg: Springer 2000, S. 82 und Ansermet, Ernest: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein (= Serie Piper, Band 388), München: Piper 1985, S. 33. 18 Vgl. Vitruv: De architectura, V,109 zum Schall, der infolge der Berührung des Gehörsinnes wahrnehmbar werde. 19 Vgl. J.G. Roederer: Physikalische und psychoakustische Grundlagen der Musik, S. 177, weiters ebd., S. 19 und ebd., S. 66 sowie F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 79. 20 Vgl. Studer, André M.: Vernimm das Lied des Alls in dir! Einführung in die Harmonik (= Schriften über Harmonik, Band 18), Bern: Kreis der Freunde um Hans Kayser 1990, S. 32. 21 E. Bloch: Zur Philosophie der Musik, S. 89. Ähnlich wird bei Schafer, Raymond Murray: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens, Frankfurt am Main: Athenäum 1988, S. 19 Hören als »Tasten aus der Ferne« beschrieben. Johann Wolfgang von Goethe nimmt auf die Erkenntnis schwingender Bewegung durch Anblick/Betasten des Körpers Bezug (vgl. J.W.v. Goethe: Tonlehre, S. 21). Zur Bedeutung der taktilen Schallwahrneh-
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phänomen und Schwingung keine Synonyme darstellen, weisen sie eine starke Affinität auf: Reale Materie und virtuelles Phänomen, Sicht-, Tast- und Hörbarkeit sind im Sinne Hans Kaysers keine additiven Elemente, sondern unterschiedliche Sphären, die jeweils aufeinander verweisen.22 Die ursächliche Verknüpfung von Schwingungsbewegung und Klang erfährt eine weitere Steigerung ihrer Relevanz, sobald die Fundamentalität der Bewegungsform Schwingung in Bezug auf das Leben insgesamt herangezogen wird. Über ihre Bedeutung im Hin- und Herbewegen (zittern, schwanken, vibrieren, oszillieren)23 verweisen z.B. lexikalische Einträge aus dem 18. und 19. Jahrhundert wie bei Jacob und Wilhelm Grimm auf den Stellenwert von Schwingung als ›Lebensbewegung‹. Schwingung ist gleichsam »Feier des Lebens« (Hugo Kükelhaus).24 In ihrer Bedeutung ist sie neben Regsamkeit, Schwung, lebhafter Bewegung und Aufregung auch an die Termini Veränderung sowie völliges Regen gekoppelt. Wurzelt der Bewegungsbegriff in ahd. bi-wegan, das wiegen, Waage, Hin- und Herbewegen subsumiert, kann Schwingung als eine ›Ur-Bewegung‹ betrachtet werden. Ihr Spezifikum ist die Destruktion einer Balance aufgrund der einwirkenden Widerstandskraft. Dadurch kommt es zu einer durch Rückstellkräfte forcierten Gegenbewegung. Das Wechselspiel von Aktion und Ruhe, von Spannung und Lösung, das die Wiederherstellung des ursprünglichen Gleichgewichtszustandes sucht, ma-
mung und der Schalleitung über die Knochen in der Musikwahrnehmung von gehörlosen Menschen vgl. Haase, Rudolf: Die harmonikalen Wurzeln der Musik (= Beiträge zur harmonikalen Grundlagenforschung, Band 2), Wien: Lafite 1969, S. 46, R. Scruton: The aesthetics of music, S. 1, H. Borucki: Einführung in die Akustik, S. 213 und Helmholtz, Hermann von: Über die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonien (= Naturwissenschaftliche Texte bei Kindler), München: Kindler 1971, S. 15. 22 Vgl. Kayser, Hans: »Die Harmonie der Welt« (1958), in: Kreis der Freunde um Hans Kayser, Im Anfang war der Klang (1986), S. 14-18, hier S. 17. Vgl. weiters Pontvik, Aleks: Der tönende Mensch. Gesammelte musiktherapeutische Schriften (= Heidelberger Schriften zur Musiktherapie, Band 9), Stuttgart: Fischer 1996, S. 120f. zu den Bedeutungsebenen des Ohres als Sitz des Gleichgewichtsorganes, als »Maßinstrument der Proportion« und »Tor zur raum-zeitlichen Vorstellung«. 23 Vgl. lat. vibro (schwingen, schwenken, zittern, zucken, hin- und herfliegen), weiters lat. oscillare (hin-/herpendelnde Bewegung) sowie altgriech. polyplanktos (viel irrend) und phoné (schwingen, schwanken, zweifeln). 24 Vgl. eine ähnliche Beschreibung bei Schiller, Friedrich: Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder. Ein Trauerspiel mit Chören (= Universal-Bibliothek, Band 60), Stuttgart: Reclam 1979, I,7, Vers 882, wo »lebendigen Leben« als »ein ewiges Schwingen« beschrieben wird.
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nifestiert einen polaren Rhythmus, der Vergangenes und Künftiges miteinander verbindet.25 Den Bewegungsprinzipien der Schwingung unterliegt der Mensch auch auf organischer Ebene. Der Arzt Alfred Tomatis vertritt die These, die sensiblen CortiZellen im Ohr seien fähig, extrem feine Schwingungen, die auf molekularer oder zellulärer Ebene stattfinden und die evozierte Gegenreaktion in den umgebenden Flüssigkeiten wahrzunehmen, ergo den »Klang des Lebens« zu ›hören‹.26 Neben diesen Prozessen auf mikrokosmischer Ebene kennzeichnet die Bewegung der Schwingung auch elementare physische Handlungen auf der Mesoebene und ist z.B. bestimmende Gestalt des Bewegungsverlaufes im Gehen.27 Weiters wird Schwingung auch über exogene Aktionen leiblich spürbar. Die erste Konfrontation mit Schwingung passiert pränatal über die Bewegung des Mutterleibes und nimmt in der Wiegebewegung von außen oder in der selbstinitiierten Schaukelbewegung in psychologischer Hinsicht eine zentrale Position ein. Dass es sich dabei um das Erlebnis einer Rückbindung an die eigene »Urvitalität« (Ludwig Janus) handelt, wird nicht zuletzt in der Reaktion auf Musik deutlich.28 Die Prägung diverser natürlicher, lebendiger Prozesse und Musterbildungen durch Schwingung zeigt sich am zahlreichen Vorkommen von Oszillationen im Mikro- und Makrokosmos als bewegte Gestalten in Atomen, Luft, Wasser oder von Körpern ebenso wie als ›stabile‹ Muster in Strukturen von Gebirgsformationen, Ge-
25 Vgl. Moser, Hans J. (Hg.): Musik-Lexikon. Band 2, Hamburg: Sikorski 1955, S. 1167, weiters D. Guicking: Artikel »Schwingung«, S. 344 sowie D.E. Hall: Musikalische Akustik, S. 44. Zu den Polaritäten Statik-Dynamik, Spannung-Entspannung äußerte sich innerhalb der bildenden Kunst z.B. Paul Klee (vgl. C. Dessauer-Reiners: Das Rhythmische bei Paul Klee, S. 105) und innerhalb des Tanzes z.B. Rudolf von Laban (vgl. R.v. Laban: Der moderne Ausdruckstanz in der Erziehung, S. 69f.). 26 Vgl. Tomatis, Alfred A.: Der Klang des Lebens. Vorgeburtliche Kommunikation - die Anfänge der seelischen Entwicklung (= rororo-Sachbuch, Band 8791), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1990, S. 174. Vgl. H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, S. 13 zum Hören als »organischen Lebensvorgang«. 27 Vgl. außerdem Lorenz, Konrad: »Die Rückseite des Spiegels«, in: Ders., Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens. Der Abbau des Menschlichen, München/Zürich: Piper 1988, S. 9-332, hier S. 311f. zur Schwingungsbewegung im Kontext kognitiver Leistung. 28 Vgl. die Existenz von Wiegenliedern in allen Kulturen, die Schaukelbewegung als Halt gebende pathologische Bewegungsstereotypie, die Relevanz der Schaukelbewegung für den Entstehungsprozess der Runen in der finnischen Volksmusik und die Schaukelbewegung zu populärer Musik.
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stein, Kristallen und Pflanzen.29 Schwingung ist also musikalischer und universaler dynamischer Prozess, innerhalb dessen das Geheimnis von Gestalt und Form liegt. Dass es sich hierbei nicht nur um schwärmerische Emphasen von Dichtern aus der Epoche der Romantik30 handelt, sondern um durchaus untersuchenswerte Phänomene, belegt die Auseinandersetzung mit der Thematik im wissenschaftlichen Diskurs.31
1.2 Z AHL
UND
P ROPORTION
Fernab eines profanen Verständnisses, das Zahlen rein kognitiv, im Sinne funktionaler mathematischer Objekte erfasst und das deren Bedeutung im Registrieren und Formen durch den menschlichen Intellekt verortet, wird in unterschiedlichen Epochen stets auch die Relevanz der Zahl in Form eines ontologischen Prinzips, einer Essenz der Dinge und des Ursprunges von Weisheit und Tugend vorausgesetzt32:
29 In manchen Kulturen wird Gott als Schwingung aufgefasst (vgl. R.M. Schafer: Klang und Krach, S. 39). 30 Vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Sämmtliche Werke. Erste Abtheilung. Fünfter Band. Philosophie der Kunst, Stuttgart/Augsburg: J.G. Cott'scher Verlag 1859, S. 501 (§83) zur Musik als der »vernommene Rhythmus und die Harmonie des sichtbaren Universums selbst«. Und bei Novalis: »Fragmente zur Musik und zum Musikalischen«, in: Naumann, Barbara (Hg.), Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik. Texte zur musikalischen Poetik um 1800, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 1994, S. 187-199, hier S. 195 (Frag. 28) ist zu lesen: »Sollten alle plastischen Bilder, vom Kristall bis auf den Menschen, nicht akustisch, durch gehemmte Bewegung, zu erklären sein? Plastik also nichts anderes Figuristik der Musik.« 31 Vgl. Wolfgang Büchel zit.n. Haase, Rudolf: Harmonikale Synthese (= Beiträge zur harmonikalen Grundlagenforschung, Band 12), Wien: Lafite 1980, S. 53: »Die moderne Physik [...] kehrt fast wörtlich zu den schwingenden Saiten der Pythagoreischen Harmonielehre zurück: Sämtliche Grundgleichungen der Elementarteilchenphysik sind ihrer Struktur nach Schwingungsgleichungen.« Bzgl. des Schwingungsdiskurses vgl. z.B. Hans Jenny: »Kymatik« (1972), Wolfgang Bossinger/Raimund Eckle (Hg.): »Schwingung und Gesundheit« (2008), Richard Bishop/Evelyn Donohue: »Vibrations. Schwingungen in Natur und Technik« (1985) oder Richard Walter: »Die Form in biologischen Schwingungen und Gestalten« (1971). 32 Vgl. Naredi-Rainer, Paul von: Architektur und Harmonie. Zahl, Maß und Proportion in der abendländischen Baukunst (= DuMont-Dokumente: Kunstgeschichte, Wissenschaft), Köln: DuMont 1982, S. 33. Ein lediglich quantitatives Messen galt den Pythagoreern als Sakrileg (vgl. R. Taschner: Der Zahlen gigantische Schatten, S. 25). Vgl. Platon: Nomoi,
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»Tolle numerum omnibus rebus et omnia pereunt.«33 V.a. in der griechischen Antike kam Zahlen der Status individueller Qualitäten zu und wurde speziellen Zahlenkonfigurationen als sýnthesis besondere Aufmerksamkeit geschenkt: Sie repräsentierten die Dinge selbst und reflektierten, ergänzten und überhöhten als Harmonie eine metaphysische Seinsordnung.34 Eine Assoziation des Zahlhaften mit dem Göttlichen an sich35 und mit dessen Schöpfungsprinzipien Maß, Zahl und Gewicht36 verwundert insofern nicht, als der damalige Zahlbegriff, situiert innerhalb einer metaphysischen Weltordnung, vom heutigen grundlegend divergiert. Aktuelles Wissen über chaotische Phänomene in der Natur und die Frage nach der Gültigkeit einmalig determinierter Gesetze erschweren ein derartiges Verständnis im modernen wissenschaftlichen Diskurs außerdem.37 Einem rational ausgerichteten Zahlenverständnis zum Trotz zählt es heute jedoch zum Allgemeingut pädagogischer Theorie und Praxis, dass erste mathemati-
VII,818c: »[.] derjenige ist weit davon entfernt, zu einem göttlichen Menschen zu werden, welcher nicht die Eins oder Zwei oder Drei zu fassen imstande ist [...].« 33 Isidor von Sevilla zit.n. Benary, Peter: Musik und Zahl von 1 bis 12. Eine musikalische Zahlenkunde, Aarau: HBS Nepomuk 2001, S. 110 (»Alles zerfiele, nähme man ihm die Zahl«). 34 Vgl. Beinroth, Fritz: Musikästhetik von der Sphärenharmonie bis zur musikalischen Hermeneutik. Ausgewählte tradierte Musikauffassungen (= Berichte aus der Musikwissenschaft), Aachen: Shaker 1996, S. 15, weiters R. Taschner: Der Zahlen gigantische Schatten, S. 13 sowie Zimmermann, Jörg: »Wandlungen des philosophischen Musikbegriffs: Über den Gegensatz von mathematisch-harmonikaler und semantisch-ästhetischer Betrachtungsweise«, in: Schnitzler, Günter (Hg.), Musik und Zahl. Interdisziplinäre Beiträge zum Grenzbereich zwischen Musik und Mathematik (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik, Band 17), Bonn/Bad Gadesberg: Verlag für systematische Musikwissenschaft 1976, S. 81-135, hier S. 86. 35 Vgl. Hierokles von Alexandreia: »Aureum Pythagoreorum Carmen Commentarius« XX,11-21 (unveröffentlichte Übersetzung von Werner Schulze) zum Demiurgen, »Zahl der Zahlen« und Quelle ewiger Weltordnung. 36 Vgl. die bekannte Diktion aus dem Alten Testament (Weish 11, 20) sowie Sachs, KlausJürgen: »Kosmisches Gesetz und musikalische Regel«, in: La Motte-Haber, Helga de/ Schwab-Felisch: Oliver (Hg.), Musiktheorie (= Handbuch der systematischen Musikwissenschaft, Band 2), Laaber: Laaber 2005, S. 31-72, hier S. 37f. 37 Vgl. P.v. Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie, S. 20. Vgl. z.B. den Nachweis nichtlinearer Zusammenhänge in dynamischen Systemen durch die Chaostheorie.
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sche Begriffe Folge von Geste und Handlung sind.38 Leibhafte Erfahrungen bilden die Grundlagen für ein Verständnis des Umganges im Zahlenraum. Dieser konstituiert sich wesentlich aus dem Prozess des Zählens. Zunächst ist damit eine chronologisch verlaufende Aktivität bezeichnet, womit ein Zugang zum Zeitlichen gegeben ist; vielmehr jedoch besteht das Moment des Elementaren am Zählen im Hervorbringen, wie es in der Antike betont wird.39 Wenn es sich also um einen Prozess des Wachsens oder Abnehmens, um eine »Bewegung der Zu- und Abnahme« (Albertus Magnus) handelt, konstituiert die Zahl selbst ein »Generationsprinzip« (Albertus Magnus)40; sie selbst ist unveränderliches Individuum, der allerdings eine Kraft innewohnt, schöpferische Bewegung zu initiieren, was sie als Grundlage jeglicher Kreation und Veränderung auszeichnet.41 So wird die einzelne Zahl erst in der Bewegung des Zählens realisiert, d.h., sie geht aus einem Verlaufsprozess hervor, dem die Möglichkeit unendlich vieler Zahlen inhärent ist.42 Die eins meint im Verständnis der Antike folglich noch ruhende Einheit, die allem Seienden vorausgeht und in der die Vorgänge der diaíresis, der Trennung und Sonderung, im Urprinzip des
38 Vgl. P.v. Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie, S. 33 und Lapièrre, André/Aucouturier, Bernard: Die Symbolik der Bewegung. Psychomotorik und kindliche Entwicklung, München/Basel: E. Reinhardt 2002, S. 117. 39 Z.B. bei Pythagoras und Aristoteles. Vgl. Augustinus, Aurelius: De musica. Bücher I und VI. Vom ästhetischen Urteil zur metaphysischen Erkenntnis. Lateinisch-Deutsch (= Philosophische Bibliothek, Band 539), Hamburg: Meiner 2002, VI,IX,24 zur Arbeit des Zählens und Unterscheidens. Vgl. Georgiades, Thrasybulos: Nennen und Erklingen. Die Zeit als Logos, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1985, S. 100: »›Tun‹ ist auch die Harmonia, [...], das Sich-Hervorbringen des realen Zählens durch das sich betätigende gemeinsame Maß.« 40 Albertus Magnus: Über den Menschen. De homine. Lateinisch-Deutsch (= Philosophische Bibliothek, Band 531), Hamburg: Meiner 2004, p. 41f.; vgl. auch Platon: Der Staat. Politeia. Griechisch-deutsch (= Sammlung Tusculum), Düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler 2000, 546a. 41 Vgl. Plutarch von Chäronea: »Über die Entstehung der Weltseele in Platons Timäus« zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 65. 42 Vgl. Hierokles von Alexandria: Aureum Pythagoreorum Carmen Commentarius, XX,1121 zur Vierzahl, die »in der Mitte zwischen der unerzeugten Eins und der mutterlosen Sieben« liegt. Sie habe Wirkkräfte derer, die hervorbringen, und derer, die hervorgebracht werden. Vgl. altgriech. arithmós (An-Zahl, Reihe, Zwischenraum, Länge, Weite). In den Künsten dienen Zahlenfolgen häufig als Prinzipien (z.B. in der Architektur bei Le Corbusier oder in der Seriellen Musik).
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lógos, des sinnvollen Verhältnisses, zusammenfallen.43 Die Zahl strebt aus der Einheit hinaus in Verschiedenheit; so ist Zählen Differenzieren, ist zeugerische Bewegung und setzt diskontinuierliche Größen voraus, ausgehend von der Eins als Grundeinheit.44 Ging das transzendente Moment von Zahlen im Alltag – nicht zuletzt aufgrund einer einseitigen Mathematik – verloren und wurde aus einem »Zaubergarten« ein »staubiger Exerzierplatz« (Martin Wagenschein)45, finden die in der Zahl komprimierten Qualitäten in der Musik, im Ästhetischen ihren Ausdruck, wo sich logische und psychische Sphäre innerhalb unseres Erkenntnisvermögens verbinden46: »Als Hörende ›erkennen‹ wir Qualitäten, als Erkennende ›hören‹ wir Quantitäten«, beschreibt der Harmoniker Werner Schulze dieses Ineinandergreifen47. Motus sonorus, das konkrete Moment des Veränderlichen am Erklingenden und numerus sonorus, das abstrakte Maß korrelieren in der Wahrnehmung des musikalischen Tones, der Zahlenwert und Bewegung in Eins meint.48 Die Qualität der Bewegung kann quantitativ gemessen, bezeichnet und dadurch geordnet werden49; sie hat etwas Zahlhaftes an sich, das ihre Gesetzmäßigkeit abstrahiert, formalisiert, beobachtbar und damit in ihrer Unterschiedlichkeit bestimmbar macht.50 Dies gilt nicht nur für die Musik; die Funktion der Zahl, als Maß Vorgänge sichtbar zu machen und darüber Erkenntnis und Handlungspotenzial zu schaffen, lässt sich in allen Bereichen menschlichen Lebens vorfinden – nicht zuletzt ist der Mensch in seiner Leiblichkeit durch Maße bestimmt.51 Die Bedeutung einer Bewegungshandlung für
43 Die Eins/das Eine ist Prinzip, Maß und Anfang der Zahlen (vgl. Aristoteles: Metaphysik, V,1021a sowie Augustinus, Aurelius: Musik. De musica libri 6, Paderborn: Schöningh 1940, II,5,6). 44 Vgl. Schäfke, Rudolf: Geschichte der Musikästhetik in Umrissen, Tutzing: H. Schneider 1964, S. 25ff. sowie K.v. Eikels: Die erste Figur, S. 36. 45 Vgl. seinen Aufsatz »Die Tragik des Mathematikunterrichts« (1965). 46 Vgl. H. Kayser: Die Harmonie der Welt, S. 17ff. 47 W. Schulze: Heilung und Heil in der Musik und Harmonik, S. 604. 48 Vgl. H. Kayser: Die Harmonie der Welt, S. 17. In der Historie wurde entweder mehr der Zahl oder mehr der sinnlich erlebten Bewegung (motus, passio, actio) Bedeutung als Musik-Grundlage zugeschrieben. 49 Vgl. Augustinus: De Musica, I,VIII,14: »Das, was wir ›lang‹ oder ›nicht lang‹ nennen, ist [...] nach Maß und Zahl bestimmt.« Vgl. lat. numerus, das sowohl Zahl, Maß und Wert als auch Glied und Reihe sowie Takt und Rhythmus meinen kann. 50 Vgl. ebd., I,XI,19. 51 Hinsichtlich der Bedeutung der Maß-Zahl in unterschiedlichen Lebensbereichen seien einige Beispiele genannt: Vgl. Theoretiker der Antike wie z.B. Aristeides Quintilianus oder Plutarch, die in ihren Schriften die Bedeutung der Zahl in der Medizin erwähnen sowie
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das Messen an sich, das Erkennen des Maßes im buchstäblichen Sinn macht die Etymologie von lat. mensura (messen, Maß) deutlich, werden hier sensorische Bezüge besonders evident: Denn, wie Schulze erklärt, ist »Mensa ursprünglich der Kaufmannstisch, wo Ware gewogen, zugemessen und der Preis bestimmt wird.«52 Maße werden nicht nachträglich hinzugefügt, sondern als ein Dasein der Dinge aus ihrem Ursprung verstanden53; sie sind da, wo Sinn ist, wo eine Anbindung an die Sinnes-Organe besteht. Sinnvolle, wirksame Bewegungen müssen lt. Augustinus also auf zahlhaften Maßen beruhen.54 Dem alten Diktum vom »rechten Maß« ist die Differenzierung zwischen Ordnung und Un-Ordnung inhärent, indem es sich von der Maß-Losigkeit abhebt.55 Musik bedeutet im Sinne Platons, im direkten Ausdruck der Zahl in Rhythmus und Harmonie, d.h. in den Bewegungen, zwischen diesen Polen zu unterscheiden.56 Die Fähigkeit, sinnvolle Bewegungen zu initiieren, etwas richtig zu bewegen, basiert auf dem messenden Abwägen mittels der Zahl57. Musik, im Verständnis von Augustinus die Kenntnis vom »richtigen Bewegungs-
Theoretiker des 16. Jahrhunderts wie Agrippa von Nettesheim oder Franciscus Venetus, die sich in ihren Schriften zum Maß bzgl. der psycho-phyischen Gesamtheit des Menschen äußern. Vgl. den Begriff »menschliches Maß« im Kontext philosophischsoziologischer Denkprozesse bei Leopold Kohr im 20. Jahrhundert sowie die Bedeutung der Zahlproportion in der Raum-Harmonielehre des Tanzes (Choreutik) bei Rudolf von Laban und im akademischen Tanz (vgl. G. Zacharias: Ballett, S. 74). Und vgl. Rosanow, Wassili W.: »Italienische Eindrücke« (1909) zit.n. Kandinsky/Marc, Der blaue Reiter (2006), S. 187 zum menschlichen Maß in Bauwerken: »Die Maße, die Messungen des menschlichen ›corpus‹ [...] was wir in all diesen Marmorwerken immer wieder finden.« 52 W. Schulze: Musik und Harmonik bei Nikolaus Cusanus, S. 15. Vgl. ahd. wegan (wägen) sowie lat. norma (Winkelmaß, Richtschnur). Vgl. Möglichkeiten der Messung von Zeit über Bewegung (z.B. mittels Sonnen-, Wasser- oder Sanduhren) und der Messung von Längendistanzen über Bewegungsdauer (z.B. die Ultraschallentfernungs-/Laufzeitmessung mittels Licht). 53 Vgl. Hermann Krings zit.n. P.v. Naredi-Rainer: Architektur und Harmonie, S. 20. 54 Vgl. Augustinus: De musica II,2. 55 Vgl. H. Kayser: Akróasis, S. 9f. zu Maß als »Begriff für die Ordnung der Dinge«. Vgl. Platon: Nomoi III,691c zur Erkenntnis des rechten Maßes. Zum fehlenden Maß, d.h. zur Maßlosigkeit vgl. z.B. Spr 11,1: »Falsche Waage ist dem Herrn ein Greuel« sowie Platon: Nomoi, IV,716c: »[...] daß nämlich das Ähnliche dem Ähnlichen, wenn es Maß hält befreundet sei, das Maßlose aber weder sich untereinander noch dem Maßhaltenden.« Und vgl. Augustinus: De musica, I,IX,15: »[...] daß jedes Maß und jede Abmessung der Maßlosigkeit [...] vorgezogen werden.« 56 Vgl. Platon: Nomoi II,653e. 57 Vgl. W. Schulze: Musik und Harmonik bei Nikolaus Cusanus, S. 15.
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vorgang«58 setzt die Kenntnis vom Messen, von der Maß-Zahl also immer voraus. Gestaltung (modulatio) braucht das Maß, das allerdings immer auch die Abweichung vom Maß inkludiert. Bewegung (motus) entsteht im Erfüllen des Maßes und in der Abweichung gleichermaßen.59 Ab-Messen und Ab-Wägen im Kontext der Musik erzeugt Verhältnisse. So geht es Augustinus nicht um die einzelne Bewegung, sondern um den Vergleich mehrerer und die Zahlen, die sich darin darstellen.60 Denn im einzelnen Abgemessenen allein konstituiert sich noch kein musikalischer Sinngehalt; dazu braucht es vielmehr den Bezug auf ein weiteres. Die Besonderheit des einzelnen Tones tritt erst in der »beseelten Verbindung mit den übrigen Gliedern« hervor, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel anmerkt.61 Die Grundlage musikalischen Denkens und das Prinzip der Ordnung bildet daher der sinnerfüllte lógos – »2gliedriges Verhältnis (a:b) von zueinander in vergleichbarer Relation befindlichen Größen« (Werner Schulze, nach Euklid)62, deren Verschiedenheit und Gemeinsamkeit für die Beziehung konstitutiv sind.63 Die Proportion öffnet ein Spannungsfeld zwischen zwei Einzelgrößen, dem – analog zu Relationen im menschlichen Leben64 – ein dynamisch-kreatives Potenzial
58 Vgl. Augustinus: De musica I,II,3-4. 59 Vgl. Keller, Adalbert: Aurelius Augustinus und die Musik. Untersuchungen zu »De musica« im Kontext seines Schrifttums (= Cassiciacum, Band 44), Würzburg: Augustinus Verlag 1993, S. 188. 60 Augustinus: De musica I,III,3. 61 G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 280. Der Gestalttheoretiker Wolfgang Köhler hat mit seinen Experimenten gezeigt, dass wir nicht isolierte Eigenschaften oder Elemente wahrnehmen, sondern diese immer schon in bestimmte Relationen eingefügt sind; d.h., es entstehen Gestalten. So hören wir nicht Einzeltöne, sondern immer Tonrelationen (vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 50f.). 62 Schulze, Werner: »Proportion. Ein Streifzug durch die Geschichte eines Begriffs«, in: Ders. (Hg.), Festschrift für Rudolf Haase zum 70. Geburtstag, Wien: Institut für Harmonikale Grundlagenforschung 1990, S. 127-131, hier S. 127; vgl. ebd. zur Ausbildung der vollen »4gliedrigkeit« der Proportion in der Proportionalität/Analogie. 63 Vgl. W. Schulze: Musik und Harmonik bei Nikolaus Cusanus, S. 15. 64 Um die Bedeutung der »proportionalen Abgewogenheit aller Dinge im Weltganzen« (H. Pfrogner: Musik, S. 118f.) in Antike und Mittelalter exemplarisch zu veranschaulichen vgl. z.B. folgende Textstellen: Aristoteles: Nikomachische Ethik, V,1131a, weiters Cicero: De re publica VI und Boëthius: Über die Musik, II,12 sowie das Traktat »Dialogus de tribus quaestionibus« von Othlo von St. Emmeram aus dem 11. Jahrhundert. Zur Bedeutung der Relation im Kontext des Sozialen vgl. auch jüngere Theorien, z.B. bei Friedrich Nietzsche, Martin Buber, Maurice Merleau-Ponty oder Ferdinand Ebner.
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zugrunde liegt.65 Es sind »Verhältnisse, die Leben atmen« (Paul Klee)66. Die hier generierte Spannung67 gelangt im Ästhetischen zum Ausdruck. Sinn wird in der Sinnlichkeit visuell, taktil, auditiv realisiert68, körperlich als sicht- und spürbare Leibesbewegung manifest und verweist schließlich transzendierend auf eine die Materialität übersteigende Realität.69 Musikalische Praxis wird damit im Gestalten eines ›Ton-Zahl-Gefüges‹ gleichsam zum Aus- und Er-Leben jener Spannung, die den Verhältnissen in und zwischen den Maßen zugrunde liegt; das Ohr wird zum »Zählorgan für Relationen von Bewegungen« (Thrasybulos Georgiades)70. Das essenzielle Moment musikalischer Gesetze ist also dynamisches Terrain, innerhalb dessen die Zahlrelation »Urgrund und Sinn aller Bewegung und alles Klingens« (Paul Hindemith) darstellt.71 Da Verhältnisse für Musik konstitutiv sind, kann diese gleichsam als »language of proportion« (John E. Murdoch) bezeichnet werden.72 Ihr künstlerisches ›Sprach-Spiel‹ basiert auf dem Wissen um die Zahlengesetzlichkeit und der Erforschung einzelner Größen. Gründen die Maße der Parameter Harmo-
65 Vgl. Hindemith, Paul: Unterweisung im Tonsatz. Theoretischer Teil, Mainz: Schott’s Söhne 1937, S. 27 zur harmonia der antiken Musiktheorie als »bewegter Urgrund« sowie Jakob Böhme: »Mysterium magnum« zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 160f. zum natürlichkreatürlichen Potenzial des lógos. In der Bibel erscheint der Logos bei Joh 1,1 ebenso als Urgrund: »Am Anfang war das Wort« (altgriech. lógos, dt. Sinn). 66 Paul Klee zit.n. Haftmann, Werner: Paul Klee. Wege des bildnerischen Denkens, München: Prestl 1950, S. 25. 67 Vgl. Mersmann, Hans: Angewandte Musikästhetik, Berlin: Hesse 1926, S. 20. Spannung wird bei P. Hindemith: Unterweisung im Tonsatz, S. 71 als Basis der chromatisch geordneten Zwölftonreihe bezeichnet. 68 Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 85: »[...] im sinnlichen Gewahren realisiert sich ein Sinn.« 69 Vgl. Martianus Capella zit.n. Kaden, Christian: »Artikel ›Musik/I-VI‹«, in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 4, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2002, S. 256- 275, hier S. 269: »Alles Zahlhafte ist auf dreifache Weise zu erfahren: mit dem Auge, dem Ohr und mit dem Tastsinn.« 70 T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 69f. 71 P. Hindemith: Unterweisung im Tonsatz, S. 71. Vgl. Thomas von Aquin zit.n. H.-J. Burbach: Studien zur Musikanschauung des Thomas von Aquin, S. 25. Die Musik wurde im antiken Quadrivium als Lehre von den Verhältnissen der Zahlen zueinander, d.h. als Lehre von den bewegten Zahlen verstanden. 72 Vgl. Augustinus: De musica, I,IX,15 sowie Berktold, Christian: »Sphärenharmonien. Die Welt als Klangbild«, in: Spektrum der Wissenschaft. Spezial: Forschung und Technik im Mittelalter (2002), S. 14-15, hier S. 14.
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nie, Melodie, Rhythmus und Form jeweils auf Bewegungen, bedeutet das Herstellen einer stimmigen Ordnung im Sinne des Augustinus, Verhältnisse zwischen Bewegungen zu knüpfen, die sich zueinander zahlhaft verhalten.73 Musik ist daher nicht nur ästhetischer Ausdruck der Proportion, sondern als »scientia bene modulandi« (Augustinus) Wissenschaft, die Bewegungen in einem Gefüge richtig zu ordnen. Exemplarisch für ein Gefüge in der Musik steht bereits der einzelne Klang. Die An-Zahl der vollen Schwingungen eines Körpers pro Zeiteinheit bildet ein Anschauliches und Anhörbares verbindendes »Bewegungszeitmaß« (Paul Hindemith): die Frequenz.74 Für gewöhnlich existiert bekanntlich nicht nur eine einzelne (Sinus)Schwingung, sondern es entsteht vielmehr ein Komplex an Bewegungen, der neben einer Grundschwingung mehrere Teilschwingungen (Obertöne) umfasst.75 Die ganzzahligen Maßverhältnisse zueinander verweisen auf die Art der Schwingungsbewegung und kennzeichnen das individuelle Klangergebnis: »Die objektive Vielheit [Anm.: der Bewegungen] wirkt sich in der subjektiven Einheit als ›Farbe‹ aus«, schreibt Albert Wellek in »Musikpsychologie und Musikästhetik« (1963)76. Das Besondere der Obertöne, so der Musikethnologe Marius Schneider, liege auch im Kontext ihrer Entstehung aus der Schwingung und in ihrem »geheimnisvollen« Wesen: Sie »entwachsen« gleichsam dem »sich opfernden« Grundton.77
73 Vgl. Augustinus: De musica, I,VIII,14 und im I. Buch ebenso die Stellen IX,15 und III,4 sowie Augustinus: Musik, IV,17,35. Bzgl. der Proportion im Bereich des Rhythmischen vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch-deutsch (= Universal-Bibliothek 7828), Stuttgart: Reclam 2001, 1460a zu Jambus und Tetrameter als »bewegte« (kinetiká) Maße, weiters Augustinus: Musik, II,1,1 und ebd., III,1,2 zum Zahlhaften des Rhythmus sowie Boëthius: Über die Musik, II,3. Bei Mozart, Leopold: Versuch einer gründlichen Violinschule. Faksimile Reprint von 1756, hrsg. von G. Moens-Haenen, Kassel u.a.: Bärenreiter 1995, S. 22 werden die Notenwerten als Verhältnisse »im Kleinen« bezeichnet. 74 Vgl. H. Kayser: Die Harmonie der Welt, S. 17. Vgl. ebd., S. 23 zur Zahl in der Musik als »Tonzahl«. 75 Vgl. J.G. Roederer: Physikalische und psychoakustische Grundlagen der Musik, S. 176. 76 A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 27. Vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 25 zu inneren Bewegungsvorgängen des Klanges. Vgl. Eimert, Herbert: »Debussys ›Jeux‹« (1959), in: Ders. (Hg.), Berichte, Analysen (= Die Reihe. Informationen über serielle Musik, Heft 5), Wien: Universal Edition 1959, S. 5-22, hier S. 6 (bzgl. Claude Debussy): »Bewegung und Timbre des Klangs lassen sich nicht voneinander trennen [...].« 77 Schneider, Marius: »Die historischen Grundlagen der musikalischen Symbolik. Die historischen Grundlagen der musikalischen Symbolik« (1951), in: Karbusicky, Sinn und Bedeutung in der Musik (1990), S. 61-99, hier S. 98f.
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Die Lebendigkeit eines tönenden Individuums beruht wesentlich darauf, dass es sich um dynamische Normen handelt, die zueinander in Bezug stehen. So demonstriert das Phänomen der Schwebung die elastische Konfiguration des Tones, der nicht mehr der exakt definierten Schwingungsfrequenz, sondern vielmehr einem Frequenzband entspricht. Das menschliche Gehör differenziert nicht zwischen zwei Druckschwankungen ähnlicher Frequenz, die sich überlagern (Addition) und nimmt einen einzigen, pulsierenden, Ton wahr. Das vitale Moment der Schwebung wird in der Musik auf unterschiedliche Weise herzustellen versucht78: Stilmittel wie Ornamentik, Portamento und Vibrato sind bewusst hergestellte Formen periodischer Frequenzveränderung, als mouvement und Beseelung zu verstehen, wie dies besonders auch ältere Quellen, z.B. Lexikoneinträge aus dem 18. und 19. Jahrhundert, verdeutlichen.79 Nicht nur das einzelne Erklingende lebt aus dem Potenzial heraus, sich vom Grundmaß zu entfernen. In der musikalischen Praxis zeigt sich auch hinsichtlich der Abstände zu anderen Tönen im rhythmischen und melodischen Verlauf, dass vollkommenes Regelmaß und absolute Intonationsreinheit innerhalb einer tolerierten Schwankungsbreite nicht nur selten erzielt werden, sondern hinsichtlich eines fehlenden Erlebnisgehaltes wenig erstrebenswert sind.80 Die Idee der Abweichung vom reinen Verhältnis schlägt sich nicht zuletzt in der instrumentalen Stimmung nieder: Die gleichschwebende Temperatur81, ein mittleres Maß, ja ein »neues, ordnendes menschliches Gesetz« (Hermann Scherchen) ermög-
78 Vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 135f.; musikalische Nachschlagewerke aus dem 18. und 19. Jahrhundert führen bzgl. der Stichwörter Vibrato oder Mouvement als Erklärung das »Beben« und »Erzittern« auf dem Instrument an. Das Vibrato oder Tremolo kann als lebendige Frequenz-Verundeutlichung verstanden werden; ein reiner Sinuston löst keine emotionale Resonanz im Menschen aus (vgl. P. Benary: Musik und Zahl, S. 100f.). 79 Vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 134. Das Register voce umana italienischer Orgeln aus dem 16.-17. Jahrhundert, das die menschliche Singstimme nachahmt, weist durch das Höherstimmen von zwei bis drei Schwingungen zusammen mit dem Grundprinzipal eine minimale charakteristische Schwebung auf, um authentisch ›menschlich‹ zu klingen (vgl. Klinda, Ferdinand: Orgelregistrierungen. Klanggestaltungen der Orgelmusik, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1987, S. 39). 80 Vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 137. Auch Arnold Schönberg merkt in »Zur Symmetrie« (1923), in: Ders., »Stile herrschen. Gedanken siegen«. Ausgewählte Schriften, hrsg. von A.M. Morazzoni, Mainz u.a.: Schott 2007, S. 101 an, dass vollkommene Regelmäßigkeit der Musik nicht angemessen sei. 81 Vgl. lat. temperare (mäßigen, richtig bemessen). Es kam zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert zur Entwicklung verschiedener Stimmungen: natürlich-harmonisch oder mitteltönig, ungleichschwebend, äquidistant oder gleich-schwebend.
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lichte die Transposition in verschiedene Tonarten im Spiel auf Tasteninstrumenten.82 Andreas Werckmeister hält diesbezüglich im Jahr 1687 fest: »Wir wissen, daß die Temperatur ganz von der Unität und perfectionis puncto abweichet. Ergo sind alle Temperaturen unvollkommen [...].«83 Mit der abweichenden Bewegung der Intervalle von ihren reinen Zahlenverhältnissen (ausgenommen der Oktave) schließt sich die Reihe der Quinten in der äquidistanten Stimmung grafisch veranschaulicht zu einem Kreis (Quintenzirkel). Mit Rekurs auf die herausragende Bedeutung der Kreisbewegung im Sinne eines Ideals scheint es bemerkenswert, dass sich für diese Modellvorstellung des Quinten-Kreises die Abweichung als konstitutiv erweist.84 Die menschlichen Sinnesorgane sind darauf ausgerichtet, den vom Grundmaß abweichenden Bewegungen zu folgen und in Relation zu ihrem Ursprung auszugleichen. Die Elastizität des Gehöres, mittels derer Schwankungen ausgeglichen werden können, ermöglicht im ›Zurechthören‹, sich hinsichtlich einer Norm zu orientieren und kann somit als eigentlich primäres Phänomen der Gestaltbildung betrachtet werden.85 Grundmaße gelten in der Musik in allen Parametern somit als notwendige Bezugsmomente, durch die Abweichungen in ihrer sinnerfüllten Individualität erst wahrgenommen werden können: Das Unerwartete, das Fremde wird erst vor dem Hintergrund des Vertrauten zum ästhetischen Reiz.86 Gestalterisches Umgehen mit
82 Vgl. Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Band IV. Nachdruck der Ausgabe von 1792-1799, Hildesheim: G. Olms 1967, S. 516 zur Abweichung von der höchsten Reinigkeit eines Intervalls, um es in Verbindung mit anderen »desto brauchbarer« zu machen. 83 Werckmeister, Andreas: Musicae mathematicae hodegus curiosus oder richtiger musicalischer Weg-Weiser. Nachdruck der Ausgabe von 1687, Hildesheim/Zürich/New York: G. Olms 1972, S. 58. Vgl. J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 55 (§86) zu Temperatur als »Abmessung der Intervalle [...] dadurch dem einen von seiner Richtigkeit etwas abgenommen, dem andern aber etwas zugelegt wird [...].« 84 In der natürlichen Stimmung entsteht mit der Anordnung der Tonarten letztlich eine Spiralbewegung. Diese sowie die Kreisbewegung sind Lebensbewegungen. Vgl. N.J. Schneider: Musikgeschichte - harmonikal betrachtet, S. 194ff. zur vorschnellen Auffassung des Quintenzirkels als Schematismus. Schneider verweist hingegen auf die Quinte als UrIntervall und dominante Tiefenstruktur musikalischen Empfindens sowie auf die Entwicklung des Quintenzirkels, analog zur Ausdifferenzierung menschlichen Bewusstseins. 85 Vgl. R. Haase: Harmonikale Synthese, S. 45. Diese Fähigkeit war bereits dem Mathematiker Leonhard Euler (18. Jahrhundert) bekannt. 86 Vgl. Kühn, Clemens: Formenlehre der Musik, Kassel u.a.: Bärenreiter 1998, S. 195 zur Abweichung im Bereich der musikalischen Form, weiters P. Benary: Musik und Zahl,
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Maßen meint also immer auch, die in der Abweichung liegende Beweglichkeit in das schöpferische Tun zu integrieren und als Kunstschaffender – sei es in der Musik, in der bildenden Kunst und Architektur, im Tanz oder in der Literatur – ein Gefüge dynamischer Größen zu erschaffen. Das Ineinandergreifen von »Form und Formel« (Rudolf Taschner) wie es in der Musik erlebbar wird, steht in Analogie zu einer Harmonie, die, wie Jean Gebser schreibt, »durch alles Lebendige und (so genannte) Unlebendige geht.«87 Im Zahlhaften der Musik manifestiert sich ein »lebensordnendes Element« (Rainer M. Rilke). Der pythagoreische Gedanke von einem in Zahlen verborgenen ›Klang der Welt‹88 verweist auf einen Nexus an Beziehungen; Proportionen, die musikalischen Sinn erzeugen, erweisen sich als Seinskonstanten, die ein »integrierendes Moment in der Vielfalt einzelwissenschaftlicher Forschung« (Werner Schulze) darstellen können.89 Musik, Mensch und Natur sind auf mehreren Ebenen nachweislich durch niedrigzahlige, flexible Proportionen determiniert.90 So schreibt Gebser in seinem Artikel zu Hans Kayser und der Harmonik: »Wenn wir [.] wissen, daß [...] jeder physikalische oder biologische Lebensvorgang sich auf ein mathematisch nachweisbares Zahlenverhältnis stützt, das seinen Schlüssel in den Verhältniszahlen der Töne hat [...], so wird mit einem Schlage auch das erlebbar, was bisher zur Not gerade noch vorstellbar oder begreifbar erschien.«91
S. 100 zur Abweichung im Bereich des Rhythmus sowie R. Haase: Die harmonikalen Wurzeln der Musik, S. 43 zur Abweichung in der Proportion eines Intervalls. 87 Gebser, Jean: »23. Kayser. (Die Harmonik.)«, in: Der Aufstieg (o.J.), S. 377-379, hier S. 377. 88 Vgl. R. Haase: Harmonikale Synthese, S. 18 und J. Zimmermann: Wandlungen des philosophischen Musikbegriffs, S. 83. 89 Vgl. W. Schulze: Proportion, S. 130. Vgl. weiters Hans Kayser in einem unveröffentlichten Brief an Gustav Fueter vom 26.08.1934 zur Verbindung der Wissenschaften über die Zahl und ähnlich Hindemith, Paul: »Komposition und Kompositionsunterricht« (1935), in: Ders., Aufsätze. Vorträge. Reden, hrsg. von G. Schubert, Zürich/Mainz: Atlantis 1994, S. 47-111, hier S. 53 zur Verbindung von Melodik, Harmonik und Rhythmik mit außermusikalischen Bewegungsabläufen über gleiche Gesetze. 90 Vgl. z.B. Zahlproportionen im menschlichen Körper, in der Genese von Pflanzen, in Kristallen, Atomen und chemischen Bindekräften sowie im Periodensystem. 91 J. Gebser: 23. Kayser. (Die Harmonik.), S. 377. Vgl. P. Hindemith: Komposition und Kompositionsunterricht, S. 104 zur Möglichkeit, über Intervallproportionen, in ihren Beziehungen zur Historie und zu heutigen Theorien, zu Symbolik und außermusikalischen Phänomenen, Blicke in eine neue Welt zu erhalten. Im »Brief an Goldbach« (1712)
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Hinsichtlich der musikalischen Praxis ist zu bemerken, dass noch vor dem Messen und dem bewussten wie unbewussten Spiel mit Verhältnissen die Zahlen und ihre Beziehungen zueinander präexistent sind.92 Ist einer in diesem Kontext auch aufzufindenden Euphorie, die zu manch fragwürdigen Seinszusammenhängen führt, entgegenzustellen, dass Zahlengrundlagen keinen Selbstzweck darstellen, möge skeptischen Einwänden gegenüber festgehalten werden, dass ein Wissen um Zahlenverhältnisse und deren Wahrnehmung einen unverstellten Blick auf die natürlichen Grundlagen der Welt freigeben können.
1.3 M USTER I Als Ordnungen besonderer Art konstituieren sich Muster aus dem Moment der Bewegung.93 Im Speziellen ist es das performative Element der Bewegung, das darin zum Ausdruck kommt, wird doch im Muster durch eine aktive zielgerichtete Handlung etwas Neues, sich Differenzierendes generiert, wie die Kulturanthropologin Kerstin Kraft ausführt.94 Exemplarisch wird dies genauso im Tanz wie in der Astronomie sichtbar – jeweils werden Muster sich bewegender Körper und Planeten dem Raum eingeschrieben, was stets das menschliche Interesse geweckt hat.95 Die Spezifika einer Bewegungsform zeigen sich mitunter in ihrem Bewegungsmuster.
drückt Gottfried Wilhelm Leibniz zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 190 aus, dass die menschliche Wahrnehmung nicht ausreiche, um Proportionen bewusst wahrzunehmen: »Es ist nicht ausgeschlossen, daß anderwärts Lebewesen existieren, die ein höheres musikalisches Empfinden besitzen als wir und an musikalischen Proportionen Freude finden.« 92 Vgl. H. Kayser: Akróasis, S. 69. Kayser weist darauf hin, dass diese Nachweise nicht zur Annahme verleiten dürfen, künstlerische Werke seien »mit dem Zollstab« angefertigt. 93 Vgl. die Synonyme Struktur, Ornament, Pattern, Figur. Vgl. G. Lukács: Ästhetik II, S. 54 zur Ornamentik, die aufgrund ihrer gesetzlichen Ordnung (Geometrie) Faszination auslöse. 94 Kraft, Kerstin: Muster ohne Wert. Zur Funktionalisierung und Marginalisierung des Musters. Dissertation, Bochum 2001, S. 38. 95 Tanz-Bewegungen werden in der Literatur vielerorts hinsichtlich ihres Wesens als »raum-zeitliche Muster« (Manfred Spitzer) beschrieben; auch der Figur-Begriff scheint häufig auf – vgl. Brandstetter, Gabriele: »de figura. Überlegungen zu einem Darstellungsprinzip des Realismus. Gottfried Kellers Tanzlegendchen«, in: Dies./Peters, de figura (2002), S. 223-246, hier S. 235. Vgl. z.B. Pasch, Johann: Johann Paschens Beschreibung wahrer Tanz-Kunst. Neudruck der Originalausgabe von 1707, Leipzig: Zentralantiquariat 1978, S. 40: »Diese Gänge nun werden bey der Tantz-Kunst Figuren genannt/ und haben/ weil sie aus allen Linien der Geometrie formiret werden [...].«
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So bildet die Grundform der Schwingung eine regelmäßige Bewegung zwischen zwei Orten, die letztlich eine enge mathematische Verwandtschaft zur Kreisform aufweist.96 Diese figürlichen Eigenschaften innerhalb der Bedeutungsspektren von gestalten, bilden, formen und verwandeln gelten ebenso für die qualitative Natur der Zahl. So beruht die Herkunft ganzer Zahlen auf der Entdeckung und Abstrahierung sichtbarer Muster in der Umwelt – die Ornamentik geht der Mathematik voraus.97 Etwas pointiert formuliert Werner Schulze: »Am Anfang war nicht die Zahl, sondern die Zeichnung/ Ziffer und Zahl heißt im Englischen ›figure‹/ Sokrates zeichnete, bevor er rechnete.«98 Musterbildende Bewegung basiert wesentlich auf dynamischen Beziehungen. Im Sinne des Lukrez entstehen Kon-Figurationen.99 Geometrische Objekte gründen in ganzzahligen Verhältnissen. Der Ingeniuer und Forscher Hartmut Warm zeigt in seinen Studien, wie die aus der Bewegung der Planeten entstehenden Muster – er spricht von der »Signatur der Sphären« – mit einfachen geometrischen Figuren (also Zahlenverhältnissen) korrespondieren.100 Dass auch irrationale Proportionen (spezifische) Muster bilden, wird in jenen Mustern evident, für die der Mathematiker Benoît Mandelbrot den Begriff »Fraktale« geprägt hat.
96
Vgl. J.G. Roederer: Physikalische und psychoakustische Grundlagen der Musik, S. 21ff. und H. Borucki: Einführung in die Akustik, S. 13. Die mathematische Herleitung der Sinusschwingung erfolgt aus der Kreisbewegung. Bei Paul Klee ist das Pendel, dessen Bewegung sich bei Wegfall der Schwerkraft vom Schwingen zum Kreisen ändert, ein wichtiges bildnerisches Symbol des Rhythmischen (vgl. C. Dessauer-Reiners: Das Rhythmische bei Paul Klee, S. 105f.).
97
Vgl. K. Devlin: Muster der Mathematik, S. 16. So handelt es sich z.B. um Muster der Ein-, Zwei- oder Dreiheit. Muster werden auch durch (un-)gerade oder zusammengesetzte Zahlen sowie durch Prim- und Quadratzahlen gebildet.
98
Schulze, Werner: Heraklits Spuren in Platons Timaios. Unveröffentlichter Vortrag, Selianitika 2005. Vgl. den Auszug aus dem »Sefer Jezira« zit.n. R. Taschner: Der Zahlen gigantische Schatten, S. 21: »22 Buchstaben. ER zeichnete sie, ER hieb sie aus, Er läuterte sie, ER wog sie und ER wechselte sie, einen jeden mit allen. ER bildete durch sie die ganze Schöpfung [...].«
99
Vgl. Brandstetter, Gabriele/Peters, Sibylle: »Einleitung«, in: Dies., de figura (2002), S. 7-32, hier S. 10.
100 Warm, Hartmut: Signature of the celestial Spheres. Geometry and Harmony in the Movement Relationships of the Planets. Unveröffentlichtes Skriptum 2010, S. 4. Diese Figuren beruhen auf modernen astronomischen und mathematischen Algorithmen und operieren mit Distanzen, Geschwindigkeiten und Perioden der Verbindungen sowie Rotationen von Sonne, Mond und Venus.
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Die Korrelation von Bewegung und Zahlenverhältnis im Muster hat auch musikalische Relevanz: Im Muster wird der in der Proportion liegende Sinn indiziert. Schallschwingungen, die auf Zahlenverhältnissen basieren, zeigen vollkommene dynamische Strukturen. Diese Muster der Frequenzen werden im Akt des Hörens transformiert und über jeweils spezifische Strukturen am Trommelfell und an der Basilarmembran auf Ebene des Gehirnes zu einem »tonotopen Abbild« (Marcel Dobberstein) entwickelt.101 So kann ein »meta-physischer« Sinn von Schwingung dort festgemacht werden, wo bewegte Schwingungsproportionen neue Gestalten generieren.102 Im musikalischen Muster liegt eine Dimension der »empirischästhetischen Manifestation« (Jörg Zimmermann) des lógos103: »Musical sounds weave invisible patterns in the air.«104 So ermöglicht der in uns vorhandene »›objektive‹ oder ›natürliche‹ ästhetische Sinn für Muster« (Douglas B. Hofstadter)105 in der musikalischen Praxis, analog zur Mathematik, mit der und über die Welt der Zahlen zu kommunizieren, die Schönheit der Muster nach außen zu transferieren und der menschlichen, leiblichen Wahrnehmung zugänglich zu machen.106
101 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 242 sowie J.G. Roederer: Physikalische und psychoakustische Grundlagen der Musik, S. 34. 102 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 66 sowie F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 25. 103 Vgl. J. Zimmermann: Wandlungen des philosophischen Musikbegriffs, S. 89. 104 Claude Bragdon zit.n. K. Jormakka: Genius locomotionis, S. 90. Musikempfindung wird in der Literatur häufig analog zum visuellen Formenspiel beschrieben: vgl. z.B. Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 197 (Frag. 40) zum Muster als eigentlich sichtbarer Musik oder Strawinsky, Igor: »Mein Leben/Das Wesen der Musik« (1958), in: Proebst, Eugen (Hg.), Die neue Musik. Dokumente zu ihrem Verständnis (= Texte, Band 9), Bamberg: C.C. Buchner 1961, S. 77f., hier S. 78 zum Vergleich der Empfindung, welche die Musik in uns auslöst mit jener, die in uns beim Betrachten des Spieles architektonischer Formen entsteht und vgl. das bekannte Diktum von den »tönend bewegten Formen« als Inhalt der Musik bei E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 59. 105 Douglas B. Hofstadter zit.n. K. Kraft: Muster ohne Wert, S. 219. 106 In seiner »Metaphysik« (VI,1025b) bezeichnet Aristoteles die Mathematik neben der Naturwissenschaft und der Theologie als »betrachtende Philosophie«. Thomas Mann nimmt in seiner Erzählung »Der Tod in Venedig« (1912) ebenso Bezug auf die Mathematik als betrachtende Wissenschaft (vgl. Mann, Thomas: Frühe Erzählungen. Gesammelte Werke in Einzelbänden 9, Frankfurt am Main: Fischer 1981, S. 606).
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1.4 R HYTHMUS Musik, genuin durch Performativität gekennzeichnet, entfaltet sich transitorisch als vorübergehendes Geschehen in Raum und Zeit.107 Neben der Melodie, die sich primär auf die Veränderung der Tonhöhe bezieht, ist der Rhythmus wesentlichster Faktor innerhalb dieses Verlaufes und wird im Besonderen mit Bewegung assoziiert – auch außerhalb der Musik, die Gesamtheit menschlichen Daseins übergreifend.108 Bernhard Waldefels konstatiert: »Der Rhythmus ist nur unterwegs heimisch«109 ; der Aspekt zeitlicher Entwicklung ist in der Musik (und darüber hinaus in anderen Gebieten) direkt mit dem Rhythmischen verbunden. Die rhythmische Gestaltung als bewegte Lebendigkeit trägt Zeit. Eine noch bedeutungslose Bewegungsfolge wird durch den Rhythmus verwandelt und findet in ihm ihre individuelle Artikulation.110 Es kommt zur Bildung einer Bewegungsgestalt, die für die Wahrnehmung des ästhetischen Objektes von fundamentaler Bedeutung ist, insofern als es keine ›neutrale‹ Empfindung gibt; vielmehr sind es stets »Empfindungsgestalten« (Bernhard Waldenfels), die uns ansprechen.111 Gestaltung der Bewegung und gestaltete Bewe-
107 Vgl. Paul Fraisse zit.n. A. Spitznagel: Zur Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung, S. 21: »Rhythm is [...] the basis of arts of succession and movement.« Vgl. W. Seidel: Rhythmus, S. 66: »Zweifellos denkt man seit dem 16. Jahrhundert Musik im Bilde der Bewegung, des Fortschreitens, Gehens, Fließens [...].« Vgl. ebd., S. 2: »[...] nur Bewegungen [...] können Gegenstand rhythmischer Ordnungen sein.« Vgl. JaquesDalcroze, Emile: Rhythmus, Musik und Erziehung. Nachdruck der Ausgabe von 1921, Wolfenbüttel: Kallmeyer 1977, S. 199 zu den untrennbar miteinander verbundenen »Urelementen« des Rhythmus Raum und Zeit. 108 Rhythmus wird in der Literatur häufig mit Fließen assoziiert; vgl. dazu die umstrittene etymologische Ableitung aus altgriech. rheo (fließen). Vgl. Censorinus: De die natali liber, hrsg. von F. Otto, Lipsia: Teubner 1867, Fragmenti Cap. XI, S. 142: »Rhythmos Graece, modus dictiur Latine – nominatus versus ab eo, quod fluat seque ipse circumeat.« Vgl. Sachs, Curt: Rhythm and Tempo. A Study in Music History, London: Dent 1953, S. 13 zu Rhythmus als »organized fluency« sowie Becking, Gustav: Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, Stuttgart: Ichthys 1958, S. 7 zu Rhythmus als »lebendiger Fluß im Tonkunstwerk«. 109 B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 64. 110 Vgl. F.W.J.v. Schelling: Philosophie der Kunst, S. 493 (§79). Zum musikalischen Rhythmus als System aus Zeiteinheiten vgl. Aristeides Quintilianus: De musica, I,31. 111 Zum Hören einer gestalteten Ordnung vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 138 sowie B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 76. Vgl. den Terminus »personnages rhythmiques« in der Musik Olivier Messiaens: rhythmische Strukturen, die wiederkehren und trotz Vergrößerung/Verkleinerung erkennbar bleiben.
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gung bedingen einander, werden als Eins empfunden; so koinzidieren Rhythmus von Bewegung und Rhythmus als Bewegung in der Wahrnehmung. Der Sinn des Rhythmus, Zeit – und auch Raum – zu gestalten und zu gliedern, gründet nicht nur in der Unterschiedlichkeit der Längen und Kürzen, sondern in deren Verbindungen, in den sich daraus konstituierenden Relationen und der darin enthaltenen Spannung.112 Das noch nicht Dagewesene geht aus dem Bezug auf das Vorherige hervor. Beziehungen und Wiederholungen generieren rhythmische Ordnungen, wobei Wiederholung stets lebendige Erneuerung inkludiert.113 Das Rhythmische wird demgemäß zu einem Richtmaß der Bewegung; die »Wiederkehr des Ähnlichen« (Ludwig Klages) prägt den Rhythmus, dessen Quasi-Regelmäßigkeit – nicht die periodisch strenge Gliederung – Raum für menschliche Gestaltungskraft schafft.114 Der Rhythmusbegriff weist auch in der Musik eine Diversität in seinen Bezügen zur Bewegung auf. So scheint er im Kontext von Bewegungsphänomenen, -funktionen und -charakteristika auf oder wird in der Literatur als Synonym für Bewegung gebraucht. Neben Bewegung sind die Termini Tempo, Metrum und Takt für den Vollzug im Zeitlichen und damit für Rhythmus von maßgeblicher Bedeutung115; historisch betrachtet weisen diese eine begriffliche Unschärfe auf. Der Rekurs auf die Musikgeschichte demonstriert, dass es sich bei Tempo, Metrum, Puls, Takt und Rhythmus um in den Epochen unterschiedlich konnotierte Termini handelt, die inhaltlich eng miteinander verbunden sind, deren Begriffsinhalte und (hierarchische) Bezüge sich aber vielfach verändert haben; sie korrelieren alle in Bewegung und wurden in ihren (heutigen) Bedeutungen erst nach Jahrhunderten spezifiziert. Sie werden in denselben musikalischen Kontexten gebraucht und zeigen eine Entwicklung des einen am anderen.116 Die Korrelation in Bewegung mag ein weiteres Pro-
112 Vgl. z.B. Mersmann, Hans: Musiklehre, Berlin-Schöneberg: Hesse 1929, S. 50 zu dieser elementaren Tatsache: »Die Dauer der beiden Töne steht in einem bestimmten Verhältnis.« 113 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 80 und L. Klages: Vom Wesen des Rhythmus, S. 31. 114 Vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 138. 115 Vgl. Aristeides Quintilianus: De musica, I,32 zu den Bestandteilen der Rhythmik. 116 Das Problem der (fehlenden) Differenzierung von Rhythmus, Metrum, Takt und Tempo, nicht zuletzt in der musikalischen Praxis, ist evident – vgl. dazu z.B. A. Spitznagel: Zur Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung, S. 17 oder Bresgen, Cesar: »Der Rhythmus im Leben der Völker«, in: Pflüger, Peter-M. (Hg.), Rhythmus - Entspannung - Heilung. Menschliches Fühlen und Musik, Fellbach: Bonz 1979, S. 9-37, hier S. 13. Als Bsp. für eine Korrelation der Begriffe vgl. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 7: Nachgelassene Fragmente 1869-1874 (= dtv,
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blem darstellen. Denn, wie der Philosoph Günther Gebauer in seinem Artikel anmerkt, öffnet sich mit Bewegung doch ein ungleich weites Begriffsfeld.117 Aus diesen Gründen lässt sich die doppelte Bedeutung von Rhythmus als Metabegriff, der die verwandten Termini umschließt einerseits und als singulärer Begriff neben den genannten Termini andererseits erklären.118 Dass aufgrund enger Bindungen eindeutige Definitionen schwer möglich sind, verdeutlicht das Faktum, dass genannte Aspekte ineinandergreifend ein System bilden, in dem es zur Synchronisation parallel existierender verschiedener Bewegungsebenen kommt, wodurch musikalische Gestaltung ermöglicht und eine organische Einheit der Aspekte in der Praxis erlebbar wird.119 In der griechischen Antike stellte der rhythmós den Nährboden dar, auf dem das Musische, d.h. die Einheit von Musik, Dichtung und Tanz, gedeihen konnte. Als solcher bezeichnete er das »Verhältnis der Tönedauern zueinander und ihren gestaltbildenden Prozess in Schreitbewegung und Musik«, wie Werner Schulze erklärt.120 Basis jeder rhythmischen Formation bildete das Maß des chrónos protos,
Band 2227), hrsg. von G. Colli, M. Montinari, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, Berlin/New York: de Gruyter 1988, S. 23 (Frag. I [46]): »Rhythmik der Bewegung [...]. Der Takt ist ihr eigenthümlich.« 117 Vgl. G. Gebauer: Ordnung und Erinnerung, S. 33. 118 Vgl. Dahlhaus, Carl: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. 2. Teil (= Geschichte der Musiktheorie, Band 11), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, S. 163. 119 Die Korrelation der verschiedenen Bewegungsebenen in der Musikwahrnehmung wird bereits in früheren Schriften erwähnt – vgl. z.B. L. Klages: Vom Wesen des Rhythmus, S. 30, Lussy, Mathis: »Die Correlation zwischen Takt und Rhythmus«, in: Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft (1885), S. 141-157, hier S. 147 oder Barthe, Engelhard: Takt und Tempo. Studien über die Zusammenhänge von Takt und Tempo (= Hamburger Telemann-Gesellschaft, Heft 2), Hamburg: Sikorski 1960, S. 3. Aktuell wird dies durch neurologische und musikpsychologische Untersuchungen gestützt (vgl. z.B. M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 216ff.). Es zeigt sich auch, dass die Rhythmuswahrnehmung auf verschiedene Areale des Gehirnes verteilt ist – vgl. Altenmüller, Eckhart/Schuppert, Maria/Kuck, Helen/Bangert, Marc/Grossbach, Michael: »Neuronale Grundlagen der Verarbeitung musikalischer Zeitstrukturen«, in: Müller/Aschersleben, Rhythmus (2000), S. 59-78, hier S. 60. 120 Schulze, Werner: »Grundzüge der antiken Musiktheorie«, in: Sorgner, Stefan L./ Schramm, M. (Hg.), Musik in der antiken Philosophie. Eine Einführung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 71-86, hier S. 72. Vgl. Aristoteles: Physik, V,882b: »Jeder Rhythmus erhält durch eine bestimmte Bewegung sein Maß.«
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eine gemeinsame Grundzeit, die auf der Empfindung jener Zeitspanne basiert, die innerhalb einer Bewegung als kürzeste Zeit empfunden wird.121 Die Relation der Längen und Kürzen wurde – einer gemeinsamen Wurzel von Rhythmus in Klangund Körperbewegung entsprechend – leibhaft empfunden: So konstituiert sich das Maß eines Fuß aus den »charakteristischen Bewegungsphasen« (Wilhelm Seidel) von ársis (heben) und thésis (senken) im bewegten Schritt als kleinste rhythmische Einheit, die den Zeitraum und die Raumzeit zwischen diesen zwei Bewegungen füllt.122 Die Bewegungsphasen werden dadurch in Ausgleich gebracht, ähnlich dem sich in der Musik des Abendlandes viel später entwickelnden Prinzip des Taktes.123 Das Maß eines Fuß (pús) meint insofern erfüllte Zeit, als diese dem Rhythmus bereits zugrunde liegt.124 Anders als der auf dem Körperlichen aufbauende Rhythmus der griechischen Antike konzentriert sich das Rhythmische in der Musik der Gregorianik (um 900 nach Christus) auf die Gliederung der Sprache in sinnvolle Abschnitte. Diese Musik ist von einer Gleichförmigkeit im freien Fluss der Längen und Kürzen gekennzeichnet, die noch keinem musikalischen Selbstzweck entsprechen.125 Rhythmus, wie er heute verstanden wird, spielte in mittelalterlichen Traktaten für die zeitliche Organisation keine Rolle, wohingegen das Rhythmische sehr wohl im Wechsel abgestufter innerer Gewichtigkeiten, in der Kombination der Längen und Kürzen zu verorten ist. Es existierte im gregorianischen Rhythmusverständnis aber keine Zeitorganisation, keine geordnete Einteilung der Betonung, sondern lediglich die Idee eines inneren Grundmaßes.126
121 Vgl. W. Schulze: Grundzüge der antiken Musiktheorie, S. 73. 122 Vgl. Georgiades, Thrasybulos: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik (= Rowohlts deutsche Enzyklopädie: Sachgebiet Musikwissenschaft, Band 61), Hamburg: Rowohlt 1958, S. 39 zur antiken Bedeutung von Fuß als bestimmte Zusammenstellung von Längen und Kürzen, die durch regelmäßige Wiederholung eindeutig zu erkennen ist. Vgl. J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 160, der in der Rede von Längen/Kürzen des Klanges auch noch im 18. Jahrhundert den Terminus Klangfuß gebrauchte. 123 Vgl. W. Seidel: Rhythmus, S. 13. 124 Vgl. T. Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen, S. 15ff. 125 Vgl. La Motte, Dieter de: Melodie. Ein Lese- und Arbeitsbuch, Kassel: Bärenreiter, Deutscher Taschenbuch Verlag 1993, S. 156. 126 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 60 und C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 48ff. sowie »Commemordio brevis« zit.n. M. Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 130: »Sie [Anm.: die Psalmen] mit Gleichheit zu singen, heißt griechisch rithmos, [...] während sie singen, soll durch das Schlagen mit dem Fuß oder der Hand [...] der Rhythmus angegeben werden.«
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Je mehr Sprache als primärer Sinnbezug der Musik wegfiel, Musik zunehmend auf den Menschen bezogen und die Stimmen erweitert wurden, desto mehr kam es zu bedeutenden Änderungen in der Gestaltung des musikalischen Prozesses – es kann hier sogar von einer »evolutionären Selektionsleistung« (Michael Walter) gesprochen werden. Da die Funktion von Sprache als Impulsgeber irrelevant wurde, mussten sowohl bisherige Gewichtungen eliminiert als auch eine rational rhythmisierte Notation geschaffen werden. So entstanden im 12. Jahrhundert (Notre Dame Epoche) mit der Modalnotation spezifische rhythmische Formeln (Modi), die als Notenverbindungen (Ligaturen) von Längen und Kürzen dargestellt wurden, jedoch noch keine einzelnen Notenwerte repräsentierten.127 Modi sind als Bewegungsmomente zu begreifen, die Proportionen erzeugen und einer Melodie Abgemessenheit verleihen. In der Mensuralmusik der Spätscholastik ab dem 13. Jahrhundert (Ars antiqua/Ars nova) erfuhr der Begriff Maß (lat. mensura) weiteren Bedeutungszuwachs. Die sich fortentwickelnde Idee relativer Zeitdauer (Longa:Brevis) verlangte nach einem Bezugssystem der Zeitmodule, das die Bewegungen ordnet und als gemeinsames Maß innerhalb der rhythmischen Struktur allem zugrunde liegt.128 Zum Orientierungspunkt in der Bewegung, gleichsam zum »undifferenzierten« Prinzip (integer valor notarum) wurde die Semibrevis bestimmt129, die als Schnittstelle der Bewegungen und Ursprung der Abweichungen verstanden wurde. Der Begriff des tempus bezeichnete dabei den Teilungsvorgang der Brevis in die Semibrevis130 und bezog sich damit auf das Maß der Tonbewegung der Brevis. Die Struktur dieser Musik setzte zunächst ein begrenztes temporales Total voraus, dessen Proportionen – ganz im Sinne der philosophisch-theologischen Idee des unbewegten Bewegers – noch statisch sind und das als eine große kreisförmige Bewegung empfunden wurde. So schrieb Marchetus von Padua im 14. Jahrhundert: »Tempus est mensura motus«.131 Auf der Idee der unverrückbaren Größe basierte die Dreiteiligkeit des Grundmaßes als tempus perfectum, symbolisiert durch den Kreis, der als Idealbe-
127 Vgl. lat. modus (Zeitmaß, Takt). Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 96ff. 128 Vgl. M. Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 195. 129 Vgl. Herbert Birtner zit.n. Dahlhaus, Carl: »Zur Theorie des Tactus im 16. Jahrhundert«, in: Archiv für Musikwissenschaft 1 (1960), S. 23-39, hier S. 23. 130 Vgl. Finck, Hermann: Practica musica. Nachdruck der Ausgabe von 1556, Hildesheim/Zürich/New York: G. Olms 1971, Lib. II: »Tempus est cognitio semibrevum in brevibus.« 131 Marchetus de Padua zit.n. W. Seidel: Rhythmus, S. 44. Vgl. ebd., S. 42ff., S. 13 und S. 36 sowie C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert II, S. 160. Vgl. M. Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 85 zu folgendem Begriffsinhalt des mittelalterlichen tempus: Es meinte »göttliche Intuition Zeit«, weiters die Zeit, das Maß und das Gemessene selbst und diente zur Beschreibung und Messung der Zeit.
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wegung rekursiv auf die mit der Dreizeitigkeit des Maßes assoziierte göttliche Trinität christlicher Theologie verweist.132 Mit Beginn der Neuzeit wurde im musiktheoretischen Diskurs auch eine binäre Teilung der musikalischen Grundeinheit, markiert durch den zweigeteilten Kreis, zugelassen (tempus imperfectum); Änderungen am Grundmaß selbst wurden jedoch nicht vorgenommen.133 Verschiedene Autoren verweisen hinsichtlich des Überganges von der Drei zur Zwei in der Musikgeschichte auf damit möglicherweise in Verbindung stehende, gleichzeitig stattfindende gesellschaftliche Umbrüche – markiert die Zwei in ihrer Vertikalität und Erdverbundenheit im Gegensatz zur kreisenden Drei doch ein völlig anderes Bewegungsgefühl und damit einen veränderten Weltbezug.134 Innerhalb dieser Epoche kam es auch zum Gebrauch der Bezeichnung tactus für den gleichmäßigen, aber innerhalb gewisser Grenzen variablen Grundschlag, der die systemische Bezugseinheit aller musikalischen Bewegungen, die Semibrevis, durch das Auf- und Abschlagen der Hand veranschaulichte.135 Polyphonie als nun wesentliches Gestaltungsprinzip abendländischer Musik hätte ohne eine derartige Anzeige des »Spielraums eines tempus« (Wilhelm Seidel) schwer auskommen können, gewährleistete diese Bewegungshandlung, diese sichtbare bewegte Abmes-
132 Der Bezug auf das Grundmaß bedeutet, dass sich die Dreizeitigkeit in den Schemata 1+1+1, 1+2 oder 2+1 darstellt. Vgl. Koch, Heinrich Christoph: Musikalisches Lexikon. Faksimilie-Reprint von 1802, hrsg. von N. Schwindt, Kassel u.a.: Bärenreiter 2001, S. 1503 zu tempus perfectum als Bezeichnung für »diejenige Trippel-Taktart, in welcher die Brevis drei Semibreves galt« und zu tempus imperfectum als »diejenige gerade Taktart, in welcher eine Brevis zwey Semibreves galt«. 133 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert II, S. 160. Vgl. das Traktat »Ars nova« (um 1320), in dem Philippe de Vitry auch die binäre Teilung beschreibt. 134 Vgl. N.J. Schneider: Musikgeschichte - harmonikal betrachtet, S. 199f. sowie V. Saftien: Ars saltandi, S. 88ff. Der Aufbruch einer proportionalen Starrheit kündigte sich ev. auch in Schriften italienischer Tanzmeister der Renaissance an, welche die misura als Zeitmaß der Bewegung nicht statisch, sondern als dynamischen Umgang mit Zeit verstanden haben. Vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 531: »Wann tritt [.] in der Musikgeschichte [...] das rhythmische Element für sich stark hervor? Immer dann, wenn sinnlich kraftvolles Lebensgefühl, das in der Erdbetonung in der Musik zum Ausdruck kommt, durchbricht.« 135 Vgl. lat. tactus (Berührung, Griff, Gefühl). Vgl. E. Barthe: Takt und Tempo, S. 3, weiters C. Dahlhaus: Zur Theorie des Tactus im 16. Jahrhundert, S. 23 sowie Bank, Joannes Antonius: Tactus, Tempo and Notation in mensural music from the 13th to the 17th Century, Amsterdam: A. Bank 1972, S. 7.
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sung, doch den Zusammenhalt der Komposition während der Darbietung.136 Trotz Gestaltungsmöglichkeiten von Gliederungen handelte es sich jedoch um einen unbetonten Grundschlag, an dem sich alle rhythmische Bewegung orientierte, wodurch ein gewisser Schwebezustand der musikalischen Gestalt (ohne Akzentuierung) beibehalten wurde.137 Die Idee vom tactus als beständigem Grundschlag blieb bis ins 16. Jahrhundert gültig – so ist bei Hermann Finck in »Practica musica« von 1556 noch zu lesen: »Tactus est motio continua, praecentoris manu signorum indifcio facta, cantum dirigens mensuraliter.«138 Im gelehrten Diskurs des 16. und 17. Jahrhunderts kam eine neue Bewegungsqualität in der Musik auf, die schließlich zu einer Begriffsverschiebung führte139: Nun wurden Betonung und Gewichtung zu Wesensmerkmalen des einst akzentlosen Taktes; Quantifizierung der Zeit wurde zur spezifischen Aufgabe des Rhythmus. Der Taktimpuls misst, indem er die rhythmisch entstandenen Zeitwerte zueinander in Beziehung setzt.140 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die Loslösung des Tactus von der Zeitwerteinheit einerseits und die Entwicklung des Taktbegriffes zum Synonym für Akzentordnung andererseits abgeschlossen. Der Takt wurde zur Summe aus Zeitwerten mit einer spezifischen Zeit- und Betonungsstruktur. Der Musik der Klassik ist die taktartige Gliederung wesentlich, insofern als Musik zur »beständigen Bewegung im Takt« wurde und dadurch »sinnliche Mitteilung musikalischen Sinns« vollzogen werden kann, wie Hans Heinrich Eggebrecht schreibt.141 »Musices seminarium accentus« (Denis Diderot)142. In der Intensität der markante Impuls des Taktes nun den dynamischen Charakter der Rhythmik bestimmte, kam es hinsichtlich des Maßbegriffes zu einer Bedeutungsverschiebung:
136 Vgl. J.A. Bank: Tactus, Tempo and Notation, S. 7. 137 Vgl. E. Barthe: Takt und Tempo, S. 14ff. und C. Dahlhaus: Zur Theorie des Tactus im 16. Jahrhundert, S. 23. 138 H. Finck: Practica musica, Lib. II. 139 Vgl. M. Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 168. 140 Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 282 zum Takt als »Zeitmaß«. Vgl. Quantz, Johann Joachim: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen. Repographie der Ausgabe von 1752, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1992, S. 55 (§11) zum »Tact« als »richtige Abmessung und Einteilung langsamer oder geschwinder Noten«. Vgl. weiters L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 27 (§1): »Der Tact bestimmet die Zeit, in welcher verschiedene Noten müssen abgespielet werden.« 141 H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 499. Vgl. Kirnberger, Johann Philipp: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik I/II. Nachdruck der Ausgabe 1776-1779, Hildesheim/Zürich/New York: G. Olms 1968, S. 103 zur Sinngebung durch Bewegung, Takt und Rhythmus. 142 Diderot, Denis: Le Neveu de Rameau, Paris: Presses Pocket 1996, S. 102.
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Das grundsätzlich an das Moment der Zeit gekoppelte Maß bezog sich einst konkret auf eine tönende Bewegung und war in diesem Sinne erfüllte Zeit; der Maßbegriff löste sich davon und hing fortan an einer (vor der Schlagfolge) leeren, amorphen Zeit. Primär ermöglichte dieser Bedeutungswandel mehrstimmiges Musizieren mit rhythmisch voneinander unabhängigen Stimmen.143 Im 17. Jahrhundert trat auch das Tempo als selbständiger Faktor der Komposition im Sinne einer festgelegten spezifischen Geschwindigkeit in Erscheinung und wurde häufig auch synonym mit Bewegung gebraucht. Meinte der alte tempusBegriff einst als Prinzip ein durchgängiges Grundmaß (analog zum konkret erfahrbaren tactus), steht der nun herausgebildete Tempo-Begriff für die Charakteristik einer Bewegung; umgekehrt bestimmt die Bewegung den Grad der Geschwindigkeit.144 Tempo ist somit einerseits Anzeige der Bewegungsart, andererseits misst es den zeitlichen Ablauf des musikalischen Ereignisses und ist in diesem Sinne auch Zeitmaß, d.h. Grad der Bewegung.145 Zeit zu messen meint somit, bestimmte Bewegungsabläufe zueinander in Beziehung zu setzen.146 Dies gilt auch für die Fixierung des Grundtempos eines Stückes147, das lange Zeit als Abweichung von der mittleren Norm, der »natürlichen Tempomitte« (Engelhard Barthe) begriffen wurde; als solche erhält der menschliche Herzschlag, der Atem oder die Gehbewegung musikhistorisch betrachtet Relevanz.148 Tempobegriffe wie langsam und schnell sind Relativbegriffe und benötigen den Bezug auf ein Gegenüber, einen Richtwert, eine vorangegangene oder nachfolgende Bewegung. Dieses Schaffen von Verhältnissen kann auch im »Binnenleben« (Franz Jochen Machatius) des Musikstückes stattfinden, ohne dass sich ein grundsätzlich festgelegtes Tempo ändert: Kurze und lange Notenwerte stehen, genauso wie das Schneller- und Langsamer-Werden (ac-
143 Vgl. T. Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen, S. 15ff. sowie C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert II, S. 160. 144 Vgl. J.P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, S. 103. 145 Vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 93 und H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 499. Vgl. z.B. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, S. 266 (55§) zum »Zeitmaaß«. 146 Vgl. Peters, Sibylle: »Bewegung als Konzept der Zeit: Figuren der Zeitmessung«, in: Klein, Bewegung (2004), S. 283-302, hier S. 298. Vgl. Augustinus: Musik, II,9,16: »Dasselbe Maß haben vermutlich jene [Anm.: Füße], die gleiche Zeit in Anspruch nehmen.« 147 Langsam, mäßig langsam, schrittmäßig, munter, geschwinde galten um 1800 als Tempo-Hauptarten. 148 Vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 96f. und E. Barthe: Takt und Tempo, S. 27. Vor 1500 musste das Normaltempo nicht extra angeführt werden, da ein Gefühl dafür vorhanden war (vgl. J.A. Bank: Tactus, Tempo and Notation, S. 9).
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celerando und ritardando), mit dem gleichmäßig verlaufenden, in seiner Geschwindigkeit eigentlich unveränderten Pulsschlag in einem Spannungsfeld149; dieses markiert auch der Begriff tempo rubato, bezeichnet dieser eine Abweichung vom eigentlichen Zeitmaß, eine subtile Elastizität im temporalen Prozess – »wo der Vortrag nicht fort will und doch fort geht« (Christian Friedrich Daniel Schubart)150 – und ist als Prinzip der Lebendigkeit für den künstlerischen Vortrag zu verstehen, das als Voraussetzung für ein ›gutes‹ Spiel gilt. Gleichbedeutend mit dem Begriff Zeitmaß war lange Zeit die Diktion »Bewegung der Mensur« (Andreas Werckmeister): Der Takt – das Wertmaß, in dem sich die Musik bewegt – wurde gleichzeitig als Angabe der Bewegungsart und damit des Tempos verstanden.151 Das »richtige« Tempo (tempo giusto) zu erfassen bedeutet, demgemäß, in einem der Taktart angemessenen Zeitmaß zu musizieren.152 Einerseits unterscheiden sich gerade und ungerade Taktarten voneinander: Dem ZweierTakt ist das Lineare, Spitze und Akzentgesättigte, das nach innen Gerichtete, »Erdfeste« inhärent, während der Dreier-Takt flüssig, organisch dahinströmend und
149 Vgl. Benary, Peter: Rhythmik und Metrik. Eine praktische Anleitung (= Theoretica, Band 7), Köln: Gerig 1973, S. 64 und G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 95. Vgl. den Begriff des »tektonischen Ritardandos« im 17. Jahrhundert als Änderung in der Unterteilung des Grundschlages. 150 Schubart, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hrsg. von L. Schubart. Wien: J.V. Degen 1806, S. 367. Vgl. H.C. Koch: Musikalisches Lexikon, S. 1502 zu tempo rubato als »entwendetes Zeitmaaß, oder eine Bewegung, die aus einer andern Taktart entwendet worden ist.« Vgl. weiters Furtwängler, Wilhelm: Gespräche über Musik, Zürich: Atlantis/Wien: Humboldt 1948, S. 73f. zum rubato als »zeitweiliges Freierschwingen des Rhythmus aus seelischen Impulsen heraus«. 151 Vgl. Maurer Zenck, Claudia: Vom Takt. Untersuchungen zur Theorie und kompositorischen Praxis im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/ Wien: Böhlau 2001, S. 327. Vgl. H.C. Koch: Musikalisches Lexikon, S. 1755 zum »Zeitmaaß« als »Grad der Geschwindigkeit« bzw. S. 1502 zu Tempo als »Taktbewegung« oder »Zeitmaaß«. Ähnlich äußern sich auch andere Nachschlagewerke des 18. und 19. Jahrhunderts. Vgl. L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 30 (§7) sowie S. 59 (§1) zum Takt als Anzeige der Bewegungsart. Vgl. Schlegel, August Wilhelm: »Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache« (1795), in: Naumann, Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik (1994), S. 137-153, hier S. 145 zur »Basisbeschaffenheit der Empfindung«, die den Bewegungen einen gewissen Takt vorgebe. 152 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert II, S. 168. Vgl. J.P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, S. 103 zum Erreichen eines Gefühles für das tempo giusto durch Übung in Tanzstücken. Tempo giusto bedeutet für Kirnberger, die Bewegung als Komponist und Interpret richtig zu treffen.
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»metaphysisch« erscheint, wie Ernst Kurth festhält.153 Andererseits ist die Größe der Taktzahl ausschlaggebend: Taktarten mit wenigen Unterteilungen sind im Unterschied zu jenen mit vielen von Schwere und Langsamkeit gekennzeichnet.154 Im beginnenden 17. Jahrhundert kam es zu einem Bedeutungsverlust der Taktarten hinsichtlich der Tempobezeichnung, einhergehend mit einer pragmatischen Reduktion ihrer Anzahl; trotzdem galten Tempowörter nicht als alleinige Indikatoren, sondern mehr als Zusatz und Modifikation der Vortragsart.155 Das zunehmende Bedürfnis nach präziser Umsetzung der Tempovorstellung des Komponisten spiegelt sich in der Komplexität der Angabe unterschiedlicher Geschwindigkeitsgrade wider und erhielt einen hohen Stellenwert für die Interpretation.156 Konzentrierten sich Versuche im 18. Jahrhundert darauf, Zeitangaben in Rastern zueinander in Relation zu stellen, führten die exakter werdenden Tempoangaben im beginnenden 19. Jahrhundert schließlich zur Erfindung des Metronoms im Jahr 1816.157 Aus der Zeit der Romantik sind besonders ausführliche verbale Bezeichnungen der Bewegungs-
153 Vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 533ff.; der Dreiertakt wurde speziell zur Umsetzung heftigerer Körper- oder Gemütsbewegungen gebraucht. 154 So wurde der Allebreve-Takt im Italienischen auch als tempo maggiore bezeichnet. Vgl. L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 28f. (§4): »Diese Gattungen der Tacte sind schon hinlänglich den natürlichen Unterscheid einer langsamen und geschwinden Melodie einigermaßen anzuzeigen [...].« 155 Vgl. Hindemith, Paul: Übungsbuch für elementare Musiktheorie, Mainz: B. Schott’s Söhne 1975, S. 85 sowie L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 30 (§7). Verschiedene Autoren auch des 18. Jahrhunderts widmeten sich den unterschiedlichen Taktarten (z.B. Johann Philipp Kirnberger, Johann Georg Sulzer oder Leopold Mozart). Vgl. C. Maurer Zenck: Vom Takt, S. 15f. sowie Wolf, Uwe: »Artikel ›Notation/17.-19. Jahrhundert‹«, in: Finscher, Ludwig (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Sachteil. Band 7 (= MGG), Kassel u.a.: Bärenreiter 1997, S. 339-350, hier S. 341 zum bewussten Einsatz der Funktion des Taktes als Tempokennzeichnung in späteren Jahrhundert, z.B. bei Anton Bruckner. 156 Erste Tempoangaben durch Beiwörter scheinen schon im 16. Jahrhundert auf. In den musikalischen Nachschlagewerken und in der musikalischen Literatur ab dem 19. Jahrhundert werden Begriffe und auch Metronomzahlen zur Angabe der Bewegungsart, die Uneinheitlichkeit im Verständnis von Tempo-Begriffen, die Problematik der »Metronomisierung« sowie die Frage nach der Authentizität der Tempi erwähnt und diskutiert: vgl. z.B. Gollmick, Carl: Kritische Terminologie für Musiker und Musikfreunde, Frankfurt am Main: Sauerländer 1839, S. 6 oder Riemann, Hugo (Hg.): Musik-Lexikon, Berlin: Hesse 1922, S. 113. 157 Vgl. C. Maurer Zenck: Vom Takt, S. 19.
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art bekannt wie »sehr feierlich und langsam« (bei Anton Bruckner) oder »schwer, aber nicht gedehnt« (bei Richard Wagner). Mit Rekurs auf die musikhistorisch aufzufindende Kulmination der Begriffe Rhythmus, Takt, Metrum und Tempo und auf deren vielfältige Bezüge zu Bewegung, von den Anfängen der abendländischen Musik in der griechischen Antike bis ans Ende des 19. Jahrhunderts, sei abschließend mit einem ›Sprung‹ in die Postmoderne in aller Kürze bemerkt, dass die davor tradierten Konzepte an Bedeutung verlieren: Spätestens in der Mitte des 20. Jahrhunderts kam es zu Ausbrüchen aus Zwängen regulärer Takteinteilung, strenger Ordnungsprinzipien und Festschreibungen des Tempos und zu einer Suche nach neuen Orientierungspunkten im System des musikalischen Verlaufes.158 John Cages Werk »4'33''« steht exemplarisch für eine absolute Negation eines Konzeptes von Tempoangaben und gegliedertem Rhythmus durch ein einzelnes vorgegebenes Maß.159 Beschreibt Paul Hindemith die historische Entwicklung von Rhythmus als einen Weg von der ungegliederten Form zur gegliederten, kann mit Konzepten Neuer Musik heute also wieder ein Bezug zu den Anfängen der Musikgeschichte hergestellt werden.160 Die wechselseitige Beziehung der Aspekte Ordnung und Freiheit stellt sich in der inhaltlichen Diversität der Begriffe Rhythmus, Takt, Maß und Tempo und ihrem Nexus als Konstante dar. Wenngleich sich auch hier keine eindeutigen Festlegungen auf Termini vornehmen lassen können, wird offenbar, dass Musik und ihr Rhythmisches jene Spannung meinen, die aus dem Kontrast, dem Wechselspiel oder der Negation von Ordnung und Freiheit, von Gliederung und Veränderung, von Kontinuum und Abweichung, resultiert.161 Dieses »Katz-und-Maus-Spiel« –
158 Vgl. E. Barthe: Takt und Tempo, S. 8 sowie Saxer, Marion: »Die Emanzipation von der metrischen Zeitordnung - eine Utopie? Zeitkonzeptionen in der Musik nach 1945«, in: Primavesi, Patrick/Mahrenholz, Simone (Hg.), Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten, Schliengen: Edition Argus 2005, S. 52-70, hier S. 52. 159 Vgl. Neidhöfer, Christoph: »Beobachtungen zum Tempo bei John Cage vor 1950«, in: Dünki, Jean-Jacques/Haefeli, Anton/Rapp, Regula (Hg.), Der Grad der Bewegung. Tempovorstellungen und -konzepte in Komposition und Interpretation 1900-1950 (= Basler Studien zur Musik in Theorie und Praxis, Band 1), Bern u.a.: P. Lang 1998, S. 87-112, hier S. 102. 160 Vgl. Hindemith, Paul: »Probleme eines heutigen Komponisten« (1948), in: Ders., Aufsätze. Vorträge. Reden (1994), S. 203-206, hier S. 204. 161 Vgl. P. Hindemith: Übungsbuch für elementare Musiktheorie, S. 119. Im antiken Rhythmusbegriff scheinen die Komponenten Ordnung und Freiheit ebenso bereits auf.
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um an eine Aussage des Choreografen John Cranko anzuschließen162 – soll ausgehend von den Funktionen der einzelnen Komponenten skizziert werden. Ein Ordnungs- und Gestaltungsrahmen, der die Bewegungen der Agierenden zusammenhält, wird zunächst durch Pulsschlag und Metrum festgelegt, die einen lebendigen, bewegten Hintergrund konstituieren.163 Der periodische Grundschlag (auch Puls oder Beat) konstituiert sich aus der gleichmäßigen und kontinuierlichen Wiederholung identer Momente. Das Metrum als basalstes »Einteilungsprinzip« (Dieter Mersch) lässt durch Gewichtungen – die in der musiké der griechischen Antike eng an den Sprachrhythmus gekoppelt waren – eine Bewegungsordnung entstehen: Rhythmus in seiner einfachsten Form.164 Dieses erste Maß herzustellen und zu erkennen, mag eine spezifisch humane Fähigkeit darstellen.165 In dieser Fundamentalität ist das Metrum, trotz der Gleichmäßigkeit als sein Wesensmerkmal, nicht als »objektiv gegebenes, feststehendes Gitter« (Carl Dahlhaus), als abstraktes Schema zu verstehen; vielmehr realisiere sich darin eine »Folge von Augenblicken«, die mit dem wahrnehmenden Subjekt »wandern«, wie Carl Dahlhaus anmerkt.166 Diese dem Metrum inhärente Bewegung manifestiert sich nicht zuletzt darin, dass es nicht an die Auditivität gekoppelt ist, sondern im Sinne eines bereits
162 Vgl. Cranko, John: »Bewegung und Musik«, in: Wolgina, Lydia/Pietzsch, Ulrich (Hg.), Die Welt des Tanzes in Selbstzeugnissen, Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1979, S. 262-274, hier S. 268: »[...] man spielt wie eine Katze mit einer Maus mit diesem metrischen System.« Vgl. P. Hindemith: Übungsbuch für elementare Musiktheorie, S. 124 zur widersprüchlichen Beziehung von Metrum und Rhythmus. 163 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 100. 164 Vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 92. Vgl. H. Mersmann: Angewandte Musikästhetik, S. 51 zur »sym-metrischen Gliederung der Zeit.« 165 Vgl. altgriech. métron (Maß). Der Aspekt des »rechten Maßes« wurde bereits an früherer Stelle besprochen. Platon beschreibt das Gefühl für Maß und Maßlosigkeit in den Bewegungen (Zeitmaß und Harmonie) als spezifisch menschlich (vgl. Nomoi, II,654a); ähnlich formuliert es Thomas Morus im 16. Jahrhundert in seiner Erzählung »Utopia«, S. 105: »Das Tier lässt seinen Blick nicht [...] auf der Ordnung [...] des Universums weilen. [...]. Es kennt die Beziehungen der Töne nicht.« Vgl. A.W. Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, S. 147: »An den Bewegungen der Glieder [...] ist also das Zeitmaß das erste unterscheidende Kennzeichen seiner Natur.« Dass Puls und Metrum vermutlich auch ontogenetisch betrachtet in der Entwicklung des Rhythmus die Basis bilden, wird bei Bruhn, Herbert: »Kognitive Aspekte der Entwicklung von Rhythmus«, in: Müller/Aschersleben, Rhythmus (2000), S. 227-244, hier S. 236 erwähnt. 166 C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 100.
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auf der prädisponierenden Metaebene existenten Kontinuums aufzufassen ist.167 Auf dem Gleichmaß aufbauend wird mit dem Takt eine weitere »spezifisch zeitliche Organisationsform« (Michael Walter) festgelegt; eine »Regulierung« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel), die nach Akzenten gewichtet und diese ordnet.168 Die zwar eingeteilte, aber noch frei fließende Bewegung des Metrums wird einer Abmessung unterzogen, wodurch ein »makrorhythmisches Ordnungsmaß« (Marcel Dobberstein) entsteht, das die Identität der Gestaltung stützt und Regelmäßigkeit gewährleistet.169 Die rhythmische Struktur, für welche die Veränderung der musikalischen Substanz zentral ist170 , war bis ins 20. Jahrhundert an den Takt gebunden (wenngleich dies auch eine Abweichung vom Taktschema inkludierte). Rhythmus bedeutet demgemäß »wechselnd-gesetzmäßige Bewegung einzelner Glieder« (Eduard Hanslick) im Maß des Taktes oder funktional betrachtet »bewegungsbindendes Gesetz« (Richard Wagner).171 Mit dem Schriftsteller Stefan George heißen »freie« Rhythmen also »soviel als weisse schwärze«172 . Die positive Konnotation von geordneter Bewegung im Allgemeinen wird im musikalischen Rhythmus um die dadurch geschaffene Erleichterung im Aufnehmen des sinnlich Wahrnehmbaren und um die Automatisierung von Bewegungsprozessen – nicht zuletzt im Bereich der Ar-
167 Vgl. P. Benary: Rhythmik und Metrik, S. 28. 168 Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 284 sowie Grant, Parks (Hg.): Handbook of Music Terms, Metuchen N.J.: The Scarecrow Press 1967, S. 236. 169 Vgl. H. Mersmann: Angewandte Musikästhetik, S. 51: »[...] er [Anm.: der Takt] ordnet die Einzeltöne in bestimmte, immer wiederkehrenden Gruppen. Durch diese Gruppierung werden die Töne nicht nur auf einander, sondern auch fortwährend auf das Ganze bezogen.« 170 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 100. Vgl. P. Benary: Rhythmik und Metrik, S. 9 zu Dauer-Verhältnissen, die den Rhythmus prägen. 171 Platon bezeichnet den Rhythmus als »Maß der Bewegung« (vgl. Nomoi, II,665a). Eine mögliche etymologische Wurzel des Rhythmusbegriffes, die in der Literatur aufscheint und sich auf den Aspekt der gebundenen, beschränkten Bewegung bezieht, ist altgriech. erýomai (abwehren, schützen). Vgl. A.W. Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, S. 151 zum Rhythmus als »Gesetz der Bewegung«; eine Ordnung von Gesang und Tanz durch das Zeitmaß sei erforderlich, »wenn man nicht bacchantisch durcheinander toben soll«. 172 George, Stefan: Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen, Berlin: G. Bondi 1925, S. 86.
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beit173 – erweitert.174 Gliederung verhindert ein reines Bewegungskontinuum, indem aus dem ungeschiedenen Verlauf eine Abfolge bestimmter Bewegungen erzeugt wird.175 Innerhalb dieser Gesetzmäßigkeit kommt es zu einem Wechselspiel von Regelmaß durch Wiederholung und Variation durch Akzentuierung. So schreibt Aristeides Quintilianus in seinem Traktat zur Musik: »Während die Töne wegen der Gleichartigkeit der [...] Bewegung die Verknüpfung [...] ohne deutlichen Ausdruck bewirken [...], legen die Gliederungen des Rhythmus die Ausdruckskraft [...] auf genaue Bestimmung fest, weil sie ungleichmäßig wechselnd und doch gesetzmäßig geordnet den Geist bewegen.«176
Das durch Iteration entstehende Regelmaß des Rhythmus basiert nicht auf der Wiederkehr des völlig Gleichen; vielmehr besteht Rhythmus in der »Wiederkehr des Ungleichen« (Bernhard Waldenfels). Ist es Kennzeichen des lebendigen Rhythmus, in eins ordnungsbildend und -verändernd zu sein, wie Waldenfels festhält, und damit gleichzeitig die Rückbindung des Kommendem an das Aktuelle sowie ein Neubeleben sicherzustellen, ist das Moment der Variation fundamental. Die
173 Zur »herausragenden Rolle« des Rhythmus bei der täglichen Arbeit vgl. E. JaquesDalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, S. 62: »Er ist es, der die einzelnen Bewegungen erleichtert, indem er sie automatisiert.« 174 Aus der Fülle an Äußerungen zu diesem Aspekt seien exemplarisch drei Beispiele herausgegriffen: vgl. zunächst Augustinus: Musik, II,1,2: »Es besteht [.] gar kein Zweifel, daß dem Versklang, der [...] dir Genuß bereitet, ein Zahlenmaß innewohnt [...].« Vgl. weiters H.C. Koch (Hg.): Musikalisches Lexikon, S. 1257 zur Erfahrung, »daß eine regelmäßige Wiederhr in der Bewegung sonst ganz gleichgültiger Dinge für das Gefühl etwas anziehendes hat.« Und schließlich ein Beispiel aus dem Tanz – vgl. Cullberg, Birgit: »Der Raum und der Tanz«, in: Wolgina/Pietzsch, Die Welt des Tanzes in Selbstzeugnissen (1979), S. 275-304, hier S. 293: »[...] es ist auch die ordnende Zeiteinteilung, der Rhythmus, die uns angenehm sind.« 175 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 64. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust I (Vorspiel auf dem Theater), Vers 146: »Wer teilt die fließend immer gleiche Reihe/ Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt?« 176 Aristeides Quintilianus: De musica, I,31. Vgl. Cicero, Marcus Tullius: De oratore. Über den Redner. Lateinisch und deutsch (= Universal-Bibliothek, Band 6884), Stuttgart: Reclam 1976, III,186: »In einer Periode ohne Unterbrechung gibt es [.] keinen Rhythmus, die Gliederung und der Takt [...] bringen ihn erst zustande.« Vgl. Augustinus: De musica, I,I,1: »Selbe Quantitäten können sich durch die unterschiedliche Stelle des Akzents unterscheiden.«
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Wiederholung, wie sie den Rhythmus prägt, bildet, erhält und verändert Ordnung, weil sie Momente als Gleiche aneinander bindet, die nicht völlig ident sind.177 Rhythmus besitzt das Potenzial, sich vom Taktschema zu emanzipieren, d.h. der Ordnung kontrastierend gegenüberzutreten.178 Exemplarisch dafür steht die Synkope als Abweichung von der regelmäßigen Bewegung.179 Sie verlagert den Schwerpunkt und bewirkt ergo eine Divergenz von verändertem Akzent und gleichbleibendem Gewicht.180 Diese Abweichung verursacht ein verändertes Bewegungsgefühl im Sinne einer vorwärtstreibenden Vitalität181 – dies drückt sich im synonymen englischen Terminus »Driving-Notes«, wie er von John Playford in der »Introduction to the skill of Musick« (1694) gebraucht wird, aus.182 Als spezifische Form entwickelte sich im 18. Jahrhundert die Fantasie aus dem Impetus heraus, der Taktordnung zu entsagen. Sie wurde von Carl Philipp Emanuel Bach als frei definiert, da sie »keine abgemessene Takteinteilung enthält« – schließlich führe jede Takt-Art »eine Art von einen Zwang mit sich«.183 Ab 1800 wurde das Wechselspiel von Freiheit und Ordnung in der Musik zunehmend hervorgehoben.184 Lag der Akzent in der Definition des Rhythmus zuvor auf dem Maß, innerhalb dessen Bewegung stattfindet, kam es zur Bedeutungsverschiebung: Nun wird der Aspekt der Bewegung betont.185 Im 20. Jahrhundert steht die Autonomie der Bewegung im Zentrum, was
177 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 80 sowie N.J. Schneider: Die Kunst des Teilens, S. 103. 178 Vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 76 und G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 287. 179 Vgl. ebd. 180 Durch Synkopen wird die Taktordnung »verschleiert« (vgl. Wiora, Walter: Das musikalische Kunstwerk, Tutzing: Schneider 1983, S. 86) und von der Gewichtung befreit (vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 534). 181 Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 66 und P. Benary: Rhythmik und Metrik, S. 59 sowie D.d. La Motte: Melodie, S. 127. 182 Playford, John: An Introduction to the skill of Musick. Republication of the 12th Edition published in 1694, New York: Da Capo Press 1972, S. 74. 183 Carl Philipp Emanuel Bach zit.n. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 515. 184 Vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 76 zu Beispielen aus der Musikliteratur, wo strenges Taktmaß – Ausdruck höchster Ordnung – streckenweise dem Rhythmus als freiem Lebensgefühl gegenübergestellt wird wie bei Ludwig van Beethoven: »Symphonie Nr. 8, F-Dur, Allegretto« (op. 93). Vgl. Kirchhoff, Jochen: Klang und Verwandlung. Klassische Musik als Weg der Bewußtseinsentwicklung, München: Kösel 1989, S. 155 bzgl. Robert Schumanns »Liederkreis« (op. 39): »Man sieht, wie der lebendige Rhythmus [...], in seinem fluktuierenden Auf und Ab, die starre Taktgliederung überspielt [...].« 185 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert II, S. 163.
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nicht zuletzt exemplarisch an Olivier Messiaens Musik explizit wird und sich in seiner Aversion gegenüber fixierten, gleichmäßigen Unterteilungen äußert; Inspiration hole er sich aus den unregelmäßigen, zufälligen Bewegungen in der Natur, so der Komponist.186 Das Rhythmische ist wie kein anderer Bereich der Musik im Leiblichen beheimatet.187 Die körperliche Existenz des Menschen in Raum und Zeit ist wesentlich eine rhythmische und Ursache dafür, dass sich das Erleben von Metrum, Takt, Rhythmus und Tempo der Musik als derart elementar darstellt.188 Von einer Veranlagung des Menschen zur Struktur189 zeugen verschiedene, vielfach auch ritualisierte und gruppenbedingte Bewegungshandlungen, in denen wiederum die ältesten musikalischen Grundrhythmen wurzeln. Arbeits- und Tanzbewegungen190, Kulthandlungen und Sprache sind mit der Entwicklung des Rhythmischen in der Musik eng verflochten.191 Die Erfahrung von Gliederung der eigenen Körperbewegung – die bereits pränatal stattfindet192 – ist nicht nur Basis für die Wahrnehmung und Gestaltung des musikalischen Verlaufes und den Erwerb differenzierter rhythmischer Fähigkeiten; auch hinsichtlich des Speicherns rhythmischer Folgereihen, dem vor der Verschrift-
186 Vgl. Olivier Messiaen zit.n. E. Proebst: Die neue Musik, S. 104. Vgl. M. Saxer: Die Emanzipation von der metrischen Zeitordnung, S. 56. 187 Vgl. Paul Valéry zit.n. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 70: »Es ist unmöglich, einen Rhythmus zu denken.« Waldenfels bezieht Valérys Zitat auf die Verflechtung von Wahrnehmung und leiblicher Eigenbewegung. Vgl. weiters E. Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, S. 51: »1. Rhythmus ist Bewegung. 2. Bewegung ist etwas Körperliches.« 188 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 15 sowie Thomas, Roswitha: »Der Begriff der Gestalt in der Musik und der Psychologie«, in: Frohne-Hagemann, Isabelle (Hg.), Musik und Gestalt. Klinische Musiktherapie als integrative Psychotherapie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999, S. 13- 35, hier S. 30f. 189 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 219 sowie W. Wiora: Die vier Weltalter der Musik (= Urban-Bücher, Band 56), Stuttgart: Kohlhammer 1961, S. 14. 190 Vgl. C. Bresgen: Der Rhythmus im Leben der Völker, S. 11. In der Literatur werden verschiedene rhythmische Arbeitsbewegungen wie Segelziehen, Reissäen oder Abdreschen erwähnt; vgl. Karl Bücher: »Arbeit und Rhythmus« (1899). Vgl. E. Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, S. 32 zum Gehen als »Vorbild des Taktes«. 191 Vgl. T. Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen, S. 37, weiters M. Lex/G. Padilla: Elementarer Tanz, S. 19 sowie F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, S. 408 (Frag. 16 [43]). 192 Vgl. Parncutt, Richard: »Pränatale Erfahrung und die Ursprünge der Musik«, in: Oberhoff, Die seelischen Wurzeln der Musik (2005), S. 21-40, hier S. 27.
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lichung von Musik eine besonders bedeutsame Rolle zufiel, ist der im Körperlichen grundgelegte und kognitiv-strukturelle, motionale und emotionale Dimensionen umfassende ›rhythmische Sinn‹ fundamental.193 Genuin körperliche Bedeutung hat der rhythmós im Musischen der griechischen Antike, beinhaltet der zeitliche lógos nicht nur die Vorstellung einer Bewegung, sondern ist in der konkreten Widerfahrnis der Bewegung von Heben und Senken des Fußes im Schreittanz begründet.194 Die dem Rhythmischen eigentümlichen Dauer-Verhältnisse meinen genau das, was Proportionen ausmacht: eine Bewegung, die aus einem lebendigen Zwischen hervorgeht.195 Äquivalent dazu können die Zeitmodule der Modalnotation (12. und 13. Jahrhundert) als Körperfunktion betrachtet werden, derart die notierten Ligaturen und die ausströmende Atembewegung der Sänger konform gehen und dadurch Bewegungsverhältnisse generieren.196 Auch der tactus ist eng mit physischer Bewegung verbunden: Das beständige Auf (elevatio) und Nieder (positio) der schlagenden Hand197 entspricht dem akzentlosen Grundmaß mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Musik, das darüber sicht- und spürbar wurde.198 Es handelte sich dabei um ein genuin aus Bewegung entstehendes Maß; wie der Dirigent und Komponist Engelhard Barthe schreibt, diente die »bewegliche Hand als Maß für musikalische Bewegungsabläufe.«199 Die sich nach und nach entwickelnde Gewichtung bestimmter Zeiten war an ein neues Bewegungsgefühl respektive Empfinden der Schwerkraft gekoppelt. Taktar-
193 Vgl. Rösing, Helmut: »Wechselwirkungen zwischen der Herstellung und Aufführung von Musik«, in: Bruhn, Herbert/Rösing, Helmut (Hg.), Musikwissenschaft. Ein Grundkurs (= Rowohlts Enzyklopädie, Band 55582), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998, S. 191-207, hier S. 192. Vgl.weiters M. Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 105 sowie Elscheková, Alica: »Überlieferte Musik«, in: Bruhn/Rösing, Musikwissenschaft (1998), S. 221-237, hier S. 230. 194 Vgl. W. Seidel: Rhythmus, S. 64 zum antiken Rhythmus-Begriff, der nie ohne Bewegung denkbar sei. 195 Vgl. W. Schulze: Grundzüge der antiken Musiktheorie, S. 73 sowie Salmen, Walter/ Schneider, Norbert Jürgen: Der musikalische Satz. Ein Handbuch zum Lernen und Lehren (= Innsbrucker Beiträge zur Musiklehre, Band 1), Rum/Innsbruck: Helbling 1987, S. 9. 196 Vgl. M. Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 214. 197 Vgl. lat. tactus (Berührung, Griff, schlagen). Vgl. die Definition des tactus von Georg Falck (1688) zit.n. E. Barthe: Takt und Tempo, S. 4: »richtige, beständige Niederlassung und Aufhebung der Hand [...]«. 198 Vgl. C. Dahlhaus: Zur Theorie des Tactus im 16. Jahrhundert, S. 23 und M. Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 107. 199 E. Barthe Takt und Tempo, S. 6.
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ten sind im Sinne eines spezifischen Verhältnisses von Gewichtungen und der damit verbundenen Empfindung der Gravitation also kinästhetisch wahrnehmbar.200 Im 18. Jahrhundert stellte sich eine Kongruenz von manueller Schlagbewegung und Taktgewichtung ein. In der musikpädagogischen Praxis widmete man sich der Empfindung der Taktart als ganzheitlichem Vorgang: Den Takt mit der Hand zu schlagen, diesen Vorgang visuell wahrzunehmen und ihn schließlich selbst motorisch umzusetzen, um ihn zu verstehen, zählte zum musikalischen ›Handwerkszeug‹, wie anhand der Quellen, z.B. bei William Tans’ur (1756), ersichtlich wird: »In beating Time, tho’ Motion helps the sight,/ yet, Thought’s the Prime, to move all Parts aright.«201 Hinsichtlich der differenzierenden Wahrnehmung gerader und ungerader Taktarten kann schließlich im Rückblick auf das 16. Jahrhundert noch auf ein spezielles Moment verwiesen werden. Der Wechsel zwei- und dreiteiliger Bewegung innerhalb einer übergeordneten formalen Einheit (Sesqialtera) stellte in der Kombination von Tänzen in dieser Zeit eine lebendige und allgemeine Erfahrung dar.202 Dem Vortanz (dupliert) und Nachtanz (tripliert) lag zwar dieselbe Melodie zugrunde, jedoch divergierten sie in ihrer Bewegungsart: Auf das ruhige Dahinschreiten im Reigen folgte der lebendige, gesprungene Nachtanz.203 Neben der Fundierung des Taktprinzips im Körperlichen basiert auch das Erfassen des musikalischen Tempos auf dem »natürlichen Maß« (Engelhard Barthe) kör-
200 Vgl. P. Benary: Rhythmik und Metrik, S. 47 sowie G. Becking: Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 20. Vgl. Höller, Klaus: Menschenkundliche Grundlagen der Tonheileurythmie aufgrund von Goethes Tonlehre und der Ätherlehre Rudolf Steiners, Borchen: Ch. Möllmann 2003, S. 42 zum Zusammenhang von Taktentwicklung und der Bewusstwerdung des Menschen für die physische Schwere des eigenen Leibes. 201 William Tans’ur 1756 zit.n. C. Maurer Zenck: Vom Takt, S. 21. Vgl. J. Playford: An Introduction to the skill of Musick, S. 76. Vgl. L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 27 (§8): »[...] der Lehrmeister dem Schüler [.] die Hand zum Tacte führet, [...] ihm [...] Stücke von verschiedener Tactart [...] vorspielet, und den Lehrling den Tact ganz allein dazu schlagen lässt: um zu versuchen, ob er die Abtheilung, Gleichheit und endlich auch die Veränderung der Bewegung verstehet.« Und ähnlich bei J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, S. 57 (§17): »[...] man gewöhne sich [.], mit der Spitze des Fußes gleiche Schläge zu machen.« 202 Vgl. E. Barthe: Takt und Tempo, S. 17. 203 Vgl. ebd., S. 16 sowie D.d. La Motte: Melodie, S. 105. Die Beziehung der Tänze wird häufig auch in ihrer Bezeichnung deutlich, so z.B. bei Der Schefer Tantz und Der Sprungk Darauff. Vgl. die Beschreibung von Vor-/Nachtanz bei Johann von Münster: »Ein gotseliger Tractat von dem ungotseligen Tantz« (1594).
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perlicher Funktionen und Erfahrungen.204 So ist ein Grundtempo direkt im Leiblichen verortet; lange Zeit diente der menschliche Pulsschlag, integer valor sanguinis humani205, als Ausgangspunkt für die Tempofindung respektive für das Grundmaß206; dieser Zusammenhang zählt zu häufig behandelten Themen im musiktheoretischen Diskurs.207 Ein weiteres kinästhetisch verhaftetes Normtempo stellte das Andante, zentrale Tempokategorie der Wiener Klassik dar, das sich auf den konkreten Schritt in der menschlichen Gehbewegung bezieht.208 Diese Bewegung muss in ihrer damals üblichen Geschwindigkeit eine derart universale psychomotorische Erfahrung dargestellt haben, dass sich Diskussionen über die Auffassung des Andante erübrigten.209 Grundsätzlich ist festzuhalten: Tempobezeichnungen bleiben abstrakt, werden sie nicht leiblich empfunden.210 Eine adäquate Umsetzung bedeutet also zunächst eine innerliche Vorwegnahme des Tempos, beginnt das Bewegungskontinuum eines Musikstückes nicht erst mit dem klingenden Ton, sondern geht diesem
204 Vgl. E. Barthe: Takt und Tempo, S. 27. Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 274f. zu wissenschaftlichen Untersuchungen des Zusammenhanges von Tempo und anthropologischen Größen. 205 Der Pulsschlag (sanguinis humani) war in der Mensuralmusik Grundlage des NormTempos (der Brevis oder Semibrevis) – des integer valor notarum (vgl. Bindel, Ernst: Die Zahlengrundlagen der Musik im Wandel der Zeiten, Stuttgart: Freies Geistesleben 1985, S. 332). Vgl. auch J.A. Bank: Tactus, Tempo and Notation, S. 11f. zum Wissen um den Zusammenhang von biologischen Rhythmen und Tempo in der Mensuralmusik. 206 Vgl. N.J. Schneider: Die Kunst des Teilens, S. 43: »Die Vergegenwärtigung des Pulsschlages gehörte einst zur Selbst-Orientierung des Menschen, die über das Zeitgefühl wie über die emotionale und körperliche Befindlichkeit gleichermaßen eine Aussage macht.« 207 Vgl. die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von menschlichem Puls und Musik in Antike und Mittelalter (z.B. bei Herophilos, Galen, Isidor von Sevilla, Cassiodor und Avicenna). Auch bei Vitruv: De architectura, I,15 wird der Puls als Maß in Musik und Medizin erwähnt. Im 16. und 17. Jahrhundert erfuhr dieser Diskurs eine Neubelebung. Vgl. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, S. 261 (§47). Vgl. weiters Suppan, Wolfgang: Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik (= Musikpädagogik. Forschung und Lehre, Band 10), Mainz u.a.: Schott 1984, S. 107 und P. Hindemith: Übungsbuch für elementare Musiktheorie, S. 11. 208 Vgl. ital. andare (gehen). 209 Vgl. C. Maurer Zenck: Vom Takt, S. 67. 210 Vgl. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, S. 260 (§45), J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 173 (§21) sowie C. Bresgen: Der Rhythmus im Leben der Völker, S. 11f. zur Notwendigkeit, das Zeitmaß innerlich zu empfinden/sich vorzustellen.
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bereits voraus.211 Dadurch kommt es zu einer Fusion des hörbaren Tempos des Musikstückes mit dem gefühlten, innerkörperlich nachvollzogenen – analog zu ähnlichen Erfahrungen außerhalb der Musik wie bei Franz Kafkas Protagonist einer seiner Erzählungen: »Ich marschiere und mein Tempo ist das Tempo dieser Gassenseite, dieser Gasse, dieses Viertels.«212 Der vielfältige Körperbezug des Rhythmischen findet Entsprechung in einer eklatant häufig auftretenden Assoziation mit dem Vitalen, Dreh- und Angelpunkt von Bewegung. Rhythmus und die hier mit ihm besprochenen Aspekte wurden die Musikgeschichte hindurch gemeinhin als jene Momente in der Musik verstanden, die beleben und dem musikalischen Ausdruck zugrunde liegen.213 Stand in der Antike konkret das rhythmische Verhältnis als sicht- und fühlbares, naturgegebenes Apriori im Zentrum, betonten Vertreter der Epochen der Romantik und des Fin de Siècle emphatisch und generalisierend den Rhythmus im Allgemeinen als vitales Fundament in den Künsten, speziell im Musikalischen.214 An der Schwelle zum 20. Jahrhundert wurde Rhythmus zum Inbegriff einer Realität hinter den lebendigen Phänomenen und als solcher zum terminologischen Fokus innerhalb der Reformbewegungen und künstlerischen Strömungen auf der Suche nach geistiger Erneuerung: Als das eigentliche »Leben« des Kunstwerkes, als Bewegung wurde das Rhythmische hervorgehoben.215 Innerhalb der Interpretationsmöglichkeiten von Rhythmus als Fundament des Lebendigen fällt dem Prinzip der Polarität und der daraus entstehenden Spannung eine bedeutende Rolle zu. Sinnvolle Wechsel und Bezugnahme konträrer Bewe-
211 Vgl. Ludwig Rottenberg zit.n. Rapp, Regula: »Vorwort«, in: Dünki/Haefeli/Rapp, Der Grad der Bewegung (1998), S. 9-12, hier S. 11 sowie C. Bresgen: Der Rhythmus im Leben der Völker, S. 11f. 212 Kafka, Franz: »Der Nachhauseweg« (1913), in: Ders., Die Erzählungen. Originalfassung, Fischer Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1997, S. 14. 213 Rhythmus wird als »Pulsader« (Eduard Hanslick) der Musik bezeichnet, als »herrschende Potenz« (Friedrich Wilhelm Joesph von Schelling) und »Urkraft« (Fritz Reuter) der Musik. Bei Emile Jaques-Dalcroze ist Rhythmus als Ausdruck des Lebens zentral. 214 Vgl. Naumann, Barbara: »Einleitung: Vom Unbehagen am Rhythmus«, in: Dies. (Hg.), Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 7-14, hier S. 8. 215 Vgl. C. Dessauer-Reiners: Das Rhythmische bei Paul Klee, S. 13 und E. Fitzthum: Von der Reformbewegung zur Musiktherapie, S. 26. Zum Rhythmischen als Fundament der Kunst/des Kunstwerkes vgl. E. Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, S. 199 und Wolf Dohrn zit.n. Bienz, Peter: Le Corbusier und die Musik, Braunschweig: Vieweg 1999, S. 47.
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gungsphasen sind gleichsam rhythmische Urphänomene, die nicht nur Musik, sondern das Leben insgesamt prägen. Dazu zählen Phänomene wie Diastole und Systole, Werden und Vergehen, Spannung und Entspannung. Die dynamische Relation, welche rhythmischen Phänomenen zugrunde liegt, ist – insbesondere im Ineinandergreifen von Kontinuität und Diskontinuität – auch Merkmal der Entwicklung von Persönlichkeit.216 In der musikalischen Handlung erfahren diese polaren Prinzipien durch die jeweilige Intention des Komponisten eine Spezifizierung und Systematisierung.217 Neben dem Aspekt der Polarität ist es v.a. jener der Abweichung von der im Allgemeinen in Metrum und Takt verorteten Gleich- und Regelmäßigkeit, der den Rhythmus kennzeichnet; so bemerkt der Komponist François Couperin Anfang des 18. Jahrhunderts: »Je trouve que nous confondons la Mesure avec ce qu’on nomme [.] Mouvement. [...] Cadence, est proprement L’esprit, et L’âme qu’il y faut joindre.«218 Eine Lebenszugehörigkeit des Rhythmus spricht sich in einer Quasi-Regelmäßigkeit aus, der das erneuernde Spiel inhärent ist. Doch darf an dieser Stelle keiner falschen Dichotomie von Takt oder Metrum einerseits und Rhythmus andererseits stattgegeben werden, insofern als diese Aspekte miteinander verbunden sind und das Metrische in der Musik zwar einen Maßstab darstellt, aber auch stets eine lebendige Bewegung voraussetzt.219 Das Potenzial des Rhythmi-
216 Vgl. C. Bresgen: Der Rhythmus im Leben der Völker, S. 9 sowie L. Klages: Vom Wesen des Rhythmus, S. 33 zur Bedeutung des Rhythmus in der menschlichen Entwicklung und im Leib-/Seelenleben. Hellmuth Benesch (zit.n. A. Spitznagel: Zur Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung, S. 9) definiert Rhythmus als »Ausdruck einer inneren menschlichen Fähigkeit«. Von Jean-Jacques Rousseau existiert eine Untersuchung zur Analogie von Rhythmus und Affekt (vgl. La Motte-Haber, Helga de: Handbuch der Musikpsychologie, Laaber: Laaber 1985, S. 44f.) und bei G. Simmel: Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik, S. 189 wird auf die Verbindung von »seelischen Rhythmen« und dem Lebensgefühl einer Epoche hingewiesen. 217 Vgl. L. Mozart, Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 27 (§2), weiters W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 65, M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 221 sowie W. Seidel: Rhythmus, S. 11ff. 218 Couperin, Francois: L’art de toucher le clavecin. Die Kunst das Clavecin zu spielen, Leipzig: Breitkopf und Härtel 1933, S. 24. (»Ich finde, dass wir Takt verwechseln mit dem, was man [...] Bewegung nennt. [...] der Rhythmus ist [.] der Geist und die Seele, die man damit verbinden muss.«). 219 P. Benary: Rhythmik und Metrik, S. 65 zur Lebendigkeit des Metrums, das sich vom Metronomischen abhebe. Vgl. Howard, Walther: Auf dem Wege zur Musik. Band 1. Auf dem Weg zum Rhythmus, Berlin/Leipzig: Simrock 1926, S. 37f.: »[...] musizieren heißt [.], die verschiedenen Notenlängen [.] innerlich in lebendiger Beziehung zu erhal-
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schen liegt in der das Organische kennzeichnenden Ungenauigkeit und Variation; die exakte Periodizität hingegen wird im Bereich des Anonymen, des Maschinellen angesiedelt.220 Dies verdeutlicht der Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner, wenn er schreibt: »Alles Lebendige zeigt Unstetigkeit im Stetigen, regelmäßige Unregelmäßigkeit, statisch sowie dynamisch.«221 Als Lebendiges braucht auch das Künstlerische die Abweichung, die Schwankung, die Unterbrechung, das Fremdartige, den Störfaktor in der Strukturierung, um produktive Spannung zu generieren. Absolute »Eurhythmie«, wie Bernhard Waldenfels konstatiert, verwechselt Geschlossenheit und Maß mit Gleichmaß.222
1.5 M USTER II Das Rhythmische formt in seiner Bewegung wiederholbare Gestalten.223 Alle drei Phänomene – Rhythmus, Bewegung und Muster – sind wechselseitig miteinander verbunden.224 Die im temporalen Verlauf der Musik entstehenden dynamischkinetischen, »in die Zeit eingebetteten« (Oliver Sacks) Klangmuster charakterisieren die Individualität des Gesamtereignisses.225 Das Wesen dieser spezifischen Bewegungsgestalten ist jedoch nicht in einer bloßen Addition begründet, sondern zeichnet sich vielmehr durch die sich erzeugende Spannung aus.226 So stiftet die fortwährende Beziehung unter den einzelnen Bewegungsphasen – jeweils aufeinan-
ten zu den Taktschlägen. [...] Die gleich langen Taktteile können nur innerlich erlebend geschaffen werden [...].« 220 Vgl. L. Klages: Vom Wesen des Rhythmus, S. 198, weiters F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 76 und T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 90. Vgl. Jourdain, Robert: Das wohltemperierte Gehirn. Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt, Heidelberg/Berlin: Spektrum 2001, S. 381 zur Variation, die temporärer neuronaler Erschöpfung entgegenwirke. 221 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin: de Gruyter 1965, S. 124. 222 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 79 sowie ebd., S. 54, weiters W. Wiora Das musikalische Kunstwerk, S. 84ff., L. Klages: Vom Wesen des Rhythmus, S. 35, H. Mersmann: Angewandte Musikästhetik, S. 55 und F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 134. 223 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 80. Vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 94f. zur Bedeutung von Rhythmus als sichtbarer Gestalt in der Antike. 224 Vgl. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 63 zur Dynamik der Gestalt. 225 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 62. 226 Vgl. ebd., S. 67 sowie Ders.: Das leibliche Selbst, S. 67f.
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der sowie auf das Ganze bezogen – Einheit227 , wie auch Theodor W. Adorno in Bezug auf Arnold Schönbergs drittes Streichquartett (erster Satz) festhält und damit die Bedeutung dieser Muster innerhalb einer Zwölftonkomposition herausstreicht: »Daß Schönberg das ehedem von ihm sorglich ausgeschlossene Prinzip der Ostinatobewegung zitiert, hat darin seinen Grund: Die Bewegung soll einen Zusammenhang stiften, der von Klang zu Klang nicht mehr und kaum im einzelnen Klang besteht.«228 Die Relevanz des Rhythmischen als Muster zeigt auch der sensorische Aspekt: Musikwahrnehmung insgesamt wird seitens der Naturwissenschaft unter anderem als Einheit der Resultate von Mustererkennungsprozessen aufgefasst.229 Musik zu hören heißt in diesem Sinne, bestimmte Strukturen herauszuhören; das menschliche Gehör tendiert dazu, Gruppierungen zu bilden.230 »Das Unmittelbare [aber] sind keine Impressionen, sondern [...] Gestalten«, bemerkt Maurice MerleauPonty.231 Die Qualität des Rhythmischen, Muster in Bewegung zu erzeugen, spiegelt sich in zahlreichen Termini der Musikgeschichte wider. Die Modi der Modalnotation formierten sich als Zeitquantitäten-Reihen zu rhythmischen, wiederkehrenden Kombinationsmustern, die vom Komponisten zusammengefügt wurden.232 Der Figura-Begriff in der Mensuralnotation bezieht sich auf die einzelne Note in ihrer fixierten Zeitdauer, lässt in seiner klanglichen Bedeutung aber auch die Assoziation mit der charakteristischen Bewegungsphase einer Frequenz zu.233 Figur bedeutet schließlich in der Barockmusik – angelehnt an Modelle der Rhetorik – eine Kombination unterschiedlicher Notenwerte zu einer typischen Abfolge, die, genau festge-
227 Vgl. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 58 sowie H. Mersmann: Angewandte Musikästhetik, S. 50f.; vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 66 zum strukturellen Denken, das davon ausgeht, dass »eines mit dem anderen zusammenhängt«. 228 Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 239), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 83. 229 Vgl. Synonyme für rhythmische Muster wie z.B. auditive Sequenzen, sequenzielle Muster, Entities und Auditory event/image/scene. 230 Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 67f. 231 Maurice Merleau-Ponty zit.n. ebd., S. 65. Vgl. A. Spitznagel: Zur Geschichte der psychologischen Rhythmusforschung, S. 8ff. zur Auffassung von Rhythmuserleben als Synthese elementarer Schallempfindungen (z.B. bei Wilhelm Wundt) sowie als Gestalt (in der Gestaltpsychologie z.B. bei Theodor Erismann). 232 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 121, weiters W. Salmen/N.J. Schneider: Der musikalische Satz, S. 9 und M. Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 153f. 233 Vgl. ebd., S. 214.
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legt, zur Darstellung eines Affektes oder einer Aussage dient.234 Dem Muster haftet in der Musik nicht zuletzt auch ein formales Agens an: Die Idee von sich dauernd wiederholenden, einfachen Grundmustern ist Fundament der Ostinati und Grounds der Renaissancemusik, funktional den Patterns in der Musik des Jazz verwandt: Als Fundament und Steuerzentrale fungiert jeweils ein gleichbleibendes rhythmisches Muster, über dem die Melodie sich frei und variierend gestaltet und ausbreitet.235
1.6 M ELODIE Inkludiert die Rede von Melodie häufig auch ein rhythmisches Moment236 , wird in folgendem Abriss die Konzentration lediglich auf den Verlauf der Tonhöhe gelenkt. Die Betrachtung von Melodie in diesem Sinne kann – vergleichbar dem Rhythmusbegriff – schwer ohne Bewegung auskommen237, handelt es sich wiederum um Beziehungen und Veränderungen, die auch das Melodische und das Harmonische prägen238: »Melody would be less mysterious if it were merely a sequence of acoustic
234 Vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 32. Vgl. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, S. 56 (§15) zur Triole als eine »Art von Figur«. 235 Vgl. J. Playford: An Introduction to the skill of Musick, S. 194: »[...] Composing upon a Ground, a very easie thing to do, and requires but little Judgement [...].« Vgl. den Basso ostinato im 16. Jahrhundert, v.a. in Tanzformen wie Chaconne, Folia und Pasacaglia. 236 Vgl. E. Kurth: Musikpsychologie, S. 250 sowie G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 299 zur Verwirklichung der Melodie durch den Rhythmus. Bei L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 70 (§1) wird Melodie als »beständige Abwechslung und Vermischung nicht nur hoher und tiefer, sondern auch langer und kurzer Töne« definiert. 237 Der Begriff »musikalische Bewegung« wird bei E.G. Wolff: Grundlagen der autonomen Musikästhetik, S. 81 gleichbedeutend mit »Melodie« verwendet und ähnlich bei G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 59 als dem »Wort Melodie« implizit verstanden. 238 Vgl. Platon: Nomoi, II,673a zur Tonweise als Bewegung der Stimme sowie Aristeides Quintilianus: De musica, I,9 zur Bewegung des melodischen Klanges. Lt. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 47f. existiere kein Musikwissenschaftler oder Musiker, der melodische Tonfolgen nicht als Bewegung auffassen würde. Dass Melodie Bewegung sei, kann lt. F. Beinroth: Musikästhetik von der Sphärenharmonie bis zur musikalischen Hermeneutik, S. 157 als ein Kerngedanke der Theorien Ernst Kurths bezeichnet werden. Vgl. Dahlhaus, Carl: »Artikel ›Melodie/B. Systematisch‹«, in: MGG 6, S. 3863, hier S. 39 zur Skepsis gegenüber dem Begriff »melodische Bewegung«, der die Raum-Analogie mit den profilverändernden »points d'attractions« sowie mit rhythmischen, dynamischen und emotionalen Momenten undifferenziert zusammenfasse.
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changes; but it is change of a particular kind – [...] movement«, wie Roger Scruton anmerkt239. Bewegung als steter Wechsel von einem Ort im Tonraum zum anderen240 ist fundamentales Prinzip der Musik.241 Die ständige Veränderung, das »Gehen und Bewegen aller Töne« (Ernst Bloch) erzeugt eine »kinetische Kontinuität« (Gerhard Albersheim)242, die sich in Termini wie Folge, Sukzession, Gang, Fortschreiten, Durchqueren oder Reihe, die in Definitionen von Melodie gebraucht werden, widerspiegelt; auch werden daran der teleologische Charakter und das Entwicklungspotenzial dieser Bewegung deutlich.243 Im Verlauf dieses Prozesses wird eine hörbare, im Notenbild sichtbare oder innerlich spürbare Kontur generiert.244 Diese, sich selbst in Bewegung befindliche Linie entfaltet sich in ihren Kurven und ist unmittelbarer Eindruck des, der Melodie inhärenten, Bewegungszuges245, den der Musikwissenschaftler Walter Wiora wie
239 R. Scruton: The aesthetics of music, S. 49. 240 Vgl. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 142 zu Melodie als »geordnetes Nacheinanderfolgen meßbarer Töne«. Vgl. E.G. Wolff: Grundlagen der autonomen Musikästhetik, S. 81 zu Melodie als »tonsinnlicher Zustandswechsel/-folge«. Vgl. Hornbostel, Erich Moritz von: »Melodischer Tanz. Eine musikpsychologische Studie« (1903), in: Ders., Tonart und Ethos. Aufsätze zu Musikethnologie und Musikpsychologie (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft, Band 117), Wilhelmshaven: F. Noetzel/Heinrichshofen 1999, S. 76-85, hier S. 78 zur Richtung der Melodie, die verschiedene Wirkungen erzeuge und so nicht nur metaphorisch von Melodiebewegung sprechen lasse. 241 Vgl. Hauer, Josef Matthias: Vom Wesen des Musikalischen. Grundlagen der Zwölftonmusik, Berlin: Lienau 1966, S. 7 zu Melodie als das Musikalische im Menschen sowie E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 142f. zu Melodie als »das Leben [...] des Tonreichs«. 242 Vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 52ff. sowie Abraham, Lars Ulrich/ Dahlhaus, Carl: Melodielehre (= Musik-Taschen-Bücher: Theoretica, Band 13), Köln: Gerig 1972, S. 31. Vgl. das häufig erwähnte »fließende« Wesen der Melodie, z.B. bei J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 150 (§110) oder Assafjew, Boris V.: »Intonation - Symbolik - Semantik« (1930), in: Karbusicky, Sinn und Bedeutung in der Musik (1990), S. 47-49, hier S. 47. 243 Vgl. E.G. Wolff: Grundlagen der autonomen Musikästhetik, S. 91 zu der zwischen den Grenzen von Anfangs- und Endton evoluierenden Melodie. 244 Vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 51ff. 245 Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 63 sowie L.U. Abraham/C. Dahlhaus: Melodielehre, S. 31ff.; vgl. La Motte-Haber, Helga de: »Kräfte im musikalischen Raum. Musikalische Energetik und das Werk von Ernst Kurth, in: Dies./ Schwab-Felisch, Musiktheorie (2005), S. 283-310, hier S. 294 zu Ernst Kurths umfassenden Verständnis von der melodischen Melodie als »Fortbewegungsdrang«.
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folgt beschreibt: »Zwischen den Tönen [...] und durch sie hindurch vollzieht sich melodische Bewegung in Schritten und Sprüngen, Läufen und Kurven, Emporschwingen und Hinabstürzen.«246 Die in der bewegten Linie repräsentierte Lebendigkeit der Verbindung zwischen den Tönen und zum Melodieganzen ist durch die essenzielle Spannung in jenem Zwischenraum gegeben, der von zwei Tönen als Intervall247 gebildet wird oder zwischen klingendem Tonereignis und Pause entsteht. Die Töne stehen nicht für sich allein, sondern bilden Kombinationen von Spannungsträgern248, impliziert doch der jeweils gegenwärtige Ton die Hinwendung 249 zum unmittelbar verklungenen sowie zum folgenden. Die Veränderung der melodischen Kurve markiert hinsichtlich der Tonhöhe (steigen) und -tiefe (fallen) ergo weniger quantitative Differenzen der Frequenzpositionen; vielmehr steht der qualitative Aspekt in der Gestaltung des Weges250 im Vordergrund, »[...] das fortwährende Sichändern der Relationen, der Beziehungen von Ton zu Ton und von Ton
246 W. Wiora: Das musikalische Kunstwerk, S. 86. 247 Vgl. lat. inter-vallos (zwischen Pfählen). Das Moment des Räumlichen am Intervall wird in vielen Nachschlagewerke seit dem 18. Jahrhundert erwähnt, vgl. exemplarisch Barnikel, Johann Christoph (Hg.): Kurzgefaßtes Musicalisches Lexicon. Neudruck der Ausgabe von 1749, Leipzig: Zentralantiquariat der Dt. Demokrat. Republik 1975, S. 191 zum Intervall als »Raum zwischen zweyen Noten [...] oder ein Sprung [.] aus einem Ton in den andern«. Auch in der Literatur finden sich zahlreiche Assoziationen zum Räumlichen; mit Intervall synonym bzw. erklärend gebraucht werden Begriffe wie »Raum« (Johann Mattheson), »Tonweite« (Leopold Mozart), »Entfernung« (Boëthius), »Höhenunterschied« (Anton Bruckner) oder »Gliederung des Raumes« (Hans Mersmann). 248 Vgl. E.G. Wolff: Grundlagen der autonomen Musikästhetik, S. 68 zur »klangsinnlich perzipierten Zweitonspannung des Intervalls« sowie S. Bimberg: Einührung in die Musikpsychologie, S. 9ff. zu den in der Melodie enthaltenen Spannungsverläufen. 249 Vgl. J.Ch. Adelung/D.W. Soltau/F.X. Schönberger (Hg.): Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Band 4, S. 624 zu Ton als »Klang in Beziehung auf andere Klänge«. Vgl. Nowak, Adolf: »Artikel ›Musikästhetik/I. Gegenstand und Methode - II. Geschichte‹«, in: MGG 6, S. 968-998, hier S. 993 mit Bezug auf Edmund Husserls »Vorlesungen zum Phänomen des inneren Zeitbewußtseins« (1928): »Wäre das Hören nur ein Registrieren isolierter Töne, so käme es nie zur Erfahrung der Gegenwart [...] einer Melodie. Der jeweils gegenwärtige Ton enthält in sich die Beziehung auf den unmittelbar verklungenen.« Vgl. W. Howard: Die Tonmittel der Musik in ihren natürlichen Beziehungen, S. 5 zu den Intervallen als das »Material« der Musik. 250 Vgl. Figdor, Helmuth/Röbke, Peter: Das Musizieren und die Gefühle. Instrumentalpädagogik und Psychoanalyse im Dialog (= Studienbuch Musik), Mainz u.a.: Schott 2008, S. 150ff.
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zum Bezugssystem überhaupt.«251 Die Essenz des Melodischen, fundierend im Wesen des Intervalls, dem musikalischen »Urerlebnis« (Josef Matthias Hauer) schlechthin, manifestiert sich, wie der Komponist und Theoretiker Josef Matthias Hauer betont, in der im Zwischenraum stattfindenden Bewegung.252 Dem räumlichen Moment des Intervalls wird mit dem Aspekt der Bewegung die Identität der Gebärde hinzugefügt: Die Tonrelation erhält Bedeutung, ist ein Sinn-Etwas und transzendiert eine bloße Abfolge von Tonschritten, weil ihr Bewegung inhärent ist.253 Das Moment des Überganges zwischen den einzelnen Stationen verbindet diese, stiftet Zusammenhang und lässt die Abfolge zum »Träger der musikalischen Bewegung« (Ernst G. Wolff) werden. Für diesen Bewegungsaspekt kann der diffus erscheinende Begriff des Melos254 herangezogen und rekurrierend auf die hauersche These funktional als die im Zwischen wirkende Bewegungskraft gedeutet werden; bereits in der Antike stand dieser Begriff im Kontext von Verlauf und Werden, von Tonraum und Diastematik.255 Das Melos liegt demnach der Melodie als Bewegung zugrunde, wird aber erst mit dem
251 S. Bimberg: Einührung in die Musikpsychologie, S. 15. Vgl. Hugo Riemann zit.n. A. Nowak: Artikel »Musikästhetik/I. Gegenstand und Methode-II. Geschichte«, S. 971 zur Formung des Materials zu einem Beziehungsgefüge. 252 Vgl. Hauer, Josef Matthias: Deutung des Melos. Eine Frage an die Künstler und Denker unserer Zeit, Leipzig u.a.: E.P. Tal & Co 1923, S. 22f. und ebd., S. 33 sowie Ders.: Vom Wesen des Musikalischen, S. 13f. 253 T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 168. Vgl. weiters R. Scruton: The aesthetics of music, S. 52f. 254 Vgl. altgriech. mélos (das Einzelne, Glied, Teil). Vgl. C. Dahlhaus: Artikel »Melodie/B. Systematisch«, S. 38 zu zwei Bedeutungsebenen von mélos: (1) im umfassenden Sinn die Melodie(-Gestalt), (2) im engeren Sinn die Diastematik betreffend ein unselbständiges Moment an der Melodie. 255 Zur Bedeutung von mélos in der Antike vgl. Michaelides, Solon: The Music of ancient Greece. An Encyclopaedia, London: Faber and Faber 1978, S. 202: »In music song; tune; choral or lyric song; melody generally. In vocal music it was composed of three elements: the sounds (notes), the rhythm and the words.« Zu Letzterem vgl. Platon: Politeia, III,398d. Vgl. Aristoxenos von Tarent zit.n. C. Dahlhaus: Artikel »Melodie/B. Systematisch«, S. 38: »Das Melos besteht im Werden, wie auch die andern Teile der Musik.« Vgl. Martianus Capella, in der Übersetzung von F.W. Marpurg zit.n. SchmittLudwig, Nicole: »Artikel ›Melos‹«, in: MGG 6, S. 118-121, hier S. 120 zum Melos als Verbindung »scharfer Töne mit gelinden«. Es besteht also keine eindeutige Definition des antiken mélos (vgl. D.d. La Motte: Melodie, S. 88).
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ästhetischen Moment der Melodie realisiert.256 Sowohl das musikalische Intervall257 als auch das Geschehen, das unter dem Spannungsbogen von Anfang und Ende der Melodie steht, markieren jeweils eine »klangsinnliche Einheit« (Ernst G. Wolff). Die einzelnen Töne sind »Wegstationen« (Gerhard Albersheim), die nicht lediglich in Addition ein Ganzes ergeben, sondern miteinander in einem geordneten Zusammenhang stehen. In ihren Beziehungen führt die Vielfalt der Einzeldaten zu einem abgeschlossenen und lebendigen, tönenden Individuum – die Teile und das Ganze stehen in reziproker Verbindung.258 Als Gestalt oder Gebärde259 ist Melodie Bewegung in sich selbst: »Change in which nothing changes, a change which becomes the ›thing itself‹«.260 Gestalten zeichnen sich durch die Möglichkeit des Transponierens aus. Melodien als »Tonraumzeitgestalten« (Werner Danckert) können bei Konstanz der musikalischen Simultan- und Sukzessivgestalten in andere Tonlagen überführt werden. Der Vorgang des Transponierens besteht also in der Transposition einer gestalteten Bewegung.261
256 J.M. Hauer: Deutung des Melos, S. 10; vgl. ebd., S. 12ff.; vgl. E.M.v. Hornbostel: Melodischer Tanz, S. 80: »[..] könnte man sogar sagen, die Melodiebewegung sei älter und ursprünglicher, als die Melodie.« Vgl. B.V. Assafjew: Intonation - Symbolik - Semantik, S. 47 zu Melodie als Sonderfall einer Äußerung des Melos. Vgl. D.d. La Motte: Melodie, S. 88 zur Kritik an Josef Matthias Hauer, der mélos bzgl. verschiedenster musikalischer Phänomene anwendet. 257 Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 49 zum Intervall als »einfachste Tongestalt«. 258 Zum Erleben einer Gestalt, d.h. eines Ganzen in der Musik vgl. H. Grabner: Allgemeine Musiklehre, S. 26, weiters B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 66 und S. Bimberg: Einührung in die Musikpsychologie, S. 37f. sowie Hindemith, Paul: »Betrachtungen zur heutigen Musik« (1940), in: Ders., Aufsätze. Vorträge. Reden (1994), S. 131-176, hier S. 154. 259 Diese Begriffe scheinen auch in Definitionen von Melodie in Nachschlagewerken auf. 260 Henri Bergson zit.n. R. Scruton: The aesthetics of music, S. 49. 261 Vgl. ebd., S. 51 sowie G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 61. Vgl. Pepusch, John Christopher: A Treatise on Harmony: Containing The Chief Rules for Composing in Two, Three, and Four Parts. Nachdruck der Ausgabe von 1731, Hildesheim/New York: G. Olms 1976, S. 5 zu Transposition als »removing a Piece of Musick from one Pitch of sound to another [...].«
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1.7 H ARMONIE Parallel zur Melodie zählt die Harmonie zu den Gestaltungsprinzipien von Tonfolgen. Entsprechend der ursprünglichen außermusikalischen Bedeutung als Gefüge bezog sich der antike harmonía-Begriff in der musiké der Griechen auf die Verbindung hoher und tiefer Töne262 einer einzelnen Stimme zu einem Wohlklang, fundierend auf Zahlenordnungen.263 Harmonie wurde zunächst im handwerklichpraktischen Sinn, erst später musikalisch abstrahiert als Bewegung der Synthese von Gegensätzen in einer vollendeten Totalität verstanden.264 Mit der sich im 13. Jahrhundert entwickelnden Mehrstimmigkeit abendländischer Kunstmusik rückte der Fokus vom Göttlich-Jenseitigen auf das IndividuellIrdische: An die Stelle frei schwebender Melodien der responsorialen Gesänge des Klerus trat die Entwicklung mehrerer Stimmen und deren Verflechtung.265 Das Melodische der Melodie nährte sich nun aus dem Harmonischen, aus dem Bezug auf die andere Stimme, aus der Suche nach dem Kontrapunkt266: »Melodia [.] idem est quod armonia.«267
262 Vgl. Platon: Nomoi, II,665a. 263 Vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 76. Vgl. R. Schäfke: Geschichte der Musikästhetik in Umrissen, S. 24 zur Harmonie, d.h. Prinzip der Synthese, als Urfunktion der Kunst. Der antike Harmoniebegriff spielt auch in den Architekturtraktaten der Renaissance eine Rolle: Grundlage des Proportionsgedanken bildete für Leon Battista Alberti die wahrnehmbare Harmonie; zur Übertragung in die Architektur verwendete er den Begriff Beziehung (vgl. P. Bienz: Le Corbusier und die Musik, S. 136f.). 264 Vgl. Theon von Smyrna zit.n. R. Schäfke: Geschichte der Musikästhetik in Umrissen, S. 25: »Alles was den Zweck/ Wirkung des Einigens und Zusammenfügens der Gegensätze und der Vielheit hat, ist musikalischen Geistes.« Vgl. Ptolemaeus: Harmoniká, III,4. Vgl. weiters Platon: Politeia, III,410e zur Vereinigung von »Rauheit« und »Milde« im harmonischen Verhältnis. Vgl. Boëthius: De musica, V,1 zu Harmonie als Fähigkeit, die Differenz der hohen und tiefen Töne emotional/rational abzuwägen. 265 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 109. Erste zweistimmige Aufzeichnungen sind in der mehrstimmigen Musik des 9.-12. Jahrhunderts (Organum) zu finden. Zusammen mit der Funktionsharmonik zog ein ›menschliches Moment‹ des Strebens und des Wollens in die Musik ein (vgl. ebd., S. 301). Bei A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 14 wird darauf hingewiesen, dass die Zeit der ersten Anerkennung des Dreiklanges weltanschaulich mit der Zeit der Reformation und der Unabhängigkeit im Denken (vgl. z.B. Nikolaus Kopernikus und Giordano Bruno) zusammenfällt. 266 Vgl. L.U. Abraham/C. Dahlhaus: Melodielehre, S. 38: »[..,] die Substanz der Kontrapunkt-Melodik erwächst aus Relationen.« Vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 32:
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Analog zur kulturhistorisch beobachtbaren Zunahme einer Konzentration auf den Menschen und dessen Vitalität erschuf die Musik der Renaissance mit der sich entwickelnden Funktionsharmonik Möglichkeiten und Freiheiten, die in ihrer Bewegungsintensität differierenden Vorgänge im Menschen und seiner Umgebung umzusetzen und auch zuvor exkludierte ›imperfekte‹ Zusammenklänge (d.h. Terzen und Sexten) als Tonmaterial aufzunehmen: Das Unvollkommene erhielt als »sinnlich Reizvolles« (Hans Heinrich Eggebrecht) ästhetischen Wert.268 Der enge melodische Zusammenhang verlor im 16. Jahrhundert an Stetigkeit; der Klangstrom unterlag einer immer stärkeren Gliederung, die durch die Emanzipation der Stimmen zu linear selbständigen, paritätischen Prozessen, die in harmonischer Verbindung miteinander stehen, zustande kam.269 Das Verständnis von Polyphonie in den folgenden Jahrhunderten ist charakterisiert durch Bewegungsverhältnisse, die aus dem Vergleich simultan ausgeführter, autonomer, melodischer Bewegungen resultieren. Mit jeder Bewegung werden neue Relationen, »gleichsam raumplastische Verkörperungen« (Werner Danckert) generiert; der Umgang mit den entstandenen Spannungen bildet spezifische Klangreize.270 Musik wurde, wie von John Playford Ende des 17. Jahrhunderts definierte, zur »Art of expressing perfect Harmony [...] which Harmony ariseth from well-taken Concords and Discords.«271 Um diese Harmonie herzustellen, bedurfte es schließlich einer Reihe von ›Bewegungsregeln‹, welche das Fortschreiten der Stimmen, die sich parallel, in entgegengesetzter Richtung oder
»In unaufhörlicher Bewegung entfaltet sich der Satz. [...], pausiert eine Stimme singt die andere fort.« Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 81 zum »ungebrochen Dahinströmen« der Musik Guillaume Dufays. Als Beispiel für ein extrem dichtes harmonisches Geflecht der Stimmen vgl. Thomas Tallis: »Spem in alium« (16. Jahrhundert), ein Chorwerk mit bis zu vierzig Stimmen. 267 Tinctoris, Johannes: Terminorum musicae diffinitorium. Dictionary of Musical Terms. An English Translation of »Terminorum musicae diffinitarium« (1495) together with the Latin Text, hrsg. von C. Parrish, London: The Free Press of Glencoe Collier-Macmillan 1963, S. 40. 268 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 300ff. 269 Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 91 und ebd., S. 100. Vgl. weiters H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 113 und ebd., S. 210. Für Ernst Kurth, so F. Beinroth: Musikästhetik von der Sphärenharmonie bis zur musikalischen Hermeneutik, S. 160, existiere eine Bewegungsspannung in der Mehrstimmigkeit, sowohl im Polyphonen (»einzelne Linienfasern«) als auch im Homophonen (»Klangzüge«). Vgl. P. Hindemith: Unterweisung im Tonsatz, S. 103 zu »Bindung und Gliederung auseinanderstrebender melodischer Wellen«. 270 Vgl. S. Bimberg: Einführung in die Musikpsychologie, S. 67. 271 J. Playford: An Introduction to the skill of Musick, S. 135.
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auf unterschiedliche Art – ab und zu verweilend vs. stetig fortschreitend – bewegen können, organisieren.272 Harmonie und, ihr aktives Moment verdeutlichend, harmonische Bewegung273 wurden zum ästhetischen Prinzip tonaler Musik; Musik spricht durch die Verflechtung der Stimmen274: Das Miteinander der Stimmen275 – Georg Wilhelm Friedrich Hegel gebraucht in diesem Kontext den Begriff »Wahlverwandtschaften«276 – ist im tonalen System durch die Bewegung um einen zentralen Klang gekennzeichnet. Bewegung im Tonraum erhält insofern erst Sinn, als der Klang harmonisches Gebilde ist, das den Gesetzmäßigkeiten folgend den Hauptton der Melodie anstrebt.277 Klangstufenbezeichnungen wie Tonika, Dominante oder Subdominante stehen gleichsam stellvertretend für das Streben der Klänge und die initiierten Spannungen.278 Die Tonika als Basis und Ziel entspricht den Ruhemomenten von Ausgangsund Zielpunkt, die Bewegung der Tonfolgen und die Stufen dazwischen begren-
272 Vgl. die Begriffe motus rectus, motus contrarius, motus obliquus bzw. gleiche, parallele, verschiedene Bewegung oder Seiten-Bewegung, wie sie in den verschiedenen Nachschlagewerken des 18. und 19. Jahrhundert vorkommen. Vgl. C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 268 zu motus contrarius als »Ebbe und Flut« der Töne. 273 Vgl. J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 249: »Ohne Bewegung kann [...] die Harmonie nicht anders, als todt seyn.« Vgl. E. Kurth: Musikpsychologie, S. 204: »Überhaupt macht noch nicht die Lehre von den einzelnen Klängen die Harmonik aus, sondern erst die von der Klangbewegung.« 274 Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 132 und G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 292. In der Zeit der Klassik bildet sich eine Hierarchie von Haupt- und Begleitstimme. 275 Vgl. B. Waldenfels: Klangereignisse, S. 24 zum responsiven Charakter der Musik: »Das Zwischen, [...] das selbst Ereignischarakter hat, bewahrt die Einzelstimmen davor, zu einer Klangmasse zu verschmelzen [...].« 276 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik, S. 421. 277 Vgl. Christian Gottfried Körner zit.n. Schmidt, Marlene: Zur Theorie des musikalischen Charakters (= Beiträge zur Musikforschung, Band 9), München: Katzbichler 1981, S. 74. 278 Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 65 sowie W. Wiora: Das musikalische Kunstwerk, S. 87 zu Leittönen als Spannungsträgern, Umkehrpunkten, Richtungsweiser und Kraftquellen diatonischer Melodiebildung.
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zend279; harmonische Bewegung wird mit Hegel dann zu einem Zurückkehren in die »Identität«.280 Die Möglichkeit, Grenzen der Tonart zu überschreiten, wird mit der Modulation, einer Bewegung des Überganges, des Ausweichens oder Verschiebens, hergestellt.281 Geläufige Definitionen der Modulation als Vermittlung zwischen Tonarten haben jedoch nur für bestimmte historische Zeiträume, v.a. für die Epochen von Barock und Klassik, Geltung.282 Im ursprünglichen Wortsinn bezog sich modulatio direkt auf die Bewegung der Melodie, handelte es sich um die Führung einer Stimme, um den Umgang mit einer Tonart, um die Art und Weise des Fortschreitens. Für Musiktheoretiker der ausgehenden Antike wie Augustinus oder Cassiodor war mit dem Modulationsbegriff die Kenntnis der Bewegung als peritia movendi gemeint; dieser Begriffsinhalt verlor jedoch an Bedeutung.283 Jahrhunderte später erhielt die Modulation in der Musik der Romantik, speziell bei Richard Wagner, den Stellenwert eines selbständigen harmonischen Prozesses, der keiner Rechtfertigung als Weg vom Ausgangs- zum Zielort bedarf.284 Diese ›Emanzipation‹ der Modulation setzte sich um 1900 weiter durch. Mit musikalischen Explorationen jenseits tonaler Grenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der zielgerichtete Bezug auf eine Tonart aufgegeben. Unbekannte melodisch-harmonische Bewegungen wurden generiert, die Roger Scruton folgendermaßen beschreibt: »new forms of musical movement, in which boundaries are shifting or non-existent, [...], melodiousness«.285
279 Vgl. S. Bimberg: Einührung in die Musikpsychologie, S. 44 sowie La Motte-Haber, Helga de: »Zeitschichten. Berlioz - Debussy - Strawinsky - Messiaen, in: La Motte, Zeit in der Musik - Musik in der Zeit (1997), S. 35-47, S. 41. 280 Vgl. G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik, S. 297. 281 Vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 547 zu Modulation als »Ausweichungsspiel«. Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 64 zum »Überführen« in eine andere Tonart. 282 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 13. Vgl. z.B. J.P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, S. 103 zur Modulation als Vorgang, den Gesang/die Harmonie allmählich in andere Töne zu geleiten. 283 Vgl. Hüschen, Heinrich: »Artikel ›Melodie/A. Begriffsgeschichte‹« in: MGG 6, S. 3538, hier S. 37. Vgl. C. Kaden: Artikel »Musik/I-VI«, S. 269 zu unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Modulationsbegriffes: im Mittelalter existierte auch eine kosmologische und gestisch-pantomimische Sinngebung; erst im Hochmittelalter setzte sich die Zentrierung auf klangliche Leistungen durch. 284 Vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 548 zu starkem Modulieren als Steigerung gegenüber dem einfachen Harmonievorgang sowie ebd., S. 573 zu Erscheinungen des Überganges als zentrale Momente in der Harmonik der Romantik. 285 R. Scruton: The aesthetics of music, S. 54.
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So wurde aus der festgelegten Tonalität und der Modulation als verbindender Bewegung der Tonarten eine »wandernde Tonalität« (Arnold Schönberg) bzw. eine nicht zielgerichtete Modulation.286 Die Gesetze von Wohlklang und Dissonanz wurden für das System der Stimmen obsolet: Bewegungsverläufe in der Melodie folgen nun vielmehr dem Impuls, der im Moment steckt und werden so zu vollkommen individualisierten Gestalten; der musikalische Paradigmenwechsel wird im Besonderen daran explizit.287 Wurde der Komposition die Möglichkeit einer tonalfinalen Konzeption entzogen, verlagerte sich der Fokus auf die Bewegung des ›puren‹ Melos, in dem Josef Matthias Hauer das »rein« Musikalische ausmacht.288
1.8 F ORM Die Form eines künstlerischen Werkes setzt dessen einzelne Teile in Beziehung zuund verbindet sie miteinander, wodurch sich die Intention des Künstlers in seiner individuellen Sprache optimal realisieren lässt289 : »Im Sinn der Musik [...], ihrem Form-Sein erscheint das ›Haben‹ ihrer Bedeutung [...].«290 Durch sie wird eine spezifische Ordnung des Geschehens hergestellt, indem das Material adäquat formuliert und somit verständlich gemacht wird291: »Unfaßbare Ideen [...] in faßbaren Formen«292, so formuliert es August Macke bezüglich der Malerei. Form ist inso-
286 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 13. Und Dahlhaus hält fest: »Definiert man die wandernde Tonalität als nicht zielgerichtete Modulation [...] so zeigt sich im Rückblick, daß die traditionelle Beschreibung von Modulationen als Vermittlung zwischen zwei Tonarten immer schon unzulänglich war und es nicht etwa erst um 1900 wurde.« 287 Vgl. ebd. sowie L.U. Abraham/C. Dahlhaus: Melodielehre, S. 61. 288 Vgl. J.M. Hauer: Deutung des Melos, S. 10. 289 Vgl. Kandinsky, Wassily: »Über die Formfrage«, in: Ders./Marc, Der blaue Reiter (2006), S. 132-182, hier S. 138 zu Form als Ausdrucksmittel. 290 H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 693. 291 Vgl. Altmann, Günter: Musikalische Formenlehre mit Beispielen und Analysen (= UniTaschenbücher, Band 1109), München u.a.: Saur 1981, S. 9. Zu Form als »Darstellungsmittel« vgl. H. Mendel (Hg.): Musikalisches Conversations-Lexicon. Band 3 (1873), S. 594 sowie J. Itten: Analysen alter Meister, S. 106. 292 Macke, August: »Die Masken«, in: Kandinsky/Marc, Der blaue Reiter (2006), S. 53-59, hier S. 54. Vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 239 zu Form als lebendiger Kampf um die »Erfassung des Fließenden« durch den »Halt am Festen«.
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fern Notwendigkeit von Kunst, als sie deren Sphäre vom Alltäglichen trennt.293 Formtypen und damit zusammenhängende Formkriterien haben sich jedoch von Epoche zu Epoche verändert.294 Form-Haben und Form-Sein bedeutet für das Kunstwerk, bestimmten Regeln zu folgen, die ein jeweils gültiges System ausbilden und damit gleichzeitig einen gewissen Freiheitsentzug bedeuten295 ; musikalische Formen werden dadurch zu »Spielformen« (Johan Huizinga) par excellence.296 Den einfachsten Rahmen dieses Spieles als Ganzes schafft die Form durch die Eckpunkte Anfang (initium) und Ende (finis) sowie die sich daraus konstituierende Mitte (medium). Auch für Musik kann die aristotelische Definition des Handlungsaufbaues der Tragödie herangezogen werden: »Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch [.] etwas anderes eintritt. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst [.] auf etwas anderes folgt und zwar [...] während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt, als auch etwas anderes nach sich zieht.«297
Mit Rekurs auf das antike Verständnis ist Mitte nicht im punktuellen Sinn zu verstehen, sondern diese markiert gleichsam den Gestus der Bewegung im Zwischen; in diesem Sinne sind Musik-Stücke »zwischendinger« (Diter Rot).298 Die Lebendigkeit der Form, die ihr wesentliche Spannung, entsteht von innen heraus und resultiert aus der Summe der Bewegungen; umgekehrt benötigt der
293 Vgl. Rätz, Ricarda: »Grundbegriffe musikalischer Formen. Varietas, Disposition, Organik, Gruppen- und Momentform«, in: La Motte-Haber/Schwab-Felisch, Musiktheorie (2005), S. 141-155, hier S. 158. 294 Vgl. ebd., S. 141. Vgl. A. Macke: Die Masken, S. 55: »Wie der Mensch, so wandeln sich auch seine Formen.« 295 Vgl. Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 189 (Frag. 3): »Überall wo mehrere Einheiten sind, müssen sie etwas von [...] ihrer Freyheit aufgeben. [...].« Vgl. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 78 zum einheitlichen Erscheinen der Sätze eines Werkes. 296 Vgl. J. Huizinga: Homo ludens, S. 204. 297 Aristoteles: Poetik, VII. Anfangs- und Endpunkte müssen nicht immer deutlich abgegrenzt, sondern können auch fließend sein. 298 Anfang und Ende stellen analog zu einem Musikstück auch Markierungen eines individuellen Lebens dar; so steht die Struktur der Musik gleichnishaft für das Leben (vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 26f.).
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Ausdruck des Lebendigen die Struktur.299 Auch Johannes Itten weist auf diesen Zusammenhang hin: »Alles Lebendige offenbart sich in Formen. So ist alle Form Bewegung [...]. Die Formen sind Gefäße der Bewegung und Bewegungen das Wesen der Form.«300 Die Dialektik von Geschlossenheit und Bewegung, die Formen markiert, manifestiert sich in der unterschiedlichen Terminologie für einen formalen Abschnitt innerhalb eines größeren musikalischen Werkes. Der deutsche Begriff Satz betont das strukturelle Moment301 , wohingegen engl. movement den Bewegungsaspekt herausstreicht.302 Formen existieren nicht als vorgefertigte Schablonen; sie sind immer als Ergebnis eines Prozesses zu sehen.303 Form als Formieren ist selbst (Gestalt-)Bewegung304 – nicht zuletzt insbesondere in der Musik, die in der Zeit verläuft und sich in ihr bildet: »Bewegung gebiert Form – Form gebiert Bewegung«.305 Der Entstehungsprozess ist dialektischer Natur; einerseits ist das Bewegliche der Form präexistent, andererseits wird das Bewegliche durch die Form explizit. So erscheint es plausibel, dass eine blinde Regelkonformität die Gefahr einer Versteinerung der Form306 – Form als ›Uniform‹ – in sich trage. Vielmehr muss die in ihr lebende innere Spannung gesucht werden307; dies besteht nicht zuletzt darin, auch die Grenzen der Form auszuloten, diese beweglich zu gestalten und innerhalb
299 Vgl. W. Furtwängler: Gespräche über Musik, S. 68 zur Form, die von innen heraus lebendig sei. Vgl. E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 53 zu den Polen Starrheit und Chaos, die in der Form gebunden werden. 300 J. Itten: Analysen alter Meister, S. 105. 301 Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 125 zu Form als »Makrorhythmus«, der das »überschaubar Einheitliche« erzeuge. 302 Vgl. franz. mouvement und ital. tempo. In angelsächischen Lexika wird der Begriff movement erklärt mit »an individual complete piece« (Handbook of Music Terms), »complete and comparatively independent divisions« (Harvard Dictionary of Music) oder »sufficiently complete in itself to be regarded as an entity« (New Grove). 303 Vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 233. 304 Vgl. ebd., S. 234ff.; zum Zusammenhang von der Bewegung, die vom Chaos zur Form führt und der Bewegung, die vom Geformten zur Mannigfaltigkeit führt vgl. J.M. Hauer: Deutung des Melos, S. 31. In den bildnerischen Arbeiten von Joseph Beuys mit dem Material Fett werden die unterschiedlichen Zustände von Chaos, Bewegung und Formstabilität besonders deutlich veranschaulicht. 305 J. Itten: Analysen alter Meister, S. 107. 306 Vgl. W. Kandinsky: Über die Formfrage, S. 137 zur »versteinerten Form (Mauer gegen Freiheit)«. 307 Vgl. Bresgen, Cesar: »Polyästhetisches Denken aus der Sicht des Künstlers«, in: Allesch, Christian G./Krakauer, Peter M. (Hg.), polyaisthesis. Festschrift für Wolfgang Roscher zum 60. Geburtstag, Wien: VWGÖ 1987, S. 10-14, hier S. 10.
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des Konventionellen das Individuelle sein zu lassen. Norm und Abweichung bedingen einander, weshalb künstlerische Vollendung der Form nicht zwingend mit Regelmaß zu tun hat.308 Wie Clemens Kühn in seiner »Formenlehre der Musik« anmerkt, »geht musikalische Form nicht immer glatt auf«; es braucht das Durchkreuzen der Erwartungen, das Unerwartete vor dem Hintergrund des Vertrauten.309 War die Kunstmusik des Mittelalters in ihrer Form wesentlich vom Duktus der Sprache geprägt, rückte mit der Renaissance ihre Expression zunehmend in den Vordergrund: Die explicatio textus bestimmte das Wesen des Musikstückes. Die Darstellung des Affektes durch die Musik – auch abseits vokaler Werke – blieb als Determinante der Form für die Musik des Barocks bestehen, wurde doch die »Einheit im Affekt« innerhalb eines Musikstückes gefordert.310 Es entstand eine überpersönliche Musiksprache, die sich präzise gezeichneter Motive bediente und weniger von organischem Wachstum während des musikalischen Geschehens bestimmt war, denn von äußerer Regelung.311 Indem man sich von der Darstellung einer fertigen Gestalt verabschiedete und verstärkt das Moment des Beweglichen fokussierte, konnte der Affekt im Stück nicht derselbe bleiben. Zum formalen Paradigma klassischer Musik wurde der bewusst erlebte Vorgang des Werdens, der den Menschen als solchen, mehr noch das neue Bild vom Menschen kennzeichnete.312 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten Ahnungen einer Labilität und eines Widersprüchlichen im Menschen in zunehmendem Maße zu bedeutsamen Änderungen. Traditionelle formale Prinzipien der letzten Jahrhunderte, in denen musikalischer Ausdruck wesentlich verankert war, wurden aufgegeben; bislang gültige Form-Inhalt-Relationen lösten sich auf. Anstelle dessen rückten ästhetische Maximen wie die Generierung von Form aus dem individuellen emotionalen Impe-
308 Verbindlichkeiten für bestimmte Formen wurden von Komponisten nie so starr aufgefasst, dass keine künstlerische Freiheit mehr geblieben wäre (vgl. R. Rätz: Grundbegriffe musikalischer Formen, S. 141). Vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 234 zur Möglichkeit des einzig richtigen Ausdruckes inneren Formwillens durch das Unregelmäßige. 309 C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 195. 310 Die Auffassung von Musik als »Klangrede« (Johann Mattheson) bezog sich auf Modelle der Rhetorik. 311 Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 107f. 312 Vgl. ebd., S. 158 bzgl. der Musik Ludwig van Beethovens und ebd., S. 139 sowie E. Kurth: Bruckner, S. 237ff.; vgl. W. Wiora: Das musikalische Kunstwerk, S. 93: »Während in der Barockzeit Einheitlichkeit der Gefühlsfarbe einen ganzen Satz hindurch vorherrschte, entfaltete sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts emotionale Farbigkeit und Beweglichkeit [...].«
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tus313 oder, wie im französischen Impressionismus, aus der Innenbewegung des Klanges selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit.314 Die Musik der Moderne führte den Bruch mit tradierten Formen noch radikaler durch – der Fortschritt der Musik wird exemplarisch an der neuen Form sichtbar. Der Verzicht auf Tonalität als ein Form prägendes Moment bedeutete im Anfangsstadium dieser neuen Art des Komponierens eine Reduktion auf kleinste Stücke; in den kürzesten Sätzen der Musik von Arnold Schönberg und Anton von Webern versammeln sich auf kleinstem Raum extreme Dichte, Konsistenz der Formgestalt und expressive Kraft. Die Vermeidung alles Überflüssigen führt zu höchster Emotionalität, was ermöglicht, die Teile trotz fehlender tonaler, struktureller Funktionen der Harmonie deutlich von einander zu differenzieren.315 Durch die Bindung an einen Text wiederum entstehen größere Formen, innerhalb derer dem Wort die Funktion eines verbindenden Elementes zuteil wird.316 Abstrakte Formprinzipien, wie sie im Folgenden skizziert werden, sind universale Gestaltungsparameter, die Bewegung im Bereich der Form generieren oder sich selbst als eine spezifische Bewegung begreifen lassen.317 Im Alternieren zwischen den Polen Einheit und Trennung beziehen sie sich auf die Abgeschlossenheit sowie auf die Anordnung einzelner Teile eines Musikstückes und führen diese in ein Ganzes. Der Bezug der Teile zueinander ist bestimmt durch die individuelle Relation; Entitäten entstehen also nicht infolge bloßer Addition, sondern durch proportionale
313 »Neue Formen für neue Gedanken [...] schaffen.« (Franz Liszt zit.n. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 673, in Bezug auf die Symphonischen Dichtung). Vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 484 zu Anton Bruckner und der Entwicklung des wirkenden Ereignisses sowie ebd., S. 342 zur Symphonie und der Technik der Entwicklungsmotive als Auswirkung der Formdynamik ins Lineare. Vgl. F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, S. 20 (Frag. 1 [41]): »Die Formen des künstlichen Satzes haben aufgehört Selbstzweck zu sein: sie sind Mittel zum Ausdruck.« 314 Vgl. H. Eimert: Debussys »Jeux«, S. 17 zum Fließenden der Form bei Claude Debussy; es manifestiere sich in Führung der Tonlinie, in antreibenden und verzögernden Bewegungen und in dynamischen Übergängen wie wechselnder Dichte des Harmonischen sowie in der Instrumentation. 315 Vgl. T.W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, S. 43ff. 316 Vgl. Schönberg, Arnold: »Komposition mit zwölf Tönen« (1950), in: Proebst, Die neue Musik (1961), S. 47-52, hier S. 48: »Ein wenig später entdeckte ich, wie sich größere Formen konstruieren ließen, indem man einem Text [...] folget.« 317 Vgl. E. Kurth: Bruckner, S. 239 zum Erkennen der speziellen Formbewegtheit als Erfassen einer gestaltenden Bewegung. Kurth kritisiert die Formbetrachtung als Ruhezustand und vermutet als Grund dafür die Angst vor der Konfrontation mit Bewegung.
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Ordnungen, die Bewegungen und ihre Charakteristika einander (und hinsichtlich des Formganzen) gegenüberstellen.318 Die Proportionalität verdeutlicht die Gleichzeitigkeit von Autonomie und Bezüglichkeit des Formteiles sowie die dadurch generierte Spannung.319 Sinnvolle proportionale An-Ordnungen der Teile können in Verbindung mit dem kulturinvarianten Universalprinzip der Symmetrie als Ordnungsmodell stehen. Im griechischen symmetría, wörtlich dem Zusammen-Maß, ist ausgedrückt, dass es sich um ein stimmiges Verhältnis handelt, das in Relation zu einem gemeinsamen Grundmaß steht.320 In der Asymmetrie wird die Abweichung als zur Symmetrie gehörend evident; Symmetrie und Asymmetrie, so Hans Heinrich Eggebrecht, sind beide Prinzipien des »Form-Haben«.321 Dass die Anordnung einzelner Teile und ihr Bezug zueinander auch vom Leiblichen ausgehen können, zeigt der Einfluss des Tanzes respektive der Tanzmusik322 auf die Entstehung von Formen.323 Als Beispiel dafür kann die von Eggebrecht beschriebene Ballata der italienischen Renaissance herangezogen werden: Der einstimmige Gesang zum Tanz (Tanz-Ballata) beeinflusste andere Formen und entwickelte selbst nach und nach einen immer kunstvolleren Aufbau.324 Grundlegende formale Prinzipien der Instrumentalmusik entstammen der Tanzmusik325 ; ebenso prägten charakteristische Korrespondenzen mehrerer Tänze untereinander und deren Anordnungen die Musik. Als Suite, eine Folge von Tänzen, blieb die zyklische
318 Zu Fragen der »Formenbezüge« als Fragen der »Bewegungsentsprechung« vgl. S. Bimberg: Einührung in die Musikpsychologie, S. 12. Form wird bei E. Feudel: Dynamische Pädagogik, S. 91 als harmonisches Verhältnis von Bewegungen bestimmenden Funktionskräften aufgefasst. 319 Vgl. W. Wiora: Das musikalische Kunstwerk, S. 88. Eine mehrteilige Komposition ist also nicht bloß eine »lose Folge selbständiger Stücke«; es existiert sowohl eine die Teile übergreifenden Einheit als auch eine bestimmte proportionale Ordnung (vgl. E. Barthe: Takt und Tempo, S. 27). Zur Notwendigkeit der Proportion für die Formgebung vgl. auch Vitruv: De architectura, III,65. 320 Zu Symmetrie in der Musik vgl. z.B. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 187 und A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 128. 321 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 550. 322 Tanzmusik stellt neben der Vokalmusik eine Wurzel der Instrumentalmusik dar (vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 190). 323 Vgl. Nettl, Paul: Tanz und Tanzmusik. Tausend Jahre beschwingter Kunst, Freiburg im Breisgau: Herder 1962, S. 62f. 324 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 247 zur Ballata als beliebteste Form mittelitalienischer Komponisten in den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts. 325 Z.B. das Taktprinzip, die Unterscheidung schwer-leicht sowie motivisch-rhythmische Symmetrie (vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 52).
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Zusammenfassung von Tänzen auch noch in der Instrumentalmusik des Barock stilisiert und damit (unabhängig vom Tanz) erhalten.326 Die (An-)Ordnung von Formteilen kann des Weiteren auf unterschiedlichen Modellen basieren. Zu diesen Modellen zählt die Wiederholung327 , deren Gestalt sich im Paradoxon von Gleichheit und Andersheit ansiedeln lässt. Als Bewegung gedacht, im Sinne des Handlungsmomentes, ›etwas‹ wieder zu holen, handelt es sich dabei einerseits um ein Zurückgehen zum Ursprünglichen; das Spiel mit den Modi von An- und Abwesenheit beruht auf dieser originären Vergangenheit, wie Bernhard Waldenfels konstatiert.328 Andererseits jedoch verdeutlicht dieses Retour in der Musik nicht ein Wiederkehren schlechthin, sondern ist als das Gegenwärtigwerden der früheren Erscheinweise »Sprungbrett, [.] um das radikal Neue und Veränderte in die neugeschaffte Lage unzweideutig erscheinen zu lassen«, so der Philosoph Georg Lukács.329 Das Wiederholen einzelner Bewegungsphasen ist nicht als lose Aneinanderreihung zu verstehen. Vielmehr bilden sich erst in der Modifikation, d.h. in einem »dynamischen Konstruktionsprozess« (Gilles Deleuze) die gestalthaften Verbindungen der einzelnen Teile aus.330 Das Bewegungsmoment der Wiederholung enthält etwas Zyklisches, das unter anderem im Strophenlied zur Geltung kommt und dort auch an damit verbundenen Begrifflichkeiten explizit wird.331 Während das griechische strophé neben drehen v.a. eine Wendung, d.h. eine Änderung der Bewegungsrichtung (in der Arbeits- sowie in der Tanzbewegung des Chores) meint, ist im deutschen Terminus Kehrvers der Bezug auf das bereits Dagewesene zentral; hier wird auf Vorangegangenes Bezug genommen und bereits Gesagtem Nachdruck verliehen.332 Das Runde spiegelt sich in Termini des spätmit-
326 Vgl. D.d. La Motte: Melodie, S. 9. Die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts übliche Folge der Tänze lautete Allemande, Courante, Sarabande, Guige. 327 Vgl. K. Kraft: Muster ohne Wert, S. 36ff. zur anthropologischen Bedeutung der Wiederholung und zum ihr innewohnenden Vertrauen stiftenden Moment. 328 B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 82f. 329 G. Lukács: Ästhetik II, S. 257. 330 Vgl. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: W. Fink 1992, S. 15 zu Wiederholung als »sich verhalten, [.] im Verhältnis zu etwas Einzigartigem [...].« Vgl. ebd., S. 37: »Es geht nicht um Aneinanderreihung, sondern um Kombination eines Elements mit dem vorhergehenden.« 331 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 160 zum »formal Runden« des Liedes und vgl. weiters die Minimal Music, bei der melodische/rhythmische Phasen ständig wiederkehren und sich zwar unscheinbar, aber stetig verändern. 332 Franz. refrain (Rückprall, der Wogen von den Klippen). Vgl. die verwandten Begriffe Reprise, Sequenz, Rondo. Vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 186f. zum Eindruck der Rückläufigkeit durch mehrfache Wiederholung.
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telalterlichen Rundgesanges und -tanzes (Cantus rotundus oder Cantus rondellus) wider, im sich daraus entwickelnden liedhaften Rondeau/Ritornell des Barocks sowie im Rondo innerhalb mehrsätziger Werke der Klassik.333 Eine weitere Option, Formteile zueinander in Bezug zu setzen, ist das Urprinzip des Wechsels, den eine Dualität kennzeichnet und der mehr noch eine Bewegung zwischen zwei Orten oder Systemen markiert.334 Im gregorianischen Choral beispielsweise folgt man diesem Prinzip, z.B. in der Alternation von Kantor und Chor oder im Ausbreiten des musikalischen Geschehens zwischen melodischen Formeln und freien Gesängen.335 Von der Dualität des Wechsels in die Diversität der Abwechslung führt das Prinzip der Varietas336, das einem Ideal ständiger Bewegtheit folgt. Veränderung und Mannigfaltigkeit, die »Idee der Nichtwiederholung« (Alois Hába) in Analogie zum Leben schlechthin, stehen für ein kontinuierliches Streben nach dem Anderen, wie es exemplarisch in der Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts verwirklicht wurde.337 Das im 18. und 19. Jahrhundert zur Reihenform stilisierte und in vielen anderen Formtypen abendländischer Musik wirksame Prinzip der Variation meint zwar auch Veränderung; jedoch ist in viel stärkerem Ausmaß ein Bezug zum Ausgangspunkt erkennbar: Ein Thema wird innerhalb einer Folge von Abschnitten oder Sätzen in Rhythmus, Dynamik, Tonart oder Tempo abgewandelt.338 Das Prinzip Veränderung liegt auch dem Vorgang der Entwicklung zugrunde. Analog zur Evolution als der Lebensbewegung schlechthin bezeichnet dieser auch in der Musik das Werden im Durchlaufen verschiedener Gestalten, die in der und durch die Zeit gebildet werden.339 Zentrale Momente von Entwicklung sind die zeit-
333 Vgl. Rota, Radel und Round als Bezeichnungen für das kreisförmige, sukzessive Einsetzen der Melodie im Kanon (14. Jahrhundert) sowie den Terminus Rondeau. 334 Vgl. Kükelhaus, Hugo: Urzahl und Gebärde. Grundzüge eines kommenden Maßbewußtseins, Berlin: A. Meßner 1934, S. 23ff. zum universalen Phänomen der Zweiheit. 335 Vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 27. 336 Vgl. das Verbot der Nachahmung anderer Stimmen. 337 Im 16. Jahrhundert verlor die Gestaltungsweise der flüssigen Fortspinnung an Bedeutung; anstelle dessen rückte die Aneinanderreihung motivischer Zellen als formales Prinzip ins Zentrum, was mit einer gewissen »Vorliebe für handgreifliche Wirklichkeiten« konform ging (vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 91). 338 Vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 182. 339 Vgl W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 128f. zur »Werdelust« (Johann Wolfgang von Goethe) der Klänge. Vgl. Friedrich Theodor Vischer zit.n. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik (= dtv: Wissenschaftliche Reihe, Band 4310), Kassel: Bärenreiter/München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978, S. 19 zur Charakteristik der Symphonie als »Lebensbild«.
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liche Linearität und Irreversibilität, die sich in der Sukzession des Klingenden konstituieren. Der Entwicklung wohnt der Ausdruck von Logik inne, insofern als das zu Anfang Gesetzte »folgerichtig« (Theodor W. Adorno) abgeleitet und weiter ausgebildet wird.340 Jene Keimzelle, in der sich das Thema anbahnt und durch welche die Entwicklung ihren Impetus erhält, wird als Motiv bezeichnet.341 Der Etymologie folgend handelt es sich um eine autonome, in sich geschlossene Bewegungseinheit, um eine Geste oder Gebärde.342 Wurden in barocken Kompositionen motivische Zellen sequenziell aneinandergereiht343, reifte in der Musik der Klassik die Idee organischen Wachstums in der Einheit musikalischer und psychischer Handlung und Logik aus: Ein Thema erfährt innerhalb eines Musikstückes eine Wandlung. Die Darbietung einer Bewegung des Werdens im Drängen, Herausbilden und Erformen wurde zur künstlerischen Maxime erhoben.344 Im Motiv ist die Kraftquelle dieses Vorganges, dessen bewegendes Agens zu verorten; es trägt ein Bestreben in sich, sich auszuwirken und größere Formen zu generieren345 – es ist, wie Arnold Schön-
340 Vgl. Kaehler, Klaus E.: »Aspekte des Zeitproblems in der Musikphilosophie Theodor W. Adornos«, in: Klein, Richard/Mahnkopf, Claus-Steffen (Hg.), »Mit den Ohren denken«. Adornos Philosophie der Musik (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 1378), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 37-51, hier S. 40. Vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 26 zum Prinzip der Logik. 341 Das Motiv wird in der Literatur ähnlich beschrieben, z.B. als »erstes Samenkorn« (Eduard Hanslick), »germinating cell« (Harvard Dictionary of Music) oder »l'idée primitive & principale« (Jean-Jacques Rousseau). Vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 35 zum textgeprägten Singen als Ursprung des instrumentalen Motivs, basierend auf der These vom Motiv als Gedanke/Idee und anknüpfend an den Ursprung des Motivs im Soggetto im Sinne eines, den Text nachzeichnenden, Gedankens. 342 Lat. motivus (beweglich). Vgl. E. Kurth: Musikpsychologie, S. 85 zum Motiv als »geschlossenen Bewegungszug kleinsten Ausmaßes«. 343 Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 107f., Kurth, Ernst: Grundlagen des linearen Kontrapunkts. Einführung in Stil und Technik von Bach’s melodischer Polyphonie, Bern: Drechsel 1917, S. 10 sowie Ders.: Bruckner, S. 761. In der Musik Johann Sebastian Bachs verkörpert das Einzelmotiv die übergreifenden Bewegungszielkräfte, die Zusammenhang zwischen den Sequenzen schaffen (vgl. D.d. La Motte: Melodie, S. 12). 344 Johann Sebastian Bachs Musik, so Wilhelm Furtwängler, sei gekennzeichnet durch das Sein, die Musik der Klassik durch das Werden (vgl. Gespräche über Musik, S. 38ff.). 345 Vgl. C. Dahlhaus: Artikel »Melodie/B. Systematisch«, S. 44 sowie R. Rätz: Grundbegriffe musikalischer Formen, S. 151.
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berg schreibt, »das Wirkende Bewegende in jeder Gestalt«346 . Diese Bewegungskraft hält Ur- und Nachbild durch Beziehung zusammen.347 Insbesondere in der Musik der Moderne erhielt diese Kraft Relevanz: Denn in freitonaler Musik wurde das Motiv – »Einheit verbürgender Gedanke« – Mittel zur Herstellung der Einheit in einem ganzen Werk; so bezeichnet Schönberg das Motiv als »abstrakt Zugrundeliegendes«, welches »ganz oder theilweise in der Figur oder Gestalt« vorkomme.348 Die Auflösung des traditionellen Werkbegriffes in der Postmoderne veränderte die Perspektiven auf die Urheberschaft künstlerischer Produktion. Die Relativierung von Grenzen zwischen Publikum und Interpreten sowie die Debatte um den Kunstbegriff bedeuteten für Fragen nach musikalischer Form eine völlig neue Ausgangsposition. Das Aufwerfen der Formfrage kann geradezu als ein Kennzeichen Neuer Musik betrachtet werden.349 Die genuine, bis zu einem gewissen Grad in jedem Kunstwerk gegebene Offenheit des Kunstwerkes und die fundamentale Ambiguität künstlerischer Botschaft erfuhren eine Zuspitzung: Werke sind heute in einem weit weniger metaphorischen und viel greifbareren Sinne offen; sie sind per se »nicht fertige Werke«, weil sie erst im Moment der Rezeption vollendet werden und die Beteiligten wesentliche Faktoren der Mitkonstituierung des Inhaltes darstellen, wie Umberto Eco ausführt.350 Bei aller konstruktiven Vollkommenheit ist es also durchaus das Fragmentarische, das die Formgebung Neuer Musik prägt.351 In musiktheoretischer Hinsicht bedeutete dies eine Dekonstruktion fixer, tradierter ›Architekturen‹ und formaler Determinationen: die Durchlässigkeit von Anfangsund Endpunkten, eine maximale Intensität interner Mobilität durch minimale Festlegung und das Ernstnehmen der Freiheit des Klanges. Form bezeichnet im Sinne Mauricio Kagels also die ›Idee‹ von Ganzheit anstelle bestimmter Vorgaben, die
346 Schönberg, Arnold: »Zur Darstellung des musikalischen Gedankens«, in: Ders., »Stile herrschen. Gedanken siegen« (2007), S. 101-123, hier S. 102. 347 Vgl. Sauter, Franz: »Die tonale Musik«, http://www.tonalemusik.de/pdf/motiv.pdf vom 20.07.2008 sowie Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 107f. 348 A. Schönberg: Der Weg zur Zwölftonmusik, S. 44. 349 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 606. 350 Vgl. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik (= Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste, Band 32), München: W. Fink 1972, S. 147 und S. 28f.; vgl. Boulez, Pierre: »Fragment: Zwischen Unvollendetem und Abgeschlossenem«, in: Amelunxen, Hubertus von/Appelt, Dieter/Weibel, Peter (Hg.), Notation. Kalkül und Form in den Künsten, Berlin: Akademie der Künste/Karlsruhe: ZKM 2008, S. 185-189 sowie Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 222), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 57 zur Frage nach Grenzen zwischen Unvollendetem und Abgeschlossenem in der offenen Form. 351 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 606.
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zur Ganzheit führen und an denen man sich zu orientieren habe.352 Diese Beweglichkeit der Struktur verlangt jedoch nach einem kompositorischen Konzept, das die Offenheit in der Geschlossenheit einer Form anlegt.353 In formalen Konzepten, die im Kontext von Neuer Musik und einer Atmosphäre sich auflösender Spartengrenzen entstanden oder weiter entwickelt wurden, manifestiert sich insbesondere das Element der Beziehung, der Vitalität und des Zufalles, die »Nicht-Determination« (Roman Haubenstock-Ramati); aufgrund dieser Entwicklung wurden auch neue Wege in der schriftlichen Fixierung beschritten. Der Begriff Improvisation, dem das Moment des Unvorhersehbaren, des »Unvorherhörbaren« (Bernhard Waldenfels) bereits inhärent ist354, der auf das Spannungsfeld zwischen Objektivität und Subjektivität verweist, hatte bereits vor seiner Erweiterung im 20. Jahrhundert musikalische Relevanz.355 Die neue Improvisationsästhetik erweiterte jedoch den Grad an Freiheit unter Einbezug der Exploration auf der Ebene des Materials und der Loslösung von traditionellen Formen.356 Spontaneität wird in der Improvisation zum Fundament einer Schöpfung, die im Performativen anzusiedeln ist. Stehen die »Eingebung des Augenblicks« und die »Richtungssuche spontaner Bewegungen« (Bernhard Waldenfels) im Zentrum357, heißt dies gleichzeitig, sich den Umständen immer wieder neu anzupassen und diese Ad-
352 Vgl. U. Dibelius: Moderne Musik nach 1945, S. 212. Vgl. Boulez, Pierre: »Ton, Wort, Synthese« (1951), in: Proebst, Die neue Musik (1961), S. 116-120, hier S. 116: »Das Kunstwerk ist nicht mehr jene festgelegte Architektur [...].«. Vgl. Cage, John: For the Birds. In conversation with Daniel Charles, Boston/London: Boyars 1995, S. 87: »Sounds have no goal! They are, and that’s all. They live. [...]«. 353 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 819. 354 Vgl. lat. im-provisus (nicht vorhergesehen, unvermutet). Vgl. den Dialog der Protagonisten über musikalische Improvisation in Thomas Manns Roman »Doktor Faustus« (1947). 355 Vgl. Oliveira Pinto, Tiago de: »Improvisation«, in: Bruhn/Rösing, Musikwissenschaft (1998), S. 238-252, hier S. 239: Improvisation (in Form von traditionellen Modellen) war bis ins 18. Jahrhundert ›Handwerkszeug‹ des Musikers; ab dem 19. Jahrhundert nahm diese Fähigkeit unter Einfluss der Werkästhetik ab. Vgl. S. Bimberg: Einührung in die Musikpsychologie, S. 12 zum »Phantasieren« in Pop- und Volksmusik. 356 Vgl. T.d. Oliveira Pinto: Improvisation, S. 238 und Kugler, Michael: »Tradition und Innovation. Gedanken zur Entwicklung einer ungewöhnlichen Bildungseinrichtung«, in: Orff Schulwerk Informationen Winter 69 (2002/2003), S. 6-13, hier S. 10f. 357 B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 193.
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aptionen zu Ausgangspunkten individueller Veränderungen zu machen.358 Der daraus folgenden Initiation von Um- und Irrwegen wohnt das Moment des Unbekannten der Zukunft inne; Improvisation versteht sich somit auch als Verweigerung des Hörens als bloßes Wiederhören – einer konventionellen Werkauffassung, der das Kennzeichen der Wiederholbarkeit eines tönenden Vorganges eigen ist359 , diametral gegenüberstehend.360 Speziellere Formbegriffe Neuer Musik greifen bestimmte Momente im Besonderen auf: So wird in der Collage völlig disparates Material, das »Fremdartige und Bezuglose« (Thomas Mann), miteinander kombiniert361 , werden in der Installation Klänge, Objekte, Räume und Rezipienten in ein besonderes Spannungsfeld gestellt und wird im Mobile Sinn durch ein ständiges Sein in Bewegung und damit verbundene Elastizität generiert.362 Der Komponist Roman Haubenstock-Ramati nimmt in der Beschreibung der musikalischen Form des Mobiles auf prinzipielle Charakteristika nicht-fixierter Werke im Allgemeinen Bezug: »Wird man eine Version des Mobiles aufschreiben, so ist/ das eben die Version, die nie stattfinden könnte: die fixierte/ Version ist nämlich ein vollkommen anderes Werk./ Wie gut, daß diese Werke – auch wenn aufgeführt – noch immer auf ihre ›Uraufführung‹ warten dürfen.«363
1.9 R AUM , Z EIT
UND
R AUM -Z EIT -K ONTINUUM
Raum und Zeit werden als Parameter ästhetischer Erfahrung begriffen – sinnliche Erfahrung ist an »unsere raumzeitliche Wirklichkeit« (Constanze Peres) gebunden.364 Die Dichotomie der Künste in solche des Raumes und solche der Zeit, wel-
358 Vgl. Baši, Elly: »Improvisation als schöpferische Mitteilung«, in: Stumme, Wolfgang (Hg.), Über Improvisation (= Bausteine für Musikerziehung und Musikpflege, Band 21), Mainz: Schott 1973, S. 46-63, hier S. 51. 359 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 98. 360 Vgl. H. Rumpf: Die andere Aufmerksamkeit, S. 69 sowie B. Waldenfels: Klangereignisse, S. 24. 361 Vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 25. 362 Erste Mobiles entstanden bei Vetretern der kinetischen Kunst. In »December« (1952) übersetzte der Komponist Earle Brown ein Mobile von Alexander Calder in Musik; zentral sind dabei die sich in der Bewegung ständig verändernden Beziehungen der einzelnen Elemente. 363 Haubenstock-Ramati, Roman: Musikgrafik. Pretexte, Wien: Ariadne 1980, S. 6. 364 Jean Gebser weist darauf hin, dass Raum und Zeit keine gegebenen Begriffe sind, sondern von unserem Bewusstsein erarbeitet wurden und dass sie es sind, die das Bewusst-
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che die Kunsttheorie wesentlich geprägt hat365 , erweist sich insofern als problematisch, als sich die Wirkungs- und Erfahrungsebene im Gegensatz zu eindeutigen Zuschreibungen viel komplexer gestaltet.366 Georg Lukács warnt davor, bei der Unmittelbarkeit des homogenen Mediums stehen zu bleiben; eine Erstarrung zu »letzten Prinzipien« wäre die Folge.367 So bietet sich das Verständnis eines »graduellen« statt eines »prinzipiellen ›Mehr‹« (Constanze Peres) von zeitlicher oder räumlicher Ausrichtung eines Mediums an.368 Zwar lässt sich die Zweiheit von Raum und Zeit nicht einfach »überspringen«, wie Bernhard Waldenfels schreibt369 , doch kommt es im künstlerischen Medium auch zur Kulmination. Der musikalische Zusammenhang von Zeit und Raum entspringt, in Anlehnung an Waldenfels, der Musik selbst; sie existiert in Raum und Zeit und konstituiert Raum und Zeit sui generis mit individueller Realität.370 Die vorwiegende Determination der Musik als Zeitkunst schlechthin gründet in ihrer Performativität: Musik verläuft in der Zeit und gestaltet sie.371 Zeit wiederum ist ein
sein konstituieren (vgl. Ursprung und Gegenwart, S. 234). Bernhard Waldenfels merkt an, dass ästhetische »Widerfahrnisse« bestehende Raum- und Zeitfelder destabilisieren und zum anderen neue konstituieren (vgl. Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 369). 365 Die Trennung von Raum- und Zeitkünsten basiert auf verschiedenen philosophischen und ästhetischen Theorien; eine wichtige Rolle nehmen Immanuel Kant, August Wilhelm Schlegel und Johann Gottfried Herder sowie Gotthold Ephraim Lessing mit seiner Schrift »Laokoon« (1766) ein. Anfang des 20. Jahrhunderts löste sich die traditionelle Gliederung der Künste auf; neue Kunstformen erübrigen Trennungen ohnehin. 366 Künstler verschiedener Sparten des 20. Jahrhunderts verweisen auf Zeit und Raum als Komponenten ihrer Kunst (z.B. Paul Klee in der Malerei oder Mary Wigman im Tanz). 367 G. Lukács Ästhetik II, S. 246. 368 Vgl. Peres, Constanze: »Kandinsky, Leibniz und die RaumZeit«, in: Spektrum der Wissenschaften 1 (2003), S. 84-89, hier S. 89. 369 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Band 1952), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 238. 370 Vgl. ebd., S. 239. Vgl. G. Schilling (Red.): Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften, S. 610 zu Bewegung im Raum und Bewegung in der Zeit: »Der Musik kommen beide Arten der Bewegung zu.« Vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 48 zur v.a. den Raum betreffenden Frage nach dessen spezfischem Wesen in der Musik. Bei vielen Autoren werde lediglich von einer Raum-Analogie oder -Ähnlichkeit ausgegangen. 371 Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 278 zum »Tönen in seiner zeitlichen Bewegung«. Vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 85 zum musikalischen Zeitphänomen: Aus zuvor »leerer« Zeit werde eine »erfüllte« Zeit. Analog dazu vgl. E. Neumann: Der
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konstitutives Element des Ereignisses; so wird Zeit zur ontologischen Bedingung der Musik.372 In Letzterer vollzieht sich jedoch nicht nur ein lediglich loses Nacheinander von Ereignissen; vielmehr handelt es sich um eine zusammenhängende Bewegung373 , die als solche auch vielfältige Räume – klangliche und visuelle, virtuelle und reale – ausbildet und gestaltet.374 Zeit und Raum bedingen einander. So konstatiert der Philosoph Gunnar Hindrichs: »In der Tat ist der musikalische Raum das, was den Zusammenhang der Töne aus dem zeitlichen Zusammenhang hinaushebt, in dem allein sie nicht wiedererkannt werden können.«375 Die sich aus dem Plural von Raum und Zeit generierenden Relationen zwischen diesen Handlungsmodalitäten in der Musik, die einen »Zeit-Spiel-Raum« (Daniel Charles) erschaffen, erschweren eine Analyse376, kennzeichnen allerdings gleichzeitig das Spannungsmoment der Musik.
schöpferische Mensch, S. 106 zum schöpferischen Menschen, der für erfüllte und in erfüllter Zeit lebe. Bei H. Mersmann: Angewandte Musikästhetik, S. 52 wird Bewegung, die »Expansionskraft« der Musik als Ausströmen in der Zeit verstanden. Vgl. Schulze, Werner: »Raum und Zeit in Architektur und Musik«, in: Oboe-Fagott 12 (1987), S. 2734, hier S. 27ff., der auf verschiedene Zeit-Dimensionen aufmerksam macht: der zeitliche Verlauf mit der Zeit als »Zähler«, die Frequenz des einzelnen Klanges sowie die Erlebniszeit. 372 Vgl. K.E. Kaehler: Aspekte des Zeitproblems in der Musikphilosophie Theodor W. Adornos, S. 37. Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 277 zur Existenz des Tones, die auf der Zeit beruhe. Vgl. Wilhelm Furtwängler zit.n. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 608: »Die Musik erlebt ihre Verwirklichung in der Dimension der Zeit.« 373 Vgl. H. Grabner: Allgemeine Musiklehre, S. 25 sowie H. Mersmann: Angewandte Musikästhetik, S. 21 zu Musik als zeitlichen Ablauf, der als Erlebnis eines Bewegungsvorganges in Erscheinung tritt. Und vgl. D.E. Hall: Musikalische Akustik, S. 51 zu Bewegung als »unerläßlichen Bestandteil von Musik auf allen Zeitebenen«. 374 Jede Bewegung ist eine Ortsveränderung und ein Ereignis in der Zeit (vgl. R.v. Laban: Der moderne Ausdruckstanz in der Erziehung, S. 108). Vgl. E. Kurth: Musikpsychologie, S. 108 zu spezifischen Bewegung in der Musik, die sich in den Dimensionen von Raum und Zeit entfalten. Emile Noël zit.n. Charles, Daniel: Zeitspielräume. Performance. Musik. Ästhetik (= Internationaler Merve-Diskurs, Band 147), Berlin: Merve 1989, S. 12 erwähnt die Vielfalt der Raumkategorien, die mit Musik in Verbindung gebracht werden können. 375 Hindrichs, Gunnar: »Der musikalische Raum«, in: Musikkonzepte. Neue Folge 11 (2007), S. 50-69, hier S. 53. 376 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 98f.
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Musik macht Zeit im Besonderen erfahrbar, da zwischen Zeit als »Übergangsphänomen« (Edmund Husserl) und dem Veränderlichen ein fundamentaler Zusammenhang besteht. Zeit erfasst den Verlauf und kennzeichnet dessen spezifische Bewegung. Im aristotelischen Sinne wird Zeit (chrónos) als Maß(-zahl) der Bewegung verstanden.377 Umgekehrt kann auch das Bewegungsereignis als »Figur der Zeit« (Kai van Eikels) gelesen werden; erst an Bewegung wird Zeit erfahr- und begreifbar.378 So wird mit Musik eine Struktur in der Zeit generiert, die Vergangenheit und Zukunft in Beziehung zueinander setzt379 ; aufgrund dessen meint Musikwahrnehmung Zeit-Erfahrung und Zeit-Messung.380 Der Fokus auf die Verbindung von Zahl, Zeit und Bewegung lässt neue Deutungsmöglichkeiten der bekannten Definition von Gottfried Wilhelm Leibniz – Musik als »exercitium occultum arithmeticae nescesse numerari animi«, als »verborgene arithmetische Übung des Geistes«381 – zu. Dass dieses Messen der Zeit in der Musik jedoch immer ein spezifisch ästhetisches ist, beschreibt Thomas Mann in seinem Roman »Der Zauberberg« (1924): »[...] ein Moment [...] im Wesen der Musik, nämlich dieses, daß sie dem Zeitablau-
377 Vgl. Aristoteles: Physik, IV,219a: »[...] eine Art Zahl ist also die Zeit.« Vgl. auch Platon: Timaios, 37d zur Zeit, die in Zahlen fortscheite. 378 Vgl. Aristoteles: Physik, IV,220b: »Wir messen nicht bloß Bewegung mittels Zeit, sondern auch [.] Zeit mittels Bewegung [...].« Vgl. A. Hügli/P. Lübcke (Hg.): Philosophie Lexikon, S. 692 sowie M. Kappes (Hg.): Aristoteles-Lexikon, S. 65. Vgl. auch M. Ficino: De amore VI,16 zur Veränderlichkeit des Körperlichen aufgrund der Zeitgebundenheit. Vgl. G. Albersheim: Zur Musiksychologie, S. 42: »Die Zeit wird zwar immer an konkreten Umständen erfahrbar, hat aber selbst keine konkreten Merkmale an sich [...].« Und ähnlich T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 76: »Die Tertium comparationis zwischen Zeit und Zahl ist, daß beide keine Größe haben, daß sie ohne Ort und Ausdehnung sind.« Die Bedeutung der Zeitlichkeit von körperlichen Vorgängen (z.B. der Atem) für ein leibliches Zeitempfinden respektive Zeitgefühl sei erwähnt. 379 Vgl. M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 115 380 Vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 68ff. zur Musikwahrnehmung als Analyse eines zeitlichen Vorganges. Vgl. E.G. Wolff: Grundlagen der autonomen Musikästhetik, S. 72 zu Zeit in der Musik als »sinnlich gebunden«. Bewegung als Maßzahl in der Musik manifestiert sich auf fundamentalster Ebene in der Schwingung (vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 282 zum Zeitlichen der Schwingung). Und vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 99 zum Chronisieren (Zeit-Messen) durch Synchronisieren, d.h. in Bezug setzen verschiedener zeitlicher Dimensionen der Musik. 381 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Epistolae ad diversos l, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1734, S. 241 (Brief an Goldbach vom 17.4.1712).
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fe durch eine ganz eigentümlich lebensvolle Messung Wachheit, Geist und Kostbarkeit verleiht.«382 Die Zeitgebundenheit der Musik ist nicht absolut neutral, sondern orientiert sich auch an den Zeitauffassungen und den damit verbundenen Bewegungstendenzen einer Epoche383: »Zeitbedingtes in der Musik wird vollkommen nur von den Zeitgenossen verstanden«, schreibt Henry Timmermann in seiner Dissertation von 1940.384 Spiegelt sich in der mittelalterlichen Musikpraxis (Ars antiqua), einhergehend mit einer freien, offenen Zeitgestaltung ein zyklisches Zeitverständnis wider385, können zwischen Erfindung der Linienschrift und veränderter temporaler Organisation der Musik Zusammenhänge beobachtet werden, die nicht zuletzt auch Hand in Hand mit der Loslösung der Musik vom Körper der Ausführenden und damit verbunden mit intensiven persönlichen Zeiterfahrungen gehen.386 Jahrhunderte später manifestierte sich in der Musik der Klassik eine teleologisch ausgerichtete Zeitachse, d.h. eine zunehmende Gewichtung der Zeitstrukturierung im chronologischen Prozess.387 Die Beeinflussung der Musiktheorie durch naturwissenschaftliche und philosophische Denkweisen wie die Theorien Immanuel Kants führte über die Erkenntnis quantifizierbarer Zeit im 18. und 19. Jahrhundert zur Auffassung vom Taktmaß als Quantum einer absoluten Zeit, wie sie in der Formulierung der Naturgesetze vorausgesetzt wird.388 Von diesen Vorstellungen löste sich die Musik im 20. Jahrhundert, wiederum parallel zum Paradigmenwechsel in der Wissenschaft. Die Vermittlung eines neuen Zeitgefühles in der Musik wurde zentral. Seither führt die Zeitachse nicht mehr ausschließlich linear nach vorne, sondern wandert auch ziellos ins Offene. An die Stelle hierarchisch gegliederter Wahrnehmungsfelder ist die Simultanität der Ereignisse getreten, die bisherige, traditionelle Zeitkategorien überwindet und die mit dieser Intention des Temporalen durchaus den Schluss zulässt, es komme zu einer Annäherung an eine zeitlose Musik früher Kulturen.389
382 Mann, Thomas: Der Zauberberg, Frankfurt am Main: Fischer 2008, S. 160. 383 Vgl. A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 352 und C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 100. 384 H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, S. 49. 385 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 122. 386 Vgl. M. Walter: Grundlagen der Musik des Mittelalters, S. 91. 387 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Zeitschichten, S. 35 sowie Haefeli, Anton: »...wie die Zeit vergeht...«, in: Dünki/Haefeli/Rapp, Der Grad der Bewegung (1998), S. 13-26, hier S. 21. 388 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 100. 389 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 605. Vgl. D. Charles: Zeitspielräume, S. 11f. zu Musik seit 1960 und ihrem neuen Umgang mit Raum und Zeit; Zeit werde
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Auch Räume sind, der Zeit vergleichbar, als »bewegliche Rahmen für Handlungsabläufe« (Bernhard Waldenfels) eminent kulturell geprägt.390 Raum im Kontext der Musik weist mehrere Dimensionen auf; diese können jedoch im Erleben nur schwer voneinander getrennt werden. Ereignisse, die Zeit beanspruchen, kommen im Raum vor und bilden in ihrer Bewegung Räume aus.391 Musikalisches Geschehen entfaltet sich vom Moment der Schwingung an im Raum; mit den Worten von Bernhard Waldenfels: »Das Anschwellen und Abebben, das Sichausbreiten und sich Sichzusammenziehen der Klänge lässt [.] Klangräume entstehen«.392 Eine Ontologie der Ereignisse, wie Waldenfels sie beschreibt, geht davon aus, dass im Moment des Ertönens nicht bloß etwas im inneren Erlebnisraum der Seele geschieht, sondern es ereignet sich etwas in der Welt.393 Wir hören nicht nur etwas im Raum, sondern durchaus das Moment des Räumlichen selbst. Das Räumliche hat eine klangliche, das Klangliche eine räumliche Seite.394 Das Wechselspiel von Prägung der Musik durch den Außen-Raum und Prägung dieses Raumes durch die Musik – »Raumbeziehungen im physischen Raum« (Gerhard Albersheim) – erfuhr in der abendländischen Musikgeschichte unterschiedliche Impulse und äußert sich in Dialogen zwischen Musik und Architektur im Be-
nicht als Folge isolierter Zeitpunkte verstanden, sondern als Ineinander-Übergehen zeitlicher Momente; d.h., der Zeitpfeil könne in alle Richtungen verlaufen. 390 Vgl. Merleau-Ponty, Maurice: Die Natur. Vorlesungen am Collège de France 19561960 (= Übergänge, Band 34), München: W. Fink 2000, S. 147 zur »Situationsräumlichkeit« als gelebte Räumlichkeit, d.h. als Lage im Raum, wo Handlung stattfindet. 391 Vgl. B. Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, S. 33 sowie ebd., S. 48. Vgl. Bräuer, Gottfried: »Hören - Vernehmen - Vernunft. Der Mensch als Gespräch«, in: Ehrenforth, Karlheinz (Hg.), Humanität, Musik, Erziehung, Mainz: Schott 1981, S. 2242, hier S. 29: »[...] die Räumlichkeit erfährt im Modus des Gehörs eine eigentümliche Abwandlung.« 392 B. Waldenfels: Klangereignisse, S. 24. 393 Vgl. Ders.: Sinnesschwellen, S. 194. 394 »Der Klang füllt den Raum. [...] dieser Raum spielt mit [...].« (Ders.: Das leibliche Selbst, S. 381). Vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 117: »[...] ein Raum hallt, das heißt er wird durch ein in ihm erschallendes Hörbares bemerkbar.« Lt. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 55 existiert ein »Einschwingungsvorgang« des Raumes. Der physische Raum in Beziehung zur Musik wird in der Literatur z.B. als »Gehörraum« (Albert Wellek) bezeichnet. In diesem Kontext sei auch auf die Räumlichkeit der Musik-Erzeuger (Instrument, Mensch) hingewiesen (vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 182). Die Erfahrung räumlicher Tiefe durch Klang wird bereits im Mutterleib mit dem Ertönen und Wahrnehmen der mütterlichen Stimme gemacht (vgl. B. Oberhoff: Die fötalen Wurzeln der Musik, S. 50).
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reich der Grundlagen oder dem geschaffenen Werk als solchem. Die innere Ordnung des architektonischen Raumes wird im antiken Verständnis von der Zahl als ein die Disziplinen überspannendes Prinzip harmonikal, ergo nach beweglichen, musikalisch sinnvollen Proportionalitäten, ausgerichtet.395 Das musikalische Intervall erhält eine räumliche Qualität; Bauten werden zu »stummer Musik«, die man »mit den Augen auffasst«396, wie Johann Wolfang von Goethe in der »Italienischen Reise« (1787) schreibt. Und ähnlich bei Paul Valéry: »[...] feine Ähnlichkeiten vereinen den körperlosen, vergänglichen Aufbau der Klänge und die beständige Kunst, welche im Sonnenlicht imaginäre Formen in den Porphyr bannt.«397 In diesem Sinne stellt eine musikalische Bildung des Architekten für den antiken Theoretiker Vitruv eine Notwendigkeit dar.398 Exemplarisch für die Anwendung der Proportionsgesetze in der Baukunst steht der Tempel von Paestum, der im 20. Jahrhundert von Hans Kayser einer präzisen Untersuchung unterzogen wurde399; und schließlich spielen auch heute für viele Architekten Zahlproportionen als bewegte Grundlagen der Musik eine wesentliche Rolle in der Baukunst.400 Konfrontationen und Interventionen von Musik und Architektur auf der Ebene des Werkes bewegen sich (auch) abseits von Zahlengrundlagen. Architekten lassen sich von Musik und durch aktives
395 Vgl. W. Schulze: Raum und Zeit in Architektur und Musik, S. 31. Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 264 zu Maßverhältnissen als Grundlage von Baukunst und Musik. 396 Goethe, Johann Wolfgang von: Italienische Reise. Hamburger Ausgabe, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1988, S. 408. Vgl. Ders.: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Stuttgart: Klett 1982, I, Vers 198: »[...] Ich glaube gar, der ganze Tempel singt.« Vgl. das Diktum von der Architektur als »gefrorener Musik« (vermutlich von F.W.J.v. Schelling formuliert und im goetheanischen Kreis gebraucht). 397 Vgl. Valéry, Paul: »Das Paradoxon des Architekten« (1891), in: Ders., Zur Ästhetik und Philosophie der Künste (1995), S. 157-161, hier S. 159. 398 Vgl. Vitruv: De architectura, I,3 und V,25. Vgl. R.M. Schaefer: Klang und Krach, S. 266 zu den Architekten in der Antike: »Die alten Baumeister bauten mit Ohr und Auge.« 399 Vgl. Hans Kayser: »Paestum. Die Nomoi der drei altgriechischen Tempel zu Paestum« (1958). Vgl. J.W.v. Goethe: Italienische Reise, S. 218ff. zur ersten Begegnung mit dem Tempel von Paestum. 400 Über die Kanones mittelalterlicher Bauhütten gelangte dieses Wissen in die Renaissance; vgl. den »Teilungskanon« des Villard de Honnecourt sowie den Universalgelehrten Leon Battista Alberti und den Architekten Andrea Palladio. Architekten des 20. Jahrhunderts, für die harmonikale Verhältnisse eine Rolle spielen, sind z.B. Claude Bragdon, Iannis Xenakis und André Studer.
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Musizieren zu Gestaltungen anregen401; umgekehrt ziehen Komponisten ihre Inspirationen aus der Impression der Dynamik von Architekturen als Bauplastiken, die sich schließlich in den Strukturen oder im Ausdruck der Musik wiederfinden lassen.402 Erweisen sich Räume als wesentliche Faktoren, die Einfluss auf die klingende Musik ausüben, kann auch noch eine dritte Ebene in der Wechselwirkung von Musik und Architektur festgestellt werden. Diese bezeichnet die seit Jahrhunderten existierende Zusammenarbeit von Komponisten und Architekten wie z.B. jene von Guillaume Dufay mit Leon Battista Alberti oder von Le Corbusier mit Edgar Varèse sowie die Ausbildung einer eigenen Disziplin, der Akustik, die herangezogen wird, um für Musik adäquate Räume zu schaffen.403 Räume sind Musik-Vermittler. Werden spezifische räumliche Qualitäten erkannt, evozierten jeweils neu entstehende Aufführungsräume, z.B. Kirchen, Paläste, Opernhäuser oder die Konzertsäle des Bürgertums, stets die Genese passender Musik; die Musik arrangiert sich mit den veränderten Bedingungen, wie die Entwicklung kompositorischer Fragestellungen und neuer Instrumenten zeigt. Umgekehrt forderte bestimmte Musik, einhergehend mit einer bestimmten kompositorischen Absicht auch immer wieder zur Bildung neuer, geeigneter Spiel-Räume auf.404 Das Verhältnis von Musik und Raum erhielt im 20. Jahrhundert eine neue Qualität. Der Bruch mit dem tonalen System sowie die Neuerungen in der Verstärkungs- und Aufnahmetechnik veränderten den Umgang mit dem Klang im Raum und mit dem Raum an sich.405 Musik wird seit der Moderne noch intensiver als ›Raum-Kunst‹ verstanden, mit dem Potenzial, die Räumlichkeit klanglich zu »befragen« und zu »bearbeiten« (Bernhard Waldenfels). In der Auffassung von Musik,
401 Vgl. die Forschungsgruppe »Angewandte Ästhetik« am Institut für Gebäudelehre der Technischen Universität Wien unter der Leitung von Emmerich Simoncsics sowie die Dialoge zu Musik, Architektur, Malerei und Bewegung zwischen Werner Schulze und Hiroko Watanabe (2004-2009). 402 Vgl. z.B. Werner Schulze: »31 Variationen: ›Aus Stein gehauen‹. Architektur für Klavier« (1986); Vorbild ist die Skulptur-Kirche »Zur Heiligsten Dreifaltigkeit« des Bildhauers Fritz Wotruba. Olivier Messiaen, um ein weiteres Beispiel zu nennen, ließ sich als Komponist unter anderem von den Glasfenstern in Kirchen inspirieren. 403 Vgl. R.M. Schaefer: Klang und Krach, S. 266 zu den antiken Baumeistern als »Akustikingenieure« und der außergewöhnlichen Akustik der griechischen Amphitheater. 404 Vgl. H. Rösing: Wechselwirkungen zwischen der Herstellung und Aufführung von Musik, S. 194. Konkrete Beispiele für die Einbeziehung des Raumes sind die Mehrchörigkeit, das Concertieren per choros im 16. Jahrhundert oder im Raum verteilte Instrumente wie die vier einander gegenüberliegend positionierten Orgeln im Dom zu Salzburg. 405 Vgl. D. Charles: Zeitspielräume, S. 9.
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die noch mehr Musik werde, wenn sie den Raum erobert, wird das Verhältnis von Raum und Klang als eigenständige Komponente bereits im Prozess der Komposition mitgedacht. Exemplarisch für ein Komponieren, in welchem Klang als »floating sculpture« (Morton Feldman) und Raum in der Bewegung aufeinander bezogen werden, steht die »Spatiale Musik« von Edgar Varèse.406 Das performative Moment der Umsetzung im Raum ist für das verständliche Aufführen vieler Werke maßgeblich und die entstehenden Werke verlangen, wie bereits in früheren Epochen, nach geeigneten Konzerträumen.407 Praxen wie die Mobilität der Instrumentalisten während der Aufführung oder die unregelmäßige Verteilung des Publikums zählen genauso zu Charakteristika Neuer Musik wie Fragen nach der räumlichen Dimension der Tonhöhe, der Gestik von Einsatz und Lautstärke oder der Gestaltung von Schallrichtungen und damit verbundener Bewegungen der Klänge im Raum.408 Die ›Ideologie‹ des beweglichen Klanges ist nicht zuletzt im Impetus einer veränderten Geisteshaltung, die eine Offenheit im Denkraum forciert, grundgelegt. Kunst trägt Verantwortung; Musik soll »das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken« (Luigi Nono).409 Musik und Musikwahrnehmung generieren eigene Räume und Zeiten, an denen der Mensch als psychophysische Ganzheit partizipiert und in denen er präsent ist. Sie sind weder ausschließlich objektiv gegeben, noch sind sie völlig dem Subjekt überlassen; musikalischer Raum und musikalische Zeit sind durch die Musik gegeben und bestimmt und sie werden im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung stets individuell und immer wieder neu geschaffen. Gunnar Hindrichs bezeichnet den spezifisch »musikalischen Raum« als eine grundlegende Bestimmung von Musik, welche die »Gestalt von Musik überhaupt«
406 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Zeitschichten, S. 40. Vgl. Edgar Varèse bzgl. seines Werkes »Intégrales« zit.n. P. Bienz: Le Corbusier und die Musik, S. 94: »I often borrow from higher mathematics or astronomy only because these sciences [...] give me the impression of movement [...].« 407 Vgl. Elzenheimer, Regine: »›...wenn in reicher Stille...‹. Pause, Fermate und Stille im Spätwerk Luigi Nonos«, in: Primavesi/Mahrenholz, Geteilte Zeit (2005), S. 71-86, hier S. 81. Vgl. P. Boulez: Ton, Wort, Synthese, S. 117 zum Konzertsaal, der sich der »heutigen Auffassung von Komponieren anpassen muss«. Vgl. die Bedeutung des Raumes in der Musik von Pierre Boulez, Luciano Berio, John Cage, Charles Ives, Morton Feldman, Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono oder Klaus Huber. 408 Vgl. z.B. Karlheinz Stockhausen: »Gesang der Jünglinge« (1956). Die Töne klingen in diesem Werk aus verschiedenen Richtungen mit verschiedenen Bewegungsformen; im Raum sind fünf Lautsprechergruppen verteilt. 409 Luigi Nonos Zitat war das Motto der Salzburger Festspiele 2011.
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prägt. Erleben von Musik und Sprechen über Musik braucht das Räumliche.410 Der musikalische Raum, der »Hörraum« (Gerhard Albersheim) ist einerseits an die Parameter der Musik wie Melodie oder Rhythmus, andererseits an das individuelle Erleben und Fühlen gebunden.411 Eine besondere Rolle fällt dabei dem resonierenden Leib und der damit in Verbindung stehenden ›Physiognomie‹ der Klänge zu. Die Bildung räumlicher Begriffe des Musikalischen wie Höhe und Tiefe, Richtung, Gewicht, Ausdehnung, Schichtung, Masse und Volumen ist nicht zuletzt an das psychosomatische Empfinden und Erleben gebunden.412 Der innere, d.h. der im wahrnehmenden Subjekt durch Musik entstehende Raum ist in eine virtuelle Musik›Landschaft‹ eingebettet, die analog zum Umgebungsraum »Informationsträgerin« (Erwin Frohmann et al.) ist und auf das Individuum Einfluss nimmt. Diese ›SonoSphäre‹ ist ein Fremdort, in Anlehnung an die Terminologie Michel Foucaults ein
410 G. Hindrichs: Der musikalische Raum, S. 50. Vgl. auch G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 47 und E. Kurth: Musikpsychologie, S. 116f.; seit dem 19. Jahrhundert exisitiert unter den Theoretikern ein reger Diskurs über musikalische Raumvorstellungen. Unter den Theoretikern wird ein spezifisch musikalischer Raum in seiner Authentizität nicht durchgängig angenommen; eher wird von einer Raum-Analogie ausgegangen; Schwierigkeiten mag der Unterschied zum physischen Raum bereiten (vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 47). Zur »Erlebnisfülle des musikalischen Raumphänomens« vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 180. 411 In der Literatur werden die Qualitäten musikalischer Parameter betreffend Begriffe wie »Tonraum« (Albert Wellek), »tonpsychologischer Raum« (Ernst Kurth) und »psychischer Tonraum« (Rudolf Haase) gebraucht; speziell die Gefühlswelt betrifft z.B. der Begriff »Musikraum« (Albert Wellek). 412 Vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 183f., B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 206f. und R. Scruton: The aesthetics of music, S. 20f.; beim Musikraum handelt es sich auch um einen »physiognomischen Raum« und daher um einen »Gefühlsraum« (M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 104). Vgl. H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, S. 33 zu Volumen, das nicht mit Stärke identifiziert werden solle, sondern vielmehr mit Raumvokabeln wie dünn oder dick. Vgl. G. Albersheim: Musikpsychologie S. 63 und A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 182 zur Vertikalen im Hörraum (hohe und tiefe Töne), die zwar eine Konvention, aber keine rein willkürliche darstelle, bezeichnet diese doch die Richtung der Gravitation. Vgl. Aristeides Quintilianus: De musica III,131: »[...] die unten [...] liegenden Töne entsprechen wegen des tiefen, dumpfen, schweren Elements [der Erde] [...].« In der Cheironomie (dem Anzeigen der Melodiebewegung), in der Spielbewegung und in der Kehlkopfbewegung wird die Vertikale leiblich erlebt.
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»Heterotopos«, der sich uns entzieht und der die Erfahrung des »Außer-Ordentlichen« (Bernhard Waldenfels) ermöglicht.413 Vergleichbares gilt für das Zeitempfinden. Eine homogene, ›leere‹ Welt-Zeit ist kein ästhetischer Sachverhalt, der mitgehört wird.414 Der musikalische Zeitbegriff muss über die äußere als eine von mehreren Dimensionen der Zeit in der Musik hinausgehen; ohne jedoch einen Dualismus von psychischer und physikalischer Zeit zu forcieren.415 Vielmehr soll Musikhören hier im Sinne eines genuin musikalischphänomenalen Zeitbegriffes gedacht werden.416 Dieser konstituiert sich grundlegend aus der Synchronisation divergierender Ebenen von Bewegung. So bilden Metrum, Rhythmus und Melodieverlauf ein Konglomerat an zeitlichen Strukturen, das eine spezifisch musikalische Zeit erschafft.417 Erweitert um die Ebene des wahrnehmenden Individuums bedeutet Musikhören, in eine persönliche, schöpferische »Erlebniszeit« (Wilhelm Dilthey) einzutreten.418 Dieses Eingehen in die individuellphänomenale Zeit ist gleichzeitig ein Aufgehen in der Zeit, d.h. in der absoluten Gegenwart als »Gleichklang« von Erleben und Vergegenwärtigen.419 Und, so der Philosoph Eugen Schulak, »[...] in eben dieser Gegenwart schaffen wir und erschaffen wir uns selbst.«420 Das temporale Moment des (»rechten«/»günstigen«) Augenblickes (kairós), welches das Musik-Erleben auszeichnet, markiert eine »privilegierte Zeitstelle« (Bernhard Waldenfels): Denn das Jetzt steht in einem »Verweisungszusammenhang«, wie Waldenfels ausführt, und ist deshalb nie ganz ungeteilte
413 Vgl. B. Waldenfels: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, S. 113ff. 414 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 98. 415 Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 127ff. zur »gelebten Zeit« im Kontext der Musik. Vgl. Hesse, Horst-Peter: Musik und Emotion. Wissenschaftliche Grundlagen des Musik-Erlebens, Wien/New York: Springer 2003, S. 151 zu Zeit in der Musik als komplexe Kategorie, »in der die Zeit, mit der wir im Musikwerk zu tun haben, anderen Regeln folgt als denen, die in der physikalischen Realzeit gelten.« 416 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 552 zur musikalischen Zeit. 417 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 100. 418 Vgl. A. Haefeli: »…wie die Zeit vergeht...«, S. 19f.; vgl. Igor Strawinsky zit.n. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 604 zum musikalischen Zeitbegriff, der jenseits psychologischer Zeitkategorien oder gleichzeitig mit ihnen entstehe. 419 Vgl. Müller-Funk, Wolfgang: »Die Kunst und der Riss in der Zeit«, in: Der Standard vom 30.11.2002, S. 7. Vgl. I. Strawinsky: Mein Leben/Das Wesen der Musik, S. 78: »Die Musik ist der einzige Bereich, in dem der Mensch die Gegenwart realisiert.« Vgl. E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 106 zum »schöpferischen Menschen«, für den »keine von der Gegenwart abstrahierte Zeit« existiere. 420 Vgl. Schulak, Eugen: »Zeit, lass nach. Eine Parforcejagd«, in: Die Furche vom 01.04. 2004, S. 21.
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Zeit. Sowohl Gewesenes als auch sein Werdendes verweist auf das Jetzt421; die durch Musik hergestellte Synthese von Vergangenem, sich Ereignendem und Künftigem betrachtet Carl Dahlhaus als musikalisch fundamentales Moment.422 Der Augenblick hat in der Musik aber nichts Starres an sich – das Jetzt ist in jedem Moment ein anderes. So gründet die reziproke Verbindung von Gegenwart und Bewegung darin, dass der Augenblick mit dem Rezipienten »wandert«.423 Der Plural von Raum und Zeit in der Musik greift im persönlichen Erleben und musikalischen Geschehen dialektisch ineinander und erzeugt ein phänomenales RaumZeit-Kontinuum: Musik erzeugt »Tonraumzeitgestalten« (Werner Danckert); Bewegung markiert darin das Raum und Zeit zusammenfassende Moment.424 Der Geschichte der Bewusstwerdung und der Trennung von Raum und Zeit geht eine ursprüngliche Einheit, eine Raum- und Zeitlosigkeit, ein Raum- und Zeit-Gefühl voraus, wie Jean Gebser aufzeigt; erst in der Neuzeit kam es zur ›Entdeckung‹ der gerichteten Zeit und des dreidimensionalen Raumes.425 Jahrhunderte später, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, fanden erneut bahnbrechende Entwicklungen statt, die dazu führten, traditionelle Begriffsgrenzen zu überschreiten. Paradigmatisch für diesen Aufbruch steht der Diskurs zur »vierten Dimensionalität« (Achronon). Die vierte Dimension integriert das Zeitliche in die Dimension des Raumes und ist lt. Gebser also weniger als zusätzliche, sondern vielmehr als vereinende Dimension zu verstehen; die ›Verbindung des Unvereinbaren‹ als Merkmal einer gesamten Epoche drückt sich exemplarisch an ihr aus.426 Sowohl parallel als auch in weiterer Folge zu Albert Einsteins »Relativitätstheorie«,
421 B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 131. 422 Vgl. C. Dahlhaus: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert I, S. 99. 423 Vgl. ebd. 424 Vgl. L. Klages: Das Wesen des Rhythmus, S. 35: »Es gibt keine zeitliche Erscheinung, die nicht auch räumliche Erscheinung wäre, keine räumliche Erscheinung, die nicht auch zeitliche wäre.« Ein interessantes Detail markieren Etymologie und Verbindung des Zeitbegriffes Tempo (lat. tempus) und des Raumbegriffes Tempel, auf die Norbert Jürgen Schneider (Die Kunst des Teilens, S. 37) und Peter Gendolla (Zeit, S. 19) hinweisen: beide wurzeln in altgriech. témno und lat. templum; da die Zeitmessung Aufgabe der Priester gewesen ist, sind Tempel auch als Räume der Zeitmessung zu betrachten. Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 127: »Das Raumproblem der Musik ist zugleich das Zeitproblem [...].« Vgl. Bekker, Paul: Wesensformen der Musik (= Veröffentlichung der Novembergruppe), Berlin: B. Lachmann 1925, S. 48ff. zur Räumlich- und Zeitlichkeit beweglicher musikalischer Formen. 425 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 234ff. 426 Vgl. ebd., S. 456f.
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mit der er eine vierdimensionale (Raum-Zeit-)Einheit aufstellte, in der Raum und Zeit als wechselseitige dynamische Prozesse gedacht werden, entwickelten zahlreiche Denker ähnliche Konstrukte oder adaptierten die Vierdimensionalität für ihre Disziplin. Eine neue Bewusstseinsstruktur wurde geschaffen.427 Diese Veränderungen machten auch vor der Kunst nicht Halt und evozierten neue schöpferische Prozesse, die nicht zuletzt von der Musik ausgingen. Claude Debussy formulierte Anfang des 20. Jahrhunderts in der »Revue Blanche« seine Gedanken zur Auflösung der klassischen Einteilung der Künste; später griffen andere Komponisten die Idee der Vierdimensionalität auf.428 Arnold Schönberg bezog sich in seinen ersten theoretischen Schriften auf Albert Einstein und behandelte das Zeitproblem429; dies spiegelt sich auch in folgendem Zitat wider: »Jede musikalische Gestaltung, jede Bewegung von Tönen muß in erster Linie als ein wechselseitiges Verhältnis von Klängen oszillierender Schwingungen aufgefaßt werden, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten auftreten.«430 Für Olivier Messiaen meinte »L’Espace-Temps« ein Feld, in dem sich Raum und Zeit als gleichberechtigte Komponenten in der Musik begegnen.431 Ein Kontinuum von Raum und Zeit, das Komponisten seit dem 20. Jahrhundert im Besonderen berücksichtigen, kann für jede Musik, gleich welcher Zeit, als Grundlage angenommen werden. Im Folgenden wird dieses Kontinuum als Nexus von Raum und Zeit verstanden, innerhalb dessen sich vielfältige Beziehungskonfigurationen musikalischer Parameter konstituie-
427 In dieser Zeit enstanden mehrere ähnliche Theorien (vgl. ebd., S. 460ff.); vgl. z.B. Hermann Minkowskis Theorie der »Raumzeit« und die Vorstellung von der vierten Dimension als unsichtbar wirkende Komponente bei Ernst Mach oder den materialistischen Psychisten (vgl. ebd., S. 459). 428 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Zeitschichten, S. 36, weiters P. Bienz: Le Corbusier und die Musik, S. 92 sowie C. Peres: Kandinsky, Leibniz und die RaumZeit, S. 86. In seinen »Wiener Vorträgen« (1937) wies der Komponist Ernst Krenek auf Parallelen zwischen Neuer Physik und Neuer Musik sowie auf die Vierdimensionalität hin; vgl. weiters neue Zeit-Raum-Konzepte in der Musik von György Ligeti, Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez. 429 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 606. 430 A. Schönberg: Komposition mit zwölf Tönen, S. 51. 431 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Zeitschichten, S. 44 sowie Gottwald, Clytus: Musik als spekulative Theologie. Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 160.
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ren.432 Bezüge entstehen durch die Bewegung innerhalb dieser Struktur, die verschiedene Ausdehnungen aufweist.433 Zunächst organisiert sich das Klanggeschehen auf horizontaler Ebene, was einerseits die Chronologie melodisch-rhythmischer Ereignisse tangiert; andererseits werden bereits hier Aspekte des Räumlichen, des Nacheinanders unterschiedlicher Tonhöhen relevant.434 Die horizontale Linie erscheint gleichsam als »Naht« (Gunnar Hindrichs), an der sich räumliche und zeitliche Aspekte gegenseitig aufheben435: Das Kommen und Gehen der Klänge in der Zeit und die »Verwandlung der Relationen« (Thrasybulos Georgiades) bilden Räume aus, indem das zeitlich währende Zwischen gleichzeitig Grundlage der Tonbewegung (motus melodicus) zwischen den Ton-Orten ist.436 Der Zeitraum, den der Komponist und die Ausführenden herstellen, begrenzt das musikalische Werk und markiert eine Irreversibilität.437 Dies gilt für alle musikalischen Werke, gleich auf welcher Zeitauffassung sie basieren. Eine teleologische Ausrichtung gilt hingegen nur für finale Werkkonzeptionen, die per definitionem an das Prinzip der Perspektive, d.h. an eine Bewegungsrichtung auf einen Fluchtpunkt hin geknüpft sind.438 Die Frage nach der Entwicklung von Perspektive ist, wie Gebser zeigt, eine ästhetisch-kunsthistorische wie geistesund seelengeschichtliche.439 So existierte in der Phase der »unperspektivischen Welt«, in der das Raum-Bewusstsein noch nicht gegeben war, auch kein IchBewusstsein. ›Unperspektivische‹ Musik, z.B. die ›schwebende‹ Musik der Grego-
432 Vgl. lat. continuus (zusammenhängend). Die nun folgende Systematik des Raum-ZeitKontinuums lehnt sich an die von Gunnar Hindrichs in seinem Artikel »Der musikalische Raum« gebrauchten Ausdrücke Horizontale, Vertikale, Diagonale und Dichte an. 433 Vgl. G. Hindrichs: Der musikalische Raum, S. 56 sowie H.d. La Motte-Haber: Zeitschichten, S. 35. 434 Vgl. P. Hindemith: Übungsbuch für elementare Musiktheorie, S. 21 zum »Zeitraum« (zeitliche Gliederung durch Töne verschiedener Länge) und zum »Tonraum« (räumliche Gliederung durch verschiedene Höhe). Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 126 zu Ernst Kurths Auffassung der Horizontale als »räumlich erlebte Zeit«. 435 Vgl. G. Hindrichs: Der musikalische Raum, S. 57. 436 Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 63 zum Raumkontinuum des Melos. Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 310: »Es ist paradox, aber doch so: der musikalische Raum rückt an uns vorbei oder wir an ihm [...] und gerade dadurch, daß er sich zeitlich entfaltet wird er zum Raum.« 437 Vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 67 zur unumkehrbaren Richtung. 438 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Zeitschichten, S. 35 sowie G. Hindrichs: Der musikalische Raum, S. 59. 439 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 35.
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rianik, ist an ein zyklisches Zeitempfinden gekoppelt. Die Bewusstwerdung der Perspektive – in der Antike bereits vorgeformt und in der europäisch-abendländlischen Welt sich erst Mitte des 13. Jahrhunderts entwickelnd – bedeutete nicht nur ein Realisieren des Raumes, sondern auch ein sich Vergegenwärtigen des eigenen Körpers als Ich-Träger.440 Parallel zum veränderten Verhältnis des Menschen zum (nun als beherrschbar) erlebten Raum und zur veränderten »spezifischen Zeit-KörperAnordnung« (Marcel Dobberstein) wandelte sich das Zeitbewusstsein. Dieses neue Zeitbewusstsein, und damit Gefühl für die Welt, ist geprägt durch den kontinuierlichen linearen Verlauf und implizierte eine Vereinheitlichung und Objektivierung zeitlicher Gliederungssysteme wie in der Mensuralmusik evident.441 Wesentlichstes Merkmal von Perspektive ist Tonalität, welche die Musik bis 1900 kennzeichnete und insbesondere der Epoche der Klassik entspricht. Die tonalen Bindungen und die Rückkehr zum Fundament bestimmen den Weg der Bewegung im »fest umrissenen Klangraum der Oktave« (Jean Gebser).442 Die Musik der Moderne gab das Perspektivische in der raumzeitlichen, musikalischen Bewegung als Bedingung des Komponierens auf und entwickelte Handlungsoptionen in der Aperspektivität: Sie emanzipierte den Rhythmus von taktmetrischen Vorgaben, ermöglichte die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitebenen, schuf eine Parität von Dissonanz und Konsonanz und überwand die Tonalität in der A- und Poly-Tonalität.443 Die Betrachtung der Bewegung hinsichtlich der Höhe und Tiefe macht das Konstrukt einer vertikalen Ebene nötig. Das Spezifische des Melos – der diastematische oder akkordische Ortswechsel nach oben oder unten – entfaltet sich während des zeitlichen Verlaufes im Tonraum.444 Die einzelnen Ton-Orte werden dabei vom Ohr
440 Vgl. Blaukopf, Kurt: Musiksoziologie. Eine Einführung in die Grundbegriffe mit besonderer Berücksichtigung der Soziologie der Tonsysteme, Niederteufen: Niggli 1972, S. 84ff. zum Zusammenhang von Entwicklung der Harmonie in der Musik und Entwicklung der Perspektive in der Malerei: Das neue Raumgefühl habe mitunter zur musikalischen Harmonie geführt. 441 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 35ff. sowie Lütteken, Laurenz: »Artikel ›Notation/VI. Mensuralnotation‹«, in: MGG 7, S. 323-339, hier S. 333f. 442 Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 324 zur Komplexqualität des Raumhaften, das die Harmonie an sich trage, v.a. durch die tonalen Bindungen und die Rückkehr zum Gleichen. Vgl. weiters G. Hindrichs: Der musikalische Raum, S. 59. 443 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 609f.; vgl. ebd., S. 611 zur Aufhebung der Raumperspektive bereits bei Claude Debussy. Ähnliches kann bei Arnold Schönberg beobachtet werden (vgl. C. Peres: Kandinsky, Leibniz und die RaumZeit, S. 87f.); vergleichbare Tendenzen traten auch in der Malerei auf (vgl. ebd.). 444 Vgl. G. Hindrichs: Der musikalische Raum, S. 63, weiters J.M. Hauer: Vom Wesen des Musikalischen, S. 17 sowie W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 62.
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als Zeitphänomene (Frequenzen) wahrgenommen und gemessen.445 Die durch die Bewegung von einem Ort zum anderen entstehenden, dynamischen Zwischenräume (Intervalle) prägen das strukturelle Erscheinungsbild der melodischen Geste und evozieren außerdem Eindrücke wie Enge oder Weite, Kontraktion oder Stabilität.446 Eine weitere Option, das musikalische Geschehen in einem Raum-Zeit-Kontinuum zu charakterisieren, ist der Aspekt der Distanz.447 Ursachen von damit assoziierbaren Phänomenen wie Nähe, Ferne oder Tiefe sind z.B. in der Wirkung der Lautstärke zu finden. So kann das Pathos des Lauten einerseits die Erfahrung von Nähe, andererseits, aufgrund des Erlebnisses von Erhabenheit, Abstand erzeugen. Weitere Parameter, die mit dem Aspekt der Distanz in Verbindung stehen, sind die Echowirkung, die Klangfarbe, die strukturelle Dominanz (Vorder- und Hintergrund) oder die Pause.448 Luigi Nono, um ein Beispiel zu nennen, demonstrierte mit der Anweisung Lontanissimo in seinen späten Kompositionen, wie ein Klang scheinbar ›aus dem Nichts‹ kommen kann und dadurch den Eindruck von Weite und Entfernung entstehen lässt.449 Das musikalische Ereignis im Sinne eines Spannungsgeschehens ist auf der Diagonale zu verorten und geht mit dem Aspekt der Dichte, d.h. der Gleichzeitigkeit der Klänge konform. Die Harmonie verdeutlicht den musikalischen Raum als Art und Weise, wie ein Klang mit dem anderen in der Zeit vorkommt im Besonde-
Vgl. C. Dahlhaus: Musikästhetik, S. 120: »[...] in der Sukzession ist der Eindruck einer Distanz zwischen den Tönen – einer Vertikale als Dimension des Tonraums – deulich.« 445 Vgl. H. Kayser: Akróasis, S. 52f. zur Unterscheidung der Zeitdifferenzen (Schwingungszahlen) durch das Ohr. 446 Vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 49 zu Tonhöhenintervallen als Raumbeziehungen im Hörraum. Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 307 zur Dynamik, die dem Hoch und Tief der Musik innewohne; außerdem spiele die taktile Erfahrung am Instrument für die musikalische Distanzvorstellung eine Rolle. Vgl. ebd., S. 324 zur Raum-Empfindung aufgrund der Klangfarbe/des Harmoniegefüges. Vgl. außerdem G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 185. 447 Vgl. W. Schulze: Raum und Zeit in Architektur und Musik, S. 29, der in diesem Kontext von einer Dimension musikalischer Zeit als »Intensität« spricht. 448 Vgl. ebd.; vgl. weiters T.W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, S. 85 und G. Hindrichs: Der musikalische Raum, S. 66 zum Erlebnis von Tiefe über komplementäre Harmonik und zur Frage nach Vorder- und Hintergrund (Hauptstimme-Begleitung). Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 126 zu Ernst Kurths Erklärung der Tiefendimension durch Nähequalitäten der Klangfarben. 449 Vgl. R. Elzenheimer: »...wenn in reicher Stille...«, S. 80. Vgl. Aspekte des Räumlichen in Vortragsangaben, z.B. bei R. Schumann, »Kreisleriana« (op. 6,17): »wie aus der Ferne«.
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ren. In diesem »Spielraum der Bewegung« (Bernhard Waldenfels) werden dem »Hier« des einzelnen Tonortes die Möglichkeit der Bezugnahme auf verschiedene »Dorts« geboten, wie Albert Wellek notiert; Harmonie bilde somit ein Gefüge, das als »Architektonisches« erlebt werde.450 Klangliche Gestalten beruhen auf Verwobenheit; in kontrapunktischen Formen sind diese als temporale Verschiebung konstruiert.451 Für Ernst Kurth besteht hinsichtlich des Dichtephänomens außerdem eine Verbindung mit kinästhetischen Eindrücken: Er differenziert zwischen Dissonanzen, die als Spannungsphänomene im wahrnehmenden Subjekt Schwere- und Druckwirkungen erzeugen und Konsonanzen, die als Momente der Lösung Gravitationszentren oder Ziel- und Ruhepunkte darstellen.452
1.10 D YNAMIK Der Terminus Dynamik ist in der Musik in einem diffusen Feld lokalisierbar, dem auch Begriffe wie Energie, Spannung, Gravität, Zug oder Drang angehören; in theoretischer Hinsicht haben sich dieser Thematik insbesondere Vertreter der musikalischen »Energetik« wie Ernst Kurth oder August Halm genähert.453 In diesem Begriffskomplex erweist sich Bewegung wiederum als Bindeglied, hat doch Dynamik stets mit Zustandsänderungen zu tun.454 Die Naturwissenschaften haben dynamische Aspekte der Bewegung bereits gründlich untersucht. Dass in der Musik eine
450 A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 320 sowie ebd., S. 324. Ernst Kurth verortet die Trägerfunktion des Harmonieganzen in der Bass-Stimme (vgl. ebd., S. 124f.). Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 339 zu Raumstellen innerhalb eines musikalischen Beziehungsgefüges. Analog dazu kann mit Huschka, Sabine: »Wissensformen choreographischer Körper. Perspektiven und Annäherungen«, in: tanzjournal 5 (2006), S. 14-17, hier S. 17 der choreografische Bewegungs-Raum im Tanz beschrieben werden, der aus Begegnungen und Interdependenzen hervorgehe. 451 Vgl. G. Hindrichs: Der musikalische Raum, S. 67. Vgl. J.M. Hauer: Deutung des Melos, S. 20: »Bei der Fugenform spielen auch [.] direkte Bild- und Raumerlebnisse eine Rolle.« 452 Vgl. G. Hindrichs: Der musikalische Raum, S. 68 und A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 124f.; Dissonanzen können auch den Eindruck von Schräge und Instabilität auslösen. 453 Vgl. W. Wiora: Das musikalische Kunstwerk, S. 87 zu Termini wie Kraft, Energie, Verve und Wucht sowie zu Vortragsangaben wie energico, risoluto, stürmisch bewegt, energisch, Brio und Elan. 454 Vgl. Kilian, Ulrich/Weber, Christine (Hg.): Lexikon der Physik. Band 2, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 1999, S. 112.
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auffallende Affinität zu physikalischen Termini existiert, mag also nicht verwundern. Ist der fundamentale Bezug zum Lebendigen gegeben, kann in der Musiktheorie außerdem eine Übernahme des Organismusbegriffes durch jene Autoren beobachtet werden, die eine systematisch energetische Musikanschauung vertreten.455 Dynamik soll im Folgenden nicht nur als Wechsel der Schallintensität verstanden werden, sondern noch ursprünglicher, im Sinne des griechischen dýnamis, als Kraft und Vermögen.456 Der Impuls für raumzeitliche Veränderung setzt den Einsatz von Kräften voraus, wie Alexander Pope in seinem »Essay on Man« (1744) konstatiert: »Most strength the moving principle requires,/ Achieve its task, it prompts, impets, inspires [...].«457 Bewegung wird durch Kräfte hervorgebracht, ist Ausdruck deren Spannung und damit fundamental von der ihr zugrundeliegenden Dynamik abhängig. Die mit dem musikalischen Ereignis frei gesetzte Energie fällt mit diesem Wirkursprung zusammen.458 Auf Musik bezogen kann bereits vom einzelnen Ton als dynamischer Augenblick, als »Bewegungsenergie« (Beat Furrer)459 gesprochen werden. Zwischen den Tönen konstituiert sich ein melodisch-rhythmisches Kräfteverhältnis460, aus dem ei-
455 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Kräfte im musikalischen Raum, S. 283 sowie E. Kurth: Musikpsychologie, S. 98ff. 456 Vgl. Boris V. Assafjew zit.n. F. Beinroth: Musikästhetik von der Sphärenharmonie bis zur musikalischen Hermeneutik, S. 161 zu Musik als »dynamischer Prozess«. 457 A. Pope: Essay on Man, Ep. II, II/67. August Halm stellte die These von der Verankerung der Kräfte in Denkvorgängen auf (vgl. H.d. La Motte-Haber: Kräfte im musikalischen Raum, S. 283); für Wilhelm Ostwald stellten Materie und Bewusstsein Erscheinungsformen der Energie dar (vgl. F. Beinroth: Musikästhetik von der Sphärenharmonie bis zur musikalischen Hermeneutik, S. 156). 458 (Lebendige) Bewegung wird bei C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 26 und W. Wiora: Das musikalische Kunstwerk, S. 75 als Energie bezeichnet und als »Urimpuls« bzw. »immanenter Gehalt« der Musik aufgefasst. Ernst Kurth spricht von »Bewegungsenergie«, die sich im musikalischen Erleben entlade (Musikpsyschologie, S. 76). 459 Vgl. E. Kurth: Musikpsychologie, S. 15 zum einzelnen Ton als »Symbol eines dynamischen Augenblickes« und ähnlich H. Grabner: Allgemeine Musiklehre, S. 25 zur »jedem Tone innewohnenden Bewegungsenergie«. 460 Vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 10 zum Freiwerden von Energie im »Fluß musikalischer Ereignisfolgen«. Vgl. J. Kirchhoff: Klang und Verwandlung, S. 72 und C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 26 zu Rhythmus als energetischer Grundimpuls. Vgl. E.G. Wolff: Grundlagen der autonomen Musikästhetik, S. 69 zur (psychischen) »Bewegungsenergie« durch das Intervall. Vgl. H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, S. 44 zu Leben und Spannung im musikalischen Geschehen, die nicht nur an die Töne gebunden sind.
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ne lebendige Spannungsbeziehung mit funktioneller Bedeutung für den Gesamtverlauf hervorgeht. Musik wird somit in ihren Grundvorgängen zum »Spiel« (Hans Georg Nägeli) und zur »Regung« (Ernst Kurth) der Kräfte. Die Doppelbedeutung von Energie im Bereich des Musikalischen besteht im Ineinanderwirken der Aspekte Vermögen und Ausdruck. Ernst Kurth zieht dafür die Termini »potenzielle« und »kinetische Energie« heran.461 Die Rede von der »potenziellen Energie« verdeutlicht die Abhängigkeit der energetischen Verhältnisse von der jeweiligen Musik, insofern als Energie dem Musikwerk bereits immanent ist und sie die gespeicherten Kräfte bezeichnet wie z.B. die in einem Akkord verhaltene Bewegungsspannung.462 »Kinetische Energie«, die im musikalischen Ereignis, im Melodiegeschehen explizit wird, verweist in ihrer adverbialen Kennzeichnung direkt auf Bewegung. Abhängig vom Bewegungsvorgang meint »kinetische Energie« die im und durch den Verlauf entstehende Spannung, das »In-die-Zukunft-Drängende« (Jochen Kirchhoff).463 Die Entladung der Energie unterliegt unterschiedlichen Intensitätsgraden, wodurch das Klingende zum Ausdruck gebracht wird. Dynamik meint in diesem Sinne nicht bloß eine beliebige Eigenschaft eines Musikstückes; vielmehr lädt sie die musikalische Bewegungsgestalt energetisch auf und bezeichnet eine spezifische Spannung.464 Demgemäß stehen auch Begriffe wie Crescendo oder Decrescendo für eine Spannungsentwicklung, d.h. für ein Wachsen oder Abnehmen.465
461 E. Kurth: Musikpsychologie, S. 80. 462 Vgl. Ernst Kurth: »Die romantische Harmonik« (1919) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 361. 463 Bei Ernst Kurth scheinen Termini wie Strömen und Drängen auf (vgl. H.d. La MotteHaber: Kräfte im musikalischen Raum, S. 284). 464 Vgl. H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle, S. 138. Vgl. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, S. 250 (§20) zu Fortissimo als »größte Stärke« des Tones sowie ebd., S. 249 (§19) zur Abwechslung von Piano und Forte als Mittel, »Licht und Schatten« in der Musik zu unterhalten. 465 Vgl. C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 364 zum Decrescendo: »[...] vom vollen Leben des Tons, bis auf sein Hinsterben«.
2. Bewegung im Zwischenraum von Mensch und Musik
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UND
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Zwischen Mensch und Musik besteht eine innige, wenngleich – historisch betrachtet – sich stets wandelnde Verbindung, die einer Bestimmung des Musikalischen implizit ist1 und der sich die Musikforschung seit ihrem Bestehen zuwendet.2 Die hier relevanten Fragen betreffen speziell Formen und Stellenwert von Bewegung im Kontext unterschiedlicher Zwischenräume, die in der und durch die Mensch-MusikBeziehung generiert werden. Der jeweiligen Perspektive auf die untersuchten Aspekte, sei es die Wirkung von Musik, das Zusammenspiel mehrerer Musiker oder die Umsetzung von Musik in ein anderes Medium, entsprechend stellen sich die Zwischenräume als je spezifische dar. So erscheint Bewegung auch innerhalb dieses Themenbereiches nicht als homogenes Phänomen, sondern ist vielmehr im Plural ihrer Bedeutung für diesen konstitutiv. In den folgenden Kapiteln ist die Leiblichkeit des Menschen, Ort der Auseinandersetzung des Selbst mit der Umwelt, zentraler Ansatzpunkt.3 Der Leib wird hier im Sinne der phänomenologischen Philosophie gleichsam als »Umschlagstelle« (Edmund Husserl) verstanden, an der Natur und Geist, Sinnlichkeit und Sinn ineinandergreifen. In der Musik wird die Ambiguität von Selbst-Bezug und SelbstEntzug am Leib besonders deutlich.4 Einerseits entstammt sie dem Individuum 1
Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 19f.
2
Vgl. ebd., S. 16 zu unterschiedlichen Formen dieser Beziehung, die mit der Frage nach
3
Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 52.
4
Vgl. Ders.: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 198 sowie Ders.: Das leibliche Selbst,
intentionaler Hinwendung und intellektueller Distanzierung verbunden sind.
S. 43ff.; und vgl. Ders.: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 119: »Die Rede vom Eigenleib [...] ist stets nur cum grano salis zu nehmen.«
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selbst; dieser Umstand ist sowohl an der Allgegenwärtigkeit einer »Hörwelt« als »Lebenswelt« und der Angebundenheit der Musik an anthropologische Gegebenheiten als auch an der Rolle des Menschen als ästhetischem und schaffendem, als intentionalem und sozialem Subjekt festzumachen.5 Georg Lukács exemplifiziert dies am ›Involviert-Sein‹ in das Werk während des Spielens auf dem Instrument: Ästhetisches Gebilde und unmittelbares Beteiligt-Sein des Menschen bilden eine Einheit; das Kunstwerk ist kein vollkommen autonomes Gebilde, sondern an den Menschen gebunden.6 Andererseits lässt sich das Verhältnis von Musik und Mensch ausgehend von der Annahme einer Kollision ›fremder Ordnungen‹ betrachten. Musik befindet sich auch außerhalb des Eigenen. Im Moment der Berührung des Musikinstrumentes geschieht ein Entzug des Leiblichen. In der Musik begegnen einander fremde Ordnungen von Hör- und Sehwelt, von Klang- und Körperbewegung. Zur fundamentalen Widerfahrnis des Fremden kommt es, wenn jene essenzielle Begegnung mit Klängen stattfindet, die eine Geräuschwelt der Alltagserfahrung übersteigt und den Getroffenen aufrüttelt.7 Das ›normale‹ Hören setzt aus; der »feste Boden des Gewohnten« (Bernhard Waldenfels) wird dort verlassen, wo Musik den Menschen in seiner Leiblichkeit affiziert und ihn seiner selbst entzieht.8 Erst dieser »ihr innewohnenden Fremdheit« verdanke Musik ihre Anziehungskraft, wie Waldenfels konstatiert.9
2.1 R ESONANZEN In Konfrontation mit Musik widerfährt dem Menschen etwas. Bernhard Waldenfels zieht für Ereignisse, die mit dem »Unerhörtem im Gehörten« überraschen10, den Begriff des páthos heran, der über das Wovon des Getroffenseins hinausgeht und der in dieser Bedeutung mögliche Widerstände des Individuums integriert.11 Diese »Erfahrung des Numinosen« (Erich Neumann) führt zu einem Ergriffensein des Menschen – es kommt zur Resonanz, gleichsam Bedingung ästhetischer Erlebnisse.12 Der Akustik entlehnt, wo der Resonanzbegriff das durch Schallwellen gleicher
5
Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 18f. sowie B. Waldenfels: Sinne und Künste
6
Vgl. G. Lukács: Ästhetik II, S. 12.
7
Vgl. B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 164.
8
Vgl. Ders.: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 106.
9
Ders.: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 159.
im Wechselspiel, S. 159.
10 B. Waldenfels: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 9. 11 Vgl. ebd., S. 42f. und ebd., S. 8f. 12 Vgl. E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 77.
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Frequenz angeregte Mitschwingen eines Körpers oder Systems bezeichnet13 und direkt auf den Wortsinn wieder erklingen (lat. resonare)14 verweist, wird der Terminus ebenso hinsichtlich der Wirkung von Musik auf den Menschen gebraucht. Der Resonanzbegriff geht a priori mit verschiedenen Bewegungen einher; die Elastizität der beteiligten Systeme ist dafür Voraussetzung. Dies gilt für das Bewegende, das sich selbst in Bewegung befinden muss, ebenso wie für das Bewegte15: »Das Lockende und das Schreckende ist lockend und schreckend nur für ein Wesen, das sich richten, sich nähern und entfernen, kurz das sich bewegen kann«, schreibt der Psychiater Erwin Straus16. Resonanz gründet in einer einwirkenden Bewegung (Reiz), die von etwas zu etwas führt, die in der Berührung Beziehung zwischen Eigenem und Fremden stiftet und schließlich Veränderung im Subjekt bewirkt.17 Es findet eine Begegnung statt, die eine ›Antwort‹ im Berührten, im leiblichen »Responsorium« (Bernhard Waldenfels) evoziert und die sich in der Perzeption als Bewegung zu erkennen gibt.18 Musikerleben muss somit primär als dynamisch betrachtet werden. Dem Wesen von Musik als Movens, als »großes Bewegendes« (Bernd Oberhoff), das in der Einwirkung auf das Sensorium des Menschen und in der Evokation psycho-physischer Bewegungen besteht, haftete eine Aura des Mystischen an, bevor Musikwirkung psychologisch und neurowissenschaftlich erklärbar wurde; an der ›erstaunlichen‹ Wirkung von Musik wurde zudem eine Bedingung ihres Selbstverständnisses festgemacht.19 Denker unterschiedlicher Epochen, die sich mu-
13 Vgl. Descartes, René: Compendium musicae. Leitfaden der Musik (= Texte zur Forschung, Band 28), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978, S. 4: »Denn das ist [.] sicher, daß der Ton ringsumher alle Körper erschüttert [...].« 14 Vgl. Codex Abrogans, Sp. 46 zu lat. resonare: hluten (nhd. läuten). 15 Vgl. Aristoteles: Physik, III,201a: »Was [.] natürlichen Anstoß zur Veränderung gibt, [ist selbst auch] veränderbar.« Vgl. F. Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, S. 345: »[...] sie [Anm.: die Kunst] redet zu dieser Art von feiner Beweglichkeit des Leibes.« 16 Erwin Straus zit.n. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 69. 17 Vgl. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 11: »Jedes wahre Kunstwerk wird sich in irgendeine Beziehung zu unserm Fühlen setzen [...].« Vgl. Aristoteles: Physik, III,202a zur Veränderung durch Berührung. Vgl. Helmut Lachenmann zit.n. Stenzl, Jürg: »Was heißt hören?«, in: Falter Special Wien Modern (2005), S. 6: »Hören heißt [...] sich verändern.« 18 Vgl. L. Klages: Vom Wesen des Rhythmus, S. 36: »Das Geräusch dringt auf uns ein [...] immer uns mehr oder minder bewegend.« 19 Vgl. einige Beispiele aus der Literatur: Musik und ihre Wirkung zählen zu den »erstauenswürdigsten Sachen« (Ludwig Tieck/Wilhelm Heinrich Wackenroder), zu den »schön-
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sikalischen Resonanzphänomenen im Menschen widmeten, setzten eine Äquivalenz in der Morphologie des ›objektiven‹ musikalischen Geschehens (Klanggestalt) und des ›subjektiven‹ musikalischen Erlebens (e-/motionaler Gestalt) voraus.20 Der Terminus Bewegung ist hinsichtlich der Frage nach der Vermittlung zwischen diesen Gestalten als ein Schlüsselbegriff zu bezeichnen und scheint v.a. in Schriften der Antike auf.21 Basierend auf Erklärungsansätzen, die aus der griechischen Antike stammen und im Mittelalter rezipiert wurden, sind insbesondere Zahlproportionen als jenes Fundament zu verstehen, worauf eine Korrespondenz musikalischer Tonbeziehungen, harmonischer Ordnung im Mikro- und Makrokosmos und menschlicher Psychophysis gründet.22 Dieser Auffassung nach kann Musik den Menschen deshalb bewegen, weil die Seele des Menschen die harmonikalen Relationen ›erkenne‹23; so bemerkt Thomas von Aquin in einem Kommentar zu Aristoteles: »Est autem intelligendum, quod sonus harmoniae musicae primo comprehenditur ab au-
sten, heilsamsten Mysterien« (Eduard Hanslick); und es ist die Rede von der »elementarischen Macht« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) der Musik sowie von der ihr innewohnenden »Magie« (Hans Engel). 20 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Handbuch der Musikpsychologie, S. 45. Vgl. Aristeides Quintilianus: De musica, III,103 zur »klanglichen Bewegung«, die sich mit dem Weltall übereinstimmend verhalte. Vgl. Platon: Timaios, 47d sowie Aristoteles: Politik. Politica (= Philosophische Bibliothek, Band 7), Hamburg: Meiner 1958, VIII,1340b zur Verwandtschaft zwischen Seele und Harmonien/Rhythmen und vgl. ähnlich Herder, Johann Gottfried von: Sämtliche Werke 22. Kalligone. Vom Angenehmen und Schönen. Erster Teil, Nachdruck der Ausgabe von 1880, hrsg. von B. Suphan, Hildesheim/New York: Weidmann 1967, S. 179f. zum »Klang, der jede ähnliche Organisation in gleiche Schwingung versetzt, und bei empfindsamen Wesen eine analoge Empfindung wirket.« Auch bei Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 195ff. (Frag. 27) finden die »akustische Natur der Seele« und die »musikalischen Seelenverhältnisse« Erwähnung. Vgl. G. Albersheim: Zur Musiksychologie, S. 25 zur Äquivalenz von Erlebnis und Erscheinung, worauf die kommunikative Wirkung der Kunst beruhe. 21 Vgl. C. Dahlhaus: Musikästhetik, S. 32 und F. Beinroth: Musikästhetik von der Sphärenharmonie bis zur musikalischen Hermeneutik, S. 20. 22 Vgl. W. Schulze: Heilung und Heil in der Musik und Harmonik, S. 603 und ebd., S. 594f.; vgl. auch Braun, Werner: »Artikel ›Affekt‹«, in: MGG 1, S. 31-41, hier S. 32f. 23 Vgl. Ptolemaeus: Harmoniká, III,7: »Die Seele erkennt [.] die Verwandtschaft der harmonischen Relationen und ihrer eigenen Anlage.« Vgl. Tieck, Ludwig/Wackenroder, Wilhelm Heinrich: »Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst: Anhang einiger musikalischer Aufsätze von Jospeh Berglinger« (1799), in: Naumann, Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik (1994), S. 83-118, hier S. 96 zur Sympathie zwischen mathematischen Tonverhältnissen und Gemüt.
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ditu, et cum proportionaliter movet ipsum [...]«.24 Die Bewegungsgestalt der Zahlproportion wurde als wirksamer Logos zwischen Subjekt und Objekt im Vorgang der Berührung definiert. Aktuelle musikpsychologische Forschungen bestätigen Parallelen zwischen musikalischen und körperlichen, in Zahlproportionen darstellbaren Prozessen. Das Wissen um physische und psychische Resonanzen auf Musik zählt also zu einem kollektiven Erfahrungsgut, das die Menschheitsgeschichte begleitet.25 Anfangs waren es Beobachtungen und Spekulationen, mit zunehmenden Untersuchungsmöglichkeiten wurden diese um naturwissenschaftliche und medizinische Analysen ergänzt26, welche die Basis für therapeutische und pädagogische Anwendungen von Musik bereiteten.27 Auswirkungen von Musik auf den Menschen wurden anhand fundierter Messmethoden schließlich wissenschaftlich darstellbar; mit dem weiteren Anwachsen technischer Untersuchungsmöglichkeiten im 20. Jahrhundert ist ein signifikanter Anstieg reproduzierbarer Resultate zu beobachten. Den menschlichen Organismus betreffend hat Musik (messbare) Auswirkungen auf das Vegetativum wie z.B. auf Atmung und Herztätigkeit; außerdem sind Modifikationen hormoneller Vorgänge nachweisbar.28 In hohem Ausmaß widmet sich die
24 Thomas von Aquin zit.n. H.-J. Burbach: Studien zur Musikanschaung des Thomas von Aquin, S. 22 (»Es gilt also zu verstehen, dass der Klang der musikalischen Harmonie zuerst durch den Hörer erfasst wird und dieses Selbst proportional bewegt [...].«). 25 Zu gemeinsamen Wurzeln von Musik und Medizin in der Urzeit des Menschen vgl. Moser, Maximilian/Frühwirth, Matthias/Lackner, Helmut: »Wie das Leben klingt - Der musikalische Aspekt des menschlichen Organismus«, in: Bossinger, Wolfgang/Eckle, Raimund (Hg.), Schwingung und Gesundheit. Neue Impulse für eine Heilungskultur aus Wissenschaft, Musik und Kunst, Battweiler: Traumzeit-Verlag, S. 63-79, hier S. 63. 26 Aus dem 18. und 19. Jahrundert existieren erste Schriften zu naturwissenschaftlichen Untersuchungen der Musikwirkung auf die menschliche Physis, die auf wiederholbaren Ergebnissen fundieren. Vgl. z.B. Ernst Anton Nicolai: »Von der Verbindung der Musik mit der Artzneygelahrtheit« (1745) sowie Johann Dogiel »Über den Einfluß der Musik auf den Blutskreislauf« (1880). 27 Vgl. Rösing, Helmut: »Artikel ›Musikpsychologie/I. Geschichte der Musikpsychologie‹«, in: MGG 6, S. 1551-1567, hier S. 1553 zu spätantiken Schriften und schließlich zu neuen Erkenntnissen im Zuge des Rationalismus und der Aufklärung. 28 Detaillierter heißt dies z.B. Blutdrucksenkung, Verringerung von Kortisol, Ausschüttung von Oxytocin und Serotonin. In der Literatur werden auch negative Auswirkungen wie Abnahme der Hauttemperatur, Gefäßverengung oder Schmerzempfindungen aufgrund sehr hoher, schriller oder lauter Töne erwähnt. Dass ein »schreiender«, »durchdringender«, »spitziger« Ton unangenehm sei, ist auch bei L. Mozart: Versuch einer gründlichen
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Musikwirkungsforschung seit den letzten Jahrzehnten neuronalen und kortikalen Aspekten: So wurde nachgewiesen, dass neben der Veränderung maßgeblicher Areale im Gehirn (z.B. die Verdickung des Balkens oder die Vergrößerung der Volumina grauer Substanz) auch eine Transformation jener neuronalen Netze stattfindet, die insbesondere mit der individuellen Art der Musikwahrnehmung und -verarbeitung zu tun haben.29 Zudem zeigt sich, dass selbst das ›bloße Denken von Musik‹ den auditorischen und motorischen Kortex aktiviert; der Wert mentalen Musizierens ist damit bestätigt.30 Im alten Diktum »musica movet affectus« (Isidor von Sevilla) ist knapp zusammengefasst, dass emotionale Erfahrungen und daran gekoppelte vegetative Reaktionen, verursacht durch musikalische »dynamisch-kinetische Prozesse« (Marcel Dobberstein), als ein inneres Bewegt-Werden und Bewegt-Sein erlebbar sind. Resonanzphänomene im Bereich der Psyche weisen im musiktheoretischen und -pädagogischen Diskurs schon lange einen hohen Stellenwert auf31; die Rührung des Gefühles oder die Mäßigung der Gefühlsbewegung sind zentrale funktionale Momente32, deren Betonung und Vereinnahmung als Bedingung der Musik die Jahrhunderte hindurch jedoch auch kritisch reflektiert wurden.33 Nicht zuletzt das Quellenmaterial aus dem 17. und 18. Jahrhundert verdeutlicht die These der Beziehung zwischen Bewegungen in der Musik und menschlichen Affekten. Der Fokus liegt dabei
Violinschule, S. 8 (§7) angemerkt. Aus der zahlreich existierenden Literatur zu dieser Thematik sei exemplarisch Erich Vanecek: »Einführung in die Musikpsychologie« (1999) genannt. 29 Vgl. Altenmüller, Eckhart/Gruhn, Wilfried: »Brain Mechanisms«, in: Parncutt, Richard/ McPherson, Gary E.: The science & psychology of music performance. Creative strategies for teaching and learning, Oxford: University Press 2002, S. 63-82, hier S. 69, weiters E. Altenmüller: Neurowissenschaften im Dialog mit Musik- und Tanzpädagogik, S. 173ff. und M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 137f. sowie O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 113f. 30 Vgl. O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 46f. und die Studien von Robert Zatorre. 31 Die Tatsache, dass Musik den Menschen rührt, d.h. bewegt, wird in der Literatur die Jahrhunderte hindurch erwähnt. So z.B. bei Charles Batteux: »Traité des beaux arts« (1743) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 201 und Charles Avison: »Essay on musical expression« (1753) zit.n. ebd., S. 217, die beide auf die Rührung des Menschen durch die Töne Bezug nehmen. Zur Tonkunst, die das Gemüt »mannigfaltiger bewegt« vgl. auch I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 431 (§53). 32 So wird z.B. bei R. Descartes: Compendium musicae, p.1 der Zweck des Tones im Hervorrufen verschiedener Gemütsbewegungen bestimmt. 33 So z.B. bei E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 7: »Unsere Gefühle [.], meinen jene [.], solle die Musik erregen [...].«
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zum einen auf der Frage nach dem Verhältnis bestimmter musikalischer Parameter und spezifischen, evozierten Affekten. So konstatiert René Descartes z.B. hinsichtlich des Tempos: »Was [.] die verschiedenen Gemütszustände betrifft, welche die Musik durch die verschiedenen Zeitmaße in uns erregt, sage ich [...], daß ein langsameres Tempo in uns träge Empfindungen hervorruft, [...]; das schnellere hingegen lebhaftere [...].«34 Zum anderen widmen sich Abhandlungen zur Musik dem Modus des Vortrages sowie der Rolle des Interpreten.35 Ein Vortrag wird als gelungen bezeichnet, sofern er es vermag, »Leidenschaften zu erregen, zu stillen, in Affect zu versetzen«, wie der Flötist und Komponist Johann Joachim Quantz in seinem »Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen« (1752) schreibt36. Das entscheidende Moment in der Frage, wie der Zuhörer zur Mitempfindung bewegt werde, so Leopold Mozart, liege also darin, sich als Interpret im expressiven Spiel selbst »in den Affect zu setzen, der auszudrücken ist«37. Diese Sicht unterstützt auch die aktuelle Musikpädagogik: Helmuth Figdor und Peter Röbke merken an, dass Tonmaterie eine Belebung erfährt, wenn das eigene Dasein des Interpreten und das musikalische Leben des Stückes miteinander verschmelzen und im Mitgerissensein ein »Erspüren von Erregung und Beruhigung« stattfindet.38 Neben physischen und psychischen Resonanzphänomenen kann sich im Verlauf der Musikwahrnehmung ein subjektiv-sensorischer Eindruck eines Bewegungsvorganges ereignen, wird der Mensch nicht nur seelisch, sondern auch »leibhaftig durchtönt« (Rudolf Steglich).39 Zur Beschreibung dieser Empfindung wird hier das Ad-
34 R. Descartes: Compendium musicae, S. 4. 35 Vgl. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, S. 101 (§5): »Die gute Wirkung einer Musik hängt fast eben so viel von den Ausführern, als von dem Componisten ab.« Vgl. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 101: »So liegt [.] das [...] erregende Moment der Musik im Reproduktionsakt [...]« Vgl. Carl Czerny zit.n. H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle, S. 18: »[.] jedes Tonstück [...] erhält bei dem Zuhörer erst [...] seine Wirkung durch die Art, wie es ihm vorgetragen wird.« Vgl. W. Furtwängler: Gespräche über Musik, S. 9 zum »Schicksal« eines Musikstückes, das in hohem Grade von Darstellern, Sängern, dem Dirigenten abhänge. 36 J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, S. 100 (§1). 37 L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 253 (§3). 38 Vgl. H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle ebd., S. 24ff.; die Aussagen zu interpretatorischen Aufgaben seien allerdings durchaus ambivalent (vgl. ebd., S. 20f.). 39 Vgl. dazu mehrere analoge Aussagen: z.B. bei F. Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, S. 345: »Alle Kunst wirkt als Suggestion auf die Muskeln und Sinne [...] wirkt tonisch.« Vgl. ähnlich H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, S. 17: »Die Schallreize [...] stehen auch in Beziehung zur gesamten Körpermusku-
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jektiv kinästhetisch herangezogen.40 Der anthropologisch gewichtige Terminus Kinästhese bezieht sich direkt auf das Dasein des Menschen in seiner Leiblichkeit. Die körperliche Bewegung des Menschen unterscheidet sich von der Bewegung eines unbelebten Objektes im Wesentlichen dadurch, dass es in der Bewegung auch zu einer Empfindung dieser Bewegung kommt. In der phänomenologischen Philosophie wird Kinästhese radikal als das Sich-Bewegen selbst gedacht; Ich-bewegemich ist also per se als kinästhetisch zu begreifen.41 In der Resonanz auf Musik kommt es zu einem Bewegungsempfinden, das jenem während des motorischen Geschehens vergleichbar ist.42 Dieser Umstand wurde auch seitens der Neurophysiologie analysiert: Die individuelle Wahrnehmung und das subjektive Verständnis von Musik basieren unter anderem auf der Korrespondenz auditiver und kinästhetischer Erfahrung. Als physiologische Ursache dafür wird die Fähigkeit zur Synthese von Informationen unterschiedlicher sensorischer Modalitäten (Cross-Domain Mapping) angenommen.43 Einige ausgewählte Beispiele sollen das Zusammenspiel von kínesis und aisthesis in der Wahrnehmung von Musik demonstrieren. Eine die Modi der Wahrnehmung übergreifende Empfindung konkretisiert sich z.B. in der Verbalisierung musikalischer Eindrücke. So wird an der kulturellen und sprachlichen Diversität der Charakterisierung der Lage eines musikalischen Tones evident, dass (unterschiedliche) ästhetische Aspekte in der Wahrnehmung möglich sind und alle einen Fokus auf das Taktile, Haptische und Kinetische zeigen. Parallel zu dem im Deutschen
latur.« Und vgl. ebd., S. 17: » Die Wirkung der Musik erstreckt sich nicht nur auf das Seelische, sie bewegt das Seelische und das Körperliche. [...] Der ›empfängliche‹ Hörer muß sich bewegen.« Und bei W. Howard: Die Tonmittel der Musik in ihren natürlichen Beziehungen, S. 12: »Gehöreindrücke sind primär Bewegungseindrücke (Vestibulum). Diese ergreifen unmittelbar den ganzen Menschen. [...] Akustische Schwingungen ›bewegen‹ uns psycho-physisch [...].« 40 Vgl. eine frühe Erwähnug des Begriffes Kinästhese bei H. Charlton Bastian: »The Brain as an Organ of Mind« (1882). Vgl. verwandte Begriffe wie Bewegungsempfinden, Muskelsinn, Propriozeption, Tiefensensibilität. 41 Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 39f. 42 Vgl. Johannes Volkelt: » System der Ästhetik« (1905-1914) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 335ff. zur Bedeutung des »Bewegungsempfindens« für das Einfühlen in die Töne. Vgl. G. Albersheim: Zur Musikpsychologie, S. 42: »Ein konkretes Bewegungserlebnis haben wir sowohl, wenn wir uns selbst bewegen, als auch, wenn wir die Bewegung anderer Objekte wahrnehmen.« Diese Bewegungswahrnehmung dürfte auch einen Zusammenhang mit den »Spiegelneuronen« aufweisen, die an anderer Stelle ausführlicher beschrieben werden. 43 Vgl. M. Pfleiderer: Rhythmus, S. 103f.
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gebrauchten Gegensatzpaar hoch-tief werden in diesem Kontext in anderen Sprachen die Adjektive spitz-scharf und schwer-flach gebraucht.44 Neben den Einzeltönen werden auch die Qualitäten der Intervalle, mehr noch die Bewegung von einem Ort zum anderen mit kinästhetischen Empfindungen in Verbindung gebracht.45 Die Rede von Kinästhese kann weiters in der Empfindung von Gewicht veranschaulicht werden; in der Literatur wird Gewicht hinsichtlich des Akustischen sowohl im metaphorischen als auch im eigentlichen Sinn problematisiert.46 Häufig fällt dieser Terminus in der Auseinandersetzung mit Metrum und Takt und den sich darin bildenden Schwerpunkten47; auch klangliche Eindrücke wie Tonhöhe und Lautstärke werden mit Gewicht assoziiert.48 Ernst Kurth geht von einer prinzipiellen Gewichtseigenschaft der Töne aus; seiner Ansicht nach macht dieses Charakteristikum den Ton als »etwas Materielles« und den Akkord als »Klangmasse« spürbar.49 Derartige kinästhetische Eindrücke werden exemplarisch an nachstehender Beschreibung der Musik von Iannis Xenakis durch den Musikschriftsteller Ulrich Dibelius transparent: »In der hörenden Begegnung mit seiner Musik geraten Einzeltöne oder plastisch geformte Klangmassen in Bewegung, schwärmen aus, umkreisen sich, werden von scharfen geräuschhaften Attacken durchstoßen, beginnen heftig zu vibrieren, wirbeln durcheinander oder verei-
44 Vgl. engl. sharp-flat und franz. aigu-grave. Auch in der griechischen Antike wurden die Töne als spitz oder schwer bezeichnet (vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 24). 45 Die (Intervall-)Schritte von Oktave, Quinte und Quarte werden bei W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 64 mit den Begriffen »Klarheit«, »Schärfe« und »Entschiedenheit« charakterisiert. Die Übertragung des Bewegungsgefühles bei einem Intervallschritt auf den Hörer könnte mit der real-körperlichen Bewältigung dieser Distanz beim Musizieren zu tun haben (vgl. F. Winckel: Phänomene des musikalischen Hörens, S. 77). 46 Vgl. Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie (= Bollmann-Bibliothek, Band 5), Düsseldorf: Bollmann 1991, S. 202 zum Akustischen als »Spezialfall des Gravitationsfeldes«. 47 »Die Definition der Metrik als Lehre von den Tonschweren enthält den Begriff des Gewichtes.« (P. Benary: Rhythmik und Metrik, S. 15). 48 Zur taktilen Qualität des Schalldruckes vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 106 und ähnlich zu Tonhöhe und Lautstärke vgl. G. Becking: Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 20f.; eine spürbare, musikspezifische Schwerkraft wird bei W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 62f. erwähnt. 49 Vgl. E. Kurth: Musikpsychologie, S. 12.
214 | B EWEGUNG IN DER M USIK nigen sich wie unter der Kraft eines mächtigen Sogs, bilden Inseln, werden porös oder auch schemenhaft und verebben.«50
Die Betrachtung kinästhetischer Ereignisse ist außerdem um Resonanzphänomene, die mit motorischen Aktivitäten einhergehen, zu erweitern. Solche werden bewusst oder unbewusst ausgeführt und sind entweder in ihrer kleinsten Ausprägung unsichtbar oder in erweiterter Ausführung für das Umfeld visuell wahrnehmbar. Die Ergriffenheit durch Musik, das »Hineingehoben-Werden« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) in das Werk »bleibt dem leiblichen Erleben nicht einfach äußerlich«51; vielmehr wird der Mensch auf direktem Wege stimuliert und angeregt, sich in Tätigkeit, in Bewegung zu versetzen lassen, von der kleinsten Geste bis zum Tanz.52 Dieser Vorgang verweist auf die fundamentale Kausalität von Musik und Körperbewegung, die als »biogene Universale« (Franz Födermayr) bereits pränatal festzustellen ist.53 Den westlichen Kulturkreis betreffend ist allerdings beobachtbar, dass spontane motorische Reaktionen, wie sie noch bei Kleinkindern erfolgen, im Erwachsenenalter nicht zuletzt aufgrund sozialer Normen der Zurückhaltung deutlich reduziert oder gänzlich verschwunden sind.54 Elias Canetti geht in seinem Hauptwerk »Masse und Macht« (1960) auf diese unterdrückte Reaktion ein:
50 U. Dibelius: Moderne Musik nach 1945, S. 427. 51 G. Bräuer: Hören - Vernehmen - Vernunft, S. 29. 52 Die Körperbewegung auslösende Wirkung der Musik wird bei vielen Autoren erwähnt: vgl. z.B. G.T. Fechner: Über den Tanz, S. 2: »[...] wie in all jenen Muskeln Nerven laufen, bloss damit sie, sowie ein Geigenstrich ertönt, in diesem Tanzen gehörigen Convulsionen geraten können.« Vgl. H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung S. 32: »Es ist unmöglich, bei absoluter körperlicher Ruhe Musik zu hören.« Vgl. E.M.v. Hornbostel: Melodischer Tanz, S. 79, der hinsichtlich der »Erregungsübertragung vom akustischen zum motorischen Zentrum« von »einer Art Reflex« spricht. Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 144f. und H. Engel: Sinn und Wesen der Musik, S. 56 zum universellen wie ursprünglichen Konnex von musikalischem und leiblichem Ausdruck. Dobberstein weist an anderer Stelle darauf hin, dass Mitbewegung schon bei bloßer klanglicher Vorstellung stattfindet (vgl. ebd., S. 211). 53 Vgl. Födermayr, Franz: »Universalien der Musik«, in: Bruhn/Rösing, Musikwissenschaft (1998), S. 91-103, hier S. 97 sowie Bruhn, Herbert/Oerter, Ralf: »Entwicklung grundlegender Fähigkeiten«, in: Bruhn/Rösing, Musikwissenschaft (1998), S. 313-329, hier S. 314. Zum pränatalen Stadium vgl. R. Parncutt: Pränatale Erfahrung und die Ursprünge der Musik, S. 21 und M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 144. 54 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 213, weiters Klausmeier, Die Lust, sich musikalisch auszudrücken, S. 225 und H. Engel: Sinn und Wesen der Musik, S. 56 sowie H. Bruhn/R. Oerter: Entwicklung grundlegender Fähigkeiten, S. 322. Vgl. K. Lorenz: Die
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»Der Gegensatz zwischen Stille der Zuhörer und dem lauten Treiben des Apparates, das auf sie einwirkt, ist noch auffallender in Konzerten. Hier kommt alles auf vollkommene Ungestörtheit an. Jede Bewegung ist unerwünscht [...]. Die Menschen sitzen regungslos da, als brächten sie es fertig, nichts zu hören. Es ist klar, daß eine lange, künstliche Erziehung zur Stockung hier notwendig war, an deren Ergebnis wir uns bereits gewöhnt haben.« 55
Musikalische Parameter, die Bewegung auf Ebene der Motorik evozieren, sind zum einen dem Melodisch-Harmonischen zuzurechnen (z.B. Tonhöhenverlauf, Richtung, Harmonieübergänge oder Dynamikwechsel). Zum anderen kommt dem Rhythmischen besondere Bedeutung zu. Dessen »tonische« (Karl Hauer) Wirkung und bereits erwähnte Verbindung mit der körperlichen Dimension des Hörers werden in der Literatur vielfach hervorgehoben und auch durch musikpsychologische Forschungsergebnisse belegt: Rhythmische Stimuli, sowohl in auditiver als auch in visueller und virtueller Form, aktivieren nachweislich motorische Areale der Gehirnrinde.56
2.2 A NWENDUNG
VON
R ESONANZPHÄNOMENEN
Das Wissen um die Resonanz auf Musik und das damit verbundene Potenzial, Bewegung auf emotionaler und motorischer, auf ethischer und sozialer Ebene zu regulieren, stellt einen originären und akkumulierten Erfahrungsschatz der Menschheit
Rückseite des Spiegels, S. 284 zur »rituellen Zwangsjacke, in die unser »kreatürliches Verhalten« gezwängt sei. 55 Canetti, Elias: Masse und Macht, Düsseldorf: Claassen 1971, S. 36. Richard Parncutt weist in diesem Zusammenhang auf ein interessantes Detail hin: Es sei eine deutlich agogische Prägung (tempo rubato) der auf individuell-emotionalem Ausdruck beruhenden Musik des 19. Jahrhunderts zu konstatieren, wodurch im Zuhörer, der Musik ›immobil‹ wahrnehmen muss, zumindest innerliche Bewegung ausgelöst werden soll (vgl. R. Parncutt: Pränatale Erfahrung und die Ursprünge der Musik, S. 26f.). Vgl. E. Canetti: Masse und Macht, S. 36.: »Während Musik, die nicht aufgeführt wird, [...] von ihrem Rhythmus lebt, darf [Anm.: in Konzerten] nichts von rhythmischer Wirkung auf die Zuhörer spürbar werden.« 56 Vgl. E.M.v. Hornbostel: Melodischer Tanz, S. 78 zu Wirkungen der Melodierichtung. Zur Wirkung des Rhythmus vgl. O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 265f. und M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 218ff.; vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 251 zur besonderen Rolle rhythmisch tragender tieffrequenter Klangbestandeile.
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dar.57 Seit den alten Hochkulturen wird versucht, dieses praktische Wissen, d.h. die durch Anwendungen und Experimente gewonnene Erfahrung sowie deren Dokumentation, auch auf eine theoretische Basis zu stellen.58 Der Frage nach den Wirkursachen ist zunächst vorauszuschicken, dass Musik hinsichtlich der Möglichkeit, Resonanz hervorzurufen von anderen Medien insonfern divergiert, als sie das Individuum an einen ›Heterotopos‹ geleitet, d.h. den Menschen in einer »anderen Sphäre« (Georg Anschütz) erreicht. Dieser Fremd-Ort ist zugleich ein Ort des Eigenen, einer der Widersprüche, einer der Angstfreiheit und befindet sich jenseits des Verbalen.59 Der Transfer des musikalischen Systems auf das menschliche kann gelingen, weil Musik im Menschen ›musikähnliche‹ Bewegung hervorruft. Resonanz basiert auf einer musica humana, wie sie in Antike und Mittelalter bezeichnet wurde; auf einer ›musikalischen‹ Anlage des psychophysischen Organismus. Die Vermutung, Musik sei imstande, Bewegen und Handeln, Körper und Seele, ja das Leben an sich, in das »rechte Maß« zurückzuführen, geht bereits auf Pythagoras zurück und wurde die Epochen hindurch stetig rezipiert: »Eine von außen kommende Bewegung überwindet die innere«, so Platon60. Dieser Prozess der Korrelation von Bewegungen des ästhetischen, geordneten Systems Musik und Bewegungen des individuellen, psychophysischen Daseins des Menschen wird heute im Fachterminus Synchronisation zusammengefasst.61 Aktuelle neurowissenschaftliche Untersuch-
57 Vgl. Georg Knepler zit.n. F. Födermayr: Universalien der Musik, S. 97. Vgl. E. Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, S. 352: »[.] er [Anm.: der Mensch der Frühzeit] empfindet seine ethische und affektive Einstellung zur Tonbewegung als magische Wirkung des Tones selbst.« 58 Iamblichos berichtet bereits im vierten Jahrhundert vor Christus von ›musiktherapeutischen‹ Fähigkeiten des Pythagoras; auch in den Schriften des Hippokrates aus dem fünften Jahrhundert vor Christus sowie in der Bibel (vgl. 1Sam 16 zu David und Saul) finden sich Belege für den ›therapeutischen‹ Einsatz von Musik (vgl. W. Schulze: Heilung und Heil in der Musik und Harmonik, S. 592). In fast allen mittelalterlichen Musiktraktaten existieren Textabschnitten zur Musikwirkung (vgl. H.-J. Burbach: Studien zur Musikanschauung des Thomas von Aquin, S. 50). 59 Vgl. H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle, S. 115 sowie Simon, Walther C.: »Musik und Heilkunst«, in: Revers, Wilhelm J./Harrer, Gerhart/Simon, Walther C.M. (Hg.), Neue Wege der Musiktherapie. Grundzüge einer alten und neuen Heilmethode, Düsseldorf/Wien: Econ 1974, S. 9-16, hier S. 10. 60 Platon: Nomoi, VII,791a. Vgl. auch W. Schulze: Heil und Heilung in der Musik und Harmonik, S. 604. 61 Vgl. ebd., S. 607 zur Wiederherstellung der biologischen Zeit-Ordnung durch Musik. Vgl. weiters Kapteina, Hartmut/Zhang, Chang-Lin: »Forschungen über Biophysik und
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ungen stellen die Ausbreitung der Musik auf verschiedene neuronale Netzwerke in Bezug zum Erleben einer »Einheit von Denken, Fühlen und Handeln« (Gerald Hüther).62 Als ordnende und salutogenetisch wirksame Komponenten, die Veränderung, Ökonomisierung oder Heilung leibseelischer Vorgänge initiieren, werden Zahlproportion und Schwingung, Rhythmus und Melodie, Tempo, Dynamik und Ausdruck angenommen; auch die soziale Komponente des gemeinschaftlichen Musizierens spielt in diesen Prozessen eine Rolle. Wie ein derartiger Synchronisationsprozess ablaufen kann, wird an der Beschreibung des Szenarios an Bord eines Schiffes, auf dem sich der Pianist Arthur Rubinstein befand, deutlich. Er erzählt: »[...] es hieß: draußen ist es gefährlich. Also setzte ich mich ans Klavier [...]. Nach einer Weile machte ich eine herrliche Entdeckung: Spielte ich ein Stück von starkem Rhythmus, so passte sich die Atmung diesem Rhythmus an und nicht mehr das unregelmäßige Stampfen des Schiffes [...].«63
Die Ökonomisierung menschlicher Bewegung durch Musik, betreffe es die Motorik oder die Emotion, meinte in der Tradition antiker Theoretiker eine aus dem (rechten) Maß geratene Bewegung (a-metroi) zum jeweils Angemessenen, d.h. zur Mitte hin abzuwandeln.64 In bestimmten Epochen wurde der Bezwingung außerordentlicher, a-normaler und daher als fremd empfundener Gefühlsbewegungen eine besondere Bedeutung beigemessen: So blühten im Zeitalter des Barocks Tendenzen der antiken Geisteshaltung der Stoa wieder auf, innerhalb derer apátheia und autárkeia als Grundlagen der Affektvermeidung zu praktizieren populär war.65
Musiktherapie«, in: Bossinger/Eckle, Schwingung und Gesundheit (2008), S. 133-144, hier S. 133f., M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 213 sowie Fritz, Florentina Maria: Eine Methode zur Klassifizierung von Regelvorgängen biologischer und musikalischer Prozesse mit Hilfe eines künstlichen neuronalen Netzes. Dissertation, Salzburg 2005. 62 Vgl. Hüther, Gerald: »Über die Kunst, sein Gehirn in salutogenetische Schwingungen zu versetzen«, in: Bossinger/Eckle, Schwingung und Gesundheit (2008), S. 107-118, hier S. 117. 63 Arthur Rubinstein zit.n. Hildebrandt, Dieter: Piano, piano! Der Roman des Klaviers im 20. Jahrhundert, München/Wien: Hanser 2000, S. 84. 64 Vgl. Aristeides Quintilianus: De musica II,63 sowie ebd., II,65 zu Musik als Heilmittel der Leidenschaften. Vgl. Platon: Politeia, 521d zum inneren Gleichmaß durch Rhythmus. Vgl. weiters Aristoteles: Nikomachische Ethik, II-IV. 65 Vgl. M.d. Montaigne: Essais, III,1: »Möge sich seiner Gemütsregungen bedienen, wer sich der Vernunft nicht zu bedienen weiß.« Vgl. ebd., I,29 zum »Maßhalten«. Vgl. I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 362f. zum Affekt als Gemütsbewegung, die »freie Über-
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Die Dämpfung der Leidenschaften und das Streben nach Ordnung zählten vor dem Hintergrund negativer Lebensumstände und dem Gefühl einer »nicht weiter ableitbaren Vielschichtigkeit der Welt« (André Chastel) zu einem Zentralprinzip im 16. und 17. Jahrhundert.66 Dem »vernünftigen« Menschen sei angenehm, wie Andreas Werckmeister in »Musicae mathematicae« (1687) festhält, was »in guter Ordnung beruhet«; dieser Umstand, so fordert er, solle in der Komposition berücksichtigt werden.67 Der Musik wurde die Rolle einer »gubernatrix affectum humanorum« (Martin Luther) zuteil. Als ihre Aufgabe wurde erachtet, die Gemütsbewegung ›im Zaum zu halten‹ und eine temperierte Stimmung des Gefühlshaushaltes herzustellen.68 In Resonanz auf das ordnende Maß der Musik sollten aufwallende Leidenschaften und Unruhe gemildert werden69: »Give me some music. [...]/ Me thought it did relieve my passion much«, lautet ein Diktum aus William Shakespeares Drama »Twelth Night or, What you will« (um 1601)70. An die antike Idee einer kátharsis anknüpfend wurde auch im Barock die Bildung des disziplinierten, ungerührten und gelassenen Menschen, der den Affekten eben nicht hilflos ausgeliefert ist, anvisiert.71 Denn, um Shakespeare ein zweites Mal zu zitieren, »[...] we are not ourselves/ When nature being opress’d the mind/ To suffer with the body.«72 Die Lehre von der kátharsis im Kontext der Musik wurde auch noch im 18. Jahrhundert vertreten, wenngleich das antike Verständnis von ›Reinigung‹ verflach-
legung« verhindere und zur Affektlosigkeit (»apatheia, phlegma in significatu bono«) als »edle« und »erhabene Gemütsart«. 66 Vgl. A. Chastel: Die Krise der Renaissance, S. 7. 67 A. Werckmeister: Musicae mathematicae, S. 12f. 68 Vgl. Martin Luther: »Symphoniae jucundae« (1538) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 158 zur Musik als »Regiererin aller Bewegungen des menschlichen Herzens«. 69 Vgl. A.W. Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, S. 148: »Da der Mensch [...] einem verderblichen Übermaße in den Leidenschaften ausgesetzt ist, und [...] unvermeidlich darein verfällt, so ist ihm eben dadurch aufgegeben, sie zu mäßigen [...].« Vgl. weiters H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle, S. 29f. 70 Shakespeare, William: Twelfth Night, or What you will (= The Works of Shakespeare), Cambridge: Univ. Press 1959, II, Scene IV. Ein Beispiel für Musik, die zur Beruhigung, als ›Therapeutikum‹ gegen Schlaflosigkeit in Auftrag gegeben wurde, sind die »Goldberg-Variationen« (BWV 988) von Johann Sebastian Bach. Vgl. außerdem L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 32 (§10): »Dem Hitzigen kann man mit langsamen Stücken zurückhalten und seinen Geist [...] dadurch mäßigen [...].« 71 Vgl. Platon: Phaidon, 83b und Aristeides Quintilianus: De musica, II,76. Pythagoras These von der Musik als »Reinigung« wird auch bei Iamblichos erwähnt (vgl. W. Schulze: Heilung und Heil in der Musik und Harmonik, S. 593). 72 W. Shakespeare: King Lear, II, Scene IV,103.
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te, so Carl Dahlhaus, und lediglich der Aspekt, das Gefühl »in Wohlstand« (Christoph Nichelmann) zu erhalten, zurück blieb.73 Wohlgefühl bedeutete für die Elite des 17. und 18. Jahrhunderts nicht zuletzt auch das Gegenteil von Langeweile.74 Mit der musikalischen Gattung der Oper wurde es in besonderer Art und Weise möglich, sich einerseits zu unterhalten und sich andererseits dem kathartischen, aber ›ungefährlichen‹ Durchleben unterschiedlichster Emotionen in Sympathie mit einer tragischen Figur innerhalb des musikalischen Werkes hinzugeben75: Das Gemüt wurde in Bewegung gehalten, ohne dabei jedoch vollständig als Person in die Handlung und die damit verbundenen Gefühle involviert zu sein.76 Basierend auf der Erkenntnis, Musik habe das Potenzial, im Menschen psychophysische Resonanzen hervorzurufen, wird seit der Antike der Einfluss der Musik auf Bildung und Disposition der Persönlichkeit genutzt.77 Das antike Musikverständnis fokussierte neben dem Aspekt der »homöopathischen Reinigung der Affekte« (Aristoteles) und der sinnlichen Unterhaltung des Menschen v.a. auf den ethisch-moralischen Stellenwert der Musik im Kontext individueller und gesellschaftlicher Entwicklung. Musik, so Aristoteles, habe die Fähigkeit, »dem Gemüte
73 C. Dahlhaus: Musikästhetik, S. 28. Es wird der Ausgleich zwischen Vernunft und Leidenschaft gesucht: vgl. A. Pope: Essay on Man, Ep. II, III/101: »Vernunft ist Kompaß, Leidenschaft der Wind.« 74 Vgl. Abbé Dubos zit.n. C. Dahlhaus: Musikästhetik, S. 28 zu Langeweile als »schlimmstes Übel«; Aufgabe der Musik sei es, zu zerstreuen und das Gemüt in Bewegung zu halten. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Band 4: Wilhelm Meister II, Leipzig: Insel 1925, S. 106: »Sollten wir den Mann nicht hören [...], um uns aus der erbärmlichen Langeweile zu retten?« 75 Vgl. C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 348: »Was die Seele packt, [...]; was das Herz rührt [...] ja selbst Schrecken und Entsetzen hervorbringt, liegt im Gebiethe der Oper.« Und vgl. E.T.A. Hoffmann zit.n. W. Wiora: Das musikalische Kunstwerk, S. 91: »Beethovens Musik bewegt die Hebel des Schauers, der Furcht [...].« 76 Vgl. Rouget, Gilbert: Music and trance. A Theory of the Relations between Music and Possession, Chicago: University of Chicago Press 1985, S. 226 zur Oper als »avator of posession«: »For in opera passion realizes one of its essential aspects, namely the identification of the subject with the hero by the combined means of music and drama.« Vgl. G. Lukács: Ästhetik II, S. 209: »Die Mimesis ist also, indem sie die Zuschauer und Zuhörer aus dem Fluß des Alltagsleben heraushebt, keine ›neutrale‹ [...] Form [...].« 77 Vgl. Platon: Nomoi, VII,795d und Ders.: Timaios, 88c zu Musik als Lehrgegenstand bzgl. des »Seelengedeihens«. Vgl. Aristoteles: Politica, VIII,1337b zur schwindenden Bedeutung der Musik als Bildungsmittel, die von den meisten nur noch »zum Vergnügen« betrieben werde und vgl. ebd., 1339a zur Aufgabe der Musik, die Sitten zu veredeln.
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eine bestimmte sittliche Beschaffenheit zu geben«78. Musikalische Aktivität bedeutete in diesem Sinne nicht nur einen ästhetischen Genuss für den Einzelnen, sondern einen Beitrag zur Genese mündiger Bürger innerhalb eines sozialen Gefüges und zur Stärkung eines »harmonischen Staates«; so schreibt Platon in seinem philosophischen Hauptwerk »Politeia«: »[.] eine neue Art von Musik einzuführen, muß man sich hüten, da hierbei das Ganze auf dem Spiel steht. Werden doch nirgends die Regeln der Musik verändert, ohne daß die wichtigsten Gesetze des Staates nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.«79 Wurde der Nutzen von Musik auf den Menschen als Einzelnen und auf die Gesellschaft als Ganze bezogen, betrachtete man in der Antike die musikalische Tätigkeit also nicht nur für den Musikinteressierten, sondern für jeden Menschen als notwendig. Darauf, um einen Zeitsprung zu unternehmen, rekurriert auch William Shakespeare in einem seiner Dramen: »The man that has no music in himself/ Non is not moved with concord of seet sounds,/ Is fit for treasons, strotagens and spails.«80 In der griechischen Ethos-Lehre wurde angenommen, dass sich nicht jede Art von Musik positiv auf die Sitten auswirke; bestimmte Parameter, so die Vermutung, würden sogar zur Verderbung der Sitten beitragen.81 Aristoteles weist also auf die Unmöglichkeit hin, alle Tonarten in gleicher Weise anzuwenden und differenziert zwischen »ethischen« Tonarten zur Bildung der Sittlichkeit und »praktischen« oder »enthusiastischen« zum bloßen Anhören.82 Die christlich-abendländische Kultur behandelte die Frage nach Musik als Garant ethischer Werte ebenso und vertrat eine Dichotomie ›guter‹ und ›schlechter‹ Musik: »Ist Musik nur Spiel und Scherz,/ Nur Scherz und Spiel,/ Bewegt zum Guten sie nicht unser böses Herz/ Dann ist Musik nicht viel«, so der Dichter Johann
78 Aristoteles: Politica, VIII,1340b. Vgl. ebd., 1340a: »Die Rhythmen und Melodien kommen als Abbilder dem wahren Wesen [...] der [.] ethischen Gefühle und Eigenschaften sehr nahe.« 79 Platon: Politeia, IV,424c. Vgl. Aristeides Quintilianus: De musica I,2 zur Ordnung des gesamten Lebens durch Musik sowie ebd., II,75 zur Erziehung durch Musik. 80 Shakespeare, William: The Merchant of Venice (= Universal-Bibliothek, Band 9050), hrsg. von B. Puschmann-Nalenz, Stuttgart: Reclam, V, Scene I. 81 »Die Musik [...] vermag die Sitten sowohl zu veredeln, als auch zu verderben.« (Boëthius: Über die Musik, I,1). Vgl. Aristoteles: Politica, VIII,1341a zur nachteiligen Wirkung gewisser Arten von Musik. In Folge widmet sich Aristoteles auch den geeigneten Instrumenten, Ton- und Taktarten. Vgl. Aristeides Quintilianus: De musica, III,127f.: »Die Schläge, die sich ganz und gar unkonsonierend bieten, [...] sind gefahrvoll und todbringend.« 82 Vgl. Aristoteles: Politica, VIII,1341b.
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Wilhelm Ludwig Gleim im 18. Jahrhundert83. Der Einfluss der Musik auf das menschliche Gemüt und der damit verbundene ethische Aspekt sind auch für die religiöse Praxis von Bedeutung.84 Zahlreiche Belegstellen aus dem Alten sowie dem Neuen Testament deuten auf die Wichtigkeit der Musik zum Lobe Gottes, die existenziell zu den Lebensvollzügen des Menschen jeglicher Verfasstheit gehört, hin. Im Christentum ist der Kontext ethischer Ermahnung, in welchen das gottesdienstliche Singen gestellt wird, besonders evident.85 V.a. in der patristischen Literatur, in der eine Trennung profaner von geistlicher Musik noch obsolet ist, wird auf die Relevanz von Musik als Mittel, den menschlichen Geist in seiner Hinwendung zu Gott zu stärken und religiöse Gefühle zu evozieren, hingewiesen.86 Auch in der Zeit nach der Aufklärung blieb die Frage nach der adäquaten musikalischen Gestaltung des Gottesdienstes Thema musikalischer Schriften und so wurde auf dafür geeignete Formen der Umsetzung hingewiesen; im »Musikalischen Conversations-Lexikon« (1876) ist zu lesen: »[...] das Bewusstsein von der Nähe Gottes giebt dem Geist jene einheitliche Stimmung, welcher dieser nur accentuierende, nicht auch quantitierende Rhythmus durchaus entspricht. [...].«87 Nach diesem kurzen Exkurs in den Bereich religiöser Praxis sei weiters die Entwicklung des mit Musik verbundenen Bildungsgedankens innerhalb der Musikpädagogik erwähnt. Das Faktum, eine Musikerziehung bilde den Menschen nicht nur in Bezug auf, sondern auch durch Musik, wie es bereits in der Antike bekannt
83 Johann Wilhelm Ludwig Gleim zit.n. Müller, Hans-Peter: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum. Musikerzitate von A bis Z, Zürich/Mainz: Atlantis 2003, S. 28. So wird die rein sinnliche Lust an der Musik von Augustinus in De musica, VI,XIII,38 als Sünde bezeichnet. »Würde«, »Tugend« und »lässlicher« Gebrauch der Musik sind auch bei A. Werckmeister: Musicae mathematicae, S. 138f. erwähnt. Und vgl. A.W. Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, S. 149 zu den »Anfängen des gesitteten Lebens«, die mit der Erfindung der Musik in Verbindung stünden. 84 Vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 195 zur »ethisch-religiösen Wirkung« der Musik. 85 Vgl. Bubmann, Peter: Von Mystik bis Ekstase. Herausforderungen und Perspektiven für die Musik in der Kirche, München: Strube 1996, S. 15. Als Beispiele für alttestamentliche Quellen seien die Psalmentexte, z.B. Ps 57, 104 oder 150 genannt, für neutestamentliche Quellen folgende Stellen: Eph 5,19; Kol 3,16; 1Kor 14/26 und Apg 2,42. 86 Vgl. z.B. Augustinus, Aurelius: Confessiones. Die Bekenntnisse (= Christliche Meister, Band 25), Einsiedeln: Johannes-Verlag 1985, X,33. 87 H. Mendel (Hg.): Musikalisches Conversations-Lexikon, Band 6 (1876), S. 116. Vgl. weiters C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 186 zur Vortragsweise: »Die musikalischen Aemter werden nirgends in ganz Deutschland mit so herzschmelzender Andacht vorgetragen wie zu Trier und Koblenz.«
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war, griffen am Anfang des 20. Jahrhunderts verschiedene musikpädagogische Reformer in ihren Ansätzen auf und spezifizierten es jeweils im Detail. Exemplarisch für diese anthropozentrischen Entwicklungen, die den von Musik initiierten pädagogischen Prozess wieder ins Zentrum rückten, stehen Emile Jaques-Dalcroze und Carl Orff.88 Orff bringt seine Absicht in einer seiner Schriften aus dem Jahr 1932 mit wenigen Worten zum Ausdruck: »Die Musik fängt im Menschen an, und so die Unterweisung.«89 Jaques-Dalcroze verweist auf das Primat der Bewegung in der musikalischen Ausbildung: »Im Musikunterricht sind [.] zuallerst Bewegungen zu üben.«90 So wird auf das Zusammenspiel von Sinneswahrnehmung, Körperbewegung, Kognition und kreativem Ausdruck Wert gelegt und werden über das Musische individuelle Selbst-Erfahrungen und soziale Lern-Prozesse in Gang gesetzt. Die positiven Auswirkungen dieser Methoden sind also wesentlich der Orientierung am Leiblichen, der Interaktion, der Initiation des Spieltriebes und der sensorischen Sensibilisierung geschuldet. In der Betrachtung der Anwendung des Resonanzphänomens sind die bereits genannten Bereiche um den der Therapie zu ergänzen. Bildungs- und Therapieprozesse, die mit Musik verbunden sind, entstammen einer ursprünglich gemeinsamen Ordnung. In frühen Hochkulturen und der klassischen Antike existierte noch keine im autonomen Sinn verstandene Musiktherapie, wenngleich Musik zu kurativen Zwecken eingesetzt wurde. Die Erfahrung des Individuums, dass Musik die ›bösen Geister‹ vertreibt und dass sie tröstet, stärkt, animiert, ja sogar Heilungsprozesse in Gang setzen kann – »musica medicinalis est«– geht einer spezialisierten Musiktherapie voraus.91 Zwei Beispiele seien für das Erleben der heilsamen Wirkung von Musik außerhalb des im engen Sinne als therapeutisch verstandenen Kontextes genannt: »Music for a while./ Shall all your cares beguile«, lautet der Text einer der bekanntesten Kompositonen Henry Purcells aus der Bühnenmusik zu »Oedipus«, ein Werk der Dramatiker John Dryden and Nathaniel Lee aus dem 17. Jahrhundert; begleitet das Lied eine Geisterbeschwörung und -besänftigung wird darin die kalmierende Wirkung von Musik besonders deutlich zum Ausdruck gebracht. Eine andere wesentliche Erfahrung im Wirkungsspektrum der Musik stellt das Erlebnis dar, mittels Musik Unaussprechliches ›zur Sprache‹ zu bringen, wie von Victor Hugo in
88 Vgl. auch die Ansätze von Heinrich Jacoby und Maria Montessori. 89 Orff, Carl: »Gedanken über Musik mit Mindern und Laien« (1932), in: Haselbach, Barbara (Hg.), Studientexte zu Theorie und Praxis des Orff-Schulwerks. Basistexte aus den Jahren 1932-2010, Mainz: Schott 2011, S. 67-77, hier S. 67f. 90 E. Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, S. 55. 91 Vgl. z.B. Martin Luther zit.n. H.-P. Müller: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, S. 53f.: »Musica ist das beste Labsal einem betrübten Menschen.«
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seinem Essay »William Shakespeare/Les Génies« (1864) bemerkt wird: »Ce qu'on ne peut pas dire et ce qu'on ne peut pas taire, la musique l'exprime.«92 Aufgrund unterschiedlicher Wege der Professionalisierung entwickelten sich im 20. Jahrhundert getrennte Bereiche von Therapie und Pädagogik mit jeweils spezifischen Handlungsmustern, impliziten Logiken und unterschiedlichen Aufgabenprofilen.93 Die im Folgenden skizzierten aktuellen Ansätze bilden die Zusammenfassung eines variantenreichen Spektrums des Begriffes Musiktherapie94 und verstehen sich als Angebote der Linderung und Heilung psychischer und/oder somatischer Leiden. Hinsichtlich der Musiktherapie im Sinne eines psychotherapeutischen Verfahrens95 lassen sich im Groben zwei methodische Stränge unterscheiden. In der passiv-rezeptiven Variante wird auf den basalen Effekt, den Musik, ja bereits der einzelne Klang, auf die leibseelische Verfasstheit des Menschen hat, gebaut. Unabhängig von intellektuellen und kommunikativen Fähigkeiten ist es möglich, Musik (sinnlich) zu ›verstehen‹. Sowohl die Resonanz auf Schwingungsbewegung und strukturelle Komponenten als auch die Initiation eines Kommunikationsprozesses mit dem Therapeuten lassen ein Erreichen des Patienten in seiner Emotionalität, in den tiefen Schichten seiner Persönlichkeit zu. Von besonderer Bedeutung ist dabei der haptisch-taktile Aspekt der Schwingung, welcher Prozesse der Orientierung im eigenen Körper auslöst und zum Loslassen einerseits sowie zum Mitbewegen andererseits auffordert.96 Innerhalb der durch die Klänge geschaffenen
92 Hugo, Victor: Philosophie. William Shakespeare. Band 2 (= Oeuvre complètes), Paris: R. Laffant 1937, S. 287. Vgl. analog dazu zwei weitere Aussagen: Arnim, Bettine von: Werke und Briefe. Band 2. Goethes Briefwechsel mit einem Kinde II (= Bibliothek deutscher Klassiker, Band 76), hrsg. von W. Schmitz, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker-Verlag 1992, S. 400: »[...] ist das doch nur Musik was gerade da beginnt, wo der Verstand nicht mehr ausreicht [...].« Und vgl. C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 13: »[...] Musik [.] kann Empfindungen und Ideen nach ihrer Art ausführen, die der Dichtkunst unmöglich sind.« 93 Vgl. Gildemeister, Regine/Robert, Günther: »Sozialpädagogik und Therapie«, in: Otto, Hans-Uwe/Thiersch, Hans (Hg.), Handbuch der Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Neuwied/ Kriftel: Luchterhand 2001, S. 1901-1909, hier S. 1901f. 94 Einen Überlick zu den verschiedenen Schulen bietet z.B. Decker-Voigt, Hans-Helmut (Hg.): »Schulen der Musiktherapie« (2001). Vgl. M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 428f. zu den verschiedenen Einsatzbereichen der Musiktherapie. 95 Typische Indikationen für Musiktherapie im Sinne eines psychotherapeutischen Verfahrens sind z.B. Psychosen, Depressionen, psychosomatische Erkrankungen oder Verhaltensauffälligkeiten. 96 Vgl. Frohne-Hagemann, Isabelle (Hg.): Rezeptive Musiktherapie. Theorie und Praxis, Wiesbaden: Reichert 2004. Für diesen Bereich besonders geeignete Instrumente sind ne-
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Atmosphäre, die das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit erzeugt, kann eine Kontaktaufnahme mit der Umwelt auch für bewusstlose, für schwer ansprechbare oder für besonders gehemmte Patienten realisiert werden.97 In der Variante des aktiven Musizierens während des therapeutischen Settings stehen Musikgeschehen und Instrumentarium als ursprüngliche menschliche Kommunikationsmedien im Zentrum. Gestaltete Musik im therapeutischen Kontext entstehe, wie die Musiktherapeutin Rosemarie Tüpker erklärt, indem klangliche Produktionen des Patienten vom Therapeuten beantwortet werden (und v.v.) und dadurch ein Spiel wechselseitigen musikalischen Kommunizierens angeregt wird.98 Leibseelische Bewegungen, die zu verbalisieren dem Patienten zunächst unmöglich scheinen, können in die ›Sprache‹ des Klingenden verwandelt und dort gewandelt werden. In der Improvisation mit einem Gegenüber können Momente biologischen, sozialen und emotionalen Daseins im »Symbol des musikalischen Spiels« (Wolfgang Mastnak) entdeckt und als modulierbare Geschehnisse erfahrbar gemacht werden.99 Das Spannungsfeld von Musik und Beziehung, das Musiktherapie generell kennzeichnet, erhält im aktiven Musizieren also eminente Bedeutung.100 Die positive Animation zur Bewegung durch Musik findet speziell in therapeutischen Prozessen mit alten und/oder dementen Menschen sowie mit Menschen mit kognitiven und/oder körperlichen, die Bewegungsmöglichkeit einschränkenden Er-
ben der menschlichen Stimme z.B. Klangschale, Monochord, Körpertambura, Gong und Didgeridoo. 97
Vgl. z.B. den österreichischen Musiktherapeuten Gerhard Tucek, der bzgl. seiner Arbeit mit Schädel-Hirn-Trauma-Patienten auch wissenschaftliche Studien publiziert hat. Eine der Ursachen dafür, dass Patienten mit einer diffusen kortikalen Erkrankung Musik wahrnehmen (und ev. darauf reagieren), könnte die Verteilung der emotionalen Reaktion auf mehrere kortikale und subkortikale Strukturen sein (vgl. O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 377).
98
Tüpker, Rosemarie: »Zur Bedeutung der Musik in der Musiktherapie«, in: Auhagen, Wolfgang/Gätjen, Bram/Niemöller, Klaus Wolfgang (Hg.), Systemische Musikwissenschaft. Festschrift Jobst Peter Fricke zum 65. Geburtstag, http://www.uni-koeln.de/philfak/muwi/fricke/ vom 19.07.2014, S. 401-409, hier S. 403.
99
Vgl. Mastnak, Wolfgang: »Das Spiel: mystische Brücke zwischen Mensch und Kunst. Aspekte von Musik- und Spieltherapie«, in: Bauer, Günther G. (Hg.), Musik und Spiel (= Homo ludens, Band 10), München/Salzburg: Katzbichler 2000, S. 275-286, hier S. 277.
100 Vgl. Norton, Richard: »Musik als tonale Geste«, in: Henze, Hans Werner (Hg.): Die Zeichen (= Neue Aspekte der musikalischen Ästhetik, Band 2), Frankfurt am Main: Fischer 1981, S. 9-31, hier S. 15 zur »emotiven Funktion« der Musik und zum Ausdruck des Verhältnisses zwischen Botschaft und Sender.
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krankungen oder Behinderungen statt.101 Der Neurologe Manfred Spitzer führt zahlreiche Beispiele an, welcherart Musik im Bereich des Organischen zu deutlichen Verbesserungen führen kann. Neben einer allgemein positiven Wirkung der Musik auf das Vegetativum zählen die Behandlung von Lähmungen nach Schlaganfällen oder von Problemen im Bereich der Atemwege, weiters die Stärkung von Kraft und Ausdauer sowie die Förderung der Koordination zu relevanten Beispielen.102 Oliver Sacks demonstriert in seinem Buch »Der einarmige Pianist« (2008) anhand von meist neurologische Indikationen betreffenden Fallbeispielen aus seiner Praxis anschaulich, wie es gelingt, ein beschädigtes oder gehemmtes motorisches System mittels Musik zu therapieren. So schildert er exemplarisch die Veränderung bei am Parkinson-Syndrom erkrankten Patienten, die bei Wahrnehmung gewisser Musik motorische Freiheit erleben; ein derartiges Körpererleben liegt ansonsten außerhalb ihres Bewegungspotenzials.103
2.3 I NTERAKTION Die Disposition des Menschen auf Resonanz hin spielt nicht nur in der Berührung durch und im Antworten auf Musik eine Rolle. Auch in sozialer Interaktion, die einerseits im gemeinsamen Musizieren im Sinne zwischenmenschlichen Handelns und andererseits in der Beziehung zwischen Urheber, Ausführendem und Rezipienten stattfindet, ist die Anlage, sich in Bewegung versetzen zu lassen und die Fähigkeit, einfühlend auf ein Gegenüber zu reagieren, fundamental.104 Empathie, Intuition und Antizipation als Basis der Interaktion beruhen neurologisch betrachtet auf einem System von Nervenzellen, den sogenannten Spiegelneuronen, die ein »neurobiologisches Format« (Joachim Bauer) darstellen, das es ermöglicht, in eine gemeinsame Welt mit dem Anderen einzutreten; ein »terrain commun« (Maurice Merleau-Ponty) zwischen Individuen wird geschaffen. Spiegelneurone »feuern« wenn eine Handlung von außen wahrgenommen wird; darüber hinaus werden sie auch
101 Vgl. M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 432f. sowie O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 261. 102 Vgl. M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 430f. 103 Vgl. O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 13. Als Beispiel für eine mögliche negative Wirkung führt Sacks einen Patienten mit Tourette-Syndrom an, dessen Tics durch eine »bestimmte Art rhythmisch betonter Musik« hervorgerufen werden (vgl. ebd., S. 251). 104 Vgl. B. Oberhoff: Die fötalen Wurzeln der Musik, S. 49 sowie Geuter, Ulfried: »Im Mutterleib lernen wir die Melodie unseres Lebens«, in: Psychologie Heute 1 (2003), S. 20-26, hier S. 20 zur sozialen Dimension der Resonanz im pränatalen Stadium und zum Uterus als »Interaktionsraum«.
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dann aktiv, wenn diese Handlung lediglich vorgestellt wird. Sie lösen im Menschen Resonanz aus und machen andere Handlungen verständlich.105 Musizieren im Sinne eines Interaktionsfeldes, das Urheber, geschaffenes Werk, Interpret und Rezipient miteinander verbindet106 , kann als lebendiger diálogos (Unterredung, Gespräch), in dem individuelle und kollektive musikalische Handlungen, Klang-, Bewegungs- und Emotionsmuster zusammenwirken, begriffen werden.107 Es entsteht ein Zwischenraum als Ort, an dem Informationen aufeinandertreffen und ursprüngliche Gegebenheiten von Subjekt und Objekt einer Wandlung unterzogen werden. Im Dialog öffnet sich ein Ereignisfeld, an dem mehrere Instanzen auf wechselnde Art und Weise partizipieren, sich verschränken und ein »einziges Gewebe« (Maurice Merleau-Ponty) erschaffen.108 Resonieren bedeutet im Kontext musikalischer Interaktionsebenen also auch ein Eingehen auf das Andere, auf das »Pathos des Fremden« (Bernhard Waldenfels).109 Die damit verbundene Herausforderung des ›Antwortens‹ lässt den Dialog a priori zu einer lebendigen Begegnung und zu einem Lernprozess werden.110 Im ästhetischen Dialog macht sich das Aufeinandertreffen heterogener Ordnungen – des Urhebers, des Rezipienten, des Kunstwerkes – besonders bemerkbar.111 Mit dem soziologischen Denkansatz Max Webers, musikalisches Handeln als genuin »soziales Handeln« mit einem »auf das Verhalten anderer intendierten Sinn zu verstehen«112, konform gehend muss das Geschaffene den Menschen bewegen, um als Geschaffenes, als Musik verstanden zu werden. Das Entscheidende sei, so
105 Vgl. Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Intiutive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, München: W. Heyne 2006, S. 23ff. 106 Vgl. B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 68 zum Kunstwerk als Transformator in der Trias Künstler+Gestalt+Rezipient. Vgl. Schutz, Alfred: »Making Music Together«, in: Frith, Simon (Hg.), Popular Music. Band 1: Music and Society (= Critical Concepts in Media and Cultural Studies), London/New York: Routledge 2004, S. 197-212, hier S. 197 zum Interpreten als Vermittler zwischen Komponist und Zuhörer. 107 Vgl. H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle S. 153. 108 Vgl. V. Flusser: Kommunikologie, S. 29 zum Dialog als »Methode, verschiedene vorhandene Informationen zu neuen zu synthetisieren.« Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 286f. zum Zwischenraum. 109 Vgl. ebd., S. 366. 110 Vgl. C. Sedmak: Erkennen und verstehen, S. 105 zum Dialog, mit Bezug auf HansGeorg Gadamer. 111 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 113 in Anlehnung an Max Bense zum Werk als Resultat eines Dialoges. 112 K. Blaukopf: Musik im Wandel der Gesellschaft, S. 3.
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der Soziologe Niklas Luhmann, »dass ein Künstler [.] andere Beobachter [...] ansprechen will.«113 Daher geht es dem Komponisten darum, »zu bewegen und bewegt zu sein« (Wolfgang Rihm)114 . Öffnet sich zwischen Musikstück und Mensch ein »Antwortraum« (Bernhard Waldenfels), wird der Zuhörer in Sympathie mit dem Interpreten zum Mitspieler, der in seinem So-Sein, mit seinen Erwartungen und Einwänden am musikalischen Ereignis teilnimmt115: »Beide werden erst aneinander, miteinander sie selbst«116, wie der Dirigent Wilhelm Furtwängler anmerkt. Die eminent soziale Funktion des Interpreten besteht in der Vermittlung zwischen Komponist und Zuhörer.117 Alfred Schütz, Begründer der phänomenologischen Soziologie, führt dieses Wir in seinem Essay »Making Music Together« (1964) auf die gemeinsame Teilhabe an der inneren, der musikalischen Ereigniszeit zurück; d.h., »[...] living through a vivid present in common [...]«.118 Musikalische Kommunikation beruht darauf, dass das musikalische Ereignis und die damit verbundene Aktivität der gleichen zeitlichen Dimension angehören. Für Albert Wellek ist es der gemeinsame »Gefühlsvollzug«, über den die Bewegtheit des Stückes im Sinne eines »gemeinsamen Lebensausdruckes« musiziert wird.119 Die Wahrnehmung musizierender Körper, die tanzenden Körpern gleich präsente, bewegte und vitale Systeme darstellen, ist ein »Ereignis (künstlicher) Kommunikation« (Helmut Ploebst)120 und Grundlage für die Trias Werk-Interpret-Publikum. Der Unterschied zur Wirkung technisch reproduzierter Klangkunst verdeutlicht dies. Auch musikpsychologische Studien belegen den Effekt, den der sichtbare ex-
113 Niklas Luhmann zit.n. Huber, Hans Dieter: »Interview mit Niklas Luhmann«, in: Texte zur Kunst 4 (1991), S. 121-133, hier S. 122. 114 Wolfgang Rihm zit.n. U. Dibelius: Moderne Musik nach 1945, S. 549. Vgl. P. Hindemith: Probleme eines heutigen Komponisten, S. 206 zum »ethischen Musiker«, der herausfindet, was seine Hörer bewegt. 115 Vgl. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 78 zum Zuschauer als »Resonanzraum« (John Martin). 116 W. Furtwängler: Gespräche über Musik, S. 13. Vgl. Paul Hindemith zit.n. Schubert, Giselher: Paul Hindemith. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (= Rowohlts Monographien, Band 299), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 27f.: »Wir sind überzeugt, daß das Konzert in seiner heutigen Form eine Einrichtung ist, die bekämpft werden muß und wollen versuchen, die fast verlorengegangene Gemeinschaft zwischen Ausführenden und Hörenden wieder herzustellen.« 117 Vgl. A. Schutz: Making Music together, S. 209. 118 Ebd., S. 207. 119 A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 209. 120 Vgl. Ploebst, Helmut: »Neue Wege aus dem Weichspüldärmen«, in: Der Standard. Spezial ImPuls Tanz Juli/August 2006, S. A2.
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pressive Körper Musizierender auf das Publikum hat.121 Gemeinsames Musizieren mehrerer Instrumentalisten oder Sänger ist – analog zu anderen sozialen Interaktionen – kooperatives Zusammenwirken in einem lebendigen Zwischenraum: »Play implies interplay - - there must be give and take.«122 Für die während der Kommunikation ablaufenden Resonanzphänomene gilt: Der Leib ist Medium willkürlicher und unwillkürlicher Mitteilung.123 Die Motorik des Instrumentalspieles und damit zusammenhängende Ausdrucksbewegungen sowie Körpersignale sind Fundamente des kollektiven Geschehens und der Interpretation der erhaltenen Information. Von grundlegender Bedeutung ist dabei die Wahrnehmung des Selbst im Sinne einer »subjektiven Anatomie« (Thure von Uexküll).124 Während des Zusammenspieles dient eine »conversation of gestures« (George Herbert Mead) hinsichtlich musikalisch relevanter Parameter, sei es Timing oder sei es Dynamik, zur Koordination der Musiker. Neben dem Aussenden von Information über den Körper hat die eigene Wahrnehmung der Co-Performer Einfluss auf die eigene Bewegung.125 Schütz zeigt auf, welcherart eine derartig enge, auf sensorischer und visueller Wahrnehmung der Bewegung beruhende Beziehung, wie sie v.a. zwischen Musizierenden in kleinen Ensembles besteht, hergestellt wird – dies im Gegensatz zur Situation in großen Orchestern, die für die Kontaktherstellung aller Mitglieder untereinander einer Führungspersönlichkeit bedürfen.126 Ausdruck und Eindruck, Aktion und Reaktion gestalten in ihrer Durchdringung den
121 Vgl. Davidson, Jane W./Correia, Jorge S.: »Body Movement«, in: Parncutt, Richard/Mc Pherson, Gary E. (Hg.), The science & psychology of music performance. Creative strategies for teaching and learning, Oxford/New York: Oxford University Press 2002, S. 237-250, hier S. 237ff. 122 Marshall zit.n. Orff, Gertrud: Die Orff-Musiktherapie. Aktive Förderung der Entwicklung des Kindes, München: Kinderl 1974, S. 57. Von »Zwischenbewegungen« im Zusammenspiel mehrerer Musiker ist bei B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 215 die Rede. 123 Vgl. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 210 zum Leib als »sichtbarer Ausdruck meiner Selbst« und ebd., S. 240 zur Bezogenheit des eigenen Leibes auf die Anderen: »Zur Körpersprache gehört auch ein Körpergespräch.« 124 Vgl. T. Reinelt: Die Wirkung kleiner Reize, S. 9. Vgl. außerdem Petzold, Hilarion: »Die modernen Verfahren der Bewegungs- und Leibtherapie und die ›Integrative Bewegungstherapie‹«, in: Ders. (Hg.), Leiblichkeit. Philosophische, gesellschaftliche und therapeutische Perspektiven, Paderborn: Junfermann 1986, S. 347-390, hier S. 358. 125 Vgl. J.W. Davidson/J.S. Correia: Body Movement, S. 243. 126 A. Schutz: Making Music together, S. 209.
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Dialog, worin sich der Zusammenfall von Selbst-Bezug und -Entzug entäußert.127 Die interagierenden Personen bilden in ›Zwei- oder Mehr-Einigkeit‹ in der Bewegung ein »übergreifendes lebendiges Ganzes« (Albert Wellek)128 ; Resonanz wird im gemeinsamen Musizieren zum »Pattern Matching« (Konrad Lorenz), zum ZurDeckung-Bringen des Eigenen mit dem Anderen im Vorgang des Berührens und des gleichzeitigen Berührt-Werdens. Die soziale Dimension, wie sie anhand der Interaktion der Beteiligten beschrieben wurde, geht einher mit der klanglichen Dimension, wie sie im Zusammenspiel der Instrumente hörbar wird: Nicht das einzelne Instrument ist beim gemeinsamen Musizieren von Bedeutung; vielmehr sind es die vielfachen Verbindungen untereinander, die ein musikalisches Ganzes im Zusammenspiel generieren. Michel de Montaigne nimmt in seinen »Essais« (1580) darauf Bezug, wenn er schreibt: »Man hört [...] in einem Konzert nicht die Laute, das Spinett und die Flöte – man hört vielmehr eine globale Harmonie als Frucht des Zusammenklangs aller Töne.«129
2.4 A USDRUCK
UND
D ARSTELLUNG
Musik wird als bedeutungs- und sinnvoll erlebt. Die Frage nach dem Inhalt des musikalischen Ereignisses impliziert die kontrovers diskutierte Frage, ob Musik etwas ausdrückt oder darstellt. Ausdruck und Darstellung sind ausgehend von ihren jeweiligen Funktionen musikalischer Repräsentation sowie von ihrem Ineinandergreifen innerhalb einer semiotischen Auseinandersetzung mit Musik zu betrachten. Ausdruck ist tendenziell an Emotionalität gebunden und wird deshalb häufig als Domäne der Kunst bezeichnet130; Darstellung erweckt eher Assoziationen mit den Aspekten Kognition und Konstruktion.131 Die Frage, ob Musik etwas ausdrückt oder darstellt, bezieht sich auf eine bestimmte Intention des Komponisten, etwas darzustellen oder auf die Interpretation eines musikalisch Ausgedrückten durch den Rezipienten. Die Musikpädagogin und Musikwissenschaftlerin Ursula Brandstätter geht
127 Vgl. H. Petzold: Die modernen Verfahren der Bewegungs- und Leibtherapie, S. 358. Mit Petzold partizipiert die individuelle Leiblichkeit an der kollektiven und es entsteht eine »überpersonale Einheit«. Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 208f. 128 In diesem Kontext gebrauchte Begriffe sind z.B. »Bipersonalität« (Paul Christian) und »Intercorporality« (Hilarion Petzold). 129 M.d. Montaigne: Essais, I,8. 130 Vgl. Lissa, Zofia: »Semantische Elemente der Musik«, in: Karbusicky, Sinn und Bedeutung in der Musik (1990), S. 114-119, hier S. 114f. 131 Vgl. U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 96f.
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zunächst von einem grundsätzlichen, komplexen Zeichengefüge in der Kunst aus, dem nicht zuletzt die Differenzen zwischen denotativer und repräsentativer sowie buchstäblicher und metaphorischer Funktion zugrunde liegen.132 Die Musikwissenschaftler Richard Parncutt und Annekatrin Kessler bringen die berechtigte Äußerung ein, es sei aus objektiver Sicht durchaus merkwürdig, dass Musik Gefühle ausdrücken könne, obwohl sie keine Person sei und diese Gefühle nicht selbst empfinden könne.133 Diese Bemerkung tangiert den Kern der Problematik: Wie gelingt es, mittels Musik etwas außerhalb ihrer selbst Befindliches auszudrücken oder darzustellen? Der hiermit eröffnete Problemkreis hat im Bereich der Ästhetik viele Theorien hervorgebracht, worauf am Ende dieses Abschnittes noch einmal Bezug genommen werden wird. Zunächst beschäftigt der Gegenstand des Ausdruckes und der Darstellung. Es fällt auf, dass Kunst, speziell Musik, als Ausdruck oder Darstellung des Bewegten, des Lebendigen schlechthin verstanden wird: Musik als »tönender Ausdruck des Lebens« (Hans Heinrich Eggebrecht).134 »Was stellt Musik dar?« fragt Wilhelm Heinse im 18. Jahrhundert, um sich unmittelbar darauf selbst die Antwort zu geben: »Masse, und Bewegung derselben [...] das reine [...] Leben.«135 Mit Jean-Jacques
132 Vgl. ebd., S. 97. Brandstätter kritisiert die Kopplung der Begriffe Ausdruck und Darstellung; sie spricht von »primärer Semiotik« der Musik, z.B. einhergehend mit dem Terminus Programmmusik, und von »sekundärer Semiotik«, z.B. einhergehend mit formalistischen Theorien (vgl. ebd., S. 94). Diese Aufteilung spielt hier jedoch keine Rolle. 133 Vgl. Parncutt, Richard/Kessler, Annekatrin: »Musik als virtuelle Person«, in: Flotzinger, Rudolf (Hg.), »Musik als...«. Ausgewählte Betrachtungsweisen, Wien: Verlag der ÖAW 2006, S. 9-52, hier S. 21. Die Autoren fassen Musik für ihre Überlegungen als »virtuelle Person« auf. Vgl. U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 143 zur Musik, die »kein Lebewesen ist, das traurig sein kann«. 134 Vgl. R. Norton: Musik als tonale Geste S. 10. Vgl. J. Itten: Über Komposition, S. 91: »Die Sache, welcher der Begriff Kunst als Symbol dient, ist immer ein Lebendiges, Bewegtes, ein Ausdrucksbedürftiges, ein Erregendes, das sich entweder in Worten, Tönen oder Formen materialisieren, verwirklichen will, durch Vermittlung des Menschen, derart, daß es ein organisches Ganzes, ein Lebewesen werde.« Vgl. Kirchner, Friedrich/Michaëlis, Carl (Hg.): Kirchner’s Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe, Leipzig: Meiner 1911, S. 597 zum Objekt der Musik: »Ihr Objekt ist alles, was sich bewegt, oder womit sich die Vorstellung einer Bewegung verbinden läßt.« Zur Musik als »bewegtes Abbild« des Inneren des Menschen vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 10. 135 Wilhelm Heinse zit.n. H.-P. Müller: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, S. 36.
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Rousseau kann dies insofern ergänzt werden, als »das nicht wahrnehmbare Bild des Gegenstandes durch dasjenige der Bewegung ersetzt«136 wird oder wie James Harris in seinen »Three treatises concerning art« (1744) anmerkt, ist die Bewegung das »Mittel« der Nachahmung.137 Die aus hermeneutischen Analysen musikalischer Werke, aus deren Titeln oder ihnen beigefügten Erklärungen hervorgehenden ausgedrückten Bewegungen, spiegeln die Diversität des Begriffes, wie er im musikalischen Ausdruck und in musikalischen Darstellungen eine Rolle spielt, wider. Sie entstammen einerseits den Bereichen Emotion und Motorik138, andererseits den Bereichen Natur und Technik139 . Musik hat also nicht nur die abstrakte Komponente zum Inhalt; in ihr kommt auch eine konkrete Ebene erlebter Bewegung zum Ausdruck. So schreibt Andreas Werckmeister im Jahr 1687: »[...] es ist die Music nicht allein ein Spiegel [...] des Geist- und Göttlichen Wesens/ sondern auch aller weltlicher und irdischer Actionen.«140 Im Rückblick auf die Historie werden unterschiedliche Modi des Umganges mit dem expressiven Potenzial der Musik evident. In der Frühgeschichte wurde das Klingende vom Menschen als Reflex der Bewegungen seines Selbst und seiner Mitwelt erlebt, wie Ernest Ansermet konstatiert, und vermutlich werden bereits Möglichkeiten der Nachahmung durch Musik genutzt worden sein.141 Die Antike kannte das Prinzip der mímesis; ursprünglich im szenisch-dramatischen Bereich gebraucht, erfuhr dieses bei Aristoteles eine Weiterentwicklung im Sinne eines allge-
136 Rousseau, Jean Jacques: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, Wilhelmshaven: Noetzel/Heinrichshofen 1984, S. 150f.; zur Bewegungsanalogie als wichtigen Koeffizienten in der musikalischen Wahrnehmung vgl. Z. Lissa: Semantische Elemente der Musik, S. 116. 137 Vgl. James Harris: »Three treatises concerning art« (1744) zit.n. H. Pfogner: Musik, S. 219. 138 Z.B. Johann Jakob Froberger: »Suite Nr. XXX, Plainte faite à Londres pour passer la Mélancolie laquelle se joue lentement avec discrétion« (1656), Leonard Bernstein: »Symphony No. 2, The Age of Anxiety« (1948-49), Claude Debussy: »Des pas sur la neige« (aus: »Préludes«, 1909-13) und Béla Bartók: »Herumirren« (aus: »Mikrokosmos III«, 1926-39). 139 Z.B. Jean Ferry Rebel: »Les Elements« (1737), Anton von Webern: »Im Sommerwind« (1904), Johann Strauss (Sohn): »Perpetuum mobile« (op. 257), Ernst Krenek: »Fibonacci Mobile« (1963) und Friedrich Gulda: »Wheel in the right machine« (1969). 140 A. Werckmeister: Musicae mathematicae, S. 151. Vgl. G. Lukács: Ästhetik II, S. 238: »Die Kunst stellt [.] die ›natürliche‹ Umwelt des Menschen in ihren ›natürlichen‹ Beziehungen zu ihm dar.« 141 Vgl. E. Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, S. 351f.
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meinen künstlerischen Fundamentes. Mímesis meint in seinem Verständnis nicht lediglich das Kopieren, sondern benennt den Vorgang einer selbständigen Schöpfung, verbunden mit der Distanz zur Realität des Dargestellten.142 Der Philosoph Hans-Georg Gadamer charakterisiert die mimische Darstellung folglich als Spiel, das sich als Spiel mitteilt: »Sie wird als Schein wahrgenommen wie sie gemeint ist.«143 So werden in der Musik verschiedenartige Regungen auf eine künstlerische Ebene transferiert.144 Antike Theoretiker stellen sich in diesem Zusammenhang v.a. Fragen nach musikalischen Parametern, die den unterschiedlichen Bewegungen adäquat sind.145 Einhergehend mit einer gravierenden Veränderung des mittelalterlichen Musikverständnisses, das sich an der unendlichen, gleichmäßigen Bewegung der göttlichen Ordnung orientierte, sowie parallel zu sich entwickelnden humanistischen Idealen, rückte am Beginn der Neuzeit das Ich und die explizite Affekt- und Bildhaftigkeit in der musikalischen Gestaltung des Textes in den Mittelpunkt.146 Der »fühlende, schauende, erlebende, von ›Empfindsamkeit erfüllte und sie ausströmende Mensch‹«147 mit all seinen Spannungen wurde im Kontext der Entwicklung eines anthropozentrischen Weltbildes zum Thema des freien künstlerischen Ausdruckes.148 Im Barock wandelte sich der musikästhetische Diskurs erneut: Statt subjektiver Umsetzung der (Gefühls-)Bewegung wurde, basierend auf stilisierten, eindeutigen musikalischen Formeln (Figuren), d.h. musikalischen Wendungen melodisch-harmonischer oder rhythmischer Natur, eine Rhetorik generiert, welche die Einheit der ausgedrückten Emotion innerhalb eines Werkteiles forderte.149 Diese
142 Vgl. A. Hügli/P. Lübcke (Hg.): Philosophie-Lexikon, S. 429. Vgl. Aristoteles: Poetik, I,1447a zur Nachahmung der Charaktere und Handlungen durch Rhythmus, Sprache und Melodie. 143 Gadamer, Hans-Georg: »Das Spiel der Kunst« (1977), in: Ders., Gesammelte Werke. Band 8: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tübingen: J.C.B. Mohr 1993, S. 8693, hier S. 90. 144 Vgl. Platon: Nomoi, II,667d zu den Künsten; sie stellen das Ähnliche dar. 145 Vgl. Platon: Politeia, III,398c: »Es müssen [...] Tonart und Rhythmus in Einklang mit dem Text stehen«. Platon beschreibt im Folgenden unterschiedliche Kontexte und jeweils dafür geeignete Tonarten. Vgl. Aristeides Quintilianus: De musica, II,76 zu Tonweisen und Rhythmen. 146 Vgl. Giovanni del Lago zit.n. D.d. La Motte: Melodie, S. 371: »Eine Melodie muß dem Inhalt ihres Textes gerecht werden.« 147 H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 305. 148 Vgl. N.J. Schneider: Musikgeschichte - harmonikal betrachtet, S. 201ff. und H. Engel: Sinn und Wesen der Musik, S. 50f. 149 Vgl. C. Dahlhaus: Musikästhetik, S. 29.
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»Affektenlehre« fing Gefühle in der »Bewegungsgestalt der Musik« (Albert Wellek) nicht nur ein, sondern objektivierte den Ausdruck in eindeutigen Formeln.150 Eine rationale Systematisierung der Affekte ist z.B. in Trakten von Johann Mattheson oder Marin Mersenne zu finden.151 Die einzelne Figur ist, mit dem Ursprung des Begriffes in lat. fingo (gestalten, bilden, darstellen) konform gehend, jedoch als in sich lebendig bewegt, als tätig zu denken.152 Einerseits erfüllt sie die Funktion, den musikalischen Satz zu verzieren, andererseits exprimiert sie einen spezifischen Affekt. Der Musikwissenschaftler Volker Kalisch weist außerdem darauf hin, dass ihr die Abweichung konstitutiv ist; d.h., satztechnische Auffälligkeiten und bewusste Regelverstöße deuten zeichenhaft auf Dinge und Sachverhalte in der natürlichen und kulturellen Umwelt.153 Zur Zeit der Aufklärung wurde der Sinn von Kunst im Besonderen in der Nachahmung der Natur verortet; der Komponist definierte sich als ›Beobachter‹ außermusikalischer Phänomene, die es nachzuzeichnen galt.154 Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde dem individuellen emotionalen Ausdruck des kompositorischen Subjektes zunehmend Raum gegeben: Dies kann mit der Wende vom ›Darstellungs- zum Ausdrucksprinzip‹ gleichgesetzt werden. Die entstandene Gefühlsästhetik lenkte die Aufmerksamkeit in allen musikalischen Aktivitäten auf den Aus-
150 Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 196 und H. Engel: Sinn und Wesen der Musik, S. 50f.; die Musik aus der Mitte des 18. Jahrhunderts vermittle also stilisiert nur einen »Schein der Passionen«, so Theodor W. Adorno (Philosophie der neuen Musik, S. 44). 151 Vgl. Suppan, Wolfgang: »Musik als Identifikator. Annäherungen an ein heikles Thema«, in: Flotzinger, »Musik als...« (2006), S. 109-125, hier S. 117 zur Orientierung der Affektenlehre an René Descartes Lehre von der Entstehung der Leidenschaften. Auf eine einseitig-mechanisitische Überspitzung der Affekttheorie, die bereits den Spott der Zeitgenossen herausgefordert habe, ist bei H. Pfrogner: Musik, S. 192 hingewiesen. 152 Vgl. G. Brandstetter: de figura, S. 224ff. 153 Vgl. Kalisch, Volker: »Artikel ›Musik VII-XV‹«, in: Barck et al., Ästhetische Grundbegriffe (2002), S. 276-307, hier S. 280. 154 Vgl. H. Engel: Sinn und Wesen der Musik, S. 52 sowie U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 168. Vgl. z.B. die Nachahmungstheorie von Charles Batteux in »Les beaux arts réduits à un même principe« (1746). Zur »getreuen« Abbildung, Schilderung und Nachahmung natürlicher Dinge und der Gemütslage durch Musik vgl. J.P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, S. 106 und J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 331. Als Beispiel für eine »Tonmalerei«, welche die Bewegungen der Natur darstellt, kann Antonio Vivaldis »Le Quattro Stagioni« (1725) genannt werden.
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druck von Rührung und Empfindung.155 Carl Philipp Emanuel Bach, um ein Beispiel zu nennen, setzte sich vielfacher Kritik aus, indem er sich abseits der barocken Forderung der »Einheit im Affekt« positionierte und dem unbeständigen menschlichen Gemüt gemäß bereits auf kleinstem Raum wechselnde Affekte darstellte. Das Moment des Ausdruckes löste sich von der dogmatischen Nachahmung. So wurden Emotionen als Teil des menschlichen Wesens begriffen, die nicht nur portraitiert, sondern vom Komponisten »aus dem bewegten Inneren herausgepreßt« (Carl Dahlhaus) werden.156 Zum »zentralen Postulat« klassischer Musikästhetik wurde, wie Dahlhaus festhält, die Umsetzung des menschlichen Charakters mit all seinen affektiv-emotionalen Widersprüchlichkeiten.157 Bewegung, so der Schriftsteller Christian Gottfried Körner im Jahr 1795, sei dabei das wichtigste Mittel zur Darstellung.158 Hinsichtlich musikdramatischer Formen, des Ballettes oder des Kunstliedes wurde Musik als »Dolmetscherin« verstanden, die Bewegungen der Handlung sowie des Textinhaltes auslegt.159 In der folgenden Epoche blieb der Gefühlsausdruck wesensbestimmendes Moment der Musik und unterlag zudem einer Subjektivierung.160 Im 19. Jahrhundert wurde verstärkt betont und kritisch angemerkt, dass nicht die Emotion selbst, sondern lediglich deren abstrahierte, morphologische Struktur ausgedrückt werden
155 Vgl. V. Kalisch: Artikel »Musik/VII-XV«, S. 285ff. und H.d. La Motte-Haber: Musik und Natur, S. 34. Bei Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel griffen bereits mehrere Affektausdrücke ineinander (vgl. F. Beinroth: Musikästhetik von der Sphärenharmonie bis zur musikalischen Hermeneutik, S. 97). Als »Sprache der Affekte« wird Musik bei I. Kant: Kritik der Urteilskraft, S. 432 bezeichnet und J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 127f. meint, »Affekte rege zu machen« sei der »Endzweck« der Musik; Daniel Webb erklärt in »Observations on the Correspondance between Poetry and Music« (1769) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 223, es sei das »Geschäft der Musik, die Bewegungen der Leidenschaften [.] auszudrücken [...].« 156 C. Dahlhaus: Musikästhetik, S. 31. Vgl. auch V. Kalisch: Artikel »Musik/VII-XV«, S. 285ff. 157 Vgl. C. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, S. 69. 158 Christian Gottfried Körner zit.n. M. Schmidt: Zur Theorie des musikalischen Charakters, S. 75. 159 Vgl. z.B. C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 350. 160 Vgl. U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 94 zur geistesgeschichtlichen Verankerung von Ausdruck als »Ausdruck des Innenlebens«. Vgl. G.F.W. Hegel: Ästhetik, S. 272 zur Darbringung des Inhaltes der Musik in der Art, »in welcher er in der Sphäre der subjektiven Innerlichkeit lebendig wird.«
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könne.161 Außerdem erfuhr der konkrete, greifbare Affekt eine Wendung ins Metaphysische; seelische Regungen »inkarnieren« sich in »reiner« Musik, wie Franz Liszt bemerkt162. Das Gefühl, so Liszt, »lebt [...] in der Musik ohne bildliche Umkleidung. Hier hört es auf, Ursache [...] und erregendes Prinzip zu sein, um sich [...] in seiner unbeschreiblichen Ganzheit zu offenbaren.«163 In der Musik der Moderne wurde dieser Aspekt der Musik als »Chiffre des Inneren« (Barbara Naumann) noch radikalisiert. Arnold Schönberg verlangt im Vorwort zu »Dreimal sieben Gedichte aus A. Girands ›Pierrot Lunaire‹« vom Interpreten, Stimmung und Charakter des Stückes nicht aus dem Wortsinn heraus, sondern stets und lediglich aus der Musik, zu interpretieren.164 Die Konzentration auf das Wesentlichste, auf den einzelnen Ton als individuelles, emotionales Ereignis führte zu einer expressiven Verdichtung und damit zu einer extremen Reduktion der Dauer des einzelnen Musikstückes.165 Was hier hervortritt, ist die Emotion in ihrer ›puren‹ Gestalt: »Es sind nicht Leidenschaften mehr fingiert, sondern im Medium der Musik unverstellt leibhaftige Regungen des Unbewussten, Schocks, Traumata registriert«, konstatiert Theodor W. Adorno166. Als komplementäres Gegenstück zu dieser äußersten Verdichtung des Ausdruckes kann die Entwicklung einer vollkommen ausdrucksfreien, einer gemäßigten, einer rechnerisch-spielerischen Musik gelesen werden, wie sie von Josef M. Hauer gefordert und in Hermann Hesses Roman »Das Glasperlenspiel« (1943) beschrieben wird.167 Hauer lehnte eine ›Ausdrucksmusik‹, v.a. die des 19. Jahrhunderts, kategorisch ab. Als bloßes Ausdrucks- und Darstel-
161 Vgl. C. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, S. 75f.; und vgl. z.B. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 26: »Was kann also die Musik von den Gefühlen darstellen [...]? Nur das Dynamische derselben.« Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 261: »Die Hauptaufgabe der Musik wird deshalb darin bestehen, nicht die Gegenständlichkeit selbst, sondern im Gegenteil die Art und Weise wiedererklingen zu lassen, in welcher das innerste Selbst [...] in sich bewegt ist.« 162 Vgl. Franz Liszt zit.n. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 669. Vgl. C. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, S. 12 zur Instrumentalmusik und ihrer Tendenz zur »Umdeutung der greifbaren Affekte« in «weltentrückte Gefühle ›in abstracto‹«. 163 Franz Liszt zit.n. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 198. 164 Schönberg, Arnold: »Vorwort zu Dreimal sieben Gedichte aus Albert Girauds ›Pierrot Lunnaire‹« (1912), in: Proebst, Die neue Musik (1961), S. 46. Schönberg ist der Meinung, dass sich durch Töne nur etwas durch Töne Sagbares ausdrücken lasse (vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 761). 165 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 788ff. 166 T.W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, S. 44. 167 Vgl. Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 451.
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lungsmittel gebraucht werde die Musik missbraucht; dies stehe dem eigentlichen musikalischen Wesen, nämlich der Bewegung, disparat gegenüber.168 So postulierte Hauer mit seinem »Zwölftonspiel« eine vollkommene Abstraktion und hielt das Cembalo als ein für seine Musik geradezu prädestiniertes Instrument.169 In Bezug auf Komponisten der Moderne und Postmoderne kann eine (neue) Relevanz von Bewegung als Objekt musikalischer Darstellung abseits des Gefühlsausdruckes festgestellt werden. Konkrete Bewegungsverläufe, ein nicht näher definiertes Phänomen Bewegung an sich oder die Beweglichkeit des Klanges170 sind Themen der schöpferischen Auseinandersetzung der Komponisten mit ihrem Material. So versuchte z.B. Arthur Honegger in seinem Stück »Pacific 231« (1923) die Wiedergabe eines optischen Eindruckes, wie er bemerkt.171 Mauricio Kagels Kompositionsprinzip wiederum basiert unter anderem auf der klanglichen Abbildung von Translation und Rotation, die ihm, beruhend auf mechanischen Grundsätzen, als Basis jeder Körper-Bewegung gelten.172 Auffallend sind Betitelungen von Werken oder Werkteilen verschiedener Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts, die den Terminus Bewegung ohne zusätzliche Spezifizierung aufgreifen – vermutlich um eine nicht näher definierte Aktivität, Lebendigkeit oder Zeitlichkeit in Kontrast zur Nicht-Bewegung auszudrücken.173 Um spezifische Bewegungen auszudrücken oder darzustellen, werden seit jeher bestimmte, musikalische Parameter herangezogen174; einige von ihnen sollen im Folgenden beispielhaft herausgegriffen werden. Einen essenziellen Orientierungspunkt in dieser Frage bedeutet das je nach Epoche unterschiedlich systematisierte Tonmaterial. Bereits in der griechischen Antike wurde jedem Tongeschlecht ein bestimm-
168 J.M. Hauer: Vom Wesen des Musikalischen, S. 30. 169 Vgl. H. Engel: Sinn und Wesen der Musik, S. 56. 170 Vgl. Gottfried Michael Koenig zit.n. U. Dibelius: Moderne Musik nach 1945, S. 189 zu elektronischer Musik, die v.a. zum Ziel habe, in der Bewegung des Klanges die Bewegung des musikalischen Gedankens hörbar zu machen. 171 Arthur Honegger zit.n. K. Schneider (Hg.): Lexikon Programmusik, S. 29. 172 Vgl. U. Dibelius: Moderne Musik nach 1945, S. 213. 173 Z.B. György Ligeti: »Monument. Selbstportrait. Bewegung« (1976), Werner Schulze: »Deux Mouvements« (op. 2), Johannes M. Staud: »Bewegungen« (1996), Friedrich Cerha: «Mouvements I-III« (1960), Helmut Lachenmann: »Mouvement« (1984-85), Brian Ferneyhough: »Time and Motion Study II« (1973-76), Gottfried von Einem: »Wandlungen« (1956) und Petr Eben: »Mutationes« (1980). 174 Vgl. H. Rösing: Musikgebrauch im täglichen Leben, S. 124 zu Merkmalen, mithilfe derer das Werk in seiner Ausdrucksgebundenheit intersubjektiv erkannt werden könne.
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tes »Ethos« zugeordnet175 ; so schrieb man z.B. dem Dorischen einen ruhigen, würdevollen, erhabenen Charakter und die Mitte der Extreme zu, während das Phrygische mit dem Erregenden, Enthusiastischen und Orgiastischen assoziiert wurde.176 In der Neuzeit wurde die Funktion von Tonarten ebenso wie in der Antike am Affektausdruck festgemacht; außerdem wurden die Gegensätze von Dur und Moll zu damals geltenden geschlechtsspezifischen Unterschieden, d.h. männlich (aktiv, hart, munter) vs. weiblich (passiv, weich, traurig) in Beziehung gestellt.177 Unter Musiktheoretikern des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelte sich aus der grundsätzlich gestellten Frage nach der Konnotation von Tonart und Charaktereigenschaft zunehmend eine kontroverse Debatte178: Tonartencharakteristika wurden entweder bejaht und kategorisiert oder verneint und als rein subjektives Problem in den Bereich der Psychologie ausgelagert.179 Neben skizzierter Möglichkeit, bestimmtes Tonmaterial bestimmten Bewegungen zuzuordnen, wird die Melodie als Mittel des Bewegungsausdruckes aufgefasst. Anfang des 20. Jahrhunderts griff Erich Moritz von Hornbostel in seinen musikpsychologischen Aufsätzen den Gedanken von der Melodie als elementares Ausdrucksmittel auf und hält fest, dass sie die »Vorstellung« realer Bewegung erwecke.180 Von Hornbostels Ansatz vergleichbar beschreiben auch andere Autoren die
175 Vgl. Aristoteles: Politica, VIII,1340a: »Die Natur der [.] Tonarten ist von vornherein so verschieden, daß der Hörer bei jeder von ihnen anders [...] gestimmt wird [...].« 176 Vgl. ebd., VIII,1342b sowie Ptolemaeus: Harmoniká, III,6. Und vgl. Pindarus: Siegeslieder. Griechisch-deutsch (= Sammlung Tusculum), hrsg. von D. Bremer, München: Artemis & Winkler 1992, 1,101: »[..] Ich aber muß/ jenen bekränzen mit der Reiterweise/ in aiolischer Sangart.« 177 Vgl. bereits Platon: Nomoi VII,802e zu den für das männliche und zu den für das weibliche Geschlecht passenden Liedern, die durch ein »gewisses Gepräge« zu unterscheiden seien. Erwähnung finden diese Gegensatzpaare z.B. bei Kepler, Johannes: Weltharmonik. Harmonices mundi, München: Oldenbourg 1967, III,6 sowie bei L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 59 (§2), bei C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 261, bei J.J. Quantz: Versuch einer Anleitung die Flöte traversière zu spielen, S. 53 (§4) sowie bei G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 295. 178 Vgl. Kelletat, Herbert: Zur musikalischen Temperatur. Band 2: Wiener Klassik (= Edition Merseburger, Band 1196), Berlin/Kassel: Merseburger 1982, S. 13. 179 Vgl. ebd.; so schreibt z.B. J.P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, S. 71: »Es ist [.] für den Tonsetzer eine sehr wesentliche Sache, daß er jedes Tones Charakter empfinde.« Tonartencharakteristika wurden z.B. von Christian Friedrich Daniel Schubart und Johann Mattheson erstellt. 180 E.M.v. Hornbostel: Melodischer Tanz, S. 80. Vgl. auch J.-J. Rousseau: Dictionnaire de Musique, S. 275 und G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 275.
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Angebundenheit der Tonhöhenveränderung an das Leibseelische und die Ausdrucksqualitäten von Positionen, Richtungen und Intervallen.181 Melodische Aufwärts-Bewegungen werden der positiven Gestimmtheit, der Erhebung und Steigerung sowie dem Vorwärts- und Aufwärtsstreben zugeordnet. Abwärts-Bewegungen hingegen stehen für Trauer, Abnahme und (Auf-)Lösung sowie für Konzentration auf die eigene Mitte.182 Novalis fasst diesen Umstand in einem seiner Fragmente zusammen: »Höhere Töne drücken erhöhtes Leben – tiefere Töne vermindertes Leben [.] aus.«183 Auch vom Rhythmischen ausgehend werden musikalische Charakteristika den menschlichen Motionen und Emotionen zugeordnet. Aristoteles erklärt im Zuge des Verweises auf die Fähigkeit von Musik, das Wesen der Affekte besonders gelungen zum Ausdruck zu bringen, den Rhythmus als Abbild von Zorn, Sanftmut, Mut oder Mäßigkeit.184 Im 18. Jahrhundert, das im Gegensatz zur Antike von der Taktrhythmik geprägt ist, wurde einerseits die Notwendigkeit der Verbindung von Bewegung, Rhythmus und Takt und deren Wechselwirkung für den Ausdruck vermerkt; andererseits wurde die Schwerpunktsetzung als eine Bedingung des Expressiven definiert185, wie folgender Lexikoneintrag von 1802 verdeutlicht: »Soll sich die Melodie als Ausdruck der Empfindung [...] behaupten [...] muß sie in eine bestimmte Taktart eingekleidet sein«.186 Weiters dient die Unterschiedlichkeit der Tempi, die nicht zuletzt mit der Differenzierung der Taktarten einhergeht, dazu, verschiedene Affekte in ihrer Eigenart musikalisch umzusetzen; Frohsinn und Zorn seien also mit schneller, Sanftheit und Schmerz mit langsamer Bewegung zu koppeln, lautet die Anweisung Leopold Mozarts.187
181 Vgl. z.B. A. Nowak: Philosophische und ästhetische Annäherungen an die Musik, S. 54, L. Klages: Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck, S. 163 und H. Engel: Sinn und Wesen der Musik, S. 57 sowie M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 144f. 182 Genannte Charakteristika sind eine Zusammenschau von Aussagen verschiedener Autoren: vgl. J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 16 (§55), E.M.v. Hornbostel: Melodischer Tanz, S. 78, W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 63 sowie Arnold Schering zit.n. C. Dahlhaus: Artikel »Melodie/B. Systematisch«, S. 42. 183 Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 194 (Frag. 26). 184 Aristoteles: Politica, VIII,1340a. 185 Vgl. J.G. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, S. 427 zur Bedeutung des Rhythmus für den Ausdruck. Vgl. weiters J.P. Kirnberger: Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, S. 105. 186 H.C. Koch (Hg.): Musikalisches Lexikon, S. 942. 187 L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 52. Vgl. A.W. Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, S. 145: »Hüpft nicht die Freude mit raschem, schleicht nicht die Traurigkeit mit gedehntem Tritt?«
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Den beschriebenen musikalischen Funktionsträgern ist außerdem die Klangfarbe von Instrumenten hinzuzufügen188 , geht es darum, (Gefühls-)Bewegung auf die musikalische Ebene zu transformieren. Verschiedene Autoren erwähnenen in ihren Schriften Kategorien von Instrumenten, die sich Assoziationen bestimmter Emotionen mit typischen Klangfarben anschließen. Aristeides Quintilianus und Christian Friedrich Daniel Schubart, um zwei Beispiele aus unterschiedlichen Epochen zu nennen, differenzieren jeweils zwischen Saiten- und Blasinstrumenten und nehmen auf Klangfarben und Charakter Bezug.189 Aus heutiger Perspektive ist hinsichtlich solcher Einteilungen anzumerken, dass die Wahrnehmung typischer Instrumentenklänge zwar ein intersubjektives Moment beinhaltet, jedoch auch die intrasubjektive Variabilität sowie der Kontextbezug in der Deutung des Klanges Relevanz besitzen.190 Die Wahrnehmung der Klangfarbe ist eng verbunden mit der Lautsprache und ihren in Tonfall und Stimmklang sich manifestierenden emotionalen Qualitäten.191 In Pindars »Phythischer Ode« wird auf den Ausdruck der Wehklage im Spiel des Aulos hingewiesen: »[...] schuf die Jungfrau den allstimmigen Flötenton,/ damit sie das [...]/ lautklagende Trauerlied mit Instrumenten darstellen könnte.«192 Mehrere Autoren aus dem 18. und 19. Jahrhundert gehen in ihrem Musikverständnis von einer Imitation der menschlichen, lautsprachlichen Kommunikation auf dem Instrument aus193; Georg Wilhelm Friedrich Hegel charakterisiert den Ton als »Interjektion«, als Nachahmung einer unmittelbaren Äußerung von Gemütszuständen, sei es das Seufzen oder das Lachen.194 In der jüdischen Klezmer-Musik ist diese Verbindung besonders evident, existiert hier eine eigene Terminologie für jene musikalischen Nuancen, die lautliche emotionale Äußerungen wie Klagegeräusche (Kne-
188 Zur Symbolik von Klängen vgl. z.B. M. Schneider: Die historischen Grundlagen der musikalischen Symbolik, S. 77ff. 189 Vgl. Aristeides Quintilianus: De musica, II,108 und C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 295ff.; vgl. weiters Platon: Politeia, III,399e zu Leier und Kithara als für die Stadt »nützliche« Instrumente und zur Rohrpfeife für die Hirten auf dem Lande. Vgl. Aristoteles: Politica, VIII,1341a zu geeigneten Instrumenten in der Erziehung. 190 Vgl. dazu Rösing, Helmut: »Artikel ›Klangfarbe/I.-VI.‹«, in: MGG 5, S. 138-159, hier S. 138ff. 191 Vgl. ebd. 192 Pindarus: Siegeslieder, 12,19. 193 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Musik und Natur, S. 34. Dieser Umstand wird z.B. bei A.W. Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, S. 144 oder J.-J. Rousseau: Musik und Sprache, S. 138 erwähnt. 194 G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 273.
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jtsch, Kwetschn oder Krehtsn) oder Lachen (Tshok) aufgreifen.195 Die Rolle des Instrumentes scheint hier sogar noch über die Ebene der Imitation hinauszugehen; denn das Instrument ist direkt an den Atem des Musikers angebunden, als ob dieser sein bewegtes Inneres mit seiner Stimme zum Ausdruck bringen würde. So wird das Instrument selbst zum ›Weinenden‹, ›Lachenden‹, ›Klagenden‹. Zu Beginn dieses Kapitels wurde die Frage aufgeworfen, ob Musik etwas ausdrückt oder darstellt und anschließend anhand verschiedener Beispiele aus unterschiedlichen Epochen gezeigt, in welcher Form Musik als ausdrucksgebunden erlebt und verstanden wird. Die Problematik des zeichenhaften Charakters der Musik nimmt im ästhetischen Diskurs einen bedeutenden Platz ein.196 Die kontrovers geführte Diskussion widmet sich dem Umstand, dass Musik Bedeutung(en) transportiert und außerhalb ihrer selbst Liegendes in Töne ›verwandelt‹.197 Komponisten, so kann im historischen Rekurs festgestellt werden, orientieren sich entweder an feststehenden Konventionen oder an der Auffassung von selbsterklärender Assoziation. Sind Emotionen der Musik immanent oder werden diese in und von den Hörenden konstruiert?198 In der musikalischen Praxis ist keine lineare Entwicklung in der ästhetischen Position erkennbar; vielmehr sind quer durch die Epochen der Musikgeschichte sowohl intentionale als auch nichtintentionale Einstellungen aufzufinden.199 Dass weder eine ›Ausdrucks- noch eine ›Formalästhetik‹ als alleinige Antwort auf oben gestelle Frage zufriedenstellt, wird auch von Theodor W. Adorno erwähnt: »Die Ausdrucksästhetik verwechselt die vieldeutig entgleitenden Einzelintentionen mit dem intentionslosen Gehalt des Ganzen [...]. Die Gegenthese von den
195 Vgl. Winkler, Georg: Klezmer. Merkmale, Strukturen und Tendenzen eines musikkulturellen Phänomens (= Salzburger Beiträge zur Musik- und Tanzforschung, Band 1), Bern u.a.: P. Lang 2003, S. 106f. 196 Vgl. Z. Lissa: Semantische Elemente der Musik, S. 114. Vgl. den Überblick über die Theorien bei Davies, Stephen: »Philosophical perspectives on music’s expressiveness«, in: Juslin, Patrik N./Sloboda, John (Hg.), Music and Emotion - Theory and Research (= Series in affective science), Oxford: Univ. Press 2004, S. 23-44. 197 Vgl. U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 143. 198 Vgl. W. Wiora: Das musikalische Kunstwerk, S. 89 und R. Norton: Musik als tonale Geste, S. 9ff.; vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 650 zur »ästhetischen Botschaft« von Musik. Vgl. das »Musikalische Ausdrucksmodell« von Helmut Rösing (1985/1993), das jedem Musiktyp Verhaltensmerkmale zuordnet und vgl. weiters den Ansatz von Leonard B. Meyer, der in »Emotion and Meaning in Music« (1956) Gestalttheorie und Semiotische Theorie zusammenführt, um die Existenz von Emotion in der Musik zu erklären. 199 Vgl. Z. Lissa: Semantische Elemente der Musik, S. 116.
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tönend bewegten Formen aber läuft auf den leeren Reiz oder das bloße Dasein des Erklingenden hinaus [...].«200 Diese Frage abschließend soll der Begriff des musikalischen Inhaltes, der kontroverse Positionen und das Entweder-oder übersteigt, als Lösung vorgeschlagen werden; so wird ermöglicht, verschiedene theoretische Ansätze, in Anerkennung der gegebenen Ambivalenz, zusammenzulesen. Basierend auf der phänomenologischen Philosophie Maurice Merleau-Pontys soll in einem letzten Schritt das Phänomen Ausdruck geklärt werden. MerleauPontys Definition übersteigt den Aspekt der Repräsentation und hebt anstelle dessen das Paradoxon, Ausgedrücktes (Expression) und Ausdruck (Kreation) seien eins, hervor.201 Musik bringt in ihrer Angebundenheit an die Sinne ohnehin stets ›irgendetwas‹ zum Ausdruck; unabhängig davon, ob dies vom Komponisten intendiert oder vom Hörenden rezipiert wird.202 Ausdruck ist vielmehr Phänomen des Überganges; er ist in diesem Sinne jene Bewegung, durch die Musik zu dem wird, was sie ist. Merleau-Ponty spricht vom Geschehen im Ausdruck als einer »Übergangssynthesis«: Etwas bildet sich.203 Innerhalb dieses Ausdrucksgeschehens werden Bewegungen transferiert. Das Abstrakte der Bewegung – in diesem Kontext auch als »Dynamik« oder »Morphologie« (Susanne K. Langer) zu bezeichnen – ist gleichsam gemeinsamer Logos, ist »Ähnlichkeit« von Inhalt und Übersetzung.204 Jean-Jacques Rousseau drückt dies in folgendem Zitat aus: »Alle Handlungen der
200 Vgl. Adorno, Theodor W.: »Fragment über Musik und Sprache«, in: Ders., Gesammelte Schriften. Band 16. Musikalische Schriften I-III, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 251-256, hier S. 255. Vgl. U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 169: »Musik geht selbst da, wo sie Äußeres darzustellen versucht im Grunde über eine Darstellerfunktion hinaus.« 201 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Deutsch-französische Gedankengänge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 109f. 202 Vgl. T.W. Adorno: Fragment über Musik und Sprache, S. 255: »Wie Musik nicht in der Intention sich erschöpft, findet umgekehrt sich auch keine, in der nicht expressive Elemente vorkämen: noch Ausdruckslosigkeit wird in der Musik zum Ausdruck.« 203 B. Waldenfels: Deutsch-französische Gedankengänge, S. 110f. 204 Vgl. U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 143. Auf das Moment des Allgemeinen verweisen F. Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, S. 23 sowie R. Schumann: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, S. 31. Vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 66 zu Musik als »objektivierte Gestalt«, als »abstrahierte, Gestalt gewordene Stimmung«. Vgl. C. Gottwald: Neue Musik als spekulative Theologie, S. 88 zur »Gewalt des Ästhetischen«, die darauf beruhe, dass Kunst Wirklichkeit nicht abbildet, sondern erneut, als Schein hervorbringt.
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Seele führen den Begriff der Bewegung mit sich [...]. Daher kann die Bewegung zum Zeichen [...] dessen gebraucht werden, was in der Seele vorgeht.«205 In Anlehnung an Ernst Cassirers Symbolverständnis wird Musik im Besonderen als Sinnliche Trägerin eines Sinnhaften206 ; mehr noch ist sie selbst dieser Sinn.207 Schöpferisches Ausdrucksgeschehen ist, um auf Merleau-Ponty zurückzukommen, nicht nur einseitige Übersetzung, sondern muss als responsiv verstanden werden. Der Ausdruck steht in Wechselwirkung zu fremden Ansprüchen, die ihn herausfordern.208 Das Verständnis vom Prozess der künstlerischen Mimesis ist zu amplifizieren: Bewegungen werden nicht lediglich abgebildet; sie werden erneuert und abstrahiert hervorgebracht und vom Rezipienten individuell mitgestaltet.209 Musik lässt in einer dem Kunstwerk eigenen Offenheit, in einer der Musik wesenhaft zukommenden enigmatischen »Nicht-Eindeutigkeit« (Zofia Lissa) vielfältige, wenn auch schwer zu regulierende und sich der Analyse entziehende, Interpretationsspielräume zu.210 Diese spezifisch künstlerische Ambiguität, geradezu als ästhetische ›Norm‹ zu begreifen, evoziert im Hörer vielfältige Bewegungen in der Wahrnehmung und im Denken.
2.5 H ÖREN
UND
H ORCHEN
Hören als elementarer wie gleichermaßen mehrdimensionaler Prozess, durch den sich Musik im Individuum als solche konstituiert und der musikalischen Sinn stiftet211, ist im Ereignisraum zwischen Musik und Mensch angesiedelt. Insofern das Verb hören bereits die Komponente des Verstehens, d.h. hinsichtlich Musik das ›geschulte Ohr‹, impliziert, wird hier von einem basalerem Hörbegriff ausgegangen,
205 J.-J. Rousseau: Musik und Sprache, S. 151. Zur »Ähnlichkeit« der Bewegungen in Musik und Ausgedrücktem vgl. auch Thomas Twinning: »Two Dissertations on practical and musical Imitation« (1789) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 226. 206 Ernst Cassirer zit.n. Z. Lissa: Semantische Elemente der Musik, S. 116. Vgl. Schering, Arnold: »Symbol in der Musik« (1927), in: Karbusicky, Sinn und Bedeutung in der Musik (1990), S. 37-46, hier S. 39. 207 Vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 62 zum Künstler, der in der Sinnlichkeit den Sinn bereits vorfindet. 208 Vgl. B. Waldenfels: Deutsch-französische Gedankengänge, S. 121. 209 Vgl. H.G. Gadamer: Das Spiel der Kunst, S. 91 und G. Lukács: Ästhetik I, S. 161. 210 Vgl. U. Eco: Das offene Kunstwerk, S. 11. 211 Vgl. Sergiu Celibidache zit.n. J. Kirchhoff: Klang und Verwandlung, S. 10: »Musik heißt hören, hören, hören und noch einmal hören.« Und ähnlich Helmut Lachenmann zit.n. J. Stenzl: Was heißt hören?, S. 6: »Der Gegenstand von Musik ist das Hören.«
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in dessen Bedeutungszentrum das Horchen steht.212 Hören heißt zunächst, sich treffen zu lassen von sinnlichen Klanggestalten, gleichsam von wirksamen FremdGestalten, um den bekannten Topos von Bernhard Waldenfels aufzugreifen, die auf den Menschen einwirken und in ihm etwas er-zeugen.213 Vilém Flusser verweist auf die mit dem Gestus des Horchens verbundene Körperstellung: Der Mensch, ergriffen in seiner Leiblichkeit, wird in innere Spannung versetzt und eine Regsamkeit der Sinne wird in Gang gesetzt.214 Diese, v.a. dem Begriff des Horchens entstammende Komponente der auf das Klangereignis gerichteten Zu-Wendung impliziert nicht nur einen Bezug auf das horchende Selbst, sondern bereits auch den Fremdbezug215: »[...] hörend sind wir nie völlig hier, hörend sind wir nie ganz und gar bei uns selbst.«216 Im Sinne Theodor W. Adornos greifen die »Entäußerung« des Subjektes und die »Vereinnahmung« der Musik ineinander.217 Musikwahrnehmung wird in der Literatur an vielen Stellen als »aktives« Geschehen, im Sinne einer »Mitbewegung« (Erwin Straus) beschrieben, das in einer innerlichen Anteilnahme gründet.218 Vertieftes Werkverständnis und ästhetisches Vergnügen entsprechen einer produktiven Bewegtheit des Zuhörers. Umgekehrt bedeutet das Hören in »unberührter Distanz«, so Hans-Georg Gadamer, sich als Hö-
212 Vgl. G. Bräuer: Hören - Vernehmen - Vernunft, S. 23ff.; vgl. engl. to listen. 213 Vgl. B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 165. 214 V. Flusser: Gesten, S. 197. Vgl. ähnlich T. Reinelt: Staunen - Bewegen - Bilden, S. 8ff. zum Aktivitätsmuster durch das Staunen; dem Staunen folge Bewegung, die für weiterführende Bildungsprozesse fundamental sei. 215 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 69 und G. Bräuer: Hören - Vernehmen - Vernunft, S. 24. 216 B. Waldenfels: Klangereignisse, S. 24. 217 Vgl. Adorno zit.n. K.E. Kaehler: Aspekte des Zeitproblems in der Musikphilosophie Theodor W. Adornos, S. 43: »Der Mitvollzug von Musik ist die gelungene Selbstentäußerung des Subjekts in einer Sache, die dadurch seine eigene wird [...].« 218 So ist in der Literatur von der »Theilnehmung des Hörers« (C.F.D. Schubart), der »Mitbetätigung« (Georg Anschütz) und »Hörbewegung« (Bernhard Waldenfels) die Rede. Der Prozess des Hörens wird als »aktiv« beschrieben: vgl. Platon: Timaios, 67b zum Hören als »Bewegung«, die auf den Ton, der sich als Stoß verbreitet, folgt. Vgl. Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 187 (Frag. 1): »Der Musiker hört [.] active – Er hört heraus.« Vgl. S. Bimberg: Einführung in die Musikpsychologie, S. 9: »Es gilt beim Hören, diese [...] Spannungen herauszuspüren, sie aufzufinden [...].« In Meyers Konversations-Lexikon. 18. Band, Leipzig/Wien: Verlag des Bibliographischen Instituts 1890-1891, S. 631, Stichwort »Musikalische Litteratur (Ästhetik)« wird ausführlich auf das Hören als Mitbewegung eingegangen.
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rer »misszuverstehen«.219 Eric Saties ironische Notiz – »Der Künstler ist sicher achtenswert, aber der Hörer ist es noch mehr«220 – steht hier für die durchaus ernst gemeinte konstitutive Rolle des Hörers. Sein Mitwirken und Antworten bezieht den gesamten Leib, Kreuzungspunkt der Sinne, als komplexes »Responsorium« (Bernhard Waldenfels) ein221: »Nicht das Auge sieht, nicht das Ohr hört, nicht das Gehirn denkt, sondern der ganze Mensch mit seinem ganzen Leibe ist Sehender, Hörender, Denkender«, konstatiert der universale Denker und Pädagoge Hugo Kükelhaus222 . Der Hörende, so Vilém Flusser, wird in seiner Körperlichkeit selbst zur Musik – die Musik verkörpert sich in ihm.223 Waldenfels macht den »Bewegungssinn« Hören einerseits am Bewegt-Werden, das als Resonanz stattfindet fest; andererseits am erkundenden Sich-Bewegen, im Abtasten, d.h. im »Hineinhorchen in eine Spur« (Gottfried Bräuer). In der Berührung, im Mitvollzug und in der individuellen Produktion kommt es zu einer dynamischen Begegnung von aísthesis und kínesis in Form einer Kinästhese. Bemerken, Bewirken, Empfinden und Sich-Bewegen greifen in der Wahrnehmung ineinander.224 Diese zweifache Bewegungsrichtung kann um das Moment kommunikativer Zeichenprozesse, einer semiosis, erweitert werden. Helmar Schramm entwirft in seinen Untersuchungen zu Theatralität also eine »trianguläre Konstellation« von
219 Vgl. H.G. Gadamer: Das Spiel der Kunst, S. 92. Vgl. Ders.: »Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest« (1974), in: Ders., Gesammelte Werke 8 (1993), S. 116 zur Voraussetzung des »Mitspielers« und dessen eigener Leistung, die im Aufnehmen eines Werkes und in der Erfahrung dieser Wirklichkeit bestehe. 220 Satie, Eric: Schriften, hrsg. von O. Volta, Hofheim: Wolke 1988, S. 46, »Aus einem Konzeptheft zur Mobiliarmusik Schriften« (1920). 221 Vgl. B. Waldenfels: Klangereignisse, S. 27 zum Hören als »leibliches Sichbewegen« und Ders.: Das leibliche Selbst, S. 89 sowie O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 118 zur Vielheit der Sinne und der heterogenen Wahrnehmungswelt. 222 Hugo Kükelhaus zit.n. Tervooren, Helga: Rhythmisch-musikalische Erziehung. Begegnungen und Erfahrungen mit Kindern (= Pädagogik in der Blauen Eule, Band 21), Essen: Die Blaue Eule 1994, S. 53. Vgl. einige ähnlich lautende Aussagen: z.B. bei C. Bresgen: Der Rhythmus im Leben der Völker S. 9: »Wir wissen, daß der ganze Mensch und nicht nur unser Gehörsorgan ein Instrument für die Tonempfindung ist.« Vgl. weiters J.G.v. Herder: Kalligone, S. 179: »[...] daß, wie Erfahrungen zeigen, wir fast mit unserm ganzen Körper hören.« Vgl. F. Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, S. 346: »Aber auch heute hört man noch mit den Muskeln [...].« Und vgl. John Cage zit.n. D. Charles: Zeitspielräume, S. 23: »[...] das Ohr ist kein Eigenwesen.« 223 Vgl. V. Flusser: Gesten, S. 198. 224 Vgl. B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 170.
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aísthesis, kínesis und semiosis, die sich aus einem regen energetischen Austausch konstituiert.225 Zuletzt soll auf die mit dem organischen Hörvorgang verbundenen Bewegungen und die Heteromodalität dieses Leib-Phänomens Bezug genommen werden. Erreicht das akustische, einer Bewegung entstammende226 Signal das Innenohr, werden die Haarzellen (Zilien) durch die Schwingungen der Basilarmembran angeregt und verändern ihre Lage. Die mechanisch empfangenen Daten werden von der Haarzelle (Corti-Zelle) in chemisch-physikalische Informationen transformiert. In ihrer Eigenschaft als Rezeptor dient diese als Verbindungsglied und agiert wie eine ›individuelle‹, dem Körper ›hinzugefügte‹ Zelle: Sie ist fähig, die empfangenen Informationen zu übertragen und in veränderter Form weiterzugeben. Maßgeblich für das Hörergebnis ist demnach die (organische) ›Erkenntnis‹ einer Bewegung.227 Ist es das Ohr, das im Allgemeinen mit dem primären Hörorgan assoziiert wird, zeigt Alfred Tomatis nicht nur, dass Hören über das Ohr hinausgehend die Gesamtheit des Nervensystems erfasst, sondern stellt zudem die These einer fundamentalfunktionalen Analogie von Haarzelle, dem eigentlichen Hörorgan, und jeglicher lebender Zelle auf.228 Ausgehend von dem Faktum, dass die Corti-Zelle vor ihrer Spezialisierung im Hörorgan auch eine ›einfache‹ Zelle war, begreift Tomatis alle Zellen als eine Art ›Ohr‹. Das Leben der Zelle basiert darauf, von der Umwelt unablässig Informationen zu empfangen und auf das jeweilige Milieu zu reagieren. Hören im erweiterten Sinne finde demnach bereits auf zellulärer Ebene statt: als Vernetzung von zellulären Austauschprozessen.229 Neben ›Hör-Prozessen‹ auf zellulärer Ebene ist das taktile Empfinden im Kontext ›leiblichen Hörens‹ zu erwähnen. Die Taktilität bringt die Haut als Hör-Organ ins Spiel. Die Haut distanziert das Subjekt von der Um-Welt und stellt sich selbst als Zwischen-Bereich dar; sie ist ein »Niemandsland zwischen Mensch und Welt«
225 Vgl. Schramm, Helmar: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts (= Literaturforschung), Berlin: Akademie Verlag 1996, S. 251ff. 226 Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 261: »Das Ohr [.] vernimmt [...] das Resultat jenes inneren Erzitterns des Körpers, [...].« 227 Vgl. A. Tomatis: Der Klang des Lebens, S. 96f.; vgl. Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 197 (Frag. 36) zum Gehör als »mechanischer Bewegungssinn«. 228 Vgl. A. Tomatis: Der Klang des Lebens, S. 93 zur Funktion des Ohres, als Gleichgewichtsorgan jeden Muskel des Körpers zu kontrollieren. 229 Vgl. ebd., S. 96. Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 250f. zur (eingeschränkten) Fähigkeit von Hautzellen, Aufgaben der Schallrezeptoren zu übernehmen.
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(Vilém Flusser).230 ›Taktiles Hören‹ markiert im Besonderen, was am Anfang des Hörvorganges steht: das Pathos in der buchstäblichen Berührung durch Fremdgestalten.231 Physiologisch betrachtet wird Schall neben dem Weg über das Ohr auch über Knochen, Haut und Muskeln als Phänomen der Berührung, des Druckes und der Vibration registriert.232 Dass dabei auch Wahrnehmungen bis in den ultrawelligen Bereich eine Rolle spielen, weist die Musikpädagogin Ulrike StelzhammerReichardt in ihrer Studie aus dem Jahr 2007 nach.233 ›Hören mit der Haut‹ stellt keineswegs eine lediglich subliminare Ebene der Musikwahrnehmung dar.234 Im Gegensatz zur Geringschätzung des Hautsinnes in unserer Kultur, die auf der, das abendländische Denken prägenden, Dominanz einer hierarchischen SinnesOrdnung beruht235 , ist auf ontogenetischer Ebene eine Ursprünglichkeit und Fundamentalität des Taktilen aufzufinden.236 Dieses Faktum untermauern Erkenntnisse der Pränatalforschung: Am Anfang der Schwangerschaft, in der ›vorauditiven‹ Phase, ist das Hören mit der Haut zentral; dynamische Qualitäten von Musik werden taktil und propriozeptiv wahrgenommen.237 Der Tastsinn verleiht dem Hörbaren haptische Qualitäten.238 Dieses archaische Moment des Hörsinnes in Symbiose mit der älteren haptisch-kinetischen Sensation239 verdeutlicht, dass »von einer scharfen Grenze zwischen Gefühltem und Gehörtem weder geschichtlich noch dem Erleben
230 Vgl. Neuner, Stefan: »Peri haphs. Rund um den Tastsinn. Einführende Bemerkungen, in: 31. Das Magazin des Instituts für Theorie 12/13 (2008), S. 5-12, hier S. 6. 231 Vgl. die gehörlose Musikerin Evelyn Glennie zit.n. http://www.touch-the-sound.de/global_html/hintergrund_2.html vom 02.01.2012: »Hearing is a form of touch.« 232 Vgl. A. Tomatis: Der Klang des Lebens, S. 203. 233 Vgl. Stelzhammer-Reichardt, Ulrike: »Wer nicht hören kann, kann fühlen. Musikwahrnehmung bei Schwerhörigkeit, in: Spektrum Hören 4 (2007), S. 6-9, hier S. 8. 234 Vgl. ebd. und vgl. Sacks, Oliver: Stumme Stimmen. Reise in die Welt der Gehörlosen (= rororo-Sachbuch, Band 19198), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 28. 235 Vgl. S. Neuner: Peri haphs, S. 6 zu dieser bis ins 18. Jahrhundert bestehenden Prägung, die auf der platonischen Forderung, Denken müsse für eine reine Schau des Eidos den Kontakt mit dem Leib unterbinden, beruht. 236 Zum Tastsinn als »persönlichsten« aller Sinne und als eine der Ursachen für ein subjektives Selbstbild vgl. Henschel, Uta: »Das Verlangen nach Berührung«, in: Geo 6 (2004), S. 120-140, hier S. 129. 237 Vgl. L. Janus: Pränatales Erleben und Musik, in: Oberhoff, Die seelischen Wurzeln der Musik (2005), S. 9-20, hier S. 11ff. und R. Parncutt: Pränatale Erfahrung und die Ursprünge der Musik, S. 21. 238 Vgl. B. Waldenfels: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 21. 239 Vgl. F. Klausmeier: Die Lust, sich musikalisch auszudrücken, S. 215.
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nach gesprochen werden kann«, so Marcel Dobberstein240 . Dies geht einher mit dem philosophischen Gedanken, den Tastsinn, wesenhaft als liminalen Sinn zu begreifen, der sich zwar an den Grenzen zu anderen Sinnen lokalisieren lässt, trotzdem aber nicht von ihnen ab-gegrenzt ist.241 Die Auffassung des Hörvorganges als ›ganzleiblich‹ nimmt in der Musikpädagogik mit hörbeeinträchtigen Menschen eine besondere Stellung ein. Bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts machte die Rhythmikpädagogin Maria Scheiblauer auf die Bedeutung taktil-propriozeptiven Erlebens, das nicht nur darin besteht, kompensatorisch zu wirken, sondern ein spezifisches Erleben musikalischer Qualitäten zu ermöglichen, aufmerksam und nutzte diese Erkenntnisse für ihre praktische Arbeit mit gehörlosen Kindern: »Vermittelst des Vibrationssinnes, der bis zum Erfühlen von Tonhöhenunterschieden polyphoner Rhythmen verschiedenster Formen ausgebildet werden kann, kann ein Empfinden und eine körperliche Wiedergabe von Musik zustande kommen, welche oft diejenige von Hörenden übertrifft«.242
2.6 S PIELBEWEGUNG Musizieren bedingt den Umgang mit einem Instrument oder der eigenen Stimme. Hinsichtlich dieses Geschehens fusionieren Spiel-Begriff und BewegungsBegriff.243 Der Akt des Spielens ist hinsichtlich des Musikinstrumentes ein konkret leiblicher und benennt einen damit zusammenhängenden spezifischen motorischen Prozess. Die »Körperlichkeit der Hervorbringung« (Helmuth Figdor/Peter Röbke) haftet den Tönen an244, da ein körperlicher Impuls notwendig ist, um die Materiali-
240 M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 250f. 241 Vgl. S. Neuner: Peri haphs, S. 11. Vgl. taktile Metaphern wie ein schneidendes Geräusch oder ein weicher Ton. 242 Scheiblauer, Maria: »Musikerziehung und Heilpädagogik«, in: Pahlen, Kurt (Hg.), Musik-Therapie. Behandlung und Heilung seelischer Störungen durch Musik, München: Heyne 1973, S. 46-54, hier S. 52. 243 Vgl. J. Huizinga: Homo ludens, S. 53 zu Spiel in musikalischer Bedeutung und der Vermutung, dass sich spielen hier v.a. auf die Tätigkeit des Musizierens, d.h. auf die rasche, behende und geordnete Bewegung, beziehe. 244 Auf eine (spezifische) konkrete Körper-Bewegung (z.B. der Hand oder der Lippen) als Voraussetzung für die Klangerzeugung wird z.B: bei Boëthius: Fünf Bücher über die Musik, I,3 sowie bei J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, S. 40f. (§2) hingewiesen. Hören kündet stets von den Gegenständen, zumal von
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tät aus der Ruhe zu bringen und ihr klangliches Potenzial anzuregen. In der leiblich gebundenen Spiel-Bewegung sind alle Informationen zu den Eigenschaften der Klangquelle enthalten. Spielen ist Bewegung, die Musik erzeugt – Musik beinhaltet dadurch eine »Bewegung in die Welt« (Hilarion Petzold). In dieser elementaren Verbindung von Spiel-Bewegung und Klang-Ergebnis liegt eine Faszination, die noch bei Kindern beobachtet werden kann, wenn diese sich einem Instrument nähern.245 Spielen nimmt direkt Bezug auf das Instrument als Spiel(-Apparat); so der Komponist Robert Schumann: »Das Wort ›spielen‹ ist sehr schön, da das Spielen eines Instruments eins mit ihm sein muß. Wer nicht mit dem Instrument spielt, spielt es nicht.«246 Während des Spielens auf und mit dem Instrument wird die Doppelzugehörigkeit des menschlichen Leibes zu Kultur und Natur besonders deutlich: Das Instrument wird im Sinne Henri Bergsons »einverleibt«; es ist zudem Ort des Durchganges und erweitert als erkundendes und gestaltendes órganon den Leib; Musikinstrument und Leib gehen eine temporäre Symbiose ein.247 Diese enge Verbindung ist gekennzeichnet durch die Berührung, die zwischen den Materialitäten Kontakt stiftet. Der Spielbewegung ist also der Aspekt des Tastens inhärent.248 In der »Bewegung des Abtastens« (Bernhard Waldenfels) werden fremde (Bewegungs)Räume betreten und Prozesse der Orientierung ausgelöst.249 Vor der Einverleibung des Instrumentes steht die Berührung als eine die Grenzen des eigenen Körpers
deren Bewegung (vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 25). Zum besonderen Stellenwert von Spielbewegung und Materialität der Klangquelle in der Musik Helmut Lachenmanns vgl. Rudolph, Marie-Therese: »Das Glück des Gelingens«, in: Falter spezial Wien Modern 2005, S. 20 sowie Weibel, Peter: Notation zwischen Aufzeichnung und Vorzeichnung. Handlungsanweisungen - Algorithmen – Schnittstellen, in: Amelunxen/Appelt/Weibel, Notation (2008), S. 32-38, hier S. 33. 245 Vg.C. Bresgen: Der Rhythmus im Leben der Völker, S. 14 zur Faszination, die ein Instrument auslösen kann. 246
R. Schumann: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, hrsg. von H. Simon, Leipzig: Reclam 1888, S. 36. Vgl. Eggebrecht, Hans Heinrich: Die Musik und das Schöne, München: Piper 1997, S. 9f.: »Das Instrument ist ein Spielapparat. Der Spieler spielt es. [...] Spielen heißt, etwas tun, dessen Zweck das Spielen ist.«
247 Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 167ff.; zur Spiel-Kunst als »Organicom« vgl. J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 470 (§1). Vgl. Gottfried Wilhelm Hegel zit.n. G. Lukács: Ästhetik II, S. 42: »Im Werkzeug macht das Subjekt eine Mitte zwischen sich und dem Objekt [...].« Und vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 326 zum Instrument, dem äußeren Werkzeug, das im Spiel zum »beseelten Organ« werde. 248 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 71f. 249 Vgl. ebd. sowie Ders.: Das leibliche Selbst, S. 170.
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überschreitende Bewegung, die den objektiven Gegenstand in den subjektiven Körperraum integriert und die fühlbare Körperfülle um diesen erweitert.250 Diese Bewegung baut zwischen Lebendigem und Unlebendigem eine Brücke, indem das Sinnessystem die aus dem Wechselspiel von Berühren, Bewegen und Empfinden hervorgehende Information verarbeitet.251 Die Intensität der Verbindung von Leib und Instrument mag am existenziellen Charakter der Berührung liegen. Denn in der aktiven Be-Rührung, im sinnlichen Be-Greifen bestätigt sich das eigene Dasein und es konkretisiert sich gleichzeitig die Existenz des Gespürten.252 Die Spiel-Bewegung vereint Aspekte der Biomechanik mit solchen des Ausdruckes und verweist auf die Polyfunktionalität des menschlichen Leibes während des Musizierens.253 Instrumentaltechnische Fragen zählen seit der Antike zu relevanten Gesichtspunkten in der musikpraktischen Auseinandersetzung und spiegeln historische und kulturelle Divergenzen wider. Der Diskurs erstreckt sich von physiologischen Voraussetzungen bis zu konkreten Instruktionen im Umgang mit dem Instrument. Hat die Körperlichkeit Konsequenzen für das musikalische Resultat, sind Fragen nach der Haltung des Instrumentes und des Körpers, nach Bewegungen bestimmter Körperteile zur Klangerzeugung sowie nach dem Einsatz der Atmung die Musikgeschichte hindurch thematisiert worden.254 Ende des 19. Jahrhunderts ist in der fach-
250 In der Musikanthropologie werden Instrumente unter anderem auch als »Organprojektionen« gedeutet (vgl. H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle, S. 99). Instrumente stellen eine Ausweitung des Körpers und seiner Bewegung dar (vgl. Klausmeier, Friedrich: Die Lust, sich musikalisch auszudrücken. Eine Einführung in soziomusikalisches Verhalten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1978, S. 144); und sie können von ihrem Spieler gleichsam »Besitz ergreifen« (vgl. C. Bresgen: Der Rhythmus im Leben der Völker, S. 15). 251 Vgl. T. Reinelt: Die Wirkung kleiner Reize, S. 9 sowie B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 72. 252 Zur Identifikation mit dem Instrument vgl. H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle, S. 61, weiters H.H. Eggebrecht: Die Musik und das Schöne, S. 11. 253 Vgl. z.B. M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 288ff. zur Dialektik von Spieltechnik und Ausdruck. 254 Vgl. z.B. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversìère zu spielen, S. 4 (§4) zu körperlichen Erfordernissen für das Spiel auf einem Blasinstrument sowie ebd., S. 30 (§5) zur Anleitung der Körperhaltung oder vgl. L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 53ff. zur Anweisung, »wie der Violonist die Geige halten, und den Bogen führen solle«. Vgl. F. Couperin: L’art de toucher le clavecin, S. 11: »Jungen Menschen lege man [...], ein [...] Kissen unter die Füße, damit diese nicht in der Luft
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didaktischen Literatur zum Instrumentalspiel eine Zuspitzung der Körperdisziplinierung und Bewegungsnormierung beobachtbar, die individuelle physiologische Gegebenheiten zu Gunsten einer für sinnvoll empfundenen generalisierenden Mechanik ausklammerte. Um das propagierte Ideal der Beweglichkeit zu erreichen und die Entwicklung erwünschter Bewegungen zu beschleunigen, wurde auch der Einsatz spezieller Geräte wie »Handkorsette« oder »Sehnenspanner« empfohlen.255 Am Beginn des 20. Jahrhunderts führten physiologische und lernpsychologische Erkenntnisse, nicht zuletzt beeinflusst durch das Bewegungslernen im Sport, zu Transformationen in der Sicht auf die Technik des Instrumentalspieles.256 Ist die Interaktion von Mensch und Instrument geprägt von leiblicher Bewegung, verlangt sie einen ›bewegungsbereiten‹ Körper. Dieses Stadium wird jedoch nicht aufgrund der Vorbereitung einzelner, vordergründig als notwendig erscheinender Körperpartien erreicht; vielmehr bedarf es einer ganzkörperlichen Beweglichkeit und eines Körperbewusstseins, um positive Auswirkungen auf die Klangqualität zu erreichen.257 Die Tätigkeit des Musizierens beruht auf einem motorischen und informationsverarbeitenden Prozess.258 Alltäglichen Bewegungshandlungen vergleichbar unterliegt auch die Musizierbewegung einer Automatisierung, womit der Erwerb eines im Nervensystem verankerten Bewegungsprogrammes, das in Bezug auf das Körperschema zu einer Bereicherung und Neuorientierung führt, verbunden ist. Die Medizinerin Renate Klöppel macht deutlich, wie Handlungsantrieb und Bewegungsplan sowie Bewegungsprogramm und -ausführung miteinander verbunden sind. Die Folge von Einzelbewegungen ist dem Regelkreis von Ergebniskontrolle,
schweben [...].« Kulturelle Differenzen in der Körperlichkeit des Instrumentalspieles werden bei C. Bresgen: Der Rhythmus im Leben der Völker, S. 15 erwähnt. 255 Vgl. Busch, Barbara: »Der Körper als Spielapparat. Vom Umgang mit spieltechnischmusikalischen Herausforderungen im Anfängerunterricht einst und heute«, in: Üben und Musizieren 1 (2007), S. 20-41, hier S. 22 sowie Klug, Heiner: »Man spielt nicht mit den Fingern, sondern mit dem Kopf. Über die Bedeutung der Technik beim Klavierspiel«, in: Üben und Musizieren 1 (2007), S. 36-41, hier S. 38. 256 Vgl Klöppel, Renate: Die Kunst des Musizierens. Von den physiologischen und psychologischen Grundlagen zur Praxis (= Studienbuch Musik), Mainz u.a.: Schott, S. 23. 257 Vgl. Mantel, Gerhard: »Sensibilisierungsbewegungen. Ausdrucksbewegungen«, in: Üben und Musizieren 5 (2000), S. 6-18, hier S. 6ff. sowie P. Benary: Rhythmik und Metrik, S. 80 und R. Klöppel: Die Kunst des Musizierens, S. 33ff.; mit dem Zusammenhang von Spielbewegung, Klangqualität und Ausführung beschäftigen sich auch die Musikmedizin sowie verschiedene Techniken der Körperarbeit. 258 Vgl. J.W. Davidson/J.S. Correia: Body Movement, S. 238.
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Vergleich mit dem Sollwert und eventueller Veränderung unterworfen.259 Reflexionen auf die Ausführung der Spielbewegung werden zum einen mittels kinästhetischer Wahrnehmung ermöglicht260 – »HOW IT FEELS, physically, to play rightly [...]« (Tobiay Matthay)261; das Spiel-Gefühl und dessen neuronale Verankerung im motorischen Gedächtnis sind für die Wiederholung einer spezifischen SpielBewegung fundamental.262 Zum anderen gibt das auditiv erlebte Ergebnis direktes Feedback. So kann gefolgert werden, dass Motorik und Sensorik, die Anforderungen aus der Partitur, das musikalisches Produkt und die intramusikalische Bewegungsdimensionen in ständiger Wechselwirkung miteinander stehen.263 Ausdruck im Sinne einer Umsetzung von (emotionalen) Inhalten, die mit der Komposition in Verbindung stehen, korreliert mit Spielbewegung. Der menschliche Leib ist nicht nur Hilfsmittel, um das Instrument zu beleben; er ist noch vor aller Tätigkeit Ausdruck menschlichen Erlebens, Fühlens und Denkens; er empfindet selbst und generiert als vitales System Emotionen, die über die Bewegung mit dem Instrument individuell transportiert werden.264 So schreibt Albert Wellek: »Leben ist Ausdruck und Ausdruck ist Leben. Das zeigt sich am deutlichsten beim aktiven
259 Vgl. R. Klöppel: Die Kunst des Musizierens, S. 24ff. 260 Vgl. H. Klug: Man spielt nicht mit den Fingern, S. 40. Vgl. B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 173 zu Lernen als Bereicherung und Neuordnung des Körperschemas. Vgl. M. Spitzer: Musik im Kopf, S. 322ff. speziell zur Wahrnehmung des eigenes Gesanges und E. Altenmüller/W. Gruhn: Brain Mechanisms, S. 69f. zur Repräsentation beteiligter Hirnareale und zur Komplexität dieser Bewegungsprogramme. 261 Matthay, Tobias: The Visible and Invisible in Piano Technique, London: Oxford University 1947, S. 16. 262 Vgl. R. Klöppel: Die Kunst des Musizierens, S. 29ff. und S. 42ff.; vgl. E. Altenmüller/W. Gruhn: Brain Mechanisms, S. 69f. 263 Auf den interessanten Zusammenhang von Kleidung, Körpergefühl und Musik wird bei Caldwell, J. Timothy: Expressive Singing. Dalcroze Eurhythmics for Voice, New Jersey: Prentice Hall 1995, S. 21 aufmerksam gemacht: »The heavy attire of the early baroque [...] as well as the high heels worn by the men, created a different use of the space, weight and time inherent in the music.« Vgl. J.J. Quantz: Versuch einer Anweisung die Flöte traversìère zu spielen, S. 111 (§4) zur Lebhaftigkeit des Zungenstoßes, der sich auf den richtigen Ausdruck des Allegros auswirke und vgl. L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 70 (§1) zur »regelmäßigen Strichart«, die zu Leichtigkeit und Ordnung der langen und kurzen Noten beitrage. 264 Vgl. H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle, S. 60 und B. Waldenfels: Das leibliche Selbst, S. 210 sowie A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 192 und R. Klöppel: Die Kunst des Musizierens, S. 24.
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Musizieren selbst, beim Spiel als motorischer Leistung.«265 Die über die eigentliche Anspiel-Bewegung hinausgehende mimisch-gestische Aktivität der Instrumentalisten trägt ebenfalls zur Klangwirkung bei und kommuniziert über visuelle Signale.266 Wird diese Bewegung unterbunden, degenerierten die Spieler zu Automaten. Denn lebendiges Musizieren beruht auf einem Überschuss an Bewegung.267 Die visuell-motionale Komponente der Spiel- und Ausdrucksbewegungen ist nicht nur zusätzlicher Teil, sondern grundlegendes Konstituens der künstlerischen Darbietung. Aus diesem Grund haben die mit dem Spiel verbundene E-/Motionen, die innere Erregung, die offenbare Spannung, der energetische Aufwand einen Wert an sich, wenngleich sie direkt an die Geste des Musizierens gebunden sind.268 Zählte der Akt der ›Live-Präsentation‹ als eine Ästhetik der Spielbewegung bereits in vormodernen Zeiten zu bedeutsamen Aspekten der Darbietung und zur Inszenierung der Musiker269, wird von manchen Kunstschaffenden der Postmoderne das individuelle Exponieren der Ausführenden im Besonderen akzentuiert. Mauricio Kagel thematisierte die Gebärden der Musizierenden in seinem »Instrumentaltheater« mit Beginn der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts, aufbauend auf der Suche nach Beziehungen zwischen Sichtbarem und Hörbarem.270 Vergleichbare Tendenzen sind im Werk des österreichischen Zeitgenossen Wilfried Satke zu finden, der sowohl hör- als auch unhörbare Spielbewegungen als Teile seiner Musik auffasst und als autonome Momente in die Komposition integriert. Musikalische Kompositionen erfahren bei ihm eine Metamorphose zu einer »Bewegungskomposition«; so ist die ›Choreografie‹ der Spielbewegungen oder davon unabhängiger Ge-
265 A. Wellek: Der Rhythmus im Leben der Völker, S. 208. 266 Vgl. R. Klöppel: Die Kunst des Musizierens, S. 23 und S. 128 sowie H. Klug: Man spielt nicht mit den Fingern, S. 39. Zur Kulturalität der Geste vgl. J.W. Davidson/J.S. Correia: Body Movement, S. 242. 267 Vgl. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 208. 268 Vgl. H. Figdor/P. Röbke: Das Musizieren und die Gefühle, S. 27. 269 Vgl. Adolphe Adam (1845) zit.n. F. Hoffmann: Instrument und Körper, S. 40 über die Pianistin Marie Pleyel: »Es genügt nicht, sie zu hören, man muß sie auch sehen.« Vgl. P. Valéry: Philosophie des Tanzes, S. 254: »Beobachten sie einen Virtuosen [...] seine Hände [...], wie sie auf der engen Bühne der Klaviatur agieren und laufen. Sind diese Hände nicht Tänzerinnen [...]?« Negativ äußert sich Richard Wagner in »Beethoven« (1870) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 306: »[...] die mechanischen Bewegung der Musiker, der ganze sonderbar sich bewegende Hilfsapparat [...]. Daß dieser Anblick, welcher den nicht von der Musik Ergriffenen einzig beschäftigt, den von ihr Gefesselten endlich ganz und gar nicht stört [...].« 270 Vgl. D. Charles: Zeitspielräume, S. 22. Vgl. z.B. Mauricio Kagel: »Match« (1964).
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sten wesentliches Element innerhalb mehrerer seiner Werke.271 Das performative Element der Musik spielt außerdem im Werk der Performance-Künstlerin Meredith Monk eine grundlegende Rolle. Im Kontext einer erweiterten Medialität, die neben Klangerzeugern auch Tanz oder Video umfasst, ist der körperliche Ausdruck in ihren Arbeiten in der untrennbaren Verbindung mit Musik ein autonomes und zentrales, bewusst einkalkuliertes Moment der Gestaltung und Darbietung.272
2.7 K REATION Das Moment des Kreativen273 ist in vielen Tätigkeiten aufzufinden, zeichnet aber künstlerisches Arbeiten im Besonderen aus, stellt es sich hier doch in seiner radikalen Form dar.274 Kunst verweist auf das universale Prinzip Kreation, wie es in verschiedenen mythologischen Deutungen des Weltursprunges aufscheint sowie im Speziellen auf das alttestamentliche Bild eines aktiv schöpferischen Gottes und des Menschen als dessen Ebenbild – als Menschen sind wir nicht nur Geschöpfe (Kreaturen), sondern auch fähig, selbsttätig zu (er-)schaffen.275 Das Schöpferische ist das Wirkende im künstlerischen Prozess276 und wird häufig mit Kraft assoziiert.277 Innerhalb des Wirkens manifestiert sich die Bewegung
271 Diese Textpassage beruht auf einem persönlichen Interview der Autorin mit dem Komponisten im Jahr 2007. Vgl. z.B. Wilfried Satke: »Reduktion« (1984/85) und »Quatuor de Versailles« (1995/96). 272 Vgl. z.B. Meredith Monk: »Juice. A Theater Cantata« (1969) und »The Games« (1983). 273 Vgl. lat. creare (erschaffen, wachsen machen). 274 Vgl. M. Buber: Reden über Erziehung, S. 15: »Die Kunst ist dann nur der Bezirk, in dem sich eine allen gemeinsame Fakultät der Hervorbringung vollendet; mit den Grundkräften der Künste [...] sind alle elementar begabt.« 275 Darauf verweisen auch einige Nachschlagewerke aus dem 19. Jahrhundert. Vgl. weiters J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 429, E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 31, P. Bubmann: Von Mystik bis Ekstase, S. 142f. sowie Albertz, Rainer: »Artikel ›Schöpfung/I. Vorderer Orient und Altes Testament‹«, in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8 (1992), S. 1389-1393, hier S. 1390ff. 276 Zur Historie des Schöpfungsbegriffes sei bemerkt: Der Begriff Schöpfung ist der Kunstkritik der Antike und des Mittelalters noch fremd; die antike Poetik versteht sich als Theorie des Machens und Herstellens (vgl. C. Dahlhaus: Musikästhetik, S. 9): »Gegenstand jeder Kunst ist das Entstehen, das [.] Herstellen [...] dessen Prinzip [...] im Hervorbringen [...] liegt.« (Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1140a). Im italienischen Trecento entwickelte sich ein Selbstbewusstsein der schöpferischen Persönlichkeit (vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 425 und H.H. Eggebrecht, S. 178); im 19. Jahr-
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eines (er-)zeugenden Hervorbringens, wodurch etwas aus dem Nicht- zum Da-Sein gelangt.278 Dem »Nicht-Sein«, so Nicolaus Cusanus, werde »das Sein mitgeteilt«.279 Jahrhunderte später bezeichnet Thomas Mann in einem seiner Romane das menschlich Schöpferische als »Widerhall des allmächtigen Werderufs.«280 Mit dem Aspekt des Werdens gehen die mythologisch betrachtet zentralen Gedanken von Zeugung und Geburt einher: Die wirkende Kraft des Zeugens wird im Gezeugten greifbar281; der Musiktheoretiker und Komponist Heinrich Schenker benennt diesen, für die Musik fundamentalen Prozess der Zeugung mit dem Terminus Bewegung; diese stelle nicht nur hinsichtlich der Musik, sondern des Vitalen insgesamt ein »Lebensgesetz« dar.282 Mit Schöpfung tritt außerdem ein Verweben von Eigenem und Fremdem, von Einfall und Verarbeitung, von Personalem und Transpersonalem, von
hundert schließlich wurde der Schöpfungsbegriff eng an den Geniebegriff gebunden: »Das Talent arbeitet, das Genie schafft.« (R. Schumann: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, S. 38). Zeitgenössische Künstler bevorzugen den Terminus Arbeit. Schöpfung und schaffen werden in diesem Kapitel bewusst verwendet, um auf den Ursprung und Entstehungsprozess des musikalischen Kunstwerkes zu reflektieren und das Bewegungsmoment zu fokussieren. 277 So sind Begriffe wie »Schöpferkraft« (Paul Klee), »schöpferische Kraft« (Gerhard Albersheim), »kraftbewegter Gestaltungswille« (Ernst Kurth), »Kraft in der Mitte der Person« (Martin Buber) oder »innre Schöpfungskraft« (Johann Wolfgang von Goethe) in der Literatur zu finden. 278 Vgl. M. Buber: Reden über Erziehung, S. 15: »Schöpfertum bedeutet ursprünglich [.] den göttlichen Anruf an das im Nichtsein verborgene Wesen.« 279 Nicolaus Cusanus zit.n. Stammkötter, Franz-Bernhard: »Artikel ›Schöpfung/IV. Mittelalter‹«, in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8 (1992), S. 1399-1405, hier S. 1403. Vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 130: »Schaffen bedeutet Neuschaffen.« 280 Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn. Erzählt von einem Freund, Frankfurt am Main: Fischer 1980, S. 155. Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 434: »[...] der schöpferische Mensch [...] holt das Vergessene und das noch Unrealisierte ins Bewußtsein hinauf [...].« 281 Vgl. H. Mersmann: Angewandte Musikästhetik, S. 25. Vgl. Jakob Böhme zit.n. Köhler, Johannes: »Artikel ›Schöpfung/V. Neuzeit‹«, in: Ritter/Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8 (1992), S. 1405-1413, hier S. 1407 zum schöpferischen Willen Gottes, die in ihm verborgenen Dinge zu gebären. 282 Heinrich Schenker: »Die Kunst der Improvisation I« (1925) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 354.
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Universalem und Individuellem auf; auch in diesen Prozessen der Synthese, die ein ›Drittes‹ erschaffen, offenbart sich die zeugende Bewegung.283 Synthetische Prozesse erweisen sich im Hinblick auf schöpferisches Tun auf einer Metaebene der Betrachtung und ebenso auf konkreter Ebene, z.B. in neurophysiologischer Hinsicht, als prägend.284 Schöpfung, verstanden als Lösung eines (künstlerischen) Problems durch die ›Geburt‹ von etwas Neuem, korrespondiert mit der Auflösung des Zirkels von alltäglicher Wahrnehmung und Konvention.285 Althergebrachtes muss überstiegen, Normen müssen aufgebrochen werden. So konstatiert der Schriftsteller Stefan Zweig, dass einzig das »Über-Maß«, niemals das Maß produktiv werde.286 Der ›partale‹ Aspekt von Schöpfung – daran erfahrbar, wie Kunst Neues generieren und in die Welt schaffen kann – deutet auf den evolutionären Charakter künstlerischen Tuns: Kunstschaffende evozieren einen Weg des Werdens, der sich letztlich in der Gestalt des Kunstwerkes manifestiert. Für dieses Geschehen erweist sich der Vorgang der Wandlung als prägend, analog zum Universum als dynamisches, sich wandelndes System.287 Es kann folglich auch von Prozessen des Umschaffens gesprochen werden, wie es ein veraltetes Synonym von Schöpfung im grimmschen Wörterbuch treffend beschreibt, die kreatives Tun charakterisieren.288
283 Vgl. E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 47ff. und S. 132 sowie J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 424. 284 Stofflich gespeicherte, neuronal kodifizierte Informationen sind diffus über die Großhirnrinde verteilt; Resonanzen und Interferenzen entstehen im Verweben (vgl. F. Vester: Denken, Lernen, Vergessen, S. 103ff.). 285 Vgl. G. Danzer: Merleau-Ponty, S. 222, weiters E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 112 und Ammon, Günter: »Zur Dynamik des Schöpferischen«, in: Wendt, Herbert/Loacker, Norbert (Hg.), Kindlers Enzyklopädie. Sprache, Kunst, Religion. Band VI (= Der Mensch), Zürich: Kindler 1983, S. 430-448, hier S. 430. Vgl. außerdem B. Cullberg: Der Raum und der Tanz, S. 279. 286 Zweig, Stefan: »Geleitwort (Bildnis)«, in: Stefan, Paul: Arturo Toscanini Wien/Leipzig/ Zürich: Reichner 1936, S. 8. 287 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Musik und Natur, S. 11. Lt. Neumann existiert ein »archetypisches Grundbild« einer sich wandelnden Wirklichkeit (vgl. E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 58). In einem Brief an Richard Strauss aus dem Jahr 1912 schreibt Hugo von Hofmannsthal zit.n. J. Kirchhoff: Klang und Verwandlung, S. 51: »Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpferischen Natur [...].« 288 J. und W. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Band 14 (1893), S. 2019.
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Künstlerisch-schöpferische Tätigkeit wurzelt in Impulsen verschiedener Art. Der Subtext musikalischer Werke kann in den Kontext unterschiedlicher Aspekte von Bewegung gestellt werden. Auch bezüglich der Musik hat Johannes Ittens hinsichtlich der Malerei getätigte Aussage, in der schöpferischen Aktivität werde einem »Bewegenden«, einem »Erregenden« Gestalt gegeben, Gültigkeit.289 Im Kunstwerk wird Bewegung umgesetzt und es regt zur Reflexion dieser Bewegung an, indem es Resonanz, d.h. wiederum Bewegung, evoziert.290 Als für den Schaffensvorgang besonders relevant wird im musikästhetischen Diskurs die Gemütsbewegung erachtet. Viele Autoren verorten in ihr der Ursprung musikalischer Äußerung schlechthin; Emotionen gelten somit als schöpferische Ur-Bewegung: Eine innere Bewegtheit drängt nach außen, um in der Produktion aufgelöst zu werden.291 Neben Gefühlen spielt auch die Motorik eine Rolle als Impulsgeberin für den kreativen Prozess. Mimik, Gebärde und Fortbewegung, ob real oder fiktiv, begleiten den Schaffensvorgang und können Einfluss auf den Komponisten und sein Tun haben, wie z.B. von Henry Timmermann beschrieben wird: »[...] die Art, wie er seinen Körper hält, wie er atmet, sich beim Gehen bewegt [...] fließt mit hinein in sein Lied.«292 Weiters kann in der Disposition des Menschen auf seine Mit-Welt – d.h. in der Sozialität als Summe seiner Reaktionen auf gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen der Umgebung – ein prägender Faktor für musikalische Schöpfung erkannt werden.293 Die Geschichte der Musik ist an die Geschichte musikalischer Subjekte in der Welt, wie sie sich ihnen darstellt, gekoppelt. So sind Kunstwerke als Kristallisationen kultureller Praxen einer bestimmten Zeit zu betrachten, denen Aussagen über gesellschaftliche Strukturen inhärent sind. Denn der Künstler wird von äußeren Vorgängen unmittelbar und unausweichlich angeregt – das Kunstwerk
289 J. Itten: Über Komposition, S. 91. 290 Bzgl. des Momentes der Reflexion vgl. B. Waldenfels: Klangereignisse, S. 21 zur Ähnlichkeit der Musik mit der Philosophie, die aus Verwirrung und Staunen geboren werde. 291 Dieser Aspekt wird ausführlich bei H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, S. 7ff. behandelt. Vgl. weiters E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 52. Vgl. J.G. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste II, S. 629: »Alles, was wir durch die Kunst empfinden sollen, muß vorher von dem Künstler empfunden werden.« Und auf die Nachempfindung wird bei C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 166 hingewiesen: »[...] man weiß ganz genau, in welcher Herzstellung [der Komponist] war.« 292 H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, S. 19. 293 Ästhetische Positionen, die damit nicht konform gehen, sind z.B. bei Eduard Hanslick oder Wilhelm Dilthey zu finden.
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spiegelt die Bewegung der Welt wider.294 Die Affektion durch das, was in der Welt vor sich geht und die dadurch ausgelöste innere Bewegtheit mache sich über Musik Luft, so Robert Schumann.295 Welt und Leben in der Kunst zu reflektieren, zählt Rainer M. Rilke also zu den primären Aufgaben des Künstlers.296 In den Kompositionen der Moderne lassen sich in künstlerischen Produktionen – gleichsam ›Ausdrucksfiguren‹ des erlebenden Subjektes – im Besonderen Antworten auf gravierende Veränderungen in der Welt finden. Entwicklungen in Wissenschaft, Technik und Kunst stehen in direkter Wechselwirkung zueinander. Charakterisiert Georg Simmel die Musik als »bewegteste aller Künste«, folgert er schließlich, dass diese, analog zur Bewegung als zentraler Prämisse der Moderne auch die »eigentlich moderne Kunst« sein müsse.297 Die Umbrüche innerhalb der Musik kennzeichnen die neue Beweglichkeit, die in Reaktion auf die äußere Welt entsteht. So diagnostizierte Alois Hába im Jahr 1925: »Das Bedürfnis der [...] Bewegung dringt aus dem musikalischen Ausdruck der Gegenwart ganz deutlich zu unserem Bewusstsein herüber. Die seelische Beweglichkeit des heutigen Menschen ist reger und äußert sich auch durch eine beschleunigte Klangmodulation.«298 Die mit dem Prinzip der Kausalität, wie sie in der newtonschen Naturgesetzen grundgelegt wurde, in Verbindung stehende Tonalität war also zeitgleich mit Umbrüchen im Bereich der Physik ebenso in Auflösung begriffen. Eine Dynamisierung der Lebenswelt, die sich v.a. an technischen Entwicklungen bemerkbar machte, musste sich auch auf die Entwicklung musikalischer Konzepte auswirken: So wurden herkömmliche tonale Grenzen überschritten und neue Formen generiert.299 Der Komponist Felix Draeseke beschreibt diesen Wandel in der Musik aus seiner Perspektive: »Wir begannen im Zeitalter des Verkehrs zu leben [...]. So mußte denn auch die ängstliche Beschränkung auf die Haupttonart, der vorsichtige Gebrauch
294 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 651ff., G. Lukács: Ästhetik I, S. 144 und Ders.: Ästhetik II, S. 239 sowie G. Ammon: Zur Dynamik des Schöpferischen, S. 440. Vgl. A. Schering: Symbol in der Musik, S. 37: »Jede neue Generation schafft sich neue Klangsinnbilder [...].« Vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 194f.: »Jeder einzelne Stil entspricht [.] einer Art und Weise, wie sich der Mensch zur Welt [...] stellt.« Vgl. Wilhelm Kienzl zit.n. Prieberg, Fred K.: Musik und Macht (= FischerTaschenbücher, Band 10954), Frankfurt am Main: Fischer, S. 92: »[...] jeder große Künstler schafft aus sich und aus den Errungenschaften seiner Zeit heraus.« 295 Robert Schumann zit.n. H.-P. Müller: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, S. 84. 296 Vgl. G. Danzer: Merleau-Ponty, S. 218f. zu Rilke und vgl. W. Danckert: Ursymbole melodischer Gestaltung, S. 34 zu Kunst als Ausdruck übergreifender Zusammenhänge. 297 G. Simmel: Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik, S. 189. 298 A. Hába: Von der Psychologie der musikalischen Gestaltung, S. 44. 299 Vgl. C. Gottwald: Neue Musik als spekulative Theologie, S. 20ff.
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weitgehender Modulationen den Schreck vor sogenannter harmonischer Kühnheit, [...] verschwinden.«300 Hinsichtlich der Auswirkung von gesellschaftlichen Transformationen auf Musik in der Postmoderne sei eine Epistemologie des Zufalles erwähnt, die mit neuen Erkenntnissen wie z.B. im Bereich der Atomphysik assoziiert werden kann. Die Aleatorik berührt wesentliche Fragen nach der musikalischen Form, bedeutet eine Integration des Zufalles in die Komposition und eine Erweiterung der Offenheit des Œuvres (ins Unendliche).301 Die schöpferische Tätigkeit des Komponisten weist einerseits subjektive Merkmale auf; es können andererseits für die »situation créatrice« (Jean Paul Sartre) über Divergenzen in den Arbeitsweisen hinweg ähnliche Merkmale eruiert werden. So ist grundsätzlich von einer An- und Erregung des künstlerischen Individuums auszugehen, mündend in die Bewegung des kreativen Prozesses.302 Dieser ist gekennzeichnet von einer Art Schaffens-Rausch, von einem »Taumel« (Arnold Schönberg), der mitverantwortlich dafür ist, dass der Künstler zu höchster Aktivität gelangt.303 Innerhalb dieses ›Zustandes‹ herrscht ein Schaffens-Trieb: Eine, häufig auch als »innerer Zwang« (Arnold Schönberg) empfundene, Un-Ruhe nimmt den Schaffenden in Besitz. Thomas Manns Deskription der zentralen Figur seines Romans »Doktor Faustus« (1947) veranschaulicht diesen Zustand: »Offensichtlich lebte dieser Mensch [.] in einer Hochspannung durchaus nicht rein beglückender, sondern hetzender und knechtender Eingebung, in dem das Aufblitzen und Sichstellen eines Problems, der Kompositionsaufgabe, [...] eins war mit ihrer erleuchtungsartigen Lösung [...].«304 Ein motus animi continuus wirkt als Motor der künstlerischen Arbeit und stellt eine Verbindung zwischen wacher, punktueller Konzentration und stetiger, umherschweifender Regung dar.305 Für die Eigenwahrnehmung des Menschen innerhalb
300 Felix Draeseke zit.n. F. Prieberg: Musik und Macht, S. 90. 301 Vgl. C. Gottwald: Neue Musik als spekulative Theologie, S. 20ff.; zur Konzeption des Schöpferischen, bei der das Endgültige nicht mehr in der Macht des Autors liegt sowie zum Zufall, der in das Kunstwerk eindringt vgl. P. Boulez: Ton, Wort, Synthese, S. 116. 302 Die Verbindung von Bewegung und Erfinden spiegelt sich in altgriech. kinetés (Erfinder) wider. 303 Vgl. G. Ammon: Zur Dynamik des Schöpferischen, S. 435 sowie E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 29 und H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, S. 11. 304 T. Mann: Doktor Faustus, S. 482. 305 Vgl. E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 111ff.; vgl. J. und W. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Band 14 (1893), S. 2032f. zu Schaffenslust und Schaffenstrieb.
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dieses Zustandes können Aspekte herausgegriffen werden, die jeweils transgrediente Erfahrungen inkludieren: Der Mensch erlebt sich als realistisch-fantastischer Zwischenraum, von dem ausgehend sich schöpferische Bewegung im spielerischen Kommen und Gehen der Einfälle entfaltet. Dieses Geschehen ist von einer Durchlässigkeit der Ich-Grenzen markiert, die den Durchgang dieser Bewegungen ermöglicht. Als räumlich diffus definiert sich Schaffen auch über Un- oder Überzeitlichkeit306 ; dies steht mit einem Offenbarungscharakter von Prozess und Werkgestalt in Verbindung.307 Die Anlage der psychischen Struktur des »schöpferischen Menschen« (Erich Neumann) ist gekennzeichnet von Eigenschaften wie Offenheit, Emotionalität, Spontaneität und Wachheit und verweist auf die Ich-Beweglichkeit.308 Diese Beweglichkeit kann hinsichtlich der Entwicklung des künstlerischen Subjektes im Verlauf des Lebens beobachtet werden: Individuelle Wandlung der Persönlichkeit ist eine Grundkonstante, die das Werk entscheidend mitbestimmt.309 Thomas Mann bezieht sich in einer seiner Erzählungen auf genau diese Dynamik und Veränderung, wenn er seinen Protagonisten jenes Künstlertum als groß bezeichnen lässt, dem es beschieden sei, auf allen Stufen des Menschlichen »charakteristisch fruchtbar« zu sein.310 Der Komponist Helmut Lachenmann betont den Akt des Komponierens als Eingriff in das Selbst: Für ihn heißt Komponieren nicht, etwas von sich loszulassen, sondern »sich kommen lassen« und »sich verändern«311 Am Anfang des Komponierens steht die Intuition. Ihr ist als »Verdichtungsprozess« (Wilhelm Furtwängler) der Urgrund des Endproduktes bereits inhärent und aus ihr konstituiert sich ein bislang unbekanntes, Folgeprozesse in Gang setzendes Mo-
306 Vgl. J. Gebser: Ursprung und Gegenwart, S. 424 und G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 182. 307 Vgl. G. Ammon: Zur Dynamik des Schöpferischen, S. 433 und E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 31 sowie ebd., S. 110. 308 Vgl. ebd., S. 40ff. und ebd., S. 109. 309 Vgl. ebd., S. 30 und ebd., S. 110 sowie G. Ammon: Zur Dynamik des Schöpferischen, S. 437. Vgl. Pierre Boulez zit.n. Strohal, Ursula: »Im Gespräch. ›Das Hören ist das Wichtigste‹«, in: Die Furche vom 28.09.2006, S. 9: »[...] Ideen bringt nur die Persönlichkeit.« 310 T. Mann: Der Tod in Venedig, S. 567. Vgl. Schönberg, Arnold: »On revient toujours« (1949), in: Proebst, Die neue Musik (1961), S. 45: »Als ich meine erste Kammersinfonie geschrieben hatte, sagte ich [...]: ›Jetzt habe ich meinen Stil gefunden [...].‹ Aber mein nächstes Werk zeigte eine große Abweichung von diesem Stil [...].« 311 Lachenmann, Helmut: »Über das Komponieren« (1986), in: Ders., Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966-1995, hrsg. von J. Häusler, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 1996, S. 81.
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vens.312 Haftet der Intuition das Moment der ›Empfängnis‹ an, ist die weiterführende Tätigkeit durch Phasen der Nüchternheit und Fleiß geprägt: »Nur die Stellen der Eingebung kommen plötzlich [...], das Übrige aber ist mühevolle Arbeit. [...]«.313 Trotzdem derartige Prozesse mit dem Schöpfungsbegriff gemeinhin weniger assoziiert werden, bleibt er auch ein dieser Phase adäquater Terminus. An die Stelle von Eingebung und Berührung tritt nun eine gerichtete Bewegung, deren Wesen im alten Synonym (be-)wirken (schöpferisch tätig sein) durchscheint.314 Musikschöpfung, wie sie heute verstanden wird, begreift Komposition in einem viel weiteren Sinne als frühere Epochen. Von Bedeutung für das künstlerische Verständnis von komponieren ist die in der Renaissance entstehende Auffassung von Schöpfung, die mit einem sich als künstlerisch tätig begreifenden Subjekt einhergeht.315 Lat. compono bezieht sich sowohl auf den Vorgang des Zusammenstellens, Aneinanderfügens als auch im übertragenen Sinn auf den Vorgang des Verfassens.316 Im Gegensatz zur ›einfachen‹ com-bi-natio317, buchstäblich der »Zweigeburt«, die eine Verbindung oder Vereinigung zweier Elemente bezeichnet, stellt sich die Komposition darüber hinausgehend bereits im ursprünglichen Wortsinn als komplexes Bauen und damit als Geschehen mit künstlerischem Anspruch dar. Komponieren beinhaltet mehrere Bewegungsrichtungen und erzeugt ein Bezie-
312 Vgl. C. Bresgen: Polyästhetisches Denken aus der Sicht des Künstlers, S. 10 zur Wurzel des Begriffes Intuition in lat. intuitus, das Anschauung, An-Blick, »mehr noch geistiges Schauen im Sinne von ›Eingebung‹« bedeutet. Vgl. auch G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 129 zu Intuition, die dem Schaffenden etwas »Neues« und »Wertvolles« sei. 313 Fjodor M. Dostojewskij zit.n. E. Neumann: Der schöpferische Mensch, S. 132. Vgl. T. Mann: Doktor Faustus, S. 320: »Der Einfall, [.] eine Sache von drei, vier Takten, [...] mehr nicht. Alles übrige ist Elaboration, ist Sitzfleisch.« Vgl. Maurice Merleau-Ponty zit.n. G. Danzer: Merleau-Ponty, S. 221: »An neun von zehn Tagen sieht er (der Künstler) um sich herum nur das Elend seines empirischen Lebens und die missratenen Versuche, Reste eines unbekannten Festes. [...].« 314 Vgl. J. und W. Grimm: Deutsches Wörterbuch. Band 14, S. 2012 sowie A. Hába: Von der Psychologie der musikalischen Gestaltung, S. 30. 315 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 47 zur Bedeutung von componere im 12. Jahrhundert, dessen Bedeutung noch nicht in Verbindung mit »schöpferischer Leistung« stand. 316 Vgl. ahd. scaffon (einrichten, ordnen). 317 Vgl. die Bedeutung der Kombinatorik in der Philosophie Ramon Llulls (13. Jahrhundert). Vgl. J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 170 zu »Tabulae combinatoriae« (»Verwechslungstabellen«) der sechzehn Klangfüße, die miteinander kombiniert werden können.
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hungsnetz, ein Gefüge. Johann Mattheson definierte im 18. Jahrhundert Musik über genau diesen Vorgang: Sie sei eine Wissenschaft und eine Kunst, geschickte und angenehme Klänge »klüglich zu stellen« und »richtig aneinander zu fügen«.318 Die den Kompositionsvorgang betreffenden Regeln haben sich die Jahrhunderte hindurch gewandelt; das Bedeutungsfeld von komponieren hat sich erweitert. Trotzdem sind die im primären Wortsinn wesentlichen Prozesse Bauen, Gestaltbildung, Transposition und -formation auch heute die Basis für das Entstehen einer sinnerfüllten musikalischen Ordnung.319 Im Spannungsfeld von Form und Freiheit, das im Kontext spezifischer musikästhetischer Normen zu betrachten ist, bahnt sich die Komposition im Ineinandergreifen von musikalischem Material und äußerer Einwirkung einen Weg in die Autonomie: Einerseits, wie Theodor W. Adorno festhält, konstituieren sich Anweisungen aus dem Material und dessen spezifischer Bewegung; andererseits ist es der Komponist, der eingreift und verändert und sich auf den Prozess von Wirkung und Bewirkung einlässt.320 Das musikalische Werk erwächst aus einem kompositorischen Gestaltungsprozess, dem der stete Wandel inhärent ist und in dem Bewegungen in verschiedene Richtung transferiert werden.321 Die Annahme, künstlerische Arbeit sei mit Beenden des Komponierens vollständig abgeschlossen, erweist sich speziell in der Musik als genuin performativer Kunst als Trugschluss. Zum einen betrifft der dynamische Werkbegriff die Umformung (eigener) bereits existenter Werke: work in progress. In der Zeit der Romantik, zwischen Johannes Brahms und Anton Bruckner, ist eine besondere Häufung von Redigierung an Autografen fest-
318 J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 5 (§15). Vgl. J.C. Pepusch: A treatise on harmony, S. 1 zum Komponieren als Anweisung »how to make use of Concords and Discords in a proper manner [...].« Vgl. M.d. Montaigne: Essais, I,2: »Die musikalischen Schöpfungen folgen den Regeln der Kunst [...].« 319 Vgl. J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 121ff. zur Erfindung (inventio). Vgl. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 94f. zum »Schaffen des Tonsetzers«, das ein »stetes Bilden, ein Formen in Tonverhältnissen« sei. 320 T.W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, S. 40ff.; zur Elastizität des Materials vgl. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 65. Zum komponierten Werk als »Konkretion und zugleich Individuation eines geschichtlichen Systems musikalischer Normen« vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 650. 321 Vgl. H. Rösing: Wechselwirkungen zwischen der Herstellung und Aufführung von Musik, S. 191. Dass sich der Schaffensprozeß nicht im Einfall erschöpft, wird bei G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 129 erwähnt. Zur kontinuierlichen Veränderung als Bestandteil des Kunstwerkes vgl. G. Becking: Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 8f.
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stellbar, weshalb für viele Stücke mehrere Fassungen existieren.322 Bereits in diesem Sinne bekundet das Kunstwerk seine Flexibilität und seinen Eigen-Sinn, der den Künstler mehrmals herausfordern kann. Zum anderen betrifft eine Dynamik des Werkes das performative Moment der Musik: Nicht nur in bestimmten Kompositionen der Gegenwart, die besonders viel Spielraum inkludieren, ist die Darbietung gleichzeitig ein postkompositorischer Eingriff in das Werk. Auch bei Komponisten der Vergangenheit, die eigene Werke spontan variiert haben, war diese Form des Weiter-Komponierens stets geübte Praxis.323 Für performative Künste gilt grundsätzlich, dass ihre Werke als Gebilde per se in Bewegung sind. Ihre Existenz ist daran festzumachen, dass sie im Hier und Jetzt aufgeführt werden. Novalis bedient sich der Diktion vom »(gebildeten) Flüssigen«324, woraus folgt: Realisieren ist gleichzeitig Mit-Konstruieren.325 Stefan Zweig hält fest, dass im orchestralen Raum nichts für immer getan sei und jede Vollendung von Werk zu Werk, von Stunde zu Stunde wieder neu errungen werden müsse.326 In diesem Sinne muss Interpretation – auch Jahrhunderte nach der Entstehung des Werkes oder gerade aufgrund der zeitlichen Distanz – als selbständiger Akt der ›Re- sowie ›Co-Kreation‹327 begriffen werden, der nicht lediglich handwerkliche, sondern auch künstlerische Tätigkeit ist.328
322 Vgl. H. Klug: Man spielt nicht mit den Fingern, S. 37: »Nur allzu reizvoll wäre es heute, [...] Mozart [.] beim Spiel eines seiner Klavierkonzerte zu belauschen. Mit welcher Freude er spontane Veränderungen eingebracht haben mag, kann man nur erahnen [...].« 323 Die Generalbass-Praxis (Basso continuo) des Barocks ist ein Beispiel für eine Struktur, die spontane Variationen mit sich bringt. 324 Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 142 (Frag. 14). Vgl. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie (= Edition Suhrkamp, Band 28), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 10f. zur technischen Reproduktion, der es am einmaligen Dasein des Kunstwerkes mangelte. 325 Vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 135 zur wichtigen Rolle des Wiedergebenden als »Mitschaffenden am Kunstwerk«. Vgl. auch A. Schutz: Making Music together, S. 207: »By his re-creation of the musical process the performer partakes in the stream of consciousness of the composer as well as of the listener.« 326 S. Zweig: Geleitwort (Bildnis), S. 14. 327 Zur Reproduktion als erneute »Verlebendigung« vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 279 und zu Musikern als »Mitschaffende« und als »nachschaffende Künstler« vgl. S. Zweig: Geleitwort (Bildnis), S. 8. 328 Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 305. Vgl. Harnoncourt, Nikolaus: »Partnerschaft im Zeichen der Musik«, in: Ders., »Töne sind höhere Worte«. Gespräche über romantische
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Exkurs: Sphärenharmonie Der kausale Zusammenhang von Bewegung und Klangerzeugung ist neben dessen konkreter musikpraktischer Bedeutung auch auf makrokosmischer Ebene als Topos der Sphärenharmonie auffindbar. Die Idee einer Weltharmonie (musica mundana) zählt zu einem alten musiktheoretischen und -philosophischen Gedankengut; sie lässt sich bis zu den Pythagoreern zurückverfolgen, wurde von verschiedenen Denkern der Antike und des Mittelalters verbreitet und galt unter den Humanisten als Allgemeingut.329 Analog zur basalen Erfahrung, dass die Bewegung eines Objektes Geräusche hervorbringt, existierte diese Vermutung auch in Bezug auf die Himmelskörper. Es wurde angenommen, die Planetensphären stehen in harmonischen Zahlproportionen zueinander in Beziehung und darüber spekuliert, welche Klänge dadurch erzeugt werden. Als für eine Manifestation der musikalischen Harmonie wesentlich wurde die aus den Bewegungen entstehende Ordnung der Gestirne betrachtet330 , häufig metaphorisch als »(Chor-)Tanz« bezeichnet.331 Platons Text »Über die Spindel der Notwendigkeit« aus seinem Werk »Politeia« kann als Ausgangspunkt für die weitreichenden und dementsprechend divergierenden Positionen im musiktheoretischen Diskurs betrachtet werden.332 Das Ur-Motiv der Sphärenharmonie scheint in seiner Schilderung einer konstanten Kreisbewegung einer Spindel auf, welche die Himmelssphären in Umdrehung versetzt und damit die Stimme jeder auf
Musik, hrsg. von J. Fürstauer, St. Pölten/Salzburg: Residenz Verlag 2007, S. 38-46, hier S. 44: »Musik ist ja nicht einfach nur schön. Und als reproduzierender Künstler habe ich genau mit diesem Problem zu tun.« 329 Vgl. H. Kayser: Akróasis, S. 43 zum Begriff Sphärenharmonie. Zur Geschichte der Weltharmonie vgl. weiters C. Berktold: Sphärenharmonien, S. 14f. sowie Haase, Rudolf: »Kepler und der Gedanke der Weltharmonie«, in: OÖ Musealverein (Hg.), Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins, Gesellschaft für Landeskunde. Band 117/1, Linz: Oberösterreichischer Musealverein 1972, S. 213-222, hier S. 214. Vgl. H. Pfrogner: Musik, S. 96 zur Vermischung der Vorstellung der Sphärenmusik mit der Idee des »Engelgesanges« bei christlichen Denkern des Mittelalters. 330 Vgl. F. Beinroth: Musikästhetik von der Sphärenharmonie bis zur musikalischen Hermeneutik, S. 18. Vgl. Boëthius: Fünf Bücher über die Musik, I,2 (Vorrede): »So wird dennoch nicht eine so unendliche schnelle Bewegung so grosser Körper überhaupt keine Töne hervorbringen, zumal da die Bahnen der Gestirne durch eine so grosse Harmonie verbunden sind [...].« 331 Zum »Tanz der Gestirne« vgl. Aristoteles: Über die Welt 21,15 sowie Euripides: Ion (= Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanarum Teubneriana), hrsg. von W. Biehl, Leipzig: Teubner 1979, 1079 und G.T. Fechner: Über den Tanz, S. 1. 332 Vgl. die antike Hauptquelle: Platon: Politeia, X,616 (»Über die Spindel der Notwendigkeit«). Vgl. auch Platon: Timaios, 36b und Cicero: De re publica, VI (»Somnius Scipionis«).
264 | B EWEGUNG IN DER M USIK den Kreisen stehenden Sirenen erklingen lässt, woraus eine achtstimmige Harmonie entstehe.333 Besondere Anziehungskraft sei durch die sich von der irdischen, von der instrumentalen und vokalen Musik signifikant unterscheidenden Qualität gegeben. So soll die Wahrnehmung der Harmonie der Sphären, ergo der nach vollkommenen musikalischen Gesetzen geordneten Bewegung ›unbeschreiblichen Genuss‹ bereiten.334 Doch wird diese Musik als auf Erden nicht wahrnehmbar erachtet, wie Cicero den Scipio berichten lässt: »Dieser Ton [.] ist durch die überaus rasche Umdrehung des ganzen Weltalls so gewaltig, daß ihn die Ohren der Menschen nicht fassen können [...].«335 Die Musik auf Erden wird als Abbild dieser unhörbaren Musik, die sich als geistiges Gesetz fassen lässt, verstanden. So weit die Vorstellung einer Sphärenharmonie zurückreicht, so spärlich sind die vorhandenen Beschreibungen, so widersprüchlich die astronomischen Erklärungsmodelle. Kritische Stimmen, die seit der Antike existieren, wurden im späten Mittelalter mit zunehmendem empirischen Wissen lauter.336 Johannes Keplers Bestreben war es, die musikalische Harmonie in den Bewegungen der Gestirne endlich auf naturwissenschaftlicher Basis in Form von Musikgesetzen nachzuweisen337 , was ihm mit der Darstellung harmonikaler Beziehungen in Perihelien und Aphelien (Vergleich der Winkelgeschwindigkeiten) nur scheinbar gelungen ist, insofern als er seine Ergebnisse offensichtlich im Nachhinein optimierte.338 Die Sphärenmusik der Antike – ein ›platonischer Traum‹? Die Distanz zu Keplers problematischen Berechnungen muss nicht unbedingt eine Abkehr von der ideellen Bedeutung sinnvoller analoger Proportionen in der Musik, im Menschen und der Natur, die auf eine ›Harmonie der Welt‹ hinweisen,
333 Vgl. Platon: Politeia, X,616b und 620d. Vgl. Cicero: De re publica, VI: »In neun [...] Kugeln ist alles verbunden. Der eine von ihnen ist [...] der höchste Gott selber [...]. An ihm sind angeheftet jene ewig kreisenden Bahnen der Sterne. Unter ihm liegen sieben, die sich rückwärts drehen in entgegengesetzter Bewegung zum Himmel.« 334 Vgl. z.B. Philo von Alexandria: »Über die Weltschöpfung« zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 59f. 335 Cicero: De re publica, VI. Vgl. Robert Fludd: »De makrocosmi historia« (1617) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 162 zum offenen Ohr »geistiger Hörer«, das von dieser »Musik« berührt werde. Und vgl. Leoš Janáek L. zit.n. H.-P. Müller: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, S. 44: »Den Flügelschlag der Sphärenharmonie will ich spüren.« 336 Vgl. C. Berktold: Sphärenharmonien, S. 14f.; vgl. weiters Platon: Timaios, 34a-37c. 337 Vgl. Kepler, Johannes: Harmonices mundi, V (Anhang): »Ich suche Harmonien nur in Bewegungen.« 338 Vgl. die harmonikale Analyse der »Aphel-Perihel-Distanzen« durch Werner Schulze im 20. Jahrhundert, deren Ergebnis eindeutig negativ ist; fast vollständig sei eine »kakophone Orientierungslosigkeit« aufzufinden.
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zur Folge haben.339 Weiters zeigt sich die Idee der Sphärenharmonie auch nach der Zeit des Humanismus als Faszinosum für den Menschen, wie nicht zuletzt ihr Fortleben als häufig zitierter Gemeinplatz in den Künsten zeigt.340 In neueren Forschungen, abseits tradierter Erklärungsmodelle, werden darüber hinaus Daten vorgestellt, die durchaus auch aus wissenschaftlicher Perspektive auf eine ›Musik‹ der Sphären hinweisen: Der deutsche Physiker Harmut Warm stellt fest, dass sinnvolle Zahlproportionen in den Beziehungen der Bewegungen unterschiedlicher Planeten aufzufinden sind, welchen den Zahlproportionen musikalischer Intervalle gleichen. Basierend auf modernen astronomischen und mathematischen Algorithmen werden Figuren einer kosmischen Strukturierung sichtbar. Dies betrifft Distanzen, Geschwindigkeiten und Perioden der Verbindung von Planeten sowie Rotationen von Sonne, Mond und Venus. Diese Figuren erscheinen v.a. in jenen Momenten, in welchen die Verbindungen in geometrischen Beziehungen zueinander stehen.341
2.8 V ISUALISIERUNG Visualisierung von Musik steht in einem weiten Feld unterschiedlicher Kollaborationen von Wahrnehmungsmodi, Künsten oder Medien und betrifft Fragen nach Strukturanalogien innerhalb der Transformation.342 Sowohl bildende Künstler als auch Musiker oder Choreografen suchen nach Konzepten, mit denen gegenseitige Bezugnahmen und Übersetzungen realisiert werden können. Dementsprechend divergente Entwicklungsstränge und Aspekte von Visualisierung haben sich herausgebildet, von denen im Folgenden unter dem Gesichtspunkt der Bewegung einige einer näheren Betrachtung unterzogen werden sollen. Das Phänomen Bewegung macht sich innerhalb dieser Thematik als übergreifendes, aber spartenspezifisch umgesetztes Strukturprinzip, als bewusst eingesetztes körperliches Medium, als sichtbar werdendes musikimmanentes physikalisches Ge-
339 Vgl. H. Kayser: Akróasis, S. 44 zur Bedeutung harmonikaler Proportionen als seelische Wirklichkeiten; dies stehe über einer praktischen Nutzanwendung oder bloßen Formulierung. 340 Vgl. P. Benary: Musik und Zahl, S. 10. Vgl. z.B. Dante Alighieri: »La divina commedia« (1472), Wolfgang Amadeus Mozart: »Il sogno di Scipione« (KV126), Paul Hindemith: »Die Harmonie der Welt« (1957), Hermann Hesse: »Das Glasperlenspiel« (1943), Thomas Mann: »Doktor Faustus« (1947) oder G. Battistelli: »Il Sogno di Keplero« (1990). 341 H. Warm: Signature of the celestial Spheres, S. 4. 342 Vgl. Barthelmes, Barbara: »Musik und Religion im russischen Symbolismus«, in: La Motte-Haber, Helga de (Hg.), Musik und Religion, Laaber: Laaber 1995, S. 137-162, hier S. 155.
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schehen und schließlich als Prozess der Überschreitung und Übersetzung in der Visualisierung selbst bemerkbar. Der Option einer Synthese oder Translation künstlerischer Ausdrucksformen, die ursprünglich entweder im Bereich des Visuellen oder des Auditiven beheimatet sind, geht eine Sicht auf den Menschen als multisensorisch und offen-reflexiv angelegtes Wesen voraus.343 Die Sinne können als »Kommunikationsweisen« (Erwin Straus) bezeichnet werden; d.h., sie kommunizieren mit-einander und übersetzen sich in-einander; sie spielen in unterschiedlicher Art und Weise »auf verschiedenen Registern« (Bernhard Waldenfels).344 Der menschliche Leib, wie ihn Maurice Merleau-Ponty ausgehend von der aristotelischen Idee eines sensus communis begreift, ist lebendiges synergetisches System, in dem die Sinne koinzidieren und dessen Fundament die »virtuelle Bewegung« ist.345 Heteromodale Wahrnehmung, also eine Verschmelzung verschiedener Sinnessphären, ist als allgemeine menschliche Disposition zu verstehen, die zwar mit dem (neurologischen) Minderheitenphänomen Synästhesie nur mehr marginal zu tun346 , jedoch auf gleichem Ursprung beruht. Bei Synästhesie im engen Sinn handelt es sich um eine unfreiwillige, unwillkürliche und emotional-noetische Wahrnehmung, bei der die Stimulation des einen Sinnes eine Empfindung in einem anderen evoziert.347 Der Neurologe Richard Cytowic stellt die These auf, Synästhesien seien normale Gehirnfunktionen aller Menschen; diese für gewöhnlich unbewussten Gehirnprozesse
343 Vgl. Faßler, Manfred: »Randbemerkung zu Synästhesie und Synpoiesis«, in: Kalisch, Volker (Hg.), Synästhesie in der Musik - Musik in der Synästhesie. Vorträge und Referate während der Jahrestagung 2002 der Gesellschaft für Musikforschung in Düsseldorf, Essen: Die Blaue Eule 2004, S. 85-96, hier S. 85 sowie Hurte, Michael: Musik, Bild, Bewegung. Theorie und Praxis auditiver-visueller Konvergenzen (= Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik, Band 32), Bonn/Bad Godesberg: Verlag für systematische Musikwissenschaft 1982, S. 70. 344 B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 58. 345 Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966, S. 274. Vgl. ebd.: »Mit der Behauptung, ich sehe einen Ton, will ich sagen, daß die Tonschwingung ein Echo in meinem ganzen sinnlichen Sein findet [...].« Vgl. auch Aristoteles: De anima, 418a und 425a. 346 Vgl. Auhagen, Wolfgang: »Systematische Grundlagen der Synästhesie«, in: Kalisch, Synästhesie in der Musik - Musik in der Synästhesie (2004), S. 52-57, hier S. 56 sowie R. Cytowic: Farben hören, Töne schmecken, S. 97. 347 D.h., Töne werden z.B. als Farben wahrgenommen. Vgl. R. Cytowic: Farben hören, Töne schmecken, S. 129 zur synästhetischen Wahrnehmung, die mehr einer Empfindung als einer Vorstellung gleiche. Vgl. außerdem ebd., S. 67 und ebd., S. 95f.
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werden aber nur bei bestimmten Personen dem Bewusstsein zugänglich gemacht.348 Ein pathisch, psychophysisch undifferenziertes Moment der Wahrnehmung im Allgemeinen und Synästhesien im Speziellen, stehen – phylo- und ontogenetisch betrachtet – am Beginn der Entwicklung des Menschen und sind bei Kunstschaffenden gehäuft aufzufinden.349 Über die enge Definition von Synästhesie hinausgehend befindet sich Kunst in einem Spannungsfeld intermodaler Verknüpfungen350; die Pluralität künstlerischer Ausdrucksform, so Georg Lukács, bezeichne ein »ästhetisches Urfaktum«351, worauf im 19. Jahrhundert (wieder) vermehrt Bezug genommen wurde, so z.B. in der Kritik an der »Isolierung der Einzelkünste« (Daniel Zwiener).352 Auch Friedrich Nietzsche stand der »modernen Unart« einer Konstruktion absoluter Künste skeptisch gegenüber: »Wir sind leider gewöhnt, die Künste in der Vereinzelung zu genießen: Wahnsinn der Gemäldegalerie und des Konzertsaals. [...]. Es fällt alles auseinander. Es giebt keine [...] Gebiete, wo die Künste zusammengehen./ Jede Kunst hat ein Stück des Weges allein und ein andres wo sie mit den andern Künsten zusammengeht.«353
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat die Erforschung der Zwischenräume künstlerischer Sparten zunehmend in den Vordergrund und wurde zu einem neuen ästheti-
348 Vgl. ebd., S. 201 und S. 98 sowie A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 107. 349 Vgl. ebd., S. 142 und S. 202 sowie M. Hurte: Musik, Bild, Bewegung, S. 42ff. und H.d. La Motte-Haber: Grenzüberschreitung als Sinngebung in der Musik des 20. Jahrhunderts, S. 232ff.; zur Häufung der Synästhesien bei Kindern vgl. O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 205. Als Beispiele für Künstler können Alexander N. Skrjabin, Wassily Kandinsky, Arthur Rimbaud und Olivier Messiaen genannt werden. 350
Vgl. M. Hurte: Musik, Bild, Bewegung, S. 104ff. zu Konvergenzen der Künste.
351 G. Lukács: Ästhetik II, S. 43. 352 Vgl. Brockmeier, Jens/Trichel, Hans-Ulrich: »Worte, Klänge, Farben. Erkundungen in ›Synaesthesia‹«, in: Henze, Hans Werner (Hg.), Die Chiffren. Musik und Sprache (= Neue Aspekte der musikalischen Ästhetik, Band 4), Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1990, S. 71-120, hier S. 99. 353 F. Nietzsche: Nachgelassene Fragmente, S. 22 (1 [45]). Vgl. Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 188 (Frag. 1): »Eine Oper, ein Ballett sind [...] plastisch poëtische Koncerte – Gemeinschaftliche Kunstwerke mehrerer plastischer Instrumente.«
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schen Prinzip, das den Kunstbegriff maßgeblich verändert hat.354 Künstler favorisierten und thematisierten die Bewegung an und zwischen den Enden medialer Ordnungen im bewussten Überschreiten und Verschieben der Grenzen.355 Aus künstlerischer Perspektive fällt auf, dass die sensorischen Prozesse Sehen und Hören in der Kunst besonders häufig miteinander in Verbindung gebracht werden.356 Visualisierung von Musik – der Weg vom Hör- zum Sichtbaren – geschieht infolge von Bezugnahmen visueller Künste auf akustische einerseits und akustischer auf visuelle andererseits. So kommt es innerhalb der bildenden Kunst immer wieder zu direkten Zugriffen auf die Musik – nicht zuletzt auch aufgrund der Absicht, die eigene Gattung weiter zu entwickeln. Von Interesse sind hier v.a. jene Versuche, die sich darauf konzentrieren, musikalische Prinzipien auf die Malerei zu übertragen. Die Anfang des 20. Jahrhunderts vermehrt stattfindende theoretische Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich verschiedene künstlerische Grammatiken zueinander in Beziehung setzen lassen357, fokussierte auf den möglichen Transfer struktureller Gestaltungsmittel wie Zeitstruktur, Mehrstimmigkeit, Rhythmus, Harmonie und Proportion.358 So hält beispielsweise Johannes Itten in einem Tagebucheintrag fest: »Proportion ist die Ebene, auf der sich Musik und Malerei unmittelbar berüh-
354 Vgl. Grönke, Kadja: »Das Notenbild als Bild«, in: Kalisch, Synästhesie in der Musik Musik in der Synästhesie (2004), S. 132-147, hier S. 141 sowie H.d. La Motte-Haber: Grenzüberschreitung als Sinngebung in der Musik des 20. Jahrhunderts, S. 246. 355 Vgl. U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 190. 356 Vgl. J. Brockmeier/H.-U. Trichel: Worte, Klänge, Farben, S. 92 und R. Cytowic: Farben hören, Töne schmecken, S. 80. Vgl. das Kapitel »Farbe und Ton« bei G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 173ff.; zur Diskussion der Verbindung von Hören und Sehen innerhalb der Musikästhetik vgl. H.d. La Motte-Haber: Grenzüberschreitung als Sinngebung in der Musik des 20. Jahrhunderts, S. 245f. und zu Auge und Ohr in ihrem sozialen Bedeutungsunterschied vgl. den »Exkurs über die Soziologie der Sinne« bei Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (= Georg Simmel Gesamtausgabe, Band 11), hrsg. von O. Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 722-742. 357 Zu musikalischen Prinzipien als Bindeglieder zwischen den Künsten vgl. Revers, Peter: »Historische Aspekte interkultureller Wahrnehmung als Modell polyästhetischer Erziehung«, in: Allesch/Krakauer, polyaisthesis (1987), S. 49-53, hier S. 49. 358 Auch bei H. Kayser: Akróasis, S. 38 wird auf die Möglichkeit anschaulicher Darstellung jeder Proportion und direkter Transposition des Auditiven in das Visuelle hingewiesen. Bildende Künstler, die Bezüge zur Musik, v.a. zu jener der Moderne, hergestellt haben sind Johannes Itten, Ferdinand Léger, Robert Delaunay sowie Paul Klee.
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ren.«359 Paul Klee, der in Künstlerkreisen neben seiner Tätigkeit als bildender Künstler auch für seine musikalische Aktivitäten bekannt war, übersetzte z.B. das kontrapunktische Nach- und Zueinander der einzelnen Stimmen in seinen »FugenBildern« in ansteigende Farbstufungen und unterschiedliche Formcharaktere.360 Auch der Bildhauer Heinrich (Henrik) Neugeboren widmete sich dem Thema der Fuge und realisierte in seiner plastischen Darstellung »Bach-Monument« (1928) einige Takte der bachschen »Es-Moll-Fuge« mit der Intention, den raumzeitlichen Verlauf der Musik zu visualisieren und infolge dessen zu verdeutlichen.361 Neben der Musikvisualisierung durch Kooperationen der Künste stellt Visualisierung bereits auf rein musikalischer Ebene ein wesentliches Moment dar: Der Akt des Musizierens ist sichtbar, genauso wie die Notation von Musik durch das Schriftbild.362 Eine bewusste Inklusion zusätzlicher Medien, die über die Notwendigkeit der reinen Klangerzeugung hinausgehen – sei es Körperbewegung, seien es technische Apparate, sei es Farbe oder Licht – gehen mit der Intentionen einher, die Wahrnehmung von Musik zu erweitern, ihr Wesen in anderer Form zum Ausdruck bringen und diese Erweiterung wiederum auf das Klingende rückwirken zu lassen.363 Prozesse der Visualisierung durch Bewegung werden vielfach als Dekodierung oder als Verdichtung musikalischer Inhalte verstanden.364 Dabei handelt es sich jedoch nicht um idente Abbildungen. Es geht vielmehr darum, sinnesspezifisch
359 Itten, Johannes: Tagebücher. Stuttgart 1913-1916. Wien 1916-1919. Abbildungen und Transkriptionen, hrsg. von E. Badura-Triska, Wien: Löcker 1990, S. 366 (Eintrag vom 28.07.1919). 360 Vgl. Lyonel Feininger zit.n. H. Düchting: Paul Klee, S. 16: »[...]. Malt Klee? Da wäre ich neugierig! Daß er Geige spielt, scheint mir selbstverständlich.« 361 Vgl. Heinrich Neugeboren zit.n. Poos, Heinrich: »Henrik Neugeborens Entwurf zu einem Bach-Monument (1928). Dokumentation und Kritik«, in: Schmierer, Elisabeth/ Fontaine, Susanne/Grünzweig, Werner (Hg.), Töne - Farben - Formen. Über Musik und die Bildenden Künste. Festschrift Elmar Budde, Laaber: Laaber 1995, S. 45-57, hier S. 48. Vgl. weitere Werke wie Robert Strübin: »Musikbild J.S. Bach: ›Große Fuge gMoll für Orgel‹« (1957) oder Luigi Veronesi: »Chromatische Visualisierung J.S. Bach ›Kontrapunkt Nr. 2‹ aus ›Kunst der Fuge‹« (1971). 362 Vgl. engl. to see a concert. 363 Vgl. J. Brockmeier/H.-U. Trichel: Worte, Klänge, Farben, S. 92f. und D. Zwiener: Als Bewegung sichtbare Musik, S. 9. 364 Vgl. Arnold Gehlen zit.n. Röthig, Peter: Rhythmus und Bewegung. Eine Analyse aus der Sicht der Leibeserziehung (= Beiträge zur Lehre und Forschung des Leibeserziehung, Band 28), Schorndorf bei Stuttgart: Hofmann 1967, S. 62: »[...] Bewegung verdichtet die Musik an einem sichtbaren Ort.«
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übergeordnete Qualitäten – im aristotelischen Sinne sind dies Bewegung, Zahl und Gestalt – erkennbar werden zu lassen.365 Im Folgenden werden unterschiedliche Formen der Visualisierung von Musik, ihre Art der Erscheinung (ergo mediale Gebundenheit) und das facettenreiche Auftreten damit einhergehender Bewegungsphänomene betrachtet. Visualisierung ist dabei fast immer an ein performatives Element gebunden. Mit Ausnahme der Notation, die in erster Linie Abbildcharakter hat, jedoch Anweisungen zur Handlung in sich trägt, wird Musik in den folgenden Beispielen v.a. als Bewegung in Zeit und Raum sichtbar. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts gelang es dem deutschen Physiker Ernst Chladni, dem Tonphänomen Schwingung sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Mit seinen Forschungen auf dem Gebiet der Akustik zeigte er, dass Töne auch stoffliche Substanzen ergreifen und formen. Mittels eines Violinbogens wurde eine dünn mit Sand bestreute Glasplatte in Schwingung versetzt; in Bereichen starker Vibration wurde der Sand weggeschleudert, um sich entlang von Linien zu sammeln: Es entstanden in sich bewegte Muster. Chladnis Experimente und die damit verbundenen Ergebnisse, durch die eine direkte Beziehung von hörbarem Klang und sichtbarer Form nachgewiesen wurde, stießen im gelehrten Diskurs der Zeit auf reges Interesse; so scheint sein Name unter anderem bei Johann Wolfgang von Goethe, Ludwig van Beethoven oder Johann Gottfried Herder auf.366 Erst im nächsten Jahrhundert wurden Chladnis Forschungen wieder reaktiviert. Der Schweizer Arzt Hans Jenny dehnte das Experiment auf flüssige Medien – und damit von der zwei- auf die dreidimensionale Ebene – aus, tauschte den Geigenbogen gegen einen Frequenzgenerator und setzte neben Einzeltönen auch Intervalle ein. Als Fazit stellte sich, dem jeweils verwendeten Material entsprechend, eine Vielzahl an unterschiedlichen Phänomenen ein, für die Jenny unter anderem den Begriff des »kymatischen Balletts« prägte.367 In direkter Nachfolge forscht derzeit Alexander Lauterwasser zu den durch Chladni und Jenny in Gang gesetzten Fragen.
365 Vgl. Aristoteles: De anima 418a und 425a. Vgl. W. Auhagen: Systematische Grundlagen der Synästhesie, S. 56. Zu Emile Jaques-Dalcrozes These, Sehen würde zum wahren Hören anregen vgl. D. Zwiener: Als Bewegung sichtbare Musik, S. 92. Und vgl. Robert Schumann zit.n. K. Grönke: Das Notenbild als Bild, S. 132: »Dies verhüllte Genießen der Musik ohne Töne hat etwas Zauberisches.« 366 Vgl. Canisius, Claus: Goethe und die Musik, München/Zürich: Piper 1998, S. 150f.; vgl. Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 194 (Frag. 25): »Man (zwingt) [.] den Schall sich selbst abzudrucken – zu chiffrieren – auf eine Kupfertafel zu bringen.« 367 Vgl. Hans Jenny: »Kymatik. Wellen und Schwingungen mit ihrer Struktur und Dynamik« (1974).
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Er zeigt, dass basierend auf bestimmten Zahlordnungen klar strukturierte, geometrisch Formen entstehen. Das Schwingungs-Bild ist unmittelbare Signatur des tönenden Prozesses von Gliederung und Gestaltung auf elementarer musikalischer Ebene.368 Lauterwasser konzentriert sich auf das Medium Wasser, das er in flachen Gefäßen von unten in Vibration versetzt und von oben beleuchtet. Emphatisch beschreibt er die Reaktion des Wassers auf die Musik: »Es ist faszinierend [...], wie schnell [...] das [.] Wasser [...] auf den ständigen Fluss der Töne [...] antwortet, wie leicht es sich bewegen lässt [...] und auf diese Weise eine nahezu unerschöpfliche 369 Fülle vielgestaltigster Formen, Muster und Bilder hervorzaubert.« Ein weiterer der Musik entstammender Aspekt des Visuellen ist die Notation. Sie stellt für das musikalische Werk, wie es seit der Neuzeit begriffen wird, ein Konstituens dar370, in welchem akustische, visuelle und kinästhetische Komponenten ineinander wirken. Dem Schaffensvorgang bedeutet Verschriftlichung primär ein temporäres Sichern musikalischer Gedanken, sekundär einen Impuls für weiteres Arbeiten.371 Klangliche Qualitäten sowie Distanzen und Relationen erfahren eine Speicherung; intramusikalische Parameter wie Schwingung, Melodie, Rhythmus und Form betreffende Dimensionen von Bewegung werden in die Notation aufgenommen und können vom Instrumentalisten reproduziert werden, weil sich in ihnen eine Anweisung für eine spezifische Spielbewegung kundtut.372 Musikschrift ist seit ihrer Entstehung einem ständigen Wandel unterworfen und spiegelt kulturelle Entwicklungen wider; ihre Gestalt veränderte sich analog zu gesellschaftlichen Umbrüchen, zum jeweiligen Status quo musikalischer Theorie und Praxis sowie zum Werkverständnis.373 Damit einhergehend können verschiedene
368 Vgl. Lauterwasser, Lauterwasser: Wasser Klang Bilder, Aarau/München: AT, S. 75. 369 Ebd., S. 107. 370 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 39. 371 Vgl. P. Hindemith: Übungsbuch für elementare Musiktheorie, S. 12 und H. Rösing: Wechselwirkungen zwischen der Herstellung und Aufführung von Musik, S. 193. Zur Notation als schöpferischer Umsetzung theoretisch erfasster Eigenschaften des musikalisch Geltenden vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 39. 372 Im Erlernen und Anwenden der Notenschrift wirken also akustische, visuelle und kinästhetische Komponenten ineinander (vgl. D. Zwiener: Als Bewegung sichtbare Musik, S. 77). Vgl. Elschek, Oskár: »Verschriftlichung von Musik«, in: Bruhn/Rösing, Musikwissenschaft (1998), S. 253-268, hier S. 263 zur Musikschrift als statisches Hilfsmittel, mit dem Klang und Bewegung erhalten werden können. Und vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 100: »[...] durch musikalische Schrift entsteht eine innige Wechselbeziehung zwischen Komposition und Tun [...].« 373 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 56f. und S. 401 sowie R.M. Schafer: Klang und Krach, S. 164.
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Phänomene von Bewegung in der Abbildung beobachtet werden. Erste Versuche einer Verschriftlichung von Musik sind vor der ersten Jahrtausendwende anzusetzen; sie stellen je nach Überlieferungsmodi unterschiedliche memoriale Hilfeleistungen dar, um signifikante melodische Bewegungen zu reproduzieren.374 Die Grundlage der sich im 11. Jahrhundert fixierten figuralen Aufzeichnungssegmente (Neumen) ist die Handbewegung des Kantors, die den Tonhöhenverlauf und die Tonabstände markiert. Der Ursprung der Neumen kann in diesem Sinne als somatisch, als haptisch bezeichnet werden, was auch die etymologische Herkunft in altgriech. neuma (Wink) und pneuma (Geist, Hauch) durchscheinen lässt.375 Neumen repräsentieren auf horizontaler Ebene der Musikschrift den raumzeitlichen Verlauf der Bewegung, die Gruppierung von Tönen und Nuancen des Vokalen. Sie sind synthetisch-perzeptive Symbole, die den Bezug der Töne untereinander und die Gegenwart des Geschehens fokussieren.376 Die Entstehung der Modalnotation im 12. und 13. Jahrhundert verlief parallel zum kulturellen Wandel außerhalb der Musik, wie er sich im Bau bedeutender Kathedralen oder in der Ästhetisierung der Liturgie äußerte; Hans Heinrich Eggebrecht hebt die Vernetzung dieser Ereignisse besonders hervor.377 Wesentlicher Entwicklungsschritt in der Aufzeichnung von Musik ist die Differenzierung der Relationen von Längen und Kürzen in einfache Zahlproportionen. Ligaturen kennzeichnen jeweils eine Proportion und ermöglichten die Notation von Rhythmus.378 In der Mensuralnotation, die bis ins 16. Jahrhundert Verwendung fand, wurde die Darstellung der konkreten Dauer über die spezifische Figur des einzelnen Schriftzeichens determiniert. Blieb die Form einer kontextuellen Notation und damit die Bedeutung der Stellung der Note im Zusammenhang zwar hier noch erhalten, so wurde der musikalische Verlauf in dieser objektiveren, eindeutigen Darstellung einer Quantifizierung und Individualisierung unterzogen. Das Klangbild gewann zunehmend an Kontur und Präzision, die Sensibilität für die Interaktion musikalischer Parameter in der Darstellung wuchs. Alle diese Entwicklungen wirkten sich zudem auf das musikalische Denken und damit auf den Schaffensvorgang aus.379
374 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 394. 375 Vgl. Zenck, Martin: »Die mehrfache Codierung der Figur: ihr defigurativer und torsohafter Modus bei Johann Sebastian Bach, Helmut Lachenmann und Auguste Rodin«, in: Brandstetter/Peters, de figura (2002), S. 265-288, hier S. 265. 376 Vgl. Haas, Max: »Artikel ›Notation/IV. Neumen‹«, in: MGG 7, S. 296 -317, hier S. 296 und M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 398. 377 Vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 652. 378 Vgl. ebd., S. 96. 379 Vgl. ebd., S. 98 und S. 150 sowie ebd., S. 399. Vgl weiters L. Lütteken: Artikel »Notation/VI. Mensuralnotation«, S. 333f.; vgl. E. Barthe: Takt und Tempo, S. 3 zu den si-
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Im 17. Jahrhundert kam es schließlich zur Einführung von Vertikallinien. Diese legten das chronologische Ordnungsmaß nun auf eindeutige Weise fest. Noten wurden zu klar erkennbaren ›Raum-Zeit-Zeichen‹, die aufgrund ihrer jeweiligen Lage und Gestalt eine spezifische Tonhöhe und Dauer markieren. Vertikale und Horizontale generieren ein Koordinatensystem, wodurch die Frequenzen logarithmisch als Zahl der Schwingungsbewegung sowie das Vorher-Nachher als Abbilder der Beziehungen zwischen den Tönen ersichtlich werden.380 Es handelt sich also um eine Relationsschrift, die ein System von Beziehungen (der Töne und Zeiten) als sinnvolle Einheiten darstellt.381 Marcel Dobberstein weist auf die allgemeine Wende im Denken hin, die mit der tonhöhenanalogen Aufzeichnung in direktem Zusammen382 hang steht. Die vehemente Richtungsänderung in der postmodernen Musikauffassung definiert sich durch die Suche nach dem Neuartigen, den Wandel der Beziehung zwischen Komponist, Werk, Interpret und Publikum und die Auflösung traditioneller Spartengrenzen.383 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer radikalen Abkehr von der traditionellen Notenschrift mit ihren Bedeutungsfixierungen.384 Veränderte kompositorische Konzepte wie subjektive Ansprüche des Ausdruckes erforderten vollkommen neue, ihnen adäquate Modi der Transformation in das Visuelle.385 Die Erscheinungsweisen der neuen Notationsform können in zwei
gnae proportionate der Mensuralnotation, die das Verhältnis der Teile nicht unmittelbar zueinander anzeigen; sie beziehen sich stets auf den tactus, den gemeinsamen Grundschlag. 380 Vgl. W. Schulze: Raum und Zeit in Architektur und Musik, S. 27. Vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 84: »Es wird also graphisch eine ›Bewegung‹ dargestellt, eine ›Bewegung‹, die stets horizontal, aber auf verschiedenen Etagen, abläuft.« 381 Vgl. L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 25 (§11): »Die Noten sind musikalische Zeichen, welche durch ihre Lage die Höhe und Tiefe, durch ihre Gestalt aber die Länge und Kürze [...] anzeigen [...].« 382 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 56f. 383 Vgl. Drew, Joanna/Harrison, Michael: »Preface«, in: Davies, Hugh/Lawson, Julie/Regan, Michael (Hg.), Eye Music. The graphic Art of new musical Notation. Published to accompany an Exhibition, London: Arts Council 1986, S. 4 sowie Griffiths, Paul: »Sound-Code-Image«, in: Davies/Lawson/Regan, Eye Music (1986), S. 5-11, hier S. 7. 384 Vgl. Lammert, Angela: »Von der Bildlichkeit der Notation«, in: Amelunxen/Appelt/ Weibel, Notation (2008), S. 39-54, hier S. 39: »In der Moderne [.] geraten Begriff und Form von Notation in Bewegung.« Und vgl. P. Weibel: Notation zwischen Aufzeichnung und Vorzeichnung, S. 33: »Die Entwicklung der Notation kann [...] als Weg von der klanglichen Passivität [...] hin zu einer unmittelbaren Aktion [...] gelesen werden.« 385 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 56.
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Bereiche, in grafische Notation und musikalische Grafik, gegliedert werden. Während die grafische Notation noch den spontanen Eindruck einer vorgeschriebenen Leserichtung weckt und etwas über relative Zeitordnungen aussagt, sind Merkmale der musikalischen Grafik die totale Interdeterminiertheit im Prozess sowie ein Höchstmaß an Bewegungsspielraum und Mehrdeutigkeit, was viele, auch außermusikalische, Lesarten zulässt.386 Die historische Skizze verdeutlichte den Zusammenhang bestimmter Bewegungsqualitäten mit spezifischen Formen von Notation. Doch können auch hinsichtlich des Phänomens Notation an sich einige Erscheinungsformen von Bewegung festgestellt werden. War Musik in der präskriptiven Phase symbiotisch an den Augenblick physischkonkreten Musizierens gebunden, bedeutete die Verschriftlichung von Musik eine enorme menschliche Abstraktionsleistung und inkludierte gleichzeitig z.T. eine ›Emanzipation‹ der Musik vom Menschen: Über das reine Klang-Ereignis hinausgehend wurde die sublime Ebene eines körperunabhängigen Zeichencodes generiert, die Musik vom Moment des Erklingens löste und eine Expansion des kollektiven Gedächtnisses ermöglichte.387 Diese folgenschwere Entwicklung hat nicht nur die Struktur musikalischen Wissens verändert, sondern hatte auch an einer Spaltung des subjektiven Innen von einem objektiven Außen Teil. Notation ist Interface zwischen Urheber und Ausführendem, zwischen Komposition und Reproduktion; sie ist Interaktionsdesign zwischen Musiker und Instrument und konstituiert einen Zwischenraum als Ort der Übersetzung, d.h. einen »automatic channel of communication« (Paul Griffiths).388 Notenzeichen stellen in diesem Sinne weniger KlangBilder dar, als vielmehr Bedeutungs-Träger einer immanenten Handlungsanweisung
386 Vgl. K. Grönke: Das Notenbild als Bild, S. 137. Vgl. U. Dibelius: Moderne Musik nach 1945, S. 353f.: »Nichts veranlaßt dazu, die Grafik nach Art einer musikalischen Notation zu lesen.« Auch Gestik und mobile Elemente wie z.B. Drehscheiben oder Leisten halten in die Partituren Einzug. Zur entstehenden Offenheit vgl. John Cage zit.n. P. Griffiths: Sound-Code-Image, S. 8: »[...] to create unpredictable situations, where the meaning of notation was left open to chance [...].« 387 Vgl. H.v. Amelunxen: Notation, die Künste und die musikalische Reproduktion, S. 23 sowie P. Weibel: Notation zwischen Aufzeichnung und Vorzeichnung, S. 33. Vgl. weiters O. Elschek: Verschriftlichung von Musik, S. 263 und Davies, Hugh: »Musical Notation - Old and New«, in: Davies/Lawson/Regan, Eye Music (1986), S. 12-28, hier S. 13. 388 Vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 100ff.; auf die soziale Funktion von Notation verweisen auch György Ligeti (vgl. H.v. Amelunxen: Notation, die Künste und die musikalische Reproduktion, S. 24) und Maurice Halbwachs (vgl. A. Schutz: Making Music together, S. 200).
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im Umfeld einer auf bestimmten Konventionen beruhenden Sprache.389 Die einzelnen (Noten-)Zeichen und ihre Verbindung bezeichnen spezifische Momente der Struktur des Tonphänomens. Verstanden werden diese Maß-Zeichen vom Leser deshalb, weil sie auf Prinzipien der Wahrnehmung beruhen.390 Mit der individuellen Realisation der dem Bild immanenten Bewegung in den Bereich des Auditiven entsteht das Werk immer wieder neu als Original da die Lesart nie absolut vorgegeben werden kann.391 Zuletzt soll in der Auseinandersetzung mit Notation noch der Aspekt des Bildhaften in den Fokus genommen werden. Zum einen kann jede Form der Notation als Bewegungsbild wahrgenommen werden, in welchem sich die Bewegung, die der Komponist zu verklanglichen beabsichtigt, dem Betrachter kundtut. Auch in der konventionellen Notenschrift wird also eine Bild-Gestalt erkennbar. So wurden im Zeitalter des Barocks z.B. Naturphänomene in festgelegten (Noten-)Figuren schemenhaft umgesetzt; Beispiele dafür sind typische Formen der Dreiklangsbrechung, die optisch die sichtbare Bewegung eines Blitzes verdeutlichen oder Bindebögen, mittels derer die Ballung der Wolken über den Umweg des Bildes akustisch realisiert wird.392 Zu besonders anschaulichen Exempeln aus dem 20. Jahrhundert, wie konventionelle Notation sich auf den Stückinhalt beziehendes Bewegungs-Bild sein kann, zählen Luciano Berios Klavierstücke aus den »6 Encores«.393 Diese widmen sich jeweils einem der Elemente: Wasser, Erde, Luft und Feuer. In diesen (herkömmlich notierten) Musikstücken bekundet sich die ins Hörbare transferierte Bewegung auch dem bloßen Betrachter. Musikalische Grafiken stellen im Gegensatz zur konventionellen Notationsform ein Spezifikum der Verschriftlichung dar. Sie sind ausgehend von ihrem autonomen Status weniger als (Noten-)Schrift, denn als
389 Zu Notation als Ergebnis einer Auswahl von Komponenten eines Klangbildes, die der Komponist für eine adäquate Reproduktion als wesentlich hält vgl. Zimmermann, Heidy: »Notationen Neuer Musik zwischen Funktionalität und Ästhetik«, in: Amelunxen/ Appelt/Weibel, Notation (2008), S. 198-211, hier S. 198. 390 Vgl. lat. notare (aufzeichnen, schreiben, tönen). Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 56 sowie H.v. Amelunxen: Notation, die Künste und die musikalische Reproduktion S. 6 und S. 24ff. sowie T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 110f. 391 Vgl. P. Griffiths: Sound-Code-Image, S. 7: »Repeatability, though, is a myth as much as the transparency of notation [...].« 392 Vgl. z.B. Johann Sebastian Bach: »Matthäuspassion« (BWV 244). Vgl. K. Grönke: Das Notenbild als Bild, S. 132 sowie A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 309. 393 Luciano Berio: »6 Encores pour Piano«: »Wasserklavier« (1965), »Erdenklavier« (1969), »Luftklavier« (1985) und »Feuerklavier« (1989).
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(Bild-)Gestaltungen, die verklanglicht werden können, zu verstehen. Bewegung ist hier das Bindeglied zwischen visueller Gestalt und klanglicher Vorstellung. Eine weitere Facette des Optischen am Musik-Bild, gleich welcher Notationsform, zeigt sich an Autografen. Gemeint ist die Verbindung von innerer Bewegung (fühlen), äußerer Bewegung (schreiben) und Schrift-Bild (Notation). Handschriftliche Musiknotationen verschaffen im Besonderen Erkenntnisgewinn über Entstehungssituationen, Schreibanlässe oder Charaktereigenschaften. Robert Schumann bemerkte in Bezug auf die visuell-ästhetische Qualität der persönlichen Handschrift, dass jeder Komponist seine »eigentümliche Notengestaltung für das Auge« habe.394 Grafologische Forschungen demonstrieren den Einfluss des Charakters auf die Motorik des Schreibers und die Symbolik der Schrift in ihren räumlichen Formen; Niedergeschriebenes wurzelt in der Schreibgeste395, die Ausdruck der Persönlichkeit ist.396 So schreibt der Ingenieur Otto Muck in einem Brief an den Kaufmann und Kunstmäzen Gustav Fueter: »Ihr Schriftbild zeugt von einem starken Raumsinn und die vielen Schleifen [...], weisen darauf hin, daß in ihnen die ›rhythmische Bewegung‹ dominant ist [...].«397 Der Akt des Niederschreibens trägt eine eigenständige schöpferische Komponente in sich: In ihm fließen mentale und emotionale Dimensionen von Bewegung ein. Die über das eigentliche Notieren hinaus-
394 Robert Schumann zit.n. H.-P. Müller: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, S. 132. Vgl. K. Grönke: Das Notenbild als Bild, S. 132ff.; anhand der Skizzen eines Komponisten lässt sich der Entstehungskontext eines Werkes rekonstruieren (vgl. O. Elschek: Verschriftlichung von Musik, S. 261). Stefan Zweig hielt im Jahr 1928 einen Vortrag mit dem Titel »Sinn und Schönheit der Autographen«. Indirekt darauf bezugnehmend betrachtet Thomas Mann das Phänomen Schriftbild in »Doktor Faustus«, S. 84ff. mit etwas Ironie: »Er [...] versicherte, daß dem Kenner ein Blick auf das Schriftbild genüge, um von dem Geist und Wert einer Komposition einen entscheidenden Eindruck zu empfangen.« 395 Vgl. Harnoncourt, Nikolaus: »Die Magie der Notenschrift« (1988), in: Ders., »Töne sind höhere Worte« (2007), S. 238-239, hier S. 238. 396 Vgl. Lüke, Alfons: Das große Handbuch der Graphologie, Kreuzlingen/München: Ariston 1998, S. 15 sowie Bernard, Marie: Graphologie. Eine Einführung mit 800 Schriftbeispielen, Basel: Sphinx 1990, S. 24. Wichtige Komponenten der Schrift sind Größe, Tempo, Lage, Abstand, Ränder, Winkel, Druckstärke, Rhythmus, Strichqualität und Ebenmaß. 397 Otto Muck in einem unveröffentlichten Brief an Gustav Fueter vom 20.07.1934. Vgl. auch Doderer, Heimito von: Die Wasserfälle von Slunj, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2004, S. 374f.: »Auf dem Tablett lag dann auch Post [...] Donald sah auf dem ersten Umschlage die Hand seines Vaters. Der andere zeigte Maschinenschrift.«
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gehenden Handlungen wie Radieren, Überschreiben oder Unterbrechen kennzeichnen diesen Prozess in seinen Tempi und in seiner Intensität.398 Parallel zum Sichtbar-Machen der Schwingungsbewegung und zum visuellen Ausdruck musikalischer Handlungsanweisung in der Notation existiert die performative Praxis einer Transformation und Erweiterung des Auditiven in das Visuelle. Möglichkeiten der Visualisierung durch Projektion abstrakter Formen, Licht- oder Farbeffekte sowie durch Körperbewegung werden zusätzlich in die Aufführung eingebunden oder ersetzen das Hörbare zur Gänze. Die mit Hörbarkeit gekoppelte Sichtbarkeit geht dann stets mit einem sichtbaren Bewegungsverlauf einher. Einige dieser Verbindung werden im Folgenden herausgegriffen und in ihrem Wesen skizziert. Die Umsetzung von Musik in Farbeindrücke wird häufig mit dem viel zitierten synästhetischen Phänomen des Farben-Hörens in Verbindung gebracht399: Diese Form der Synästhesie besteht darin, dass Klänge unwillkürlich und konstant die Empfindung von farbigen Formen und Bewegungen auslösen.400 Neben dem Farben-Hören als real erlebtes synästhetisches Phänomen können akustische Reize als Ausgangspunkt für Farb-Assoziationen bei jedem Menschen herangezogen werden oder kann Farbe als Impuls für eine klangliche Vorstellung dienen; so der Philosoph John Locke um 1690: »that [...] scarlet [...] was like the sound of a trumpet.«401 Es handelt sich hier um einen spontanen, persönlichen Eindruck. Heteromodale Wahrnehmung ist folglich stets als individuell aufzufassen402 und lässt sich nicht generalisieren, weshalb Theorien einer (scheinbar) objektiven Entsprechung bestimmter Klänge und Farben, wie sie z.B. der Universalgelehrte Athanasius Kircher im 17. Jahrhundert vorgelegt hat, kritisch gelesen werden müssen. Diverse praktische Übersetzungen von Farbe und Klang wie das ebenso aus dem 17. Jahrhundert
398 Vgl. P. Griffiths: Sound-Code-Image, S. 5. 399 So wird Farbe bei D. Charles: Zeitspielräume, S. 23 als »erste Verbündete« des Klanges bezeichnet. 400 Vgl. R. Cytowic: Farben hören, Töne schmecken, S. 69 zu Wahrnehmungsformen beim Farbenhören: Töne, v.a. Sprache und Musik produzieren (auch) eine visuelle Mischung von farbigen Formen, Bewegungen, Mustern und Licht. Vgl. weiters R. Jourdain: Das wohltemperierte Gehirn, S. 394. Vgl. das Kapitel »Die Tonart hellgrün: Synästhesie und Musik«, in: O. Sacks, Der einarmige Pianist, S. 188-207. Vgl. Johann Gottfried Herder zit.n. A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 106: »Mir ist mehr als ein Beispiel bekannt, da Personen natürlich [...] nicht anders konnten, als unmittelbar durch eine schnelle Anwandlung mit diesem Schall jene Farbe [...] zu verbinden.« 401 John Locke zit.n. ebd., S. 106. Vgl. R. Cytowic: Farben hören, Töne schmecken, S. 67. 402 Vgl. ebd., S. 147 zur Individualität der Synästhesie.
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stammende »Farben-Klavier« des Mathematikers Louis-Bertrand Castel403 drücken stets persönliche Empfindungen oder Meinungen aus und sind auf ihren Wert als künstlerische Spielarten hin zu verstehen.404 Aleksandar Skrajbin, Synästhetiker im engen Sinn, zog Ende des 19. Jahrhunderts die Farb-Ton-Analogie in seinem Werk »Prometheus« (op. 60) – über den ästhetischen Wert hinausgehend – wesentlich für formale Zwecke heran: Seine Absicht war es, über die in der Partitur notierte »Luce«-Stimme formalen Zusammenhalt zu gewährleisten; die Farb-Projektion wird hier also im Sinne einer quasi-harmonischen Bewegung eingesetzt.405 In einer aktuellen Inszenierung dieses Werkes aus dem Jahr 2010 durch Werner Schulze wurde insbesondere die mit dem Werk und der Farbprojektion verbundene Visualität ins Zentrum gerückt und der sichtbare Einsatz der »Luce«-Stimme um den Einbezug von Außenraum, Feuerorgel und Körperbewegung erweitert.406 Visualisierung von Musik in bewegte ›Farb-Form-Spiele‹ wird nicht nur von Seite der Tonkunst, sondern auch von Seite der bildenden Kunst versucht. In kinematografischen Experimenten von Künstlern am Ende des 19. Jahrhunderts wie Viking Eggeling und Hans Richter wurden in Bild-Ton-Kopplungen des Abstrakten Filmes mobile Muster, einzelne Klänge und musikalische Werke synchronisiert.407 Aktuell produzierte Visuals, die v.a. im Bereich der Popularmusik zu finden sind, können als Fortführung derartiger Tendenzen verstanden werden.408
403 Das »Farben-Klavier« wurde auch »optisches Cembalo« genannt. Mithilfe von Kerzen, Spiegeln und Gläsern wurden Ton- und Farbwert kombiniert. Vgl. E. Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 60f.: »Will man [...] in Wirklichkeit die Erhebung der Farbe zu Musik vollziehen, und die Mittel der einen Kunst in die Wirkungen der anderen einbetten, so gerät man auf die abgeschmackte Spielereien des ›Farbenklaviers‹ [...] dessen Erfindung jedoch beweist, wie die formelle Seite beider Erscheinweisen auf gleicher Basis ruht.« Und vgl. Novalis: Fragmente zur Musik und zum Musikalischen, S. 190 (Frag. 10): »[...] man könnte die Augen ein ›Lichtklavier‹ nennen.« 404 Vgl. R. Cytowic: Farben hören, Töne schmecken, S. 141 sowie G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 180ff. sowie ebd. 95ff. 405 Vgl. B. Barthelmes: Musik und Religion im russischen Symbolismus, S. 155. 406 »Promethée. Le poème du feu«, Festival Congress »Symmetry: Art and Science«, Pankratium Gmünd 2010, Idee/Konzept: Werner Schulze, Feuerorgel: Dietmar Fian, Duftrealisation: Melanie Fian, Animation/Projektion: Markus Gansberger, Bewegung: Teresa Leonhard, Farbrealisation: Team Harmonik. 407 Vgl. H. Düchting: Paul Klee, S. 40, weiters A. Lammert: Von der Bildlichkeit der Notation, S. 44. Beispiele für derartige Filme sind Ludwig Hirschfeld-Mack: »Farbenlichtspiele« (1922/23) und Oskar Fischinger: »Rhythmus 21« (1921). 408 Vgl. auch Konzeptvideos im Bereich Elektronischer Musik.
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Leibliche Bewegung im Sinne eines gestalterisch bedeutsamen Momentes der Musik tritt in verschiedenen Facetten auf. Doch eine Bewertung der Körperbewegung als eigenständige musische Handlung hat im musikästhetischen Diskurs wenig stattgefunden, wie der Musikpädagoge Daniel Zwiener diagnostiziert.409 Damit mag nicht zuletzt ein historisch geprägtes, allgemein problematisches Verhältnis der Gesellschaft zum Körper einhergehen, das sich schließlich auch in Fragen nach der Rolle des Leibes im Kontext des Musizierens äußert.410 Trotzdem existieren in der Musikausübung die Geschichte hindurch Formen ›leiblichen Musizierens‹. Exemplarisch für eine solche Praxis steht die mehrdimensional orientierte musiké der Griechen, für die der Musikwissenschaftler Christian Kaden konstatiert: »Intensiv durchgebildet sind die Verbindungen zwischen Klangmustern und Körperbewegungen nicht nur dahingehend, daß letztere die ersteren hervorbrächten, ihnen die generative Basis lieferten, sondern zugleich dergestalt, daß das Körperliche selbst Gegenstand wird ästhetischer Wertung und sinnlichem Genuß.«411
Auch für die Zeit der Spätantike und des Mittelalters stellt Kaden das Vorhandensein einer ›leiblich-gestischen Musik‹ fest: Die Idee einer »motionalen musica« sei v.a. in den Kontext der Rhythmuslehre zu stellen. Verwurzelt diese Form des Musizierens Musik in der Gebärde, werden Auge und Ohr als paritätische Sinne der Musikwahrnehmung verstanden.412 Augustinus forderte also, auch das Auge auf den Taktschlag zu richten: »[...], denn du sollst nicht nur hören, sondern auch sehen [...], wie viel Zeit die Hebung und [...] die Senkung in Anspruch nimmt.«413 Jahrhunderte später, auf der augustinischen ästhetischen Prämisse fundierend, griff Francis Ba-
409 Vgl. D. Zwiener: Als Bewegung sichtbare Musik, S. 94. 410 Zur negativen Einstellung des Klerus bzgl. einer leibbetonten Musik vgl. z.B. Papst Johannes XXII. zit.n. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 220f. in einer Verordnung über Kirchenmusik, die ein Verbot über die Neuerungen der Ars Nova enthielt: »Sie eilen und sie ruhen nicht [...]/ mit Körperverrenkungen ahmen sie nach, was sie [aus den Noten] hervorbringen [...].« 411 Vgl. C. Kaden: Artikel »Musik/I-VI«, S. 256f.; vgl. Schmidt, Gerhart: »Die Rolle der Musik in Platons Staat, in: Schnitzler, Musik und Zahl (1976), S. 67-80, hier S. 68f. und Stockmann, Doris: »Musikalische Zeichen, Zeichenbegleitende und zeichenähnliche musikalische Strukturen (1979), in: Karbusicky, Sinn und Bedeutung in der Musik (1990), S. 179-190, hier S. 185 zur Bedeutung von musiké, die eine rein tönende Musik übersteige und eine musische Gesamtdarstellung des Menschen in Wort, Ton und Bewegung meine. 412 Vgl. C. Kaden: Artikel »Musik/I-VI«, S. 269. 413 Augustinus: Musik, II,13,24.
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con dieses Zusammenspiel der Wahrnehmungsmodi in der Musik auf, wenn er schreibt: »So sehen wir also, dass die gesamte Instrumentalmusik, ebenso wie der Gesang, die einzelnen Metren, die Rhythmen, nicht zu vollem Sinngenuss führt, wenn nicht gleichzeitig Gesten, Sprünge, und Körperwendungen mitwirken.«414 Die Entstehung erster Opern im frühen Barock baute auf dem Gedanken auf, Handlung und Musik zu verbinden. Musikdramatische Formen betreffend kann im Gegensatz zu einer »motionalen musica« allerdings nicht von einer direkten Verankerung der Bewegung in der Musik gesprochen werden. Es handelt sich hier mehr um eine Addition verschiedener künstlerischer Medien, die aufeinander Bezug nehmen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert kam es im Bereich des Musiktheaters insofern zu einem Paradigmenwechsel, als die Zusammengehörigkeit von Musik und Körperbewegung besonders hervorgehoben und der darin bestehende künstlerische Wert formuliert wurde415: »Und es scheint nunmehr eine ausgemachte Sache, daß, zum höchsten Ruhme des zeitgenössischen Theaters, die tönende Bewegung, die körperliche Bewegung und der Wortrhythmus endgültig eins geworden sind [...]«, schreibt Emile Jaques-Dalcroze im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts416. Die Idee des Gesamtkunstwerkes nimmt ihren Ursprung in der absichtsvollen Bezugsetzung von Bewegung, Farbe, Licht, Kostüm und Bild zu Musik. Dieses neue Werkverständnis war am Aufbrechen traditioneller Spartengrenzen wesentlich mitbeteiligt und steht am Beginn der Entwicklung einer eigenen Gattung: In der Performance Art, die sich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von verschiedenen Genres ausgehend ihren Weg bahnte, sind Visualität und Auditivität gleichermaßen von Bedeutung.417 In der Zeit der Auflösung traditioneller ästhetischer Grenzen der Künste fand auch innerhalb der Musikpädagogik ein Umdenken statt: Eine Ästhetik des Sichtba-
414 Francis Bacon: »Opus tertium« zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 136f.; vgl. eine ähnliche Auffassung bei Dominicus Gundissalinus (12. Jahrhundert) und Walter Odington (13. Jahrhundert). 415 So wird Gymnastik als »Schwester« (Friedrich Nietzsche) der Musik aufgefasst. Vgl. Richard Wagner: »Beethoven« (1870) zit.n. H. Pfrogner: Musik, S. 309f.: »Durch die rhythmische Anordnung seiner Töne tritt [.] der Musiker in eine Berührung mit der [.] plastischen Welt, nämlich vermöge der Ähnlichkeit der Gesetze, nach welchen die Bewegungen sichtbarer Körper [...] sich kundgibt.« 416 E. Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, S. 128. 417 Vgl. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 126. Künstler, die am Aufbrechen der Spartengrenzen maßgeblich beteiligt waren sind z.B. Richard Wagner, Arnold Schönberg, Sergej Diaghilew, Max Reinhard, Wassily Kandinsky, Carl Orff und Emile Jaques-Dalcroze sowie in nächster Generation Mauricio Kagel, John Cage, Merce Cunningham oder Trisha Brown u.v.m.
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ren, der eine Einheit von Hören und Bewegen vorausgeht, wurde in unterschiedlichen Systemen der Musikerziehung zur methodischen Basis. Pioniere dieser neuen Geisteshaltung wie Carl Orff, Heinrich Jacoby oder Emile Jaques-Dalcroze entwickelten in ihren Ansätzen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte418 ; ihre Schüler modifizierten die Methoden für die Arbeit mit den jeweiligen Zielgruppen. Zwar können im Detail Differenzen der jeweiligen Lehrweisen benannt werden; sie alle vereint aber die hohe Relevanz der Körperbewegung in Bezug auf Erleben und Verstehen von Musik. Über die Bewegung kommt es zur Vernetzung der Sinne, denn die Bewegung durchzieht das gesamte Sensorium und löst Anklänge, Resonanzen, Konsonanzen und Dissonanzen einzelner Sinnessphären untereinander aus, wie 419 Für die Musikpädagogik bedeutet dies, dass MuBernhard Waldenfels folgert. sik-Verstehen auf mehreren Sinnes-Ebenen stattfindet und es so zu einer vertieften, da ›ganzleiblichen‹, Erkenntnis kommt. Ein Gebiet, in dem leibliche Bewegung gleichermaßen dem Funktionalem wie dem Performativen zugeordnet werden kann, ist das Dirigat: Der Aspekt nonverbaler Kommunikation zur Leitung des Geschehens fällt mit dem Aspekt visueller Werkdarstellung und -gestaltung zusammen. Das musikalische Geschehen zu leiten heißt, zwischen den vielfältigen Verbindungen aller Ausführenden und der Bewegtheit des Werkes über die Geste des Dirigenten eine »gemeinsame Mitte« (Albert Wellek) zu schaffen.420 Darin, so zeigt es der Choreograf und Tänzer Xavier Le Roy in seinem Solo-Stück »Le Sacre du Printemps« (2007) eindrücklich, manifestiert sich jedoch auch gleichzeitig das Wechselspiel von Macht und Ohnmacht des Dirigenten.421
418 Zu erwähnen ist auch Zoltan Kodály und die von ihm entwickelte Methode, in der die Bewegung der Hand zentral ist. 419 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 74f.; zur Sprache des bewegten Körpers, die imstande sei, die Totalität unseres Sinnesempfindens anzusprechen vgl. R. Chladek: Aus der Werkstatt der Choreographie, S. 45. 420 Vgl. Scherchen, Hermann: Lehrbuch des Dirigierens, Mainz: Schott 1953, S. 24 sowie Price, Harry E./Byo, James L.: »Rehearsing and Conducting«, in: Parncutt/McPherson, The science & psychology of music performance (2002), S. 335-351, hier S. 335. 421 Xavier Le Roys Bewegungsmaterial beruht auf den Dirigierbewegungen von Simon Rattle. Vgl. Husemann, Pirkko: »Opfergesten eines Dirigenten«, in: Der Standard. Spezial Tanzquartier Wien, Herbst 2007, S. A4. Dass der Dirigent beispielhaft für den Ausdruck von Macht steht, wird bei E. Canetti: Masse und Macht, S. 453 erwähnt. Und ähnlich N. Harnoncourt: »›Musik muss die Seele aufreißen!‹ Gespräch anlässlich der styriarte 2003«, in: Ders., »Töne sind höhere Worte« (2007), S. 84-88, hier S. 87: »Die Macht, die in der Musik steckt, die hab’ ich als Dirigent zur Verfügung.«
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Dirigieren steht im Spannungsfeld von Musik, Bewegung, Interpretation und Führung, dessen sich in der Historie jeweils unterschiedlich darstellendes Gefüge die Auffassung von Dirigieren mitbestimmt. Die Ursprünge des Dirigierens gehen auf die Begleitung der Ton-Sprache-Verbindung in frühen Kulturen des Orients zurück: In der Cheironomie422 wurden Tonhöhenveränderungen im Sinne einer dynamisch bewegten Kontur manuell angedeutet; und anhand dieser Bewegung wurde der gemeinsame Gesang geleitet.423 Die Melodie löst Bewegungsimpulse aus, die wiederum die Melodie im räumlich-leiblichen Nachzeichnen sicht- und greifbar werden lässt.424 Die sich im 12. und 13. Jahrhundert entwickelnden rhythmischen Gliederungssysteme erforderten die Sichtbarkeit des tactus im gleichmäßigen Aufund Niederschlagen mit der Hand. Es kann davon ausgegangen werden, dass dies keine musikalisch leere, ergo mechanische Bewegung, sondern vielmehr eine sensitive Visualisierung einer Schwereanweisung war.425 In den folgenden Jahrhunderten, in denen sich eine Taktrhythmik innerhalb der Musik herausbildete, stand die jeweils spezifische Umsetzung der verschiedenen Taktarten mit konventionell feststehenden Bewegungen im Vordergrund.426 So konstatiert Johann Mattheson, dass die Führung des Taktes gleichsam die Hauptverrichtung des »Regierens« der Musik sei.427 Einhergehend mit Veränderungen musikästhetischer Auffassungen verschob sich im 19. Jahrhundert das Hauptaugenmerk von der objektiven, auf dem Taktschema beruhenden Bewegung zur expressiven, an die subjektive Musikauffassung gebundenen Gebärdung.428 Im Vorgang des Dirigierens realisiert sich jene Bewegung, die den Urheber während des Schaffensprozesses begleitet hat; dermaßen werde die Dirigierbewegung zur »Sinnbewegung« (Henry Timmermann) der Musik
422 Vgl. altgriech. cheír (Hand) und nómos (Gesetz). 423 Vgl. z.B. die Begleitung gesungener Ragas mit Handbewegungen in Indien. Vgl. E.M.v. Hornbostel: Melodischer Tanz, S. 79 zum Dirigieren als Nachzeichnen der Melodiebewegung. 424 Vgl. Kienle, Ambrosius P.: »Notizen über das Dirigieren mittelalterlicher Gesangschöre«, in: Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 158-161, hier S. 159ff. sowie A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 182, O. Elschek: Verschriftlichung von Musik, S. 254 und M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 146f. 425 Vgl. G. Becking: Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 18. 426 Vgl. L. Mozart: Versuch einer gründlichen Violinschule, S. 27 (§2): »Der Tact wird durch das Aufheben und Niederschlagen der Hand angezeiget; nach welcher Bewegung alle zugleich singende und spielende Personen sich zu richten haben.« 427 J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 481 (§13). 428 Zur Gefahr einer lediglich auf Publikumsschauwirkung aus seienden leeren Geste vgl. W. Furtwängler: Gespräche über Musik, S. 75.
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schlechthin. Der klingende Ton wird re-kreiert und in der Bewegung bereits vorweggenommen. In der sichtbaren Körperlichkeit wird Musik in eine BewegungsGestalt gebracht, in der die Substanz der Musik geborgen ist. Stefan Zweig beschreibt die Physiologie der Dirigierbewegung anschaulich am Beispiel Arturo Toscaninis, der mit dem ganzen Körper »plastisch arbeitend«, das ideale Tonbild gleichsam visuell herausmodelliere.429 Die Authentizität der zugleich ein- wie vieldeutigen Bewegungs-Gestalt des Dirigierens fundiert also auf der direkten Beziehung zwischen Musik und Leiblichkeit430 ; das Wissen um diese gestalterische Basis ist für den Dirigenten elementar.431 Wenngleich sich so manche Verbindungslinien zum Dirigieren ziehen lassen, stellt die künstlerische Ausdrucksform der Plastique Animée, die nun als letztes Beispiel für Musikvisualisierung herangezogen wird, eine eigenständige künstlerische Spielart der Visualisierung dar. An der Wende zum 20. Jahrhundert, in einer Atmosphäre sozialer, wissenschaftlicher und künstlerischer Umbrüche entwickelte der Genfer Komponist und Musikpädagoge Emile Jaques-Dalcroze ein musisches Konzept, das, wie Daniel Zwiener in seiner Untersuchung darlegt, Musik auf Körperbewegung bezieht und das Musizieren auf diese zurückführt. Damit legte Jaques-Dalcroze den Grundstein für ein autonomes, künstlerisch orientiertes und gleichzeitig musikpädagogisch modifizierbares System zur Umsetzung von Musik in Bewegung und zur Entwicklung eines authentischen Musik-Empfindens.432 Sein Ursprungsgedanke, Musik nicht nur als Technik des Instrumentalspieles oder des Komponierens, sondern vielmehr als Kunst des Schöpferischen zu unterrichten, war ihm gleichsam der Motor für die Suche nach einem Bewegungskonzept, mithilfe dessen Musik visuell ausgedrückt werden kann und das gleichzeitig eigenständiges künstlerisches Potenzial in sich trägt.433
429 S. Zweig, Geleitwort (Bildnis), S. 12. 430 Vgl. F. Reuter: Das musikalische Hören auf psychologischer Grundlage, S. 26 sowie G. Becking: Der musikalische Rhythmus als Erkenntnisquelle, S. 18. Vgl. weiters H. Scherchen: Lehrbuch des Dirigierens, S. 20 sowie H.E. Price/J.L. Byo: Rehearsing and Conducting, S. 344. 431 Zur grundlegenden »Entdeckung des eigenen Körpers« und der »Wechselbeziehung Körper und Musik« vgl. Wolschke, Martin: Elementare Dirigierlehre (= Bausteine für Musikerziehung und Musikpflege, Band 15), Mainz: Schott's Söhne 1968, S. 11. 432 Vgl. D. Zwiener: Als Bewegung sichtbare Musik, S. 275. Wesentliche Anstöße erhielt Emile Jaques-Dalcroze auch von François Delsarte und Mathis Lussy. 433 Vgl. D. Zwiener: Als Bewegung sichtbare Musik, S. 236ff.; auch andere Künstler dieser Zeit forcierten eine genuine Verbindung von Bewegung und Musik, z.B. Oskar Schlemmer, Max Reinhardt oder George Balanchine. Vgl. Karl Lorenz zit.n. ebd., S. 93 zur
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Die in der Musikgeschichte an sich bereits existente Idee einer ›sichtbaren Musik‹ wurde von ihm als ästhetische Prämisse aufgegriffen. Dies bedeutete zunächst, Musik frei von narrativen Elementen, ihrer Struktur nach mit dem Instrument Körper umzusetzen; auf der nächsten Ebene ist das Ergebnis im Medium der Bewegung individuell künstlerisch auszugestalten.434 Für den Ausführenden der Plastique Animée gilt demgemäß (analog zum Instrumentalisten), den musikalischen Werk-Text zu realisieren, weiters zu interpretieren und zu vitalisieren. Der musikalische Ausdruck, die innere Bewegung des Musikwerkes, wird visuell wahrnehmbar.435 Jaques-Dalcroze beschreibt diesen Vorgang der Übersetzung wie folgt: »Die Musik in uns gewinnt [...] Gestalt, sie formt unseren Körper. Was zeitlich war wird körperlich, was Klang und Folge war, wird Bild und Bewegung. Diese körperliche Form muß gewiß ein schönes Schauspiel bieten, denn alles ist Ausdruck und Maß. Die Bewegung im Raum ist gemessen durch die Zeit, die in der Zeit aber wird sinnlich erlebt im Raum.«436
Eine sichtbare Musik findet im sichtbaren Raum statt. So kommt es in der »belebten Plastik« auch zu sichtbaren Interaktionen von Körper, Bewegung, Raum, Licht und Zeit.437 Die Ausführenden ›schreiben‹ die Musik mit ihren Körpern der Umgebung ein und inszenieren eine Komposition im Bereich des Sichtbaren.438
Méthode Jaques-Dalcroze, die nur zu einem Drittel aus Bewegung bestehe, zu zwei Drittel aus klanglichen und anderen Komponenten. Merkmal seiner Körperästhetik sei die fundamentale Rolle der Musik. 434 Vgl. E. Fitzthum: Von der Reformbewegung zur Musiktherapie, S. 31. 435 Vgl. Gobbert, Joachim: »Körperlich-plastische Darstellung von Musik oder körperliche Bewegung zur Musik?«, Vortrag Dresden 2000, http://www.joachimgobbert.de/vortrag1.html vom 20.02.2009. 436 E. Jaques-Dalcroze zit.n. Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze (Hg.), Der Rhythmus. Ein Jahrbuch. I. Band, Jena: Diederichs 1911, S. 46. 437 Vgl. Paul Claudel zur Plastique Animée in einem Brief an Darius Milhaud zit.n. Jacobs, Angelika: »Maria im Experiment: Rilkes Hellerau«, in: Marburger Forum. Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart 5 (2007), http://www.philoSOPHIA-onlinde.de/mafo/heft2007-5/Jac_Hel.htm vom 12.01.2010: »Nie erlebte ich eine solche Einheit von Musik, Körpern und Licht.« 438 Vgl. Appia, Adolphe: »Die Inscenierung als Schöpfung der Musik« (1899), in: Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilprobe, Reformmodelle (= rororo, Band 6290), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1982, S. 39-46, hier S. 42: »[...] messen die von der Musik festgesetzten Bewegungen des Darstellers den Raum; lassen das musikalische Zeitmaß gleichsam im Raum Gestalt gewinnen [...].« Der Ar-
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Hinsichtlich des Bewegungsmaterials beschränkt sich der ästhetische Ansatz von Jaques-Dalcroze auf geometrische, stilisierte, häufig als einschränkend erscheinende Gesten und raumgreifende Bewegungen. Beispiele für eine Visualisierung von Musik sind: die Umsetzung von Notenwerten über rasche oder langsame und weite oder enge Bewegungen, die Umsetzung von Harmoniefolgen über Abfolgen von Gruppen- oder Einzel-Bewegungen sowie die Umsetzung von Form über räumliche Anordnung. Reduktion und Abstraktion der Bewegungssprache dienen der Expansion des Musikerlebnisses in der Dimension des Visuellen.439 Die Bewegungssprache ist jedoch nicht als konstruiertes, kanonisiertes Schema zu betrachten; vielmehr wird sie als kreativer Ausgangspunkt für spontane Improvisation und visuelle Komposition gedacht.440 Exkurs: Musik und Gebärdensprache Begegnen sich Musik und Gebärdensprache im Kontext musikalischer Darbietung, interagieren nicht nur sichtbare körperliche Bewegung und hörbare klingende Musik441 ; hinzu kommt die Ebene einer ›gesprochenen‹ Sprache. Diesem lange unterbelichteten Zusammentreffen wird seit einiger Zeit von verschiedenen Seiten zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt; in diesem Exkurs werden einige Aspekte dieses speziellen visuellen Momentes aufgegriffen. Gebärdensprache hat ihren Ursprung in einer radikalen Visualität. Es fällt auf, dass ihre linguistischen Merkmale in Analogie zu Musik gestellt werden können. So sind die Nutzung des Raumes in der Zeit, die simultane Erzählstruktur, der ständige Fluss und die Dynamik, die Verbindung von Konkretem und Abstraktem Momente, die sowohl für diese Sprache als auch für die Tonkunst gelten.442 Die künstlerische Relevanz der Gebärdensprache im Kontext der Musik liegt in der Verbindung von Sprache und Musik auf visueller Ebene und in der Erweiterung der Musik um eine visuelle Sprache; zudem werden musische Kooperationen hö-
chitekt und Bühnebildner Adolphe Appia arbeitete mit Emile Jaques-Dalcroze zusammen. 439 Vgl. D. Zwiener: Als Bewegung sichtbare Musik, S. 268 sowie ebd., S. 145. 440 Vgl. ebd., S. 179. 441 Vgl. Kötter, Daniel: »Das Singen im Dunklen. Einige Bemerkungen zur Audiovisualität in den Werken Helmut Oehrings«, in: Dissonanz 74 (2002), S. 14-21, hier S. 18: »Die visuelle Präsenz der Gebärdensprache bindet auch im Konzert das Auge in den ästhetischen Wahrnehmungsprozess ein. Der Bewegungsvorgang des Musizierens, [...], wird hier zum konstitutiven Bestandteil desselben.« 442 Vgl. O. Sacks: Stumme Stimmen, S. 131ff. sowie ebd., S. 178ff.; auch aus früheren Epochen ist eine Verbindung von Musik und Gebärde bezeugt. So ist z.B. von einer »mimischen« Musik im Rom der Antike die Rede (vgl. J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 107 und C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 34).
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443 Vgl. Rollin, Marion: »Das stille Wunder«, in: Geo Wissen. Das Geheimnis der Sprache 40 (2007), S. 102-111, hier S. 107 zu Helmut Oehring, der mit seiner Arbeit eben nicht zeigen wolle, dass Hörende und Gehörlose zusammenpassen. 444 Vgl. Nauck, Gisela: »Verborgene Geschichten. Zu den Grundlagen der Musik von Helmut Oehring«, in: Positionen. Texte zur aktuellen Musik 32 (1997), S. 12-15, hier S. 12ff.; vgl. weiters Helmut Oehring zit.n. Amzoll, Stefan: »Doku-Drama versus Kunst. Helmut Oehrings Kompositionswelt«, in: MusikTexte 89 (2001), S. 5-11, S. 8: »Ich habe [.] intensives Interesse daran, meine eigene Form, meine eigenen Schriftzüge zu finden, die mit meiner Erstsprache zusammenhängen, mit der ich gelernt habe, zu kommunizieren, [...].« 445 Helmut Oehring zit.n. G. Nauck: Verborgene Geschichten, S. 13. 446 In einem Brief an Johann Wolfgang von Goethe nimmt Carl Friedrich Zelter (zit.n. C. Canisius: Goethe und die Musik, S. 154f.) auf das performative Moment der Poesie und dessen Verbindung mit der Gebärde Bezug: »Sehr wohl erinnere ich mich, wenn ich Schillern und Dir eure Gedichte vortrug, daß ihr dabei nicht ohne Gebärden wart; ja ihr agiertet, als wenn ihr unwillkürlich darstellen müßtet, was ihr empfandet, [...].«
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agogische und melodische Qualitäten. Schodterer grenzt sich von einer existierenden »Gebärdensprachpoesie«447 genauso ab wie von einer Interpretation seiner Gedichte als »Übersetzung« der Musik. Er beschreibt sie vielmehr als autonome künstlerische Miniaturen, die jedoch in einem Sinnzusammenhang mit den anderen Teilen des performativen Geschehens stehen und deshalb im Kontext der jeweiligen Performance mit den Musikern zu lesen sind.448
2.9 L EITEN , B EGLEITEN
UND
Ü BERSTEIGEN
Wird Musik bewusst in den Bezug zu Bewegungen emotionaler, motionaler, mentaler oder sozialer Art gestellt, kann von funktionalen Aspekten gesprochen werden, die sich innerhalb eines Rollenkomplexes von Musik als Stimulans, Begleitung, Animation, Führung oder Gegenüber auftun. Die hier gezeichneten Verbindungen von Musik zu verschiedenen menschlichen Lebensbereichen demonstrieren, wie aus der prinzipiellen Funktionalität von Musik diverse Konstellationen hervorgehen. Es erweist sich als schwierig, eindeutige Grenzziehungen zwischen den damit verbundenen Aufgaben der Musik vorzunehmen. So wird eine Trennung in Kategorien unterlaufen, indem von einem funktionalen Spannungsfeld zwischen Begleiten und Leiten ausgegangen wird.449 Einerseits hat Musik als Ausdruck einer Kultur allgemein gesellschaftskonstituierende Funktion; andererseits erfüllt sie in einzelnen Bereichen bestimmte Zwecke und weist in diesen Feldern unterschiedliche Kriterien auf.450 Die Angebundenheit
447 Gebärdensprachpoesie versteht sich als künstlerische Gestaltung der Gebärdensprache, die nicht per se an Musik gekoppelt ist. In der Poesie mit Gebärden spielen das rhythmische und mimische Element im visuellen Ausdruck eine große Rolle. 448 Diese Textpassage beruht auf einem persönlichen Gespräch der Autorin mit Andreas Schodterer am 27.08.2009. Vgl. z.B. Otto Lechner/Pamela Kurstin/Andreas Schodterer: »Ein Abend der sechs Sinne« (2010), Wiener Minoritenkirche. 449 Vgl. Schwindt-Gross, Nicole: »Artikel ›Begleitung‹«, in: MGG 1, S. 1337-1345, hier S. 1337 zu Begleitung als grundlegende Erscheinung menschlicher Musikausübung sowie zu Begleitung außermusikalischer Vorgänge und zur Problematik des Begriffes im Sinne eines sekundären Bezugspunktes; die Entscheidung zwischen Hauptsache und Begleitmoment sei oft schwer zu treffen. Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 263 zu Musik, die sich begleitend dem Wort anschließt und solcher, die sich frei, »in fesselloser Selbständigkeit« ergeht. Vgl. außerdem ebd., S. 306ff. 450 Vgl. H. Rösing: Musikalische Lebenswelten, S. 130 sowie Kunz, Susanne: Musik am Arbeitsplatz, Wien: Doblinger 1991, S. 9f.; eine allgemein akzeptierte Theorie der Fun-
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der Musik an die Bewegungen des sozialen Lebens ermöglicht also, im Spiegel der Musik Rückschlüsse auf das historische Umfeld zu ziehen.451 Der chinesische Gelehrte Lü Pu-Wei nimmt im dritten vorchristlichen Jahrhundert in seiner Schrift »Frühling und Herbst« auf diesen Zusammenhang Bezug: »Darum ist die Musik eines wohlgeordneten Zeitalters ruhig und heiter, und die Regierung gleichmäßig. Die Musik eines unruhigen Zeitalters ist aufgeregt und grimmig, und seine Regierung ist verkehrt. Die Musik eines verfallenden Staates ist sentimental und traurig, und seine Regierung ist gefährdet.«452
Die Verbindung von Musik mit anderen Lebensbereichen mag heute angesichts eines arbeitsteiligen, ausdifferenzierten Kulturzustandes mehr konstruiert als natürlich erscheinen. Wie Bernhard Waldenfels darlegt, handelt es sich bei Musik gegenwärtig um eine »intrakulturelle Sonderwelt der Töne und Klänge«, die mit einem Musik-Leben verbunden ist, das Komponisten, Solisten, Orchester, Musikschulen, Konzertsäle, ein Musikpublikum und Musikkritik einschließt.453 In frühen Hochkulturen hingegen war ›Musik‹ – und noch allgemeiner ›Kunst‹ – kein autonomer, abgehobener Bereich, sondern in Alltags- und Arbeitsleben, in Politik und Kult wie selbstverständlich integriert. Funktionale Bindungen sind damit per se gegeben, Trennungen musikalischer Dimensionen in solche des funktionalen und funktionsfreien Raumes noch obsolet.454 Aristeides Quintilianus beschreibt die Einbettung der Musik in das Leben der Menschen und die damit verbundenen elementaren Aufgaben für die Gesellschaft: »Auf alle Fälle gibt es [...] keine Handlung, die ohne Musik [weihevoll] vollzogen wird. Die [...] Gottesdienste werden durch Musik verschönt. Die besonderen Feiern und Feste [...] ge-
ktion von Musik existiert nicht (vgl. R. Parncutt/A. Kessler: Musik als virtuelle Person, S. 9). 451 So drückt sich z.B. im französischen Menuett die aristokratische Lebensart aus (vgl. B. Wosien: Der Weg des Tänzers, S. 47f. sowie P. Nettl: Tanz und Tanzmusik, S. 84) oder kann in der Musik Wolfgang Amadeus Mozarts eine Brücke zur aufgeklärten Herrschaft Maria Theresias geschlagen werden (R.M. Schafer: Klang und Krach, S. 12). 452 Lü Pu-Wei: Frühling und Herbst, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1979, S. 62 (V, 4. Kap.). 453 B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 186. 454 Vgl. G. Klein: FrauenKörperTanz, S. 17 sowie M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 1 und ebd., S. 221. Vgl. Walter Suppan zit.n. Blaukopf: Musik im Wandel der Gesellschaft, S. 9: »Musik ist in den frühen Phasen der menschlichen Geschichte nicht selbständige ›Kunst‹, sondern [...] in allgemein gesellschaftliche Tätigkeiten eingebunden [...].«
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winnen durch sie an Prunk. Kriege, Kämpfe und Aufzüge werden mittels Musik angespornt und geordnet. Seefahren und Rudern sowie die Beschwernisse der handwerklichen Tätigkeiten macht sie unempfindlich, sobald sie zur Linderung der Mühen genommen wird.«455
Fundamentale Prozesse gesellschaftlicher Entwicklungen wie Säkularisierung und Industrialisierung führten seit der Renaissance und der Zeit der Aufklärung dazu, dass sich eine selbstverständliche Bindung der Musik an den Alltag löste und sich eigene Bereiche ästhetischer Künste bildeten. Musik wurde zum kulturellen Ereignis; im Zuge dieser Entwicklungen wurden erste Konzertsäle installiert und eine Trennung der Musik in eine ernste und eine unterhaltende forciert.456 Um 1800 verbreitete sich die Idee einer absoluten Musik; d.h. eine Musik, die als »reines Tönen« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel) von Worten und Funktionen losgelöst und ergo einer (lediglich) begleitenden und im praktischen Kontext gebrauchten gegenübergestellt wird.457 Doch es regten sich Widerstände gegen eine l’art pour l’art: Einzelne Komponisten oder künstlerische Bewegungen der Avantgarde forcierten die Aufhebung der entstandenen Kluft zwischen Kunst und Leben.458
455 Aristeides Quintilianus: De musica, II,65f.; vgl. Schroedter, Stephanie: »Artikel ›Tanz/ B. Antike/II. Antike griechische und römische Tanzkunst‹«, in: MGG IX, S. 255-265, hier S. 263. 456 Zur Herausbildung des Phänomens Kunst als Kunst im Kontext der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und als Voraussetzung für künstlerische Entwicklung im 20. Jahrhundert vgl. Damus, Martin: Kunst im 20. Jahrhundert. Von der transzendendierenden zur affirmativen Moderne (= Rowohlts Enzyklopädie, Band 55627), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, S. 13ff.; vgl. weiters Söhngen, Oskar: Theologie der Musik. Kassel: Stauda 1967, S. 302 sowie Woitas, Monika: »Artikel ›Tanz/A. Systematische Aspekte/I. Einleitung und II. Überlieferung 1‹«, in: MGG IX, S. 230-239, hier S. 230ff. 457 Vgl. C. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, S. 13f. und F. Klausmeier: Die Lust, sich musikalisch auszudrücken, S. 220. Vgl. Schröer, Henning: »Musik als ›Offenbarung des Unendlichen‹? Die Transzendenz der Kunst und die Offenbarung Gottes«, in: Ehrenforth, Musik. Humanität. Erziehung (1981), S. 64-89, hier S. 71: Es könne von einer »Sakralisierung« der Kunst in der Säkularisierung (z.B. bei Richard Wagner) gesprochen werden. Und vgl. Schneider, Otto (Hg.): Tanz-Lexikon. Der Gesellschafts-, Volks und Kunsttanz von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien: Hollinek 1985, S. 532 zur Distanzierung der primär ästhetisch ausgerichteten musikalischen Fachwelt von der Tanzmusik. 458 Vgl. H.d. La Motte-Haber: Grenzüberschreitung als Sinngebung in der Musik des 20. Jahrhunderts, S. 224. Für die bildende Kunst gilt, dass viele Werke nunmehr eines spezifischen Ortes bedürfen, der traditionell Kunstwerken vorbehalten ist, um als Kunst identifiziert werden zu können (vgl. M. Damus: Kunst im 20. Jahrhundert, S. 20ff.).
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Einerseits existiert heute eine Sonderwelt Musik mit all den dazugehörigen, die letzten Jahrhunderte hervorgebrachten gesellschaftlichen Phänomenen und Institutionen; andererseits ist Musik im alltäglichen Leben omnipräsent. War funktional orientierte Musik einst an den Radius ihres Geltungsbereiches gebunden, scheint es für die Postmoderne charakteristisch zu sein, dass den Bereichen der Verwendung von Musik keine Grenzen gesetzt sind. So spricht Eckhard Gropp innerhalb eines sozio-kulturellen Kontextes von einem Wandel hin zu einer »umfassenden Funktionalisierung« von Musik: »Auf der einen Seite kann dabei jede beliebige Musik in jedes beliebige Umfeld und beinahe jeden denkbaren Sinnzusammenhang integriert werden. Auf der anderen Seite werden in der Erlebnisgesellschaft ausgesprochen spezialisierte Angebote an Genres [...] und an übergreifenden Verknüpfungsmechanismen eingeführt [...].«459
Die hiermit berührte Frage nach der Trennung von Musik in eine ästhetischautonome und eine funktional-gebundene erweist sich nicht nur historisch betrachtet als kontrovers, sondern, so Hans Heinrich Eggebrecht, grundsätzlich als problematisch: Musik sei funktional und autonom zugleich ausgerichtet. D.h., funktionaler Musik muss immer auch ein autonomes Moment innewohnen; autonome Musik geht immer mit funktionalen Aspekten einher.460 Andere Theoretiker haben darauf hingewiesen, dass Musik trotz ihrer funktionalen Freiheit durch ihre Ursprünge in Kult und medialer Verflechtung geprägt ist und deshalb nie als vollkommen autonom verstanden werden kann.461 Es zeigt sich, dass Musik genuin mit dem Leben des Menschen verwoben ist. Ausgehend von der Lebenszugehörigkeit der Musik und ihrer damit verbundenen ›Nicht-Eindeutigkeit‹ widmen sich folgende Betrachtungen verschiedenen funktionalen Zusammenhängen und fragen nach der spezifischen Rolle der Musik sowie nach damit einhergehenden Bewegungsphänomenen. Musik wurde seit jeher dazu eingesetzt, ein politisch verstandenes Lebensgefühl zu unterstützen; so kann die gesellschaftliche Situation als in der Musiksphäre hörbar aufgefasst werden.462 Da es möglich ist, mittels Musik zu beeindrucken, von etwas
459 Gropp, Eckhard: Neue musikalische Wirklichkeiten. Funktionalisierungen von Musik in der Erlebnisgesellschaft (= Monolithographien, Band 3), Stuttgart: F. Steiner 2007, S. 10. 460 Vgl. H.H. Eggebrecht: Die Musik und das Schöne, S. 63. 461 Vgl. T.W. Adorno: Philosophie der neuen Musik, S. 26 und W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 18f.; vgl. weiters E. Ansermet: Die Grundlagen der Musik im menschlichen Bewußtsein, S. 352. 462 Vgl. P. Bubmann: Von Mystik bis Ekstase, S. 117.
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abzulenken, zu mobilisieren oder Widerstand auszudrücken, dient sie dem Staat oder einer politischen Bewegung dazu, eine Einheit als Volk oder Gruppe sowie kulturellen oder ideologischen Konsens herzustellen; nicht zuletzt die Nationalhymnen sind ein Beispiel für die Generierung eines Gefühles nationaler Einheit über Musik.463 Absolute Herrscher bedienen sich der Musik seit jeher, um einerseits ihre Macht zu demonstrieren und andererseits damit verbundene Emotionen im Individuum zu evozieren.464 Musik ist als wesentliche Komponente gemeinschaftlichen, inszenierten Fortbewegens im öffentlichen Raum anzutreffen: Umzüge verschiedener Art gehen mit musikalischer Begleitung und Leitung einher und beziehen Musik in das Geschehen bewusst ein.465 Sowohl mit festlichen Umzügen jeder Art als auch mit der Kriegsführung466 ist die Marschmusik verbunden. Denn der Marsch – »Einheit von Musik und Schreiten« (Georg Anschütz) – suggeriert in rhythmischer wie harmonisch-melodischer Art Frohsinn, Klarheit, Motivation und Mut.467 V.a. in seiner ursprünglich militärischen Funktion sind die Regelung des Gleichschrittes und die Beeinflussung des Gemütes von Bedeutung.468 Wie schwer
463 Vgl. Heister, Hanns-Werner: »Zweckbestimmung von Musik«, in: Bruhn/Rösing, Musikwissenschaft (1998), S. 208-220, hier S. 210. Vgl. Adorno, Theodor W: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen (= Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Band 292/293), Hamburg: Rowohlt 1968, S. 167: »Musik prägt wie kein anderes künstlerisches Medium auch die Antinomien des nationalen Prinzips aus.« Beispiele für Musikwerke, die sich auf den Aspekt der Nationalität beziehen, sind César Frank: »Patriotische Orchesterlieder« (1870), Max Reger: »Vaterländische Ouvertüre« (op. 140) und Claude Debussy: »Ode à la France« (1916/17). Zu Nationalgesängen, Musik bei politischen Feiern sowie zum Nutzen der Musik in der Republik und im Gemeinwesen vgl. auch J.G. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste III, S. 427f. und J. Mattheson: Der vollkommene Capellmeister, S. 28ff. 464 Vgl. F.K. Prieberg: Musik und Macht, S. 240ff. und S. 130. 465 Zu Triumphzügen im römischen Reich, in der Renaissance und im Barock vgl. J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 180ff. und P. Nettl: Tanz und Tanzmusik, S. 46. 466 Vgl. F.K. Prieberg: Musik und Macht, S. 236 zur Militärmusik. Vgl. Gleim, Johann Wilhelm Friedrich: Gedichte (= Universal-Bibliothek, Band 2138/39), hrsg. von J. Stenzl, Stuttgart: Reclam 1969, S. 73 (»Preussische Kriegslieder« von 1756): »Auch stimm ich hohen Schlachtgesang/ Mit seiner Helden an,/ Bey Pauken und Trompeten Klang,/ Im Lärm von Roß und Mann.« Zur »Kriegsmusik« vgl. auch C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 96. 467 Vgl. ebd., S. 73 zum Marsch als »eine Art von Musik, welche das Herz und den Muth eines Kriegsheeres [.] erhebt [...].« 468 Vgl. E.M.v. Hornbostel: Melodischer Tanz, S. 76: »[.] das Marschieren des Militärs zum Schlage der Trommel beweist, daß das rhythmische Geräusch genügt, die Körper-
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es fällt, sich der Wirkung des Marsches auf den Körper und seine Motorik zu entziehen, hält der Schriftsteller Joseph Roth in einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1928 fest: »Das letzte Stück – es war fast immer der Radetzkymarsch – [...] war sämtlichen Musikanten in Fleisch und Blut übergegangen, sie spielten ihn auswendig, wie man auswendig atmet. Nun erklang dieser Marsch – [...] –, und während die Trommler und Trompeter noch auf ihren Plätzen standen, glaubte man die Trommeln und Trompeten schon selbständig marschieren zu sehen, mitgezogen von den Melodien, die ihnen eben entströmten. Ja, der ganze Volksgarten befand sich auf dem Marsch.«469
Elias Canetti geht in »Masse und Macht« (1960) auf das Spezifikum der rhythmischen Masse ein: »Wo viele gehen, gehen andere mit«, konstatiert er eine Anziehungskraft des ›Rhythmus der Füße‹ und erklärt die Intensität dieser gemeinsamen Handlung aus der Gleichwertigkeit der Teilnehmer, wurzelnd in der Gleichwertigkeit ihrer bewegten Glieder.470 Eine Choreografie der Massen über Musik verändert den Bewusstseinszustand der Menschenmenge; der Einzelne geht in einem Wir, in einem größeren Ganzen auf. Musik repräsentiert Gemeinschaft nicht nur, sondern provoziert kollektive Erregung und bindet die im Sozialen wirksamen Kräfte.471 Das musikalische Potenzial, welches darin besteht, körperlich-seelische Bewegung und folglich Masse zu kontrollieren, wird deshalb auch von diktatorischen Systeme für eigene Interessen genutzt. Der Bedeutungsinhalt von Motivation durch Rhythmus erhält durch den Impuls zu einer regressiven Verhaltensweise eine Wendung zum Pejorativen; die Sinne stumpfen ab, die Bewegung der Massen wird gleichge-
bewegung zu regeln.« Der Gleichschritt wird mit Dominanz der Lautstärke und deutlicher Akzentuierung erreicht (vgl. D.d. La Motte: Melodie, S. 105); die Geschwindigkeit scheint sich an das »Temperament der Nation« anzupassen (vgl. B. Wosien: Der Weg des Tänzers, S. 51). In eine Art Trance versetzt die Vergegenwärtigung des mütterlichen Herzschlages im Marsch (vgl. L. Janus: Pränatales Erleben und Musik, S. 13). 469 Roth, Joseph: »Konzert im Volksgarten«, in: Frankfurter Zeitung vom 08.04.1928. Vgl. H. Timmermann: Über den Ursprung der Musik aus der Bewegung, S. 17: »Wir wissen, wie ein Marsch ›zünden‹ kann.« 470 E. Canetti: Masse und Macht, S. 31. 471 Vgl. ebd., S. 15. Zur ideologischen Vereinigung von Gruppen durch Musik vgl. auch R. Parncutt/A. Kessler: Musik als virtuelle Person, S. 32. Aus neurologischer Sicht werden Willenskräfte durch die Verbindung der Nervensystemen im gemeinsamen Tun und Erleben mobilisiert (vgl. O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 270ff.).
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schaltet.472 So war man sich z.B. sowohl im Austrofaschismus als auch im darauffolgenden Nationalsozialismus der kumulierenden Wirkung, die durch die Mitgerissenheit von Musik, im gemeinsamen Bewegen und Singen entsteht, bewusst.473 Der Pressewart eines Chorkreises des »Reichsverbandes der gemischten Chöre« erklärt die Aufgabe der Musik im sozialen Kontext: »Zum Volk gehören, bedeutet [...] das Sicheinordnen in den Rhythmus, der heute in unerhörter Kraft durch das Land geht. [...] dem gemeinsamen Rhythmus, dem Feiern und der Arbeit klingende Form zu verleihen, ist [...] die vordringliche Aufgabe der Musik.«474 Auch an turnerischen Exerzierübungen, wie sie zur Zeit des Nationalsozialismus forciert wurden, zeigt sich, wie Musik anstelle des verbalen Kommandos systematisch eingesetzt wurde, um Körperbewegung zu führen und gemeinschaftliche Aktivität subtil zu dirigieren.475 Günther Grass schildert in seinem Roman »Die Blechtrommel« (1959) eine fiktive Szene zur Zeit des Nationalsozialismus, in welcher der Konnex von Musik (v.a. Rhythmus), Körperbewegung, Gefühlsbewegung und Ideologie sowie die subversive Wirkung von Musik zum Ausdruck gebracht wird: Der Protagonist der Handlung, das Kind Oskar Matzerath, stellt in seinem Trommelspiel dem geraden Takt einen ungeraden gegenüber und erreicht damit die Veränderung der Bewegung der Volksmenge vom disziplinierten Marschieren zum ausgelassenen Walzertanzen: »Nur dem Löbsack, der mit Kreisleitern und Sturmbannführern, [...] mitten in der Menge kochte, [...] lag erstaunlicherweise der Walzer nicht. Der war gewohnt, mit gradliniger Marschmusik zur Tribüne geschleust zu werden. Dem nahmen nun diese leichtlebigen Klänge den Glauben ans Volk.«476 Es handelt sich, wie Friedrich Nietzsche feststellt, also um eine »elementare Überwältigung«, die der Mensch beim Hören der Musik erfährt; Nietzsche ordnet
472 Vgl. Primavesi, Patrick/Mahrenholz, Simone: »Einleitung«, in: Dies., Geteilte Zeit (2005), S. 9-36, hier S. 9. 473 Vgl. Lorenz, Konrad: »Der Abbau des Menschlichen«, in: Lorenz, Die Rückseite des Spiegels (1988), S. 333-502, hier S. 444: »[...] Hitler [...] würdigt die suggestive Wirkung des Zusammen-Marschierens und -Singens.« 474 Joachim Weinert zit.n. F.K. Prieberg: Musik und Macht, S. 159. Zur Herauslösung bestimmter Musik aus ihrem originären Darbietungskontext und zu gezielter, politischer ›Umfunktionalisierung‹ der Musik in der NS-Zeit vgl H.-W. Heister: Zweckbestimmung von Musik, S. 208. 475 Vgl. E. Canetti: Masse und Macht, S. 356: »Der Befehl an viele [...] bezweckt, aus den vielen eine Masse zu machen [...].« 476 Grass, Günther: Die Blechtrommel, Müchen: Deutscher Taschenbuch Verlag 2009, S. 153.
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diese in erster Linie der Wirkung des Rhythmus zu.477 Die viel zitierte ›Macht‹ der Musik liegt dem Einsatz mit funktionaler Intention zugrunde und ist universaler Topos in zahlreichen alten Erzählungen der Menschheitsgeschichte, sei es im Orpheus-Mythos oder in der Sage des Rattenfängers von Hameln.478 Haben die zuletzt vorgenommenen Erläuterungen die Verwendung von Musik im politischen Kontext demonstriert, soll die Aufmerksamkeit nun auf die bewusste Verwendung von Musik im Alltag gelenkt werden.479 Ein typisches Beispiel dafür ist die Kombination körperlicher Arbeitstätigkeiten mit Musik, woraus zahlreiche Liedtypen wie z.B. die Shanties britischer Seeleute oder die Worksongs schwarzafrikanischer Sklaven in den Vereinigten Staaten von Amerika hervorgegangen sind. Homogene Rhythmen synchronisieren, motivieren und disziplinieren taktgebundene Arbeit, die gleichzeitige Bewegung erfordert. Zwischen der »trägeren Eigenbewegung« und der »musikalischen Zeitgestalt« enstehe eine charakteristische Spannung, so der Musikwissenschaftler Friedrich Klausmeier.480 Skurrile Auswüchse eines funktionalen Musikeinsatzes im Bereich der Arbeit werden am Beispiel eines deutschen Industriebetriebes Anfang des 20. Jahrhunderts evident, der Grammofon-Musik zur Steigerung der Produktivität seiner Stenotypistinnen einsetzte; im Rahmen eines Preisausschreibens wurde dazu aufgefordert, »flotte Begleitmusik« zum Maschinschreiben zu komponieren, die das Arbeitstempo erhöhen sollte.481 Abgesehen vom Arbeitsbereich wird Musik im Freizeitbereich bewusst angewandt, um Bewegung zu unterstützen; vergleichbar dem Bereich der Arbeit hat Musik z.B. im Sport die Funktion, Motivation und damit Leistung zu steigern sowie wahrgenommene Anstrengung zu reduzieren. Mit diesen Fragen haben sich musikpsychologische Tests bereits beschäftigt.482 Einen besonderen Stellenwert weist die
477 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, S. 101. Vgl J.G. Herder: Kalligone, S. 179: »Wir fanden [...], daß jeder Ton seine Art der Regung, seine bedeutende Macht habe.« 478 So wird bei C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 23 von Timotheus berichtet, der »jeden Zauber der Musik in seiner Macht hatte«. 479 Vgl. G.W.F. Hegel: Ästhetik, S. 276 zu musikalischer Begleitung regelmäßiger Handlungen. 480 F. Klausmeier: Die Lust, sich musikalisch auszudrücken, S. 226f.; vgl. weiters W. Suppan: Der musizierende Mensch, S. 84 und S. Kunz: Musik am Arbeitsplatz, S. 17. 481 Vgl. P. Borscheid: Das Tempo-Virus, S. 280. 482 Vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 163 sowie Oerter, Rolf/Bruhn, Herbert: »Musikpsychologie in Erziehung und Unterricht«, in: Oerter, Rolf/Stoffer, Thomas H. (Hg.), Spezielle Musikpsychologie (= Enzyklopädie der Psychologie, Musikpsychologie, Band 2), Göttingen u.a.: Hogrefe 2005, S. 555-624, hier S. 605f.
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Begleitung körperlicher Bewegung im Kontext der Musikpädagogik auf: In verschiedenen Methoden wie z.B. in der auf Emile Jaques-Dalcroze zurückgehenden Rhythmik oder in der Elementaren Musik- und Tanzpädagogik nach Carl Orff und Gunild Keetman wird musikalische Begleitung eingesetzt, um die Teilnehmer in ihrer körperlichen Bewegung zu führen und zu unterstützen. Mit dieser Aufgabe geht die Notwendigkeit der Empathie sowie des entsprechenden Gestaltungsvermögens der Instrumentalisten einher. Denn sie müssen einerseits den sichtbaren Bewegungsablauf im hörbaren Spiel aufgreifen und mit Klarheit musikalisch umsetzen sowie andererseits die Gestaltung improvisatorisch weiterentwickeln.483 Die Rhythmikpädagogin Elfriede Feudel beschreibt die Aufgabe des Musizierenden in der Interaktion mit dem Bewegenden: »Der Lehrer der Rhythmik muß imstande sein, durch sein Spiel den Körper zu führen und ebenso ihm zu folgen. Um diesen engen Kontakt zwischen Körper und Musik herzustellen, genügt es nicht, daß das Spiel mühelos fließend und musikalisch richtig sei; der Spieler muß ihm auch eine instinktive körperliche Beschwingtheit mitgeben können, die von seinem eigenen Körpergefühl abhängt [...].«484
Die jeweiligen Rollen von Musik und Bewegung – führen vs. sich führen lassen – werden auch bewusst gewechselt. In der Musikpädagogik wird dieses Wechselspiel mit dem Prinzip des Umschaltens bezeichnet; über den engen Bezug auf das akustisch-motorische Geschehen hinausgehend betrifft dieses in einem weiteren Sinne auch die Variation der Instrumente, Rhythmen, Taktarten, Tempi oder gestalterischer Komponenten wie Kontrast oder Imitation. Dieses Prinzip hat mit Verweis auf die Problematik einer Gleichschaltung der Bewegung durch Musik, wie sie an früherer Stelle beschrieben wurde, fundamentale Bedeutung. Jeder starren Fixierung, die stets Gehaltsverarmung anzeigt, müsse also im Unterricht präventiv entgegen gewirkt werden, wie seitens der Musikpädagogik betont wird.485
483 Vgl. Keetman, Gunild: Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk, Stuttgart: E. Klett 1970, S. 166. Keetmann erwähnt die Gefahr der Abstumpfung der Bewegung durch gleichbleibende Lautstärke sowie die Notwendigkeit des nuancierten Spieles, um die Aufmerksamkeit zu erhalten. Zu Improvisation als Ausgangspunkt elementaren Musizierens vgl. Orff, Carl: Schulwerk, Elementare Musik (= Carl Orff und seine Werke. Dokumentation III), Tutzing: Schneider 1976, S. 22. 484 Feudel, Elfriede: »Improvisation«, in: Dies. (Hg.), Rhythmik. Theorie und Praxis der körperlich-musikalischen Erziehung, München: Delphin 1926, S. 45-48, hier S. 48. 485 Vgl. E. Jaques-Dalcroze: Rhythmus, Musik und Erziehung, S. 98ff. und E. Feudel: Dynamische Pädagogik, S. 27ff.; zum Umschalten als Grund-Bewegungs-Prinzip, um gegenläufige Bewegungen und Pole zu schaffen vgl. Neikes, Johannes L.: Scheiblauer
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Handelt es sich hinsichtlich der Bewegung bei bereits erwähnten Beziehungen der Musik zur Körperbewegung um einfache Grundbewegungen, wie sie für Lokomotion oder Arbeitstätigkeit notwendig sind, so stellt der Tanz als künstlerische Gestaltung bereits an sich eine Sonderform der Bewegung dar. Im Tanz wird die Notwendigkeit von Bewegung überstiegen und ist per se eine konstitutive Verbindung mit Musik gegeben. Die Beziehung von Musik und Tanz war historisch betrachtet vielen Wandlungen unterworfen. Damit verbundene Fragen betreffen sowohl das Verhältnis von Musik und Bewegung, die hierarchischen Strukturen innerhalb dieses Verhältnisses, den Part der Musik im Kontext tänzerischen Selbstverständnisses als auch die Zusammenarbeit von Komponisten und Choreografen und die daraus entstehenden Wechselwirkungen.486 Die Musik- und Tanzpädagogin Helmi Vent resümiert: »Neben mehr oder weniger fixierten Ausprägungen, in denen Tanz und Musik einen festen Zusammenhang bilden, gab bzw. gibt es variantenreiche Wechsel von Verschmelzungs- und Separierungsformen [...], spannungsreiche Hin- und Herläufe zwischen eigenständiger und dienender Beziehung.«487 Musik und Tanz entstammen demselben Ursprung: dem menschlichen Leib. Diese einstige Symbiose im Leiblichen der sich später voneinander lösenden Komponenten kann einerseits bei Kindern bis in das Vorschulalter festgestellt werden; andererseits zeigt sich diese Einheit in frühen (und außereuropäischen) Kulturen.488 In der Körperperkussion, einem musikalisch-tänzerischen Basisverhalten, kann der gemeinsame Ursprung von Musik und Tanz auch im westlichen Kulturkreis noch heute nachvollzogen werden.489 Trotz der ›Emanzipation‹ des Tanzes von der Mu-
Rhythmik. Orthagogische Rhythmik, St. Augustin: Richarz 1985, S. 27. Zum streckenweisen Aussetzen der Begleitung sowie zum Wechsel der Instrumente als Reizerhöhung vgl. G. Keetman: Elementaria, S. 166. 486 Zum Diskurs über den Stellenwert der Musik im Ballett vgl. Lamerz, Bernward: Musik und Tanz. Zum Verhältnis zweier Künste im 19. und 20. Jahrhundert (= Die Tanzarchiv-Reihe, Band 22), Overath bei Köln: Steiner 1987, S. 17. 487 Vent, Helmi: »Funktionen musikalischer Komposition im zeitgenössischen Tanztheater«, in: Gesellschaft für Tanzforschung (Hg.), Tanzforschung. Jahrbuch Band 2, Wilhelmshaven: Noetzel 1992, S. 111-137, hier S. 111. Zum Zusammenhang von (kulturell determinierter) tänzerischer Bewegung und Musik vgl. P. Bubmann: Von Mystik bis Ekstase, S. 117f. 488 Vgl. P. Nettl: Tanz und Tanzmusik, S. 17 und Oerter, Rolf/Bruhn, Herbert: »Musizieren«, in: Bruhn/Rösing, Musikwissenschaft (1998), S. 330-348, hier S. 334. Zum gemeinsamen Bedeutungsfeld von Bewegungs-, Spiel-, Gesangs- und Musizierformen vgl. H. Ettel: Artikel »Tanz«, S. 969. 489 Vgl. Keller, Wilhelm: Einführung in »Musik für Kinder«. Methodik, Spieltechnik der Instrumente, Lehrpraxis (= Orff-Schulwerk), Mainz: Schott 1954, S. 7, weiters P. Nettl:
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sik stehen beide Ausdrucksformen in einem innigen, dialogischen Verhältnis zueinander; selbst in der Negation wird aufeinander Bezug genommen. Die Vielfalt an Ausprägungen dieser Beziehung wird im Folgenden skizziert. Im Chorreigen der griechischen Antike wurden Bewegung, Musik und Sprache als ästhetische Einheit begriffen; der Ort des Geschehens war somit ein Ort, wo Singen, Tanzen und Spielen zum einen in der Praxis und zum anderen in der Definition dieses Ortes zusammentreffen.490 In diesem Sinne wird musiké von Christian Kaden in ihrer Gleichzeitigkeit des »vom Singen bewegten Tanzens, getanzter Gesang« begriffen.491 Dieses Wechselspiel der musischen Komponenten wird auch bei Lukian in seiner Abhandlung »Über den mimischen Tanz« aus dem zweiten Jahrhundert evident. Lukian erwähnt die Begleitung der Reigentänze durch Lieder und hält umgekehrt fest: »Denn reizend ist [...] ein Gesang, von tanzenden Reigen begleitet, [...].«492 Eine noch enge Bindung zwischen Musik, Tanz und Gesang lebt im Tanzlied (Cantileno) des Mittelalters weiter.493 In der Rede von Tanzmusik als musikalischem Genre zählt das Tanzlied zu dessen ursprünglichster Form und ist bis in die Gegenwart der Volksmusik verschiedener Kulturen existent.494 Innerhalb dieses Zusammenspieles von Musik (d.h. Gesang mit instrumentaler Begleitung) und Tanz bildete die Improvisation eine wesentliche Grundlage für das Entstehen des jeweiligen Tanzliedes. Die gesungenen Melodien wurden von den Musikanten instrumental variiert und verbreiteten sich schließlich auch von ihrem Ursprungsort ausge-
Tanz und Tanzmusik, S. 17 und M. Lex/G. Padilla: Elementarer Tanz, S. 159. Klatschen, Fingerschnalzen, Stampfen, Rasseln und Trommeln sind elementarste Musikformen (vgl. C. Orff: Schulwerk, S. 17). 490 Vgl. C. Kaden: Artikel »Musik/I-VI«, S. 256f.; vgl. Scipio A. Africanus zit.n. G. Klein: FrauenKörperTanz, S. 37: »Dort nämlich [...] gehen sie mit Harfe und Zither auf den Tanzplatz und lernen Lieder [...].« Vgl. weiters Schroedter, Stephanie: »Artikel ›Tanz/B. Antike/II. Antike griechische und römische Tanzkunst‹«, in: MGG IX, S. 255265, hier S. 261f. sowie Schikowski, John: Geschichte des Tanzes, Berlin: Büchergilde Gutenberg 1926, S. 9. 491 C. Kaden: Artikel »Musik I-VI«, S. 259. 492 Vgl. Lukian von Samosate: Über den mimischen Tanz, Stuttgart: J.B. Metzler 1827, S. 23. 493 Vgl. P. Nettl: Tanz und Tanzmusik, S. 32. 494 Tanzlieder sind z.B. in der Volksmusik der Färöer-Inseln, der Normandie und Bretagne sowie des süddeutsch-österreichischen Raumes zu finden. Zu speziellen Formen vokaler Begleitung in der Volksmusik vgl. z.B. Sárosi, Bálint: »Erweiterte Melodien zur Tanzbegleitung«, in: Bröcker, Marianne (Hg.), Tanz und Tanzmusik in Überlieferung und Gegenwart (= Schriften der Universitätsbibliothek Bamberg, Band 9), Bamberg: Universitätsbibliothek Bamberg 1992, S. 451-458.
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hend in andere Gebiete.495 Auf diese direkte Interaktion im Tanzlied des Mittelalters folgte in den darauffolgenden Jahrhunderten die Emanzipation der Musik (als Kunstmusik) von einer Bindung an Gesang und Tanz; innerhalb des Tanzes erfolgten Aufgliederungen in die Bereiche des Bühnen-, Gesellschafts- und Volkstanzes mit einem je charakteristischen Verhältnis zur Musik. Trotz dieser Tendenzen der Separierung lassen sich auch in der Kunstmusik Spuren einer engen Bindung von Musik und Tanz weiter verfolgen, wie folgende Beispiele zeigen. Die höfischen Tanzmeister der Renaissance und des Frühbarocks (maestro di danza) wie Fabritio Caroso, Thoinot Arbeau oder Cesare Negri vereinten in ihrer Person die Funktion von Komponist und Arrangeur, von Hofmusikant und Tanzlehrer.496 Das Verhältnis von Musik und Tanz wurde in dieser Zeit vermehrt in den theoretischen Fokus gerückt: Es entstanden zahlreiche Traktate und im Zuge dessen Versuche, Tanz zu notieren. Anhand erster Tanz-Notationen um das 16. Jahrhundert, die den Ablauf der Bewegung in einem System von Tabulaturen festhielten, wird ersichtlich, wie sich die Beschreibung des Tanzes in dieser Epoche unmissverständlich an der Musik als der zeitlichen Dimension orientierte.497 Parallel zur Theoretisierung des Tanzes gewann die instrumentale Musik zum Tanz an Bedeutung. Erste gedruckte Tanzmanuale markieren ein neues musikalisches Genre – die Tanzmusik.498 Diese wurde als ein für den Tanz konstitutives Element hervorgehoben. Tanz meinte in diesem Verständnis eine Bewegung nach der Musik, v.a. nach ihrer rhythmischen Komponente.499 Musik, so in einem Lexikoneintrag nachzulesen, sei in diesem Sinne keine »Hilfskunst«, sondern vielmehr die Leitung der Bewegung und könne auch ohne den Tanz bestehen.500 In seinem Tanz-Traktat von 1594 schildert Johann von Münster die Führungsrolle der Musik eindrücklich:
495 O. Schneider (Hg.): Tanz-Lexikon, S. 531f.; vgl. F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 103: »[...] und ich selber will ein Lied zu seinem Tanze singen [...].« 496 Vgl. Brainard, Ingrid: »Artikel ›Tanz/II. 15. bis Mitte des 16. Jahrhunderts‹, in: MGG IX, S. 268-271, hier S. 272. 497 Vgl. P. Nettl: Tanz und Tanzmusik, S. 51 sowie C. Jeschke: Tanz als BewegungsText, S. 10ff. und V. Saftien: Ars saltandi, S. 146. Vgl. Tanz-Traktate wie Domenico da Piacenza: »De arte saltandi et choreas ducendi« (ca. 1450), Fabritio Caroso: »Nobilità di Dame« (1600) und Thoinot Arbeau: »Orchésographie« (1589). 498 Vgl. F. Otterbach: Einführung in die Geschichte des europäischen Tanzes, S. 62 und V. Saftien: Ars saltandi, S. 98 sowie O. Schneider (Hg.): Tanz-Lexikon, S. 532 und P. Nettl: Tanz und Tanzmusik, S. 52. Typische Instrumente, die in der Tanzmusik der Renaissance zum Einsatz kamen, sind Gambe, Flöte, Schallmei, Zink, Laute und Harfe. 499 Außerdem bezog sich Bewegung auf das Versmaß eines Textes. 500 Vgl. J.H. Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universallexicon. Band 41 (1744), S. 1741.
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»[...] daß die Tänzer [...] so lang wenden und treiben, vorgehen und folgen müssen, bis der Pfeiffer aufhört zu spielen, und ihn gelüstet, ein Zeichen zu geben, daß der Vortanz ausgetanzet sei. Darnach ruhen sie ein wenig [...] und warten, bis der Pfeiffer wiederum aufblaset zum Nachtanz. [...] bis daß der Pfeiffer die Leute durch sein Stillschweigen geschieden hat [...].«501
Zählte neben der Choreografie auch die Komposition zum Zuständigkeitsbereich des Maître à danser der Renaissance, bildeten sich in darauffolgenden Epochen der Musikgeschichte, einhergehend mit der Professionalisierung der Aufgabenbereiche, neue Rollen sowie Möglichkeiten gegenseitiger Bezugnahme heraus. Zwischen Musikern und Tänzern, zwischen Choreografen und Komponisten entwickelten sich individuelle Verhältnisse der Zusammenarbeit, wozu sich verschiedene Theoretiker äußerten und hierarchische Positionen transparent werden lassen.502 Trotz der Trennung der Zuständigkeiten forderten beide Seiten ein Verständnis der jeweils fremden Kunst: Tänzer und Tanzmeister sollten musikalische Kenntnisse besitzen503; Komponisten benötigen unbedingt tänzerisches Wissen504 , denn es sei ihre Aufgabe, mit den Noten den »ersten Anstoß zur Gebärde« zu geben, wie Johann Mattheson schreibt.505 Der weiteren Entwicklung des akademischen Tanzes im 19. Jahrhundert zu einer Form des ›Schautanzes‹ folgten eigens
501 Johann von Münster: »Gottseliger Traktat vom ungottseligen Tanz« (1594) zit.n. Oetke, Herbert: Der deutsche Volkstanz I, Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1983, S. 228. 502 Vgl. J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 260f. zur Zusammenarbeit von George Noverre und Christoph Willibald Gluck. 503 Vgl. J. Mattheson: Der vollkommen Capellmeister, S. 86 (§81): »Geschickte Tänzer, [...] müssen diesen Styl [Anm.: der Musik] aus dem Grunde kennen, eben sowol, als ein theatralischer Componist.« Vgl. Samuel Rudolph Behr: »Anleitung zu einer wohl gegründeten Tanzkunst« (1703) zit.n. Taubert, Karl Heinz: Das Menuett, Geschichte und Choreographie, Zürich: pan 1988, S. 117: »[...] ein Tantz-Meister muß notwendig die Music und auch etwas von der musikalischen Komposition verstehen [...].« Vgl. Weis, Friedrich Wilhelm/Bleßmann, Johann Christian: Charakteristische englische Tänze, Lübeck: Iversen 1777, S. 24 (§5): »Alle zum [.] Tanze sich hinstellenden Personen, müssen [...] genau zu unterscheiden wissen, in was für einer Tactart die Musik zu dem [...] Tanze gespielt wird.« 504 Vgl. J. Mattheson: Der vollkommen Capellmeister, S. 217 (§44) zur Notwendigkeit als Ballett-Komponist tänzerische Kenntnisse zu besitzen. Vgl. Jahrhunderte später zu dieser Thematik R. Chladek: Aus der Werkstatt der Choreographie, S. 47f.: »Wenn dem Choreograph [...] die musikalischen Kenntnisse fehlen, sollte er sich nicht scheuen [...] einen [.] Musiker zu Rate zu ziehen.« 505 J. Mattheson: Der vollkommen Capellmeister, S. 37 (§24).
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dafür komponierte Musikwerke, die dem dramaturgischen, tänzerischen Bühnengeschehen tönenden Ausdruck verleihen.506 Der Begriff Ballett wird daher neben seiner Bedeutung als choreografisches Werk auch zu einem musikalischen Synonym für eine Werkgattung mit spezifischen kompositorischen Ansprüchen507 ; Pjotr I. Tschaikowsky zählt zu den wichtigen Vertretern dieses Genres. Scheint in Balletten der ästhetische Wert der Musik von besonderer Bedeutung zu sein, so existierten im 19. Jahrhundert trotzdem viele Stimmen, die im Kontext des Tanzes die Rolle der Musik als »Übersetzerin« und »Begleiterin« betonten und sie in ihrer Position gegenüber dem Tanz tendenziell als sekundär einstuften.508 Den Bereich des Gesellschaftstanzes betreffend wurde hinsichtlich der Musik verstärkt auf die Notwendigkeit von Prägnanz und Verständlichkeit sowie auf ihre Rolle als Animateurin hingewiesen; es sei Funktion der musikalischen Struktur, die Bewegung zu leiten und den Bewegungsablauf einer Automatisierung zu unterziehen. Trotzdem, so der Tenor, dürfen melodisch wie rhythmisch ›interessante‹ Elemente nicht fehlen.509 In der Epoche der Romantik beginnend und an der Wende zum 20. Jahrhundert fortgeführt wurde in der Literatur zu Musik oder Tanz, mit Rekurs auf die Antike, in unterschiedlichen Worten auf die »ursprüngliche Einheit« und die »Verschwisterung«510 oder den »naturgegeben«, fundamentalen Zusammenhang von Musik und Tanz hingewiesen.511 Tanz, so Emile Jaques-Dalcroze, entstehe also erst durch Musik und im musikalischen Empfinden des Tanzenden.512 Ähnlich der Choreograf
506 Vgl. J.J. Rousseau: Dictionnaire de Musique, S. 38 zum Ballett als» theatralische Aktion«, die durch einen von Musik begleiteten Tanz dargestellt wird. 507 Vgl. O. Schneider (Hg.): Tanz-Lexikon, S. 532. 508 Vgl. z.B. C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 203 zur Musik, die den »ganzen Sinn der Geberdensprache dollmetscht«. Vgl. auch B. Lamerz: Musik und Tanz, S. 35. 509 Vgl. dazu die diversen Nachschlagewerke des 19. Jahrhunderts. 510 Vgl. J.G. Herder: Kalligone, S. 186 zu Worten und Gebärden als »Schwestern« der Musik. 511 Vgl. ebd., S. 181: »Da also durch ein Band der Natur Musik, Tanz und Gebehrdung als Typen [...] einer gemeinschaftlichen Energie innig verbunden sind.« Herder spricht auch vom »Naturband« (ebd., S. 183). Vgl. B. Lamerz: Musik und Tanz, S. 17: »[...] der Tanz scheint nur in Verbindung mit der Musik zu existieren.« Vgl. auch folgende Choreografen zu dieser Thematik: R. Chladek: Aus der Werkstatt der Choreographie, S. 47f. und J. Cranko: Bewegung und Musik, S. 274. 512 Emile Jaques-Dalcroze zit.n. Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze (Hg.): Die Schulfeste der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze. Programmbuch, Jena: Diederichs 1912, S. 37. Zu Musik als akustische Brücke, die das Verständnis des Tanzes erleichtere vgl. B. Cullberg: Der Raum und der Tanz, S. 303. Und vgl. auch MacMillan, Kenneth: »Struktur und
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George Balanchine: Musik sei der Urgrund, sich selbst zu bewegen; musikalische Gesetzmäßigkeiten stellen eine notwendige Disziplinierung des Tanzes dar.513 Parallel zu diesem Diskurs, der von einer untrennbaren Angebundenheit des Tanzes an die Musik ausging, kam es, abseits des Ballettes, zu Bestrebungen des Tanzes, sich von der Musik zu emanzipieren. Darin spiegelt sich auch der allgemeine gesellschaftliche Umbruch am Anfang des 20. Jahrhunderts wider. Ein historisch betrachtet lange herrschendes Paradigma der Kopplung des Tanzes an die Musik wurde unterlaufen; die Autonomie der Bewegung wurde zum Postulat – nicht, ohne im Publikum Irritationen zu verursachen.514 Im Tanz wurde ein a priori ›freies‹ und jenseits formaler Zwänge angesiedeltes Verhältnis zur Musik gesucht.515 Diese Suche nach neuen Beziehungen zur Musik manifestierte sich in unterschiedlichen Experimenten und Formen der Bezugnahme, wovon auch der Tänzer und Choreograf Rudolf von Laban berichtet: »Vor vierzig Jahren gestaltete ich Choreographien ohne musikalische [...] Begleitung [...]. Später habe ich nur Schlagwerke verwendet. Mein nächster Versuch bestand darin, [...] speziell komponierte Musik zu bestellen. [.] später habe ich bekannte Ballette zu bereits fertig vorliegender Musik inszeniert.«516
Die stetige Genese dieser neuen Konzepte mündete im postmodern dance in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine vollkommene ›Anarchie‹ im Tanz. Tradierte musikalische Strukturen, gemeinsame logische Verläufe und gegenseitige funktionale Anbindungen von Musik und Tanz wurden obsolet.517 Der Komponist
Tanz,« in: Wolgina/Pietzsch, Die Welt des Tanzes in Selbstzeugnissen (1977), S. 254259, hier S. 255. 513 Balanchine, George: »Sie tanzen, vielleicht aus Freude am Tanzen«, in: Wolgina/Pietzsch, Die Welt des Tanzes in Selbstzeugnissen (1977), S. 227-243, hier S. 231. Vgl. auch H. Ettel: Artikel »Tanz«, S. 969. 514 Vgl. Jeschke, Claudia: Tanzschriften. Ihre Geschichte und Methode, Bad Reichenhall: Comes 1983, S. 65f. sowie Woitas, Monika: Artikel »Tanz/A. Systematische Aspekte/I. Einleitung und II. Überlieferung 1«, S. 239. 515 Vgl. S. Schlicher: TanzTheater, S. 204 sowie C. Jeschke: Tanzschriften, S. 65f. 516 Rudolf von Laban zit.n. Karina, Lilian/Sundberg, Lena: Modern Dance. Geschichte, Theorie, Praxis, Berlin: Henschel 1992, S. 102. Zwei weitere Beispiele für den Umgang mit Musik seien genannt: Mary Wigman setzte elementare Instrumente und Körperperkussion ein (vgl. P. Nettl: Tanz und Tanzmusik, S. 173); im Tanztheater des Choreografen Kurt Joos ist im Speziellen ein kontrapunktisches Verhältnis von Musik und Tanz zu beobachten (vgl. S. Schlicher: TanzTheater, S. 206). 517 Vgl. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 251.
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John Cage und der Tänzer Merce Cunningham demonstrierten mit ihren tanzhistorisch bedeutsamen Performances (»Untitled Event«) Mitte des 20. Jahrhunderts exemplarisch, wie zwei grundsätzlich unabhängig voneinander, in einem gemeinsamen Erlebnisraum aber miteinander existierende Medien interagieren.518 Innerhalb einer derartigen Konzeption veränderte sich die Funktion von Musik: Musik ordnet nicht mehr primär; getanzt wird in der Musik, aber auch rein neben ihr. D.h., beider Gemeinsamkeit besteht lediglich im Gebrauch eines zeitlichen Rahmens. Das Timing wird nicht mehr unbedingt durch Musik bestimmt, sondern muss von den Tänzern innerlich empfunden werden.519 Die lose Verbindung von Musik und Tanz kann so weit gehen, dass Musik lediglich als akustische ›Kulisse‹ eingesetzt wird.520 Und wenngleich auch immer wieder für Tanz komponiert wird, so existiert eine spezifische Tanzmusik im Sinne eines eigenen Genres im Bereich des Bühnentanzes nicht mehr. Jede beliebige Musik kann für ein Tanzstück herangezogen und für eigene Zwecke adaptiert werden. So verwenden zeitgenössische Choreografen aktuelle Musik, aber auch Werke aus vergangenen Epochen. Anna Teresa de Keersmaker, um ein Beispiel zu nennen, griff in einigen ihrer Choreografien auf bekannte musikalische Werke zurück und machte dies häufig auch am Titel explizit, so in »Mozart/Concert Arias. Un moto di gioia« (1992) oder »Bartók/Mikrokosmos« (1987). Eine enge Zusammenarbeit zwischen Choreografen und Komponisten kommt auch heute immer wieder vor wie z.B. bei Sascha Waltz und Mark André im Rahmen der Produktion »gefaltet« (2012), in welcher außerdem die Musiker in das Bewegungsgeschehen auf der Bühne einbezogen wurden. Nicht zuletzt hat die Inklusion von Medien wie Sprache oder Video Auswirkungen auf das Verhältnis von Musik und Tanz, insofern als dem tänzerischen Geschehen weitere mögliche Bezugspunkte hinzugesetzt werden. Was in der Postmoderne längst Usus, kreierte Mary Wigman, eine Pionierin des deutschen Ausdruckstanzes, erstmals mit ihren Werken »Tempeltanz« (1917) und »Opfer« (1917): Tänze ohne Musik. Nun wurde auch die Stille zu einem möglichen Fundament des Tanzes; damit geht die Fragestellung nach einem absoluten Tanz
518 Vgl. ebd., S. 226ff.; grundlegend ist das Ineinanderspiel der Künste im Tanztheater (vgl. H. Ettel: Artikel »Tanz«, S. 975). Bzgl. des Tanztheaters, wie es die Choreografin Pina Bausch realisierte, wird bei S. Schlicher: Tanztheater, S. 116 erwähnt, dass nun das »Fragmentarische« die Stücke durchdringe. 519 Vgl. Naumann, Barbara: »Kopflastige Rhythmen. Tanz ums Subjekt bei Schelling und Cunningham«, in: Dies., Rhythmus (2005), S. 123-139, hier S. 129. Es wurden z.B. »zeitstrukturelle« Punkte vereinbart (vgl. C. Neidhöfer: Beobachtungen zum Tempo bei John Cage vor 1950, S. 91). 520 Vgl. S. Huschka: Moderner Tanz, S. 229. Zur Zahl als gemeinsames Moment von Musik und Tanz vgl. M. Wigman: Sprache des Tanzes, S. 54.
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einher, der außer der Bewegung keiner weiteren Medien bedürfe, angelehnt an den analogen Diskurs in der Musik im 19. Jahrhundert. Um auf die zu Beginn dieses Kapitels angesprochene genuine Einheit von Musik und Tanz zu rekurrieren, so verdichtet sich genau diese Symbiose speziell in der Frage nach Definitionsspielräumen und Begriffsinhalten von Tanz, wie sie im Tanz ohne Musik relevant wurden. In ihrem Lexikon-Beitrag führt Helga Ettel aus, wie die Definition des Tanzes in Abkehr von der Musik paradoxerweise darin münden muss, sich insbesondere auf Musik zu beziehen: Denn Musik könne gerade dort, wo klingende Musik abwesend ist, d.h. in ihrer ›Negation‹, intensiv erlebt werden, insofern als sich die Tänzer mehr als sonst auf eine leiblich empfundene Musik beziehen müssen und dieses Moment nach außen reflektieren.521 Das Zusammenspiel von Musik und tänzerischen oder anderen gestalteten Bewegungsformen prägt auch kultische Handlungen.522 Bewegung und Musik sind kennzeichnende Momente des Rituellen und in einen Komplex verschiedener Größen innerhalb der kultischen Zeremonie, dem z.B. auch Maskierung, Essen, Trinken und Rauchen angehören können, eingebettet.523 Dass Bewegung nicht nur eine bloße Erweiterung des Rituals um dramatische, körperliche, spielerische und kommunikative Aspekte, sondern vielmehr die Möglichkeit einer ganzheitlichen Erfahrung der Gottheit als »Mit-Tänzer« darstellt, wird in Riten der Antike und anderer kulturell-religiöser Kontexte deutlich.524
521 Vgl. H. Ettel: Artikel »Tanz«, S. 976. Beispiele für Ballette ohne Musik sind: Jerome Robbins: »Moves« (1959) oder Christopher Bruce: »Ten Poems« (2009). 522 Kultische Tänze stellen eine frühe Form der Verbindung von Tanz und Musik dar (vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 85). Zur Notwendigkeit der Musik im »Verbund der mimetischen Zeremonie« vgl. H.-W. Heister: Zweckbestimmung von Musik, S. 211. Vgl. weiters Caduff, Corina/Gebhardt, Sabine/Keller, Florian/Schmidt, Steffen: »XTC in Musik, Tanz, Bild und Text«, in: Musik & Ästhetik 43 (2007), S. 1734, hier S. 18. 523 Vgl. M. Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, S. 172 und G. Rouget: Music and trance, S. 3 sowie W. Suppan: Der musizierende Mensch, S. 34 und D.P. Hengst: Tanz, Trance und Ekstase, S. 109. 524 Die Darstellung der Götter als »Mittänzer« findet sich z.B. bei Aristophanes: Thesmophoriazusae, hrsg. von A.H. Sommerstein, Warminster: Aris & Philips Ltd. 1994, S. 953-1000. Tanzen wird in der griechischen Antike als Vorgang der Identifikation des Selbst mit den Göttern verstanden (vgl. G. Rouget: Music and trance, S. 206). Vgl. auch die Sichtweise einer Teilnahme der tanzenden Derwische (des islamischen Sufi-Ordens) am »Tanz der Engel« (vgl. E. Bloch: Zur Philosophie der Musik, S. 59). Körpernähe als prägendes Moment ritueller Handlungen wird v.a. in der Antike erwähnt (vgl. C. Ka-
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Neben der Bedeutung von Musik und Tanz im Kult verschiedener Naturvölker, auf die hier nicht eingegangen wird, spielt diese Kombination auch in der Praxis der abrahamitischen Religionen eine Rolle, wenngleich das Moment der Trance mehrheitlich nicht unbedingt im Vordergrund steht. Die spirituelle Bedeutung der Verbindung von Musik mit Bewegung und Tanz im Judentum ist anhand vieler Bibelstellen nachweisbar.525 Auch das Christentum zeigt Spuren einer leibbetonten Liturgie, die infolge leibfeindlicher Strömungen jedoch vielfach in Vergessenheit geraten sind oder wenig als solche rezipiert wurden. Einfache, von Musik begleitete Bewegungshandlungen stellen ein wesentliches Element der Gottesdienst-Feier dar wie z.B. die sich im 12. Jahrhundert entwickelnde liturgische Praxis des Conductus – ein klanglich unterstütztes Schreiten des Geistlichen zum Lesepult; auch das Schreiten zur Kommunion oder Prozessionen im Kirchen- und Außenraum sind typische Gestaltungsformen, die Musik in Beziehung zu Bewegung stellen.526 Neben diesen durch den Ablauf vorgegebenen und ästhetisch ausgestalteten Bewegungshandlungen existierten auch liturgische Dramen und Mysterienspiele sowie unterschiedliche Ausprägungen einer Tanztradition; bekannt sind die Schreittänze im frühen Christentum oder die Labyrinth-Tänze zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert.527 In einzelnen christlichen Traditionen haben sich zudem spezifische Formen einer Verbindung von Musik und Bewegung gebildet, wie es z.B. der Holy Dance, die Synthese von Gesang und Gebärden in der afroamerikanischen Gospelmusik, belegt. In der islamischen Kultur stehen die tanzenden Derwische des Sufi-Ordens exemplarisch für eine Inklusion des Tanzes in die Spiritualität. Sie suchen die Erkenntnis des Göttlichen in Drehtänzen und im dazugehörigen Lauschen der Musik. In unaufhaltsamer Bewegung um die eigene Achse und gegen den Lauf der Sonne
den: Artikel »Musik/I-VI«, S. 257). Zu Musik und Tanz im Kult der Antike vgl. außerdem G. Klein: FrauenKörperTanz, S. 22f. und G. Rouget: Music and trance, S. 187ff. 525 Z.B. 2Kön 3,15 und 2Sam 6,15 sowie 1Chron 13,8. 526 Zum Conductus vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 57f.; bei C.F.D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 282 wird z.B. erwähnt, dass Musik während der Kommunion keine »leichtsinnigen Takte und Bewegungen« enthalten solle. 527 Vgl. Dahms, Sibylle: »Artikel ›Tanz/C. Gesellschaftstanz/I. Mittelalter‹«, in: MGG IX, S. 265-268, hier S. 266 und C. Kaden: Artikel »Musik/I-VI«, S. 269, weiters P. Bubmann: Von Mystik bis Ekstase, S. 13 sowie J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 129 und ebd., S. 180. Ausführlich widmet sich z.B. der Artikel »Tanz« in Pierers Universal-Lexikon. Band XVII, Altenburg: Pierer 1863, S. 237ff. dem Umgang der Kirche mit dem Tanz.
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begeben sie sich in eine Trance induzierende Spiralbewegung.528 Der Musikethnologe Curt Sachs beschreibt dies eindrücklich: »Da geht die Musik in eine aufreizende Weise [...]. Eine Schellentrommel und ein Paar kleine Pauken schlagen die abenteuerlichsten Rhythmen drein. Jetzt erheben sich dreizehn Mönche und bewegen sich langsam im Kreis [...]. Die Musik ändert Maqm und Rhythmus, und nun werfen alle den Mantel ab. [...] Drehbewegungen. Eine volle halbe Stunde haben sich diese alten Männer mit ausgebreiteten Armen wie die Kreisel gedreht. [...].«529
Ekstatische Erfahrungen des ›außer sich Geraten‹ lassen Grenzen des Daseins diffus erscheinen.530 Arnold Gehlen und Georg Lukács sehen in derartigen Erlebnissen einen radikalen Bruch mit der Kontinuität des Alltagslebens und verweisen auf eine damit einhergehende Transformation des Individuums im transcendere.531 Transzendenz – hier ohne philosophisch-theologische Sinngebung schlicht als Überstieg verstanden – impliziert eine Diskontinuität und öffnet einen Hiatus, der eine Bewegung von Hier nach Dort einschließt. Abseits ihrer Verbindung zum Tanz stellt Musik ein autonomes Medium dar, das eine derartige Passage initiieren kann; darüber hinaus kann Musik selbst als Hinübergehen betrachtet werden.532 Beide Aspekte sollen im Folgenden besprochen werden. Musik eröffnet eine Perspektive auf das Un-Sichtbare und Un-Endliche und kann Grenzüberschreitungen im Bewusstsein des Individuums auslösen.533 Ihr immaterielles Wesen lässt sie als Medium gelten, welches spezifische Erfahrungs- und
528 Vgl. W. Suppan: Der musizierende Mensch, S. 56 sowie B. Wosien: Der Weg des Tänzers, S. 100 und C. Caduff/S. Gebhardt/F. Keller/S. Schmidt: XTC in Musik, Tanz, Bild und Text, S. 18. 529 Curt Sachs zit.n. D.P. Hengst: Tanz, Trance und Ekstase, S. 112. Vgl. eine Choreografie von Mary Wigman aus dem Jahr 1917 mit dem Titel »Der Derwisch«. 530 Vgl. altgriech. ékstasis (außer sich Geraten, Verzückung, Verrücktheit) und lat. transeo (hin-übergehen, hingehen). Die Begriffe Ektase und Trance werden hier nicht unterschieden (wie z.B. bei G. Rouget: Music and trance, S. 3ff.), sondern mit Verweis auf eine ähnliche Bewegung (außer-sich-gehen, hinübergehen) synonym gebraucht. 531 Vgl. A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 237ff. und G. Lukács: Ästhetik II, S. 203ff. 532 Auf die Bedeutung der Stille im Kontext der Trance wird hier nicht eingangen. 533 Vgl. O. Sacks: Der einarmige Pianist, S. 322. Bzgl. der von Musik initiierten Bewusstseinsveränderungen können überlieferte Erfahrungsberichte und ethnologische Beobachtungen sowie musikpsychologische Forschungen als Quellen herangezogen werden.
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Wirkungsoptionen, die irdische Realität zu übersteigen, bereithält.534 Musik kann die Teilhabe an einer höheren Wirklichkeit ermöglichen; sie wird, um mit dem Dirigenten Nikolaus Harnoncourt zu sprechen, zur »Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet«.535 Musik kann also zum kontemplativen Zustand einer unio mystica, der erleuchtungsartigen Einswerdung führen und stellt damit gleichzeitig eine Einübung in das Jenseitige und Über-Irdische dar.536 Die Textpassage eines Liedes von Valentin Rathgeber aus dem Jahr 1733 lautet: »Der hat vergeben das ewig Leben/ der nicht die Musik liebt und sich/ beständig übt in diesem Spiel.« Als ›Vehikel‹ begleitet Musik die Bewegung des transcendere im Individuum oder im Kollektiv.537 Sie initiiert eine die Empfangsbereitschaft fördernde Atmosphäre; sie stimuliert die Einbildungskraft, bewirkt emotionale Bewegtheit und ermöglicht eine Veränderung im Ich, um Trance herbeizuführen.538 Musikalische Parameter in diesem Kontext, auf die von verschiedenen Theoretikern Bezug genommen wird, sind
534 Vgl. M. Dobberstein: Mensch und Musik, S. 225 und G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 159. 535 Harnoncourt, Nikolaus: »›Fehlerfreiheit macht mir Angst.‹ Gespräch anlässlich des 75. Geburtstages«, in: Ders., »Töne sind höhere Worte« (2007), S. 57-68, hier S. 58. Ähnlich wird Musik z.B. als »Gefäß göttlicher Offenbarung« (Karlheinz Stockhausen) oder als »Tochter der Theologie« (Johann Mattheson) beschrieben. Zu theologischen Deutungen der Musik vgl. außerdem H. Schröer: Musik als »Offenbarung des Unendlichen«, S. 72ff. 536 Vgl. R. Parncutt: Pränatales Erleben und Musik, S. 33 zu den empirischen Forschungen von Alf Gabrielsson, die unter anderem die Auslösung eines veränderten Bewusstseinszustandes, in dem religiöse Erfahrungen möglich wird, als wesentliche Musikerfahrung anführen. Vgl. ähnlich G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 77: »Daß Menschen durch Musik [...] Gott, Himmel, Welt [...] aufging, hört man [...].« Vgl. W. Suppan: Der musizierende Mensch, S. 63f. zu »Elementen meditativer, magischer Musizierpraktiken«, die in die christliche Liturgie eingingen. 537 Vgl. Bubmann, Peter: Musik, Religion, Kirche. Studien zur Musik aus theologischer Perspektive (= Beiträge zu Liturgie und Spiritualität, Band 21), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2009, S. 21 sowie Ders.: Von Mystik bis Ekstase, S. 14f.; vgl. weiters J. Gregor: Kulturgeschichte des Balletts, S. 123, P. Nettl: Tanz und Tanzmusik, S. 26f. und S. Dahms: Artikel »Tanz/C. Gesellschaftstanz/I. Mittelalter«, S. 267. 538 Vgl. D.P. Hengst: Tanz, Trance und Ekstase, S. 102ff., W. Suppan: Der musizierende Mensch, S. 32 und C. Caduff/S. Gebhardt/F. Keller/S. Schmidt: XTC in Musik, Tanz, Bild und Text, S. 17 sowie Neuhoff, Hans: »Musik im Besessenheitsritual«, in: Barthelmes, Barbara/La Motte-Haber, Helga de (Hg.), Musik und Ritual (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt, Band 39), Mainz u.a.: Schott 1999, S. 78-88, hier S. 85.
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Instrumente und Klangfarbe sowie Rhythmus und Form. Der Ethnomusikologe Gilbert Rouget konstatiert eine grundsätzliche Eignung jedes Instrumentes zur TranceInitiation; in unterschiedlichen Kulten bildeten sich aber jeweils Vorlieben für spezielle Instrumente aus, wie die zentrale Rolle des Aulos in der griechischen Antike oder der Trommel im Schamanismus zeigen.539 Rhythmische Merkmale bestehen in einer langsamen Beschleunigung und Verdichtung der Muster ebenso wie in abrupten Rhythmuswechseln oder Pausen. Um in der Musik ›aufzugehen‹, wird auf Monotonie gebaut, die über häufige, bereits kurze rhythmische Motive betreffende Wiederholung generiert wird.540 Das der Wiederholung charakteristische Ineinandergreifen der Pole Ruhe-Bewegung und Ermüdung-Erregung prädestiniert sie hinsichtlich der Erzeugung von Trance. So findet dieser Aspekt auch in der Literatur Erwähnung541 ; Paul Valéry etwa schreibt vom »Vergnügen«, das in der häufigen Wiederholung stecke.542 Wird Musik in sakralen Handlungen und in der Herstellung von Trance einerseits als ›Vehikel‹ eingesetzt, so trat mit der Säkularisierung der Kunst andererseits auch das Moment ekstatischen Erlebens in der Wahrnehmung von Kunst an sich in den Vordergrund. Jegliche Musik, nicht nur solche, die im expliziten Kontext von Kult und Trance steht, kann im Rezipienten Impulse induzieren, die ihn dem alltäglichen Leben entreißen und vorübergehende Passagen der Begegnung mit dem Selbst oder zwischen Bewusstem und Unbewusstem ermöglichen.543 Die Kulturwissenschaftle-
539 Vgl. G. Rouget: Music and trance, S. 73ff. In der Literatur werden Geige, Trompete, Flöte, Aulos (melodische Funktion) sowie Rassel, Glocke, Trommel (rhythmische Funktion) erwähnt. 540 Vgl. A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 241. 541 Zum »musikalischen Gesetz der Steigerung durch Wiederholung« vgl. W. Furtwängler: Gespräche über Musik, S. 58. Vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 15: »Je mehr Musik in sich kreisen möchte, [...], um so bedeutungsvoller werden Wiederholungen.« Vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 12 zur Assoziation der Wiederholung mit dem Irrationalen. Monotone, wiederkehrende Bewegungsabläufe finden sich auch in der Volksmusik, z.B. im »Steirischen Reiftanz« (vgl. Peter, Ilka Tanzbeschreibungen. Tanzforschung Gesammelte Volkstanzstudien, Wien: ÖBV 1983, 125ff.) oder im Marsch (vgl. D.d. La Motte: Melodie, S. 107). Maurice Ravels »Boléro« (1928) ist ein Beispiel aus der Kunstmusik, wo sich »das nicht-fort-wollen« bis zur Ekstase steigert (vgl. C. Kühn: Formenlehre der Musik, S. 17). 542 P. Valéry: Philosophie des Tanzes, S. 244. 543 Vgl. P. Bubmann: Von Mystik bis Ekstase, S. 16 und A. Wellek: Musikpsychologie und Musikästhetik, S. 196. Vgl. Gerhards, Albert: »Im Spannungsfeld von Wort und Zeichen. Kirchenmusik und Theologiegeschichte«, in: Böning, Winfried (Hg.), Musik im
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rin Carina Caduff und ihre Kollegen lokalisieren in der Wahrnehmung von Kunst einen äquivalenten Erfahrungsbereich des Ekstatischen, wie er heutzutage in unserer Kultur – im Gegensatz zu bedeutungslos(er) gewordenen Orten des Kultes – noch genutzt werden kann. Potenzial von Kunst sei es außerdem, ekstatische Prozesse mittels des künstlerischen Mediums ›unter Kontrolle‹ zu halten.544 Das »Narkotikum« (Karl Hauer) Musik wird von verschiedenen Theoretikern, die jeweils spezifische Termini gebrauchen, angesprochen545 ; auch der Gedanke der »Erlösung« durch Musik, der im Speziellen in der Philosophie Arthur Schopenhauers aufscheint, steht in Verbindung zu einem Aufbrechen des Alltäglichen in der Musik.546 Die Praxis macht deutlich, wie der Mensch – sei es als Musizierender, sei es als Rezipient – in der Musik selbstvergessen werden kann, indem er der Alltagswelt enthoben wird. Musikpsychologische Testergebnisse demonstrieren den quasinarkotischen Flow-Zustand, wie er beim Musik-Machen, v.a. in der Improvisation, zu Tage tritt.547 Eine derart intensive Erfahrung der Verdichtung des Augenblickes während der Wahrnehmung und der Ausübung von Musik beschreibt der Autor Walter Kappacher in seinem Roman »Morgen« (1972): »[...] als der Bursche mit dem Lied zu Ende war, warfen einige Leute Münzen in die Dose, und dann begann er ein neues Lied, und jetzt sang er mit voller Stimme, nicht mehr verhalten wie zuvor, sondern unbändig, als müsse er sich von etwas befreien, und wie er jetzt sang, da bemerkte ich, daß sein Gesicht schön war, er war wie entrückt, und das Lied ging mir durch
Raum der Kirche. Fragen und Perspektiven, Stuttgart: Carus/Ostfildern: Grünewald 2007, S. 52-63, hier S. 54 zum »transzendierenden Charakter« der Musik, der sich einer bekenntnishaften Fixierung verweigere. Und vgl. G. Anschütz: Abriss einer Musikästhetik, S. 196 zur »abstrakten Religiosität«, die aus den Werken der Meister spreche. 544 Vgl. C. Caduff/S. Gebhardt/F. Keller/S. Schmidt: XTC in Musik, Tanz, Bild und Text, S. 33f. und S. 17f. 545 So ist z.B. die Rede von »Verzückung« und »Rausch« sowie von der »verklärenden Macht« der Musik (Friedrich Nietzsche) oder von der »Entführung ins Schöne« (Hans Heinrich Eggebrecht). 546 Vgl. A. Nowak: Artikel »Musikästhetik«, S. 995. 547 Vgl. Kenny, Barry J./Gellrich, Martin: »Improvisation«, in: Pancutt/McPherson, The science & psychology of music performance (2002), S. 117-134, hier S. 119 und Wilson, Peter N.: »Das ekstatische Werkzeug einer himmlischen Verzückung. Improvisation und Transzendenzerfahrung«, in: Landau, Annette/Koch, Sandra (Hg.), Lieder jenseits der Menschen. Das Konfliktfeld Musik - Religion - Glaube, Zürich: Chronos 2002, S. 207-215, hier S. 208. Vgl. weiters A. Gerhards: Im Spannungsfeld von Wort und Zeichen, S. 55.
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und durch, und erst nachdem Schorsch mich ein paarmal gestoßen hatte, löste ich mich und ging mit ihm.«548
Zuletzt soll der Versuch unternommen werden, Musik selbst auf den Überstieg als ihr Existenzial hin zu entfalten. Dem, was an einzelnen Klängen und an komponierten Klangverbindungen entsteht, haftet insofern das Transzendente bereits an, als es – da Musik – immer schon über sich selbst hinausweist. Der Sinn von Musik erschöpft sich nicht in der Verwirklichung des vitalen Kreislaufes. Sie garantiert eine Anwesenheit des anderen. Sie ist uns vertraut und unbekannt zugleich und berührt, weil sie ein ›Mehr‹ bereithält, d.h. per se über die Ordnung des Vertrauten hinausgeht.549 Künstlerisches meint angesichts des Normalen immer einen Überschuss.550 Dieses Hinausstreben kann aus mehreren Perspektiven betrachtet werden. Der Impuls zum Weitergehen ist bereits dem Gedanken implizit, dass ein Ton nicht bei sich bleibt, sondern quanti- und qualitativ über sich hinaus strebt.551 Hinausstreben manifestiert sich in der Perspektive vom musikalischen Tun als Spiel mit der Wirklichkeit des Daseins. Die Grenzen der Realität werden in Frage gestellt.552 Bernhard Waldenfels führt einerseits den Terminus des »Übermusikalischen« ein, der jenes der Musik innewohnende Moment bezeichne, das sie über sich selbst hinaustreibt und ihr »geheime Unruhe« sei553; zum anderen verortet er in der Musik eine radikale Form der Fremdheit, die über bestehende Lebens-Ordnungen hinausführt und sich selbst an den Grenzen des »Unerhörten«, an Grenz-Erfahrungen wie Eros oder Tod bewegt.554 Als »Geste der Ekstase« kann Musik mit Vilém Flusser gerade deshalb aufgefasst werden, weil sie aufgrund ihrer Verankerung im Menschen, aufgrund ihres so profanen, so technischen, so öffentlichen Erschei-
548 Kappacher, Walter: Morgen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2009, S. 135. Vgl. ähnlich T. Mann: Buddenbrooks, S. 506f.: [...] jetzt war die Hingebung an sein Werk [...] so groß in ihm, daß er in vollständiger Entrücktheit Alles um sich herum vergessen hatte.« Und vgl. Charles Burney zit.n. P.N. Wilson: Das ekstatische Werkzeug einer himmlischen Verzückung, S. 208 über Carl Philipp Emanuel Bach: »[...] dergestalt in Feuer und wahre Begeisterung geriet, dass er nicht nur spielte, sondern die Miene eines ausser sich Entzückten bekam [...].« 549 Vgl. A. Gerhards: Im Spannungsfeld von Wort und Zeichen, S. 58. 550 Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 214f. 551 Vgl. C. Gottwald: Neue Musik als spekulative Theologie, S. 13. 552 Vgl. H. Schröer: Musik als »Offenbarung des Unendlichen«, S. 66. 553 B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 187f. und ebd., S. 197. 554 Vgl. ebd., S. 185ff.
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nens das allergrößte Geheimnis sei: »Sie hat nicht nötig, sich zu verbergen, sie ist in ihrer großartigen, superkomplexen Einfachheit, dunkel.«555 Angesichts einer musikimmanenten Transzendenz, eines Über-Musikalischen, ist die archaische Idee von der Tonkunst als »klingendes Abbild göttlicher Ordnung« (Johann Sebastian Bach), gründend auf der Idee analoger Zahlproportionen in Musik, Mensch und Natur, zu erwähnen. Dass sich in diesen Grundlagen musikalische und theologische Theorien kreuzen, ist keine Willkür. Für Augustinus ist dem Zahlhaften der Klänge, das dem Hörbaren vorausgeht, bereits ein transzendentes Moment immanent; in ihrer Zahlhaftigkeit weist Musik über sich selbst hinaus.556 In seinem Traktat »De musica« zeichnet er einen Weg vom Hörbaren zum Unhörbaren und damit gleichzeitig einen Weg vom Körperlichen zum Unkörperlichen, von der Veränderung zur Ruhe.557 Das Moment des Unveränderlichen und Bleibenden, das Zahl und Gott eint geht mit dem griechischen Begriff des nómos konform. Der musikalische nómos bezeichnet ergo das Urbild, auf dem Musik fundiert.558 Mit harmonikalen Phänomenen werden Fragen nach der Transzendenz aufgeworfen und sinnlich greifbar sowie musikalisch verständlich gemacht. So auch das von Nicolaus Cusanus geprägte Prinzip der coincidentia oppositorum – der Ort, an dem die Gegensätze aufgehoben sind. Werner Schulze zeigt, wie das Zahlenverhältnis 0/0 im Ursprung des Lambdoma, dem für Harmonik grundlegenden Schema von Proportionen, theologische Bedeutung erhält und das Prinzip des Cusanus und letztlich die Frage nach der Unendlichkeit reflektiert.559
555 V. Flusser: Gesten, S. 203. Vgl. B. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 214f.: »Vielmehr entpuppt sich das Künstlerische als Überschuß, der über normale Ordnungen hinausgeht, ohne das Feld der Normalität völlig zu verlassen.« 556 Vgl. Hentschel, Frank: »Einleitung« zu Augustinus: De musica, S. VIII und Augustinus: De musica, I,I,1. 557 Vgl. ebd., VI,II,2. 558 Vgl. T. Georgiades: Nennen und Erklingen, S. 109. 559 Schulze, Werner: Zahl, Proportion, Analogie. Eine Untersuchung zur Metaphysik und Wissenschaftshaltung des Nikolaus von Kues (= Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, Band 7), Münster: Aschendorff 1978, S. 55ff.; vgl. Kayser, Hans: Mein harmonikales Testament, in: Haase, Rudolf: Hans Kayser. Ein Leben für die Harmonik, Basel: Schwabe 1968, S. 121 zur Proportion 0/0 als »schlechthin Seiendes« (Eidos), das sich in Selbstbespiegelung zu 1/1, dem »göttlichen Urgrund« (Origo) formt. Werner Schulze erwähnte in seinen Vorlesungen an der Universität für darstellende Kunst und Musik (2005-2007) die Oktave als Ausdruck einer coincidentia oppositorum (unendlich hochunendlich tief); die Endlichkeit sei dort in der Unendlichkeit enthalten. Vgl. E. Bindel: Die Zahlengrundlagen der Musik im Wandel der Zeiten, S. 374 zur Oktave als »ein anderes dasselbe«.
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In der Auffassung von Musik als performatives, in Bewegung begriffenes Geschehen kann Musik nun selbst als Chiffre von Transzendenz gelesen werden. Theodor W. Adorno fasst das existenziell transzendente Wesen von Musik im Diktum von der Musik als »Gestalt des göttlichen Namens« zusammen. Musikalische Aktivität erschöpfe sich hinsichtlich des Transzendenten nicht darin, Bedeutungen mitzuteilen; vielmehr sei Musik, so Adorno, der Versuch, den »Namen selber zu nennen«560. Es bedarf also an dieser Stelle einer radikaleren Denkfigur als der des bloßen ›Vehikels‹. Kunst, wie Hans Georg Gadamer vorschlägt, solle nicht als Tätigkeit des bloßen Verweisens auf etwas gesehen werden; im Kunstwerk ist per se da, worauf verwiesen ist: Kunst ist dieses Etwas also bereits.561 Um mit der Aussage einer Romanfigur Thomas Manns abzuschließen, ist Musik »Offenbarung höchster Erkenntnis«.562 Diese Offenbarung ist in der Bewegung des transcendere zu verorten: Musik – das Übersteigen.
560 T.W. Adorno: Fragment über Musik und Sprache, S. 252. 561 H.G. Gadamer: Die Aktualität des Schönen, S. 126. 562 T. Mann: Doktor Faustus, S. 546.
Musik als Bewegung – Abschließende Bemerkungen
R EFLEXION Mit diesem Buch wurde der Versuch unternommen, Bewegung als Phänomen der Musik, fundierend auf dem Faktum von Bewegung als Phänomen des Lebendigen in Welt und Mensch zu erfassen. Das Objekt der Untersuchung und der Bereich seines Vorkommens stehen in einer wechselseitigen Hermeneutik des Abstrakten und Konkreten. Sowohl Bewegung als auch Musik eröffnen Welt(en) und sind zugleich zutiefst anthropozentrische Momente; produzierendes und rezipierendes Musikverhalten gehen mit (leiblichen) Erfahrungen von Bewegung einher. Der Reflexion steht das Erleben von Bewegung gegenüber. Um einer Dichotomie von Begriff und Phänomen, von Metapher und wörtlicher Bedeutung, von der Auffassung als Wesen und Mittel innerhalb des musikalischen Geschehens zu entgehen, wurde ein Wortfeld kreiert, mithilfe dessen nicht nur eine Überschneidung der Erfahrungsbereiche und Disziplinen ermöglicht wurde, sondern sich der Zwischenraum geradezu als Ort des Sprechens über Bewegung etabliert hat. Eine Neuordnung des Bedeutungsinhaltes von Bewegung im musikalischen Kontext fokussierte auf das jeweils spezifische Erscheinen, auf damit verbundene Synonyme und den historischen Wandel der Sprache. Dies verdeutlichte zugleich eine Vielfalt der mit einem Begriff verbundenen Inhalte. Die Untersuchung der einzelnen Bereiche und der Transfer der Bedeutungsbezüge wurden auf einen Fluchtpunkt hin ausgerichtet vollzogen: Bewegung. Von Bedeutung waren die Zusammenhänge, die sich in den Aussagen unterschiedlicher Autoren konstituierten und Homo- wie Heterogenität von Bewegung in der Musik durchscheinen ließen. Ein wesentlicher Grundsatz war es, auf einer Metaebene der Betrachtung anzusetzen und das Verständnis von Musik als rein akustisches Phänomen zu übersteigen. Weiters wurde die Darstellung der Vielfalt der mit der Thematik gekoppelten Aspekte angestrebt; dass es dabei an Tiefe in Einzelthemen mangelt, wurde zugunsten der
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Frage nach dem Verbindenden toleriert und ist Ausdruck der Methode, die der Wirklichkeit des Phänomens adäquat ist.
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IN DER
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VON
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Welcher Art und an welchem Ort äußert sich Bewegung als musikimmanentes Phänomen? In der Einleitung wurde die Globalfrage bereits problematisiert und die Tatsache vorweggenommen, dass Bewegung die Musikgeschichte hindurch zum gängigen Vokabular in der Musik zählt. Letztere wird im Sinne einer kulturellen und primären Dimension als auch einer universellen menschlichen Verhaltensweise mit einem breiten Zuschreibungsspektrum aufgefasst. So gehen mit Musik(en) zahlreiche Perspektiven einher: physikalische, physische, psychische, ästhetische und soziale oder – anders betrachtet – praktische, schöpferische, performative sowie künstlerische oder wissenschaftliche Blickwinkel, welche ein Reservoir an Bedeutungen bilden. Dementsprechend vielfältig ist die Rede von Bewegung in der Musik. Im Gegensatz zu anderen wesentlichen Grundbegriffen durchzieht Bewegung in ihren spezifischen Ausformungen jegliche Bereiche der Musik und hat zudem als Allgemeinbegriff Gültigkeit. Es scheinen keine musikalischen Komponenten zu existieren, die nicht in direkte Verbindung mit Bewegung gebracht werden könnten oder sie explizit machten. Diese Beobachtung wird seit der Antike von zahlreichen Theoretikern und Künstlern in unterschiedlicher Intensität erwähnt und thematisiert. Als eklatant erweist sich ein implizites Wissen von Bewegung als Moment (an) der Musik; Bewegung scheint in der Literatur als ›selbstverständlicher‹ Begriff zu gelten, wird dieser nur selten definiert. Es kann vom musikalischen Vokabular als Bewegungsvokabular gesprochen werden, insofern als sich die musikalische Terminologie zu einem wesentlichen Teil auf Begriffe bezieht, die sich primär dem Phänomen Bewegung zuordnen lassen. Daraus kann einerseits der Schluss gezogen werden, dass besonders in der Sprache eine Musikimmanenz von Bewegung als Prinzip evident wird; andererseits stellt sich das Problem von Bewegung als »Passepartout-Begriff« (Umberto Eco), der auf jeglichen Aspekt anwendbar ist und dabei Gefahr läuft, seines Sinnes verlustig zu gehen.
Z UM U MGANG IN DER M USIK
MIT DEM
B EWEGUNGSBEGRIFF
Die vielfältige Bedeutung des Bewegungsbegriffes in der Musik geht mit der Vielfalt im Sprechen über Musik einher. Die Rede von Musik enthält nicht nur Wissenschaftliches, sondern stützt sich auch auf spekulative Theorien, individuelles Musi-
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kerleben und den zeitlichen Horizont einer Epoche. Eine Beschreibung von Bewegung kann nie vollkommen neutral sein, sondern inkludiert stets die Interpretation. In der Erkenntnis dieses fragilen Momentes wird der hermeneutische Entzug deutlich: Jeder Diskurs über Bewegung in der Musik im Laufe der Musikgeschichte verschweigt etwas oder konzentriert sich auf bestimmte Teilaspekte und prägt damit ein bestimmtes Bild von Bewegung. So wurden in diesem Buch Zuschreibungen von Inhalten kritisch befragt, die fixiert erschienen und in Bezug zu anderen Bedeutungen gestellt, um die Partikularität des Wissens sichtbar werden zu lassen. Der Ansatz, Musik und ihre Komponenten im Bild der Bewegung zu denken wurde zeitlich und räumlich universal konzipiert. Kreuzungspunkte in Aussagen aus unterschiedlichen Epochen wurden sichtbar und verdeutlichen das grundsätzliche Phänomen, unabhängig von der jeweiligen Musikkultur. Neben Querverbindungen im musikhistorischen Längsschnitt kann die einer Epoche charakteristische Ausprägung von Bewegung auch als ein die Formensprache der unterschiedlichen Kunstsparten und ein Weltgefühl im Allgemeinen übergreifendes Phänomen beobachtet werden. In musiktheoretischen wie -praktischen Abhandlungen von der Antike bis in die Gegenwart wird Bewegung im Sinne eines ästhetischen Paradigmas behandelt, welches sich im Fokus des Schreibenden unterschiedlich manifestiert. Antike und mittelalterliche Traktate zur Musik machen analog zu einem prinzipiell weiten Verständnis von Bewegung einen durchaus abstrakten und umfassenden Gehalt transparent. In der Literatur seit der Neuzeit offenbart sich eine verbale Spezifizierung im Umgang mit dem Bewegungsbegriff: • Gebrauchte Adjektive verweisen auf eine typische Eigenschaft der beschriebenen Bewegung wie langsame oder sichtbare Bewegung. • Adjektive umreißen jenen Bereich, bezüglich dessen der Begriff gebraucht wird oder in welchem das Phänomen erscheint wie physikalische oder rhythmische Bewegung. • Partizipien werden adjektivisch eingesetzt und deuten die Art des Geschehens an; das ursprüngliche Verb steht als Synonym für diese Bewegung wie bei tönender oder schwebender Bewegung. • Komposita wie Gefühls- oder Harmoniebewegung bezeichnen eine Bewegung des Subjektes. • Viele Substantive können als Synonyme von Bewegung aufgefasst werden wie Melodie oder Emotion. So trivial dieser Überblick scheinen mag, so wesentlich ist er für die Frage nach dem, was Bewegung in der Musik bedeutet. Im Versuch, Bewegung zu beschreiben, ist gleichsam die Schwierigkeit markiert, diesen Begriff zu fassen. Die Schwierig-
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keit liegt nicht zuletzt darin, dass Charakterisierungen von Bewegung die Frage nach der Bewegung selbst ausklammern und häufig lediglich eine Ahnung davon besteht, was mit dem verwendeten, d.h. mit dem geschaffenen Begriff gemeint sein könnte. Exemplarisch dafür steht der Terminus »musikalische Bewegung«. Diese v.a. ab dem 19. Jahrhundert übliche Diktion geht weniger mit der Frage nach Kriterien einher, die Bewegung zu erfüllen habe, um »musikalisch« zu sein, sondern sie benennt eine, von manchen Autoren auch als einzigartig verstandene, Art von Bewegung, die in der Musik wirkt und erlebt wird; sprachliche Grenzen werden hier also evident. In Empirie und Theorie wurden unterschiedliche Deutungsversuche von Bewegung in der Musik unternommen. So wurde die Bewegung im Erleben von Musik jeweils als primär psychisch, geistig oder körperlich aufgefasst. Daran gekoppelt ist die Frage, ob Bewegung metaphorisch1 oder im eigentlichen Sinn zu verstehen sei. In diesem Buch wurde eine Klammer über die genannten Verständnisweisen gesetzt. Musik besteht in der Ambivalenz der Erscheinungsweisen von Bewegung. Oszillationen des Phänomens Bewegung in der Musik wurden im Sinne einer Verflüssigung sich dualistisch gegenüberstehender musikästhetischer Ansätze gedacht. Auf der Suche nach den Gemeinsamkeiten wurden neue Ordnungen der Betrachtung generiert. Mit der Verwendung des Begriffes Bewegung wird grundsätzlich ein aktives Moment in der Musik zum Ausdruck gebracht. Dieses Moment ist mehrdimensional und bezieht sich sowohl auf eine Aktivität in oder außerhalb der Musik als auch auf den Vorgang, der zwischen Musik und einem äußeren Etwas vermittelt. Prägt der Terminus Bewegung die Musik, so erweist er sich auch hinsichtlich ihrer Definition als relevant, wenngleich Bewegung heutigen Deutungsversuchen des Musikbegriffes mehr oder minder abhanden gekommen zu sein scheint. Der Musikbegriff ist den Erscheinungsweisen und Bedeutungsgestalten nach ein heterogener; Verbindungen zwischen Definitionen unterschiedlicher Zeiten und Räume können über den Begriff Bewegung hergestellt werden. Die verschiedenen Definitionen können – gleich welcher Orientierung – letztlich mit einer an Augustinus angelehnten Paraphrase, der »Kunst von der Bewegung« auf einen Nenner gebracht werden.
1
In der untersuchten Literatur findet man den Begriff Bewegung häufig unter Anführungszeichen gesetzt, was einen metaphorischen Charakter betont.
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E RSCHEINWEISEN VON B EWEGUNG – D IVERSITÄT UND U NIVERSALITÄT Bewegung steht nicht nur in der Musik im Spannungsfeld von Ausfaltung in der Vielheit und Konzentration in der Einheit. Bewegung markiert einen Komplex diverser Erscheinungsformen wie auch einen abstrakten Begriff, dessen Verwendung das schwer Erklärbare, das nicht Fassbare der Musik zum Ausdruck bringen kann. »Musical motion is pure motion, a motion in which nothing moves; it is therefore the most real motion, [...].«2 Viele Denker haben sich dem Phänomen Bewegung aus ihrer jeweiligen Perspektive gewidmet; unterschiedliche Disziplinen innerhalb der Musik haben ihm adäquate Charakteristika formuliert. Die Diversität von Bewegung in der Musik erschwert eine allgemeine Definition. Zusammengefasst kann zunächst festgehalten werden: • • • •
Bewegung wirkt in der Musik. Bewegung resultiert aus der Musik – umgekehrt evoziert die Musik Bewegung. Musik symbolisiert Bewegung oder tritt mit ihr in Dialog. Bewegung bezeichnet ein Phänomen auf konkreter Ebene, sei es die Bewegung des menschlichen Körpers, sei es jene von Klangkörpern, genauso wie auf abstrakter Ebene, betreffe es die Emotion oder Interaktion, das musikalische Material und Prinzipien der Gestaltung sowie das innere Wesen der Musik.
Zwischen dem Bewegungsbegriff, den musikalischen Komponenten und den mit Musik verbundenen, aber externen Vorgängen existieren verschiedene Bezugnahmen. Der Begriff Bewegung ist ob seiner Vielfalt und Universalität ein Schlüsselbegriff in der Musik und gibt sich auch indirekt in Aspekten wie Raum, Zeit oder Ordnung zu erkennen. Er ermöglicht, in der Musik vorkommende Phänomene, man denke an Rhythmus, Form oder Ausdruck, zu verbalisieren. Musikalisches Erleben, mit dem – auch im Sinne einer communis opinio in der Fachliteratur – Bewegungserfahrungen einhergehen, dechiffriert in der sinnlichen Wahrnehmung abstrakte, mit Bewegung korrelierende Termini wie Transposition, Variation oder Harmonie.
M USIK – B EWEGUNG – L EBEN Musik, Bewegung und Leben bilden einen Zirkel. Verweist das Moment der Bewegung innerhalb der Musik auf das Lebendige, hebt das Leben der Musik wiederum
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Viktor Zuckerkandl zit.n. R. Scruton: The aesthetics of music, S. 49.
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das Bewegungsmoment hervor. Die drei Termini können als in jeglicher Richtung miteinander verbunden gedacht werden. Eine Musikimmanenz der Bewegung kann in diesem Sinne mit einer Zugehörigkeit der Musik zum Leben argumentiert werden. Dies wird in den möglichen Kongruenzen der beiden Buchteile deutlich. So können allgemeine Bewegungsphänomene – wie Fließen oder Rhythmus – in der Musik als für ein Sprechen über sie wesentliche Parameter angeführt werden. Weiters wurde beobachtet, dass Bewegung in Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert als »Lebensspenderin« innerhalb der Musik bezeichnet wird. Hinsichtlich unterschiedlicher Komponenten wird angemerkt, dass Musik tot sein würde, wenn es an Bewegung fehlte. Das Vitale ist Bedingung der Musik; diese kann allerdings noch spezifischer als humanes Phänomen aufgefasst werden. Diese unmittelbare Angebundenheit der Musik an den Menschen und v.v. des Menschen an die Musik wird durch Bewegung gestiftet.
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MUSIKIMMANENTES
P RINZIP
Bewegung prägt die Musik umfassend und berührt Fragen nach ihrem Wesen und Sinn. Aufgrund dieser Tatsache, die in diesem Buch Bestätigung erfahren hat, und trotzdem der Unmöglichkeit einer exakten Definition des Phänomens (oder gerade aufgrund dessen) wird mit Bewegung ein Prinzip in der Musik konstituiert. Als dieses Prinzip wirkt Bewegung – im ursprünglichen Wortsinn – als das (Auto)Poietische innerhalb der Musik. Sie ist schaffend tätig; sie erhält die Musik als selbstreferenzielles und dynamisches System. Musik geschieht. Als ›Performativ‹ realisiert sie sich im ›Aussprechen‹. Ihre Wirklichkeit konstituiert sich über das sich Bewegen auf verschiedenen Ebenen – Performanz ist ihre Bedingung. Diese innere Aktivität spiegelt sich in unterschiedlichen Auffassungen von Musik wider. Dazu zählt der Gedanke von Musik als Organismus, wie ihn speziell die energetische Musikauffassung zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten hat, und welcher Aspekte von Wachstum und Kontinuität ins Zentrum rückte. In direkter Nähe dazu kann die Idee von Musik als Gestalt angesiedelt werden. Der Gestaltbegriff, geprägt durch Gestalttheorie und -psychologie, verweist auf die innere Organisation in der Beziehung der Teile zueinander und zum Ganzen. Einerseits vollzieht sich Bewegung immer als Gestalt, andererseits ist die Veränderung selbst Grundlage der Gestalt. Erleben von Musik meint immer Erleben eines geschlossenen Ganzen; diese Gestalt beruht jedoch nicht auf der Addition der Teile, sondern auf der in ihr stattfindenden Spannung. Ein letztes hier herangezogenes Musikverständnis, in dem das Prinzip Bewegung zutage tritt, betont die Deutung von Musik als Spiel. Verschiedene Theoretiker, z.B. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Hans Georg Nägeli und Johan Huizinga, beschreiben das Wesen von Musik als Spiel.
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Spielen als Antithese zur Verzweckung betont den selbstreferenziellen Charakter: Musik ist ein ›Spiel in sich selbst‹, grundsätzlich zweck-, aber nicht sinnfrei. Der Sinn realisiert sich im sinnlichen, im beweglichen und bewegten Spiel. Ist Musik wie alle lebendigen Systeme dissipativ ausgerichtet, repräsentiert ihre Betrachtung als Spiel insbesondere auch die Lebensbewegung des Überschießens.
M USIKINHÄRENTE D IMENSIONEN VON B EWEGUNG Wurde die Vielfalt der Erscheinweisen von Bewegung in den systematischen Untersuchungen ins Zentrum gestellt, sollen diese Spektrallinien nun auf ihren Ursprung im Begriff Bewegung zurückgeführt werden. Um jedoch spezifische Eigenschaften von Bewegung, die in der Musik beobachtet wurden, synoptisch herauszustreichen, wird abschließend der Versuch einer ›Klassifikation‹ unternommen. Bewegung wird nach herausragenden Merkmalen in Dimensionen eingeteilt, wobei die Verbindungen zwischen letzteren die Klassifikation geradezu kennzeichnen. In der Reduktion wird das Allgemeine, das Prinzipielle herausgearbeitet und der grundlegende Zusammenhang von Musik und Leben im lógos der Bewegung verdeutlicht. Die hier aus den beiden Buchteilen extrahierten Dimensionen zeigen sich in der Musik an diversen Orten und erklären Bewegung innerhalb der Musik zu einem spannungsreichen Komplex. Eine Herangehensweise wie diese stellt sich in den Kontext einer Tradition von Klassifizierungen wie sie bezüglich Bewegung bereits in der antiken Philosophie und im Mittelalter sowie in philosophischen Strömungen des letzten Jahrhunderts vorgenommen wurden. Was hier als besonders relevant angesehen wird, ist nicht die Singularität der Bewegungsdimension, sondern der Verbund in der ›Sinnfigur‹ Bewegung, in der die Dimensionen letztlich koinzidieren. Diese Dimensionen werden nun in Form von lyrischen Fragmenten ›erklärt‹. Bei diesen handelt es sich um künstlerisch-wissenschaftliche Hybride, die eine finale Reflexion des Untersuchungsgegenstandes darstellen. Ermöglicht diese Form der Darstellung, durch Abstraktion ›Wahrheiten‹ zu extrahieren sowie divergierende Bilder und Diskurse parallel zueinander bestehen zu lassen, erweist sich diese Option für den Abschluss als ideal.
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Sechs Fragmente – Ein Versuch Transformation Veränderung des Ortes oder der Gestalt Um-Gestaltung impliziert Wandel und Entwicklung Nicht bestehen bleiben sondern Werden Zukünftiges sein können Nicht stehen bleiben Verändertes ist Ausgangspunkt erneuter Bewegung Veränderung des Einzelnen in seinen Eigenschaften ist Veränderung des Ganzen Transformation vollzieht sich als Übergang ist Umschlag Differenz zwischen dem was war und dem was kommt generiert ein Zwischen das Spannung birgt
Deviation Abweichung Weg-bewegen vom Normalen Abweichung In Opposition zur Norm zum Normalen zur Erstarrung
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Zwischen Norm und A-Norm Maß und Mäßigen lebendiges Wechselspiel durch Schwankung Ab-Weg Um-Weg Zu-Fall Defizit wird Gewinn Momente des Fremden zulassen und ein Spiel mit dem Un-Gewohnten spielen
Relation Zwei oder mehr Gegebenheiten stehen zueinander in Beziehung Dazwischen gefaltete Bewegung in der Spannung verharrend wirksam Antworten im Zwischenraum inter-valle inter-essen weder-noch be-rühren
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322 | B EWEGUNG IN DER M USIK Beziehung voll von Sinn macht Synergien frei schafft lebendige Ordnungen eröffnet Räume und Resonanz
Generation Dynamis aus der Spannung in der Zwei- und Mehr-Beziehung zur Zeugung zum Hervorbringen zur Genese Widerstände im Er-Zeugen und Erzeugten zeugen von lebendiger Kraft Lebenskraft manifestiert sich im Gezeugten Zeugend ohne Zweck ohne Nutzen vorauszudenken Das Über-Maß-Volle ist Wesensmerkmal
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Translation Hin und Über tragen setzen Ver-schieben Ver-wandeln nicht Kopieren Korrespondieren Bezüge voll von Sinn zwischen Hier und Dort Interpretieren Am neuen Ort zur Sprache zum Bild zum Klang zur Bewegung bringen Am neuen Ort den Logos verdichten im neuen Gewand
Transgression Den Limes überschreiten In die Unerfahrbarkeit in den Überschuss aufbrechen Enigma Staunen Veränderung bewirken im Hinausgehen über die eigene die alte die scheinbare Ordnung Leben erleben
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Musik und Klangkultur Jörn Peter Hiekel, Wolfgang Lessing (Hg.) Verkörperungen der Musik Interdisziplinäre Betrachtungen September 2014, 234 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2753-4
Camille Hongler, Christoph Haffter, Silvan Moosmüller (Hg.) Geräusch – das Andere der Musik Untersuchungen an den Grenzen des Musikalischen Dezember 2014, ca. 150 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2868-5
Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.) Unlaute Noise / Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 Dezember 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2534-9
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Musik und Klangkultur Christina Richter-Ibáñez Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957) Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen April 2014, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2662-9
Steffen Scholl Musik – Raum – Technik Zur Entwicklung und Anwendung der graphischen Programmierumgebung »Max« Januar 2014, 236 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,99 €, ISBN 978-3-8376-2527-1
Christian Utz Komponieren im Kontext der Globalisierung Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts Februar 2014, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2403-8
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