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German Pages 256 Year 2014
Martin J. Gössl Schöne, queere Zeiten?
Queer Studies | Band 7
2014-06-18 12-10-08 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c6369503318480|(S.
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4) TIT2831.p 369503318488
»Ut desint vires tamen est laudanda voluntas.« – Ovid – In Dankbarkeit für die ehrliche Zuneigung.
Martin J. Gössl (Mag. Dr. phil.) hat die Stelle für »Gleichbehandlung und Vielfalt« (Verwaltung, Lehre und Forschung) an der FH Joanneum (Graz) inne. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen queere Subkulturen im urbanen Raum.
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Martin J. Gössl
Schöne, queere Zeiten? Eine praxisbezogene Perspektive auf die Gender und Queer Studies
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Inhaltsverzeichnis
1.
Ausgangsbasis | 7
2.
Fäden einer Expertise | 15
3.
Die Last der Funktion | 25
4.
Raum und Zeit | 35
5.
Macht und Vorhöfe der Macht | 47
6.
Stillstand als Garant für Ordnung | 61
7.
Tantalus als Analogie | 71
8.
Das Gute im Gleichen oder im Anderen | 83
9.
Klebrige Erwartungen | 101
10. Unantastbare Sichtbarkeit | 105 11. (Un-)Wahre Beziehungen | 111 12. Das Protektorat familiärer Uneindeutigkeit | 127
13. Intime Körper, intime Vergangenheit | 139 14. Kleidung macht Leute; Beziehungen ebenso | 147 15. Schöne Imperfektion | 153 16. Schwere Liebe | 169 17. Geliebte Menschen | 173 18. Räumliche und spirituelle Mobilität | 185 19. Alles oder nichts? Lieb(e)los | 199 20. Raumgefälle | 207 21. Abschließende Bemerkung | 213 22. Terminologisches Netz | 221 Bibliographie-Verzeichnis | 229 Online-Verzeichnis | 243
1. Ausgangsbasis
Wir alle haben ein Geschlecht. Ebenso eine sexuelle Orientierung. Beides tragen wir im Inneren, sowie auf unserer Haut. Die Sichtweise, was Körperlichkeit1 und Geschlecht2 in unserer eigenen Wahrnehmung und nach außen bedeutet, als auch die Frage, was nun eigentlich die sexuelle Norm ist, unterliegt permanenten Wandlungen, Hierarchien, Interpretationen und Machtstrukturen.3 Aber nur wenige greifen diese Dimensionen auf und heben diese auf eine reflexive Ebene, um Dogmen, vermeintliche Könige und Bauern, Gestalterinnen und Konsumentinnen des Alltages zu entlarven.4 Im 21. Jahrhundert angekommen, scheinen feministische Studien der Wissenschaften, Gender und Queer Studies, aber auch soziale Bewegungen wie die Frauenbewegung oder die Lesben- und Schwulenbewegung erfolgreiche Meilensteine gesetzt zu haben.5 Kategorien wie „Frau“ und „Homosexualität“ konnten nach langer Dauer permanenter Rezeption als „andere“ 1
Vgl. Barbara Duden, Geschichte unter der Haut, Ein Eisenacher Arzt und seine
2
Vgl. Vgl. Nina Degele, Gender / Queer Studies, Eine Einführung (Paderborn
3
Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Sexualität und Wahrheit 1
Patientinnen um 1730 (Stuttgart 1987). 2008). (Frankfurt am Main 1983); Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste, Sexualität und Wahrheit 2 (Frankfurt am Main 1989); Michel Foucault, Die Sorge um sich, Sexualität und Wahrheit 3 (Frankfurt am Main 1989). 4
Vgl. Erving Goffman, Wir Alle spielen Theater, Die Selbstdarstellung im Alltag (München 2009).
5
Vgl. David Carter, Stonewall, The riots that sparked the gay revolution (New York 2005).
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beziehungsweise „abnorme“ Kategorien in Frage gestellt werden. Es scheint, als wären die Erkenntnisse aus den betreffenden Wissenschaften einem aufgeklärten Publikum vertraut und der Chor geistiger Eliten singt beinahe harmonisch über die Brutalität einer normierten Identitätsbildung der Geschlechter und den damit verbundenen Zuschreibungen im Einklang. Die Angst, welche zweifelsohne diesem Wissensgebiet seitens vieler in unserer Gesellschaft entgegen gebracht wurde und noch immer wird, darf zumindest in hoffnungsvoller Zuversicht bei einer kritischen Masse von Menschen als verflogen angenommen werden.6 Keinesfalls jedoch – und dessen ist man sich in der Wissenschaft und teilweise in der Politik bewusst – haben diese kritischen Zugänge einer Dekonstruktion der Geschlechter/Sexualnormen die gesamte „moderne“ Gesellschaft erreicht, weswegen von Zuversicht und nicht von Euphorie geschrieben werden muss. Und man hat darüber hinaus den Eindruck, dass dieser flächendeckende Anspruch auch noch in den kommenden Jahrzehnten unrealistisch bleiben wird.7 Dennoch, die angesprochene kritische Minderheit scheint erreicht worden zu sein und an nahezu allen Hochschulen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika, aber ebenso im arabischen, afrikanischen und asiatischen Raum den Weg geebnet, um eine konstruktive Debatte rundum „Gender“ führen zu können.8 Die in weiterer Folge entstandenen neuen Themen, Stolpersteine und Hürden dürfen als evidente Tatsachen für die Weiterentwicklung und Vertiefung im Fach gedeutet werden. So ist es auch nicht wunderlich, als Autor dieses Werk als Produkt dieser Folgen einzustufen. Selbst in der eigenen akademischen Sozialisation mit dem Gender/Queer Themenkomplex in Berührung gekommen, wurden nach intensiven Studien und eigenständigen Forschungen, neue Fragen auf theore-
6
Vgl. Martin J. Gössl, Von der Unzucht zum Menschenrecht, Eine Quellensammlung zu lesbisch-schwulen Themen in den Debatten des österreichischen Nationalrats von 1945 bis 2002, Mit persönlicher Erinnerung von Peter Schieder und einem Beitrag zur Strafrechtsreform 1971 von Hans-Peter Weingand (Graz 2011).
7
Vgl. im Besonderen die analytische Schlussbemerkung: Martin J. Gössl, Die Rezeption lesbisch-schwuler Themen und Rechte im österreichischen Nationalrat von 1945 bis 2002. Eine Quellensammlung mit analytischer Schlussbemerkung, Dissertation (Graz 2010).
8
Vgl. Worldwide Universities Network (WUN), http://www.wun.ac.uk (1/2012).
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tischer Ebene interessant. Antworten dazu waren nur teilweise oder in unzureichender Form gegeben. Grund genug, sich selbst auf eine vertiefende Reise zu begeben, um treffende – neue – Fragen zu formulieren, mögliche Gedankenspiele zu beginnen und vielleicht die eine oder andere Antwort zu finden. Die Philosophin Judith Butler hatte eine der großen – neuen – gesellschaftlichen Herausforderungen bereits Ende der 1980er Jahre thematisch lokalisiert und stellte mit Gender Trouble9 viele der bisher simplifizierenden Zugangsweisen im Forschungsbereich Gender Studies auf den Prüfstand. Grundlegende Überlegungen haben dabei bis heute ihre Gültigkeit und führten darüber hinaus zu differenzierten Perspektiven vieler WissenschaftlerInnen. Es ist nicht verwunderlich, dass Butler gemeinsam mit Eva Kosofsky Sedgwick und Michael Warner als Mütter und Vater der theoretischen Basis der Queer Studies bekannt sind. Vor allem Judith Butler erlangte über die USA hinaus an Geltung, insbesondere durch die Enttarnung der Sprache als ein Gestaltungsinstrument konstruktivistischer Machterhaltung. Seither gilt ihre Monographie als ein Standardwerk der Gender/Queer Forschung und darf – zu Recht – in keiner Bibliothek fehlen; und tut es auch nicht, nach mehr als zwanzig Jahren seit Erscheinung.10 Ihr Erfolg, die gesellschaftlich-strukturellen Kategorisierungen als konstruktivistische Lokomotive des Alltages zu entlarven und dabei klar zu
9
Anm.: In Gender Trouble beschreibt die Wissenschaftlerin Judith Butler ihre weiterführenden Theorien zu den bisher bekannten Auseinandersetzungen zu Geschlecht und Sexualität (z.B.: Michel Foucault Schriften zu Sexualität und Wahrheit). Hierbei sieht sie die Sexualität, damit auch das Geschlecht, gänzlich mit gesellschaftlichen Machtkonstellationen verwoben. Die Kategorie „männlich/weiblich“ fungiert als gesellschaftlich-allumfassende Konstruktion, begründet also Normwerte, die permanent fortgeschrieben werden. Durch diese Fortschreibung kommt es zu einer Stabilisierung. Ihre Kritik richtet sich daher gegen die stabilisierende Performanz der Geschlechtereinteilung als „natürliche“ Konsequenzen zum biologischen Geschlecht und gegen die Eindimensionalität der Wahrnehmung. Diese neue Art der Kritik bildet eine theoretische Grundlage für die Queer Studies, also der queeren Perspektive auf Machtstrukturen und Normhaltungen um Geschlecht und Sexualität (aber auch darüber hinaus).
10 Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter (Frankfurt am Main 1991).
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machen, wie schwer fassbar und in welch verschleierter Form Machtstrukturen in der alltäglichen gesellschaftlichen Realität Bestand haben, ist dabei bis heute von höchster Bedeutung. Die dabei wirkungsvoll im Erhalt ungerechter Mechanismen etablierten gesellschaftlichen Segmentierungen der Macht, stellen eine fundamentale Erkenntnis des 20. Jahrhunderts dar.11 Gerade diese Tatsache bildet für die vorliegenden Seiten eine immanent wichtige Grundlage, die immer mit in Betracht gezogen werden muss. Und in diesem Sinne dürfen die Vorarbeiten vieler anderer großer DenkerInnen unserer Zeit nicht vergessen werden, die ebenso einen elementaren Beitrag zu Fragen von Geschlecht, sexuellen Identitäten und Alltagsnormen beigetragen haben. Simone de Beauvoir12 oder Michel Foucault13 sind hierbei die herausragendsten VertreterInnen, gleichsam Raewyn Connell14 und Barbara Duden15. Inzwischen lässt sich die Namensliste auf einige hundert Personen erweitern, da die Fragestellung um Gleichheit und Ungleichheit von einem zunehmenden Interesse getragen wird. Viele gaben der Frage nach Geschlechternormen neuen Schwung16, teilweise sogar einen Perspektivenwechsel. Sie stellten elementare Erkenntnisse fest und erklärten Theorien, welche oftmals gegen den Zeitgeist verstanden wurden. Doch diese ganzen Werke und noch viele weitere Publikationen sind ausschlaggebende Indikatoren für die Gestaltung einer eigenen theoretischen Auseinandersetzung. Die Rechtfertigung, warum überhaupt einer solchen Frage um Geschlecht und Identität nachgegangen werden sollte, musste schon mehrmals beantwortet werden. Viel Unverständnis wurde dabei den WissenschaftlerInnen auf fachlicher Ebene entgegen geworfen, weswegen ihrer wissenschaftlichen Produktivität gerade deswegen eine besondere Anerkennung
11 Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter. 12 Vgl. Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Sitte und Sexus einer Frau (Reinbek bei Hamburg 1968). 13 Vgl. Foucault, Der Wille zum Wissen; Der Gebrauch der Lüste; Die Sorge um sich. 14 Vgl. Raewyn Connell, Masculinities (Cambridge 1995). 15 Vgl. Duden, Geschichte unter der Haut. 16 Vgl. Gayle Rubin, Sex denken, Anmerkungen zu einer radikalen Theorie der sexuellen Politik, in: Andreas Kraß (Hg.), Queer denken, Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), (Frankfurt am Main 2003).
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zuteilwerden muss.17 Auch aktuell scheint eine Wertschätzung dem Fach gegenüber nur an bestimmten wissenschaftlichen Institutionen ausgesprochen zu werden, wobei viele Initiativen noch immer durch starkes, persönliches Interesse getragen werden. Das eigene Interesse bildete ebenso die Motivation für dieses Werk. Es war eine persönliche Fragestellung und die Neugier, warum folgende Seiten eine Entstehung fanden. Es handelt sich um die Frage: Wo stehen wir heute? Was sind unsere derzeitigen Vorstellungen, nachdem wir diese neuen Theorien um Gender und Queer Studies erdacht und rezipiert haben? Welche Auswirkungen haben diese Theorien in der praktischen Anwendung (oder welche auch nicht) und wenn wir die Mechanismen von Macht ausfindig machen konnten, warum bestehen die Einflussfaktoren um Geschlechternormen und Sexualität noch immer? Ebenso die weiterführende Frage: Was ist die Bedeutung von diesen Theorien um Gender und Queer für eine junge Gesellschaft, wie gehen „wir“ damit um (wenn diese überhaupt bekannt sind) und was sind die sichtbaren Auswirkungen davon? Es handelt sich um Fragestellungen nach den Auswirkungen fundamentaler Erkenntnisse einer Wissenschaft – für viele die Wissenschaft – unserer Zeit. Fragen, die mit Recht zum aktuellen Zeitpunkt gestellt werden sollen und müssen, da, wie bereits erwähnt, niemals zuvor die Verbreitung fachspezifischer Erkenntnisse in einem internationalen Raum so gegeben war und ist wie heute. Gender und Queer Theories stellen zunehmend Fachtermini dar, die an Form, Inhalt und theoretischer Tiefe über klare Silhouetten im breiten Verständnis ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung und ihrer implizierenden Fragestellungen verfügen. Sogar Alltagsthemen wurden und werden aus dem wissenschaftlichen Untertagebau um Geschlecht und sexuelle Identitäten ausgehoben und einer breiten Masse – in der Regel ver-
17 Anm.: Hierbei sind die unzähligen Schwierigkeiten zu erwähnen, die die Einführung von Gender-Professuren an Universitäten mit sich brachten, oder die Einführung entsprechender politischer Funktionen. Ebenso die emotionalisierten Debatten bei Veröffentlichung von Gender-Reports, etc. Zur angesprochenen Polarisierung folgender Artikel exemplarisch: Karin Eckert, Gabi Horak, Raus aus dem Gulaschtopf, Johanna Dohnal ist mit 65 Jahren keineswegs im Ruhestand, in: an.schläge, Das feministische Magazin (April/2004 Wien).
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einfacht und unzureichend – zugänglich gemacht.18 Die Vernetzung einer US-amerikanischen Gedankenwelt mit der europäischen Wissenschaft scheint gerade in dieser Frage äußerst produktiv und ebenso sichtbar zu sein. Die Eingrenzung der hier vorliegenden Gedanken auf eine westliche Sphäre, welche Europa, USA und weitere Teile der Welt, welche sich an den beiden großen Unionen orientieren, umfasst, ergibt sich vor allem aus der wissenschaftlichen Prosperität dieser zwei Wirtschaftsunionen19, darf aber keinesfalls exklusiv gesehen werden. Entsprechende Auseinandersetzungen sind stark personenabhängig und somit weltweit auffindbar. Vieles von dem, was als Kritik oder Beobachtung in den vorliegenden Seiten formuliert wird, muss nicht weltweit und auf alle Personen zutreffend sein. Es soll keinesfalls der Eindruck entstehen, hier eine Gesamteinschätzung der Weltbevölkerung vorgenommen zu haben. Vielmehr handelt es sich hierbei um grundlegende Überlegungen und Theorien zu einer aktuellen Zeit und Gesellschaft, die weit über streng gezogene Grenzen einer westlichen Welt Relevanz haben können. Diese Überlegungen und Theorien stehen im Zentrum der hier vorliegenden Seiten. Es geht dabei um allgemeine Trends und Änderungen einer aktuellen Zeit, die sehr wohl direkt oder indirekt von einem veränderten Verständnis, was Geschlecht sein soll und sexuelle Begierde sein muss, zeugt. Es sind (Weiter-)Entwicklungen junger Generationen, die sich im 21. Jahrhundert sozialisiert fühlen und neue, niemals zuvor erlebte Herausforderungen vor sich haben. Es betrifft Lebenswelten, die scheinbar ohne Bruch zur vorhergehenden Generation, aber dennoch so unterschiedlich geartet, aufeinander treffen. Es beinhaltet
18 Vgl. als Bsp.: Jürgen Budde, Männlichkeit und gymnasialer Alltag, Doing Gender im heutigen Bildungssystem (Bielefeld 2005). 19 Anm.: Eine geographische Rahmenziehung von „westlich“ soll hier bezugnehmend auf die Auswirkungen dieser Theorien primär anhand der staatlichen Anerkennung von Grundrechten (Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit) passieren. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kann freilich keine geographische Einschränkung vorgenommen werden, da persönliche Schwerpunkte einen relevanten Faktor in der wissenschaftlichen Fragestellung darstellen. Jedoch sind gerade fachspezifische, wissenschaftliche Institutionen der Gender und Queer Studies insbesondere im USA/EU Raum zu finden.
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Beobachtungen zu Krisen20, die als allgegenwärtige Katalysatoren für ein funktionierendes System verstanden werden. Es dreht sich um Ungerechtigkeit21 als ein abstrakter, beinahe schon inflationär verwendeter Begriff mit flächendeckender Gültigkeit für alle, und um die Welt als Dorf22, mit klaren vernetzten Strukturen, die alleine ohnehin nicht veränderbar sind. Es geht bei diesen vorliegenden Seiten um eine Generation, die sich Wiederholungen bedienen muss und mit dem Satz „Das hat es alles schon gegeben!“ zu leben gelernt hat. Um das Faktum unendliche Möglichkeiten der persönlichen Gestaltung des eigenen Lebens und der Interpretation dessen, was Geschlecht, Freiheit und Liebe sein muss oder darf, in den Händen zu halten. Im Zentrum dieser Arbeit steht daher die Neugier, nach der getrübten Sicht aufschäumender Revolutionen auf gesellschaftliche Momente und nach der Etablierung fachbezogener Erkenntnisse, die Knospen eines möglichen Erfolges gesellschaftlicher Wandlungen erkennen zu wollen. Ein Versuch.
20 Vgl. Pavel Kouba, Von der Notwendigkeit der Krise (Prag 2003), Center for Theoretical
Study
(CTS),
http://www.cts.cuni.cz/soubory/reporty/CTS-03-
06.pdf (3/2014). 21 Vgl. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Ein Buch für freie Geister, Vorrede Nr. 6 (Leipzig 1886). 22 Vgl. Marshall McLuhan, The Gutenberg Galaxy, the making of typographic man (Toronto 1962).
2. Fäden einer Expertise
Die Wissenschaft der Geschlechterforschung darf als durchwegs etabliert und in den wichtigen Bildungsinstitutionen Europas und den USA als verankert angesehen werden. Es scheint beinahe so, als wäre eine Hochschule erst durch ein modernes Diversity Management für das 21. Jahrhundert gerüstet.1 Ein Effekt, der durchaus Schattenseiten wirft. Zu rasch und unüberlegt treten einige universitäre und verwaltungstechnische Departments und Einrichtungen hervor und betiteln sich als Gleichbehandlungsstellen oder Diversity-Abteilungen, ohne dabei den kritischen Ansatz der Wissenschaft um Gender und Queer zu bedenken oder andere Minoritätsstudien zu beachten.2 Ebenso scheint gerade in Europa und dem deutschen Sprachraum eine Teilung von Anwendung, Forschung/Lehre betreffend Gender/Queer/ Diversity Studien als Konzept zu greifen.3 Doch wäre gerade hierbei die
1
Vgl. Martin Spiewak, Mit Multikulti zur Elite, Die Diskriminierung farbiger Studenten in den USA hat sich ins Gegenteil verkehrt: Nun wetteifern die Hochschulen um nichtweißen Nachwuchs, in: Die Zeit, http://www.zeit.de/2008/47/B -Ami-Unis (13.11.2008).
2
Vgl. hierzu den Vorsatz der steirischen Landesregierung und die dann erfolgte Umsetzung. Von Integration zu Integration und Diversität: Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Fachabteilung 6A – Gesellschaft und Generationen, Referat Integration – Diversität, Zusammenleben in Vielfalt, Der steirische Weg der Integrationspolitik (Graz 2011).
3
Vgl. hierfür die unterschiedlichen Einrichtungen an Österreichs Universitäten: Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen (inkl. Büro), Koordinationsstelle für Geschlechterstudien, Frauenforschung und Frauenförderung, entsprechende Pro-
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Frage interessant: Warum sollten, beispielsweise aktuelle Erkenntnisse der Forschung zu ungleichstellenden Parametern lediglich in der Lehre thematisiert werden und nicht auch in ein angewandtes Konzept münden? Eine junge Generation von heute, die früher oder später den beruflichen Weg an die Hochschule finden möchte, wird mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit mit den Begrifflichkeiten Gender/Diversity/Queer konfrontiert werden und in so manchen Fällen auch eine fachliche Auseinandersetzung über sich ergehen lassen müssen.4 Und genau an diesem Kristallisationspunkt entscheidet sich oftmals, mit welcher Konnotation diese Inhalte auf der persönlichen Ebene der Reflexion angenommen werden. Die fundierte fachliche Komponente stellt in diesem Kontext einen wichtigen Schlüsselfaktor dar, wodurch Transparenz betreffend Inhalte und Notwendigkeiten geschaffen wird. Doch nur die Wenigsten treffen unbedarft auf diesen Themenkomplex, da in unterschiedlicher Intensität, fachbezogene Stichworte immer öfters in einen öffentlichen Diskurs gelangen und zum Teil sogar als Schlagzeilen für aktuelle mediale Szenendarstellungen fungieren. Westliche Regierungen, politische VertreterInnen und Medien spielen ebenso mit den Termini „Gender“, selten aber ab und an auch mit den Begriffen „Queer“ und „Diversity“, wobei dasselbe Prinzip wie vielerorts gilt: eine tiefergehende Auseinandersetzung bleibt die Ausnahme. Damit aber formieren sich oftmals unklare Bilder der Themengebiete Geschlechter-, Sexualitäts-, sowie Diversitätsforschung auf den persönlichen Reflexionsebenen, wobei beinahe tägliche Berührungspunkte nicht nur hochgradig wahrscheinlich, sondern in der Regel von dem/der Einzelnen als fundamental wichtig erlebt werden. Die aktive Auseinandersetzung mit dem Themenfeld in einem erweiterten Rahmen, welcher über die wissenschaftliche Professionalität hinaus geht, sollte gerade hinblickend der gesellschaftlichen Herausforderungen des 21. Jahrhundert zunehmen. Der Verbindung zwischen der Welt der Wissenschaft und den Alltagserfahrungen wurde bisher – gerade in Europa – gerne ausgespart, weswegen das vorliegende Papier den Versuch einen kleinen Beitrag zur Füllung dieser Lücke darstellen soll.
fessuren, Doktorats-Kollegs, Masterstudien, Integriert Studieren, etc. (exempl.: Karl-Franzens Universität Graz, www.uni-graz.at). 4
Anm.: Ein „muss“, da in viele Studienordnungen, entsprechende Lehrveranstaltungen verpflichtend in die Curricula festgeschrieben sind.
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Durch die erweiterte Perspektive fachthematischer Arbeiten wird das Dilemma sichtbar, inwieweit nun der aufgeklärte Blick auf die Machtmechanismen und Ordnungen dieser (Alltags-)Welt von Geschlechtlichkeit und (sexueller) Normierung durch wen und von wie vielen überhaupt eingenommen werden kann. Müssen wir alle Expertinnen und Experten für Gender/Diversity sein? Oder die provokante Frage: Kann es überhaupt jemand geben, die/der diese aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse exklusive Sicht für sich in Anspruch nehmen darf, oder bleibt der Mensch nicht permanent, unveränderlich und unwiderruflich einE SpielerIn im Kampf um Macht, Anerkennung, Sexualität und Image? Ist damit eine fachliche Perspektive nicht mehr oder minder eine Kampfhaltung des scheinbaren wissenschaftlichen Establishments, welches statt gegen Diskriminierungen zu kämpfen mit Überheblichkeit einen gesellschaftlichen Diskurs sucht, um eine Diskussion auf Meta-Ebene zu führen? Eine vereinende Frage und persönlicher Grund für diesen Denkprozess, um eine Brücke zwischen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher sowie eigener Reflexion zu schlagen. Dabei sind wohl die hegemonialen Stereotypen einer Männlichkeit und Weiblichkeit, welche dauernd produziert und permanent fortgeschrieben und abgewandelt werden, ohne eineN Protagonistin/Protagonisten zu finden, die/der diesen komplett entsprechen könnte, die auffälligste Diskrepanz. Es handelt sich dabei um Vorstellungen der idealisierten Darstellungsweisen der Geschlechter, die in abstrakter Form als Stereotypen darstellbar sind, jedoch keine reale Umsetzungschance im Alltag besitzen. In den diskursiven Darstellungen, medialen Verarbeitungen – in jeglichen Repräsentationen dieser Vorstellungen in einem abstrahierten Raum – lässt sich dieses Konzept der Ideale von Geschlechter-Typisierungen erstellen und verbreiten. Gerade die modernen Medien wie Internet, Fernsehen, Radio leisten dazu einen wunderbar erfolgreichen Beitrag.5 In gewisser Hinsicht stellen der Buchdruck, Malerei, ja sogar antike Mosaike den Ursprung dieser Kreation von Vorstellungen der Ideale dar.6 Der allumfassende Charakter dieser Darstellungen von hegemonialen Stereotypen
5
Vgl. Paul M. Lester, Susan D. Ross (gem. Hg.), Images that injure, pictorial
6
Vgl. Umberto Eco (Hg.), Die Geschichte der Schönheit, 2. Aufl. (München
sterotypes in the media, 2. Aufl. (Westport 2003). 2007).
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scheint dennoch seinen Siegeszug mit Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts begonnen zu haben. Plattformen, die eine Online Persönlichkeit nach eigenem Ermessen und idealisierte Parametern erlauben, bilden dabei die Grundlage für einen neuerlichen Impuls dieser Konzeptionen der Ideale.7 Dabei darf gleich zu Anfang der Zweifel formuliert werden, ob es sich bei der Schaffung von Online-Persönlichkeiten tatsächlich um eine reale Widerspiegelung der Ist-Zustände handelt oder nicht doch eine innere Wahrnehmung8 maßgebliche Veränderungen verursacht. Ebenso die Beeinflussung von biografischen Daten, die einer Selektion zugunsten des hegemonialen Bildes unterworfen werden. Doch Bilder und Ideale sind keine Einbahnstraßen die unveränderlich im Raum stehen und jeden unterwerfen. Eine Beeinflussung von Geschlechterrollen durch Impulse einer vernetzten und verbundenen Welt der Profile hat gleichsam eine entsprechende Wirkung auf die Konzepte der Geschlechter, die durch das dynamische System der gegensätzlichen Wechselwirkungen aufeinander zugreift, wobei die Kraft auf die/den EinzelneN um ein Vielfaches höher liegt als umgekehrt. Eine David und Goliath Analogie scheint passend. Niemand kann sich einer geschlechtsstereotypischen Unterwerfung entziehen, denn selbst ein wissenschaftlicher Kreis bleibt im gesellschaftlichen System verhaftet und wird seine Arbeiten immer nur aus der Perspektive eines Mannes/einer Frau, schwarz/weiß, Europäerin/Afrikanerin, etc. verfassen und lesen können. Die Auswirkungen bleiben die Gleichen, denn auch der/die WissenschaftlerIn bleibt als Mensch im Umfeld verhaftet und ebenso wenig kann ein kritisches Publikum eine permanente Aufmerksamkeit und Reflexion aufrechterhalten. Im Rahmen dieser Feststellung einer klaren Unterwerfung tritt die Persönlichkeitspräsentation ins Zentrum der Aufmerksamkeit, zu welcher freilich weit mehr gehört als nur die Rolle um Geschlecht und sexuelle Orientierung/Identität. Doch diese angesprochenen Ebenen der eigendefinierten Darstellungen sind seit kurzem allgegenwärtig und für die Sichtbarkeit – also ein relevanter Bestandteil der modernen Welt sein zu wollen – notwendig. Diese realen und virtuellen Normhaltungen werden in beiden Welten lebhaft, wobei eine Angleichung zwischen diesen Sphären zwangsläufig
7
Anm.: Hierbei sei nur Facebook als Exempel erwähnt.
8
Vgl. Birgit Richard, Jan Grünwald, Marcus Recht, Nina Metz, Flickernde Jugend – Rauschende Bilder, Netzkulturen im Web 2.0 (Frankfurt am Main 2010).
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wird, sodass hegemoniale Bilder durch eine globale Vernetzung internationalisiert, standardisiert und abgeglichen werden. In beiden Welten verfügen Menschen über entsprechende Möglichkeiten, eigene Vorstellungen, Imagebilder, oder den Status nach außen, und von anderen sichtbar, wahrnehmbar werden zu lassen.9 Zugegebenermaßen stellte sich die Gestaltung einer Persönlichkeit im virtuellen Raum als einfacher, schneller und ferner jeglicher Realitäten heraus, weswegen gerade dieser Raum, Rückzugsort und mancherorts sogar Projektionsfläche unerfüllter Wünsche10 werden kann. Den Faktoren Globalisierung, Kapitalismus und Vergleich fallen dabei zentrale Rollen zu.11 Nur wenn die Möglichkeit einer vergleichbaren Darstellung gegeben ist – also das Werkzeug des Vergleichs eingesetzt werden kann – haben die hegemonialen Ausbildungen von Geschlechterrollen und die damit verbundenen Wertungen eine reelle Chance auf Durchsetzung. Diese universale Möglichkeit des Vergleichs ist durch die genannten beiden Faktoren gegeben. Kleidermode, ein zentraler Identifikationscode, ist inzwischen im gesamten westlichen Raum und darüber hinaus, käuflich erhältlich. Filialen multinationaler Konzerne operieren mit klaren modischen Mustern und Darstellungsformen für Frauen wie Männer, begrenzen diese auf Saisonen – weniger auf Regionen – und zeichnen somit periodisch, zumindest zweimal jährlich, neue Bilder einer sichtbaren Repräsentation der Geschlechterideale, um einen erneuten Kaufgrund zu liefern. Der Vergleich mit Bildern (Werbungen) und Personen, die diese Neuerung bereits haben, schafft dabei das Bewusstsein, etwas nicht zu haben.
9
Sherry Turkle, Life on the Screen, Identity in the Age of the Internet (New York 1995).
10 Anm.: Die Erstellung von sogenannten Fake-Profilen auf online Plattformen ist ein durchaus bekanntes Phänomen der aktuellen Zeit, da zumindest das Experimentieren mit einer anderen – „besseren“ – Identität weite Verbreitung genießt. Vgl. Anett Michael, Fake-Accounts, Experimentelle und künstliche Identitäten im Internet, Bachelorarbeit (Norderstedt 2009). 11 Andrew E. Clark, Claudia Senik, Who compares to whom?, The anatomy of income comparisons in Europe, in: The Economic Journal, Nr. 120 (Oxford, Malden 2010).
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Die anerkannte Individualisierung12 – also jene, die allgemein akzeptiert, weder als krank, verrückt noch Image-verlustig wahrgenommen wird – einer aktuellen Generation geschieht primär auf Ebene der Selektion unüberschaubarer Angebote des weltweiten Marktes. Ob Musik, Mode, Videos, Hobbys oder Bücher: die Angebote sind grenzenlos und ein Überblick unmöglich. Die Grenzziehung zur eigenen Persönlichkeit und Abhebung zur Masse passiert durch eine individuelle Zusammensetzung verschiedener Einflüsse, wobei viele diese oftmals als Kreativität missinterpretierten. Vielmehr liegt der Schluss nahe, dass es sich dabei um ein diffiziles Bauwerk mit hohem persönlichen Aufwand handelt, bei welchem Innovation durch intensive Recherche und darauf folgend durch Reproduktionen von Vorhandenem zu ersetzen versucht wird. Eine kreative Lebensgestaltung, welche ganz und gar nicht vorherrschenden Trends und Idealen entsprechen muss, scheint in der aktuellen Zeit das Privileg der Bildung und Kunst zu sein, also Bereiche, wo Zeit und Mobilität für eine kritische Auseinandersetzung und Raum für eine gefestigte Etablierung von Lebensvorstellungen vorhanden sind. Oder anders formuliert: Zwei Lebensbereiche mit Repräsentantinnen und Repräsentanten, die ohnehin den hegemonialen Geschlechtsbildern kritisch gegenüberstehen und Innovationen (über-)leben müssen, wobei Offenheit und Freiheit in diesem Bereich traditionell als besonders wichtig erachtet werden. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass sowohl Bildung13 als auch die Kunst14 zwei äußerst abstrakte Begriffe sind, die keine Ausschlusskriterien
12 Anm. Individualisierung und ihre Grenzen: vgl. Stefan Klein, „Unser Glück hängt von den Freunden ab“, Der Soziologe Nicholas Christakis über ansteckende Vorlieben und die unterschätzte Bedeutung des Miteinanders, in: Die Zeit, http://www.zeit.de/2012/05/Freundschaft-Christakis (26.1.2012). 13 Anm. als Beispiel für ein kritisches und unterschiedliches Verständnis zum Thema Bildung und Exklusivität: Vgl. Joachim Riedl, „Universität ist elitär“, Wissenschaftsminister Karlheinz Töchterle und Philosoph Konrad Paul Liessmann über Studiengebühren, freien Hochschulzugang und ihre akademischen Idealwelten, in: Die Zeit, http://www.zeit.de/2012/08/A-Gespraech-ToechterleLiessmann/seite-1 (17.2.2012). 14 Vgl. Österreich. Künstler-Sozialversicherungsfondsgesetz, BGBl. Nr. 131/2000: „§ 2. (1) Künstlerin/Künstler im Sinne dieses Bundesgesetzes ist, wer in den Bereichen der bildenden Kunst, der darstellenden Kunst, der Musik, der Literatur,
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vorgeben. In diesem Sinne sind diese geradezu passend für die zugedachte Verwendung, denn nicht jede akademisch-graduierte Person muss gebildet oder gar reflektiert sein. Ebenso kann vieles ein künstlerisches Auseinandersetzen darstellen, das ohne Anerkennung, Bühne oder Applaus leben muss/will. Sowohl Kunst als auch Bildung müssen hier als breite, von der Konvention abgehobene Begriffe verstanden sein. Neben diesen Dimensionen der individuellen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, spielt auf der grundlegenden Kategorie Geschlecht aufbauend, die sexuelle Identität eine außergewöhnlich wichtige Rolle. In der modernen Gesellschaft akzeptiert, reglementiert und öffentlich diskutiert, fanden Lesben und Schwule tolerierten Zugang in die heteronormative Ordnung. Codes, was erlaubt, beziehungsweise bemerkbar sein dürfte, wurden und werden großteils angenommen und internalisiert. Entwürfe einer Lebensführung, die den Anforderungen hegemonialer Geschlechter-Rollenbilder genügen, erfahren stillschweigende Toleranz.15 Sowohl männliche als auch weibliche Verhaltensregeln verlangen eine gesellschaftliche Rollenführung, die im Rahmen der akzeptierten Färbungen auch von Schwulen und Lesben16 zu übernehmen sind, wenn eine unausgesprochene Akzeptanz passieren soll. Sollte dem nicht entsprochen werden, kommt es unweigerlich zu einer Stigmatisierung bekannter Zuschreibungen je nach Art des geschlechternormierten Gesetzesbruches. Im selben Maße wird die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht in Frage gestellt.
der Filmkunst oder in einer der zeitgenössischen Ausformungen der Bereiche der Kunst aufgrund ihrer/seiner künstlerischen Befähigung im Rahmen einer künstlerischen Tätigkeit Werke der Kunst schafft.“. 15 Anm.: Welche Form Intimität hat das Anrecht auf die „normale“ Rezeption? Zwei sich küssende Männer brechen noch immer diese normierte Distanz. (Vgl. hierzu die Berichterstattung über den ersten „richtigen“ Männerkuss in der Geschichte der MTV Movie Awards 2011 in Los Angeles, stattgefunden zwischen Robert Pattinson und Taylor Lautner.) 16 Gayle Rubin, Sex denken: Anmerkungen zu einer radikalen Theorie der sexuellen Politik, in: Andreas Kraß (Hg), Queer denken, Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), (Frankfurt am Main 2003).
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Die „Tunte“, welche doch kein „richtiger Mann“17 sei oder das diffamierende Klischee18 der Lesbe als „Flanellhemd-tragende Holzfällerin“. Die zweite Dimension in diesem „Gentlemen Agreement“ einer heteronormativen Ordnung und schwul-lesbischer Identität ist die Akzeptanz der Distanz in Beziehungen. Der gesellschaftliche Umgang mit öffentlichsichtbaren Intimitäten unterliegt tiefverwurzelten Regeln. Was ist gesellschaftlich adäquat und wo wird die Grenze einer „Sittlichkeit“ überschritten? Zwei Fragen, die permanent neu gestellt und beantwortet werden möchten. Dabei scheint es so, als handle es sich um eine permanente Auseinandersetzung mit menschlichen Intimitäten und ihrer Sichtbarkeit als Schauspiel im Vorhof der anerkannten Sexualitäten. Die öffentlich sichtbare gleichgeschlechtliche Zuneigung droht hierbei das fragile Konstrukt der Ordnung um zwischenmenschliche Nähe zu verletzen. Die sichtbare Liebe zwischen Frau-Frau und Mann-Mann trägt die unsichtbare aber offensichtliche Sexualität zur Schau und führt zu einem akuten Erklärungsdefizit. Es entsteht der Zwang, unausgesprochene Grundsätze zu artikulieren, ja, eine heteronormative Ordnung die gegeben ist, legitimieren zu müssen. Nicht nur eine sexuelle Ordnung, sondern ebenso die Norm geschlechtlicher Verhaltensweisen. Die Entsprechung einer Rolle als Mann oder Frau und der Verrat durch Intimität zum gleichen Geschlecht führt unweigerlich zu einer Krise der Definition, was die Norm sei, und zu einer Unordnung des Sichtbaren. Nur die Distanz im öffentlichen Leben, auch wenn die Klarheit über die Beziehung zwischen zwei Menschen vorhanden ist, stützt und beruhigt die Norm und Ordnung von Sexualität und Geschlecht.
17 Anm.: Der Begriff „Masculinity“ bei Google unter der Rubrik Images eingegeben, bringt als Erstes ein schwarzweiß, Ganzkörperbild von einem jungen, weißen, muskulösen, kurzhaarigen, an der Maschine arbeitenden, mit ärmellosen Shirt und Arbeitshose bekleideten, rasierten aber im Nacken behaarten, sich im Tun befindlichen Mann (www.google.com 1/2012) zum Vorschein. Ein Beispiel für das mögliche Verständnis von einem „richtigen“ Mann. 18 Anm.: Der Begriff „Gay“ bei Google unter der Rubrik Images eingegeben, führt zwei sich leidenschaftliche küssende, halb-nackte, junge Männer (Oberkörperausschnitt) als erstes Bild vor Augen. Bei der Eingabe des Begriffs „Lesbian“ erscheint ebenso das Bild (Oberkörperausschnitt) zweier, weiblicher, sich nackt und leidenschaftlich-küssender, junger Frauen (www.google.com 1/2012).
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Gerade die klare Wahrnehmung des Geschlechts und dessen eindeutige Positionierung im öffentlichen Raum ist eine unverzichtbare Kategorie der Sicherheit. Eine Grundstruktur des Systems. Es sind intersexuelle, transsexuelle Menschen, aber auch sich nicht dem Klischee unterwerfende Schwule und Lesben und viele mehr, die diesem Denken zum Opfer fallen. Personen, die den gesetzten Erwartungen nach geschlechtlicher und sexualmoralischer Konformität nicht entsprechen – wobei hier klare Grenzen durch einen strafrechtlichen Rahmen gezogen werden müssen, wo Verbote zum Schutz von Menschen definiert sind –, werden bagatellisiert, lächerlich gemacht, pathologisiert und/oder an den Rand gedrängt. Wer die Regeln nicht versteht oder gegen diese verstößt, wird untergeordnet und eine Vollwertigkeit abgesprochen.
3. Die Last der Funktion
Die Sexualität, das Geschlecht und das damit Verbundene ordnen sich in hierarchische Strukturen der Gesellschaft ein. Postkoloniale Theorien bieten hierfür spannende Konzepte für Erklärungsversuche.1 Das Verständnis um Geschlechterrollen prägt dabei eigene Anforderungsprofile für potentielle Partnerschaften und erhöht den Druck auf das eigene Selbst.2 Dabei scheint eine gesellschaftliche Welle der Alleinstehenden3 über mehrere aufgeladene Blasen wunschorientierter Vorstellungen von eigener Identität und Partnerschaft zu verfügen, um über eine aktuelle Zeit hinwegzufegen, wobei die Vorstellungen nur geringe Bezüge zur Realität, hingegen vertiefte Koppelungen zu medialen Imaginationen, aufweisen. Erwartungen, die direkt und eng an die Perspektive auf das zu erwartende Sollbild einer Männlichkeit beziehungsweise Weiblichkeit geknüpft sind, führen nicht nur zu einem ständigen Kampf um die eigene „richtige“ Erscheinung, sondern ebenso zu sich ständig abwechselnden, sich ab und an steigernden Erwartungen anderen Personen gegenüber. Der eigene perfekte Körper verlangt einen anderen perfekten Körper oder vergleichbare Qualitäten, die dieses subsumieren können. Diese Er1
Vgl. María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan (gem. Hg), Postkoloniale
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Vgl. Claudia Höfner, Brigitte Schigl, Geschlecht und Identität, Implikationen
Theorie, Eine kritische Einführung (Bielefeld 2005). für Beratung und Psychotherapie – gendertheoretische Perspektiven, in: Hilarion G. Petzold (Hg.), Ein Kernthema Moderner Psychotherapie (Wiesbaden 2012). 3
Vgl. Michael Allmaier, Single, ein unbekanntes Wesen, Individualist oder >>Defizitäre Sozialfigur