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German Pages 358 Year 2014
Elke Kleinau, Dirk Schulz, Susanne Völker (Hg.) Gender in Bewegung
Gender Studies
Elke Kleinau, Dirk Schulz, Susanne Völker (Hg.)
Gender in Bewegung Aktuelle Spannungsfelder der Gender und Queer Studies
Gefördert durch:
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Inhalt
Praktizierte Gender Studies und institutionelle Räume Vernetzungen, Resonanzen, Spannungen, Interventionen
Elke Kleinau, Dirk Schulz und Susanne Völker | 9
1. Gender Studies in Köln Hochschulpolitische Akteur_innen/ Stadt/Land/Hochschulen Die Zeit ist reif!
Anja Steinbeck | 19 Studieren in Köln – vielfältig und chancengleich!
Stefan Herzig | 21 Gender in Bewegung – Impulse für Forschung und Hochschule
Anne Schlüter und Beate Kortendiek | 23 Dechiffrierung der Geschlechterordnung
Ilse Hartmann-Tews und Diana Emberger | 25 Geschlechterverhältnisse als Herausforderung – Erwartungen und Hoffnungen
Renate Kosuch | 27 Un/sichtbarkeiten von gender
Marie-Luise Angerer | 29 Gendertopoi und Queeres hören
Annette Kreutziger-Herr und Katrin Losleben | 31
2. Dubiose Dualismen Gesellschaftliche Herausforderungen der Gender Studies 2.1 Geschlechtergerechtigkeit und Hochschule: Gleichstellung »Ordnung der Natur. Macht der Tradition« Geschlechterverhältnisse an der Universität
Elke Kleinau | 35 Transformationen der Frauen- und Gleichstellungspolitik an den Universitäten Das Beispiel Köln
Claudia Nikodem | 49 Gleichstellung Macht Hochschulpolitik Macht und Gleichstellung im Strukturwandel an der Universität zu Köln
Britt Dahmen und Annelene Gäckle | 63 Doing gender – Doing excellence ?
Maike Hellmig | 75
2.2 (Ge-)Schlecht in der Schule: Lernen Geschlechtsunterschiede in der Schule Wie die Identitätsentwicklung Jugendlicher mit ihrem schulischen Engagement interagiert
Ursula Kessels | 91 Gendering/Queering the Language Classroom Gender und Queer Studies als Herausforderung für das schulische Fremdsprachenlernen
Andrea Gutenberg | 107 Genderaspekte im Deutschunterricht
Andreas Barnieske und Andreas Seidler | 121
Die Inklusive Universitätsschule Köln im Kontext von Ausbildung und Geschlechtergerechtigkeit
Silke Kargl | 135
2.3 Geschlechter(un-)ordnung: Transformationen Geschlecht und Behinderung intersektional denken Anschlüsse an Gender Studies und Disability Studies
Anne Waldschmidt | 151 Geschlecht im Kontext polygamer Beziehungsführung der ›68er_innen‹ Ergebnisse einer narrativen Interviewstudie
Karla Verlinden | 165 Zur Komplexität des Sozialen Praxeologische und queertheoretische Perspektiven auf die Prekarisierung von Erwerbsarbeit
Susanne Völker | 181
3. Differenzierte Differenzen Normierungen und Subversion als Forschungsgegenstand der Geschlechterforschung 3.1 Körperlichkeiten und Inszenierungen: Diversität und Differenz Engendering the Monstrous Kulturelle Transformationen im Theater der Frühen Neuzeit
Beate Neumeier | 197 Grenzüberschreitung und Transformation Diskursanalytische Betrachtungen zur Sibirienreise der Cellistin Lise Cristiani
Katharina Deserno | 213 Bending gender, Deconstructing Binaries? Transformationen in der Popularmusikforschung anhand der Beispiele Lady Gaga und Annie Lennox
Monika E. Schoop | 229
Gender Bias in der Forschung – ein blinder Fleck der Sportmedizin?
Ilse Hartmann-Tews und Bettina Rulofs | 241
3.2 Männlichkeiten und Grenzziehung: Positionierung und Differenz Gymnasiasten in der Krise?! Zum schulischen Überbürdungsdiskurs im Deutschen Kaiserreich
Wolfgang Gippert | 257 Männlichkeiten und Sexualerziehung Lösungsstrategien ambivalenter Unterrichtserwartungen
Markus Hoffmann | 273 »American Knights in Buckskin« Das Männlichkeitsdispositiv der frontier und Narrative der Nationsbildung in den USA des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Dominik Ohrem | 289
3.3 Queer Theory und Medienanalyse: Performativität und Differenz Transkriptionen der Heteronormativität Michael Gordons P ILLOW TALK und Delbert Manns THAT TOUCH
Claudia Liebrand | 309 T HE R OCKY H ORROR PICTURE S HOW – Queere Theorien und mediale Transformationen
Johannes Breuer | 323 Queer und Heute Von der De- zur Rekonstruktion
Dirk Schulz | 335 Autor_innenverzeichnis | 351
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Praktizierte Gender Studies und institutionelle Räume Vernetzungen, Resonanzen, Spannungen, Interventionen E LKE K LEINAU , D IRK S CHULZ UND S USANNE V ÖLKER »Die Theorie als Tätigkeit […] findet immer dann statt, wenn über eine Möglichkeit nachgedacht wird, wenn eine kollektive Selbstreflexion beginnt, wenn ein Streit um Werte, Prioritäten und Sprachgebrauch geführt wird. […] Deshalb lässt sich, aus praktischen wie aus politischen Gründen kein Nutzen daraus ziehen, Kontroversen zu unterdrücken. Die Fragen lauten vielmehr: Wie geht man am besten mit ihnen um, wie trägt man sie am produktivsten aus und wie handelt man so, dass die unaufhebbare Komplexität, die besagt, wer wir sind, durch die Handlungsweise anerkannt wird.« JUDITH BUTLER
Die Initialzündung zu diesem Sammelband war die Gründung von GESTIK – Gender Studies in Köln als eine zentrale, wissenschaftliche Einrichtung der Universität zu Köln im Sommer 2012. Im Prozess der Bündelung und Zusammenführung der verschiedenen Zugänge, Perspektiven, Positionen und Methodologien an der Universität und den kooperierenden Kölner Hochschulen wurden durchaus lokale Schwerpunktsetzungen bezüglich der Fragestellungen und verhandelten Themenfelder erkennbar. Allerdings wurde ebenfalls deutlich, dass sich hier ganz allgemein Herausforderungen und Ambivalenzen der aktuellen Gender und Queer Studies, ihrer Institutionalisierung und hochschulpolitischen Einbettung – zumindest an den deutschsprachigen Universitäten – manifestieren.
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So trifft die wissenschaftskritische, inter- und bisweilen transdisziplinäre Ausrichtung von Gender und Queer Theorien sowohl auf Akzeptanz ob ihrer innovativen Impulse, als auch auf disziplinär situierte Prämissen, Epistemologien und fachkulturelle Bedingtheiten, die den Wert eindeutiger, ›reiner‹ Klassifikationen und der Komplexitätsreduktion als Gütekriterien ihrer Fachperspektive betonen. Die Erkenntnisfülle des vielfältigen Forschungs- und Lehrangebots der Gender Studies wird einesteils als Qualitätsmerkmal angemessen komplexer Wissenschaft gewürdigt, andernteils aus sehr unterschiedlichen positionierten fachlichen, politischen, persönlichen und Konkurrenz-Motiven in Frage gestellt. Im öffentlichen Raum scheinen zudem die Diskussionen um Gleichstellungspolitik, Gender Mainstreaming, Frauenquote, ›Homo-Ehe‹ und Sexismus die Anerkennung und notwendige Institutionalisierung von Geschlechterforschung an den Hochschulen zu befördern und zu festigen; in der gleichen Bewegung werden sie aber allzu oft ihrer analytischen Schärfe, kritischen Ausrichtung und Komplexität beraubt. Das Infragestellen und Insistieren auf der Relevanz und Gültigkeit der hervorgebrachten Wissen, die andauernde Verunsicherung und Behauptung des eigenen Erkenntnisinteresses und seiner institutionellen Positionierung sind begleitende Phänomene für alle Forschenden und Lehrenden der Gender Studies. Sie sind allerdings nicht allein als Würdigung oder eben Anwürfe seitens eines heterogenen wissenschaftlichen Feldes zu begreifen, dem Geschlechterforschung mitunter bis in die Gegenwart suspekt geblieben ist. Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten hinsichtlich der Forschungsprämissen, -vorgehensweisen und -ergebnisse sind produktive und provozierende Impulse gerade auch innerhalb der scientific community der Gender und Queer Studies. Die unaufhörliche Befragung der Erkenntnisinstrumente, der eigenen Verstrickungen und Ausblendungen ist ein wesentliches Movens des (akademisch gewordenen) Feminismus, gerade wenn er sich als kritische, intervenierende und bisweilen häretische wissenschaftliche Praxis versteht. Fragwürdigkeiten, Differenzen und partiale Perspektiven sind Potenziale und Voraussetzungen für Wissensproduktionen und -rezeptionen in allen Bereichen. Sie schaffen erst den Raum, um »die grundlegende historische Kontingenz aller Wissensansprüche und Wissenssubjekte in Rechnung [zu] stellen, eine kritische Praxis zur Wahrnehmung unserer eigenen bedeutungserzeugenden, ›semiotischen Technologien‹ [zu] entwickeln und einem nicht-sinnlosen Engagement für Darstellungen verpflichtet sein [zu] können, die einer ›wirklichen‹ Welt die Treue halten« (Haraway 1995: 78f. [Herv. i.O.])
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– wie Donna Haraway so treffend formuliert hat. Das Zulassen von (Selbst-) Zweifeln und Ambivalenzen sowie die Hinwendung zu Prekärem und Ungesichertem bewegen und transformieren nicht nur die Gender und Queer Studies, sie sind grundlegend für jegliche kritisch verfahrende Wissenschaftspraxis. Die vorliegende Aufsatzsammlung ist weniger das Produkt einer lokalspezifischen Institutionalisierung einer bestimmten und bestimmbaren Forschungseinheit oder -richtung noch der Versuch, konsistente, harmonisier- und kanonisierbare Erkenntnisgewinne vorzustellen. In Anlehnung an das vorangestellte Zitat von Judith Butler soll dieser Band vielmehr als Plattform für eine ›kollektive Selbstreflexion‹ verstanden werden, auf der der Streit um Werte, Prioritäten und Sprachgebrauch schriftlich geführt, sicht- und mitteilbar wird. Die hier diskutierten aktuellen Herausforderungen, Transformationen und Spannungsfelder der Gender und Queer Studies treten gerade durch den Verzicht auf vereinheitlichende Ausgangs-, Prioritäts-, Werte- und Sprachgebrauchsvorgaben zutage. In seiner gender- und queertheoretischen Rahmung, aber ohne zugrunde liegendes ›Masternarrativ‹ gibt der vorliegende Band Einblicke in die Vielschichtigkeit der Forschungs- und Positionierungsmöglichkeiten. Entstanden ist damit eine Publikation, in der Gender Studies eher praktiziert als konzeptioniert werden und ihre Stimmen interagieren. In inhaltlichen Knotenpunkten werden spezifisch eingebundene Wissenszusammenhänge entfaltet und zu – in ihren Verknüpfungen, epistemologischen Ausrichtungen, Akzentuierungen von Handlungsrelevanzen und Selbstverortungen – differenten Beiträgen in Beziehung gesetzt. ›Selbstreflexion‹ meint damit nicht die Selbstbefragung von über sich und die Welt verfügenden Wissenschaftssubjekten, die Eindeutigkeit, Unanfechtbarkeit und Kontrolle ihrer Wissensbestände mit der reflexiven Operation zu erreichen suchen. Es geht vielmehr um das offene Zusammentragen partialer Perspektiven, Stimmen und Diskursangebote, durch deren Interagieren und Interferieren sich nicht kontrollier- und vorhersehbare Resonanzen, mitunter auch Dissonanzen ereignen können, bestenfalls neue, bisher nicht wahrgenommene Bezüge und Verflechtungen aufscheinen und Wissensformen vertieft und erweitert werden. »Unsere Suche nach Partialität ist kein Selbstzweck, sondern handelt von Verbindungen und unerwarteten Eröffnungen, die durch situierte Wissen möglich werden. Einen spezifischen Ort einzunehmen, ist der einzige Weg zu einer umfangreicheren Vision.« (Ebd.: 91)
Haraways Begriff der Situierung bezieht sich dabei nicht in erster Linie darauf, die Reichweite von Wissen zu begrenzen, indem ihm die Eindeutigkeit eines Ortes zugewiesen und es solchermaßen ›transparent‹ gemacht wird. Vielmehr geht
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es darum, die Praktiken der Wissensgenerierung auf ihre relationale, sich ereignende Partialität hin zu öffnen. Dieses Konzept unabschliessbaren, situierten Wissens hat die Physikerin Karen Barad in spezifischer Weise aufgegriffen: Das permanente Werden und Wirksamsein der ›Welt‹ fasst sie in dem (physikalischen) Bild der Interferenzen, die nicht aus bestimmbaren Entitäten hervorgehen, sondern aus Wellen, die sich begegnen, überlagern und dabei sich auslöschen, verstärken oder ineinander übergehen. Dieses Bild gilt auch für ihren methodologischen Ansatz der Produktion von Wissen als inter- und transdisziplinäres Intraagieren von Situierungen, das darauf aus ist, »Einsichten durch einander hindurch zu lesen und dabei die Details und Besonderheiten von Differenzbeziehungen und deren Auswirkungen zu beachten und auf sie einzugehen« (Barad 2013: 28). Das Raumgeben von Partialitäten und das Ereignen lassen ihres Interferierens als Praxis ›kollektiver Selbstreflexion‹ ist aus unserer Sicht eine wesentliche Möglichkeit, mit dem heterogenen Feld der Gender und Queer Studies und den ihnen innewohnenden Fliehkräften, Irritationen und Antinomien umzugehen. Von diesem Bemühen um Vervielfältigung und Intra-Agieren von Zugängen ebenso wie um Vernetzung und kollektives Engagement – in der alltäglichen Wissenschaftspraxis und über Fächergrenzen hinweg –, um (Er-)Tragen von Abstoßungen und Ermöglichen von (unerwarteten) Resonanzen ist der Produktionsprozess des vorliegenden Band bis in seinen Aufbau hinein bestimmt. Vielleicht ist zum Verständnis des Aufbaus von Gender in Bewegung die von Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie entfaltete rhizomatische Logik hilfreich. Sie drückt unserer Anliegen aus, Spezifik zu zeigen, Heterogenität und Fülle zu ermöglichen, genealogische Festlegungen zu meiden und Möglichkeiten aktueller Verknüpfungen zu schaffen: »Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, nach denen es geschichtet ist, territorialisiert, organisiert, bezeichnet, zugeordnet etc.; aber auch Deterritorialisierungslinien, an denen es unaufhaltsam flieht [...]. Es kann nicht wie im Baummodell entschieden werden, welches Element das grundlegendste, der ›Stamm‹ ist, von dem alle anderen abhängen. Je nach Betrachtungsperspektive kann das Zentrum eines Rhizoms überall und nirgends sein. Seine einzelnen Punkte können und sollen untereinander verbunden werden (›Konnexion‹). Unterschiedlichste Sachverhalte können miteinander in Verbindung treten (›Heterogenität‹) [...] Aus all diesen Eigenschaften folgt, dass das Rhizom keine abstrakte Einheit als ideelle Vorstellung sein kann, sondern eher der Name für einen Prozess.« (Deleuze/Guattari 1992: 16)
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Mit der Publikation nicht nur das Offene, Unvereinbare unterschiedlicher Positionierungen zu zeigen, es vielmehr im Zusammenspiel/Begegnen ›unbestimmt‹ wirksam werden zu lassen, ohne das Resultat unter Kontrolle bringen zu wollen und die Anordnungen mit Ergebnissen zu versehen, sie der teilnehmenden, aktiven Lektüre zu überantworten, ist nicht immer leicht gefallen. Die (An-) Erkennung und Wahrung der verschiedenen Segmentierungs-, De- und Reterritorialisierungslinien der einzelnen Beiträge stellte sicher die größte Herausforderung für ihre Versammlungsform in diesem Buch dar. Wie sich und anderes ›verständlich‹ machen, wie Neukonstellierungen, Unbestimmtheiten und Abgrenzungen ermöglichen? Wie Heterogenität, irritierende Fügungen und Kontroversen einräumen ohne zu dominieren? ›Unsere‹ jeweiligen Situierungen und Gebundenheiten – persönlich, biographisch, politisch und wissenschaftlich – warfen Fragen auf und setzten Selektionen in Gang, die Überarbeitungen und Konkretisierungen erforderten, andere Positionierungen aber nicht unsichtbar machen sollten. Was bedeutet editorisches Eingreifen, wenn Ungewohntes und Verunsicherung ein wichtiges Bewegungsmerkmal der Gender und Queer Studies darstellen und das Konzept von ›Wissenschaftlichkeit‹, von ›Qualität‹ auch immer normative und regulierende Mechanismen produziert, die gerade häretische, ›bewegendere‹, unbestimmte Stimmen auszuschließen suchen? Wo verlaufen die Grenzen der jeweiligen Disziplinen, wo sind ihre Übergänge und Anschlussmöglichkeiten? Wo lassen sich theoretische und thematische Gemeinsamkeiten bündeln und in welcher Rahmung/Anordnung die offenkundigen Nichtübereinstimmungen produktiv entwickeln? Wer entscheidet über die Frage der Präsentationsformen, die nie von der Frage des ›Inhalts‹ zu lösen ist? Wie sind Aufsätze (ein-)zuordnen, die sich bemühen eine bestehende Ordnung zu stören? Wie kann die Lebendigkeit und Prozesshaftigkeit der hier evozierten Debatten in einer etablierten und strukturierten Präsentationsform abgebildet werden? Welche Rückwendungen und Kontextuierungen sind nötig, um das Aktuelle nachvollziehbar zu machen? Auch wenn der Band auf den ersten Blick eine klassische Struktur und Organisation suggeriert, haben wir uns bei seiner Konzeption und Redaktion um die Wahrung der zutage tretenden Segmentierungs- und Deterritorialisierungslinien der Beiträge bemüht. Die Gründung von GESTIK – Gender Studies in Köln und die Arbeit an Gender in Bewegung stiften dabei eher willkommene Motivationsrahmen, in denen der Komplexität, der bisweilen unbestimmten Ereignishaftigkeit der aktuellen Herausforderungen und Spannungsfelder der Gender und Queer Studies nachgespürt werden kann und sich kontroverse Debatten entfalten lassen. Wie die Kapitelstruktur des Bandes zeigt, lassen sich thematische und theoretische Akzentuierungs- und Segmentierungslinien erkennen. Ein gemein-
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sames Beziehungsfeld aller Artikel ist sicherlich die Frage nach geschlechtergerechtem und genderkritischem Denken und Handeln bzw. das Aufzeigen von Ungerechtigkeiten, die aus patriarchalen und heteronormativen Zu- und Einschreibungen resultieren. Auch hier sind die Herangehensweisen und Positionierungen divers bis kontrovers, was u.a. den Ungleichzeitigkeiten und spezifischen Kontextuierungen der Gender Studies innerhalb verschiedener Institutionen, Handlungsfelder, Disziplinen und Fachkulturen geschuldet ist. So sind dekonstruktivistische Theorien und Analysen vor allem in den Sozial-, Erziehungsund Kulturwissenschaften geläufig, während beispielsweise in medizinischen oder – im engeren Sinne – bildungspolitischen Zusammenhängen häufig eine fragwürdige gender insensitivity problematisiert und mehr ›Gendersensibilität‹ gefordert wird. In dem vorliegenden Mosaik diverser Beiträge einer ›kollektiven Selbstreflexion‹ rücken insbesondere zwei Gesichtspunkte in den Mittelpunkt: zum einen die Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen in Bezug auf Gleichstellung, Bildungspolitik und Umbrüche innerhalb sozialer Ordnungen und Integrationsmodi. Zum anderen liegt der Akzent mehr auf den Fragen von Repräsentation, Performativität und Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in diversen, medialen Diskursen. Wir möchten an dieser Stelle auf eine detaillierte Einführung der einzelnen Artikel verzichten und hoffen, dass die thematischen Überschriften und die Anordnungen der Beiträge darunter die benötigte Orientierungshilfe gewährleisten. Allerdings wurde auch uns als Herausgeber_innen erneut deutlich, wie schwierig es ist, Trennlinien zu ziehen bzw. Einordnungen vorzunehmen, da die Deterritorialisierungslinien und Verknüpfungspotenziale der Artikel ebenfalls offenkundig wurden. Im Folgenden soll also nur grob skizziert werden, wie die Beiträge – soweit dies in einer rhizomatischen Struktur möglich ist – eingebunden sind. Der Band wird eingeleitet durch Statements von Personen und Institutionenvertreter_innen, die die Gründung von GESTIK – Gender Studies in Köln maßgeblich vorangetrieben und/oder begleitet haben. Aus ihrer Sicht wird dieser lokale Anlass ebenso wie die Institutionalisierung von Gender Studies im Allgemeinen reflektiert und weitere Denkanstöße und Positionierungen zur Diskussion angeboten. Im folgenden Kapitel Dubiose Dualismen. Gesellschaftliche Herausforderungen der Gender Studies geht es im ersten Unterkapitel zunächst um Fragen von Gleichstellungspolitiken und -strategien an der Hochschule, die in den Artikeln aus historischer, institutioneller und persönlicher Erfahrung auf sehr unterschiedliche Weise und mit differenten Zielsetzungen analysiert werden.
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Das nächste Unterkapitel befasst sich mit Fragen von Bildung, Schule, Pädagogik und Didaktik und den möglichen Einflüssen von Gender und Queer Studies – Theorien und Analysen hinsichtlich einer geschlechtergerechteren und chancengleichen Teilhabe an Bildung. Auch hier zeigen sich sehr unterschiedliche Annahmen, Perspektivierungen, Wissenszugänge und Heranziehungsmöglichkeiten von Erkenntnissen der Gender und Queer Studies. Die drei Aufsätze zu Geschlechter(un)ordnung: Transformationen im anschließenden Unterkapitel reflektieren gesellschaftliche, politische und theoretische Umbrüche, die an den Entwicklungen und Wandlungen der Gender Studies deutlich mit gewirkt haben und diese auch noch weiter vorantreiben und prägen. Die Artikel verdeutlichen die Untrennbarkeit der Gender und Queer Studies von den jeweiligen, gesellschaftlichen Herausforderungen, Praktiken und diskursiven Strategien, mit denen die Kategorien Geschlecht, gender und Sexualität verhandelt werden können und müssen. Die drei Gruppierungen zu dem Kapitel Differenzierte Differenzen. Normierungen und Subversion als Forschungsgegenstand der Gender Studies beschäftigen sich aus historisch breit gefächerter Sicht vor allem mit diskursiven, disziplinären und performativen Konzeptionierungen von Geschlecht und Sexualität und der Frage ihrer Konventionalisierungs- bzw. Verunsicherungspotenziale. In Körperlichkeiten und Inszenierungen: Diversität und Differenz wird der Körper als ›differenzstiftendes‹ Moment in der Geschlechterfrage und seiner Repräsentationsbedingungen diskutiert. Hier wird der Bogen von künstlerischen Körperkonzepten und geschlechtlichen Identitätsentwürfen bzw. –dekonstruktionen bis zur gender insensitivity in der sportmedizinischen Forschung geschlagen. Die drei Beiträge zu Männlichkeiten und Grenzziehungen: Positionierung und Differenz befassen sich mit historisch, regional und disziplinär divergenten Untersuchungsgegenständen und bringen derzeitige Perspektiven der Maculinity Studies in die Diskussion ein und zeigen Vergeschlechtlichungen von Geschichtsschreibungen ebenso wie von Bildungspolitiken. Das letzte Unterkapitel des Bandes mit dem Titel Queer Theory und Medienanalyse: Performativität und Differenz versammelt drei Artikel, die sich mit der Hinterfragung heteronormativer Denkmuster in ikonographischen Werken verschiedener künstlerischer Genres, Epochen und Rezeptionsgeschichten befassen und dabei zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich ihres subversiven Wirkungspotenzials gelangen. Dieser Sammelband lässt sich nicht abrunden, begradigen oder gar zusammenfassen. Gender in Bewegung bildet einige der aktuellen Spannungsfelder und Herausforderungen von Gender und Queer studies in seiner vielfältigen und oft deterritorialisierenden Un-Form ab. Wir sind froh über die Möglichkeit, die mannigfaltigen und eigenwilligen Methodologien und Fragestellungen in Form
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dieses Buches versammeln zu können und damit den Reichtum und die Fülle von Forschungsperspektiven aus den unterschiedlichen Fachrichtungen zu bündeln. Mit der interdisziplinären Versammlung werden – so hoffen wir – neue Bezugnahmen und Dialoge ermöglicht, der eigene partiale ›Ort‹, das eigene Wissen hinterfragt und an/aufregende Kontroversen (weiter-)geführt, um der unaufhebbaren Komplexität, die besagt, wer wir sind, Rechnung zu tragen. Wir danken allen Mitwirkenden an diesem Band. Das Engagement, die Unterstützung und die Diskussionen, die sich seit dem Aufbau von GESTIK – Gender Studies an der Universität zu Köln und darüber hinaus versammeln, reichen weit über die nun folgenden Zeilen hinaus. Wir meinen jedoch, dass die Beiträge die lebendigen, spannenden und hoffentlich anhaltenden kollektiven Selbstreflexionen deutlich werden lassen, an denen wir glücklicherweise teilhaben konnten. Wir sind allen Autor_innen für ihre facetten- und aufschlussreichen Beiträge und ihre Diskussionsbereitschaft dankbar. Trotz der zeitlich denkbar knappen Bedingungen, unter denen alle Klärungsfragen bearbeitet werden mussten, war die Zusammenarbeit stets von Wertschätzung und Produktivität gekennzeichnet. Auch hierfür nochmal herzlichen Dank. Wir danken darüber hinaus dem Verein KölnAlumni – Freunde und Förder der Universität zu Köln e.V. für die großzügige finanzielle Unterstützung dieser Publikation. Ein ganz besonderer Dank gilt Manuel Weuffen, der den Band mit Akribie und Hingabe in vielen Arbeitsstunden – mit allen inhaltlichen und theoretischen Differenzen und Differenzierungen – zu einer stimmigen formalen Gesamtgestaltung geführt hat.
L ITERATUR Barad, Karen (2013): »Diffraktionen: Differenzen, Kontingenzen und Verschränkungen von Gewicht«, in: Corinna Bath/Hanna Meißner/Stephan Trinkaus/Susanne Völker (Hg.), Geschlechter Interferenzen. Wissenformen – Subjektivierungsweisen – Materialisierungen, Berlin: LIT Verlag, S. 27-67. Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve. Haraway, Donna (1995): »Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive«, in: Dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 73-97.
1. Gender Studies in Köln Hochschulpolitische Akteur_innen/ Stadt/Land/Hochschulen
Die Zeit ist reif! P ROF . D R . A NJA S TEINBECK, P ROREKTORIN FÜR P LANUNG , F INANZEN UND GENDER
Die Zeit dafür, an der Universität zu Köln ein Zentrum für Gender Studies (GESTIK) zu gründen, war sogar mehr als reif. Dieser Überzeugung bin ich nicht nur als Prorektorin für gender, sondern auch als Mitglied der Juristischen Fakultät. Naturgemäß unterscheidet sich meine Erwartungshaltung an GESTIK, je nach Blickwinkel, den ich einnehme. Als Mitglied der Hochschulleitung erhoffe ich mir, dass es GESTIK gelingt, Gender Studies innerhalb und außerhalb der Universität zu Köln sichtbar(er) zu machen. GESTIK bietet eine gemeinsame, öffentlich sichtbare Plattform für Studierende und Wissenschaftler_innen, im Rahmen von Veranstaltungen und Netzwerkaktivitäten hochschulweit und fakultätsübergreifend zu den Forschungsfeldern der Gender und Queer Studies ins Gespräch zu kommen. Die Beteiligung aller Fakultäten an der Gründung, Finanzierung und Selbstverwaltung von GESTIK lässt zudem die Chancen steigen, dass die Themen der Gender Studies sich zukünftig auf breiterer Ebene etablieren können. Dies ist verbunden mit meiner Hoffnung, dass auch die Fakultäten Anregungen und Anreize erhalten, das Feld der Gender Studies stärker in die eigenen Aktivitäten zu integrieren, die bislang eher wenige Beiträge zu genderspezifischen Fragestellungen in Forschung und Lehre eingebracht haben. GESTIK bietet mit dem fakultätsübergreifenden Ansatz hervorragende Voraussetzungen, erstmals im Rahmen eines Forschungsfeldes potenziell alle Fachdisziplinen an einen Tisch zu holen. Dieser multidisziplinäre Zugang ermöglicht zukunftsorientierte und innovative Forschung und Lehre, die anschlussfähig an bundesweite Entwicklungen ist und zur Sichtbarkeit von GESTIK und der Universität zu Köln in Deutschland beiträgt. Darüber hinaus erhoffe ich mir, dass GESTIK mit der Bündelung von Expertise in der Geschlechterforschung und den Queer Studies durch enge Kooperati-
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on und Netzwerkaktivität die Entwicklung von Strategien im Rahmen von Gleichstellung und Chancengleichheit der Universität zu Köln befruchten kann und mich in meinem Verantwortungsbereich als Prorektorin für gender fundiert unterstützen kann. Rückt dagegen die Sichtweise einer Rechtswissenschaftlerin in den Vordergrund, so werden die Gender Studies in Köln die Frage stellen müssen, ob und inwieweit das Geschlecht als starre rechtliche Kategorie ausgedient hat. Aus historischer Perspektive war die rechtliche Bestimmung der Geschlechtszugehörigkeit lange Zeit notwendig: Frauen und Männern wurden unterschiedliche Rechte verliehen, wie beispielsweise das Wahlrecht oder die Entscheidungsbefugnisse in familiären Angelegenheiten. Mit der Abschaffung der Wehrpflicht nur für Männer ist inzwischen eine der letzten geschlechtsbezogenen Regelungen ausgesetzt worden. Männer und Frauen sind vor dem Gesetz gleich. Durchaus kritisch kann man daher hinterfragen, warum das Geschlecht als rechtliche Kategorie immer noch fortbesteht. Das Personenstandsrecht sieht noch immer ausdrücklich vor, dass einem Menschen bei seiner Geburt eines der beiden Geschlechter – männlich oder weiblich – zugewiesen werden muss. »Teritum non datur«. Es ist kein Platz für Menschen, die weder eindeutig männlich noch eindeutig weiblich sind, die sich keiner der beiden Kategorien zugehörig fühlen oder sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren können, in das sie ›hineingeboren‹ wurden. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass die Abschaffung des personenstandsrechtlichen Geschlechts in weiten Teilen der sozialen Wirklichkeit zuwiderliefe und dass dieser Weg beispielsweise im Diskriminierungsrecht durchaus kontrovers diskutiert wird. So ist doch das personenstandsrechtliche Geschlecht, an das die gesetzliche Frauenquote anknüpft, zur Förderung von Frauen (noch) unverzichtbar. Es stellt sich daher die Frage, ob die Lösung weniger in der Abschaffung des personenstandsrechtlichen Geschlechts als in der Schaffung einer weiteren Geschlechtskategorie liegt, um Personen außerhalb der Dichotomie rechtliche Anerkennung zu verschaffen. Dieser Weg liefe nicht auf Geschlechtsfreiheit, wohl aber auf Geschlechtsflexibilität hinaus; die These »Tertium non datur« hätte dann ausgedient. Ich erwarte fruchtbare Streitgespräche in und zwischen den beteiligten Wissenschaftsdisziplinen.
Studieren in Köln – vielfältig und chancengleich! P ROF . D R . S TEFAN H ERZIG , P ROREKTOR FÜR L EHRE UND S TUDIUM
Vielfalt an der Universität zu Köln liegt sowohl in der Vielfalt der über 150 Studiengänge und wählbaren Schwerpunkte als auch in der diversifizierten Vielfalt ihrer rund 40.000 Studierenden begründet. Vielfalt und Chancengleichheit im Handlungsfeld von Studium und Lehre bedeutet für die Universität zu Köln daher beides – sowohl die strukturellen Rahmenbedingungen des Studiums als auch die Lehre selbst – an den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen auszurichten. Auf der Ebene der Studienstrukturen besteht die Herausforderung darin, die individuellen Lebenslagen einer heterogenen Gruppe von Studierenden zu berücksichtigen, um allen eine chancengleiche Partizipation und einen erfolgreichen Studienabschluss zu ermöglichen. Auf der Ebene der Studieninhalte bedeutet dies, die komplexen Sachverhalte einer globalen Welt zu vermitteln und letztendlich Absolventinnen und Absolventen hervorzubringen, die für vernetztes Denken, für Multiperspektivität sowie für das Handeln in interdisziplinären und interkulturellen Kontexten aufgeschlossen sind. Die Universität zu Köln nimmt diese ›Herausforderung von Wandel und Komplexität‹ ernst, indem sie sich in ihrem Zukunftskonzept zur zentralen Aufgabe stellt, neben einem vielfältigen Studium ein für alle chancengleiches Studium zu garantieren. Einen bedeutenden Beitrag zur Erfüllung dieses gesellschaftlichen Auftrages leistet das Anfang 2012 gegründete Zentrum für Gender Studies (GESTIK). Zusätzlich zur Profilierung transdisziplinärer Forschung und der systematischen Förderung und Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses geht es mit der Gründung von GESTIK auch um die Einbindung des Gender- und Diversitythemas in das Studium an der Universität zu Köln. Zum einen geschieht dies durch die Integration der Gender und Diversity Studies in die bestehenden Curricula, zum anderen durch die Einrichtung und Gestaltung neuer Studienmodelle.
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Gender und diversity bezogene Lehre gibt es in vielen Bereichen der Universität zu Köln. Diese zu bündeln und zu koordinieren, um ein fakultäts- und hochschulübergreifendes Angebot vorhalten zu können, ist eine große Herausforderung; entsprechende Curricula und Strukturen in die Studiengänge zu integrieren, in denen das bisher nicht der Fall war, eine weitere. Denn bekanntlich bewegt man sich hier auf einem Feld, das in hohem Maße mit Vorurteilen behaftet ist. Um diversitätssensible Lehre und Studienorganisation systematisch und in der Breite zu verankern, gilt es daher, tragbare Konzepte für inhaltliche Anknüpfungen, geeignete Vermittlungsformen und strukturelle Verankerung in verschiedenen Fachkulturen zu entwickeln – und jede Menge Überzeugungsarbeit zu leisten. Das Anliegen ist anspruchsvoll, doch auch absolut unerlässlich. Nur eine Hochschule, welche die unterschiedlichen Lebenssituationen ihrer Studierenden in die Entwicklung neuer Studiengangsstrukturen und Lehrformen einbezieht, die Potenziale von Diversität erkennt und aktiviert und schließlich auf den Umgang mit Komplexität und Heterogenität vorbereitet, wird auch in Zukunft ihrem Auftrag gerecht werden können. Diese Handlungsweise ist nicht nur hochschulintern und beruflich, sondern auch und vor allem gesamtgesellschaftlich von zentraler und normativer Bedeutung. Durch die Impulse und Maßnahmen von GESTIK bewegt sich die Universität zu Köln in ihrer zentralen Aufgabenstellung einen großen Schritt nach vorn. In der Vielfalt liegt ein großes Potenzial – kultivieren wir sie an der Universität zu Köln!
Gender in Bewegung – Impulse für Forschung und Hochschule P ROF . D R . A NNE S CHLÜTER UND D R . B EATE K ORTENDIEK, N ETZWERK FÜR F RAUEN UND G ESCHLECHTERFORSCHUNG NRW
Als Vertreter_innen des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW gratulieren wir den Kolleg_innen zur Gründung von GESTIK. Wir wünschen einen guten Wirkungsgrad für Lehre und Forschung aus der Gender- und Queerperspektive für Köln – und natürlich auch darüber hinaus. Die Gründung einer zentralen Einrichtung der Universität zu Köln mit der Abkürzung GESTIK ist mehr als eine Geste für das Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW. Wir erwarten Impulse aus Köln für das Netzwerk in NRW und erhoffen uns insbesondere einen produktiven Austausch zwischen den bereits bestehenden Forschungseinrichtungen an den nordrhein-westfälischen Hochschulen. Das Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung ist 25 Jahre nach seiner Gründung ein landesweit ausgebautes und breit aufgestelltes Kompetenznetzwerk der interdisziplinären Frauen- und Genderforschung. Aktuell vernetzen wir an insgesamt 29 nordrhein-westfälischen Hochschulen 235 Wissenschaftler_innen, von denen 101 eine Professur innehaben. Charakteristisch ist, dass neben der älteren Generation der Frauenforscherinnen, die das Netz aufgebaut haben, auch die jungen Genderforscherinnen dazu gehören. In den letzten Jahren schlossen sich erstmalig männliche Geschlechterforscher an und aktuell kommen insbesondere Queerforscher_innen dazu: Das Netzwerk bleibt in Bewegung. Ähnlich wie bei der Gründung von GESTIK zeigt auch die Geschichte des Netzwerks, dass es vielfältiger Akteurinnen und Akteure bedarf, bis eine Institutionalisierung erreicht ist und zugleich wissen wir, dass ein Gründungstermin – obgleich schon ein Großteil an wissenschafts-, gleichstellungs- und hochschulpolitischer Arbeit geleistet wurde – erst der Anfang ist. Auf der institutionellen
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Ebene bleibt die Verstetigung und Bestandssicherung eine ständige Herausforderung und begleitet die wissenschaftliche Arbeit wie ein mächtiger Schatten auf ›Schritt und Tritt‹. Wir wünschen GESTIK eine Hochschulleitung, die die Forschungseinrichtung stützt, damit die Konzentration auf die Forschungsarbeit im Zentrum der Aktivitäten stehen kann, und ein disziplinen- und generationenübergreifendes Forscher_innennetzwerk, das in offener und respektvoller Art und Weise miteinander forscht. Im Mittelpunkt der Genderforschung stehen aktuell insbesondere die Debatte über unterschiedliche Ansätze von gender einerseits und diversity bzw. Inter sektionalität andererseits sowie die Fragen nach sexueller Vielfalt und Identitätspolitiken. Neben der Herausforderung, neue Forschungsfragen und Problemfelder zu untersuchen, gilt es, den Blick auf die nach wie vor unerledigten großen Themen der Geschlechterforschung wie geschlechtliche Gewalt, hierarchisierende Arbeitsteilungen und ungleiche Existenzsicherungschancen zu richten. Wir wünschen GESTIK Erkenntnisinteresse und Erkenntnislust ebenso wie Geld, Stellen und Anerkennung und hoffen, dass der erworbene Status der Exzellenzuniversität der Genderforschung an der Universität zu Köln genügend Energie- und Forschungspotenzial bietet. Die Einrichtung von GESTIK ist eine exzellente Chance, gemeinsam aus der Sicht der Disziplinen Gender- und Queerforschung sichtbarer zu machen, die Lehre um Genderaspekte zu ergänzen, die Ausbildung der Studierenden geschlechtergerechter zu gestalten und drängende Forschungsfragen aufzugreifen.
Dechiffrierung der Geschlechterordnung P ROF . D R . I LSE H ARTMANN -T EWS UND D IANA E MBERGER , IG I S (I NTERDISZIPLINÄRES G ENDERKOMPETENZZENTRUM IN DEN S PORTWISSENSCHAFTEN , D EUTSCHE S PORTHOCHSCHULE K ÖLN )
Sport ist der gemeinsame, übergreifende Bezugspunkt der multidisziplinären Forschung, Lehre, Weiterbildungs- und Beratungsaktivitäten an der Deutschen Sporthochschule Köln. Die körperliche Leistungsfähigkeit, d.h. ihrer Erhaltung bzw. Wiederherstellung und Steigerung ist nicht nur eine zentrale Handlungsorientierung des Sports, ihr kommt auch in der Forschung und Lehre eine besondere Bedeutung zu. Da die Körper von Frauen und Männern und deren unterschiedliche Leistungsfähigkeiten quasi eine visuelle Empirie der natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern darstellen, geraten soziale Unterscheidungen und sozial hervorgebrachte Ungleichheiten schnell aus dem Blickfeld. An der Deutschen Sporthochschule in Köln sehen wir zu GESTIK vielfältige Anknüpfungspunkte in Forschung und Lehre. So ist seit 1996 am Institut für Sportsoziologie eine Professur für Genderforschung angesiedelt, die zugleich die einzige Professur mit Genderbezug in den Sportwissenschaften in Deutschland ist. Im Mittelpunkt der empirischen Forschungsprojekte steht die Dechiffrierung der Geschlechterordnung, d.h. die Analyse von sozialen Strukturen und Prozessen, mit denen Unterschiede und Unterscheidungen zwischen den Geschlechtern zu sozialen Ungleichheiten werden. Mit dem IGiS wurde 2007 ein Interdisziplinäres Genderkompetenzzentrum in den Sportwissenschaften mit dem Anliegen gegründet, institutsübergreifende Kooperationen auf dem Gebiet der Geschlechterforschung zu intensivieren. Ziel ist es, innovative, multi- und interdisziplinäre Forschung hinsichtlich geschlechtsbezogener Fragestellungen zum Bewegungs- und Gesundheitsverhalten durchzuführen. Das IGiS fokussiert in der Kooperation von Sportmedizin, -motorik, -soziologie und -psychologie vorrangig das Forschungsfeld ›Bewegungs- und Gesundheitsverhalten im Lebenslauf‹, das aus der Geschlechterper-
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spektive bislang nur unzureichend bearbeitet wurde. Ein weiteres zentrales Ziel des IGiS ist der Austausch und Transfer von Forschungserkenntnissen, gerne auch flankiert von hochschulübergreifenden Maßnahmen. Geschlechtsbezogene Phänomene in den Sportwissenschaften stehen auch in zahlreichen Lehrveranstaltungen der Mitarbeiter/innen des Lehrstuhls Geschlechterforschung im Mittelpunkt. Für Bachelorstudierende der Sportwissenschaften ist hervorzuheben, dass es gelungen ist, ein komplettes Modul Gender und Diversity Studies zu etablieren. Die Studierenden werden qualifiziert, konkrete geschlechtsbezogene Phänomene im Sport auf einer breiten Theoriebasis zu erörtern und das eigene Handeln in Bezug auf die spätere Berufspraxis zu reflektieren. GESTIK ist aus unserer Sicht als hochschulübergreifender Akteur, insbesondere auch durch seine Verankerung als zentrale Einrichtung der Universität zu Köln, ein hervorragender Katalysator zum Ausbau des Forschungs- und Lehrangebotes der Gender Studies am Standort Köln. Wir freuen uns auf einen disziplinübergreifenden und bereichernden Wissenschaftsdialog.
Geschlechterverhältnisse als Herausforderung – Erwartungen und Hoffnungen P ROF . D R . R ENATE K OSUCH , I NSTITUT FÜR G ESCHLECHTERSTUDIEN (IFG) F AKULTÄT FÜR ANGEWANDTE SOZIALWISSENSCHAFTEN F ACHHOCHSCHULE K ÖLN
Wie können ebenbürtige Lebensverhältnisse, wie kann Gleichberechtigung entwickelt und erstritten werden? Was müssen wir wissen, um die Handlungsspielräume von Männern und Frauen in den verschiedensten Kontexten und Lebenslagen zu erweitern? Und was ist zu tun? Der Weg ist in gewisser Weise paradox: Es geht um die Überwindung der eingrenzenden Wirkmacht von gender, indem u.a. diese Wirkmacht herausgearbeitet wird. Schon der Name steht für eine breite Aufstellung: Gender Studies in Köln (GESTIK), die Rahmung geht über die Universität hinaus und bezieht sich auf die Region. Das ist vielversprechend! Als Vertreterin einer Fachhochschule, zu deren Kernaufgaben die angewandte Forschung gehört, wünsche ich mir 1. gemeinsame Forschungsprojekte, um Genderwissen und -kompetenz mit und für die Praxis zu entwickeln. Damit verbunden ist der Wunsch nach Kooperation in der Nachwuchsförderung (Masterprogramm, Promotionen). Geschlechterverhältnisse sind soziale Tatsachen, werden aber meist nicht mitgedacht. Zum Beispiel beeinflussen undurchschaute Gendernormen, die in einer Institution gelten, die Menschen, die sich darin bewegen, und haben Verzerrungen und Begrenzungen im fachlichen Handeln zur Folge. Welche Rolle kann Genderforschung hier spielen? Wie werden Fragestellungen angegangen? Welche Wissensbestände gelten als Expertise? Wer wird für Forschungsprojekte zu drängenden Fragenstellungen unserer Zeit ins Boot geholt und wer nicht? Genderkompetenz für Veränderungsprozesse – in diesem Sinne würde ich gern kooperieren.
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2. Es gilt auch die Hochschulen selbst in den Blick zu nehmen, die im Rahmen von GESTIK kooperieren werden. Vielerorts mangelt es an Genderkompetenz in der Forschung… Transfer und Integration der Standards internationaler Frauen-/Genderforschung als Querschnittsthematik in alle Fächer unserer Hochschulen – das wäre ein wichtiges gemeinsames Ziel. …in der Lehre… (Nicht nur) in der Lehre steht das Thema gender leicht unter Ideologieverdacht, weil es zutiefst Persönliches anrührt und daher meist emotional besetzt ist. Das soziale Geschlecht ist ja nichts Statisches, sondern wird immer wieder neu ausgeführt, wir tun es, und wir können der Bedeutung im System der Zweigeschlechtlichkeit nicht einfach entgehen. Wir müssen uns dazu verhalten, auch Geschlechtsblindheit hat Folgen. Hier in einen fruchtbaren Austausch miteinander zu kommen – das wünsche ich mir. …und in der Institution Hochschule Hochschulen sind zutiefst vergeschlechtlichte Organisationen. An den Fachhochschulen berufen wir Menschen, die wissenschaftlich ausgewiesen, die aber auch mindestens drei Jahre außerhalb von Hochschule gearbeitet haben. Hier höre ich an verschiedenen Hochschulen immer wieder von Kolleg_innen: ›Bis ich hierher kam, habe ich über das Thema gender wenig nachdenken müssen, hier erlebe ich Dinge, die mich darauf stoßen.‹ Doing gender spielt in Forschung und Lehre eine undurchschaute Rolle. Ich arbeite im sozialwissenschaftlichen Kontext einer Hochschule und war lange Zeit im ingenieurwissenschaftlichen Kontext tätig. Und auch meine Zeiten an und Kooperationen mit Universitäten bestätigen mir – da gibt es noch viel zu tun. 3. Öffentlichkeitsarbeit Wie werden Erkenntnisse der Geschlechterforschung verbreitet? Wie wird Erkenntnis wirksam und hilfreich? Gelingt es, sichtbar zu werden, gefragt zu werden – Impulse zu geben auch für den medialen Diskurs, in dem Verallgemeinerungen und Dramatisierungen rund um das Thema Geschlecht immer noch vorherrschend sind? Auch das sollte ein gemeinsames Thema sein. Vieles wird schon getan – und nicht alles kann getan werden. Das Institut für Geschlechterstudien ist an der Seite von GESTIK, wenn es gilt, Genderforschung voranzubringen, die Genderkompetenz des wissenschaftlichen Nachwuchses zu fördern sowie Genderwissen für die Praxis und für die Hochschulen fruchtbar zu machen.
Un/sichtbarkeiten von gender P ROF . D R . M ARIE -L UISE A NGERER , K UNSTHOCHSCHULE FÜR M EDIEN K ÖLN
2000 wurde auf Betreiben der Grünen und der damaligen Wissenschaftsministerin Anke Bruns die Professur Gender und Medien an der Kunsthochschule für Medien Köln eingerichtet und als Professur im Netzwerk der NRW-Pofessorinnen verankert. Als ich damals meinen Bewerbungsvortrag hielt, betonte ich, dass gender kein Fachgegenstand sein kann, dass gender vielmehr etwas ist, was sich ›zeigt‹, was ›sich tut‹, was gehört und (unbewusst) wahrgenommen wird. Der Titel meiner Antrittsvorlesung am 23. Januar 2001 lautete daher auch: ›The Art of Gender – What to do, how to know, and why to see.‹ 2007 habe ich die Professur, damals inzwischen Rektorin der KHM geworden, in Professur für Medien- und Kulturwissenschaften/Gender umbenannt. Diese Umbenennung ist Teil einer politischen Strategie, die auch auf das damals einsetzende Gender Mainstreaming antworten sollte. Mit der ›gendermainstreamisierung‹ ist ein Prozess verankert worden, der die Genderdebatte aus dem akademischen Feld ins politische explizit wieder übertragen will. WIEDER: denn die feministische Debatte war von Anfang an (man denke an die 1. und 2. Frauenbewegung) eine politische Frage und erst in zweiter Linie eine theoretische Grundlagenforschung. Die Auseinandersetzungen zwischen Theorie und Politik sind deshalb auch nie verstummt. Aber all die Jahrzehnte haben sich Theoriefelder und politische Aktionsfelder gerieben. Heute beachte ich mit einiger Skepsis, wie Gender Mainstreaming zu einem politischen Instrument wird, dem vielfach der Rückbezug zur Grundlage und zum theoretischen Rüstzeug abhanden kommt. Ich beobachte auch, dass die inhaltliche und Grundlagendebatte erneut und auf mehr oder weniger subtile Weise zum Verstummen gebracht wird.
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Vielfach kann inzwischen eine Abwehrhaltung wahrgenommen werden, die die Forderungen der Gleichstellung als erfüllt, als daher überzogen und inzwischen die Männer diskriminierend betrachtet. Dem entspricht auf theoretischer Ebene ein Backlash, der Gendertheoretikerinnen (die wenigen Gendertheoretiker können hier ruhig unter dem kleinen i mitgemeint sein) diskriminiert, deren Arbeiten als marginal und unbedeutend abstempelt und an Genderfragen interessierte Studierende verunsichert. Auch Gendertheoretikerinnen selbst hüten sich davor, ihre Genderarbeit zu sehr in den Mittelpunkt zu rücken, vergleichbar den Künstlerinnen, die selbstverständlich nie Frauenkunst machen wollten. Die Abstimmung über die Frauenquote in der deutschen Regierung war ein mehr als beredtes Beispiel, wie sehr gender eine politische – teilweise leere – Floskel ist (ein ›Mascherl‹, wie ich unlängst in Österreich wieder – charmant gemeint – hören konnte). Die Widersprüche und Paradoxa, die die Frauenbewegungen und die theoretischen Befunde nie auflösen konnten, weil sie nicht auflösbar sind, weil gender eben keine Formel und keine essentielle Bestimmung ermöglicht, müssen jedoch als solche kenntlich gemacht werden – und dies fällt in der politischen Debatte und noch viel stärker in der politischen Praxis oftmals unter den Tisch. Gendergrundlagenforschung – im Bunde mit politischer Aktion – sind in meine Augen eine untrennbare Dimension, um das doing gender nicht seiner Tiefendimension zu entledigen.
Gendertopoi und Queeres hören P ROF . D R . A NNETTE K REUTZIGER -H ERR UND D R . K ATRIN L OSLEBEN , H OCHSCHULE FÜR M USIK UND T ANZ K ÖLN
Wer könnte sich eine öffentliche Veranstaltung ohne Musik vorstellen? Wie viele Menschen hören Musik während sie sich von A nach B bewegen? Wer geht nicht gerne in ein Konzert oder in die Oper? Wie viele Kinder lernen ein Instrument? Und wer hört und sieht sich nicht gerne sein Lieblingsstück bei Youtube an? Was hören Sie gerade? Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Musik ist seit dem späten 19. Jahrhundert als Fach, Musikwissenschaft, an Universitäten etabliert. Sie versteht sich zu dieser Zeit als philologische Disziplin und schreibt anhand des Notentextes Stilgeschichte. Die Verpflichtung gegenüber dem Meisterwerk vervollständigt sich mit biographischem Material zum Künstler, das im Dienst der Musik steht. Damit richtet sich die Musikwissenschaft in den Mantel der vermeintlichen geschlechtslosen Allgemeingültigkeit gehüllt weitestgehend als männliche Disziplin – von Männern über Männer – aus und bleibt sich damit bis zur Zweiten Welle der Frauenbewegung treu. Dann erst wird die Frage nach den Frauen in der Musik wirkmächtig – erst diejenige nach den ›großen Komponistinnen‹, danach, an welchen Orten, in welchen Räumen und Kontexten Frauen die Musikkultur um sie herum gestaltet haben. Einen etwas anderen Weg nimmt die Frage nach der Bedeutung von Geschlecht in der Untersuchung von populärer Musik. Sie gerät erst einmal in den Fokus von Soziolog_innen, die sich für Popkultur als Jugendbewegung interessieren und nicht nur Künstler_innen und ihre Musik, sondern auch die Geschlechterperformanzen und -bilder seitens des Publikums analysieren. So vielseitig aufgestellt, haben die Gender Studies die sich im angloamerikanischen und europäischen Raum ereignenden Musikwissenschaften geprägt und deren Fragenkatalog weitreichend verändert. Musikwissenschaftliche Gender Studies arbeiten heute, im 21. Jahrhundert, noch immer daran, die Leistung von Frauen in Vergangenheit und Gegenwart in
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der Musikkultur sichtbar zu machen, aber die große Bandbreite der Forschung ergibt sich aus der Komplexität von Musik. Da ist einerseits die Aufführung bei popmusikalischen Live-Acts als performatives Ereignis von Künstler_innen, das auf visueller und auf akustischer Ebene stattfindet, die geschlechtsbezogene Konzeption von Opernfiguren, der Notentext, aus dem geschlechtliche Zuschreibungen ebenso herausgelesen werden wie intertextuelle Bezüge von Musiken aus verschiedenen geschlechtlich unterschiedlich konnotierten Sphären, die Rezeption von Künstler_innen in verschiedenen Texten wie Rezensionen, literarischen Texten, Briefen, Tagebucheinträgen uvm. Für uns als Wissenschaftler_innen ist Musikkultur ein Schlüssel zur Gesellschaft jeder Zeit gerade aufgrund ihrer starken Präsenz im Lebensalltag, aber auch aufgrund der Diskursdichte, die es zu benennen und entschlüsseln gilt. Das Medium Musik spiegelt nicht nur Geschlechterdiskurse wider, sondern sie prägt und formt sie selbst – so hat eine Pionierin der Geschlechterstudien, die amerikanische Musikwissenschaftlerin Ruth Solie, das intensive Wechselverhältnis von Musik, Gesellschaft und Individuum beschrieben. Musikkultur hat also unmittelbar mit uns zu tun. Daher sensibilisieren wir die Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz Köln für Fragen wie zum Beispiel: Was tun Madonna, Robbie Williams, Beyoncé oder 50 Cent auf der Bühne und in ihren Videos und was macht das mit uns? Warum hat Ludwig van Beethovens Sinfonik in der Rezeption das Label ›männliche‹ Musik erhalten – und Franz Schubert das des ›Weiblichen‹ und des Kindes? Welche Rolle spielt Musik in Nationenbildungsprozessen – bis heute? Warum sind noch immer so wenig Werke von Frauen im Kanon verankert? Welche Bedingungen braucht es, um in einem männlich geprägten Kontext als Komponistin Geld verdienen zu können? Warum lernen mehr Mädchen Querflöte als E-Gitarre? Ist Rockmusik männlich? Musik geht uns alle an – daher sehen wir uns in einem Netzwerk gender mittendrin: Wer Musik bewusst hört, hört auch Gendertopoi und Queeres.
2. Dubiose Dualismen Gesellschaftliche Herausforderungen der Gender Studies
2.1 Geschlechtergerechtigkeit und Hochschule: Gleichstellung
»Ordnung der Natur. Macht der Tradition« Geschlechterverhältnisse an der Universität E LKE K LEINAU
Zwischen 1900 und 1909 öffneten sich die Tore der deutschen Universitäten für die ersten ordentlichen Studentinnen. Der Zulassung waren jahrzehntelange Auseinandersetzungen zwischen der bürgerlichen Frauenbewegung, den Wissenschaftsministerien, Universitäten, akademischen Berufsorganisationen und politischen Parteien vorausgegangen. Die Geschichte von Frauen in der Wissenschaft ist in den letzten zwanzig Jahren eingehend untersucht worden. Die Studien berichten über institutionelle Hindernisse und Barrieren, über Umwege und Sackgassen. Universitäten – so lautet der gemeinsame Tenor dieser Studien – waren für Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts terra incognita auf der sie nur bedingt erwünscht waren (vgl. Clephas-Möcker/Krallmann 1988, Benker/Störmer 1991, Glaser 1992, Huerkamp 1996a, Dickmann/Schöck-Quinteros 2000). Der Widerstand der akademischen Männerwelt hatte sich allerdings um die Jahrhundertwende bereits deutlich abgeschwächt, was sich am Beispiel der 1897 erschienenen Studie Die akademische Frau von Arthur Kirchhoff aufzeigen lässt. Kirchhoff hatte 122 Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und andere Intellektuelle angeschrieben und gebeten, zu folgenden Fragen Stellung zu beziehen: »Welche Gründe sind im allgemeinen [sic!] und vom speziellen Standpunkte Ihrer Disziplin für resp. gegen das akademische Frauenstudium vorzubringen? Welche Vorstudien sollen die jungen Mädchen erhalten, und ist ein gemeinschaftliches Studium beider Geschlechter auf der Universität zulässig?« (Kirchhoff 1897: 173)
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Ein halbes Jahrhundert später führte der Sozialpsychologe Hans Anger erneut eine Hochschullehrerbefragung durch und fragte nach der Akzeptanz des Frauenstudiums, nach vorhandenen Leistungsunterschieden zwischen männlichen und weiblichen Studierenden sowie – was in der Kirchhoff-Studie noch nicht Thema sein konnte – nach Gründen für die Unterrepräsentanz weiblicher Hochlehrer (vgl. Anger 1960). Da ich die Kirchhoff-Studie bereits an anderer Stelle eingehend untersucht habe (vgl. Kleinau 2010), gehe ich nur kurz auf sie ein und konzentriere mich nachfolgend auf die Anger’sche Untersuchung. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob und wie sich die Einstellungen der Hochschullehrer zum Frauenstudium in den Jahren zwischen 1897 und 1955 gewandelt haben. 1897 konnte nur eine kleine Minderheit unter den Befragten auf eigene Erfahrungen mit Hörerinnen zurückgreifen. Gehörten 60 Jahre später Studentinnen bereits zum Hochschulalltag? Wurden ihre Studienmotive und -leistungen ähnlich wie die ihrer männlichen Kommilitonen bewertet? Wurden sie als wissenschaftlicher Nachwuchs wahrgenommen und entsprechend gefördert? Wurde die Unterrepräsentanz von Frauen in der Wissenschaft registriert und wenn ja, als Manko begriffen? Oder zeichneten sich die deutschen Hochschullehrer eher durch ein gewisses Beharrungsmoment aus? Gab es nach wie vor Äußerungen, in denen Frauen die Befähigung zum Studium und zur Ausübung von Wissenschaft abgesprochen wurden? Seit den 1870er Jahren hatte Prof. Theodor von Bischoff, München, mit seinen vergleichenden anatomischen und physiologischen Studien die Argumentationslinie für die Gegner des Frauenstudiums vorgegeben. Diese Studien hätten, so Bischoff, den ›objektiven‹ Nachweis erbracht, dass beide Geschlechter grundverschieden seien und aus der Andersartigkeit der Frau folge, dass sie einem Studium intellektuell und körperlich nicht gewachsen sei. Neben diesen ›objektiven Erkenntnissen‹ kamen aber auch höchst subjektive Beweggründe zum Vorschein, die den Anschein erwecken, als gelte es die letzte Männerbastion in der Gesellschaft, oder besser: den letzten frauenfreien Zufluchtsort für Männer zu erhalten (vgl. Glaser 1996: 303). In der Kirchhoff-Studie lässt sich nun ein Stimmungswandel bezüglich des Frauenstudiums feststellen. Die Mehrzahl der Befragten befürwortete ausdrücklich eine Öffnung der Hochschulen für Frauen, eine deutlich kleinere Gruppe war dagegen, der Rest noch unentschieden. Manche Professoren hielten einzelne Frauen durchaus für befähigt, wollten daraus aber keine allgemeine Berechtigung zum Studium abgeleitet wissen. Andere wollten zunächst die weitere Entwicklung abwarten. Für diesen Stimmungswandel lassen sich verschiedene Gründe ausmachen: In anderen europäischen Staaten und in den USA wurden
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bereits seit Jahrzehnten Frauen zum Medizinstudium und zum ärztlichen Beruf zugelassen, und Frauen hatten sich in der ärztlichen Praxis bewährt. Professoren, Schulräte, Ministerialräte und Minister waren oftmals Väter von Töchtern, denen sie eine standesgemäße Berufsausbildung ermöglichen wollten. In der KirchhoffStudie bekannte der Historiker Theodor Lindner, Universität Halle, Vater einer heranwachsenden Tochter zu sein und diese – zusammen mit einigen Altersgenossinnen – in Geschichte unterrichtet zu haben. Auch Johannes Conrad, ebenfalls an der Universität Halle tätig, war bekennender Vater mehrerer Töchter (vgl. Kirchhoff 1897: 188, 199). Mit Hilfe dieser und anderer Väter gelang es der Frauenbewegung einen Keil in die zunächst so geschlossen wirkende Front der Gegner zu treiben. Zudem war diese Gruppe nie so groß wie die Streitschriften gegen das Frauenstudium suggeriert hatten; jetzt hatten abwartende und befürwortende Stimmen die Oberhand gewonnen (vgl. Glaser 1996: 306). Fünfzig Jahre später beriet die Westdeutsche Rektorenkonferenz auf einer Hochschulkonferenz eingehend über Probleme des deutschen Hochschulwesens und versuchte Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Obwohl mit dieser 1952 ausgerichteten Klausurtagung ausdrücklich »alle Schichten und Kreise des deutschen Hochschullebens angesprochen werden sollten« (zit. nach Oertzen 2002: 18), waren keine Wissenschaftlerinnen geladen worden. Die Marburger Professorin Luise Berthold, Vorsitzende des Hochschulausschusses des Deutschen Akademikerinnenbundes (DAB), hatte im Vorfeld der Tagung in einem persönlichen Brief an den Organisator Gerd Tellenbach gegen den Ausschluss der Frauen von wichtigen Reformprozessen protestiert (vgl. ebd.: 19). Zudem gab der DAB eine statistische Analyse über die marginalisierte Situation weiblicher Lehrkräfte an den wissenschaftlichen Hochschulen Deutschlands bei der Göttinger Professorin Charlotte Lorenz in Auftrag, die ein Jahr später erschien (vgl. Lorenz 1953). Das Thema stand sozusagen auf der Agenda, und Hans Anger räumte ihm daher in seiner Studie einen gewissen Stellenwert ein. Seine in den Jahren 1953 bis 1955 durchgeführte Untersuchung stützt sich auf eine repräsentative Erhebung unter Hochschullehrern an vier westdeutschen Universitäten. 138 Professoren und habilitierte Dozenten der Universitäten Bonn, Frankfurt, Heidelberg und Kiel wurden in zumeist mehrstündigen Leitfadeninterviews befragt. Gegenstand des Interviews waren die Studienmotive von Studierenden, das studentische Gemeinschaftsleben, die studentische Selbstverwaltung, das Verhältnis von Lehrenden und Studierenden, das Problem des wissenschaftlichen Nachwuchses sowie ›die Frau‹ als Studentin und Dozentin. Der Leitfaden umfasste 64 offene Fragen, von denen lediglich vier explizit auf die Arbeits- und Studiensituation von Frauen an der Hochschule eingingen. Aber auch den ande-
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ren Themenkomplexen lassen sich implizit Aussagen über Geschlechterverhältnisse an der Hochschule entnehmen. Ausgangspunkt der Überlegungen Angers, dem Thema ein eigenes Kapitel zu widmen, war die geringe Repräsentanz von Frauen in der deutschen Hochschullehrerschaft. Im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern und selbst mit dem besonders konservativen Spanien bilde die Bundesrepublik das Schlusslicht (vgl. Anger 1960: 451). Zum Zeitpunkt der Erhebung betrug der Prozentsatz weiblicher Studierender etwas mehr als 21%. In der Gruppe der wissenschaftlich Tätigen sank der Anteil der Frauen mit jeder Hierarchiestufe, ein Phänomen, das in der aktuellen Hochschulforschung als Effekt der leaky pipeline beschrieben wird.1 Bei den wissenschaftlichen Hilfskräften ging der Prozentsatz bereits auf 11% zurück, bei den außerplanmäßigen Professoren betrug der Anteil der Frauen noch 2,1%, bei den planmäßigen Professoren schließlich nur noch 0,6% (vgl. ebd.: 452f.). Die eklatante Unterrepräsentanz von Wissenschaftlerinnen an der Hochschule ließ Anger zufolge drei mögliche Erklärungen zu: Entweder seien Frauen für hochqualifizierte geistige Arbeit nicht geeignet, oder ihre Ambitionen seien auf andere Ziele ausgerichtet, oder es liege an der »Voreingenommenheit der (fast ausschließlich von Männern regierten) Universitäten oder der Gesellschaft überhaupt« (ebd.: 453). Angesichts der Häufigkeit, mit der die befragten Professoren auf Begründungen im Sinne einer Unfähigkeit von Frauen Wissenschaft zu betreiben, zurückgriffen, fühlte sich Anger dazu aufgerufen, zu der Frage, ob es intellektuelle Unterschiede zwischen den Geschlechtern gäbe, Stellung zu nehmen. Jede psychologische Testprüfung habe eindeutig nachgewiesen, dass die »Streuung der individuellen Begabungsdifferenzen in jedem Fall erheblich größer« sei » als die nach wie vor umstrittenen durchschnittlichen Unterschiede zwischen Männern und Frauen.« Die »traditionelle Annahme einer gleichsam naturbedingten geistigen Inferiorität der Frauen« entbehre »jeder empirisch gesicherten Grundlage.« Nichtsdestotrotz lebe sie als »handliches ›Frauenstereotyp‹ in der Gesellschaft fort« und bewirke »in vielen Fällen auf erzieherisch-sozialem Wege zweifellos sogar eine gewisse Selbstbestätigung« (ebd.: 454f.). Da die meisten der befragten Hochschullehrer – aufgrund der geringen Zahl weiblicher Kollegen – sich kaum aus eigener Erfahrung ein Urteil über Professorinnen hätten bilden können, werde man, so Anger, »wenig persönliche Erfahrungen und relativ häufig Äuße-
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Unter diesem Titel untersucht z.Zt. ein Team an der TU Wien unter Leitung der Arbeitswissenschaftlerin Sabine Köszegi horizontale als auch vertikale Formen der Geschlechtersegregation.
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rungen von präformierten Einstellungen erwarten dürfen« (ebd.: 455). Daher sei es geboten, die Fragestellung auszuweiten und die Hochschullehrer nach der Akzeptanz des Frauenstudiums zu befragen, weil sie mit Studentinnen, d.h. der Personengruppe, aus der zukünftige Hochschullehrerinnen zu rekrutieren seien, bereits genügend Erfahrungen hätten sammeln können.
S TUDIENMOTIVE
VON
S TUDENTINNEN
Im Fragebogen wurde das Thema Die Frau als Studentin – Die Frau als Dozentin an zwei verschiedenen Stellen platziert. Zu Beginn des Interviews wurde im Anschluss an die Frage nach möglichen Studienmotiven ›junger Menschen‹ nachgehakt, ob die genannten Motive für Studenten und Studentinnen in gleicher Weise zuträfen. Aus den Antworten geht zunächst einmal – unabhängig vom Inhalt – hervor, dass die befragten Hochschullehrer nur an ihre männlichen Studierenden gedacht hatten. Auf die Nachfrage hin sahen lediglich 22% keinen nennenswerten Unterschied zwischen Studentinnen und Studenten (vgl. ebd.: 464). Alle anderen führten für ihre weiblichen Hörer völlig andere Motive ins Feld. Frauen studierten ihrer Meinung nach, weil sie die Universität als »standesgemäßen Heiratsmarkt« (ebd.: 459) betrachteten. Wenn sie einen passenden Ehepartner gefunden hätten, brächen sie das Studium ab. Sie studierten aber auch, weil sie nicht attraktiv genug für eine Heirat seien, weil sie beruflich und finanziell auf eigenen Füßen stehen wollten – zumindest bis zur Heirat. Das Heiratsmotiv wurde von den Professoren sowohl positiv als auch negativ gewürdigt. Bei einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Frauenstudium wurde das »Wegheiraten« der Frauen begrüßt, weil es dazu führe, »ein ohnehin als aussichtslos betrachtetes Studium abzubrechen« (ebd.: 466). Befürworter kritisierten dagegen das »Wegheiraten« zumeist aus volkswirtschaftlicher Sicht. Den psychologischen, ideologischen und sozialen Ursachen für die höhere Studienabbruchquote von Frauen ging Hannelore Gerstein in ihrer von Ralf Dahrendorf angeregten Magisterarbeit nach. Mittels eines äußerst anspruchsvollen quantitativ-qualitativen Untersuchungsdesigns fand die Studentin heraus, »daß der Schritt vom Studium in die Ehe nur in den seltensten Fällen so reflektionslos und dem üblichen Stereotyp entsprechend getan wird, sondern daß vielmehr die Verheiratung in der Regel der Ausdruck eines ganzen Bündels dahinterstehender sozialer und psychischer Probleme ist, die sich in der Alternative entweder ›Studium‹ oder ›Familie‹ zuspitzen und zur Entscheidung drängen.« (Gerstein 1965: 109)
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Gersteins methodische Vorgehensweise beeindruckte Dahrendorf so nachhaltig, dass er die Arbeit im renommierten Münchner Piper Verlag unterbrachte und in seinem Vorwort Gersteins Forschungsergebnisse auf die These zuspitzte, dass »die deutsche Universität in ihrer Konstruktion, aber auch in den Einstellungen ihrer Vertreter im Grunde mädchenfeindlich sei, ja, daß das Vorurteil der Studienabbrecherin aus Heiratslust selbst zu den Ideologien gehört, die es Studentinnen an unseren Universitäten nicht gerade leicht machen.« (Gerstein 1965: 8)
Über ihre männlichen Hörer hatten die in der angerschen Untersuchung interviewten Professoren ausgiebig Klage geführt, dass sie zu materialistisch eingestellt seien und zu wenig Idealismus mitbrächten. Da die Berufsaussichten der Studentinnen in den meisten Fächern als bedeutend schlechter eingeschätzt wurden als die ihrer männlichen Kommilitonen, bescheinigten die Hochschullehrer den Studentinnen häufig mehr idealistische Motive, mehr Interesse am Fach zu haben (vgl. Anger 1960: 460), was aber keineswegs zu einer höheren Wertschätzung der Studentinnen führte. Auf die Frage, ob es zuviel oder wenig Studentinnen gebe, erhielten die Interviewer eine Reihe höchst ambivalenter Antworten. So äußerte sich ein Naturwissenschaftler zunächst »scheinbar wohlwollendtolerant«: »Das regelt sich ganz von selbst. Es sind weder zuviel noch zuwenig.« Dann folgte die Nachfrage: »Wieviel gibt es denn überhaupt?« Die weiteren Ausführungen zeugen von sichtlicher Beunruhigung: »Was sagen Sie? 20 Prozent? Doch so viele? Das ist ja schrecklich! Aber die heiraten ja doch wieder weg. Sie sind nur eine unnütze Belastung der Universität.« (Ebd.: 465) Ein weiterer Naturwissenschaftler fand die Anzahl der weiblichen Studierenden in seinem Fachgebiet »in Ordnung.« Um dann zu ergänzen: »Sie studieren ein bis zwei Semester und verschwinden dann meist sehr bald.« (Ebd.: 465)
L EISTUNGSUNTERSCHIEDE UND S TUDENTEN
ZWISCHEN
S TUDENTINNEN
Nach den fachlichen Leistungen der Studentinnen befragt, wichen 44% der Befragten einer direkten Antwort aus und schwadronierten stattdessen über typische Eigenschaften und Befähigungen von Männern und Frauen. Viele Professoren bescheinigten den Frauen besonders fleißig zu sein, sie brächten fast immer gute Durchschnitts-, aber eben keine Spitzenleistungen. Diese wären den faulen, aber genialen männlichen Studierenden vorbehalten (vgl. ebd.: 470). Dass sich diese angeblich deutlich feststellbaren Leistungsunterschiede zwischen den Ge-
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schlechtern nicht in den von ihnen selbst vergebenen Prüfungsbenotungen wiederfinden ließen, löste bei den Professoren keineswegs Irritationen aus. »Im Examen schneiden sie [die Frauen] besser ab – was sie nicht kapieren, lernen sie eben auswendig« (ebd.: 473), lautete die Erklärung. Ein Teil der Kollegen betonte, dass die guten Leistungen der Frauen durch eine stärkere Eingangsselektion zustande kämen. Nur die Elite der Frauen studiere, während auch Männer mit durchschnittlicher Begabung an den Universitäten zu finden seien (vgl. ebd.: 472). Lediglich ein Hochschullehrer warf die Frage auf, ob diese Einschätzung der fleißigen, aber nicht sonderlich begabten Studentinnen nicht auch auf männliche Vorurteile zurückzuführen sei (vgl. ebd.: 470). Insgesamt nahmen nur 19% aller Befragten eine positive oder bedingt positive Haltung zum Frauenstudium ein, 64% äußersten sich mehr oder weniger ablehnend (vgl. ebd.: 479). Die Zahl der ablehnenden Stimmen ist damit deutlich höher als in der 60 Jahre zuvor veröffentlichten Kirchhoff-Studie. Anger kam nicht umhin festzustellen, dass die Aussagen der Befragten »große Unstimmigkeiten oder Widersprüche« aufwiesen. Hier liege »eine Diskrepanz zwischen Frauenstereotyp und Erfahrung« vor (ebd.: 477). Diese Schulfolgerung unterstellt, dass die Hochschullehrer weniger stereotyp geurteilt hätten, wenn sie über genügend positive Erfahrungen mit Studentinnen verfügt hätten. Aber wie werden Erfahrungen gemacht bzw. verarbeitet? Die Professoren orientierten sich stillschweigend an dualen Geschlechterkonstruktionen. Das heißt, die Ordnungskriterien für die Verarbeitung von Erfahrungen lieferte in diesem Fall das ›Frauenstereotyp‹, das Anger durch ›andere‹ Erfahrungen außer Kraft zu setzen hoffte. Das ist – mit Verlaub zu sagen – ein allzu naiver Glaube an die Macht der Erfahrung. In seinem Schlusswort räumte Anger denn auch ein, dass es eher auf die individuelle Bereitschaft ankomme, ›andere‹ Erfahrungen zuzulassen, als auf die von Fakultät zu Fakultät sehr unterschiedliche Möglichkeit, Erfahrungen mit Studentinnen zu sammeln (vgl. ebd.: 502).
B ERUFSAUSSICHTEN
DER
S TUDENTINNEN
Die Mediziner waren – wie schon in der Kirchhoff-Studie – der Meinung, dass es in ihrem Fach, speziell in der Chirurgie,2 Arbeiten gäbe, denen Frauen körper-
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Um die Berufsaussichten von Frauen in der Chirurgie scheint es bis heute schlecht bestellt zu sein. In der Süddeutschen Zeitung vom 30. Mai 2012 findet sich ein Kommentar über den Chirurgentag, auf dem kaum Frauen als Referenten zu finden gewesen seien. Auch habe kein Angebot zur Kinderbetreuung vorgelegen, sodass Chirur-
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lich nicht gewachsen seien (vgl. ebd.: 468). In anderen Disziplinen hatten etliche Professoren Schwierigkeiten, sich Frauen in Führungspositionen vorzustellen. Einem Wirtschaftswissenschaftler zufolge waren Frauen nur in subalternen Positionen unterzubringen (vgl. ebd.: 469). Ein Jurist führte aus: »Was will sie als Juristin machen? Als Richterin wäre sie eine komische Figur. Ihr fehlt die Kraft sich durchzusetzen.« Aber auf »Stellen in der Sozialverwaltung« seien Frauen durchaus »am Platze« (ebd.: 466). In den Naturwissenschaften war von der wohlwollenden Stimmung Frauen gegenüber, die man der Kirchhoff-Studie entnehmen konnte, nicht mehr viel zu spüren, ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Naturwissenschaften in den Kreis der etablierten, »feinen Fakultäten« aufgenommen worden waren (Paletschek 2001: 122). Gute Berufschancen hätten Chemikerinnen nur als Chemie-Lehrerinnen, nicht aber in der Industrie, wo Führungsqualitäten gefragt seien. Zu berücksichtigen sei noch ein weiteres Problem, dass sich am Arbeitsplatz doch »sehr störend bemerkbar« mache, nämlich der »erotische[…] Faktor«. Dieses Problem wurde einseitig den Frauen angelastet, und wie sie sich am Arbeitsplatz auch verhielten, die Situation ging immer zu ihren Ungunsten aus. »Wenn ein Mädchen attraktiv und unnahbar ist, dann wird sie sofort schlecht behandelt; ist sie aber nahbar, na, ja, Sie wissen schon … .« (Ebd.: 467) Erotik am Arbeitsplatz kann aus unternehmerischer Sicht durchaus ein gravierendes Problem darstellen, aber warum es sich nur auf der Etage der Führungskräfte störend auswirkt und nicht auch bei der gemeinsamen Arbeit der Geschlechter am Fließband, wurde nicht weiter thematisiert. Das Entstehen erotischer Beziehungen wird hier an die Präsenz von Frauen gebunden, Beziehungen unter Männern werden unter diesem Aspekt nicht wahrgenommen. Eine relative Häufung positiver Stellungnahmen – relativ insofern, weil auch hier negative Beurteilungen überwogen – ließ sich nur in den philosophischen Fakultäten feststellen. Die Eignung der Frauen für akademische Berufe wurde hier häufig als anderswo bejaht. Zumeist beschränkte sich das den Frauen zugestandene Berufsspektrum aber auf den Beruf der Lehrerin (vgl. ebd.: 496).
ginnen, die zugleich Mütter seien, an dieser karrierefördernden Tagung nicht hätten teilnehmen können seien (SZ vom 30.5.2012: 4).
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Waren es immerhin noch 19% der Befragten, die sich mehr oder weniger wohlwollend über studierende Frauen ausließen, so sank der Anteil der positiven bzw. bedingt positiven Stellungnahmen zu lehrenden Frauen auf 11%, während sich der Anteil der ablehnenden Stimmen von 64% auf 79% erhöhte (vgl. ebd.: 489f.). Etliche der Interviewten reagierten auf die Frage »Worauf ist es Ihrer Meinung nach zurückzuführen, dass es relativ wenig weibliche Hochschullehrer gibt?« mit einem Lächeln, Schmunzeln, lautem Lachen oder anderen Anzeichen von Abwehr (ebd.: 480, 481, 482, 483). Frauen waren ihrer Meinung nach nicht für eine professorale Karriere geeignet, weil ihnen das »abstrakte Denken« und »die Ausbildung erwachsener Männer« nicht liege (ebd.: 480). Eine Universitätslaufbahn harmoniere nicht mit der Natur, dem Wesen der Frau. Frauen seien zu gefühlsbetont, Gefühle seien »auf der Universität aber völlig ausgemerzt.« Daher gäbe es dort »auch keinen Platz für Frauen« (ebd.: 481). Vier Dozenten erklärten, den Frauen würden von Seiten der Hochschule keine Hindernisse in den Weg gelegt, diese Argumentation entspringe dem »Minderwertigkeitskomplex der Frauen« (ebd.: 491). Lediglich zwei Juristen sprachen strukturelle Barrieren, d.h. die Voreingenommenheit der Fakultäten sowie die Unvereinbarkeit von Wissenschaft und Familie an, die Frauen von einer Hochschullaufbahn abhielten. Einer dieser Herren wies zudem selbstkritisch daraufhin, dass das Problem der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie auch für Männer zuträfe, diese lösten es nur anders. Anstatt wie Frauen zugunsten von Ehe und Mutterschaft auf die Wissenschaftskarriere zu verzichten, würden Männer erfolgreiche Hochschullehrer und – schlechte Väter (vgl. ebd.: 485). In Anbetracht dieser geballten Zusammenstellung von diskriminierenden Äußerungen drängt sich die Frage auf, wie sich die Arbeitsplatzsituation von Wissenschaftlerinnen gestaltete, in einem System, das sie als Fehlentwicklungen der Natur begriff. Unter den 138 befragten Hochschullehrern befanden sich drei Frauen, von denen die erste – trotz hartnäckiger Nachfragen – jeglichen Kommentar zum Thema verweigerte. Die zweite Dozentin führte die Unterrepräsentanz von Frauen in der Wissenschaft auf die »Feindschaft der Männer« zurück. Die Nationalsozialisten hätten ihre Berufung auf ein Ordinariat verhindert und an dieser Situation habe sich bis »heute noch nicht viel geändert, nur auf dem Papier« (ebd.: 486). Die dritte Dozentin definierte ihre Rolle an der Universität ganz im Sinne eines ›weiblich-fürsorglichen‹ Elements:
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»Ich kenne die Lebensgeschichte jedes einzelnen; möchte das auch aufrecht halten. Den schlimmsten (wirtschaftlichen) Notfällen habe ich helfen können, […] Aber das gehört eben auch zu meinen Pflichten. Als Frau darf ich mir das leisten. Darin sehe ich überhaupt die Funktion der Frau an der Universität. […] Es gibt nichts, was nicht mit mir erörtert wird. Ich könnte über jeden einzelnen eine Biographie schreiben.« (Ebd.: 220)
Das Leistungsvermögen ihrer Studentinnen schätzte diese Hochschullehrerin äußerst gering ein. Die jungen Frauen, so argwöhnte die Dozentin, versuchten oft sich durch die Herausstellung ihrer äußeren Reize bei männlichen Kollegen Vorteile zu verschaffen. Bei ihr verfange diese Strategie nicht, bei ihr zähle nur Leistung (vgl. ebd.: 487). Angesichts dieser unkritischen Übernahme von Geschlechterstereotypen verwundert es nicht, dass die in den 1970er Jahren entstandene universitäre Frauenbewegung viele der alteingesessenen Wissenschaftlerinnen weder als politische noch als wissenschaftliche Vorbilder begreifen konnte. Massive Kritik wurde von der zuletzt genannten Dozentin an der Berufungspraxis der Universitäten geübt. Dazu muss man wissen, dass Professuren in den 1950er Jahren noch nicht öffentlich ausgeschrieben wurden. Die Hochschullehrerschaft ergänzte sich in einem Selbstrekrutierungsprozess (vgl. Schlüter 1996), den diese Dozentin als einen ›circulus vitiosus‹ beschrieb. Die »alten Herren« kämen überhaupt nicht auf die Idee, eine Frau für eine vakante Professur in Betracht zu ziehen. Sie nähmen nur Männer als potentielle Kandidaten bei der Besetzung eines Ordinariats wahr (vgl. Anger 1960: 487).3 Zum Abschluss ihrer heftigen Kritik bemühte sich die Dozentin sogleich um ›Schadensbegrenzung‹, indem sie versicherte, sie sei »durchaus keine Frauenrechtlerin« (ebd.: 487). Anger wies an dieser Stelle auf das bekannte Phänomen hin, dass Angehörige von Minderheiten oder gesellschaftlichen Teilgruppen oft allgemein verbreitete Einstellungen bezüglich ihrer eigenen Gruppe übernähmen, selbst wenn diese ausgesprochen negativer Natur seien (vgl. ebd.: 488). Weitaus aufschlussreicher als die Anwendung des labeling approach auf die Gruppe der Hochschuldozentinnen finde ich die Art und Weise, wie die drei interviewten Wissenschaftlerinnen
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In der Anger-Studie lassen sich durchaus Stimmen finden, die diese Sichtweise stützen. Bei der Frage nach dem wissenschaftlicher Nachwuchs verwies ein Mediziner darauf, dass »ein großer Teil [der] besten Männer durch den Krieg ausgefallen« sei (ebd.: 377). Ein Naturwissenschaftler plädierte für eine bessere wirtschaftliche Stellung des Privatdozenten, der »nicht als alter Mann irgendwo hängen bleiben« dürfe (ebd.: 389). Ein Kollege ergänzte, dass ein Privatdozent ein wahres »Hungerdasein« führe und nicht in der Lage sei eine Familie zu ernähren (ebd.: 399).
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eingeführt werden. Während ihre männlichen Kollegen entweder einer Wissenschaftsdisziplin oder einem Status zugeordnet werden, steht bei den Frauen schlichtweg »(weibl.)« (ebd.: 485f.). D.h., die Dozentinnen werden nicht als qualifizierte, immerhin habilitierte Vertreterinnen ihres Faches oder eines bestimmten Status’ in der Hochschule wahrgenommen, sondern ausschließlich über ihr Frausein definiert. Interessant sind Korrelationen zwischen bestimmten Thematiken. So waren z.B. Hochschullehrer, die im ›Dritten Reich‹ politischen Repressalien ausgesetzt waren, häufig positiver gegenüber Frauen als Studierenden und Lehrenden eingestellt. Befürworter des Frauenstudiums standen zugleich einer »politischen Erziehungsaufgabe der Universität« aufgeschlossen gegenüber, zeigten sich über die Arbeit des AStA meist gut informiert, hatten ein enges Verhältnis zu ihren Studierenden und äußerten wenig Bereitschaft Korporationen alten Stils zu unterstützen (vgl. ebd.: 497-499). Umgekehrt fand sich unter den unbedingten Befürwortern von Korporationen kein Einziger, der weibliche Hochschullehrer schätzte (vgl. ebd.: 117). Unter den Gegnern des Frauenstudiums befanden sich überdurchschnittlich viele, die über politische Schwierigkeiten nach 1945 klagten (vgl. ebd.: 351). Ob es sich bei diesen Hochschullehrern um überzeugte AltNazis, Mitläufer oder ausgesprochene opportunistische Karrieristen handelt, sei dahingestellt. Anger zufolge war die Annahme, dass eine ablehnende Haltung gegenüber Studentinnen und Hochschullehrerinnen seine Wurzeln in einer antidemokratischen Einstellung habe, »wohl kaum von der Hand [zu] weisen« (ebd.: 351).
F AZIT Die in der Kirchhoff-Studie aufgeführten Stellungsnahmen machen deutlich, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Front der Frauenstudiumsgegner bröckelte. Die Befähigung der Frauen zum Studium wurde nur noch von ausgesprochenen ›Hardlinern‹ bestritten, aber Befähigung wurde noch lange nicht mit Berechtigung gleichgesetzt. Demgegenüber scheint in den 1950ern Jahren eine Zunahme an geschlechterstereotypen Erklärungsmustern zu verzeichnen zu sein, die Anger mit der ›Frauenfeindlichkeit‹ des nationalsozialistischen Regimes zu erklären versucht: eine Erklärung, die meines Erachtens zu kurz greift. Zum einen gehen polare und hierarchische Geschlechterkonstruktionen auf eine Tradition zurück, die bedeutend älter ist als das ›Dritte Reich‹ (vgl. Laqueur 1992, Honneger 1996), zum anderen wussten die Nationalsozialisten das wissenschaftliche Potenzial von Frauen in Zeiten der Hochrüstung und des Zweiten Welt-
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krieges durchaus zu nutzen. Damit sollen nicht die Schwierigkeiten geleugnet werden, mit denen Studentinnen und Wissenschaftlerinnen, insbesondere Jüdinnen, zu kämpfen hatten (vgl. Dickmann/Schöck-Quinteros 2000). Aber alle gezielt frauendiskriminierenden Maßnahmen an der Hochschule, wie z.B. die Einführung eines geschlechtsspezifischen NCs, fielen in die Zeit kurz nach der Machtübernahme und wurden, sobald Politik und Arbeitsmarktlage es erforderte, wieder rückgängig gemacht (vgl. Huerkamp 1996b). Für politisch konforme Frauen, wie die Psychologin Martha Moers, die psychologischen Nachwuchs für die Industrie und die Heerespsychologie ausbildete, oder den Arbeitseinsatz von Frauen und Kriegsgefangenen in der deutschen Rüstungsindustrie untersuchte und psychologisch betreute (vgl. Broeckmann 1996: 138), aber auch für die Altgermanistin Luise Berthold, deren Forschungsarbeiten sich für den Nationalsozialismus instrumentalisieren ließen (vgl. Oertzen 2002: 15), gab es zwar nicht die großen Karrieren, aber Nischen, in denen sie weiterhin Wissenschaft betreiben konnten. Stefanie Marggraf stellt sogar die These auf, dass Frauen zur Zeit der Kriegsvorbereitung und während des Zweiten Weltkrieges in kriegsrelevanten Fächern wie Medizin, Osteuropäische Geschichte und Slawistik bessere Karrieremöglichkeiten gehabt hätten als in der Weimarer Republik (vgl. Marggraf 2002: 46). Während des Krieges und direkt danach war die Anzahl der Frauen an der Hochschule höher als zur Zeit der angerschen Erhebung. Noch 1951 betrug der Frauenanteil an den Promovierenden 33% (vgl. Schlüter 1996: 457). Mitte der fünfziger Jahre sank er auf 19%, weil verstärkt Kriegsheimkehrer in die Hochschulen drängten. Angers Erklärungsansatz, die Hochschulkarrieren von Frauen ausschließlich aus der Perspektive des verhinderten Aufstiegs durch das NS-Regime darzustellen, ist beim heutigen Stand der Forschung nicht mehr haltbar, aber die Situation von Studentinnen und Wissenschaftlerinnen in den 1950er und 1960er Jahren stellt immer noch ein gravierendes Forschungsdesiderat dar (vgl. Budde 2002). In der Nachkriegszeit hätte zudem die Chance bestanden, von den Nationalsozialisten vertriebene Hochschullehrerinnen nach Deutschland zurückzuholen. Von dieser Möglichkeit wurde wenig Gebrauch gemacht (vgl. Kersting 2008). Unter Berufung auf die ›Ordnung der Natur‹ und die ›Macht der Tradition‹ wurden hochqualifizierte Frauen bei der Besetzung von Lehrstühlen weiterhin übergangen. Dass Angers Ergebnisse nicht von allen Kollegen positiv aufgenommen wurden, darauf verweist bereits das Geleitwort von Tellenbach, der zu bedenken gab, ob »die Aussagen, die aus der ›Alltagssituation‹ heraus als ›subjektive Meinungsäußerungen‹ über teilweise nicht ›vollbewußte Phänomene‹ gemacht wurden, für [den] Zustand und Geist der heutigen Universität repräsentativ seien. Viele der Befragten würden sich, falls
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sie sich verantwortlich über ihr Tun und ihren Wirkungskreis auszusprechen hätten, vermutlich sorgsam reflektierend anders äußern.« (Anger 1960: VIII)
Vermutlich kamen aber gerade die nicht reflektierten geschlechterstereotypen Aussagen der Hochschullehrer den Alltagserfahrungen der Frauen an der Universität ziemlich nahe.
L ITERATUR Anger, Hans (1960): Probleme der deutschen Universität. Bericht über eine Erhebung unter Professoren und Dozenten, Tübingen: J.C.Mohr (Paul Siebeck). Benker, Gitta/Störmer, Senta (1991): Grenzüberschreitungen. Studentinnen in der Weimarer Republik, Pfaffenweiler: Centaurus. Broeckmann, Theo (1996): »Martha Moers (1877-1965)«, in: Annette Kuhn/ Valentine Rothe u.a. (Hg.), 100 Jahre Frauenstudium: Frauen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Dortmund: Edition Ebersbach, S. 137-139. Budde, Gunilla-Friederike (2002): »Geglückte Eroberung? Frauen an Universitäten des 20. Jahrhunderts – ein Forschungsüberblick«, in: Feministische Studien 20(2), S. 98-112. Clephas-Möcker, Petra/Krallmann, Kristina (1988): Akademische Bildung – eine Chance zur Selbstverwirklichung für Frauen? Lebensgeschichtlich orientierte Interviews mit Gymnasiallehrerinnen und Ärztinnen der Geburtsjahre 1909 bis 1923, Weinheim: Deutscher Studienverlag. Dickmann, Elisabeth/Schöck-Quinteros, Eva (Hg.) (2000): Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland, Berlin: trafo. Gerstein, Hannelore (1965): Studierende Mädchen: Zum Problem des vorzeitigen Abgangs von der Universität, München: Piper. Glaser, Edith (1992): Hindernisse, Umwege, Sackgassen. Die Anfänge des Frauenstudiums in Tübingen (1904-1934), Weinheim: Deutscher Studienverlag. Glaser, Edith (1996): »Sind Frauen studierfähig? Vorurteile gegen das Frauenstudium«, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchenund Frauenbildung, Bd. 2, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 299-309. Honnegger, Claudia (1996): Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750-1850, München: dtv. Huerkamp, Claudia (1996a): Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900-1945, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Huerkamp, Claudia (1996b): »Geschlechtsspezifischer Numerus clausus – Verordnung und Realität«, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 325-341. Kersting, Christa (2008): Pädagogik im Nachkriegsdeutschland Wissenschaftspolitik und Disziplinentwicklung 1945 bis 1955, Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kirchhoff, Arthur (Hg.) (1897): Die akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe, Berlin: Hugo Steinitz. Kleinau, Elke (2010): »Sind Frauen zum Studium befähigt und berechtigt? Der Diskurs für und wider das Frauenstudium gegen Ende des 19. Jahrhunderts«, in: Hildegard Küllchen/Sonja Koch/Brigitte Schober/Susanne Schötz (Hg.), Frauen in der Wissenschaft – Frauen an der TU Dresden. Tagung aus Anlass der Zulassung von Frauen zum Studium in Dresden vor 100 Jahren, Leipzig: Universitätsverlag, S. 79-98. Laqueur, Thomas (1992): Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a.M./New York: Campus. Lorenz, Charlotte (1953): Entwicklung und Lage der weiblichen Lehrkräfte an den wissenschaftlichen Hochschulen Deutschlands, Berlin: Duncker & Humblot. Marggraf, Stephanie (2002): »Sonderkonditionen. Habilitationen von Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus an den Universitäten Berlin und Jena«, in: Feministische Studien 20(2), S. 40-56. Oertzen, Christine von (2002): »Luise Berthold: Hochschulleben und Hochschulpolitik zwischen 1909 und 1957«, in: Feministische Studien 20(2), S. 822. Paletschek, Sylvia (2001): Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart: Franz Steiner. Schlüter, Anne (1996): »Die ersten Nachkriegsprofessoren und die Situation von Wissenschaftlerinnen bis in die siebziger Jahre«, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 449-464.
Transformationen der Frauen- und Gleichstellungspolitik an den Universitäten Das Beispiel Köln C LAUDIA N IKODEM
Die Frauen- und Gleichstellungspolitik an den Universitäten hat seit ihrer Etablierung vor über zwanzig Jahren große Veränderungen erfahren. Diesen Transformationen wird mit einer Fokussierung auf die Situation an der Universität zu Köln nachgegangen. Zwei Zusammenhänge finden dabei Berücksichtigung: Einerseits wird die Wechselwirkung zwischen institutioneller Frauen- bzw. Gleichstellungsarbeit und feministischer Bewegung thematisiert. Welche Relevanz hat die Frauenbewegung für das Entstehen sowie die Entwicklung der Gleichstellungspolitik? Andererseits wird ein Blick auf die Korrelation zwischen gleichstellungspolitischen Aufgaben und den Erkenntnissen der Frauen- und Geschlechterforschung geworfen. Inwiefern kooperieren universitäre Gleichstellungsarbeit und Genderforschung, beflügeln sich die unterschiedlichen Konzepte oder finden sich einander ausschließende Momente? Die Kölner Gleichstellungsarbeit wird mit Blick auf weitere Fragestellungen diskutiert: Wie kann das Verhältnis zwischen universitärer Gleichstellungsarbeit und Feminismus gedeutet werden? In welchen Kontexten finden sich in der Gleichstellungsarbeit an der Universität eher feministische Elemente, bei denen ein Bezug zu den Ideen und Themen der Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre erkennbar ist, wo zeigen sich vielleicht eher Anteile, die an ein ›neoliberales Geschlechterregime‹ im Sinne von Angie McRobbie erinnern (vgl. McRobbie 2008), in dem es um die Förderung einer kleinen Gruppe bei gleichzeitiger Stabilisierung bestehender Machtstrukturen geht? In welchen Bereichen der Gleichstellungsarbeit werden alle weiblichen Universitätsangehörigen – von Verwaltungsangestellten bis hin zu Professorinnen – als mögliche Adressatinnen einer geschlechtergerechten Hochschulpolitik einbezogen?
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Die Bedingungen einer künftigen Antidiskriminierungsarbeit jenseits kategorialer Zuschreibungen, die Interdependenzen von Diskriminierungserfahrungen thematisiert, sollen ausgelotet werden. Dabei wird gefragt, ob eine auf Frauen konzentrierte Gleichstellungspolitik ein geeignetes Instrument einer Antidiskriminierungspolitik an den Universitäten ist oder inwiefern weitere Differenzlinien mitgedacht werden müssen.
V ON DER F RAUENBEWEGUNG ÜBER ZUR G LEICHSTELLUNGSPOLITIK
DIE
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1991 wurde die erste Frauenbeauftragte der Universität zu Köln gewählt. Die Schaffung eines solchen Amtes war ein Novum und wurde nicht ohne Kritik aufgenommen. Frauenbeauftragte standen zu dieser Zeit unter dem Verdacht, männerfeindlich zu agieren und Männer aus ihren angestammten Räumen zu verbannen. Inzwischen ist die Bedeutsamkeit von Gleichstellung an der Universität erkannt, Gleichstellung ist relevant geworden und wird verhandelt. Jede Fakultät der Kölner Universität verfügt über zwei – primär nebenamtlich arbeitende – Gleichstellungsbeauftragte, die Universität beschäftigt eine hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte, es gibt eine Gleichstellungskommission, im Rektorat sind gender und diversity als notwendige Aufgaben spezifisch verortet und anerkannt. Nicht zuletzt im Rahmen der erfolgreichen Exzellenzinitiative gilt Gleichstellung als ein unverzichtbares Element der Hochschulentwicklung. Was wurde bislang erreicht, wo besteht Handlungsbedarf? Die Frage um die Förderung von Frauen an Universitäten ist alt, in Preußen wurde das Frauenstudium 1908 allgemein erlaubt und elf Jahre später, 1919, wurde mit der Immatrikulation der ersten Studentin an der Kölner Universität, Jenny Gusyk, auch hier Frauen der Weg in die Wissenschaften eröffnet (vgl. Rosenbaum 2003). Bis dahin hatten die Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung um den Zugang von Frauen zu allen Studiengängen gerungen. Heute hingegen wird nicht mehr über die Öffnung, sondern über die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in allen wissenschaftlichen, universitären Bereichen debattiert. ›Frau‹ wird dabei als ›natürliche‹, substanzielle Kategorie eher wenig angezweifelt, sondern ist Basis der Gleichstellungsarbeit, wenngleich eine Verschränkung von gender und diversity und somit die Verwobenheit unterschiedlicher Diskriminierungserfahrungen Berücksichtigung erfährt.
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Frauenpolitik in der Wissenschaft Die Frauenpolitik an den Universitäten als Teil der Frauenbewegung der 70er Jahre war eng mit der Frauenforschung verbunden. Von Beginn an waren die Projekte und Aktionen der Frauenbewegung im universitären Bereich sehr heterogen (vgl. Kortendiek 2005: 103). Köln war ein bedeutsamer Ort für Aktivistinnen, die sich an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Frauenbewegung verorteten. Eine der ersten feministischen Soziologinnen an der damaligen Pädagogischen Hochschule und heutigen Humanwissenschaftlichen Fakultät, Brunhilde Sauer-Burghard, skizziert rückblickend die Situation von Wissenschaftlerinnen an der Universität zu Köln: »Wir wurden von den Männern wohlwollend geduldet, weil wir damals noch eine hoffnungslose Minderheit waren. Es war die Zeit, als sich die männlichen Überlegenheitsansprüche noch in diskrete Anmache und übertriebene Galanterie kleideten. Das fand ich, wenn ich mich heute daran erinnere, besonders unangenehm, weil man die versteckte Aggression gegen Frauen dahinter spürte, aber wehrlos dazu lächeln und so tun musste, als ob man diese Maskerade nicht durchschaute.« (Sauer-Burghard 2005: 17)
Die Zukunft wurde von Teilen der feministisch orientierten Wissenschaftlerinnen in einer Frauenuniversität gesehen. Hierzu heißt es bei Sauer-Burghard weiter: »Wir diskutierten in der Jülicher Straße [dem Redaktionssitz der beiträge zur feministischen theorie und praxis] gegen Ende der 70er Jahre nichts Geringeres als die Gründung einer Frauenuniversität, wobei wir uns über die Inhalte und die Organisation auseinandersetzten und recht konkrete Vorstellungen von der Umsetzung entwickelten.« (Ebd.: 19)
Sauer-Burghard teilte mit ihrer Kritik an einer männerdominierten Wissenschaft und Universität die Position der Wissenschaftlerinnen, die sich in NRW in Netzwerken unterschiedlicher Frauengruppierungen wiederfanden, wie den Vertreterinnen des sogenannten Bielefelder Ansatzes1 dem Arbeitskreis Wissenschaftlerinnen NRW und dem entstehenden Netzwerk Frauenforschung NRW
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Wenngleich der ›Bielefelder Schule‹ Ende der 1970er und frühen 1980er Jahre nicht nur Frauen angehörten, sondern sich aus unterschiedlichen Vertreter_innen der Entwicklungsethnologie – so die Selbstbezeichnung – zusammensetzte, ist der Subsistenzansatz sowie die ›Hausfrauisierungsthese‹ eng mit den Namen Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof verbunden.
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(vgl. Metz-Göckel 2005). In Köln wie auch anderswo waren es vornehmlich Frauen des akademischen Mittelbaus, die sich neben Studentinnen für ein verändertes Geschlechterverhältnis an den Universitäten stark machten, was darauf zurückzuführen ist, dass es zu diesem Zeitpunkt kaum Professorinnen an den Universitäten gab. Eine Einheit von Wissenschaft, Forschung und Frauenbewegung forderte 1978 die Kölner Soziologin Maria Mies in den Methodischen Postulaten zur Frauenforschung (vgl. Mies 1978: 41f.).Wissenschaft und Frauenbewegung müssten kooperieren, Forschung solle politisch sein und an der Aufhebung der Unterdrückung der Frauen mitarbeiten. Eines der Postulate, in denen die Kooperation von Frauenbewegung und Forschung in aller Deutlichkeit gefordert wurden, lautete: »Aus dem Vorangegangenen ergibt sich, daß die Wahl des Forschungsgegenstandes nicht mehr der Beliebigkeit der einzelnen Sozialwissenschaftlerin oder ihren subjektiven Karriereinteressen überlassen bleiben kann, sondern abhängig sein wird von den allgemeinen Zielen und den strategischen und taktischen Erfordernissen der sozialen Bewegung zur Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen. […] Engagierte Sozialwissenschaftlerinnen, die sich den allgemeinen Zielen der Frauenemanzipation verpflichtet fühlen, haben einen wichtigen Beitrag zur theoretischen Klärung und strategischen Weiterentwicklung dieser Bewegung zu erfüllen.« (Ebd.: 51)
Mies’ Postulate verdeutlichen, wie direkt und unmittelbar bewegungspolitisches Engagement die wissenschaftlichen Fragestellungen und Gegenstandskonstruktionen von Sozialwissenschaftlerinnen bestimmen sollten. Aus heutiger Perspektive zeigt sich die problematische Verkürzung, die in der Ineinssetzung von wissenschaftlicher Logik und Erkenntnisinteresse einerseits und politischer Strategie und Handlungspraxis andererseits steckt. Nichtsdestotrotz haben die methodischen Postulate zu einem bedeutsamen Perspektivwechsel in der Sozialforschung beigetragen. Das gilt insbesondere für das Verhältnis von Forscher_innen zum Forschungsgegenstand und zur Forscher_in/Befragtenbeziehung in qualitativen Verfahren (vgl. auch Wohlrab-Sahr 1993: 128f.). ›Subjektive Betroffenheit‹ und Solidarität unter Frauen als Gleiche galt als Motor für Forschung und wurde als ein neuer methodischer Zugang für eine qualitativ orientierte Sozialwissenschaften vorgeschlagen. Maria Mies, Mitbegründerin des ersten autonomen Frauenhauses in Köln, buchstabierte diese Problematik am Thema der Gewalt gegen Frauen aus. Ziel war es, wissenschaftliches Arbeiten und politische Ziele miteinander zu verknüpfen, um sich gegen die Objektivitätsfiktion einer ›patriarchalen Wissenschaft‹ zu wenden (vgl. Sauer-Burghard 2005: 19). Gisela Bock nahm 1976 in ihrer Rede zu Beginn der ersten
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Sommeruniversität von Frauen in Berlin nicht nur eine ähnliche bewegungspolitische Verankerung von Wissenschaft vor, sie wies gleichzeitig auf im vergeschlechtlichten Feld der Akademie verdrängte und abgewertete Bereiche hin und trat für deren Relevanz ein. »Viele von uns kommen aus der Frauenbewegung. Die Impulse, die wir dort erhalten haben, haben wir an unseren Arbeitsplatz Universität getragen: nämlich, dass das Persönliche auch politisch – und wissenschaftlich ist! und dass wir gemeinsam stark sind. Was heißt das aber für die Zukunft, wird man sich mit Recht fragen, wo die Studentinnen und Dozentinnen nur ein kleiner, privilegierter Teil der Frauen sind. Wird nicht dem Ruf ›Frauen an die Uni‹ der Bewegung viel eher die Spitze abgebrochen, wenn sie sich auf den Marsch durch die Institutionen und Berufe machte? Sollen hier auf dem Rücken der Frauenbewegung neue Privilegien für wenige Frauen geschaffen werden? Die Frage ist berechtigt. Ebenso berechtigt, ja notwendig, ist es aber auch, dass wir – und alle Frauen! – von unserer jeweils eigenen Situation ausgehen. Die Universität ist unser Arbeitsplatz. Wenn wir hier beginnen, gegen die Benachteiligung von Frauen zu kämpfen, so ist das nicht Beschränkung auf einen Elfenbeinturm, sondern ein Angriff auf ihn, den wir an unserem Arbeitsplatz führen müssen. Wir können und wollen nicht stellvertretend für andere Frauen kämpfen.« (Bock 1976: 15f.)
Zumindest Maria Mies hatte nicht die Schaffung von Frauenbeauftragten im Blick, sondern die Einheit von Forschung und Frauenbewegung. Dementsprechend war die Verrechtlichung frauenpolitischer Aktivitäten durch Frauenbeauftragte jenseits der politischen Ideale. Emanzipation als Selbstbestimmung, so die Argumentation, könne nicht von oben, institutionell verordnet und als Verwaltungsakt eingeführt werden. Feministisches Handeln beruhe auf einer geteilten Erfahrung von Diskriminierung, der Selbstreferenz und auf der Idee des feministischen Subjektes ›Frau‹. Trotz der Kritik der Vorannahmen dieser Position, etwa hinsichtlich der Möglichkeiten ›autonomen‹ Handelns oder der Vereinheitlichung und Vereindeutigung von ›Frauen‹- die Implementierung von Frauenbeauftragten wäre nicht ohne die Ideen und das politische Eingreifen der Frauenbewegung realisierbar gewesen. Ihre Inhalte wurden partiell übernommen, jedoch mit anderen Methoden umgesetzt.
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Universität zu Köln: Frauenbeauftragte – Gleichstellungsbeauftragte 1991 wurde an der Universität Köln die erste Frauenbeauftragte mit ihren Aufgaben betraut, die rechtlich in das Landessgleichstellungsgesetz eingebunden waren und bis heute sind. Dort heißt es u.a.: »Die Gleichstellungsbeauftragte nimmt ihre Aufgabe als Angehörige der Verwaltung der Dienststelle wahr. Dabei ist sie von fachlichen Weisungen frei. Ein Interessenwiderstreit mit ihren sonstigen dienstlichen Aufgaben soll vermieden werden.« (LGGG §16)
Gleichstellungsbeauftragte erfüllen formal eine Verwaltungsaufgabe. Nicht mehr als eine autonome Politik von unten, sondern als Instrument organisationalen Handelns, eingebunden in die institutionellen Hierarchien des ›Betriebs Hochschule‹ präsentiert sich das Streben nach Gleichstellung von ›Mann‹ und ›Frau‹. Die Installation von Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten ähnelt in manchen Zügen dem Prozess, der von McRobbie als ein undoing feminism (McRobbie 2010: 13) skizziert wird. Feministische Elemente werden in der Gleichstellungsarbeit aufgegriffen und in das ›institutionelle Leben‹ beispielsweise der Universität integriert, in dem, so Hark und Villa in der Einleitung zu Mc Robbies Top Girls in staatlichen Einrichtungen diese Elemente als eine Art »FeminismusErsatz verwendet« (ebd.) werden. In dieser Aneignungspraxis, dem top-down Prinzip universitärer Gleichstellung besteht die Gefahr, dass feministischen Interventionen die Legitimation entzogen wird. Hier zeigt sich eine Differenz zu den Ideen der autonomen Frauenbewegung der 70er- und 80er Jahre, in denen die politische Autonomie der Frauen als kritische, antiinstitutionelle Position und definitorische Gegenmacht im politischen Zentrum stand. Wenngleich hiermit zwei unterschiedliche politische Wege zur Gleichstellung der Geschlechter aufgezeigt werden, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass der eine Weg per se wirkungsvoller ist als der andere. Zu beobachten ist zunächst einmal die Transformation von einer autonomen Frauenbewegung hin zu einer institutionell verankerten ›Frauen‹- bzw. Gleichstellungspolitik. Eine strukturell verankerte Frauenund Gleichstellungspolitik mag formal im Gegensatz zu autonomen Ideen der Frauenbewegung stehen, doch zeigt sich in der Praxis der Gleichstellungsarbeit an der Universität (zu Köln), dass ein verändertes Organisationsprinzip von Gleichstellung durchaus Handlungspotenzial für unterschiedliche Akteur_innen eröffnet. Beispielhaft genannt werden kann an dieser Stelle die Arbeit an Richtlinien zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung an der Universität zu Köln. Geplant als ein top-down Prinzip vom Rektorat und der Gleichstellungsbe-
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auftragten hat sich die Arbeitsgruppe aus allen Statusgruppen inklusive Verwaltungsangehörigen und Studierenden zusammengesetzt und aktiv einen wichtigen Prozess zum veränderten Umgang mit Gewalt angestoßen. Das ist ein Zeichen dafür, dass die unterschiedlichen Politikansätze heutiger und damaliger Frauenund Gleichstellungspolitik nicht so dichotom sind, wie sie zunächst erscheinen mögen. Die Gleichstellungsarbeit an den Universitäten ist rechtlich im oben zitierten Landesgleichstellungsgesetz und im Hochschulfreiheitsgesetz verankert und Teil des Gender Mainstreaming Konzepts. Während zuvor die Benachteiligung von (verallgemeinerten) ›Frauen‹ im Fokus des Interesses stand, war gerade bei Feministinnen der Universität die Befürchtung groß, dass sich schleichend ein technokratisches und herrschaftsunkritisches Bild von Gleichstellungsarbeit entwickeln könnte und soziale Ungleichheiten an der Ungleichheitsachse Geschlecht eher unter anderen mitgedacht und letztlich entnannt würden. Diese juristischen und zugleich politischen Veränderungen in der Gleichstellungspolitik korrelierten mit der seit Beginn der 90er Jahre stattgefundenen Rezeption der Schriften Judith Butlers. Ihr Argument, dass ›Männer‹ und ›Frauen‹(körper) performativ durch das regulative Schema Geschlecht hergestellt werden, hatte innerhalb der Frauenbewegung und der feministischen Wissenschaft zu großen Debatten geführt. Denn die Thesen Butlers waren an ein Infragestellen des politischen Subjekts ›Frau‹ als biologischer und/oder sozialer Gemeinsamkeit gekoppelt. Diese beiden – zwar unterschiedlichen Diskurse – führten auch in Teilen der Kölner Frauenbewegung und -forschung zu Abgrenzungsstrategien. Die Transformationen der Gleichstellungsarbeit lassen sich eher an kleinen Details, denn an den Themen selbst festmachen. Denn die Themen von damals und heute sind zunächst vergleichbar. Die Tätigkeitsberichte seit 1991 geben hier Auskunft: Gremienarbeit, Teilnahme an Berufungskommissionen, Empfehlungen zur Frauenförderung, überregionale Netzwerkbildung der Gleichstellungsbeauftragten, Vereinbarkeit von wissenschaftlicher Karriere und Familie, Beratung bei Diskriminierung, Förderung der Karrieren von Frauen, Wiedereinstieg von Frauen mit Kindern sind hier als Beispiele zu nennen. Ernüchternderweise wird heute noch an Themen gearbeitet, die bereits 1997 im Forderungskatalog der Frauenbeauftragten formuliert worden sind. Gleichstellungsbeauftragte für die Fakultäten wurden bereits 1997 gefordert, aber erst 2008 implementiert. Die Festschreibung einer flächendeckenden Entlastung der Gleichstellungsbeauftragten, gekoppelt mit finanziellen Ressourcen, benötigte nochmals weitere vier Jahre. Vergleichbares lässt sich in Bezug auf den strukturellen Umgang mit sexualisierter Gewalt beobachten. Der Schutz vor sexueller Belästigung im universitären Kontext wurde bereits seit 1991 als Aufgabenbereich diskutiert. Seit-
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dem hat die Gleichstellungsbeauftragte viele Frauen beraten, es wurden Disziplinarverfahren eingeleitet usw. Strukturell hat sich jedoch diesbezüglich wenig getan. Erst seit kurzem arbeitet eine aus unterschiedlichen Statusgruppen und Fachgebieten zusammengesetzte Arbeitsgruppe von Wissenschaftler_innen, Gleichstellungsbeauftragten, Student_innen, Personalvertretungen, Rektoratsvertreter_innen und Jurist_innen an der Implementierung konsequenter Richtlinien zu sexualisierter Diskriminierung an der Universität. Bei dieser Arbeit zeigt sich die Wirksamkeit unterschiedlicher Zugänge und von Professionswissen; es zeigt sich aber auch, dass es lange Zeit benötigte, um die durch die Frauenbewegung thematisierten Phänomene zum Gegenstand institutioneller Antidiskriminierungsmaßnahmen zu machen. Ein großer Teil heutiger Gleichstellungsarbeit an der Kölner Universität liegt in der Unterstützung von Frauen in der Karriereplanung einerseits und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf andererseits. Diese Gleichstellungsarbeit fügt sich in die Diskurse um Quotierung, Frauen in Führungspositionen, Frauen an die Spitze der Dax-Unternehmen ein. Wenngleich die Förderung von Frauen und die Ermöglichung einer wissenschaftlichen Karriere – gerade in den MINTFächern – von immenser Bedeutung ist, adressiert dennoch eine solche Gleichstellungspolitik eine spezifische Gruppe von Frauen und macht deren Interessen zum Maßstab. Hildegard Nickel (2012) bemerkte zu Recht, dass die Quotendebatte – und die Konzentration auf Exzellenz – am ›Lebensgefühl‹ bzw. an der Lebensrealität vieler Frauen vorbei gehe und somit die Geschlechtergerechtigkeit auf einen Teilaspekt reduziere. Die gesellschaftspolitische Dimension von Geschlechtergerechtigkeit werde mit einer solchen Debatte eher verschoben. Was sind die Themen der eben verschiedenen Frauen mit differenten Interessen an der Universität und (wie) können sie Berücksichtigung erfahren? Was ist mit Studentinnen, Verwaltungsangestellten, Reinigungskräften? Welche differenzierte Gleichstellungspolitik wäre für sie angemessen? Die bisherige Vernachlässigung beschreibt eine Verwaltungsangestellte in einem Gespräch wie folgt: ›Unsere neue Gleichstellungsbeauftragte ist super. Nach Jahrzehnten wurden wir Frauen aus der Verwaltung endlich mal wahrgenommen und sind eingeladen worden. Das hätte ich mir schon viel früher gewünscht, als die Kinder noch klein waren.‹ Es besteht also vielfältiger Handlungsbedarf nicht nur in der Gleichstellungsarbeit selbst, sondern auch im wissenschaftlichen Diskurs über Gender Mainstreaming, Hochschulentwicklung und Gleichstellung wird eine Fokussierung auf die Karriere von Akademikerinnen vorgenommen, bei gleichzeitiger Vernachlässigung von anderen Differenzkategorien. Auch hier sei nochmals an die Definitionsmacht über eine adäquate Gleichstellungspolitik und Wissenschaft erinnert. Wie oben bereits am Beispiel der Arbeitsgemeinschaft gegen se-
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xualisierte Diskriminierung skizziert, eröffnen neue Vernetzungsformen zwischen Verwaltung, Forschung (G E S TI K) und Studierenden veränderte Potenziale. Es geht um die Anerkennung der unterschiedlichen Lebenslagen und differenten Arbeits- und Lebenszusammenhänge von Frauen an der Universität, um Benachteiligungen, Missstände und prekäre Verhältnisse zum Gegenstand einer vielfältigen Organisationspolitik zu machen. Es heißt aber auch zu realisieren, dass Gleichstellungspolitik nicht auf ›Frauen‹ als Erwerbstätige und Mütter reduziert werden kann, wie die Adressierung vieler Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf vermuten lässt. Die ›Wettbewerbsnachteile‹ von Frauen an der Universität sind nicht nur in der (potentiellen) Mutterschaft zu suchen, sondern vielfach werden sie nicht als ernsthafter wissenschaftlicher Nachwuchs gesehen. Das heißt nicht, dass Elternschaft, Sorgeverpflichtungen und Erwerbstätigkeit für Beschäftigte (dies betrifft mitunter nicht ausschließlich ›Frauen‹) nicht eine konfliktbehaftete Lebenssituation bedeuten kann, die der institutionellen Unterstützung auch von Seiten der Hochschule bedarf. Die Professionalisierung der Position der Gleichstellungsbeauftragten – so wie in Köln geschehen – ist unabdingbar. Ihre Aufgabe hat sich zu einem so komplexen Feld entwickelt, so dass neben Managementaufgaben, juristischen Kompetenzen ebenso wissenschaftliche Erkenntnisse der Gender Studies erforderlich sind. Sicherlich kann in der Auszeichnung als Exzellenzuniversität auch eine große Chance für den Ausbau und die Stärkung von Gleichstellung(smaßnahmen) liegen. Die Einsicht, dass eine moderne Hochschulentwicklung verschiedene Beschäftigteninteressen gerade auch im Hinblick auf Geschlechtergerechtigkeit berücksichtigen muss, ist im Rektorat erkannt worden und wird durchgesetzt, sei es durch finanzielle Unterstützung der Gleichstellungsarbeit in den Fakultäten oder auch der Gründung der wissenschaftlichen Einrichtung von G E S TI K, der zentralen Einrichtung für Gender Studies in Köln. Gelungene Gleichstellungspolitik ist auf die Zusammenarbeit vielfältiger Akteur_innen auf Verwaltungsebene, in den Personalabteilungen, der Hochschulleitungsebene und den wissenschaftlichen Einrichtungen angewiesen, um die komplexen Anforderungen zu bewältigen und nicht handlungsmächtige Positionen erneut zu bevorteilen. Die Gleichstellungsbeauftragten können lediglich als ein Teil einer Antidiskriminierungspolitik an der Universität gedeutet werden, die ihren Schwerpunkt im Bereich von gender hat und dort durch das Rektorat, dezentrale Gleichstellungsbeauftragte, zentrale Gleichstellungsbeauftragte und G E S TI K gestärkt wird. Gender ist zu einer Schlüsselkategorie der Hochschulpolitik avanciert, was zunächst positiv zu bewerten ist, nicht aber die Augen vor anderen Machtstrukturen verschließen sollte. So zeigt das Konzept der Intersektionalität die Schwierigkeit auf, alle ›Frauen‹ in gleicher Weise als Opfer einer symbolischen Gewalt
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von ›Männern‹ zu deuten. Für die universitäre Gleichstellungspolitik habe ich auf der Basis von geführten Interviews und teilnehmender Beobachtungen analysieren können, dass unterschiedliche Frauen mit unterschiedlichen Diskriminierungen konfrontiert sind. Gerade Frauen, die in prekären Arbeits- und Studienverhältnissen leben, vermissen häufig eine Gleichstellungspolitik, die nicht nur individuelle Kompetenzen in den Blick nimmt, sondern strukturelle Benachteiligungen, ungleiche Teilhabechancen und Ausschlüsse. Die befristeten Arbeitsverhältnisse von hochqualifizierten Wissenschaftler_innen, die bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Studierenden, Wissenschaftler_innen in der Qualifizierungsphase und Professor_innen, die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse des akademischen Mittelbaus, von Student_innen und Verwaltungsangestellten, mitunter am Rande der Armutsgrenze, seien hier nur beispielhaft erwähnt. Auch hier sind es eher die Strukturen des Wissenschaftsbetriebs ›Universität‹, die die Inklusionsmöglichkeiten steuern. Das weist darauf hin, dass Gleichstellung an den Universitäten noch differenzierter als bisher die unterschiedlichen und eben nicht einheitlichen Lebensentwürfe und Arbeitsverhältnisse in den Blick nehmen muss. Es besteht deshalb die Notwendigkeit, Gleichstellung als zentrale Aufgabe zu begreifen, die alle verschieden benachteiligten oder privilegierten ›Frauen‹ – und mit Blick auf die Vernachlässigung von Fürsorgearbeiten – generell benachteiligte Personen betreffen kann. Dass – wie in Köln geschehen – eine Prorektorin gender in ihren Aufgabenbereich integriert, kann hier nur förderlich sein.
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VORNE
Aktuell nimmt Gleichstellungspolitik an der Universität häufig die Kategorie Frau zum Ausgangspunkt des Handelns. Gleichstellung wird als die Förderung von sämtlichten ›Frauen‹ und hier insbesondere den Wissenschaftlerinnen gesehen. Zwar wird das Diversitätskonzept hochschulpolitisch aufgegriffen, doch scheint eine Antidiskriminierungspolitik jenseits oder zumindest als Problematisierung kategorialer Zuschreibungen schwer realisierbar zu sein. Aus der Praxis als Gleichstellungsbeauftragte für Berufungsangelegenheiten sehe ich mich manchmal in Konflikten. Der Auftrag der Berücksichtigung von ›Frauen‹ bei gleicher Qualifikation ist eindeutig gegeben. Nichtsdestotrotz werden in Bewerbungsverfahren oftmals andere Differenzen und deren Verflechtungen sichtbar, die ungleiche Bedingungen hervorrufen. Ethnische Herkunft, Geschlecht und Alter sind nur einige, die aber zumindest formal durch das Antidiskriminierungsgesetz thematisiert werden. Die Juristin Kimberlé Crenshaw hat zu Recht auf die
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Intersektionen unterschiedlicher Diskriminierungserfahrungen hingewiesen, die auch im Alltag von Stellenbesetzungsverfahren höchst relevant sind. Das auf Crenshaw zurückgehende Intersektionalitätskonzept verdeutlicht, dass es zumeist Intersektionen unterschiedlicher Differenzen sind, die zu Ausschlüssen (oder auch Einschlüssen) führen. Diese Interdependenzen müssen Berücksichtigung erfahren. Das eröffnet, so hat es die amtierende Gleichstellungsbeauftragte der Universität zu Köln in einem Interview formuliert, die Möglichkeit genau zu prüfen, wann Geschlecht als Differenz- und Machtmarkierung genutzt wird und wann andere Differenzlinien gewichtiger gemacht werden und damit Gegenstand von Gleichstellungsarbeit sind. Gleichstellungspolitik sollte alle Statusgruppen berücksichtigen und ebenso die Interessen derjenigen Frauen in den Blick nehmen, die bisher weniger Gehör gefunden haben. Sie sollte mehr sein, als im Rahmen der Exzellenzinitiative die Karriere des akademischen Nachwuchses zu fördern. Gleichstellungsarbeit ist nach wie vor eine notwendige Instanz um Ungleichheitsverhältnisse entlang der Kategorie Geschlecht im universitären Rahmen zu thematisieren. Wenn sie nicht als bloßes verwaltungstechnisches Instrument genutzt wird, sondern sich an den Forschungserkenntnissen einer feministischen Theorie orientiert, dabei die Erkenntnisse und Erfahrungen vieler Frauen in verschiedenen Verhältnissen sozialer Benachteiligung miteinbezieht, wie dies in Köln derzeit der Fall ist – kann sie Erfolge erzielen. Das erfordert, dass gender unabdingbar als interdependent erachtet werden muss und sich von der konzeptionellen Kategorie ›Frau‹, mit all den damit verbundenen Normen und Inhalten verabschiedet wird – um mit Judith Butler zu sprechen: »Das Insistieren auf der Kohärenz und Einheit der Kategorie ›Frau(en)‹ hat praktisch die Vielfalt der kulturellen und gesellschaftlichen Überschneidungen ausgeblendet, in denen die mannigfaltigen konkreten Reihen von ›Frauen‹ konstruiert werden.« (Butler 1993: 43)
Ein solcher Blick könnte die Gleichstellungsarbeit erweitern, in dem die Diversität der Frauen an der Universität eine größere Berücksichtigung findet. Es könnte den Blick erweitern, dass eben nicht alle Frauen an der Universität Wissenschaftler_innen sind, dass nicht alle in einer heterosexuellen Familie mit Kinderbetreuungsproblemen leben und dass es eine Reihe weiterer Lebensverhältnisse von Frauen und Männern und weiteren Geschlechtsidentitäten gibt, die systematisch benachteiligt werden und die gerechte Teilhabe an Erwerbsarbeitsverhältnissen erschweren. Gleichstellungsarbeit sollte aber auch von den Wissenschaftlerinnen der Universität als notwendige Aufgabe gesehen, um Theorie und Praxis miteinan-
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der bewusst zu verbinden. Das erfordert in der Praxis Bündnisse mit Expert_innen aus Forschung, Gleichstellung, Verwaltung und Recht. Gerade im letzten Jahr kann man durch veränderte Strukturen im Prorektorat und der weiteren Professionalisierung einen deutlichen Ruck innerhalb der Universität verspüren. Die Gründung von G E S TI K, der zentralen Einrichtung für Gender Studies, die starke Verortung von gender (und diversity) im Rektorat und das Engagement der Gleichstellungsbeauftragten lassen die berechtigte Hoffnung zu, dass die Universität zu Köln nun auf dem richtigen Weg ist.
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Gleichstellung Macht Hochschulpolitik Macht und Gleichstellung im Strukturwandel an der Universität zu Köln B RITT D AHMEN UND A NNELENE G ÄCKLE
Gleichstellungspolitische Akteur_innen an Hochschulen stoßen immer wieder an die Grenzen der Durchsetzungsfähigkeit. Je nach Gesetzeslage, je nach Konstellation der stakeholder in der Hochschulpolitik und -leitung, je nach Themen im Rahmen der übergreifenden Hochschulentwicklung, gewinnen oder verlieren Gleichstellung und Gender Mainstreaming an Relevanz und Einfluss. Bereits diese schlagwortartige Auflistung verdeutlicht, dass die Durchsetzungsfähigkeit von Gleichstellungspolitik keineswegs allein an der Güte von Konzepten messbar ist, sondern vielmehr in starker Abhängigkeit von einem Gesamtgefüge aus Personen und Strukturen steht. Bereits Riegraf hat in ihrer mikropolitischen Analyse über Wirksamkeit und Grenzen betrieblicher Gleichstellungspolitik aufgezeigt, »dass der Erfolg bzw. Misserfolg betrieblicher Gleichstellungsmaßnahmen […] sich vor allem als Resultat komplexer und spezifischer Entscheidungs-, Aushandlungs- und Kompromissbildungsprozesse in Organisationen darstellt« (Riegraf 1996: 11). Mit dieser Erkenntnis geht die Frage einher, inwiefern eine systematische, langfristige Integration von Gleichstellungsfragen in die Hochschulentwicklung überhaupt steuerbar ist. Und welche Funktion und Position – mithin Macht – haben Gleichstellungsakteur_innen, um steuern zu können? Diese Fragestellungen werden mit dem bereits vielseitig beschriebenen Strukturwandel von Gleichstellungspolitik an Hochschulen im Zuge von Exzellenzinitiative, Professorinnenprogramm und forschungsorientierten Gleichstellungsstandards (Blättel-Mink/ Franzke/Wolde 2011: 9) verschränkt. Der Strukturwandel ist vor allem durch einen Zuwachs an institutionellen sowie individuellen Akteur_innen gekennzeichnet, die Einfluss auf gleichstellungspolitische Entwicklungen nehmen.
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Darüber hinaus differenziert sich das Handlungsfeld Gleichstellung durch weitere Themenbereiche wie diversity und Inklusion aus und verlangt neue professionelle Fach- und Organisationskompetenzen. Im vorliegenden Artikel soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Strukturwandel ein Zugewinn für Gleichstellungsanliegen sein kann, und inwiefern neue Zugänge zu Macht für Gleichstellungsakteur_innen geschaffen werden können, um Gleichstellungspolitik erfolgreich und nachhaltig zu steuern. Diese Frage wird am Beispiel der Universität zu Köln erörtert, da sie den Strukturwandel im Kontext der Exzellenzinitiative in besonderer Weise vollzieht und die Gleichstellungspolitik der vergangenen zwei Jahre durch personelle und strukturelle Erneuerung gekennzeichnet ist. Der Analyse zugrunde gelegt wird eine mikropolitische Perspektive, die den Blick auf einzelne Akteur_innen innerhalb von Organisationen lenkt. Diese wird im Folgenden kurz eingeführt, bevor konkrete Kennzeichen des Strukturwandels von Gleichstellung an der Universität zu Köln skizziert werden. Anschließend wird die Verschiebung von Machtverhältnissen und deren Einfluss auf die Steuerbarkeit von Gleichstellungspolitik aus mikropolitischer Perspektive diskutiert.
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MACHT UND
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Der Frage nach den Möglichkeiten der Verschiebung von Machtverhältnissen und der These des damit verbundenen möglichen Bedeutungsgewinns von Gleichstellung im Kontext exzellenzgesteuerter Hochschulentwicklung soll aus einer mikropolitischen Perspektive nachgegangen werden. Macht wird in diesem Sinne als soziale Beziehung verstanden und als eine implizite oder explizite Austausch- oder Verhandlungsbeziehung zwischen zwei oder mehreren voneinander abhängigen Akteur_innen beschrieben (vgl. Crozier/Friedberg 1979). Diese Machtdefinition geht einher mit einem sehr weitgefassten Akteursbegriff, in dem alle Organisationsmitglieder als mikropolitische Akteur_innen verstanden werden, die auf der Basis verschiedener Interessenshintergründe und Grundüberzeugungen agieren und Einfluss nehmen können. Machtausübung ist somit nicht an einen hohen Status und Funktion in formalen Hierarchien gebunden, sondern auch von Akteur_innen in untergeordneten Positionen möglich. Aus der Perspektive der Gleichstellungsakteur_innen, und hier insbesondere der Gleichstellungsbeauftragten, ist dieses Akteursverständnis besonders bedeutungsvoll, da sie nicht zwingend statushohe Positionen besetzen, sich ihnen jedoch durch die differenzierte Analyse von Machtressourcen anderer Akteur_innen an der Hochschule weitere Spielräume zur Einflussnahme eröffnen. Zur Vertiefung der Fra-
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gestellung nach der Erweiterung von Machtspielräumen von Gleichstellungsakteur_innen im Zuge des Strukturwandels und einem damit verbundenen Zugewinn an Steuerungsmöglichkeiten, sollen diese Möglichkeitsspielräume differenziert werden: a) Wer gewinnt Definitionsmacht über die Kriterien ›guter Gleichstellungspolitik‹ und inwiefern trägt dies dazu bei, dass Gleichstellungsziele eine höhere Bedeutung erlangen?; b) wer gewinnt Gestaltungsmacht über die Form der Umsetzung von Gleichstellungspolitik und inwiefern kann dies eine faktische Realisierung von Gleichstellungsmaßnahmen unterstützen? Verschiedene Autorinnen haben aus der mikropolitischen Perspektive zudem einige Erfolgsfaktoren für Gleichstellungsstrategien extrahiert, die auch für die vorliegenden Fragestellungen aufbereitet werden sollen (vgl. Riegraf 1996, Jüngling 1999, Wiechmann 2004, Jüngling/Rastetter 2011). So ist einerseits die Frage, inwiefern auf zentraler Ebene hierarchisch ›mächtige‹ Akteur_innen Gleichstellungsziele in zentrale Handlungsleitlinien integrieren und durch klare Benennung von Verantwortlichkeiten umsetzen? Welche Schlüsselpositionen sind zudem von gleichstellungsaffinen Personen besetzt? Inwiefern ist andererseits die dezentrale Integration aller Beteiligten einer Organisation, d.h. von Angehörigen aller Hierarchiestufen und aus einer möglichst breiten Aufgabenspanne gewährleistet und gelungen? Welche Koalitionen, Kooperationen und Netzwerke wurden aufgebaut? Zentral für Erfolg ist zudem eine »konfliktfähige Konsensstrategie« (Jüngling 1999: 370), d.h. Gleichstellungsanliegen so herauszuarbeiten, dass alle Interessengruppen dazu gewinnen können. Dies kann u.a. durch »Strategisches Framing« (Jüngling/Rastetter 2011: 33) erfolgen, d.h. über die Anknüpfung von Gleichstellungszielen an bestehende Bezugsrahmen, wie z.B. die Gewinnung von Drittmitteln oder die Entwicklung von Leitlinien qualitativ hochwertiger Lehre im Rahmen von (Re-)Akkreditierungsprozessen.
2. G LEICHSTELLUNG IM S TRUKTURWANDEL AN DER U NIVERSITÄT ZU K ÖLN Neue Rahmenbedingungen: Gleichstellung im gesellschaftsund wissenschaftspolitischen Diskurs Dass Frauen in den Leitungsgremien und -funktionen sowohl in der Wirtschaft als auch im öffentlichen Dienst deutlich unterrepräsentiert sind und dabei 8% weniger verdienen als Männer auf der gleichen Position, ist erwiesen. Ebenso, dass die unbefriedigende Situation bei der Vereinbarkeit von Familienarbeit und Beruf Aufstiegschancen verringert (vgl. BMBF 2010: 44), prekäre Beschäfti-
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gungsverhältnisse befördert und die Armutsgefährdung steigert (vgl. BMAS 2012: 121f.). Die Diskussion um das von der CSU in dem Koalitionsvertrag der Regierung verankerte ›Betreuungsgeld‹ und der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz nach KiföG für alle Kinder vom 1.-3. Lebensjahr ab August 2013 beleben die Auseinandersetzung um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Bund, Länder und die DFG reagierten im Bereich der Wissenschaft insbesondere auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Verbesserung der Chancengleichheit (vgl. Wissenschaftsrat 2007: 9, 13) über die Implementierung neuer gleichstellungspolitischer Steuerungsinstrumente: •
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Die DFG erarbeitete im Jahr 2008 die Forschungsorientierten Gleichstellungsstandards. Seitdem wird die Umsetzung von Maßgaben der Hochschulen zur Steigerung des Anteils von Wissenschaftlerinnen aus Selbstverpflichtungen in Zweijahresabständen bewertet, eingestuft und öffentlich dokumentiert. Die Einstufung wird in Förderentscheidungen über Anträge in der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder und den koordinierten Verfahren der DFG einbezogen. Die Verbesserung von Chancengleichheit ist integrativer Bestandteil der Zukunftskonzepte von Exzellenzhochschulen. Das Professorinnenprogramm des Bundes und der Länder fördert seit 2007 die Gleichstellung in Wissenschaft und Forschung über die Finanzierung von Erstberufungen von Frauen. Eingesparte Gelder der Hochschule sind für gleichstellungsfördernde Maßnahmen einzusetzen. Die Ziel- und Leistungsvereinbarungen IV zwischen dem Wissenschaftsministeriums NRW und den Hochschulen geben klare Ziele im Bereich der Gleichstellung vor (z.B. konkrete Steigerung des Frauenanteils an Professuren, Besetzungsquote von Frauen auf Vertretungsprofessuren) und wurden erstmalig mit finanziellen Sanktionen versehen, sollten keine gültigen Frauenförderpläne vorgelegt werden können. Das Landesprogramm geschlechtergerechte Hochschulen des MIWF NRW fördert seit 2012 Gleichstellung mit einem jährlichen Sockelbetrag und in zwei Antragslinien herausragende Nachwuchswissenschaftlerinnen und die Frauen- und Geschlechterforschung.
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Neue Kompetenzen: Fortschreitende Professionalisierung von Gleichstellungsarbeit Mit zunehmender externer Steuerung steht die Gleichstellungsarbeit im steten Wettbewerb um Fördergelder: An der Universität zu Köln stammten im Jahr 2012 zwei Drittel der Mittel für Gleichstellung und gleichstellungsfördernden Maßnahmen aus Programmlinien des Bundes oder des Landes. Gleichstellung entwickelte sich unter diesen Bedingungen in den vergangenen Jahren rasant von der ›Bewahrerin des Landesrechts‹ hin zu einer komplexen Hochschulmanagementaufgabe mit einem erweiterten Anforderungsprofil und zahlreichen neuen Akteur_innen. Die Aufgaben der Gleichstellungsbeauftragten selbst sind seit 1999 über das Landesgleichstellungsgesetz NRW definiert. Der Gleichstellungsbeauftragten ist vorbehalten, diese, orientiert an den hochschulpolitischen Notwendigkeiten und Entwicklungen, selbstbestimmt zu priorisieren. Das Spektrum an Beratungs-, Management-, Führungs- und Qualitätssicherungsaufgaben verbreiterte sich jedoch durch die vorab skizzierten Entwicklungen erheblich und erfordert ein größeres Zeitbudget und erweiterte Fachkenntnisse. Um erfolgreich in den politisch initiierten Wettbewerb mit anderen Hochschulen zu treten, sind differenzierte, auf aktuellsten Studien und politischen Entwicklungen basierende Konzeptionen, Zwischenberichte und Evaluationen zu erstellen, die hochschulweite, interdisziplinäre und strukturbildende Maßnahmen oder Strategien umfassen und sich in die aktuelle wissenschaftspolitische Diskussion einfügen. Die Hochschulleitung wird in Bezug auf Alleinstellungsmerkmale und Best-Practice im Bereich gender beraten, Forschungscluster bei der Antragsstellung unterstützt, Modellverfahren (wie z.B. im Bereich Studium und Lehre) und Großprojekte begleitet und Fördermaßnahmen systematisiert über Monitoring-, Controlling- und Evaluationsinstrumente nach Qualität und Wirkung bewertet. Das erweiterte Anforderungsprofil geht mit einer fortschreitenden Professionalisierung von Gleichstellungsarbeit an Hochschulen einher, in der Fachwissen unabdingbar ist und sich neue Daueraufgaben in Verbindung mit langfristigen Strukturen herauskristallisieren. Neue Strukturen und Akteur_innen: Gleichstellung als Teil der Hochschulentwicklung Die Universität zu Köln passte in den vergangenen zwei Jahren aktiv ihre gleichstellungspolitische Managementstruktur an die sich wandelnden politischen Rahmenbedingungen und die fortschreitenden Professionalisierungserfordernisse
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an: Eine wachsende Zahl von haupt- und nebenamtlich tätigen Akteur_innen übernimmt ebenso strategisch wie handlungsleitend Verantwortung und ermöglicht im zunehmenden Wettbewerb ein breites Qualitätsmanagement und damit eine gute Positionierung der Hochschule. Die zentrale Steuerung und Überwachung von Gleichstellungsmaßnahmen und -strategien erfolgt durch die Hochschulleitung, nachhaltig institutionalisiert seit 2011 durch das Prorektorat für Finanzen, Planung und Gender, und die Gleichstellungsbeauftragte (siehe Abb. 1). Dem Prorektorat für Finanzen, Planung und Gender wurde 2011 das Referat für Gender-Qualitätsmanagement zugeordnet, welches als Schnitt- und Netzwerkstelle für die verschiedenen Gleichstellungsaktivitäten und familienbezogenen Maßnahmen der Universität zu Köln fungiert und spezifische Maßnahmen erfasst, koordiniert, überwacht, evaluiert und weiterentwickelt. Abbildung 1: Strukturelle Verankerung von Gender Mainstreaming an der Universität zu Köln
Gleichzeitig werden gleichstellungsbezogene Daueraufgaben zunehmend in die Verwaltung integriert. So setzt der Dual Career & Family Support die familienpolitischen Anliegen um und betreibt auch die 2012 eröffnete universitätseigene KiTa Paramecium. Im Jahr 2013 werden zudem Ressourcen in die Personalentwicklung vergeben, um gender- und diversitybezogene Maßnahmen (wie bspw. Mentoring-Programme) dort zu verstetigen. Im Jahr 2012 wurde GESTIK – Zentrum für Gender Studies in Köln als neue zentrale wissenschaftliche Einrichtung gegründet, die Geschlechterforschung in-
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terdisziplinär und fakultätsübergreifend vernetzt und über die Entwicklung eines entsprechenden Zertifikat- und Masterstudiengangs ausbaut. Die Dezentralisierung von Verantwortung für Chancengleichheit in den Fakultäten wird seit 2012 über ein strategisches Qualitätsmanagement im Bereich gender in den internen Ziel- und Leistungsvereinbarungen verstärkt gesteuert. Deutliche finanzielle Anreize honorieren z.B. die Entlastung der dezentralen Gleichstellungsbeauftragten, die Beantragung von Gendermitteln bei Forschungsanträgen oder die Schulung von Berufungskommissionsmitgliedern in Bezug auf Transparenz und Gendersensibilität in Berufungsverfahren. Neue Handlungsfelder: Gleichstellung im Kontext von Chancengerechtigkeit und diversity Gleichstellung und Gender Mainstreaming fußen auf der Forderung nach gerechter Teilhabe und gleichen Chancen der Geschlechter auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene. In den vergangenen Jahren etablierte sich an den Hochschulen neben dem Gender Mainstreaming zunehmend das Konzept des Diversity Managements, welches die individuelle Verschiedenheit der Beschäftigten und Studierenden beachtet und die Heterogenität durch positive Wertschätzung (soziale Inklusion) zum Vorteil aller Beteiligten nutzten möchte (vgl. De Ridder/Leichsenring/von Stuckrad 2008: 41). Der Bedeutungsgewinn dieses Ansatzes zeigt sich in dem aktuellen Eckpunktepapier zur Novellierung des Hochschulgesetzes des Wissenschaftsministeriums NRW (2012), das Diversity Management klar verankert und Beauftragte vorsieht. Gemein ist beiden Ansätzen das Ziel der Herstellung von Chancengerechtigkeit strukturell benachteiligter Gruppen. Gleichstellungspolitik an der Universität zu Köln erkennt die Chancen einer engen Verzahnung von Gender Mainstreaming und Diversity Management mit dem Ziel der Etablierung einer Kultur der Inklusion und Wertschätzung von Vielfalt und Verschiedenheit. Gemeinsam mit dem Prorektorat für Akademische Karriere, Internationales und Diversity werden Konzepte für eine chancengerechte Hochschulstruktur entwickelt und diese z.B. in die Modellentwicklung für Studium und Lehre eingebracht.
3. V ERÄNDERUNG DER M ACHTVERHÄLTNISSE Der skizzierte gleichstellungsbezogene Strukturwandel an der Universität zu Köln verdeutlicht die Veränderungen der mikropolitischen Kräfteverhältnisse.
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Stand bis vor einiger Zeit die Gleichstellungsbeauftragte als wichtigste Akteurin in Bezug auf Definitions- und Gestaltungsmacht für Gleichstellung und Gender Mainstreaming im Zentrum, so hat sich das Feld der relevanten Akteur_innen in den letzten Jahren deutlich erweitert und somit auch das Kräfteverhältnis verschoben. Dabei bleibt zu hinterfragen, ob dies den gleichstellungspolitischen Anliegen insgesamt eher schadet oder nutzt. Eine deutliche Stärkung von Gleichstellungsanliegen ist durch die hochschulextern gesteuerte Etablierung von Gleichstellungsstandards und gleichstellungsbezogener Controlling-Instrumente zu verzeichnen. Damit übernehmen Politik und Wissenschaftsorganisationen die zentrale Verantwortung für die übergreifende Steuerung von Gleichstellung und Chancengleichheit und haben somit übergeordnete Definitions- und Kontrollmacht erworben. Innerhalb der Universität zu Köln haben verschiedene Akteur_innen Definitionsmacht über ›gute‹ Gleichstellungspolitik übernommen bzw. übertragen bekommen. So kann zum einen eine Verantwortungsverlagerung auf die Hochschulleitungsebene konstatiert werden. Die Gleichstellungsbeauftragte ist seit jeher qua Hochschulgesetz beratendes Mitglied im Rektorat, sie wird nun jedoch zusätzlich durch die Schlüsselpositionen der Prorektorin für Planung, Finanzen und Gender sowie des Prorektors für Akademische Karriere, Diversität und Internationales flankiert. Zudem wurde Gleichstellung spätestens seit der erfolgreichen Bewerbung zur Exzellenzinitiative II als Handlungsfeld von hoher strategischer Bedeutung erkannt und ist zentrales Anliegen des Rektors. Die Umsetzung von Gleichstellungskonzepten, -berichten oder -controllings ist somit nur unter aktiver Beteiligung des Rektorates durchsetzungsfähig und Erfolg versprechend. Zum anderen bedeutet die im Zuge der Professionalisierung und des extern gesteuerten Bedeutungszuwachses entstandene Zunahme an Rektorats-, Verwaltungs- und wissenschaftlichen Einrichtungen (z.B. Referat für Gender-Qualitätsmanagement, Dual Career & Family Support, GESTIK) auch eine Zunahme an Personen, die auf der Basis professionalisierten und wissenschaftlichen Wissens, fachlich versierte Definitionsmacht einbringen (wollen). Das Beispiel der Entwicklung einer innovativen Familienpolitik verdeutlicht, dass hier nur eine gute Vernetzung der verschiedenen Akteur_innen Erfolg versprechend ist: Inhaltlich trägt vor allem der Dual Career & Family Support Verantwortung für die Entwicklung von Zukunftsmodellen. Entsprechende wissenschaftliche Expertise zu gesellschaftlichen Familienbildungsprozessen hält GESTIK bereit. Die politische Verantwortung für die Durchsetzung und Integration entsprechender Modelle in die Hochschulstrategie und die Bewertung ihrer Wirksamkeit liegt schließlich in den Händen der Prorektorin für Planung, Finanzen und Gender und der Gleich-
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stellungsbeauftragten. Der Erfolg liegt somit nicht allein in der Entwicklung guter Konzepte, sondern basiert auch auf einer gelungenen Kooperation und Teilhabe aller zentralen und dezentralen Akteur_innen. Diffiziler gestaltet sich die Analyse im Zusammenhang mit dem Zuwachs an neuen Themenfeldern zur Chancengleichheit, wie dem Diversity Management. Die Debatte um das Verhältnis von Gender- und Diversityfragen kann Definitionsprozesse guter Chancengleichheitspolitik sehr grundlegend tangieren. Die Trennung der Prorektorate mit den Verantwortungsbereichen gender und Diversität an der Universität zu Köln dokumentiert zunächst eine sachlich nicht zwingend gebotene Trennung von Inhalten und Ressourcen. Gleichzeitig wird jedoch in einigen Handlungsfeldern, wie z.B. aktuell der Entwicklung eines Konzepts zur Integration von Chancengleichheit in Lehre und Studium, eng und erfolgreich zusammen gearbeitet. Perspektivisch soll der Bereich des Diversity Managements strukturell ausgebaut werden. Dieser Zuwachs an Ressourcen und der damit verbundenen Definitionsmacht von Akteur_innen wird die Perspektive auf Chancengleichheit und Gleichstellungspolitik an der Universität zu Köln deutlich beeinflussen. Mit Blick auf die Veränderung von Gestaltungsmacht im Rahmen der Umsetzung von Gleichstellungspolitik stehen vor allem die Erweiterung von zentralen Anlaufstellen innerhalb der Universität sowie die Stärkung der Dezentralisierung von Gleichstellungsarbeit im Fokus. Mit der Integration gleichstellungsbezogener Daueraufgaben in die Universitätsverwaltung, wie GenderQualitätsmanagement, Maßnahmen der Personalentwicklung (z.B. Mentoring) oder Familienserviceleistungen, werden einige zentrale Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der Gleichstellungsbeauftragten nun nachhaltig in fachbezogene Universitätsstrukturen verankert. Darüber hinaus werden die Fakultäten u.a. durch die anreizbasierten Ziel- und Leistungsvereinbarungen bestärkt, eigenständig(er) Gleichstellungsaufgaben zu übernehmen. Dies beinhaltet z.B. auch die Professionalisierung von Gleichstellungsarbeit an den Fakultäten. Die Fakultäten wie auch die Dezernate stellen damit neue, wirkmächtige mikropolitische Akteur_innen bei der Ausgestaltung von Gleichstellungsmaßnahmen dar. Die (Um-)Verteilung von Verantwortung ist von dem Ziel geleitet, Gleichstellung und Gender Mainstreaming als Organisationsressource verfügbar zu machen, so dass Gleichstellung die Organisationskultur im Inneren verändert und nicht handlungsleere Konzeptionen nach außen getragen werden. Dieser Prozess bedeutet zwar einen faktischen Verlust an operativer Gestaltungsmacht für zentrale Akteur_innen wie die Gleichstellungsbeauftragte. Dieser Verlust wird aber durch eine Implementierung und Stärkung von dezentralen Gleichstellungsbeauftragten in den Fakultäten relativiert. Gleichzeitig wird diese Ver-
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schiebung von Kräfteverhältnissen jedoch auch begleitet durch eine stärkere Position der Hochschulleitung (und mithin auch der Gleichstellungsbeauftragten), die entsprechende Steuerungsmechanismen, wie die Ziel- und Leistungsvereinbarungen, in der Hand hält. Die konkrete Umsetzung und Ausgestaltung der Maßgaben obliegt allerdings weiterhin den Fakultäten, die damit (auch über demokratisch legitimierte Gleichstellungsbeauftragte) Gestaltungsmacht hinzugewinnen. Im Gesamten kann ein erheblicher Bedeutungszuwachs von Chancengleichheit und Gleichstellung für die gesamte Universität und eine Verlagerung von Machtressourcen parallel zur Hochschulleitung (top-down) sowie den dezentralen Strukturen der Hochschule (bottom-up) ausgemacht werden. Genau diese belastbare Differenzierung von Gestaltungsmacht bietet strategischen Gleichstellungszielen eine direktivere Umsetzung als bislang und gleichzeitig individuellen Gleichstellungsanliegen und -maßnahmen aus den Selbstverwaltungsstrukturen der Hochschule einen Handlungsrahmen.
4. F AZIT Die Zugänge zu Machtressourcen haben sich für Gleichstellungsakteur_innen an der Universität zu Köln im Zuge des Strukturwandels erheblich erweitert. So wurden einerseits zentrale, hierarchisch mächtige Schlüsselpositionen mit gleichstellungsrelevanten Themen in der Hochschulleitung besetzt. Die Leitungsebene hat sich über das Zukunftskonzept zudem an exponierter Stelle zur Verbesserung der Chancengleichheit verpflichtet. Andererseits wurden Gleichstellungsthemen über Dezentralisierung und Aufgabenverlagerung in die Hochschulverwaltung und in die Fakultäten breit verankert und neue statushohe wie fachbezogen versierte Akteur_innen auf den verschiedenen Ebenen der Gesamtorganisation gewonnen. Sowohl die Definitionsmacht als auch die Gestaltungsmacht über Konzeption und Umsetzung von Gleichstellungspolitik liegt nun nicht mehr allein in der Verantwortung der Gleichstellungsbeauftragten. Gemeinsam mit dem Prorektorat für Planung, Finanzen und Gender trägt die Gleichstellungsbeauftragte aber einen wesentlichen Teil der politischen Verantwortung, womit beide eine zentrale Steuerungsfunktion inne haben, die vor allem darin liegt, die verschiedenen Interessen ›mächtiger‹ Akteur_innen in strategische Entwicklungen einzubeziehen und überzeugend zu integrieren. Bereits etablierte Instrumente sind hier bspw. die Ziel- und Leistungsvereinbarungen, Frauenförderpläne oder themenbezogene institutionenübergreifende Arbeitsgruppen und Netzwerke.
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Als zentrales Erfolgskriterium für eine zielorientierte, systematische und nachhaltige Gleichstellungspolitik, bei der trotz der Vielzahl an mikropolitischen Akteur_innen eine gemeinsame Steuerung sichtbar bleibt, gilt der Aufbau eines aktiven Netzwerks von Gleichstellungsakteur_innen, die dezentral in allen Ebenen und Bereichen der Universität involviert sind. Innerhalb dieses Netzwerks wird Raum für die gemeinsame Definition von Zielen eröffnet, Transparenz über Aufgaben, Umsetzungen und Entwicklungen durch klare Kommunikations- und Informationswege geschaffen. Im besten Falle kann dadurch die Universität als Ganzes an gleichstellungsbezogenen Prozessen partizipieren. Schließlich ist über ein vielfältiges Netzwerk mit Akteur_innen aus sehr unterschiedlichen Bereichen und Hierarchien auch die strategische Besetzung von neuen Handlungsfeldern möglich. Der analytische Blick aus mikropolitischer Perspektive auf die gleichstellungspolitischen Entwicklungen an der Universität zu Köln offenbart die Komplexität erfolgreichen politischen Handelns für Gleichstellungsakteur_innen. Entscheidend ist, inwiefern zentrale Steuerungsmöglichkeiten wie z.B. die Besetzung des Themas über Schlüsselstellen in der Hochschulleitung, das Gleichstellungsnetzwerk und anreizbasierte Ziel- und Leistungsvereinbarungen nachhaltig implementiert werden können, so dass Gleichstellung und Chancengleichheit unabhängig von Personen und mikropolitischen Spielen fester Bestandteil von Hochschulentwicklung bleiben.
L ITERATUR Blättel-Mink, Birgit/Franzke, Astrid/Wolde, Anja (2011). Gleichstellung im Reformprozess der Hochschulen, Sulzbach: Ulrike Helmer. BMAS (2012): Lebenslagen in Deutschland – Kabinettsvorlage des 4. Armutsund Reichtumsberichts der Bundesregierung vom 21.11.2012, Berlin. BMBF (2010): Frauen in Führungspositionen, Heidelberg Crozier, Michel/Friedberg, Erhard (1979): Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns, Königstein/Ts: Äthenäum. De Ridder, Daniela/Leichsenring, Hannah/Stuckrad, Thimo von (2008): »Diversity Management«, in: Wissenschaftsmanagement – Zeitschrift für Innovation 4, S. 41-43. Jüngling, Christiane (1999): »Integration mit Macht. Zur Mikropolitik der betrieblichen Gleichstellung von Frauen«, in: Arbeit 4, S. 357-373. Jüngling, Christiane/Rastetter, Daniela (2011): »Die Implementierung von Gleichstellungsmaßnahmen: Optionen, Widerstände und Erfolgsstrategien«,
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in: Gertraude Krell/Renate Ortlieb/Barbara Sieben (Hg.), Chancengleichheit durch Personalpolitik. Gleichstellung von Frauen und Männern in Unternehmen und Verwaltungen. Rechtliche Regelungen – Problemanalysen – Lösungen, Wiesbaden: Springer Gabler, 6. Aufl., S. 25-40. MIWF NRW (2012): Eckpunkte zu dem Entwurf eines Hochschulzukunftsgesetzes, Düsseldorf. Riegraf, Birgit (1996): Geschlecht und Mikropolitik: Das Beispiel betrieblicher Gleichstellung, Opladen: Leske und Budrich. Wiechmann, Elke (2004): Trendreport: Gleichstellungspolitik im Veränderungsprozess, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung. Wissenschaftsrat (25.05.2012): Fünf Jahre Offensive für Chancengleichheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – Bestandsaufnahme und Empfehlungen, Bremen. Wissenschaftsrat (13.07.2007): Empfehlungen zur Chancengleichheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Berlin.
Doing gender – Doing excellence? M AIKE H ELLMIG
W IE VERHALTEN SICH DIE DURCH DIE E XZELLENZINITIATIVE BEWIRKTEN T RANSFORMATIONEN ZUM P ROZESS DES G ENDER MAINSTREAMINGS AN DEN DEUTSCHEN H OCHSCHULEN ? – P RAKTISCHE UND THEORETISCHE F RAGESTELLUNGEN Geschlecht ist nicht angeboren, sondern wird in ständigen Wiederholungen, Zitaten und Veränderungen in sozialen Prozessen ›gemacht‹. Von dieser Annahme ausgehend wird zunächst gefragt, ob sich in Bezug auf die Bildung des Begriffs der ›Exzellenz‹, so wie diese sich im Rahmen der Exzellenzinitiative1 vollzieht,
1
Die Exzellenzinitiative wurde 2005 ins Leben gerufen und ist ein bundesweiter Wettbewerb der Universitäten um Forschungsmittel, organisiert, wissenschaftlich begutachtet und begleitet durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und den Wissenschaftsrat. In der dritten Runde wurden ca. 1,9 Millionen Euro vergeben. 2017 läuft das Programm aus. Prämiert wurden jeweils drei verschiedene Förderlinien: Graduiertenschulen (Doktorand_innenausbildung), Exzellenzcluster (Forschungsverbünde) und Zukunftskonzepte (langfristige Entwicklungsplanung der Universität in Bezug auf die Forschung). Primär öffentlich wahrgenommen und mit dem Etikett ›Eliteuniversität‹ versehen wurden diejenigen Universitäten, deren Zukunftskonzepte erfolgreich waren (2012 in der dritten Runde gekürt: RWTH Aachen, FU Berlin, HU Berlin, Universität Bremen, TU Dresden, Universität Heidelberg, Universität Köln, Universität Konstanz, LMU München, TU München, Universität Tübingen). Als zentrale Ziele der Initiative werden die »Stärkung des Wissenschaftsstandortes Deutschland und die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit« (Deutsche Forschungsgemeinschaft/Wissenschaftsrat 2012: 1) genannt.
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vergleichbare Phänomene beobachten lassen, hier also auch Mechanismen sozialer Herstellung beschreibbar sind. Soziale Herstellung von Exzellenz bedeutet, dass nicht die beste wissenschaftliche Arbeit die Anerkennung als Spitzenleistung erhält, sondern hier weitere, ›außerwissenschaftliche‹ Faktoren maßgeblichen Einfluss haben. Im zweiten Schritt werden die (De-)Konstruktionsprozesse von Geschlecht und Exzellenz in ihrem Verhältnis zueinander betrachtet. Im Ergebnis wird die These aufgestellt, dass der Gender Mainstreaming-Prozess2 an deutschen Hochschulen als ein zentrales Element in der Dekonstruktion von Geschlecht durch die Exzellenzinitiative in gegenläufiger Weise beeinflusst wird. Einerseits wird Gender Mainstreaming angestoßen, unterstützt und verstärkt. Andererseits gibt es Anlass zu der Vermutung, dass die Konstruktion von Exzellenz strukturelle Bedingungen fördert, die Gleichstellung entgegenwirken. Beispielsweise ist zu befürchten, dass die Exzellenzinitiative durch Hierarchisierung und Segregation Prekarisierungsprozesse im Hochschulbereich weiter vorantreibt und dass hiervon Wissenschaftlerinnen grundsätzlich strukturell stärker betroffen sind als Wissenschaftler. Abschließend wird gefragt, wie sich doing excellence, insbesondere im Verhältnis zu doing gender, auf der theoretischen Ebene beschreiben lässt. Welche intersektionalen Wechselwirkungen wären interessant zu untersuchen?
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Gender Mainstreaming ist ein umstrittener, uneinheitlich gebrauchter Begriff. Häufig wird auf die folgende Definition Bezug genommen: »GM besteht in der (Re-) Organisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluation von Entscheidungsprozessen mit dem Ziel, dass die an politischer Gestaltung beteiligten Akteure und Akteurinnen den Blickwinkel der Gleichstellung zwischen Frauen und Männern in allen Bereichen und auf allen Ebenen einnehmen« (z. B. Stiegler 2010: 933). Ich gebrauche den Begriff in einer erweiterten Bedeutung, die nicht nur die Schaffung von Chancengleichheit/Gleichstellung in Bezug auf die verschiedenen, noch nicht dekonstruierten Geschlechter bezeichnet, sondern auch den parallelen Prozess zur Auflösung/ Dekonstruktion der Kategorien ›männlich‹ und ›weiblich‹. Gender soll als Analysekategorie gebraucht werden, um gender als Ordnungskategorie zu überwinden (vgl. Frey et al. 2006: 5). Zu einer grundsätzlichen Klassifizierung des Gender MainstreamingBegriffs in drei Gruppen vgl. Schenk (2008: 155f.).
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Meine Ausgangsvermutung lautet, dass wissenschaftliche Leistung im Allgemeinen und Exzellenz im Besonderen soziale Konstruktionen sind. Pierre Bourdieu wird häufig mit der Aussage: »Ein guter Historiker ist einer, von dem gute Historiker sagen, dass er ein guter Historiker ist« (z.B. Champagne/Chartier 2003: 12) zitiert. Wissenschaft hat also nicht nur eine epistemische, sondern auch eine soziale Dimension. Erkenntnisproduktion und die Bewertung ihrer Resultate sind soziales Handeln und damit immer auch kulturell willkürlich und kontingent. Was als wissenschaftliche Leistung anerkannt wird, unterliegt sozialen, zum Teil zirkelschlüssigen und paradoxen Herstellungs- und Sozialisationsmechanismen, die dem sozialen Feld der Wissenschaft immanent sind. Als soziale Faktoren in diesem Zuschreibungsprozess wirken beispielsweise die formale Position der Akteur_innen, der Zugang zu Ressourcen und Arbeitsmitteln, der paradigmatische Kontext und die Anerkennung durch die scientific community (vgl. Beaufaूs 2003: 246).3 Soziale Herstellungsprozesse zeigen sich bei den drei folgenden wichtigen Instrumenten zur Bewertung wissenschaftlicher Leistung: Peer Review-Verfahren, Drittmittelquoten und Bibliometrie. Peer Review4 kann mit ›Begutachtung unter Kolleg_innen‹ oder auch ›Begutachtung unter Ebenbürtigen‹ übersetzt werden. Es ist ein zentrales Teilele-
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Kommt der_die Verfasser_in eines wissenschaftlichen Textes aus Cambridge oder aus Vechta? Ist er_sie ein_e Professor_in, ein_e wissenschaftliche_r Mitarbeiter_in oder ein_e Student_in? Ein_e Teilzeitbeschäftigte_r oder ein_e Lehrbeauftragte_r hat wesentlich geringere Ressourcen zur Umsetzung einer Forschungsidee als ein_e gut ausgestattete_r Institutsinhaber_in. Kulturell beeinflusst ist auch der Status des Wissenschaftsgebiets selber. Die naturwissenschaftlichen, als besonders rational und objektiv geltenden Fächer haben vielfach immer noch ein höheres Prestige als die geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Gerne wird beispielsweise Geschlechter-forschung immer noch als ›gender-Gedöns‹ abgetan. Neben der Außenwahrnehmung hat auch die Selbsteinschätzung Einfluss darauf, was als wissenschaftliche Leistung zu Anerkennung gelangt und was nicht. Eine Lehrbeauftragte aus Vechta wird vielleicht selber schon vermuten, dass ihre Arbeit weniger substantiell ist als die einer Professorin aus Cambridge und sich weniger über ausbleibende Anerkennung wundern und diese einfordern.
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Zur Begriffsbestimmung siehe auch Bornmann (2011: 199). Peer Review ist auch in einer engeren Definition gebräuchlich und bezeichnet dann nur anonymisierte (›Dop-
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ment im Gesamtprozess der Herstellung und Zuschreibung von Wissenschaftlichkeit: Eine Gruppe von Wissenschaftler_innen bewertet die wissenschaftliche Qualität der Arbeiten eines_r anderen Wissenschaftlers_in. Im akademischen Bereich findet es beispielsweise Anwendung bei der Entscheidung über Veröffentlichungen in Fachzeitschriften oder anderen wissenschaftlichen Publikationen, häufig auch bei der Vergabe von Drittmitteln oder Stipendien. Die Resultate dieser Entscheidungsprozesse haben dann maßgeblichen Einfluss auf den Zugang zu dem für eine wissenschaftliche Karriere unverzichtbaren Kapital wie Forschungsmitteln oder Publikationsraten. Kritiker_innen machen geltend, dass Peer Review als sozialer Prozess Einfallsmöglichkeiten für viele außerwissenschaftliche Faktoren, beispielsweise den akademischen Status oder die Institution, der die Bewerber_innen zugeordnet sind, aber auch die Differenzkategorien gender oder race bietet.5 Ein weiteres zentrales Messinstrument zum Vergleich wissenschaftlicher Leistung sind Drittmittelquoten. Drittmittel werden wiederum häufig, beispielsweise bei der DFG6, in Peer Review-Verfahren vergeben. Im Verhältnis zu der wichtigen wissenschaftspolitischen Rolle von Drittmitteln ist Forschung zu der Frage, in welchem Maße sie als Indikator zur Bewertung von Forschungsleistung geeignet sind, eher selten (vgl. Jansen/Wald/Franke 2007: 130, Laudel 2006: 376). In Bezug auf Drittmittel wird der sogenannte ›Matthäus-Effekt‹ – ›Wer hat, dem wird gegeben‹ – beschrieben.7 Neben objektiver wissenschaftlicher
pelblind‹-)Verfahren zur Entscheidung über die Aufnahme von Artikeln in wissenschaftliche Fachzeitschriften. 5
Einen Überblick über die Forschung bietet Bornmann (2011). Im Bezug auf einen möglichen gender bias legt er dar, dass sehr heterogene Ergebnisse vorliegen (vgl. ebd.: 215f.). Wennerås/Wold haben in einer vielzitierten Studie einen starken bias zuungunsten von weiblichen Wissenschaftlern beschrieben (vgl. Wennerås/Wold 1997: 341f.). Allerdings gibt es jüngere Ergebnisse, die diesen Feststellungen deutlich widersprechen (siehe z.B. Marsh/Bornmann 2009, Mutz/Bornmann/Daniel 2012).
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Die DFG ist die Selbstverwaltungsorganisation der Wissenschaft (forschungsintensive Hochschulen, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, wissenschaftliche Verbände, Akademien der Wissenschaften) in Deutschland. Sie ist auch die wichtigste Drittmittelgeberin (35% aller Mittel, Bund: 21%, Wirtschaft/Industrie: 23%) (vgl. DFG 2012: 30).
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Auf den Matthäus-Effekt bezieht sich auch der Titel eines grundlegenden, vielfach zitierten Aufsatzes von Robert K. Merton (1968) zum Belohnungs- und Kommunikationssystem in der Wissenschaft, in dem am Beispiel von Nobelpreisträgern dargelegt
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Qualität beeinflussen auch außerwissenschaftliche Faktoren die Höhe von Drittmittelquoten: Je besser ein_e Wissenschaftler_in bereits ausgestattet ist, desto höher sind auch die Aussichten, weitere Mittel einzuwerben.8 Daneben wird unter anderem bemängelt, dass im Prozess der Drittmittelvergabe ›konservative‹ Mechanismen wirkten͕was zum Beispiel dazu führe, dass kreative, riskante Projekte in einem geringeren Umfang berücksichtigt würden (vgl. Laudel 2006: 389f.). Aufgrund der bezüglich Peer Review kritisierten Fehleranfälligkeit wurden bibliometrische Verfahren entwickelt und zur Anwendung gebracht (vgl. Jansen/Wald/Franke 2007: 128). Aber auch diese sind als Verfahren zur Messung wissenschaftlicher Forschungsstärke weder unproblematisch noch eindeutig.9 Um nur einige Problemkreise anzureißen: Welche Veröffentlichungen werden wie gewichtet? Wie werden Veröffentlichungen mehrerer Autor_innen gewichtet? Sind die genannten Autor_innen der Publikationen immer die tatsächlichen Autor_innen? Wenn ein_e Verfasser_in zehn Aufsätze mit einer ähnlichen thematischen Ausrichtung veröffentlicht, ist das besser, als wenn ein_e Verfasser_in zwei Aufsätze mit verschiedenen, dafür neuartigen Fragestellungen publiziert?
D IE E XZELLENZINITIATIVE – EINE GESCHLOSSENE G ESELLSCHAFT ? Die in Bezug auf Wissenschaft allgemein dargelegte These der sozialen Einflüsse bei der Bestimmung guter wissenschaftlicher Leistung kann auch am speziellen Beispiel der sogenannten wissenschaftlichen Spitzenleistung, der Exzellenz, dargestellt werden. An Bourdieus gute Historiker fühlt man sich beispielsweise
wird, dass hoch angesehenen Wissenschaftlern für ihre Arbeit eine unverhältnismäßig hohe Anerkennung zukommt. 8
Außerwissenschaftliche Faktoren, die einen Einfluss auf Drittmittelquoten haben, sind zum Beispiel: Vorhandensein potentieller Kooperationspartner_innen im Bereich Wissenschaft/Industrie, das Forschungsgebiet (Grundlagenforschung ist für Unternehmen weniger interessant als angewandte Forschung), bereits vorhandene materielle und immaterielle Ressourcen. Das Verfassen von Drittmittelanträgen bspw. setzt erhebliche Expertise sowie Personaleinsatz voraus. Zudem decken Drittmittel selten den gesamten infrastrukturellen Bedarf eines Forschungsprojektes ab; weitere Mittel wie zum Beispiel Labor- oder Werkstattausstattungen, Arbeitsplätze und Räume müssen bereits vorhanden sein (vgl. Laudel 2006).
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Eine kurze Einführung zum Thema bietet Rühle (Rühle 2010).
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bei der Lektüre der Antragsvoraussetzungen für die dritte Runde der Exzellenzinitiative erinnert. Die sich bewerbenden Universitäten sollten in ihren Anträgen unter anderem Folgendes darstellen: »Erfolge in den beiden ersten Förderlinien, Erfolge in anderen Förderprogrammen oder durch in Wettbewerben entstandene Zentren, Nachweise wissenschaftlicher Spitzenleistungen im internationalen Vergleich (z. B. bibliometrische Auswertung der Forschungsstärke, Patente, Auszeichnungen, Preise – fachspezifisch und interdisziplinär). […] Rekrutierungsverfahren zur Gewinnung von herausragenden Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen.« (Deutsche Forschungsgemeinschaft/Wissenschaftsrat 2012: 3)
Damit das Prädikat ›exzellent‹ erworben werden kann, müssen die Spitzenleistungen, die Exzellenz, also bereits vorher bescheinigt worden sein. Dies birgt die Gefahr zirkelschlüssige Prozesse. Kritiker_innen der Exzellenzinitiative bestätigen diesen Anfangsverdacht und stellen fest, dass die Exzellenzinitiative ein Prozess sei, in dem die Zustände, die zu messen behauptet, erst hergestellt würden (vgl. Bultmann 2012, Hartmann 2010: 371, Liessmann 2006, Münch 2011: 181). Richard Münch legt beispielsweise dar, dass die Institutionen, die bereits das meiste materielle und symbolische Kapital zur Verfügung haben, mit noch mehr materiellem und symbolischem Kapital ausgestattet würden. Dieses Kapital korreliere aber nicht mit der höchsten wissenschaftlichen Effizienz, da es nicht mit der höchsten Publikationsproduktivität pro Personaleinsatz einhergehe. Im Gegenteil ergebe sich ab einer gewissen Häufung von Personaleinsatz ein Grenznutzenwert, die Produktivität sinke also wieder (vgl. Münch 2011: 263f., Jansen/Wald/Franke 2007: 138).10 Münchs Aussagen haben jedoch seitens anderer Wissenschaftssoziolog_innen scharfe Kritik erfahren (vgl. Augspurg/Heidler/Güdler 2008, 2009). Objektiv feststellbar und eindeutig scheint damit nur eins: Was gute oder exzellente Wissenschaft ist, kann nicht eindeutig festgestellt werden. Daraus ist allerdings nicht zu folgern, dass Wissenschaft ein wettbewerbsfreies Feld ist oder dass Ergebnisse wissenschaftlicher Prozesse nicht miteinander verglichen werden sollten. Es ist weiterhin erforderlich, die guten Historiker_innen zu fragen, wer die guten
10 Kritisch kann hier natürlich angemerkt werden, dass die Publikationsproduktivität ein Messinstrument darstellt, das nur bedingt geeignet ist, wissenschaftliche Leistung zu bewerten. Die Bezugsgröße Publikationsproduktivität kann aber genutzt werden, um zu belegen, dass die durch die Exzellenzakteur_innen selbst gesetzten Parameter nicht erfüllt werden bzw., dass anstelle von zumindest mäßig geeigneten Messinstrumenten gar nicht geeignete Faktoren den Ausschlag geben.
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Historiker_innen sind; den Antworten sollte aber immer mit einer kritischen Haltung und unter Bezugnahme auf den (auch) sozialen Charakter von Wissenschaft begegnet werden. In der aktuellen öffentlichen Rede über die Exzellenz wird jedoch der gesamte soziale Herstellungsprozess aus dem Blick genommen. Dies spiegelt sich insbesondere in einem unreflektierten Gebrauch des Wettbewerbs- und Elitebegriffes wider.11 Hierdurch wird suggeriert, wissenschaftliche Leistung und Exzellenz könne jede_r erreichen, wenn er_sie dafür geeignet ist und sich genügend anstrengt. Strukturelle Hintergründe, insbesondere gesellschaftliche Zuschreibungs- und Ausschlussprozesse, werden ausgeblendet. Dies erhöht dann wiederum die Einfallsmöglichkeiten außerwissenschaftlicher, sozialer Faktoren. Doing excellence, naturalisierende und ausgrenzende Mechanismen werden verstärkt.
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Wie verhalten sich aber nun die beiden Konstruktionsprozesse gender und Exzellenz zueinander? Meine Ausgangsvermutung ist, dass die Wirkung der Exzellenzinitiative sich in gegenläufiger, paradoxer Weise auf Gender Mainstreaming auswirkt. Auf der einen Seite sind positive, geschlechterdekonstruierende Effekte, auf der anderen Seite aber auch negative Auswirkungen zu beschreiben. In der Ausschreibung zur letzten Runde der Exzellenzinitiative wurden die sich bewerbenden Universitäten auch verpflichtet, die beantragten Maßnahmen
11 Ein eindrücklicher Beleg ist meines Erachtens das von einer Expert_innenkommission (darunter beispielsweise der Präsident des Centrums für Hochschulentwicklung Detlef Müller-Böling) der Volkswagenstiftung vorgelegte Positionspapier Eckpunkte eines zukunftsfähigen deutschen Wissenschaftssystems – Zwölf Empfehlungen. Der Text ist ein zentrales Grundlagendokument der Exzellenzinitiative. Inhaltlich wird die als unverzichtbar postulierte Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Hochschulen – und zwar durch mehr Wettbewerblichkeit in allen Bereichen – gefordert. So müsse beispielsweise die Wettbewerbsfähigkeit der Absolvent_innen gesteigert werden. Erreicht werden könne dies durch mehr Autonomie der Hochschulen sowie durch (wettbewerbliche) Ausdifferenzierung und Profilbildung: »Die Autonomie der Hochschule ist zwingende Voraussetzung für ihre erfolgreiche Arbeit im nationalen und internationalen Wettbewerb. Nötig ist dafür die Bereitschaft aller Beteiligten zu echtem Wettbewerb auf allen Feldern.« (Geiger et al. 2005: 12f.).
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bezogen auf ihre Wirkungen und Entwicklungsfortschritte hinsichtlich der Gleichstellungsstrukturen darzustellen. So wurden unter anderem die Gleichstellungskonzepte der Universitäten als Entscheidungsgrundlage für die Exzellenzanträge herangezogen. Für die Universität zu Köln lassen sich im Zusammenhang mit diesen Vorgaben positive Effekte für die Gleichstellungsarbeit feststellen. Die im Zusammenhang mit der Exzellenzbewerbung notwendig gewordene Reflexion hat auf der Leitungsebene zu einer noch stärkeren theoretischen Durchdringung des Themenkomplexes geführt und sich auch in der Praxis niedergeschlagen. In die Bewerbungsphase zur Exzellenzinitiative fällt beispielsweise die Einrichtung des auf Rektoratsebene angesiedelten Referats für Gender Qualitätsmanagement.12 Strukturell und ideell kann man hier von einem Paradigmenwechsel in der Gleichstellungsstrategie der Universität sprechen. Die Hochschule erkennt den grundgesetzlichen Auftrag zur Gleichstellung als eigene Aufgabe an und schafft entsprechende institutionelle und personelle Strukturen. Dies ist in Zeiten ernsthafter finanzieller Engpässe nicht selbstverständlich. Gleichzeitig verändert sich die Rolle der Gleichstellungsbeauftragten. Sie ist nicht mehr die einzelkämpfende, für alle Maßnahmen und Aufgaben alleinzuständige Gleichstellungsakteurin, sondern übt eine mehr kooperierende, auf struktureller Ebene impulsgebende und auch kontrollierende Funktion aus.13 Neben diesen sich aus dem Bewerbungsprozess im Vorfeld ergebenden positiven Faktoren haben auch die durch die Exzellenzgelder finanzierten GenderMaßnahmen gleichstellungsfördernden Einfluss. Zu nennen wären hier beispielsweise die inneruniversitären Zielvereinbarungen zwischen den Fakultäten und dem Rektorat, die Entwicklung von Jobsharing-Modellen auf der professoralen Ebene oder auch die Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Vereinbarkeit von Familie und wissenschaftlicher Arbeit zu verbessern. Mögliche negative Auswirkungen in Hinblick auf Gender Mainstreaming können sich im Zusammenhang mit den durch die Exzellenzinitiative verstärkten Prekarisierungs- und Hierarchisierungsprozessen ergeben. Die Exzellenzinitiative zielt ausdrücklich darauf ab, das deutsche Hochschulsystem auszudifferenzie-
12 Zu den Tätigkeitsfeldern des Referats siehe: http://www.genderqm.uni-koeln.de. 13 Vgl. zur gesamten Fragestellung und zur Entwicklung an der Universität zu Köln auch die Beiträge von Claudia Nikodem und Britt Dahmen/Annelene Gäckle in diesem Band.
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ren und zu hierarchisieren.14 Es wird eine Aufspaltung in Teaching Universities einerseits und ›Spitzenforschungs-Universitäten‹ andererseits angestrebt (Geiger et al. 2005: 5). Dies birgt eine Gefahr für den Gleichstellungsprozess. Denn eine (weitere) symbolische und materielle Abwertung von Lehre und Lehrtätigkeit betrifft Frauen stärker als Männer. Wissenschaftlerinnen haben häufiger als Wissenschaftler prekäre, auf die Lehre ausgerichtete Stellen inne (vgl. Majcher/ Zimmer 2010: 707). Eine intensive Lehrtätigkeit führt wiederum dazu, dass keine Zeit für Forschung und Publikationen bleibt (für Großbritannien vgl. Morley 2003: 155f.). Infolgedessen entsteht wiederum ein Wettbewerbsnachteil, beispielsweise in Berufungsverfahren, in denen primär auf Forschungsleistung in Form von Publikationen rekurriert wird. Darüber hinaus sind Frauen tendenziell aus höchsten universitären Leitungsebenen oder Elitezirkeln (vgl. Majcher/ Zimmer 2010: 707), wie beispielsweise Hochschulleitungen15 und informellen Netzwerken ausgeschlossen. Durch eine verstärkte Ausdifferenzierung und Hierarchisierung könnten diese Ausgrenzungsmechanismen noch verstärkt werden. In Bezug auf Prekarisierung lautet die Ausgangsvermutung, dass die Exzellenzinitiative prekarisierte Beschäftigung, also Arbeit, die von Teilzeit, Befristung und schlechter Bezahlung geprägt ist, an den Hochschulen verstärkt und dass sich dies auch negativ auf Gleichstellungsprozesse auswirkt. Die deutsche Hochschulfinanzierung befindet sich in einem Prozess der Umstrukturierung. Die grundständige, von Studierendenzahlen abhängige Förderung wird abgebaut und die projektbezogene, befristete Finanzierung durch Drittmittel und leistungsorientierte Mittelvergabe nimmt zu. Die Exzellenzinitiative, die ja auch eine Zuteilung von zeitlich befristeten Drittmitteln ist, mit denen vorrangig zeitlich befristete Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden, spielt hierbei eine wichtige Rolle. Die oben beschriebene Hierarchisierung spiegelt sich auch in einer zunehmend stärkeren Ausdifferenzierung in der finanziellen Ausstattung wider. Dies geschieht einerseits im Vergleich der Universitäten untereinander, andererseits aber auch innerhalb der Universitäten. Beispielsweise stehen den schlecht ausgestatteten grundständigen ›Massen‹-Studiengängen großzügig bemittelte und beworbene Graduiertenschulen gegenüber. Grundsätzlich wirkt hierbei wiederum ein ›Matthäus-Effekt‹, die reichen Universitäten werden reicher, die armen Universitäten werden ärmer. So sind die in der Exzellenzinitiati-
14 Der damalige DFG-Präsident Matthias Kleiner schreibt 2008 beispielsweise unmissverständlich: »Stattdessen setzte die Exzellenzinitiative nun gezielt auf Ungleichheit und auf die Förderung der so lange verpönten Elite.« (Kleiner 2008: 10). 15 Beispielsweise beträgt in Deutschland der Frauenanteil in Hochschulleitungen nur 20%, nur jede achte Universität wird von einer Frau geleitet (vgl. Keil 2012: 5).
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ve erfolgreichen Universitäten auch diejenigen, die in den allgemeinen Förderrankings der DFG die vorderen Plätze belegen, also diejenigen, die bereits die meisten Drittmittel einwerben (vgl. Hartmann 2010: 372f.). Neben der materiellen Umstrukturierung findet hier vor allem auch eine symbolische Verschiebung statt. Das klassische egalitäre System gilt als veraltet, das hierarchisierte, am »mythischen Ort« (Knobloch 2010: 178) des US-amerikanischen Hochschulsystems orientierte Modell wird zum normalen, einzig denkbaren, um den drohenden Untergang im globalisierten Wettbewerb noch abzuwenden (vgl. Geiger et al. 2005: 2). Die beschriebene Entwicklung findet vor dem Hintergrund fortschreitender allgemeiner Prekarisierungsprozesse in Bezug auf die Arbeitsbedingungen an deutschen Hochschulen statt. Nach Berechnungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kamen 2005 bei wissenschaftlichen Angestellten an Hochschulen auf ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis noch vier befristete, dagegen war 2010 bereits ein Verhältnis von eins zu acht zwischen unbefristet und befristet Beschäftigten zu verzeichnen (vgl. Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 2012: 4). All dies hat, neben weiteren, auch geschlechtsspezifische Auswirkungen, da Frauen sind von Prekarisierung stärker betroffen sind als Männer. Der Deutsche Wissenschaftsrat stellte im Mai 2012 fest, dass Wissenschaftlerinnen zu einem signifikant höheren Anteil befristet beschäftigt sind als Wissenschaftler. Immer noch herrsche bei gleichem Karrierewillen und Kompetenzen ein »Organisationsklima geschlechtsbezogener Ungleichheit« (Der Deutsche Wissenschaftsrat 2012: 23f.). Diese unmittelbare Benachteiligung führt zu weiteren, mittelbaren geschlechtsdifferenzierenden Diskriminierungen. So sind beispielsweise Wissenschaftlerinnen an deutschen Hochschulen zu einem deutlich höheren Anteil kinderlos als ihre männlichen Kollegen (vgl. MetzGöckel/Möller/Aufderkorte-Michaelis 2009: 160). Zu vermuten ist, dass eine zunehmend niedrige Entlohnung und unsichere Berufsaussichten sich nicht mit der Familienverantwortung vereinbaren lassen, die immer noch zu einem weit höheren Anteil von Frauen getragen wird. An dieser Stelle trifft also die geschlechtsdifferenzierende Benachteiligung im akademischen Bereich auf die geschlechtsdifferenzierende Benachteiligung in der familiären Sphäre, wobei zwischen beiden Phänomenen wiederum Wechselwirkungen möglich sind. Weiter zunehmende Prekarisierung, Wettbewerbs- und Konkurrenzdruck können sich hier in verstärkender Weise addieren. Im Ergebnis kann also festgehalten werden, dass durch die Exzellenzinitiative tatsächlich gegenläufige, einerseits Gender Mainstreaming fördernde, andererseits aber auch Gender Mainstreaming hemmende Prozesse ausgelöst werden können.
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P ERSPEKTIVENERWEITERUNGEN Nach diesen eher konkret-praktischen Betrachtungen sollen abschließend einige theoretische Fragestellungen zu doing excellence skizziert werden: Die beschriebenen gegenläufigen Entwicklungen im Bereich der Hochschule lassen sich aus einer queertheoretischen Perspektive betrachten und im Zusammenhang mit Überlegungen zu allgemein gesellschaftlichen Entwicklungen reflektieren. Bezüglich des ›neoliberalen Umbaus‹ des Sozialstaates wird die These vertreten, dass hierdurch die Geschlechterverhältnisse in paradoxer Weise sowohl verfestigt also auch flexibilisiert würden. Gerade diese Zwiespältigkeit werde genutzt, um die Subjekte ökonomisch zu mobilisieren. Vor diesem Hintergrund könne nicht von einer einfachen Benachteiligung bestimmter stabiler geschlechtlicher oder sexueller Identitäten gesprochen werden. Frauen seien folglich weder als Verliererinnen noch als Gewinnerinnen der gesellschaftlichen Veränderungen zu betrachten. Gerecht werde man dem Phänomen durch eine Analyse des Zusammenwirkens von Ausschluss- und Ermächtigungsmechanismen. Zu untersuchen seien daher keine sozioökonomischen Identitäten, sondern eine unterschiedliche Eingebundenheit in Machtverhältnisse, also das wechselseitige Zusammenwirken verschiedener sozialer Ausschlussmechanismen (vgl. Woltersdorf 2008: 191f.). Man könnte also doing excellence und doing gender aus einer intersektionalen Perspektive betrachten. Bildet sich in den Begriffen ›Exzellent‹/ ›Nicht Exzellent‹ eine neue Differenzkategorie heraus? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es und welche Wechselwirkungen lassen sich beschreiben? Eine Parallele in der Herstellung von Exzellenz und gender könnte in einer diskursiven Verschiebung von einer auf Strukturen fokussierten Betrachtung hin zu einer individualisierten Perspektive gesehen werden: In den aktuellen Diskursen gewinnt ein Genderbegriff an Dominanz, der verbirgt, dass die Forderung nach Gender Mainstreaming ursprünglich auf die Reform struktureller Ursachen von Geschlechterkonstruktionen bezogen war. Es werden individuelle Lösbarkeiten der geschlechtsdifferenzierenden Probleme behauptet und damit strukturelle Gründe für Benachteiligungen verschleiert. Damit geht einher, dass strukturelle Hindernisse sowie kontextuell bedingte Probleme und Schwierigkeiten von den individuell Betroffenen auf die eigene Person bezogen und damit in individuell zu lösende bzw. zu überwindende Problemlagen umgedeutet werden (vgl. Frey et al. 2006, Soiland 2009: 39f., Majcher/Zimmer 2010: 707). Zu fragen wäre, ob der Exzellenz-Begriff mit vergleichbaren Implikationen versehen wird. Wohnt dem Exzellenz-Diskurs die von mir oben behauptete essentialistische Tendenz inne, indem er suggeriert, dass jede_r Mensch im freien,
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fairen ›Wettbewerb‹ exzellent werden kann? Wird es dann als individuelles Versagen, mangelnde Begabung oder Eignung angesehen, wenn Frau (oder auch Mann oder auch Menschen mit anderen sexuellen Identitäten) nicht exzellent ist oder sich zumindest nicht dafür hält? Gibt es Personengruppen, die von der Gefahr, sich irrtümlich zu unterschätzen oder unterschätzt zu werden und damit Ausschlussprozessen zu unterliegen, stärker betroffen sind als andere? Wenn ja, findet hier vielleicht auch eine Verschiebung statt? Um nur eine Vermutung anzureißen: Könnte es sein, dass die Ausgrenzung von Menschen, denen die Eigenschaft ›weiblich‹ zugeschrieben wird, abnimmt, während Personen mit einem sogenannten ›bildungsfernen Hintergrund‹ in steigendem Maße von Ausschlüssen betroffen sind?
L ITERATUR Augspurg, Katrin/Heidler, Richard/Güdler, Jürgen (2008): »Herausbildung einer Akademischen Elite? Zum Einfluss der Größe und Reputation von Universitäten auf Forschungsförderung«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 4, S. 653-685. Augspurg, Katrin/Heidler, Richard/Güdler, Jürgen (2009): »Gespensterdebatte oder was ist soziologische Aufklärung. Replik auf die Kommentare von Richard Münch sowie Dorothea Jansen, Richard Heidler und Regina von Goertz«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 61, S. 469-474. Beaufaूs, Sandra (2003): Wie werden Wissenschaftler gemacht? Beobachtungen zur wechselseitigen Konstitution von Geschlecht und Wissenschaft, Bielefeld: transcript. Bornmann, Lutz (2011): »Scientific Peer Review«, in: Annual Review of Information Science and Technology 45, S. 199-245. Bultmann, Thorsten (2012): »Ungleichheit als politisches Programm – die Exzellenzinitiative«, denk-doch-mal.de, Ausgabe 2, abgerufen unter: http://www.denk-doch-mal.de/node/462 vom 04.01.2013. Champagne, Patrick/Chartier, Roger (2004): Pierre Bourdieu et les médias: Rencontres INA-Sorbonne. 15 mars 2003, Paris: Éditions L’Harmattan. Deutsche Forschungsgemeinschaft (2012): Deutsche Forschungsgemeinschaft. Förderatlas 2012. Kennzahlen zur öffentlich finanzierten Forschung in Deutschland, Weinheim: WILEY-VCH Verlag. Deutsche Forschungsgemeinschaft/Wissenschaftsrat (2012): Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder zur Förderung von Wissenschaft und Forschung
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Woltersdorf, Volker (2008): »Queer und Hartz IV? Arbeit, Ökonomie, Sexualität und das Geschlecht im Neoliberalismus«, in: Nina Degele/Christian Dries/Dominique Schirmer (Hg.), Gender/Queer Studies, Paderborn: Wilhelm Fink, S. 181-193.
2.2 (Ge-)Schlecht in der Schule: Lernen
Geschlechtsunterschiede in der Schule Wie die Identitätsentwicklung Jugendlicher mit ihrem schulischen Engagement interagiert U RSULA K ESSELS
1. I DENTITÄTSENTWICKLUNG
IM SCHULISCHEN
K ONTEXT
In der Schule werden von den Schülerinnen und Schülern nicht nur Wissen und Kompetenzen erworben. In unserem Modell der Identitätskongruenten Nutzung des schulischen Angebots wird erklärt, inwiefern die Schule darüber hinaus einen zentralen Raum für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen insgesamt darstellt und Jugendliche beispielsweise durch spezifische schulische Vorlieben respektive Abneigungen ihre eigene Identität entwickeln und nach außen demonstrieren (vgl. Kessels/Hannover 2004, Kessels 2007). Nach einer allgemeinen Einführung in dieses Modell soll im folgenden Beitrag fokussiert werden, inwiefern spezifische schulische Schwerpunktsetzungen oder Varianten des schulischen (Des-)Engagements funktional für die Entwicklung der Geschlechtsidentität von Jugendlichen sind. Was meint der Begriff ›Identität‹ innerhalb der Psychologie? Vorrangig meint Identität die vom Individuum erlebte Kohärenz und Kongruenz; Eriksons sense of identity (1950) beinhaltet explizit das Gefühl der eigenen, zeit- und situationsüberdauernden Kontinuität und der Einigkeit mit sich selbst. In entwicklungspsychologischen Konzeptionen wird Identität auch als das Ergebnis einer aktiven Suche, Definition oder Konstruktion des Selbst verstanden (vgl. Flammer/Alsaker 2002). Sozialpsychologische Theorien verwenden statt Identität häufiger den Begriff des Selbstkonzeptes und verstehen darunter
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»eine äußerst umfassende, hoch differenzierte Gedächtnisstruktur […], in der sämtliche Informationen repräsentiert sind, die eine Person im Laufe des Lebens über sich selbst gespeichert hat.« (Hannover/Pöhlmann/Springer 2004: 322)
Das Selbstkonzept umfasst also das Wissen um und über die eigene Person. Ein zentraler Teil dieses Selbstkonzeptes bezieht sich auf die eigene Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtsrolle, was im vorliegenden Beitrag im Vordergrund stehen soll. Insgesamt gilt die Entwicklung der eigenen Identität als die zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters. Jugendliche erleben grundlegende Veränderungen im kognitiven, sozialen und körperlichen Bereich, weshalb sich bei ihnen die Frage danach, wer oder was man selbst ist, ganz neu stellt: Das Jugendalter stellt »Identitätsaufgaben« (Finkenauer et al. 2002: 26). Diese Identitätsaufgaben spielen auch für den Umgang mit Schule und Lernen eine Rolle. In der Theorie der Identitätskongruenten Nutzung des schulischen Angebots (vgl. Kessels/Hannover 2004; Kessels 2007) haben wir dargestellt, dass auch die Schule mit ihren vielfältigen Lernangeboten als ein Raum zu verstehen ist, den Jugendliche für die Entwicklung ihrer Identität nutzen. Wir schlugen vor, die differentielle Nutzung des schulischen Angebots, die in einem spezifischen Interessensprofil mündet (z.B. ›Lieblingsfächer Mathe und Physik‹), als funktional für die Entwicklung der Identität oder des Selbst der Jugendlichen zu begreifen. In dem Maße, in dem ein Schüler oder eine Schülerin sich für bestimmte Fächer oder Domänen interessiert und dies durch entsprechendes Engagement auch sichtbar macht, wird er oder sie auch die sozial geteilten Bedeutungen, die mit den Schulfächern jeweils verbunden sind, in das eigene Selbst integrieren. Die sozial geteilten Annahmen über Schulfächer können sich zum einen auf die Merkmale der Domäne oder des Schulfaches (Gegenstandsbereich, typische Unterrichtsskripts) beziehen (›Image eines Schulfaches‹), zum anderen auch auf Eigenschaften von Personen, die ein bestimmtes Fach mögen oder dort erfolgreich sind (›Prototyp eines Faches‹, z.B. ›typischer‹ Schüler mit dem Lieblingsfach Physik). Aus der psychologischen Forschung ist bereits seit langem bekannt, dass sich Personen solchen Inhaltsbereichen, die sie als passend zu zentralen Aspekten der eigenen Identität ansehen, wahrscheinlicher zuwenden als zu Inhaltsbereichen, die sie als nicht kongruent zu zentralen Aspekten der eigenen Identität empfinden (vgl. Kohlberg 1966). Martin, Eisenbud und Rose (1995) konnten in Bezug auf geschlechtstypisierte Spielzeugwahlen bei Kindergartenkindern beispielsweise zeigen, dass Kinder aus neuartigen, ihnen bisher unbekannten Spielzeugen vorrangig dasjenige auswählten, das zuvor seitens der Versuchsleiterin als zum eigenen Geschlecht zugehörig gelabelt worden war, also den Kindern
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gegenüber als ›Mädchenspielzeug‹ oder ›Jungenspielzeug‹ bezeichnet worden war. Wir haben in mehreren Untersuchungen gezeigt, dass in Deutschland gerade den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern soziale Bedeutungen zugeschrieben werden, die die meisten Jugendlichen nicht als Teil ihrer eigenen Identität sehen möchten. Dies galt in vielerlei Hinsicht für Jugendliche beiderlei Geschlechts. Jugendliche schrieben fiktiven typischen Schülerinnen und Schülern, die Physik oder Mathematik als Lieblingsfächer haben, vorrangig solche Eigenschaften zu, die eher negativ zu bewerten sind. Jugendlichen, die sich für mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer interessieren, wurde eine geringere physische und soziale Attraktivität (z.B. ›beliebt‹, ›respektiert‹), weniger soziale Kompetenz und Integriertheit (z.B. ›gesellig‹, ›gehemmt‹), mehr Arroganz und Selbstbezogenheit (z.B. ›besserwisserisch‹, ›eingebildet‹) und weniger Kreativität und Emotionalität (z.B. ›phantasievoll‹, ›romantisch‹) zugeschrieben als Jugendlichen, die sprachlich-geisteswissenschaftliche Fächer bevorzugen. Allerdings wurden den naturwissenschaftlich-mathematischen Prototypen auch Eigenschaften, die auf hohe Intelligenz und Motivation (z.B. ›gebildet‹, ›ehrgeizig‹) hinweisen, in stärkerem Maße zugeschrieben als den sprachlich-geisteswissenschaftlichen (vgl. Hannover/Kessels 2004, Kessels/Hannover 2002). Diese Vorstellungen Jugendlicher über Merkmale der Prototypen sind nun für die eigenen Fachvorlieben und -wahlen höchst relevant: Wir haben in mehreren Studien zeigen können, dass aus der subjektiv empfundenen Nähe zwischen dem eigenen Selbst und dem Bild, das von diesen prototypischen Fachvertretenden existiert, das Mögen oder Wählen eines Faches vorhergesagt werden kann. Hierbei stützten wir uns auf die von Niedenthal und Kollegen entwickelte Theorie des Selbst-Prototypen-Abgleichs (self-to-prototype matching) (vgl. Niedenthal/ Cantor/Kihlstrom 1985). Diese Autoren und Autorinnen postulierten, dass bei anstehenden Entscheidungen, bei denen zwischen mehreren Optionen zu wählen ist (z.B. ›Welches Auto soll ich mir kaufen?‹), die jeweils prototypischen Personen, die eine der verschiedenen Optionen wählen, imaginiert und mit dem eigenen Selbst verglichen werden. Aufgrund der Prämisse, dass Personen nach Selbstkonsistenz und Selbstverifikation streben, wird erwartet, dass sie vor allem solche Situationen aufsuchen, die das eigene Selbstbild bestätigen. Bei Wahlen mit verschiedenen Optionen wird entsprechend erwartet, dass diejenige Option gewählt wird, für die die größte Ähnlichkeit zwischen prototypischer Person, die die Option wählt, und dem eigenen Selbst festgestellt wird. Dieser SelbstPrototypen-Abgleich kann als eine Heuristik bei Entscheidungsprozessen verstanden werden, durch die man systematisch Situationen wählt, die mit dem eigenen Selbstbild konsistent sind.
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Basierend auf dieser Theorie des Selbst-Prototypen-Abgleichs konnten wir für die Entwicklung schulischer Interessen zeigen, dass Jugendliche ein Schulfach umso lieber mögen, je größer die Ähnlichkeit zwischen ihrem eigenen Selbstbild und den Prototypen von Schülern ist, die dieses Fach als Lieblingsfach haben (vgl. Hannover/Kessels 2004). Auch die faktischen Leistungskurswahlen (an deutschen Gymnasien) bzw. die Wahl eines schulischen ›Profils‹ (an niederländischen Schulen) konnten durch die subjektiv wahrgenommene Passung zwischen Prototyp und Selbstbild vorhergesagt werden (vgl. Kessels/ Taconis 2012, Taconis/Kessels 2009). Auch bei den Berufswahlabsichten Jugendlicher spielt der Abgleich zwischen Selbst und Prototypen eine Rolle, wie wir in einer weiteren Studie zeigten (vgl. Kessels/Hannover 2002): Je ähnlicher die Selbstbeschreibungen der Jugendlichen den Beschreibungen verschiedener Prototypen waren, desto lieber wollten sie einen mit dem entsprechenden Prototyp verbundenen Beruf ergreifen und umso erfolgszuversichtlicher waren sie gegenüber dieser Berufswahl. Auch wenn diese Mechanismen der identitätskongruenten Nutzung des schulischen Angebots grundsätzlich bei männlichen und weiblichen Jugendlichen greifen, ergeben sich jedoch für beide Geschlechter ganz spezifische Passungsprobleme zwischen dem Selbst und bestimmten Inhalten oder Formen des schulischen Engagements. In den folgenden Abschnitten wird zunächst die Passung des Selbstbildes von Mädchen zu den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) und danach die subjektiv empfundene Passung des Selbstbildes von Jungen zu schulischem Engagement insgesamt thematisiert.
2. F OKUS : E NGAGEMENT VON M ÄDCHEN IN MATHEMATISCH - NATURWISSENSCHAFTLICHEN F ÄCHERN Junge Frauen studieren sehr viel seltener als Männer ein Fach aus dem MINTBereich und sind in den meisten technischen und ingenieurwissenschaftlichen Fächern sehr stark unterrepräsentiert (z.B. waren im Jahr 2005 nur 17 Prozent aller Maschinenbaustudierenden und 9 Prozent aller Elektrotechnikstudierenden). Entsprechend finden sich geschlechtsspezifische Fachwahlen bereits während der Schulzeit, z.B. bei den Leistungskurswahlen: Das Verhältnis von Jungen zu Mädchen in den Mathematik-Leistungskursen betrug im Schuljahr 2009/10 im Land Nordrhein-Westfalen etwa 3:2 und in den Physik-Leistungskursen sogar nur 4:1 (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NordrheinWestfalen 2010). Vor allem das Fach Physik hat unter Jugendlichen den Ruf, ein
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›Jungenfach‹ zu sein: In einer Studie, in der Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe alle Schulfächer danach beurteilen sollten, ob sie diese als ›Mädchenfach‹, ›Jungenfach‹ oder ›weder-noch‹ bezeichnen würden (vgl. Hannover/Kessels 2002), wählten immerhin 46 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe für Physik die Bezeichnung ›Jungenfach‹ aus, womit es neben den Fächern Kunst, Musik und Sport zu den am stärksten geschlechtstypisierten Fächern gehörte. Bei anderen Schulfächern wurde deutlich häufiger die Option ›weder-noch‹ gewählt (z.B. fanden 81 Prozent der Befragten, dass Deutsch weder ein Jungen- noch ein Mädchenfach sei). Auch schreiben sowohl Lehrkräfte als auch Eltern als auch Jugendliche Jungen mehr Interesse und Begabung für Mathematik zu als Mädchen (vgl. z.B. Chatard/Guimond/ Selimbegovic 2007, Frome/Eccles 1998, Steffens/Jelenec/Noack 2010). Darüber hinaus hat die psychologische Forschung auch sogenannte ›implizite‹ Geschlechtsstereotype in Bezug auf Mathematik und Naturwissenschaften erforscht. Hiermit sind automatische Assoziationen zwischen mentalen Konzepten gemeint, die als Ergebnis eines lebenslangen Lernprozesses gelten und den Personen selbst gar nicht bewusst sein müssen. Diese impliziten Stereotype werden beispielsweise mit dem Impliziten Assoziationen Test (IAT; vgl. Greenwald/ McGhee/Schwartz 1998) erhoben, einem in der sozialpsychologischen Forschung umfassend erprobten Messinstrument. Diesem computergestützten Verfahren liegt die Annahme zugrunde, dass es anhand von Reaktionszeiten möglich ist, die relative Stärke der Assoziationen zwischen verschiedenen Kategorien zu messen. Zahlreiche Studien zeigten, dass Schülerinnen und Schüler sowie Studierende deutliche implizite, automatische ›Mathematik = männlich‹ Assoziationen aufweisen (vgl. z.B. Cvencek/Meltzoff/Greenwald 2011, Nosek/Banaji/ Greenwald 2002, Steffens/Jelenec/Noack 2010) bzw. ebenfalls automatische ›Physik = männlich‹ Assoziationen (vgl. Kessels/Rau/Hannover 2006), wobei die Assoziation von Physik mit männlich bei den an der Studie teilnehmenden Mädchen sogar signifikant stärker ausgeprägt war als bei den Jungen1. Zusammenfassend kann also sowohl auf der Ebene ›expliziter‹ als auch ›impliziter‹ Stereotype festgestellt werden, dass Mathematik und Physik im Durchschnitt als weniger gut zu Mädchen als zu Jungen passend charakterisiert werden. Vor dem Hintergrund der im ersten Abschnitt diskutierten Wichtigkeit der subjektiv empfundenen Passung zwischen Schulfach und Selbst für das Engagement in diesem Fach ergibt sich der Schluss, dass sich Mädchen dem MINT-
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Eine ausführliche Darstellung der impliziten Messverfahren und der ihnen zugrundeliegenden Untersuchungsparadigmen geht leider über den Rahmen dieses Kapitels hinaus. Näheres ist nachzulesen z.B. bei Greenwald, Nosek und Banaji (2003).
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Bereich weniger wahrscheinlich zuwenden werden, weil sie im Durchschnitt eine größere Distanz zwischen eigenem Selbst und diesen Fächern empfinden. Wie werden Mädchen wahrgenommen, die sich für Physik interessieren und dort besonders gut sind? Schülerinnen und Schüler achter und neunter Klassen wurden in einer weiteren Studie (vgl. Kessels 2005) danach gefragt, was sie glaubten, wie beliebt Jungen bzw. Mädchen wären, die die Klassenbesten in Physik bzw. Musik (als Fach, das in der Studie von Hannover und Kessels (2002) am stärksten als ›Mädchenfach‹ bezeichnet worden war) sind. Im Einzelnen hatten die Jugendlichen anzugeben, wie beliebt ihrer Meinung nach ein Mädchen bzw. ein Junge bei den Jungen/bei den Mädchen der Klasse wäre, das oder der entweder in Physik oder aber in Musik Klassenbeste bzw. Klassenbester ist. Die Ergebnisse zeigten, dass die Jugendlichen annahmen, dass ein Mädchen, das Klassenbeste in Physik ist, bei den Jungen ihrer Klasse weniger beliebt sein würde als ein Junge, der in Physik der Beste ist. In der gleichen Untersuchung sollten die Befragten auch einschätzen, wie beliebt sie wohl selbst bei den Jungen und Mädchen aus ihrer Klasse seien. Auch wurde die Note erhoben, die sie im letzten Zeugnis in Physik bzw. Musik hatten. So konnten wir überprüfen, ob Mädchen, die in Physik besonders gute Noten hatten, sich auch tatsächlich von ihren männlichen Klassenkameraden abgelehnt fühlen. Und genau dieses zeigte sich: Mädchen, die in Physik eine 1 oder 2 im Zeugnis hatten, glaubten von sich selbst, bei den Jungen ihrer Klasse besonders wenig beliebt zu sein. Mädchen mit schlechteren Physiknoten hielten sich dagegen für deutlich beliebter beim anderen Geschlecht. Aber warum gelten Mädchen als wenig beliebt bei Jungen, wenn sie in Physik sehr gut sind? Spielen die Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden, eine Rolle dabei? Wir hatten in der gleichen Untersuchung die Jugendlichen dazu befragt, in welchem Ausmaß sie Schülerinnen und Schülern, die die Fächer Musik bzw. Physik jeweils als Lieblingsfächer haben, geschlechtstypische Eigenschaften zuschreiben oder aberkennen, also die Prototypen anhand von Eigenschaften beschreiben lassen, die in Vorstudien als besonders typisch für Jungen respektive Mädchen bezeichnet worden waren. Einem Mädchen mit dem Lieblingsfach Physik wurden deutlich weniger feminine und mehr maskuline Eigenschaften zugeschrieben als einem Mädchen mit dem Lieblingsfach Musik. Wir können daraus ableiten, dass unter Jugendlichen Engagement im Fach Physik bei Mädchen als Indiz für ihre mangelnde Weiblichkeit gilt. Außerdem zeigte die Studie, dass der typische ›Physikfan‹ besonders wenig Ähnlichkeit mit dem Bild aufwies, das die meisten Mädchen von sich selbst hatten. Und in Übereinstimmung mit den anderen, oben zitierten Studien zum Selbst-Prototypenabgleich zeigte sich auch in dieser Studie, in der die geschlechtstypisierten Eigen-
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schaften der Prototypen fokussiert wurden, dass die Mädchen das Fach Physik umso stärker ablehnten, je stärker ihr Bild vom typischen Physikfan von ihrem eigenen Selbstbild abwich (vgl. Kessels 2005). Eine qualitative Studie aus den Niederlanden baute auf diesen Befunden auf (vgl. Rommes et al. 2007) und analysierte Einzel- und Gruppeninterviews, um zu verstehen, warum Mädchen im Bereich der Computerwissenschaften unterrepräsentiert sind. Auch in dieser Untersuchung fanden sich Hinweise darauf, dass berufliche Wahlen auf dem SelbstPrototypen-Abgleich basieren, wobei auch solche Eigenschaften der Prototypen für den Abgleich wichtig waren, die für die Ausübung der Profession vollkommen irrelevant waren, wie z.B. das Ausmaß an sexueller Attraktivität. Zusammengefasst weisen diese verschiedenen Befunde darauf hin, dass die spezifischen Prototypen über Mädchen, die sich in Mathematik und Naturwissenschaften engagieren, sowie das Image des MINT-Bereichs dazu beitragen, dass sich Schülerinnen aus diesem Bereich zurückziehen. Maßnahmen, die die subjektiv empfundene Passung erhöhten, würden entsprechend das Engagement von Mädchen im MINT-Bereich steigern können. Eine genauere Darstellung möglicher Interventionen geht leider über den Umfang dieses Kapitels hinaus (vgl. hierzu Kessels 2012).
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Zwar wählen Jungen und Männer deutlich häufiger als Mädchen und Frauen MINT-Fächer in ihrer akademischen Ausbildung, aber der Bildungserfolg der Jungen insgesamt ist im Vergleich zu dem der Mädchen weniger gut (für einen aktuellen Überblick vgl. Hannover/Kessels 2011). Unter denjenigen, die maximal einen Hauptschulabschluss erreichen, sind Jungen im Vergleich zu Mädchen überrepräsentiert: Im Schuljahr 2008/2009 kamen auf zehn Jungen, die die Schule ohne Abschluss verließen, ca. sechs Mädchen (Verhältnis 1,59) und auf fünf Jungen, die nur einen Hauptschulabschluss erzielten, kamen ca. vier Mädchen (Verhältnis 1,34). Auf der anderen Seite kamen auf vier Jungen, die die Hochschul- oder Fachhochschulreife erzielten, ca. fünf Mädchen (Verhältnis 0,79) (Statistisches Bundesamt 2010: 136). Dieser Bildungsvorsprung der Mädchen hat sich erst in den letzten Jahrzehnten ergeben (vgl. Helbig 2010): Im Jahre 1965 hatten Mädchen im Vergleich zu Jungen nur eine Chance von 0,62, das Abitur zu erlangen, und erst im Jahre 1975 waren das Verhältnis ausgeglichen. Ab den 80er Jahren zeigte sich in den Abiturquoten ein Vorsprung der Mädchen, der sich seit 1990 kontinuierlich vergrößert (vgl. Helbig 2010).
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Welche Ursachen diesem geringeren schulischen Erfolg der Jungen zugrunde liegen, wird seit einigen Jahren auch in Deutschland ausführlich diskutiert (in den angelsächsischen Ländern ist das sogenannte underachievement der Jungen bzw. der gender gap zuungunsten der Jungen schon länger Thema, vgl. z.B. Stamm 2008). In einem Überblicksbeitrag von Hannover und Kessels (2011) sind die wichtigsten Stränge zur Erklärung dieses Phänomens zusammengefasst, die hier in Kürze wiedergegeben werden sollen. Mädchen erreichen, wenn durch standardisierte Tests erfasste Kompetenzen statistisch kontrolliert werden, bessere Noten als Jungen und erhalten auf der Grundlage ihrer besseren Noten auch wahrscheinlicher eine Gymnasialempfehlung als Jungen, welche eine für die weitere Bildungslaufbahn ganz entscheidende Weichenstellung darstellt. Warum Mädchen bessere Noten erreichen als Jungen, wird in der Literatur unter anderem dadurch erklärt, dass Mädchen in stärkerem Maße als Jungen Verhaltensweisen, Eigenschaften und Einstellungen zeigen, die – über die fachlichen Kompetenzen hinausgehend – für schulischen Erfolg maßgeblich sind: So zeigten verschiedene Studien, dass Mädchen angeben, mehr Engagement für die Schule aufzubringen, indem sie mehr Zeit pro Woche mit der Bearbeitung von Hausaufgaben verbringen als Jungen (vgl. Spiel/Wagner/Fellner 2002) und sich dabei im Durchschnitt auch mehr anstrengen (vgl. Trautwein et al. 2006), wohingegen Jungen bei schulischen Aufgaben stärker zur Arbeitsvermeidung neigen als Mädchen (vgl. Steinmayr/Spinath 2008). Die ›Lernbereitschaft‹ von Mädchen ist nach Einschätzung ihrer Eltern höher als die von Jungen, was in der Analyse der ELEMENT-Daten durch Neugebauer (2011) die häufigeren Gymnasialempfehlungen der Mädchen erklärt: Bei gleicher Leistung und gleicher Lernbereitschaft erhielten Jungen sogar häufiger als Mädchen eine Empfehlung für das Gymnasium. Auch im Bereich der Persönlichkeitsmerkmale zeigen sich im Durchschnitt höhere Ausprägungen bei Mädchen auf Merkmalen, die mit Erfolg in Schule und Studium korrelieren. So sind bei Mädchen beispielsweise mehrere Facetten von ›Gewissenhaftigkeit‹ stärker ausgeprägt als bei Jungen (vgl. De Fruyt et al. 2008, Freudenthaler/Spinath/Neubauer 2008) – und je gewissenhafter Jugendliche und junge Erwachsene sind, desto besser sind ihre Noten in Schule und Studium (vgl. Chamorro-Premuzic/Furnham 2003). Auch auf der Persönlichkeitsdimension ›Verträglichkeit‹ zeigen mehrere Studien höhere Werte für Mädchen (zusammenfassend Costa/Terracciano/McCrae 2001). Auch dieses Merkmal ist mit guten Noten korreliert: Laidra, Pullmann und Allik (2007) fanden, dass im Grundschulalter jene Kinder gute Noten erzielten, die (im Selbstbericht erhobene) Eigenschaften der ›Verträglichkeit‹ aufwiesen, also kooperativ, freundlich und ver-
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trauensvoll waren. Duckworth und Seligman (2006) untersuchten, ob die Geschlechtsunterschiede in erzielten Schulnoten (bei Kontrolle der mit standardisierten Tests gemessenen Kompetenzen) durch Geschlechtsunterschiede in Selbstdisziplin erklärt werden konnten. Die Selbstdisziplin wurde in dieser Studie nicht nur im Selbstbericht, sondern auch im Fremdbericht sowie durch ein Verhaltensmaß erfasst. Erwartungsgemäß zeigte sich, dass Mädchen höhere Selbstdisziplin aufwiesen als Jungen und dass der Geschlechtsunterschied in den Schulnoten durch diese höhere Selbstdisziplin der Mädchen erklärt werden konnte: Jungen und Mädchen, die gleich hohe Selbstdisziplin und gleiche Kompetenzen aufweisen, unterschieden sich nicht in den Noten. Zusammengefasst zeigen also verschiedene Studien, dass »Schüler/innen, die fleißig, zuverlässig, gut organisiert, verantwortungsbewusst und diszipliniert sind, […] ein dem Schulerfolg zuträgliches Arbeitsverhalten an den Tag [legen] und […] entsprechend bessere Noten [erreichen]« (Hannover/Kessels 2011: 96)
– unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht. Allerdings sind im Durchschnitt diese Merkmale bei Mädchen faktisch stärker ausgeprägt als bei Jungen. Auch die kognitiven und affektiven Einstellungen gegenüber Schule und Lernen sind bei Jungen weniger positiv als bei Mädchen (vgl. z.B. Freudenthaler et al. 2008, Hadjar/Lupatsch/Grünewald-Huber 2010, van Ophuysen 2008). Ein weiterer Forschungsstrang, der die schlechteren Noten der Jungen zu erklären versucht, fokussiert spezifische jungentypische Verhaltensweisen, die eine ganz explizite Distanzierung von Schule mit einschließen. Unter dem Begriff des laddish behaviour wird – vor allem in England – das Inszenieren und demonstrative Zurschaustellen einer ›harten‹ Männlichkeit durch männliche Jugendliche verstanden (vgl. Mac an Ghaill 1994, Willis 1977). Dazu gehören das Inszenieren von körperlicher Stärke und Rebellion ebenso sowie das Demons trieren von Trinkfestigkeit und Fußballbegeisterung, abwertende Einstellungen gegenüber Frauen und – ebenso zentral – das Ablehnen von Autoritäten und schulischem Lernen. Vor allem dieser Erklärungsansatz ist mit dem Modell der Identitätskongruenten Nutzung des schulischen Angebots gut kompatibel, weil hier expliziert wird, inwiefern zentrale Aspekte eines maskulinen Selbstbildes mit schulischem Engagement unvereinbar scheinen. Welche empirischen Belege existieren für die Annahme, dass schulisches Engagement als unmännlich gilt und bei männlichen Jugendlichen entsprechend eine – im Vergleich zu Mädchen – geringe Passung zwischen ihrem Selbstbild und aktiver schulischer Mitarbeit besteht? In qualitativen Interviews von Jackson (vgl. Jackson 2002, Jackson/Dempster 2009) äußerten Jungen und junge Männer
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beispielsweise, dass sie einen großen Prestigeverlust vor ihren peers und gleichzeitig eine Beschädigung ihrer Männlichkeit befürchten, wenn sie sichtbare Anstrengung für die Schule zeigen würden. Die Haltung der befragten Jungen und jungen Männer sei, so Jackson, durch den uncool to work/effortless achievementDiskurs geprägt: Zwar schädigten gute Leistungen in der Schule als solche noch nicht das Ansehen der Jungen, wohl aber das offensichtliche Arbeiten für diese Leistungen. Nur durch Leistung ohne Anstrengung (effortless achievement) würden klassische Werte von Männlichkeit (wie Unabhängigkeit, Individualität, etc.) ausgedrückt und zudem die jeweils gezeigte Leistung als qualitativ wertvoller angesehen, indem sie die ›wahre, natürliche, männliche‹ Intelligenz (und nicht bloß Fleiß) widerspiegele, so Jacksons Interpretation der Interviewaussagen. Auch Störverhalten und generelles Ablehnen schulischen Engagements, Kernelemente des sogenannten laddish behaviour, seien laut Jackson (2002) als Strategien von Jungen zu verstehen, den eigenen Selbstwert bzw. social worth in der Peergroup zu schützen bzw. zu erhöhen. Auch die von Renold (2001) interviewten Jungen gaben zu Zweidrittel an, möglichst nicht den Anschein zu erwecken, etwas für die Schule zu tun, um nicht von den Klassenkameraden gehänselt zu werden. Budde (2009) thematisiert, dass Lehrkräfte gerade jene Verhaltensweisen von Jungen, mit denen diese ihre Männlichkeit zu demonstrieren suchen, negativ bewerten, weil der ›tradierte männliche Habitus‹ als zunehmend unangemessen gilt und mit schulisch erwünschtem Verhalten kollidiere. Zusammengefasst nehmen also verschiedene Autoren an, dass (eine bestimmte Form von) Männlichkeit mit schulischem Engagement schwer vereinbar sei bzw. von Jungen und auch von Lehrkräften als wenig vereinbar mit schulischem Engagement angesehen werde. Allerdings beruhen diese Schlüsse vorrangig auf Interpretationen einzelner Äußerungen in qualitativen Interviews, so dass hierbei nicht geprüft werden konnte, ob die postulierten Zusammenhänge empirisch tatsächlich bestehen. Ob dem schulischen Erfolg abträgliches Verhalten tatsächlich mit einer spezifischen Art der psychologischen Maskulinität korreliert ist, haben wir an einer Stichprobe von deutschen OberstufenschülerInnen untersucht (vgl. Kessels/Steinmayr 2013). In dieser Studie wurden Einstellungen zum akademischen Hilfesuchen mit dem Geschlechtsrollen-Selbstkonzept in Beziehung gesetzt. Es zeigte sich, dass die Bereitschaft, sich benötigte Hilfe und Unterstützung beim Lernen zu suchen, umso geringer war, je mehr (sozial unerwünschte) Eigenschaften sich die Jugendlichen auf Selbstberichtsmaßen zugeschrieben hatten, die als maskulin galten (keine Zusammenhänge mit ebenfalls sozial unerwünschten Eigenschaften, die als typisch für Mädchen gelten). Zudem wurden die Noten
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derjenigen Jungen, die sich als hoch maskulin beschrieben, im Verlauf eines halben Schuljahres schlechter, was über ihre negativen Einstellungen zum Hilfesuchen vermittelt war (vgl. Kessels/Steinmayr 2013). Zusammengefasst weisen also verschiedene Studien darauf hin, dass eine bestimmte Form des maskulinen Selbstbildes – in den Augen von Jungen, aber auch von Lehrkräften – als schlecht vereinbar mit schulischem Engagement gilt und dass sich Jungen in der Schule zu wenig anstrengen, weil sie nach außen hin möglichst ›cool‹ und männlich erscheinen wollen. Eine genauere Untersuchung dieser Zusammenhänge könnte dazu beitragen, den relativ schlechteren Schulerfolg von Jungen zukünftig besser zu verstehen.
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Gendering/Queering the Language Classroom Gender und Queer Studies als Herausforderung für das schulische Fremdsprachenlernen A NDREA G UTENBERG
Die allumfassende und lebensbestimmende Wirkung von gender als Variable unserer Identitätsentwürfe hat Helene Decke-Cornill wie folgt auf den Punkt gebracht: »Geschlecht ist eine dichotomisierende Kategorie, die die Existenz und Selbst- und Fremdwahrnehmung von Menschen so fundamental, so von Anfang an und unausweichlich prägt wie keine zweite. Ihre Reichweite ist so substanziell, dass eine geschlechterfreie Identität, eine Subjektkonstitutierung ohne Bezug auf Zweigeschlechtlichkeit unvorstellbar erscheint.« (Decke-Cornill 2004: 181)
Im Widerspruch zu dieser enormen gesellschaftlichen wie individuellen Bedeutung ist festzustellen, dass gerade im fremdsprachendidaktischen Bereich die Themen gender und Genderkompetenz auffallend selten diskutiert werden. Ahnungslosigkeit in geschlechtertheoretischen Fragen wird im deutschen pädagogisch-didaktischen Umfeld selbst im 21. Jahrhundert meist nicht als Ausweis mangelnder Professionalität gehandelt (vgl. Decke-Cornill 2004: 181). Vor allem im internationalen Vergleich wird deutlich, wie erschreckend wenig von dem angekommen zu sein scheint, was die Gender Studies insbesondere im anglophonen Sprachraum in den letzten Jahrzehnten an neuen Impulsen zur Theoretisierung von Identitätskonstruktionen geliefert haben (vgl. Surkamp 2010). Als symptomatisch kann hierfür gelten, dass eines der angesehensten Standardwerke der modernen Fremdsprachenforschung, das erstmals 1989 veröffentlichte von Bausch, Christ & Krumm herausgegebene Handbuch Fremdsprachenunterricht selbst in seiner jüngsten, 5. Auflage von 2007 keinen einzi-
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gen Beitrag zu gender enthält. Sogar die erst 2010 erschienene Konkurrenzpublikation, das von Wolfgang Hallet und Frank G. Königs herausgegebene Handbuch Fremdsprachendidaktik, beschränkt sich auf einen dreiseitigen Beitrag zu Geschlechtsspezifischem Lernen und Lehren, der keinerlei Bezug auf Literaturoder Kulturdidaktik nimmt, sondern sich auf Bemerkungen zur Sprachlehr- und -lernforschung beschränkt. Das Schweigen der Fremdsprachendidaktik zu Genderthemen erscheint umso verwunderlicher, als deren eminente Wichtigkeit gerade für schulische Belange auf der Hand liegen müsste. Bekanntlich werden im fortgeschrittenen Kindesund Jugendalter Fragen der Geschlechtsidentität zentral. Zudem lassen sich zahlreiche Parallelen zwischen den Anliegen, Konzepten und Methoden von Gender Studies einerseits und Interkulturalitätsforschung andererseits ziehen. Doch während interkulturelles Lernen längst integraler Bestandteil des modernen Englischunterrichts geworden ist, fristen Genderthemen in didaktischen Publikationen wie auch in der Unterrichtspraxis nach wie vor ein Schattendasein. Dass das Thema gender darüber hinaus in universitären fachdidaktischen Lehrveranstaltungen eine entsprechend marginale Rolle spielt (während es in den fachwissenschaftlichen Disziplinen um einiges stärker verankert ist), ist sicherlich eine Ursache unter anderen. Folgende Aspekte sollen im Nachfolgenden berücksichtigt werden, um den Erklärungszusammenhängen für die weitgehende Absenz bzw. Marginalisierung von gender im schulischen Fremdsprachenunterricht nachgehen und Perspektiven für eine Gendersensibilisierung und Genderkompetenzentwicklung bei Lehrenden und Lernenden aufzeigen: 1. Wie beeinflusst gender die (empirische) Forschung zum Fremdsprachenlehren und -lernen? 2. Von welchen Gender-Konzeptionen ist die Formulierung von Lernzielen in curricularen Bestimmungen und die Gestaltung von Unterrichtsmaterialien geleitet? 3. Welche Methoden eignen sich für einen genderbewussten und -gerechten Fremdsprachenunterricht? 4. Welche Desiderate sind im Hinblick auf eine angemessene (Weiter-) Qualifizierung von (angehenden) Lehrer_innen aufzustellen? Durch die Institutionalisierung der Koedukation während der Bildungsexpansion der 1960er Jahre ist formal eine Gleichstellung der Geschlechter erzielt worden. Seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre ist das Prinzip der reflexiven Koedukation bekannt, das vorsieht, pädagogische Gestaltungsprozesse daraufhin zu prü-
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fen, ob sie bestehende Geschlechterverhältnisse eher stabilisieren oder eine Auseinandersetzung mit ihnen und Veränderung zulassen (vgl FaulstichWieland/Horstkemper 1995). Was das Fremdsprachenlernen angeht, ist jedoch festzustellen, dass die Schule weiterhin ein »Ort dichotomisierender Geschlechterbildung« (Decke-Cornill 2007b: 188) ist. Mädchen bevorzugen bei der Fächerwahl Sprachen, nicht zuletzt weil ihnen dies nahe gelegt wird. Quantitativ betrachtet sind also die modernen Fremdsprachen eine Frauendomäne – dies gilt nicht nur für die Wahl als Unterrichtsfach, sondern auch für das Lehramt als Studienziel und die tatsächliche Berufsausübung. Darüber hinaus ist für das Lernen moderner Fremdsprachen der historische Nachweis erbracht worden, dass in der höheren Mädchenbildung schon im 19. Jahrhundert unter der Ägide von Gouvernanten und weiblichem Lehrpersonal zentrale Züge des heutigen kommunikativen, in erster Linie auf mündliche Sprachkompetenz zielenden Fremdsprachenunterrichts vorweggenommen wurden (vgl. Haas 2007, Doff 2008). Demgegenüber basierte die fremdsprachliche Knabenbildung auf dem stark kognitiv-analytischen und auf Schriftlichkeit ausgerichteten Ansatz der GrammatikÜbersetzungsmethode, der aus der klassisch-humanistischen Bildung in die moderne Fremdsprachendidaktik übernommen wurde. Bei Hinzuziehung von qualitativen Kriterien wie der Besetzung von Schlüsselfunktionen, Gestaltungs- oder Finanzierungsmöglichkeiten kann von einer ›Feminisierung‹ des Fremdsprachenlernens kaum die Rede sein. Fremdsprachenlernen als weibliche Domäne zu bezeichnen, ignoriert die Tatsache, dass Männer in strukturell entscheidenden Positionen des Lehrbetriebs und übergeordneten Institutionen – auch im akademischen Bereich – überproportional vertreten sind (vgl. Decke-Cornill/ Volkmann 2007: 7). Nicht nur die institutionellen Gegebenheiten sondern auch aktuelle Forschungsperspektiven sowie empirisch gewonnene Befunde, vor allem zu Unterschieden von Mädchen und Jungen bei Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, zu Schulfachpräferenzen und Begabungsselbstkonzepten (vgl. Faulstich-Wieland 2005: 691), scheinen eine ›Feminisierung‹ des Sprachenlernens zu bekräftigen. Lehrkräfte tendieren dazu, diese Fehleinschätzungen eher zu festigen als sie aufzubrechen oder ihnen entgegenzuwirken. Erst eine kritische Überprüfung der methodischen Vorgehensweisen zur Gewinnung solcher Befunde, wie Barbara Schmenk (2002) sie vorgenommen hat, weist die Abhängigkeit der Forschungsergebnisse von unausgesprochenen Vorannahmen auf: Die Untersuchungsperspektive ist verengt auf zwei nur scheinbar homogene Gruppen und wird somit ihrerseits als Produktion von Geschlechterunterschieden wirksam:
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»Die Überlegenheit von Fremdsprachenlernerinnen erweist sich als empirisch unabgesichert, als herbeigeschrieben nicht zuletzt auch von der Fremdsprachenforschung, in die Geschlechtsspezifik und Über- bzw. Unterlegenheit immer wieder als unreflektierte Setzungen eingehen.« (Schmenk 2002: 190f.)
Konstruktivistisch aufgefasst handelt es sich also bei der ›Feminisierung‹ des Sprachenlernens um eine sich selbst erfüllende Prophezeiung (vgl. Delanoy 2007: 204), einen Zirkelschluss, der die didaktische Diskussion leider immer noch viel zu häufig steuert. Letztlich verantwortlich hierfür ist das Festhalten an der sogenannten (modernen) Differenzhypothese – gender verstanden als differenzstiftende Variable –, während die (postmoderne) Diversitätshypothese – gender aufgefasst als soziales und diskursives Konstrukt – eher weniger Beachtung findet. Mittlerweile liegen jedoch auch Studien aus der genderbezogenen Spracherwerbsforschung und der empirischen Unterrichtsforschung vor, die die Feminisierungshypothese widerlegen. So konnten in Teskes stichprobenartiger Untersuchung zur Interdependenz von Fremdsprachenlernen, Motivation und Selbsteinschätzung aus dem Jahr 2007 keine konsistenten Geschlechterunterschiede in der Präferenz bestimmter Aufgabentypen, Sozialformen oder Inhalte nachgewiesen werden (vgl. Teske 2007: 101). Dass der Paradigmenwechsel von Differenz zu Diversität in den akademischen Gender Studies mittlerweile größtenteils vollzogen ist, steht außer Frage. Erst sehr zögerlich und in allerjüngster Zeit zeichnet sich hingegen eine Einbeziehung der Hybridität und Performativität von Geschlecht in der Theorie und Praxis des Fremdsprachenlernens ab. Zwischen der ersten und der zweiten Phase der Lehrer_innenausbildung entsteht derzeit ein Bruch bei denjenigen Studierenden, die sich mit Genderthemen wissenschaftlich differenziert und auf hohem Niveau auseinandergesetzt haben, aber in ihrem Referendariat zum einen mit der Anforderung didaktischer Reduktion konfrontiert sind und sich zum anderen der verbreiteten Überzeugung ihrer Fachkolleg_innen gegenüber sehen, dass Jugendliche aufgrund ihrer noch nicht abgeschlossenen geschlechtlichen Entwicklung mit uneindeutigen Geschlechtermodellen überfordert seien. Dem wäre entgegen zu halten, dass die – auch unausgesprochene – Annahme einer binären, heteronormativen Geschlechterordnung viel größere Zwänge generiert, indem sie Jugendlichen ein für sie unerreichbares Ideal geschlechtlicher Eindeutigkeit, Abgeschlossenheit und Komplementarität vermittelt. Die jüngste Neuausrichtung der deutschen Bildungspolitik erweist sich zudem als wenig zuträglich für eine Verankerung von Genderkompetenz als Lernziel. Ähnlich wie im Falle interkulturellen Lernens geht es bei der Gendersensibilisierung von Schülerinnen und Schülern um die Schulung von schwer messba-
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ren Teilkompetenzen, die zwar sprachliche und textuelle Fertigkeiten umfassen, aber doch in erster Linie sozialer und affektiver Natur sind. Dem aktuellen bildungspolitischen und fremdsprachendidaktischen Trend zur Orientierung an Kernbegriffen wie ›Kompetenzstufen‹, ›Standards‹, ›Strategien‹, ›Evaluation‹, ›Kontrolle‹ und ›Output‹, der sich einer ökonomischen Terminologie und Denkweise bedient und vor allem auf ein assessment der sprachlichen Teilkompetenzen von Fremdsprachenlernenden setzt, steht die Beschäftigung mit gender klar entgegen. Bei einer Gendersensibilisierung von Schülerinnen und Schülern geht es entgegen jeder klaren Kategorisierbarkeit und Messbarkeit um schwer beobachtbare, dynamische Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen intraund interkulturellen Diskurswelten sowie um flexible Bedeutungskonstruktionen, für die bisher keine geeigneten Testinstrumente zur Verfügung stehen. Unerklärlich bleibt in diesem Kontext jedoch die eklatante Asymmetrie zwischen der breiten didaktischen Rezeption von Interkulturalitätstheorien einerseits und der Marginalisierung von Gendertheorien andererseits – trotz weitreichender Parallelen in den Grundannahmen und Analogien in der Theoriebildung. Bezüglich der curricularen Vorgaben ist zu konstatieren, dass gender sowohl in den aktuellen gymnasialen Kernlehrplänen als auch in den gymnasialen Richtlinien für NRW fast ausschließlich als optionale thematische Schwerpunktsetzung gehandelt wird und damit am ehesten als (Wahl-)Teilbereich von Orientierungswissen firmiert. Fragen der Gendersensibilisierung, der Ausbildung von genderbezogenen affektiven und sozialen Kompetenzen, werden kaum angesprochen. Geschlechtsidentitäten jenseits der sogenannten ›heterosexuellen Matrix‹ tauchen nicht auf, und auch Teilbereiche sprachlicher Kompetenz wie die Schulung eines Sprachbewusstseins in Bezug auf sexistischen Sprachgebrauch werden nur sehr marginal berücksichtigt. Eine beliebte Rechtfertigung hierfür lautet, der Erwerb einer Fremdsprache in ihrer Standardvarietät sei ohnehin schon solch ein anspruchsvolles Unterfangen, dass das Wissen um soziale Varietäten allenfalls als untergeordnetes Lernziel angesehen werden könne (vgl. Ferguson 2004: 137). Dies steht neueren Forschungsarbeiten entgegen (vgl. Ferguson 2004, Linke 2007), die die Bedeutung einer Einübung in nichtsexistischen Sprachgebrauch des Englischen für Fremdsprachenlernende belegen, indem sie dessen Relevanz im Hinblick auf interkulturelle Kompetenz und damit mittelbar für akademischen und geschäftlichen Erfolg herausarbeiten (Ferguson 2004: 39). Zu einer nichtsexistischen Sprachverwendung wären genderneutralisierende Berufs- und Personenbezeichnungen ebenso zu zählen wie die Strategie der Genderspezifizierung zum Zweck der Gleichstellung. Die literarische Textauswahl für den Englischunterricht an nordrheinwestfälischen Gymnasien wird durch die gymnasialen Richtlinien geregelt, in
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denen für die Oberstufe die »Offenheit des ›Kanons‹ für Revision, für Erweiterung und Änderung durch Berücksichtigung bislang unbeachteter wie Ersetzung tradierter Texte vor dem Hintergrund neuer Erfahrungen und veränderter Sichtweisen« (1999: 33) betont wird. Dennoch scheint die genderkritische Revision des schulischen Kanons ein träger und widerständiger Prozess zu sein, der auch durch die Vorgaben zum Zentralabitur eher lahmgelegt zu werden scheint. So ist für den Abiturjahrgang 2012 und 2013 (Leistungskurs Englisch) verbindlich die Lektüre von vier literarischen Texten vorgesehen, die sämtlich aus männlicher Feder stammen, darunter kanonisierte Autoren wie Aldous Huxley mit Brave New World, ganz abgesehen von einer verpflichtenden Shakespeare-Lektüre. Im Grundkurs taucht mit Lorraine Hansberry immerhin eine amerikanische Autorin auf. Blinde Flecken des Kanons betreffen derzeit vor allem noch Texte und Autoren bzw. Autorinnen, die sich kritisch mit der »heterosexual matrix« (Butler 1990: 9) befassen. Außerdem fehlt noch weitgehend ein Bewusstsein für die Konstruiertheit von Maskulinität, so dass entsprechende literarische oder mediale Entwürfe ebenfalls weitgehend ausgeklammert bleiben bzw. nicht mit diesem Fokus rezipiert werden (vgl. Decke-Cornill 2007a: 252). Wünschenswert wäre, dass die curricular Verantwortlichen ihre Gender Mainstreaming-Verantwortung in einem top-down-Prozess wahrnähmen. An unterrichtspraktischen Anregungen hierzu besteht seit den 1990er Jahren kein Mangel mehr. Nicht nur bezüglich der Selektion von fremdsprachlichen Unterrichtsmaterialien und Texten, ihrer Theoretisierung und Professionalisierung stehen Lehrkräfte dem sogenannten ›reification dilemma‹ gegenüber (vgl. Schmitz/Nikoleyczik 2009: 83). Dies bedeutet, dass eine gendersensible Didaktik, die eine kritische Hinterfragung von Genderrollen fördert und zu einem offenen Umgang mit Genderambivalenzen ermutigt, dennoch die soziale Realität von existierenden, einschränkenden Genderpolarisierungen anerkennen muss. Hierbei kann das von Helene Decke-Cornill vorgeschlagene literaturdidaktische Programm einer ›reflektierten Intertextualität‹ zielführend sein: »Die besondere Hellhörigkeit bei der Organisation eines didaktischen Texts müsste den leisen, leicht überhörten oder zum Schweigen gebrachten Stimmen an den Rändern hegemonialer Diskursformationen gelten. Eine solche Hellhörigkeit zu entwickeln, wäre einerseits Teil der Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern – für den Literaturunterricht und über ihn hinaus –, andererseits aber auch Unterrichtsinhalt. Beim gemeinsamen Zusammenstellen von Textsequenzen, aber auch beim Umschreiben, Gegenschreiben und probeweisen Perspektivenwechsel könnte ein Bewusstsein für laute und leise, erlaubte und verbotene Stimmen, für Diskurskonvention und Diskursverstoß, für Ambiguität und Uneindeutigkeit entwickelt werden.« (Decke-Cornill 2004: 197f.)
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Das hier skizzierte Vorgehen, das von den Lehrenden für die jeweilige Lerngruppe eine individuelle Textzusammenzustellung verlangt, zeichnet sich durch das Prinzip der Vielstimmigkeit sowie der Textsorten- und Medienvielfalt aus und bietet Raum für zahlreiche unterschiedlich gegenderte Lesarten. Was Lehrwerke für den modernen Fremdsprachenunterricht betrifft, so zeichnet sich in den letzten Jahren verstärkt ein Bemühen um ideologische Neutralität ab, das allerdings auch auf kommerzielle Erwägungen zurückzuführen ist, da so ein breiter pädagogischer Markt angesprochen werden soll. Die Erkenntnis, dass Rollenmodelle des eigenen Geschlechts ein stärkeres Identifikationspotenzial für Lernende bieten, und die entsprechende Ausgewogenheit männlicher und weiblicher Identifikationsfiguren werden bei der Konzeption von EnglischLehrwerken zunehmend berücksichtigt. Heutzutage ist es zudem üblich geworden, sowohl männliche als auch weibliche Sprecher in der Produktion von Audiomaterial für den Englischunterricht einzusetzen. Vorausgegangen sind diesen aktuellen, gendersensiblen Entwicklungen Lehrwerkskonzeptionen, die seit den 1970er/1980er Jahren einer kritischen Analyse unterzogen wurden. Diese Lehrwerksanalysen beruhten vornehmlich auf einer Quantifizierung von Sprachelementen in der Tradition der content analysis. Die Methodik der Inhaltsanalyse wurde unter Zuhilfenahme von Konzepten wie Ausschließung, Subordination, Verzerrung und Herabsetzung von Frauen und Mädchen angewandt (vgl. Sunderland et al. 2002: 223). Übereinstimmend ergaben derartige Studien, dass Männer im Vergleich zu Frauen überrepräsentiert waren, ein weiter gefächertes Spektrum an zudem einflussreicheren Berufen ausübten und dass sowohl Männer als auch Frauen in stereotypen Tätigkeiten gezeigt wurden. Die vorliegenden linguistischen Forschungsergebnisse verweisen auf eine ausgeprägte Geschlechterpolarisierung und eine Dominanz von männlichen Sprechern in älteren Lehrwerken. Die Kategorien zur genderkritischen Lehrwerksanalyse sind erst in jüngster Zeit auf Grammatiken angewendet worden, z.B. auf die im Englischunterricht sehr beliebte English Grammar in Use von Raymond Murphy. Erste Forschungsergebnisse belegen eine extreme männliche Dominanz bei herausgehobenen kommunikativen Positionen und eine geschlechterstereotype Distribution von Aktivitäten, wie sie aus den Lehrbüchern längst verschwunden sind. Aus der Sicht der Genderforschung sind solche Studien möglicherweise noch aufschlussreicher und bedeutsamer als Analysen von Lehrwerken mit ihrem hohen Anteil an narrativen Texten und kontinuierlichen Figurenkonstellationen, da es sich bei Grammatiken um eine verbindlichere, regelbasierte Textsorte handelt, die von Lernenden in der Regel auch so wahrgenommen wird, und der Fokus auf sprachlicher Form vorgeblich geschlechtsneutral ist.
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Mit Sunderland et al., die innerhalb der genderkritischen Erforschung von Unterrichtsmaterialien erstmals eine neue Richtung eingeschlagen haben, lässt sich ein methodischer Weg beschreiten, der wegführt vom Text und sich statt dessen auf den diskursiven Umgang der Lehrenden mit Texten richtet, also auf den teacher’s discourse (vgl. Sunderland et al. 2002: 225). Hintergrund ist die konstruktivistische Erkenntnis, dass Textbedeutung erst in der Interaktion zwischen Text und Leser_in konstruiert wird, was neue Perspektiven sowohl für die Forschung als auch für die Lehrer_innenbildung eröffnet. Das vorgeschlagene analytische Vorgehen besteht in der Fokussierung von Bestätigungs(endorsement) und Subversionsstrategien (vgl ebd. 2002: 245), die an gegenderten Lehrwerktexten untersucht werden. In ihrer genderneutralen Ausprägung bezeichnen solche Texte Menschen z.B. als people, students, holidaymakers; in der geschlechtsspezifierenden Variante verweisen sie z.B. auf women, men, boys, girls. Beide Texttypen können durch Lehrende (und Lernende) diskursiv bestätigt oder hinterfragt werden, u.a. durch explizit positive Kommentare, ihre Nutzung als Impulsgeber für weitere genderstereotype oder -kritische Beobachtungen oder generell durch einen (un)reflektierten, (un)kritischen unterrichtlichen Einsatz. Subversionsstrategien umfassen u.a. die explizite oder implizite Bezugnahme auf eine geschlechterbezogene Repräsentation im Sinne einer Genderdramatisierung (z.B. in Form von Kritik oder Witzen) ebenso wie das Überspringen oder teilweise Ignorieren des Textes oder bestimmter Textteile. Schlussfolgerungen aus den bisher durchgeführten empirischen Untersuchungen zum Umgang von Lehrkräften mit genderrelevanten Texten sind, dass 1.) Lehrkräfte auf gegenderte Diskurse zurückgreifen und sie selbst produzieren, dass 2.) der um einen gegebenen Text herum produzierte Diskurs von Lehrenden unterschiedlich und auf der Grundlage des Textes selbst nicht vorhersagbar ist und dass 3.) genderkritischen Texten mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte, damit diese angesichts des gegenwärtigen Fokus auf traditionalistische Texte nicht aus dem Blickfeld verschwinden (vgl. ebd. 2002: 251). Abgesehen von einer Fokussierung des genderbezogenen Diskurses von Lehrenden kann auch die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden im fremdsprachlichen Klassenzimmer in Augenschein genommen werden (vgl. DeckeCornill 2007b). Ein entsprechendes Forschungsinteresse an gender und schulischer Interaktion reicht zurück bis in die 1950er Jahre (vgl. Meyer/Thompson 1956, Spaulding 1963) und begründete eine Tradition des quantitativen und deduktiven Vorgehens, die teils bis heute anhält, wie die 2001 erschienene Studie von Monika Chavez Gender in the Language Classroom beweist. Das Forschungsdesign solcher empirischer Untersuchungen ist von Genderdifferenz bestimmt, wobei sie das Ausmaß, die Bandbreite und die Typen genderbezogener
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Interaktion analysieren und zur Generalisierung spezifischer Beobachtungen tendieren, die unter Gendergesichtspunkten subsumiert werden (vgl. DeckeCornill 2007b: 80). Demgegenüber verfolgen explorative und interpretatorische Studien einen offenen Forschungsansatz; sie betonen Fragen der Identitätskonstituierung im Kontext von Interaktion und Fremdsprachenlernen (also das doing gender eher als das being oder behaving gender – vgl. Decke-Cornill 2007b: 85) und präferieren narrative und ethnographische Methoden. Trotz der potentiellen messiness ihrer Datenerhebung hat sich diese qualitative Variante von Forschungsansätzen mittlerweile stärker durchgesetzt, wohl nicht zuletzt, weil sie im Einklang mit dem linguistic und narrative turn in den Sozialwissenschaften steht. Eine vergleichbare Verschiebung des Fokus von Genderdifferenz zu Genderdiversität lässt sich auch in der feministischen Linguistik beobachten, die die genderkritische Sprachdidaktik bis heute beeinflusst. Defizit-, Differenz- und Dominanzrelationen bildeten den konzeptionellen Rahmen für Pionierstudien (vgl. Thorne/Henley 1975, Lakoff 2004 [1974]) und steuerten die Forschung zu gender und Gesprächsverhalten bzw. Spracherwerb bis weit in die 1990er Jahre hinein (vgl. Ferguson 2004: 139). Noch 2001 ist mit Falger eine Studie zu Frauen- und Männersprache erschienen, deren Differenzimpetus sich schon am programmatischen Titel Macht und Machtlosigkeit – Frauensprache in der Männerwelt ablesen lässt. Auch wenn sie im Zuge poststrukturalistischer und konstruktivistischer Überlegungen kritisiert und modifiziert worden sind, sollten die so gewonnenen Erkenntnisse nicht pauschal abqualifiziert werden, denn für die Unterrichtspraxis erlauben sie wertvolle Einsichten in die Machtmechanismen von Sprache. So können Lehrpersonen vor dieser Folie Lernende für die Art und Weise sensibilisieren, wie sozialer Status über Sprache konstituiert wird, und sie können sie in die Lage versetzen, bewusste Entscheidungen über den Einsatz bestimmter sprachlicher Strategien zu treffen (vgl. Ferguson 2004: 142). Als Stimuli zum Nachdenken über Gesprächsverhalten und Prozesse von genderization können solche Annahmen ebenfalls dienen (vgl. ebd.: 150). Ein Wissen um verbreitete Vorurteile über gender und Sprache hilft also potenziell im Fremdsprachenunterricht, eine Stereotypisierung kommunikativer Situationen zu vermeiden, z.B. in Rollenspielen, bei der Erstellung von Unterrichtsmaterialien u.a.m. Aktuell bilden Denkmodelle der Queer Theory möglicherweise die größte, spannendste, aber bislang am wenigsten beachtete Herausforderung für die Theorie und Praxis der Fremdsprachendidaktik. Seit den 1980er Jahren haben Kritiker_innen immer wieder darauf hingewiesen, dass Homophobie und Heterosexismus das Lernen und Lehren negativ beeinflussen können und daher im Un-
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terricht, der pädagogischen Institution und im Lehrberuf reflektiert werden müssen (vgl Nelson 1999: 372). Seit den 1990er Jahren gelangen zumindest im anglophonen Sprachraum diverse praktische Handreichungen und Anregungen auf den Markt, wie Curricula und Lernmaterialien stärker gay inclusive gestaltet werden können. Manche Lehrkräfte zeigen sich durchaus aufgeschlossen gegenüber als gay friendly zu bezeichnenden Lehrpraktiken, fühlen sich aber in Bezug auf Unterstützung, Ressourcen und Know-how allein gelassen und überfordert. Dafür ist nicht zuletzt der äußerst dürftige Forschungsstand verantwortlich: In ihrem Forschungsbericht zu den Einflüssen von Queer Theory auf die Fremdsprachendidaktik kommt Cynthia Nelson (2007) auf insgesamt 13 Publikationen, von denen drei ihre eigenen sind. Das größte Problem scheint in diesem Zusammenhang jedoch die eher abwehrende Haltung vieler Lehrender zu sein, die die Relevanz und Angemessenheit des Themas Homosexualität bzw. Queerness für den schulischen Kontext bezweifeln. Dabei übersehen sie, dass Geschlechtsidentitäten auf identitätsbildender ebenso wie auf thematischer Ebene immer schon integraler Bestandteil von Fremdsprachenlernen sind – mit einem klar heterosexuellen Fokus (z.B. in Bezug auf Paarbeziehungen oder Familienstrukturen). Hierfür ein Bewusstsein zu schaffen, wäre ein Desiderat für eine gendersensible Lehrer_innenbildung über alle Stadien der Berufsbiographie hinweg. Die Queer Theory kann aufgrund ihrer Skepsis gegenüber geschlechtlichen Kategorienrastern und ihres Aufweises der Normativität von Binarismen wichtige Impulse für den Fremdsprachenunterricht und seine Didaktik liefern, indem der analytische Blick auch auf Naturalisierungen von Heterosexualität gerichtet wird. Für Lehrende bedeutet das unter Umständen, weniger Antworten zu geben als Fragen aufzuwerfen, wobei ein Fokus auf der Analyse bei divergierenden Standpunkten hilfreicher sein kann als ein Fokus auf Parteinahme (vgl. Nelson 1999: 377). Ein Handeln, das sich einer Pädagogik der Anerkennung verpflichtet fühlt (vgl. hierzu auch Decke-Cornill 2007a), erfordert in den Worten von Andrea Krauß, dass »wir Andere nicht nach Maßgabe unserer eigenen Vorstellungsmuster wahrnehmen, sondern […] es uns um deren Selbstwahrnehmung geht und wir interessiert sind, sie dieser Selbstwahrnehmung entsprechend wahrzunehmen. Anerkennung wäre demnach nicht gebunden an die Möglichkeit des (Wieder-)Erkennens von schon Vertrautem oder an die projizierende Reflexion des Selbst im Anderen, sondern wäre ›die ungesicherte Begegnung mit dem Selbstdeutungsbild des Gegenübers‹.« (Krauß 2001: 81)
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Analog geht es im Rahmen einer gendersensiblen Literatur- und Sprachdidaktik immer um Reziprozität, um ›gleiche Augenhöhe‹ aller Beteiligten, was eine erzwungene Übernahme fremder Positionen oder Perspektiven ausschließt. Probeweise, innerhalb des geschützten Handlungsraumes des Klassenzimmers, ist eine solche Perspektivenübernahme jedoch möglich und förderungswürdig. Dabei ist die Einsicht in stets vorhandene Ambivalenzen wesentlich: Anerkennung ist, wie Decke-Cornill formuliert, »immer auch ein Kampf gegen die Zumutung des Anderen, Fremden, das durch Anerkennung seines Andersseins beraubt wird« (Decke-Cornill 2004: 201). Für die Zukunft einer gendersensiblen und -kompetenten Fremdsprachendidaktik wäre eine Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern im Sinne einer reflexiven Selbstdistanzierung, Deutungsabstinenz bzw. eines Deutungsaufschubs ein wesentliches Desiderat. Zudem verlangt ein entsprechender Unterricht nach einer systematischeren Entwicklung geschlechterdiskurskritischer Unterrichtsmethoden. Wechselseitige Anstöße und Synergieeffekte könnten sich durch die jüngsten Entwicklungen auf dem Feld des bilingualen Sachfachunterrichts ergeben, die den Fokus nicht nur auf Wissensvermittlung, sondern auf Kompetenzen im Umgang mit unterschiedlichen Diskursformen legen (vgl. Birr Moje et al. 2004: 68). Darüber hinaus bietet sich mit dem Intersektionalitätsparadigma, das die Diversität und Überkreuzung von Identitätsanteilen in den Blick nimmt und die gegenwärtige schulische Inklusionsdebatte speist, eine reelle Chance für eine Institutionalisierung von Genderkompetenz und eine gendersensible Fremdsprachendidaktik. Eine entscheidende Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass die Inklusionsdebatte nicht auf die Komponente von disability verengt wird und dass der sensible und tolerante Umgang mit dem/der Anderen, sei es im Sinne verschiedener, ethnisch, religiös, kulturell motivierter Perspektiven auf die Welt oder im Sinne von unterschiedlichen geschlechtlichen Verortungen und körperlichen Bedingungen, auch in der schulischen Didaktik zum übergeordneten Bildungsziel wird.
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Genderaspekte im Deutschunterricht A NDREAS B ARNIESKE UND A NDREAS S EIDLER
Der Deutschunterricht hat neben der Vermittlung der sprachlichen Kompetenzen Sprechen, Zuhören, Schreiben und Lesen auch den Auftrag, zur Persönlichkeitsentwicklung (vgl. KMK 2004: 3) und Identitätsbildung von Heranwachsenden beizutragen. Die spezifischen fachlichen Gegenstände des Deutschunterrichts, Sprache und Literatur, weisen dabei »eine besondere Affinität zu Identitätsfragen« auf (Frederking 2010: 421). Ein wichtiger Aspekt von Persönlichkeitsentwicklung ist auch das Finden einer eigenen Geschlechtsidentität, das sich unter Einfluss und in Auseinandersetzung mit hergebrachten gesellschaftlichen Normen vollzieht. Literatur und fiktionale Erzählungen in anderen medialen Formen spielen dabei eine bedeutende Rolle – neben den Einflüssen von Familie und peer group. Fiktionale Erzählungen können dazu beitragen, überkommene Muster zu tradieren, aber auch diese zu subvertieren. Die historischen und interkulturellen Vergleichsmöglichkeiten, die in Form von Geschichten geboten werden, können auf die Kontingenz von Normen und Rollenbildern aufmerksam machen. Identitätsbildung in der Auseinandersetzung mit Literatur kann sich also nicht nur durch die Übernahme tradierter Rollenmuster vollziehen, sondern auch durch die Ermöglichung von Rollendistanz, die durch die Andersartigkeit fiktionaler Modelle im Vergleich mit den realen Rollenangeboten entstehen kann (vgl. Frederking 2010: 422f.). Im deutschdidaktischen Diskurs spielt die Kategorie Geschlecht aber nicht nur auf der Ebene der inhaltlichen Auseinandersetzung mit literarischen Texten eine Rolle. Geschlechterdifferenzen, wie auch immer diese erklärbar sind, lassen sich empirisch-statistisch bereits beim Vollzug der basalen Kulturtechnik beobachten, die der Rezeption literarischer Texte zugrunde liegt: bei den Kompetenzen im Umgang mit der Schriftsprache. Im Folgenden werden die von der Forschung beobachteten Geschlechterdifferenzen im Lesen und Schreiben vorgestellt und problematisiert. Dabei zeigt sich auch, dass die Frage nach den
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Kompetenzunterschieden von Leserinnen und Lesern eng mit der Frage nach den in literarischen Texten entworfenen Geschlechterrollenbildern zusammenhängt. In ausreichendem Maß kompetent lesen zu können ist in einer »gnadenlos literale[n] Gesellschaft[…]« (Langenbucher 2002: 98) zentral, um eine befriedigende private und berufliche Lebensführung zu gewährleisten. Seit der Veröffentlichung der Ergebnisse der großen Schulleistungsstudien im vergangenen Jahrzehnt hat in diesem Zusammenhang verstärkt die Frage nach Geschlechterdifferenzen beim Lesen Konjunktur. Vor allem die Leistungen der Jungen werden mit Sorge betrachtet. Auch die mittlerweile zum Schlagwort avancierte PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) bestätigt diesen Befund im dreijährigen Turnus. Zur Ermittlung der erbrachten Leseleistung wird in der aktuellen PISA-Studie das Schwierigkeitsniveau der Aufgaben anhand von sieben Kompetenzstufen beschrieben: Stufe 1b, Stufe 1a, Stufe 2, Stufe 3 usw. bis hin zu Stufe 6. Stufe 1b bildet dabei das niedrigste und Stufe 6 das höchste Anforderungsniveau. Schülerinnen und Schüler, die die Anforderungen der Stufe 1b erfüllen, sind in der Lage, in einem einfachen und vertrauten Text leicht zu identifizierende Informationen auf der Textoberfläche zu finden. Meist befinden sich dafür im Text weitere Hilfestellungen in Form von Wiederholungen, Abbildungen oder Symbolen. Informationen, die ablenken könnten, sind kaum gegeben. Mit Zunahme des Anforderungsniveaus müssen die Schülerinnen und Schüler dann weitere Kompetenzen zeigen. Sie müssen z.B. die Hauptidee eines Textes erfassen oder Zusammenhänge im Text herstellen. Auf dem höchsten Anforderungsniveau sind die Schülerinnen und Schüler in der Lage, den Text genau zu analysieren. Sie verfügen über ein sehr detailliertes Textverständnis, das ihnen auch ermöglicht, auf einer allgemeinen Ebene über den gelesenen Inhalt zu reflektieren und Bewertungen anzustellen (vgl. OECD 2010: 53f.). In der Gesamtskala Lesekompetenz, die alle Kompetenzstufen vereint, wird deutlich, dass Jungen in den höchsten unter- und zugleich in den niedrigsten Kompetenzstufen überrepräsentiert sind. In Deutschland erlangen sie in der aktuellen Untersuchung im Durchschnitt 40 Punkte weniger als die Mädchen. Das entspricht im Lesen dem Kompetenzunterschied eines ganzen Schuljahres. Vorsprünge zugunsten der Mädchen – wenngleich in unterschiedlich starker Ausprägung – finden sich in allen PISA-Teilnehmerländern wieder (vgl. OECD 2010). Bei diesem vermeintlichen underachievement der Jungen ist jedoch eine gewisse Vorsicht geboten, da Teile der Leistungsdifferenz ihre Ursache in der Messmethode haben, wie Lafontaine und Monseur (2009) für die Daten der PISA-Studie 2000 zeigen konnten. Zunächst einmal begründet die in den Testaufgaben verwendete Textart selbst geschlechtsspezifische Differenzen. Bei kontinuierlichen Texten, wie z.B. bei einer Erzählung oder einer Argumentation,
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werden von Jungen oftmals schlechtere Ergebnisse erzielt als bei diskontinuierlichen Texten, wie z.B. bei einem Diagramm oder einer Tabelle. Hier stellt sich die Frage, ob Jungen manche Aufgaben schlichtweg weniger engagiert bearbeiten. Zudem schneiden Jungen häufig dann bei Aufgaben schlechter ab, wenn sie anstatt eines geschlossenen Aufgabenformats ein offenes Frageformat bearbeiten müssen. D.h., die gemessenen Unterschiede in der Lesekompetenz fallen größer aus, je mehr eigene Schreibleistung bei der Bearbeitung der Testaufgaben gefordert ist. Es ist daher zu fragen, ob die vermeintlich gemessenen Differenzen beim Leseverständnis nicht auch Ausdruck einer unterschiedlich stark ausgeprägten Schreibkompetenz sein können (vgl. Lafontaine/Monseur 2009). Empirische Daten zur Entwicklung der Schreibkompetenz und zu möglichen geschlechtsspezifischen Differenzen liegen jedoch nur wenige vor. Einige Erkenntnisse liefert die aktuelle Metaanalyse von Philipp und Sturm (2011). Sie unterscheiden zwischen hierarchieniedrigen und hierarchiehöheren Teilkompetenzen des Schreibens. Zu den hierarchieniedrigen Teilkompetenzen werden Rechtschreibung, Grammatik, Handschrift und die in einer bestimmten Zeit verfasste Textmenge gezählt, zu den hierarchiehöheren Teilkompetenzen Textorganisation, Textstruktur und Revisionstätigkeiten (vgl. Philipp/Sturm 2011: 81f.). Der größte Teil der ausgewerteten Studien weist für die hierarchieniedrigen Teilkompetenzen einen Vorteil der Mädchen aus, der sich am stärksten in den Klassen 7 bis 9 zeigt und vor allem Rechtschreibung und Textmenge betrifft. Auch bei den hierarchiehöheren Teilkompetenzen des Schreibens lässt sich den vorliegenden Studien insgesamt ein Vorsprung der Mädchen entnehmen, der sich im Laufe der Schulzeit zu verstärken scheint (vgl. ebd.: 82). Die Autoren geben jedoch zu bedenken, dass es bei der Untersuchung von das Schreiben betreffenden Unterschieden zwischen den Geschlechtern noch zahlreiche offene Fragen und Forschungsdesiderata gibt (vgl. ebd.: 83). Deutlicher ist die Befundlage hingegen für die Lesekompetenz. Die meisten vorliegenden Studien legen zusammenfassend Vorsprünge zugunsten der Mädchen nahe. Diese treten jedoch nicht in allen large-scale Studien in derselben Deutlichkeit wie in der bereits erwähnten PISA-Studie auf. In der DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistung International) besitzt der ermittelte Leistungsvorsprung der Mädchen in der neunten Klasse im Lesen beispielsweise eine geringe Effektstärke (vgl. Hartig/Jude 2008: 203). Ein ähnliches Ergebnis liefert die IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung). In ihr schneiden die Mädchen zwar in fast allen Teilnehmerstaaten besser ab, die Differenz ist in Deutschland mit sieben Punkten jedoch signifikant niedriger als in allen anderen Teilnehmerländern (vgl. Bos et al. 2007, Mullis et al. 2007). Auch die Metaanalysen zur Lesekompetenz von Lietz (2009) und Mücke (2006) zeichnen
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ein ähnliches Bild: Es sind statistisch nur schwache bis mittlere Effektstärken zugunsten der Mädchen zu verzeichnen. Aus deutschdidaktischer Perspektive darf der Blick jedoch nicht nur auf den von Schulleistungsstudien erhobenen Leistungsoutput verengt werden. Für das ›kompetente Lesen‹ sind neben den kognitiven Prozessen, die der Leseakt an sich abverlangt, auch der Erwerbsweg sowie die subjektiven und sozialen Funktionen, die dem Lesen zu- oder abgesprochen werden, zentral (vgl. Rosebrock/Nix 2008: Kap. II, Garbe/Holle/von Salisch 2006: 126-146). Werden diese Aspekte berücksichtigt, so rücken weitere geschlechtsspezifische Differenzen beim Lesen ins Blickfeld, die sich in fünf Bereiche zusammenfassen lassen: 1. Lesequantität und -frequenz: Mädchen lesen im Durchschnitt häufiger und länger als Jungen. 2. Lesestoffe und Lektürepräferenz: Mädchen und Jungen ziehen jeweils andere Bücher, Zeitschriften und Textsorten im Internet vor. 3. Leseweisen und Lektüremodalitäten: Im Durchschnitt neigen Mädchen stärker zu empathischer und emotional involvierter Lektüre, Jungen stärker zu instrumenteller Lektüre. 4. Lesefreude und -neigung: Mädchen bedeutet das Lesen im Durchschnitt mehr als Jungen, sie geben es entsprechend häufiger als eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen an und ziehen offenbar auch höhere Gratifikationen daraus als Jungen. 5. Lesekompetenz: Die Leseleistungsstudien der vergangenen Jahre zeigen, dass Mädchen im Durchschnitt besser als Jungen lesen (vgl. Philipp/Garbe 2007: 2, vgl. aber auch zur kritischen Revision der Daten Philipp 2011b). Dass Mädchen das Lesen auch in ihren sozialen Beziehungen stärker einbetten, kann aufgrund der höheren subjektiven Wertschätzung nicht verwundern. So tauschen sich Mädchen regelmäßiger mit ihren Freundinnen über Gelesenes aus und sie verleihen Bücher und Zeitschriften auch häufiger untereinander als Jungen dies tun (vgl. Philipp 2011a: 134f.). Bei der Betrachtung von Geschlechterdifferenzen darf keinesfalls vergessen werden, dass das Geschlecht nicht die einzige Größe ist, an der sich Differenzen in Leseleistung und Leseverhalten beobachten lassen. Migrationshintergrund und sozioökonomischer Status wirken sich hier ebenfalls stark aus. Die Berechtigung, das Thema speziell unter der Geschlechterperspektive zu betrachten, ergibt sich jedoch daraus, dass sich die genannten Differenzen statistisch auch zwischen Mädchen und Jungen mit vergleichbarem sozialen Hintergrund zeigen.
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Erweitert man den Blick auf andere Medien, so fällt ebenfalls ein entscheidender Unterschied ins Auge. In der aktuellen JIM-Studie (Jugend, Information, [Multi-]Media), die im jährlichen Turnus die Medienwelt der 12- bis 19-Jährigen in Deutschland untersucht, und der KIM-Studie (Kinder + Medien, Computer + Internet), die sich auf die Altersgruppe der sechs bis 13-Jährigen konzentriert, wird deutlich, dass über alle Altersgruppen hinweg Jungen viel häufiger eine feste Spielekonsole besitzen und den Computer öfter zum Spielen nutzen als Mädchen (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2010 und 2011). Während sich die Geschlechter in den genannten Studien in ihrem sonstigen Medienverhalten sehr ähneln – z.B. in der Nutzung des Handys oder des Internets –, scheinen die konsistenten Befunde zum Lesen auf der einen Seite und dem Spielen am Computer und an der Konsole auf der anderen Seite zwei geschlechtsspezifische Pole des Mediennutzungsverhalten zu markieren. Zwei Medienwelten also? Aus gendertheoretischer Sicht sind die Ergebnisse der quantitativen Studien mit einem gewissen Unbehagen verbunden, denn Geschlechteridentitäten sind zu einem beträchtlichen Anteil sozial konstruiert. In den großen Studien zum Leseund Medienverhalten wird das Geschlecht jedoch auf seine biologische Dimension reduziert. Das hieraus entstehende Dilemma bringen Hurrelmann und Groeben (2006) auf den Punkt: »Das, was empirisch valide und übereinstimmend nachgewiesen wurde – der Zusammenhang zwischen Mediennutzung und biologischem Geschlecht (Sex) –, lässt sich theoretisch nicht befriedigend erklären. Das, was theoretisch befriedigen würde – der Zusammenhang zwischen Mediennutzung und sozialem Geschlecht (Gender) – lässt sich bislang empirisch nicht befriedigend sichern.« (Hurrelmann/Groeben 2006: 52)
Sozialisationstheoretische Erklärungsansätze liegen hingegen vor. Neben dem historischen Verweis darauf, dass das belletristische Lesen seit eh und je eine stärker von Frauen ausgeübte Tätigkeit war (vgl. Garbe 2007a), werden vor allem die gesellschaftlichen und medialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ins Feld geführt, die die Lesekarrieren von Jungen beeinträchtigen könnten. Zum einen wird die weibliche Linie in der Lesesozialisation problematisiert. Jungen treffen bis in die mittlere Kindheit auf Mütter, Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen und könnten das Lesen so unbewusst als eine weibliche Medienpraxis erleben, von der es sich spätestens in der Pubertät, wenn es um die Herausbildung einer männlichen Geschlechtsidentität geht, abzugrenzen gilt. Empirische Studien zeigen allerdings, dass eine negative Auswirkung weiblicher Lehrkräfte auf den Lernerfolg von Jungen nicht nachweisbar ist (vgl. z.B. Carring-
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ton/Tymms/Merrell 2005, Helbig 2010). Zum anderen wird diskutiert, ob viele Jungen durch Bildschirmspiele eher ihr Bedürfnis nach Männlichkeitsinszenierung befriedigen können und aus diesem Grund das Buch häufiger durch die Konsole und den PC substituieren (vgl. Garbe 2008: 305-307). In der Folge wird in der Freizeit ›noch‹ weniger und in der Schule weniger engagiert gelesen. Die fehlende Lesepraxis mündet schließlich in einem weniger kompetenten Lesen. Die Sorge um die Jungen ist mittlerweile so groß, dass sie sogar auf EUEbene Beachtung findet. So hat jüngst die High Level Group Of Experts On Literacy die Überwindung der Geschlechterungleichheiten im Lesen als eines ihrer vier Kernziele definiert (vgl. European Commission 2012). Festzuhalten ist aus didaktischer Perspektive: Zunächst einmal sollte für leseschwache Jungen und Mädchen gelten, dass ihre Leseflüssigkeit gefördert wird, so dass sie beim Lesen nicht mehr mühselig einzelne Wörter dekodieren, sondern das Arbeitsgedächtnis für die kognitiven Prozesse genutzt werden kann, die ein hinreichendes Verstehen beim Lesen ermöglichen (vgl. Rosebrock/Nix 2006, für die praktische Umsetzung in der Schule siehe den Überblick in Rosebrock/Nix 2008: Kap. III). Spätestens danach – wenn in hinreichendem Maß die basalen Lesefertigkeiten ausgebildet sind – stellt sich jedoch in der Schule und darüber hinaus die Frage, welche Texte zum Aufbau stabiler Lesegewohnheiten und -motivationen herangezogen werden sollen. Das wirft die Frage nach einer möglichen Geschlechterdifferenzierung auf und führt zu einem weiteren Dilemma, das Garbe (2007b) reflektiert: Junge zu sein heißt oftmals, sich innerhalb eines sehr restriktiven Rahmens auf ein traditionelles Modell von Männlichkeit festlegen zu müssen. Wenn nun geschlechtsstereotype Texte zur Leseförderung ausgewählt werden, besteht zwar die Chance, Jungen zum Lesen zu animieren, es beinhaltet aber zugleich die Gefahr, sie wieder auf ein essentialistisches mindset zu fixieren, das den Kern des Problems widerspiegelt: ›Echte‹ Männer sind stark, mutig oder sportlich, aber sie sind meistens keine Leser. Wird der umgekehrte Weg gewählt, indem literarische Texte zur Geschlechterdekonstruktion genutzt werden, erreichen sie viele Jungen oftmals nicht und sind damit zur Leseanimation und -förderung wenig geeignet. Jungen lassen sich intensiver auf Texte ein, bei denen ein männlicher Held die Hauptfigur ist, dies zeigen unterschiedliche Studien (vgl. z.B. Wardetzky 1992, Pronold-Günthner 2010). Daraus lässt sich im Hinblick auf die Schaffung von Lesemotivation die Vermutung ableiten, »dass es besonders für Jungen entscheidend ist, in ihren Lesestoffen Identifikationsangebote vorzufinden, die ihren männlichen Selbstentwürfen nicht widersprechen« (Schilcher 2010: 365). Eine Studie zur Kinder- und Jugendliteratur der 1990er Jahre zeigt, dass die dort ent-
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worfenen Geschlechterrollenbilder die traditionellen Mustern oft geradezu umkehren (vgl. Schilcher 2001: 56ff.). »Gerade Attribute, die Jungen sich gerne zuschreiben wie körperliche Geschicklichkeit, Selbständigkeit, Mut, Abenteuerlust, die Lust an die Grenzen der gesteckten Normen zu gehen, fehlen den Hauptfiguren der Kinderbuchtexte oft.« (Schilcher 2010: 366)
Auffällig viele Jungen in diesen Texten sind dagegen mit einer Krankheit oder Behinderung belastet (vgl. Schilcher 2001: 63). Solchen literarischen Texten ist das politisch eindeutig zu begrüßende Bemühen anzumerken, traditionelle Geschlechterrollenstereotype aufzulösen und zu verabschieden. Neue und attraktive Identifikationsangebote für heranwachsende Leser schaffen sie aber offenbar kaum und damit wohl auch keine Motivation überhaupt Literatur zu lesen. Es liegt daher die pragmatische Überlegung nahe, Lesestoffe mit hergebrachten Geschlechterrollenbildern mittelfristig für die Leseförderung zuzulassen, um verstärkt auch Jungen, die eher ›buchfern‹ sozialisiert sind, die Möglichkeit zu bieten, Lesestoffe für sich zu entdecken, die sie da abholen, wo sie stehen (vgl. Garbe 2008). Das ist bedenkenswert, da auch der schulische Literaturkanon oftmals aus Werken besteht, die gerade den Lesebedürfnissen von Jungen kaum gerecht werden (vgl. Schilcher/Hallitzky 2004: 118). Dies schlägt sich auch nieder im Interesse am Schulfach Deutsch insgesamt, das bei Mädchen im Durchschnitt deutlich höher ist als bei Jungen (vgl. Schilcher 2010: 361). Es sollten jedoch nicht nur kategorisch die Differenzen zwischen den Geschlechtern herausgestellt werden, sondern auch die Unterschiede innerhalb der Geschlechter reflektiert werden. Denn das Lesen ist immer noch eine stark individualisierte Tätigkeit. Es gibt genauso wenig den Jungen wie das Mädchen – und nicht jeder Junge möchte sich auf ein traditionelles Männlichkeitskonzept festlegen lassen. Langfristig muss es daher um das Ziel gehen, die ›vermeintlichen‹ Geschlechterdichotomien zu überwinden. Gerade das Unterrichtsfach Deutsch bietet hier die Möglichkeit zur Reflexion und auch zur Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht. Die grundlegende Voraussetzung dafür, dass ein solcher Prozess in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten angestoßen wird, ist aber, dass überhaupt Literatur gelesen wird. Die Frage, die sich daraus für den schulischen Literaturunterricht ergibt, lautet dann, welche Texte für den Einstieg ins literarische Lesen zugelassen werden sollen. Dürfen dies auch Texte sein, die mit einfachen Stereotypen arbeiten? Führt eine solche Lektüre zur Verfestigung von klischeehaften Wahrnehmungen auch in der Realität oder kann sie vielmehr die Lektüre komplexerer und differenzierterer Texte vorbereiten helfen? Die Untersuchung solcher Fragen in einer Langzeitstudie könnte sehr aufschlussreich sein. Sicher ist
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auf jeden Fall, wer überhaupt nicht liest, wird auch nie irgendwelche Anregungen aus literarischen Texten beziehen, die die in der außerliterarischen sozialen Umwelt geformten Einstellungen irritieren könnten. »Sprache und Sprachgebrauch reflektieren« (KMK 2012: 11) ist ein zentraler Kompetenzbereich, der Schülerinnen und Schülern im Deutschunterricht vermittelt werden soll. In dieser Hinsicht bietet sich auch die Thematisierung geschlechtergerechter Sprachverwendung im Unterricht an, handelt es sich hierbei doch um ein ebenso vielschichtiges wie gesellschaftlich bedeutendes Sprachphänomen. Die Beidbenennung geschlechtlicher Formen wie etwa ›Schülerinnen und Schüler‹ statt dem Gebrauch des generischen Maskulinums lässt sich im Deutschunterricht unter verschiedenen Aspekten diskutieren. Dabei kann sowohl die sachliche Angemessenheit des Ausdrucks als auch die Formulierung lesbarer Texte und die Ästhetik von Versalien (SchülerInnen) oder Schrägstrichen (Schüler/innen) thematisiert werden. In der Sekundarstufe 2 bietet sich das Thema geschlechtergerechte Sprache darüber hinaus auch als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der allgemeineren sprachphilosophischen Frage nach dem Zusammenhang von Sprache und Denken an. Denn gerade im Zusammenspiel zwischen der sprachlichen und der gedanklichen Nicht-Berücksichtigung eines Geschlechts liegt ja überhaupt die gesellschaftlich-politische Relevanz des Themas geschlechtergerechte Sprache begründet. Sprachreflexion kann auch mit der Betrachtung der Konstruktion von Geschlechterstereotypen in der Literatur verbunden werden. Christa Stocker (2008) schlägt dafür die Auseinandersetzung mit genderisierten Kollokationen in literarischen Texten vor. Unter Kollokationen werden in der Linguistik besonders häufig auftauchende Wortkombinationen verstanden. Solche zeigt Stocker am Beispiel von Jugendliteratur aus dem 19. Jahrhundert auf, wo etwa die Worte zart und schlank besonders häufig in Verbindung mit dem Wort Mädchen zu finden sind und die Worte laut und wild in Verbindung mit dem Wort Junge. Das Herausarbeiten solcher sprachlicher Muster ist auch mit Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe 1 möglich und es macht erkennbar, wie sprachlich auf subtile Weise Klischees geprägt werden. Eine geläufige Perspektive im Deutschunterricht der Oberstufe gilt der Auseinandersetzung mit historischen Geschlechterrollenmustern und Geschlechterordnungen anhand einschlägiger literarischer Klassiker wie z.B. Theodor Fontanes Effi Briest oder Lessings Emilia Galotti. Um Schülerinnen und Schülern diese Perspektive auf literarische Texte zu erschließen, bietet sich auch der Zugang über Beispiele aus der historischen oder aktuellen Unterhaltungsliteratur an, in denen Rollenmuster plakativ gezeichnet sind und somit auch für Lernende als Konstruktionen erkennbar werden. So kann z.B., um einen Klassiker aus diesem
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Bereich zu nennen, an Emmy von Rhodens Trotzkopf-Roman und seinen Nachfolgern die geschlechtliche Zurichtung der Protagonistin nach gesellschaftlichen Rollenerwartungen in den Blick genommen werden. Das überkommene Bild von Männlichkeit mit den Insignien Mut, Stärke und emotionale Kontrolliertheit lässt sich an zahlreichen Helden der Heftliteratur beobachten, egal ob diese durch den Wilden Westen reiten oder in den Straßen New Yorks als Detektiv ermitteln. Die Kategorie gender kann bei der Beschäftigung mit literarischen Texten aber nicht nur auf Figuren und deren Gestaltung angewendet werden, sondern z.B. auch auf die geschlechtsspezifische Zuordnung und symbolische Aufladung von Raumdarstellungen (vgl. Nünning 2004). Die Genderperspektive stellt somit eine Bereicherung der interpretativen Zugänge zu literarischen Texten dar, die auch in der Schule genutzt werden können. Die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Geschlechterrollen ist nicht auf die Literatur beschränkt. Sie lässt sich auch am Beispiel anderer Medien, vom Film bis zum Computerspiel thematisieren. So können nicht nur historische, sondern auch aktuelle populärkulturelle Entwürfe problematisiert werden. Allerdings ist dies eine heikle Angelegenheit, die viel pädagogisches Fingerspitzengefühl erfordert, sobald Gegenstände berührt werden, die für die Schülerinnen und Schüler selbst von identifikatorischer Bedeutung sind. Aus wissenschaftlicher Sicht interessant wäre dann die Untersuchung der Frage, ob und wie die unterschiedlichen Medienpräferenzen der Geschlechter mit den in den Medien gezeigten Geschlechterkonstruktionen korrelieren. Die Betrachtung von Genderaspekten im Kontext der Probleme und Aufgabenstellungen des Deutschunterrichts führt zu zwiespältigen Beobachtungen, in denen die Aufgaben der Vermittlung von Lesekompetenz und der Vermittlung emanzipierter Geschlechterrollenbilder in einen Widerstreit geraten können. Lesekompetenz vermittelt sich am besten durch Lesen. Gleichzeitig scheinen Kinder- und Jugendbücher, die alternative Geschlechterrollenbilder vermitteln wollen, bei vielen Heranwachsenden aber wenig Motivation zum Lesen zu erzeugen. Daraus ergibt sich die Frage nach der Priorität. Stellt die Leseförderung einen so hohen Wert dar, dass sie auch mithilfe von Texten betrieben werden soll, die keine zeitgemäßen und politisch erwünschten Rollenbilder vermitteln? Oder ist es besser, nicht zu lesen, statt Texte zu lesen, die hergebrachte Stereotype reproduzieren? Es liegen bereits didaktische Vorschläge vor, um solche Dilemmata zu vermeiden, etwa, indem in der Schule darauf geachtet wird, solche Lektüren zu wählen, die Jungen und Mädchen attraktive Identifikationsfiguren anbieten. Hier wird z.B. das Genre des ›gemischtgeschlechtlichen‹ Bandenromans vorgeschlagen (vgl. Schilcher 2004). Ein anderer Ansatz besteht darin, mit differenzierten Klassenlektüren zu arbeiten (vgl. Metzger 2004) und zur Förderung der Lesemo-
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tivation im Rahmen freier Lesezeiten Lesestoffe zuzulassen, die den aktuellen und individuellen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler entsprechen – ob diese nun Geschlechterstereotype transportieren oder nicht. Losgelöst vom eigentlichen Unterrichtsgeschehen entscheiden die Schülerinnen und Schüler dann selbst, welcher Lesestoff für sie subjektiv von Interesse ist (für die praktische Umsetzung in der Schule siehe den Überblick in Rosebrock/Nix 2008: Kap. IV). Damit wird zugleich das Problem vermieden, Schülerinnen und Schülern aufgrund ihres biologischen Geschlechts Lektürevorlieben zu unterstellen und als Lehrkraft damit selbst ein doing gender zu betreiben. Im Unterricht besteht dann im Anschluss an die Lektüre die Möglichkeit, die Kategorie gender auf verschiedene Weisen an den gelesenen Texten zu reflektieren und mit den Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler in ihrer eigenen Lebenswelt in Verbindung zu bringen.
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Die Inklusive Universitätsschule Köln im Kontext von Ausbildung und Geschlechtergerechtigkeit S ILKE K ARGL »Auf der Basis gegenwärtiger Diversität jenseits eines bloßen Ideals müssen wir nach den […] in der erwünschten Fairness und Solidarität umkämpften […] Lösungen fragen, die als menschenwürdig immer erst erkämpft werden müssen. Sie […] werden vorrangig im aktuellen gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander ausgehandelt.«1 KERSTEN REICH
1. D IE I NKLUSIVE U NIVERSITÄTSSCHULE ALS P RAXISSCHULE FÜR ANGEHENDE L EHRER _ INNEN Als international vorbildhaft für die Lehrer_innenausbildung gilt das fin nische Bildungssystem. In Finnland betreiben alle Hochschulen in der Lehrer_innenbildung Praxisschulen, so genannte normaalikoulu, die direkt an die Universitäten angegliedert sind (vgl. Kricke 2010). Im bundesdeutschen System
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Der folgende Text bezieht sich exemplarisch auf normativ gesetzte und als Ergebnis internationaler politischer Prozesse entwickelte Teillösungen für die Minimierung von Diskriminierung und für die Erhöhung von egalitären sozialen Settings im Bildungsraum Schule. Dabei ist bekannt, dass der menschenrechtliche Referenzrahmen in der feministischen Theorie nicht unumstritten ist, weil z. B. poststrukturalistische und dekonstruktivistische Theorien ihn im Ganzen als androzentrisch und reduktionistisch zur Disposition stellen (vgl. Pimminger 2012: 7).
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sind bis heute theoretische und praktische Ausbildungsphasen hingegen immer scharf in zwei Phasen separiert. Dies führt für Studierende nach der Hochschulphase in der Praxisphase des Referendariats zwangsläufig zu einem Praxisschock bzw. zu einem meist schwierigen Transfer von der Theorie in die Praxis. Die Theorie-Praxis-Kluft liegt daran, dass man sich in der BRD in der Grund-, Haupt- und Realschullehrer_innenausbildung von Praxiselementen verabschiedet hatte, als in den 1980er Jahren fast alle Pädagogischen Hochschulen in die Universitäten integriert wurden. Die Lehramtsausbildung an den Universitäten war traditionell durch eine enge Schwerpunktsetzung auf Fachwissenschaft geprägt. Hinzu treten dann auch noch die komplizierten Abläufe und Zuständigkeiten des Schulbetriebs, die verstreut bei verschiedenen Akteur_innen liegen (u. a. Bundesländer, Städte und Kommunen, Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden). Heute verschärft sich das Verhältnis einer notwendigen Verbindung von Theorie und Praxis insbesondere durch die Anforderungen der Inklusion. Inklusive Anforderungen in der neuen Lehrer_innenausbildung sind u. a. die Entwicklung diagnostischer Fähigkeiten und individueller Förderangebote und die Herstellung barrierefreier Settings in Raum, Zeit und Sprache. Inklusive Entwicklungen – d.h. Entwicklungen einer praxisnahen Förderung aller Schüler_innen und die Notwendigkeit, die proklamierte Bildungsgerechtigkeit im Schulsystem praktisch durchzuführen – wurden durch Vereinbarungen auf internationaler Ebene verbindlich (UN-Behindertenrechtskonvention). Daraus folgen veränderte Anforderungen an die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Dieser top-downProzess wurde in Köln ergänzt um den bottom-up-Impuls der Studierenden2 zur
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Nachdem die Studierenden an der Humanwissenschaftlichen Fakultät trotz vieler Streiks und Aktionswochen von 2002 bis 2006 die Einführung von Studiengebühren in NRW ab 2007 nicht verhindern konnten, beschlossen sie im Wintersemester 2007/2008 in einer Vollversammlung ein Projekt zu gründen, das die durch Studiengebühren geschaffenen Mittel in Anspruch nehmen sollte. Das BildungsRaumProjekt »school is open« bildete sich und formulierte verschiedene Arbeitspakete, die sich aus Leerstellen in der Forschung, Lehre und der generellen Struktur der Lehramtsausbildung an der Humanwissenschaftlichen Fakultät ergaben und die Konstruktion von situativen Erfahrungsfeldern und Lernräumen für Studierende und Lehrende zum Ziel hatte. Wesentliches Arbeitsvorhaben war die Gründung einer emanzipatorischen Praxisschule – seinerzeit ein utopischer Gedanke. Diese Idee gewann aber stetig durch die Übernahme der wissenschaftlichen Leitung von »school is open« durch Prof. Kersten Reich 2009, durch Lehrveranstaltungen des Projekts und im Arbeitskreis Schulgründung an Konkretion. Im Arbeitskreis Schulgründung treffen sich Lehrer_innen, Student_innen, Dozent_innen der Universität und Schüler_innen und ent-
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Gründung einer ersten inklusiven Praxisschule in der deutschen Lehramtsausbildung nach internationalem Vorbild, der Inklusiven Universitätsschule Köln (IUS). Ein konstitutives Element des umfassenden Inklusionskonzepts dieser Schule ist die Auseinandersetzung mit Geschlechtergerechtigkeit3 und Sexismus und die Weiterentwicklung der reflexiven Koedukation. Bereits im Jahr 2006, als von der praktischen Gründung einer IUS noch nicht die Rede war, gab es an der Universität Köln Projekte zu SoS – Schule ohne Sexismus: Das studentische BildungsRaumprojekt »school is open« verankerte an der Universität Köln im Rahmen von Qualitätsmaßnahmen thematische Anliegen zur Auseinandersetzung mit Geschlechterstereotypen und -normierungen in der Lehre, mit Heteronormativität und fortbestehenden »Formen männlicher Herrschaft« (vgl. Bourdieu 2005). Dabei deutete sich bereits an, dass zwischen einer inklusiven und einer geschlechtergerechten Schule eine Verbindung sui generis besteht: Eine »Form der Allianz wäre möglich zwischen Menschen, die sich zu einem übergeordneten Prinzip wie dem der Nichtdiskriminierung bekennen, das alle willkürlichen Formen der sozialen Stratifizierung anspricht« (Jensen 2005: 264). Diese partielle Kongruenz wurde in den Entwürfen der Rahmenkonzepte für die IUS weiter ausformuliert und ist heute als einer der Standards der Inklusion als konstitutiver Teil des pädagogischen Konzepts der IUS enthalten. Darin ist auch die Erweiterung der reflexiven Koedukation durch das Prinzip der partizipativen Koedukation, d.h. durch die systematische Einbeziehung der Schüler_innen als Akteur_innen des Unterrichts aufgehoben (vgl. Asselhoven et al. 2011: 8, 25f.). In schulischen, gerechtigkeitsorientierten Implementierungsverfahren (durch re-
wickeln das pädagogische Konzept ständig weiter. Seit Dezember 2010 ist die Schulgründung offizielles Anliegen des Rektorats der Universität zu Köln und Teil des Innovationsprogramms der Lehrer_innenbildung. Die IUS wird als öffentliche, kommunale umfassend inklusive Schule in Köln realisiert werden (vgl. Kargl 2009: 21f.). 3
Rendtorff (2006: 137) leitet Geschlechtergerechtigkeit aus den ethischen Vorgaben des Philosophen Hügli ab und thematisiert dabei auch, wie die Legitimität von Umverteilungsforderungen moralisch begründet sein kann. Budde, Faulstich-Wieland und Scholand (2008: 281) bemerken, dass eine geschlechtergerechte Schulpraxis möglicherweise eben jene sei, die aufhört, Geschlechtszugehörigkeiten im alltäglichen Umgang zu dramatisieren und es ermöglicht, heterogene Settings gelingend zu gestalten. Seemann (2009: 248) fokussiert ihren Gerechtigkeitsbegriff auf strukturelle Verfahren in der Schulentwicklung und schreckt dabei weder vor dem Begriff Gleichstellung noch vor der Auseinandersetzung mit hierarchischen Geschlechterverhältnissen zurück.
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flexive Koedukation oder Gender Mainstreaming) bleibt die Klientel als Teilnehmer_innen der Geschlechterverhältnisse oft außen vor. Ihre Lebensentwürfe und Erfahrungswelten und bereits erlebten Umgangsformen mit geschlechtlichen Zuweisungen werden nicht ausreichend gewürdigt. Personalmaßnahmen erreichen die Schülerinnen und Schüler nicht. Ich plädiere dafür, Eltern, Kinder und Jugendliche stärker einzubinden, wenn sich Schulen inklusiv entwickeln sollen. Gerade die Vorstellungen über die Geschlechterverhältnisse sind sehr stark voroder außerschulisch geprägt. Positiv beobachtet kennen die Schülerinnen und Schüler Strategien zum Unterlaufen der Normierungen aus privaten Kontexten und aus der schulischen Peergroup. Aus diesen Lebensbereichen stammt auch der Druck, sich Normierungen anzupassen. Gemeinsame Lernzielvereinbarungen mit der Familie sollten diese widersprüchlichen Anforderungen an Vergeschlechtlichungsprozesse nicht außen vor lassen. Partizipieren sollten die Lernenden auch an curricularer und methodischer Weiterentwicklung. Lehrkräfte können dabei von ihrer Klientel profitieren, so wie es Annedore Prengel (2011) z. B. für die Grundschule zeigt. Bereits in der Grundschule verfügen Kinder über unterschiedliche Konstruktionsweisen von Geschlecht: »Sie stellen dualistisch die Zweigeschlechtlichkeit, universalistisch die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Geschlechtern oder pluralistisch die Vielfalt innerhalb jedes Geschlechts und transversal die Überschneidungen zwischen den beiden Geschlechtern in der Vordergrund.« (Prengel 2011: 2 [Herv. i.O.])
Das heißt, schulische Interaktionen unterliegen einer Bandbreite von sowohl emanzipatorischen als auch stereotypen Varianten des zwischenmenschlichen Umgangs. Es handelt sich um Heterogenität auf der Folie der kolportierten Binarität und Heteronormativität der Geschlechtszugehörigkeit. Für eine inklusive Entwicklung sind deshalb Trennungen nach Geschlecht vehement in Frage zu stellen, weil diese Praxis damit einerseits den vielfältigen Formen der Schüler_innen nicht gerecht würde, mit ihren Vergeschlechtlichungsprozessen umzugehen und weil dadurch zudem ein binäres Denken in Hinblick auf Geschlechterzugehörigkeit verfestigt würde. Ich plädiere für Lerngruppen, die sich auch als Vertrauensgruppen verstehen. Vertrauensgruppen zielen, teilweise vergleichbar mit peer education, auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ab, mit wem sie sich jeweils als Lern- und Diskussionsgruppe zusammenfinden wollen. Der methodische Ansatz wird im Kontext der IUS-Entwicklung präferiert, weil er eine hohe Variabilität und Flexibilität in Bezug auf die Vermeidung von bipolaren Geschlechterrollen aufweist: Eine Gruppe können schon zwei Kinder oder Jugendliche sein. Die Lehrkräfte steuern nicht ungefragt auf Geschlechtertren-
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nung hin, sondern thematisieren Möglichkeiten (vgl. Kargl 2012). Damit bietet sich für die Lernenden die Wahlfreiheit, geschlechtergemischte oder geschlechterhomogene Gruppen auf Zeit zu bilden. Das Projekt IUS kann vor diesem Hintergrund eine exemplarische Wirkung entfalten, indem es – bereits vor dem ›ersten Schultag‹ – im akademischen Rahmen als Dispositiv zu wirken vermag, als ein Netzknoten zwischen pädagogischen Praktiken und innovativen Diskursen innerhalb der Schullandschaft einerseits und der kompetenzorientierten professionalisierten Lehramtsausbildung und universitären Diversitätsforschung andererseits. Real starten soll die Schule mit Unterstützung des Rektorats der Universität, des Dekanats der Humanwissenschaftlichen Fakultät und der Studierendenschaft gemeinsam mit der Schulverwaltung der Stadt Köln voraussichtlich ab 2014 als kommunale Schule. Als öffentliche Schule soll die IUS eine Schule im Stadtteil werden. Die Diversität der Stadtbevölkerung soll sich in den heterogenen Lerngruppen der Schule spiegeln. Eine inklusive Schule ist von der Idee her eine Bildungsinstitution vor Ort, die mit niedrigschwelligem Zugang alle Kinder im Quartier betreuen sollte. Die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems der BRD ist dabei international gesehen ein Sonderweg, der kontraproduktiv auf die in der Inklusion angestrebte Erhöhung der Bildungsgerechtigkeit wirkt (vgl. dazu ausführlich Reich 2013).
2. D ER
UMFASSENDE I NKLUSIONSBEGRIFF
Die IUS ist durch ihre Anbindung sowohl an außeruniversitäre gesellschaftliche Gruppen und soziale (Antidiskriminierungs-) Bewegungen als auch durch die vielfältigen Forschungsansätze der Lehramtsausbildung beteiligten Institute der Universität Köln mit einem Inklusionsbegriff konfrontiert, der über die Aufgabe der Integration von Menschen mit Behinderung ins Regelschulsystem weit hinaus geht. Inklusion ist über die gesamte Lebensspanne und in allen Bereichen der Gesellschaft angelegt. Hans Wocken formulierte als Grundmotto für die verspätet einsetzenden Anstrengungen in der BRD: »Inklusive Bildung versteht sich als Pädagogik der Vielfalt; sie ist überzeugt von dem Nutzen und der Fruchtbarkeit von heterogenen Lerngruppen.« (Wocken 2010: 4) Cornelißen greift den Begriff ›aufgeklärte Heterogenität‹ von Heinzel und Prengel (2002) auf und meint damit, »dass Verschiedenes gleichrangig zu behandeln ist, und dass Zuschreibungen, seien sie auch noch so differenziert, abzulehnen sind. Dieses Verständnis von Heterogenität erfordert, die Vielfältigkeit von Lernvoraussetzungen wahrzunehmen, wertzuschätzen und produktiv im Unterricht einzusetzen. Es muss aber auch heißen, vielfältige neue Lernerfah-
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rungen zu ermöglichen und unterschiedliche Lern- und Lösungswege zuzulassen, Vielfalt immer als wandlungsfähig zu begreifen.« (Cornelißen 2011: 103)
Inklusion ist ein international weit formulierter Begriff. So wird z. B. in den Leitlinien der UNESCO der universale Anspruch festgehalten: »Inklusive Bildung ist ein Transformationsprozess, der zum Ziel hat, dass Schulen und andere Lernzentren alle Kinder aufnehmen – Jungen und Mädchen, Schüler ethnischer und linguistischer Minderheiten, die ländliche Bevölkerung, jene, die von HIV/AIDS betroffen sind, Schüler mit Behinderungen und Lernschwierigkeiten – und auch für alle Jugendlichen und Erwachsenen Lerngelegenheiten schaffen. Das Ziel von inklusiver Bildung ist, Exklusion zu beseitigen. Diese entsteht durch negative Einstellungen und mangelnde Berücksichtigung von Vielfalt in ökonomischen Voraussetzungen, sozialer Zugehörigkeit, Ethnizität, Sprache, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung und Fähigkeiten.« (UNESCO 2010: 4)
Dieser inklusive Anspruch drückt aus, dass staatliche Institutionen dazu verpflichtet sind, Teilhabe und Mitbestimmung aller Menschen zu ermöglichen, unabhängig vom Geschlecht, der sexuellen Orientierung, dem finanziellen Einkommen, der Herkunft, des gesundheitlichen Zustandes, der vorübergehenden oder dauerhaften Behinderung, des sprachlichen Vermögens, des Alters etc. Im Konzept der Inklusion ist ein gesellschaftlicher Anspruch enthalten, der nicht von der Bringschuld der Diskriminierten ausgeht sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, sondern von der Gesellschaft fordert, Vorkehrungen gegen jegliche Formen der Diskriminierung zu treffen. Die Gesellschaft muss ihrerseits Leistungen erbringen, die geeignet sind, Diskriminierungen von Menschen jeder Art und auf allen Ebenen abzubauen und eine möglichst gerechte Entwicklung für alle Menschen zu ermöglichen. Dazu gehören auch Antidiskriminierungsregelungen. Antidiskriminierungsregeln sind ambivalent, wenn man Zuschreibungen und Normierungen abbauen möchte. Wenn sie greifen sollen, ist zumindest temporär eine Zuordnung zu einer Strukturkategorie unumgänglich, die bei vielen theoretischen Anliegen selbst dekonstruiert werden sollen. Die Benennung und Ahndung von Diskriminierungssituationen führt nicht zur grundsätzlichen Beendigung von Diskriminierung. Wie Fritzsche (2011) für den schulischen Kontext mit Bezug auf Butler nachzeichnet, sind Verletzbarkeiten unausweichlich, auch wenn gesellschaftlich versucht wird, Verletzbarkeiten durch Antidiskriminierungsverfahren zu unterdrücken:
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»Die Art und Weise, wie wir von anderen adressiert werden, ermöglicht und beschränkt zugleich, was wir sein können, sie kann unsere Verletzbarkeit verleugnen, anerkennen und/oder produzieren, jedoch nicht zum Verschwinden bringen.« (Fritzsche 2011: 284)
Diversity Education bezeichnet vor diesem Hintergrund einen Ansatz, beim Umgang mit heterogenen Gruppen von Menschen auch in der Lehrer_innenbildung auf die Frage nach den Bedingungen einzugehen, die social inclusiveness im Rahmen von Diversität ermöglichen. Die Beteiligten können z.B. unterschiedliche Erstsprachen sprechen oder aus stark differierenden sozialen Milieus stammen. Oder sie befinden sich in stark divergierenden Lebensaltern. Der Inklusionsansatz entlastet den einzelnen Menschen, denn statt einer nur den Subjekten abverlangten Anpassungs- und Integrationsleistung hat insbesondere auch die Institution die Aufgabe, allen Gruppen und Individuen Zugang und Nachteilsausgleich beim Erreichen der Abschlüsse zu ermöglichen. Institutionen, die sich dem Vorhaben einer inklusiven Transformation stellen wollen, haben nicht nur das Problem zu bewältigen, ›Sondergruppen‹ zu integrieren. Dieser Vorgang birgt in sich die Schwierigkeit, dass möglicherweise die Adressierung als Sonderfall schon Teil der Einschränkung von Zugängen ist. Sie haben vor allem die Aufgabe, alle Erscheinungsformen aufspüren und aufzuheben, die Menschen vom gleichberechtigten Zugang z.B. zu Bildungsinstitutionen und von Förderungen ausschließen. Gesamtgesellschaftlich gilt dies für alle Bereiche, in denen Menschen von Repräsentation und Partizipation, von materiellen Ressourcen und Abschlüssen ferngehalten werden. Diese Sicht spiegelt sich gegenwärtig in den internationalen Konventionen und Vereinbarungen von der SalamancaErklärung (1994) bis zur UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities (2006). Ihre jeweiligen Formulierungen sind inspiriert durch die Impulse der Emanzipationsbewegungen derjenigen Gruppen, die aus der bürgerlichen Subjektkonstruktion (partiell) ausgeschlossen wurden: Frauen, Behinderte, Angehörige ethnischer Minderheiten, Migrant_innen usw. Diese Intention findet sich auch wieder in der internationalen wissenschaftlichen Theorieentwicklung (Ainscow/Booth 2009, Boban/Hinz 2009, Reich 2012, Degele/Winker 2009) und den teilweise darauf aufbauenden Modellversuchen mit einem umfassenden inklusiven Erziehungs- und Bildungssystem, wie z.B. in Skandinavien, Neuseeland oder Kanada. Auf das kommunale Equity Foundation Statement des Toronto District School Board gehe ich in Abschnitt 3 exemplarisch ein. Im europäischen und bundesrepublikanischen Kontext wurden bisher insbesondere zwei Verfahren zur Förderung von Geschlechtergerechtigkeit diskutiert, die als Antidiskriminierungsverfahren und Gleichstellungsinstrumente erkämpft bzw. entwickelt wurden und in staatliches Handeln in der Schule implementiert
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worden sind: Zum einen – oft eher aus einer Verwaltungsperspektive – Gender Mainstreaming-Verfahren4 und zum anderen – oft eher aus der Sicht der Schulforschung – die reflexive Koedukation nach Faulstich-Wieland (1991). Gender Mainstreaming untersucht die Wirkungsmächtigkeit der Verteilung von Ressourcen in öffentlichen Einrichtungen – einschließlich Schulen – bis ins Detail und berücksichtigt Ressourcen (Struktur), (symbolische) Repräsentationen, (subjektive) Lebensrealitäten. Vergleichbar zielt die reflexive Koedukation darauf ab, die Haltung des Lehrkörpers an den Schulen ebenso wie die Curricula zu verändern. Das Gebot nicht zu diskriminieren korrespondiert mit der Förderung von Gleichstellung und resultiert aus dem Gleichberechtigungsgrundsatz im Grundgesetz Art. 3, 2.50. Genau wie in Schweden sieht z.B. die Antidiskriminierungsstelle des Bundes die Erstellung von Frauenförderplänen, die Analyse von Beschäftigungsstrukturen, die Gremienbesetzungen oder den Umgang mit Fragen der sexuellen Belästigung vor (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2012: 26f.). Geschützt werden durch das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG) übrigens nicht nur Menschen, auf die die Kategorien Frau oder Mann zutreffen, sondern auch inter- und transsexuelle Menschen. Insbesondere im schulischen Kontext wird bereits in der Ausbildungsphase zu wenig diskutiert, dass Schutz vor Diskriminierung bzw. inklusive Praxen nicht nur für Schüler_innen, sondern auch für die in der Schule Erwerbstätigen gelten.
4
Gleichstellungspolitik wurde im Amsterdamer Vertrag von 1999 zur offiziellen Leitlinie europäischer staatlicher Politik. Die scheinbare Universalisierung von Gleichstellungspolitik erscheint als ein Erfolg der Frauenbewegung, enthält aber u.a. die Ambivalenz, Teil staatlicher Machtpolitik zu sein. Auf der Strecke bleibt auch die Heterogenität der Frauenbewegungen sowie Unterschiede und Hierarchien der Frauen und Frauenbewegungen untereinander. Gender Mainstreaming ist folglich seit dem Beginn der Debatten um den politischen Gehalt des Verfahrens bei Feminist_innen umstritten, wie z.B. die kontroversen Beiträge von Weinbach (2001) und Pinl (2002) zeigen oder erneut eine Veröffentlichung von Angela McRobbie (2010: 197f.). Die »Inklusive Universitätsschule Köln« bezieht sich kritisch-positiv auf Gender Mainstreaming Verfahren und geht von bottom up als auch top down-Elementen innerhalb der Handlungsmöglichkeiten dieses Referenzrahmens aus. Sie stützt sich dabei u.a. auf die Zusammenstellung des Soester Landesinstituts für Schule zu den Potentialen von Gender Mainstreaming Verfahren in Unterricht, Personalentwicklung, Lehrer_innenausbildung und Weiterbildung durch Glagow-Schicha (2005).
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3. D IE B EDEUTUNG VON S TANDARDS IN DER W ECHSELBEZIEHUNG VON I NKLUSION UND G ESCHLECHTERGERECHTIGKEIT Das Equity Foundation Statement umfasst die folgenden fünf Sektionen: »Antiracism and Ethnocultural Equity«; »Antisexism and Gender Equity«; »Antihomophobia, Sexual Orientation, and Equity«; »Anticlassism and Socioeconomic Equity«; »Equity For Persons With Disabilities«. Für jede Sektion werden die folgenden zehn Anwendungsbereiche in der schulischen Praxis durchdekliniert: Board Policies, Guidelines and Practices, Leadership, Schoolcommunity Partnerships, Curriculum, Student Languages, Student Evaluation, Assessment, and Placement, Guidance, Employment and Promotion Practices, Staff Development, Harassment. Die Genese der Standards ist politisch gesetzt, als schul- und sozialpolitische Reaktion auf die lokalen und regionalen Bedingungen: Toronto ist der am schnellsten wachsende Ballungsraum in Kanada, seine größte Stadt und Wirtschaftszentrum (vgl. www.toronto.ca). Sie ist das bedeutendste kanadische Zuwanderungsziel; 2006 machte der Anteil der im Ausland geborenen Einwohner_innen 45,7 Prozent aus. 20 Prozent der Haushalte leben unter der kanadischen Armutsgrenze. Inklusive Ansätze verstehen sich als ein Baustein bei der Bekämpfung von Armut. Die größten Einwanderungsgruppen stammen aus Indien, China und Portugal. Die Heterogenität der Stadtgesellschaft spiegelt sich auch im offiziellen Stadtmotto wieder: »Diversity Our Strength« – »Vielfalt ist unsere Stärke«. Der Toronto District School Board (TDSB), die kommunale Schulverwaltung, unterhält insgesamt 558 öffentliche Schulen, davon 451 Grundschulen und 102 Schulen der Sekundarstufe. Damit ist der TDSB die größte Schulbehörde Kanadas (vgl. www.tdsb.on.ca/aboutUs). Diese Inklusionsstandards wurden von Kersten Reich (und anderen) für bundesrepublikanische Verhältnisse adaptiert (vgl. Reich 2012). Formuliert wurde in Inklusion und Bildungsgerechtigkeit ein Vorschlag für ein umfassendes Leitbild. Es geht davon aus, dass »[…] bestimmte Gruppen in der Gesellschaft und im Erziehungs- und Bildungssystem benachteiligt sind. Solche Benachteiligungen erwachsen sowohl aus gesellschaftlichen Strukturen wie auch individuellen Besonderheiten. [...] Die aus solchen Zuschreibungen resultierenden Benachteiligungen sind uns bewusst und wir wollen die Ursachen [...] ebenso bekämpfen wie die realen Benachteiligungen, die sich aus mangelnder Förderung von Chancen und einer Ungleichbehandlung ergeben.« (Reich 2012: 49)
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Das Leitbild richtet sich an den Standards der Inklusion aus, die u.a. verbindliche Maßnahmen zur Förderung vorschlagen, um bestehende Nachteile wirksam und nachprüfbar auszugleichen. Sie lauten: (1) Ethnokulturelle Gerechtigkeit ausüben und Antirassismus stärken, (2) Geschlechtergerechtigkeit herstellen und Sexismus ausschließen, (3) Diversität der Lebensformen und Gleichstellung von sexuellen Orientierungen ermöglichen, (4) Sozioökonomische Chancengerechtigkeit erweitern und (5) Chancengerechtigkeit für Menschen mit Behinderungen herstellen. Die Formulierung der Inklusionsstandards folgen einer mehrschrittigen Vorgehensweise: Kritische Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes, Ursachenanalyse, inklusive Handlungsanweisungen, die eine antipatriarchale Intention mit einschließen und eine Orientierung an einem humanen Menschenbild. Dabei beziehe ich mich in diesem Kontext auf Martha Nussbaum. Sie formulierte einen Capability Approach, der von zentralen menschlichen Fähigkeiten ausgeht, die mit der Garantie basaler sozialere Ansprüche verbunden sind (vgl. Nussbaum 2010: 112f.) und die sich als kultur- und geschlechtsunabhängige Erweiterung internationaler Menschenrechte lesen lassen.5 Angelehnt an Reich (2012) sind für eine Erhöhung von Geschlechtergerechtigkeit und den Ausschluss von Sexismus in der Schule im Kontext der Inklusion (Standard 2) insbesondere folgende Aspekte von Bedeutung: •
•
Respekt vor der Vielfalt der Prozesse von Vergeschlechtlichung statt Festlegung auf eine bipolare Geschlechterordnung; Wissen um die Relativität und Hybridität von Begehren; Als Konsequenz aus dem Erkennen der Asymmetrien und Benachteiligungen sind Regeln abzuleiten, z. B. Quotierungen6, die erstellt werden müssen und eine aktive Gleichstellungspolitik u.a. durch die obligatorische Anwendung des Gender Mainstreaming; Verwendung von geschlechtergerechter Sprache;
5
Zur Auseinandersetzung mit Nussbaum vgl. Meyer (2003: 122f.) und Reich (2012:
• •
29f.). 6
Angesichts der zerbrechlichen und unsicheren, weltweit ständig von Zwangsmaßnahmen bedrohten Suche nach Anerkennung der Vielfalt und Einzigartigkeit dessen, wie sich Individuen selbst definieren, erscheint der Gegensatz zwischen Partizipationsforderungen (z. B. Quotierungen), die zunächst in defensiver Intention von den zugeschriebenen Geschlechterrollen ausgehen und der langfristigen wirksamen Infragestellung aller gesellschaftlicher Zuschreibungen als vermittelbar in einem distinkt definierten (neo-)humanistischem Menschenbild (vgl. Meyer 2003: 133f.).
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Geschlechterseparationen sind nur als begrenzte Übergänge zuzulassen, im Regelfall aber zu vermeiden oder aufzuheben.
Die Fortschritte der Umsetzung inklusiver Standards sollen von einem freiwilligen virtuellen School Board der kommunal Beteiligten (vgl. Imhäuser 2012: 125f.) – bei der IUS durch einen Wissenschaftlichen Beirat – u. a. durch regelmäßige Fortschrittsberichte überprüft werden. Die Universität zu Köln steht in Verbindung mit der Inklusion vor der notwendigen Aufgabe einer Verbesserung der Lehramtsausbildung. Dazu gehörten bisher bereits das Innovationsprojekt Modellkolleg Bildungswissenschaften und anknüpfende Förderungen für Programme des Forschenden Lernens. Die IUS im Stadtteil kann als eine Plattform für Forschungsvorhaben insbesondere auch für Studierende entwickelt werden. Schon jetzt macht das IUS-Team die innovative Konzeption der IUS in Studienangeboten einer breiten Studierendenkohorte zugänglich und wird dies auch in Zukunft fortsetzen. Umfassende Förderung aller Schülerinnen und Schüler unabhängig von Behinderung, Religionszugehörigkeit, Herkunft oder Geschlechtszugehörigkeit ist nicht das on top der Tätigkeit, sondern ihre Grundlage. Förderung aller Kinder in Einer Schule für Alle ist aus einer inklusiven Sicht keine private Entscheidung Einzelner, sondern Teil der institutionalisierten Professionalität der Lehrerinnen und Lehrer. Mit Pimminger kann für die Schulentwicklung der »Begriff der Gerechtigkeit [...] zur Formulierung einer emanzipatorischen Vision als Zielorientierung« (Pimminger 2012: 35) gesetzt werden. Durch die Gerechtigkeitsnorm wird auch das feministische Projekt explizit gestärkt (vgl. Pimminger 2012: 9f.). Die Parallelen und Bündnisse zum Inklusionsprojekt sind offenkundig. Denn genau wie bei der Geschlechtergerechtigkeit ist Inklusion ein Begriff »der nicht nur abstrakt-formal die normativen Prinzipien benennt, sondern auch die Frage der gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Verwirklichung einbezieht, um damit eine konkrete Orientierung zu bieten« (Pimminger 2012: 35). Der Fokus auf die Geschlechterverhältnisse kann auch als Anleitung genommen werden, andere Hierarchien und Ungleichbehandlungen in der Schule aufzuheben: »Dazu ist ein fundiertes Verständnis der sozialen Kategorie Geschlecht – wie Geschlecht in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingelassen ist und welche Ungleichheiten daraus erwachsen – nötig. Die Konzeptualisierung von Geschlechtergerechtigkeit als Bezugsrahmen für die kritische Reflexion gesellschaftlicher Entwicklung oder politischer Strategie braucht sowohl normatives als auch geschlechtertheoretisches Fundament.« (Pimminger 2012: 35)
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Wie alle anderen Disziplinen in der Lehramtsausbildung tragen auch die Gender Studies eine hohe Verantwortung, Wissen und Theorie auf abstrakter Ebene zugänglich zu machen und eine Kompetenzvermittlung zu gewährleisten, die sich auf inklusiven Standards gründet.
L ITERATUR Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hg.) (2012): Endbericht zum Projekt Diskriminierungsfreie Hochschule – Mit Vielfalt Wissen schaffen, http:// www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikatione n/Endbericht-Diskriminierungsfreie-Hochschule-20120705.pdf?__ blob=publicationFile vom 14. Januar 2013. Asselhoven, Dieter/Hinze, Evelyn/Kargl, Silke/Reich, Kersten (2011): Rahmenkonzept zur Gründung einer inklusiven Praxisschule »Inklusive Universitätsschule Köln« – Eine Schule für alle, Universität zu Köln, 105 Seiten. Booth, Tony/Ainscow, Mel – übersetzt, für deutschsprachige Verhältnisse bearbeitet und herausgegeben von Boban, Ines/Hinz, Andreas (2009): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln, http://www.eenet.org.uk/resources/docs/Index%20German.pdf vom 14. Januar 2013. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Budde, Jürgen/Scholand, Barbara/Faulstich-Wieland, Hannelore (2008): Geschlechtergerechtigkeit in der Schule. Eine Studie zu Chancen, Blockaden und Perspektiven einer gender-sensiblen Schulkultur, Weinheim: JuventaVerlag. City of Toronto, official website, www.toronto.ca vom 14. Januar 2013. Cornelißen, Waltraud (2011): »Gendergerechte Ansätze in der Schule: Ein Schritt zu mehr Geschlechterdemokratie?«, in: Krüger, Dorothea (Hg.): Genderkompetenz und Schulwelten. Alte Ungleichheiten - neue Hemmnisse, 1. Aufl., Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 87-108. Degele, Nina/Winker, Gabriele (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld: transcript. Deutsche UNESCO-Kommission e.V. (2010) (Hg.): Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik, Bonn. Faulstich-Wieland, Hannelore (1991): Koedukation – enttäuschte Hoffnungen? Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft.
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2.3 Geschlechter(un-)ordnung: Transformationen
Geschlecht und Behinderung intersektional denken Anschlüsse an Gender Studies und Disability Studies A NNE W ALDSCHMIDT
Empirisch gesehen ist kein Mensch ›nur‹ behindert, sondern immer zugleich dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugehörig. Umgekehrt gilt: ›Mädchen‹ und ›Frauen‹, ›Jungen‹ und ›Männer‹ sind nie nur vergeschlechtlicht, sondern haben immer schon einen Körperstatus und ihnen werden Funktionsfähigkeiten zugeschrieben. Und nicht nur das: Hautfarbe, ethnische Herkunft, Alter, sozialer Status, sexuelle Orientierung, Weltanschauung – all diese Aspekte spielen in jedem Leben ebenfalls eine Rolle und müssten folglich auch im wissenschaftlichen Diskurs gebührend berücksichtigt werden. Zusätzlich sind Dimensionen wie Wohnort und Region, familiärer Status und Bildungsstand von Bedeutung. Und warum nicht auch scheinbar banale Unterschiede wie Körpergröße und Haarfarbe? Diese sind in der sozialen Interaktion ebenfalls relevant, werden jedoch in der Intersektionalitätsdebatte so gut wie gar nicht aufgegriffen. Jedoch haben Versuche, die verwirrende Vielfalt gesellschaftlicher, politischer und subjektiver Wirklichkeit zu ordnen, noch zu keinen befriedigenden Ergebnissen geführt. Ob zwölf oder dreizehn Unterscheidungen (vgl. Winker/Degele 2009: 16), in jedem Falle ist klar, dass sich die Intersektionalitätsforschung – die Analyse der Verwobenheit sozialer Unterschiede – notgedrungen für Komplexitätsreduktion entscheiden muss, um handlungsfähig zu bleiben. Die meisten Studien betrachten folglich entweder nur eine Kategorie – z.B. Geschlecht – oder sie vergleichen zwei Merkmale, z.B. Geschlecht und ethnische Herkunft. Im Allgemeinen findet sich eine Fokussierung auf die drei zentralen Differenzlinien Klasse, Geschlecht und ›Rasse‹ bzw. ethnische Herkunft. Behinderung dagegen spielt im allgemeinen Diskurs nur eine marginale Rolle; sie rangiert zumeist unter ›etc.‹, den Merkmalen also, die eigentlich auch zu betrachten
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wären, jedoch in der Konkurrenz mit anderen Unterscheidungen unterliegen. Umgekehrt hat sich der Diskurs der Behinderung bislang vorzugsweise auf sich bezogen und entweder (Nicht-)Behinderung als alleinige Differenz oder höchstens im Zusammenhang mit Geschlecht oder (noch seltener) Migration thematisiert; Arbeiten, die drei- oder auch mehrdimensional angelegt sind, d.h. neben Geschlecht, Behinderung und ethnischer Herkunft beispielsweise Alter und/oder sexuelle Orientierung zusätzlich einbeziehen, sind meinem Überblick nach immer noch höchst selten. In dieser Hinsicht bietet auch der vorliegende Beitrag keine Weiterentwicklung, geht es doch im Folgenden vorrangig um die beiden Kategorien Behinderung und Geschlecht. Vor dem Hintergrund, dass im deutschsprachigen Raum die Theoriedebatte zu Intersektionalität erst vor wenigen Jahren startete und selbst die Geschlechterforschung mit ihrer langjährigen Diskursgeschichte – wie Gabriele Winker und Nina Degele konstatieren – »nach wie vor ein gutes Stück davon entfernt [ist], die Spezifik der einzelnen Herrschaftssysteme klar zu benennen und zueinander ins Verhältnis setzen zu können«, wäre es angesichts einer »offenen theoretischen Situation« vermessen, »sofort eine Unzahl von Herrschaftsverhältnissen miteinander verbinden zu wollen« (Winkler/Degele 2009: 29f.). Stattdessen habe ich mir vorgenommen, die Differenzierungskategorien (Nicht-) Behinderung und gender als gleichermaßen wichtige Dimensionen sozialer Ungleichheit ins Spiel zu bringen.
F EMINIST D ISABILITY S TUDIES – EIN Ü BERBLICK ÜBER DIE D EBATTE Eigentlich kann man nicht behaupten, dass es keine Berührungspunkte zwischen Gender Studies und Disability Studies gebe. Allerdings ist bezogen auf den deutschsprachigen Raum die Geschichte der Überkreuzungen, Überlappungen, aber auch der Divergenzen dieser beiden Diskurse noch nicht geschrieben worden (eigentlich ein lohnender Forschungsgegenstand!), vielmehr finden sich bislang nur Fragmente in verschiedenen Beiträgen; auch den Rahmen dieses Aufsatzes würde eine Gesamtdarstellung sicherlich sprengen. Deshalb seien folgende knappe Bemerkungen erlaubt: Bereits in der Anfangsphase der Behindertenbewegung, seit Beginn der 1980er Jahre wurde die Geschlechterfrage problematisiert, bis in die Gegenwart hinein lässt sich die Debatte verfolgen. Diese Kontinuität ist beeindruckend, jedoch ist eine Schlagseite zugunsten der deutschstämmigen, weiblichen Genusgruppe unverkennbar. Während nur vereinzelt die Erfahrungen von Jungen und
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Männern mit Behinderungen und allzu selten race mit Bezug auf Behinderung und Geschlecht thematisiert werden, kann, was die Feminist Disability Studies angeht, auch hierzulande von einem lebendigen, seit über dreißig Jahre sich entfaltenden Diskursfeld gesprochen werden (vgl. Köbsell 2009). Vornehmlich behinderte Frauen haben sich immer wieder in die gesellschaftliche Auseinandersetzung eingebracht, mit wegweisenden Veröffentlichungen und Tagungen zur eigenen Lebenssituation, kontroversen Diskussionsbeiträgen insbesondere zu weiblicher Selbstbestimmung und dem Recht auf Abtreibung, mit verschiedenen Veranstaltungen, z.B. zu Menschenrechtsverletzungen an behinderten Frauen und Mädchen, mit eigenen wissenschaftlichen Studien beispielsweise zu Sozialisation, Identität und Gewalterfahrungen, mit parlamentarischer Lobbyarbeit in der Sozial-, Gesundheits- und Frauenpolitik sowie eigener institutionalisierter Interessenvertretung. Inzwischen haben die Diskurse des mainstream in der (behindertenpädagogischen) Frauenforschung und den Gender Studies auf die nicht mehr zu überhörenden Stimmen der Frauen mit Behinderungen reagiert. Beispielsweise wurden seit 1999 verschiedene empirische Studien im Auftrag des Bundesfamilienministeriums durchgeführt, die sich mit der Lebenssituation behinderter Mädchen und Frauen beschäftigen. Thematisch findet insbesondere der Problembereich der sexualisierten Gewalt, von der behinderte Frauen in Einrichtungen überproportional betroffen sind, allgemeine Beachtung. Soweit, so konsensual und erfolgreich; dennoch ist der erreichte Stand noch nicht wirklich befriedigend. Dass es durchaus Konfliktfelder zwischen den Feminist Disability Studies und den allgemeinen Gender Studies gibt, bezeugt die langwierige Debatte um pränatale Diagnostik, die in jüngster Zeit durch den neuen vorgeburtlichen Bluttest zur Diagnostik von Down-Syndrom wieder Zündstoff erhalten hat. Außerdem zeigen die deutschsprachigen Feminist Disability Studies immer noch eine starke Praxisorientierung, während die theoretische Ebene unterbelichtet bleibt (vgl. Jacob/Köbsell/Wollrad 2010). Zwar ist, wie oben angedeutet, das thematische Spektrum breit, jedoch gehen die meisten Arbeiten weiter von der simplifizierenden These der doppelten Benachteiligung behinderter Frauen im Vergleich zu nichtbehinderten Frauen und behinderten Männern aus. Auf diesen Ansatz und der Kritik daran (vgl. Walgenbach 2007: 45ff.) kann ich im Rahmen dieses Beitrages nicht näher eingehen; im Folgenden geht es mir vielmehr darum, jenseits des Diskriminierungsansatzes, mit Hilfe des Denkens in Intersektionalitäten die theoretische Reflexion neu auszurichten.
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GENDER – GENDERING DISABILITY : DIE BEGRIFFSSYSTEMATISCHE ARGUMENTATION Als ersten Schritt bietet es sich an, zunächst die Ebene der Begriffssystematik zu befragen. Gibt es mögliche Zusammenhänge, die darauf schließen lassen, dass Behinderung und Geschlecht als soziale Positionen nicht nur wie zwei Straßen aufeinander zulaufen und sich an bestimmten Punkten – in bestimmten Lebenssituationen – überkreuzen (intersect), sondern dass sie bereits begriffslogisch miteinander verknüpft sind, d.h. in nominalistischer Hinsicht Analogien aufweisen? Mit Blick auf Behinderung geht es zunächst darum, sich konkurrierender Perspektiven zu vergegenwärtigen (vgl. Waldschmidt 2005: 9-31). Die Disability Studies als noch junges Forschungsprogramm, das sich erst seit den 1980er Jahren entwickelt hat, konzeptionalisieren die Behinderungskategorie aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Sicht. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei Behinderung um ein historisch entstandenes, kulturell spezifisches, also gesellschaftliches Differenzierungsmerkmal. Um die Bedeutung dieser neuen Sichtweise nachzuvollziehen, muss man sich vor Augen führen, dass im allgemeinen Umgang mit Behinderung der individualistische Ansatz der Rehabilitation weiter dominant ist, nämlich die Vorstellung, es handle sich bei Behinderung um ein tragisches Einzelschicksal und man könne die Betroffenen mittels Behandlungs- und Arbeitsmarktprogrammen relativ reibungslos (wieder) in die Gesellschaft eingliedern. Pointiert formuliert: Auf der Basis einer klinischen Grundorientierung tragen seit mindestens einhundert Jahren Theorie und Praxis des Rehabilitationssystems zur Naturalisierung der Differenzierungskategorie Behinderung wesentlich bei. Postuliert wird nämlich im Rahmen dieses Systems die Kausalität von medizinisch-biologischer Beeinträchtigung und Behinderung. Als Kontrastfolie zum Rehabilitationsansatz haben die Disability Studies das so genannte soziale Behinderungsmodell entwickelt. Auf der Basis einer klaren Unterscheidung von Beeinträchtigung (impairment) und Behinderung (disability) lautet dessen Kerngedanke: Menschen ›sind‹ nicht zwangsläufig auf Grund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen ›behindert‹, sondern sie ›werden‹, indem Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet werden, in der und durch die Gesellschaft ›zu Behinderten gemacht‹. Entsprechend ist nach dem sozialen Modell weder disablement (der Prozess des Behindertwerdens) eine notwendige Konsequenz von impairment, noch stellt diese eine hinreichende Bedingung für disability dar. In anderen Worten: Aus einem vorhandenen Körperschaden oder einer Sinnesbeeinträchtigung, also objektiv feststellbaren impairments folgt, so wird postuliert, nicht unabwendbar und notwendigerweise eine Behinderung
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(disability), vielmehr ist die institutionalisierte Benachteiligung entscheidend für den Status einer Randgruppen. Konkret formuliert, in einer Welt ohne Barrieren, ohne herablassende Interaktionen und segregierende Einrichtungen wären Rollstuhlfahrer_innen nicht behindert. Umgekehrt sind Phänomene wie etwa ›Lernbehinderung‹ oder ›Aufmerksamkeitsdefizitstörung‹ zunächst und vor allem gesellschaftliche Etikettierungen, die sich nicht umstandslos auf ›harte Fakten‹, d.h. eindeutige medizinische Diagnosen zurückführen lassen; gleichwohl gelten die Betroffenen ebenfalls als ›behindert‹ und erfahren spezielle Unterstützung, aber auch vielfältige Diskriminierung. Wendet man sich den Diskursen über Geschlecht zu, wird man – sicherlich nicht zufällig – auf ein Bild treffen, das der Debatte um den Behinderungsbegriff sehr ähnelt. Oder in anderen Worten, ähnlich wie für disability lässt sich mit Bezug auf gender formulieren: Weibliches Geschlecht ist eine Wechselwirkung von sozialen Zuschreibungen und biologisch-anatomischen Unterschieden und geht mit gesellschaftlicher Benachteiligung einher. Nicht der als weiblich codierte Körper ist die zwangsläufige Ursache für Abwertung und Ausgrenzung, sondern die Gesellschaft macht aus Frauen eine diskriminierte Gruppe. Im Falle von Geschlecht1 wird in Alltagspraxis und common sense auf die wahrnehmbare Inszenierung von Geschlecht vertraut und die Zuordnung zu einer Genus-Gruppe stellt auf die Vermutung ab, dass sex, d.h. die biologischanatomische Ebene mit der Zuschreibung konkordant ist. Gemeinhin wird die Geschlechtszugehörigkeit als eine vorher bestimmte Eigenschaft wahrgenommen, die zwar nachträglich von gesellschaftlichen Einflüssen überformt werden kann, jedoch im Ursprung auf natürlichen Unterschieden basiert. Bei der Geburt gelten Penis-Besitzer ausnahmslos als männlich; Babys ohne Penis werden als weiblich definiert. »Hurra, ein Mädchen!« wird erst dann gerufen, wenn der Augenschein sich davon überzeugt hat, dass dem Baby ›der kleine Unterschied‹ fehlt; anschließend wirken Rechtsstatus und Sozialisation, normative Erwartungen und soziale Interaktionen in komplexen Prozessen zusammen, um erst ein ›richtiges‹ Mädchen und später eine sich ihrer Weiblichkeit (selbst-)bewusste, möglichst heterosexuell orientierte Frau zu formen. Somit ist auch bei der Geschlechterkategorie die Naturalisierungstendenz unverkennbar; jedoch ist der feministische Kampf für eine gesellschaftsorientierte Konzeptionalisierung ebenfalls nicht ohne Wirkung geblieben. Einen einfachen Determinismus zwischen sex, dem anatomisch definierten Geschlecht, und
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Bei der Begrifflichkeit Geschlecht bzw. gender folge ich Winker/Degele (2009), die darunter sowohl das Geschlechterverhältnis zwischen Mann und Frau als auch den Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit und die sexuelle Orientierung verstehen.
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gender, der sozialen Konstruktion von Geschlechtsrollen, zu behaupten gilt heute als naiver Biologismus. Dass die Zweigeschlechtlichkeit (männlich/weiblich) als Dominanzverhältnis verstanden werden muss, deren weiblicher Part häufig mit Abwertung und Benachteiligung verknüpft ist, ist längst zum Bestandteil offizieller Politik geworden. Auch wenn man kritisch einwenden kann, dass sich Gender Mainstreaming allzu oft in lediglich symbolischen Maßnahmen wie etwa der Forderung nach einer Frauenquote erschöpft, so gelten doch mittlerweile in Gesellschaft, Politik und Recht sex und gender als zwei zu unterscheidende Sphären. Dies ist sicherlich als ein Erfolg des feministischen Diskurses zu verbuchen, auch wenn sich der Forschungsstand längst weiter, nämlich in Richtung Dekonstruktivismus entwickelt hat. Soweit meine – zugegeben: kursorischen – Betrachtungen der Differenzierungskategorien Behinderung und Geschlecht, bei denen hoffentlich aufgefallen ist, dass beide von der »Differenz Natur/Gesellschaft« geprägt sind, »als Scheidemarke zwischen dem, was als veränderbar oder sogar machbar gilt, und jenem, was menschlicher Einflussnahme bzw. gesellschaftlichem Zugriff als entzogen betrachtet wird« (Klinger 2003: 28). Sex und gender oder impairment und disability – offensichtlich liegt sowohl Geschlecht als auch Behinderung eine Zweiteilung zugrunde, bei der jeweils die erste Ebene der Natur zugeordnet und die zweite als eher gesellschaftlich bedingt angesehen wird. Prinzipiell kann jede dieser beiden Binaritäten auf drei Weisen gedacht werden: Erstens lässt sich behaupten, dass sex bzw. impairment die entscheidende Determinante für gender bzw. disability ist. Während sich diese traditionalistische Position, was die Kategorie des Geschlechts betrifft, gegenwärtig in der Defensive befindet (wobei ein backlash immer möglich ist), erweist sich der natural fix im Falle von Behinderung als bemerkenswert stabil, ja, resistent gegenüber Kritik. Zweitens – und hier setzen sowohl Gender Studies als auch Disability Studies an – kann das Verhältnis als gesellschaftlich konstruiert begriffen werden; aus dieser Sicht sind gender und disability Kategorien gesellschaftlicher Strukturierung, die zwar auf biologische Unterschiede zurückgeführt werden, aber eigentlich kontingent sind. Diese zweite, sozialkonstruktivistische Position darf im Falle von Geschlecht als common sense gelten; was Behinderung betrifft, sind die Disability Studies mit dem Problem konfrontiert, dass der gesellschaftliche Diskurs hartnäckig am naturalistischen Verständnis festhält. Drittens geht es darum, über die beiden beschriebenen Denkrichtungen hinauszugehen. Nicht allein die These vom biologischen Determinismus, sondern auch die vorrangige Betrachtung der sozialen Kategorien gender bzw. disability, ohne die als natürlich wahrgenommenen Ebenen zu hinterfragen, gilt es zu problematisieren. Insbesondere poststrukturalistische Ansätze plädieren dafür, die sowohl Geschlecht
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als auch Behinderung eingeschriebene Dichotomie von Natur und Gesellschaft zu überwinden und auch die vermeintlich wertneutralen, objektiv vorhandenen biologischen Merkmale bzw. Auffälligkeiten, d.h. sex und impairment, in die theoretische Analyse einzubeziehen. Bezogen auf die Debatten über gender heißt dies: Es genügt nicht, Geschlechterrollen und Geschlechtsstereotypien kritisch zu hinterfragen; vielmehr muss berücksichtigt werden, dass Geschlechtlichkeit bereits unseren Körpern performativ eingeschrieben und in alltäglichen Praxen immer wieder neu hergestellt wird. Den deutschsprachigen Gender Studies ist diese Lesart des Zusammenhangs von sex und gender seit der auch hierzulande erfolgten Rezeption der Werke von Judith Butler und Michel Foucault bereits vertraut; im Falle der Disability Studies steht eine vertiefte Auseinandersetzung noch aus.2
G ENDERING DISABILITY – DISABLING GENDER : SOZIALE K ONSTRUKTIONEN IM V ERGLEICH Als zweiter Schritt soll die soziale Wirklichkeit von gender und disability wenigstens kursorisch vergleichend betrachtet werden. Auf empirischer Ebene lässt sich beobachten, dass das traditionelle Geschlechterverhältnis längst nicht mehr ehern ist und an den Rändern sozusagen ›ausfranst‹; mehr und mehr wird sichtbar, dass sex nicht zwangsläufig die Geschlechterrolle bestimmt.3 Zwar sind es weiter Frauen, die schwanger werden und Kinder gebären, aber heute ist ein großer Teil der Mütter nach der Geburt, wenn auch nur in Teilzeit, wieder berufstätig und mehr junge Väter ›gönnen‹ sich einige wenige Monate Elternzeit; partnerschaftliche Haushaltsführung und Kinderbetreuung sind zumindest auf der Ebene von Einstellungen zunehmend akzeptiert und müssten ›nur‹ noch häufiger auch praktisch umgesetzt werden. Längst sehen sich auch Männer mit dem Schönheitsdiktat konfrontiert; Vergewaltigung in der Ehe gilt als Verbrechen und nicht mehr als Kavaliersdelikt. Bezieht man die Legalisierung homosexuel-
2
Vgl. hierzu die von Foucault und Butler inspirierten Arbeiten der kanadischen Philosophin Shelley Tremain (2006) und meine Rezeption in Waldschmidt (2010). Außerdem hat in den US-amerikanischen Queer Studies Robert McRuer (2006) mit seinem Ansatz, Queer Theory und Disability Studies zu verbinden, ebenfalls wegweisende Arbeiten vorgelegt.
3
Ich verzichte nachfolgend auf Belege, um den Aufsatz nicht zu überfrachten. Ohne Weiteres ließe sich für alle aufgeführten Punkte entsprechendes Datenmaterial anführen.
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ler Partnerschaften und die zunehmende Zahl lesbisch/schwuler Paare mit (leiblichen) Kindern in die Betrachtung mit ein, so könnte man sogar zu dem Schluss kommen, das Ende der Heteronormativität, d.h. der Annahme, bei der Zweigeschlechtlichkeit handle es sich um eine Naturtatsache, sei in Sicht. Dagegen halten ließe sich ebenfalls eine Vielzahl von Trends: Sexualisierte Gewalt oder Belästigungen kennt fast jede Frau, pornografische Darstellungen finden sich allerorten, Homosexualität gilt in konservativen Kreise als ›wider der Natur‹ und rechtlich gibt es weiter nur die Geschlechterbinarität. Auch der gender gap hält sich hartnäckig, zumeist zu Ungunsten von Frauen, ob auf dem Ausbildungsund Arbeitsmarkt, ob bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen oder bei Karrierechancen und Einflussmöglichkeiten in Wirtschaft, Politik und Medien. Auch wenn auf der Ebene von gender – zumindest als Trend – Fluidität, Vieldeutigkeit und Variabilität zu erkennen sind, an einer Stelle trifft man auf ein Haltesignal: Das Phänomen Intersexualität verweist auf die Widersprüchlichkeit der Geschlechterkategorie. Einerseits dokumentiert es, dass die Annahme, sex sei binär strukturiert und die Zweigeschlechtlichkeit als soziale Kategorie hiervon lediglich abgeleitet, nicht stimmen kann. Gleichzeitig offenbart Intersexualität das geschlechtsspezifische Machtspiel: Die mit der Erwartung eindeutiger Geschlechtlichkeit konfligierenden Körper werden mit weitreichenden Folgen für die Betroffenen pathologisiert und möglichst einem der beiden Geschlechter zugeordnet. Auch personenstandsrechtlich ist die Entscheidung für ein ›drittes Geschlecht‹ (noch) nicht möglich, auch wenn sich mit der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates (2012) zur Intersexualität dessen mögliche Anerkennung ankündigt. Weiterhin jedoch dominiert eher der (heteronormative) sex; er bestimmt die Strukturen und das Handlungspotenzial von gender. In anderen Worten: Geschlechtszugehörigkeiten werden qua sex zugeschrieben, sie können nicht frei gewählt werden, und vor allem müssen sie eindeutig sein – das ist die herrschende Norm. Konsequenterweise wird ein mehrdeutiger sex zumeist dem klinischen Blick und Therapiewillen unterworfen. Just an dieser Stelle ist der Konnex zu Behinderung offensichtlich, sind doch intersexuelle Körper wie auch behinderte Körper mit medizinischer Deutungsmacht und sozialer Stigmatisierung konfrontiert, mit der Anforderung, sich an eine ›nichtbehinderte‹, normale (Geschlechter-)Ordnung anzupassen. Mit Hilfe von chirurgischen Eingriffen, Arzneimitteln und Prothesen werden sie wortwörtlich ›zurechtgeschnitten‹, ›medikamentös eingestellt‹, ›gerade gebogen‹, kurz, normiert und normalisiert. Gleichwohl wird Intersexualität an sich nicht zu den Behinderungen gezählt; jedenfalls findet man sie nicht in der offiziellen Anlei-
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tung zur ärztlichen Gutachtertätigkeit nach dem Schwerbehindertenrecht (vgl. BMAS 2008).4 Was aber unterscheidet Intersexualität und mit ihr die verkörperte Differenz Geschlecht von den gleichfalls verkörperten Differenzen, die gemeinhin Behinderung genannt werden, zu denen nicht nur Körperbeeinträchtigungen, sondern auch Gehörlosigkeit, Verhaltungsauffälligkeiten, Lernbehinderung oder kognitive Beeinträchtigungen gehören, allesamt Merkmale mit oftmals nicht eindeutiger Wahrnehmbarkeit oder unklarer Symptomatik? Zum einen kann man ein recht oberflächliches, aber dennoch erhellendes Argument benutzen, nämlich die Demografie. Da über die Hälfte der Menschheit zur weiblichen Genusgruppe gezählt wird, kann man eigentlich schon allein aus quantitativen Gründen nicht von der Unnormalität des weiblichen Geschlechts sprechen (Dies schließt, wie empirisch ersichtlich, nicht aus, dass das Geschlechterverhältnis hierarchisch ist und die Frau im Vergleich zum Mann abgewertet wird). Auch im Falle von Behinderung wird mit Zahlen hantiert und der Verweis auf einen hohen Anteil behinderter Menschen an der Gesamtbevölkerung ist eine gängige Diskursstrategie. Ob 8, 12 oder 20 Prozent, im Unterschied zur Geschlechterkategorie fällt der demografische Anteil von als behindert geltenden Personen jedoch deutlich geringer aus.5 Entscheidender als die Quantität scheint aber zu sein, dass die jeweiligen Vergesellschaftungsmodi und damit auch die sozialen Positionierungen verschieden sind. So weist die These von der »doppelten Vergesellschaftung« (Gottschall 2000: 171-184) darauf hin, dass Frauen gesellschaftlich tragende Funktionen zu erfüllen haben: sowohl als Arbeitskraftreserve im Bereich von Produktion und Erwerbsarbeit als auch in der Sphäre reproduktiver ›Liebesarbeit‹ im Sinne unentgeltlicher Fürsorge für Kinder, Partner und andere Familienangehörige. Auch wenn der Ansatz mittlerweile in den Gender Studies als überholt gilt, so finde ich es doch hilfreich, in allgemeiner Hinsicht Geschlecht (und nicht ›Frauen‹ als vermeintlich homogene Gruppe) als Vergesellschaftungsmodus verstehen und diesen mit dem Vergesellschaftungsprozess ›Behinderung‹ zu vergleichen. Die Zuschreibung von Behinderung impliziert, dass Funktions- und Leistungsfähigkeiten insbesondere in den beiden gesellschaftlich zentralen Feldern
4
Intersexuelle Menschen können einen Schwerbehindertenstatus wegen der Folgewirkungen chirurgischer und medikamentöser Eingriffe erhalten, wenn auch häufig nur unter Schwierigkeiten (vgl. Deutscher Ethikrat 2012: 22).
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Zudem ist die quantitative Erfassung von gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine komplizierte Angelegenheit, die bisher noch nicht zu befriedigenden Resultaten geführt hat.
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(Erwerbs-)Arbeit und Generativität/Sexualität zur Disposition stehen, und zwar (im Unterschied zu akuten Erkrankungen) für einen längerfristigen Zeitraum und unter Umständen sogar dauerhaft. In der Konsequenz verorten Auffälligkeiten, Schädigungen, Defizite und Beeinträchtigungen, die in medizinischen Begriffen beschreibbar sind, die solcherart Kategorisierten in das »Normalfeld« (Link 2006: 51) von Gesundheit und Krankheit. Aus funktionalistischer Sicht lässt sich zugespitzt formulieren: Die Gruppe ›Frau‹ wird in der und von der Gesellschaft ›gebraucht‹, die Gruppe der ›Behinderten‹ dagegen eigentlich nicht. Folglich gibt es nicht die Unnormalität des (weiblichen) Geschlechts, wohl aber geschlechtsspezifische Normalitäten. Dagegen sind behinderte Menschen im Normalitätsspektrum am negativen Pol positioniert; sie gelten als ›nicht normal‹ und sollen – als logische Konsequenz dieses Verdikts – ›normal‹ gemacht werden. Entsprechend macht es Sinn, im Hinblick auf Behinderung von gefährdeter, gleichsam prekärer Vergesellschaftung zu sprechen. Mit dem unscheinbaren Wort ›eigentlich‹ in obigem Satz ist angedeutet, dass Behinderung zwar zunächst als gesellschaftlich nutzlos erscheint, gleichzeitig aber durchaus auch ›nützlich‹ sein kann. Die Ambivalenz von Behinderung lässt sich historisch nachzeichnen: Einerseits nahm in der nationalsozialistischen Euthanasie, die vor allem psychisch kranke Menschen betraf, die Vernichtung des als wert- und nutzlos angesehenen Lebens grausige Gestalt an; in den heutigen Debatten um Sterbehilfe klingen ähnliche Motive dann an, wenn von Belastung, Erlösung und Kosten-Nutzen-Rechnungen die Rede ist. Auf der anderen Seite wurden selbst im Nationalsozialismus vor allem körperbehinderte Menschen trotz Leistungsminderung integriert. Heute sind Frauen und Männer mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt Teil der Reservearmee, die in Zeiten von Hochkonjunktur und knapper Arbeitskraft zum Einsatz kommt. Zugleich sind sie als soziale Gruppe in der Erwerbsarbeits- und Leistungsgesellschaft immer auch symbolisch-ideologisch von Bedeutung; ihre marginalisierte Lebenssituation führt den anderen, funktionsfähigen Gesellschaftsmitgliedern vor Augen, was es kostet, den Normen nicht zu genügen, in den Worten von Robert Castel: »Soll es ruhig ein paar Verrückte [Verkrüppelte, Idioten] geben; sie lehren alle anderen, wie gut und nützlich es ist, normal zu sein.« (Castel 1983: 262). Die Geschichte der Behinderung ist deshalb nicht nur von Exklusion bis hin zur physischen Vernichtung geprägt, sondern auch von partieller Teilhabe und dem Gedanken der Integration/Inklusion.
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E IN Z WISCHENERGEBNIS Zwischen den beiden hier betrachteten sozialen Differenzierungskategorien – gender und disability – gibt es somit bedeutsame Analogien wie auch wesentliche Differenzen. Einerseits gehören sowohl die weibliche Genusgruppe als auch behinderte Menschen zu den in der Gesellschaftshierarchie untergeordneten sozialen Gruppierungen; andererseits ist – zumindest in westlichen Gesellschaften – Frausein als sozialer Status bei weitem nicht so diskriminierend beziehungsweise so eng mit der Erfahrung von Stigmatisierung verknüpft wie Behindertsein. Der Komplexität der beiden Positionierungen und ihren Wechselverhältnissen, die in diesem Aufsatz nur angerissen werden konnten, wird das Schlagwort der ›doppelten Diskriminierung‹, das üblicherweise zur Beschreibung der Lebenssituation von behinderten Mädchen und Frauen benutzt wird, jedenfalls kaum mehr gerecht. Vor dem Hintergrund deutlicher Veränderungen im Behinderungsdispositiv wäre es angezeigt, differenziertere Theorieansätze zu entwickeln. In jüngerer Zeit bietet der Intersektionalitätsansatz hierfür viele Anregungen. Aktuell lassen sich mehrere Linien gleichzeitig feststellen. Zum einen hat die allgemeine Intersektionalitätsforschung begonnen, Behinderung als eine bedeutsame Lebenslage zu entdecken und sie in die eigenen Theorieentwürfe einzubeziehen; an dieser Stelle sind insbesondere die Arbeiten von Gabriele Winker und Nina Degele sowie Katharina Walgenbach (vgl. Winker/Degele 2009: 49-51, Walgenbach 2007: 23-64). zu nennen. Zum anderen stellen sich die Feminist Disability Studies (vgl. Jacob/Köbsell/Wollrad 2010) der Herausforderung, die Frage nach der Verwobenheit von gender und Behinderung im Anschluss an den Intersektionalitätsansatz neu zu stellen; schließlich liefern die Queer Disability Studies (vgl. McRuer 2006, Raab 2007) mit dem Konzept der Heteronormativität wertvolle Impulse. Eine ausführliche Debatte dieser verschiedenen Ansätze steht jedoch noch aus; sie muss künftigen Beiträgen überlassen bleiben.
L ITERATUR Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2008): Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX), Berlin: Selbstverlag. Castel, Robert (1983): Die psychiatrische Ordnung. Das goldene Zeitalter des Irrenwesens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Deutscher Ethikrat: Intersexualität. Stellungnahme vom 23. Februar 2012. URL: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf (06.05.2012). Gottschall, Karin (2000): Soziale Ungleichheit und Geschlecht: Kontinuitäten und Brüche, Sackgassen und Erkenntnispotentiale im deutschen soziologischen Diskurs, Opladen: Leske und Budrich. Jacob, Jutta/Köbsell, Swantje/Wollrad, Eske (2010) (Hg.): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld: transcript. Klinger, Cornelia (2003): »Ungleichheit in den Verhältnissen von Klasse, Rasse und Geschlecht«, in: Gudrun-Axeli Knapp/Angelika Wetterer (Hg.), Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie und feministische Kritik II, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 14-48. Köbsell, Swantje (2009): »›Passives Akzeptieren‹ und ›heroische Anstrengung‹ – zum Zusammenspiel von Behinderung und Geschlecht«, in: Behindertenpädagogik 48, S. 250-262. Link, Jürgen (2006): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. McRuer, Robert (2006): Crip Theory: Cultural Signs of Queerness and Disability, New York: New York University Press. Raab, Heike (2007): »Intersektionalität in den Disability Studies. Zur Interdependenz von Behinderung, Heteronormativität und Geschlecht«, in: Anne Waldschmidt/Werner Schneider (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld: transcript, S. 127-148. Tremain, Shelley (2006): »On the Government of Disability: Foucault, Power, and the Subject of Impairment«, in: Lennard Davis (Hg.), The Disability Studies Reader, New York: Routledge, S. 185-196. Waldschmidt, Anne (2005): »Disability Studies: Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung?«, in: Psychologie & Gesellschaftskritik 29, S. 9-31. Waldschmidt, Anne (2010): »Das Mädchen Ashley oder: Intersektionen von Behinderung, Normalität und Geschlecht«, in: Jutta Jacob/Swantje Köbsell/Eske Wollrad (Hg.), Gendering disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld: transcript, S. 35-60. Walgenbach, Katharina (2007): »Gender als interdependente Kategorie«, in: Katharina Walgenbach/Gabriele Dietze/Antje Hornscheidt/Kerstin Palm (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Inters-
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ektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen: Barbara Budrich, S. 2364. Winker, Gabriele/Degele, Nina (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld: transcript.
Geschlecht im Kontext polygamer Beziehungsführung der ›68er_innen‹ Ergebnisse einer narrativen Interviewstudie K ARLA V ERLINDEN
E INLEITUNG Die Historiographie zur Chiffre ›1968‹ fokussierte bisher meist die Beschreibung der offensichtlichen politischen Dimensionen der Bewegung (die Kritik der Akteur_innen an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, ihrer schleppenden Aufarbeitung der NS-Zeit und ihrer repressiven Sexualmoral) und lässt Analysen zu privaten Lebensverhältnissen vermissen oder mindestens Fragen offen (vgl. Frei 2008, Mohr 2008, Gilcher-Holtey 1998, 2008). Zwar gibt es einen breiten medialen Diskurs über die so genannte ›freie Liebe‹, jedoch gibt es zu den darin diskutierten (zumeist übertriebenen) Vorstellungen bisher kaum wissenschaftliche Belege. Besonders die Forschung zu Themen, die dezidiert auch das private Leben der ›68er_innen‹ betreffen, ist noch sehr jung. Durch sie wird der Slogan ›Das Private ist politisch‹ re-aktualisiert und aufgegriffen (vgl. u.a. Baader 2008, 2011, 2012). Der Blick auf alltagskulturelle Praxen der Studierendenbewegung ist eine begrüßenswerte Entwicklung, um vor allem der »massenmediale[n] Mythologisierung und […] Selbststilisierungen zeitgenössischer Protagonisten« (Bartsch 2008: 4) einerseits und den konservativen Anklagen zu den ›negativen‹ Folgen – moralischer Werteverfall (vgl. Herman 2007, Hahne 2008: 14), »Erziehungskatastrophe« (Gaschke 2001: 12f.), Rechtsradikalismus (vgl. Leggewie 1993), Mangel an Disziplin (vgl. Bueb 2006) usw. – andererseits etwas differenzierter entgegentreten zu können. Besonders die Themenfelder Sexualität und
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Beziehungen bieten einiges an ›Spekulationsmaterial‹ – hier fehlt es noch an wissenschaftlichen Studien, insbesondere qualitativer Art. Sexualität und Beziehungspraxis wurden von den ›68er_innen‹1 politisiert und mit dem Ziel, eine neuen Gesellschaft und einen neuen Menschen hervorzubringen, verknüpft. Für den Entwurf eines neuen Sexualitätskonstrukts, das sich von der angeblich repressiven Sexualmoral der Elterngeneration abgrenzen sollte, bedienten sich die ›68er_innen‹ zu weiten Teilen der Theorien des Psychoanalytikers Wilhelm Reich. Reich sah in der Sexualität »die produktivste Lebensenergie schlechthin« (Reich 1971 [1936]: 18) und vertrat die Auffassung, dass »grausame Charakterzüge im Zustand chronischer sexueller Unbefriedigtheit« entstünden, die wiederum im Menschen Neurosen auslösen und zu autoritärer Unterwürfigkeit führen könnten (ebd.: 139). Nur der »genital befriedigte Mensch« zeichne sich durch »Milde und Güte« aus und sei immun gegenüber den Klauen des kapitalistischen, autoritären Systems (ebd.). Die Akteur_innen forderten mit Reichs Worten eine »kollektive Atmosphäre der Sexualbejahung« (ebd.: 175) und eine »sexualökonomische Selbststeuerung« (ebd.: 47) des Menschen, die mit der Anerkennung und Auslebung der eigenen Sexualtriebe und der Auflösung der bürgerlichen Monogamie einhergehen sollte.2 Auf Grundlage der Reich’schen Theorie sollte mit der Aufforderung »Raus aus [den] Zweierbeziehungen« (Kunzelmann, zit. nach Mehrmann 1967:
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Über die Frage, was und wer die ›68er_innen‹ waren bzw. sind, herrscht Uneinigkeit. Für mein Forschungsdesign war das Einschlusskriterium, dass sich die Interviewproband_innen selbst als ehemalige ›68er_innen‹ definierten. Außerdem wählte ich für das Sample Personen aus, die in den Jahren der ›Revolte‹ in einer Großstadt studierten. In diesem Artikel wird bewusst von den ›68er_innen‹ gesprochen, um einen gendersensiblen Sprachton zu treffen. Innerhalb der Studierendenbewegung sowie in den (zumeist auch retrospektiven) Betrachtungen über sie wurde bzw. wird zumeist vereinheitlichend von ›den 68ern‹ gesprochen.
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Die studentischen Debatten über die Befreiung der Sexualität bezogen sich paradoxerweise nur auf Heterosexualität. Homosexualität war stark tabuisiert und man vermied es, sich zu outen. So bekannten sich berühmte SDS-Funktionäre und bekannte ›68er‹ wie Hans-Jürgen Krahl und Günter Amendt erst Jahre nach der Bewegung zu ihrer Homosexualität. ›Schwul‹ wurde von den Studierenden oft als Stigma genutzt, um politische Gegner zu denunzieren und bloßzustellen (vgl. Micheler 1999: 77f.). Erst durch die Neue Frauenbewegung und die Schwulenbewegung wurde Homophobie im öffentlichen Diskurs aufgegriffen. Allgemein ist das Thema ›Homophobie der Studierendenbewegung‹ ein deutliches Forschungsdesiderat (vgl. u.a. Micheler 1999, Nölle 2004: 219f., Roth/Rucht 1991: 143).
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21) der Besitzanspruch an die Partner_innen aufgelöst und Offenheit für weitere sexuelle Nebenbeziehungen initiiert werden: »Die Monogamie hat nichts mit Eros zu tun, sondern ist eine ökonomische Zwangsveranstaltung. [...] Treue ist also keine Eigenschaft, sondern eine einseitige Gewaltverzichtserklärung, eine erniedrigende Verhaltensvorschrift für lebenden Besitz.« (Schrader-Klebert 1969: 25f.) Neben der geringen Zahl wissenschaftlicher Studien, die sich mit den Quellen der Bewegung zu den Themen Beziehungen und Sexualität auseinandersetzen (vgl. hierzu vor allem Herzog 2005), finden sich vor allem wertende Positionierungen, in denen zumeist auf polemische Art und Weise Frauen als unterdrückte Genossinnen der Bewegung dargestellt werden. Sie hätten unter dem »sozialistischen Bumszwang« (Flugblatt Frankfurter ›Weiberrat‹ 1968) ihrer Genossen gelitten; nur Männer hätten die polygame Beziehungsführung aktiv für sich genutzt, während ihre Partnerinnen monogam gewesen sein. Diese verkürzte Sichtweise beschreibt die »68erin als Anhängsel der Genossen«, die lediglich zum »Tippen, Haushalt, Vögeln« (Buhmann 1998: 143) ausgenutzt worden sei. Der ›sexuellen Revolution‹ wird bei dieser Auffassung insgesamt attestiert, sie sei Ausdruck einer »männerzentrierten Körperlichkeit« gewesen, »die den Bedürfnissen von Frauen nicht gerecht wurde« (Schulz 2003: 132, vgl. u.a. auch Schulz 2003, Reimann 2010: 229f., Haffner 2002: 151f., Haustein 2007: 48f., Jäkl 1987: 145f.). Es gibt jedoch auch konträre, wenngleich leisere, Stimmen von Zeitzeug_innen. Sie bringen in der Erinnerung an ihre studierendenbewegten Zeit nicht ihre Unzufriedenheit hinsichtlich einer Ungerechtigkeit im sexuellen Bereich zum Ausdruck. Sie betonen vielmehr den Reflexions- und Lerneffekt, den sie aus dem Beziehungsexperiment der Bewegung hatten. Sie seien gleichberechtigt gewesen und hätten gelernt, ihre Gleichberechtigung zu nutzen (vgl. bspw. Heider 1988, Runge 1983). Wie sich im Folgenden zeigen wird, bekräftigen die vorgestellten Daten diese gegenläufige Perspektive.
H EURISTISCHE R AHMUNG Aus den Kontrasten dieser beiden Darstellungsformen wird deutlich, dass ein erweiterter Blickwinkel auf den Mythos ›freie Liebe‹ und polygame Beziehungsführung wünschenswert ist. Besonders mangelt es m.E. an einem Blickwinkel aus der Oral History, welche die Diskussion der polarisierenden Positionen – ›Frauen als Opfer der freien Liebe‹ einerseits und ›Gleichberechtigung‹ andererseits – um Erinnerungen von Zeitzeug_innen zwingend bereichern muss.
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In meinem Dissertationsprojekt mit dem Titel Sexualität und Beziehungen im Kontext der Studierendenbewegung. Erleben – Erinnern – Verarbeiten führte ich narrative Interviews mit ehemaligen ›68er_innen‹. Durch die Erinnerungen von Zeitzeug_innen ließ sich das bisher noch eingeschränkte Spektrum an Quellen zum Thema Sexualität und Beziehungen der Studierendenbewegung erweitern. Von zwölf geführten Interviews wählte ich vier im Sinne des ›kontrastiven Fallvergleichs‹ (vgl. u.a. Kleemann/Krähnke/Matuschek 2009: 95f.) aus und unterzog sie einer (tiefen-)hermeneutischen Analyse.3 Komprimierte Auszüge aus diesen Ergebnissen sollen im Folgenden hinsichtlich der Fragestellung »Wie verorteten sich die Interviewten in ihren Erinnerungen zur Kategorie Geschlecht im Kontext der polygamen Beziehungsführung?« beschrieben werden.
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IM K ONTEXT POLYGAMER , BESITZANSPRUCHSLOSER B EZIEHUNGSFÜHRUNG Als erstes lässt sich festhalten, dass sich die Behauptung, polygames Sexualverhalten sei ausschließlich Männern der Bewegung vorbehalten gewesen, mit Blick auf die Interviews nicht bestätigen lässt. Zwar nutzten und bewerteten die Interviewten das Recht auf sexuelle Mehrfachbeziehungen unterschiedlich, jedoch erinnern alle, dass es von den Geschlechtern gleichermaßen genutzt wurde (wenn es so gewollt war). Brigitte (geb. 1950) und Walter (geb. 1951) erinnern, dass es sowohl Männern als auch Frauen zustand, gleichzeitig mehrere sexuelle Beziehungen zu führen. Beide beschreiben, wie sie neben ihren Partner_innen noch andere sexuelle Beziehungen pflegten und dass ihre Partner_innen dies ebenso taten. Mit diesen Schilderungen unterstreichen sie, dass die polygame Beziehungsnorm an kein konkretes Geschlecht gebunden war. Brigitte erinnert sich, dass nicht nur Frauen
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Genaueres zur Methodik der Interviewanalysen siehe Verlinden (2011: 96f.). Der Hinweis, dass es sich bei den Erinnerungen nur um subjektive Wirklichkeitskonstruktionen und Theorien der Interviewten handelt, scheint mir besonders wichtig. Die »generationalen Involviertheit« (Baader) ehemaliger ›68er_innen‹ erschwert auch Diskussionen über diese Themen. Aufgrund persönlicher Involvierung fühlen sich Protagonist_innen der Bewegung schnell angegriffen, besonders jene, die durch ihre ehemaligen Akteur_innenschaft und einer heroisierten Darstellung dieser Zeit profitieren und sich durch kritische Einwürfe und Nachfragen ihrer Deutungshoheit beraubt fühlen. Die nachfolgend aufgeführten, direkten Zitate stammen aus den geführten Interviews und werden ohne weitere Quellenverweise angegeben.
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unter dem Duktus der ›freien Liebe‹ gelitten hätten – auch Männer hätten sich »in dieser 68er-Zeit [von] diesem Sexualzwang« abgrenzen müssen. Es habe eines starken Willens bedurft, um sich von dem Druck, den die polygame Norm mit sich brachte, nicht zu sehr beeinflussen zu lassen und den eigenen Umgang mit dieser Norm zu finden. Brigitte selbst genoss die Möglichkeit, sich ihre Sexualpartner_innen zu nehmen, wann sie es wollte. »[...] ich bin die, die Beziehungen herstellt. [...] immer schon war mir klar, [...] dass ich eine völlig unabhängige freie [...] dominante Frau bin, die sich [...] ihre Geliebten nimmt. Von daher war für mich klar, Sexualität geht von mir aus und ich nehme sie mir. Also es gab da Phasen, wo ich offen war wo ich dachte, jetzt will ich mal wieder einen Partner haben, einen suchen wo ich zu Feten ging und mir einen mitgenommen habe«.
Durch Brigittes Aussagen wird deutlich, dass sie Männer durchaus als Sexualobjekte sehen konnte. Auch Thomas (geb. 1947) erinnert, dass formal gesehen Frauen wie Männer sexuelle Nebenbeziehungen hätten führen können. Jedoch nennt er im Interview kein Beispiel, in dem eine Frau mehrere sexuelle Beziehungen gleichzeitig pflegte. Zudem gibt er zu, dass ihm der Gedanke, seine Frau – Thomas hatte früh geheiratet, damit seine Frau (Lehrerin) eine Stelle in der Nähe seines Studienortes bekam – könnte außerhalb der Ehe eine sexuelle Beziehung führen, Unbehagen bereitete und sich hier rationale Theorieüberzeugung nicht mit seinen emotionalen Wünschen vereinbaren ließen: »Also mein Kopf … sagt mir natürlich ›Klar … Gleichberechtigung, hätte sie auch so machen können.‹ Ich bin da aber ehrlich gesagt nicht so sicher.« Miriam (geb. 1950) erinnert die Idee der besitzanspruchslosen Beziehungsführung an eine »typische Männertheorie«. Sie habe bei der Umsetzung dieser Beziehungsvariante nur »mitgespielt, wenn das von Seiten der Männer« eingefordert worden sei. Der Impuls, neben der Zweierbeziehung noch sexuelle Nebenbeziehungen zu beginnen, sei immer von ihren Partnern ausgegangen; für sie selbst habe sich eine sexuelle Nebenbeziehung »nie ergeben«, wenngleich sie dies durchaus hätte nutzen können. Das System der offenen Beziehungsführung ermöglichte es Miriam und Brigitte die bürgerliche Beziehungsmoral, nach der jede Beziehung, die sexuell geworden war, unweigerlich auf Heirat und Mutterschaft zusteuerte, kritisch zu betrachten. Da sowohl durch die allgemeine Liberalisierung als auch durch das reformierte Beziehungs- und Sexualitätskonstrukt der ›68er_innen‹ sexuelle Bindungen schneller eingegangen und schneller beendet wurden, konnte das Spektrum von Weiblichkeitskonstruktionen, die in den traditionell-bürgerlichen Beziehungsskripten und der restriktiven Sexualmoral enthalten waren, erweitert
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werden. Aspekte der Treueforderung und Ansprüche an Frauen, dem Mann stets den Rücken frei zu halten und für häusliche Harmonie zu sorgen, ließen sich mit Hilfe der sexuell nicht-exklusiven Beziehungen aufkündigen. Für Miriam und Brigitte ergab sich ein neuer, geschärfter Blick auf die Verwirklichung individueller Lebenspläne – außerhalb des Mutter- und Ehefrau Dasein. Brigitte: »Also ich habe Liebe [und Heirat] als Bedrohung für meine intellektuelle Existenz empfunden. Und von daher habe ich, wenn ich einen sexuellen Kontakt hatte, der sich auswuchs zu irgendeiner festen Beziehung, [...] sehr schnell abgebrochen. und [...] wenn sich herausstellte, dass [...] die Vorstellung der Männer irgendwie in die Richtung ging, mich irgendwie ans Haus zu binden oder in eine feste Beziehung hinein zu drücken oder wenn die anfingen, sich in meiner Studentenbude breit zu machen ... oder wenn die mir gar ihre dreckigen Klamotten anzuvertrauen gesuchten[,] dann war für mich der Punkt erreicht, wo ich so eine Beziehung sofort abgebrochen habe.« Miriam: »Ich mein, ich fand das auch interessant, ne, weil ich fand das schon, wenn ich das verglich mit Gleichaltrigen, die bei uns im Dorf weiter gewohnt haben[,] die so meiner Ansicht nach so wirklich [...] die Rollen übernommen haben, die sie von ihren Eltern [...] weitergegeben bekommen haben [, da] fand ich es schon interessanter, anders zu leben. Weil [...] ich fand die Bandbreite an Möglichkeiten war viel größer[,] der Horizont war viel weiter, es war einfach interessanter sich damit zu beschäftigen oder einfach mehr Informationen zu haben oder zu gucken, wie vielfältig das Leben war [und] mehr zu akzeptieren auch, was möglich ist.«
ARBEIT AN DER TRADITIONELLEN W EIBLICHKEITSZUSCHREIBUNG : SEXUELL PASSIV UND ABWARTEND Die Umsetzung polygamer Beziehungsgestaltung beinhaltete, dass Frauen wie Männer sexuelle Nebenbeziehungen führen. Damit einher gehen musste dabei ein Umdenken hinsichtlich weiblicher Sexualität: Während traditionelle Weiblichkeitsmuster Frauen noch als sexuell passiv und abwartend beschrieben, mussten die ›68er_innen‹ für die Umsetzung der ›freien Liebe‹ die zuvor proklamierte Differenz der Geschlechter in der Trieb- und Lustkomponente des Sexuellen aufheben. Die ›68er_innen‹ kritisierten nach außen das Bild der sexuell zurückhaltenden Frau aufgrund ihrer vermeintlich ›natürlichen Determiniertheit‹ – Frauen hätten nun lange genug die repressive Sexual- und Doppelmoral ertragen müssen
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und sollten sich nun selbstbestimmt ihren sexuellen Bedürfnissen und Wünschen widmen dürfen (vgl. u.a. Reich 1971 [1934a]: 50, Jacobi 1968: 169f., Schwenger 1969: 13f., Kentler 1970: 35). Jedoch zeigt sich in den Interviews, dass die Umsetzung dieses Gedankens schwerer fiel als seine Diskussion. Besonders die interviewten Männer hatten Probleme mit dieser Neuerung: Thomas erinnert sich, dass ihm der Wandel des Frauenbildes in besonderer Weise bewusst wurde: Ihm sei noch in seiner Kindheit und Jugend beigebracht worden, dass Frauen »keine sexuellen Bedürfnisse« hätten und ihre sexuellen Begehren hinter denen der Männer »verstecken« müssten. Erst als im Lichte der neuen Beziehungsvisionen der ›68er_innen‹ eine Freundin von ihm einmal die sexuelle Initiative ergriff, habe er die gesellschaftlich tradierte Annahme der sexuell passiven Frau für sich revidieren können. Er habe aus »dieser Lektion« gelernt, dass Frauen durchaus ›auch‹ sexuelle Bedürfnisse hätten.4 Zwar beschreibt Thomas, dass die Entdeckung weiblichen Begehrens für ihn einer »befreienden Entdeckung« gleichkam, dennoch veränderte diese Einsicht seine traditionelle Weiblichkeitszuschreibung nicht wirklich: Sowohl bei Thomas als auch bei Walter fällt auf, dass sie bei den Beschreibungen von Frauen auf die traditionelle Polarisierung von ›Hure und Heilige‹ zurückgreifen und sich mit dem Gedanken sexuell fordernder Frauen nicht wirklich anfreunden können. Sie kategorisieren (und beurteilen) Frauen entlang der beiden Polaritäten der sexuell freizügigen vs. der enthaltsamen Frauen, wobei erstere negativ konnotiert sind. Thomas erinnert sich: »Wir haben damals auch noch ziemlich stark irgendwie Mädchen [...] unterteilt, in die, mit denen mans machen konnte. [...] aber so angesehen waren die dann halt ja doch nicht. Und auf der anderen Seite [...] die, die man heiratet. Man hatte son [...] paar Mädels die man sich auch so empfohlen hatte zum Ausprobieren ... das war[en] dann die, wo man sich dann den Tripper geholt hat.«
Die Abwertung und das geringe Ansehen der sexuell freizügigen Frauen wird in Thomas’ Aussagen auch darin deutlich, dass er ›den Tripper‹ symbolhaft als Beweis moralischer Verderbtheit anführt. Das negative Bild der sexuell aktiven
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»Ich erinner mich[,] es war ja immer nur stundenlanges Gefummel und Geküsse auf dem Weg zum Bus[,] wenn man sie nach Hause brachte und dann irgendwann eines Tages hat sie [...] von sich aus die Initiative ergriffen [...] und das war [...] natürlich was. Nicht nur der Mann, der jetzt also immer das […] Mädchen verführen muss, [sondern jetzt] liefs halt genau umgekehrt und das fand ich total und im Nachhinein […] ne total befreiende Entdeckung.«
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Frau kontrastieren Thomas und Walter mit dem Bild jener Frauen, die sich in sexueller Zurückhaltung üben und zu der Gruppe Frauen gehören, »die man heiratet«. Diese beiden Frauenbilder orientieren sich an der traditionelle Geschlechterkonstruktion, die Frauen aufgrund ihrer scheinbar natürlich gegebenen Voraussetzungen den Platz in der Familie als Ehefrau und Mutter zuweist. Und auch Walter äußert sich verunsichert hinsichtlich weiblicher Aktivität im sexuellen Bereich: »ich weiß gar nicht wie ich darauf reagieren würde, […] wenn ich mir vorstelle, mit jemandem konfrontiert zu sein [mit einer] Frau, die sexuell sehr aggressiv auftritt, ob ich nicht dann zum Beispiel irritiert wäre ... und wahrscheinlich rätseln würde, wie ich das jetzt interpretieren muss.«
Walters Irritation ging so weit, dass er sich, nachdem er die ›freie Liebe‹ einige Zeit praktizierte, von ihr abwandte. Kaum war er in die Situation gekommen, dass (s)eine Freundin sich sexuelle Nebenbeziehungen suchte, reflektierte er das Konstrukt der offenen Beziehungsführung und wandte sich von ihm ab, da es sich nicht mit seinen emotionalen Bedürfnissen vereinbaren ließ: »Ja, und dass wir aber emotionale Bedürfnisse haben, dass Sexualität dann auch wiederum etwas mit Geborgenheit zu tun hat oder dass man [ei]ne Grundlage für Beziehung [braucht,] über die man manche emotionale Dinge überhaupt erst mal transportieren kann [...]. Mein Eindruck war, dass [...] das politisch korrekte Bild, das da vertreten wurde, das war irgendwie in dem Sinne defizitär. Da fehlte einfach was dran. Da fehlte das, was eben [...] viele meiner Bedürfnisse befriedigte. [...] Ich [war] den großen Teil meiner Zeit damit beschäftigt, tatsächlich einen großen Teil meiner Gefühle wiederzufinden. [Aber] die waren da nicht, die kamen da nicht vor, die waren vorher unterdrückt, die durfte ich nicht haben und die waren danach unterdrückt und die spielten keine Rolle in der Diskussion.«
Das, was Walter als seine Bedürfnisse identifiziert, ist stark der hegemonialen Männlichkeit verhaftet: »Ich hab [mich] dann eben auf diese[...] anderen Rollenbestandteil[e] wie zum Beispiel, Ernährer sein zu müssen, eine Familie versorgen zu können [konzentriert]. Und das auch mit einer gewissen Verlässlichkeit zu tun, sie müssen ja auch die ökonomischen Verhältnisse klar machen, wenn sie jemanden heiratet, ne Frau heiratet, die ein Kind bekommt und die dann natürlich [...] zumindest zeitweise [...] von einem abhängig ist [...], dann [...] muss man natürlich auch ne Verlässlichkeit der Versorgung garantieren.«
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»[D]ann frag ich mich […] ‚Hat man mit der [...] Gleichberechtigung das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? [...] Hat man eigentlich Dinge, die wir emotional mit den Rollen brauchen gleich mit beseitigt? Weil [...] die sind [...] ja [...] politisch nicht korrekt, weil die entsprechen nicht den dem öffentlichen Bild. Dass zum Beispiel Männer Beschützerinstinkte haben, dazu aber Frauen brauchen, die natürlich auch irgendwie ne Art von [...] Schutznotwendigkeit, Schutzbedarf signalisieren. [...] [D]as [...] gehört zum Rollenverhalten dazu [und] ist wahrscheinlich ein wichtiger Kick in den Beziehungen. Wenn jetzt aber die Frauen ihre Rolle so ausgestalten, oder wenn sie öffentlich so diskutiert werden, [dass sie] völlig gleichberechtigt [sind und] genauso wenig Schutz [...] wie Männer [...] brauchen, ne, dann geht was bei uns verloren.«
Walter vermisste in den offenen Beziehungen der ›68er_innen‹ die Verbindlichkeit und ›Verlässlichkeit‹, die Frauen scheinbar nicht mehr zu vermissen schienen. Walter moniert, dass durch eine Gleichberechtigung der Geschlechter die ›natürlichen‹ Unterschiede zwischen Mann und Frau aufgelöst würden und ein »wichtiger Kick« in der Beziehung zwischen Mann und Frau verloren ginge. Walters Sorge betrifft Männer als Verlierer der Gleichberechtigung, denen etwas verloren ginge, wenn es keine traditionellen Geschlechterzuschreibungen durch die Aufteilung ›starkes‹ vs. ›schwaches‹ Geschlecht mehr gäbe und selbstbewusste Frauen die ›männlichen Bedürfnisse‹ und Emotionen nicht mehr berücksichtigten. Solch ein ›männliches Bedürfnis‹ sei, einer Frau »Schutz« zu bieten – doch diese Bedürfnisse entsprächen seit der Gleichberechtigung nicht mehr »dem öffentlichen Bild« und gelten als »politisch nicht korrekt«. Mit der Haltung, dass die Gleichberechtigung das männliche Geschlecht als ›Opfer‹ zutage fördere, legitimiert Walter seine Stereotypisierungen und seine (latenten) Sexismen, auf die er als rhetorisches Mittel zurückgreift, um an ›Urbedürfnisse‹ der Geschlechter zu appellieren und die Gleichberechtigung als negative, denaturalisierende Entwicklung darzustellen. Walter konnte der polygamen Beziehungsführung nach einer gewissen Erprobungsphase nichts mehr abgewinnen und wendete sich gegen Ende seines Studiums von der Studierendenbewegung ab. Das mit der ›freien Liebe‹ die Reflexion und Neuordnung des Geschlechterarrangements einhergehen musste, war Walter »zu anstrengend«. Er konnte nicht verstehen, wieso seine Genoss_innen nicht einfach »den Vorteil, den feste Rollen haben« einsähen; man bräuchte sie lediglich »historisch [zu] übernehmen«. Das Kategorisieren der Geschlechter mit Hilfe traditioneller Stereotypen ist kein ›männliches‹ Phänomen in den Interviews. Auch Brigitte kategorisiert und stereotypisiert (vor allem weibliche) Lebenskonzepte. Sie polarisiert Frauen in die Kategorien »Hausfrauen« und autarke Frauen in Freiheit, wobei sie erstere als unfreie, »kleinbürgerliche« Dienerinnen der Ehemänner beschreibt, die sich
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nicht gegen »diese Zuweisung ›Frau im Haus‹« zur Wehr setzen wollen bzw. können. Jene Frauen seien »offenbar so sozialisiert«, sich den traditionellen Zuschreibungen an ihr Geschlecht anzupassen. Brigittes Aussagen zu »Hausfrauen« und »Ehefrauen« sind stets von einer starken Ablehnung und Abgrenzung geprägt und spitzen sich in einem sexistischen Gesamtstereotyp zu. Bspw. würden Frauen, die in einer Ehe leben und als Hausfrau tätig seien, naiv der Illusion bzw. der »großen Lüge« aufsitzen, dass sie in diesem Lebensmodell die »wahre Liebe« ihres Mannes bekämen, würden sie seine »konservativen Bedürfnisse« erfüllen. Zudem sei es ein »großer Bluff«, dass sich in »gepflegter Häuslichkeit« durch das Führen eines »dummen Haushalts […] Emotionen erfüllen würden« und sich »traute Harmonie« einstelle. Daher habe sie niemals heiraten wollen und festgestellt, dass sie sich als »geheime Geliebte am besten realisieren« könne. Zudem greift sie auf den theoretischen Überbau der ›68er_innen‹ zurück, indem sie »die monogame Einehe als Zurichtung des Nationstaates« interpretiert. Da sie ihren Partnern nie in der Funktion der Ehefrau begegnet, denkt sie, den vermeintlich ausschließlich negativen Aspekten des Modells Ehefrau zu entgehen. Bis heute führt sie nur Beziehungen mit verheirateten Männern und empfiehlt dieses Beziehungsarrangement in der Interviewsituation auch der jüngeren Frauengeneration – es sei die »beste Art der Beziehungsführung«. Gründe für diese Überzeugung skizziert sie auch am Beispiel ihrer Mutter. Ihre Mutter habe unfreiwillig und unglücklich in einer Ehe gelebt. So habe sich Brigitte bereits als junge Frau geschworen, erfolgreich der »Bedrohung dieses Hausfrauendaseins« bzw. »dem Gefängnis [der] Mutter« zu entgehen. Sie entwickelte ihr eigenes Lebenskonzept, das sich deutlich von einer Haus- und Ehefrau abgrenzt, indem sie sich stets weiblichen Zuschreibungen des traditionellen Frauenbildes »verweigerte«. Das »traditionelle Rollenschema«, das »biedere Ehebett« und ein »bürgerlicher Haushalt« seien für sie nie in Frage gekommen. Die Studierendenbewegung und ihre Theorien zur ›befreiten Sexualität‹ habe ihr als »Schlüsselerlebnis« fungiert und ihr den »Theoriehintergrund« geliefert um eine alternative Lebensweise zu entwickeln. »Es war eher so die Faszination des Möglichen, die Freiheit wir als Frauen können [...] sexuell selbst bestimmen. Wir sind nicht mehr wie unsere Mütter. [...] [D]as Schlüsselerlebnis 68 [...] hat uns den Theoriehintergrund geliefert [...] um unsere Bedürfnisse zu verstehen [...] und es hat für mich den Anstoß gegeben zu sagen, ich möchte nicht nur irgendeine politische Theorie [...], sondern ich möchte mein gesamtes Leben vollständig bis in alle Details und Einzelheiten anders fundieren, neu fundieren. Das war eindeutig meine Absicht, immer schon. Schon relativ früh als Kind. Und da hat mir die 68er-Bewegung [...] das Instrumentarium geliefert.«
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Auch Miriam reflektiert wie Brigitte weibliche Zuschreibungen kritisch und beschreibt, dass sie sich noch als Kind in »Tagträumereien« den »Rollen, die [ihr] eigentlich zugedacht waren« anpasste und über »heiraten [und] Kinder bekommen« als einzige Version ihres Erwachsenenlebens nachgedacht habe. Nachdem Miriam in die Großstadt zog und sich im Kontext der Theorien der ›68er_innen‹Bewegung mit alternativen Lebensmodellen auseinandersetzen konnte, nahm sie ihre Mutter und ihre »spießige Freundin« als Negativvorbilder wahr, da diese sich der »üblichen Rolle, die man so hatte als Frau« – also dem traditionellen Geschlechtergefüge – angepasst hatten. Miriam wollte sich dagegen nicht unkritisch den »anerzogenen Forderungen« der Gesellschaft fügen und sich auf gar keinen Fall dem Leben eines Mannes anpassen. »Ich hatte immer die Angst, dass Derjenige [...]mein ganzes Leben überstülpt […] und dass ich quasi wie eine Marionette [...] in dem seinen Plänen [...] fungiere.« Miriam ist Mutter eines erwachsenen Sohnes, den sie alleine großzog. Sie ist unverheiratet und lebt – eigener Aussage zufolge – gern allein, führt jedoch eine Beziehung mit einem verheirateten Mann und findet diese Beziehung für sich sinnvoll. Neben den Aussagen, die Miriam und Brigitte über Frauen treffen, äußern sie sich erstaunlich wenig über Männer. Nur Brigitte berichtet von der spannungsgeladenen Beziehung zu ihrem Ziehvater, den sie als »konservativen Waschlappen« erinnert. Er habe in ihr eine »Trotzreaktion« hervorgerufen – ein Motiv für ihren Weg in die Studierendenbewegung. Andere, durch den Subtext der Interviews durchscheinende, Konflikte mit Männern, werden von Brigitte und Miriam jedoch nicht aufgegriffen. Stattdessen stellen sie ihr Verhältnis zu Männern ihrer Generation zumeist als gleichberechtigt dar. Sie betonen, dass ihre Reflexion der Geschlechterverhältnisse hauptsächlich über das eigene Geschlecht stattgefunden habe.
F AZIT Das Ideal der besitzanspruchslosen Beziehung bot sich als Erprobungsmittel neuer Geschlechterkonstruktionen an und zeigte die Möglichkeit auf, sich individueller Bedürfnisse, die in den Spannungsfeldern traditionelle Geschlechterdichotomie vs. Reflexion der Geschlechterkonstruktionen, Verbindlichkeit vs. Freiheit und Monogamie vs. Autonomie und Selbstverwirklichung oszillierten, bewusst zu werden. Die Umsetzung einer Theorie, die eine emanzipierte, egalitäre polygame Beziehungsform anstrebt, benötigte eine Gleichberechtigung der Geschlechter, um auf Dauer erfolgreich umgesetzt werden zu können. Es finden sich in den Interviews unterschiedliche Beispiele dafür, wie sich die Ak-
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teur_innen der Bewegung de- und rekonstruierend, aber auch traditionellreifizierend damit auseinandersetzen. Zumeist schwankte dies einerseits zwischen dem Wunsch, es bei den traditionellen Geschlechterkonstellationen zu belassen und andererseits dem Wissen und der Einsicht, dass das Beharren auf Geschlechterstereotypen eine Veränderung der Lebensverhältnisse blockiert. Nicht immer gelang es den Akteur_innen jedoch aus dem rationalen Wissen über die (die ›sexuelle Revolution‹ ausbremsenden) verkrusteten Geschlechterzuschreibungen praktische Konsequenzen und konzeptuelle Neubestimungen von Geschlecht folgen zu lassen. Trotz der Spielräume, die sich durch das veränderte Beziehungskonzept den interviewten ›68er_innen‹ für die Geschlechterbilder anboten, greifen sie in ihren Erzählungen zu großen Teilen auf traditionelle, bipolare Zuschreibungen von ›typisch weiblich‹ und ›typisch männlich‹ zurück. Walter und Thomas werten Frauen, die sexuell sehr aktiv sind, als ›leichte Mädchen‹ ab, Brigitte und Miriam nutzen das Klischee der Hausfrau zur Abgrenzung. Eine gleichberechtigte Umsetzung der polygamen Sexual- und Beziehungsideen der Bewegung war bei Thomas und Walter nicht möglich, da sie zum einen mit ihrem dichotomen Geschlechterverständnis die bürgerliche Doppelmoral tradierten, was konträr zu der Idee stand, dass beide Geschlechter sich sexuell befreien sollten. Walter sah in der Auflösung der Abhängigkeit, die das traditionelle Beziehungsmodell eigentlich Frauen zuwies, seine männlichen Bedürfnisse in Gefahr. Miriam und Brigitte nutzten die offene Beziehungsführung, um sich Zuschreibungen und Erwartungen an ihr Geschlecht zu entziehen und sich den eigenen Bedürfnissen und Lebensplänen zu widmen. Denn sie erfuhren die Zuschreibungen an ihr Geschlecht als unvereinbar mit ihren individuellen Selbstverwirklichungswünschen. Sie erlebten einen Widerspruch zwischen den sich ihnen nun neu eröffnenden Möglichkeiten (sexuelle Selbstbestimmung, Bildung, politische Mitbestimmung, persönliche Entfaltung) und den weiterhin existierenden Schranken für jene Frauen, die unter dem Druck des traditionellen Weiblichkeitsbildes standen. Sowohl in der Generation ihrer Mütter als auch in der eigenen zeigten sich bei Miriam und Brigitte viele Abgrenzungsfolien, die ihnen als Negativvorbilder fungierten. Die theoretischen Konstrukte von Gleichberechtigung und alternativer Lebensmodelle der ›68er_innen‹ boten Miriam und Brigitte dagegen hypothetische Gegenkonzepte zu den traditionellen Zuschreibungsmustern, von denen sie sich allerdings aus eigener Motivation lossagen mussten. Sie sahen eine monogame Beziehung verbunden mit bestimmten Zuschreibungen und Pflichten, denen sie sich durch eine offene Beziehung entziehen können – sowohl Miriam als auch Brigitte leben weiterhin in Beziehungsarrangements mit verheirateten Männern. Zusammengefasst lässt sich folgende These generieren: Das sich das
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›68er_innen‹-Projekt ›freie Liebe‹ nicht durchsetzte, kann auf die Beharrlichkeit, mit der immer noch an traditionellen Geschlechterzuschreibungen festgehalten wurde, begründet werden. Nicht alle wussten die Chance zu nutzen, die sich ihnen durch die polygame Beziehungsführung hinsichtlich einer Neubetrachtung und Reflexion von Geschlechterzuschreibungen, bot. In den von mir geführten Interviews waren es die Frauen, die die Möglichkeit wahrnahmen, traditionelle Attribuierungen zu reflektieren. Die offene Beziehungsführung bot sich ihnen dabei als ein mögliches Praxisfeld an, wenngleich dies durchaus mit einem von Spannung und Ambivalenz geprägter Entwicklungsprozess verbunden war, der verschiedene Mechanismen von Abgrenzung, Reflexion und Neuorientierung der Interviewpartner_innen beanspruchte. Die Interviewstellen dürften erste Diskussionsimpulse geben, die das Wirrwarr um bewusste und unbewusste Prozesse der Geschlechterreflexion und arbeit der ›68er_innen‹ entflechten könnten. Frauen durchweg als ›Opfer‹ der Bewegung zu bezeichnen, scheint offensichtlich ein vorschnell geäußerter Befund zu sein.
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Zur Komplexität des Sozialen Praxeologische und queertheoretische Perspektiven auf die Prekarisierung von Erwerbsarbeit S USANNE V ÖLKER
Wir leben in Zeiten von Wirtschafts- und Finanzkrisen, haben es mit ökologischen Verwerfungen und mit tiefgreifenden Wandlungsprozessen in der Organisation von Arbeit und von Sozialstaatlichkeit zu tun. Deren globale Ausmaße sind nicht zu übersehen und berühren die Lebensführungen jedes_jeder einzelnen. In den Zeitdiagnosen der Soziologie ist angesichts der Komplexität der Veränderungen die Rede von neuen postmodernen und postkolonialen Konstellationen – diese ereignen sich sowohl in den sozialen Institutionen als auch in der alltäglichen Praxis, im Handeln der Akteur_innen. Diese postmodernen und – bezogen auf die (Erwerbs-)Arbeitsregime – postfordistischen Umbrüche sind von Ungewissheiten über die künftige Entwicklung der globalisierten Gesellschaften, von neuen Grenzziehungen und von Verschiebungen der ökonomischen und kulturellen Konstellationen bestimmt. So ist die Arbeitssoziologie damit konfrontiert, dass ihr Gegenstand fragiler, diskontinuierlicher und fragmentiert wird. Dies betrifft nicht nur die historisch spezifischen Formen wirtschaftlichen Handelns, sondern ebenso die Erwerbsarbeit als Modus der Vergesellschaftung und als zentrale Instanz sozialer Positionierung und Anerkennung. In soziologischen Theorien zu sozialen Ungleichheiten und Arbeit, aber auch von ›alten‹ und ›neuen‹ politischen Akteur_innen wie den Gewerkschaften oder den EuroMayDay- und Occupy-Aktivist_innen wird der Begriff der Prekarisierung aufgegriffen. Er zielt darauf, die veränderte Organisation von Erwerbsarbeit als bis dato wirkmächtigem Vergesellschaftungsmodus auf den Punkt zu bringen und die Qualität der theoretischen und praktisch politischen Herausforderungen über konkrete Beschäftigungsverhältnisse hinaus zu fassen. Transformationen also, wohin wir blicken: im allgemeinen ›Lauf der
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Welt‹ (Bourdieu) und bei der Organisation des Sozialen durch Erwerbsarbeit ebenso wie in den Begrifflichkeiten der sie interpretierenden Soziologie. Ich werde im Folgenden den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen am Beispiel der unterschiedlichen Akzentuierung des Begriffs der Prekarisierung nachgehen. Dabei möchte ich erstens zeigen, dass die Analyseperspektive der Prekarisierung für die Frage nach veränderten Konfigurationen von (Erwerbs-) Arbeit, Lebensführungen und Geschlechterarrangements sehr produktiv ist. Sie gewinnt zudem, wenn sie durch queer- und prekaritätstheoretische Überlegungen erweitert wird. Judith Butler begreift mit ihrem Verständnis des Prekären ›Prekarisierungsprozesse‹ nicht allein als Umbau des Vergesellschaftungsmodus ›Arbeit‹ und damit verbundener Regierungsweisen. Der von ihr betonte Zusammenhang von Verletzbarkeit, Angewiesenheit und Handlungsfähigkeit ermöglicht zugleich die Infragestellung von Souveränitätsfiktionen bspw. des autonomen ›Arbeitssubjekts‹ (vgl. Butler 2009, 2010). Zweitens möchte ich anhand von empirischen Phänomenen deutlich machen, inwieweit Fragen nach sozialer Einbindung, nach einem ›guten‹ Leben und nach veränderten Konzepten von Weiblichkeiten und Männlichkeiten in prekarisierten Lebens- und Arbeitsverhältnissen (neu) artikuliert werden. Drittens und abschließend plädiere ich für eine praxeologisch vorgehende (Arbeits-)Soziologie. Sie ermöglicht inmitten der (Re-)Artikulation von Ungleichheiten durch Arbeit, Nicht-Arbeit und Prekarisierung auch partielle Verschiebungen und Öffnungen in den Praktiken der Akteur_innen auszumachen.
1. K ONZEPTIONIERUNGEN – ARBEITSSOZIOLOGISCHE P ROBLEMATISIERUNGEN UND QUEERTHEORETISCHE E RWEITERUNGEN Der in der Arbeitssoziologie der 1990er Jahre relativ enge Begriff der Prekarität richtete sich zunächst auf die Erosion des männlichen, unbefristeten Vollzeiterwerbsverhältnisses mit Familienlohn: Es ging um die Zunahme von Beschäftigungsverhältnissen wie Teilzeitarbeit, geringfügiger Beschäftigung, befristeter Arbeit, Leiharbeit und um die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Erwerbsarbeit war zunehmend nicht mehr existenzsichernd und langfristig planbar, sondern diskontinuierlich, verwundbar und umstellt von einer strukturellen Massenarbeitslosigkeit. Damit wurde der männliche Familienernährer (des auf Westdeutschland begrenzten Modells) eine instabile, mitunter auch vakante Position und die weibliche Zuverdienerin und Familienerhalterin (vgl. Krüger 1995) war kein sozial abgesichertes Zukunftsmodell mehr.
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Allerdings vernachlässigt(e) diese modellhafte Analyse der Verknüpfung von kulturellen (Geschlechter-)Leitbildern und arbeitsmarktlicher sowie wohlfahrtsstaatlicher Regulierung die Differenzen entlang sozialer Milieus oder der Institution der Staatsbürger_innenschaft und damit das komplexe Gefüge, in das das westdeutsche Ernährermodell eingelassen war. So wurde das fordistische Familienleitbild der im ›privaten‹ Haushalt sorgenden Mutter, die zunehmend auch teilzeiterwerbstätig sein konnte, auf dem Arbeitsmarkt bis zum Anwerbestopp 1973 durch die Vollzeiterwerbstätigkeit von Migrantinnen ermöglicht. Deren Eltern- bzw. Mutterschaft wurde aus den Verhandlungen um kulturelle Leitcodes zunächst herausgehalten zugunsten ihrer ökonomischen Nutzbarkeit für das Anwerbeland Deutschland. Erst in späteren Jahren der sogenannten Rückkehrförderung oder auch der partiellen Integration der ›Gastarbeiter_innen‹ kam es aufgrund des angespannten Arbeitsmarktes zur politischen Verallgemeinerung des männlichen Ernährermodells für Migrant_innen. Anja Weckwert arbeitet diese unterschiedlichen Phasen komplexer Politikkonstellationen heraus: »Hatten Arbeitsmigrantinnen während der Anwerbephase die Funktion, die am malebreadwinner-Modell orientierte geschlechtliche Arbeitsteilung auch unter den Bedingungen einer wachsenden Arbeitskräftenachfrage in den frauentypisierten Arbeitsmarktsegmenten zu gewährleisten, haben migrantische Haushaltsarbeiterinnen im Übergang zum adult worker model einen wachsenden Anteil daran, die Strukturdefizite zu kompensieren, die dieses Modell hinterlassen hat [vgl. Sonderregelungen im Bereich der Pflege, Sorge und Haushalt im Niedriglohnbereich]. Im Vergleich zur Anwerbephase hat sich aber die rechtliche Situation angesichts der doppelten Irregularität [illegalisierte Migration und illegalisierte Beschäftigung] vieler Beschäftigungsverhältnisse verschärft, während ihre Arbeitskraft auch heute strukturell vorausgesetzt wird.« (Weckwert 2008: 161 [Herv. i.O.])
Es geht hier also um den Zusammenhang von Arbeits-, Geschlechter-, Migrations- und Wohlfahrtsregimen (ebd.), um Differenzen zwischen ost- und westdeutschen Geschlechterregimen (vgl. Dölling 2003, 2005, Völker 2004, 2007) und damit um soziale Praktiken sehr unterschiedlicher Akteur_innen. Diese wenigen Hinweise zeigen, dass der enge Ausgangspunkt der Prekarisierungsdebatte mit den geschlechtersoziologischen und intersektionalen Problemstellungen eigentlich sofort weit überschritten war. Gemeinsam ist den aktuellen soziologischen Betrachtungen entsprechend die Feststellung, dass sich nicht nur die Sphäre anerkannter ›Arbeit‹ verändert, sondern auch die Organisation des ›Privaten‹, der Selbst- und Fürsorge, der Lebensführungen und der Ge-
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schlechterarrangements. Prekarisierung greift also nicht auf vermeintlich isolierbare Einzelphänomene zu, sondern charakterisiert komplexe Zusammenhänge. Aus dieser geteilten, aber verschieden bewerteten Diagnose einer Intensivierung von Instabilitäten, Erosionen und Deregulierungen werden unterschiedliche Schlussfolgerungen im Hinblick darauf gezogen, mit welchen Forschungsperspektiven sich diesen Prozessen genähert wird. 1.1 Prekarisierung als gefährliche Desintegration (das Integrationsparadigma) Prekarisierung als Problem sozialer Integration meint die Verunsicherung von Arbeits- und Lebensverhältnissen als ›Teil eines veränderten Herrschaftsmodus‹ (vgl. Bourdieu 1998) und die Auflösung von gesellschaftlicher Kohäsion. Im Sinne einer intervenierenden Wissenschaft wird für Politiken der Entprekarisierung von sozialen Gruppen und der Sicherung und institutionellen Rahmung von Leben plädiert (beispielsweise Castel 2000, Dörre 2009). Kern dieser Sichtweise ist die normativ angestrebte Integration von möglichst vielen Akteur_innen-Gruppen in eine bestimmbare Gesellschaft. Die Umbrüche der Rahmenstrukturen gilt es zu beherrschen und zu gestalten, um den Individuen Sicherheiten, begrenzte Wahlfreiheiten und Orientierung zu verschaffen und neue, zeitgemäß modernisierte Normalitätsannahmen und sozialpolitische Garantien zu formulieren. Trotz der unbestreitbar höchst relevanten Diagnosen des Integrations- und Entprekarisierungsansatzes gibt es Kritiken. Sie weisen auf vier problematische Voraussetzungen bzw. Leerstellen hin: Erstens problematisieren sie das Vernachlässigen des Zusammenhangs zwischen der Transformation der Erwerbsarbeit und des Wandels im Bereich der Selbstsorge, Care und der privatisierten Reproduktion. Die von Kerstin Jürgens (2010) vorgetragene These der tiefgreifenden Reproduktionskrise des Modells Deutschland und der systematischen, neoliberalen Verwahrlosung von Fürsorge, wie dies Regina Becker-Schmidt (2011) genannt hat, wird innerhalb der Geschlechterforschung breit geteilt; der von Arlie Russel Hochschild (2011) beschriebene Zusammenhang der global care chain verweist zudem auf den transnationalen Charakter von Sorge-, Erwerbsarbeit und Geschlechterverhältnissen. Welche Konsequenzen die Care-Debatte für eine geschlechtersoziologisch informierte Arbeitsforschung hat, ist umstritten: Geht es um die Erweiterung des historisch situierten Begriffs der Arbeit oder eben gerade um dessen Begrenzung und Konkretisierung? Und damit bin ich beim zweiten kritischen Einwurf, der auf die doch fragliche Annahme zielt, dass Erwerbsarbeit auch künftig dominanter
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Integrationsmodus für soziale Einbindung bleiben wird (vgl. Dölling 2010). Stattdessen wird für die Entkopplung von sozialen Rechten und anerkennbaren Lebensführungen einerseits und Erwerbsteilhabe andererseits argumentiert. Drittens sind mit den Bestimmungen der Voraussetzungen für die angestrebte Integration neue Grenzziehungen verbunden. Isabell Lorey (2010) hat diese Grenzziehungen als Strategie der biopolitischen Immunisierung des ›Gesellschaftskörpers‹ gegen ›sozial gefährliche‹ Prekarisierte analysiert. Soziale Ausschlüsse werden nicht als Herausforderung der Demokratie skandalisiert. Sie werden stattdessen zum individuell verschuldeten Problem einer nicht aktivierbaren, moralisch zweifelhaften, aber überschaubaren Gruppe gemacht (bspw. von bestimmten, unbelehrbaren Hartz IV-Empfänger_innen). Viertens betone die Perspektive der Integration übermäßig die Einpassung in geschlossene soziale Institutionen ohne die Dynamiken der Entsicherung bzw. Transformation und die praktische Beteiligung der Akteur_innen hinlänglich zu berücksichtigen (vgl. Dölling/Völker 2007). Das Soziale wird in der Integrationsperspektive als ein organisier- und beherrschbarer Gesamtzusammenhang vorgestellt, der durch die Hineinnahme (oder ausschließende Marginalisierung) tendenziell passiver Akteur_innen funktioniert. Damit wird der Ereignischarakter des Sozialen und seine Komplexität vernachlässigt. Denn das Soziale ist zwar durchaus ein bedingter, strukturierter Zusammenhang, es ist aber mindestens ebenso situativ und performativ. Es ist nicht nur geschichtlich bedingt, sondern gegenwärtig, instabil, offen für Verschiebungen und bringt sich aktuell durch vielfältige Akteur_innen hervor. Zudem ist das Soziale als Ereignen von Relationen nicht mono-epistemologisch – d.h. nie in einer kohärenten, totalisierenden erkenntnistheoretischen Perspektive – bspw. der soziologischen oder der politologischen – beschreibbar, sondern ein vielschichtiger, kreativer Prozess. Er wird durch unterschiedliche menschliche und auch nichtmenschliche Akteur_innen (beispielsweise Techniken, Landschaften, Räume, andere Lebewesen) gestaltet, die miteinander zwar eine Welt teilen, diese aber nicht identisch wahrnehmen und deuten – darauf hat bereits die feministische Biologin Donna Haraway (vgl. Despret/Haraway 2011) hingewiesen. Insofern sind die Ergebnisse des Ereignens des Sozialen schöpferisch offen, kontingent und nicht zu reduzieren auf einen relativ kalkulierbaren, beherrschbaren Prozess der (Des-)Integration. Diese offenere Auffassung des Sozialen wird in der zweiten Perspektive der Prekarisierungsdebatte stärker berücksichtigt.
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1.2 Prekarisierung als Zunahme von sozialen Unbestimmtheiten Hier werden Prekarisierungsprozesse als Infragestellung bisher gesicherter Ungleichheitsverhältnisse und damit auch als Destabilisierung von spezifischen Herrschaftsanordnungen begriffen. Es werden Dynamiken sichtbar, die – etwa durch das Entflechten von Klassifikationen wie ›Männlichkeit‹ mit der Institution des Normalarbeitsverhältnisses – an den Grundfesten des androzentrischen Arbeitsverständnisses oder (um es mit Pierre Bourdieu zu formulieren) an der ›männlichen Herrschaft‹ rütteln. Mit anderen Worten: Hier geht es weniger darum, den Prozessen der Entsicherung und der Zunahme von sozialen Fragmentierungen und Unbestimmtheiten entgegenzutreten, sondern an diesen Transformationen mit Blick auf die sozial produktiven Akteur_innen teilzunehmen. Dabei stehen weniger die verfestigten Ungleichheitsstrukturen, die Geschichtlichkeit und die Bedingtheit des Sozialen im Mittelpunkt als die transformatorischen Bewegungen oder – im Anschluss an Gilles Deleuze (1993) – das, was aus der Geschichte fällt, weil es wird, weil es etwas Neues schafft, das sich der Kontrolle seiner Bedingtheit nicht ergibt. Einen solchen – im Anschluss an Pierre Bourdieu – praxeologischen Zugang zeichnet aus, dass er die Wirksamkeit geschichtlich bedingter und verfestigter Strukturen stärker in einer Perspektive des Prozesshaften, des Agierens werdender Strukturen und Akteur_innen betrachtet. Der Begriff der Praxeo-logie bezieht sich einmal auf Praxis als Ebene des direkten Handelns, des Vollzugs, des unmittelbaren Eingebundenseins in das, was in seiner ganzen Vielgestaltigkeit passiert. Gleichzeitig steckt in dem Begriff ›Logos‹ die jeweils spezifische Logik, die aus der Praxis hervorgeht und sie anleitet. Bourdieu unterscheidet zwischen wissenschaftlicher und praktischer Logik: die von dem praktischen Handlungsdruck entlastete, häufig mono-epistemische wissenschaftliche Logik ist um Klarheit, Eindeutigkeit und Trennschärfe der Begriffe, um eindeutige Klassifikation, um ›Wahrheitsproduktion‹ bemüht. Die praktische Logik hingegen lebt von ihrer Unschärfe, ihrer Polysemie. Zeitlich, räumlich und körperlich eingebunden geht es darum, mit gerade so viel Logik auszukommen, wie unbedingt notwendig ist, damit Handlungsvollzüge aufeinander abgestimmt sind und glücken können. Die praktische Logik verknüpft Verschiedenartiges und Widersprüchliches, sie ist angewiesen auf eine (wenn auch selektive) Offenheit gegenüber der Welt. Damit ist ein für die Untersuchung von Prekarisierungsprozessen wesentlicher Aspekt benannt: die Potenzialität, die in der unscharfen Logik der Praxis liegt, die an Gewohntes anknüpft, aber auch Neues, Anderes einzubinden ver-
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mag. Während jedoch Bourdieu die Funktion der Unschärfe der Praxis für die Reproduktion sozialer Strukturen betonte, akzentuiere ich mit Bezug auf Deleuze die Ermöglichung von Transformationen. 1.3 Prekäres Leben als Abschied vom souveränen Subjekt Der Begriff der Prekarisierung hat von Seiten der Queer Theory eine maßgebliche Erweiterung erfahren, da es hier nicht allein um die Analyse von institutionellen Entsicherungen und um expandierende soziale Verwundbarkeiten spezifischer Individuen geht, sondern auch um die grundlegende Verletzbarkeit von Leben. Judith Butler formuliert eine analytische Differenz, indem sie zwischen Leben in seiner Körperlichkeit und seinem Ausgesetztsein in der Welt (precariousness) und dem Begriff der Prekarität (precarity) als einem politisch bedingten und zu verantwortenden Zustand der Gefährdung bestimmter Bevölkerungsgruppen (vgl. Butler 2010: 32) unterscheidet. Precariousness betont, dass ›unser‹ Leben, unsere Materialität prekär ist, weil wir sozial, auf Andere verwiesen sind, um überleben zu können. Wir leben, sind in Verhältnis, in Ausgesetztheit, in Relation zu anderen und wir sind nicht autonom. Das heißt aber auch, dass es keine Seinsweisen jenseits dieser sozialen Relationalität gibt, sondern Ontologien zugleich immer auch politisch und sozial sind. Die Wahrnehmung des Lebens als einem Leben, das es gegen Beschädigung zu schützen gilt, ist eine politische Frage (precarity). Sie hängt aber davon ab, ob das Erlöschen oder sogar Zerstören von Leben als ein schmerzlicher, betrauerbarer Verlust erfahren werden kann – oder eben nicht. Welche Leben – beispielsweise von Menschen, die ich nicht kenne, nicht verstehe, ja die mich vielleicht sogar abstoßen – werden als betrauerbare Leben und als Leben, auf die ich bezogen bin, mit denen ich verbunden bin, anerkannt? Diese Differenz setzende Frage nach anerkennbaren und verworfenen Leben setzt ein begrenzendes und identifiziertes ›Wir‹ voraus, das es – so Butler – zu überwinden gilt. Das Gewärtigen der Relationalität, der Verbundenheit meines Lebens mit Anderen und der Tatsache, dass mein Leben ›außer mir‹ (vgl. Butler 2009) ist, ist nur als Unterbrechung dieses identifizierenden, verfügenden ›Wir‹ (– und die Anderen) möglich. Diese queertheoretische Erweiterung der soziologischen Prekarisierungsdebatte rückt drei Punkte in den Vordergrund: •
Mit precariousness, der Angewiesenheit von Leben dekonstruiert sie die Fiktion des souveränen Subjekts.
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•
•
Sie stellt die Frage legitimer Grenzziehungen (z.B. zwischen sinnvollen Erwerbsleben und vermeintlich sozial nutzlosem Leben der Erwerbslosigkeit) und damit des Politischen neu. Sie greift das Exponierte, die Anerkennung der Verletzbarkeit und Verletzungsmacht von Körpern als Grundlage von Handlungsfähigkeit auf und rückt damit deren Relationalität in den Mittelpunkt.
Dieses erzwungene, unfreiwillige Herstellen von Relationen ist ein Vermögen der Akteur_innen, mit dem sie Welt immer neu mit hervorbringen. Die soziale Produktivität dieses praktischen Anschließens und Einbindens geht über die bourdieusche Praxeologie hinaus. Denn Wandel entfaltet sich nicht allein in klassifikatorischen Unschärfen, sondern ebenso in dem Moment des Ereignens, der gerade in Prozessen sozialer Transformation sicherlich mit historischen Konditionierungen, aber zugleich mit Unbestimmtheiten verbunden ist. Es geht mir also darum, gerade die Instabilität von Ungleichheitskonfigurationen und bisher wirkmächtiger Herrschaftsverhältnisse zu erkunden und das Werden flüchtiger, veränderter Relationen greifbar zu machen.
2. P REKARISIERUNG : D ESTABILISIERUNG (U NGLEICHHEITS -)K ONFIGURATIONEN
GEWOHNTER
Für die Geschlechterforschung stellen sich mit den ausgreifenden Prekarisierungs- und Wandlungsprozessen recht grundsätzliche Fragen. So ist es bspw. ausgesprochen interessant, wie die historisch enge Verknüpfung zwischen Männlichkeit und Erwerbsarbeit und moderner Subjektivität entflochten und neu konfiguriert wird. Hierzu zwei Beispiele mit einer eher unauffälligen Sprengkraft. 2.1 Die Hyperarbeitsgesellschaft und die Entzauberung des sozialen Gesichts der Arbeit Wie ambivalent und sozial gebrochen die Institution Erwerbsarbeit gegenwärtig ist, zeigt die 2010 erschienene Studie Ein halbes Leben mit biographischen Zeugnissen von Menschen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich, die in der Regel mehr als 20 Jahre Erwerbsarbeitserfahrung haben: Die Arbeit ist ihr Leben, der Einsatz für sie hat sich in den letzten Jahrzehnten noch intensiviert. Die ›Hyperarbeitsgesellschaft‹ (Vogel) steht für die anhaltend große Bedeutung der Erwerbsarbeit für Selbstverhältnisse, soziale Positionierungen und
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für ein nützliches und begehrenswertes Leben. Doch gleichzeitig vervielfältigen sich in unterschiedlichen Branchen und Feldern Prozesse der Abwertung von konkreter Arbeit und der Dequalifizierung. Die Herausgeber der Studie Franz Schultheis, Berthold Vogel und Michael Gemperle sprechen von der Entzauberung der Erwerbsarbeit (vgl. Schultheis et al. 2010: 734). Arbeitsinhaltliche und -ethische Ansprüche, Erwartungen an erfüllende Arbeitstätigkeiten, an das Einbringen von Kompetenzen und Qualifikation, an den Arbeitsplatz als Ort sozialer Einbindung, Anerkennung und Mitbestimmung werden im Verlauf des Arbeitslebens enttäuscht wie sich an empirischen Phänomenen des Cooling out (gerade in den Beschäftigungsbereich der Gesundheit, Pflege und Bildung) und des Burn out zeige. An diesen konkreten Erfahrungen anknüpfend scheint mir die Analogie zur einst von Max Weber herausgearbeiteten ›modernen‹ Entzauberung der protestantischen, gottgefälligen Lebensführung hin zum ›nackten‹ akkumulationsorientieren, rationalen Wirtschaften des aufkommenden okzidentalen Kapitalismus sehr aufschlussreich. Die Entzauberung einer Vielzahl der heutigen Arbeitsverhältnisse thematisiert einen Mangel an der sozialen Qualität und Bindungsfähigkeit einer ökonomistisch reduzierten Arbeit. Emile Durkheim (1977 [1893]) hat vor rund 120 Jahren als charakteristisch für ›moderne‹ Gesellschaften den ›moralischen Charakter‹ der Arbeitsteilung betont: dass nämlich die Arten und Weisen des Wirtschaftens mit den sozial anerkannten Regeln des Miteinanders sinnhaft, für die Einzelnen plausibel und befriedigend miteinander verbunden sind. Diese immer wieder hervorzubringende soziale Dimension wird mit der Prekarisierung der Arbeit zum erheblichen Teil geschwächt und dem Herstellungsvermögen der Einzelnen anheimgestellt. Mitten in der Hyperarbeitsgesellschaft – bei der Arbeit – gibt es praktische Stellungnahmen der Akteur_innen, die nicht mehr ganz bei der Sache sind, sondern auf Distanz gehen, sich des-identifizieren, quer/queer zur Arbeit stehen: nämlich jenseits der normativen Erwartung, dass Erwerbsarbeit in jedem Fall unzweifelhaft sinnvoll ist. In der o.g. Studie sprechen Bauer und Bittlingmayer am Beispiel der zunehmenden Ökonomisierung und Vermarktlichung des Gesundheitssektors von der »schrittweisen Erosion des medizinischen Berufsethos« (Bauer/Bittlingmayer 2010: 666). In einem ihrer Interviews berichtet die befragte Frau Strunk, dass sie ihre Jahrzehnte lange leitende Tätigkeit als Stationsschwester zugunsten einer patient_ innenferneren, weniger qualifizierten Verwaltungstätigkeit aufgegeben hat, weil sie die Belastungen der ihr untergebenen Beschäftigten und das ›optimierte‹ Umgehen mit den Patient_innen, m.a.W. die soziale Qualität der Arbeit, nicht mit ihren Arbeitsvorstellungen vereinbaren konnte. Sie zieht die Konsequenzen, bringt den Erwerbsbereich auf Abstand, des-identifiziert sich:
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»Die Leitungstätigkeit habe ich […] dann irgendwann auch meinem Vorgesetzten wieder zur Verfügung gestellt, weil das, was er von uns wollte, war für mich nicht mehr zu tragen. […] Also konnte er meine Stelle wieder neu besetzen und ich gehe wieder zurück ins Glied.« (Ebd.: 673f.).
2.2 Habitus der Unbestimmtheit – Unsicherheit als Ressource? Das zweite Beispiel geht auf Befunde meiner Studie Lebensführungen und Geschlechterarrangements im Wandel am Beispiel von Beschäftigten im (ostdeutschen) Einzelhandel1 zurück. Insbesondere das Praxismuster des ›Habitus sozialer Unbestimmtheit‹ (vgl. ausführliche Analysen des empirischen Materials in Völker 2011, 2013), das vor allem von jüngeren Befragten gelebt wird, ist für die Frage nach veränderten Lebensführungen unter den Bedingungen umfassender Prekarisierungsprozesse interessant. In den Kernfragen der Untersuchung zeichnet sich dieses Praxismuster durch starke Situativität, Gelegenheitsbezug der Orientierungen und durch temporäre Arrangements aus. So ist die Verknüpfung von Geschlecht mit Erwerbsarbeit und Arbeitsteilungen, also die jeweilige ›Aufladung‹ von Geschlechtsidentitäten (was sind ›Frauen‹ und ›Männer‹, was sollen sie tun?) deutlich variabler, pragmatischer und umfeldbezogener als bei anderen aufgefundenen Mustern. Wenn es darum geht, die Instabilität der Erwerbsverhältnisse und Ungewissheiten des sozialen Raums als Ressource für die erwerbsbezogenen Positionierungen zu nutzen, engen dabei zu straffe Geschlechterklassifikationen (z.B. im Einzelhandel die Klassifizierung in vermeintliche ›Männerarbeit‹ oder ›Frauenarbeit‹) nur ein und verschließen Optionen. Auch hinsichtlich der Formen sozialer Einbindung wird auf sehr unterschiedliche Netzwerke (familial, erwerbsbezogen, milieubezogen) temporär und mit wechselnden Prioritätensetzungen zurückgegriffen. Beim Umgehen mit Zukunftsunsicherheit geht es ganz generell darum aus Unsicherheit zu schöpfen, während die beiden anderen Praxisvarianten der ortho-
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Insgesamt umfasst die in Berlin und Brandenburg mit Studierenden der Universität Potsdam durchgeführte Studie (Zeitraum 2004-2008) eine Stichprobe von 25 Einzelhandelsbeschäftigen (9 Männer und 16 Frauen). Die Befragten sind überwiegend ostdeutscher Herkunft, sie gehören unterschiedlichen Altersgruppen (Alter zwischen 21 bis 60 Jahren) an und leben in sehr unterschiedlichen Familien- und Lebensformen. Es wurden Mitarbeiter_innen in Vollzeit-, Teilzeit- oder geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen befragt. Die betrieblichen und qualifikatorischen Positionen erstrecken sich von der angelernten Aushilfe bis zum_r Filialleiter_in.
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doxen Klassifizierungen und der Erschöpfung von Normalitätsvorstellungen und Krise der ›männlichen‹ Erwerbsposition die Eindämmung der Unsicherheit im Erwerbsbereich und in der Lebensführung zum Ziel haben. Auffällig war in meinem qualitativen Sample, dass diese Gelegenheitsorientierung des Habitus sozialer Unbestimmtheit häufig mit Entwurzelungserfahrungen und mit spezifischen Milieuzugehörigkeiten einherging. Es handelte sich dabei um eher marginalisierte Gruppen, die bereits in historischer Perspektive nicht in das dominante Zeit-, Zukunfts- und methodische Lebensführungsregime der respektablen Arbeitnehmer_innenmilieus integriert waren (vgl. Vester et al. 2001: 26f.). Ihr Vermögen und ihre Bereitschaft, Diskontinuitäten zu nutzen erlaubt ihnen mitunter auch stärker als den stabiler situierten Milieus der Mittelschichten mit Unzumutbarkeiten prekärer Arbeitsverhältnisse zu brechen.
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Die aktuelle Herausforderung an die soziologische Geschlechterforschung ist jene Frage, die von Seiten der Akteur_innen alltäglich praktisch beantwortet werden muss: Wie geht das Leben weiter, wenn es nicht mehr weitergeht wie bisher? Die eingangs dargestellte Akzentuierung der Prekarisierungsdebatte als Integrationsproblem greift auf Vorstellungen eines eindeutig beschreibbaren gesellschaftlichen Raums und auf die anhaltende Wirksamkeit geschichtlich bedingter Ungleichheiten zurück. Im Sinne einer kritischen Soziologie der Entprekarisierung sollen neue Integrationsmodelle entwickelt werden. Die soziologische Phantasie für die Erweiterung von Teilhabemöglichkeiten in Gang zu setzen, ist unzweifelhaft ein verdienstvolles und notwendiges Unterfangen. Allerdings: Fragen danach, wie die Wahrnehmungen und Erfahrungen in den veränderten Bedingungen alltäglich neu angeleitet und wie von den Akteur_innen neue Antworten gelebt werden, wie die Körper relationiert werden und welche Formen der Stützung neuer Einbindungen erfunden werden (müssen), werden mit der Integration in das schon bekannte Soziale nicht gestellt. »Die weltweite Intensivierung des Leidens im Zusammenhang der gesellschaftlichen Wissenschafts- und Technologieverhältnisse ist beträchtlich. Doch welche Erfahrungen die Menschen in diesem Prozess machen, ist alles andere als offensichtlich.« (Haraway 1995: 61)
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Dieser Hinweis, den Donna Haraway im Cyborg-Manifest bereits in den 1980er Jahren gegeben hat, betont die Herstellung des Sozialen als praktische, kontingente und komplexe Gegenwärtigkeit, die in bedingte, historische Machtverhältnisse eingebunden ist und diese zugleich – ggf. neu und anders – hervorbringt. Das Interesse einer praxeologisch verfahrenden Soziologie zielt auf sozialen Wandel in der Vieldeutigkeit dieses praktischen Ereignens, also auf soziale Prozesse, in denen die verfestigten Klassifikationen der symbolischen Ordnung durch das praktische Klassifizieren und das Vereinbaren von Unvereinbarem unter Druck geraten. Das Interesse zielt auf Momente, in denen in einem Raum sozialer Potenzialitäten etwas ausgeübt, praktiziert wird, was in den – binären – Klassifikations- und Gegensatzsystemen – bspw. von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Arbeit und Nicht-Arbeit, von Sicherheit und Prekarität – nicht aufgeht.
L ITERATUR Bauer, Ullrich/Bittlingmayer, Uwe H. (2010): »Ja das kostet aber Geld. Der Umbau und die Neuordnung des Gesundheitssektors«, in: Franz Schultheis/Berthold Vogel/Michael Gemperle (Hg.), Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch. Konstanz: UVK Universitätsverlag, S. 665-730. Becker-Schmidt, Regina (2011): »Verwahrloste Fürsorge« – ein Krisenherd gesellschaftlicher Reproduktion. Zivilisationskritische Anmerkungen zur ökonomischen, sozialstaatlichen und sozialkulturellen Vernachlässigung von Praxen im Feld »care work«, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 3, S. 9-23. Butler, Judith (2009): »Außer sich: Über die Grenzen sexueller Autonomie«, in: Judith Butler (Hg.), Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 35-69. Butler, Judith (2010): Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz: UVK Universitätsverlag. Deleuze, Gilles (1993): »Kontrolle und Werden«, in: Gilles Deleuze (Hg.), Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 243-253. Despret, Vinciane/Haraway, Donna (2011): »Stay where the trouble is. Im Gespräch mit Karin Harrasser und Katrin Solhdju«, in: Schwerpunktheft 4 Menschen & Andere. Zeitschrift für Medienwissenschaft 1, S. 92-102.
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3. Differenzierte Differenzen Normierungen und Subversion als Forschungsgegenstand der Gender Studies
3.1 Körperlichkeiten und Inszenierungen: Diversität und Differenz
Engendering the Monstrous Kulturelle Transformationen im Theater der Frühen Neuzeit B EATE N EUMEIER
1. K ULTURELLE T RANSFORMATIONEN DES M ONSTRÖSEN Von Lorraine Dastons und Katherine Parks bahnbrechender Studie Wonders and the Order of Nature 1150-1750 (1998) bis zu dem von Asa Simon Mittman mit Peter J. Dendle herausgegebenen Ashgate Research Companion to Monsters and the Monstrous (2012) haben sich unterschiedliche Disziplinen mit Konzeptualisierungen des Monströsen von der Antike bis zur Gegenwart befasst (vgl. auch Cohen 1996, Asma 2009). Michel Foucaults Definition des Monströsen als Abgrenzungsphänomen (vgl. Foucault 2003), weist dem Monströsen als normkonstitutierendes Gegenbild zur Norm eine zentrale Rolle in der Kulturgeschichte zu. Das Monströse stellt eine affektive und kognitive Herausforderung dar, im Zusammenspiel zwischen Schrecken und Faszination, Abscheu und Anziehung sowie materiellen und symbolischen Ebenen und Lesarten. In den meisten Abhandlungen wird die europäische Kulturgeschichte des Monströsen über den Wandel des Begriffs körperlicher Monstrosität vom religiös begründeten Wunder- bzw. Mahnzeichen zum wissenschaftlich diagnostizier- und möglicherweise therapierbaren Fehler der Natur verfolgt. Demzufolge führt der damit einhergehende biologisch-medizinische Naturalisierungsprozess zu einer allmählichen Verschiebung des Monströsen von der körperlichen Ebene auf die des Innenlebens sowie zur Verlagerung der Verkörperungen des Monströsen auf kulturelle Medien wie Literatur, Theater und Film (vgl. Gebhard/Geisler/Schröter 2009: 9-30).
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Dabei ist das Monströse in den vergangenen zwei Dekaden nicht nur zu einer Analysekategorie innerhalb unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen geworden, sondern gleichzeitig auch zu einem Instrument der Reflexion über die Verflechtung von Wissenschaften und kultureller und politischer Praxis (vgl. Stammberger 2011: 48ff., Mendel/Ruck 2009: 117-136). Verschiebungen innerhalb des Bedeutungsgefüges des Monströsen als des normkonstituierenden Anderen geben Aufschluss über die jeweilige historisch spezifische »Produktion und Verwaltung von Differenz« (Mendel/Ruck 2009: 119) in einer Gesellschaft. Obwohl Abgrenzungsphänomene in der europäischen Kulturgeschichte vor allem über Geschlechterdifferenz verhandelt werden, hat erst die Genderforschung diese Implikationen des Monströsen in den Blick genommen sowie die Schnittstellen von Differenzierungs- und Normierungsprozessen etwa zwischen gender, race und class untersucht. In diesem Sinne begreift Rosi Braidotti das Monster als ›verkörperte Differenz‹: »The monstrous body, more than an object, is a shifter, a vehicle that constructs a web of interconnected and yet potentially contradictory discourses about his or her embodied self. Gender and Race are primary operators in this process.« (Lykke/Braidotti 1996: 150)
Das Monströse verweist auf die Bedrohung von Grenzen und auf die Grenzziehung gleichermaßen. Donna Haraway spricht vom verkörperten Monster als »boundary creature« (Haraway 1991: 2). Auch Margrit Shildricks Analyse hebt auf die Liminalität des monströsen Körpers, auf den Aspekt des Transgressiven und Transformativen ab: »Monsters, then, are deeply disturbing: neither good or evil, inside or outside, not self or other. On the contrary, they are always liminal, refusing to stay in place, transgressive and transformative. They disrupt both internal and external order, and overturn the distinctions that set out the limits of the human subject.« (Shildrick 2002: 4)
Im Rückbezug auf Julia Kristevas Konzept des Abjekten weist Shildrick – wie auch etwa Judith Halberstam in Skin Shows: Gothic Horror and the Technology of Monsters (1995) – dem Monströsen eine zentrale Rolle zu als Instrument der Aufrechterhaltung der Subjektgrenzen und gleichzeitig als deren ständige Bedrohung. Kulturelle Produktionen des Monströsen können Ängste im Kontext kultureller Transformationsprozesse artikulieren und im Verweis auf den
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Konstruktcharakter des Monströsen die Norm denaturalisieren (vgl. Shildrick 2002: 106). In diesem Sinne – so Halberstam – sei das Monströse »almost a queer category« (Halberstam 1995: 27). Indem das Monströse Grenzüberschreitung und erneute Grenzziehung gleichermaßen dokumentiert, ist es sowohl Zeichen des Normierungsprozesses als auch der Widerständigkeit dagegen.
2. D AS M ONSTRÖSE
IN DER ENGLISCHEN
R ENAISSANCE
Die englische Renaissance von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war eine besonders produktive Epoche hinsichtlich der Konstruktion und Transformation des Monströsen. Entsprechend vielfältig sind die Assoziationsbereiche und Erscheinungsformen des Monströsen in religiös-moralischen, politisch-sozialen und medizinisch-psychologischen Diskursformen, in Literatur, Theater und Kunst, in denen die Grenzen zwischen Übernatürlichem und Natürlichem, Mensch und Tier, Mann und Frau neu ausgehandelt werden. Die Diskussion um Abgrenzungsprozesse im Kontext der Herausbildung der Konstituenten individueller Identität über Parameter wie gender und race vollzieht sich über vielfältige sprachliche, bildliche und figurale Variationen des Monströsen: Sie reichen von Anthropophagen, »and men whose heads Do grow beneath their shoulders« (Othello 1.3.144-145) über Hermaphroditen, bis zu Hexen und Lycanthropen. Dabei wird noch keine eindeutige Abgrenzung von körperlicher und metaphorischer, empirisch beobachtbarer und imaginativer Monstrosität vorgenommen, die nebeneinander und ineinander verschränkt in denselben Diskursformen verhandelt werden. Gleichwohl wird das zunehmende Bemühen um klassifizierende Ausdifferenzierung deutlich, so etwa in den ›anatomies‹, als Spannung zwischen inkludierender Zusammenschau und abgrenzender Kategorisierung (vgl. Daston/Park 1998, Clark 2007). Im obsessiven Interesse an diesen Grenzen beginnt die in den eingangs erwähnten Kulturgeschichten des Monströsen beschriebene allmähliche Ablösung der Religion als dominanter Erklärungszusammenhang durch die neuen Wissenschaften. Allerdings vollzieht sich dies nicht als linearer, quasi-teleologischer Prozess, sondern über ein komplexes Netzwerk konkurrierender und ineinander verwobener Diskursformen.
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3. D AS M ONSTRÖSE UND DIE G ESCHLECHTERDIFFERENZ DER R ENAISSANCE
IM ENGLISCHEN
T HEATER
3.1. Monströse Komödien: The Monstrous Regiment of Women Der Begriff des Monströsen insbesondere für weibliche Normabweichung hat in der englischen Renaissance Konjunktur. Von John Knox’ First Blast of the Trumpet Against the monstrous Regiment of women (1558) bis zu Philip Stubbes’ Anatomie of Abuses (1583) verbinden sich in der Pamphletliteratur die Klagen über weibliche Grenzüberschreitung mit der Forderung nach Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber Frauen, »who counterfeyting the shape of either kind, are in deede neither, so while they are in condition women, and would seeme in apparrell men, they are neither men nor women, but plaine monsters« (William Averell, A Mervailous Combat of Contrarieties 1588). Die Konzentration auf die Kleiderfrage dokumentiert dabei die Bedeutung der Definition von Geschlecht als soziale und vor allem performative Rolle für die gesellschaftliche Diskussion um die Geschlechterordnung, die im jakobäischen England im Pamphletkrieg von 1620 um Hic Mulier: Or the Man-Woman sowie Haec Vir: Or the Womanish Man sowie Muld Sacke: or the Apologie of Hic Mulier kulminiert (vgl. Clark 1985, Levine 1994). Die darin deutlich werdende Ausweitung des Begriffs der Hic Mulier von der Kleiderdebatte auf jedwede Abweichung vom Tugendkomplex der chastity, silence und obedience ermöglicht die Überblendung unterschiedlicher Transgressionsformen wie whore, shrew und witch als Konfigurationen weiblicher Monstrosität im wörtlichen und übertragenen Sinn: »you have erred [...] in reducing the generall name of Hic Mulier to those you call deformed monsters, by cutting their haire, wearing French doublets, having open breasts and false bodies: but I call a woman, of whatsoever degree, who exceeds the ends of her Creation, Hic Mulier.« (Muld Sacke: or the Apologie of Hic Mulier 1620)
Gleichzeitig wird die spezifische Relationalität der Grenzüberschreitungen beider Geschlechter deutlich, indem die Wiederherstellung der Ordnung durch Rückbesinnung auf Männlichkeitsvorstellungen gefordert wird, deren Verlust die weibliche Grenzüberschreitung erst ermöglicht hat:
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»He therefore is an effeminate man, that transfers his birthright upon his daughter or wife, so is she a masculine woman that bereaves parents of authority, husbands of supremacy, or debords from the modesty required in her sexe.« (Ebd.)
Während weibliche Normüberschreitung als Inbegriff des Monströsen erscheint, wird männliche Grenzüberschreitung als mangelnde Normerfüllung begriffen, die sich nur durch die Rückbesinnung auf die Beherrschung des Weiblichen etwa durch Inszenierungen des Hypermaskulinen als reversibel erweist. Dies geschieht jedoch bezeichnenderweise zunehmend im Rahmen einer Debatte um nature vs. custom, innerhalb derer der Rekurs auf eine biologisch begründete Natur zum Garanten einer durch kulturelle Veränderungen aus den Fugen geratenen Geschlechterordnung wird. Das Theater der englischen Renaissance fungiert als Ort und Schnittpunkt der Verhandlung der rivalisierenden Diskurse des Monströsen. Es inszeniert und problematisiert den skizzierten Transformationsprozess, und legt das Zusammenspiel offen zwischen dem Monströsen als Zuschreibung im Rahmen von Normalisierungsdiskursen und dem Monströsen als das Uneindeutige, das sich diesen Zuschreibungen entzieht. Im Theater der Shakespearezeit können das Monströse und die Norm, die es hervorbringt, als Konstrukt sichtbar gemacht werden (vgl. Burnett 2002). Dabei ist die Komödie ein bevorzugtes Genre, um Zuschreibungen der Monstrosität im Rahmen der Diskussion der Kleiderordnung zu inszenieren und zu evaluieren. Ben Jonsons Epicoene or the Silent Woman (1609) und Middletons/Dekker The Roaring Girl (1987 [1611]) markieren die häufig als misogynistisch bzw. protofeministisch bezeichneten Gegenpole der diesbezüglichen Debatte. Ben Jonsons satirische Komödie beschreibt die monströse Verkehrung der Geschlechterverhältnisse als weibliche Anmaßung einer »most masculine or rather hermaphroditical authority« (1.1.76-77), gegenüber der sich die männliche Sehnsucht nach dem Ideal der silent woman als illusionärer Trugschluss erweist. Die Lösung des Dilemmas der Kluft zwischen Ideal und Realität besteht in der doppelten Strategie der Ridikülisierung der unerfüllbaren Sehnsucht als Zeichen effeminierter, im Stück mit Impotenz assoziierter Männlichkeit einerseits, und der Feier des hypermaskulinen jugendlichen Wit, einer Vorwegnahme des Restoration Rake, andererseits, der intellektuelle Superiorität und emotionale Distanz zynisch als Herrschaftsinstrumente einsetzt (vgl. auch Newman 1991). Ben Jonsons Kunstgriff, in einer Zeit, in der die weiblichen Rollen von boy actors gespielt werden, am Ende der Komödie die Titelfigur der silent woman, die sich im Verlauf des Stücks zur shrew und whore gewandelt hat, als ver-
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kleideten Mann zu präsentieren, unterläuft dabei allzu vereinfachende Deutungsansätze, indem hierdurch der generelle Konstruktcharakter des Weiblichen auf der englischen Bühne hervorgehoben wird und sich somit nicht nur das Ideal sondern auch seine Kehrseite als Phantasie einer patriarchalen Gesellschaft erweist (vgl. auch Howard 1988, Jardine 1989, 1991, Stallybrass 1992). Middleton/Dekker präsentieren demgegenüber ein ›roaring girl‹, das sich als cross dresser anders als sein historisches Modell Moll Frith von den Anfeindungen als ›monster‹ und ›thing‹ zwar uneingeschränkt positiv absetzen kann, aber eben nur durch die gleichzeitige Betonung und Anerkennung ihres normüberschreitenden Ausnahmecharakters, dem die Feier der Norm im ehelichen happy end eines jugendlichen Paares gegenübergestellt wird. Dessen weiblicher Part setzt zwar auch das cross dressing ein, aber eben nicht als alternative Lebensform, sondern als vorübergehenden Schutzmechanismus und als Strategie zur Erreichung des komödientypisch normkonformen Endes. Gleichwohl wird hierdurch eine unterschwellige Nähe zwischen der Braut Mary und der Titelfigur Moll evoziert, die durch deren namentliche Assoziation noch verstärkt wird (vgl. auch Garber 1991, Howard 1992, Orgel 1992). Demgegenüber belegt John Fletchers über ein Jahrzehnt später entstandene Komödie Love’s Cure or the Martial Maid (1969 [1624]) die Verschiebung der Diskussion um die normüberschreitenden Implikationen des cross dressing im Sinne eines Triumphs der Natur über kulturelle Transgressionen. Das gesamte Stück ist der Rückführung der in diesem Fall bezeichnenderweise durch die Umstände erzwungenen gegengeschlechtlichen Erziehung eines Geschwisterpaares gewidmet: »now our mutual care must be/Imploy’d to help wrong’d nature, to recover/Her right in either of them, lost by custome: […] and we’ll contend/With loving industry, who soonest can/Turn this man woman, or this woman man.« (1.3.176-82)
Der Monstrosität des kulturellen Konstrukts wird somit die Natur als Heilmittel zur Wiederherstellung der Geschlechterordnung gegenübergestellt. Allerdings nimmt dies im Verlauf des Stücks bizarre Züge an, so etwa wenn Aggression und Vergewaltigung zum Männlichkeitsbeleg erklärt werden: »There’s only one course left that may redeem thee, which is to strike the next man that you meet, and if we chance to light upon a woman, Take her away and use her like a man.« (4.3.37-40) Entsprechend der Genrekonventionen der Komödie ist es aber die Liebe, die schließlich die erwünschte Rückkehr in die alten Geschlechtergrenzen herbeiführt und zum Zeichen der nicht veränderba-
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ren Natur erklärt wird. Die Botschaft des Stücks erweist sich jedoch als ambivalent: Die Liebe verlangt und ermöglicht zwar die eheliche Unterordnung der martial maid, deren kampferprobte »masculine virtues« (1.2.82) aber ihrem Partner das Leben retten. Umgekehrt gewinnt der Bruder die Geliebte gerade durch den Verzicht auf den gewalttätigen Maskulinitätsbeweis, der allerdings am Ende zumindest über die proklamierte Bereitschaft zum Duell bekräftigt werden muss (vgl. auch Levine 1994, Dollimore 1986). Dabei ist wiederum die Konvention der boy actors als zusätzliche ironische Reflexion auf die mit der Kleiderdebatte verbundenen kulturelle Angst vor den transgressiven und transformativen gesellschaftlichen Implikationen eines performativen Geschlechterverständnisses lesbar. Die Debatte über die Differenz von custom und nature belegt den Transformationsprozess, der im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmend zur Abwehr der Veränderbarkeit des sozialen Geschlechts und zur Bekräftigung der patriarchalen Normen im Einklang mit den neuen Wissenschaften unter den Vorzeichen der ›unveränderlichen‹ Natur führt. Als mit der Kleiderordnung das soziale Geschlecht und damit das gesellschaftliche Machtgefüge in Frage gestellt wurde, tritt die biologische Natur als Garant der alten Geschlechterordnung an deren Stelle. Thomas Laqueur (1990) hat diesen Prozess der Naturalisiserung der Geschlechterdifferenz im Kontext der allmählichen Ablösung der Konzeption des Weiblichen vom ›imperfect or botched male‹ zum Verständnis einer vom männlichen Modell abgekoppelten weiblichen Natur als ›perfect in her own sex‹ in medizinischen Diskursen der Zeit beschrieben. Das Beispiel des Theaters zeigt, dass sich dieser laut Laqueur erst im späten 17. Jahrhundert einsetzende Prozess in der kulturellen Imagination schon erheblich früher abzeichnet. Dies deckt sich mit Ian McLeans Befund in The Renaissance Notion of Woman (1980), demzufolge die humorale Differenz des Weiblichen von einer männlich definierten Norm schon im späten 16. Jahrhundert nicht mehr als unvollkommen verstanden worden sei: »after 1580 this is no longer assumed to be a sign of imperfection.« (McLean 1980: 34). Die hiermit in Verbindung mit protestantischen religiösen Diskursen der spiritual equality und companionship der Geschlechter in der ehelichen Gemeinschaft einhergehende scheinbare Aufwertung des Weiblichen ermöglicht jedoch eine umso effektivere Festschreibung der Differenz der Geschlechter unter den Vorzeichen der Natur (vgl. auch Rose 1988). In dieser Zeit entstehende Konfigurationen des Monströsen enthüllen die Kehrseite der scheinbaren Aufwertung des Weiblichen unter den Vorzeichen der Natur als Mittel der Wiederherstellung der alten Geschlechterordnung, etwa durch die allmähli-
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chen Ablösung der nicht kontrollierbaren dämonischen Hexe durch die disziplinierbare Verrückte. 3.2. Tragödien des Monströsen: Hexen und Madwomen Diese historische Entwicklung der Ablösung der gefährlichen Monstrosität der Hexe deutet sich im Theater der englischen Renaissance in der Verschränkung und allmählichen Verschiebung von religiös-moralisch begründeten Besessenheitsdiskursen der Hexe zu medizinisch-psychologischen Diskursen der pathologisierten Verrückten an. Die von Michel Foucault (1961) beschriebene Ausgrenzung des Wahnsinns aus der Gesellschaft durch die Etablierung der Irrenhäuser im späten 17. Jahrhundert wird dabei imaginativ bereits vorweggenommen und kritisch reflektiert. Das zunehmende Auftreten von Ärzten auf der Bühne sowie die Referenz auf, und Lokalisierung von ganzen Szenen im Irrenhaus belegt die Bedeutung von Ausgrenzungsstrategien in der kulturellen Imagination, die zu dieser Zeit noch in signifikantem Kontrast zur medizinischen Praxis stand. So beherbergte Bedlam Hospital Anfang des 17. Jahrhunderts nur eine verschwindend kleine Anzahl von Patienten (vgl. MacDonald 1970, Porter 1987). Insbesondere im Genre der Tragödie wird das Monströse als Verkörperung des Uneindeutigen zwischen Grenzüberschreitung und Grenzziehung über Schnittstellen zwischen der Hexe und der Verrückten in den Blick genommen (vgl. Salkeld 1993, Purkiss 1996, Neely 2004). Shakespeares Tragödie Macbeth (1606) etwa setzt spektakulär mit dem Verweis auf die Monstrosität der Weird Sisters ein, die sich eindeutigen Kategorisierungsversuchen widersetzen, indem sie Merkmale des Menschlichen und Übernatürlichen (insbesondere des Dämonischen), des Weiblichen und Männlichen gleichermaßen aufrufen. Shakespeares Tragödie macht das Bedürfnis nach Eindeutigkeit zum Kern der Definition des Menschlichen und legt zugleich ironisch seine Vergeblichkeit offen: »security is mortal’s’ chiefest enemy.« (Macbeth 3.5.32-33) Indem im Verlauf des Dramas anhand von Lady Macbeth Mechanismen der Assoziation und Dissoziation des Weiblichen vom Dämonischen offengelegt werden, problematisiert das Stück das gendering des Monströsen. Die feministische Kritik hat die Bewegung von anfänglicher textueller Assoziation der Lady mit den Hexen (»Come you spirits That tend on mortal thoughts, unsex me here.« [Ebd. 1.5.37-38]) zur späteren Dissoziation von ihnen durch den psychischen Zerfall in der Sleepwalking-Szene anhand von verbalen Echos, Bildern und Motiven detailliert nachvollzogen (vgl. Levin 2002, Adelman 1992, Neely 2004). Die hierin angedeutete Verbindung von Hexerei
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und Hysterie verweist auf die komplexe Verschränkung von religiöspolitischen und medizinisch-psychologischen Diskursen in dieser Zeit wie etwa in Edward Jordens Brief discourse of a disease called the suffocation of the mother (1603), durch die sich die allmähliche Transformation der Hexe in die Hysterikerin abzeichnet (vgl. auch Clark 2007). Die bedrohliche Monstrosität der Weird Sisters besteht in ihrer Uneindeutigkeit, die Zuschreibungen von otherness einlädt und zugleich abwehrt: Sie sind eben nicht nur Dämonen, sondern auch Orakel, intersubjektiv beobachtbare Wesen und Projektionen geheimer Begierden. Die über Lady Macbeth erzeugte Assoziation von Weiblichkeit und Hexerei belegt die Monstrosität des Weiblichen als Bedrohung der patriarchalen Autorität in einer Zeit, in der Geschlechtergrenzen neu ausgehandelt werden. Die sich im Stück vollziehende Trennung der bedrohlichen Liminalität der Hexen von der Lady durch deren medizinisch begleiteten psychischen Verfall, der freilich nur die Begrenztheit der medizinischen Möglichkeiten belegt, ermöglicht die Vision und gleichzeitige Infragestellung der diskursiven Verschiebungen hinsichtlich des Monströsen über ein einsetzendes gendering des Wahnsinns, innerhalb dessen die körperliche Zwangssymptomatik der Lady (im Waschen der Hände) der zwanghaften hysterischen Performanz Macbeths gegenübergestellt wird, der bis zum Schluss zwischen Omnipotenzphantasie und depressivem Lebensüberdruss (»I have lived long enough« [ebd. 5.3.26]) oszilliert, zwischen Bildern des siegreichen Kämpfers und des »poor player That struts and frets his hour upon the stage« (5.5.27-8). 3.3. Monströse Genres: Tragikomische Hexen und Höllenhunde Das Theater fungiert jedoch nicht nur als Schnittpunkt und Ort der Verhandlung der rivalisierenden Diskurse über das Monströse, sondern wird im Kontext dieses Prozesses selbst konstituiert und transformiert. Die Entstehung des Genres der Tragikomödie als ›monstrous genre‹ im England der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist als Symptom und Antwort auf die beschriebenen Transformationsprozesse lesbar: Wenn die Reflexion auf den Konstruktcharakter des Monströsen und damit einhergehende Normierungsprozesse in der Komödie vor allem über das Spiel mit cross dressing verfolgt wird, so bekräftigt das Ende der Konvention des boy actor am Ende der Epoche die auf der Handlungsebene bereits erkennbare Vereindeutigung der Debatte um custom und nature. In der Tragödie vollzieht sich von Shakespeare über Webster bis Middleton, Massinger und Ford der Prozess der Grenzziehung über die zu-
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nehmende Verschiebung des Monströsen auf die Innenwelt der Figuren, etwa in der allmählichen Ablösung der Hexe durch die Verrückte. Die Tragikomödie trägt diesen Verschiebungen Rechnung, aber stellt sie zugleich in Frage. Sie verweist auf das Monströse als Eindeutigkeiten auflösende Grenzüberschreitung und als vereindeutigende Grenzziehung. Dies geschieht auch über die Spaltung des Genres der Tragikomödie in zwei unterschiedliche Varianten. Während sich das weibliche Monströse in der am Modell der märchenhaften Romanze orientierten Variante der Tragikomödie häufig nur als verzerrte männliche Perzeption und damit als reversibel erweist, wie etwa in Shakespeares Winter’s Tale, diskutieren am sozialkritischen domestic drama orientierte Tragikomödien die gesellschaftlichen Konsequenzen der unterschiedlichen Diskurse und Konzeptionen des weiblichen Monströsen. Jeweils jedoch wird die Eindeutigkeit der dargestellten Lösung durch die Betonung der Artifizialität des Endes ironisch gebrochen (vgl. Neumeier 2011 und 2013). Die Tragikomödie The Witch of Edmonton (1621) von Rowley, Dekker und Ford gehört wie Shakespeare’s Macbeth zu den witchcraft plays des frühen 17. Jahrhunderts. Anders als in Shakespeares Tragödie Macbeth, die vorführt, wie das monströse Weibliche im Rahmen religös-moralischer Diskurse mit Hexerei assoziiert und über medizinisch-psychologische Diskurse wieder davon dissoziiert wird, befasst sich The Witch of Edmonton mit der Verschränkung religiös-moralischer und rechtlich-sozialer Diskurse im Rahmen einer Diskussion des Monströsen (vgl. Purkiss 1996, Nicol 2004). The Witch of Edmonton, ist ein besonders interessantes Beispiel, weil es mit der Verurteilung und Exekution von Elizabeth Sawyer als Hexe im selben Jahr ein aktuelles historisches Ereignis aufgreift. Darüber hinaus werden in der Tragikomödie mehrfach kodierte Formen monströser Grenzüberschreitung aufeinander bezogen über die Figur der Hexe und ihres teuflischen Vertrauten, des Höllenhunds. Obwohl im Stück die Existenz der Hexerei an sich nicht bezweifelt wird, findet keine eindeutige Denunzierung Elizabeth Sawyers als Verkörperung des weiblichen Bösen statt. Statt dessen präsentiert das Stück Sawyers Transformation zur Hexe als bewussten Racheakt einer älteren, sozial ausgegrenzten und misshandelten Frau an der Gemeinde: »Cause I’m poor, deformed and ignorant Must I for that be made a common sink For all the filth and rubbish of men’s tongues To fall and run into?« (2.1.3-8) Die Zuschreibung der monströsen Hexerei bringt somit die Transformation in die Hexe mit Hilfe des Höllenhunds erst hervor. Signifikanterweise hält das Stück auch nach dieser Transformation Sawyers die Spannung aufrecht zwischen den widersprüchlichen Lesarten die-
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ser Figur als hilflos menschlich und hexenhaft böse, bis zum Ende, als sie verzweifelt den Höllenhund anruft, mit dem sie eine teuflische, sexuell konnotierte »black lust« (5.1.4) teilt. Während die darauf folgende Verwandlung des schwarzen devil dog in den white dog, der Sawyer der ewigen Verdammnis zuführt, das Teuflische als Teil des göttlichen Heilsplans bekräftigt, und so seine Monstrosität zurücknimmt, markiert Sawyers Verweigerung der Reue als Zeichen der Wiedereingliederung in die menschliche Gemeinschaft ihre radikale Alterität und irreversible Monstrosität, die nochmals ausdrücklich erotisiert erscheint: »O my best love! I am on fire, even in the mid’st of ice, Raking my blood up till my shrunk knees feel Thy curled head leaning on them. Come then, my darling. If in the air thou hover’st, fall upon me In some dark cloud.« (5.1.9-14)
Die sexuelle Transgression des weiblichen Tugendideals erweist sich somit als teuflischer als das Teuflische selbst. Aber selbst wenn die Eliminierung aus der Gesellschaft qua Hinrichtung am Ende des Stücks hierdurch gerechtfertigt wird (»Tis the black colour or none, which I fight under.« [Ebd. 5.1.51-2]), bleibt die Selbstversicherung der Gesellschaft durch die vorausgegangene Infragestellung der gefällten Werturteile und die ambivalente Sympathielenkung doch fragwürdig. Als Variante und Kontrastfolie zur Figur der Hexe fungiert der Höllenhund, der aus unterschiedlichen Perspektiven als teuflisches Wesen, Haushund und theatrales Mittel erscheint, das unterschiedliche Reaktionen aufruft zwischen Furcht und Begierde, Abscheu und sogar Mitleid. Die Persistenz auf der Verschränkung der gegensätzlichen Lesarten des devil dog verweist auf den Versuch der Zähmung des Monströsen und dessen Begrenztheit gleichermaßen. Repräsentiert der Höllenhund in der Handlung um den Bigamisten, der zum Mörder wird, sowohl teuflische Einflüsterung als auch Projektion geheimer Wünsche, so verwandelt er sich in der Handlung um den jungen Mann auf der Suche nach einem Liebeszauber aus dessen Perspektive vom teuflischen Helfer in den harmlosen Haushund, »an honest dog who might serve in some nobleman’s kitchen, when they have roast meat [or] translate [him]self into a lady’s arming puppy, [to] lick sweet lips« (5.1.167-172). Diese Sichtweise ermöglicht ihm schließlich die effektvolle Vertreibung des in den bellenden Haushund Transformierten von der Bühne. Die Tragikomödie macht einerseits die Generierung des Monströsen als Ab- und Ausgrenzungsmechanismus deutlich, aber erlaubt gleichzeitig keine Vereindeutigung des Monströsen als rein kulturelle Normierungsstrategie. Die
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Existenz von Hexe und Höllenhund wird faktisch anerkannt, aber zugleich als perspektivisch gebunden präsentiert und spielerisch inszeniert. Das Bannen des Monströsen im Stück vollzieht sich über Strategien der Grenzziehung und Ausdifferenzierung von gut/böse, menschlich/übernatürlich, weiblich/ männlich auf der Basis christlicher Werte der Nächstenliebe und des Mitleidens sowie der Fähigkeit zu Reue und Vergebung. Eine gesellschaftlichmoralische Erneuerung in diesem Sinne scheint die Trennung des Menschlichen vom Dämonischen zu ermöglichen, deren Vorläufigkeit jedoch durch die Figur der Elizabeth Sawyer hervorgehoben wird. Die radikale Verweigerung der Anerkennung des gesellschaftlichen und göttlichen Regelwerks durch Elizabeth Sawyer am Ende des Stücks verweist in diesem Zusammenhang erneut auf das Weibliche als Prinzip der Generierung des Monströsen. Das Weibliche bleibt somit auch in der Tragikomödie das verkörperte normkonstituierende Phänomen der Abgrenzung, und damit »das Prinzip der Erkennbarkeit aller [...] Formen der Anomalie« (Foucault 2003: 78).
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Grenzüberschreitung und Transformation Diskursanalytische Betrachtungen zur Sibirienreise der Cellistin Lise Cristiani1 K ATHARINA D ESERNO
Während Cellistinnen heutzutage in Konzertsälen und Medienöffentlichkeit präsent und erfolgreich sind – man denke an Sol Gabetta, Han Na Chang, Maria Kliegel und Natalia Gutmann – so galt dagegen im 19. Jahrhundert das Cello als ›unschicklich‹ für Frauen (vgl. Hoffmann 1991, Mercier 2008). Die beim Cellospielen erforderliche Haltung – das Instrument zwischen den Beinen – wurde besonders problematisiert, sie schien unverträglich mit der Vorstellung von damenhaftem Verhalten (vgl. Hoffmann 1991, Mercier 2008). Außerdem wurden die Größe des Instrumentes und der tiefe Klang mit männlichen Eigenschaften assoziiert. Noch bis ins 19. Jahrhundert spielten viele Cellisten ohne Stachel, obwohl dieser bereits im 17. Jahrhundert erfun-
1
Im Dissertationsprojekt der Verfasserin Transformationen von Weiblichkeitsbildern in der Instrumentalkunst. Eine kulturwissenschaftliche Untersuchung der Diskurse um Cellistinnen werden die Reiseberichte Lise Cristianis ausführlich analysiert. Aufgrund des vorgegebenen Formats können in diesem Artikel nur einige Aspekte des Themas besprochen und eine Auswahl an Quellen genannt werden. In meinen bisherigen Veröffentlichungen (Deserno 2010, Deserno 2009, Deserno 2008) habe ich den italianisierten Künstlernamen Lisa Cristiani verwendet, ihr Familienname ist Elise Barbier, nach den Großeltern, bei denen sie aufwuchs, bzw. Elise Chrétien nach den früh verstorbenen Eltern (vgl. Hoffmann 2007/2010). In den Presserezensionen und wenigen Originalhandschriften überwiegt die Verwendung von Lise, so dass ich mich auch nach Absprache mit Prof. Freia Hoffmann dazu entschlossen habe, ebenfalls Lise zu verwenden.
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den wurde (vgl. Mercier 2008: 1f.). Das stellte ein weiteres Hindernis für Cello spielende Frauen dar, da ohne Stachel das Instrument auf jeden Fall zwischen den Beinen gehalten werden musste und noch dazu eine gebeugte, ›unelegante‹ Haltung erforderlich war. Die Erfindung des Stachels ermöglichte das Spielen in einer Art ›Damensitz‹, mit dem rechten Bein über das linke geschlagen oder mit beiden Knien hinter dem Cello (vgl. Mercier 2008: 3.). Ende des 19. Jahrhunderts verbreitete sich der Gebrauch des Stachels und man kann beobachten, dass in den folgenden Jahrzehnten einige Cellistinnen auf die Bildfläche des Konzertlebens traten (vgl. Deserno 2008, 2009). Der Pfarrer, Philologe und Komponist Carl Ludwig Junker publizierte 1783 eine Abhandlung über die Unschicklichkeit gewisser Instrumente für Frauen, darunter neben allen Blasinstrumenten, Schlagzeug und anderen explizit auch das Cello (vgl. Hoffmann 1991: 28). Darin führt er vor allem »schnelle, heftige, gewaltsame und rasche Bewegungen« (Junker 1783, zit. nach Hoffmann 1991: 31) an, die sich mit der »anerkannten Schwäche des zweyten Geschlechts« (ebd.: 31) nicht vertrügen und die somit nicht in die polarisierte (vgl. Hausen 1976) Konzeption der Geschlechter passte. Die im 19. Jahrhundert gängigen Weiblichkeitsbilder proklamierten Passivität, Abhängigkeit und Zartheit komplementär zu der Vorstellung von aktiver, starker und geistvoller Männlichkeit. »Über dem Stand des Weibes ist Ruhe« (Junker 1783, zitiert nach Hoffmann 1991: 31), schrieb Junker. Die Instrumentalistinnen, welche die besagten Instrumente spielten, verstießen gegen diese extrem polarisierten Geschlechternormen, die ein wichtiger Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaftskonzeption waren. Deswegen waren sie dem Vorwurf der Unschicklichkeit ausgesetzt, wurden als Kuriositäten verhandelt und manchmal – in Rezensionen oder sogar Karikaturen (vgl. Hoffmann 2000) – lächerlich gemacht. Künstlerinnen wie die Cellistin Lise Cristiani sahen sich diesen Vorurteilen gegenüber, entwickelten aber Strategien, um ihnen auszuweichen oder um sogar ein Umdenken anzustoßen. Eine Auseinandersetzung mit den Weiblichkeitsbildern des 19. Jahrhunderts ist in allen Reaktionen auf Lise Cristiani festzustellen. Freia Hoffmann interpretiert die Skepsis in Bezug auf das Instrumentalspiel von Frauen als Abwehr einer Körper-Inszenierung auf der Bühne, welche die »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« (Hausen 1976: 363f.) »in Verwirrung« (Butler 1991: 218) bringt: »Zum weiblichen Körper kommt als Drittes das Instrument hinzu. Die Frau nimmt das Violoncello zwischen die Beine, setzt die Geige an die Schulter [...] wer sie betrachtet, betrachtet auch die Beziehung zweier Körper zueinander. [...] In der bürgerlichen Ge-
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sellschaft hat der Mann das Privileg, Dinge zu instrumentalisieren und mit erotischen Bedeutungen zu versehen […] die Instrumentalistin hat also die Zensur auf den Plan gerufen, wenn sie eine Rolle einnahm, die nur dem Mann zukommt, und bei deren Wahrnehmung der Mann auch den Objektstatus der Frau braucht.« (Hoffmann 1991: 62-64)
Die Performance von Cellistinnen im Kontext der bürgerlichen Moralvorstellungen des 19. Jahrhunderts könnte im Sinne Judith Butlers als ›performative‹ Inszenierung mit ›subversivem‹ (vgl. Butler 1991) Potenzial bezeichnet werden, die zwar zunächst »die Zensur auf den Plan ruft« (Hoffmann 1991: 63), zugleich aber auch Anstoß zu einer Transformation gab. Noch Ende des 19. Jahrhunderts – 1876, fast 100 Jahre nach Junker – mokierte sich der Musikkritiker Otto Gumprecht über »vereinzelte Orgel- und Violoncellospielerinnen und was der befremdlichen Gestalten mehr sind, welche hin und wieder im weiten Tonreich auf Abenteuer ausgegangen« (Rieger 1988: 219) seien und wertete Cellistinnen damit als sonderbare Ausnahmeerscheinungen ab. Wirft man nun wiederum den Blick auf die zahlreichen Konzertcellistinnen im aktuellen Konzertleben, so lässt sich in etwas mehr als 150 Jahren Musikgeschichte eine gravierende Veränderung feststellen, seit die erste Konzertcellistin auf den Bühnen des 19. Jahrhunderts erschien. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass gerade die künstlerischen Biographien von Cellistinnen sich eignen, um Transformationsprozesse von Weiblichkeitsbildern herauszuarbeiten (vgl. Deserno 2008, 2009). Lise Cristiani war diese erste Cellistin in der Musikgeschichte, sie war die erste Frau, die mit dem Cello öffentlich auftrat (vgl. Hoffmann 1991, 2007/2010). Sie konzertierte nicht nur in ganz Europa, sondern bereiste auch den sibirischen Kontinent bis zur Halbinsel Kamtschatka. Ihre Reiseberichte wurden 1863 in einem Reisejournal, in Le Tour du Monde (Cristiani 1863), abgedruckt. Ihre Biographie fordert geradezu die Thematisierung von Weiblichkeitsbildern des 19. Jahrhunderts. Sie kann als Protagonistin für einen entscheidenden Transformationsprozess gelten. Geboren 1827 in Paris, trat Lise Cristiani mit 16 Jahren in Paris, Rouen und Brüssel als Cellistin mit großem Erfolg an die Öffentlichkeit. Einige Kritiker waren entsetzt und stellten das Auftreten einer Cellistin in Zusammenhang mit den emanzipatorischen Bewegungen, die im Vorfeld der 48er Revolution artikuliert wurden: »Eine Violoncellistin, diess fehlte noch […] diess sind die Früchte der Frauenemanzipation.« (Schmidt 1844: 276, vgl. Deserno 2009; vgl. Hoffmann 1991) Rezensenten lobten und verachteten Lise Cristiani zugleich für ihr »zartes, seelenvolles Spiel« (Berliner Musikalische Zeitung 1845, zit. nach Hoffmann 1991: 205)
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und betonten, dass die Cellistin auf dem ›unweiblichen‹ Instrument doch wenigstens wie eine »Dame« (Rochlitz 1846: 289f.) spielte. In zahlreichen Rezensionen wurde Cristiani für ihre »Decenz« (Berliner Musikalische Zeitung 1845, zit. nach Hoffmann 1991: 204), ihre »Anmut und Eleganz« (ebd.: 204), für die »Zartheit, Innigkeit und Wärme der Empfindung« (ebd.: 205) ihres Spiels gelobt. Außerdem wird die »fortwährende Anwendung des pianissimo« (ebd.: 205) als zentrales Merkmal von Cristianis Spiel hervorgehoben. Aus Konzertprogrammen kann man schlussfolgern, dass Cristiani bevorzugt Kompositionen »im langsamen, getragenen Tempo« (Hannöversche Landesblätter 1846, zitiert nach Hoffmann 1991: 410) ausgewählt hat – sie muss, wenn man den Rezensionen folgt, vorwiegend langsame Stücke gespielt haben, und diese mit zarter und weicher Klanggebung sowie ›eleganter‹ Phrasierung interpretiert haben. Außerdem soll sie vorzugsweise auf den hohen Saiten gespielt haben, die tiefen Tonlagen vermeidend, dafür Flageolett-Töne häufig einsetzend (vgl. Hoffmann 2007/2010, 2011) – »immer in den Grenzen der Weiblichkeit bleibend« (Rochlitz 1845: 749f.), wie die Allgemeine Musikalische Zeitung resümierte. Aus keiner der Rezensionen geht hervor, wie Lise Cristiani das Cello tatsächlich gehalten hat (vgl. Hoffmann 1991: 206), sie löste dieses Problem durch »ein weithinwallendes Kleid […] wodurch alle Contouren des Körpers verschleiert werden.« (Rochlitz 1846: 290, vgl. Hoffmann 1991: 61) Diese Inszenierung löste nach vorheriger Skepsis beim Publikum Begeisterung und Bewunderung aus, so dass einige Kritiker die junge Cellistin verteidigten, man habe sich geirrt mit all den Vorurteilen, eine Frau am Cello sei eine unschöne Karikatur: »So dass es weit hübscher aussehen muss, wenn eine Dame, als wenn ein Herr das Violoncell zärtlich umkniet.« (Rochlitz 1846: 290) Nachdem Cristiani 1845 17-jährig im Musikverein in Wien konzertiert hatte, wurde sie zu einer Berühmtheit, es schlossen sich zahlreiche Konzerte an: in Linz, Regensburg, Nürnberg, Leipzig; ab 1846 in Berlin, Stettin, Kiel, Freiberg, Frankfurt/Oder, Dresden, Magdeburg, Braunschweig, Hannover, Hamburg, Kopenhagen, Stockholm, Weimar, Breslau, Posen, Danzig. Lise Cristiani muss bei diesen Konzerten gut verdient haben, denn nach kurzer Zeit konnte sie sich zunächst ein Guarneri- (vgl. Lovy 1845) und dann ein StradivariCello kaufen, das heute, nach ihr ›Cristiani‹ benannt, im Museo Stradivariano in Cremona zu sehen ist2 (vgl. Blot/Bellisario 2009, Hoffmann 2007/2010,
2
Stradivari Stauffer Ex Cristiani 1700.
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Deserno 2010). Felix Mendelssohn widmete ihr ein Lied ohne Worte,3 nachdem er sie im Gewandhaus in Leipzig spielen gehört hatte. Im Jahr 1847 konzertierte Cristiani in Königsberg, Riga, St. Petersburg und Pawlowsk; im Frühjahr 1848 begann dann eine Reise von ganz anderen Ausmaßen: nach Jekaterinenburg, Tobolsk, Omsk, Tomsk, nach Irkutsk und von dort über den Baikalsee nach Kjachta (vgl. Hoffmann 1991, 2007/2010). Sie reiste mit General Nikolai Murawjew und dessen Familie.4 Murawjew war seit 1847 Generalgouverneur von Ostsibirien. Sein politisches Ziel war es, die AmurMündungen unter Kontrolle zu bekommen, um die russische Vorherrschaft in Sibirien auszudehnen (vgl. Ziegler 2005: 177, Hoffmann 2011: 156). 1849 brach Murawjew zu einer militärischen Expedition zum Amur-Delta auf, Lise Cristiani reiste mit. »Da ist es wohl besonders originell, eine Pariserin dabei zuhaben, die Cello spielt, besonders wenn die Kanonen donnern«5 (Cristiani 1863: 392), zitiert die junge Frau den Generalgouverneur in ihren Reiseberichten, der diese merkwürdige Konstellation scherzhaft kommentiert. Im Mai 1849 geht die Reise von Jakutsk nach Ochotsk, zur Halbinsel Kamtschatka, zur Insel Sachalin, an die Amur-Mündungen, nach Ajan; wieder zurück nach Jakutsk und schließlich nach Kasan und Nowotscherkassk (vgl. Cristiani 1863, Hoffmann 2001, 2011, Deserno 2010). »So hat meine Reise ein Jahr und etwa 25 Tage gedauert,« (Cristiani 1863: 399) resümiert Lise Cristiani 1853: »Ich habe einen Weg von mehr als 18.000 Werst6 […] zurückgelegt [...] ich habe 15 sibirische Städte besucht [...] ich habe mehr als 400 Flüsse überquert [...] darunter den Ural, den Irtysch, den Jenissej, die Lena, den Aldan, die Amur-Mündungen [...] Diesen ganzen Weg habe ich in der Britschka, im Schlitten, im Karren, in der Kutsche gemacht, manchmal von Pferden gezogen, mal von Rentieren, mal von Hunden; manch-
3
Bezug genommen wird hier auf Mendelssohn-Bartholdys Romance sans paroles.
4
Zu Beginn der Reiseberichte werden eine »russische Kammerzofe und ein alter deutscher Pianist genannt, der die doppelte Funktion des Begleiters und Beschützers erfüllte« (Cristiani 1863: 385f.), die Cristiani auf ihrer Reise begleiteten, später wird erwähnt, dass Cristiani mit der Familie General Murawjews und dessen Gefolgschaft (ein Arzt, Sekretäre, Untergebene des Generals) reiste. Im Verlauf der veröffentlichten Berichte werden weder Daten noch Zusammenhänge besonders kohärent dargestellt, in einer Episode wird ein abenteuerlicher Ritt durch den Schnee geschildert, den Cristiani alleine durchgestanden haben soll, die anderen Personen werden im Laufe des Berichtes nicht mehr erwähnt.
5
Übersetzung seitens der Autorin dieses Aufsatzes.
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1 Werst (russische Maßeinheit) sind ca. 1,067 Kilometer.
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mal mussten wir zu Fuß weiter, und meistens zu Pferde [...] Ich bin auch mehrere hundert Meilen per Schiff gereist auf den Flüssen [...] und mehr als 50 Tage auf dem pazifischen Ozean. Ich wurde empfangen von den Kalmücken, den Kirgisen, den Kosaken, den Ostjaken, den Chinesen, den Tungusen, den Leuten aus Jakutsk, den Burjaten, den Leuten von der Insel Kamtschatka, den Wilden aus Sachalin etc. etc. Ich habe mich an Orten hören lassen, wo nie zuvor ein Künstler gewesen war. Ungefähr 40 öffentliche Konzerte habe ich gegeben – ohne die kleineren Soireen und Gelegenheiten, bei denen ich […] spielte, mitzuzählen.«7 (Cristiani 1861: 399)
Hier enden die Reiseberichte mit einem Bild von Cristianis Grab (vgl. Cristiani 1863: 400), denn die 25 jährige starb im Oktober 1853 in Nowotscherkassk an der Cholera. Lise Cristiani reiste nach Sibirien: als Musikerin, als Cellistin, als Frau, als Französin und als Teilnehmerin an einer kolonialistischen Kriegsexpedition. Außerordentlich und ungewöhnlich ist diese Reise in jedem Fall, aus jeder der Perspektiven betrachtet: sei es die Reise der Musikerin, die Reise der Frau oder die Reise an sich. Kaum andere Musiker waren so weit nach Osten vorgedrungen – der französische Cellist Adrien-François Servais starb kurz nach seiner Sibirienreise 1866 –; aus den Reiseberichten von Kate Marsden, die nach Sibirien reiste, um sich dort für die Lepra-Kranken einzusetzen, sind immense Strapazen herauszulesen (vgl. Marsden 2005) und auch für Forschungsreisende und Entdecker wie z.B. Krusenstern, Bering, Atkinson war Sibirien ein große und oft lebensbedrohliche Herausforderung (vgl. Ziegler 2005: 167f., Cristiani 1863: 396).8 Cristianis sozialer Status als Musikerin ist sicherlich ein Aspekt, der das Reisen nicht nur ermöglichte, sondern es auch als Bestandteil einer Karriere konzipierte – allerdings nicht im gleichen Maße für Frauen wie für Männer. Instrumentalistinnen wie Lise Cristiani »stammten aus Musikerfamilien und gehörten daher weder ihrer sozialen Zugehörigkeit noch ihrem Selbstverständnis nach dem Bürgertum an« (Bartsch 2006: 104), so Cornelia Bartsch.9 Da-
7
Übersetzung seitens der Autorin dieses Aufsatzes.
8
Diese Vielschichtigkeit macht die Reise zu einem besonders komplexen und spannenden Forschungsthema, eine detailliertere Betrachtung würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, ist aber im Rahmen des Dissertationsprojektes der Verfasserin in Arbeit.
9
Lise Cristiani wuchs nicht in einer Musiker-, aber in einer Künstlerfamilie auf: der Großvater war Maler, die Großmutter Schauspielerin, der Stiefbruder Jules-Paul Barbier Dramatiker und Librettist (vgl. Hoffmann 2007/2011).
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durch konnten sie bis zu einem gewissen Grad ein Leben führen, das sie aus den engen bürgerlichen Konventionen befreite, wenn es ihnen ermöglicht wurde, sich eher als ›Künstlerinnen‹ denn als ›Frauen‹ zu identifizierten. Cristianis Großvater soll zu seiner Enkelin gesagt haben: »Aber Du sollst Künstlerin werden, Du mußt Künstlerin werden!« (Gaillard 1846) Diese Freiheit im Namen des Künstlertums wurde aber zugleich zu einem endgültigen Ausschluss vom sicheren, gesellschaftlich akzeptierten bürgerlichen Lebensentwurf, wie sich am Beispiel der Sibirienreise Lise Cristianis zeigen lässt. Lise Cristiani überschritt bereits die Grenzen weiblichen bürgerlichen Verhaltens, indem sie als Cellistin auftrat. Durch ihre Art des Auftretens und der Performance gelang es ihr, Publikum und Kritik zu überzeugen und zum ersten Mal in der Musikgeschichte das Bild einer Konzertcellistin hervorzubringen und somit auf ihrem Gebiet, der Instrumentalkunst, die Handlungsspielräume für Frauen zu erweitern. Ihre Grenzüberschreitung bildete also die Grundlage für eine Transformation. Betrachtet man Lise Cristianis abenteuerliche Reise, so wird deutlich, dass sie es bei der symbolischen Grenzüberschreitung nicht bewenden ließ, sondern ihr Leben als Künstlerin in das einer tatsächlich Grenzen überschreitenden Abenteuerin transformierte. Am 15. Mai 1849 kündigt die 21-jährige ihre Sibirienreise folgendermaßen an: »Jetzt habe ich mich wieder einmal auf eine verrückte Unternehmung eingelassen. Ich gebe zu, dass ich mit Vergnügen diese Reise beginne, welche die Originalität meines Künstlerdaseins komplettieren wird: dies allerdings nicht ohne ein bedrückendes Gefühl, wenn ich an die 2000 Meilen denke, die ich noch zu den bereits 3000 Meilen hinzufüge, die mich vom Vaterland trennen.«10 (Cristiani 1863: 391)
Wie mit dem Zoom eines Fotoapparats soll nun in mehreren Schritten eine Annäherung an Lise Cristiani anhand einer Textanalyse des ausgewählten Zitates unternommen werden. Dabei stehen im Fokus sowohl die Weiblichkeitsbilder, welche an die Cellistin herangetragen werden, die Bilder, welche sie in ihre Selbstrepräsentation aufnimmt, welche sie bewusst oder unbewusst insze-
10 Im französisches Original: »Me voici donc embarquée encore une fois pour une folle entreprise. J’avoue que je commence avec plaisir un voyage qui va compléter l’originalité de ma vie d’artiste: cependant ce n’est pas sans un sentiment pénible que je songe aux deux mille lieues que je vais ajouter encore aux trois mille qui me séparent de la patrie.« (Cristiani 1863: 391) Übersetzung seitens der Autorin dieses Aufsatzes.
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niert, übernimmt und verändert als auch die in etwas Neues transformierten Bilder. Bei der Analyse des Textabschnitts erschlossen sich drei prägnante Diskurse, die sich mit gesellschaftlich-historischen Kontexten befassen. Drei Schlüsselwörter lassen sich herausstellen, die jeweils als Indikatoren für einen bestimmten Diskurs verstanden werden können. »Jetzt habe ich mich wieder einmal auf eine verrückte Unternehmung eingelassen.« (Ebd.: 391 [Hervorhebung seitens der Autorin dieses Aufsatzes])
Zum einen, ausgelöst durch das Schlüsselwort ›verrückt‹, ein Diskurs über die ›unweibliche Frau‹, die sich in männliche Bereiche vorwagt und dafür als verrückt oder lächerlich abgewertet wurde. Dies gipfelte in der Hysteriediagnose und der Behandlung hysterischer junger Frauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In den Studien über Hysterie von Freud und Breuer heißt es: »Die Adoleszenten, welche später hysterisch werden, sind vor ihrer Erkrankung meist lebhaft, begabt, voll geistiger Interessen; ihre Willensenergie ist oft bemerkenswert. Zu ihnen gehören jene Mädchen, welche nachts aufstehen, um heimlich irgendein Studium zu betreiben, welches ihnen die Eltern aus Furcht vor Überanstrengung versagten.« (Freud/Breuer 1991 [1895]: 259, weiterführend vgl. King 2002: 73-75)
Junge Frauen also, die sich aus den engen Grenzen zu befreien versuchten und die letztendlich nur den Ausweg in die ›Verrücktheit‹ sahen oder aber denen von der Gesellschaft mit der Krankheitsdiagnose Hysterie die ›Verrücktheit‹ attestiert und damit jede weitere Handlungsmöglichkeit genommen wurde. Auch Lise Cristiani weiß, und sie lässt dies in der Formulierung anklingen, ihre Unternehmung ist im Rahmen bürgerlichen Denkens, insbesondere für eine Frau ›verrückt‹, gefährlich und unangebracht. Diese Einschätzung des Reiseunternehmens als grenzwertig und unangemessen ist in vielen Reiseberichten von Frauen aus dem 19. Jahrhundert in Bezug darauf, wie die Außenwelt über die Reisepläne der Frauen dachte, zu finden. So zum Beispiel bei Ida Pfeiffer, die 1842 in den Nahen Osten reiste (vgl. Pfeiffer 1845, Hoffmann 2011, Habinger 2006). »Ich gebe zu, dass ich mit Vergnügen diese Reise beginne, welche die Originalität meines Künstlerdaseins komplettieren wird.« (Cristiani 1863: 391 [Hervorhebung seitens der Autorin dieses Aufsatzes])
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Die ersten beiden Sätze des Zitates repräsentieren in prägnanter Weise Cristianis Fähigkeit auf der Grundlage der existierenden Denkweisen Neues hervorzubringen: durch Kompromissbildung im Hinblick auf die Präsentation zum einen – sie weiß, ihre Unternehmung gilt als ›verrückt‹ –, durch kompromissloses Handeln zum anderen – sie beginnt die Reise trotzdem ›mit Vergnügen‹. Ebenso spielte sie ›wie eine Dame‹ ein ›unschickliches‹ Instrument, machte also einen Kompromiss in Bezug auf die Spielweise, nicht aber in der eigentlichen Handlung, als erste Konzertcellistin aufzutreten und eine erfolgreiche Karriere voranzutreiben. Das zweite Schlüsselwort ›Reise‹ verweist auf einen Diskurs im Kontext der Reisejournale. Diese Zeitschriften sprachen ein bestimmtes Publikum an und sind im Zusammenhang mit der Entdeckung und Kolonialisierung der Welt einzuordnen. Dazu gehören vor allem Bilder aus einer ›männlichen Welt‹, die als gefährlich dargestellt wird und die es ›zu entdecken‹ gilt. Bei der Lektüre der Reiseberichte entsteht der Eindruck, dass Cristiani mit dieser Idee der gefahrvollen, aber auch spannenden Entdeckung der Welt identifiziert ist. Dieser Eindruck von der Cellistin, die sich als mutige Reisende präsentiert, wird durch die Auswahl der Briefe durch den Herausgeber verstärkt. Da Originalbriefe bisher fehlen, entsteht die Schwierigkeit, dass Selbstpräsentation der Cellistin und die im Nachhinein vom Herausgeber gewollte Präsentation der reisenden Cellistin nicht voneinander zu trennen sind, so dass der autobiographische Aspekt und der Typus der Darstellung in Reisejournalen nicht zu unterscheiden sind. Gerade dieses durch die Quellenlage produzierte Dilemma ist wiederum aber interessant um die Vielschichtigkeit der Wahrnehmung, Präsentation und letztendlich der Transformation von Weiblichkeitsbildern zu untersuchen. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf einer Veränderung. Während in zahlreichen Konzertkritiken eine moralisierende Haltung gegenüber der Cello spielenden Frau zu spüren war, so ist im Reisebericht aus Le Tour du Monde gegenüber der reisenden Cellistin kaum etwas von dieser moralischen Instanz zu spüren. Der Bericht konzentriert sich auf den Gegenstand Reise, nicht auf die Bewertung der Reise einer Frau. Der Umgang mit Quellen war nicht immer an Texttreue orientiert, gerade an den Texten von Frauen wurde nicht selten verbessert, geschönt, hinzugefügt. So wurden im 19. Jahrhundert häufig ›unweiblich‹ erscheinende Aspekte (vgl. Tibbe 2011, vgl. Hoffmann 2011) einfach weggelassen, Tagebücher wurden bspw. von Vätern, Briefe von Herausgebern redigiert und zum Teil gravierend verändert. Freia Hoffmann konnte nachweisen, dass Teile des Reiseberichts von Lise Cristiani aus den 1837 publizierten Briefen des Grafen Charles-Camille de Sainte Aldegonde kopiert sind, welche dann mit den übri-
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gen Briefen von Lise Cristiani zu einem zusammenhängenden Bericht zusammengesetzt wurden (vgl. Hoffmann 2011: 152f.). Das sollte wahrscheinlich dazu dienen, den Reisebericht für die spezifische Leserschaft von Le Tour du Monde ›auszuschmücken‹, spannender zu machen. Im Gegenzug dazu wurde kein Brief, der ausführlich von Konzerten und Musik handelt, veröffentlicht. Dies ist unter dem Aspekt der Repräsentation von Weiblichkeitsbildern bemerkenswert: hier werden die Briefe einer jungen Frau nicht nach den vermeintlichen Normen ›weiblichen‹ Verhaltens geschönt, sondern um die Berichte eines männlichen Reisenden, um einige abenteuerliche Geschichten mehr ergänzt. »Dies allerdings nicht ohne ein bedrückendes Gefühl, wenn ich an die 2000 Meilen denke, die ich noch zu den bereits 3000 Meilen hinzufüge, die mich vom Vaterland trennen.« (Cristiani 1863: 391 [Hervorhebung seitens der Autorin dieses Aufsatzes])
Als Drittes führt das Schlüsselwort »Vaterland« zu zwei weiteren Diskursen. Zum einen klingt eine patriotische und nationalistische Denkweise an, welche den expandierenden Kolonialismus des 19. Jahrhunderts begleitete. Zum anderen ein Diskurs, der hier in die Nachfolge der französischen Revolution kontextualisiert werden soll und welcher die Identifikation der jungen Französin mit republikanischen Ideen vom »Vaterland« unter den Prämissen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit anklingen lässt – in der Hoffnung dies möge im Sinne Mary Wollstonecrafts und Olympe de Gouges auch für die ›Schwestern‹ gelten. In einer späteren Textstelle kommt diese republikanische Orientierung Cristianis zum Ausdruck. Sie betont, wie sie besonders die »Abwesenheit jedes Standesdünkels«11 (Cristiani 1863: 393) während des Aufenthalts in einer Jurte genossen habe und anschließend mit einer Marseillaise die ganze Reisegruppe in gute Laune versetzt habe. Um Lise Cristiani und ihre Selbstpräsentation zu fokussieren, werden nun die einzelnen Sequenzen des ausgewählten Zitats betrachtet: »Jetzt habe ich mich wieder einmal auf eine verrückte Unternehmung eingelassen.« (Cristiani 1863: 391)
11 Im französischen Original: »toute étiquette laissée dehors« (Cristiani 1863: 393). Freia Hoffmann übersetzt diese Stelle mit »Verzicht auf alle Förmlichkeiten« (Hoffmann 2011: 162).
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Im ersten Abschnitt sind Mut, selbstbewusste und eigenverantwortliche Haltung, eine Tendenz zur Provokation und Selbstironie, aber auch ein Zweifeln, eine ambivalente Haltung zu der ›verrückten Unternehmung‹ zu erkennen. Das französische ›embarquer‹ bedeutet wortwörtlich ›sich einschiffen, aufs Schiff begeben‹, kann im Zusammenhang mit ›folle entreprise‹ aber als ›sich einlassen‹ übersetzt werden und impliziert einen zweifelnden, nicht ganz überzeugten Beiklang, im Sinne von ›ich habe mich da hinein ziehen lassen, obwohl...‹. Dies stützt die These, dass gerade die Kompromissbildung eine Transformation ermöglicht. »Ich gebe zu, dass ich mit Vergnügen diese Reise beginne, welche die Originalität meines Künstlerdaseins komplettieren wird.« (Cristiani 1863: 391)
Des Weiteren wird im zweiten Abschnitt ein persönliches Lebensziel formuliert, das gleichzeitig aber einem idealisierten Bild vom Künstlertum geschuldet ist und ein wenig standardisiert wirkt: die ›Originalität des Künstlerdaseins‹. Ein eindeutiges Bekenntnis: sie ist Künstlerin, versteht sich selbst als Künstlerin und präsentiert sich als solche. Und sie macht keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Künstlern. Durch das Überschreiten traditioneller weiblicher Lebensräume wurde ihr Künstlerdasein erst ermöglicht. Durch die Reise, die alle bisherigen Reisen, auch die vieler männlicher Zeitgenossen an Gefahren und an Ungewissheit übertrifft – tatsächlich war kein Musiker bisher so weit in den Osten gereist – inszeniert Cristiani einen Sonderstatus, der sie polarisierten Geschlechtergrenzen entheben soll. »Dies allerdings nicht ohne ein bedrückendes Gefühl, wenn ich an die 2000 Meilen denke, die ich noch zu den bereits 3000 Meilen hinzufüge, die mich vom Vaterland trennen.« (Cristiani 1863: 391)
Die Sicherheit und Fröhlichkeit, mit der Lise Cristiani sich für diesen Weg entscheidet, wird eingeschränkt durch ›das bedrückende Gefühl‹, welches die weite Entfernung auslöst. Sie zeigt sich ambivalent und realistisch, fügt zu der glatten Fassade der Abenteuerin eine menschliche besorgte Facette hinzu, wodurch sie verständlicher wird, die vielleicht aber auch dazu dient, sie als Frau nicht ganz ohne Besorgnis zu präsentieren. Als Metapher der Grenzüberschreitung, und damit der Entscheidung zu einer endgültigen Veränderung können die 5000 Meilen ›Entfernung‹ gelten. Auch aus heutiger Perspektive erscheint das Ausmaß dieser Reise ungeheuerlich, ganz zu schweigen von den damaligen Reisebedingungen. Metaphorisch
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bedeutet diese weite Entfernung auch die Entscheidung gegen und Entfernung von einem konventionellen Lebensweg, der für ein behütetes und gesellschaftlich akzeptiertes Leben steht. Hier transformiert Cristiani ihre Lebensform als Künstlerin in einen auf extreme Veränderung und Ungewissheit hinauslaufenden Lebensentwurf. Das ›Vaterland‹, in dem Cristiani als Cellistin bereits eine Ausnahmeerscheinung und Grenzüberschreiterin war, originell, anders, vielleicht sogar fremd, wird zum Symbol für all das, was sie mit der großen Reise – noch mehr als zuvor bereits – hinter sich lässt. Damit wird ein individueller und zugleich typischer Konflikt junger Menschen in der Phase zwischen Adoleszenz und Erwachsenenalter dramatisch in Szene gesetzt: betrachtet man diesen Lebensabschnitt aus zeitgenössischer, entwicklungspsychologischer Perspektive, so ist die Phase der Adoleszenz gekennzeichnet durch das Treffen von Entscheidungen, den Abschied von Möglichkeiten, die Ablösung von der Herkunftsfamilie, das Sich-Positionieren in einer Gesellschaft. Sie ist eine Phase der Transformation. Gleichzeitig wird implizit ein typischer Konflikt junger Frauen im 19. Jahrhundert wirksam, den die Soziologin Vera King in ihrem Buch Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz beschreibt (vgl. King 2002: 69f.). Jungen Frauen wurde im 19. Jahrhundert diese Phase der Adoleszenz, als Zeit der Entscheidungskrisen und der Entwicklung gerade nicht zugestanden, so King. Das entwicklungspsychologische Konzept einer Adoleszenzphase hier anzulegen, bedeutet also ein Konzept für die Betrachtung einer Zeit zu verwenden, in der die Reflexion über diese Phase sowie diese Phase als Entwicklungsspielraum für Frauen nicht existierte. Lise Cristiani ist, als sie diesen Brief schreibt, gerade 21 Jahre alt, aus der Perspektive des Adoleszenz-Konzeptes, wie es Vera King vertritt, eine typische Post-Adoleszente. Und sie trifft eine schwerwiegende Entscheidung, freiwillig, mutig, mit Vergnügen, konträr zum traditionellen weiblichen Lebensentwurf, entscheidet sich gegen alles Bekannte, Enge und Schützende, für das ganz Fremde, Gefährliche, Originelle, Verrückte, für die ›Entstehung des Neuen‹ (ebd.). Weibliche Lebensentwürfe im 19. Jahrhundert waren gekennzeichnet durch den direkten Übergang vom ›Kind-Sein‹ zum ›Kind-Haben‹ (ebd.), so Vera King. Dies wurde in der Literatur beispielhaft dargestellt in Fontanes Effi Briest (1896), Flauberts Madame Bovary (1857) sowie im Gedichtzyklus Frauenliebe und Leben (1830) von Chamisso, den Robert Schumann – vielleicht nicht ganz zufällig – 1840, im Jahr seiner Eheschließung mit Clara Wieck, vertonte (vgl. Deserno 2010). Auch die mündige Entscheidung gehörte nicht in die Konzeption von traditioneller Weiblichkeit: so war bis 1938 in Frankreich Artikel 213 des Code Napoléon gültig, nach dem ein junges Mädchen von der Vormundschaft des Vaters in die Obhut
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ihres Ehemannes überging und dieser von da an uneingeschränktes Verfügungsrecht über ihre Person und ihr Vermögen hatte (vgl. Horlacher 2009: 60f.). Vor diesem Hintergrund werden das Gewicht der Entscheidung und die Symbolträchtigkeit der ›Reise‹ deutlich. Mit dieser Reise nimmt Cristiani sich all das, was für Frauen im 19. Jahrhundert nicht vorgesehen war, verzichtet damit aber auch auf Sicherheit und Bindung, riskiert gesellschaftliche Akzeptanz und sogar ihr Leben. Wenn man aber bedenkt, dass der alternative, konventionelle Weg der Ehe wahrscheinlich den Rückzug aus der Öffentlichkeit, damit symbolisch den ›Tod der Künstlerin‹ bedeutete hätte und noch dazu jederzeit der reale Tod im Kindbett drohte – ist da eine große und beschwerliche Reise wirklich beängstigender? Oder eine nur allzu nachvollziehbare Entscheidung? Die ›Originalität des Künstlerdaseins‹, genauso wie die Identifizierung mit dem republikanischen ›Vaterland‹, in dem idealerweise gleiche Rechte und Chancen für alle hätten gelten sollen, repräsentieren Cristianis Appell an die Überwindung der erlebten Ungleichheit zwischen den Geschlechtern. Sie repräsentiert sich und handelt als Künstlerin, nicht als Frau, die sich an Grenzen zu halten hätte. Das Künstlerdasein bedeutet immer eine Ausnahme und es führte auch im 19. Jahrhundert aus der Enge des bürgerlichen Lebensentwurfs heraus. Dies galt bis zu einem gewissen Grad auch für Künstlerinnen. Aus den Biographien von Fanny Mendelssohn, Nannerl Mozart und anderen ist aber bekannt, dass sich auch künstlerisch erfolgreich tätige junge Mädchen ab der Pubertät meistens auf den ›weiblichen Lebensraum‹ zu beschränken hatten. Für die, welche ›sich noch weiter entfernen‹, gibt es allerdings kein Zurück mehr, scheint Lise Cristiani zu sagen. Die Grenzüberschreitung ist irreversibel und kann, bzw. muss damit zum Beginn, ja sogar zur Bedingung eines persönlichen sowie gesellschaftlichen Transformationsprozesses werden. Das Überschreiten von geographischen Grenzen ist symbolisch und in Realität gleichbedeutend mit dem Überschreiten von eingegrenzten Handlungsformen sowie der Entwicklung neuer Handlungsformen. Damit ist gerade das ›bedrückende Gefühl‹, das den ›Aufbruch ins Ungewisse‹12 begleitet, die Voraussetzung für die ›Entstehung eines Neuen‹. Das Überschreiten von Grenzen inszeniert einen Transformationsprozess. Der Aufbruch ins Neue und Unbekannte bedeutet also Veränderung – Trans-
12 Es gibt eine gleichnamige Lesung von Ursel Bäumer, die ein literarisches Porträt über Lise Cristiani geschrieben hat (vgl. Bäumer 2007).
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formation – zunächst ganz spezifisch für die Denk- und Handlungsweise und das Leben der Protagonistin. Da sie aber als Cellistin und Autorin der Reiseberichte eine gesellschaftliche Öffentlichkeit an ihrem Lebensweg teilhaben ließ, kann dieser ebenfalls zum Anstoß für eine gesellschaftliche Veränderung, ein Umdenken, zum Beginn eines Transformationsprozesses werden, der wiederum eine weitreichende gesellschaftliche Relevanz entwickelt.
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Bending gender, Deconstructing Binaries? Transformationen in der Popularmusikforschung anhand der Beispiele Lady Gaga und Annie Lennox M ONIKA E. S CHOOP
Wie an so vielen Abenden zappte ich auch am Sonntag, dem 28. August 2011, durch das Fernsehprogramm, als mir die Übertragung der VMA Music Awards aus dem Nokia Theatre in Los Angeles ins Auge stach. Es war nicht nur mein Interesse für Popularmusik und die Neugier, wer einen der begehrten Awards mit nach Hause nehmen würde – vielmehr war es der Auftritt der Sängerin Stefanie Germanotta, besser bekannt unter dem Pseudonym Lady Gaga, der meine Aufmerksamkeit fesselte. Zweifelsfrei ist Lady Gaga für ihre schrillen Auftritte bekannt – betrat sie doch bei den VMA Awards des Vorjahres in einem Kleid aus Fleischlappen die Bühne. Diesmal war ihr Outfit weniger schrill und dennoch nicht minder provokant. Mit lockigen, zurückgekämmten, kurzen, schwarzen Haaren, in ein weites weißes T-Shirt und ein schwarzes Jackett gehüllt, betrat sie die Bühne und gab sich als Jo Calderone zu erkennen. Calderone, Gagas männliches Alter Ego, war schon im Vorjahr auf dem Titelblatt des japanischen Vogue Magazins an die Öffentlichkeit getreten.1 Abwechselnd rauchend und wild mit einer brennenden Zigarette gestikulierend, lieferte Gagas Alter Ego eine Art Prolog zum Song You and I. In machohafter Pose berichtete Calderone von Beziehungsproblemen zwischen ihm und Gaga und versäumte nicht zu erwähnen, dass er ›one of the guys‹ sei. Auch während der Performance des Songs You and I gab sich Jo Calderone, alias Gaga, betont maskulin, breitschultrig und lässig. Assoziationen mit
1
Hier kursierten zunächst nur Gerüchte, dass es sich um Lady Gaga handele (vgl. Humann 2007: 75f.), die von Lady Gaga selbst jedoch nicht bestätigt wurden.
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Männlichkeit wurden gestützt von stereotypen Einlagen, wie dem Trinken und Versprühen einer Flasche Bier und der virtuosen Performance ihres Gastmusikers, des Queen-Gitarristen Brian May. Lady Gaga gab ein gutes Beispiel für die Performativität von Geschlecht ab und vielleicht war genau das der Moment, in dem mir die Vielschichtigkeit des Themas Transformationen in der Musikforschung erstmals bewusst wurde. Es ist durchaus keine Seltenheit, dass sich Transformationen, wie in diesem Fall drag oder cross-dressing, als Gegenstand musikwissenschaftlicher Forschung finden. Ob die Performances der Blues Sängerin Willie Mae Thornton in den 1950er Jahren (vgl. Halberstam 2007), David Bowies Auftritte in den 1970er Jahren (vgl. von Appen 2011) oder Glam Rock und Heavy Metal in den 1980er Jahren (vgl. Walser 1993) – gender bending, das Herausfordern und Überschreiten gesellschaftlich etablierter Geschlechterrollen, ist in der Popularmusik kein seltenes und kein unerforschtes Phänomen. Sowohl visuelle als auch auditive Transformationen finden seit jeher in der Forschung Beachtung. Bei genauer Betrachtung ist es jedoch keineswegs selbstverständlich, dass diese ein legitimer Forschungsgegenstand geworden sind. Erst verschiedene Transformationen von wissenschaftlichen Praktiken, Disziplinen und ihren Gegenständen haben dazu geführt, dass es heute geradezu selbstverständlich erscheint, sich mit Performanz von Geschlecht im Kontext der Popularmusik auseinanderzusetzen. Das Ziel dieses Artikels ist also ein zweifaches: Zum einen sollen die Transformationen der Forschung reflektiert werden, die dazu geführt haben, dass gender und Popularmusik Themen der Musikforschung geworden sind. Zum anderen wird ein Einblick in verschiedene Arten von Transformationen gegeben, die heute Gegenstand von Popularmusikforschung sind. Als aktuelle Beispiele sollen hier Performances der Sängerin Lady Gaga dienen, während die (Selbst-)Inszenierungen der Sängerin Annie Lennox aus den 1980er Jahren zeigen, dass es sich keineswegs um neue Phänomene handelt. Abschließend soll reflektiert werden, inwiefern die Inszenierungen der Künstlerinnen selbst Veränderungen, nämlich solche von Geschlechterbildern und des binären Geschlechtersystems, in deren Rahmen sie sich bewegen, bewirken können.
T RANSFORMATIONEN
DER
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Die Musikwissenschaft gehört zu den zahlreichen akademischen Disziplinen, in denen das Thema Geschlecht lange Zeit ausgeblendet wurde und unerforscht blieb. Ein Blick in die Fachgeschichte zeigt, dass Popularmusik lange
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ebenso wenig ein selbstverständlicher Bestandteil der Musikforschung war. Noch vor 50 Jahren wäre eine Beschäftigung mit Transformationen von Geschlecht in der Popularmusik undenkbar gewesen, obwohl es hier durchaus schon interessante Themen gegeben hätte, wie die Beispiele der BluesSängerinnen Rosetta Tharpe (vgl. Jackson 2004) und Willie Mae ›Big Mama‹ Thornton (vgl. Halberstam 2007) oder der Tänzerin Josephine Baker zeigen. Wie und wann konnten sich also Genderforschung und die Beschäftigung mit Popularmusik – und als Konsequenz auch Genderforschung im Bereich der Popularmusikforschung – etablieren? Ansätze der Genderforschung verbreiteten sich im Kontext der zweiten Feminismus-Welle in den 1970er Jahren in der Musikwissenschaft. Verschiedene Faktoren trugen zuvor zu einer Ausblendung der Kategorie Geschlecht bei: das Konzept der autonomen Musik, die für sich selbst und losgelöst von jeglichen sozialen Faktoren existiere, eine Musikgeschichtsschreibung, die auf Einzelpersonen fixiert war, das ›männliche‹ Genie als Norm und Ideal ansah und alles, was dem nicht entsprach, ignorierte (vgl. Citron 2000) sowie die bewusste Vermeidung der Assoziationen mit Weiblichkeit in Institutionalisierungsprozessen und die Bestrebungen, der Disziplin durch Konnotation mit Männlichkeit wissenschaftliche Legitimation zu verleihen (vgl. Cusick 1999). Männlichkeit wurde unhinterfragt als Norm betrachtet. Dies änderte sich erst mit feministischen Ansätzen, die es sich zunächst zum Ziel gemacht hatten, Frauen überhaupt sichtbar zu machen. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren hielten dann konstruktivistische Ansätze Einzug in die Musikforschung und der Fokus verschob sich hin zur Untersuchung von Konstruktionsprozessen. Durch den Einzug performativer Ansätze (vgl. z.B. Butler 1990, 1993) wurden Performanz von Geschlecht und somit auch Transformationen zu einem möglichen Forschungsgegenstand. Ähnlich wie die Genderforschung war auch Popularmusik lange ein, wenn überhaupt existentes, dann marginalisiertes Thema in der Musikwissenschaft. Im Bereich der Historischen Musikwissenschaft befasste man sich ausschließlich mit so genannter westlicher Kunstmusik und in der Musikethnologie beziehungsweise ihrer Vorläuferin, der Vergleichenden Musikwissenschaft, stand die Erforschung des ›Fremden‹ und ›Exotischen‹ im Vordergrund und eine Auseinandersetzung mit Popularmusik, insbesondere ›westlicher‹, war undenkbar. Ein bekanntes Beispiel einer frühen Auseinandersetzung mit Popularmusik ist Theodor W. Adornos Aufsatz On Popular Music (1941), in dem er eine Charakterisierung von ernster (›serious‹) und populärer Musik (›popular music‹) vornimmt. Letztere beschreibt er in Abgrenzung und durch ihren Unterschied zur ernsten Musik: Popularmusik sei gekennzeichnet durch
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Standardisierung, die sich sowohl in den Details als auch der Form finde. Deutlich tritt hier die Hierarchisierung der beiden Musikformen und eine Abwertung der Popularmusik zu Tage – um einen legitimen Forschungsgegenstand handelt es sich hier offenbar nicht. Einen wichtigen Beitrag zu einer wertfreieren Befassung mit Popularmusik lieferten in den 1960er und 1970er Jahren die britischen Cultural Studies, in deren Kontext populäre Kultur zu einem neuen Forschungsgebiet wurde. Für die Erforschung von Popularmusik von Relevanz war insbesondere die Untersuchung von Subkulturen, wie den Mods (vgl. Hebdige 1975), Skinheads (vgl. Clarke 1975) und Punks (vgl. Hebdige 1979), in denen Musik einen wichtigen Stellenwert einnimmt und Teil ihres stets widerständigen Potenzials ist. Künstler_innen und Konsument_innen sind nicht länger Spielball einer scheinbar manipulativen Musikindustrie, sondern sind selbst aktiv, indem sie verschiedenen Elementen selbst Bedeutungen verleihen, sie umkonnotieren oder durch die Praxis der Bricolage neu zusammenstellen. Zeitlich parallel zum Einzug der Gender Studies in die Musikforschung etablierte sich in den 1970er Jahren demnach auch die wissenschaftliche Betrachtung populärer Kultur.2 Heute finden sich in der Popularmusikforschung zahlreiche konstruktivistische und queertheoretische Ansätze. Zu beobachten ist eine zunehmende Vermischung von Ansätzen, die angesichts der für die Gender und Queer Studies ohnehin charakteristischen Interdisziplinarität nicht verwunderlich erscheint. Auch im Bereich der Musikforschung sind aufgrund von ähnlichen Forschungsgebieten und Methoden die Disziplinen auf der einen Seite vielfältiger und auf der anderen zugleich schwerer voneinander zu trennen (vgl. Cook 2008). So sind es nicht nur die verschiedenen Subdisziplinen der Musikwissenschaft, in denen Transformationen in Bezug auf Popularmusik erforscht werden, sondern bisweilen auch andere Disziplinen, wie die Medien- und Literaturwissenschaften.
T RANSFORMATIONEN
ALS
F ORSCHUNGSGEGENSTAND
Lady Gaga setzt in ihrer Arbeit zahlreiche Referenzen auf andere Künstler_innen ein, die ebenfalls Geschlechternormen herausforderten.3 Der Bezug
2
Auch gender als Analysekategorie nahm und nimmt in den Cultural Studies einen
3
Man könnte sogar so weit gehen, diese ›cut & paste‹-Technik mit der Bricolage-
wichtigen Platz ein. Technik der Cultural Studies zu vergleichen.
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zu David Bowie im Musikvideo zu Just Dance, zu Madonna (vgl Lush 2012) und nicht zuletzt zu Annie Lennox in ihrer Performance bei den eingangs erwähnten VMA Music Awards des Jahres 2011 sind nur einige Beispiele dafür. Als eine Art »workingclass-Elvis look-alike« (Rodger 2004: 17) war Lennox auf dem Cover der Single Who’s that Girl (1983) und bei den Grammy Awards im Jahre 1984 zu sehen – Gagas Person des Jo Calderone ist offensichtlich an diese Person angelehnt. Ebenso wie Lady Gaga, deren vielfältige Transformationen in der Publikation The Performance Identities of Lady Gaga (2012) wissenschaftlich untersucht wurden, setzte auch Annie Lennox eine Vielfalt performativer Identitäten ein, von denen einige hier Beachtung finden sollen. Drag, insbesondere male-to-female drag, ist die wohl bekannteste Art von Transformation, aber bei weitem nicht die einzige. Im Folgenden sollen deshalb drei Arten von Transformationen näher betrachtet werden. Zunächst wird drag, auch als cross-dressing bezeichnet, im Vordergrund stehen. Hierunter wird die Inszenierung des jeweils anderen Geschlechts (von der Existenz eines binären Geschlechtersystems ausgehend) gefasst. Eine weitere Kategorie stellt die stereotype Inszenierung des ›eigenen‹ Geschlechts, auch Homeovestie genannt, dar. Als drittes werden schließlich monströse Transformationen thematisiert. In erster Linie geht es dabei um die Inszenierungen von Körpern, einige dieser finden sich jedoch auch auf musikalischer Ebene wieder. Abschließend stellt sich die Frage nach der Wirkmacht dieser Transformationen – sind sie in der Lage, selbst das binäre Geschlechtersystem herauszufordern und vielleicht sogar zu verändern? Drag Als performative Identität Jo Calderone inszeniert Gaga Geschlecht als wandelbare und fluide Kategorie, ob auf dem Titelbild des japanischen Vogue Magazins, dem Cover der Single You and I oder im Video des gleichen Songs. Übertrieben stereotype Gesten, sowohl beim Auftritt als auch in den entsprechenden Szenen des Musikvideos, in denen sich Jo, alias Gaga, betont machohaft gibt, und, ebenso wie in ihrer Performance bei den VMA Awards, Zigaretten rauchend auf ihrem Klavier sitzt, zeigen Geschlecht als Inszenierung. Heather Duerre Humann beschreibt die Person Jo Calderone als Personifizierung von Stereotypen, die in Interviews ihr Interesse an Frauen und Autos deutlich zum Ausdruck bringt (vgl. Humann 2012: 80). Die Performance birgt, so Humann, subversives Potenzial:
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»Posing as Jo Calderone positions Lady Gaga not only as radical, but also as transformative. By adopting this persona, she effectively challenges the heterosexual paradigm and plays with gender binaries. In doing so, she deconstructs them and calls into question their very existence, thereby calling attention to gender at the same time as she does something some people would consider revolutionary: she highlights the arbitrary nature of gender choices.« (Humann 2012: 79)
Auch bei Annie Lennox finden sich verschiedene Transformationen, die Geschlecht als Inszenierung deutlich machen, wie Gillian Rodger in ihrem Artikel Drag, Camp and Gender Subversion in the Music and Videos of Annie Lennox (2004) zeigt. Bei Annie Lennox findet sich das drag kinging sowohl auf visueller als auch auf auditiver Ebene. Ein gutes Beispiel für das Zusammenspiel dessen, was Elizabeth Wood als »sonic-crossdressing« (Wood 1994: 32) bezeichnete und visuellen Transformationen, bietet das Musikvideo des Songs Sweet Dreams. Hier erscheint Lennox androgyn – einerseits mit kurzen, rot gefärbten Haaren und mit einem Anzug bekleidet und andererseits geschminkt und mit rotem Lippenstift. Die Androgynität spiegelt sich auch in der Stimme wieder. In Sweet Dreams wechselt Lennox zwischen Kopf- und Bruststimme. Die erstere wird dabei mit opernhaftem Falsett-Gesang assoziiert, letztere dagegen lässt sich als warm und tief beschreiben (vgl. ebd.: 19f.). Das Zusammenspiel zwischen Bild und Klang wird zum Beispiel im close-up auf Lennox’ rot geschminkten Mund während des Einsatzes der FalsettStimme deutlich oder auch der Präsentation des androgynen Erscheinungsbilds Lennox’ während des Refrains Sweet Dreams, der in Alt-Tonlage gesungen wird. Gillian Rodger bezeichnet diese Ambiguität der Stimme als Herausforderung verbreiteter Geschlechterbilder der 1980er Jahre, insbesondere derer, die im Bereich der Popmusik verbreitet waren (vgl. ebd.: 20). Judith Butler weist jedoch darauf hin, dass drag nicht zwingend subversiv ist: »It serves a subversive function to the extent that it reflects the mundane impersonations by which heterosexually ideal genders are performed and naturalized and undermines their power by virtue of effecting that exposure. But there is no guarantee that exposing the naturalized status of heterosexuality will lead to its subversion.« (Butler 1993: 231)
Es liegt im Endeffekt bei den Hörer_innen, wie das visuelle und auditive cross-dressing gedeutet wird.
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Homeovestie Neben drag können auch Formen der Inszenierung des ›eigenen‹ Geschlechts den performativen Charakter von Geschlecht deutlich machen. Geprägt wurde der Terminus Homeovestie in Anlehnung an die Psychoanalytikerin Joan Riviere, die in ihrem Artikel Womanliness as a Masquerade (1929) Geschlecht als ›Maskerade‹ betrachtet. Bei der Homeovestie handelt es sich um eine exzessive, stereotype und übertriebene Darstellung des ›eigenen‹ Geschlechtes, die bisweilen auch mit dem Konzept des Camp assoziiert wird. In Notes on Camp merkt Susan Sontag an: »Indeed, the essence of camp is its love of the unnatural: of artifice and exaggeration.« (Sontag 1991: 96) Eine solche Performance zeigt Annie Lennox im Musikvideo Love Is A Stranger, in dem sie mehrere Transformationen durchläuft und erst als Prostituierte, dann als Domina und später selbst als Freier auftritt. Als Beispiel für das Konzept der Homeovestie lässt sich hier die Person der Prostituierten anführen, die aufgrund ihrer stereotypen Darstellung schon fast selbst Assoziationen zum drag weckt. Gillian Rodger kritisiert Butlers Fokus auf drag, bei dem laut Rodger Frauen, und insbesondere heterosexuelle Frauen, häufig außen vor gelassen werden, und schlussfolgert, dass das Konzept der Homeovestie für diese Personengruppe ein größeres subversives Potenzial berge (vgl. Rodger 2004: 26). Auch Gaga benutzt diese Strategie der übertriebenen Darstellung, z. B. im Musikvideo des Songs The Edge of Glory, in dem sie stark geschminkt und in einem Fetisch-Kostüm aus Lederriemen und Strapsen auftritt oder als Tänzerin in Marry the Night mit blondierten Haaren und knappem silbernen Bustier. Gaga spielt hier mit »hyper-sexualized female form[s]« (Humann 2012: 81). In diesen Kontext lässt sich auch die oben erwähnte Strategie des Kopierens anderer bekannter Frauenfiguren, wie z. B. Madonna, eingliedern, die ebenfalls die Performativität von Identiät(en) offenlegen. Das Monströse Abschließend soll noch auf eine weitere Art der Transformation eingegangen werden, die mit dem Thema Geschlecht in Verbindung steht: das Monströse. Der Album-Titel The Fame Monster, Gagas The Monster Ball-Tour oder die Bezeichnung ihrer Fans als ›Little Monsters‹ zeigt die Omnipräsenz des Konzepts. Ann T. Torrusio untersucht in ihrem Artikel The Fame Monster (2012) verschiedene monströse Transformationen von Lady Gaga. Sie bezieht sich auf Michel Foucault, der zwei Auffassungen des Monströsen beschreibt: zum
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einen eine Sichtweise, die vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert hinein präsent war und das Monster als das nicht eindeutig Bestimmbare, als Kombination von Mensch und Tier oder Mann und Frau sieht und zum anderen eine ab dem späten 18. Jahrhundert verbreitete Position, die im Monster nicht länger eine Laune der Natur sieht, sondern besagt, dass es Handlungen sind, die Menschen zu ›Monstern‹ machen (vgl. Torrusio 2012: 163f.). Beide Ansätze finden sich laut Torrusio in den Diskussionen um die Person Lady Gaga wieder. In den ersten Kontext passen die Hermaphroditismus-Gerüchte, die nach einem Konzert aufkamen und von Lady Gaga selbst forciert wurden (vgl. ebd.: 162). Andererseits werden auch gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen und somit Handlungen thematisiert (ebd.: 162), die die heteronormative Matrix in Frage stellen. Dies sind bei weitem nicht die einzigen Transformationen. Auch die Verortung zwischen gesundem und krankem Körper – in einem Interview bei Larry King am 01.06.2010 gibt Gaga an ›borderline positive‹ Lupus getestet worden zu sein – bricht die Dichotomie gesund/krank auf und ersetzt sie durch eine Positionierung »dazwischen« (Torrusio 2012: 164f.). Selbst die Dichotomie Mensch/Maschine wird durch Performanzen herausgefordert, wie im Video des Songs You and I, in dem Lady Gaga neben Jo Calderone und verschiedenen Frauenfiguren auch eine Art Cyborg verkörpert.
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DURCH
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Können diese Transformationen tatsächlich zum Aufbrechen und zur Dekonstruktion des binären Geschlechtersystems beitragen? Autor_innen wie Gillian Rodger und Heather Duerre Humann sehen dies positiv. Es ist jedoch auch denkbar, dass die Performanzen im Endeffekt sogar der Aufrechterhaltung des Systems der Zweigeschlechtlichkeit dienen und Stereotype stärken können, wie Butler am Beispiel des drags zeigt (vgl. Butler 1993). Ähnliche Fragen wurden in Bezug auf das feministische Potenzial aufgeworfen. Curtis A. Fogel und Andrea Quinlan fragen, ob Lady Gagas Musikvideos feministische Ziele erreichen können und repressive Sexualnormen herausfordern oder auf der anderen Seite eher Gewalt gegen Frauen legitimieren und sie zur Ware degradieren (vgl. Fogel/Quinlan 2011). Sie ziehen hier ein eher skeptisches Fazit. Die geschilderten Transformationen sind nicht zwingend subversiv. Ganz im Sinne der Cultural Studies, laut denen die Kosument_innen Bedeutung selbst aktiv zuschreiben, zwingt die Performance die Bedeutung nicht auf,
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sondern diese wird aktiv konstruiert. Performances wie die von Lady Gaga oder Annie Lennox bieten das Potenzial einer subversiven Interpretation, ermöglichen aber unterschiedliche Lesarten. Während es also im Endeffekt bei den Betrachter_innen selbst liegt, wie sie die performativen Identitäten interpretieren, lässt sich ein gewisser Einfluss der Transformationen nicht leugnen. Die Beispiele von Lady Gaga und Annie Lennox zeigen, dass Transformationen helfen können, Künstler_innen von stereotypen Klassifikationen zu befreien, wie Katrin Horn in Bezug auf Lady Gaga verdeutlicht: »Slipping effortlessly between female and male drag, between cone-bras and strap-ons, gay male S/M-sex scenes and lesbian make-out sessions in her videos and public appearances, Lady Gaga refuses to be defined by her sexuality – a fate common to most other female pop stars.« (Horn 2012: 88)
Künstler_innen wie Gaga und Lennox tragen somit zu einer Denaturalisierung und Pluralisierung von Geschlechterrollen bei und ihre Transformationen bieten Möglichkeiten, Geschlechterstereotype als solche zu enttarnen und binäre Kategorien zu hinterfragen.
L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1990 [1941]): »On Popular Music«, in: Simon Frith/Andrew Goodwin (Hg.), On Record: Rock, Pop and the Written Word, London/New York: Routledge, S. 301-325. Appen, Ralf von (2011): »David Bowies postmodernes Spiel mit Identitäten«, in: Wolfgang von Auhagen/Claudia Bullerjahn/Holger Höge (Hg.), Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie 21, Göttingen/Bern: Hogrefe, S. 188-190. Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, New York/London: Routledge. Butler, Judith (1993): Bodies that Matter – On the Discursive Limits of Sex, New York/London: Routledge. Citron, Marcia (2000): Gender and the Musical Canon, Urbana: University of Ilinois Press. Clarke, John (1975): »The Skinheads and the Magical Recovery of Community«, in: Stuart Hall/Tony Jefferson (Hg.), Resistance Through Rituals, New York/London: Routledge, S. 99-102.
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Gender Bias in der Forschung – ein blinder Fleck der Sportmedizin?1 I LSE H ARTMANN -T EWS UND B ETTINA R ULOFS
Die Gleichstellung von Männern und Frauen steht mittlerweile auch auf der forschungspolitischen Agenda. So hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft 2008 strukturelle und personelle Gleichstellungsstandards vereinbart und begründet dies in der Präambel damit, dass eine erfolgreiche Gleichstellungsstrategie zu einem erheblichen Mehrwert führt: »Gleichstellung wirkt sich auf die Qualität der Forschung aus, da Talente aus einer größeren Grundgesamtheit geschöpft werden können, eine Vielfalt von Forschungsperspektiven gefördert wird (Diversity) und die blinden Flecken zur Bedeutung von Gender in den Forschungsinhalten und -methoden beseitigt werden können. Die Berücksichtigung von relevanten Gender und Diversity-Aspekten ist insofern ein wesentliches Element qualitativ hochwertiger Forschung.« (DFG 2008: 1)
Inwieweit die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Wissenschaft auch zu einer Vervielfältigung von Forschungsperspektiven und zur Aufwertung der Bedeutungswahrnehmung von gender führt, ist eine empirisch noch zu überprüfende Frage. Aus wissenschaftspolitischer Sicht kommt der Gleichstellungsstra-
1
Das dieser Publikation zugrundeliegende Vorhaben wurde aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Europäischen Union – Europäischer Sozialfonds (ESF) – unter den Förderkennzeichnen 01FP0824 und 01FP0825 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autorinnen.
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tegie der DFG aber unabhängig hiervon eine zentrale Bedeutung zu, da sie für alle Akteure und Akteurinnen im Wissenschaftssystem einen Orientierungsrahmen zur Umsetzung von Gendersensibilität in der Forschung setzt. Die Aufmerksamkeit gegenüber geschlechtsbezogenen Phänomenen ist in den vergangenen Jahren in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen gestiegen, in der Technologieforschung und -entwicklung ebenso wie in den Sozialwissenschaften und der Medizin. Mit Blick auf die Entwicklung der Public-Health-Forschung hat sich inzwischen in den USA und vielen europäischen Ländern eine eigene Frauengesundheitsforschung etabliert, die die Defizite der bisher vermeintlich geschlechtsneutralen Forschung und Gesundheitspraxis zu beheben versucht und auf die negativen Effekte der Nichtberücksichtigung von Genderaspekten, d.h. von frauen- und von männerspezifischen Phänomenen, in der Forschung und Praxis hinweist (vgl. Fialka-Moser 2008, Kolip/Hurrelmann 2002). Die zunehmende Gendersensibilität ist nicht zuletzt Forschungsarbeiten zu verdanken, die ermittelt haben, dass die Gesundheitsforschung von geschlechtsbezogenen Verzerrungen, dem sogenannten gender bias geprägt ist, obwohl sie den Anspruch erhebt, gleichermaßen zum Wohle der Gesundheit von Männern und Frauen zu arbeiten (vgl. Eichler et al. 2000). Geschlechtsbezogene Verzerrungseffekte entstehen im Forschungsprozess durch die Nichtberücksichtigung von Geschlecht bzw. das Ignorieren der Relevanz von Geschlecht im Forschungsprozess, so dass die Validität der Forschungsergebnisse in Frage gestellt werden muss. Drei Formen des gender bias mit verschiedenen Unterkategorien lassen sich identifizieren (vgl. Babitsch 2005, Eichler et al. 2000, Combrink et al. 2008, Maschewsky-Schneider/Fuchs 2004): •
•
Androzentrismus/Gynozentrismus: Diese treten in der Forschung auf, wenn entweder eine einseitig männerzentrierte oder eine einseitig frauenzentrierte Perspektive eingenommen wird. Androzentrismus, der in der Forschung überwiegt, äußert sich z. B. darin, dass Männer überproportional häufig als Probanden bevorzugt werden und die Ergebnisse dennoch auf beide Geschlechter übertragen und verallgemeinert werden. Gerade in der pharmakologischen Forschung existieren hier zahlreiche Beispiele. Eine andere Form von Androzentrismus liegt vor, wenn in Studien implizit eine an Männern orientierte Norm aufgestellt wird, an der Frauen als das Besondere oder das Abweichende gemessen werden (vgl. Eichler 1998: 42). Geschlechterinsensibilität: Diese Form von gender bias bezeichnet die Ignoranz gegenüber biologischen, psychischen oder sozialen Aspekten der Geschlechterdifferenzen. Diese liegt z.B. dann vor, wenn Geschlecht bei der
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Intervention oder der Auswertung der Daten nicht berücksichtigt wird, obwohl beide Geschlechter in eine Studie einbezogen werden. Geschlechterinsensibilität kann außerdem bedeuten, dass der Einfluss der Geschlechtszugehörigkeit der am Forschungsprozess Beteiligten nicht reflektiert wird. So haben Experimente gezeigt, dass die Interaktionen zwischen Proband bzw. Probandin einerseits und Untersuchungsleiter andererseits durch die Geschlechtszugehörigkeit beeinflusst werden und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können (vgl. Behnke/Meuser 1999). Ungleicher Bewertungsmaßstab: Hierbei geht es um die Relevanz von Geschlechterstereotypen, also gesellschaftlich weit verbreiteten Annahmen über die typischen Eigenschaften von Frauen und Männern, die als naturgegebene Parameter in die Forschung oder Behandlungspraxis eingehen (vgl. Bolte 2000). So kann z.B. die Generalisierung ›Männer sind leistungsorientiert‹ vs. ›Frauen sind sozialorientiert‹ das Forschungsdesign prägen und zu Interventionen oder Daten-Interpretationen führen, die unangemessen sind und vorhandene Phänomene eher überdecken als aufdecken.
Ob, und wenn ja, in welchen Dimensionen auch die sportmedizinische Forschung gender bias aufweist, ist Gegenstand eines vom Interdisziplinären Genderkompetenzzentrum in den Sportwissenschaften (IGiS) initiierten Projektes. Die Sportmedizin eignet sich als Querschnittsfach für diese Untersuchung ganz besonders, da sie sowohl mit einer Vielzahl von klinischen Fächern der Medizin verbunden ist (z.B. innere Medizin, Orthopädie, Pädiatrie) als auch mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie z.B. der Biomechanik, Physiologie, Psychologie und Pharmakologie. In ihrem Grundverständnis orientiert sie sich daran, in Theorie und Praxis den Einfluss von Bewegung sowie Bewegungsmangel auf den Menschen zu analysieren und die Befunde in Prävention, Therapie und Rehabilitation einfließen zu lassen. Definition und Anspruch der Sportmedizin sind somit weit gefasst und beziehen sich auf jegliche (mangelnde körperliche Aktivität und die Wechselwirkungen des Organismus (vgl. Dickhuth 2005, Hollmann/Strüder 2009). In unserem Beitrag soll eine zentrale Dimension des gender bias, nämlich die in der Literatur öfters dokumentierte Unterrepräsentanz von Probandinnen in den Forschungsdesigns (als Aspekt des vorherrschenden Androzentrismus) in den Mittelpunkt gerückt und zwei Fragen beantwortet werden. Erstens, werden beide Geschlechter gleichermaßen als Probandinnen und Probanden in die empirischen Studien einbezogen (Bezug Androzentrismus) und wenn ja, in welchem Umfang wird die Relevanz von Geschlecht in den verschiedenen Forschungsphasen berücksichtigt (Bezug Geschlechtersensibilität)? Zweitens, welche Ein-
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stellungen und Deutungsmuster haben relevante Akteure und Akteurinnen des Wissenschaftssystems zu der Frage geschlechtsheterogenen Zusammensetzung der Untersuchungssamples? Beantwortet werden sollen diese beiden Fragen zum einen auf der Basis von Inhaltsanalysen sportmedizinischer Publikationen und zum anderen auf der Basis von Interviews mit zentralen Akteuren und Akteurinnen des Wissenschaftssystems über das Phänomen und die Ursachen von gender bias in der Forschung.
A NDROZENTRISMUS UND G ENDERINSENSIBILITÄT F ORSCHUNGSDOKUMENTATION
IN DER
Um herauszufinden, ob und wenn ja, in welchen Facetten die sportmedizinische Forschung gender bias aufweist, wurde in Anlehnung an das Vorgehen von Fuchs und Maschewsky-Schneider (2002) mit einem standardisierten Erhebungsbogen eine inhaltsanalytische Bestandsaufnahme der sportmedizinischen Publikationen erstellt. Hierzu wurden zum einen Abstracts von Fachartikeln und zum anderen ausgewählte Fachartikel aus der empirischen Forschung analysiert. Basis der Untersuchung ist eine Inhaltsanalyse der Abstracts von allen sportmedizinischen Artikeln in Fachzeitschriften von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen in Deutschland, die von 2005 bis 2008 in den Datenbanken PubMed und SPOLIT dokumentiert sind.2 Insgesamt liegen den Inhaltsanalysen auf Basis dieser Vollerhebung 2922 Abstracts zugrunde. Darüber hinaus wurde aus dieser Vollerhebung ein geschichtete Zufallsstichprobe von Artikeln gezogen (N=82) und mit einem zusätzlich differenzierten inhaltsanalytischen Erhebungsinstrument auf potentielle Formen von gender bias analysiert.3
2
Die Abstracts wurden systematisch über eine gezielte Eingabe von spezifischen Suchbegriffen aus den Datenbanken exportiert und Beiträge aus Herausgeber/innenwerken ausgeschlossen, so dass eine Netto-Gesamtzahl von 2922 Artikeln in Fachzeitschriften mit eindeutigem sportmedizinischem Inhalt in die Analysen einging.
3
Für beide Inhaltsanalysen wurden vier Kodierer/innen eingesetzt, deren Interrater Reliabilität nach einer gründlichen Schulung und mehrmaligen Probecodierungen sowohl in Bezug auf die Abstract-Analyse als auch die Analyse der Artikel bei 90 Prozent lag und damit sehr zufriedenstellend ausgefallen ist.
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Zusammensetzung der Untersuchungssamples Die geschlechtsheterogene Zusammensetzung des Untersuchungssamples ist eine der wichtigsten Voraussetzungen einer geschlechtersensiblen Forschung: Nur wenn eine Studie sowohl Frauen als auch Männer untersucht, können Schlussfolgerungen über Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede gezogen werden. Von den insgesamt 2922 Abstracts der sportmedizinischen Zeitschriftenartikel in nationalen und internationalen Fachzeitschriften befassen sich 96,8 Prozent (2829) mit Themen, die grundsätzlich beide Geschlechter betreffen, d.h. lediglich 3,2 Prozent der Beiträge fokussieren entweder frauen- oder männerspezifische Phänomene bzw. Erkrankungen, wie z.B. Brustkrebs oder Prostatakrebs. In unsere Analyse haben wir nur diejenigen Forschungsdokumentationen aufgenommen, deren Fragestellungen thematisch für beide Geschlechter von Belang, also nicht geschlechtsspezifisch sind. Hier ist zu erwarten, dass sowohl Probandinnen und Probanden einbezogen werden. Analysiert man die entsprechenden 2829 Abstracts in Bezug auf Informationen zu den Untersuchungssamples, so weisen 38,2 Prozent keinerlei Information über das Geschlecht der Untersuchten auf. 42,2 Prozent aller Studien schließen Männer und Frauen in ihre Stichprobe ein, weitere 15,5 Prozent arbeiten ausschließlich mit Probanden und 4,0 Prozent ausschließlich mit Probandinnen. Auf den ersten Blick ist erstaunlich, wie unpräzise ein großer Teil der Abstracts in Bezug auf die Informationen zu den zugrundegelegten Stichproben sind. In einer Zeit, in der immer mehr wissenschaftliche Publikationsorgane und -wege entstehen, wird das Abstract zu einer zentralen Kommunikationsform im Wissenschaftssystem – vor allem in den Naturwissenschaften – und sollte von daher präzise und umfassend sein (vgl. Gochfeld 2010: 193). Auf den zweiten Blick ist bemerkenswert, dass trotz der geschlechtsübergreifenden Relevanz der Forschungsthematik nur 42,2 Prozent der Forschungsprojekte mit Samples arbeiten, in denen Frauen und Männer vertreten sind, und 20 Prozent mit geschlechtshomogenen Untersuchungssamples. Gerade hier zeigt sich eine Tendenz der stärkeren Berücksichtigung von männlichen Untersuchungspersonen in sportmedizinischen Untersuchungen und damit eine Bestätigung des bereits durch andere Arbeiten ermittelten Androzentrismus in der Gesundheitsforschung (vgl. Bolte 2000). Auch in den von uns inhaltsanalytisch untersuchten Artikeln zeichnet sich diese Form des gender bias ab. Aus den Ergebnissen der Inhaltsanalysen der Artikel lässt sich ergänzend entnehmen, dass selbst in denjenigen Studien, die eine geschlechtsheterogene Untersuchungsgruppe aufweisen, der Anteil der Probandinnen geringer ist als der Anteil der Probanden.
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Inhaltliche Thematisierung von Geschlecht Die Frage, ob und wenn ja, in welchen Forschungsphasen die Relevanz von Geschlecht thematisiert und berücksichtigt wurde (Geschlechtersensibilität), ist in unserem Projekt sowohl über die Vollerhebung der Abstracts 2005 bis 2008, als auch durch eine differenzierte Inhaltsanalyse von sportmedizinischen Fachartikeln untersucht worden. Obwohl eine Analyse der Geschlechtersensibilität auf Ebene der Abstracts nur ansatzweise möglich ist, geben die Abstracts erste Hinweise darauf, ob und in welcher Weise Geschlechteraspekte berücksichtigt wurden. Insgesamt zeigt sich, dass eine inhaltliche Bezugnahme auf die Kategorie Geschlecht in den Abstracts sehr selten vorkommt. Nur 7,2 Prozent der Abstracts, die ein für beide Geschlechter relevantes Forschungsthema behandeln, enthalten auch Hinweise auf eine geschlechtersensible Vorgehensweise in den zugrunde liegenden Studien, d.h. haben das Geschlecht bei der Untersuchung berücksichtigt. Da sich die sportmedizinische Forschung angesichts der vielfältigen disziplinären Perspektiven in verschiedene Fachbereiche und Forschungsfelder untergliedert, zeigt ein differenzierter Blick, dass die Berücksichtigung von Geschlecht in der Zusammensetzung der Samples und in der inhaltlichen Auseinandersetzung je nach Forschungsfeld bzw. medizinischem Fachbereich variiert (vgl. Hartmann-Tews et al. 2012). Wir haben den Aspekt der (mangelnden) Geschlechtersensibilität der sportmedizinischen Forschung auf der Ebene der Artikel tiefgehender untersucht und die Frage gestellt, ob und wenn ja, in welchen Phasen eines Forschungsprojektes die Rolle von Geschlecht zur Sprache kommt. Der Befund aus der AbstractAnalyse lässt sich aufgrund der differenzierten Analyse noch spezifizieren.4 Mit Blick auf die zentralen Inhalte von Forschungsbeiträgen (wie Forschungsstand, Beschreibung der Intervention und des Erhebungsinstruments, Ergebnisdarstellung, Diskussion der Ergebnisse und Fazit) wird deutlich, dass eine Thematisierung von Geschlecht trotz heterogen zusammengesetzter Untersuchungsgruppen nur selten in den Artikeln vorkommt. In der Aufarbeitung des Forschungsstandes gehen allerdings nur 17 Prozent der untersuchten Artikel auf geschlechterrelevante Aspekte ein und in der Reflektion der Intervention oder
4
Die Artikel (n=82) wurden im Kontext der Vollerhebung aus denjenigen Veröffentlichungen zusammengestellt, deren Thematik grundsätzlich beide Geschlechter betrifft und deren Untersuchungssample geschlechtsheterogen war (42,2% der abstracts). Aus diesem Datenpool wurde auf der Basis der publikationsstärksten sportmedizinischen Bereiche und Fachzeitschriften eine geschichtete Zufallsstichprobe der Kategorie ›Thematisierung von Geschlecht‹ (ja/nein/keine Informationen) gezogen.
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des Erhebungsinstrumentes noch weitaus weniger, d.h. in nur 4 Prozent der Artikel (vgl. Abb. 1). Am häufigsten, d.h. in 34 Prozent der Artikel, werden Geschlechteraspekte bei der Datenauswertung und Darstellung der Ergebnisse erwähnt und beispielsweise die Befunde nach Frauen und Männern getrennt aufgeführt. In solchen Fällen wird mehr auf die Unterschiede als auf Gemeinsamkeiten zwischen Geschlechtern hingewiesen (61% vs. 50%). Diese gefundenen Unterschiede oder Gemeinsamkeiten werden auf Ebene der Diskussion der Daten allerdings wiederum in nur 18 Prozent aller Artikel behandelt und damit nur in gut der Hälfte aller Artikel, die eine geschlechtsdifferenzierende Datenauswertung präsentieren. Im Fazit und den Hinweisen auf Forschungsdefizite wird in einem noch geringeren Anteil der Artikel (12%) auch auf Forschungslücken in Bezug auf die Geschlechterrelevanz der Fragestellung verwiesen Abbildung 1: Berücksichtigung von Geschlecht in den einzelnen Forschungsphasen (n=28 Artikel)
Diese Befunde der geringen Beachtung von geschlechterbezogenen Aspekten in der sportmedizinischen Forschung auf der Ebene der Artikel, also der ausführlichen Forschungsbeiträge, bestätigen die aus der Analyse der Abstracts gewonnenen Erkenntnisse. Gleichzeitig korrespondieren sie mit den Ergebnissen ähnlicher Forschungsprojekte mit Inhaltsanalysen zu Veröffentlichungen z.B. in Fachzeitschriften der Epidemiologie (vgl. Niedhammer et al. 2000) oder der Public-Health-Forschung (vgl. Fuchs/Maschewsky-Schneider 2000). Sowohl bei den Ergebnissen zum gender bias in der Epidemiologie als auch der PublicHealth-Forschung wird konstatiert, dass der überwiegende Anteil der Forschungen keine geschlechtsbezogenen Analysen durchführt, mit dem Fazit,
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dass hinsichtlich einer »adäquaten Berücksichtigung von Frauen und Männern in der Gesundheitsforschung noch einiges getan werden« (Fuchs/MaschewskySchneider 2002: 289) kann. Die Ergebnisse zur Berücksichtigung von Geschlecht in den verschiedenen Dimensionen der Forschung liegen in diesen Untersuchungen allerdings z.B. in Bezug auf die Forschungsfrage, den leitenden Auswertungsvariablen und den Schlussfolgerungen prozentual deutlich über den Anteilen, die wir bei den sportmedizinischen Veröffentlichungen finden. D.h. unsere Befunde zur Sportmedizin weisen einen noch stärker ausgeprägten gender bias in Bezug auf die Zusammensetzung der Samples und die Geschlechtersensibilität der Forschung auf.5
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DER SPORTMEDIZINISCHEN SCIENTIFIC COMMUNITY Um über die Ursachen dieses Phänomens Aufschluss zu erhalten und Ansatzpunkte zur Intervention zu entwickeln, haben wir in Ergänzung zu den Inhaltsanalysen Interviews mit 17 zentralen Akteurinnen und Akteure der Sportmedizin und der Forschungsförderung geführt. Hierzu gehören zum einen Autorinnen und Autoren aus unserer Vollerhebung, zum anderen Herausgeber/innen bzw. Mitglieder von editorial boards der meist publizierenden Zeitschriften mit sportmedizinischem Bezug sowie zentrale Akteure und Akteurinnen der Fachwissenschaftlichen Vereinigungen, wie z.B. der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention und der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft.6 Die Aussagen in den Interviews in Bezug auf die Frage nach der Angemessenheit von geschlechtsheterogen zusammengesetzten Untersuchungsgruppen lassen sich in zwei Gruppen einteilen, und zwar in diejenigen Aussagen, die Be-
5
Im Kontext dieses ausgeprägten Androzentrismus verwundert es nicht, dass Differenzierungen des Zweigeschlechtermodells – wie Inter- und Transsexualität – in der Forschung ebenfalls nicht zur Sprache kommen.
6
Die Interviews wurden als leitfadengestützte diskursive Interviews angelegt und zumeist durch zwei Interviewer/innen bei den Experten und Expertinnen vor Ort durchgeführt, wobei Wert darauf gelegt wurde, so oft wie möglich geschlechtergemischte Interviewteams zusammenzustellen, um einem gender bias in der Interaktion zu vermeiden (vgl. Behnke/Meuser 1999). In einem fortgeschrittenen Stadium der Interviewstudie wurden dann auch telefonische Interviews durchgeführt.
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gründungen dafür liefern, warum es wichtig oder gar essentiell ist, geschlechtsheterogene Stichproben vorzunehmen und im Kontrast hierzu Erklärungen und auch Begründungen für den gering(er)en Einbezug von Frauen in die Untersuchungssamples: a. Die Sinnhaftigkeit geschlechtsheterogener Untersuchungssamples: Die Erläuterungen zur Sinnhaftigkeit und Begründung von geschlechtsheterogenen Stichproben finden auf drei Dimensionen statt. Die erste bezieht sich auf die Validität der Ergebnisse, d.h. einige Experten und Expertinnen geben an, dass geschlechtsheterogene Stichproben notwendig sind und von ihnen auch in der Forschung umgesetzt werden, um die Aussagekraft der Ergebnisse zu erhöhen. Für sie stellen Untersuchungen nur dann ein gelungenes Abbild der Wirklichkeit dar, wenn beide Geschlechter einbezogen sind. Der Vorsitzende einer fachwissenschaftlichen Vereinigung beobachtet diesbezüglich auch eine positive Entwicklung: Studien, die älter als 15 Jahre sind, seien noch häufiger von einem gender bias zuungunsten von Frauen geprägt als aktuelle Studien. Die zweite Dimension umfasst Begründungsmuster, die sich auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern beziehen. Da sich Frauen und Männer in vielen Bereich unterschieden, sei es aus biologisch genetischer oder sozialer und psychologischer Sicht, müsse dies entweder durch geschlechtsheterogen zusammengesetzte Untersuchungsgruppen berücksichtigt werden oder durch je spezifische Untersuchungen mit Frauen und mit Männern. Als dritte Begründung wird die ›forscherische Neugier‹ angesprochen. Selbst bei Phänomenen, die bislang noch nicht geschlechtsdifferenziert untersucht wurden, und die Anschlussfähigkeit für Publikationen schwierig sei, werden von einigen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen beide Geschlechter in die Stichproben einbezogen, weil sie schlichtweg neugierig sind, ob sich Männer und Frauen diesbezüglich unterscheiden oder doch Gemeinsamkeiten aufweisen. b. Sinnhaftigkeit der geringen Berücksichtigung von Probandinnen in Untersuchungssamples: Die Erläuterungen zu der mangelnden Umsetzung von geschlechtsheterogenen Stichproben und entsprechende Begründungsmuster für die Sinnhaftigkeit eines solchen Vorgehens waren vielfältiger – ein Befund der durchaus mit der Forschungsrealität und den Ergebnissen der Inhaltsanalyse korrespondiert. Hier lassen sich in den Interviews vor allem sechs Aspekte erkennen, deren Reihenfolge in etwa auch der Häufigkeit der Nennung in den Interviews entspricht, wobei die Häufigkeit des Vorkommens allein nicht valide ausdrückt, wie bedeutungsvoll eine Kategorie für die Forschungspraxis insgesamt ist.
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c. Variabilität der Stichprobe als relevante Kenngröße: In der Regel wird bei diesem Begründungsmuster argumentiert, dass der Einbezug von Frauen in die Untersuchungsgruppe eine zu hohe Intragruppen-Variabilität hervorruft. Dies mache die Interpretation der Ergebnisse zum einen kompliziert und dies führe zum anderen zu geringeren Chancen bei der Publikation in Fachzeitschriften und bei der Forschungsförderung. »Dinge wie Alter, sozialer Hintergrund, ethnischer Hintergrund, Geschlecht sind sozusagen Störgrößen für uns, die die Variabilität erhöhen und dadurch die Aussagekraft ein bisschen verwaschen.« (Interview 4, M, Wissenschaftler, Zeile 32)
Eng verbunden mit diesem Begründungsmuster sind die Hormonschwankungen bei Frauen. Die zyklusabhängigen Schwankungen bei Frauen machen sie nach Aussage der Interviewten zu einem ›komplizierten Fall‹, zu einer Unwägbarkeit, die zu einer zu hohen Streuung in der Stichprobe führe, so dass Männer von einigen Befragten als Untersuchungsperson bevorzugt werden, weil sie eben das ›stabilere System‹ oder auch das ›einfachere Modell‹ darstellen. Diese und ähnliche Aussagen machen deutlich, dass auch in der Sportmedizin der ›Mann als Norm‹ und Frauen als die komplizierte Abweichung gesehen werden. Bemerkenswert ist, dass zu dem Zusammenhang von geschlechtsheterogen zusammengesetzten Stichproben und Qualität der Forschung durchaus konträre Einschätzungen der Experten und Expertinnen vorliegen. Während einige, darunter auch Gutachter/innen von Fachzeitschriften, erläutert haben, dass erst der Einbezug von beiden Geschlechtern die Untersuchung qualitativ hochwertig macht, kommen andere zu dem Ergebnis, dass eine zu hohe Variabilität in den Stichproben die Qualität gefährdet und damit auch die Chance auf Akzeptanz bei der Veröffentlichung sinkt. d. Mangel an finanziellen und institutionellen Ressourcen: Einige Interviewpartner beklagen die chronische Unterfinanzierung der Studien, aufgrund derer die Untersuchungsgruppen nicht groß genug konzipiert werden können, um auch beide Geschlechter in den Studien zu berücksichtigen. Der Mangel an finanziellen und personellen Ressourcen ebenso wie an einer entsprechender Infrastruktur, um große Populationen überhaupt zu untersuchen, wird dabei auch als ›Armutszeugnis‹ für die deutsche Sportmedizin deklariert. e. Eingeschränkte Verfügbarkeit von Frauen für Untersuchungen: Einige Interviewpartner/innen verweisen auf die unterschiedliche Verfügbarkeit von Frauen und Männern für Untersuchungen. Dies bezieht sich zum einen auf die Unterrepräsentanz von Frauen bei spezifischen Forschungsfeldern oder Themen (z.B. im [Behinderten-]Leistungssport, in spezifischen Sportarten) oder als
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Studierende der Sportwissenschaft, die ein zentrales Klientel der Untersuchungen sind. Neben diesen sachbezogenen Aspekten werden aber auch soziale Aspekte benannt. So wird von den Experten und Expertinnen bei Männern eine höhere Teilnahmebereitschaft und auch Risikofreude beobachtet, an Studien teilzunehmen. Dies scheint insbesondere für Laboruntersuchungen zu gelten. Dabei spiegeln die Beobachtungen der Forscher/innen traditionelle Geschlechterstereotype wieder, z.B.: »dass Männer sich für Studien unter extremen Laborbedingungen, die jetzt sehr technisch orientiert sind, mehr interessieren als Frauen. Während im Gesundheitssport beispielweise es gerade umgekehrt ist.« (Interview 15, M, Fachwissenschaftliche Vereinigung, Zeile 22)
f. Androzentrismus der Sportmedizin: Ein weiteres Begründungsmuster für die mangelnde Einbeziehung von Frauen in die Untersuchungsgruppen lässt sich unter dem Konzept des Androzentrismus bündeln. Zum einen besteht es aus Erläuterung zur quantitativen Dominanz von Männern im Bereich der Sportmedizin und der damit verbundenen Annahme, dass Männer Probanden bevorzugen. Zum anderen umfasst es Hinweise auf den Forschungsstand, der durch Ergebnisse mit Probanden geprägt ist und an denen man sich ausrichten muss, um anschlussfähig Forschungsergebnisse zu generieren. Darüber hinaus wird die Sportmedizin gelegentlich auch als ein Feld definiert, das vornehmlich die körperliche Leistungsfähigkeit untersucht und dies ein traditionell männliches Untersuchungsterrain darstellt – durchaus in zweierlei Perspektive, als Objekt der Forschung (mit dem Hinweis, Männer sind körperlich leistungsfähiger) und als Subjekt i.S. der Forschenden (und dem Hinweis, dass es Männerthemen und Frauenthemen gibt). g. Gleichheit der Geschlechter: Eines der bemerkenswertesten Begründungsmuster sind Aussagen, die keine relevanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern konstatieren. Hier dominiert die Basisannahme der Gleichheit der Geschlechter, d.h. Männer und Frauen unterscheiden sich nicht in sportmedizinischen Phänomenen, so dass auch keine heterogenen Stichproben notwendig sind. »[D]ie sportmedizinische Forschung ist mit Sicherheit primär an der Peripheriephysiologie interessiert, also Kreislaufsystem, Muskelsystem, Knochensystem, Knorpelsystem. Da denk ich mal, dass es da kaum oder nicht viel geschlechtsspezifische Unterschiede gibt.« (Interview 5, M, Wissenschaftler/Autor, Zeilen 102-105)
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Die Ergebnisse der Interviews – allein schon zu dieser einzigen Frage der Sinnhaftigkeit geschlechtsheterogener Untersuchungssamples – sind sehr aufschlussreich. In der scientific community gibt es offensichtlich mehr Argumentationsfiguren, die gegen geschlechtsheterogene Untersuchungsgruppen sprechen als solche, die dafür sprechen. Gleichzeitig liegen diametral entgegengesetzte Einschätzungen über die Gleichheit oder Ungleichheit der Geschlechter vor, wobei diese Einschätzung nicht selten von dem spezifischen Untersuchungsthema abhängig gemacht wird.
Z WISCHENFAZIT
UND
AUSBLICK
Die vorgestellten Befunde zeigen, dass auch im breit gefächerten Feld der sportmedizinischen Forschung gender bias u.a. in Form von Androzentrismus und Geschlechterinsensibilität vorkommt. Nur in 42 Prozent aller Abstracts von sportmedizinischen Beiträgen in nationalen und internationalen Fachzeitschriften der Jahre 2005 bis 2008 wird explizit auf eine geschlechtsheterogene Zusammensetzung von Untersuchungsgruppen hingewiesen. Demgegenüber bestehen 16 Prozent der Samples ausschließlich aus Probanden und 4 Prozent ausschließlich aus Probandinnen. Darüber hinaus lassen sich nur 7,2 Prozent aller Fachbeiträge als geschlechtersensibel charakterisieren, also als solche, die zumindest in einer Phase oder in einem Bereich der dokumentierten Forschung auf die Relevanz von Geschlecht eingehen. Aus der differenzierten Analyse der Artikel lässt sich darüber hinaus ableiten, dass gender bias sehr grundlegend im Forschungsprozess verankert ist, da schon in der Aufarbeitung des Forschungsstandes eine potentielle Geschlechterrelevanz nicht in den Blick gerät bzw. nicht in die Reflektion der eigenen Forschungsfrage aufgenommen wird. »Most gender bias is to be found in the context of discovery« (Ruiz-Cantero 2007: 46) ist auch das Fazit der Arbeitsgruppe um Ruiz-Cantero, die seit mehr als einem Jahrzehnt zum gender bias in der Medizin und der epidemiologischen Forschung arbeitet. Auch wenn sich in der Forschungspraxis die verschiedenen Formen von gender bias häufig überlappen und nicht immer in Reinform auftreten, so ist sich die Forschungsliteratur doch darüber einig – und es spiegelt sich auch in unseren Daten –, dass es vor allem zwei erkenntnisleitende Eckpunkte sind, die geschlechtsbezogene Verzerrungseffekte entstehen lassen: Zum einen, dass eine Gleichheit oder Gemeinsamkeit zwischen Männern und Frauen angenommen wird und Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufgrund des Forschungsdesigns dann nicht gesehen oder ignoriert werden. Problematisch an dieser Annahme der Geschlechtergleichheit ist, dass die Forschung hier versäumt, ge-
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schlechtsdifferenzierte Befunde zu erheben und entsprechend passgenaue Interventionen zu entwickeln, die der ggfs. vorhandenen Unterschiedlichkeit von Männern und Frauen gerecht werden. Zum anderen, dass Unterschiede zwischen Frauen und Männern unterstellt werden, die (lediglich) entlang geschlechtsstereotyper Muster zugeschrieben werden und den Forschungsprozess anleiten. Häufig findet hier die Setzung einer männlichen Norm statt, von der Frauen als abweichend betrachtet werden oder als das andere, zweite, defizitäre Geschlecht. Perspektivisch gesehen ist die Vermeidung von gender bias in der (sportmedizinischen) Forschung nur durch wissenschaftsethische und -politische Aufklärung anzustoßen, die mit der Entwicklung von Konzepten und Instrumenten zu koppeln ist, mit denen der wissenschaftliche Erkenntnisprozess von Beginn an geschlechtersensibel gestaltet werden kann (vgl. u.a. Bührer/Schraudner 2006).
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3.2 Männlichkeiten und Grenzziehung: Positionierung und Differenz
Gymnasiasten in der Krise?! Zum schulischen Überbürdungsdiskurs im Deutschen Kaiserreich W OLFGANG G IPPERT
1. E INLEITUNG Seit mehreren Jahren stehen Jungen, Männer und Männlichkeiten verstärkt im Fokus von medialer Öffentlichkeit und wissenschaftlicher Forschung. Häufig werden Gewaltdelikte, risikoreiche Lebensführung oder die Auflösung tradierter Familien- und Erwerbsarbeitsstrukturen zu einer generellen ›Krise von Männlichkeit‹ zusammenaddiert und dramatisiert in Szene gesetzt (vgl. Baur/Luedtke 2008, Connell 2006, Meuser 2010, Pömper/Jansen/Ruffing 2012). Seit der Veröffentlichung der ersten Pisa-Ergebnisse sind auch Jungen als Schulversager und Bildungsverlierer in den Blickwinkel gerückt (vgl. Budde 2005, Budde/Mammes 2012, Fegter 2012, Forster/Rendtorff/Mahs 2011). In den aktuellen Debatten wird allerdings wenig beachtet, dass Krisendiagnosen auch geschichtliche Dimensionen haben. Innerhalb der Kritischen Männlichkeitsforschung sind historische Perspektiven allerdings noch verhältnismäßig randständig. Ebenfalls hat die genderorientierte Historische Bildungsforschung Männlichkeitskonstruktionen und ihre ›Krisen‹ bislang erst wenig erforscht. Schulbezogene Krisendiagnosen, so die hier vertretene These, sind Ausdruck und Bestandteil einer zyklischen Bewegung im bildungspolitischen Diskurs. Sie werden verstärkt geführt, wenn sich gesellschaftliche Transformationen vollziehen, Verunsicherungen in den Lebenslagen davon betroffener sozialer Gruppen eintreten und wenn sich Brüche in vermeintlich stabilen Leitbildern und Orientierungsmustern einstellen. Ausgehend vom Phänomen einer hohen Selbsttötungsrate unter Gymnasiasten im Deutschen Kaiserreich wird im Beitrag der zeitgenössische ›Überbürdungsdiskurs‹, die Frage nach einer möglichen Überforderung von Schülerinnen
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und Schülern beleuchtet. Im Folgenden wird aufgezeigt, wie sich im schulbezogenen Krisendiskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts lebensreformerischschulhygienische, psychopathologische, nationalkonservative sowie reformpädagogische und berufsständische Argumentationslinien und Interessen kreuzten.
2. S CHÜLERSELBSTTÖTUNGEN IM D EUTSCHEN K AISERREICH Zunächst einige zeitgenössische Fallbeispiele: Ein 16jähriger Untersekundaner erschoss sich im Sommer 1902, weil er die Versetzung nicht erreicht hatte: »Er kehrte nach Verteilung der Zeugnisse nicht mehr in das elterliche Haus zurück, sondern ging in ein nahes Gebüsch, gab aus dem schon zur Schule mitgenommenen Revolver seines Vaters erst einen Probeschuss ab und schoss sich dann zweimal in die Schläfe. Ein Waldwärter, der auf die Schüsse herbeieilte, fand ihn tot – sein zerrissenes Zeugnis lag bei ihm, und in der Tasche eine Visitenkarte mit den Worten: ›Liebe Eltern! Verzeiht mir. Ich wusste es wirklich nicht, dass es so kommen sollte. Mein schwacher Charakter lässt es wieder nicht zu, diese Schmach zu ertragen.‹« (Zit. nach Eulenburg 1909: 16f.) »In einem anderen Fall ertränkte sich ein 15jähriger Untertertianer, über den Arreststrafe verhängt war, aus Angst vor den Schlägen des Vaters, von dem er oft strenge Züchtigungen (wegen hartnäckiger Trägheit) erfahren haben soll. Ebenso wird bei einem Untersekundaner, der sich erschoss und nur einen Bleistiftzettel ›Verzeiht mir. Ich sterbe. Schulgrund.‹ hinterließ, der Selbstmord darauf zurückgeführt, dass er [...] ›vom Vater gehörig abgestraft wurde.‹« (Ebd.: 18) »Ein 18jähriger Unterprimaner besuchte nur noch mit großer Unlust die Schule; er hatte erst zur Marine gehen wollen, war jedoch auf seine Meldung nicht angenommen worden und wollte nun Offizier werden. Das gab leider der Vater nicht zu, der vielmehr verlangte, er solle erst das Abiturientenexamen machen, und ihn so zwang, auf der Schule zu bleiben. Das Ende war ein Schuss durch die Brust.« (Ebd.: 19)
Die hier angeführten Beispiele jugendlicher Selbsttötungen im Deutschen Kaiserreich sind keine Einzelfälle. Sie entstammen den Akten des Königlich Preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegen-
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heiten.1 In diesen Akten sind die sog. ›Schülerselbstmorde‹, die sich in den Jahren zwischen 1880 und 1905 in Preußen ereigneten, sowohl fallbezogen als auch statistisch ausführlich dokumentiert: nach Schulstufen, Schulformen, Altersklassen u.ä.. In dem beobachteten Zeitraum von 26 Jahren wählten in Preußen insgesamt 1221 Schülerinnen und Schüler den Freitod – das sind rund 50 jugendliche Selbsttötungen pro Jahr, im Schnitt jede Woche eine. Allerdings gibt es beträchtliche Jahresschwankungen – von 40 Selbsttötungen im Jahre 1885 bis zu 71 Fällen im Jahr 1900. Auch ist die Verteilung nach der Geschlechtszugehörigkeit aufschlussreich: hier ergibt sich für die Altersklasse unter 15 Jahren an den höheren Schulen ein Verhältnis von 4,5 (Jungen) zu 1 (Mädchen) – was u.a. aber auch darauf zurückzuführen ist, dass im Erhebungszeitraum die Mädchenschulen nicht den höheren Schulen zugeordnet worden sind. Auch hat es den Anschein, dass über die Schülerinnenselbsttötungen vom Königlich Statistischen Bureau keine Berichte eingefordert worden sind (vgl. ebd.: 5f.). In der zeitgenössischen Wahrnehmung handelt es sich also vor allem um ein männlich dominiertes Phänomen. Die Selbsttötungen von Schülerinnen und Schülern waren jedoch keine Ereignisse, die sich auf Preußen oder Deutschland beschränkte. Die Suizide von Kindern und Jugendlichen in den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg zogen sich gleichsam wie ein ›Band‹ durch Nord- und Mitteleuropa. Sie ereigneten sich gehäuft in Finnland, Schweden, Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Lübeck sowie Braunschweig, die Mark Brandenburg, Anhalt, Thüringen, Sachsen, Niederschlesien, Böhmen und Mähren als nördliche Kronländer der Donaumonarchie und schließlich auch in Österreich sowie in östlicher Richtung bis nach Ungarn. Die Häufigkeit lag in den großen Städten, vor allem in den Haupt- und Residenzstädten durchweg erheblich über jener in den ländlichen Gebieten, vor allem in Städten wie Hamburg, Berlin, Potsdam, Magdeburg, Halle, Leipzig und Dresden, Prag, Wien, Triest und Budapest (vgl. Schiller 1992: 367). Problematisch ist die Zuverlässigkeit der Daten, auch wenn die Erhebungspraktiken im 19. Jahrhundert mehrfach verfeinert worden sind. Preußen nahm hinsichtlich der Differenzierung und Stetigkeit der Erhebungen eine führende Position ein, weshalb die jugendlichen Suizidalfälle für dieses Gebiet besonders gut dokumentiert sind: Neben den statistischen Erhebungen liegen für den Zeitraum 1880 bis 1905 insgesamt 320 ausführliche Fallrekonstruktionen von Selbsttötungen aus dem höheren Schulwesen vor, die auf Einzelberichten von Direkto-
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Die folgenden Ausführungen basieren nicht auf einer Sichtung der Originalakten, sondern auf der zeitgenössische Auswertung von Eulenburg 1909.
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ren, Klassenlehrern, Mitschülern, Angehörigen, Ärzten usw. basieren. Die Fallrekonstruktionen und Statistiken geben auch einen umfassenden Einblick in die unterschiedlichen Motivlagen der Selbsttötungen. Zwar blieben in knapp 30% der Fälle die Beweggründe unbekannt. Auch finden sich darin zahlreiche singuläre Anlässe (Verbot des Kirmesbesuchs; Zorn, eine neue Mütze nicht tragen zu dürfen). In über einem Drittel aller Fälle ist als Motiv für die Selbsttötung allerdings ›Furcht vor Bestrafung‹ angegeben – Bestrafungen wegen eines Schulvergehens oder wegen mangelnden Schulerfolgs (vgl. Eulenburg 1909: 8f.). Den Selbsttötungen wurde nicht nur im Preußischen Kultusministerium, sondern auch in der breiten Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit geschenkt. Lokale und überregionale Presseorgane berichteten vor allem nach der Jahrhundertwende kontinuierlich und ausführlich über die sog. ›Schülerselbstmordepidemie‹, vor allem, wenn es wie im Oktober 1889 gleich zu drei Suiziden an nur einem einzigen Tag kam (vgl. Schiller 1992: 22f.). Journalisten stellten die Selbsttötungen höherer Schüler aus den Kreisen des Bürgertums oftmals in einen direkten Zusammenhang zur Schule. Zeitgleich wurden die Schülertragödien romanhaft in einer Art ›sozialer Anklageliteratur‹ aufgegriffen und verarbeitet, etwa in Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891) und in Hermann Hesses Unterm Rad (1906). Diese Schriften sind nur ein Bestandteil eines Überbürdungsdiskurses, der um die Jahrhundertwende zwar seinen Höhepunkt fand, der seinen Ursprung jedoch wesentlich früher, bereits in den 1830er Jahren hatte.
3. Z UR G ENESE
DES
Ü BERBÜRDUNGSDISKURSES
Im Jahre 1836 veröffentlichte der königliche Regierungs- und Medizinalrat Dr. Carl Ignaz Lorinser aus Oppeln seine medizinisch-pädagogische Abhandlung Zum Schutze der Gesundheit in den Schulen. In seiner Schrift beklagte Lorinser insbesondere die hohe Stundenzahl in preußischen Gymnasien (im Durchschnitt wöchentlich 32-42 Stunden) sowie die Belastung der Schüler durch zu umfangreiche Hausaufgaben. Der Artikel, erschienen in der Januarausgabe der Medizinischen Zeitung, erregte großes Aufsehen und löste eine heftige Debatte zwischen Ärzten und Pädagogen aus. Im Zuge des Lorinserschen Schulstreits erschienen mehr als dreißig Gegenschriften und in der Folgezeit eine Vielzahl weiterer Abhandlungen zur Thematik ›Überbürdung‹ (vgl. Oelkers 1998: 248, Schiller 1992: 2). Friedrich Wilhelm II. von Preußen ordnete daraufhin eine Untersuchung zur Situation an den Gymnasien sowie die Erarbeitung von Maßnahmen zu ihrer Verbesserung an. Der Abhandlung Lorinsers war es u.a. zu verdanken, dass in den Schulen Turnräume eröffnet wurden und von den Schulen aus sich
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die Idee des Turnens wieder in Sportvereinen verbreitete.2 Auch wurden in Folge dieser Debatte Veränderungen in den Pausen- und Ferienordnungen erlassen sowie Stundenreduzierungen durchgeführt – allerdings bei Aufrechterhaltung der unterrichtlichen Stoffmenge. 1854 erließ das preußische Kultusministerium bspw. einen Erlass zur Verringerung der häuslichen Arbeiten (vgl. Schiller 1992: 2). Zahlreiche reformerische Impulse gingen von der Schulhygiene aus, die sich in diesem Kontext zu einem zentralen Wissenschaftsbereich entwickelte. Die von dem Arzt Lorinser mit seiner Stellungnahme ausgelöste Diskussion über die Überbürdung der Schüler bildete allerdings nur einen ersten Höhepunkt. Seine Schrift wurde zum Anlass für die in der Folgezeit immer wieder aufflammende Debatte über die schulischen Leistungsanforderungen und die Lehrmethoden – insbesondere des Auswendiglernens und der damit verbundenen Überbeanspruchung des Gedächtnisses (vgl. Arnold 1883, Franssen 1889, Leuchtenberger 1896, Möbius 1867, Schroeer 1896, Voigt 1880). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erhielt die Überbürdungsdebatte erneut starken Aufwind. Sie ging einher mit der Diskussion um die sog. ›Überfüllung‹ in den akademischen Berufen wie im Bildungswesen. Durch die Große Depression, der Wirtschaftskrise in den 1870 und 1880er Jahren, sah sich das mittlere Bürgertum in seinen Zukunftsaussichten verunsichert und verstärkt bestrebt, seine Söhne in gesicherte Staatsstellungen zu bringen. Die Folge war ein starker Andrang auf die Gymnasien und Universitäten, zunehmend auch aus dem Kleinbürgertum (vgl. Berg/Herrmann 1991: 15f.). Der Weg zu staatlichen Ämtern und Privilegien war gekoppelt an das Abitur und der damit verbundenen Studienberechtigung. Bis 1900 verlieh diese Berechtigung ausschließlich das humanistische Gymnasium, das damit eine zentrale gesellschaftliche Auslesefunktion ausübte – etwa über das Schulgeld, welches 1892 in Preußen drastisch erhöht wurde. Die Ausrichtung am Abitursexamen führte zu einer Lehrpraxis, die das Gymnasium zur reinen Paukschule, zu regelrechten ›Lernfabriken‹ verkommen ließ (vgl. Haring 1980: 32, Schonig 1998: 319f.). Kritiker bemängelten die zu großen Stoffmengen, die einseitige Auswahl der Unterrichtsgegenstände, eine zu enge intellektuelle Ausprägung des Bildungsganges, falsche Lehrmethoden sowie die Lieblosigkeit im mitmenschlichen Umgang zwischen Lehrern und ihren Schülern, die in viel zu großen Klassen zusammengepfercht waren. Zusammengenommen, so der kritische Tenor, führe dies nicht mehr nur zu der seit Beginn des 19. Jahrhunderts beklagten Überbürdung und Nervosität. Das Gymnasium schädige nicht nur Körper und Seele der ihm anvertrauten Zöglinge,
2
Öffentliche Turnvereine waren in Deutschland durch die Karlsbader Beschlüsse seit 1819 aufgrund ihrer nationalen Ausrichtung verboten, vgl. Langewiesche 2000.
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sondern es beschleunige oder bewirke sogar den Ausbruch von Geisteskrankheiten, führe zur Selbstzerstörung und schließlich zum Schülerselbstmord (vgl. Droop 1908, Gerhardt 1909, Gurlitt 1908). Das preußische Kultusministerium verschloss sich der Kritik zu keiner Zeit grundsätzlich und gab sogar mehrfach eigene Untersuchungen in Auftrag. Nachdem der Breslauer Augenarzt Hermann Cohn im Jahre 1867 die Ergebnisse seiner Untersuchung von über 10.000 Schulkindern hinsichtlich ihrer Sehfähigkeit veröffentlicht hatte, beauftragte das Kultusministerium den an der Berliner Charité wirkenden Arzt Rudolf Virchow mit einem wissenschaftlichen Gutachten über die Gesundheitspflege an den Schulen Preußens (vgl. Cohn 1867, Oelkers 1998: 249f.). Ebenso wie Cohn stellte Virchow einen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Kurzsichtigkeit und der Dauer der Schulzeit fest. Er sprach die Empfehlung aus, nicht mehr als 4 Stunden Schulunterricht am Tag zu erteilen; zudem sollten Ärzte künftig als ›Beiräte‹ in Gesundheitsfragen an Schulen fungieren (vgl. Schiller 1992: 3). Im Jahre 1879 veröffentlichte dann der Braunschweiger ›Irrenarzt‹, Geheimrat Dr. Paul Hasse, seine Abhandlung Über die Überbürdung der Schüler mit häuslichen Arbeiten. Darin stellte er die Behauptung auf, die Schule trüge Schuld an der Auslösung von Geisteskrankheiten bei Schülern der obersten Gymnasialklassen. Dieser Ansicht schloss sich die Versammlung des ›Vereins deutscher Irrenärzte‹ im Jahre 1880 einhellig an (vgl. ebd.). Der seinerzeit amtierende preußische Kultusminister, Robert Viktor von Puttkammer hatte zwischenzeitlich eine eigene Umfrage in Auftrag gegeben und die Leiter öffentlicher ›Irrenanstalten‹ gebeten, zu den Vorwürfen und Behauptungen Stellung zu nehmen. Paul Hasses Annahmen eines Zusammenhangs von Schulbelastung und Geistesstörung wurden dadurch allerdings nicht bestätigt. Im Gegenteil wurde ihm unwissenschaftliche Beweisführung vorgeworfen, u.a. wegen der geringen Zahl an Fallstudien, auf deren Basis er argumentierte (vgl. Schiller 1992: 6). Doch hatten sich die preußischen Kultusminister von dem Augenblick an, an dem die Behauptung aufgestellt wurde, zwischen der Schülerüberbürdung und Geisteskrankheiten einerseits sowie Selbstmordhandlungen andererseits bestünde ein enger Zusammenhang, mit dem Problem befasst. Der Nachfolger Puttkammers im Amt, der nationalkonservative Kultusminister Gustav von Goßler, beauftragte im Jahre 1882 seine Administration mit der Erarbeitung einer Denkschrift, betreffend die Frage der Überbürdung der Jugend an unseren höheren Schulen. Zu diesem Zweck wurde eine zwölfköpfige Untersuchungskommission eingesetzt, der u.a. wiederum Rudolf Virchow angehörte und die im Dezember 1883 Bericht erstattete. Der Untersuchungsbericht
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berücksichtigte im Schwerpunkt vier Aspekte des Schullebens (vgl. Virchow, u.a. 1884): • • • •
Ausmaß der Leistungsanforderungen Klassenfrequenzen Fachlehrersystem Spezialisierung des Unterrichts als Folge der Wissenschaftsentwicklung
Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen den Leistungsanforderungen an den höheren Schulen und gesundheitlichen Schäden bei Schülern gäbe. Sie sprach zudem konkrete Empfehlungen für Schulreformen aus – zu Begrenzung der Klassengrößen, hinsichtlich des Einschulungsalters, zu Pausenregelungen sowie zur altersgemäßen Begrenzung von Hausaufgaben (vgl. ebd., 254f.). Für einen Zusammenhang zwischen den Überbürdungstendenzen und den Selbsttötungen konnten allerdings keine statistischen Belege erbracht werden. Das Kultusministerium beauftragte daraufhin das Königlich Preußische Statistische Bureau, Ursachenforschung zu betreiben. Zu diesem Zweck erfolgten 1884 zwei Erlasse zur Berichtspflicht der Schulen: •
•
Bei Suizidfällen bzw. -versuchen hatten die Direktoren künftig die Pflicht, Nachforschungen über die Tatmotive zu stellen, insbesondere ob ein Zusammenhang der Vorgänge zur Schule bestünde; die Ergebnisse der Ermittlungen waren dem Provinzial-Schulkollegium und dann dem Ministerium zu melden Bei Anzeichen von Geisteskrankheiten bei Schülern sollte ebenfalls eine vertrauliche Anzeige an den Vorsitzenden des Provinzial-Schulkollegium erfolgen (vgl. Schiller 1992: 15).
Am 10. November 1884 erließ das preußische Kultusministerium schließlich einen Runderlaß behufs Verhütung der geistigen Überbürdung der Schüler. Der Erlass regelte Erholungspausen und Zeitdauer der häuslichen Arbeiten auf der Basis der Vorschläge der Untersuchungskommission. Zudem wurde eine ›individualisierte Behandlung‹ der Schüler empfohlen. Indirekt wurden auch die schematischen Lehrmethoden kritisiert: »Diese Reformen blieben aber ebenso aus wie die Bereitschaft der Gymnasiallehrer zu einer durchgreifenden Veränderung ihres Unterrichtsverhaltens, auf die sie im Rahmen der Lehrerausbildung auch gar nicht vorbereitet wurden.« (Ebd.: 16)
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4. D IAGNOSEN , K ONTROVERSEN
UND
L ÖSUNGSANSÄTZE
Betrachtet man die Geschichte des Überbürdungsdiskurses ist augenfällig, dass sich daran höchst unterschiedliche Protagonisten, berufsständische und politische ›Lager‹ beteiligten: Zunächst waren es Ärzte, die sich zu Anwälten der ›überbürdeten‹ Schüler machten, die Schriften mit Warnungen und Empfehlungen verfassten und Untersuchungen im Kultusministerium anregten bzw. sich daran beteiligten. An ihre Seite traten Politiker der liberalen Richtungen mit der Erwartung, dass die benannten Mängel eine Reform des Schulsystems anstoßen könnten. Pädagogen meldeten sich hingegen verhältnismäßig spät zu Wort. Ihr Votum war zudem nicht einheitlich, sondern erwies sich als durchaus gegensätzlich. Neben Sprecher und Befürworter der verschiedenen Schulreformbewegungen traten Gymnasiallehrer, die die Vorwürfe als willkürlich und unbegründet abwiesen. Hinsichtlich des Ausmaßes des Überbürdungsphänomens entfachte sich eine mitunter hitzige Debatte, die mit gegenseitigen Schuldzuweisungen einherging. Besonders lebhaft diskutiert wurde die Frage, wo die grundlegenden Ursachen der Überbürdung zu finden seien: In den Schülern selbst? In den Elternhäusern? In den Schulen? Im sozialen Milieu? Es lassen sich zumindest vier Argumentationslinien markieren: 4.1 Lebensreformerisch-schulhygienische Argumente Diese Argumente und Forderungen fokussierten die äußeren Rahmenbedingungen von Schule sowie die Struktur der Unterrichtsgestaltung. Kritisiert wurde vor allem der mangelnde körperliche Ausgleich der Schüler: das lange Sitzen auf engen Bänken in überfüllten Klassen bei schlechter Luft, die hohe Stundenzahl sowie die übermäßige Belastung durch Hausaufgaben. Dies führe etwa zu folgenden somatischen Gesundheitsschädigungen: Kurzsichtigkeit, Wirbelsäulenverkrümmung, Störung der Verdauungsorgane, schlechte Blutbereitung, Schlaflosigkeit, verlangsamte Atmung, verminderte Sekretion, Stauung des Blutes, verminderte Esslust, Kopfschmerzen, Ermüdung, Störung der Blutzirkulation, Lichtscheuheit, Schwindel, Übelkeit, Verstopfung, Nackenschmerzen, Pulsunregemäßigkeiten. In den starren Schulbänken würden zudem Heerscharen von Onanisten herangezüchtet. Die schulhygienischen Forderungen der Ärzte lauteten entsprechend: mehr Luft, Licht, Sonne und Wärme in den Klassen, neue Schulbänke und kleinere Klassen, mehr Pausen und vor allem Bewegung – durch Gymnastik und körperliche Ertüchtigung. Da die heranwachsenden Schüler in ihrer Zukunft auch militärische Aufgaben zu erfüllen hatten, wurde schuli-
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sche Erziehung auch zur nationalen Angelegenheit (vgl. Hasemann 1884, Möbius 1867, Virchow 1869, Fröhlingsdorff 1973). 4.2 Psychopathologische Argumente Seit den 1880er Jahren verlagerte sich die Überbürdungsdebatte von den ›Hygienikern‹ hin zu den Psychiatern. Als eigentliche Ursache einer Überlastung wurden mehr und mehr geistig-seelische Erkrankungen angenommen – nicht zuletzt aufgrund der Selbsttötungen von Schülern. Zu den Symptomen geistiger Überbürdung zählten u.a.: »Unter diesen bezeichne ich den Kopfschmerz in erster Linie; daneben das Gefühl von Oede und Leere im Kopfe; Taumel und Schwindel und grosse Unbesinnlichkeit. Im Gemüthtsleben Uebellaunigkeit und hochgradige Reizbarkeit. [...]. Anstatt Angst finden wir nur eine gewisse Unbehaglichkeit, eine Unsicherheit, eine gewisse ängstliche Unruhe, die aus dem dunklen Gefühle der bevorstehenden schweren Erkrankung resultirt und bestimmte Beziehungen nicht nachweisen lässt. [...]. Im Körperlichen finden sich verstärkt Herzactionen, kleiner, harter Puls, heisser Kopf, kühle Extremitäten, weite Pupillen, retardierte Verdauung. Als gleichzeitige Krankheitsursache oder Krankheitssymptome [...] in drei Fällen hochgradige Erregungen im Geschlechtsleben.« (Hasse 1880: 26) »Ebenso bezeichnend sind die Mittheilungen, welche mir die jungen Leute selbst über ihre Krankheit gemacht haben: wie hoch die Anforderungen gewesen seien, welche man an sie gestellt habe; wie schwer und wie sauer es ihnen geworden sei, denselben gerecht zu werden; wie sie allmälig selbst gefühlt hätten, dass ihre Kräfte nachließen, dass sie Wochen hindurch an den heftigsten Kopfschmerzen gelitten hätten; wie ihnen Abends bei der Lampe schließlich Alles vor den Augen verschwommen sei; wie sich Funkensehen und Ohrensausen eingestellt hätte u. dergl.« (Ebd.: 28f.)
Mit verschiedenen Ermüdungsmessungsverfahren versuchten Psychiater das Phänomen wissenschaftlich zu ergründen (vgl. Höpfner 1893, Manoff 1899, Mosso 1892). Die eingesetzten Therapiemaßnahmen zeitigten allerdings nur wenige Erfolge und zeugen eher von der Hilflosigkeit in der Entwicklung geeigneter Maßnahmen: Unterbrechung des Schulbesuchs, diätische Maßnahmen (frische Luft, Ernährung, lauwarme Bäder), Blutegel, Abführmittel oder das Aufsetzen einer Eiskappe (vgl. Hasse 1880, Fröhlingsdorf 1973: 56f.).
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4.3 National-konservative Argumente Zu den vehementesten Verteidigern des bestehenden Schulsystems zählten zweifelsohne die Oberlehrer der humanistischen Gymnasien. Zusammen mit ihren Verbandsvertretern leisteten sie wirksamen Widerstand gegen Schulreformen. Sie verhinderten 1890 beispielsweise die Gleichstellung von Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen (vgl. Schiller 1992: 372). Eigene Fehler stellten sie gewöhnlich schroff in Abrede. Die Vorwürfe der Überbürdung durch die Schulen wurden mit folgenden Argumenten zurückgewiesen: Erbliche Belastungen der Schüler
Die langen Studienzeiten und das späte Heiratsalter – so die Argumentation – bewirke ein lasterhaftes Junggesellenleben mit Zechgelagen und sexuellen Ausschweifungen. Viele Kinder kämen in Folge dessen erblich belastet zur Welt, mit Dispositionen zur Nervosität, Willensschwäche und geistiger Minderwertigkeit. Wenn solche Kinder Gymnasien besuchten, seien sie den Anforderungen nicht gewachsen. Die Misserfolge führten zu Strafen, Privatunterricht und zu erhöhten Arbeitspensen. Darunter würden die Schüler schließlich zusammenbrechen. Die eigentliche Ursache für die Schülerselbstmorde sei demnach in erblichen Belastungen zu sehen (vgl. Budde 1908: 12f.). Schuld der Elternhäuser
Nervosität und psychopathische Störungen der Kinder – so ein weiteres Argument – beruhten auf einer falschen Erziehung. Die Überbehütung von Einzelkindern etwa führe zu weniger Selbständigkeit derselben. Solche Schüler seien für die Anstrengungen des Lernens zu verweichlicht. Kritisiert wurde zudem der falsche Ehrgeiz von Eltern, die den Gymnasien ›ungeeignetes Schülermaterial‹ zuführen würden. Unbegabte Schüler würden ihre Studien falsch betreiben, bummeln, sie müssten Nachhilfeunterricht nehmen und hätten eine geringere Frustrationstoleranz (vgl. ebd.: 15f.). Falsche Lebensweise
Kritisiert wurde weiterhin die Lebensweise der Gymnasialjugend, vor allem in den Großstädten. Der abendliche Besuch von Theatern und Lokalen, der Konsum von Musik und sog. ›Schundliteratur‹ führe zur Überreizung der Nerven. ›Kneipereien‹ mit Alkohol und Nikotin in Schülerverbindungen raubten den Schlaf und erzeugten bleiche und müde Gesichter. In der nächtlichen Halbwelt lauerten zudem die Gefahren von Freudenmädchen und Geschlechtskrankheiten (vgl. ebd.: 22f.). Das Fazit eines Gymnasiallehrers lautete:
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»Wer’s nicht aushalten kann, lasse das Studiren. Wir Schulmänner haben allen Grund, die Selbstständigkeit unseres Urtheils zu wahren und die Aerzte, die mit ihrem Geschrei von Zeit zu Zeit die Welt erfüllen, aus unserem Revier zu halten.« (Zit. nach Hasse 1880: 57)
4.4 Reformpädagogische Kritik Seit dem letzten Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende – erinnert sei an dieser Stelle auch an die Reichschulkonferenz von 1890 – griffen verstärkt auch reformorientierte Pädagogen und Politiker in den Überbürdungsdiskurs ein. Schon im Februar 1888 übergab der ›Geschäftsausschuss für deutsche Schulreform‹ dem preußischen Kultusminister von Goßler wie auch dem Reichkanzler eine Massenpetition. Unterzeichner waren u.a. Magistrate der Handelskammern, Kaufleute, Ingenieure, Fabrikanten, Bankiers, Ärzte sowie rund 2.300 Lehrer, allerdings nur 291 Gymnasiallehrer (vgl. Schiller 1920: 20). Die Forderungen sind in der Bildungsgeschichte geläufig: Verringerung der Stundenzahl für altsprachliche Fächer, Förderung des naturwissenschaftlichen und neusprachlichen Unterrichts, Lockerung der Versetzungsbestimmungen, Wahlmöglichkeiten in den Fächern an höheren Schulen, Abschaffung der Extemporalien, Erleichterung der Abituranforderungen, Änderung und Individualisierung der Unterrichtsmethoden zugunsten größerer Schüleraktivitäten, ganzheitliche Lehrmethoden u.v.a.m. (vgl. Skiera 2010, Schonig 1998). Stellvertretend für diese Positionen sei an dieser Stelle ein Zitat von Ludwig Gurlitt angeführt. Der Direktor des Steglitzer Gymnasiums ist in der Bildungsgeschichte vor allem als Mentor des Wandervogels, der bürgerlichen Jugendbewegung bekannt. In mehreren Schriften verfasste er nach der Jahrhundertwende zudem teilweise polemische Abrechnungen mit dem deutschen Gymnasialwesen: »Pedanterie, Rechthaberei, kleinlicher Starrsinn – das sind die Tugenden der gewissenhaften Lehrer, mit denen die tadellosesten Schülerhefte, aber auch – der Selbstmord der Schüler begründet werden. Mit anderen Worten: es herrscht das Reglement und der Buchstabe des Gesetzes. [...] Ich sage also und wiederhole: der Fehler liegt im System.« (Ebd.: 20f.)
5. F AZIT Als vorläufige Zwischenbilanz des hier aufgeworfenen Problemfeldes kann festgehalten werden: Schüler von humanistischen Gymnasien waren im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in der Regel einem kinderfeindlichen, einseitig intellektualistischen, bürokratisch organisierten, lebensfernen, normierten und repres-
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siven Unterrichtsgeschehen ausgesetzt. Elterliche Zukunftsprojektionen, erwartete Schulkarrieren, hohe Lernpensen bei einseitigen Lehrmethoden und autoritärem Lehrerverhalten, Leistungsdruck und -kontrolle führten bei den heranwachsenden Knaben nicht selten zu schulischem Fehlverhalten – zu Schulmüdigkeit und Schulversagen in Form von schlechten Noten und nicht bestandenen Prüfungen. Darauf folgende Sanktionen seitens der Eltern und der Lehrerschaft durch körperliche Strafen, Freiheits- und Liebesentzug, Drohungen, Verachtung und emotionale Kälte konnten bei den ›Bildungsverlierern‹ unter den Gymnasiasten weit reichende biografische Krisen auslösen – Krisen aufgrund von physischen und psychischen Verletzungen und Verstörungen, Krisen die zu negativen Selbstbewertungen führten, Krisen in denen viele Schüler nur den Freitod als Ausweg fanden. Die sich an den gehäuften Schülerselbsttötungen erhitzende Überbürdungsdebatte kann auch als Ausdruck einer grundlegenden Krise im zeitgenössischen Bildungswesen gedeutet werden – ausgelöst durch mannigfache politische, soziale, kulturelle und ökonomische Transformationen und Zersetzungen im Modernisierungsprozess der deutschen Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bildung als elitäres Gut einer sich damit identifizierenden, bildungsbürgerlichen Schicht büßte in diesem Prozess seine gesellschaftliche Exklusivität zunehmend ein – durch neue, an den modernen Naturwissenschaften und Sprachen orientierte Inhalte, die neue berufliche und damit auch soziale Aufstiegschancen eröffneten. Der Überbürdungsdiskurs ist auch ein Spiegel von unterschiedlichen Reaktionen auf diese vielfach als Krise wahrgenommen Veränderungen in den Teilhabemöglichkeiten an gesellschaftlichen Ressourcen. Gegen geplante ›Eingriffe‹ in das eigene berufliche Kompetenzfeld durch (Schul-)Mediziner schottete sich die an traditionalen Inhalten und Methoden ausgerichtete Gymnasiallehrerschaft beispielsweise ebenso ab wie gegenüber einer vermeintlich drohende ›Vermassung‹ von Bildung durch den Ansturm neuer sozialer Schichten auf das höhere Schulwesen und die ›Überproduktion‹ von Akademikern. Inwiefern die biografischen Krisen der Gymnasialschüler für die Krise eben jenes Bildungsbürgertums stehen, gar für die Krise einer spezifischen Ausformung von Männlichkeit im Deutschen Kaiserreich, kann hier nur hypothetisch vermutet werden. Aufschluss in dieser Frage könnte eine erneute Sichtung der zeitgenössischen Akten zu den Schülerselbsttötungen geben.
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Männlichkeiten und Sexualerziehung Lösungsstrategien ambivalenter Unterrichtserwartungen M ARKUS H OFFMANN »Es handelt sich nach den Lehrplänen um ein fächerübergreifendes Themenfeld, das wahlweise im Biologie-, Ethik-, oder Sozialkundeunterricht angeboten werden kann. Wie viele Stunden dafür eingeplant werden sollen, legen die Lehrpläne nicht fest, sie bestimmen nur, dass das Thema überhaupt angeboten werden muss […]. Auch über die genauen Inhalte des Unterrichts werden nur recht allgemeine Aussagen getroffen.« FAZ, 04.01.2013
M ÄNNLICHKEITEN UND S EXUALERZIEHUNG – S KIZZE EINER AMBIVALENZ Folgt man dem Tenor sozialwissenschaftlicher Theorien zu Männlichkeit, besteht eine der größten Herausforderungen männlicher Jugendlicher im Erlernen des Umgangs mit Sexualität. Als Herausforderung deshalb, weil den »Umgang mit Sexualität [zu] lernen« (Fend 2005: 254) eine der zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters ist, die jeder Jugendliche bewältigen muss. Damit einher geht gleichzeitig ein Erlernen des Umgangs mit einer entsprechenden Darstellung. Angeeignet werden muss, wie in unterschiedlichen Personenkon stellationen (Familie, Klassenkameraden, Freunde) über Sexualität gesprochen werden kann, welches Verhalten positiv oder negativ aufgenommen wird. Eine spezifische, geschlechtlich vereindeutigende Form der Darstellung ist besonders in der geschlechtshomogenen männlichen peer-group von großer Bedeutung (vgl. Neubauer/Winter 2001). Als Mann bzw. männlich anerkannt zu
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werden, ist für Jugendliche als zentrale Entwicklungsaufgabe eng an strukturelle Vorgaben geknüpft: Nicht alles, was ein junger Mann darstellt, wird genuin als männlich durch die peers auch anerkannt. Mann-Sein bedeutet daher für Jugendliche zunächst Mann-Werden. Empirische Beobachtungen von Jungengruppen stellen im Zuge der Anerkennung von Männlichkeit und der Aufgabe des MannWerdens die Abgrenzung gegenüber Homosexualität als konstitutiv heraus (vgl. Schmauch 2008: 78). Dabei geht es nicht primär um das faktische HeterosexuellSein, sondern um die Darstellung von Heterosexualität. Analysen von männlichhomogenen peer-groups konstatieren einen hohen normativen Druck zu einer heterosexuellen Inszenierung und eine Sanktionierung von allem nichtheterosexuell Identifizierbaren (vgl. Kastirke/Holz 2010). Meuser konstatiert: »Im homosozialen Kontext [wird] ein potentiell breiteres Verhaltenspotential eingeschränkt. Die Strukturübung besteht darin, dass Kontingenzen ›vernichtet‹ werden — in Richtung der Strukturlogik hegemonialer Männlichkeit.« (Meuser 2006: 174)
Homosexualität abzulehnen – präziser: eine Ablehnung öffentlich darzustellen – hat in diesem Zusammenhang eine zentrale Funktion in der Absicherung der eigenen Männlichkeit für die Jungen inne. Diese empirischen Beobachtungen lassen sich an Connells Überlegungen zur Herstellung unterschiedlicher Männlichkeiten in Interaktionen anschließen (vgl. Connell 2006). Connell entwirft ein Modell pluraler Männlichkeiten, die zueinander in Verbindung stehen, jedoch auch hierarchisiert angeordnet sind. Dabei ist Sexualität eines der wirkmächtigsten Distinktions- und Positionierungsmerkmale: Einher mit der Zuschreibung von Homosexualität geht die Zuweisung von ›marginalisierten Männlichkeiten‹. Diese Form von Männlichkeit wird allen anderen gegenüber untergeordnet. Weiter können die empirischen Befunde unter Theorien zu Heteronormativität verortet werden. Darin ist die Darstellung von Begehren zum anderen Geschlecht konstitutiv zur Anerkennung der eigenen, differenten Geschlechtsgruppe (vgl. Budde 2003) – der Jugendliche liebt ein Mädchen, also ist er ein Junge. Empirische Beobachtungen beschreiben, dass die Zuschreibung homosexuell zu sein von männlichen Jugendlichen innerhalb der Peer-Gruppen gegenüber anderen Zuschreibungsprozessen (Ethnizität, Religion usw.) am vehementesten abgewehrt wird (vgl. Fritzsche/Tervooren 2006). Dies gilt – wie neuere Studien zeigen – bereits für männliche Grundschüler (vgl. Michalek 2009: 64f.). Mit dieser absichernden Darstellung von Sexualität (gemeint ist dabei sowohl die Darstellung als heterosexuell bzw. die Darstellung der Verwerfung von Nicht-Heterosexualität) geht die Notwendigkeit einer bestimmten Öffentlichkeit einher – eine ›Bühne‹, auf der für andere sichtbar etwas dargestellt werden kann.
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Nur in öffentlicher Interaktion ist die Bestätigung (oder Infragestellung) von Männlichkeit durch Dritte zu erfahren und kann von den Jungen modifiziert werden. Unterricht ist durch die Zwangsvergemeinschaftung der Jugendlichen ein Ort, an dem öffentliche Selbstdarstellungen stattfinden. Unterrichtliche Interaktion ist immer auch durch »doppelte Adressatenschaft« (Breidenstein/Kelle 2002: 327) gekennzeichnet, in der kommunikative Beiträge sowohl Sprechakt an die Lehrperson als auch Inszenierung vor den Mitschüler_innen darstellt. Schulische Sexualerziehung soll gemäß den politischen Rahmenrichtlinien Homosexualität als fächerübergreifende Thematik behandeln (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2012). Im nordrhein-westfälischen Schulgesetz wird dabei dem Thema Homosexualität im Speziellen, aber auch Sexualität insgesamt eine positive, wertschätzende Konnotierung zuteil. Sowohl curriculare Vorschriften als auch ministerielle Empfehlungen zur Durchführung der Unterrichtsreihe ›Sexualerziehung‹ gehen jedoch nicht auf die oben skizzierte Bedeutung einer Ablehnung von Homosexualität für Jungen ein. Feststellbar ist vielmehr eine ausschließlich affirmative Beschreibung der Unterrichtung, die keine Rückschlüsse auf unterrichtliche Besonderheiten deutlich werden lässt. Die sexualpädagogische Ausbildung angehender Lehrer_innen kann als unzureichend markiert werden (vgl. Schmidt 2008: 558). Lehrer_innen werden auf die Themeneinheit Sexualerziehung nicht ausreichend vorbereitet. Die später vorgestellten Daten bilden dabei einen Teilaspekt von strukturellen Besonderheiten dieser Unterrichtsreihe ab, die mit ganz spezifischen Anforderungen wie Überlegungen zur Leistungsfeststellung, zur Sozialform, zum eigenen Rollenverständnis oder zur Nähe-Distanz-Thematik einhergeht. Die Feststellung, dass auch Lehrende sexualerzieherisch tätig werden sollen, die nicht Biologie unterrichten, erfolgt oftmals erst in der Schule selbst. Lehrer_innen sehen sich im Unterricht mit einer Situation konfrontiert, ein Thema zu vermitteln, das keineswegs als »›normales‹ Thema in den Schulen« (Schmidt 2008: 558) angesehen wird. Darüber hinaus wird durch derzeitige gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskussionen dem Thema Sexualität in pädagogischen Verhältnissen insgesamt eine tendenziell problematisierende Konnotation zuteil. In diesem problematischen und problematisierten Kontext obliegt es nun aufgrund des fehlenden Ausbildungswissens den eigenen Deutungen der Lehrenden selbst, wie sie die Unterrichtsreihe gestalten. Wenig verwunderlich ist nun, dass das Thema ›Homosexualität‹ im offiziellen Schulunterricht kaum Aufmerksamkeit erfährt. Die Themenreihe Sexualerziehung zeichnet sich – trotz der affirmativ-ganzheitlichen Rahmenvorgaben – durch eine mehrheitlich monothematische Orientierung an biologischen Sach-
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verhalten und das tendenzielle Nicht-Ansprechen von kontrovers diskutierten Themen aus (vgl. BZgA 2010). »Bei solchen ›Verkürzungen‹ bleiben gerade die spannenden (weil normbezogenen und konflikthaltigen) Fragenkomplexe auf der Strecke: Homosexualität, Abtreibung, sexuelle Gewalt usw.« (Schmidt 2008: 561f.). Mit obiger Skizze der Bedeutung von Homosexualität und deren öffentliche Darstellung der Ablehnung für Jungen stellt sich dieser Unterrichtsgegenstand widersprüchlich dar: Einerseits sollen Lehrer_innen diesen Inhalt in einem positiven Unterrichtsklima thematisieren (vgl. Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 1999: 13), andererseits hat die klassenöffentliche Ablehnung für Jungen eine hohe Bedeutung. Anhand der folgenden empirischen Beispiele sollen zwei grundsätzlich unterschiedliche Bearbeitungen dieser Widersprüchlichkeit durch Lehrer_innen vorgestellt werden. Damit soll die These einer Ambivalenz plausibilisiert werden: Die curricularen Vorgaben der Behandlung bestimmter Thematiken sind mit spezifischen Problemen in der realen Umsetzung durch die Lehrenden verbunden. Der Umgang der männlichen Schüler mit dem Thema Homosexualität führt zu individuell zu lösenden unterrichtlichen Handlungsaufforderungen seitens der Lehrenden, die die curricularen Vorgaben ad absurdum führen. Das Thema lässt ein vorgesehenes »Klima, das die Vielfalt sexueller Möglichkeiten achtet« sowie als »entscheidend […] vor allem persönliche Vertrauensbeziehungen« ansieht (ebd.) als wenig am realen Unterrichtsgeschehen orientiert erscheinen. Aufgrund der bislang fehlenden erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Beschreibungen der Lehrenden-Perspektive auf diese Unterrichtsreihe können qualitative Analysen dieser Lehrenden-Perspektive neue Aspekte in die wissenschaftliche Diskussion einbringen. Darüber hinaus beantwortet die Analyse die Frage, wie Lehrer_innen durch die Folgen unterschiedlicher AnerkennungsModi hegemonielle Männlichkeitskonstruktionen reifizieren oder verwerfen können.
Q UALITATIVE F ALLANALYSE AMBIVALENTER H ANDLUNGSAUFFORDERUNGEN Die folgenden beiden Strategien im Umgang mit dem Unterrichtsthema Homosexualität entstammen qualitativen Interviews, bei denen die Interviewtechniken von Expert_inneninterviews (vgl. Gläser/Laudel 2010) und problemzentriertem Interview (vgl. Witzel 2000) zusammengeführt wurden. Durch diese Interviewkombination wurde gewährleistet, dass auch Deutungsmuster von Lehrenden,
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die sich gegen die Behandlung des Themas Homosexualität im Unterricht entscheiden, prinzipiell eingeholt werden können. Zu betonen ist, dass keine Beobachtung von realem Unterricht erfolgt, sondern das Sprechen von Lehrenden über ihre Erfahrungen beim Unterrichten von Sexualerziehung am Ende der Sekundarstufe I Datengrundlage ist. Die folgenden Ergebnisse sollen außerdem keine Aussagen hinsichtlich scheinbarer Spezifika soziodemographischer Gruppen liefern; sie sollen – und dürfen – nicht als Repräsentanten für Gruppenkonstruktionen wie »Männer« und »Frauen« oder »Alte« und »Junge« gelten. Eine »soziogenetische Typenbildung« (Bohnsack 2007: 250) ist aufgrund des bislang kaum analysierten Forschungsgegenstandes sowie einer soziogenetischen Reifizierung von Zuschreibungen nicht beabsichtigt. Wenn im Folgenden von ›Stefan Sch.‹ und ›Vera M.‹ geschrieben wird, stehen diese nicht für eine geschlechtstypisierende Herangehensweise, sondern vielmehr im Sinne einer »maximalen Kontrastierung« (Kelle/Kluge 2010: 48) als zwei Lösungen des oben skizzierten Handlungsproblems von Lehrenden. Strategie I: absichtsvolle Konfrontation Als erste Lösung des Handlungsproblems wird ›Stefan Sch.s‹ Herangehensweise fokussiert. Aus den Schilderungen Stefans lassen sich drei Charakteristika des Denkens über seine männlichen Schüler herausarbeiten: Das prinzipielle Interesse am Thema Sexualität, ein als entproblematisiert wahrgenommener Umgang mit Sexualität durch die Jungen sowie die Bedeutung schulischer Aufklärung für die Schüler im Verhältnis zur elterlichen Aufklärung. Die Unterrichtsreihe ist für Stefan durch eine Offenheit der Schüler dem Thema gegenüber gekennzeichnet. Stefan beschreibt ein positives Empfinden der Jungen, sich dem Thema zu widmen. Sie »genießen« es, sich im Unterricht zu »öffnen«. Dies gelte auch für die Rückmeldung der Ko-Lehrerin über die Schülerinnen. Den männlichen Jugendlichen spricht Stefan einen Umgang mit Sexualität zu, der unter anderem durch verschiedene weibliche Sexualpartnerinnen geprägt sei, was von Stefan als »unproblematisch« benannt wird. Für Stefan ist Partnerinnenwechsel bei seinen Schülern gerade konstitutiv für die Entwicklungsphase ›Jugend‹. Sexualität wird aus Stefans Sicht von den Jugendlichen durchweg positiv konnotiert und stellt sich im konkreten Umgang als unproblematisch dar. Sexualität – so kann man Stefans Aussagen insgesamt betrachten – ist für die Jungen keine ›besondere‹ Herausforderung, sondern ein der Lebensphase inhärenter Teil, der weder mit Gefahr noch Unvorsichtigkeit einhergeht. Stefans Schilderungen der Jugendlichen zeichnet diese als in hohem Maße reflexiv im
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Umgang mit ihrer Sexualität aus. Probleme im Verhältnis zu Sexualität werden in Stefans Wahrnehmung einzig über die Jugendlichen (durch Medien, Erwachsene usw.) berichtet, die Jugendlichen selbst und ihr Verhältnis sowie ihren Umgang mit Sexualität nimmt Stefan als unproblematisch wahr. Stefans Strategie im Umgang mit dem Unterrichtsthema Homosexualität Insgesamt sieht Stefan bei seinen Schülern ein positiv besetztes Verständnis von Sexualität sowie einen sicheren Umgang damit. Einzig das Thema Homosexualität bildet in Stefans Wahrnehmung eine Ausnahme: »Stefan: Mhm, also diesen Punkt würd ich DEFINITIV nicht unter ›Probleme der Sexualität‹ stellen. Int: Das ist ›Homosexualität‹, ich sag das wegen dem Diktiergerät, damit ich weiß// Stefan: Ah Okay! Ja! Ähm, sondern als ne völlig ... völlig normale andere Form der Sexualität. So. Und, das soll ruhig auch ein großer Block sein … ähm … denn, da muss man natürlich// also ich mein gerade bei jugendlichen Schülern, … äh, … die leben sozusagen ja von diesen Vorurteilen einfach ja auch. Also da bringen die ja auch ganz viel von irgendwo auch mit. Ähm, und insofern das als ganz normal darzustellen finde ich ist eine der wichtigsten Punkte sozusagen. Eigentlich dann sogar bei dem// in dem Bereich, ja?«1
Ohne dass der Interviewer die Aufmerksamkeit Stefans auf das Thema lenkt, betont Stefan bei der Betrachtung einer dem Interview zugrunde liegenden Schulbuchseite die Entschiedenheit, aus der heraus er das Thema Homosexualität nicht als optionales Thema, sondern als bedeutungsvoll innerhalb der gesamten Thematik erachtet. Sozialisatorische Hintergründe der Jugendlichen können als Ursachen herausgearbeitet werden, warum dem Thema ein großer Block gewidmet wird. Prozesshaft beschreibt Stefan, dass die Jungen »ganz viel von irgendwo mitbringen«. Unter Einbeziehung des unmittelbar vorher gesagten Wortes des »Vorurteils« wird klar, dass es sich hier um Einstellungen handelt, die Jugendliche ausgebildet haben. Dabei ist geradezu idealtypisch durch Stefans Wortwahl des »Mitbringens« eine sozialisatorische Doppelstruktur beschrieben: Mitbringen verweist sowohl auf die passive Komponente – die Jugendlichen sind Träger von etwas Drittem, was ihnen zunächst nicht inhärent ist – als auch
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Die Interviewpassagen entstammen meines laufenden, noch nicht veröffentlichten Dissertationsprojekts und werden daher in diesem Artikel ohne Quellenverweis angegeben.
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auf die aktive Seite (die Jugendlichen selbst tragen etwas von einem Punkt zu einem anderen). Stefan beschreibt damit die Herausbildung von Vorurteilen im Kontext der Persönlichkeitsentwicklung als sozialisatorischen Prozess (vgl. Hurrelmann 2002). Dass Stefan Sozialisation nicht statisch, sondern dynamisch und eben prozesshaft sieht, plausibilisiert seine Aussage, das Thema Homosexualität als »großen Block« anzusehen – bei einer Auffassung von nicht veränderbaren Einstellungen wäre eine (pädagogische) Bearbeitung vergeblich. Zu präzisieren ist, wie Stefan »Vorurteile der Schüler« versteht. Klärung bringt die unmittelbar nachfolgende Aussage: »und insofern das als ganz normal darzustellen«. Die Verknüpfung mit »und insofern« verbindet das bereits Gesagte mit dem nun Gesagten und führt mit der Deutung des »als ganz normal darstellen« das an, was bei den Jungen nicht vorliegt. Stefan betont Homosexualität als normal darzustellen, weil die Schüler diese Einstellung nicht mitbringen. Stärker noch: Die Jungen »leben« von »diesen Vorurteilen«. Die Bedeutung des »davon leben«, verstanden als unbedingte Notwendigkeit einer Anerkennung als Junge, ist kontextuell als das Ablehnen von Homosexualität i.S. eines Distinktionsmerkmals zu deuten. Stefan bringt damit das in männlichen peergroups auffindbare Merkmal der Ablehnung von Homosexualität zur Konstitution eigener, abgesicherter Männlichkeiten zum Ausdruck (vgl. Jösting 2007, Connell 2006, Bourdieu 2005). Er markiert dieses Thema als besonders bedeutend für die schulische Sexualerziehung. Durch seine Auffassung des ansonsten kompetenten jugendlichen Umgangs mit Sexualität und seiner entproblematisierten Wahrnehmung der Schüler ist seine Handlungsweise (und damit seine Lösung der Ambivalenz positive Vorgabe der Unterrichtung sowie existenzielle Bedeutung der Ablehnung durch Jungen) die absichtliche Konfrontation und Auseinandersetzung der Schüler mit diesem Thema. Weil die Schüler insgesamt als sehr urteilsfähig mit sexuellen Themen anerkannt werden, konfrontiert er diese in einem längeren Block mit ihren Vorurteilen gegenüber der Thematik. Strategie II: absichtsvolles Meiden Als maximal kontrastiv ist die Problembewältigung von ›Vera M.‹ einzuschätzen. Das Sprechen von Vera über ihre männlichen Schüler ist durchweg durch zugeschriebene Defizite gekennzeichnet. Diese Defizite seien sowohl biologischer Natur (»geringer IQ«, »fehlende Ur-Veranlagung«) als auch sozialer (»beziehungsgestört«). Bei den sozialen Defiziten spielen die Eltern für die Lehrerin eine entscheidende Rolle: In Veras Wahrnehmung zeichnen sich die Eltern durch Abwesenheit in unterschiedlichen Dimensionen (zeitlich, räumlich, interpersonell) aus. Ein für Vera entscheidender Punkt ist die Vorbildfunktion bzw. das
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Rollenlernen, bei welchem nach Vera die Heranwachsenden nahezu alle Persönlichkeitsmerkmale vom elterlichen Vorbild übernehmen (»sie kommen selber aus der Verhaltenstretmühle nicht raus«). Höchst problematisch wird daher das wahrgenommene Verhalten der Mütter eingeschätzt, deren häufig wechselnde Partnerschaften für Vera den Vergleich zu Prostitution herbeiführen. Vera schreibt den männlichen wie auch weiblichen Jugendlichen völlige Inkompetenz bezüglich Sexualität zu. Mit diesem Defizit gingen die Schülerinnen Beziehungen zu Jungen ein. Diese Hinwendung zum männlichen Geschlecht birgt für Vera zwei bedeutende Gefahren: Zum einen können Mädchen Jungen und Beziehungen zu Jungen »noch nicht einschätzen« und »Gefahren«, die von »Typen« ausgehen, nicht erkennen. Zum anderen wollen Mädchen nicht die Beziehungen zu Jungen um der Beziehung wegen, sondern kompensatorisch als Ausgleich zur fehlenden affirmativen Anerkennung, die ihnen seitens der Eltern verwehrt bleibe. Mit diesen leitenden Deutungen zum Wissensstand und Verhalten der Schülerinnen und Schüler ist für Vera primäres Ziel ihrer Sexualerziehung das Sichtbarmachen und präventive Bearbeiten einer Gefahr, die von Jungen ausgehe. Ihre mit der Unterrichtsreihe einhergehenden Überlegungen sind es, die »Gefahr von frühen sexuellen Kontakten« zu verdeutlichen sowie die Mädchen von der Hinwendung zu Jungen zum Erhalt positiver Anerkennung abzubringen. Aufgrund sozialer und biologischer Defizitzuschreibungen seien die Jugendlichen – Jungen wie Mädchen – nicht in der Lage, verantwortungsvoll mit Sexualität umzugehen. Vera beschreibt die Eltern als ebenfalls nicht in der Lage bzw. nicht willens, ihren Kindern Verantwortung zu vermitteln – eine Übernahme der Verantwortung durch Vera ist wegen der zugeschriebenen Inkompetenz der Jugendlichen nötig. Veras Strategie im Umgang mit dem Unterrichtsthema Homosexualität Homosexualität kommt in Veras Unterricht als offizielles Thema kaum vor. In den frei gestaltbaren Stunden des Schuljahres bespricht sie dieses Thema nicht. Wenn, wird es in den zwei Sexualerziehungs-Stunden am Schuljahresende thematisiert: »Vera: Also ich bespreche es wenn im Sexualkundeunterricht. WENN. Also wenn das dann dahin kommt, dass es das auch gibt. Int: Was hast du da für Erfahrungen, wenn es an der Stelle statt/, also pa/, Unterrichtskommunikation ist?
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Vera: Die ist schwierig. Also die ist schon schwierig. Die wird /äh/, also die wird abgelehnt. Die finden sie unnormal. Ist auch nochmal ’ne Möglichkeit, sich abzugrenzen. Wenn ich eh schon zu ’ner Randgruppe gehöre …, dann will ich nicht noch, … dann will ich … nicht … noch WEITER runter. Das ist ja, ich geh’ in der Hierarchie nochmal weiter runter. Ich bin schon am Rand und wenn ich homosexuell oder äh wenn ich schwul wäre, dann wäre ich ja noch weiter drunter.«
Unter Bezugnahme auf Veras Äußerung, dass sie für die Sexualerziehung nur wenig Unterrichtszeit zur Verfügung hat (zwei Unterrichtsstunden mit der gesamten Klasse), und unter Berücksichtigung ihrer verstärkenden, betonten Wiederholung des »Wenn« muss davon ausgegangen werden, dass das Thema kaum von Vera im offiziellen Unterricht behandelt wird. Erfahrungsbasiert ordnet sie das Klassengespräch über Homosexualität als »schwierig« ein. Sie wendet jedoch ihre Äußerungen in eine Erläuterung, warum das Sprechen über Homosexualität für die Jugendlichen schwierig ist und abgelehnt werde: Homosexualität wird als Mittel verstanden, um sich »abzugrenzen«. Sie präzisiert ihr Verständnis von Homosexualität als »schwul sein« und verweist damit in ihren Aussagen auf die Ansprache von ausschließlich männlicher Homosexualität.2 Damit kann präzisiert werden, dass Vera hier über ihre männlichen Schüler spricht. Schwul sein hieße für die männlichen Förderschüler, sich in einer »Hierarchie noch weiter runter« zu positionieren – was seitens der männlichen Schüler doppelt abgelehnt werde, da sie ohnehin »schon zu ’ner Randgruppe«gehören. Durch die Zuschreibung der Homosexualität würden die männlichen Jugendlichen in Veras Deutung »noch weiter runter« fallen (Vera betont das »noch weiter runter« in dieser Passage dreimal unmittelbar hintereinander) und damit die ohnehin randständige Positionierung unterschreiten. Interessant ist, dass für Vera die Ablehnung von Homosexualität mit einer »Abgrenzung« einhergeht; Sexualität wird hier – wie Connell es theoretisch darstellte – als Mittel zur Konstruktion unterschiedlicher Männlichkeiten eingesetzt und als hierarchisierendes Moment in der Männlichkeitspositionierung gefasst. Das tendenzielle Nicht-Behandeln dieses Themas gründet, so kann nun im Umkehrschluss hergeleitet werden, nicht aus von Vera explizierten eigenen Hemmnissen, sondern aufgrund einer empathisch ausgerichteten Anerkennung ihrer männlichen Schüler, warum diese sich mit diesem Thema nicht befassen wollen. Mit ihrem Nicht-Behandeln reproduziert Vera jedoch angenommene
2
Auch in weiteren Sequenzen stellt Vera Homosexualität einzig mit Schwul-Sein gleich. Lesbisch-Sein oder das Ansprechen weiblicher Homosexualität taucht im gesamten Interview nicht auf.
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Vorurteile, in dem sie den Schülern keine alternativen Deutungsmuster zur Verfügung stellt (vgl. Aronson et al. 2008). Geschlechterperspektivisch gewendet reproduziert Veras Handeln bestehende hegemoniale Männlichkeitsbilder, in der die öffentliche Ablehnung von Homosexualität zu den wichtigsten Distinktionsmerkmalen gehört (vgl. Connell 2006). Vera behandelt das Thema tendenziell nicht, da ihre Deutung des defizitären jugendlichen Umgangs mit Sexualität sowie die öffentliche Ablehnung von Homosexualität durch Jungen eine unterrichtliche Behandlung für sie nicht möglich erscheinen lässt.
F ALLVERGLEICHENDE B ETRACHTUNGEN Die beiden Fälle zeigen unterschiedliche Lösungswege von Lehrenden zu einer spezifischen, zu bewältigenden Handlungsaufgabe: das Thema Homosexualität positiv konnotiert zu unterrichten in Erwartung einer öffentlichen Ablehnung seitens der Jungen. Beiden interviewten Lehrpersonen ist gemein, dass sie überhaupt das Problem der männlichen Jugendlichen mit Homosexualität wahrnehmen und sich so die damit einhergehende Ambivalenz als für die Lehrenden zu bearbeitendes Handlungsproblem manifestiert. Als maximal kontrastiv können diese beiden Fälle gelten, da die Interviewten die Ambivalenz der unterrichtlichen Handlungsaufforderung diametral unterschiedlich lösen. Die Logik, nach der das identisch wahrgenommene Handlungsproblem fallspezifisch aufgelöst wird, lässt sich anhand der ungleichen Anerkennungsmodi der Jungen durch die Lehrenden erklären: Stefan erkennt die Schüler als kompetent und sicher im Umgang mit Sexualität an. Er konfrontiert die Schüler in absichtsvoller Weise mit dem Thema und fordert sie so durch das von ihm initiierte Unterrichtsgespräch zur Auseinandersetzung mit ihrer Ablehnung auf. Stefans Strategie kann als konfrontativ im Sinne eines gesellschaftskritischen Sexualitätsverständnisses (vgl. Hopf 2008) bezeichnet werden: Gerade weil in Stefans Wahrnehmung die Schüler Probleme mit dem Thema Homosexualität haben, widmet er diesem Thema einen langen, von ihm als wichtig erachteten Block. Vera erkennt ihre Schüler als in sexueller Hinsicht defizitär an. Für sie ist eine unterrichtliche Behandlung des Themas nicht möglich, da das Thema für die Jungen ausschließlich als Mittel zur eigenen Abgrenzung genutzt würde. Eine unterrichtliche Bearbeitung des Themas wird von Vera nicht initiiert. In ihrer grundlegenden Perspektive auf Jungen als sexuell defizitär und randständig löst sie die Ambivalenz auf, in dem sie das Thema aufgrund ihrer DefizitKonstruktion nicht im Unterricht behandelt.
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Dieses Auslassen aufgrund eigener Deutungen steht paradigmatisch für Wirkungen der Unterrichtsgestaltung qua eigenen Deutungsmustern: Erziehungsund sozialwissenschaftliche Theorien zur schulischen Sexualerziehung werten das Auslassen des Themas Homosexualität aufgrund einer Befürchtung »kontraproduktive[r] Emotionalisierung« (Schmidt 2008: 563) als verständlich, jedoch »falsch« (ebd.). Gerade bei »heißen Eisen in der Sexualerziehung« (Glück et al. 1992: 22) sei es von großem Wert, »andere Beurteilungen kennen zu lernen und bestimmte Umgangsformen als sozial unerwünscht zu erfahren« (Schmidt 2008: 563). Veras Vorgehen darf allerdings nicht einfach als ›falsch‹ und damit negativ diagnostiziert werden – es ist die von ihr aufgrund eigener Deutungen generierte Lösung des Ambivalenzproblems dieses Unterrichtsthemas. Vera stellt mit dieser Entscheidung ihre eigene Handlungsfähigkeit für diese Unterrichtsreihe her. Sie hatte nach eigenen Angaben innerhalb der Ausbildung keine sexualerzieherischen Seminare bzw. Module aufgrund fehlender Angebote belegt; ihr sexualerzieherischer Unterricht wird nicht durch kollegialen Austausch gerahmt. Vera kann, da sie so keine externen Wissensquellen zur Verfügung hat(te), ausschließlich aufgrund ihrer eigenen Deutungen das Thema unterrichten. Der Fall illustriert: durch fehlende Professionalisierungsmöglichkeiten seitens universitärer Angebote obliegt es den Lehrenden selbst, wie, was und mit welcher leitenden Deutung sie den Unterricht gestalten.
E RZIEHUNGS - UND K ONSEQUENZEN
SOZIALWISSENSCHAFTLICHE
Der hier markierte unterschiedliche Umgang mit bestimmten Themen der Sexualerziehung3 in Abhängigkeit von der Anerkennung der Schüler durch die Lehrenden führt zu weiteren Überlegungen: Die empirischen Daten bestätigen die theoretisch hergeleitete These eines spezifischen Handlungsproblems für Lehrende. Dieses Problem manifestiert sich auf der unterrichtlichen Ebene und resultiert aus der ministeriellen Vorgabe eines ›positiven Klimas‹ beim Unterrichtsgegenstand Homosexualität sowie der öffentliche Ablehnung dieses Themas für die Jungen. »SexualpädagogInnen stehen damit vor der Notwendigkeit, in einer unklaren, ambivalenten Situation handlungsfähig sein zu müssen.« (Martin/Niemann 2000: 460) Dabei fehlt es
3
Hier anhand des Beispiels Homosexualität und Männlichkeit dargestellt, ähnlich gelagert aber auch mit weiteren problembehafteten Themen wie Pornografie oder Prostitution.
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den Lehrenden an zuvor erworbenem Wissen über einen theoriebasierten Umgang mit dieser Ambivalenz. Es obliegt vielmehr den Lehrenden selbst, mit welcher eigenen Deutung sie ihr Handlungsproblem lösen und den Unterricht entsprechend gestalten. Dies führt unmittelbar zur kritischen Einschätzung diesbezüglicher Professionalisierung angehender Lehrer_innen. Sexualerzieherischen Unterricht von eigenen Deutungen geleitet zu halten ist aufgrund fehlender universitärer Ausbildungsinhalte die einzige Möglichkeit, überhaupt handlungsfähig zu sein, also Unterricht in situ gestalten zu können. Ohne Kenntnisse aktueller sexualpädagogischer Theorien und deren didaktische Umsetzungsmöglichkeiten, also ohne eine diesbezügliche Professionalisierung innerhalb der Ausbildung, kann das Thema für die Lehrenden ausschließlich aus eigenen Deutungen heraus unterrichtet werden. »Der simple Grundsatz lautet: Die LehrerInnen sind nur dann in der Lage, sexualerzieherische Themen zu unterrichten, wenn sie in diesem Bereich auch fachkompetent ausgebildet worden sind« (Hutter 1998: 280). Nach wie vor wird die schulische Sexualerziehung seitens der Jugendlichen als ›mangelhaft‹ empfunden (vgl. Schmidt 2008: 562, BZgA 2008, 2010). Nach wie vor scheint die Erklärung für die schlechte Bewertung schulischer Sexualerziehung eng mit der Ausbildungssituation verknüpft: »Offensichtlich prädisponiert die Qualität der sexualpädagogischen Ausbildung an den Hochschulen die Güte der späteren schulischen Sexualerziehung.« (Hutter 1998: 280) Aufmerksam macht dies auf einen weiteren Punkt: Der Notwendigkeit systematischer erziehungs- und sozialwissenschaftlicher Analysen schulischer Sexualerziehung. In einem ersten Schritt muss dazu zunächst eine wissenschaftliche Beschreibung der Unterrichtseinheit vorliegen. Damit ist keine pädagogischaffirmative Zielvereinbarung zu verstehen (ähnlich den ministeriellen Empfehlungen), notwendig ist vielmehr eine (qualitative) Rekonstruktion konkreter Merkmale der Unterrichtsreihe sowie die Integration dieser Merkmale zu einer Systematisierung der Handlungsaufforderungen schulischer Sexualerziehung. Als abduktiver Prozess (vgl. Reichertz 2003) ist der hier skizzierte Vorschlag weiterzuentwickeln, aktuelle Anerkennungs-Theorien (vgl. Balzer/Ricken 2010, Balzer 2007) als Erklärung weiterer empirischer Daten gewinnbringend zu nutzen. Meine These ist, dass die Logik einer Systematisierung und damit die Beschreibung schulischer Sexualerziehung abhängig ist von der Anerkennung der Schüler_innen als etwas Bestimmtes, gleichzeitig der Anerkennung der Sache als etwas Bestimmtes. Diese gleichzeitig stattfindenden Anerkennungsverhältnisse – auf der Subjekt- sowie auf der Sachebene – begründen Form und Inhalt dieser Unterrichtsreihe.
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Als letzter sowie zusammenführender Punkt gilt es, neu generierte Erkenntnisse zu schulischer Sexualerziehung in die Ausbildung angehender Lehrender zu implementieren. Da Lehrende im schulischen Unterricht offiziell sexualerzieherisch tätig sind und Schule für die Jugendlichen (auch abseits des Unterrichts) keineswegs ein ›asexueller Ort‹ ist, besteht konkreter Handlungsbedarf in Form einer wissenschaftlich geleiteten Ausbildung angehender Lehrer_innen, die sich aus aktuellen Erkenntnissen einer systematischen Analyse qualitativer Daten und einer daran anschließenden theoretischen Ausarbeitung spezifischer Handlungsanforderungen gründet. Lehrer_innen müssen wissen, welche Spezifika diese Unterrichtsreihe beinhaltet, um professionell mit diesen Spezifika umgehen zu können. Die Notwendigkeit des professionellen Wissens erkennt als erstes Bundesland mittlerweile auch das hessische Bildungsministerium: »Im nächsten Jahr sollen die Sexualkunde-Lehrpläne für alle Schulformen überarbeitet werden. Sie sollen moderner werden – und konkreter.« (FAZ vom 5.1.2013) Nun liegt es an den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, das »Mauerblümchendasein« (Hutter 1998: 280) schulischer Sexualerziehung zu beenden und zu einer professionellen Ausbildung angehender Lehrer_innen beizutragen.
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»American Knights in Buckskin« Das Männlichkeitsdispositiv der frontier und Narrative der Nationsbildung in den USA des 19. und frühen 20. Jahrhunderts D OMINIK O HREM »Sprung from the West, The strength of virgin forests braced his mind, The hush of spacious prairies stilled his soul. Up from log cabin to the Capitol, One fire was on his spirit, one resolve:— To send the keen axe to the root of wrong, Clearing a free way for the feet of God.« EDWIN MARKHAM
I. E INLEITUNG »We had a frontier once. It was our most priceless possession. […] It was there we showed our fighting edge, our unconquerable resolution, our undying faith. There, for a time at least, we were Americans.« (Hough 1918: 172f.) Mit diesen nostalgischen Worten beklagt der Schriftsteller Emerson Hough 1918 das ›Verschwinden‹ jener westlichen Siedlungsgrenze, die seit der Kolonialzeit die territoriale Expansion der britischen Kolonien und der späteren USA markierte. Bereits Anfang der 1890er Jahre hatte der Historiker Frederick Jackson Turner in Anlehnung an jüngere Daten des U.S. Zensus das Ende der frontier diagnostiziert. »Up to our own day«, so Turner,
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»American history has been in a large degree the history of the colonization of the Great West. The existence of an area of free land, its continuous recession, and the advance of American settlement westward, explain American development.« (Turner 1961a: 37)
Nun aber sei der Kontinent erschlossen und besiedelt und eine glanzvolle Epoche neige sich ihrem Ende zu. Turners einflussreiche ›frontier-These‹ erklärte den Prozess der Westexpansion zum prägenden Merkmal amerikanischer Geschichte, die damit weniger durch eine Entwicklung über Zeit, als durch eine Expansion im Raum charakterisiert war. Die frontier markierte das Aufeinandertreffen der sich ausbreitenden amerikanischen Zivilisation und der rohen Kräfte einer noch ›ungezähmten‹ Wildnis. Dieser mit der frontier-Erfahrung verbundene produktive Antagonismus war nach Turner’scher Auffassung maßgebend für die Herausbildung des ›amerikanischen Charakters‹ und die Entfaltung amerikanischer Demokratie. Die Wirkmächtigkeit der »myth-history« (Slotkin 1973: 496) der frontier auf die amerikanische Gesellschaft ist in der Geschichtswissenschaft und den Kultur- und Literaturwissenschaften mittlerweile gut erforscht. Mit der New Western History ist dabei seit den 1980er Jahren die Geschichte der Westexpansion auch mit Blick auf Differenzkategorien wie race, class und gender neu geschrieben worden. Aus dieser Perspektive ist das triumphalistische Narrativ der Frontier dabei insbesondere in seinen vergeschlechtlichten und ›rassifizierten‹ Dimensionen sichtbar geworden (vgl. etwa Greenberg 2007, Klein 1999, Kolodny 1984, Limerick 1987, Slotkin 1973, 1985, 1992, Washington 1993, White/Limerick 1994, White 1991). Der Fokus meines Beitrags wird weniger auf dem tatsächlichen Prozess der Westexpansion oder den Interaktionen an der frontier liegen, als auf der Bedeutung der Frontier für die Konstruktion weißer amerikanischer Männlichkeiten. Zu diesem Zweck bietet es sich an, die frontier mit der Foucault’schen Denkfigur des Dispositivs zu erfassen, die nicht nur das Ineinandergreifen unterschiedlicher Diskurse, sondern auch nicht-diskursive (Körper-) Praktiken und Vergegenständlichungen sowie das Zusammenspiel dieser Elemente mit Blick auf eine machtstrategische Zielsetzung berücksichtigt.1 In Be-
1
Dispositive umfassen potentiell eine Vielzahl heterogener Elemente (Gilles Deleuze bezeichnet das Dispositiv als »Durcheinander«, als »multilineares Ensemble«), die in ihrer Formation und Interaktion auf eine historisch spezifische »Dringlichkeit [reagieren]« (Deleuze 1991: 153), sich aber auch widersprüchlich zueinander verhalten können, weshalb immer wieder strategische Anpassungen notwendig sind. Ein wichtiger Faktor besteht in der Subjektivierungsmacht von Dispositiven, d. h. ihrer Hervorbrin-
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zug auf Transformationen amerikanischer Männlichkeiten fiel der frontier im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine zunehmend bedeutendere Rolle zu. Ein Typus weißer frontier-Männlichkeit, repräsentiert durch die vielgestaltige Figur des frontiersman, wurde dabei von einem anfangs marginalen bzw. ›alternativen‹ zu einem hegemonialen Männlichkeitsmodell im Sinne Raewyn Connells (vgl. Connell 2005) und zu einem zentralen Akteur in einem Narrativ der Nationsbildung erhoben. In der zweiten Jahrhunderthälfte wurde die frontier zudem als Remaskulinisierungskorrektiv mit Blick auf eine als ›krisenhaft‹ empfundene Männlichkeit weißer Amerikaner wirksam. Eingebettet in umfassendere Transformationen amerikanischer Männlichkeiten rückte hier deutlicher als zuvor der männliche Körper in den Fokus dispositivischer Subjektivierungs- und Machttechnologien. Als Männlichkeitsdispositiv zeigt sich die frontier damit, um Foucault zu paraphrasieren, insbesondere nach 1870 als bedeutender Teil der politischen Ökonomie des männlichen Körpers in den USA (vgl. Foucault 1976: 37) – eine Entwicklung, die ohne einen bereits um 1800 einsetzenden diskursiven Vorlauf aber kaum denkbar ist.
II. D ER
FRONTIERSMAN ALS
›N ATURAL AMERICAN ‹
Für die amerikanische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war die frontier als identitätsstiftendes Narrativ eines nation-building durch territoriale Expansion mehr als ein sich stets weiter westwärts bewegender Raum. Bereits vor 1800 war die frontier dabei auch an einen bestimmten Typus weißer Männlichkeit geknüpft, der an den Rändern der Zivilisation und jenseits dieser agierte. Zur Zeit der britischen Kolonien galt die frontier meist als das abjekte Andere euroamerikanischer Zivilisation und war mit Vorstellungen körperlicher und moralisch-spiritueller Degeneration sowie der Furcht vor der vermeintlichen Grausamkeit der dort lebenden ›Wilden‹ verbunden (vgl. Nash 2001: 23-43). Diese negativen Konnotationen übertrugen sich auch auf das zeitgenössische Bild des frontiersman, der als eine sich der zivilisatorischen Ordnung entziehende und potentiell gefährliche Abart kolonialer bzw. früher republikanischer Männlichkeiten galt. Noch 1782 etwa beschreibt J. Hector St. John de Crèvecoeur die Männer der frontier als »no better than carnivorous animals of a superior rank [and] remote from the power of example and check of shame«´ (Crèvecoeur 1912: 46f.).
gung spezifischer Subjektmodelle und daran geknüpfter Formen von Körperlichkeit (Foucault 1978, vgl. auch Bührmann/Schneider 2007, 2008).
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Für die Zeit nach 1800 lässt sich hingegen ein allmählicher Bedeutungswandel feststellen. Zwar wurden etablierte Vorstellungen nicht einfach abgelöst, im Diskursraum des durch eine beispiellose Westexpansion geprägten 19. Jahrhunderts gewannen die frontier und die amerikanische Wildnis aber zunehmend an Bedeutung bei der Konstruktion einer genuin amerikanischen Identität in Abgrenzung zur ›Alten Welt‹ (vgl. Nash 2001: 68–83, Hyde 1990, Cronon 1995, White 1992). Wie Myra Jehlen argumentiert, waren die »founding conceptions of ›America‹ and of ›the American‹ […] material rather than conceptual; rather than a set of abstract ideas, the physical fact of the continent« (Jehlen 1986: 3). Die Vorstellung einer aus der Wildnis gewachsenen amerikanischen Zivilisation gewann im fortschreitenden 19. Jahrhundert an Popularität und verband sich leicht mit der Ideologie der Manifest Destiny: Beide naturalisierten und legitimierten ein immer aggressiveres expansionistisches Vorgehen als, wie es der Journalist H. Addington Bruce später formuliert, »the logical result of the genesis, on a largely unoccupied continent, of an exceptionally virile, progressive, and ambitious nation. The instincts and needs of that nation irresistibly impelled it to territorial enlargement.« (Bruce 1909: xi)
Es ist dieser materiell-diskursive Kontext der Westexpansion und die Idee einer »Nature’s Nation« (Miller 1967), an die der Aufstieg des frontiersman zum Inbegriff amerikanischer Männlichkeit geknüpft ist. Bereits in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts konnte die Assoziation mit der frontier eine beträchtliche ›Männlichkeitsdividende‹ abwerfen, von der nicht zuletzt Präsidentschaftskandidaten wie Andrew Jackson, William Henry Harrison, Abraham Lincoln und später Theodore Roosevelt profitierten. Jacksons »virulent hypermasculinity« (Kimmel 2012: 25) etwa generierte sich zum Teil aus seiner Herkunft aus Frontier-Tennessee und seinem weit verbreiteten Image als rücksichtsloser Indianerkämpfer im Kampf gegen die Stämme der Creek und Seminolen. Dessen Frontier-Herkunft unterstreichend, beschreibt der amerikanische Historiker George Bancroft Jackson als Mann des Westens, aufgewachsen in »the ancient forests, and his mind […] nursed to freedom by their influence. […] A pupil of the wilderness, his heart was with the pioneers of American life towards the setting sun. […] Under the beneficent influence of his opinions, the sons of misfortune, the children of adventure, find their way to the uncultivated West […] and teach the virgin soil to yield itself to the plowshare.« (Bancroft 1845: 248, 260)
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Ein flüchtiger Blick über Exemplare zeitgenössischer Frontier-Literatur insbesondere der zweiten Jahrhunderthälfte lässt dabei eine diskursive Strategie erkennen, bei der auf Basis heroisierter Frontier-Biographien sowie der Abenteuer zahlreicher fiktiver frontiersmen – hier sind nach 1860 nicht zuletzt die unzähligen dime novels von Bedeutung – ein normatives Modell von FrontierMännlichkeit produziert wird. Ein frühes Symptom dieser Entwicklungen findet sich in (der Vereinnahmung) der Figur Daniel Boones.2 Als dieser 1820 stirbt, ist seine Transformation zum archetypischen amerikanischen Frontier-Helden längst in vollem Gange. Beginnend mit einer von John Filson bereits 1784 veröffentlichten Biographie, die von Boones Pionier-Heldentaten in Kentucky – einer »howling wilderness, the habitation of savages and wild beasts« (Filson 1783: 49) – erzählt, erscheinen zahlreiche weitere Boone Biographien, darunter Timothy Flints Biographical Memoir of Daniel Boone (1833), die meistgelesene Biographie des Jahrhunderts (vgl. Faragher 1992: 323). Die Boone zugeschriebenen Attribute – »brave, cool, self-reliant, a dead shot with his rifle, a consummate master of woodcraft, with sturdy frame, hopeful at all times, and never discouraged by disasters« (Ellis 1884: iii), wie sie ein späterer Biograph zusammenfasst – werden schnell zu generischen Merkmalen des amerikanischen frontiersman. Tatsächlich ist bereits Flints Boone keineswegs nur ein außergewöhnlicher Abenteurer, sondern repräsentiert einen neuen Männlichkeitstypus: »He stands at the head of a remarkable class of people, almost new in the history of the species, trained by circumstances to a singular and unique character […] The thoughts of these backwoodsmen expatiated with delight, only when they were in a boundless forest, filled with game, with a pack of dogs behind them, and a rifle on their shoulders.« (Flint 1833: 50)
Boones ›natural manhood‹ definiert sich hier primär über die aggressivmaskulinen Körperpraktiken des Pioniers und Jägers, dessen Aufgabe in den Worten Turners darin bestand, »to fight with nature for the chance to exist« (Turner 1920: 269). Gleichwohl zeigt sich Boone – wie die Figur des frontiersman als solche – nicht ohne Ambivalenz in Bezug auf die ›Eroberung‹ der Wildnis, eine Ambivalenz, die im 19. Jahrhundert durch Figuren wie James Fenimoore Coopers Natty Bumppo, den ›Hunter-Naturalist‹ und Vogelforscher
2
Daniel Boone ist besonders durch seine Erschließung einer Route nach Westen durch die Appalachen (›Wilderness Road‹) sowie die Erkundung und Besiedlung der Kentucky frontier in den 1760er und 1770er Jahren bekannt geworden (vgl. weiterführend Faragher 1992 sowie aktueller Brown 2008).
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John James Audubon oder den enthusiastischen (Großwild-)Jäger und Vorkämpfer des conservation movement Roosevelt verkörpert wird (vgl. Nobles 2012, Payne 1996: 106–122). Charakteristisch für den frontiersman war aber nicht nur eine sehr spezifische Form der ›Naturnähe‹, er repräsentierte als ›natural American‹ zugleich eine originär amerikanische Männlichkeit mit gründungsmythischen Qualitäten, durch die der Ursprung der amerikanischen Nation auf die Handlungsmacht des weißen Pioniers in der Wildnis – »the man sometimes illiterate, oftentimes uncultured, the man of coarse garb and rude weapons« (Hough 1918: 3) – zurückgeführt wurde. Zugunsten der Blockhütte des einsamen Pioniers war damit nicht nur die zentrale Rolle von Frauen und der Familienfarm an der frontier, sondern auch die des Plantagen- und Sklavereisystems als Motor der Westexpansion ausgeklammert (Phillips 2009, Campbell 1989, Riley 1988, Smith 1950). Vielerorts ist aufgezeigt worden, wie das Narrativ der Frontier zur Konstruktion einer Dichotomie zwischen weißer Zivilisation und der Inferiorität von ›racial others‹ wie Native Americans oder Mexicans beigetragen und damit auch den gewaltsamen Prozess der Westexpansion legitimiert hat (vgl. Drinnon 1980, Pearce 1988, Slotkin 1973, 1985). Weniger betont worden ist bisher, dass die Figur des frontiersman in ihrer Anbindung an whiteness – Boone etwa wird bereits 1854 als »Romulus of Saxon blood« (Webber 1854: 171) zelebriert3 – auch in Bezug zu einer ›rassischen Ordnung im Inneren‹ gesetzt werden kann. Als Inbegriff von räumlicher Mobilität, Freiheit und Ungebundenheit, als Herrscher über den eigenen Körper, den er als Instrument zur ›Zähmung‹ der Wildnis einsetzte, war der mythische frontiersman das Gegenbild zum unterworfenen Sklaven, ebenso wie er nach 1865 als zentraler Akteur in einem Narrativ der Nationsbildung das Gegenbild des schwarzen freedman war, dem die gleichwertige Teilhabe an materiellen gesellschaftlichen Ressourcen ebenso verweigert wurde, wie die Einbettung in eine »Erzählung der Nation« (Hall 1994: 201). Damit erscheint auch die bis weit ins 20. Jahrhundert reichende Ignoranz amerikanischer Historiographie und Populärkultur gegenüber schwarzen frontiersmen weniger als Versäumnis, denn als eine in den gesamtgesellschaftlichen Rassismus eingebettete diskursive Strategie, mittels derer der mythische Raum der frontier als identitäre Ressource weißer Amerikaner gegen ›unberechtigte Ansprüche‹ verteidigt wurde.4 Aus intersektionaler Perspektive zeigt sich die Figur des
3
Zur in der antebellum era aufkommenden Ideologie des »Racial Anglo-Saxonism«
4
Kenneth W. Porter bringt dies in seiner Pionierarbeit über African Americans an der
siehe Horsman 1981. Vgl. auch Kaufmann 2000. Frontier auf den Punkt: Als Angehörige einer ›minderwertigen Rasse‹ konnten diese
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frontiersman damit als Konfiguration, die sich über ein Zusammenspiel der Differenzkategorien race und gender generierte und dabei potentiell einen soziale Klasse und regionale Zugehörigkeit transzendierenden Charakter im Sinne einer imaginierten nationalen Bruderschaft weißer frontiersmen aufweisen konnte.5
III. R OOSEVELT ’ S B ODY : D IE E RNEUERUNG UM 1900
FRONTIER UND
M ASKULINE
Häufig wird für die USA nach 1865 das Konzept einer ›Krise‹ weißer Männlichkeit verwendet, die sich durch den fortgeschrittenen Industriekapitalismus, die Entstehung von Bürokratien, Urbanisierung und das Vordringen von Frauen in die öffentliche Sphäre bedroht sah – Entwicklungen, die in zeitgenössischen Diskursen oft mittels des Kollektivsymbols der ›Überzivilisierung‹ thematisiert wurden (vgl. Kimmel 2012: 57, Martschukat/Stieglitz 2005: 81–90, Douglas 1977). Um die Jahrhundertmitte gab es, wie u. a. Clyde Griffen betont, keinen hegemonialen Typus weißer Männlichkeit (vgl. Griffen 1990). Eine sich etablierende Mittelklasse-Männlichkeit, die sich primär durch die Ideale der Autonomie und Selbstkontrolle, eine ausgeprägte Produzentenethik sowie Erfolg in einer sich verändernden Arbeitswelt im Sinne des self-made man definierte, wurde zugleich von der grundlegenden sozioökonomischen Statusunsicherheit der aufstrebenden Mittelklasse insgesamt heimgesucht. Bereits in den 1870er Jahren wurden auf Basis des durch George M. Beard elaborierten Krankheitsbildes der Neurasthenie, einer ›zivilisationsbedingten‹ mentalen und körperlichen Erschlaffung, die Körper weißer Amerikaner als in der Degeneration befindlich konstru-
»not […] be permitted to manifest those heroic qualities, traditionally associated with the frontier, that would contradict this ascription of inferiority. […] The only solution was to fail to notice, or to forget, the Negro cowboy and the Negro frontiersman in general.« (Porter 1971: 2f.) Dennoch haben African Americans sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts den Raum der frontier – als Pioniere, Pelzhändler, scouts, homesteader oder ›Buffalo Soldiers‹ – immer wieder zu eigen gemacht und damit Anspruch auf Einbindung in ein dominantes Narrativ amerikanischer Nationswerdung geltend gemacht (vgl. etwa Allmendinger 2008, Glasrud/Searles 2007, Leiker 2010, Moos 2005, Taylor 1999). 5
Damit wäre m.E. auch zu untersuchen, inwiefern der frontiersman mit Blick auf eine Wiederannäherung zwischen Norden und Süden nach dem Bürgerkrieg möglicherweise als nationale Integrationsfigur wirkte, die zugleich eine auf weißer Suprematie basierende Ordnung stützte (vgl. hierzu auch Nelson 1998).
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iert. Besonders ab den 1880er und 1890er Jahren waren dabei Männlichkeitskonzepte, Nation und ›Rasse‹ durch den Einfluss von Sozialdarwinismus und wissenschaftlichem Rassismus zunehmend ineinander verschränkt: Weiße Männerkörper und der amerikanische body politic als ›Rassen-Nation‹ bildeten hier eine Schicksalsgemeinschaft, deren bedrohte Zukunft in den Worten Mark Seltzers in »relentless melodramas of degeneration and devolution« (Seltzer 1992: 74) verhandelt wurde.6 (Vgl. Rotundo 1993: 185-193, Lears 1981, Blumin 1989, Lutz 1991) Verstärkt wurde diese Vorstellung einer krisenhaften Männlichkeit durch das Ende der Westexpansion. Wenn die frontier in der amerikanischen Geschichte als »military training school« gedient hatte und die »stalwart and rugged qualities of the frontiersman« (Turner 1961a: 46) die wichtigste Ingredienz nationaler Virilität darstellten, dann konnte das von Turner und Zeitgenossen diagnostizierte Verschwinden der frontier nicht ohne Folgen für die Konstitution amerikanischer Männlichkeit bleiben. Vor diesem Hintergrund diente der Rückbezug auf die frontier als Geschichte heroischer Männlichkeit sowie die Betonung von maskulinen ›Frontier-Tugenden‹ als Korrektiv gegen die vermeintliche Degeneration eines ›Anglo-Saxon manhood‹, dessen höchst entwickelter Typus sich in Form der amerikanischen ›Rassen-Nation‹ entfaltet hatte. Hierbei taten sich nicht zuletzt ›Frontier-Ideologen‹ wie Roosevelt, Owen Wister, Frederic Remington und andere ›Mitglieder‹ dessen, was Christine Bold als »Frontier Club« (Bold 2013) bezeichnet hat, hervor. Für das 19. Jahrhundert insgesamt lässt sich mit Amy Kaplan grob eine Transformation weißer Männlichkeiten »from a republican quality of character based on self-control and social responsibility to a corporeal essence identified with the vigor and prowess of the individual male body« feststellen (Kaplan 1990: 662). Insofern sich in der Virilität weißer Männerkörper zugleich jene des ›Nationalkörpers‹ manifestierte, wurde die Regulierung männlicher Körperlichkeit zu einem zentralen Aspekt dispositivischer Subjektivierungstechniken. Während weiße Mittelklasse-Männlichkeit um 1850 eher nach innen gekehrt war und der Körper durch männliche Willenskraft in Schach gehalten werden musste, war es nun der männliche Charakter, der durch einen kräftigen, athletischen Körper geformt und zugleich abgebildet wurde. Männliches character building, body building und nation building bildeten somit in zeitgenössischen Diskursen
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Als Problem wurde dabei teils auch die »mighty tide of immigration« ausgemacht, durch die sich zivilisierte Amerikanerinnen und Amerikaner von »waves of barbarism« bedroht sahen (Roosevelt, zit. nach Watts 2003: 71).
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eine Triade, deren Stabilität besonders durch die (Um-)Gestaltung männlicher Körperlichkeit gewährleistet werden sollte. Dieser Körperkult des fin de siècle fand sein maskulines Leitbild neben der zeit- und teilweisen Idealisierung der ›primitiven‹ Männlichkeit von Native Americans vor allem in der natural manhood des frontiersman, dessen durch übermäßige zivilisatorische Einflüsse unkorrumpiertes Männlichkeits- und Körperlichkeitsmodell in der post-frontier Ära umso mehr an Bedeutung gewinnen musste (vgl. Kimmel 2005: 49, Rotundo 1993: 227–232, Seltzer 1992: 149f.). »The old iron days«, so Roosevelt, »when the weakling died as the penalty of inability to hold his own in the rough warfare against his surroundings« (Roosevelt 1902: 255), waren einer dekadenten Hyperzivilisation gewichen, deren degenerativer Einfluss durch eine männliche Hinwendung zur ›rough side of life‹ gekontert werden musste.7 Roosevelt selbst verkörperte, im durchaus wörtlichen Sinne, viele dieser Transformationen von Männlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert. Sein anfängliches Image als effeminierter Schwächling überwand er durch einen Aufenthalt in den Badlands in South Dakota, wo er sich als Cowboy, Jäger und Rancher übte und als vielseitiger frontiersman neu erfand. »For a number of years I spent most of my time on the frontier, and lived and worked like any other frontiersman. [...] We guarded our herds of branded cattle and shaggy horses, hunted bear, bison, elk, and deer, established civil government, and put down evil-doers, white and red [...] exactly as did the pioneers.« (zit. nach Bederman 1995: 178)
Roosevelts Bisonjagd an der frontier war, wie Douglas Brinkley bemerkt, »the culmination of a series of masculine initiation rites« (Brinkley 2009: 164) und Teil einer nicht zuletzt körperlichen Verwandlung, die auch von seinen Zeitgenossen anerkannt wurde. So zeigte sich etwa Roosevelts ehemaliger Kommilitone William Roscoe Thayer beeindruckt von dessen »neck of a Titan«, den »broad shoulders« und der »stalwart chest« (zit. nach Morris 2001: 297, vgl. auch Collins 1989, Jones/Willis 2009: 87–100). Mit der ›Entdeckung‹ der Adoleszenz als prägender Lebensphase, insbesondere durch die Arbeiten G. Stanley Halls, rückte neben der Regulierung männlicher nun besonders jene kindlicher und jugendlicher Körperlichkeit und Charak-
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Während Angehörige der urbanen middle- und upper-class ohnehin der ›Überzivilisierung‹ verdächtig waren, wurden gelegentlich auch weiße Männer der Arbeiterklasse als »thin, angular, stooping, anxious, pale, and, in not a few cases, emaciated« in diesen Diskurs einbezogen (George M. Beard, zit. nach Watts 2003: 135).
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terbildung in den Fokus. Gemäß der um 1850 dominanten Geschlechtervorstellungen der weißen Mittelklasse war für eine ideale männliche Entwicklung sowohl der häuslich-mütterliche Einfluss als auch eine homosoziale ›boy culture‹ notwendig (vgl. Rotundo 1990). Im Zusammenhang mit den virulenten Krisendiskursen intensivierte sich aber um 1900 die Befürchtung eines zu starken weiblichen Einflusses auf amerikanische Jungen, die auch in Form verschiedener Jugendorganisationen wie den von Daniel Carter Beard gegründeten Sons of Daniel Boone und Ernest Thompson Setons League of Woodcraft Indians, die später beide in den Boy Scouts of America aufgingen, zum Ausdruck kam (vgl. Hantover 1978, Macleod 1983). Hier sollten die von Roosevelt zelebrierten und durch den frontiersman verkörperten regenerativen Kräfte des ›strenuous life‹ zur Formung einer virilen nationalen Jugend nutzbar gemacht werden, womit die Zukunft des ›Anglo-Saxon manhood‹ zunehmend als durch die Prägung der heranwachsenden Generation determiniert verstanden wurde.8 »Every American boy, a hundred years ago«, so erklärt die Erstausgabe des Handbuchs der Boy Scouts of America, »had all the practical knowledge that comes from country surroundings; that is, he could ride, shoot, skate, run, swim; he was handy with tools; he knew the woods; he was physically strong, self-reliant, resourceful, well-developed in body and brain. In addition to which, he had a good moral training at home. He was respectful to his superiors, obedient to his parents, and altogether the best material of which a nation could be made.« (Seton 1910: xi)
Im Gegensatz zu diesen zähen Naturjungen, die hier zugleich als ideale heranwachsende Staatsbürger erscheinen, war der zeitgenössische Stadtjunge, »his flabby muscles […] less flabby than his character« (zit. nach Kimmel 2012: 124), ein regelrechter Schandfleck. Die Scouting-Literatur des frühen 20. Jahrhunderts offenbart sich hier als diskursiver Nexus, der Vorstellungen de- und regenerativer Männlichkeit, einen rassifizierten Nationalismus, zeitgenössische pädagogische und psychologische Debatten, eine nostalgische Rückwendung zur glorreichen Ära der Frontier sowie Ideale männlicher Staatsbürgerlichkeit zusammenführte (vgl. hierzu auch Stieglitz 1999). Mit Jugendbüchern wie Everett Tomlinsons Scouting with Daniel Boone wurde die Figur des frontiersman dabei
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Setons Idealisierung von Native Americans stieß bei vielen Scouting-Zeitgenossen, nicht zuletzt bei Beard, auf Unverständnis und Kritik. Scheinbar ließ sich der frontiersman, insbesondere in der jüngsten Ausformung des Cowboys, besser mit dem Ideal weißer Suprematie vereinbaren (vgl. Kimmel 2012: 123f., Schlatter 2006).
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für ein junges Lesepublikum aufbereitet (die Erzählung handelt von den Abenteuern zweier ›pioneer boys‹ an der Seite Boones) und zugleich für nationalistische Diskurse der Jahrhundertwende verfügbar gemacht. So belehrt Tomlinson sein junges Lesepublikum im Vorwort des Buches: »There never has been a time when the development of a true patriotism was more needed than it is to-day. Our perils and problems are not concerned with savages and wild beasts, but they may be no less dangerous than those which confronted our forefathers. How to meet them, what qualities ought to be strengthened in the life of an American boy, how best to inspire the younger generation with love and devotion for our country, are vital questions of the present.« (Tomlinson 1917: vii)
Durch das scouting war es möglich, junge Amerikaner den ›effeminierenden‹ Einflüssen der Zivilisation zu entziehen und, in den Worten Beards, »to awaken in the boy of to-day admiration for the old-fashioned virtues of American Knights in Buckskin and a desire to emulate them« (Beard 1909: vi). Das Programm der boy scouts und ihrer Vorgängerorganisationen legte einen entsprechend starken Fokus auf ein Ensemble von mit der frontier assoziierten Körperpraktiken, Fähigkeiten und Überlebenstechniken, zu denen das Jagen, Baumfällen, tracking and trailing und sogar das Errichten von Blockhütten gehörte. In einer ideologischen Doppelbewegung wurde die frontier damit einerseits als nationaler Abenteuerspielplatz in einem behüteten zivilisatorischen Rahmen neu erfunden und performiert, andererseits wurde die Figur des frontiersman als ungebundener Abenteurer, als Zivilisationsflüchtiger im Dienste der Zivilisation, zunehmend nationalistisch aufgeladen und soldatisch akzentuiert. Der für den mythischen frontiersman so charakteristische ›rugged individualism‹ wurde damit auf moderne nationalstaatliche Bedürfnisse zugeschnitten.
IV. I MPERIAL C OWBOYS Der Krisendiskurs schwindender maskuliner und nationaler ›Lebenskraft‹ wurde um 1900 in scheinbar paradoxer Weise von einem ›Überschussdiskurs‹ begleitet, der, wie etwa in den Schriften Frank Norris’, die konträre Diagnose eines amerikanischen »overplus of energy« (Norris 1903: 73) stellte, das nun nicht mehr durch die frontier absorbiert werden konnte. Norris, der als Korrespondent während des Spanisch-Amerikanischen Krieges (1898) tätig war, leitete damit wie viele seiner Zeitgenossen aus dem Ende der amerikanischen Westexpansion einen imperialistischen Impetus ab. Trotz ihrer oberflächlichen Widersprüchlich-
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keit erzeugten diese Diskurse männlich-nationaler Körperlichkeit, mit Foucault gesprochen, eine »Kohärenz ihrer Resultate« (Foucault 1976: 37), insofern sich beide umstandslos mit einer imperialistischen Politik verbanden. Letztlich ist die maskulinistische Nostalgie angesichts der verschwindenden frontier damit nicht zu trennen von imperialistischen Fantasien, in denen sich die amerikanische frontier in der neuen Wildnis der imperialen Frontier fortsetzt und zugleich der frontiersman als imperialer Cowboy wiedergeboren wird (vgl. Hoganson 1998, Kaplan 1990). Weil es die frontier war, die laut Turner die »perennial rebirth« (Turner 1961a: 38) der virilen amerikanischen ›Rassen-Nation‹ durch den kontinuierlichen Kampf gegen eine ungezähmte Wildnis und ungezähmte Wilde bewirkt hatte, war der amerikanische Imperialismus die logische und notwendige Konsequenz einer Nationalgeschichte territorialer Expansion. »That these energies of expansion will no longer operate«, so prophezeit Turner 1896, »would be a rash prediction« (Turner 1961b: 74). Drei Jahre später rühmt Roosevelt in The Rough Riders sein gleichnamiges Freiwilligen-Kavallerieregiment des Spanisch-Amerikanischen Krieges als »a splendid set of men – tall and sinewy, with resolute, weather-beaten faces, and eyes that looked a man straight in the face without flinching« (Roosevelt 1905: 15). In Roosevelts primär im Südwesten rekrutierten und aus ehemaligen Cowboys, Jägern, Goldschürfern, aber auch aus Ivy League Absolventen und einem segregierten Trupp von Native Americans bestehendem Ensemble manifestierte sich der ›Frontier-Nationalismus‹ der Jahrhundertwende. Im mythischen, männlich-egalitären Raum der frontier hatten soziale Unterschiede vermeintlich ebenso wenig eine Rolle gespielt wie ethnische Herkunft: Sowohl in Turners als auch in Roosevelts Narrativ der Westexpansion hatte die frontier als Schmelztiegel gewirkt, durch den europäische Immigranten unterschiedlicher Herkunft letztlich in der dominanten ›Anglo-Saxon race‹ aufgehen konnten. Mit dem Ende der ›Indianerkriege‹ konnten nun sogar Native Americans, als romantische Überbleibsel einer ›ausgestorbenen Rasse‹ und beeindruckende Exemplare ›primitiver‹ Männlichkeit, ihren Part im imperialen re-enactment der frontier spielen (Gerstle 2001: 27f., Krenn 2006, Slotkin 1993). Ganz im Gegensatz zu African Americans, denn die ›color line‹ durfte im angloamerikanischen Diskurs auch durch die integrative Kraft der frontier nicht überwunden werden. Umso problematischer war für die Verfechter weißer Suprematie die Beteiligung afroamerikanischer Soldaten am ›splendid little war‹ und der ironische Umstand, dass sich Roosevelt und seine medial inszenierten weißen Cowboys während der entscheidenden Erstürmung von San Juan Hill auf Kuba plötzlich Seite an Seite mit ebendiesen wiederfanden. Die ›Colored Rough Riders‹, wie sich die schwarzen Soldaten später nannten, konnten auf eine lange
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›Frontier-Tradition‹ zurückblicken, waren sie doch nach 1865 maßgeblich an jener ›Eroberung‹ des Westens beteiligt, die Roosevelt und Turner als heroisches Werk weißer frontiersmen zelebrierten (vgl. Bold 2009, Kaplan 2002). Bevor sich Roosevelts Regiment schließlich auflöste, versammelten sich die Cowboy-Soldaten am 13. September 1898 noch einmal in Camp Wikoff auf Long Island und überreichten dem späteren Präsidenten eine Replik von Frederic Remingtons Bronzeskulptur The Bronco Buster (1895). Roosevelt zeigte sich scheinbar äußerst gerührt. »I am proud of this regiment beyond measure. I am proud of it because it is a typical American regiment. The foundation of the regiment was the cowpuncher, and we have him here in bronze. […] The men of the West and Southwest, horsemen, riflemen, and herders, have been the backbone of this regiment, which demonstrates that Uncle Sam has another reserve of fighting men to call upon, if the necessity arises. The West stands ready to give tens of thousands of men like you, and we are only samples of the fighters the West can put forth.« (Roosevelt 1905: 318)
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3.3 Queer Theory und Medienanalyse: Performativität und Differenz
Transkriptionen der Heteronormativität Michael Gordons PILLOW TALK und Delbert Manns THAT TOUCH OF MINK C LAUDIA L IEBRAND
Besteht in der Forschung Konsens über die Raffinesse – auch in Genderfragen –, die Screwball Comedies auszeichnet,1 gelten die Sex Comedies,2 die Geschlechter- und Liebeskomödien der 50er und 60er Jahre, eher als stereotype und triviale Unterhaltungsware, die keinen zweiten Blick lohnt. Dieser Einschätzung sei widersprochen, in den Blick genommen werden zwei – für das Genre Sex Comedy typische – Filme mit Doris Day, der ›Königin‹ der Sex Comedy, und dabei geht es durchaus auch um eine Nobilitierung des Genres. Mit dem Fokus auf den Schließungsfiguren dieser Sex Comedies wird
1
In Deutschland bekanntestes Genrebeispiel ist sicher Howard Hawks’ LEOPARDEN KÜSST MAN NICHT
– amerikanischer Originaltitel BRINGING UP BABY mit Cary Grant
und Katherine Hepburn aus dem Jahr 1938. 2
Tamar Jeffers McDonald setzt Sex Comedies folgendermaßen von den Screwball Comedies ab: »While the screwball comedy delighted in exhibiting male and female characters clashing and striking sparks off each other, the sex comedy took this theme and implied such clashing was inevitable: all men and all women were perpetually in conflict because nature had set them up – or society had inspired them – with different goals. […] The sex comedy pits woman against man in an elemental battle of wits, in which the goal of both is sex. Only the timing and legitimacy of this differs from gender to gender, with women wanting sex after, and men before or without marriage.« (McDonald 2007: 38; als weitere Aufsätze und Monographien zur Sex Comedy seien aufgeführt: Bingham 2006; Cohan 2000; Krutnik/Neale 1990; Krutnik 1990; Krutnik 1995; McCallum 1999; McDonald 2006; Savoy 1999)
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das Interesse jenen filmischen Strategien gelten, die die Sex Comedy als Erbin der Screwball Comedy ausweisen – eine Erbin, die an sophistication nicht hinter dem Genre, das sie beerbt, zurückbleibt. Der mainstream der Forschung hält die Sex Comedies der fünfziger und der sechziger Jahre für genderpolitisch konservativ. Vorgeworfen wird den Filmen, dass sie starre und stereotype Bilder von Frauen zeichneten, deren Lebenszweck im Erreichen der Hochzeit liege, und von Männern, die als – auch beruflich erfolgreiche – Schwerenöter beeindruckten, bevor sie in den Hafen der Ehe einliefen und eine Familie gründeten, um den Traum vom home, sweet home wahr werden zu lassen. Die These, die hier vertreten wird, widerspricht dieser Einschätzung der Forschung: Die Sex Comedies, um die es gehen wird: PILLOW TALK und THAT TOUCH OF MINK, feiern gerade kein Hochamt der Heteronormativität, sondern spielen mit Konfusionen und Alternativen – und es ist am Zuschauer/an der Zuschauerin, zu entscheiden, ob er/sie die heteronormative Perspektivierung privilegiert – oder die Variante, die Heteronormativität durchstreicht.
P ILLOW T ALK In Michael Gordons Film aus dem Jahr 1959, der wegen seiner raffinierten SplitScreen-technik als stilistisch besonders avanciert gilt,3 spielt Doris Day die erfolgreiche Innenarchitektin Jan Morrow,4 die sich mit dem Komponisten Brad Allen (gegeben von Rock Hudson)5 eine Telefonleitung teilen muss. Da Allen ständig mit seinen vielen Freundinnen am Telefon flirtet, kann Morrow, die den Lebenswandel des Playboys lebhaft missbilligt, ihr Telefon kaum benutzen. Im-
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Gespielt wird mit dem Split-Screen-Verfahren – als Stilmerkmal der Sex Comedies mit Doris Day – in Peyton Reeds DOWN WITH LOVE aus dem Jahr 2003, einer gelungenen, im Jahr 1962 situierten Hommage an die Day-Hudson-Komödien mit René Zellweger und Ewan McGregor.
4
Doris Day spielt also eine berufstätige Frau, eine Karrierefrau, die allerdings auf einem Gebiet tätig ist – der Verschönerung der häuslichen vier Wände –, das als traditionell ›weiblich‹ semantisiert ist.
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Day und Hudson waren ein so überzeugendes match auf der Leinwand, dass ihrer ersten Sex Comedy zwei weitere folgten: Delbert Manns LOVER COME BACK (1961) und Norman Jewisons SEND ME NO FLOWERS (1964).
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mer wenn sie den Hörer abhebt, präsentiert sich ihr ein LiebesgeflüsterHörstück.6 Abbildung 1: Jan Morrow als unfreiwillige Zuhörerin
Abbildung 2: Geteiltes Bad, geteilter Screen
Beim abendlichen Ausgehen trifft Allen zufällig Morrow und stellt sich ihr – er weiß, wie sehr sie Brad Allen hasst – als texanischer Geschäftsmann Rex Stetson vor, als etwas einfältiger, aber höflicher, zurückhaltender und ehrbarer Gentle-
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Seinen zahlreichen Geliebten singt Brad Allen, der Komponist, am Telefon jeweils den Song »You are my inspiration« in verschiedenen Sprachen vor, an die Titelzeile hängt er jeweils die Namen derjenigen an, mit der er gerade spricht: »You are my inspiration, Marie. A perfect combination, Marie«, beziehungsweise »Tu es une inspiration, Yvette. Une parfaite combination, Yvette«.
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man. Morrow beginnt, mit dem gutaussehenden Stetson auszugehen. Das missfällt ihrem langjährigen Verehrer, dem Millionenerben Jonathan Forbes (gegeben von Tony Randall), der einen Detektiv auf Stetson ansetzt – und schnell herausbekommt, dass der angebliche Texaner jener Brad Allen ist, der mit Morrow eine Telefonleitung teilt und überdies für ihn, Jonathan Forbes, arbeitet, Kompositionen schreibt. Nach einigen Verwicklungen erfährt auch Morrow von der Identität von Stetson und Allen – sie schickt Dr. Jekyll und Mr. Hyde in Personalunion in die Wüste. Allen, der sich inzwischen in die Spröde verliebt hat, beendet seine zahlreichen Affären und engagiert das Büro für Innenarchitektur, für das Morrow arbeitet, zur Umgestaltung seines Apartments, um den Kontakt zur Angebeteten wiederherzustellen. Morrow übernimmt den Auftrag und macht aus dem Junggesellenapartment (das mit Schaltern ausgestattet ist, um die Wohnungstür zu verriegeln, das Licht zu dämpfen, den Plattenspieler einzuschalten und ein Doppelbett auszuklappen) eine mit überbordendem orientalischen Kitsch ausgestattete grünrote Lasterhöhle. Der ob dieser innenarchitektonischen Glanzleistung enragierte Allen sucht Morrows Apartment auf, reißt die Angebetete aus ihrem Bett und trägt die Protestierende auf seinen Armen in seine verschandelte Wohnung, um die Innenausstatterin mit der angerichteten Katastrophe zu konfrontieren. Als er danach wutentbrannt sein Apartment wieder verlassen will, weiß Morrow – die plötzlich erkennt, dass Allen der Mann ihres Lebens ist – die Apparaturen der Junggesellenhöhle zu benutzen: Sie verhindert den Abgang des Komponisten, indem sie mit einer Fernbedienung die Tür verriegelt. Das Paar kann sich in die Arme fallen.7 Dieses dénouement der Liebesgeschichte ist bemerkenswert, weil damit der Protagonistin eine Rolle zugewiesen wird, die zuvor selbstverständlich vom Pro-
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Am Ende von PILLOW TALK findet sich nicht nur dieses Hauptpaar, sondern auch ein komisches Nebenpaar. Jan Morrow beschäftigt eine ältere Haushaltshilfe, die sich jeden Abend – aus Einsamkeit und Frustration – betrinkt und schwer verkatert morgens zum Dienst erscheint. Hans Schifferle beschreibt diese Nebenfigur als »komische, anarchistische und sehr schmerzliche Figur, gespielt von der großartigen Thelma Ritter. Sie stellt die alte, alleinstehende Haushälterin von Doris Day dar, die jede Nacht durchsäuft. Sie kommentiert den Geschlechterkampf wie ein griechischer Chor und ist selbst jenseits der Geschlechterrollen ein mahnendes Beispiel für die Schrecken des Alleinseins.« (Schifferle 2004: 25) Nicht lange bevor der Film endet, deutet sich (nach mutmaßlich hunderten von gemeinsamen Aufzugsfahrten, die die Haushälterin mit dem Liftführer in Morrows/Days Wohnhaus absolvierte) eine Paarbildung beider in derselben Wohnanlage Beschäftigten an.
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tagonisten ausgefüllt wurde: Er präsentierte sich als unverbesserlicher Kater, der in seiner Höhle Mäuse fing, als Playboy, der dafür sorgte, dass das jeweilige Häschen die Wohnung nicht vorzeitig verließ. In diesen Sequenzen von PILLOW TALK (die durchaus die Schlusssequenzen sein könnten, es aber noch nicht sind) ist Morrow diejenige, die ›am Drücker‹ ist, die Allen mit seinen eigenen Waffen schlägt: Protagonistin und Protagonist haben ihre Rollen und ihre Strategien miteinander getauscht. Wie häufig im Screwball-Genre ist es auch hier in der Sex Comedy die Protagonistin, die das Paar generiert. Parallelen zum Screwball-Genre gibt es, signifikant modifiziert, den Film hindurch: So bemüht sich Morrow den unbedarften und weltfremden Rex Stetson mit dem Leben und der Liebe bekannt zu machen (ein ähnliches Projekt verfolgte die Protagonistin von BRINGING UP BABY mit ihrem Auserwählten). Während Dr. David Huxley (Cary Grant) aber in der Fiktion der Screwball Comedy tatsächlich ein weltabgewandter Wissenschaftler ist, ist der in der Sex Comedy PILLOW TALK von Rock Hudson gegebene Rex Stetson eine Figur, die vom gewieften und lebemännischen Brad Allen erfunden wurde, um die ein wenig prüde Junggesellin Jan Morrow aus der Reserve zu locken. (Wir haben es hier mit einer der Spiel-im-Spiel-Konfigurationen zu tun, die für Comedies so konstitutiv sind.) In einem von seinen gelegentlichen Telefonaten – über die gemeinsame Leitung – mit Morrow äußert Allen gar die Vermutung, Stetson, bislang ohne Versuch einer erotischen Annäherung an Morrow, sei mutmaßlich schwul. Und Stetson teilt beim nächsten Treffen – Allen spielt sein Spiel mit Morrow – der Begleiterin umgehend mit, er liebe schöne Stoffe, interessiere sich für Kochrezepte – und er spreizt den kleinen Finger auffällig ab, als er einen Drink nimmt. Wie Richard Dyer konstatiert: »Here is this gay man (Roy Scherer Jnr, Rock’s real name) pretending to be this straight man (Rock Hudson) who’s pretending to be a straight man (the character in the film) pretending to be a gay man (for the sequence or gag in the film).« (Dyer 1993: 31) Diese – und weitere – »hysterical pleasures of confusion« (ebd.) werden im Film in Szene gesetzt. Als Allen seinen Freund und Auftraggeber Jonathan Forbes in dem Gebäudekomplex, in dem dieser sein Büro hat, aufsucht und als er bemerkt, dass Jan Morrow sich in Forbes’ Büro aufhält, weicht er in eine Arztpraxis aus, die sich auf demselben Flur wie das Forbes-Büro befindet (um zu vermeiden, dass der Freund ihn, den Morrow für Rex Stetson hält, als Brad Allen begrüßt). Allen geht davon aus, dass es sich um die Praxis eines Allgemeinarztes handelt (er hat übersehen, dass die Tür eine Praxis für Geburtshilfe ausweist) und fragt bei der Sprechstundenhilfe nach einem Termin: Der Arzt solle sich um seine Bauchschmerzen kümmern. Die irritierte Sprechstundenhilfe informiert im Behandlungszimmer den Doktor, der herausstürzt, aber Allen, der inzwischen gegangen ist, nicht
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mehr antrifft. Während die Helferin feststellt: »He was obviously a psychopath«, entgegnet Dr. Maxwell: »What if he weren’t? ... Miss Resnick, medical science still has many unknown regions to explore.« Und es gelingt Dr. Maxwell tatsächlich der medizinischen Sensation, des schwangeren Mannes, habhaft zu werden. In der Schlusssequenz des Films, die unmittelbar auf die Paarfindungsszene in Allens neu eingerichteter Wohnung folgt – ein kleiner Epilog »3 months later« –, schauen wir Allen zu, wie er den Freund Jonathan aufsucht, um ihm zu erzählen, dass Jan mit ihm, Allen, ein Baby erwarte. Dr. Maxwell und seine Sprechstundenhilfe sehen ihn auf dem Gang. Während sie ihn mit vereinten Kräften in die Praxis ziehen, versucht Allen die Situation zu klären: »You don’t understand. I’m gonna have a baby!« »Of course you are«, entgegnet Dr. Maxwell, der Allen wegzieht, während der nach seinem Freund ruft: »Jonathan! Jonathan!« (vgl. zur Schlusskonfiguration auch den Verweis in Fuchs 1997: 244f.) Dieses Ende (das an die Szenen, die den Film eigentlich schon beenden, das heterosexuelle Paar generieren, noch angehängt ist) subvertiert hinreißend komisch die boy-gets-girl-Geschichte, die PILLOW TALK erzählt. An das Ende der boy-meets-girl-Story ist eine Sequenz angehängt, die ein schwules Paar, Jonathan-Allen, das es hätte geben können, imaginiert – eine Sequenz, die die heterosexuelle Paarbildung ironisch kommentiert, mit Genderkonfusion – und ›unknown regions‹ – kokettiert. Interpretiert man PILLOW TALK tatsächlich von dieser letzten Szene her, präsentiert sich die Sex Comedy nicht als eine, der es um die Läuterung eines Playboys und das glückliche Unter-die-Haube-Kommen einer Karrierefrau geht, sondern als Verwirrspiel à la LA CAGE AUX FOLLES (F/I 1978, R: Edouard Molinaro). Der Filmzuschauer hat zu entscheiden, welche der »konkurrierenden«8 Schlusssequenzen er privilegiert, seinem Fingerspitzengefühl ist es überlassen, auszutarieren, welches happy ending Gordons Sex Comedy eigentlich anbietet: ein konventionelles, auf fixen Geschlechterrollen basierendes Paarglück oder das Vergnügen der Exploration unbekannten Genderterrains und der Transgression fixierter Genderrollen. Auf diese Schlusskonfiguration folgt der Abspann des Films – animiert (wie auch der Vorspann).9 Wir blicken auf zwei Kopfkissen (ein blaues und ein oran-
8
Die Formulierung ist ein wenig unsauber: Als eigentliche Schlusssequenz ist nicht die Paarfindungssequenz, sondern Brad Allens Erlebnis vor der Arztpraxis aufzufassen, ist das doch die letzte Sequenz des Films.
9
»Bettgeflüster beginnt [und schließt] wie alle Day-Hudson-Filme mit einer schick animierten Titelsequenz, über der ein melodiöser Doris-Day-Song liegt. Die Verwandtschaften zum Comic und zum Melo werden so angedeutet. Nach dieser CreditSequenz, die heute wie ein schöner Vorreiter der Zeichentrick- und Anime-Passagen
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gefarbenes), eingeblendet wird »The End«. Momente später sind die beiden pillows durch ein quadratisches, rosafarbenes Zierkissen ergänzt, das mit der Einblendung »not quite« versehen wird. Es folgt ein weiteres Kissen, nochmals die Einblendung »not quite« – und noch zwei mit derselben Einblendung. Abbildung 3: The end … not quite!
von Tykwer und Tarantino wirkt, wird rasch in die Apartments und Schlafzimmer des Big Apple geblendet.« (Schifferle 2004: 24 [Herv. i.O.])
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Man mag diesen Abspann lesen – und damit folgt man sicher der privilegierten Leseanweisung – als Allegorisierung der prokreativen Erfolge des (Ehe-)Paars, dessen Familiengeschichte noch ›nicht ganz‹ an ein Ende gekommen ist. Möglich ist aber auch eine Lektüre, die die Stabilität des gerade geschlossenen Paarpakts in Zweifel zieht, die blauen oder rosafarbenen Zierkissen könnten für Liebeleien, für Amouren, für Nebenbeziehungen des einen oder der anderen stehen10 (und damit auch wieder das happy ending in Frage stellen).11 Konkurrieren diese beiden Lesarten, die konservativ-generative und die die Institution der Ehe subvertierende, miteinander, ist die Interpretation der Animations-Sequenzen als Räsonnement über die Schwierigkeit ein Ende als Ende zu markieren mit beiden
10 Neben den Comedies des Typs ›Single lernt Mann kennen‹ hat Doris Day immer wieder auch Filme des Typs ›Wir sind ein glückliches Paar, oder nicht?‹ gedreht. In PLEASE DON’T EAT THE DAISIES (MEISTERSCHAFT IM SEITENSPRUNG, USA 1960) oder THE THRILL OF IT ALL (WAS DIESE FRAU SO ALLES TREIBT, USA 1963) werden die unterschiedlichsten Gefährdungen der ehelichen Gemeinschaft verhandelt und in Szene gesetzt. 11 Dass es mit der Verbindlichkeit, dem ›abschließenden‹ Potenzial von Hochzeiten, die doch in so vielen Komödien als Schließungsfiguren herhalten müssen, prekär bestellt ist, macht auch der zweite Film, den Doris Day mit Rock Hudson drehte, LOVER COME BACK, deutlich. Nach vielen Verwicklungen heiraten die Protagonisten in LOVER
COME BACK und verbringen eine Hochzeitsnacht. Die Ehe wird danach annul-
liert. Das Paar heiratet ein zweites Mal, als die Braut auf dem Weg in den Kreissaal ist, um das Kind, das sie in ihrer ersten Hochzeitsnacht empfangen hat, zu entbinden. Eine dritte Hochzeit – eine kirchliche Hochzeit – verspricht der Bräutigam der Kreißenden beim nächsten Kind. Allein diese Multiplikation des ›einmaligen‹ die Liebesgeschichte ›besiegelnden‹ Aktes Heirat evoziert subversive Effekte.
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Lesarten zu vereinen. Stets kommt noch etwas ›danach‹. An das, von dem behauptet wird, es sei das Ende, kann immer noch etwas anschließen: The End – not quite.
T HAT T OUCH
OF
M INK
In Delbert Manns THAT TOUCH OF MINK, drei Jahre nach PILLOW TALK gedreht, teilt Doris Day die Leinwand nicht mit Rock Hudson, sondern mit Cary Grant. Die zu Beginn des Films arbeitslose Protagonistin Cathy Timberlake ist ausgebildet, Computer – in den frühen Sechzigern: riesige, mit Lochkarten operierende Apparaturen – zu bedienen, und wird auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch vom Rolls Royce des reichen Geschäftsmannes Philip Shayne mit Schmutzwasser bespritzt. Der Wagen fährt weiter, Timberlake steht Shayne allerdings ein paar Minuten später in persona gegenüber, um sich über seine ›Unfallflucht‹ zu beschweren. Beim ersten Anblick verliebt sie sich in ihn; und auch der schwerreiche Shayne ist von Timberlake angetan und braucht keine lange Bedenkzeit, um die Schöne auf eine Luxusreise auf die Bermudas einzuladen. Timberlake missversteht das Angebot als Heiratsantrag, Shayne stellt aber klar, dass er an Ehe nicht denke. Trotz ihrer Sittenstrenge und ihrer Sehnsucht, geheiratet zu werden, lässt sich Timberlake auf das unmoralische Angebot, auf die Bermudas zu fliegen, ein – um dann doch, als last minute rescue Hautausschlag zu bekommen (und so die Liebesnacht zu vermeiden). Frustriert fliegt Shayne am nächsten Morgen nach New York zurück. Auch ein zweiter von Cathy Timberlake angestrengter Versuch, das ausgefallene Liebesabenteuer auf den Bermudas nachzuholen, scheitert: Sie trinkt sich Mut an – und endet im Delirium. Philip Shayne erkennt, dass es mit der Affäre – die Auserwählte kann ihre kleinstädtischen Wurzeln und ihre prüden Überzeugungen nicht über Bord werfen – nichts werden wird und bringt Timberlake in einer seiner Firmen als Computerfachkraft unter. Dort richtet sie ein unglaubliches Chaos an12 – und Shayne beschließt, einen Ehemann für sie zu finden, um den Arbeitsmarkt vor ihr zu schützen: »The Four Horsemen now have a riding companion. There’s War, Famine, Death, Pestilence, and Miss Timberlake!« Zum guten Schluss heiratet er sie selbst – und entwickelt bei der Hochzeitsreise, zum dritten Mal geht es auf die Bermudas, als Ehemann jenen nervösen Ausschlag, der Cathy als Unverheiratete am Sex gehindert hatte. Die Hochzeitsnacht ist aber nur aufgehoben: In
12 Frauen und Computer passen in Manns THAT TOUCH OF MINK tatsächlich noch schlechter zusammen als Männer und Frauen.
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den Schlussszenen des Films sehen wir Cathy und Philip einen Kinderwagen schiebend im Park – begleitet von Roger, Philips Finanzberater. Roger bleibt ein paar Augenblicke allein mit dem Kind zurück und trifft zufällig auf seinen Psychiater Dr. Gruber, der ihm eine Behandlungspause auferlegt hatte (weil der Psychiater selbst seinen Analytiker in Wien aufsuchen wollte). Dr. Gruber fragt ihn: »What happened with that wealthy gentleman friend of yours?« Roger: »The wedding was last July.« Dr. Gruber: »How does it work out?« Roger (beugt sich zum Kinderwagen hinunter, nimmt das Baby heraus und präsentiert es stolz seinem – konsterniert dreinblickenden – Psychiater): »Take a look.« Die Schlusssequenz knüpft an eine Filmszene an, in der wir einem Besuch Rogers bei Dr. Gruber beiwohnen – Philip Shaynes neurotischer Berater, ehemaliger Ökonomieprofessor in Princeton, der für den schnöden Mammon seine wissenschaftliche Karriere aufgegeben hat, unterzieht sich seit Jahren einer Psychoanalyse. Gruber fragt seinen auf der Couch liegenden Patienten eingangs der Sitzung nach neuen Entwicklungen auf dem Aktienmarkt, Roger versorgt ihn en passant mit Insidertipps und Dr. Gruber schleicht sich – der frei assoziierende Finanzberater merkt davon nichts – aus dem Büro, um seinem Börsenmakler einen Kaufauftrag zu geben. Als Gruber seinen Platz hinter der Couch wieder einnimmt, ist Roger dabei, die Liebesgeschichte zwischen seinem Chef, Philip Shayne, und Cathy Timberlake, die ihn sehr bewegt, zu erzählen: Er entwickelt deren Story – eine kleine Übung in Empathie vornehmend – aus der Ich-Perspektive der von ihm bewunderten Cathy.13 Dr. Gruber missversteht die Schilde-
13 Roger beginnt seine Ausführungen, als Gruber bereits das Zimmer verlassen hat: It took a woman to prove it. There’s this girl, let’s call her… Cathy Timberlake. […] The way she stood up to him, it was inspiring. And it took courage. I kept thinking: What would I have done if I were in her shoes: unemployed, no money? [In diesem Moment betritt Dr. Gruber wieder den Behandlungsraum.] Roger: This very wealthy man sees me walking down the street, is terribly attracted to me, has me brought up to his office. I have to admit he’s quite charming. After the usual preliminaries – dinner and dancing – he invites me to Bermuda. Dr. Gruber: Just like that? Roger: This is a forceful, dynamic man, accustomed to getting his own way! Dr. Gruber: Uh-huh. Roger: Get given the complete wardrobe, including a mink coat, flown to Bermuda, taken to the best suite. This man offers everything: excitement, comfort, security. Believe me, Doc, it’s not easy to turn down an offer like that. Dr. Gruber: No, it’s not… Uh, look, Roger, something quite urgent has come up. Would you mind if we cut the session short?
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rung. Er ist alarmiert, nimmt er doch an, sein Patient habe eine schwere GenderIdentity-Störung und entpuppe sich als homosexuell. (Nachdem er Roger nach Hause geschickt hat, ruft er seinen Börsenmakler an: »Cancel that order for Consolidated Wire! My informant has developed some instabilities which makes his judgment questionable.«) Rogers Entwicklung, die Liebes- und Heiratsbeziehung zwischen zwei Männern, beunruhigt ihn so sehr, dass er wenig später seine Praxis vorübergehend schließt, um sich selbst wieder in psychoanalytische Behandlung nach Wien zu begeben. Gerade aus Österreich zurückgekehrt, trifft er nun Roger, der ihm stolz ›sein‹ Baby präsentiert. Wie in der Schlussszene von PILLOW TALK evoziert das Ende von THAT TOUCH OF MINK ein homosexuelles Paar – die männliche Schwangerschaft (in PILLOW TALK ›diagnostiziert‹) ist hier ›ausgetragen‹: Das Baby strahlt in die Welt und kann dem Psychiater gezeigt werden. Wieder steht nicht das heterosexuelle Paar, das sich in THAT TOUCH OF MINK zur Ehe findet, am Ende des Films, es wird Platz gemacht für eine Persiflage des boy-meets-girl-Schemas. Am Schluss von Doris Days und Cary Grants Komödie, in der doch die konservativen Werte der Fünfziger und Sechziger zu obsiegen scheinen – in der die Ehe nach wie vor eine Voraussetzung für Sex ist und in der Frauen nicht in den Arbeitsmarkt eintreten, sondern in den Hafen der Ehe einlaufen sollen –, steht eine burleske Inszenierung von Genderkonfusion, wird der Blick frei auf eine bislang ›unknown region‹, in der Männer Männer lieben, heiraten und mit ihnen Kinder haben: Der zuständige Psychoanalytiker kann sich ein Bild davon machen – genau wie der Filmzuschauer, der auf dieses komische Schlussszenario blickt, das die heterosexuelle ›Haupthandlung‹ ironisch kommentiert und unterläuft. Ein Ende, das karnevalesk daherkommt, das ›eigentliche‹ – das heterosexuelle – ending parodiert und dekonstruiert. Von diesem Schluss ausgehend erweist sich für den Zuschauer nicht das konventionalisierte happy ending als vergnüglich, sondern dieses freche Spiel mit den gesellschaftlichen Normen und Erwartungshaltungen.14
Roger: No, no, of course not. Dr. Gruber: I want to see you first thing in the morning, though. I think we should examine this new development. Roger: Exciting, isn’t it? Dr. Gruber: Yes, that’s quite a breakthrough you’ve made. 14 Das happy ending heterosexueller Paarbildung in THAT TOUCH OF MINK wird aber nicht nur subvertiert durch diese Schlusspointe, sondern auch durch eine kleine Nebenhandlung – ganz am Rande des Geschehens. Nach einer furiosen ›Verfolgungsjagd‹ – Shayne fährt Timberlake nach, die sich mit einem anderen Mann in ein Motel
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Abbildung 4: Schlusspointe
Die happy endings der in den in den Blick genommenen Sex Comedies sind, das bleibt festzuhalten, allesamt prekär. Das ›Glück‹ des Schlusses wird häufig gewaltsam hergestellt15 – Glück, das nicht nur deshalb heikel zu sein scheint: Ob ein happy ending als happy ending ›durchgehen‹ kann, ist immer eine Frage der Perspektivierung und der Interpretation. In den besprochenen Comedies werden konkurrierende Schließungsfiguren angeboten: Dem konventionalisierten happy ending, das die heterosexuelle Paarbildung feiert, stehen etwa burleske Inszenierungen nicht-heterosexueller Konfigurationen entgegen, aber auch supple-
aufgemacht hat, um sie aus den Armen ihres ›Liebhabers‹ zu reißen – stürmt zunächst der Protagonist Philip Shayne, dann Roger, auf der Suche nach Cathy in das Zimmer eines frisch verheirateten Paares. Der Ehemann im Motel missversteht das Interesse, von dem er glaubt, dass es sich nur durch das anscheinend libertine Verhalten seiner Gattin vor der Heirat erklären lasse, greift zum Telefonhörer – und bittet seine Mutter, die in allem, insbesondere in ihrer Einschätzung seiner Braut, recht gehabt habe, ihn abzuholen und wieder zu sich nach Hause zu holen. Die ›glückliche‹ Paarbildung Timberlake/Shayne (die – nicht nur in dieser Sex Comedy – eine gewaltsame ist: Als Shayne Timberlake in einer Telefonzelle am Motel entdeckt, schnappt er sich das Objekt seiner Begierde und trägt es über seiner Schulter davon) hat einen Preis: Sie kostet eine (andere) Ehe. Der frisch verheiratete Mann von Zimmer 9 wird sich scheiden lassen und wieder bei seiner Mutter einziehen – ein komödiantisches, aber auch ein unglückliches Supplement-Ende. 15 Greifen die männlichen Protagonisten gelegentlich zu Gewalt, um sich ihre Liebste zu sichern (oder auch vice versa), ist darauf zu verweisen, dass die Setzung des Schlusses als Setzung strukturell immer ›gewaltsam‹ ist.
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mentierte unhappy endings: So führt die Eheschließung von Timberlake und Shayne (Doris Day und Cary Grant) zur Scheidung eines anderen Paares – Glück ist nicht umsonst, die Ehe von Shayne und Timberlake kostet eine andere Ehe. Und was die Opposition zwischen Tradition und Burleske angeht: Letztlich ist es dem Zuschauer aufgegeben zu entscheiden, ob er dem Glück der Konvention oder dem karnevalesken Vergnügen ironischer Subversion den interpretativen Vorzug gibt.16 Das Ende als Ende ist bei beiden Filmen alles andere als fraglos.17 Wenn mit Shoshana Felman festzuhalten ist: »The end is generally that which by definition cannot repeat itself« (Felman 2003: 35), verfehlen die Comedies diese Vorgabe. Deren Enden sind immer vorläufige – eigentlich keine – Enden, läuten nur eine neue Game-Over-Restart-Runde ein: »The End« – »not quite«. Die Comedies prozessieren mithin die Frage, wie belastbar das ›ending‹ ist – und wie belastbar das Epitheton ›happy‹ der Konfiguration happy ending. Sie enthalten uns die konventionalisierte Schließungsfigur nicht vor: Immer aber setzen sie deren Paradoxien in Szene. Und eines tun die Comedies fraglos nicht: Einlinig das heteronormative Programm verfechten.
16 Vgl. auch Katrin Oltmann, die ausführt: »Bezüglich des subversiven Potenzials von Comedy [und deren Genre-Konvention happy ending] gibt es zwei gegenläufige Meinungen. Im Anschluss an Bachtin wird häufig davon ausgegangen, dass Comedies herrschende Autoritäten und Normen durch die Topoi der verkehrten Welt und des Rollenwechsels unterlaufen. Von anderer Seite ist hingegen argumentiert worden, dass diese Derivationen von der Norm, die Transgressionen[,] teil der Genrekonventionen seien und damit lizensierter und integraler Bestandteil von Komödien. Die Normen, die transgrediert würden, würden eben zuallererst einmal als Normen anerkannt. Es lässt sich wohl keines von beiden, weder die Affirmation/Reetablierung noch die Subversion geltender Normen und Institutionen, ausschließen.« (Oltmann 2007: 182, Anm. 51) 17 Nicht suggeriert werden soll, dass die Infragestellung des Endes als Ende nur für das Genre Sex Comedy gilt. Auch für andere Genres lässt sich zeigen, wie prekär ›closure‹-Figurationen sind. Melodram und Gangsterfilm sind zwar in der Regel so gestaltet, dass ›am Ende‹ die symbolische Ordnung wiederhergestellt ist. Das Vorangegangene (familiäre Konflikte, seelische Probleme, Krankheiten, Gender-Invertierungen etc.) ›entlarvt‹ das Schlussbild (das uns der familiären Eintracht versichert, ein glückliches Liebespaar präsentiert oder den Gangster liquidiert) aber als idealisiertes Trugbild.
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THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW – Queere Theorien und mediale Transformationen J OHANNES B REUER
Gender stellt eine der produktivsten Kategorien zur Betrachtung von Medien dar wie auch die Beobachtung von gender durch Medien profitiert. Von geschlechtlichen Repräsentationen über motivische Konstellationen bis hin zu rezeptionsorientierten Fragestellungen reicht das komplexe – teils widersprüchliche – Spektrum medien- und genderwissenschaftlicher Ansätze. So können Medien grundlegend zur Konstitution und Normierung gender- wie begehrensbezogener Strukturen beitragen, sie ermöglichen aber auch Kritik und Umgestaltung dieser. Die Beobachtung von Medien formiert und transformiert sich dabei in ihrem Verhältnis zu gender, wie auch die Beobachtung von gender durch Medien angeregt, erweitert und verändert wird. Diese Dynamik und Wechselseitigkeit wird hier im Fokus stehen und als ein sich transformierendes Verhältnis beschrieben werden. Dabei bieten – so die These – queere Theorien1 einen geeigneten Rahmen, in welchem das Verhältnis von Medien und gender erhellt wird, sowohl filmanalytische als auch medientheoretische Zugriffe zu bereichern sind und schließlich der Komplex aus Wissen und Macht beobachtet werden kann. Queere Theorien sind im medienwissenschaftlichen Kontext »eine Leerstelle, die provoziert« (Bernold/Braidt/Preschl 2004: 11) und deren Potenziale hervorzuheben sind. Dieser Vermutung folgend soll gezeigt werden, dass die Auseinandersetzung mit queeren Theorien auf verschiedenen Ebenen fruchtbar sein kann und sowohl den Blick auf filmische Inszenierungen öffnet als auch die Analyse medialer Konstellationen erweitert. Dies wird anhand des Films THE
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Der Plural ist in der eindeutschenden Übertragung bewusst gewählt – bringt das Schlagwort queer und auch seine Konkretisierung als Queer Theory doch eine Vielzahl von Entwürfen und Fragen hervor, deren Fülle hier betont werden soll.
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ROCKY HORROR PICTURE SHOW (1975) exemplarisch konkretisiert und ausblickend um eine wissenschaftskritische Dimension ergänzt. Die Annahme, dass queere Theorien filmanalytisch wie medientheoretisch produktiv sind, basiert auf ihrer relationalen Bestimmung, die Verhältnisse und nicht Qualitäten beobachtet. Insofern wird in der Verbindung queerer und medienwissenschaftlicher Theorien zu betonen sein, dass prozessuale Momente hervorgehoben werden, dass nicht die Statik einer Zuschreibung als queer, sondern die Dynamiken im Verhältnis von Norm und Abweichung zu betrachten sind. Diese werden in und durch Medien prozessiert und erst mit der Anbindung an queere Theorien in ihrem transformierenden Potenzial ersichtlich.
Q UEERE F ILME ? E IN MEDIENWISSENSCHAFTLICHER Z UGRIFF AUF QUEERE T HEORIEN Eine Annäherung an den zentralen Begriff queer und auch eine Darstellung des Kontextes, in dem sich queere Theorien entwickelt haben, zeigt, dass sehr vielfältige und divergierende Bestimmungen vorherrschen. Queer findet sich im politischen Aktivismus, in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und auch im Film. In all diesen Bereichen besitzen queere Theorien »the potential to challenge normative knowledges and identities« (Sullivan 2003: 44). Sie zeigen durch diskursanalytische wie performanztheoretische Überlegungen, durch identitätskritische und allgemein machtanalytische Perspektiven, wie Normierungen entstehen, wie diese aufgebrochen werden und wie dabei sowohl inkludierende als auch exkludierende Mechanismen in ihrer Prozesshaftigkeit und in ihren Geltungsbedingungen zu beobachten sind. Sie bilden jedoch nicht bloß ein wichtiges theoretisches Fundament, sondern sind gleichzeitig auch als methodische Anreize zu verstehen, die Relationen hervortreten lassen und als solche reflektieren (vgl. Jagose 1996: 98). Dies macht queer zu einer komplexen Forschungsperspektive, die als wandelbar zu bewerten ist und in ihrer transdisziplinären Ausrichtung vielfältige Übertragungen birgt. Im Hinblick auf filmwissenschaftliche Zugriffe verleiten einige der theoretischen und methodischen Impulse dazu, queer als eine Eigenschaft von Filmen zu begreifen. So steht die Frage im Vordergrund, ob ein Film queer ›ist‹ und was diese Art der Bezugnahme begründet. Exemplarisch ausgewählt geben Benshoff und Griffin hierzu fünf mögliche Antworten (vgl. Benshoff/Griffin 2006: 9f.). Laut ihnen ›ist‹ ein Film unter anderem queer durch seine Figuren oder sein Genre, aber auch durch die Filmrezeption als eine Identifikation mit dem Anderen. Diese Möglichkeiten überlagern sich, wie die Autoren betonen (vgl. ebd.: S.
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12). Aus meiner Sicht stößt man jedoch nicht bloß aufgrund dieser generalisierenden Zugriffsweise2 auf ein Problem: Diese Art der begrifflichen Verwendung von queer neigt zur Wiedereinführung einer kategorialen Norm, indem bei Benshoff und Griffin bereits konzeptionell queer gegenüber Heteronormativität zur Dichotomie erhoben wird. Mir geht es hingegen darum, das Potenzial queerer Theorien im Hinblick auf prozessuale Momente zwischen Norm und Abweichung zu betonen. So beschäftigen sich queere Theorien grundlegend mit dem Verhältnis von Norm und Abweichung und fokussieren dessen Genese wie Wirkmacht. Für die Frage, ob ein Film queer ›sein‹ kann, eröffnet sich daher eine andere Perspektive. Im Unterschied zu Benshoff und Griffin gilt es queer dahingehend zu betrachten, dass es keinen kategorialen Status, keinen stabilen Inhalt, kein Signifikat besitzt (vgl. Sullivan 2003: 48). Als kulturwissenschaftliche Frageperspektive geht es bei queeren Theorien um dynamische Verhältnisse, indem generierende Mechanismen von Normativität und deren Aufbruch ins Zentrum einer Beobachtung rücken. Für Medien und konkret für den Film wird queer damit zu einem Prozess: »[Q]ueer does not function here as a label that one can appropriately (or otherwise) apply to (the essence of) a particular text. Rather than functioning as a noun, queer can be used as a verb, that is, to describe a process, a movement between viewer, text, and world, that reinscribes (or queers) each and the relations between them.« (Sullivan 2003: 192)
Eine Verknüpfung queerer Theorien mit film- und medienwissenschaftlichen Analysen ist dementsprechend nicht durch eine kategoriale Norm oder durch eine Reduktion als Abweichung von Heteronormativität zu fixieren, sondern durch Relationen, Schnittstellen und Spannungen zu kennzeichnen, welche in Filmen unterschiedlich performiert werden und sowohl ihre inhaltliche Darstellung als auch ihre medial-apparative Anordnung betreffen können. Hiermit werden zweifelhafte Dichotomien vermieden und queere Theorien auf die Untersuchung von Wechselbeziehungen zwischen gender und Begehren, zwischen Norm und Abweichung und letztlich auch zwischen Wissen und Macht erweitert. Im Folgenden werden sie daher als ›Beobachtungsinstrumente‹ verstanden und in ihren unterschiedlichen analytischen Potenzialen dargestellt.
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Generalisierungen mittels queer mögen als Potenzial gelten, sie bergen jedoch die Gefahr einer Konzeptualisierung als essenzielle Qualität (vgl. Halperin 1995: 62).
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T HE R OCKY H ORROR P ICTURE S HOW P OTENZIAL QUEERER T HEORIEN
UND DAS
Um sich der Frage anzunähern, wie das transformierende Verhältnis von gender und Medien zu erfassen ist, und um das prozessuale Moment queerer Theorien für diese Wechselwirkung zu nutzen, eignet sich das Beispiel THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW. Dieser Film nimmt innerhalb publizistischer und wissenschaftlicher Auseinandersetzungen eine besondere Stellung ein, er besitzt einen ›Kultstatus‹ und erscheint sowohl bezüglich seiner Entstehung als auch durch seine Handlung und seine Rezeption als queerer Film par excellence (vgl. Benshoff/Griffin 2006: 147). Jedoch gilt es nicht bloß festzustellen, dass eine Bezeichnung als queer zutreffen mag – vielmehr ist es für mich in Anbetracht der vielfältigen Impulse queerer Theorien erforderlich, die gezeigte Orientierung um die Analyse von Relationen anhand dieses Beispiels zu konkretisieren. Es wird zu fragen sein, inwieweit der Film Verhältnisse zwischen Norm und Abweichung performiert, wie diese in der Bezugnahme zu queeren Theorien fassbar werden, und inwiefern sie schließlich für die Beziehung von gender und Medien aufschlussreich sind. Dazu werden im Folgenden zwei Ebenen unterschieden: Zum einen wird die filmische Handlung, konkret die Figur Dr. Frank-N-Furter, im Hinblick auf gender betrachtet und eine Übertragung queerer Theorien als filmanalytischer Zugriff nahegelegt. Zum anderen wird anhand der Mediennutzung3 im Beispiel THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW eine Perspektive geöffnet, die das Medium Film in den Fokus stellt und queere Theorien nutzt, um Begehrensstrukturen medialer Anordnungen wie dem Kino zu beobachten. Queere Theorien als filmanalytischer Zugriff: Dr. Frank-N-Furter und die Genderdichotomie THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW bietet in einer handlungs- und figurenzentrierten Perspektive viele Beispiele, welche das Verhältnis geschlechtlicher wie begehrensbezogener Normierungen und deren Abweichung in Medien verdeutlichen können. So zeigen sich verschiedene Subtexte in mythisch zu betrachtenden Konfigurationen um die Erschaffung eines künstlichen Menschen (vgl. THE
3
Die Rezeption des Films hat vielfältige partizipative Ausprägungen, die von Verkleidungen über Initiationen für Erstseher_innen bis hin zum parallelen Nachstellen oder Kommentieren einzelner Szenen, häufig mit bestimmten Gegenständen, reichen. Eine Übersicht zur Entwicklung des Films und des partizipativen Verhaltens bietet Weinstock (2007: 12-21).
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ROCKY HORROR PICTURE SHOW: TC 0:36:32-0:41:36); in den Kontrastierungen von Eheschließungen werden normative religiös-juristische Konzepte hervorgestellt und gebrochen (vgl. ebd.: TC 0:06:19-0:08:05, 0:50:01-0:50:24 ); begehrensbezogen wird ein Spektrum um »heterosexual sex, homosexual sex, sexual fetishism [...] and group sex, as well as intimations of an incestuous relationship« (Weinstock 2007: 61) gezeigt; und sogar Kannibalismus wird als Grenzerfahrung in der Überschreitung präsentiert (vgl. THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW: TC 1:04:10-1:09:15). Trotz dieser Vielfalt wird im Folgenden lediglich die Figur Dr. Frank-N-Furter im Hinblick auf ihre genderbezogene Zuordnung betrachtet, denn diese macht bereits in einem selbstbeschreibenden Sprechakt deutlich, dass in dem Film THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW Formationen und Transformationen des Geschlechtlichen erfolgen und diese erst in der Fokussierung prozessualer Momente erfasst werden. Im fünften Song gibt die Figur Dr. Frank-N-Furter Auskunft über ihr Geschlecht, indem sie sich als »sweet Transvestite from Transsexual, Transylvania« (ebd.: TC 0:33:07) bezeichnet. Hiermit wird die Figur genderbezogen zugeordnet und zwar anhand heteronormativer Kategorien. Die Begriffe des Transvestitischen und – deutlicher noch – des Transsexuellen verweisen auf einen medizinischen Ursprung, der die Dichotomie Mann und Frau als natürliches Ideal annimmt. Gleichzeitig aber passt sich die Figur nicht in eben diese dichotome, für natürlich und stabil zu haltende Ordnung ein. In Anlehnung an Lamm – und hier wird bewusst die räumliche Bestimmung berücksichtigt – lässt die Kombination als transsexueller Transvestit in dieser heteronormativen Ordnung nur eine weibliche Frau oder einen männlichen Mann als einzig mögliche, wenngleich abweichende Schlussfolgerung zu.4 In diesem Ausschnitt zeigt sich eine Wechselseitigkeit, die zwischen Heteronormativität und Queerness zu betonen ist. So mag der Umgang mit Kategorien und mit einer normativen Zweigeschlechtlichkeit zwar durch den Aspekt des Transvestitischen hervorgestellt werden – doch gerade die sprachliche Kombination zeichnet erst die im Film erfolgende Genderkonstruktion in ihrer transformierenden Dynamik aus. Zentral ist in diesem Rahmen nicht die Frage, wie Dr. Frank-N-Furter als Frau oder als Mann inszeniert wird, wie Bezüge zu Transsexualität oder Transvestismus erfolgen, vielmehr rückt die Transformation in das Zentrum der analytischen Betrachtung. Die
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»Logically, if we assume that Frank is biologically male, then his transvestism would cause him to dress as a woman, but his transsexuality would actually make him a woman, thus producing a ›female woman‹ which he seems not to be; if he is female, then following the same logic, he would become a ›male man‹. Neither seems to be the case.« (Lamm 2008: 198).
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Genderkategorie wird nicht entlang ihrer Unterscheidung Mann oder Frau zugeordnet, durch den begrifflichen Verweis auf eine heteronormative Ordnung wird sie aber auch nicht abgelehnt. Somit wird die Dichotomie von gender selbst als eine Problemlage evident. »Frank’s body, regardless of its anatomical properties, becomes a canvas for play with genders while simultaneously refusing to be naturalized by them.« (Lamm 2008: 198) Durch den selbstbeschreibenden Sprechakt zeigt sich, dass eine Konstruktion heteronormativer Ordnungen bezüglich gender erfolgt – operiert sie doch mit deren Begriffen. Diese ist jedoch nicht erfolgreich, denn sie wird in einer logischen Bestimmung ad absurdum geführt bzw. rekursiv konstruiert und zugleich dekonstruiert. Eine solche filmanalytische Perspektive rekurriert auf queere Theorien, insofern Prozesse beschrieben werden und der Wechselbezug von Norm und Abweichung fokussiert wird. So zeigt das Beispiel, wenn es mit queeren Theorien assoziiert wird, dass eine genderbezogene Norm zwar entsteht, diese wird in ihrer Entstehung jedoch gleichzeitig auch als ungenügend perspektiviert, im Grunde sogar als arbiträr dargestellt. Die Konstruktion von gender und die Instabilität der Geschlechterdichotomie werden damit hervorgehoben, nicht jedoch in einer Alternative gebündelt und abgelehnt. In der filmischen Darstellung und durch die Bezugnahme zu queeren Theorien wird damit ein Prozess offensichtlich, der zwar beschrieben, aber nicht festgeschrieben werden kann. Queere Theorien in medientheoretischer Dimension: Die Partizipation und die disziplinarische Macht des filmischen Begehrens Filmwissenschaftliche Auseinandersetzungen zeigen anhand des Films THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW, dass Rezeption grundlegend als aktiver Vorgang zu beschreiben ist.5 Der hier vorgebrachte Vorschlag ist daran angelehnt, jedoch stellt die Rezeption nicht allein ein Beispiel für eine aktive Mediennutzung dar. Vielmehr offenbart sich die disziplinarische Macht des apparativmedialen Begehrens, indem sie in der Rezeption des Films exzessiv hervorgestellt und als solche beobachtbar wird.6 In der Fokussierung von Relationen
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In diesem Zusammenhang wird THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW in der einzigen Dissertation über diesen Film sogar als »the beginning of an explosive era in American social history: an interactive, mass-mediated culture« (Minor 1995: 14) betrachtet.
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Diese Perspektive erlaubt es, einem deterministischen Verständnis zumindest ansatzweise entgegenzuwirken, da weder Rezipierende noch das Medium Film alleinig betrachtet werden. Stattdessen eröffnet sich eine beobachtungtheoretische Dimension,
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können sich queere Theorien dabei als produktiv erweisen und verdeutlichen, dass mediale Begehrensstrukturen in ihrer Evidenzgewinnung transformiert werden. Der Film THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW bietet somit einen Zugriff auf begehrensbezogene Normierungen und deren Abweichung, die durch Medien prozessiert werden können. Wenn das Medium Film durch ein Begehren bestimmt wird, welches im Anschauen und im Beherrschen des angesehenen Objektes besteht, und in welchem geschlechtliche Einschreibungen präsent sind,7 so rückt genau dieses bei der Analyse des Films THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW in den Fokus. Durch das partizipative Verhalten während, vor und nach der Filmvorführung werden mediale Begehrensstrukturen sichtbar und die Rezeption des Films zeichnet sie in ihrer Aktivität aus. »[T]he film celebrates the moviegoing experience and even the movie theater itself as an arena for pleasure.« (Wood 1991: 164) Jedoch ist das Kino als Ort der Filmrezeption mit bestimmten Handlungsanweisungen verbunden, welche die Art der Rezeption und des Begehrens beeinflussen. »[T]he physical structure of the theatre itself implies the strength of the audience’s desire to consume the sounds and images which will be projected in front of them.« (Turner 1993: 110) Derart erweist sich das filmische Begehren als ein Diszipliniertes, welches im Spektrum von Kontrolle und Eingrenzung, aber auch Verfeinerung angeordnet werden kann.8 Durch die Partizipation wird diese disziplinarische Macht des filmischen Begehrens nicht unterlaufen, sie wird aber als solche evident. Und hier zeigt sich eine Transformation, da die Disziplinierung – nun sichtbar – als inhärente Begehrensstruktur des Mediums hervortritt und als solche beobachtet werden kann. Es eröffnet sich eine medientheoretische Dimension queerer Theorien, wobei das Medium Film als kulturelle Praxis betrachtet wird, welche sich durch unterschiedliche Mechanismen reproduziert und im Rahmen der Disziplinierung selbstbezogene Bedeutungen schafft (vgl. Turner 1993: 178).
die in ihrem aporetischen Verhältnis zwischen dem, was beobachtet wird, und dem, wie es beobachtet wird, zu betonen ist. 7
Besonders deutlich hebt dies Mulvey hervor, wenngleich sie von einem natürlichen Geschlechterkonzept ausgeht und eine problematische Dichotomisierung entlang des weiblichen Objektes und des männlichen Blickes im Film und im Kino vornimmt (vgl. Mulvey 1975: 11f.).
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Dies wurzelt im Machtbegriff Foucaults und dessen Konsequenz für eine Konzeptualisierung disziplinarischer, sowohl hervorbringender als auch restriktiver, Mechanismen (vgl. beispielsweise Halperin 1995: 18; Foucault 1996: 36f.).
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Das partizipative Verhalten im Beispiel mag zwar in Opposition zu medialen Disziplinierungen stehen und als queer bewertet werden – sträubt sich doch die Rezeption des Films THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW beispielsweise gegen eine Anordnung des schweigenden Publikums gegenüber der Leinwand.9 Es entsteht jedoch zugleich eine Normierung, die sich an das filmische Begehren anschließt. So wird mit der partizipativen Mediennutzung eine räumlich und zeitlich variierende Normkonstruktion hervorgerufen, indem spezifische Äußerungen und Handlungen während festgelegter Filmszenen stattfinden. Diese Normkonstruktion basiert auf dem Verlangen einer Teilhabe am filmischen Geschehen, welches dem Medium inhärent erscheint. THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW prozessiert daher in der exzessiven Partizipation ebenjenes Begehren – »the desire to ›be‹ the film, to dissolve the boundaries between the cinematic world portrayed and the real world inhabited by the viewers and to ›submit‹ to the film.« (Weinstock 2007: 41) Deutlicher als ein womöglich emanzipativer Gestus wird durch die Partizipation die disziplinarische Macht offenbart, die das Medium Film in seinem Begehren apparativ vollzieht. Die Partizipation verändert medial-apparative Begehrensstrukturen durch ihre Sichtbarmachung und betont sie in ihrer disziplinarischen Wirkung. Queere Theorien ermöglichen es, diese Perspektive einer Evidenzgewinnung zu stärken und durch eine Fokussierung von Macht wie auch durch ein Verständnis um deren Prozesshaftigkeit anreichern. So wird beispielsweise mit der Berührung der Leinwand während der Filmvorführung eine Abweichung in der medialen (Blick-)Anordnung präsent, diese offenbart aber zugleich die wirkmächtige, medienspezifische Begehrensstruktur und betont sie in ihrer Relevanz für die Rezeption (vgl. auch Wood 1991: 160). Hier zeigt sich also erst in der Abweichung die Norm und erst mit dem Eingriff in das filmische Begehren wird dieses als solches ersichtlich. Das konstitutive Verhältnis von Norm und Abweichung, von apparativ-medialer Disziplinierung und geschlechtlicher Begehrensstruktur im Film wie im Kino wird in seiner Wechselseitigkeit beobachtbar. Die Evidenzgewinnung durch das partizipative Verhalten scheint die medial-apparative Disziplinierung zu verändern und ermöglicht es, mediale Transformationen zu erfassen. So ändert sich mit der Sichtbarkeit die filmische Begehrensstruktur und macht diese in dem Versuch der Kontrolle über den Film als ein »desire inherent in the cinematic experience (and in discourse in general)« (Weinstock 2007: 45) perspektivierbar. In dieser medientheoretischen Di-
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Hierbei werden auch Modelle um die Einschreibung geschlechtlicher Zuordnungen dieses Begehrens, wie sie beispielsweise Mulvey entwirft, herausgefordert (vgl. Levy/Levy 2008: 91).
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mension stärken queere Theorien die Beobachtung von Prozessen, welche mediale Formationen und Transformationen, weitergehend auch mediale Zuordnungen und deren Machtgefüge als solche reflektieren.
E IN AUSBLICK : N ORMIERUNGEN
DURCH
Q UEER ?
Mein Ziel war es, queere Theorien in filmanalytischer Hinsicht zu nutzen und eine medientheoretische Dimension zu stärken, welche geschlechtliche und begehrensbezogene (Trans-)Formationen in und durch Medien beobachtet. Potenziale queerer Theorien erweisen sich dabei als vielfältig und in ihrer relationalen Bestimmung als produktiv. So zeigen sich anhand des exemplarischen Zugriffs inner- und außerdiegetische (Trans-)Formationen und das Verhältnis von Medien und gender wird in seiner Dynamik wie Wechselseitigkeit sichtbar. Gender wird im Film THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW konstruiert und in diesem Prozess eine normative Ordnung ebenso dargestellt wie unterlaufen; medialapparative Begehrensstrukturen werden in der Rezeption hervorgestellt und in ihrer disziplinarischen Macht offensichtlich, nicht jedoch abgelehnt. Das Bemühen um eine Fixierung dieser Prozesse vor allem durch eine Wertung im Spektrum von Subversion oder Stabilisierung erweist sich hierbei als unzureichend. Es gilt gerade in der Assoziation queerer Theorien deren analytisches Potenzial nicht auf eine Eigenschaft zu reduzieren, sondern auf verschiedenen Ebenen die Beobachtung durch queer anzureichern und das prozessuale Moment im Spannungsfeld von Norm und Abweichung zu betrachten. Im Rahmen der vielfältigen Potenziale queerer Theorien ist jedoch auch ihre Generierung von Wissen im Sinne Foucaults als Ausübung von Macht zu verstehen (vgl. Foucault 1996: 42). Dieser Aspekt bedarf der eigenständigen Analyse und ist anhand der wissenschaftlichen Rezeption queerer Theorien aufschlussreich. Bezüglich des Films THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW kann dabei eine Tendenz der wissenschaftlichen Verhandlung aufgezeigt werden, die darum bemüht erscheint, Normierungen einzuführen oder – deutlicher noch – Irritationen und Aufbrüche zu betonen. So wird der Film aufgrund seiner Genderinszenierungen und seiner partizipativen Rezeption häufig als ›Queer Cinema‹ oder als ›queerer Film‹ verstanden, womit eine kategoriale Zuordnung privilegiert wird, die sich auch bei Bendhoff und Griffin in der theoretischen Dimension niederschlägt.10 Jedoch werden bei diesen Zugriffen Wechselseitigkeiten von Norm
10 Dieses Spannungsfeld findet sich auch in der Assoziation von Genre und gender. Bezüglich THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW werden zwar genrebezogene Transgres-
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und Abweichung ausgeblendet und Potenziale sowohl des Films als auch queerer Theorien verkannt. THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW scheint im Hinblick auf queere Perspektiven zwar vielfältige Anregungen zu vermitteln und ermöglicht – wie gezeigt – auf verschiedenen Ebenen Verknüpfungen, jedoch ist gerade wissenschaftlich die Verhandlung dieses Films davon geprägt, universelle und kategoriale Beschreibungen zu nutzen. Werden Genderkonstruktionen in diesem Film durch queer gebündelt und die Rezeption als queere Praxis untersucht, so ist ein Problemfeld virulent, welches die Wiedereinführung kategorialer Normen ermöglicht und erprobt. In diesem Sinne ist die film- und medienwissenschaftliche Analyse »by no means immune to the uncertain dynamics of inside and out« (Hanson 1999: 17) und bedarf selbst der Überprüfung, welche ein weiteres – wissenschaftskritisches – Potenzial queerer Theorien offenbart.
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sionen (beispielsweise durch die Bestimmung als Kultfilm) betont, eine Verknüpfung mit gender erlaubt jedoch Normierungen dieser. In Umkehrung werden genderbezogen Irritationen hervorgestellt, im Rahmen der Bestimmung des Films als Kultfilm oder als Musical zeigt sich jedoch auch eine normierende Bezugnahme der Kategorien. Die Kopplung von Genre und gender ist somit von einer Asymmetrie geprägt, die das Verhältnis von Norm und Abweichung im interkategorialen Verweis betrifft.
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F ILM THE ROCKY HORROR PICTURE SHOW (1975) (UK/USA, R: Jim Sharman)
Queer und Heute Von der De- zur Rekonstruktion D IRK S CHULZ
ANTIQUEERTE T EXTE »Being natural is simply a pose. And the most irritating pose I know.« »Names are everything. I never quarrel with actions. My one quarrel is with words.« OSCAR WILDE
Dies sind zwei Zitate aus Oscar Wildes’ Roman The Picture of Dorian Gray aus dem Jahr 1890 und beispielhaft für die konsequente Verweigerungshaltung der Dandyfigur Henry Wotton gegenüber Festschreibungen. Seine Kritik an und sein Spiel mit naturalisierten Bedeutungen werden in der etablierten Literaturkritik allerdings durchgängig als dekadente Rhetorik und nicht als queere Interventionsbestrebungen verstanden. Wotton ist als mephistophelischer Poseur in die Rezeptionsgeschichte eingegangen, der den unschuldigen Dorian Gray zu seinen Verfehlungen verführt, obwohl er den Jüngling immer wieder zur Vorsicht ermahnt, unter der Zeichenoberfläche und wiederholten Deutungsmustern nach bleibenden, essentiellen Wahrheiten zu suchen. Wotton wird als besonders artifizielle Figur der Erzählung und rhetorischer Snob verstanden, dabei verweist er permanent auf Artifizialität als die universelle Bedingung jeder Performanz und jeder Signifikanz, die nur durch Wiederholung und Standardisierung naturalisiert wird. Ich beginne meinen Beitrag also mit einem viktorianischen Roman, einem Text, dessen Erscheinen bereits mehr als ein Jahrhundert zurück reicht, obwohl der Titel des Aufsatzes doch Aktualität verspricht. Das aktuelle Verständnis von queer zeigt sich meines Erachtens aber eben auch gerade in den heutigen Eng-
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führungen, Kategorisierungen und Naturalisierungen bewusst denaturalisierender Performanzen, wie sie in Wildes Roman The Picture of Dorian Gray oder auch Virginia Woolfs Mrs. Dalloway präsentiert werden. Sowohl in der Rezeption als auch in den Adaptionen beider Romane, die während der Milleniumwende erschienen, wird ein heute etabliertes Verständnis von queer als Identitätspolitik und nicht als Dekonstruktion essentialisierter Zuschreibungen deutlich.1 Queer ist zum Synonym für lesbisch, schwul oder all jenen ›Identitäten‹ geworden, die von Heterosexualität separiert werden müssen. Was allerdings noch mehr verwundert, ist das Überschreiben und Vereindeutigen der genuin ambivalenten Konzeptionen beider Texte. Hierdurch werden die Erzählungen nicht nur literarisch und semiologisch eingeengt, sondern auch ›ideologisch‹ anti-queert. Die den beiden Narrationen inhärente Kritik an essentialistischen Vorstellungen von Identität wird nämlich zumeist als literarische Schutzbehauptung gewertet, als ein Tarnungsversuch, der von der den Texten ›eigentlich‹ zugrunde liegenden, ›homosexuellen Wahrheit‹ ablenken soll. Sowohl The Picture of Dorian Gray als auch Mrs. Dalloway sind meines Erachtens in viel radikalerer Weise subversive und anti-mythische Erzählungen. Sie denaturalisieren etablierte Bedeutungen, in dem sie die ›großen Themen‹ des Lebens – Liebe, Sterblichkeit und Sinnsuche – aufgreifen und dramatisieren, dabei auch immer wieder eindeutige Schlussfolgerungen nahe legen, nur um diese dann wieder durch Perspektivenwechsel oder Paradoxien zu unterlaufen. Ihre offenkundigen Bestrebungen, gängige Identitätsmuster und mythologisierte ›Wahrheiten‹ in ihrer Künstlichkeit bloß zu legen, ad absurdum zu führen und somit zu dekonstruieren, werden jedoch im Rückgriff auf die Biographien ihrer Autor_innen immer wieder rekonstruiert und in gängige, konventionelle Ordnungsstrukturen überführt. Die – so meine Lesart – selbstbewusste, intendierte Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit und ›Künstlichkeit‹ beider Erzählungen muss offenkundig übersetzt werden in eine binäre, alles begründende Identitätslogik, muss – anlehnend an Michel Foucault – überführt werden in eine heteronormative Ordnung des queeren Diskurses. Die Texte müssen sexualisiert, in diesen Fällen, homosexualisiert gelesen werden, damit heteronormative Identitätsmuster nicht grundständig gefährdet werden. The Picture of Dorian Gray wurde bereits 1895 bei Oscar Wildes Gerichtsverhandlung wegen ›Unzucht‹ herangezogen, um die sexuelle Perversion des Autors zu beweisen und seine Verurteilung zu zwei Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeit zu erwirken (vgl. u.a. Alan Sinfield 1994, Ed Cohen 1993 und Da-
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Meine ausführliche Diskussion der problematischen Rezeptions- und Adaptionsgeschichte beider Romane ist nachzulesen in Schulz 2011.
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vid Schulz 1996). Mittlerweile ist aus der Erzählung – wie Ed Cohen schreibt – »a novel about homosexuality« geworden (Cohen 1993: 166 [Herv. i.O.]), Elaine Showalter nennt den Text sogar »a kind of bible for male homosexuals« (Showalter 1991: 175f.). Wo man auch hinsieht: es herrscht Einigkeit darüber, dass der Grund für das Fehlen jeder Form von Sexualität in Wildes Roman nur Maskerade ist, hinter der sich ein codiertes homosexuelles oder – im damaligen Sprachgebrauch – sodomitisches Begehren verbirgt. Die Gründe für das Bemühen um die Offenlegung der versteckten Sexualität des Autors mögen nunmehr andere sein als während der gerichtlichen Verhandlung seines unzüchtigen Verhaltens 1895. In der Tat wird Oscar Wilde mittlerweile von Vielen als Märtyrer und ikonischer Wegbereiter der Schwulenbewegung in Großbritannien gefeiert. Doch die monokausale Begründung seiner literarischen Andersartigkeit in der ›Homosexualität‹ des Autors verkennt und evaporiert das viel weiter reichende Spiel des Romans mit und seine gleichzeitige Warnung vor naturalisierten Bedeutungszuweisungen im Allgemeinen. Der ambivalenten Darstellung sexueller Begehrens- und textueller Bedeutungsstrukturen in Virginia Woolfs Roman Mrs. Dalloway wird ebenfalls in großer Eintracht unterstellt, sie sei ein kunstvoller Versuch der Verschleierung, der Tarnung, des Versteckens. Hinsichtlich des gleichgeschlechtlichen Begehrens der Titelheldin gibt es zwar Uneinigkeit darüber, ob dies nun die Darstellung einer bedauernswerten Frau ist, die nicht zu ihren homosexuellen Gefühlen steht (vgl. Marcus 1981), oder darin aber die lesbische Liebe zelebriert und über die besonders glücklos dargestellten, heterosexuellen Beziehungen erhoben wird (vgl. Cramer 1992 ): in jedem Fall muss offenbar im Rückgriff auf die Biographien der Autor_innen eine separierende und oppositionelle Logik von Realität und Kunst, Inhalt und Form sowie Hetero- und Homosexualität installiert werden. Interessanterweise wird in der Diskussion der komplexen Begehrensstrukturen, die Woolfs Roman entwirft, zumeist außer Acht gelassen, dass Clarissa Dalloway ihre Partner_innenwahl eben nicht zwangsläufig zwischen einer hetero- und homosexuellen Beziehung getroffen hat. Mit Richard Dalloway, Sally Seton und Peter Walsh werden mindestens drei potenzielle, durchaus gleichrangig konkurrierende Liebesbeziehungen der Protagonistin thematisiert‚ deren Entwicklungsgeschichte gerade nicht in ihrer geschlechtlichen Konfiguration und kategorisch begründet wird. Die queere Konzeption der Erzählung ist vielmehr gerade darin zu sehen, dass sie solche binären Denkmuster in Frage stellt und Geschlechter- und sexuelle Identitäten als sozial und keinesfalls natürlich begründet nahe legt. Das auffällige Spiel mit Identitätsverständnissen sowohl in The Picture of Dorian Gray als auch in Mrs. Dalloway ist meines Erachtens entgegen etablier-
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ter Annahmen selbstbewusst ambivalent konzipiert, die darin erkennbare Ermahnung zu Sprachzweifel und Bedeutungsskepsis sind Erzählgegenstand und Motivation der Texte und kein gesellschaftlich erzwungenes ›beating around the bush‹. Ihre Denaturalisierungsstrategien werden in der Rezeption allerdings als zu lösende Chiffrierungen verstanden, die es aufzuklären gilt. Und ›zum Glück‹ können die vermeintlichen Texträtsel dadurch dechiffriert werden, dass wir wissen, dass Oscar Wilde ›eigentlich‹ schwul und Virginia Woolf ›eigentlich‹ lesbisch war. Die darin scheinbar begründete, essentielle Andersartigkeit der Schriftsteller_innen wird so zum postulierten Erklärungsmuster für ihre literarischen Bemühungen, sich einer heteronormativen Bedeutungs-Matrix zu verweigern bzw. diese zu destabilisieren. Ihre textuelle Perversion wird durch ihre sexuelle marginalisier- und pathologisierbar.
ANNAHMEN , V EREINNAHMEN , F ESTNAHMEN Aus meiner Sicht dramatisieren The Picture of Dorian Gray und Mrs. Dalloway gesellschaftliche Ausschlüsse, Eng- und Irreführungen durch ein konventionalisiertes Realismusverständnis und die Gefahren von naturalisierten und als essentiell verstandenen Identitäten. Und zwar nicht, weil Wilde und Woolf nicht expliziter und eindeutiger hätten schreiben können oder dürfen und ihnen ein homosexuelles Coming Out aufgrund der allgemein angenommenen gesellschaftlichen Rückständigkeit zu ihren Lebzeiten verwehrt blieb. Vielmehr suggerieren die Erzählungen jede Fest-Schreibung als Festnahme individueller Entfaltungsmöglichkeiten und eindeutige Lesarten als Vereinnahmungen unbestimmbarer Potenziale. Ihre Texte prangern normative und naturalisierte Logiken und Repräsentationsmuster von Identitäten an und stellen diese immer wieder individuellen Sicht- und Seinsweisen gegenüber, die sich einer solchen Ordnung des ›Realen‹ entgegen stellen. Ihre genuine Verweigerung vor Festschreibungen, ihr grundsätzliches Misstrauen gegenüber definierbaren Identitäten legen die Texte als Überlebensstrategie nahe, denn mit jeder Definition, jeder Kategorisierung, jeder Insistenz auf eine Wahrheit werden sowohl figurale als auch literale Entfaltungspotenziale limitiert und immobilisiert. Das Beharren auf Uneindeutigkeit als Überlebensprinzip wird aber in ihrer Rezeption gerade nicht als notwendige Aufrechterhaltung möglicher Handlungsspielräume verstanden. Im Gegenteil, als symbolische Ordnungsverstöße rufen sie die diskursiven Kontrollmechanismen der diskursiven ›Ausschließung‹ auf den Plan, nämlich der »Grenzziehung und Verwerfung« (vgl. Foucault 1974: 11). Die etablierte Rezeption beider Romane ist exemplarisch für solche Proze-
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duren, die wiederum für ein mittlerweile etabliertes Verständnis von queer als wahlweise lesbische-, schwule-, oder trans*- Positionen verantwortlich sind; Hauptsache, sie stellen ein grundsätzliches, heteronormatives Geschlechts- und Sexualitätsverständnis nicht in Frage, können einzelnen Individuen zugeschrieben und mit Hilfe weiterer diskursiver Kontroll- und Einschränkungsinstanzen wie zum Beispiel dem »Kommentar und der Disziplin« (ebd.: 19-22) gebändigt werden. In Unmasking Lesbian Passion: The Inverted World of Mrs. Dalloway, ein Aufsatz, dessen Titel bereits die immer wieder unterstellte Maskierungsstrategie des Romans offenbart, behauptet Eileen Barrett beispielsweise: »Woolf was aware of competing discourses about lesbianism and male homosexuality, and […] she incorporates such discourses throughout Mrs. Dalloway. The novel’s scathing depictions of heterosexuality in marriage demonstrates Woolf’s lebian-feminist critique of this institution. Her representations of same-sex love reflect her feminist sensibility, as well as the sexologists’ influence.« (Barett 1997: 147f. [Herv. i. O.])
Auch in der Rezeption von The Picture of Dorian Gray ist es ein angenommener, unmittelbarer Kausalnexus von Text – Autor – Repräsentationsabsicht sowie die Oppositionierung von Hetero- und Homosexualität, durch die die im Roman ›maskierte‹ Thematisierung von Homosexualität scheinbar zweifelsfrei dechiffriert werden kann. In Writing Gone Wilde: Homoerotic Desire in the Closet of Representation, ein Titel, der abermals gleichgeschlechtliche Out- und Closetedness als Opposition zwischen einer unterdrückten und befreiten sexuellen Identität voraussetzt, die sich auch schriftstellerisch artikuliert, fasst er die Rezeptionsgeschichte folgendermaßen zusammen: »While The Picture of Dorian Gray has generated much speculation and innuendo concerning its author’s sexual preferences, the aftermath of Wilde’s trials has left no doubt in the critical mind that the immorality of Wilde’s text paralleled that of his life. […] That Wilde’s novel encodes traces of male homoerotic desire seems to be ubiquitously, though tacitly, affirmed.« (Cohen 1996: 166 [Herv. i. O.])
Was den meisten Analysen der Romane durch die biographischen Rückgriffe und Codierungsannahmen entgeht, ist die Radikalität, mit der die Erzählungen nicht nur die Grundlagen von Repräsentation in Frage stellen, sondern auch auf die gefährliche Naturalisierung von Bedeutungsmustern hinweisen. In Mrs. Dalloway werden ›hetero- und homosexuelle‹ Konfigurationen parallelisiert und nicht oppositioniert, werden als Möglichkeiten und nicht als Resultat essentieller
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Identitäten präsentiert. Wildes Schauerroman entzieht sich gänzlich der Beschreibung ›sexuellen‹ Begehrens‚ zeigt dafür aber die performative Verfasstheit menschlichen Seins und die dramatischen Folgen essentieller Annahmen und Zuschreibungen für die Protagonist_innen. Die große Mehrzahl von Lektüren und Adaptionen beider Erzählungen – auch selbsternannte queere – gehen von ›verborgenen‹ Essenzen hinter der Textoberfläche aus und schreiben dabei die Natürlichkeit einer repräsentativen und heteronormativen Logik von Geschlecht und Sexualität fort. Judith Butler schreibt in Undoing Gender (2006) diesbezüglich von einer Gewalt, begründet in »a profound desire to keep the order of binary gender natural or necessary, to make of it a structure, either natural or cultural, or both, that no human can oppose, and still remain human. If a person [or text] opposes norms of binary gender […] and that stylized opposition is legible, then it seems that violence emerges precisely as the demand to undo that legibility, to question its possibility, to render it unreal and impossible in the face of its appearance to the contrary.« (Butler 2006: 35)
Der tief sitzende Wunsch nach einer binären Geschlechter- und Sexualitätsma trix ist durch die von Michel Foucault in Wahrheit und Sexualität beschriebene, sich seit dem 18. Jahrhundert diversifizierende ›scientia sexualis‹ westlicher Kulturen sicher nicht geringer geworden und behält auch in den heutigen Gender- und Sexualitätsdebatten seine Wirkmächtigkeit. Die Rückbindung des Menschen an seine Geschlechtlichkeit und Sexualität als Alles begründende Wahrheit, der postulierte ›Wille zum Wissen‹ und der damit verbundene Wunsch nach Eindeutigkeit, Gültigkeit und Regulierungsmöglichkeit führen zu perpetuellen Verdächtigungen, Verhörungen und Geständnissen des Individuums hinsichtlich seines Begehrens: »Wir fordern den Sex auf, seine Wahrheit zu sagen (aber weil er das Geheimnis ist, das sich selbst entgeht, halten wir uns damit zurück, die endlich aufgeklärte, die endlich entzifferte Wahrheit seiner Wahrheit zu sagen), oder vielmehr die Wahrheit, die tief unter jener Wahrheit unser selbst vergraben liegt, die wir im unmittelbaren Bewusstsein zu haben vermeinen. Wir sagen ihm seine Wahrheit, indem wir entziffern, was er uns von sich sagt; er sagt uns die unsere, indem er befreit, was sich davon entzieht.« (Foucault 1977: 89)
Geschlecht und Sexualität sind so in vielen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen zu einem ambivalenten Bezugspunkt der ursprünglichen Wahrheit und des ultimativen Geheimnisses menschlichen Seins geworden. Und geblieben. »Heteronormativity structures the meaningfulness of the social world«
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(Dean 2003: 238) und führt auch in Zeiten proklamierter sexueller Befreiung und Freizügigkeit dazu, uneindeutige Performanzen nicht als potentielle Erweiterung von Sicht- und Seinsweisen anzuerkennen, sondern sie – als Kunst-Posen oder pathologisierte Abweichungen von Minderheiten – aus den ›bedeutsamen‹, ›wahren‹ Diskursen auszuschließen. Dabei ist es ein wichtiges Anliegen der Romane von Wilde und Woolf zu zeigen, dass »sexuality is constituted through operations as much rhetorical as psychological [and] psychological and sociological interpretations of sexuality are necessarily determined by the rhetorical structures and the figural logics through which ›sexuality‹ and the discourse around it are culturally produced.« (Edelman 1994: xiv)
Die Gewalt, die an diesen Texten durch ihre ›Demaskierungen‹ also geübt wird, liegt genau in dem Bemühen einer Wahrheitsfindung durch so genannte Dechiffrierungen eines angeblich codierten, homosexuellen Erzählgegenstandes, der die queeren Bemühungen der Texte konterkariert. Sowohl Mrs. Dalloway als auch The Picture of Dorian Gray bemühen sich nämlich, neue, bislang unbekannte Bedeutungs- und Begehrenszusammenhänge zu entwerfen und damit neue Handlungsspielräume zu eröffnen: »[M]aking it up, building it round one, tumbling it, creating it every moment afresh« (Woolf 1992 [1925]: 4), heißt es leitmotivisch in Woolfs Erzählung, in The Picture of Dorian Gray ist es Wotton, der die sprachliche Beschaffenheit und damit ultimative Unbestimmbarkeit allen Seins als queeres Interventionspotenzial erkennt und gleichzeitig vor der Gefahr von Bedeutungsnaturalisierungen warnt: »I hope Dorian has told you about my plan for rechristening everything, Gladys. It is a delightful idea. [...] The man who could call a spade a spade should be compelled to use one. […] From a label there is no escape!« (Wilde 1983 [1890]: 4) Für die ›Überlebenden‹ Henry Wotton und Clarissa Dalloway sind Materie und Begehren nicht von Bedeutungszuschreibungen – Natur nicht von Sprache – und Substanz nicht von Formgebung zu trennen. In der Rezeption und Adaption der Erzählungen wird allerdings beinahe einstimmig die Möglichkeit eines ›offenen‹, ›aufrichtigen‹ Schreibens über Sexualität suggeriert und einer künstl(er)i(s)chen Rhetorik gegenüber gestellt, die verziert, verzerrt oder verkehrt, was ›eigentlich‹ gesagt bzw. geschrieben werden sollte. Doch die Inanspruchnahme von angeblich ursprünglichen und unbestreitbaren Wahrheiten macht Realismus nicht realistischer und seine Deutungen nicht bedeutsamer. Die Möglichkeit authentischer Sprachgebung ist vielmehr ein Mythos ganz im Sinne Roland Barthes, der postuliert:
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»Das Widerwärtige im Mythos ist seine Zuflucht zu einer falschen Natur, ist der Luxus der bedeutungsvollen Formen. Der Wille, die Bedeutung durch die ganze Bürgschaft der Natur schwerer zu machen, ruft eine Art von Ekel hervor: der Mythos ist zu reich, und gerade seine Motivierung ist zu viel an ihm.« (Barthes 1964: 108)
In diesen Worten drückt sich ein vergleichbares Unbehagen aus, das Henry Wotton in Wildes Erzählung artikuliert, wenn er behauptet: »Being natural is simply a pose. And the most irritating pose I know.« (Wilde 1983 [1890]: 22) Natürlich zu ›sein‹ ist deshalb eine besonders ärgerliche und widerwärtige Pose, weil sie eine scheinbar ursprüngliche und unverrückbare Wahrheit in Anspruch nimmt, während sie diese jedoch erst durch eben diese Pose anderen Körpern ein- und zuschreibt.
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Die Naturalisierung der binären Ordnung von Geschlecht und Sexualität wird durch homosexuelle Identitätspolitik ʊ die sich als ideologischer Ausgangspunkt auch im Großteil der neueren Rezeptions- und Adaptionsgeschichte der beiden Romane erkennen lässt ȥ eher noch gestärkt, denn »[a]s an orientation or identity, homosexuality is normalizing though not socially normative. In other words, while homosexuality is far from representing the social norm, as a minority identity it does conform to the processes of normalization that regulate desire into social categories for disciplinary purposes.« (Dean 2003: 246)
Die Pose der Natürlichkeit durch binäre geschlechtliche und sexuelle Identitätszuweisungen ist eine wirksame Diskursstrategie, queere Interventionsversuche aus dem Wahren ausschließen bzw. sie – als ›homosexuell‹ identifiziert – einem Minderheitendiskurs zuzuweisen. Dies erfuhr ich selbst, als ich mich für die Publikation meiner Dissertation auf Verlagssuche begab. Mehrfach erhielt ich die Antwort, dass ›schwule und lesbische Literatur‹ – auch wissenschaftliche – einen viel zu kleinen Marktanteil einnehme. Das Argument sticht zweifach: zum einen, weil lesbische und schwule Literatur – was immer das ist – scheinbar auch nur ein spezifisches und marginales Publikum erreichen und für ein ›heterosexuelles‹ Publikum gar nicht von Interesse sein kann, und zum anderen, weil meine Arbeit sich gerade darum bemühte, die Einengung und Einordnung der Romane von Wilde und Woolf aufzubrechen, die genau durch diese Labels herbei geführt wurde.
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Das viel beschworene Coming Out in unserer sich als progressiv und liberal verstehenden Gesellschaft ist meines Erachtens daher weniger eine Einladung, sich aus dem unterstellten, eigenen Geheimnisgefängnis zu befreien als vielmehr die Ermahnung, die heteronormative Ordnung von Geschlecht, gender und Sexualität nicht weiter zu stören, sondern anzuerkennen. Die Ermahnung zum Coming Out ist weniger ein Zeichen einer ›offeneren‹ Gesellschaft, sondern figuriert vielmehr als »cultural imperative to produce, for purposes of ideological regulation, a putative difference [which would] otherwise count as the same if sexual identity were not now interpreted as an essence installed in the unstable space between sex and the newly articulated category of sexuality or sexual orientation.« (Edelman 1994: 10)
Nicht-›heterosexuelle‹ Identitäten und queere Positionen werden so auf ihre marginalisierten Plätze verwiesen, um nicht an der Gültigkeit heteronormativer Denkmuster rütteln zu können. Auch in Zeiten politischer Bewegungen und gesellschaftlicher Umbrüche sucht die heteronormative Diskursordnung ihre Wirkmächtigkeit durch Grenzziehungen zwischen Wahrem und ›sinnlosen Geräusch‹ (Foucault) sowie durch Verwerfungen zu sichern. Schließlich geht es um Machterhaltung durch die Herrschaft über Meinungen, denn »der Diskurs […] ist dasjenige, worum und womit man kämpft; er ist die Macht, derer man sich zu bemächtigen sucht« (Foucault 2007 [1974]: 12). Die offenkundige Deutungshoheit heteronormativer Kontroll-, Definitions- und Einschränkungsinstanzen bildet dabei ein beinahe undurchdringliches, abgestuftes Bedeutungssystem. Das Beharren auf und die Inanspruchnahme von natürlicher Zweigeschlechtlichkeit schreibt eine heteronormative Matrix von gender und Sexualität fort. Queeren Positionen wird in der Tat mittlerweile ein Platz in soziokulturellen, wissenschaftlichen und politischen Zusammenhängen zugestanden, doch verstanden als Synonym für lesbisch, schwul oder trans* ist dies eben ein eigener, gebändigter und kategorischer Platz. Und ein sehr begrenzter. Die gesellschaftskritischen und bewusst denaturalisierenden Diskursstrategien wie die von Oscar Wilde und Virginia Woolf werden auto-referentiell und zudem als künstlerische und fantastische Texte ohne Wahrheitsanspruch gelesen: ein gängiges Prinzip der Verknappung wie Foucault ausführt: »Der Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Sprache der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt.« (Ebd.: 20) In der Pathologisierung der Autor_innen und der Kategorisierung der Texte als fiktionale Literatur ist das subversive Potenzial der Erzählungen zu bändigen. So werden sie zu selbstreferenziellen Diskursen außerhalb von Vernunft und Bezug zur
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›Realität‹. Der disziplinäre und disziplinierende Verweis auf ihre künstlerische und künstliche Beschaffenheit reproduziert dabei einen weiteren heteronormativen, fragwürdigen Gegensatz von Phantasie und Realität, eine Opposition, die Judith Butler in Undoing Gender ebenfalls problematisiert: »[F]antasy is part of the articulation of the possible; it moves us beyond what is merely actual and present into a realm of possibility, the not yet actualized or the not actualizable. The struggle to survive is not really separable from the cultural life of fantasy, and the foreclosure of fantasy through censorship, degradation, or other means is one strategy for providing for the social death of persons. Fantasy is not the opposite of reality; it is what reality forecloses, and, as a result, it defines the limits of reality, constituting it as its constitutive outside. The critical promise of fantasy, when and where it exists, is to challenge the contingent limits of what will and will not be called reality. Fantasy is what allows us to imagine ourselves and others otherwise; it establishes the possible in excess of the real; it points elsewhere, and when it is embodied, it brings the elsewhere home.« (Butler 2006: 216)
Es ist erstaunlich, wie stark Wildes und Woolfs Texte solche ›postmodernen‹ Überlegungen antizipieren und literarisch inszenieren. Der Kampf ums Überleben und die Gefahr des sozialen Todes durch ein übermächtiges Beharren auf die eine Realität, deren Eindeutigkeit und Wahrheit allein durch Konventionen und Wiederholungen konstituiert wird, sind gemeinsamer Ausgangspunkt und Erzählgegenstand sowohl von The Picture of Dorian Gray als auch von Mrs. Dalloway. Schließlich ist es ein Bild von Dorian, das für ihn zum fatalen Bedeutungsträger wird. Für die Titelheldin von Woolfs Roman bedeutet der Name Mrs. Dalloway ein soziales Verschwinden in einer patriarchalen Gesellschaft. In beiden Romanen wird die symbolische und durch Wiederholung naturalisierte Ordnung von Identitäten als Beschränkung und sogar Todesgefahr für individuelle und potentielle (Selbst-)Verständnisse verhandelt. Gleichzeitig exemplifizieren die Romane Möglichkeiten die Performativität naturalisierender Bezeichnungspraxen durch Zweifel, (sprach)spielerischem Umgang und Rekonfigurierung gleichzeitig herauszustellen als auch zu unterminieren.
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Beide Romane führen vor, wie jede Erfahrung von Wirklichkeit und Sinnhaftigkeit durch Sprache bestimmt und unser Verständnis von Realität folglich per se künstlich produziert wird. Etablierte Bedeutungen und Identitäten sind damit
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nicht ›Ausdruck‹ oder ›Abbild‹ von Wahrheiten, sondern Ergebnis einer wiederholenden, symbolischen Einschreibungspraxis. Darum sind Namen Alles wie Henry Wotton sagt und er fügt hinzu: »Well, the way of paradoxes is the way of truth. To test reality we must see it on the tight rope. When the verities become acrobats, we can judge them.« (Wilde 1983 [1890]: 55) Es gibt keine natürliche oder authentische Beziehung zwischen Sprache und ›Wirklichkeit‹, nur einen konventionalisierten Sprachgebrauch. Durch ihre fortwährende Wiederholung werden Bedeutungszusammenhänge allerdings naturalisiert und zu einer einengenden Identitätsbestimmung. Die Brüchigkeit, Komplexität und Zeitlichkeit des individuellen Empfindens wird dadurch aberkannt. Darum ist das Streiten um Worte so wichtig, darum sind Dekonstruktion und Denaturalisierung durchaus politisch und ethisch motiviert und nicht bloß intellektuelle oder gar dekadente Posen. Dass die Gültigkeit der Dekonstruktion von Identitäten bezogen auf die ›reale Situation‹ von Gesellschaften immer wieder in Frage gestellt wird, ist eine Folge eben solcher diskursiven Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen, die sie als unrealistische Zeitgeist- Posen aus dem ›Wahren‹ auszuschließen suchen. Essentialistische Zu- und Festschreibungen werden sowohl in The Picture of Dorian Gray als auch Mrs. Dalloway als existentielle Bedrohungen thematisiert. Nur wer skeptisch und spielerisch mit Bedeutungen umgeht und auf Fixierung und Definition verzichtet, sichert Überlebensmöglichkeiten für sich und Andere. Wildes’ Roman zeigt, welche fatalen Auswirkungen Dorians’ Tauschpakt mit seiner Abbildung hat, da er von diesem Augenblick an fest an sein Image gebunden bleibt. Er ist als Schönheitsideal und begehrtes Objekt definiert und muss feststellen, dass sein Wahrnehmungs- und Handlungsspielraum dadurch erheblich eingeschränkt ist. Sein ›Abbild‹ wird eindeutig und wahr – und damit ›falsch‹ – gelesen. Durch seine eigene, kontinuierlich steigende Entfremdung von der bildlich festgehaltenen ›Repräsentation‹, welche eben nur ein Bild ist und seine Komplexität nicht dar- sondern verstellt, werden seine ›Fluchtversuche‹ aus diesem symbolischen Gefängnis immer dramatischer bis er am Ende Selbstmord begeht. Dorians’ korrumpierter Charakter und sein Suizid sind das dramatische Resultat der Unlebbarkeit symbolischer Festschreibungen, ihrer Unvereinbarkeit mit der Widersprüchlichkeit und Flüssigkeit des Ichs. Es ist Henry Wotton, der ›Mann des Wortes‹ oder ›Prinz Paradox‹, wie er von den anderen Protagonist_innen genannt wird, dem es als einziger Hauptfigur des Romans gelingt zu überleben. Er lässt sich nicht festschreiben und spielt aktiv mit etablierten Bedeutungen. Eine unfassbare Haltung, die in der Logik des Romans auch das sprichwörtliche Leben sichert. Seine Paradoxien sind demnach weit mehr als nur witzige Posen eines dekadenten Dandys. Sie sind Verweise auf die
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mögliche Angreifbarkeit und notwendige Infragestellung naturalisierter Vorstellungen von Identität. Die erzählerische Gestaltung von Woolfs Mrs. Dalloway weist hier deutliche Parallelen auf. Der Roman thematisiert den Wunsch nach einer wahren und anhaltenden Bedeutungsfindung, die jedoch durch momentane Irritationen und sich widersprechende Sichtweisen immer wieder unmöglich gemacht wird. Analog zu The Picture of Dorian Gray stellt Mrs. Dalloway einen Realismusanspruch und die Möglichkeit authentischer Repräsentation immer wieder der individuellen Empfindung einer damit nicht zu vereinbarenden Komplexität entgegen. Wie in Wildes’ Roman stirbt ein Charakter sinnbildlich und sprichwörtlich an den Folgen von symbolischen Festschreibungsversuchen, während eine andere Figur in ihrer Akzeptanz und einem spielerischen Umgang mit der Unnatürlichkeit von performativen Identitäten überlebt. Dem ›besonderen‹ Wirklichkeitsempfinden der durch den ersten Weltkrieg traumatisierten Figur Septimus Warren Smith wird der Sinn einfach abgesprochen. Sein Auftreten, seine Äußerungen und damit er selbst werden als wahnsinnig, als bedeutungslos gewertet und durch diese Zuschreibung ausgrenzbar. Dieser Ausschluss aus einer symbolischen und sozialen Gemeinschaft vollzieht sich in einer so gnadenlosen und absoluten Form, dass sein tödlicher Sprung aus dem Fenster eine logische Konsequenz für eine ansonsten unmögliche – weil allgemein nicht verständliche – Existenz ist. Die Titelheldin Clarissa Dalloway hingegen überlebt. Sie ist durch ihre Abwendung von kategorialen und essentiellen Lesarten in der Lage, auch ihre eigene empfundene Uneindeutigkeit und Widersprüchlichkeit zu bewahren: »She would not say of anyone in the world now that they were this or that. She felt very young; at the same time unspeakably aged. She sliced like a knife through everything; at the same time was outside, looking on […] and she would not say of Peter, she would not say of herself, I am this, I am that.”« (Woolf 1992 [1925]: 8)
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Obwohl – um Judith Butlers Ausführungen noch einmal heranzuziehen – beide hier exemplarisch skizzierten Erzählungen das kritische Versprechen queerer Phantasie einzulösen suchen, nämlich, ›die kontingenten Grenzen dessen in Frage zu stellen, was geschlechtliche und sexuelle Realität genannt wird und was nicht‹, werden solche Infragestellungen immer wieder als Kunstposen abgetan. Sie werden aus dem Wahren und Realen ausgegrenzt und so zum Schweigen ge-
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bracht. Die fortwährende Psychologisierung und Mythologisierung von Oscar Wilde und Virginia Woolf als ›Gay Icons‹ erklärt die Abweichung ihrer Texte durch ihre sexuelle Abweichung und nimmt ihnen damit das bedrohliche Potenzial einer viel grundsätzlicheren und umfassenderen Kritik. Schließlich – so die offenkundig gängige Auffassung – geht es in ihren Schriften um selbstreferentiell – schwule und lesbische Andersartigkeit. Die behauptete, natürliche Zweigeschlechtlichkeit muss durch wiederholte Repräsentationsmuster lesbar und gesichert bleiben. Sie duldet das Anderswo nur dort, wo es der Grenzziehung dient und einer kategorischen Minderheit zukommt. Homosexualität ist dabei zu einer willkommenen Kategorie der Auslagerung geworden. Dort ist Platz für das Anderswo. Die suggerierte, gesellschaftliche Anerkennung homosexueller Beziehungen durch ihre steigende, mediale Repräsentation und rechtliche Gleichstellung in vielen westlichen Ländern sichert zudem eine größere (Selbst-) Zufriedenheit mit der Zuweisung dieses Ortes. Das Rekurrieren auf die Homosexualität der Autor_innen scheint das Verunsicherungspotenzial ihrer queeren Diskursinterventionen deutlich zu mindern. Das Anderswo von Zweigeschlechtlichkeit macht also scheinbar vor allem Angst, es wirkt offenbar bedrohlich, anstatt neue Sicht- und Seinsmöglichkeiten zu entwerfen. ›Orientierungshilfen – Zugehörigkeit – Sicherheit‹: das sind wohl die geläufigsten Schlagworte und herangezogenen Argumente, wenn es um die Wichtigkeit und den Grund für die Aufrechterhaltung binärer Identitätskategorien geht. Doch sind Geschlechts- und Sexualitätsbestimmungen wirklich Orientierungshilfen oder soziale Zwangsjacken, denen wir ein viel reicheres Potenzial an Seinsmöglichkeiten opfern? Führt die unterstellte Natürlichkeit der heteronormativen Ordnung von Geschlecht, gender und Sexualität nicht notwendigerweise immer wieder zu Irritationen und Frustrationen, weil unsere alltägliche Erfahrungswelt, unser alltäglicher Umgang miteinander damit nicht vereinbar ist? Die ärgerliche Pose der Natürlichkeit stellt queere Interventionen still, indem sie auf deren sprachliche Künstlichkeit verweist. Doch wie kann andererseits den Identitätskategorien Frau und Mann, hetero- und homosexuell eine wahre und gültige Bedeutung innewohnen? Ich schließe mich darum nachdrücklich Henry Wotton an: ›Namen sind Alles. Ich streite nie um Handlungen. Mein Streit geht nur um Worte. Wir müssen die Wahrheit von Identitäten immer weiter seiltanzen sehen. Denn nur wenn diese Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.‹
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L ITERATUR Barrett, Eileen (1997): »Unmasking Lesbian Passion: The Inverted World of Mrs. Dalloway«, in: Eileen Barrett/Patricia Cramer (Hg.), Virginia Woolf: Lesbian Readings, New York: New York University Press, S. 147-163. Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2004): Undoing Gender, New York: Routledge. Cohen, Ed (1993): Talk on the Wilde Side: Towards a Genealogy of a Discourse on Male Sexualities, New York: Routledge. Cohen, Ed (1996): »Writing Gone Wilde: Homoerotic Desire in the Closet of Representation«, in: Jonathan Freedman (Hg.), Oscar Wilde. A Collection of Critical Essays, New Jersey: Prentice Hall, S. 158-177. Cramer, Patricia. (1992): »Virginia Woolf Seeking Other Worlds with New Language, Vision and Ritual: Notes from Underground: Lesbian Ritual In the Writings of Virginia Woolf«, in: Mark Hussey/Vara Neverow-Turk (Hg.), Virginia Woolf Miscellanies: Proceedings of the First Annual Conference on Virginia Woolf, New York: Pace University Press, S. 177-187. Dean, Tim (2003): »Lacan and Queer Theory«, in: Jean-Michel Rabaté (Hg.), The Cambridge Companion to Lacan, Cambridge: Cambridge University Press, S. 238-252. Edelmann, Lee (1994): Homographesis. Essays in Gay Literature And Cultural Theory, New York: Routledge. Foucault, Michel (2007 [1974]): Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Foucault, Michel (1977): Der Wille zum Wissen. Band 1: Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Marcus, Jane (1981): New Feminist Essays on Virginia Woolf, Lincoln: University of Nebraska Press. Schulz, David (1996): »Redressing Oscar Wilde. Performance and the Trials of Oscar Wilde«, in: The Drama Review 40, S. 37-59. Schulz, Dirk (2011): Setting the Record Queer. Rethinking Oscar Wilde’s The Picture of Dorian Gray and Virginia Woolf’s Mrs. Dalloway, Bielefeld: transcript. Sinfield, Alan (1994): Talk on the Wilde Side: Effeminacy, Oscar Wilde and the Queer Moment, London: Cassell. Showalter, Elaine (1991): Sexual Anarchy. Gender and Culture at the Fin de Siècle, London: Bloomsbury.
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Wilde, Oscar (1983 [1890]): The Picture of Dorian Gray and Selected Stories, New York: Penguin. Woolf, Virginia (1992 [1925]): Mrs. Dalloway, London: Penguin.
Autor_innen
Barnieske, Andreas (M.A.) arbeitet gegenwärtig im Schuldienst und engagiert sich in der Fortbildung von Lehrkräften im Bereich der Leseförderung von Schüler_innen. Er hat Deutsch, Praktische Philosophie und Erziehungswissenschaft an der Universität zu Köln studiert und war im Anschluss daran am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Leseförderung, Lesesozialisation und Genderforschung aus didaktischer Perspektive. Breuer, Johannes (M.A.) ist Promotionsstudent der Medienkulturwissenschaft mit einem Projekt zur Kopplung und Krise von Genre und gender anhand des Musicaldiskurses. Er ist Kollegiat an der a.r.t.e.s. Graduate School for Humanities der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Interdependenzen von Genre und gender, queere Theorien, intermediale Transformations- und Transkriptionsprozesse, Beobachtungstheorien und psychoanalytische Medientheorien. Dahmen, Britt (Dr. sportwiss.) ist Leiterin des Referats für Genderqualitätsmanagement an der Universität zu Köln. Deserno, Katharina (Dipl. Musikpäd.) ist Promotionsstipendiatin zu Transformationen von Weiblichkeitsbildern in der Instrumentalkunst und Lehrbeauftragte für Violoncello und Musikwissenschaft an der HfMT Köln. Sie ist Herausgeberin des Cello-Lehrheftes »Mein erstes Konzert«/Schott-Verlag 2011, sowie der CDs »Hommage à Clara Schumann« und »Fugenbrücke«/Kaleidos Musikeditionen, 2012. Gäckle, Annelene (Dipl. Soz. Päd.) ist Gleichstellungsbeauftragte der Universität zu Köln, Vorsitzende der Stiftung ›Frauen und Hochschulkarriere‹ der Uni-
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versität zu Köln, sowie Lehrbeauftragte der Hochschule Merseburg im Masterstudiengang ›Angewandte Sexualwissenschaften‹. Gippert, Wolfgang (PD Dr.) ist Akademischer Rat auf Zeit am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Historische Bildungsforschung, Biographieforschung, Gender History und Kulturtransferforschung. Gutenberg, Andrea (PD Dr.) ist Privatdozentin für Englische Philologie und seit 2004 am Englischen Seminar I der Universität zu Köln für die Koordination der Fachdidaktik Englisch verantwortlich sowie in der literaturwissenschaftlichen und fachdidaktischen Lehre tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Kulturwissenschaft und Erzählforschung (v.a. Roman des 19., 20. und 21. Jahrhunderts), Gender Studies, Körpertheorien und -diskurse. Hartmann-Tews, Ilse ist Professorin für Geschlechterforschung und Sportsoziologie an der Deutschen Sporthochschule Köln und dort geschäftsführende Leiterin des Instituts für Sportsoziologie sowie Sprecherin des Interdisziplinären Genderkompetenzzentrums in den Sportwissenschaften (IGiS). Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Konstruktion von Geschlecht in den Medien, sozialstrukturelle Rahmenbedingungen von Sport und Bewegung im Alter(n), Gender Bias in der bewegungsbezogenen Gesundheitsforschung. Hellmig, Maike (Rechtsassessorin) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der zentralen Gleichstellungsbeauftragten der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Konzeption und Implementierung gleichstellungsrelevanter Strukturmaßnahmen. Hoffmann, Markus (Dipl. Päd.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Allgemeine Didaktik und Pädagogik der Sekundarstufe I an der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Theorien von ›Begehren‹ im Kontext von Schule und Unterricht, Forschungen zur schulischen Sexualerziehung, empirische Schul- und Unterrichtsforschungen sowie Forschungen zur pädagogischen Professionalisierung. Kargl, Silke ist Geschäftsführerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des BildungsRaumProjekts »school is open« an der Universität zu Köln und in diesem Kontext eine der Gründer_innen der Inklusiven Universitätsschule Köln (IUS).
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Kessels, Ursula war von 2009-2013 Professorin für Pädagogische Psychologie an der Universität zu Köln und ist seit 2013 Professorin für Bildungsforschung (Heterogenität und Bildung) an der Freien Universität Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Geschlecht, Identität und Selbstkonzept, schulische Interessen- und Leistungsentwicklung und Koedukation. Kleinau, Elke ist Professorin für Historische Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Gender History an der Universität zu Köln. Sie ist Mitglied des GESTIK-Rates. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte der Mädchenund Frauenbildung, Geschichte des Lehrerinnenberufs, ›Rasse‹ und Geschlecht in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, Biographieforschung. Liebrand, Claudia ist Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Medientheorie am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Zahlreiche Publikationen zur europäischen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, zu Gender-Fragestellungen und zum Hollywood-Kino liegen vor. Nikodem, Claudia (Dr. päd.) ist Gleichstellungsbeauftragte für Berufungsangelegenheiten an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und Studienrätin im Hochschuldienst am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Soziologische Methodologie unter besonderer Berücksichtigung der Genderforschung. Neumeier, Beate ist Professorin für Englische Literatur am Englischen Seminar der Universität zu Köln. Sie ist Herausgeberin der Datenbank GenderInn und des e-journal genderforum. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind: Gender Studies, Performance Studies und Postcolonial Studies vor allem mit Bezug auf Drama und Theater der Frühen Neuzeit, anglophones Drama und Theater der Gegenwart, sowie Life Writing. Ohrem, Dominik ist Lehrbeauftragter der Anglo-Amerikanischen Abteilung der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Feministische Theorie und Geschlechtertheorie, gender und race in der amerikanischen Geschichte, die Geschichte der Native Americans, Siedlerkolonialismus in Nordamerika sowie amerikanische Umweltgeschichte. Derzeit arbeitet er an seinem Dissertationsprojekt über die amerikanische Wildnis und Transformationen amerikanischer Männlichkeit im 19. Jahrhundert.
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Rulofs, Bettina (Dr. sportwiss.) ist Akademische Oberrätin am Institut für Sportsoziologie, Abteilung Geschlechterforschung der Deutschen Sporthochschule Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Geschlechterforschung und soziale Ungleichheit im Sport, Gewaltprävention und insbesondere Prävention sexualisierter Gewalt im Sport, Diversity Management und Sport. Schoop, Monika E. (M.A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Musikethnologie des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Gender und Queer Studies, Musik und digitale Technologien sowie Popularmusik auf den Philippinen. Schulz, Dirk (Dr. phil.) ist Geschäftsführer der zentralen Einrichtung GESTIK (Gender Studies in Köln) der Universität zu Köln, für die er auch Lehrveranstaltungen zu gender- und queertheoretischen Fragestellungen anbietet. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Gender und Queer Studies, Anglophone Literaturund Kulturwissenschaften, Semiotik und Semiologie, Popular und Celebrity Culture und Poststrukturalistische Theorien. Seidler, Andreas (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Literatur- und Mediendidaktik, Leseförderung, Kinder- und Jugendliteratur. Verlinden, Karla (Dipl. Päd.) ist Diplom Pädagogin am Zentrum für Diagnostik und Förderung an der Universität zu Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Sexualpädagogik, Gender History, Biographieforschung, Störungen des Kindesund Jugendalters und deren therapeutische Maßnahmen. Derzeit forscht sie in einem BMBF-Projekt zur Prävention sexueller Gewalt bei Menschen mit Behinderung. Völker, Susanne ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung und qualitative Methoden der Sozialforschung an der Universität zu Köln. Sie ist wissenschaftliche Leiterin und geschäftsführende Direktorin der zentralen Einrichtung GESTIK (Gender Studies in Köln). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Feministische Arbeits- und Ungleichheitssoziologie, Transformations- und Prekarisierungsforschung, Feministische Theorie, Praxeologische Soziologie und Habitusanalyse.
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Waldschmidt, Anne ist Professorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Sie leitet die Internationale Forschungsstelle Disability Studies (iDiS) und ist Mitglied von »ANED – Academic Network of European Disability experts«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Wissenssoziologie, Körpersoziologie, Politische Soziologie, Intersektionalität und Diskriminierungsforschung, Diskurstheorie und -analyse.
Gender Studies Sarah Dangendorf Kleine Mädchen und High Heels Über die visuelle Sexualisierung frühadoleszenter Mädchen 2012, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2169-3
Mariacarla Gadebusch Bondio, Elpiniki Katsari (Hg.) Gender-Medizin Krankheit und Geschlecht in Zeiten der individualisierten Medizin Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2131-0
Hyunseon Lee, Isabel Maurer Queipo (Hg.) Mörderinnen Künstlerische und mediale Inszenierungen weiblicher Verbrechen November 2013, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2358-1
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Gender Studies Julia Reuter Geschlecht und Körper Studien zur Materialität und Inszenierung gesellschaftlicher Wirklichkeit 2011, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1526-5
Christian Schmelzer (Hg.) Gender Turn Gesellschaft jenseits der Geschlechternorm 2012, 226 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-2266-9
Erik Schneider, Christel Baltes-Löhr (Hg.) Normierte Kinder Effekte der Geschlechternormativität auf Kindheit und Adoleszenz Januar 2014, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2417-5
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Gender Studies Corinna Bath Informatik und Geschlecht Grundlagen einer feministischen Technikgestaltung Dezember 2013, ca. 460 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2129-7
Bettina Behr Bühnenbildnerinnen Eine Geschlechterperspektive auf Geschichte und Praxis der Bühnenbildkunst Juli 2013, 330 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2314-7
Udo Gerheim Die Produktion des Freiers Macht im Feld der Prostitution. Eine soziologische Studie 2012, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1758-0
Andreas Heilmann Normalität auf Bewährung Outings in der Politik und die Konstruktion homosexueller Männlichkeit 2011, 354 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1606-4
Ute Kalender Körper von Wert Eine kritische Analyse der bioethischen Diskurse über die Stammzellforschung 2011, 446 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1825-9
Katharina Knüttel, Martin Seeliger (Hg.) Intersektionalität und Kulturindustrie Zum Verhältnis sozialer Kategorien und kultureller Repräsentationen
Stefan Krammer, Marion Löffler, Martin Weidinger (Hg.) Staat in Unordnung? Geschlechterperspektiven auf Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen 2011, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1802-0
Martina Läubli, Sabrina Sahli (Hg.) Männlichkeiten denken Aktuelle Perspektiven der kulturwissenschaftlichen Masculinity Studies 2011, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1720-7
Stefan Paulus Das Geschlechterregime Eine intersektionale Dispositivanalyse von Work-Life-Balance-Maßnahmen 2012, 472 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2208-9
Ralph J. Poole Gefährliche Maskulinitäten Männlichkeit und Subversion am Rande der Kulturen 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1767-2
Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit 2012, 210 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1415-2
2011, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1494-7
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