»When we were gender...« - Geschlechter erinnern und vergessen: Analysen von Geschlecht und Gedächtnis in den Gender Studies, Queer-Theorien und feministischen Politiken [1. Aufl.] 9783839423974

Wie sich jener Menschen erinnern, die in einer hegemonialen Kultur unerwähnt bleiben? Das Verhältnis von Politik, Geschl

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German Pages 360 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Kapitel
Von nicht-identischen Kontinuitäten und anderen Ungeheuern – Zur Einleitung
Faltungen von Zeit Zum Umgang mit Kontinuitäten in der diskursanalytisch inspirierten Geschlechtergeschichte
Der Fall des Traumas: Nietzsches Leibphilosophie als Weg zur Rekonstruktion erinnerbarer Geschlechterordnungen Geschlecht als Erinnerungstechnik denken
Erinnerung/Gedächtnis und die Tropen der Autobiografie Zur ›auswendigen‹ Performanz von Gendernormen
Die Dinge, die geschehen sind Zu Echo als Figur der Zeit des Performativen
Trauernde Identifizierungen Queere Interventionen in Erinnerungspraktiken
Kapitel
Remember Me! Nur was erinnert wird ist anerkannt – und umgekehrt? – Zur Einleitung
»Gastarbeiterinnen« in Kärnten Im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen
Der Einfluss von Erinnerungskulturen auf die Karrierechancen ostdeutscher Mandatsträgerinnen im Politikraum
Die Kontinuität einer Abnormität Erklärungen zur Trägheit einer schwul-lesbischen Gleichberechtigung in Österreich
Trans*Bewegung Vergessen Erinnern Die Anfänge der aktuellen Trans*Bewegung in Österreich Persson Perry Baumgartinger, Verein ][diskursiv
Kapitel
»Ein Wir der Wut. Erledigt ist gar nichts!« — Radikale Vergegenwärtigungen Organisierte Kollektivität jenseits von Geschlecht und Identität – Zur Einleitung
Gesichter des Schweigens Der Feminismus und das Kassandra-Syndrom
Wider ein Vergessen der Anderen Erinnerung als Ort der (feministischen) Differenz
20.000 Frauen für die Cosa Nostra Frauen. Erinnern. Das feministische Ding. Eine Analyse zum 100-jährigen Internationalen Frauentag in Österreich
Bedenken Kritiken des Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus gegen die Neue Frauenbewegung in Theorie und Praxis und ihre Aktualität in Queer Studies – eine kritische Bestandsaufnahme
Gegenkulturelle Archive jenseits von Familie und Geschlecht
Kapitel
Express yourself! Wider oder für das Vergessen? Geschlechtliche Ausdrucksweisen und Erinnerungsformen in den Künsten – Zur Einleitung
Riskante Subjektwerdung Slavenka Drakuli´c »Kao da me nema« (1999, ›Als gäbe es mich nicht‹) und das Erzählen über Massenvergewaltigung von Frauen im Krieg
Filmische Darstellung sexueller Gewalt im litauisch-deutschen Shoah-Film »Ghetto«
Stumm und unsichtbar? Ol’ga Preobraženskajas Stummfilm »Baby Rjazanskie/Die Frauen von Rjazan«
Butterfly Kisses, addressed to »N.O. Body« Zur Animation von Magnus Hirschfelds Bilderatlas »Geschlechtskunde«
Selbstrepräsentationen des genderqueeren Lebens Jenseits des binären Geschlechtersystems und der heternormativen Zeitlichkeit und Räumlichkeit
Bemerkung zum Schluss — Gedächtnis und politisches Handeln
Zu den Autor*innen
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»When we were gender...« - Geschlechter erinnern und vergessen: Analysen von Geschlecht und Gedächtnis in den Gender Studies, Queer-Theorien und feministischen Politiken [1. Aufl.]
 9783839423974

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Jacob Guggenheimer, Utta Isop, Doris Leibetseder, Kirstin Mertlitsch (Hg.) »When we were gender...« – Geschlechter erinnern und vergessen

Kultur & Konflikt | Band 5

2013-08-02 15-06-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c7341866686064|(S.

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4) TIT2397.p 341866686072

Editorial Die Buchreihe dokumentiert die Ergebnisse des Interfakultären Forschungsnetzwerks »Kultur & Konflikt« der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Vertreter/-innen der Frauen- und Geschlechterforschung, der Friedensforschung sowie der Kulturwissenschaften untersuchen – über die sozioökonomische und politische Dimension hinaus – interdisziplinär die Bedeutung der Kategorie »Kultur« für das Verständnis sozialer Konflikte und gesellschaftlicher Gewalt. Auf diesem Wege leistet die Reihe einen Beitrag zur Entwicklung einer kulturwissenschaftlichen Friedensforschung, arbeitet an der Etablierung einer interdisziplinären Geschlechterforschung mit und setzt politische Wissenschaft und Bildung in Bezug zur Geschlechter- und Friedensforschung. Die Reihe wird herausgegeben vom Interfakultären Forschungsnetzwerk »Kultur & Konflikt« der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

2013-08-02 15-06-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c7341866686064|(S.

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Jacob Guggenheimer, Utta Isop, Doris Leibetseder, Kirstin Mertlitsch (Hg.)

»When we were gender...« – Geschlechter erinnern und vergessen Analysen von Geschlecht und Gedächtnis in den Gender Studies, Queer-Theorien und feministischen Politiken

2013-08-02 15-06-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c7341866686064|(S.

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Veröffentlicht mit Unterstützung: vom Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, dem Frauenreferat des Landes Kärnten, der Gehring Privatstiftung, der Fakultät für Kulturwissenschaften, dem Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung, sowie dem Frauenreferat, dem gesellschaftspolitischen Referat und dem Queerreferat der Österreichischen Hochschüler_innenschaft Klagenfurt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Renate Lorenz & Pauline Boudry, Berlin, 2008 Korrektorat: Tanja Jentsch, Bottrop Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2397-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2013-08-02 15-06-03 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03c7341866686064|(S.

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Inhalt

Vorwort | 9

Kapitel 1 Von nicht-identischen Kontinuitäten und anderen Ungeheuern – Zur Einleitung Jacob Guggenheimer | 21

Faltungen von Zeit Zum Umgang mit Kontinuitäten in der diskursanalytisch inspirierten Geschlechtergeschichte Lisa Malich | 25

Der Fall des Traumas: Nietzsches Leibphilosophie als Weg zur Rekonstruktion erinnerbarer Geschlechterordnungen Geschlecht als Erinnerungstechnik denken Bettina Wuttig | 41

Erinnerung/Gedächtnis und die Tropen der Autobiografie Zur ›auswendigen‹ Performanz von Gendernormen Anna Babka | 67

Die Dinge, die geschehen sind Zu Echo als Figur der Zeit des Performativen Lisa Appiano | 77

Trauernde Identifizierungen Queere Interventionen in Erinnerungspraktiken Jacob Guggenheimer | 89

Kapitel 2 Remember Me! Nur was erinnert wird ist anerkannt – und umgekehrt? – Zur Einleitung Kirstin Mertlitsch | 103

»Gastarbeiterinnen« in Kärnten Im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen Elisabeth Koch, Viktorija Ratković, Manuela Saringer, Rosemarie Schöffmann | 107

Der Einfluss von Erinnerungskulturen auf die Karrierechancen ostdeutscher Mandatsträgerinnen im Politikraum Cornelia Hippmann | 125 Die Kontinuität einer Abnormität Erklärungen zur Trägheit einer schwul-lesbischen Gleichberechtigung in Österreich Martin Gössl | 139 Trans*Bewegung Vergessen Erinnern Die Anfänge der aktuellen Trans*Bewegung in Österreich Persson Perry Baumgartinger, Verein ][diskursiv | 151

Kapitel 3 »Ein Wir der Wut. Erledigt ist gar nichts!« — Radikale Vergegenwärtigungen Organisierte Kollektivität jenseits von Geschlecht und Identität – Zur Einleitung Utta Isop | 165

Gesichter des Schweigens Der Feminismus und das Kassandra-Syndrom Christina Thürmer-Rohr | 171 Wider ein Vergessen der Anderen Erinnerung als Ort der (feministischen) Differenz Birge Krondorfer | 191 20.000 Frauen für die Cosa Nostra Frauen. Erinnern. Das feministische Ding. Eine Analyse zum 100-jährigen Internationalen Frauentag in Österreich Kirstin Mertlitsch | 211

Bedenken Kritiken des Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus gegen die Neue Frauenbewegung in Theorie und Praxis und ihre Aktualität in Queer Studies – eine kritische Bestandsaufnahme Gudrun Perko | 225 Gegenkulturelle Archive jenseits von Familie und Geschlecht Mate Ćosić, Johannes Dollinger, Utta Isop, Doris Leibetseder | 245

Kapitel 4 Express yourself! Wider oder für das Vergessen? Geschlechtliche Ausdrucksweisen und Erinnerungsformen in den Künsten – Zur Einleitung Doris Leibetseder | 273

Riskante Subjektwerdung Slavenka Drakuli´c »Kao da me nema« (1999, ›Als gäbe es mich nicht‹) und das Erzählen über Massenvergewaltigung von Frauen im Krieg Cristina Beretta | 277 Filmische Darstellung sexueller Gewalt im litauisch-deutschen Shoah-Film »Ghetto« Gintare Malinauskaite | 291 Stumm und unsichtbar? Ol’ga Preobraženskajas Stummfilm »Baby Rjazanskie/Die Frauen von Rjazan« Gerlinde Schwarz | 305 Butterfly Kisses, addressed to »N.O. Body« Zur Animation von Magnus Hirschfelds Bilderatlas »Geschlechtskunde« Barbara Eder | 321 Selbstrepräsentationen des genderqueeren Lebens Jenseits des binären Geschlechtersystems und der heternormativen Zeitlichkeit und Räumlichkeit Rebecca Carbery | 337 Bemerkung zum Schluss — Gedächtnis und politisches Handeln Utta Isop | 349

Zu den Autor*innen | 351

Vorwort »›Sie verstehen nicht, was Zeit ist […] Sie behaupten, die Vergangenheit sei vorbei, die Zukunft sei nicht real, es gäbe keine Veränderung, keine Hoffnung. […] Sie glauben im Grunde Ihres Herzens nicht an die Veränderung […] Sie glauben, Anares sei eine Zukunft, die nicht erreicht werden könne, wie Ihre Vergangenheit nicht verändert werden kann. So dass es nichts gibt als die Gegenwart, dieses Urras, die reiche, reale, statische Gegenwart, den jetzigen Augenblick. […] Sie würden uns lieber vernichten als unsere Realität zu akzeptieren, als zuzugeben, dass Hoffnung besteht.‹« (U RSULA L E G UIN 1974)

Die Gender-Diskurse haben seit ihren Neu-Anfängen in der zweiten Frauenbewegung nicht aufgehört, sich mit Fragen der Zeitlichkeit auseinanderzusetzen. Deren Perspektiven haben sich aber verschoben und vervielfältigt. Nach wie vor wird das Verhältnis der Begriffe ›Geschlecht‹ und ›Gedächtnis‹ vor dem moralischen Hintergrund der Frage diskutiert, wie sich jener Menschen erinnert werden kann, die in einer hegemonialen Geschichtsschreibung unerwähnt bleiben. Hinzugekommen sind u.a. Forschungen nach den vergeschlechtlichten Kodierungen, Metaphern und Allegorien des Gedächtnisses, aber auch Fragen danach, welche Bedeutung der Materialität von Körpern zukommt, wie Prozesse der performativen Wiederholung und Vergegenwärtigungen in sie eingreifen und wie diese Prozesse Empfindungen mitgestalten. Und schließlich wird das Verhältnis von Geschlecht, Erinnerung und Geschichte für die machtbesetzten Themenfelder ›Identität‹ und ›Subjektwerdung‹ untersucht, besonders weil hier unter Geschichtsschreibung in erster Linie die Konstruktion von Genealogien und unter biografischen Erzählungen Selbst-Technologien verstanden werden. Darüber hinaus werden in den Beiträgen anhand konkreter Beispiele aus gelebten Praxen, Politik und politischem Engagement, Literatur und Film Fragen danach aufgeworfen, inwiefern politische Forderungen nach Gerechtigkeit und sozialen Rechten an diesen Diskussionsbereich anknüpfen können. Welche Auswirkungen haben die anhaltenden Debatten über konstruktivistische versus ma-

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terialistische Zugänge zur Geschichte auf das Thema der Geschlechterverhältnisse? Welche Bedeutung haben verschiedene Konstruktionen des Gedächtnisses für die Konstitution von Psyche, Subjekt und Begehren? Sind Erinnerungskulturen für Vergemeinschaftungsprozesse unerlässlich? Und zeichnen sich in migrantischen und queeren Ansätzen Alternativen ab? Müssen Prozesse des Vergessens zwangsläufig als Formen von Gewalt und kriegerische Handlungen als Verdrängungs- und Verleugnungsstrategien begriffen werden? Wie gewaltvoll können Erinnerungsakte sein? Und sollten sich noch nie dagewesene Geschlechter(-Verhältnisse) ereignen: Wie können sie von vorhandenen Erinnerungsstrukturen überhaupt begriffen werden? Im ersten Kapitel sind jene Beiträge versammelt, die sich aus philosophischen Perspektiven der Thematik des Erinnerns und Vergessens und seinen Problemfeldern nähern: Lisa Malich widmet sich über einen diskursanalytischen Zugang Problemen, die im Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität, zwischen Vorstellungen linearer Zeitlichkeit und dem Brechen mit ihnen entstehen. Dazu zieht Malich exemplarisch das Erklärungsmodell der Imaginationslehre heran, das seit der Antike immer wieder herangezogen wurde, um die physische Verfasstheit von Neugeborenen zu begründen. Demnach haben »emotionsgeladene Sinneseindrücke der Schwangeren einen unmittelbaren Einfluss auf Bildung und Form des Kindes«. Dabei gilt ihr Interesse ganz besonders der Fortschreibung dieses Wissenssystems, über historische Brüche im Gesellschaftsgefüge hinweg. Zu den Schwierigkeiten, vor die sich eine foucaultsche Herangehensweise gestellt sieht, gehört u.a. das Dilemma, dass mit der Suche nach Brüchen im Kontinuum unweigerlich auch ein deterministischer Ablauf angenommen werden muss, der durchbrochen wird. Dabei ging es doch gerade darum, diese Denkvoraussetzung zu überwinden. Und auch das universalisierende Denken in Epochen, das man meinte auf diese Weise ad acta gelegt zu haben, kehrt unbemerkt in die Analysetechnik zurück und leugnet die Ungleichzeitigkeit von Veränderungen. Um zu verhindern, dass Kontinuitäten aus dem Auge verloren werden, schlägt Malich eine affirmative Kritik an Foucault vor: Während dieser verlangte, solche Konstanten als Gegenstand der Analyse beizubehalten, sie aber als Analyseinstrument zu verwerfen, sieht Malich in Michel Serres’ Modell der Gefalteten Zeit eine Möglichkeit die Kontinuität auch als Werkzeug der Analyse zu rehabilitieren. Bettina Wuttig verfolgt in ihrem Artikel Nietzsches Gedankengang, demnach Menschen erst im Zuge ihrer Vergesellschaftung ein Gedächtnis ›gemacht‹ wird. Durch die Verdrängung der Fähigkeit zu Vergessen wird so der Grundstein für Gesellschaft gelegt, denn durch dieses Erinnerungsvermögen wird es dem Individuum möglich Verträge einzugehen, das heißt Verantwortung zu übernehmen. Mit anderen Worten: sich zu verschulden. Das Gedächtnis macht den Menschen

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demnach, so Wuttig, zum Subjekt, indem es dafür sorgt, dass körperliche Regungen in ihrer Versprachlichung stets auf dieselben Ursachen zurückgeführt werden. Erst in diesem Prozess wird der Leib als unteilbare Einheit erfahren. Dabei handelt es sich zwar um eine Illusion, wie Wuttig betont, doch es ist die Traumatisierbarkeit (also die Verwundbarkeit) des physischen Leibes selbst, die dafür erst die Voraussetzung liefert. Auf Ann Cvetkovich bezugnehmend, versteht sie das subjektkonstituierende Trauma als »emotional-leibliche Situation« innerhalb gesellschaftlicher Diskriminierungsstrukturen. Die darin stattfindende Verwundung ist zugleich vergeschlechtlichend. Die Subjekte, die sie hervorbringt, werden zugleich sexed und gegenderd. Daraus entwickelt Wuttig in weiterer Folge den Gedanken, dass Geschlecht selbst als Erinnerungstechnik begriffen werden kann und zeigt auf, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Auch Anna Babka rückt die Frage nach der Konstituierung geschlechtlicher Körper in den Mittelpunkt und geht dabei von sprachlichen Subjektivierungspraxen aus. Dabei räumt sie dem Konzept des Genres (der Gattung) besondere Bedeutung ein, wie sie es bei Jaques Derrida beschrieben findet. Gender und Genre, beide etymologisch miteinander verbunden, ist laut Babka das gleiche Verbot inhärent, das Vermischungen verhindern soll. Mit einem zweiten von Derrida entlehntem Begriff, dem der memoire, kann Babka erklären, auf welche Weise Genre als auch Geschlecht verwirklicht werden, ›ins Gedächtnis‹ und damit zugleich ›ins Dasein gerufen werden‹. Im Nachhinein, nach ihrer Anrufung, so Babka mit Verweis auf Judith Butler, erscheint es so, als hätte es sie »immer schon gegeben«. Möglich wird dieser performative Akt durch die Macht des Zitierens. Denn das Zitat knüpft an vergangenem Sprechen an, erinnert es – ist selbst die Erinnerung. Die vermeintlich ›eigenen‹ Erinnerungen gibt es gar nicht, vielmehr sind es die Normen der Diskurse, die sich laut Babka mit den Mechanismen von Nietzsches Modell der Mnemotechnik im geschlechtlichen Körper als Gedächtnis einschreiben: »Was als Geschlecht überhaupt existiert ist Erinnerung als Zitat«. Die Figur der Echo, die sich selbst durch das Zitieren der Worte der anderen erzählen muss, wird im Beitrag von Lisa Appiano in den Mittelpunkt gerückt, um an ihr die Verkörperung von Fremdheit im Eigenen aufzuzeigen. Dabei ist die Möglichkeit, eine Geschichte als ›die eigene‹ zu erzählen, wie Appiano betont, auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil mit ihr das Versprechen Selbstbestimmung erlangen zu können verbunden ist. Nachdem sie zunächst auf Jacques Derrida rekurriert, um zu erörtern inwiefern »eigene Worte, eine eigene Rede, die bei sich zu Hause ist, die vor dem Risiko durch die Worte der Anderen entfremdet zu werden« überhaupt geben kann, fragt sie nach dem Zeitbegriff, der diesem performativen bzw. iterativen Veränderungsformen durch Differenzen in den Wiederholungen inhärent ist: »Veränderung geschlechtlicher Identitäten zu schreiben vermag?«. Dabei sucht Appiano nach einem Weg, die performative Dimension der Sprache in

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einen Bezug zur Zeit zu setzen, durch den es möglich wird, sich selbst nochmals anders zu erzählen und sich einer eigenen Geschichte (wieder) zu erinnern. Jacob Guggenheimer wählt für seinen Aufsatz Judith Butlers Überlegungen zur Melancholischen Identifizierung angesichts eines fundamentalen Homosexualitätsverbots als Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Jenes Verbot (das letztlich ein Trauerverbot und damit auch ein Erinnerungsverbot ist) und nicht lediglich lesbisches und schwules Begehren untersagt, sobald es sich äußert, sondern präventiv festlegt, dass es niemals zu solchem Verlangen kommen wird und es auch in der Vergangenheit niemals stattfand. Erst durch dieses strikte Verbot, so Butler, werden Individuen zu der Geschlechts-Identität, die sie nie begehren durften. Guggenheimer verbindet nun Butlers Verständnis von Trauer mit dem philosophischen Begriff des Anfangs, wie ihn Wilhelm Berger entwickelt hat. Denn dieses mühevolle Trauern, jenes Anerkennen der Veränderung, der Menschen ausgesetzt sind, dieses Nicht-identisch-Bleiben mit sich selbst, scheint in bemerkenswerte Nähe zu jener ›Lücke‹ zwischen Vergangenheit und Zukunft zu stehen, die sich laut Hannah Arendt das Denken erkämpft und von der Oliver Machart meint, sie kennzeichne viel besser das Wesen politischen Handelns. Das Kapitel »Remember Me!« beschäftigt sich mit den Narrativen von so genannten ›verworfenen Subjekten‹, die in der hegemonialen Geschichtsschreibung des deutschsprachigen Kontextes nicht erinnert wurden. Die Beiträge des Forschungskollektivs Viktorija Ratković, Lisa Koch, Rosemarie Schöffmann und Manuela Saringer arbeiten die undokumentierte Frauen-Geschichte von Gastarbeiterinnen in Kärnten Ende der 1960er Jahre auf, so wie es Cornelia Hippmann mit jener der ostdeutschen Politikerinnen in der Nachwendezeit tut. Ein Stück österreichische Geschlechtergeschichte schreiben Martin Gössl und Persson Perry Baumgartinger. Gössl untersucht den Verlauf der Gleichstellung von Lesben und Schwulen anhand parlamentarischer Dokumente und Baumgartinger die Trans*Bewegung in Österreich. Alle vier Beiträge leisten insofern Pionierarbeit, als sie (oft) erstmalig gesellschaftspolitische Felder analysieren, die bisher noch gar nicht oder kaum öffentlich Erwähnung gefunden haben. Die Texte machen die Relevanz von Geschichte und Erinnerung für die individuelle und gesellschaftliche Identitätsbildung deutlich. Es scheint, dass Betroffene von Diskriminierung für politisches Handeln und Sprechen, Geschichte, Repräsentation und öffentliche Anerkennung als unerlässlich ansehen. Daher stellt sich letztlich die Frage, inwieweit Geschichts- und Gegen-Geschichtsschreibung sowie Erinnerung ein existenzielles Faktum für menschliches Sein bedeuten. Das Forschungskollektiv Elisabeth Koch, Manuela Saringer, Rosemarie Schöffmann und Viktorija Ratković untersuchen mittels einer Medienanalyse die Diskurse zur weiblichen Gastarbeit in Kärnten im Zeitraum der späten 1960er und beginnenden 1970er Jahre; und sie arbeiten dabei die Verwobenheit von geschlechtlicher,

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ethnischer und klassistischer Diskriminierung heraus. Ihre Analyse kontextualisieren sie mit informativen historischen und wirtschaftspolitischen Daten und Fakten. Der Themenkomplex »Geschlecht und Erinnerung«, in dem sie auf das Konzept des kulturellen Gedächtnis von Aleida und Jan Assmann eingehen, verleiht dem Beitrag theoretische Tiefe. Vor allem die Dimension der strukturellen Diskriminierung von Gastarbeiterinnen (insgesamt), die aus einer hegemonialen männlichen und westeuropäischen Geschichtsschreibung ausgeblendet wurden, wird dadurch begreif bar. Cornelia Hippmann stellt ihre Studie »Ostdeutsche Frauen in der Politik« vor. Darin geht es im Besonderen um Karrierechancen von Politikerinnen zur Zeit der Wende im wieder-vereinten Deutschland. Zu ihnen zählt etwa die deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Als »blinden Fleck« beschreibt sie das Phänomen der Aufstiegschancen und -bedingungen ostdeutscher Politikerinnen innerhalb der Geschichtsschreibung, die Hippmann mittels biografieanalytischer Methode und mit 24 autobiografischen Interviews aufgearbeitet hat. Besonders anschaulich beschreibt Hippmann dann die Bedingungen, die den Ein- und Aufstieg von Frauen in die Politik in der Nachwendezeit ermöglicht haben. Sie analysiert unterschiedliche Gründe und Umstände, die als »window of opportunity« in dieser Umbruchsituation wirksam wurden. Martin Gössl bezeichnet die Entwicklung der Menschenrechte queerer Personen als historisches Moment der »Kontinuität der Abnormität«. Auf Grundlage parlamentarischer Dokumente des österreichischen Nationalrates von 1945 bis 2002 zeichnet er in seinem beeindruckenden Beitrag die rechtliche Gleichstellung schwul-lesbischer Menschen nach. Die Aussagen parlamentarischer Abgeordneter zeigen auf erschreckende Weise, wie Homophobie den österreichischen Parlamentarismus dominiert hat, auch wenn mit der kleinen Strafrechtsreform von 1971 Homosexualität als Strafbestand aufgehoben wurde. Gössl skizziert auf aufregende Weise die Geschichte der Gleichstellung von schwul-lesbischen Personen in Österreich bis zur Aufhebung des § 209 (die Strafe gleichgeschlechtlicher Beziehungen zwischen männlicher Beziehungen unter 18 Jahren) im Jahr 2002 stets unter der Prämisse, wie durch die Konstruktion des ›Anderen‹ die heteronormative Struktur nicht nur erhalten, sondern v.a. reproduziert wurde. Persson Perry Baumgartinger gibt einen Überblick der Trans*Bewegung in Österreich, indem er ein Stück vergessener und verschwiegener Geschlechtergeschichte, nämlich jener der politischen und selbstorganisierten Aktivitäten der Trans*Communities anhand von Interviews mit Aktivtist_innen zusammenführt. Dabei wird deutlich, wie eng die Ereignisse der Trans*Bewegung am Beginn mit der queeren Bewegung verknüpft waren. Erst im Laufe der Zeit differenziert sich davon eine eigene Trans*Geschichte und -Bewegung, etwa durch die Gründung von eigenen Trans*Initiativen und -Vereinen heraus. Baumgartingers Beitrag gestaltet sich nicht

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nur durch die zahlreichen Interviewpassagen von Aktivist_innen lebendig, sondern die Berichte über die extreme Prekarität von Trans* in unterschiedlichen Lebensund Arbeitssituationen berühren an etlichen Textstellen. »Die Embryos aus dem Brüter schwammen um sie herum und sangen ihr ein Lied – ein Fischlied, das ihr durch und durch ging, dass sie ihr Zwerchfell spürte. […] Sie würde Comutter sein, würde wieder ein eigenes Baby haben, würde ihm die Brust geben, es Tragen und in den Schlaf wiegen. […] Sie wurde Zeugin einer Geburt. Die drei Mütter unterzogen sich einem Baderitus in einem Dampfbad an und wurden in einem Festzug von Familienmitgliedern und Freunden zum Brüter begleitet.« (Piercy 1986: 305)

Wie in Marge Piercys Roman »Die Frau am Abgrund der Zeit« Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, Realität und Phantasie miteinander ins einander durchdringende Gespräch geraten und Gleichzeitigkeiten erzeugen, die Veränderung ermöglichen, so kommen im Kapitel »›Ein Wir der Wut. Erledigt ist gar nichts!‹ – Radikale Vergegenwärtigungen. Organisierte Kollektivität jenseits von Geschlecht und Identität« acht Autorinnen und Autor*innen über gegenkulturelle, feministische und queere, anarchistische Wirs, Ichs, Kollektive miteinander ins Sprechen. Christina Thürmer-Rohr konstatiert und skandalisiert in ihrem Artikel »Gesichter des Schweigens – der Feminismus und das Kassandra-Syndrom«, dass feministische Fragen nach der Gewaltproduktion moderner Gesellschaften ungelöst geblieben sind und dennoch nicht mehr gestellt werden: »Wenn die Gewaltfrage als Zentrum feministischer Politik verschwindet, wenn der ›Feminismus heute‹ das Spektrum früherer Fragen beschweigt, statt es mit neuen Fragen zu verbinden, stützt er zugleich ein Denken, das unsere soziale Ordnung und (illegitime) Gewalt in Widerspruch zueinander setzt, also Gewalt zum Grenzphänomen, zur kaum erklärbaren Entgleisung, zur pathologisierbaren Abweichung macht und so eigentlich in ein Außerhalb moderner sozialer Ordnung ansiedelt.« (Thürmer-Rohr, in diesem Band: 183) Feministische Fragen rühren an den Grundlagen moderner Gesellschaften wie geschlechtlicher Arbeitsteilung, Gewaltpraktiken, ökonomischer Ungleichheit, sexuellen Stereotypen u.a. und dennoch werden diese Fragen nicht mehr offen behandelt: »Kassandra hatte etwas zu sagen, aber sie sollte nicht gehört werden und wurde schließlich zum Schweigen gezwungen. Heute können wir gehört werden. Und wir müssen etwas zu sagen haben, widersprüchlichen Stoff einbringen, neue Fragen stellen, innerhalb von Kontroversen argumentieren. Wir könnten das ausprobieren und uns überraschen lassen. Alle Fragen sind unabgeschlossen. Judith Butler schrieb vor einigen Jahren, dass die Probleme, die wir heute mit dem Feminismus haben und an denen man fast verzweifeln kann, »zu den interessantesten und produktivsten ungelösten Fragen zu Beginn dieses Jahrhunderts« gehören. Ich meine, sie könnten das sein! Vorerst steht der Satz zumindest hierzulande im Konjunktiv.« (Thürmer-Rohr, in diesem Band: 186)

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Birge Krondorfer argumentiert in ihrem Artikel »Wider ein Vergessen der Anderen. Erinnerung als Ort der (feministischen) Differenz.« dagegen, einmal gewonnene Widerstandspraktiken und Alternativen Interpretationen zu überlassen, die das aktivistische und gegenkulturelle Wissen feministischer Vergangenheiten auf Essentialismen reduzieren anstatt es zu bergen: »Angesichts des Destruktions- und Krisenfurors aber müssen Alternativen erinnert, in die Gegenwart wiederholt werden, um diese ›aus verschütteten Teilwirklichkeiten der Vergangenheit verändern‹ zu können.« (Krondorfer, in diesem Band: 199) Und weiter: »Es ginge folglich darum, nicht das Vergangene (als Vergangenes) zu thematisieren, sondern den Anspruch des Vergangenen vernehmbar werden zu lassen und statt Abwicklung in historischem ›Wissen‹, das Verschwiegene und Verstummte zu Gehör zu bringen, denn nur derart lässt sich das Überlieferte dem jeder Epoche eigenen Konformismus abringen.« (ebd.: 204) Differenzen, Inkommensurables, Ungangepasstes auszurufen, anzusprechen, symbolisch Weibliches nicht zu verdrängen, sondern zu bergen und sich damit zu beschäftigen, um Veränderung in Geschlechterverhältnissen hervorzubringen, bedeutet sich den Gesprächen der Erinnerungen, der Gedächtnisse, der Archive und der Generationen zu stellen, um Alternativen, Veränderungen gegen die Gewalt der Gegenwart bzw. gegen die Gewalt gegenwärtiger Gesellschaften hervorzurufen: »Kritik heißt eigentlich soviel wie Erinnerung, nämlich in den Phänomenen mobilisieren, wodurch sie das wurden, was sie geworden sind, und dadurch der Möglichkeiten innewerden, dass sie auch ein Anderes hätten werden und dadurch ein Anderes sein können« (ebd: 203). Kirstin Mertlitsch arbeitet in ihrem Artikel »20.000 Frauen für die cosa nostra. Frauen. Erinnern. Das feministische Ding. Eine Analyse zum 100-jährigen Internationalen Frauentag in Österreich« heraus, dass sich ein feministisches Wir wie beispielsweise in der österreichischen Plattform 20.000 Frauen zum 100-jährigen Frauentag als Motiv an sich eignet, um Großdemonstrationen zu organisieren, und sich diese nicht im Eintreten für Rechte oder gegen Gewalt erschöpfen: »Daher liegt es nahe, dass es in diesem Aufruf vielmehr um die ›Aktion‹ als um die Bewegung selbst geht. Die Umsetzung, die hier gefordert wird, liegt bereits in der Handlung, der Bewegung und der Demonstration. Das würde aber dann weiter bedeuten, dass die Handlung oder vielmehr der Aufruf zum Protest an sich schon ein Wir hervorruft und der Beweggrund kein anderer ist als die Gemeinschaft des feministischen Wirs zu erleben, was später genauer argumentiert wird.« (Mertlitsch, in diesem Band: 216)

Dieses feministische Wir ist, wie jedes kollektive Wir, immer fiktiv und real zugleich und reiht sich, wie Mertlitsch analysiert, um ein ›Ding‹, in welchem sich das Genießen vieler sammeln kann, weil es unbestimmt und leer ist.

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Vor dem Hintergrund ihres plural-intersektionalen Konzepts (2005) kritisiert Gudrun Perko in ihrem Artikel »Bedenken. Kritiken des Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus gegen die Neue Frauenbewegung in Theorie und Praxis und ihre Aktualität in Queer Studies – eine kritische Bestandsaufnahme« das Verschweigen und Wegdrängen von Rassismen und Antisemitismen in feministischen Bewegungen in Deutschland und Österreich: »Die Kritik des Antijudaismus und Antisemitismus gegen Teile westeuropäischer (autonomer) Frauenbewegung und feministischer Theoriebildung provozierte in den 1980er und 1990er Jahren heftige Auseinandersetzungen. Publikationen von Maria Baader, Leah Carola Czollek, Susannah Heschel, Jessica Jacoby, Gotlinde Magiriba Lwanga, Charlotte KohnLey u.v.m. schildern diesbezüglich Ignoranz bis hin zu wirklichkeitsverdrehenden Bezugnahmen in feministischen Diskursen.« (Perko, in diesem Band: 232)

Perko kritisiert das Verschweigen von anti-rassistischen und jüdischen Theoretikerinnen in der neuen Frauenbewegung und die Nicht-Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Weiß-Sein in den Queer Studies. Perko verweist darauf, dass im deutschsprachigen Kontext Universitäten nach wie vor größteneils den Eindruck von geschlossenen Orten Weißer erwecken: »Kilomba Ferreira benennt Rassismus als Reinszenierung des Kolonialismus und beschreibt in diesem Beitrag akademisch-universitäre Orte als geschlossene weiße Orte, an denen selbstbestimmte Entscheidungen und Definitionen für Schwarze Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe unmöglich ist. So mag jener hoffnungsvoll formulierte Perspektivenwechsel auch im Feminismus vereinzelt zutreffen; eine Veränderung der Sichtweise des Feminismus oder der feministischen Theorien steht diesbezüglich jedoch ebenso aus wie ein Perspektivenwechsel im akademisch-universitären Bereich, der längst nicht mehr nur als patriarchale Sphäre definierbar ist.« (ebd.: 234)

Der von Perko entwickelte plural-intersektionale Ansatz einer Queer Theory arbeitet der Enge von queerer Gesellschaftsanalyse entgegen, sich ausschließlich auf Sexualität und Geschlecht wie auch lesbisch-schwule Identitätspolitik zu begrenzen, und setzt stattdessen breit gefächerte Perspektiven gegen die identitären Zuspitzungen aller sozialer Bewegungen und für breite Bündnispolitiken. Mate Ćosić, Hannes Dollinger, Utta Isop und Doris Leibetseder wenden sich in ihrem Artikel »Gegenkulturelle Archive. Intime Kollektivität jenseits von Familie und Geschlecht« ebenfalls gegen identitäre Schließungen und Ausschließungen von libertären, queeren, anarchistischen und alternativen Lebensformen. Der Schwerpunkt der Analyse der vier Autor*innen liegt auf den materiellen Lebensund Arbeitsbedingungen von anarchistischen und queeren Gegenkulturen in kapitalistischen Gesamtgesellschaften und nicht auf einer Essentialismuskritik, die mit Dekonstruktion an Körpern und Sexualitäten ansetzt:

Vor wor t »Mit der Berücksichtigung einer ›materialistischen Tradition‹ rückt die aktuell allgegenwärtige Essentialismuskritik in den Hintergrund, statt dessen wird es wichtig, zu analysieren, wie Institutionen und Arbeitsteilung Geschlecht und Sexualität formen, um die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft sicherzustellen (und mit ihr verschiedene Strukturen der Unterdrückung, Entfremdung und Ausbeutung). Materialistische Ansätze können sich als äußerst wichtig im Schaffen von emanzipatorischen und ›living archives‹ erweisen.« (Ćosić et al., in diesem Band: 251)

Mittels eines internetbasierten Fragenkatalogs sammelten die Autor*innen narrative Daten zu den Themen Haushalt, Familie, Kommunen- und Gemeinschaftsleben, Elternschaft/Kindererziehung und sexuelle Identität in anarchistischen, libertären und queeren Communities. Die Ergebnisse zeigen, dass politischer Aktivismus als Basis und als Lebensform intime Kollektivität begründen und neue Strukturen von Wohnen, Zusammenleben und Lieben hervorbringt: »Die Öffnung und das Zurückdrängen von identitären Momenten innerhalb der queeren Bewegungen sind für sie von zentralem Interesse, da dadurch auch Anforderungen von Markt und Staat in Frage gestellt werden können. Ihr Anliegen ist es, soziale Bewegungen wie feministische, anarchistische, Lesben- und Schwulen-Bewegungen und Bewegungen für soziale Gerechtigkeit zu verknüpfen, indem verschiedene Intersektionen wie Klasse, ›race‹, Behinderung, Armut, Ethnie etc. miteinander in Verbindung gebracht werden, gerade weil sie denken, dass gegenkulturelle Gedächtnisse durch den Bruch mit Identitäten funktionieren.« (ebd.: 258)

Der Abschnitt zu »Express Yourself! Wider oder für das Vergessen? Geschlechtliche Ausdrucksweisen und Erinnerungsformen in den Künsten« beinhaltet verschiedene Arten und Weisen, wie zeitliche Zwischenräume für Erinnerungskulturen vereint werden können und was für eine Rolle das Geschlecht dabei spielt. Die Beiträge von Cristina Beretta und Gintare Malinauskaite zeigen geschlechtliche Ausdrucksweisen und Erinnerungsformen für die Lagerliteratur und Shoah-Filme, wobei der von Beretta gewählte Beispielroman über Lagervergewaltigungen in Bosnien laut ihrer Analyse einen positiven Beitrag zur feministischen Erinnerungskultur darstellt. Der litauische-deutsche Film »Ghetto«, der von Malinauskaite in ihrem Artikel näher betrachtet wird, benützt hingegen eine problematische Erinnerungsform, nämlich die der Sexualisierung von Gewalt, welche die geschlechtliche Wahrnehmung nur verzerrt wiedergibt. Gerlinde Schwarzs Beitrag besteht darin, erstmals die Stummfilme von sowjetischen Regisseurinnen in Erinnerung zu rufen, und deren Frauen- und Geschlechterdarstellungen zu analysieren. Die letzten zwei Texte von Barbara Eder und Rebecca Carbery stellen queere Geschlechter anhand der Fotografie vor, wobei Eder auf einen Kurzfilm Bezug nimmt, der Magnus Hirschfelds Bilder wiederbelebt. Carberys Analysen von genderqueeren Selbstporträts der Amateurfotografie geben uns bereits einen

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen

Ausblick auf eine geschlechterlose Welt, eine Queertopia, in der das Geschlecht als Kategorie vergessen worden ist. Die einzelnen Beiträge dieses Kapitels stellen verschiedene Ausdrucksweisen vor, in denen geschlechtliche Erinnerungen wiedergegeben werden. Der Abschluss des Sammelbands wird dann von zwei Artikeln gebildet, die auf das aktive Vergessen von Geschlechterkategorien, die in der Neuzeit taxonomisch verankert wurden, Bezug nehmen, und die Utopie einer geschlechterlosen Gesellschaft veranschaulichen. Cristina Beretta schafft es mit ihrer Romananalyse von Slavenka Drakulićs »Kao de me nema« (»Als gäbe es mich nicht«, 1999) zu erklären, warum für eine feministische Erinnerungskultur eine Lagerliteratur trotz der inzwischen erschienen Erfahrungsberichte sinnvoll ist, die von einer Autorin geschrieben wurde, die selbst kein Opfer war. Beretta gibt dafür mehrere Gründe an, die sich u.a. auf das kulturelle und kollektive Gedächtnis beziehen, das die Holocaust- und Lagerliteratur um das Geschlechtliche erweitert und »eine klare Positionierung gegen die hegemoniale Geschichtsschreibung und […] ein Erinnern im öffentlichen Raum« ist. Ein weiterer Grund ist die Darstellung der Erfahrungen aus zwei Blickwinkeln heraus, sowohl aus der Sichtweise derjenigen, die keine solche Geschichten selbst erlebten und derjenigen, die sie erlebt hatten. Spannend an Berettas Untersuchung ist auch, wie die Subjektwerdung der Protagonistin an dem Willen zur Erinnerung gebunden ist und wie ein Spannungsauf bau möglich ist, ohne einem Voyeurismus zu erliegen, und dennoch ein Psychogramm eines Vergewaltigungsopfers zu liefern, das nicht leicht verdaubar, sondern eher verstörend ist. Wie sexuelle Gewalt im litauisch-deutschen Shoah-Film »Ghetto« (Audrius Juzenas, 2006) dargestellt wird, zeigt uns Gintare Malinauskaite an dem ersten und bis jetzt einzigen Film, der sich mit der Massenvernichtung in Litauen auseinandersetzt. Die Protagonistin des Films, Haya, muss laut Malinauskaite eine doppelte Hürde überwinden, erstens die der Ethnizität, da durch die Nazibesetzung und das sowjetische Trauma eigentlich das ethnisch »litauische« Opfer im Vordergrund steht und zweitens das Geschlecht, das sich einerseits gegen die männliche Geschichtsschreibung richtet und andererseits auch die Sexualisierung von Gewalt in den Shoah-Filmen problematisiert. Interessant ist dabei, wie Haya in dem Ghetto von Vilnius diese Ambivalenz ihres Frauseins erlebt, denn sie benützt ihren Körper als Mittel des Widerstands gegen das NS-Regime – als »Geliebte« des Lagerkommandanten und als Partisanin und Heldin im bewaffneten jüdischen Widerstand. Malinauskaite zeigt, wie Haya es schafft, die Rolle des passiven weiblichen Opfers und die der aktiven Kämpferin zu spielen, die dem Bild des passiven jüdischen Mannes als Kämpfer des Geistes gegenübergestellt ist. Im Zentrum des Artikels von Gerlinde Schwarz steht O’lga Preobraženskajas Stummfilm »Baby Rjazanskie« (»Das Dorf der Sünde«, 1927), und die Frage, warum dieser Film in der Stummfilmgeschichte vergessen wurde. Vor dem

Vor wor t

historischen Hintergrund der ›Frauenfrage‹ wird gezeigt, welche (Geschlechter-) Diskurse Preobraženskaja aufgriff. Der herrschende Diskurs der frühen Sowjetunion – die Schaffung des ›neuen Menschen« mit ›sowjetischer‹ Identität – kann m.E. durch Judith Butlers Konzeption von Identität als Resultat performativer Wiederholungen erhellt werden. Diese Konzeption bildet dabei den Rahmen, um die Frage nach den vielfältigen Zusammenhängen von Geschlecht, Politik und Ästhetik herauszuarbeiten. Barbara Eder geht in ihrem Beitrag der Spannung zwischen neuzeitlichem Geschlechterwissen und queerer Wissensproduktion nach, indem sie die von Magnus Hirschfeld zu Dokumentationszwecken angefertigten bildlichen Artefakte einer kritischen, queer-feministische Relektüre unterwirft. In diesen Fotografien, Skizzen, Karikaturen etc. geht es um geschlechtlich veruneindeutigende Bilder von ›Bartdamen‹, Intersexuellen, Trans*Genders und temporären Crossdresser_ innen. Dieser Bilderatlas (1930) diente wiederum Renate Lorenz und Pauline Baudry als Anlass für deren Kurzfilm »N.O. Body« (2008), den Eder benutzt, um zu zeigen, wie die Regisseurinnen die Bilder Hirschfelds zur Animation brachten, nicht nur im Sinne einer Belebung durch filmische Tricks, sondern auch durch die »Rekontextualisierung bildlicher Objekte, die aus einer ›ursprünglichen‹ Taxonomie herausgelöst und einem anderen Feld des Wissens zugeführt werden«. Rebecca Carberys Beitrag schließt den Sammelband mit einem neuen geschlechtlichen Konzept der genderqueeren Personen ab, die sich u.a. der Amateurfotografie bedienen, um die Normen und Kategorien des Geschlechts kritisch zu hinterfragen. In Carberys Fotografieanalyse wird genderqueer näher erklärt, nämlich als ein performativer Akt, der bewusst die binären Geschlechterkategorien unlesbar und vergessen macht. Darüber hinaus zeigt die Autorin anhand der Fotos, wie die Konzeption von Nicht-Normativität über Geschlechter und Sexualitäten hinausgeht und Zeit und Raum miteinschließt. Abschließend entlässt uns dann ihre Idee von Queertopia in ein vage gezeichnetes Bild einer queeren Zukunft, in der eindeutige Geschlechter vergessen worden sind.

L ITER ATUR Piercy, Marge (1986): Die Frau am Abgrund der Zeit, München: Heyne-Verlag.

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Kapitel 1 Von nicht-identischen Kontinuitäten und anderen Ungeheuern – Zur

Einleitung

Jacob Guggenheimer

»Gegen diejenigen, die denken ›ich bin dies, ich bin das‹ […] muß man in ungewissen, unwahrscheinlichen Begriffen denken: ich weiß nicht, was ich bin […]. Das Problem ist nicht dies oder jenes im Menschen zu sein, sondern eher ein Unmensch-Werden, […] die menschliche Körperorganisation auflösen, diese oder jene Identitätszone des Körpers durchqueren; […]«. (D ELEUZE 1993: 23)

Die folgenden fünf Artikel sind unterschiedlich konstruierte Sateliten einer gemeinsamen Problematisierung und in ihren Umkreisungen bringen sie die Topic zu der sie gravitieren zugleich hervor. Lisa Malichs Beitrag steht am Anfang, weil sie mit ihrem Anliegen den Forschungsgegenstand des ›Kontinuierlichen‹ wieder fokussierbar werden zu lassen, auch eine zusätzliche interessante Perspektive auf die anschließenden Beiträge eröffnet. Entspricht es dem identitätslogischen Denken von Aristoteles bis Kant das mit sich identische, ungebrochene, d.h. autonome Subjekt in einer determinierten Welt als den Ursprung von Spontanität und damit von Dis-Kontinutitäten zu setzen (vgl. Berger 2012), verändert sich dieses Bild in der recht strengen Institutionalisierung des foucaultschen Erbes und findet die Brüche nun dort, wo vorher noch Genealogien waren. Mag sein, dass Malich in erster Line kulturgeschichtliche Episteme wie die Imaginationslehre vorschweben, wenn sie mithilfe von Michel Serres’ Theorie der ›Gefalteten Zeit‹ die Untersuchung von Kontinuitäten und Ungleichzeitigkeiten wieder möglich machen möchte – in einem Forschungsfeld, in dem die Suche nach dem ereignishaften Bruch zum Imperativ geworden ist. Unausgesprochen bewegt sie sich bei

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen

diesem Projekt auch schon in den gedanklichen Werkstätten von Bettina Wuttig, Anna Babka und Lisa Appiano, denn die Subjektwerdung durch Gedächtnis-Produktion, Zitation, Wiederholung (und deren Verfehlung im Sinne der Iteration) entspricht eben diesem Fragenkomplex: Das Subjekt, wie es hier besprochen wird, entspricht nämlich sehr genau einer solchen Kontinuität, die mit sich selbst nicht identisch bleibt. Das wird besonders in Bettina Wuttigs Auseinandersetzung deutlich, die sich noch mehr als die anderen Beiträge an Nietzsches wegweisenden Überlegungen zum Verlust der Fähigkeit zu Vergessen reibt und entzündet. Nachdrücklich weist sie dabei auf das konstitutive Element der leidensfähigen Leiblichkeit hin, das diesem Konzept zugrunde liegt. Auf dieser Verwundbarkeit, so Wuttig, kann die Versprachlichung und damit Subjektwerdung erst auf bauen. Doch es sind spezifische leibliche, leibhaftige Verletzungen, womit sie Diskriminierungserfahrungen physischen Ausgesetzt-Seins meint. Welcher Art diese Erfahrungen sind ist in einer geschlechtersegregierten Gesellschaft auch geschlechtsspezifisch. Die körperbezogene Mnemotechnik des Gedächtnismachens wird demnach auch zur Einschreibung von Geschlechtsidentitäten – Geschlecht ist demnach Gedächtnis. An diesem Punkt kreuzt sich die Umlauf bahn ihrer Überlegungen mit denjenigen von Anna Babka. Auch für sie sind Geschlechtsidentität und Erinnerung nicht zu separieren, doch liegt ihr Augenmerkt vor allem auf dem zitathaften Wesen des Geschlechtlichen, jener vermeintlichen ›eigenen‹ inneren Wahrheit, von der es so scheint, als würde sie sich als Erinnerung an etwas Ursprüngliches im Zitiert-Werden einen Weg in die Gegenwart bahnen. Und auch wenn diese performative Erzeugung von Vergangenem im Zitieren durchaus auch jenseits der gesprochenen Stimme existiert, hat Babka nicht so sehr den Leib, als vielmehr die Fähigkeit der autobiografischen Erzählung im Focus. Die enorme Relevanz der Frage, wie es möglich werden kann, sich selbst bzw. seine eigene Geschichte zu erzählen, ist im Kontext feministischer Theorien, Gender Studies und QueerTheorien gar nicht überschätzbar. Das zeigt sich bei Lisa Appianos Auseinandersetzung mit Echo, jener Figur Ovids, deren Sprechen – so will es der Fluch – dazu verdammt ist, ausschließlich auf bereits Gesagtes zurückgreifen zu können. Echo ist damit vor dieselbe Herausforderung gestellt, mit der sich auch all jene Menschen konfrontiert sehen, die innerhalb der symbolischen Ordnung nicht als Subjekte (an-)erkannt werden können. Ihre Existenz jenseits der Grenzen des Intelligiblen war bereits ein Kernstück von Luce Irigarays Patriachatskritik. Anstatt repräsentiert zu werden, bilden sie das konstitutive Außen des Symbolisierbaren. Wie können sich jene, die für sich nicht den Status eines selbst-identischen Subjekts in Anspruch nehmen können (und wer könnte das schon?), artikulieren, politische Handlungsmächtigkeit (agency) erlangen und letztlich intervenieren? Appiano zeigt ganz deutlich, dass es auch aus dieser Position möglich ist, zu sprechen und zu seinen Worten zu stehen, zu signieren. Das bedeutet nicht nur zu antworten, sondern im Sinne von respondere sich zu verantworten, zu erklären, eine Antwort auf die Frage nach dem ›Warum‹ zu geben – auch wenn diese Ver-

J. Guggenheimer: Von nicht-identischen Kontinuitäten und anderen Ungeheuern

gangenheit erst mit der Gegenwart dieser Anrufung verwirklicht wird. Hier deutet sich die Schwierigkeit an, die im letzten Artikel zentral wird: Das Erkennen der Unmöglichkeit mit sich selbst identisch bleiben zu können – ein Gedanke, der sich (vielleicht ausschließlich) in der eigenartigen Bewegung des Trauerns denken lässt. Dabei ist es gerade der Versuch der Psyche das Vergehen anzuhalten, welcher der Bewegung des Verwandelns erst ihre Form gibt. In unserem Nicht-identisch-Sein setzen wir uns zur eigenen Vergangenheit in Spannung, wenn sich Gegenwart und Vergangenheit in der Jetztzeit (so nennt sie Benjamin) begegnen, wo das Ich, das ich bin, auf jenes Ich trifft, das ich war. Hier am Ort der Entscheidung, an dem nichts bereits entschieden ist und die deduktive Zeitfolge außer Kraft gesetzt ist, bricht das mit sich Identische auf und Unmögliches kehrt zurück in den Bereich der Kontingenz.

L ITER ATUR Berger, Wilhelm (2012): »Beschleunigung, Ereignis, Entscheidung«. In: Daniela Gronold/Bettina Gruber/Jacob S. Guggenheimer/Daniela Rippitsch (Hg.), Kausalität der Gewalt. Kulturwissenschaftliche Konfliktforschung an den Grenzen von Ursache und Wirkung, Bielefeld: transcript, S. 55-72. Deleuze, Gilles (1993): Unterhandlungen: 1972-1990, Frankfurt a.M.: Shurkamp.

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Faltungen von Zeit Zum Umgang mit Kontinuitäten in der diskursanalytisch inspirierten Geschlechtergeschichte 1 Lisa Malich

Einen zentralen Ansatz in der Geschlechtergeschichte stellen heute die von den Arbeiten Michel Foucaults geprägten Analysen von Aussagesystemen und Diskursformationen dar, die oft unter dem Namen ›Diskursanalyse‹ subsumiert werden. Seit Ende der 1980er Jahre geriet die bisherige Frauengeschichte vor allem wegen ihrer Fokussierung auf ›weibliche Erfahrung‹ und der häufigen Essentialisierung von Geschlecht in die Kritik (vgl. Opitz-Belakhal 2010; Habermas 2002; Scott 1988). Stattdessen wurden nun zunehmend diskursive Geschlechterordnungen und deren Wandel analysiert. Damit wurden diskursanalytische Methoden zum Mittel der Wahl. Allgemein hat dieses heterogene Instrumentenset in den letzten Jahrzehnten immer breitere Anwendung und detailliertere Ausarbeitung erfahren – sowohl in verschiedenen disziplinären Feldern wie den Geschichtswissenschaften (vgl. Sarasin 2003; Martuschkat 2002), den Sozialwissenschaften (vgl. Keller et al. 2001) oder der Wissenssoziologie (vgl. Keller 2005) als auch unter unterschiedlichen theoretischen Vorzeichen, wie der historischen (vgl. Landwehr 2008) der kritischen (vgl. Jäger 1993) oder der generativen (vgl. Link 1983) Diskursanalyse. Zum einen ist diesen verschiedenen Schwerpunktlegungen auf der forschungspraktischen Ebene gemeinsam, dass sich ihr Untersuchungsmaterial meist aus dem Feld des Sagbaren generiert und überwiegend auf sprachlichen Aussagesystemen, Texten und schriftlichen Quellen, also Dokumenten, basiert. Zum anderen fokussieren sie auf theoretischer Ebene die produktive Dimension des Diskurses sowie den Zusammengang von Macht und Wissen und distanzieren sich von Konzepten einer universellen, vorgängigen Wahrheit, eines souveränen Subjekts oder einer kohärenten, teleologischen Fortschrittserzählung. 1 | Ein Teil des Textes, insbesondere die Passagen zu den Theorien Foucaults und Serres’, basieren auf Auszügen eines bereits erschienenen Artikels der Autorin (vgl. Malich 2011).

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen

Ein zentrales Element der diskursanalytisch inspirierten Vorgehensweise stellt die Konzentration auf historische Diskontinuitäten und Brüche in Aussagesystemen dar. Dieser Fokus auf das Diskontinuierliche ist bereits in Foucaults grundlegenden Arbeiten prägend. Auch verschiedene Ansätze in seiner Nachfolge betonen diese Perspektive, und so werden in vielen empirischen Arbeiten immer wieder diskursive Wandel, Modifikationen von Wissensordnungen und Brüche in Aussagesystemen herausgestellt. Ein, wenn auch plakatives und oft kritisiertes Beispiel für den Fokus auf den Bruch stellt Thomas Laqueurs Buch »Making Sex« (1992) dar. Unter Bezugnahme auf Foucault und Thomas Kuhn – einem weiteren Theoretiker der Diskontinuität beziehungsweise ›wissenschaftlichen Revolution‹ – konstatiert er etwa einen fundamentalen Wechsel von einem Ein- zu einem Zweigeschlechtermodell im 18. Jahrhundert. Verbunden mit dem Blick auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten sind Vorstellungen von Zeit – wobei in diesem Artikel allein die Rede von der geschichtlichen Zeit sein soll, die sich mit Reinhart Koselleck (1989) als kulturell-soziale von der physikalisch-astronomischen Zeit abgrenzen lässt. Konzepte geschichtlicher Zeit wurden vom Fortschrittsdenken der europäischen Aufklärung beeinflusst, das von einer Art Zeitpfeil, von einer linearen Entwicklung der Geschichte hin zum Positiven ausging und oft mit kontinuierlichen oder teleologischen Entwürfen verbunden war. Diese Auffassung, die lange für die traditionelle Wissenschaftsgeschichte prägend war, wurde besonders in den letzten 50 Jahren immer mehr herausgefordert (vgl. Rothermund 1994). Das Modell des Zeitpfeils wurde als unterkomplex und gleichmachend kritisiert und erschien als ungeeignet, sowohl um die negativen Konsequenzen der Moderne zu erklären als auch um heterogene Figurationen, miteinander verwobene Dynamiken und kulturelle Deutungsmuster zu erfassen. Dabei kam die Kritik von verschiedenen theoretischen Positionen. Im Verweis auf divergierende soziale, kulturelle und politische Einheiten bezweifelt etwa Koselleck (1989) das Konzept einer singulären geschichtlichen Zeit und spricht stattdessen von multiplen, einander überlagernden Zeiten. Vertreter postmoderner Ansätze kritisieren ebenfalls das Konzept einer einheitlichen und kontinuierlichen Temporalität und entwerfen alternative Modelle von Zeitlichkeit; stellvertretend sei hier auf das einschlägige Werk Jean-François Lyotards (2006) verwiesen. Für die Geschlechtergeschichte hat jüngst Caroline Arni (2007) zu einer umfassendere Beschäftigung mit Zeitkonzepten aufgerufen. Dabei richtet sie sich gegen die Annahme von klar getrennten, chronologisch aufeinander folgenden Epochen. Vielmehr solle deren temporale Heterogenität berücksichtigt werden sowie die Verbindung und Überschneidung multipler zeitlicher Linien im Vordergrund stehen. Hierzu plädiert Arni für einen reflexiven Umgang mit ›Anachronien‹ als eine kontrollierte, auf die Gegenwart gerichtete historische Analyse, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen akzeptiert. Auch Foucault wendet sich gegen Annahmen einer linearen und kontinuierlichen Chronologie und entwirft die Diskontinuität nicht zuletzt als Gegenkonzept zu dieser, wie der folgenden Text näher ausführen wird. Fraglich ist allerdings, ob

L. Malich: Faltungen von Zeit

sein Fokus auf den Bruch tatsächlich stets eben diese homogenisierenden Zeitvorstellungen verhindern kann, und ob damit, insbesondere in forschungspraktischen Anwendungen, nicht auch neue Probleme einhergehen. Themen des Verhältnisses von Diskontinuität und Kontinuität sowie ihrer Vereinbarkeit mit alternativen Zeitmodellen wurden bereits in einigen geschichtstheoretischen Ansätzen fokussiert. Etwa betont die Geschlechterhistorikerin Susanna Burghartz (2000), dass Kontinuitäten nicht als gegeben betrachtet werden sollte, sondern ebenso wie Diskontinuitäten Resultate historischer Prozesse bildeten. Die meisten Auseinandersetzungen mit dieser Thematik konzentrieren sich jedoch vor allem auf Analysen wissenschaftlicher Forschungspraxis, politisch-ökomischer Strukturen oder auf eine modifizierte Konzeptualisierung der ›longue durée‹ (vgl. Stoff 2009; Bruch et al. 2006). Hier möchte ich die Frage dagegen aus einer diskursanalytischen Perspektive erörtern und mich dazu vor allem auf die Ansätze Foucaults und deren methodologische Weiterentwicklungen stützen.

D AS B EISPIEL DES V ERSEHENS IN DER S CHWANGERSCHAF T In ihrer Arbeit zum Potenzial der Anachronie hebt Arni die Notwendigkeit hervor, auch die »Wiederkehr von etwas Totgeglaubtem« theoretisch zu fassen (2007: 71). Als Beispiel nennt sie die ›Evolutionary Psychology‹, die viele alte Geschlechtsstereotype aufgreife und aktualisiere. Doch ebenso sind viele andere Themen denkbar, in denen es in der historischen Analyse sinnvoll ist, auch Repetitionen, Kontinuitäten und Fortsetzungen zu berücksichtigen. Einen Fall, der zunächst weniger politisch relevant wirken mag, der jedoch ebenfalls vergeschlechtlichtes Wissen betrifft, stellt die ›Imagination‹ in der Schwangerschaft dar. Die Imaginationslehre oder das Konzept des ›Versehens‹ beruht auf der Annahme, dass emotionsgeladene Sinneseindrücke der Schwangeren einen unmittelbaren Einfluss auf Bildung und Form des Kindes haben könnten. Entsprechend einer weiteren geläufigen Bezeichnungen, der ›Einbildung‹, ›bildete‹ sich die Wahrnehmung also im wörtlichen Sinne in die Materie ›ein‹, wobei hier oft eine Analogie- und Ähnlichkeitsbeziehung bestand. Immer wieder rezipiert wurde hierzu etwa die Geschichte von der Schwangeren, die vor einem Hasen erschrak und dann ein Kind mit einer Hasenscharte gebar. Ebenso konnte die Begegnung mit einem als Schwarz klassifizierten Menschen zu einem Kind mit schwarzer Haut führen (vgl. z.B. Dürbeck 2003; Huet 1993; Borkowsky 1988; Roodenburg1988). Gemäß den meisten Historiografien (ebd.) zur Imagination war die Theorie bereits seit der Antike verbreitet, um sowohl die Ähnlichkeit zwischen Kindern und Eltern als auch abweichende Geburten – so genannte Missbildungen oder gar Monster – begründen zu können. Im Kontext der frühen, weltlich orientierten Wissenschaften erlebte die Imaginationslehre im 16. Jahrhundert ihren Aufstieg, um dann ihre Hochphase im 17. Jahrhundert zu erreichen. Im 18. Jahrhundert

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen

jedoch gelangte das Konzept des Versehens im Bereich akademisch-wissenschaftlicher Medizin zunehmend in Misskredit. Mit diesem Bruch, der Diskreditierung und dem angeblichen Verschwinden des Versehens aus den exakten Wissenschaften und dem engeren akademisch-medizinischen Diskurs um 1740, endet in den meisten historischen Analysen die Wissenschaftsgeschichte des Versehens. Zwar wird in vielen Werken der Sekundärliteratur relativ erstaunt festgestellt, dass sich die Imaginationslehre noch lange nach diesem Zeitraum in verschiedenen Texten finden lässt. Und tatsächlich ergibt ein Blick in die Quellen, dass das Konzept in medizinischen Ratgebern, aber auch einigen wissenschaftlich-philosophischen Schriften bis ins frühe 20. Jahrhundert fortbestand. Dieses Fortbestehen wird in den meisten Analysen allerdings nicht systematisch untersucht, sondern erscheint meist lediglich als Art irrationaler, kurioser Rest eines alten Wissenssystems, der der informellen, mündlichen Ebene und der volkskundlichen Literatur zugeordnet und als »Beharrungstendenz dieses Aberglaubens« (Watzke 2004: 136) oder »Popular tradition« (Huet 1993: 101) charakterisiert wird. Doch auch andere dominante Narrative von Brüchen und Verschiebungen in den Wissenschafts- und Wissensgeschichten scheinen dagegen zu sprechen, den Fortbestand der Versehenslehre in Quellen des frühen 20. Jahrhunderts ernst zu nehmen. Schließlich würde damit ein Wissenssystem weiter existieren, das eigentlich als charakteristisch für das Epistem der Ähnlichkeit gelten kann, nach Foucault dem zur Renaissance gehörenden Denkmodell, das bis ca. 1650 dominierte, um dann vom Epistem der Repräsentation und schließlich ab dem 19. Jahrhundert von dem des Menschen abgelöst zu werden. Zudem wäre, parallel zur immer intensiveren Etablierung von Ordnungssystemen und Menschenklassifikationen – etwa der Sonderanthropologie der Frau, antisemitischen oder rassistischen Kategorisierungen – und parallel zur Identifizierung der Kernfamilie als Ursprung des Menschlichen, weiter Wissen produziert worden, das ein transgressives, latent prähumanistisches Potenzial besaß. Gerade für die Schwangerschaft, die als Teil weiblicher Reproduktion auf das Engste mit zeitgenössischer Biopolitik und Wissensproduktion verbunden war, schiene so die allgemein anerkannte chronologische ›Ordnung der Dinge‹ mitsamt ihren postulierten Wendepunkten und Diskontinuitäten nicht vollständig anwendbar. Hieraus ergibt sich die – nicht nur theoretische, sondern durchaus forschungspraktische– Frage, wie mit den Textstellen in den Quellen, die positiv auf die Imagination rekurrierten, umzugehen sei. Sind diese Kontinuitäten tatsächlich nur Atavismen, irrelevante Reste alten Wissens? Sollten sie ignoriert werden, da sie nicht mit gängigen zeitlichen Orientierungspunkten übereinstimmen, weil sie oft nur in ›populären‹ statt akademischen Werken auftauchen und weil es die diskursanalytische Forschungsperspektive zudem nahelegt, Diskontinuitäten und Wendepunkten höhere Relevanz beizumessen?

L. Malich: Faltungen von Zeit

K ONTINUITÄTEN UND D ISKONTINUITÄTEN BEI F OUCAULT Hierzu erscheint es sinnvoll, sich Foucaults Arbeiten zu Kontinuität, Diskontinuität und Fragen der Zeitlichkeit zuzuwenden. Dieser entwickelt in den beiden Werken »Archäologie des Wissens« und »Die Ordnung des Diskurses« seine Methodik und Definition des Diskurses, weswegen diese auch grundlegend für Ausarbeitungen einer diskursanalytischen Vorgehensweise durch weitere Theoretiker_innen sind. Hier definiert er den Diskurs als »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören«, und fragt nach der Streuung und den Formationsregeln der Aussagen (Foucault 1981: 156). Dabei stellt Foucault die »Suche nach den Diskontinuitäten« in den Mittelpunkt seiner (hier noch archäologischen) Vorgehensweise und bestimmt den Bruch in einer doppelten Funktion, nämlich als »zugleich Instrument und Gegenstand der Untersuchung« (ebd.: 18). Aus den näheren Ausführungen dazu lassen sich vor allem drei Faktoren extrahieren, die für diese Schwerpunktsetzung auf den Bruch von Bedeutung zu sein scheinen: Ein erster Grund ergibt sich aus der spezifischen Definition des Diskurses selbst. Denn dieser sei neben seiner Regelmäßigkeit auch von der Ereignishaftigkeit von Aussagen geprägt. Durch das Modell des Bruchs sollten gerade die Aspekte von Kontingenz, Dynamik und Zufall, die für diskursive Formationen charakteristisch seien, berücksichtigt werden. Ebenso definiert Foucault auch 1970 in seiner Antrittsvorlesung am College de France Diskurse »als diskontinuierliche Praktiken«, deren »Ereignischarakter« entscheidend sei und nennt demgemäß das »Prinzip der Diskontinuität« als einen wichtigen methodischen Grundsatz (2007: 33f.). Zweitens spezifiziert Foucault mit der Perspektive der Diskontinuität seine Methode insofern, als er sie gegen verschiedene Formen traditioneller Ansätze der Geschichtsschreibung abgrenzt. So positioniert er sich ganz allgemein gegen Vertreter der Geschichtswissenschaft, die sich an »linearen Abfolgen« (1981: 19) orientierten und beanstandet die »Gewohnheit der Historiker«, sich auf die Verbindungslinien, »die Kontinuitäten, die Übergänge, die Vorwegnahmen« zu fokussieren (ebd.: 242). Dabei richtet er sich besonders gegen die klassische Ideengeschichte. Ihr wirft er das einseitige Beharren auf Kontinuitäten und auf Leistungen von Einzelsubjekten vor, ebenso wie die Suche nach verborgenen Geisteshaltungen und den Ursprüngen von Denkmodellen, Erfindungen und Begriffen. Sein diskursanalytischer Ansatz dagegen soll die Regeln der Aussageformation und deren Transformationen in den Blick nehmen, die sich gerade in Diskontinuitäten zeigen. Drittens stehen damit, wie bereits angedeutet, Vorstellungen von linearer Temporalität und totalisierter Zeit in der Kritik. Hierzu lohnt es sich, noch einmal auf die längeren Abgrenzungen der diskursanalytischen Methodik von der Ideengeschichte zu blicken, erfolgt diese doch auch in Bezug auf zeitliche Kategorisierungen. So wirft Foucault jener vor, »das Feld der Diskurse als einen zweiwertigen Bereich« zu behandeln, in der jedes Element als »alt oder neu; un-

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bekannt oder wiederholt« charakterisiert werden könne (ebd.: 201). Dabei entstehe auch eine Hierarchie zwischen diesen zeitlichen Polen, in denen das Neue als Verbesserung, Fortschritt und aktive Leistung, das Alte als Vorstufe, überholter und passiver Rest oder Irrtum betrachtet werde. Je nachdem, auf was sich die Ideengeschichte konzentriere, beschreibe sie so entweder »die kontinuierliche Linie einer Evolution« (ebd.: 201) oder konzipiere »ununterbrochene Wirkungsschichten« (ebd.: 202). In beiden Fällen sei sie geprägt von »Genese, Kontinuität, Totalisierung« (ebd.: 197) und thematisiere die »zeitliche Abfolge« (ebd.: 236) von Geschehnissen. Das Zeitkonzept der Diskursanalyse unterscheidet sich hiervon in wesentlichen Punkten und plädiert für spezifische, heterogene und non-lineare Temporalitäten, die je nach Diskursformation variieren. So lehnt Foucault die Annahme, der Diskurs habe stets einen »diachronischen Charakter« ebenso ab wie »ein einförmiges Modell der Temporalisierung« (ebd.: 284f.). Vielmehr sei der Diskurs »eine Praxis, die ihre eigenen Formen der Verkettung und der Abfolge besitzt« mit einem eigenen »Historizitätsmodell« (ebd.: 241). Dieses Modell richtet sich in erster Linie nach den diskursiven Formationsregeln – für die Analyse ist hierbei also entscheidend, ob die Aussagen den gleichen Regeln unterworfen sind, jedoch nicht, ob sie alt oder neu, unbekannt oder wiederholt sind. Aus diesem Grund spricht Foucault auch davon, dass seine archäologische Methode zunächst eine »Schicht von Aussagehomogenität« beschreibe (ebd.: 212). Innerhalb einer solchen Schicht, die durch gleiche Formationsregeln bestimmt ist, sind chronologische Ordnungen oft zu vernachlässigen, so dass hier von einer Art Synchronizität und Gleichzeitigkeit, von einer »zeitweilige[n] Aufhebung zeitlicher Folgen« auszugehen ist (ebd.: 237). Zentral für die diskursive Temporalität sind dagegen vor allem die Wechsel zwischen den Schichten, die Brüche und Modifikationen von Formationsregeln, kleinere und größere Diskontinuitäten, durch die sich jeweils spezifische Serien ergeben. Insgesamt ist also jede diskursive Formation, wie etwa auch die Versehenslehre, durch individuelle Schichten, Brüche und Serien charakterisierbar und besitzt so ihre eigene Zeitlichkeit, die sie von anderen Formationen unterscheidet. Diese Zeitlichkeit kann je nach diskursiver Formation stark chronologisch sein, muss dies aber nicht: so bestünden bestimmte Beziehungen zwischen Formationsregeln, die »zeitlich neutral sind« und andere, »die eine bestimmte zeitliche Richtung implizieren« (ebd.: 239). Foucault konzeptionalisiert hier je individuelle zeitliche Rhythmiken und entwirft so eine Multitemporalität von Diskursen. Angelegt ist in dieser temporalen Heterogenität – um Blochs (1962) berühmtes Diktum aufzunehmen, nicht jedoch seine lineare und teleologische Vorstellung – eine ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹. Die obige Zusammenfassung zur Rolle der Diskontinuität stammt aus den Werken, die zu Foucaults ›archäologischer Phase‹ gezählt werden. Doch auch in seiner späteren genealogischen Vorgehensweise fokussiert er zwar zunehmend auf die Verbindung von Wissen und Macht, weicht aber von diesen Aspekten nicht ab: Weiterhin betont er die diskontinuierliche Dimension des Diskurses und

L. Malich: Faltungen von Zeit

weiterhin richtet er sich gegen Formen der Geschichtsschreibungen, die an Konzepten von Ursprung, Teleologie und einem singulären Verlauf orientiert sind (vgl. Brieler 1998). So viel zu der durchaus plausiblen Wende zur Diskontinuität in der Diskursanalyse. Nichtsdestotrotz birgt diese jedoch auch einige Tücken, die sich teils im metaphorischen Gehalt von Begriffen, teils in Verallgemeinerungen oder in praktischen Anwendungen zeigen können. Ein erstes, eher theoretisches Problem lässt sich schon in den Begriffen des Bruches oder der Diskontinuität ausmachen. Zwar lehnt Foucault die Vorannahme von linearen Abfolgen, diachroner Ordnungen und totalisierter Zeit ebenso ab wie die Zweiteilung in alt und neu. Auch richtet er sich gegen die Annahme eines klaren und synchronen Wechsels. Doch paradoxer Weise impliziert der Begriff des Bruchs eben das: Ein Diskurs, so diesen Begrifflichkeiten inhärente Figur, verändert sich von dem einen Zustand in der Vergangenheit hin zu einem radikal anderen in der Gegenwart. Er wechselt von einem Davor zu einem Danach und macht eine Art der Entwicklung durch, wenn es auch keine teleologisch gedachte Entwicklung ist. Mag dies noch als begriffliche Spitzfindigkeit gedeutet werden, so ist damit doch ein zweites Problem verbunden, nämlich, dass Foucault zwar die Spezifität bestimmter Diskursformationen betont, es in der Forschungspraxis jedoch oft zu verallgemeinerten Periodisierungen kommt – wohl auch, weil die Frage, was eine Diskursformation bzw. eine diskursive Einheit definiert, eine komplexe ist.2 Ein Bruch scheint sich so in seiner generalisierten Form durch sämtliche Gebiete zu ziehen und die Zeit einer untersuchten Diskursformation scheint dadurch die Zeit anderer Diskurse vorzugeben. Dies ist etwa auch in Jürgen Links (1983) konzeptioneller Unterscheidung von wissenschaftlichem Spezialdiskurs und allgemeinem Interdiskurs angelegt und wird besonders in deren Adaption durch Siegfried Jäger (1993) in dessen kritischer Diskursanalyse deutlich. Hier wird eine unidirektionale Wirkrichtung von Spezialdiskursen, in dem Wissen produziert wird, hin zum Interdiskurs als eine Art Sammelbecken dieses Wissens angenommen, so dass der Rhythmus der ersteren auch den des anderen beeinflusst: Brüche und Transformationen auf akademischer Ebene, so scheint es, werden sich, wenn auch zeitverzögert, ebenfalls im Interdiskurs sedimentieren. Beispielsweise müsste sich also die Abkehr von der Versehenslehre in der medizinischen Wissenschaft auch in der Ratgeberliteratur niederschlagen. Auf diese Weise wird Multitemporalität zugunsten einer eindimensionalen Periodisierung inklusive Verzögerungen ausgehebelt. Damit verbunden ist der dritte Punkt, nämlich die Gefahr, dass Kontinuitäten wegen 2 | Foucault (1981) selbst möchte Einheiten über gemeinsame Regeln und Beziehungen, durch die sich Aussagen formieren, bilden. Gleichzeitig räumt er ein, für seine Untersuchung oft die ›gegebenen Einheiten‹ von Medizin oder Ökonomie zu verwenden. Zu den verschiedenen Perspektiven, wie eine diskursive Einheit bestimmt werden kann, sei hier nur auf die Literaturangaben der Einleitung verwiesen (z.B. Martuschkat 2002; Keller et al. 2001; Jäger 1993).

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der Konzentration auf Brüche keine Berücksichtigung finden, und zwar – im Gegensatz zur bereits erwähnten Doppelfunktion der Diskontinuitäten – weder als Objekte noch als Instrumente der Analyse. Diese Vernachlässigung kann zum einen dazu verleiten, fortdauernde und wiederkehrende Elemente in dem untersuchten oder in angrenzenden Diskursen lediglich als passiven, antiquierten und irrelevanten Restbestand zu interpretieren, wie dies viele Historiografien der Versehenstheorie tun. Zum anderen kann der Fokus auf die Diskontinuitäten bereits verhindern, dass überhaupt erst nach Kontinuitäten gesucht wird oder diese Beachtung finden. Eine einseitige Fokussierung auf Diskontinuitäten kann also auf Kosten der Kontinuitäten gehen und dazu führen, dass stabile Elemente, wie die Einbildungslehre um 1900, ausgeklammert werden. Aus welchen Gründen aber sollten Kontinuitäten in der Diskursanalyse überhaupt berücksichtig werden? Und wie ließe sich diese potenzielle Vernachlässigung von Kontinuitäten in der Diskursanalyse vermeiden, sowohl auf theoretischer als auch auf forschungspraktischer Ebene? Hierzu lohnt es sich, noch einmal zurück zu Foucaults Systematisierungen zu gehen und zu betrachten, was er unter Kontinuitäten versteht. In der Archäologie des Wissens arbeitet der Theoretiker implizit mit zwei Bedeutungen des Begriffes Kontinuität, einer negativ und einer positiv bewerteten. Erstens verwendet er ihn – und das weitaus häufiger – als Gegenbegriff zur von ihm präferierten Diskontinuität. In diesem Sinne stehen besonders die »unreflektierten Kontinuitäten« (1981: 38) für diejenigen Ansätze, die er ablehnt: für konventionelle Geschichtsschreibung, für das Ziehen von Verbindungslinien von einem Autor zum nächsten ebenso wie für Konzepte einer einförmigen und linearen Zeit. Demgemäß möchte er seine Forschungsmethode gerade von Begriffen lösen, die mit dem »Thema der Kontinuität« verbunden sind, nämlich der »Tradition«, des »Einflusses«, der »Entwicklung und Evolution« und »Mentalität« (ebd.: 33f.). Er lehnt die Kontinuität also als allgemeine Forschungsperspektive ab, oder, um auf seine eingangs genannte Zweifachnutzung des Diskontinuitätsbegriffs zurückzukommen, als ›Instrument‹ der Analyse. Beibehalten werden jedoch Kontinuitäten als ›Gegenstände‹ der Analyse, wobei sie hier als stabile, fortbestehende oder wiederkehrende Elemente von Aussagen verstanden werden. So definiert Foucault die Gesamtheit koexistierender Äußerungen als mögliches Untersuchungsgebiet, wozu als wahr beurteilte, wiederholte, kritisierte und zurückgewiesene Aussagen ebenso zählen, wie das »Erinnerungsgebiet« aus alten, nicht mehr als gültig zugelassenen aber dennoch präsenten Aussagen (ebd.: 86). Gemäß seiner Prämisse, dass Aussagen stets aktiv gebildet werden und durch veränderliche Regelsysteme hervorgebracht werden, bedürfen auch kontinuierliche Aussagen einer Untersuchung. In diesem Zusammenhang verwehrt sich der Theoretiker auch trotz seiner anfänglichen Schwerpunktsetzung explizit gegen die Annahme, seine Methode sei allein »die privilegierte Analyse des Diskontinuierlichen« und vernachlässige beständige Elemente; vielmehr basiere seine Vorgehensweise darauf, »daß das Gleiche, das Wiederholte und das Ununterbrochene nicht weniger Probleme stellen

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als die Brüche«, so dass es zu zeigen gelte, »wie das Kontinuierliche aufgrund derselben Bedingungen und nach denselben Regeln gebildet wird wie die Dispersion« (ebd.: 248f.). Foucault lehnt Kontinuitäten also keineswegs vollständig ab, vielmehr lehnt er ihre unreflektierte Annahme ebenso wie ihre Verwendung als Forschungsperspektive und Instrument ab, behält sie als Objekte der Analyse jedoch bei – auch wenn er sich in seinen empirischen Arbeiten dann meist doch auf Brüche und Transformationen konzentriert. Wie jedoch lassen sich in der Diskursanalyse die positiv gewerteten Kontinuitäten als Objekte untersuchen, ohne zugleich auch die negativ bewerteten Vorstellungen von Kontinuität als Linearität, Teleologie und totaler Zeit zu adaptieren? Wie kann man die Multitemporalität von Diskursformationen theoretisieren und vermeiden, dass die Brüche des einen Diskurses auch die Brüche des anderen Diskurses vorgeben, dass also beispielsweise die Zeitlichkeit der Wissenschaft auch die des populären Diskurses bestimmt? Und ließe sich die Kontinuität nicht nur als Objekt der Untersuchung, sondern unter bestimmten Umständen auch als ihr Instrument verwenden?

D AS K ONZEP T DER GEFALTE TEN Z EIT IN INTERSEK TIONALEN V ERHÄLTNISSEN Einen möglichen Lösungsansatz für diese Fragen bietet das Konzept der gefalteten Zeit des Philosophen Michel Serres. In einer Interviewreihe nach seiner methodologischen Vorgehensweise gefragt, bei der er oft sehr unmittelbar wissenschaftliche Konzepte aus den verschiedensten historischen Epochen und geistesgeschichtlichen Traditionen nebeneinanderstellt, positioniert Serres sein Konzept als Gegenmodell zu einem linearen und teleologischen Modell von Zeit und Erkenntnisfortschritt. Stattdessen entwirft er Zeit als Faltung, »a kind of crumpling, a multiple, foldable diversity« (Serres/Latour 1995: 59). Zur Veranschaulichung verwendet Serres das Bild eines Taschentuches: Liegt das Tuch glatt gestrichen auf einem Tisch, so lassen sich verschiedene Punkte auf ihm markieren und deren Abstand zueinander genau bemessen. Wird das Taschentuch nun aber gefaltet oder zerknittert, sind vorher weit entfernte Punkte plötzlich nah und berühren einander. Serres’ topologisch ausgerichtete Vorstellung von gefalteter Zeit spiegelt sich auch in seiner Betrachtung historischer Epochenbildung, Wissensgeschichte und vor allem der Konstitution neuer Wissenskonzepte. Laut Serres tragen diese nicht nur die Zeit und Wissenschaftsphase ihrer Kreation in sich, sondern sind multitemporäre oder polychronologische Gebilde, sie weisen Überlappungen zu und Verbindungen mit verschiedenen vergangenen, gegenwärtigen und futuristischen Wissenskonzepten auf: »[E]very historical area is likewise multitemporal, simoultaneously drawing from the obsolete, the contemporary, and the futuristic. An object, a circumstance, is thus polychronic, multitemporal, and reveals a time that is gathered together, with multiple pleats.« (Ebd.: 60)

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Auf diese Weise sind Kontinuitäten und rekurrierende Elemente als Berührungen, Annäherungen, Überlappungen und Faltungen zu theoretisieren, ohne das Konzept eines kontinuierlichen und eindimensionalen Zeitpfeils adaptieren zu müssen. Dabei wird jedoch auch der Blick auf Diskontinuitäten verändert, die nun als faltungsbedingte Verschiebungen, Kanten und Unterteilungen zu denken sind. Anders als die Figur des Bruchs, die eine klare, abgeschlossene Trennung impliziert, verdeutlicht hier die Figur der Faltung, dass verschiedene Elemente, diskontinuierliche wie kontinuierliche, weiter in Verbindung miteinander stehen. Denn wie auch Deleuze (1988) in seiner Arbeit zur Falte beschreibt, beinhaltet dieses Modell die Kohärenz einzelner Entitäten und verdeutlicht, dass Teile zwar unterscheidbar, jedoch gleichzeitig untrennbar sein können. Mit der Figur der Zeitfaltung ist somit auch das interdependente Verhältnis heterogener Aussagen und Diskursformationen denkbar. Vor allem aber lässt sich damit der Aspekt von Kontinuität nicht nur als Objekt, sondern auch als Instrument der Analyse konzeptionalisieren, mit dem sich Fortführungen und Wiederholung, stabile Bestandteile in Wechseln und spezifische Temporalitäten sichtbar machen und untersuchen lassen. Um zu erklären, wie die Faltungen von Zeit vonstattengehen, verweist Serres auf die relativ vage Metapher des Hermes, des Wanderers zwischen den Welten. Unberücksichtigt bleiben hierbei jedoch Aspekte von sozialen Kategorisierungen und von Kräfteverhältnissen, die sich in verschiedenen Ensembles aus Institutionalisierungen, Gesetzen, Regelungen und diversen Praktiken formieren und sich mit Foucault (1978) als Dispositive zusammenfassen lassen. Deswegen erscheint es sinnvoll, das Modell der Zeitfaltung um die Dimension dispositiv-artiger Machtrelationen als Faktoren der Faltenbildung zu erweitern. Serres’ Taschentuch sollte so als von Machtkonstellationen geformt imaginiert werden. Spezifische gesellschaftliche Kräfte und politische Konstellationen lassen, tektonischen Kräften gleich, das Tuch an manchen Stellen zerknittern, an anderen glätten oder dehnen sie es. Diese Dispositive haben, je nach sozialen Kategorisierungen, die sie umstellen, und je nach deren intersektionalen Beziehungen (vgl. Dietze et al. 2007) zueinander, unterschiedliche Wirkungen, so dass es auch zu jeweils differierenden Formen der Temporalität kommt: Die Zeitfaltung eines bestimmten Aussagesystems kann variieren, je nachdem ob sich dieses auf eine Position richtet, die etwa als männlich oder weiblich, bürgerlich oder proletarisch, jung oder alt klassifiziert ist; unmarkiert oder rassifiziert wird; als pubertierend, menstruierend oder schwanger charakterisiert wird. Ebenso kann es jedoch auch je nach Diskurstyp und dessen jeweiliger Beziehung zu Dispositiven und deren Kräften zu heterogenen Faltungen kommen: Ein Wissenskonzept kann in medizinischer Ratgeberliteratur eine andere Zeitlichkeit aufweisen, als etwa in naturwissenschaftlichen, akademischen oder juristischen Diskursen, die eigentlich derselben Epoche zugeteilt werden. Erweitert um intersektionale und dispositiv-förmige Machtrelationen bildet die gefaltete Zeit somit ein nützliches Instrument der Diskursanalyse, mit dem

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sich partielle Kontinuitäten sowie deren interdependentes Verhältnis zu heterogenen und lokalen Diskontinuitäten – sowohl auf der Ebene von Diskursinhalten als auch auf der Ebene von Diskurstypen – reflektieren lassen.

V ERSEHENSLEHRE ALS Z EITFALTUNG Zurück zum eingangs genannten Beispiel, nämlich der Imaginationstheorie, die in einigen Diskursen bis ins frühe 20. Jahrhundert fortbestand und mit Arni (2007) als ›Totgeglaubte‹ bezeichnet werden könnte. Schließlich wurde sie nach ihrem offiziellen Ende in der Mitte des 18. Jahrhunderts sogar im engeren akademischen Feld noch vereinzelt von Wissenschaftlern vertreten.3 Vor allem aber bezogen sich einige medizinische Ratgeber, Hygieneschriften und populärwissenschaftliche Werke positiv auf sie.4 Etwa legitimierte der verbreitete Ratgeber des Arztes Kress, der um 1840 das erste Mal veröffentlicht wurde und um 1902 in der 15., neu bearbeiteten Auflage erschien, das »Versehen der Schwangeren«, indem er als psychosomatischen Übertragungsweg ausführlich das Konzept einer »Atmosphäre der Nerven« vorstellte (ca. 1902: 363-366). Ebenso hielt der äußerst erfolgreiche Ratgeber der Ärztin und Lebensreformerin Anna Fischer-Dückelmann (1917) trotz ihrer Befürwortung der Vererbungslehre an der Idee fest, integrierte sie jedoch in das im Buch dominierende naturheilkundliche Regelwerk. Auch erklärte Gerhard von Welsenburg, ein Pseudonym des deutschen Arztes und Sexualwissenschaftlers Iwan Bloch, in einem sittengeschichtlichen Werk von 1899 das Versehen zu einer Tatsache. Demgemäß passte der Autor das Modell in die zu dieser Zeit intensivierten bevölkerungspolitischen Differenzierungen ein und führte die vermeintlich breiteren Gesichter der Ostschlesierinnen auf die entsprechende Form der Madonnenbilder, die in dieser Gegend verbreitete wären, zurück. Die Imagination war also bis ins frühe 20. Jahrhundert in einigen medizinischen, populären, wissenschaftlichen und hygienischen Werken prominent. Diese tradierten nicht einfach nur passive, unveränderte und irrelevante Reste eines alten Glaubens, sondern schlossen an Kontinuitäten an, die teilweise aus dem 17. Jahrhundert weitergeführt wurden. Sie reifizierten, modifizierten und produzierten dieses Wissen jedoch aktiv weiter. Sie fügten es in neue Erklärungsmodelle wie das der Nervenatmosphäre ein oder schlossen es an jeweils aktuelle 3 | Wichtige spätere Vertreter des Versehens waren z.B. der Physiologe Johann Gottlob Krüger (1715-1759) sowie die Geburtshelfer Albert Samuel Löwenstein (1802-1831) und William F. Montgomery (1797-1859). Auch der US-amerikanische Chirurg William A. Hammond (1828-1900) oder Benjamin Fordyce Barker (1818-1891), Mitbegründer der American Gynecological Society, vertraten die Theorie. 4 | Ein frühes Beispiel bildet die Ausgabe der »Encyclopédie« von Diderot und d’Alembert aus dem Jahr 1777.

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naturheilkundliche oder bevölkerungswissenschaftliche Aussagensysteme an. Die Multitemporalität dieses Konzepts koexistierte und interagierte um 1900 zudem mit den heterogenen Chronologien anderer Diskursformationen wie der Hygiene, der Vererbungslehre oder der Sexualwissenschaft. Auf diese Weise bestand im Bereich des Versehens in der Schwangerschaft eine spezifische Zeitfaltung, in der langfristige und kurzfristige Elemente, antike und prähumanistische Vorstellungen mit Teilen zeitgenössischer Konzepte, Erklärungsmodellen und politischen Argumentationen überlappten. Doch der Befund der Faltung führt zu der Frage, warum gerade diese Art der Faltung bestand. Welche Kräfte wirkten also um 1900 auf das ›Taschentuch‹, um seine Flächen an bestimmten Stellen einander berühren und an anderen Stellen zerknittern zu lassen? Diese Frage bedürfte einer genauen historischen Analyse, so dass hier abschließend skizzenhaft nur noch einige mögliche Faktoren genannt werden können. Neben den Kraftfeldern angrenzender Diskurse und biopolitischer Strategien hatten wohl, wie im vorigen Kapitel beschrieben, vor allem die Machtwirkungen intersektionaler sozialer Kategorisierungen und die Regeln des jeweiligen Diskurstyps Einfluss. Einmal spielte sicherlich eine Rolle, nach welchen Regeln in den jeweiligen Aussageformationen Wissen produziert und legitimiert wurde. Während in der akademischen medizinischen Forschung im 19. Jahrhundert Experimentalsysteme maßgebliche Prinzipien der Aussagenproduktion bildeten, herrschten in den Ratgebern Regeln vor, die stark auf der Betonung der Professionalität und wissenschaftlichen Expertise ihres Autors basierten. Diese verschiedenen Legitimationsweisen erleichterten oder erschwerten damit eine positive Bezugnahme auf die Imaginationslehre. Daneben war wohl auch die jeweilige Funktion von Wissen in den Diskurstypen von Bedeutung. So war das wortwörtliche Ziel von Ratgebern schließlich, Rat zu geben. Sie profilierten sich also weniger dadurch, neue Erkenntnisse zu gewinnen und alte zu falsifizieren, sondern vor allem dadurch, konkrete Verhaltensregeln zu formulieren. Hier mochte ein Vorteil der Imaginationslehre darstellen, dass sich aus ihr viele Empfehlungen ableiten ließen, die (anders als z.B. beim Konzept fester Erbanlagen) Schwangeren konkrete Handlungsmöglichkeiten eröffneten. Dies leitet zu einem weiteren Punkt, nämlich, dass sich mit der Imagination Verbindungen zu Theorien und Praktiken wie der Hygiene und Diätetik herstellen ließen, die die Plastizität menschlicher Reproduktion betonten. Diese Aussagenmuster erlaubten weiterhin, dem Einfluss der Umwelt zu theoretisieren und bildeten so ein potenzielles Gegenmodell zu den in dieser Zeit zunehmend starren Konzeptionen der Vererbungstheorie und Rassenhygiene. Auch die Anschlussfähigkeit der Imagination an den vergeschlechtlichten Diskurs der Hysterie war von Bedeutung, bildete diese doch im 19. Jahrhundert eines der zentralsten Konzepte, in denen die alte Annahme eines direkten Einflusses von Einbildungen auf die körperliche Konstitution fortbestand (vgl. Fischer-Homberger 1984).

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Dies mögen nur einige der Elemente des Dispositivs sein, die die spezifische Faltung gravider Imagination und ihre Konstellation multitemporaler Konzepte hervorbrachten. Deutlich ist durch dieses Beispiel jedoch geworden, dass es für eine diskursanalytisch inspirierte Geschlechtergeschichte durchaus produktiv sein kann, nicht nur nach Diskontinuitäten zu suchen, sondern auch kontinuierliche Elemente von Wissen zu beachten. Hierbei ist das Konzept der gefalteten Zeit nützlich, weil sie ermöglicht, »Wiedergänger aus einer kontrolliert anachronistischen Perspektive in den Blick zu nehmen« (Arni 2007: 72). Mit ihr lassen sich fortbestehende Elemente von den Implikationen eines linearen Zeitmodells lösen und Multitemporalitäten von Aussageformationen theoretisieren. Zudem erlaubt die Perspektive der Faltung, Kontinuitäten nicht nur als Objekte, sondern auch als Instrumente der Analyse zu verwenden, die den Blick für bestimmte machterfüllte Konstellationen, soziale Positionierungen und diskursive Regeln schärfen.

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Der Fall des Traumas: Nietzsches Leibphilosophie als Weg zur Rekonstruktion erinnerbarer Geschlechterordnungen Geschlecht als Erinnerungstechnik denken Bettina Wuttig

A USGANGSPUNK T Ausgangspunkt des folgenden Beitrages ist Friedrich Nietzsches auf den Leib bezogenes Konzept der Erinnnerungstechnik (Mnemotechnik) (1988). Mnemotechnik soll hier als ›traumatische Subjektivierung‹, als Fall des Traumas gelesen werden. Darüber hinaus soll Nietzsches mnemotechnisches Konzept auf die Frage der sozialen wie individuellen Reproduktion der Geschlechterordnung angewandt werden. In diesem Zusammenhang ergeben sich folgende Fragen: Wie wird die gesellschaftlich instituierte binäre Geschlechterordnung am Leib reproduziert? Welche Rolle spielen dabei Gedächtnisprozesse? Kann ›Geschlecht‹ mit Nietzsche als Erinnerungstechnik gelesen werden? Wenn ja, welches subversive Potenzial lässt sich daraus ableiten? Es wird damit begonnen, mit Nietzsche Erinnern und Vergessen als eine Frage von Macht und Herrschaft zu thematisieren (1.). Erinnerungstechniken sollen in einem nächsten Schritt als Subjektivierungsprozess denkbar werden. Das Zufügen von Schmerzen an einem verwundbaren Leib (Nervensystem) wird mit Blick auf die Reproduktion sozialer Ordnungen thematisiert. Es ist die theoretische Verquickung von verwundbarem Leib und machtförmigen sozialen Ordnungen in diesem Konzept, die es nahelegen, Nietzsches mnemotechnische Subjektivierungstheorie mit einer Traumatisierung zu vergleichen, so die These (2.). Punkt 3 führt somit in mögliche Begriffsdefinitionen von Trauma ein. Unter Punkt 4 wird eine Umdefinition des gängigen (klinischen) Traumabegriffes vorgeschlagen: Vergeschlechtlichende Subjektivierungen sollen mit Butler selbst als potenziell traumatisch analysierbar werden. Im Anschluss daran kann gefragt werden, wie strukturkategorielle Parameter traumatisch verinnerlicht werden. Hierfür wird unter Punkt 5 Nietzsches Mnemotechnik mit kritisch-neurowissenschaftli-

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chem Wissen zu (traumatischen) Erinnerungsprozessen gegengelesen. Resümee: Geschlecht kann sich über Erinnerungstechniken im Leib verankern und reicht so über den Bereich des Diskursiven (Performativen) hinaus. Normalisierungen stellen eine Art »insidious trauma« (Cvetkovich, 2003, 46), ein schleichendes/ heimliches Trauma dar. Als solche können diese sich in den Leibern materialisieren (6.). Abschließend wird ein zumindest vorsichtiger Ausblick auf Widerstandspraktiken gegeben: diese können mit Nietzsche als Praktiken des leiblichen Vergessens konzipiert und weiterentwickelt werden (7.).

1. E RINNERN UND V ERGESSEN ALS F R AGE DER M ACHT »Wirf dein Schweres in die Tiefe! Mensch, vergiss! Mensch vergiss! […] Wirf dein Schwerstes in das Meer! Hier ist das Meer, wirf Dich ins Meer! Göttlich ist des Vergessens Kunst!« (N IETZSCHE 2010: 144)

In der Schrift »Zur Genealogie der Moral« thematisiert Nietzsche, ähnlich wie in diesem Gedicht, die Vergesslichkeit als Kunst oder auch als »Kraft« (1988: 46 ff.). Die Vergesslichkeit stellt hier ein »positives Hemmungsvermögen« dar, einen counterpart für das, was Nietzsche »Gedächtnis« nennt. Das Gedächtnis ist bei Nietzsche innerhalb der Trias: Leib, Subjekt, Societät (Gesellschaft) verortet. Durch zivilisatorische Prozesse wird dem Menschen ein Gedächtnis ›gemacht‹. Das Gedächtnis als ›Gedächtnis des Willens‹ fungiert dabei als Kitt sozialer Ordnungen, das heißt: Gesellschaft geht aus den in die Individuen hinein installierten Gedächtnissen hervor. Elisabeth Grosz pointiert Nietzsches Idee der Funktionsweise sozialer Organisationen wie folgt: »The establishement of a memory is the key condition for the creation of social organisation.« (Grosz 1994: 132) Mit der »Gedächtnismachung« (Nietzsche 1988: 48f.) teleologisch verknüpft ist die potenzielle Eigenschaft des Subjekts, versprechen zu dürfen. Die »Kraft der Vergesslichkeit« tritt dem Gedächtnis des Willens, welches Nietzsche sich wie eine künstlich geschaffene Malaise vorstellt, dabei als quasi-ontologische Größe gegenüber. In der »Genealogie der Moral« heißt es: »Eben dieses nothwendig vergessliche Thier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit darstellt, hat sich nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtnis, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, dass versprochen werden soll […]« (Nietzsche 1988: 47).

Es ist jene Heranzüchtung, wie Nietzsche es nennt, der Verantwortlichkeit, der Kontinuität des Willens, die sich in der Position des Versprechen-Dürfens bestätigt,

B. Wuttig: Der Fall des Traumas

die für Nietzsche ein Herrschaftsmerkmal darstellt. Ein Herrschaftsmerkmal, das nicht zuletzt darin besteht, eine Selbstidentität des Subjekts zu generieren und zu garantieren (vgl. Kalb 2000: 112; Grosz 1994: 122). Denn: Nur derjenige gilt als mächtig – wir würden heute sagen, gilt als Subjekt – der versprechen darf, dem ein Gedächtnis »angezüchtet« (Nietzsche 1988, 47ff.) wird. 1 Das Gedächtnis des Willens darf hier nicht allein auf den Verstand bezogen oder gar voluntaristisch verstanden werden. Deutlich wird dies, wenn Nietzsche davon spricht, dass »diese Macht über sich und das Geschick [versprechen zu dürfen, B.W.] [sich] bei ihm [dem Mensch, B.W.] bis in seine unterste Tiefe hinab gesenkt hat und [zum] dominierenden Instinkt« (ebd.: 49) geworden ist. Das Gedächtnis des Willens ist vielmehr eine Art instinktive soziale Zwangsjacke, es handelt sich bei diesem um eine Macht, die bis in die körperlichen Impulse, verstanden als Instinkte, hineinwirkt: Die soziale Zwangsjacke soll dabei die Selbstidentität und die an diese teleologisch gebundene, hierarchisch angeordnete soziale Ordnung aufrecht erhalten. Wie stellt sich Nietzsche nun genau vor, dass ein Gedächtnis und damit ein Subjekt gemacht wird?

2. M NEMOTECHNIK : S CHMERZ ALS S UBJEK TIVIERUNGSSTR ATEGIE »Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört weh zu thun, bleibt im Gedächtnis.« (N IETZSCHE 1988, 50)

Nietzsche stellt sich die Installierung von Erinnerung als eine am Leib vollzogene grausame Bestrafungszeremonie vor. Das Schmerz-Zufügen am Leib ist 1 | Das Subjekt soll versprechen dürfen und können, dass es nur sich selbst gleicht und dass es heute noch der/die Selbe ist wie gestern, ergo: eine Einheit darstellt. Nur derjenige ist ein »freier Mensch« (Nietzsche 1988, 48f.), der sich Inhaber eines »langen unzerbrechlichen Willens« (ebd.) nennen kann. Alle anderen sind, in dieser Perspektive, prekäre Subjekte und potenziell der Verachtung und der Gewaltsamkeit ausgesetzt. Sich erinnern zu können, verbunden mit dem Versprechen von Sicherheiten, die aus der Selbstidentität der Subjekte sich ableiten lassen, bildet innerhalb sozialer Ordnungen die Währung generalis. Wer über sie verfügt, ist mächtig, gleichsam autorisiert, wer nicht, schutzlos der Aggression und Gewalt ausgesetzt. Ebenso wie das »Versprechen-Dürfen« die Herrschaft über andere garantiert, garantiert es auch die Herrschaft über sich selbst wie über die Natur. Bei Nietzsche heißt es: »Von sich aus nach den Anderen hinblickend, ehrt er oder verachtet er [der freie Mensch, B.W.]; und eben so nothwendig als er die ihm Gleichen, die starken und zuverlässigen (die, welche versprechen dürfen) ehrt, – also Jedermann, der wie ein Souverän spricht, schwer, selten, langsam, der mit seinem Vertrauen geizt, der auszeichnet […], der sein Wort giebt als Etwas, auf das Verlass ist, weil er sich stark genug weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst ›gegen das Schicksal‹ aufrecht zu halten – ebenso nothwendig wird er seinen Fußtritt für die schmächtigen Windhunde bereit halten, die versprechen ohne es zu dürfen […]« (ebd.:49).

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der eigentliche Gedächtnismachungsprozess: Die Erinnerung wird in den Leib sprichwörtlich 2 »eingeschrieben, eingeritzt, eingebrannt, eingeschnitten, eingestempelt oder eingezeichnet«.3 Nietzsche (1988) nennt diesen mit physischen und/oder psychischen Schmerzen verbundenen Vorgang Mmnemotechnik. Er umreißt den Vorgang wie folgt: »Es gieng niemals ohne Blut, Martern und Opfern ab, wenn der Mensch es nöthig hielt sich ein Gedächtnis zu machen, die schauerlichsten Opfer und Pfänder, die widerlichsten Verstümmelungen die grausamsten Ritualformen aller religiösen Kulte – alles das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemotechnik errieth.« (Ebd.: 50) Sozial etablierte Formen der Grausamkeit treten hier als eine Macht4 auf, die über die Installierung von Erinnerungen selbstidentische Subjekte generieren soll. In dem Begriff Instinkt läuft zusammen, was mit Nietzsche als semiotischsoziale-physische Dimension gedacht werden kann. Letztlich wird der Instinkt zur sozialen Ordnung dem Leib5 aufgeprägt. Die mnemotechnische Macht besteht darin, das sie in die Physis hinein die machtförmigen Praktiken sozialer Ordnungen installiert – auf dass aus der Physis hinaus wiederum ein Instinkt für Hierarchie – als der große Perpetuierer sozialer Ordnungen erwachse. Doch was in Nietzsches Philosophie ist der Leib genau?

2 | Wie später zu zeigen ist, ist in Nietzsches Verständnis die semiotische Dimension mit der Dimension der Physis dergestalt verwoben, dass der Begriff der Einschreibung nicht metaphorisch, sondern metonymisch zu verstehen ist: Eine abstrakte Ordnung wird in den Leib konkret und sprichwörtlich hinein übersetzt (vgl. Kalb 2000: 107ff.). 3 | Da Nietzsche in keinem seiner Werke eine kohärente Körper-Macht-Philosophie vorlegt, kompiliert Christof Kalb Nietzsches Hinweise hierzu aus mehreren Schriften (vgl. Kalb 2000: 113). 4 | Macht wird im Kontext der Nietzsche-Rezeption in diesem Artikel synonym mit dem, eventuell einigen Leser_innen vertrauterem, foucaultschen Herrschaftsbegriff verwandt. Die Etablierung von mit sich selbst identischen Subjekten stellt bei Nietzsche wie bei Foucault ein Herrschaftsmerkmal dar. In dem Moment, in dem Machtbeziehungen über die Produktion starrer Identitäten ihre Beweglichkeit verlieren, spricht Foucault von Herrschaft. Es geht mir an dieser Stelle um das Thematisieren von Herrschaftsmechanismen durch machtförmige Identitätsmarkierungen und Platzanweisungen. Zu Herrschaft wird eine machtförmige Identitätszuweisung, wenn sie sich im Leib zu einer stabilen Identität verdichtet – so meine These. Zur Unterscheidung von Macht und Herrschaft bei Foucault vgl. Wuttig 1999. 5 | Wenn die Rede von ›Leib‹ ist, ist an dieser Stelle nicht eine leibphänomenologisch getroffene Unterscheidung von Körper und Leib gemeint. Vielmehr wurde zu Nietzsches Zeiten der menschliche Körper noch weitaus geläufiger als Leib bezeichnet. Leib meint hier, wie im französischen le corps selbstredend den von innen heraus wahrgenommen Körper. Körper resp. Physis und Leib werden deswegen synonym verwandt.

B. Wuttig: Der Fall des Traumas

2.1 Kräfte des Körpers »The bodys forces are not simply part of nature or essence: […] they are entirely plastic, fluid, capable of taking any direction and any kind of becoming.« (G ROSZ 1994,124)

Der Leib samt Instinkten und Begehren ist bei Nietzsche durch seine soziale Durchdringung, (Wissensordnungen, gewaltsame Praktiken, Rituale) orchestriert. Instinkte und Begehren sind dabei keine natürlichen, sondern gesellschaftlich hervorgebrachte körperliche Dimensionen.6 Gleichzeitig schreibt Nietzsche der Physis auch produktiv-positive Kräfte zu. Diese bilden eine Form der Bedingung für die Annahme sozialer Ordnungen (vgl. Wuttig 2010). Bei Grosz heißt es dazu: »The bodys forces are not simply part of nature or essence: […] they are entirely plastic, fluid, capable of taking any direction and any kind of becoming.« (Ebd.: 124) Damit soll gesagt sein, dass die Physis in ihrer Natürlichkeit zwar existiert (im Sinne von Sein), dies aber eher als eine flüssige, kraftvolle, intensive Dimension, die in hohem Maße plastizierbar ist und in vielerlei Richtungen werden kann, als eine reine Inskriptionsfläche. Sein und Werden stehen hier nicht antagonistisch gegenüber, sondern sind koextensiv. In anderen Worten: In Nietzsches Perspektive gibt es, wenn dies auch nur vage angedeutet wird, quasi-universelle Eigenschaften des Leibes, unterkomplex gehaltene Vulnerabilitäten, Intensitäten und Kräfte, die sich mit der jeweiligen sozial-symbolischen Ordnung in ein wechselseitiges Durchdringungsverhältnis begeben. Es scheint, als habe sich Nietzsche hier nicht gänzlich von Arthur Schopenhauers Idee der Physis als des Gegenpols der Sprache (1858a: 160)7 gelöst. Die Physis scheint sich nicht in der Sprache (Sprache als Abbild sozialer Ordnungen) zu verflüssigen, wie das in poststrukturalisti-

6 | Nietzsche sieht den Leib als sozial-sprachlich durchdrungen. Es ist dies einer der wesentlichsten Punkte, die Nietzsche von Arthur Schopenhauer unterscheiden (s.u.). Der Leib ist in den Spätschriften Nietzsches nicht mehr der Ort »von wo aus uns die Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme anspricht« (Nietzsche in Kalb 2000: 111). wie Nietzsche diesen in Anlehnung an Schopenhauer in den frühen Schriften denkt, erfährt durch die mnemotechnische Konzeption in den Spätwerken »Genealogie der Moral« und »Jenseits von Gut und Böse« eine genealogische Wendung. Der Leib erscheint fortan in seiner machtdurchdrungenen sozialen Dimension wie seiner universellen Dimension. Es ist dies m.E. die philosophiegeschichtliche Geburtsstunde des genealogischen Leibes (vgl. auch Kalb 2000: 111: 113; Grosz, 1994: 122). 7 | In »Die Welt als Wille und Vorstellung« entfaltet Schopenhauer den Leib als einen »Wachheitspunkt in der Natur« mit einer »eigentümliche[n] Bewußtheit« (Kalb 2000 21). Christoph Kalb arbeitet in seiner Nietzsche-Exegese Integration (2000) Nietzsches ambivalente bzw. bibliografisch inkohärente Schopenhauer-Rezeption heraus.

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schen Körpertheorien8 häufig der Fall ist. Sie bildet selbst eine eigenständige Entität. Und indem sie diese behält, ist das Zusammenspiel von Sprache und Physis besprechbar. Als Zielscheibe der Macht und als Teil einer quasi-universellen Physis treten bei Nietzsche häufig die Nerven auf den Plan. So ist es in Nietzsches Vorstellung das Nervensystem, das durch eine soziale Ordnung irritiert wird (ebd.: 50). In das Nervensystem brennt sich die Herkunft, verstanden als soziale Ordnung, ein. Das »nervöse System« (ebd.) bildet also den Gegenpol sozial-regulativer Gewalt und letztlich den Topos menschlicher Verletzlichkeit. Das erinnert an den Ausspruch der namenlosen Protagonistin in Antonia Baums Debütroman »Vollkommen leblos bestenfalls tot«. Sie sagt: »Meine Nerven juckten, trotz des Betons, der an ihren Enden ausgegossen worden war« (Baum 2001: 100). Die Nerven scheinen hier als eine Form des leiblichen Widerstandes durch- und gegen eine gesellschaftliche Verhärtungsintention ›anzujucken‹. Es sind die Nervenenden, die besonders empfindlich sind, die den Abhärtungen widerstreben. Die Protagonistin spürt sich dort, wo sie sich doch qua Abhärtung längst nicht mehr spüren sollte, dort, wo sich eine soziale Ordnung bereits vollständig in den Eigenleib hätte ergießen sollen. Sie scheint sich darüber zu wundern. Zu wundern über diesen kleinen Nachweis an Leben (welches in dieser Perspektive der Gesellschaftsordnung entgegensteht). Bei Nietzsche sind es, wie bereits angedeutet, ebenso die Nerven, die metonymisch für das gefühlte ›Am-Leben-Sein‹ stehen. Leben wird hier durch soziale Praktiken ermöglicht und begrenzt, aber vor allem markiert. Wenn Macht auf den Körper trifft, dann trifft sie in und auf die Nerven (sie geht auf die Nerven).9 Soziale Ordnungen finden sich demzufolge nicht zuletzt im Nervensystem wieder (in den intrazellulären Prozessen, den Organen). Das wird deutlich, wenn Michel Foucault in seinem Aufsatz »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, Nietzsches Position wiedergebend, die Beziehung von Macht und Körper als 8 | So gewinnbringend für eine Praxis der Normativitätskritik die Rezeption poststrukturalistischer wie dekonstruktivistischer Forschungsblicke auf den Körper ist, sehe ich darin doch auch eine Gefahr der Engführung. Die Engführung liegt meines Erachtens darin, dass etwa im Anschluss an Butler, Foucault und mithin Pierre Bourdieu zwar gefragt wird, wie Körperbilder und Wahrnehmungen in den Medien konstruiert werden (McCormack 2011; Porteous 2011; Meuser 2011; Windheuser 2011), aber nicht gefragt wird, was dasjenige ist, das konstruiert wird, bzw. wie die Konstruktion auf den Leib/Körper ›wirken‹ kann, und was in diesem Zusammenhang Wahrnehmung bedeuten kann. Der Körper und die Wahrnehmung scheinen komplett in der Dimension des sprachlich Gemachten aufzugehen. Die Physis als eigenständige Entität verflüssigt sich somit total in der symbolischen/sozialen Dimension. Nietzsches Leibbegriff wieder in die Debatte hineinzuholen, verspricht meines Erachtens, die Beziehung zwischen Gesellschaft (Sprache) und Körper in den Blick nehmen zu können, ohne den Körper selbst zu essentialisieren. 9 | So spricht Nietzsche etwa von »der Hypnotisierung des ganzen nervösen Systems […] durch asketische Rituale.« (Nietzsche 1988: 50)

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eine von Herkunft (statt Ursprung10) und Nervensystem bespricht: »Schließlich wirkt sich die Herkunft auch auf den Leib aus. Auf das Nervensystem, das Temperament, die Verdauung.« (Foucault 2003: 173) Es ist also der Leib in der Tiefe seiner Nerven, Impulse, Organe, seines Willens, seiner Erregungen, der sozial eingezeichnet wird, und es sind jene Impulse, die auf eine soziale Durchdringung hinarbeiten.

2.2 Subjekt werden — sozial werden: Sprache zu Leib – Leib zu Sprache »Die Sprache ist stets verleiblicht, die Physis semiotisiert.« (K ALB 2000: 105)

Wie der Leib sozial durchdrungen ist, so sind soziale Prozesse auch wiederum Übersetzungsleistungen leiblicher Impulse. Christof Kalb bringt es auf den Punkt, wenn er in seinen Nietzsche-Exegesen sagt: »Die Sprache ist stets verleiblicht, die Physis semiotisiert.« (Kalb 2000: 105) Ebenso wie die soziale Ordnung mit ihren jeweiligen Deutungs- und Erfahrungsfolien ebenbildlich den Leib durchdringt und fabriziert – und da der Mensch im Ganzen stets Leib ist, seine kognitiven Prozesse bei Nietzsche hier nicht ausgeklammert sind (vgl. Grosz 1994: 124) – so wirkt die Interpretation der Leibregungen entlang bereits gemachter Erfahrungen in die soziale Organisation zurück. Nietzsches Vorstellung von Subjektivierung kann somit auch als eine Übersetzung einer auf Erinnerungen basierenden Interpretation von Erregungen gelesen werden: »Die ganze innere Erfahrung beruht darauf, dass zu einer Erregung der Nervenzentren eine Ursache gesucht und vorgestellt wird – und, dass erst die gefundene Ursache ins Bewusstsein tritt: diese Ursache ist schlechterdings nicht adäquat der wirklichen Ursache, – es ist ein Tasten aufgrund der ehemaligen inneren Erfahrung, d.h. des Gedächtnisses. Das Gedächtnis erhält aber auch die Gewohnheit der alten Interpretation, d.h. der irrtümlichen Ursächlichkeit, so dass die innere Erfahrung in sich noch die Folgen aller ehemaligen falschen Causal-Fiktionen zu tragen hat.« (Nietzsche 2007: 344)

Es ist, in Nietzsches Verständnis, die immer gleiche, auf Gewohnheit basierende Interpretation von Leibregung, von Welt, die das kohärente Subjekt markiert. Soziale Prozesse werden hier als »angewöhnte rasche Übersetzungsleistungen leiblicher Impulse in Gefühle, Gedanken« (Kalb 2000: 105) und Handlungen verstanden, die als solche nicht mehr wahrgenommen werden, weil sie im Bewusstsein bereits eine Einheit gebildet haben. Der Leib, der erst durch die Sprache eine 10 | Der Begriff Herkunft in Abgrenzung zum Begriff Ursprung dient Nietzsche dazu, den genealogischen Impetus des Subjekts, als Aspekt des Hindurchwirkens von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen auf und in den Leib zu kennzeichnen (Foucault 2002: 173f.).

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gefühlte Einheit erhält und der genauso gut eine Vielheit11 sein könnte, erhält diese, indem ähnliche Leibzustände blitzschnell und von den Individuen unbemerkt aufeinander bezogen werden. Es ist jene illusorische Einheit, die das Subjekt markiert. Gespeist wird diese durch die innere Erfahrung, die aus den angewöhnten, willkürlichen, interpretativen Übersetzungsleistungen von Nervenimpulsen resultiert. Genauer: Es handelt sich bei der Bildung einer Selbstidentität um leibliche Impulse und deren präreflexive Bewertung nach einem immer gleich ablaufenden Schema, also: um die Bildung von Erfahrungen als Erinnerungen an Erfahrungen, ergo: Gedächtniseffekte. Gedächtniseffekte, die das Subjekt sich als ein sich selbst gleichendes empfinden lassen. Nietzsches Position knapp umreißend können wir sagen: Die Dinge der Welt werden von uns stets in denselben, schon bereits dafür vorgesehenen Schubladen abgelegt. Die Ablage, die letztlich das ›Ich‹ bildet, wird über Erinnerung verwaltet. Gemäß Nietzsche scheinen sich Erfahrungen im Sinne der Normen und Werte einer sozialen Ordnung stärker zu zementieren, wenn der Schmerz das Vehikel ist, auf dem die Erfahrung, als Interpretation eines Impulses, in den Leib eingeschrieben wird. Denn: Die Physis bildet bei Nietzsche selbst die Voraussetzung – eine Art ›Schmerzempfindlichkeit‹, die die organischen Kräfte und Intensitäten des Körpers ›bestechlich‹ macht, soziale Ordnungen überhaupt anzunehmen (s.o.). Die Physis ist deswegen stets auf jegliche Gesellschaftsordnungen hin offen.12 Kalb bezeichnet die mnemotechnische Formel deswegen als die Geburtsstunde »des Subjekts aus dem Geiste der Gewalt« (ebd.: 102). Es ist gleichsam das Wesen der mnemotechnischen Macht, die Reproduktion sozialer Ordnungen und 11 | Bei Nietzsche ist der Leib in seiner Materialität, aber er existiert nicht notwendig als Einheit, diese nimmt er ferner erst durch kulturelle Prozesse an. Es ist ein Leib des Werdens, mit dem wir es hier zu tun haben, der in seinen natürlichen Instinkten nicht determiniert ist, wie in vielen naturalistischen Konzepten, der dennoch eigene Energien und Kräfte hat. Leib und soziale Ordnung durchdringen einander dabei wechselseitig. Nietzsches Leib ist nach Kalb eine lose Ansammlung chaotischer Intensitäten. Jene Intensitäten werden durch Sprache als Manipulation des Bewusstseins oder durch gewaltsame Handlungen zur leiblichen Einheit gemacht: »Nach der Seite unserer Wirklichkeit hin sind wir vielfältig und chaotisch; und doch wird das leibliche Selbst – Kraft der sprachlichen und bewussten Anteile unserer Existenz – als eins und einig erlebt. Es gibt also im Menschen so viele ›Bewusstseins‹ als es Wesen gibt, und die in jedem Augenblicke seines Daseins, die seinen Leib constituieren.« (Nietzsche, zit. nach Kalb ebd.: 106) 12 | Vgl. dazu auch Grosz (1994): Grosz entwirft ein Konzept des Verhältnisses von Körper und sozialer Ordnung als Möbiusband: Körperlichkeit und Gesellschaft sind quasi ineinander verdreht. Körperlichkeit ist zutiefst sozial und Sozialität ist zutiefst körperlich. Grosz bezieht sich wesentlich auf Nietzsche und kommt zu dem Schluss, dass wiewohl sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse in den Körper einschreiben, bei Nietzsche der Körper stets als eine eigene Ansammlung von möglicherweise unendlich vervielfältigbaren und beweglichen Kräften und Energien lesbar ist (ebd.: 123).

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die Integration der individuellen Leiber uno actu zu orchestrieren (ebd.). Und: es ist dies der Fall des Traumas, denn, so wird deutlich: das Subjekt taucht bei Nietzsche ipso memento als traumatisiertes auf.

3. TR AUMA »In der Tat, Identität bildet sich wesentlich an kränkenden Erfahrungen heraus. Physischer und psychischer Verletzungen, Zurückweisungen, Demütigungen und Verlassenheiten erinnert man sich besonders gut« (C ADUFF 2010: 38)

Trauma, griech: ƲƯƠхƫƠ, lässt sich mit einer durch Gewalteinwirkung entstandenen Verletzung oder Wunde übersetzen. Eine Wunde liegt, wie besprochen wurde, der Subjektivierungsvorstellung Nietzsches zugrunde. Das Subjekt wird Subjekt in einem Akt der gewaltsamen Unterwerfung unter eine soziale Ordnung, die es ver(er)innerlichen muss. Ähnlich wie bei Michel Foucault finden wir hier die Figur der Subjektbildung, die Unterwerfung und Werdung in dem Begriff assujettissement (Butler 2007: 34) in eins setzt. Nur viel deutlicher noch ist diese bei Nietzsche an die Unterwerfung des Leibes13 samt Produktion von Erinnerungen am Leib, ergo die Produktion eines Körpergedächtnisses gebunden – denn es ist der Leib, der sich erinnert, und er erinnert sich an einen durch Schmerz generierten Bewertungskanon.14 Der Leib, so soll hier vorgeschlagen werden, erinnert sich sowohl an die physischen wie die symbolischen gesellschaftlichen Schläge. Und es ist der Traumatopos, der sich abermals eignet, den Leib in seiner Scharnierfunktion innerhalb der Trias Gesellschaft, Gedächtnis, Subjekt zu denken. Der Traumatopos ist gemeinhin aufgespalten in einen klinischen und einen kulturwissenschaftlichen. 15 Während der klinische Traumatopos Trauma als außergewöhnliche, kontingente, den zumindest potenziell unbeschädigten Men13 | Bei Foucault geht es besonders in der Schrift »Überwachen und Strafen« um die Unterwerfung des Körpers via Disziplinarmacht, weniger um die Produktion von Erinnerungen als Machttechnologie. Butler übernimmt den Begriff assujettissement von Foucault, sie distanziert sich aber ausdrücklich von Foucaults wie von Nietzsches theorieimmanenter Möglichkeit, den Körper von den Machtbeziehungen als ontologisch unterschieden zu denken (Butler 2008: 86f.). 14 | Die Figur des Leibgedächtnisses, in das sich die Gesellschaftsordnung eingräbt, findet sich ebenso prominent bei Pierre Bourdieu (2005: 1987; 1982;). Allerdings ist hier der Aspekt des wie es geschieht, dass eine symbolische Ordnung in den Körper kommt, unterbelichtet (vgl. dazu Villa: 2000) Es ist genau dieser Aspekt, der die Nietzsche-Rezeption angesichts der fundierten Inkorporationstheorie Bourdieus rechtfertigt. 15 | Ich danke Jacob Guggenheimer für den Hinweis.

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schen ereilende Wunde begreift (Fischer/Riedesser: 2009), stellt sich der kulturwissenschaftlich-strukturalistische Traumatopos das Subjekt qua Subjektstatus notwendig ›traumatisiert‹ vor – Trauma bildet hier den Ursprung der Subjektivierung.16 Wenn aber gefragt werden soll, wie gesellschaftliche Ordnungen in den Körper gelangen, dann kann weder der allein kulturwissenschaftliche Traumadiskurs hierauf eine Antwort geben – die Struktur (als symbolische Ordnung, als Sprache) ist immer schon im Subjekt (und seinem Leib) enthalten –, noch kann der klinische Traumadiskurs hier eine Antwort geben: Ein Trauma wird in dieser Perspektive nicht als durch die soziale Ordnung ›ausgelöst‹ betrachtet, sondern als ein Versagen derselben (vgl. Wuttig: 2010). Gesellschaftliche Zuschreibungen, etwa in Form von verletzenden Sprechakten 17, sind in dieser Perspektive kaum als potenzieller ›Auslöser‹ oder Wegbereiter von Trauma zu denken. Hier soll folglich vertreten werden, dass eine Verknüpfung eines klinischen Traumadiskurses mit einem Diskurs der Subjektivierung durch verletzende Reden (Sprechakte) und Praktiken helfen kann zu erörtern, wie Machtstrukturen Körper konstituieren. Trauma wäre dann nicht als eine außergewöhnliche, eindeutig diagnostizierbare Krankheit, sondern wie Ann Cvetkovich es vorschlägt, als ein begriffliches Cluster zu denken, für Formen der Gewalt, die das Subjekt allererst sozial situieren, wie das in sexistischen und rassisierenden Anrufungen und Gewalttätigkeiten der Fall ist (Cvetkovich 2003: 2ff.). Trauma wäre ein Name für die emotional-leibliche Situation des Subjekts innerhalb einer Diskrimierungssituation. Trauma könnte ein idiomatisches Verbindungsstück schaffen zwischen den Machtbeziehungen, die sich über starre Identitätszuschreibungen zu Herrschaftsbeziehungen verdichten (s.o.), und dem physisch-psychischen Erleben der ›Betroffenen‹. Bei Cvetkovich heißt es:

16 | Der medizinische Traumadiskurs versteht Trauma seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts synonym für einen Schock bzw. für eine seelische Verletzung (Brunner 2004; Leys 2000; Hacking 1996; Young 1997;). Das Kriterium für ein Trauma ist hierbei in internationalen klassifikatorischen Leitlinien zur Diagnostik (ICD, DSM) festgelegt. Trauma im klinischen Diskurs verweist auf ein außergewöhnliches gewaltvolles Ereignis, dass eine als normal vorgestellte Alltagserfahrung überschreitet. Der kulturwissenschaftliche Traumabegriff – der letztlich einer der strukturalistisch inspirierten Psychoanalyse ist, setzt Trauma hingegen an den Ursprung der Subjektivierung. Dies ist z.B. bei Emmanuel Levinas der Fall, der das Ausgesetzt-Sein durch den anderen eines jeden Menschen in der Kultur als traumatisches, überwältigendes, dezentrierendes Moment postuliert (Butler 2007: 115f.). 17 | Verletzende Sprechakte im Sinne von Butler: Diese gewinnen erst ihre Schlagkraft, indem sie auf gängige soziale Werte und Normen Bezug nehmen und durch die Position des Sprechers wie des Adressaten markiert sind (vgl. dazu Herrmann/Kuch: 2007). Die Anrufung als Mädchen, Frau, Lesbe etc. stellt in dieser Perspektive einen symbolischen reduktionistischen Zwangsakt dar, weil andere mögliche Identitäten ausgeschlossen und somit verunmöglicht werden (Butler 2009).

B. Wuttig: Der Fall des Traumas »Despite the risks involved in taking on a discourse that has been dominated by medical and pathologizing approaches, I have been drawn to the category of trauma because it opens up space for accounts of pain as psychic, not just physical. As a name for experiences of socially situated political violence, trauma forges overt connections between politics and emotion.« (Cvetkovich 2003, 2)

In dieser Perspektive zählen zu Gewalt- und Herrschaftsverhältnissen normalisierende Identitätszuschreibungen samt ihrer möglichen leidvollen kontingenten Materialisierungen;18 Trauma ist somit ein Synonym für die Inkorporation gesellschaftlich generierter Asymmetrien, für ein »Archive of Feelings« (Cvetkovich, 2003: 18), ein Gefühlsarchiv der Diskriminierungen. 19

4. G ENDER ALS TR AUMA Bezüglich der hier einzunehmenden Perspektive, die binäre Geschlechterordnung selbst als potenziell traumatisch zu denken, lassen sich Anleihen bei Judith Butler (1995) finden: Für Butler arbeitet eine zwangsheterosexuelle Norm über diskursiven wie performativen Ausschluss. Eine zwangsheterosexuelle Norm produziert insofern intelligible anerkannte Subjekte, resp. Körper (das Subjekt geht hier im Körperlichen auf und vice versa) und solche, die aus dem Diskurs ausgeschlossen sind und den nicht-lebbaren, nicht-erzählbaren Körpern entspre18 | Eine hier unmöglich in aller Fülle zu listende Menge an Arbeiten der letzten Jahre zeigt, im Anschluss an Michel Foucaults Konzept der Technologien des Selbst, Butlers Performativitätsstudien sowie die Forschungen im Anschluss an Pierre Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt, dass neben physischen Übergriffen wie etwa das Foltern von so genannten ›Aufständischen‹, Vergewaltigungen, körperlichen Angriffen auf ›Migrant_innen‹, auf ›trans*‹, Menschen mit ›Behinderung‹ etc., es nicht vorrangig physische Angriffe sind, die Subjektivität generieren, sondern weitaus subtilere Gewaltsamkeiten. Es handelt sich hier vor allem um die klassifizierenden, hierarchisierenden Einordnungen in selbige Strukturkategorie qua diskursiver/medialer Praktiken (vgl. Engel 2011; Bergold-Caldwell 2010; McRobbie 2010; Posch 2009; Krais 2008; Villa 2008; Herrmann/Kuch 2007). In diesem Sinne stellt das Erschaffen der Kategorien mit den dazugehörigen Ab- und Aufwertungen bereits einen machtförmigen Gewalt- und Herrschaftsakt dar, welcher die Legitimationen für weitere physische wie psychische Angriffe liefert. 19 | Cvetkovich will mit dem Begriff »Gefühlsarchiv« (engl. »archive of feelings«) deutlich machen, dass Effekte von Diskriminierungen als Erfahrungen individuelle wie kollektive Erinnerungen hervorbringen können. Mit der Trope Trauma als Gefühlsarchiv können soziale Prozesse in ihrer Überschneidung mit emotionalen Prozessen als Erinnerungsprozesse denkbar werden: »Trauma becomes a central category for looking at the intersections of emotional and social process along with the intersections of memory and history.« (Cvetkovich 2003: 18)

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chen: Die nicht-lebbaren, nicht-erzählbaren Körper bilden dabei das konstitutive Außen für eine nicht zu erreichende, fiktionale, anerkannte Subjektposition. »Dieser letztgenannte Bereich [der undenkbaren, verworfenen, nicht-lebbaren Körper, B.W.] ist nicht das Gegenteil des ersten, denn Gegensätze sind schließlich Teil der Intelligibilität; letzterer ist der ausgeschlossene und nicht entzifferbare Bereich, der den Bereich als das Gespenst seiner eigenen Unmöglichkeit heimsucht, ist die eigentliche Grenze zur Intelligibilität, deren konstitutives Außen.« (Butler 1995: 16)

Butler geht sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie von denjenigen, die aus dem Diskurs ausgeschlossen sind, als den traumatischen resp. traumatisierenden Körpern spricht: »Die normative Kraft der Performativität arbeitet […] mit dem Ausschluss. Und im Falle von Körpern suchen jene Ausschlüsse, die Signifikation als deren verwerfliche Grenzen heim oder als das, was strikt verworfen ist: das Nichtlebbare, das Nichterzählbare, das Traumatische.« (Ebd.: 260) Nicht nur diejenigen, bei denen die Kohärenz und Kontinuität von sex, gender und Begehren nicht gewährleistet scheint, sondern alle Menschen, so macht Judith Butler es in ihrem Aufsatz »Melancholisches Geschlecht/verweigerte Identifizierung« (2007) einmal mehr deutlich, erhalten qua geschlechtlicher Subjektivierung (innerhalb der kontingenten heterosexuellen Matrix) eine notwendige Wunde. Alle erleiden ein Trauma, das in der abgewehrten Trauer, als solche sie die Melancholie mit Freud bezeichnet, besteht. Abgewehrt wird, der heterosexuellen Matrix immanent, die Trauer um das ›andere‹‚20 Geschlecht (welches ich fortan nicht sein kann, aber begehren soll) (ebd.: 125ff.). Geschlechtliche Subjektivierung ist in diese, stärker psychoanalytischen Perspektive nur über den frühkindlichen Erwerb einer konstitutiven Wunde zu haben. Butler setzt auf diese Weise ähnlich wie Levinas (vgl. auch ebd.: 115f.) das Trauma an den Ursprung der Subjektivierung. Der in »Psyche der Macht« vertretene psychoanalytisch informierte Ansatz zum Erwerb der Geschlechtsidentität steht aber mithin im Widerspruch zu ihren performanztheoretischen Konzepten (vgl. Hauskeller 2000). Während das Konzept der Performativität mit Bezug auf Derrida und Althusser von wiederholten zitatförmigen Anrufungen (Ansprachen als) ausgeht, die ihr Hasspotenzial oder gewaltförmiges Potenzial dadurch entfalten, dass sie durch die Benennung einen binären Code stets aufs Neue hervorbringen, als dessen nahtloses Derivat ein gegenderter Körper von Gewicht konstitutionstheoretisch unterbelichtet bleibt (vgl. Keck 2007; Ludewig 2002: Nagl-Docekal 2001; Hauskeller 2000), geht der psychoanalytische Ansatz davon aus, dass Identifizierungen im Rahmen frühkindlich-ödipaler Arrangements definitiv erworben werden. Der erste Ansatz lässt offen, wie denn genau die Anrufung, die verletzende Rede in den Körper, die Leiberfahrung gelangt, der zweite vermutet sie qua frühkindlicher Entwicklung 20 | »Andere‹ in Anführungszeichen, weil die Zwangsidentifizierung das ›andere Geschlecht‹ im selben Vorgang erst instituiert.

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nahezu unumstößlich dort. Was aber, wenn zwar alle ein genderkonstitutionstheoretisches Trauma erleiden, aber nicht nur durch ›frühkindliches Identifizieren‹ oder ›zitatförmiges Performieren‹, sondern darüber, dass sich alle an genderbezogene physische, psychische wie symbolische Gewaltakte erinnern? Um dieser Vermutung nachzugehen, wird nun vorgeschlagen, in Erweiterung des hinsichtlich der Gewaltsamkeit der binären Geschlechterordnung affirmativen Bezuges auf Butler, Geschlecht mit Nietzsche als Erinnerungstechnik zu denken. Womöglich kann so deutlich werden, dass Geschlecht als sprachlich wie physisch vollzogener Gewaltakt kontingent (und nicht notwendig) an den Leibern alltäglich hervorgebracht wird. Geschlecht ist, als Erinnerungstechnik gedacht, weder ein leibloser diskursiver Effekt, noch eine am Leib dingfest zu machende Identität, sondern eine kontingente, angewöhnte re-habitualisierbare, sich materialisierende wie re-materialisierbare Erinnerungsspur. Hierfür ist es allerdings nötig, mit Nietzsche die undeterminierte Ineinanderverschränktheit von Physis und Semiotik zu denken. Deswegen wird an dieser Stelle Butlers Konzept der Performativität von gender identity mit Nietzsches Subjektivierungstheorie, in der die soziale Ordnung ver(er)innerlicht werden muss, herausgefordert. Die Geschlechterordnung muss nicht nur aufs Neue zitiert werden, um sich zu instituieren, sie muss hierfür im Körpergedächtnis verankert werden – so die daran anschließende These. Um der Frage nachzugehen, wie die Ver(er)innerlichung von verletzenden Sprechakten, von genderspezifischen Anrufungen, von physischen, Geschlecht markierenden Gewaltakten vor sich geht, soll nun Nietzsches Konzept der Erinnerungstechnik mit Aussagen der heutigen kritischen – kritisch im Sinne von antibiologistischen21, neurowissenschaftlich basierten Traumatheorie verglichen und

21 | Kritische Neurophysiologen wie Gerald Hüther oder Anne Fausto-Sterling gehen davon aus, dass »Struktur, Aufbau, Möglichkeiten und Fähigkeiten des menschlichen Gehirns nicht primär durch genetische Faktoren determiniert werden […], sondern vor allem durch die Lebensbedingungen, unter denen diese Entwicklung stattfindet« (Rohrmann 2010: 161). Hüther konstatiert: »Wofür ein Gehirn benutzt werden kann, hängt zwangsläufig davon ab, wie es aufgebaut ist. Und, wie ein Gehirn aufgebaut ist, ist wiederum davon abhängig, wofür es bisher gebraucht wurde« (ebd.). Fausto-Sterling wird noch deutlicher, wenn sie in ihrem Embodimentansatz die Ansicht vertritt, dass sich die Sozialisation, die Lebensbedingungen und Erfahrungen eines Menschen in seine psychischen, physischen und physiologischen Merkmale einschreiben (vgl. Voß 2011: 53). Unterschiede in der Hirnstruktur – auch und insbesondere die immer gern von konservativen Neurophysiologen proklamierte angeblich unterschiedliche Hirnstruktur der Geschlechter – sind in dieser anti-essentialistischen neurowissenschaftlichen Perspektive nicht natürlich im Sinne von angeboren und unabänderlich (vgl. ebd.: 53), sondern natürlich im Sinne ihrer durch die gesellschaftlichen Bedingungen konstituierten plastizier- wie veränderbaren Materialität. Das Gehirn (der Gehirn-Körper) kann in dieser Perspektive als eine fortwährende Materialisierung gesellschaftlicher Lebensbedingungen verstanden werden.

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gegengelesen werden22 Taugt also Nietzsches Mnemotechnik als Einverleibungstheorie für die Geschlechterordnung? Und wenn ja, können neurophysiologische Prämissen zur Inkorporation traumatischer Erfahrungen hieran anschließen? Wenn ja, können sie nicht nur klären, wie Gewalterfahrungen in ihrer konservativen Definition (s.o.) einverleibt werden, sondern auch wie Geschlechterordnungen als symbolische Gewalten (Bourdieu) einverleibt werden? Kurz: Wird sich Geschlecht womöglich ebenso als memento operandi wie als modus operandi23 zeigen?

5. G ESCHLECHT ALS E RINNERUNGSTECHNIK DENKEN , ODER : TR AUMA ALS V EHIKEL DER G ESCHLECHTERORDNUNG Wie stellt man sich in der neurowissenschaftlich basierten Traumatheorie gemeinhin vor, was bei einer Traumatisierung passiert? In erster Linie geht es darum, dass ein traumatisches Ereignis von nicht-alltäglicher Gewaltsamkeit sich in das Körpergedächtnis (manchmal auch als implizites Gedächtnis bezeichnet) einschreibt (Damasio 2004; Hüther 2001; Van der Kolk et.al. 2000; Levine 1998). Das Leibgedächtnis ist ein Gedächtnis der nervlichen Sinne: Es sind im Grunde die Nerven/die Sinne, die sich erinnern, mehr als dass es zu einer narrativlinearen Erinnerung an das Ereignis kommt. Traumatische Erfahrungen sind hier als Erfahrungen definiert, in denen die Verarbeitungsfähigkeit, gedacht mit Freud als nervliche Reizschwelle, überschritten wird: »Solche Erregungen von außen, die stark genug sind, den Reizschutz zu durchbrechen, heißen wir traumatische. Ich glaube, dass der Begriff des Traumas eine solche Beziehung auf eine sonst wirksame Reizabhaltung erfordert.« (Freud 1923: 37) Das Nervenmotiv, welches bereits bei Nietzsche auftaucht, findet sich im aktuellen Traumadiskurs wieder. Es sind die Nerven, die die Grenze menschlicher Belastbarkeit und Vulnerabilität markieren. In den allermeisten Traumadiskursen (s.o.) zeichnet sich ein traumatisches Ereignis weiterhin dadurch aus, dass dieses als so genannte ›Nachhallerinnerung‹ wieder auftreten kann, wenn der/die Betreffende den zum 22 | Hiermit sei dem Aufruf von Franziska Frei Gerlach (et al. 2003) in ihrer Schrift »Körperkonzepte. Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung« gefolgt. Die Autor_innen machen sich dafür stark, dass zur Klärung des Verhältnisses der Materialität des Körpers zur Sprache, der Erfahrung zum Diskurs (Körperwissen) eine »problemorientierte Interdisziplinarität« (ebd.: 11) gefragt ist. Problemorientierte Interdisziplinarität heißt, an die Adresse der Kulturwissenschaften gesprochen, sich den Lebenswissenschaften zuzuwenden (und vice versa). In der Verbindung von Kultur- und Naturwissenschaften kann sich, so Frei Gerlach, die symbolische und materielle Dimension der Leiberfahrung erhellen lassen (ebd.: 12). 23 | Für Bourdieu (1987; 1993; 2005) stellt Geschlecht wie andere Strukturkategorien eine Habitusformation dar: Der modus operandi bildet dabei die »generative Formel des Habitus« (Barlösius, 2006, 189).

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Zeitpunkt und Ort des Ereignisses ähnlichen Sinneseindrücken ausgesetzt ist: Das kann ein Geruch, ein Geräusch, ein visueller Eindruck sein, in besonderem Maße und häufig eine Berührung, aber auch das Einnehmen einer dem Ereignis ähnelnden Körperhaltung. Wahrnehmungsschemata, Gedanken, Gefühle, Empfindungen werden so als »perzeptive Synonyme«, wie die Medizinerin und Philosophin Anna Luise Kirkengen Eindrücke nennt, die einer traumatischen Situation ähneln, wiederbelebt, ohne dass der Betreffende Bewusstheit davon hat, dass es sich um eine bereits gemachte Erfahrung handelt (Kirkengen 2001: 127ff.). Das hat damit zu tun, dass, etwas verkürzt neurowissenschaftlich gesprochen, Assoziationsketten von Impulsen in Gefühle, in Bilder, in Gedanken in traumatischen Situationen (und deren Wiederkehr) besonders rasch ablaufen, wie damit, dass es traumatischen Situationen eigen ist, Komplexe des Ereignisses aus dem Bewusstsein fernzuhalten. Bei ›traumatischen Erfahrungen‹ handelt es sich um ein präreflexives Fortleben von Wahrnehmungsschemata, Gefühlen, Empfindungen, Gedanken, die sich zur Jetzt-Zeit verschoben verhalten können.24 Kirkengen nennt in ihrer Schrift »Inscribed Bodies« das Beispiel einer ihrer Patientinnen, ›Berit‹, die im Alter von 14 Jahren mit einem an ihren Hals gehaltenen Messer vergewaltigt wurde. Dieser, die Frau sexuierende wie wegen ihrer Sexuiertheit zuerst intelligible Überwältigungsakt wird in Form von Angstzuständen, jahrelang nach dem Ereignis, häufig dann wiederbelebt, wenn ›Berit‹ bloß einen Finger an ihrem Hals spürt, der sie, auf der Ebene des Körpergedächtnisses, an den Angriff mit dem Messer erinnert (vgl. Kirkengen 2001: 123). Will sagen: über perzeptive Synonye (vgl. Kirkengen, ebd. 123ff.) werden qua Leibgedächtnis aus potenziell neuen inneren Erfahrungen bereits gemachte innere Erfahrungen. Und zwar darüber, dass ein leiblicher Impuls, haptischer, olfaktorischer, visueller, kinästhetischer Art, so die These, in (gewohnte) Bilder, Gefühle, Werturteile übersetzt wird. Mit Nietzsche gegengelesen: Für Nietzsche liegt die Basis jeglicher Deutungspraxen in der Physiologie, genau genommen in physischen Impulsen, die er auch als Nervenreize bezeichnet. Sein Modell auf eine kurze Formel bringend, chronologisiert er in seinen Abhandlungen »Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinne« folgendermaßen: »Ein Nervenreiz übertragen zuerst in ein Bild – erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut – zweite Metapher.« (Nietzsche 2006: 2) Der Nervenreiz tritt hier als eine Art Originaltext auf, der zunächst in ein Bild und später in einen Laut – in Sprache und sinnhafte Bedeutungen 24 | Das Konzept des ›Habitus‹ bei Pierre Bourdieu, gedacht als prolongierte Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinschneidet und sich mit ihr vermengt, letztere durchkreuzt und ›verfälscht‹, verfolgt, sich auf das korporale Gedächtnis beziehend, eine ähnliche Logik. In der Schrift »Die feinen Unterschiede« schreibt Bourdieu: »Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart.« (Bourdieu 1993: 105)

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– übersetzt wird. Nietzsche spricht von Metaphern. Genau genommen handelt es sich aber um metonymische Vorgänge, um die Übersetzung von Impulsen, besser Nervenreizen in Bedeutungen – mit einer Zwischenstation über das Bildhafte (s.o.). Genau jene metonymischen Vorgänge scheinen nun durch traumatische Erfahrungen besonders starr abzulaufen. Im Verständnis der Dissoziationstheorie werden Erinnerungen an traumatische Situationen unkontrolliert wieder abgerufen, es kann somit, in dieser Perspektive, zu einer gewissen Verfestigung (Rigidität von Erfahrungen) kommen (s.o.).25 Nietzsche verweist ebenso auf die Rigidität von metonymischen Vorgängen, wenn er innere Erfahrungen als eine gewohnheitsmäßige Interpretation eines Nervenimpulses skizziert (s.o.). Potenziell neue Dinge werden dadurch, um noch einmal die Formulierung zu gebrauchen, in alten Schubladen abgelegt (s.o.). Wahrheitsproduktionen sind somit Erinnerungen an Bedeutungsgenerierungen. Subjekte ›generieren sich‹ als Subjekte der Erfahrung darüber, dass sie, mit einem dehnbaren Kaugummi vergleichbar, über Verletzungen (Wunden) an ihre Geschichte gebunden werden können. Kirkengen spricht im Fall von physischer wie symbolischer Gewalt von einer fortwährenden Einschreibepraxis der Unterwerfungssituation, die zu einer inkorporierten gefühlten Lebenswelt26 wird (Kirkengen 2001: 138). Ein Gewaltakt verbleibt im Körper und wird so Teil einer leiblichen 25 | Die Rigidität wird, so zumindest die weitverbreitete These innerhalb der Neurowissenschaften (vgl. Kolk 2000; Levine 1998), mit der Flight-Fight-Freez-These erklärt. Können Menschen in bedrohlichen Situationen nicht physisch fliehen oder kämpfen, so kommt es wie bei allen anderen Säugetieren zu einem ›Totstellreflex‹. Es ist, in dieser Perspektive, dem Totstellreflex geschuldet, dass Menschen, die eine ›Traumatisierung‹ erfahren haben, sich wie erstarrt (taub) fühlen. Die These Flight-Fight-Freeze wird hier als präformatives Programm vorgestellt. Die Queertheoretikerin Shanon Markus, die sich in ihrem Aufsatz »Fighting Bodies, Fighting Words« (1992) mit der diskursiven Produktion von Vergewaltigungsscripten (rape script) beschäftigt, postuliert, dass zum einen bei den allermeisten Frauen häufiger der Totstellreflex (freeze) in überwältigenden Situationen ausgelöst wird, während bei den allermeisten Männern erst der Flucht- oder der Kampfimpuls ausgelöst wird. Dies liegt aber, nach Markus, nicht an einem präformativen Programm, sondern daran, dass Frauen im Kontext eines gesellschaftlichen Vergewaltigungsdiskurses, der Frauen per se die unterlegene Position zuschreibt, weitaus häufiger (als Männer) sich selbst als »Subjekte der Angst« (subjects of fear) wahrnehmen, auch in Situationen, in denen Männer, statistisch gesprochen, eher gefährdet sind (Markus 1992: 397). Markus kann insofern kritisch gegen ein biologisch-präformatives, universelles Fight-Flight-Freeze-Programm gelesen werden. Vielmehr kann angenommen werden, dass die ›Entscheidung‹ zu fliehen, zu kämpfen oder in bedrohlichen Situationen zu erstarren, bereits eine entlang gesellschaftlicher Machtverhältnisse habitualisierte Kolonisation des Körpers darstellt. 26 | Ein Begriff, den Kirkengen Edmund Husserls Transzendentalphänomenologie entlehnt, und der auf das Ineinandergreifen von subjektiver Leiberfahrung und Konstituierung der das Individuum umgebenden Welt in seinen Bedeutungsrelationen verweist.

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Realität, zum Beispiel als dauerhafte Erfahrung von Bedrohung bzw. Gefahr: »If one conceptualizes an assaultive act as not merely a violent transgression of boundaries, but possibly a lasting disturbance of permanent intrusion, it becomes evident that this may result in a corporeality of alientation and of internalized threat or danger.« (Ebd.: 138) Kirkengen bringt Gewalt und Grenzüberschreitungen in direkten Zusammenhang mit gesellschaftlichen Machtstrukturen und argumentiert patriarchatskritisch: »What is inscribed in a literal, graphical, etching like sense are the […] silenced impacts of patriarchy […] the social structures of domination and objectification.« (Ebd.: 8) Physische wie wörtliche Angriffe samt der verobjektivierten herrschenden Logik können sich im Leibgedächtnis verankern, so die Pointe. Auf Trauma übertragen: Identitätskonstiuierende Verletzungen verhalten sich nur scheinbar oxymoronisch zu einer Traumatisierung (vgl. Wuttig: 2010), sie stellen vielmehr den Fall des Traumas dar – in diesem Fall bestehend in der mnemotechnischen Produktion eines Opfersubjekts. Trauma ist an dieser Stelle nur insofern interessant, als es auf eine mögliche Bündelung von Arten, den eigenen Leib als Selbst27 nach Gewalteinwirkung zu erfahren, meist leidvoll,28 verweist, nicht als eine Diagnose, nicht als platonisches Ding, das in seiner absoluten Bedeutung im Leib existiert.29.Trauma soll hier auf eine potenzielle menschliche Möglichkeit der leiblichen Einspeicherung von Erfahrungen hindeuten, und auf die damit verbundene Inkorporation gesellschaftlicher Macht- und Kräfteverhältnisse.

6. R ESÜME : TR AUMATISCHE N ORMALISIERUNGEN Es sind nicht nur die großen Katastrophen, es sind auch die ›kleinen, unspektakulären‹ Alltagswunden, die ›traumatic every day experiences‹ wie Cvetkovich (2003) es nennt, die ›malignen‹ Identitätszuschreibungen als ›Weichling‹, ›Schlappschwanz‹, ›Flittchen‹, ›Mannweib‹ usw., die subjektkonstitutiv traumatisiert zurücklassen (vgl. Wuttig: 2010). Es sind die ›kleinen‹ und ›großen‹ Alltagstraumatisierungen, die physischen Gewalten, die mit sexuierten Bedeutungen verknüpft sind, die »hatespeeches« (Butler 1998), die symbolischen Gewalten,

27 | Das Subjekt wird letztlich aus der leiblichen Erfahrung immer wieder neu geboren. Der Leib ist hierbei der Referenzpunkt, die Gewissheit, dass der Schmerz das Selbst betrifft. Gernot Böhme spricht von der »Geburt des Subjekts aus dem Schmerz« (Böhme 2008: 16f.). 28 | Hiermit sind Zustände gemeint, die Menschen nach Gewalterfahrungen häufig schildern: sich wie taub fühlen, isoliert von anderen, vertrauens- und hoffnungslos (vgl. Wuttig 2009). 29 | Der Alexander-Technik-Lehrer Barlow kritisiert den schulmedizinischen Deskripitivismus dahingehend, dass Diagnosen mittlerweile für Tatsachen, für »echte Ereignisse gehalten werden« (Barlow 2008: 110f.)

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die ›Geschlecht‹ als hegemoniale Vorstellungen von Geschlechtern30 zu einer, wenn auch kontingenten, niemals kohärenten inneren Erfahrung werden lassen. Trauma kann insofern als ein ständiges Hintergrundgeräusch im Leben aller Menschen und im Besonderen im Leben von Menschen, die wegen ihrer strukturkategoriellen Position31 im gesellschaftlichen Feld besonders entwürdigungsgefährdet sind, erachtet werden. Ich schließe mich der Perspektive von Cvetkovich an, dergemäß der alltägliche Stress, den Menschen erleiden, die Diskriminierungen ausgesetzt sind, nicht von extrem-traumatischen Erfahrungen zu trennen ist. Ein klinisches Trauma, herkömmlich definiert als außergewöhnliche Erfahrung (Cvetkovich 2003: 46), ist für Menschen, die Diskriminierungen ausgesetzt sind, genau keine außergewöhnliche Erfahrung, sondern vielerorts und zu vielen Zeiten die Regel. Man wird, wie Antke Engel zurecht konstatiert, »als gegenderte Wesen traumatisiert« (Engel 2011). Traumatisierungen geschehen aber genauso als Modus des Zuweisens von Identität.32 In diesem Sinne sind normalisierende vereindeutigende Identitätszuschreibungen selbst als »Insidious Trauma« (ebd.: 46) zu begreifen – und sei es, dass Anrufungen konkrete physische Gewalt diskursiv vorbereiten. Trauma und Identität sind mitunter zirkulär aufeinander bezogen und bringen einander wechselseitig hervor. Dass ›der Leib‹ sich an die normativen wie normierenden, verletzenden Sprechakte ›erinnern kann‹ lässt Anrufungen auch dort wirken, wo sie längst nicht mehr erklingen, lässt Verletzungen auch dort spürbar sein, wo sie in der Gegenwart nicht mehr einschneiden. Das Gedächtnis ist mithin träger als der Diskurs. Es nimmt ihn auf und unterschreitet seine Zeit. Wird die Norm auch verschoben zitiert, und mag sie so im Diskursiven einen neuen Sinn generieren und eine subversive Strategie bilden, der Leib kann sich womöglich noch an ›Al30 | Geschlechter im Plural verweist darauf, dass es je nach Differenzkategorie (race, soziale Schicht, Sexualität, Alter, Ability) unterschiedliche gesellschaftliche Bilder von Geschlecht gibt. Auf den intersektionalen Aspekt geht dieser Beitrag nicht näher ein, da es primär um die Frage des wie des Inkorporierens von normativen Vorstellungen geht. Ich gehe davon aus, dass sich rassisierende, gesundheitsbezogene sowie klassenbezogene Anrufungen in ähnlicher Weise traumatisch inkorporieren. 31 | Mit strukturkategoriellen Positionen meine ich hier im Anschluss an die Intersektionalitätsforschung von Lutz/Wenning die Benachteiligungen entlang der prinzipiell erweiterbaren Differenzlinien: Geschlecht, Sexualität, Race, Ethnizität, Nation/Staat, Klasse, Kultur, Gesundheit, Alter, Sesshaftigkeit/Herkunft, Besitz, Nord-Süd, Ost-West, gesellschaftlicher Entwicklungsstand (Lutz/Wenning in: Winker/Degele 2009: 16). 32 | Ein Beispiel dafür, dass gezielte Gewalteinwirkungen von Menschen an Menschen vorgenommen werden, um eindeutige Identitäten hervorzurufen, sind die in Südafrika häufig vorkommenden so genannten »corrective rapes«. Ziel dieser Gang-Vergewaltigungen sind lesbische Frauen. Die Vergewaltigung soll die Frau ›bekehren‹, kein Mann mehr sein zu wollen« (Arte-Dokumentation »Durch Vergewaltigung ›bekehren‹«[Frankreich 2011, R: Catherine Monfajon/Roger Motte/Bertrand Manzano]).

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tes‹ erinnern und setzt sich samt gefühlter, gespürter, habitualisierter, auf kränkenden Erfahrungen basierender, subjektkonstitutiver Wahrnehmungsschemata über den Diskurs hinweg oder zumindest in ein Spannungsverhältnis zu demselben. Hieraus ergibt sich meines Erachtens die Notwendigkeit, Butlers Konzept der Performativität um ein genealogisch-neurophysiologisches33 Verständnis von Gedächtnisprozessen zu erweitern. Demnach ist gender, mit Butler übereinstimmend, in der Tat ›eine kulturelle Form der Erfahrung‹ und sex liegt gender mitnichten zu Grunde (vgl. Winker/Degele 2009: 21), allerdings gibt es etwas, das gender sehr wohl zu Grunde liegt, und das ist der Leib, verstanden als Ansammlung von Kräften und Intensitäten, die allezeit interpretativ überformt werden. Sex ist bereits eine solche Interpretation. Leibliche Prozesse sind, aus dieser Sicht, als die Voraussetzung zu sehen, die die Annahme der Geschlechterordnung zuallererst ermöglichen. ›Geschlechtlichkeit‹ kann insofern als Effekt einer genderbinär strukturierten sozialen Ordnung verstanden werden, die sich als erfahrbare Erinnerungsspur, vergleichbar einer Traumatisierung und als Trauma einverleiben kann; als Fall des Traumas. Hieran schließt sich nun die Frage des Widerstandes mit und gegen Einverleibungen an.

7. V ORSICHTIGER A USBLICK AUF W IDERSTAND Nietzsches Fluchttopos ist der einer »Kraft der Vergesslichkeit«, damit »ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins [einkehrt], damit wieder Platz für Neues [wird]« (1988: 46). Die Kraft der Vergesslichkeit stellt hier einen counterpart zum Gedächtniswillen dar. Kraft der Vergesslichkeit stellt ferner ein mögliches ethisches Prinzip, zur Demontage der herrschaftsträchtigen inkorporierten Erfahrungen dar, die allezeit Gefahr laufen, sich im und am Leib zu (Geschlechter)-Identitäten zu verdichten. Es ist die Kraft der Vergesslichkeit, die hilft, Unverdauliches wieder auszustoßen (vgl. Grosz 1994:131). Nietzsche rät zu einem leiblichen, einem physiologischen Vergessen, zu einer »Rückübersetzung von Bedeutungen in den Text des Leibes« (Iwawaki-Riebel 2004, 82), er rät. die vereinheitlichende Subjektivität »ins Meer zu werfen« (s.o.), interpretativ: zu einer Hinterfragung der möglicherweise schmerzhaften Ich-Identitäten. Eine Hinterfragung nicht als rein kognitiver Reflexionsprozess, sondern mehr als ein Vergessen des Leibes. Er rät zu einem Rückbezug auf den Leib, als sozio-individuelles Transformationswie Widerstandspotenzial: Denn wenn es der Leib ist, der sich erinnert, dann ist es der Leib, der wohl vergessen kann? Oder weniger poetisch ausgedrückt: Der Leib ist aktiv an der Re- und Dekonstruktion von Erinnerungsspuren beteiligt. Es 33 | Wie bereits erwähnt, geht es hier darum, traumatische Erfahrungen nicht unkritisch als Identität beschädigend zu verstehen, wie es der neurowissenschaftliche Mainstream gerne tut, wenn er sich überhaupt mit der sozialen Ordnungskategorie ›Geschlecht‹ beschäftigt, sondern als Identität generierend (vgl. Wuttig 2010).

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soll an dieser Stelle bei einer Erwähnung möglicher Praktiken des Vergessens34 resp. des Rehabitualisierens35, des Überschreibens36 von einverleibten Geschlechterbildern bleiben sowie bei der Frage, ob es diesen kleinen Nachweis an Leben, an Intensität gibt, auf den Baum verweist, wenn sie schreibt: »Meine Nerven juckten, trotz des Betons, der an ihren Enden ausgegossen worden war.« (Baum 2011: 100) Und bei der vorläufigen Antwort Zarathustras, der ›also‹ sprach: »›Ich‹ sagst du und bist stolz auf dieses Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft […] eine Vielheit mit einem Sinne: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.« (Nietzsche 1993: 39)

F ILME »Durch Vergewaltigung ›bekehren‹« (F 2011, R: Catherine Monfajon/Roger Motte/ Bertrand Manzano)

34 | Zu den »Praktiken des Vergessens (vgl. Wuttig 2010), sowie die in Kürze erscheinende Monografie mit dem Arbeitstitel Körper, Geschlechter, Trauma. Körpererleben im Spannungsfeld normativer Identitätsansprüche und Zurückweisungsstrategien. Bei den Praktiken des Vergessens geht es keinesfalls darum, dass etwa vergessen werden soll, was eine Nation oder einzelne anderen Menschen angetan haben. Es geht nicht um das Diskreditieren von Erinnerungskulturen. Ziel der Praktiken ist es, über Körperarbeitsmethoden sich Einverleibungen gewahr zu werden, die sich in Ängsten, Verspannungen, Einschränkungen usw. zeigen können. 35 | Andreas Zeus zeigt in ihrer Dissertation mit dem Titel Leibliche Zugänge zur Verinnerlichung gesellschaftlicher Strukturen – am Beispiel bewegungsorientierter Erfahrungsangebote in Deutschland und Südafrika (2005), dass und wie Rehabitualisierungen von eingefleischten rassisierenden Strukturen durch bewegungstherapeutische Angebote möglich sind. Zeus‹ Arbeit lässt sich meines Erachtens auf die geschlechtliche Habitusbildung übertragen. 36 | Elisabeth Grosz spricht in der hier bereits zitierten Schrift Volatile Bodies von der Überschreibung (engl: Reinscription) von genderbasierten inkorporierten Machtstrukturen: »If bodies are inscribed in a particular way, if these inscriptions have thus far served to constitute women’s bodies as a lack relative to men’s fullness […], then these kinds of inscriptions are capable of reinscription« (Grosz 1994, XIII). Antje Reinhard beschreibt, wie durch postdramatisch-theaterpädagogische Erfahrungsangebote verinnerlichte binäre Gendercodes leiblich reflektiert und überschrieben werden können (Reinhard 2007).

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Dieses Werk ist eine Kompilation von Friedrich Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, und kann antisemitisch ausdeutbare Passagen enthalten (siehe: Nietzsche-Haus, Ausstellung zum Leben Friedrich Nietzsches, Sils Maria), die nicht auf Friedrich Nietzsche selbst zurückgehen. Von diesen möchte ich mich hiermit ausdrücklich distanzieren. Ich beziehe mich lediglich auf eine Stelle, die zu dem in diesem Beitrag hauptsächlich verwendetem Werk »Zur Genealogie der Moral« anschlussfähig ist.

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Erinnerung/Gedächtnis und die Tropen der Autobiografie Zur ›auswendigen‹ Performanz von Gendernormen Anna Babka

In meinem Beitrag steht das Problem der Subjektdekonstruktion und Rekonstruktion auf der Basis seiner rhetorischen Verfasstheit im Zentrum, d.h. auf der Basis einer durch Rhetorik prozessual konstituierten (›figurierten‹) Hervorbringung, die sich zugleich in einer ständigen (auch ›defigurierenden‹) Veränderungsbewegung befindet, also im Spannungsfeld von Figuration – Defiguration angesiedelt ist.1 Diese ›De-Figurationen‹ sind eng gebunden an die Konzepte von Genre, hier als Autobiografie, und Gender. Meine zentrale Problemstellung erweitert sich und perspektiviert sich über spezifischere, die sich allesamt an die These der rhetorischen Verfasstheit von Subjektivität anschließen lassen und die meinem Thema Kontur geben: Wie wird über sprachliche Modi und Figurationen der geschlechtliche Körper als Austragungsort und Matrix machtvoller Identifikationsprozesse markiert, konturiert und hervorgebracht? Wirkt und funktioniert das »Gesetz des Genres« gleich dem »Gesetz von Gender«? Die Etymologie des Begriffs Genre zeigt die Verbindung der Begriffe Genre und Gender auf: Das gesamte Wortfeld von Geschlecht, Art, Gattung leitet sich von lateinisch genus ab, auf das auch das französische genre zurückgeht. Es liegt somit nahe, den Fragen nach der Gattung jene nach dem Geschlecht anzuschließen, ihren inneren Gesetzmäßigkeiten nachzugehen - dem law of gender, wie es Mary Jacobus im Anschluss an Jacques Derridas »Das Gesetz der Gattung« (»Loi du Genre/Law of Genre«) formuliert: »[G]enre allows us to find our own faces in the text rather than experience that anxious dissolution of identity which is akin to not knowing our kind; or should I say, gender?« (Jacobus 1984: 57) Diesen Gesetzen der Gattung und des Geschlechts haftet ein konstitutives Unbehagen an, das 1 | Mein Beitrag ist als Ausarbeitung, Weiterschreiben und teilw. Wiederabdruck von Überlegungen zum Thema Erinnerung/Geschlecht in Babka 2002: 113-128 bzw. Babka 2008: 81-95 zu verstehen.

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sich schon im ersten Satz von Derridas »Das Gesetz der Gattung« ankündigt: »Die Gattungen nicht vermischen.« (Derrida 1994: 202) Der Imperativ evoziert die Problematik der Kontamination und Widersprüchlichkeit der Genres und Genders und artikuliert sich als ›Verbot‹. Der Imperativ wird ironisch vor der Folie dessen, dass Genres und Genders potenziell ihre Grenzen überschreiten beziehungsweise ihre Identität überhaupt erst denkbar wird vor einer Grenze zum Anderen. (vgl. Babka 2001: passim) Und so schließt Derrida diese Überlegungen auch damit, dass er sagt: ›[E]in Text‹ ›könne zu keiner Gattung gehören. Jeder Text hat teil an einer oder mehreren Gattungen, es gibt keinen Text ohne Gattung, es gibt stets eine Gattung und Gattungen, aber diese Teilhabe ist niemals Zugehörigkeit‹ (vgl. Derrida 1994: 260). Doch zurück zu Mary Jacobus Wendung des Gesetzes der Gattung: ›Gestattet‹ uns das Genre (Autobiografie) den (imaginären) Zugriff auf ein immer schon geschlechtlich markiertes ›Gesicht‹? Wie funktionieren die machtvollen und identifikatorischen Prozesse der autobiografischen Vergegenwärtigung und damit auch der Hervorbringung der Gesichter und der Geschlechter? Können im Sinne eben dieser Vergegenwärtigung Konzepte wie Erinnerung und Gedächtnis für diesen Prozess produktiv gemacht werden? Jacques Derridas ›Erinnerungen‹ liefern einen möglichen Ansatz. In seinen »Mémoires. Für Paul de Man« entfaltet Derrida auf prägnante Weise den Begriff Mémoires, für den es, übersetzt aus dem Französischen, keine eindeutigen Entsprechungen im Englischen oder im Deutschen gibt. Der Begriff Mémoires impliziert die Konfusion der Genera, weil er die Bedeutung wechselt, »je nachdem, wie man den Genus (Maskulinum/Femininum) oder den Numerus (Singular/Plural) bestimmt« (Derrida 1988: 15). Derrida gelangt zudem von der Erinnerungsfähigkeit (la mémoire), die im Deutschen auch als ein ›gutes/schlechtes Gedächtnis‹ beschrieben werden könnte und sich aus Erinnerungen (les mémoires) speist, die nach keiner besonderen Verschriftlichung verlangen, zur männlichen Form, die im Singular eine Gedächtnishilfe als Notiz oder als Memorandum darstellt (mémoir), im Plural jedoch auf die Geschichte eines Lebens verweist, auf Selbstzeugenschaft, auf (mémoirs). »Mémoire ist im Französichen hybrid oder androgyn. […] Man sagt ›une mémoire‹, la mémoire, Femininum, um in der allgemeinsten Bedeutung das Vermögen (psychologisch oder nicht), die Fähigkeit, den Ort, die Versammlung der Erinnerungen oder der Gedanken zu bezeichnen; aber es ist auch der Name für das, was wir hier zu denken versuchen und was wir so schlecht umgrenzen können. Jedenfalls gibt es Sätze, die man nur mit diesem Femininum Singular bilden kann. Und sie betreffen immer ›mémoires‹, die kein wesentliches Bedürfnis nach Schrift im geläufigen Sinn haben. Was das Maskulinum angeht, so kann es zwei Bedeutungen haben, die sich untereinander und von ›la mémoire‹ unterscheiden, je nachdem, ob es im Singular oder im Plural steht. ›Un mémoire‹ (Maskulinum Singular), das ist ein Dokument, ein Bericht, eine Notiz, ein Memorandum, eine Bilanz, die das zusammenstellt, woran man sich erinnern soll; es ist immer zusammenfassend und setzt Schrift,

A. Babka: Erinnerung/Gedächtnis und die Tropen der Autobiografie eine Exposition nach Außerhalb und eine räumliche Einschreibung voraus […] Wenn mit ›mémoires‹ (Maskulinum Plural) nicht einfach nur eine Vielzahl von mémoires, sprich Dokumente, Berichte, Bilanzen oder Akten […] bezeichnet wird und es sich um Fälle handelt, in denen dieses Wort nur im Plural gebraucht wird, so werden damit wiederum Schriften gemeint, aber Schriften, die ein Leben erzählen oder eine Geschichte, für die der Autor Zeugnis ablegen kann. Sie übersetzen das durch ›memoirs‹ (ohne e und ohne Akzent), und sehr häufig wird das dem rätselhaften Genre zugerechnet […], das – folgt man Paul de Man – gar kein Genre ist: die Autobiographie.« (Derrida 1988: 138f.)

Was dieses Wort mémoire an Bedeutungen hervorruft, bildet die Brücke zur Verbindung Erinnerung und Geschlecht: mémoire leitet bei Derrida eine Zeichenkette ein, die über die Unentscheidbarkeit des Genus an die Grenzen des Genres stößt – an die Autobiografie. Genre und Gender, Gattung und Geschlecht sind Begriffe, die nicht nur etymologisch verwoben sind im gleichen Namen, der als Ort des Aufbewahrtseins fungiert. Geschlecht und Gattung existieren nur als Name, sie werden über diesen Namen ins Dasein gerufen, adressiert und aufgerufen, ins Gedächtnis (zurück-) gerufen und auf diese Weise ›ins Leben gerufen‹. Das Ansprechen ist zugleich Benennung, der Name Träger und Produzent des binären Geschlechtermodells. Das benannte Geschlecht, das ich hier als Sprachfigur verstehe, wie eben auch Gesicht und Stimme, scheint nachträglich immer schon gegeben, wird jedoch als Sprachfigur erst gesetzt. Judith Butler hat daran erinnert, dass Neugeborene ›angerufen‹ werden – über die Apostrophe, die Adressierung oder Appellation (vgl. Butler 1993: 8) als bloßem Namen – oder, gewendet mit de Man, als Prosopopöie, als Figur der Autobiografie. Über die Sätze »Es ist ein Junge« oder »Es ist ein Mädchen« werden sie vergeschlechtlicht (gendered) ins Leben und ins Gedächtnis gerufen. Sie werden wiedererweckt und vor- oder wiederaufgeführt, wieder inszeniert innerhalb eines tropologischen Spektrums, das als ›Eigenname‹ des Geschlechts seine Kraft ausspielt oder diese ausspielen kann kraft des Vermögens des Gedächtnisses. Butler betont zudem die zeitliche Bedingtheit und den zitathaften Charakter performativer Äußerungen und Anrufungen (Interpellationen). Nur indem eine performative Äußerung als Glied in einer zitathaften Kette vergangene Sprechakte anruft, zitiert und mobilisiert sowie auf zukünftige Sprechakte verweist, erhält sie performative Macht. Bettine Menke rekurriert auf Harold Bloom, wenn sie vermutet, dass »jedes Überlieferte ein (Fehl)-Gelesenes und Figur des Überlieferten ist«, was bedeutet, daß nur im Zitat erinnert werden kann, »in einer zitationellen (Fehl)-lektüre, AbWendung und Wiederkehr zugleich« (Menke 1991: 74). Das würde für die Identität des oder der Erinnerten ein Herausfallen aus dem Zustand der Be-wahrung bedeuten, ein Oszillieren zwischen dem ›wahren Sein‹ und dem ›Be-wahrt-sein‹ in der Erinnerung. Denn das, »[w]as bewahrt werden soll, ›bleibt‹ im Modus einer zitationellen ›Wiederkehr‹ […]; seine Dauer hat dann immer schon figuralen

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Charakter« (Menke 1991: 74). Menke entfaltet eine Tropologie des Gedächtnisses über Figuren, über Fiktionen, um so den Vorrang der Mnemo-Technik als einer »auswendigen ›performance‹ des Gedächtnisses« gegenüber der Erinnerung als einem konkurrierenden romantisch/nachromantischen Konzept zu begründen. Doch wie bringt man das Gedächtnis zur Auswendigkeit, zur Auswendigkeit der Geschlechts-identität? Schon Nietzsche hat die Frage nach dem Gedächtnis und dessen Implikationen in Bezug auf den Körper entwickelt. In »Zur Genealogie der Moral« ist davon die Rede, wie die Mnemonik und der Körper, Sprache und ›Leib‹ in Verbindung stehen: »Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtnis? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaftigen Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt?« […] vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. ›Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtnis‹ […]. Man möchte selbst sagen, dass es überall, wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der Schrecklichkeit nachwirkt, mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist […]. Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer […], die widerlichsten Verstümmelungen […] - alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigeste Hülfsmittel der Mnemonik errieth.« (Nietzsche 1988b: 295, II. Abh. § 3)

Das Gedächtnis ist nur dort, wo vorher etwas in den Körper eingeschrieben wurde – die mnemotechnischen Mittel, die von der Seite des Gesetzes angewandt werden, brennen das Gedächtnis ein. Nietzsche sagt, dass dies dort der Fall ist, wo versprochen, verpfändet und gelobt wurde, dort also, wo die Performativität der Diskurse den Menschen die Gesetze auf den Leib schreibt und diesen als Effekt der Gesetze konstituiert. Das Gedächtnis verwechselt die Effekte der Einschreibungen und Zurechtmachungen mit ›Natur-Gegebenem‹. Das Gedächtnis ist daher »entweder eine topisch-tropische Projektion des rhetorischen Systems oder selbst schon eine elementare Rhetorik« (Thüring 1994: 76). Es ist also nicht die eigene Geschichte, die der Körper erzählt, sondern eine »fremde Erzählung«, ein machtvoller Diskurs, der die ›eigenen‹ Erinnerungen performativ hervorruft. Über diese Erinnerung werden autoritäre Konventionen und Inschriften zitiert. Gerade deshalb sind diese Erinnerungen »keine originären, sondern ›Prothesen‹, künstlich, ausgeborgt, nachträglich hinzugekommen, zum Eigenen gemacht« (Angerer 1997: 284; Herv. A.B.). Das angeblich Eigene ist das Produkt jener performativen Praxis, die hervorruft, was sie benennt. Dort, wo mit Nietzsche versprochen wird, wird verstümmelt, wird eingebrannt und dort sind die Erinnerungen als Prothesen. Die Erinnerungen versprechen sich und gelangen zu keiner authentischen Gegenwart. Wir erinnern uns: Die Gegenwart ist keine Gegenwart

A. Babka: Erinnerung/Gedächtnis und die Tropen der Autobiografie

mehr, sagte Derrida, und wenn Gegenwart und Gegenwärtigkeit überhaupt gedacht werden können, so Menke, dann nur als eine »Gegenwart des Erinnerten«, eine »nachträgliche«, eine, »die erst im Zitat gewonnen werden kann« und »die spezifisch figurale Verfaßtheit des dieser immer erst nachträglich Erinnerten – im Zitat [benennt]« (Menke 1991: 75). Judith Butler spricht von einer »zwingenden Zitatförmigkeit« der geschlechtlichen Norm, die notwendig ist, um sich »als ein ›jemand‹ zu qualifizieren« (Butler 1993: 232)2 . Genau dieser immerwährende Qualifikationsprozess ist von der Zitation des Namens und des benannten Geschlechts abhängig: »[T]he impossibility of a full recognition, that is, of ever fully inhabiting the name by which one’s social identity is inaugurated and mobilized, implies the instability and incompleteness of subject-formation. The ›I‹ is thus a citation of the place of the ›I‹ in speech, where that place has a certain priority and anonymity with respect to the life it animates: it is the historically revisable possibility of a name that precedes and exceeds me, but without which I cannot speak.« (Butler 1993: 226)

Mit Menke wird diese (Geschlechts-)Identität des Erinnerten allein im »mnemonischen Bild« möglich und »nachträglich ›gegeben‹« in »seiner figuralen Verfaßtheit als Zitiertes« (Menke 1991: 75). Gender/die soziale Geschlechtsidentität, erweist sich als unentscheidbare/s und permanent unterbrochene/s Überlieferung/Zitat des Lesevorgangs der Adressierenden/Adressierten.3 Letztere sind als ›Selbst‹ selbst überliefert beziehungsweise erinnert im Zitat. Erinnerung ist Konstruktion, Erinnertes ist als Konstruiertes. Geschlechtsidentität wird über eine auswendige performance des Gedächtnisses, über eine Vergegenwärtigung als Modus eines wiederholenden Nachlebens, erst nachträglich konstituiert und un-lesbar: »Das Zitat ist ›Wiederholung‹, eine ›zweite Gegenwart‹, Nach-Leben dessen, was nie als solches gewesen ist.« (Menke 1991: 85) Was nie als solches gewesen ist, heißt, dass dem Zeichen »der konstitutive Mangel einer Selbstspaltung«, also »NichtIdentität eigen ist« (Lobsien 1995: 175). Was das Gedächtnis hervorbringt, als Zitat, ist dann auch »ein dauernder im Gedächtniß festgehaltener und hartgewordener Eindruck, der auf sehr viele Erscheinungen paßt und deshalb, jedem Einzelnen gegenüber, sehr grob und unzureichend ist« (Nietzsche 1988a: 481:19 [204], zit. nach Thüring). Was als identisch angesehen wird, ist eine grobe Vereinfachung und immer nur ein Zitat dessen, was keinen Ursprung hat. Genau diese NichtIdentität ist jedoch die Voraussetzung dafür, dass ein Zeichen ist, und es ist nur 2 | Vgl. dazu Butler zur Problematik der performativen Zitation: »[T]he norm of sex takes hold to the extent that it is ›cited‹ as such a norm, but it also derives its power through the citations that it compels. And how it is that we might read the ›citing‹ of the norms of sex as the process of approximating or ›identifying with‹ such norms?« (Butler 1993: 13) 3 | Vgl. dazu Judith Butlers Diskussion über die zwanghafte Zitierung geschlechtlicher Normen zur Erzeugung sozialer Geschlechtsidentitäten (Butler 1993: 232).

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dann, »wenn es erinnerbar, zitierbar, repräsentierbar, reproduzierbar, eben wiederholbar ist« (Lobsien 1995: 175). Eckhard Lobsiens scheinbar paradoxer Befund stützt sich auf Derridas Iterabilitätskonzepte – wiederholbar ist nur jenes, dem das Prinzip der Iterabilität inhärent ist, eingeschrieben ist. Doch dieses ›Einzelne‹ gibt es nicht »ohne eine ursprünglich anzusetzende Spaltung, Verdoppelung, Wiederholbarkeit, Wiederholung«. Wiederholbar ist ›Etwas‹ aber nur dann, »wenn »ihm die strukturelle Möglichkeit der Abwesenheit von seinem ersten Ort, also ein originäres Wiederauftauchen an einem anderen Ort, eingezeichnet [ist]«. Dies weist auf eine »distanzierte Präsenz an zwei Orten« hin, als »Argument für seine Nicht-Selbigkeit« (Lobsien 1995: 174). Hier ›Etwas‹ nur dann, wenn es ›Etwas‹ nicht ist, ist ›Etwas‹, wenn es erinnerbar, wiederholbar ist. Erinnerbar ist es über NichtIdentität, Abwesenheit. Innerhalb dieser Wiederholungen, Erinnerungen, wird Identität entlang diskursiver Regeln performiert, immer wieder hervorgebracht, gesetzt. Und hier liegt zugleich der Ort der Veränderung, des Einspruchs: »Das, was die Möglichkeit der Selbigkeit eines Selben fundiert, die Iterabilität eben, ist zugleich und immer schon die Ursache seiner Veränderung, der Grund der Aufhebung von Selbigkeit.« (Lobsien 1995: 175) Wiederholen, Erinnern und Lesen sind eng korrelierbare Vorgänge. Was wiederholbar ist, muss lesbar sein, zitierbar sein. Geschlechtsidentitäten sind über Lesevorgänge denkbar, die sich auf Abwesendes berufen. Über den Akt des Lesens wird dem Abwesenden ein Gesicht/Geschlecht eingeschrieben, das immer schon Figur ist, verstellt und verschleiert ist. Was als Geschlecht überhaupt existiert, ist Erinnerung als Zitat (»[W]hat does exist is quotation« [Chase 1986: 102]), ist Lesefigur und Autobiografie, ist die auswendige performance einer immer schon unterbrochenen geschlechtlichen Norm. Perspektiviert über die Frage des Gedächtnisses und der Erinnerung, zeigt sich Judith Butlers eingangs beschriebenes Diktum der »zwingenden Zitatförmigkeit« der geschlechtlichen Norm als bedeutender theoretischer Gestus, der eng mit dem dekonstruktiv reformulierten Begriff der Rhetorik und Rhetorizität durch de Man korreliert werden kann. In ihrem Text »How can I deny that these hands are mine«, den Butler anlässlich einer Tagung zum Werk und zur Aktualität Paul de Mans verfasste, wird die Nähe ihres Denkens zu de Man deutlich – dies besonders im Hinblick auf de Mans Theoretisierung der Sprache über deren tropologische Verfassheit. Die Autorität der Sprache gründet bei de Man nicht in einer feststehenden Bedeutung oder einem außersprachlichen Referenten, sondern in den innersprachlichen Tropenbeständen. Butler bindet das tropologische Verständnis von Sprache an ihre performative Funktion oder Kraft: »Language is said to fabricate or to figure the body, to produce or construct it, to constitute or to make it. Thus, language is said to act, which involves a tropological understanding of language as performing and performative.« (Butler: 1997: 3) Sprache macht, sie erzeugt, produziert, konstruiert den Körper, sie fabriziert und figuriert ihn. Die hier eingesetzten Verben beschreiben den Handlungscharakter der Sprache nachdrücklich mit. ›Machen‹ und ›Figurieren‹ werden zusam-

A. Babka: Erinnerung/Gedächtnis und die Tropen der Autobiografie

mengedacht und mit einem oder verknüpft. Damit löst sie zum einen den Begriff des Performativen aus seinen sprechakttheoretischen Einschränkungen, und das Performative wird zu einer »allgemeinen Wesens- und Funktionsbestimmung von Sprache« (Liepold-Mosser 1995: 15). Zugleich kann, um einer de Man-Lektüre Werner Hamachers zu folgen (der Butler nur zustimmen könnte), »[d]ie performative Funktion der Sprache […] von ihrer figurativen nicht isoliert werden, solange ihr erst aus ihren Tropen, und seien sie noch so klischiert, ihre persuasive Kraft zufließt« (Hamacher 1988: 18). Was von Paul de Man in seinem Rückbezug auf Nietzsche als theoretisches Konzept herausgearbeitet wurde − eben über die rhetorische Figur der Umkehrung von Ursache und Wirkung oder auch über die Erfindung einer Wirkung oder einer Ursache, also über die Metalepsis −, ermöglicht Butler einen wichtigen Zugriff auf das Denken von Geschlecht und Identität. Gender produziert sex metaleptisch, das heißt, gender wird nicht bloß als kulturelle Geschlechtsidentität verstanden, sondern als Konstruktionsapparat, der sex als prädiskursiv produziert und diesen Prozess zugleich verschleiert, um sex nicht als Effekt von gender erscheinen zu lassen, sondern als normative Entität und/oder biologische Tatsache. Auch in »Psyche der Macht« denkt Butler den Prozess der Subjektwerdung, der Hervorbringung, der Generierung von Subjektivität eng entlang einer »tropologischen Inauguration des Subjekts« (Butler 2001: 9) und beruft sich dabei vor allem auf die Figur der Metalepsis. Die rhetorische Verfaßtheit von Subjektivität und Identität pointiert sie in »The Psychic Life of Power« über die »tropologische Inauguration des Subjekts« und hebt dabei die »performative Kraft der Tropen« hervor (Butler 1997: 121). Es ist dies eine Wendung, die sichtlich Anregungen aus de Mans performative rhetoric bezieht und als rhetorisch-performativer Ansatz hinsichtlich der sprachlichen Hervorbringung von Identität betrachtet werden kann. Ihr Versuch, intelligible Geschlechtsidentitäten zu dekonstruieren, nämlich jene, »die in bestimmtem Sinne Beziehungen der Kohärenz und Kontinuität zwischen dem anatomischen Geschlecht (sex), der Geschlechtsidentität (gender), der sexuellen Praxis und dem Begehren stiften und aufrechterhalten« (Butler 1991: 38) ist immer schon an eine kritische rhetorische Lektüre gebunden. Das performativ hervorgebrachte Phänomen autobiografischer und damit mnemonischer Identität ist rhetorisch und kann mit Butlers Lektürepraxis der Geschlechtsidentität verknüpft werden. Butlers Schriften werden, ohne von ihr selbst als Theorie der Autobiografie ausgewiesen zu sein, von der Autobiografieforschung vereinnahmt – zu Recht, wie es scheint, erweist sich doch das Konzept der Performativität als Möglichkeit der Retheoretisierung und zugleich dekonstruktiv orientierten Politisierung von Differenztheorien. Der Zusammenhang zwischen Performativität und Autobiografie ergibt sich dadurch, dass das autobiografische Ich seiner (Geschlechts)-Identität nicht vorgängig ist und nur über reiterative Diskurse überhaupt ins ›Sein‹ kommt. Rhetorische Lektüreverfahren, wie sie Butler u.a. über die Trope der Metalepsis entwickelt, sind signifikant für diesen theoretischen Zug. Der politische Anspruch einer solchen Zugangswei-

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se lässt sich darüber ableiten, dass gerade über eine rhetorische Lektürepraxis hegemoniale Formen des Verstehens und der Wissensproduktion auf ihre kontingenten Grundlagen hin überprüfbar werden. Dies vor dem Hintergrund einer Forschungssituation, die, so Jane Flax, als »transitional state« beschrieben werden könnte, in dem es darum geht, das ›Selbst‹, Geschlecht, Wissen, soziale Beziehungen und Kultur zu verstehen und zu re-konstituieren, ohne auf lineare, teleologische, hierarchische, holistische, in binären Oppositionen verhaftete Denkstrategien Zuflucht zu nehmen (vgl. Flax 1997: 170). Die Verbindung von Geschlecht und Gattung, von Gender und Genre und die Frage nach der Rhetorizität, nach der tropologischen Verfasstheit sowohl des sozialen als auch des biologischen Geschlechts gebunden an die These der auswendigen Performanz des Gedächtnisses als Konstruktionsmechanismus von Geschlecht und Gattung bilden einen möglichen Ansatzpunkt für ein solches Denken und Verstehen.

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Die Dinge, die geschehen sind Zu Echo als Figur der Zeit des Performativen Lisa Appiano

Im Folgenden werde ich versuchen, die performative Dimension der Sprache in einen Bezug zur Zeit zu setzen, um damit die Möglichkeiten auszuloten, sich selbst zu erzählen, also im eigenen Namen die eigene Geschichte zu erzählen. Im ersten Teil geht es mir darum, anhand der Figur der Echo aus Ovids »Metamorphen«, die Bedingungen zu befragen unter denen wir stehen, wenn wir eine solche Erzählung versuchen. Im zweiten Teil widme ich mich der Frage nach den ›Dingen‹, die ›Gegenstand‹ dieser Erzählung sind. Von den ›Dingen‹ zu sprechen, ist dabei mit Unbehagen verbunden. Geht es – aus philosophischer Perspektive – doch vielmehr darum, nach den Grenzen zu fragen, die der Erkenntnis einer gegenständlichen Welt bzw. ihrer ›Vergegenständlichung‹ gesetzt sind. Zu sagen »Die Dinge, die geschehen sind«, hält es sich jedoch bewusst offen, ob mit den »Dingen«, Gegenstände, Ereignisse, Zustände oder Verwicklungen gemeint sind. Viel eher möchte ich mit diesem Titel an das griechische Wort pragma 1 erinnern: »[…] das, worin man in der Praxis des Lebens verwickelt ist, was also nicht gegenübersteht und entgegensteht als etwas zu Überwindendes, sondern worin man sich bewegt und womit man es zu tun hat« (Gadamer 1985: 5).

1. E CHO ALS F IGUR DER W IEDERHOLUNG Ovids Erzählung von Narziss2 erzählt nicht nur von dem stummen und verhängnisvollen eigenen Abbild, das Narziss in den Wahn und sodann in den Tod führt, sondern auch von der Stimme einer Anderen: Echo. Echo wird in den »Metamorphosen« des Ovids eingeführt als »die klangreiche Nymphe, die niemals schwieg, wenn ein anderer sprach […]« (Ovid 2005). Sie plauderte zu viel sozusagen und 1 | Prâgma: »Ergebnis einer Handlung«. 2 | Die Geschichte von Narziss und Echo wird im dritten Buch der »Metamorphosen« erzählt.

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wird deswegen mit dem Verlust ihrer Sprache bestraft: Echo vermag von da an nur zu verdoppeln, zu wiederholen, was andere sagen und nur die letzten Worte der Anderen zurück zu tönen. Sie muss warten bis gesprochen wird, muss warten, wie Ulrike Kadi formuliert, »was sich hören lässt« (Kadi 1997: 76), um dann das Gehörte zurückzusprechen. Die Wiederholung der fremden Worte erscheint dabei prekär, denn Echo muss geschickt wiederholen, um ihr eigenes »SagenWollen«, d.h. die Intention, das Telos3 ihrer Rede in den Worten der Anderen unterzubringen. Zu wiederholen bedeutet für Echo, um einen Begriff Derridas zu gebrauchen, zu iterieren 4; also das Wiederholte in einen neuen Kontext überzu-setzen bzw. einen solchen Kontext neu zu erzeugen (vgl. Derrida 2001: 16). Als Echo auf Narziss trifft, entflammt die Nymphe sofort für ihn, heißt es im dritten Buch der Metamorphosen. »Heiß überfällt sie die Liebe«, erzählt Ovid und »sie folgt seinen Spuren verstohlen, und je mehr sie ihm folgt, je heißer erglüht sie in Flammen« für den schönen Narziss. Die klangvolle Nymphe hätte ihn gerne mit ihren Reden umworben, aber »beginnen ist ihr verwehrt« und so muss sie warten, bis sie zuerst angesprochen wird. Aufgrund der Möglichkeit in die Wiederholung der Worte der anderen eine Veränderung einzutragen, vermag Echo dennoch mit Narziss zu kommunizieren; etwas (sich?) zu übermitteln, zu etwas (sich und dem Anderen?) den Zugang zu öffnen, eine Verbindung herzustellen bzw. verheißt diese ›Kommunikation‹ vor allem, wie die Begegnung der beiden deutlich macht, zwischen den Sprechenden eine Identität zu stiften. Als Narziss sich auf seinem Weg verirrt, ergibt sich für Echo schließlich die Chance zur Artikulation. Das heißt unter den besonderen Bedingungen, die der Mythos ihr auferlegt, sich an ihn zu wenden, indem sie seine Worte akustisch verdoppelt. »Ist jemand zugegen?«, ruft Narziss in den Wald hinein. »Zugegen!«, erwidert Echo. Getreu der wiederholten Worte tritt sie aus dem Wald hervor und will Narziss umarmen. Doch der von anderen so gänzlich ungerührte Narziss flieht, nicht ohne zu annoncieren er »würde lieber sterben, als sich an Echo zu verschenken!« (vgl. Ovid 2005). Ich nehme die Figur der Echo nun zum Anlass, um über die allgemeinen Möglichkeitsbedingungen des ›Sich-Selbst-Erzählens‹, also der Erzählung der eigenen Geschichte nachzudenken. Der Stellenwert, dass die eigenen Worte zählen, dass die Erzählung der eigenen Geschichte als ›wahr‹ anerkannt wird, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, wenn es um die politisch-emanzipatorischen Anliegen von Selbstbestimmung und Autonomie geht. In einem ersten Schritt gilt es Echo mit Derridas Begriff der Iteration gegenzulesen, den er in 3 | Telos im Sinne der (Ziel-)Gerichtetheit des Sprechens. 4 | Iter, lat.: »von neuem« bzw. »nochmals«. Itara: abgeleitet von Sanskrit »anders«. Derrida führt mit dem Begriff Iteration eine Logik ein, die Wiederholung mit Andersheit verknüpft (vgl. Derrida 2001: 16-24). Torsten Hitz macht darauf aufmerksam, dass Derridas »itérabilitlé« an die lateinische Titelformulierung von Descartes’ fünfter Meditation anschließt (vgl. Hitz 2005: 52).

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»Signatur, Ereignis, Kontext«, der Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie John L. Austins, ausbildet. Ich möchte den Begriff der Iteration entlang folgender Fragen an Echo heranführen. Zunächst die grundsätzliche Frage: Gibt es eigene Worte, eine eigene Rede, die bei sich zu Hause ist, die vor dem Risiko durch die Worte der Anderen entfremdet zu werden, geschützt werden könnte? (vgl. Derrida 2001) Auf Echo bezogen: Verliert sich Echo an die Sprache/den Diskurs des Anderen? Könnte sie etwas so eigenes tun, wie im eigenen Namen zu sprechen? Kann sich Echo selbst erzählen?

1.1 Iteration – das Gesetz der Wiederholung und die Zeit Die Frage, nach diesem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ im Sprechen, die sich zwischen Narziss und Echo stellt, lässt sich mit Derridas Überlegungen zur Signatur auseinandersetzen. Die Signatur ist zwar ein schriftliches Ereignis, sie ist per definitionem etwas ›Eigenes‹, sie kann aber mutatis mutandis für jedes Zeichen stehen, mit dem wir uns selbst setzen. Man unterschreibt mit dem eigenen Namen in der charakteristischen, einmaligen Weise der eigenen Handschrift. Dennoch fragt Derrida: »Gibt es so etwas? Kommt die absolute Einmaligkeit eines Unterzeichnungsereignisses jemals vor? Gibt es Signaturen? Ja sicher, tagtäglich. Die Wirkungen der Signatur sind die alltäglichste Sache der Welt. Aber die Möglichkeitsbedingung dieser Wirkungen ist gleichzeitig, wieder einmal, die Bedingung ihrer Unmöglichkeit, der Unmöglichkeit ihrer strengen Reinheit.« (Derrida 2001: 43)

Etwas zu signieren, das findet zwar in einem einmalig datierbaren Moment statt, aber die Voraussetzungen für diesen Vorgang des Unterschreibens spalten das Siegel5, da sie den Akt, der die Unterschrift vollzieht, durchkreuzen. Eine Unterschrift funktioniert nur dann, wenn die unterschreibende Person dabei eine wiederholbare Handlungs-›form‹ reproduziert, die ihr von anderen überliefert wurde. Die Vollzugsform einer Signatur, d.h. das, was unter einer Signatur verstanden wird, wie eine Signatur ›richtig‹ gegeben wird, muss imitierbar sein, ansonsten könne niemand – weder die unterzeichnende Person noch all jene Personen, für die diese Signatur etwas bedeuten wird/soll – verstehen worum es sich handelt (vgl. Derrida 2001: 43; vgl. Böhler 2008: 167). Um lesbar zu sein, muss die Signatur ihre Einmaligkeit überschreiten oder anders formuliert: Die Wiederholbarkeit der Signatur ist die Voraussetzung ihrer Einmaligkeit. Die Wiederholbarkeit als Bedingung der Möglichkeit der Signatur/des Zeichens, ist jenes Gesetz, das das Zeichen als ›reines‹ Zeichen, d.h. als mit sich selbst identes Zeichen verunmög-

5 | »Ihre Selbigkeit [mémté] ist es, die, indem sie ihre Identität und Einmaligkeit verändert, das Siegel spaltet.« (Derrida 2001: 43)

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licht. In dieser Hinsicht müssen wir das Unmögliche tun, denn diese Unmöglichkeit der Einmaligkeit der Signatur ist nicht einfach negativ (vgl. Derrida 2003: 30). Jede Signatur kann also nur dann ›gelingen‹, d.h. lesbar sein, wenn sie auf eine vorgängige Konvention/Form zurückgreift. Dieser Rückgriff vollzieht sich genau in dem Augenblick, da wir unsere eigene Unterschrift geben. Die vorgängige Vollzugsform ›anzuwenden‹ (zu wiederholen), beinhaltet bereits, diese Form, also die vorgegebenen Regeln, anerkannt und uns ihnen unterworfen zu haben. Die ›Anwendung‹ setzt also eine affirmative Bejahung der Anderen in unserem eigenen ›Tun‹ voraus, wie Arno Böhler in seiner Derrida-Lektüre ausführt (vgl. Böhler 2008: 167). Die Zeitlichkeit des Ereignisses des Signierens lässt sich demnach nicht auf die ›reine‹ Gegenwart des Aktes selbst reduzieren. »Es gibt keine Erfahrung reiner Gegenwart […].«, schreibt Derrida (2001: 29). Die Konstitution der Wiederholung die unserem ›Tun‹, also dem Vollzugsakt der Zeichen-›Setzung‹, strukturell zugehört, impliziert bereits mehrere Instanzen der Zeit: Zum einen, die Lesbarkeit eines Zeichens muss auf Dauer sichergestellt werden. Insofern ist es die Wiederholbarkeit, die Iterabilität, die diese potentia der Dauer, ihre Ausdehnung in Zeit und Raum, gewährleistet. Eine Unterschrift ist bindend, sie verbindet die Präsenzzeit des Aktes mit seiner zukünftigen Lesbarkeit. Der Sinn einer Unterschrift liegt ja gerade darin, mein Wort auch künftig zu halten, d.h. mein Wort in die Zukunft zu investieren und das Versprechen6 zu geben, dass dieses Wort auch in Zukunft gültig sein wird. Insofern das gegenwärtig einmalige Ereignis des Unterzeichnens aber zugleich von seiner Wiederholbarkeit unterlaufen bzw. überschritten wird, geschieht dieser Akt nicht »rein aus uns selbst heraus«, sondern ist, wie Böhler formuliert, als »medialer Prozess« zu verstehen, in dem die Anderen gewissermaßen mitsprechen (ebd.:168). Signieren bedeutet demnach Andere, die vor mir da war waren, deren Formen des Handelns ich nun anwende, zu zitieren. Derrida versteht die Signation deshalb auch als Resignation, also als ein Gegenzeichnen der Anderen mit dem eigenen Namen. (vgl. Derrida 2000: 31) Dieses mit Derrida eingeführte zeicheninterne Gesetz der Wiederholung, gilt nicht nur für das schriftliche Zeichen, sondern grundsätzlich für jedes Tun und jede Geste, insofern diese lesbar sein sollen. Als Formen des Vollzugs besitzen alle lesbaren Phänomene den graphematischen Charakter nonverbaler SchriftZeichen an sich (vgl. Böhler 2008: 170). Derrida dehnt die Merkmale des schriftlichen Zeichens auf die gesprochene Sprache und allgemein auf jede Erfahrung aus. Auch die gesprochene Sprache glückt nur, insofern ihre Elemente eine »gewisse Selbstidentität« (Derrida 2001: 28) also eine Form aufweisen, die ihre (Wieder-)Erkennung und Wiederholung erlauben. Das, was aus jeder signifikanten Form ein Graphem macht, ist, Derrida folgend, dass die (wieder-)erkennbare Einheit dieser Form durch ihre Itarierbarkeit begründet ist; durch die Möglichkeit 6 | Für Austin gehört das Versprechen zu jenen Sprechakten, die zweifellos als performativ zu klassifizieren sind.

L. Appiano: Die Dinge, die geschehen sind

des Zeichens wiederholt, in einen anderen Kontext investiert und von sich entfremdet zu werden. Das Zeichen muss sich von der Gegenwart und Einmaligkeit seiner Produktion loslösen können. Also, Auffaltung der Zeit des gegenwärtigen Vollzugsaktes; in die Vergangenheit als seiner Bedingung (die Möglichkeit der Wiederholung einer bestehenden Form), die Gegenwart als ›Anwendung‹ und Bruch mit der Form und die Zukunft als Bedingung der gegenwärtigen Wirksamkeit (der gegenwärtige Akt setzt bereits voraus, dass er über die Abwesenheit der unterzeichnenden Person hinaus lesbar sein wird). Jener einmaligen Identität der Signatur ist die Ablösung von ›sich selbst‹ nicht äußerlich, sondern kennzeichnet ihre Konstitution. Durch seine Iterierbarkeit scheint das Zeichen also konstitutiv nicht bei sich zu Hause sein zu können.

1.2 Echo in der Signatur Was bedeutet das von Derrida eingeführte Strukturgesetz der Wiederholung/Iteration nun für Echos Sprechen? Könnte Echo, »die Verkörperung von Fremdheit im Eigenen« (Kadi 1997: 75), etwas so Einmaliges und Eigenes tun, wie mit dem eigenen Namen zu unterzeichnen? Könnte Echo signieren? Ich möchte diese Frage mit »Ja, aber…« beantworten. Das ›Ja‹ steht für die allgemeine Konstitutionsbedingung jeder Signatur, wie sie mit Derrida beschrieben wurde. Ja, Echo könnte signieren, unter der Voraussetzung, die jedem Zeichen zugrunde liegt: Unter der Bedingung der Möglichkeit, dass jedes Zeichen zitiert bzw. wiederholt werden kann. Das heißt, mit Derrida formuliert, insofern die Einmaligkeit der Signatur durch ihre eigene Möglichkeitsbedingung verunmöglicht wird. Echos Situation, auf die Wiederholbarkeit der Zeichen angewiesen zu sein, um etwas (sich) aussagen zu können, entspricht also der allgemeinen graphematischen Struktur jeder signifikanten Form. Anders formuliert: Echo ist in gleichem Maße die Urheberin ihrer Aussage wie jedes andere Subjekt auch; nämlich nur bedingt, da jedes gegenwärtige und einmalige Auftauchen einer Unterschrift oder einer Aussage in sich selbst eine wiederholbare, zitierbare, d.h. iterierbare Struktur aufweist. In diesem Sinn schlage ich folgende Deutung vor: Gerade Echo kann signieren, weil sie mit ihrer Unterschrift ›resigniert‹7, d.h. für die Unterwerfung unter die Rede der Anderen mit ihrem Namen steht. »Aber…« Echo erfährt im Laufe der Erzählung eine Verwandlung. Es erscheint mir schwierig Echo dieser Metamorphose zu überlassen, der Verlauf des Mythos lässt jedoch dieses ›aber‹ als Einwand bzw. Modifikation meiner Frage hervortreten. Echo stirbt aus Kummer über die Zurückweisung, nur ihre Stimme bleibt lebendig. Die Stimme überdauert ihre 7 | Arno Böhler führt das, jedem Tun zugrundeliegende Zurückgreifen auf eine vorgegebene Form, über den Begriff der Resignation aus. Resignation im Sinne eines Aktes der Unterwerfung, der Kapitulation vor der Macht vorgegebener Regeln, die deren Anerkennung voraussetzt. Zum anderen: Resignation als affirmative Bejahung der Anderen in unserem eigenen Dasein. Zu signieren bedeutet immer schon resignieren (vgl. Böhler 2008: 178).

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Knochen, die zu Stein erstarren, sie bleibt lebendig als körperlose Stimme, als Tonfall, der durch die Berge hallt. Modifiziert sich die Frage, ob Echo signieren könnte, angesichts ihrer Verwandlung zur ›reinen Stimme‹ dahingehend, dass nun gefragt werden muss: Kann Echo als Signatur gelesen werden? Kann sie für die allgemeinen Möglichkeitsbedingungen stehen, denen jedes sprechende Subjekt untersteht? Als Signatur würde Echo die Gespaltenheit jeder gegenwärtigen, einmaligen Unterschrift bereits im Namen anklingen lassen und könnte als eine Gegenzeichnung8 gelesen werden. Aber mein Versuch, Echo als Signatur zu deuten, führt analog zum Verlauf des Mythos daher auch zu einer Erstarrung Echos. Als Zeichen wird Echo an einem Punkt der Bedeutung fixiert. Damit ist unausweichlich ein großes Unbehagen verbunden. Echo auf der Zeichenebene (bzw. auf der Ebene des Signifikats) zu situieren, sie als Zeichen zu verstehen, macht es unmöglich, sie als sprechendes Subjekt, als parle-être im lacanschen Sinne, zu instituieren. Mein Vorhaben, Echo als Figur des sprechenden Subjekts zu lesen, führt also an jener Stelle, da der Mythos sie zur ›reinen Stimme‹ hypostasiert, sowohl zu Echos Tod als auch in eine argumentative Sackgasse. Echo kann nur insofern für das sprechende Subjekt stehen, als sie nicht zur körperlosen Stimme wird, d.h. paradoxer Weise, als sie sich nicht gemäß Ovids Erzählung verwandelt und der Zeitverlauf, die der Mythos vorgibt, angehalten würde.

2. P ERFORMATIVITÄT UND V ERGANGENHEIT Was passiert nun, wenn die eigene Geschichte erzählt wird, d.h. wenn über die ›Dinge‹ gesprochen wird, die geschehen sind? Zunächst muss das sprechende Subjekt, Derrida zufolge, resignieren, also der Sprache der anderen in gewissem Sinne die Treue halten, um im eigenen Namen sprechen zu können. Der Modus der Sprache gibt also die Bedingungen vor, unter denen wir stehen und denen wir unterworfen wird, wenn wir (von) uns erzählen. Aber dann gibt es noch die andere Seite der Münze: die ›Dinge‹, die Ereignisse, die geschehen sind. Wie kommen die beiden Seiten – die Strukturalität des Zeichens und die Faktizität der ›Dinge‹ zusammen? Eine bestimmte Antwort darauf gibt das Konzept der Performativität: Die Kraft der Sprache, Dinge zu tun, Wirklichkeiten zu erzeugen, Fakten zu schaffen, indem sie die zwei Seiten – also die ›Tat-sachen‹ und die Sprache, mit der diese erzählt werden –, in Übereinstimmung bringt (vgl. Appiano 2008: 68; Krämer 8 | Derrida spricht in seinem Text »Als ob ich tot wäre« diesen affirmativen Aspekt der Resignation an: »Und der einzige Weg, mit einem zukünftigen Namen zu unterschreiben, ist oder sollte (das ist meine Hypothese) eine Gegenzeichnung sein, keine Unterschrift, sondern eine Gegenzeichnung; ein Gegenzeichnen mit dem eigenen Namen, jedoch Gegenzeichnen mit dem Namen der anderen oder dem Namen des anderen treu sein.« (Derrida 2000: 31)

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2001: 141). Die Dinge geschehen dem Konzept der Performativität zufolge nicht ›von selbst‹ (automaton)9 . Sie werden getan und zwar während des Sprechens, so lautet die von Austin eingeführte Grundprämisse des performativen Sprechaktes. Wie steht das Performativ aber nun zur Zeit? Die performative Sprechhandlung generiert, folgt man Butlers Reformulierung der austinschen Sprechakttheorie, ihre Kraft aus der Vergangenheit; dem zitativen Rückgriff auf vorgängige Sprechhandlungen.10 Butler übernimmt den derridaschen Grundsatz der Zitathaftigkeit bzw. der Wiederholbarkeit des Zeichens und leitet aus ihr die Kraft des Performativs ab, seinen ›Gegenstand‹, das Ereignis von dem gesprochen wird, ins Leben zu rufen. Die Zeitstruktur des Performativs entspricht also einer durch die Zitatstruktur der Sprache aufgefalteten Gegenwart. Dabei liegt der Kniff der Performativität darin, das klassische Schema von Form (eidos, idea) und Aktualisierung zu verschieben: Wenn wir sprechen, wenden wir nicht einfach eine Sprache, ein Regelsystem als zugrundeliegende Vollzugsform an. Die Sprache ist also nicht als vorgängige Form zu verstehen, die im Akt der Artikulation realisiert wird. Die allgemein sprachliche Form wird nicht einfach wiederholt im Sinne ihrer Anwendung. Sondern als Vollzugsform realisiert sie sich gleichzeitig im Akt des Sprechens. Das heißt, das was sich zur Form verfestigen kann, ist immer Resultat von Wiederholungspraktiken. Die Artikulation ist eine solche Praxis, die, indem sie vollzogen wird, auch die Form retro-aktiv einsetzt.11 Das vergangene Ereignis wird demzufolge durch den gegenwärtigen Sprechakt hervorgebracht und stellt sich selbst als etwas heraus, das jetzt gerade – da ich spreche/erzähle – nachträglich inszeniert wird. Das ›Ursprüngliche‹, auf das sich der performative Sprechakt bezieht und von dem er seine Autorität/Wirkung 9 | Aristoteles spricht Naturdinge als »von selbst« (automaton) an. Sie sind ausgezeichnet dadurch, dass sie sich selbst bewegen, also zumindest einen Bewegungsursprung in sich haben. Nach Aristoteles kommen allen bewegten Dingen die drei Prinzipien von Stoff, Form und Formmangel zu. Das heißt, alle bewegten Dinge lassen sich nach diesen drei Prinzipien befragen. Aber diese Prinzipien sind selbst keine Entitäten, sondern gleichen eher Leerstellen, in der Weise, dass sie einerseits allgemeine Gültigkeit aufweisen, aber andererseits bei jedem Einzelfall anders besetzt werden können. 10 | Butler erläutert den Begriff der Rezitation anhand des autoritativen Sprechens eines Richters, das seine Kraft aus der Anwendung der Gesetzesnorm gewinnt: »Als einer, der wirksam im Namen des Gesetzes spricht, bringt der Richter das Gesetz oder dessen Autorität nicht ursprünglich hervor; er zitiert vielmehr das Gesetz […] und in dieser Wiederanrufung stellt er das Gesetz wieder her.« (Butler 1997: 155) 11 | Das Denken der Performativität ist notwendig auf das Denken der Form angewiesen, es lässt sich ohne diese Verschiebung in dem Begriffspaar von Form-Aktualisierung nicht begründen. So ist für die poststrukturalistische Theorie der Performativität, der saussuresche Grundsatz – die Sprache ist nicht Substanz, sondern Form – von zentraler Bedeutung (vgl. Appiano 2008: 57-89).

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ableitet, wird so selbst zum Effekt der zitathaften Struktur der Rede. Das heißt, die Vergangenheit liegt nicht als historisches Apriori vor, das wir sodann nacherzählen, sondern wird in der Gegenwart – nachträglich – erzeugt. Die Kraft der Performativität liegt, gemäß Butlers Konzept, dann genau in dieser An- und Umwendung der Vergangenheit. Der Begriff der Rezitation bezeichnet diesen Dreh der Rückwendung, der das Zitierte jedoch in eine andere Zeit und eine Umgebung investieren und dadurch der Veränderung preisgeben muss.

2.1 Die Dinge, die geschehen sind Besteht nun die Möglichkeit, vergangene Ereignisse nicht ausschließlich als nachträglichen Effekt des zitathaften Modus der Sprache, der Wiederholungsstruktur des Zeichens zu verstehen? Das heißt, ist es möglich, die Erzählung unserer Geschichte nicht gänzlich als Spiegelung oder Echo vorgängiger Diskurse zu verstehen? Kann zwischen der Sprache und den Ereignissen Heterogenität angenommen werden, ohne dadurch ›die Dinge‹, die geschehen sind, als prädiskursives Apriori annehmen zu müssen? Es ist der Moment der Rückwendung im Sinne eines Zurückfragens, der sowohl Butlers Begriff der Rezitation als auch Derridas Überlegungen zur Resignation innewohnt. Die Gegenwart bildet dabei den Ausgangspunkt einer Frage, d.h. einer Perspektive, mit der man sich an die Vergangenheit wendet. Aristoteles hat diese Fragerichtung, die von ›heute‹ ausgeht und zurückfragt, im Rahmen seiner Vierursachenlehre behandelt. Wolfgang Wieland schlägt in seiner Untersuchung der aristotelischen Physik vor, die Vierursachenlehre als Analyse unseres Sprachgebrauchs zu lesen. Es handelt sich demgemäß nicht um vier Ursachen, auf die sich alle Ereignisse zurückführen ließen, sondern um den vierfachen Sinn, indem wir von Ursache sprechen. Die vier von Aristoteles angegebenen Ursachen können also als Einteilungsgesichtspunkte der Frage nach dem Warum behandelt werden. Das Telos12 , die so genannte Zweckursache, ist eine der vier Weisen wie wir von Ursachen sprechen. Meine Aristoteles-Lektüre folgt hier also der These Wielands, dass die Teleologie im Rahmen der aristotelischen Naturforschung gerade nicht jenes universale kosmische Prinzip ist, das aus ihr in der Geschichte, v.a. durch die Hochscholastik, gemacht wurde (vgl. Wieland 1992: 254-262). Die Frage nach den Ursachen der Gegenwart, die sich in der Vergangenheit ereignet haben, geht dabei implizit immer von einem ›Jetzt‹ als Resultat aus und entspannt sich von da ausgehend zurück in die Vergangenheit. Dieses ›Jetzt‹ bzw. ›Heute‹ ist also gleichzeitig Ziel und Ausgangspunkt der Frage, daraus folgt aber nicht, dass 12 | Im zweiten Buch der Physik widmet sich Aristoteles der Frage, ob und wie weit wir berechtigt sind, natürliche Dinge und natürliches Geschehen mithilfe der Frage nach dem Worumwillen zu deuten. Die in der Aristotelischen Physik begründete teleologische Naturansicht gehörte zu den wirkungsmächtigen Lehrstücken der aristotelischen Philosophie. (vgl. Wieland 1992: 254 ff.)

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diesem Ziel irgendeine Notwendigkeit zukommt – sondern nur, dass die Fragerichtung von einem ›Jetzt‹ als Endpunkt der Bewegung des Werdens zurückgeht. Vom ›heutigen‹ Standpunkt aus gesehen ist diese Vergangenheit dann ein NochNicht. Also ein noch-nicht Gegenwart-Sein. Dieses Noch-Nicht entzieht (stérēsis) sich der völligen Bestimmung durch die Gegenwart, weil es eben noch nicht ist. Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass dieses Noch-Nicht ein vorsprachliches Apriori bezeichnet. Sondern im Gegenteil dieses Noch-Nicht entsteht erst durch die Blickrichtung der Frage nach dem, was sich in der Vergangenheit ereignet hat. Das heißt, dass das ›Warum‹ es heute so und nicht anders ist, ›immer noch nicht‹ gänzlich verfügbar und die Ursachen also nicht gänzlich bestimmbar sind. Das teleologische Fragen richtet sich, beinhaltet eine Ausrichtung und richtet sich an etwas. Dieses ›etwas‹ ist aber deshalb nicht beliebig, wenn es auch nicht gänzlich bestimmbar ist. Was uns beschäftigt, an was wir uns erinnern, was und wann etwas auftaucht, uns zustößt, entgegensteht, sich vorstellt – das können wir meist nicht frei wählen. Gleichwohl kann dasselbe Ereignis zum Ziel verschiedener Hinsichten werden, zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedeutungen haben, auf einen Gegenstand kann unendlich Vieles zutreffen (vgl. Bunz 2005: 9).13 In diesem Sinn schreibt Mercedes Bunz: »Ein Ereignis ist nicht determiniert, sondern wird erst durch die diskursive Praxis [unserer Fragen, Anm. L.A.] bestimmt, mit der es interagiert […].« (Ebd. 2005: 9) Das Ereignis ist also zu einem gewissen Grad unbestimmt und offen, weil es keinen festen Wert hat. Aber es ist deshalb ebenso wenig gänzlich konstruiert. Etwas ist immer ›Gegen-stand‹ der (Ziel-)Gerichtetheit, d.h. des Telos unseres Fragens. Es handelt sich bei diesem Fragen also nicht um eine in die Zukunft gerichtete Teleologie; um ein Konzept von Geschichte, das einer sinn- und zweckvollen Entwicklung folgt, also einer teleologischen Ordnung, die sich aufsteigend und mit Notwendigkeit im Sinne eines umfassenden Finalnexus in die Zukunft entfaltet. Der Ursprung wird zwar in die Gegenwart gestellt, aber nicht als Setzung, sondern als Frage. Als Frage, die die Sprache selbst stellt. Die Sprache ist diese Frage insofern, als sie der Modus ist, der Unterscheidungen setzt, also das ›Eins-sein‹ der Dinge voraussetzt und daher zum Fraglichen werden lässt. In diesem Sinne bedeutet die sprachliche Artikulation Gliederung, Einteilung von Ungeteiltem. Es handelt sich also um eine Frage, die sich nur mit der Sprache stellen lässt. Sprache ist aus dieser Perspektive nicht ›rein‹ für sich, nicht unendlich selbstreferentiell, sondern produziert nur dann Sinn, wenn sie von ›etwas‹ spricht. Das teleologische Fragen gibt zwar die Ausrichtung vor, weist also den Weg zurück in die Geschichte, aber ist gleichzeitig von den Ereignissen abhängig. Die Richtung der Frage kann von den Ereignissen verändert werden. Die Geschichte, so pointiert Bunz, »[…] lässt sich befragen, es geht um eine Frage – und nicht um eine Setzung« (ebd. 2005: 12-13). Die Frage 13 | An den Anfang seiner Ursachenlehre stellt Aristoteles die grundsätzliche Mehrdeutigkeit der Ursachen: legetai aitia pollachôs (Phys. II 3, 195a29).

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greift ein in die Ereignisse, indem sie eine bestimmte Hinsicht auf sie veranlasst, aber sie vermag die Ereignisse nicht unter ihre Begriffe zu bringen. Es werden immer Worte fehlen, um »die Unendlichkeit der Dinge zu benennen« (Lipowatz 1986: 39) und immer wird es eine weitere wesentliche Hinsicht auf »etwas« geben. Die Geschichte konstituiert sich also mit der Hinsicht der Fragen, die an sie gestellt werden. Aber die Ereignisse selbst modifizieren die Fragen, indem sie sich offen halten, weil sie sich nicht gänzlich sagen lassen, da ihr Wert nicht endgültig bestimmbar ist. Die Frage trifft immer auf einen ›Gegen-stand‹, der ihrer Beantwortung ›ent-gegensteht‹, aber nicht im Sinne einer ›Objektivität‹, sondern im Sinne einer nicht gänzlichen Verfügbarkeit und gerade deshalb lässt sich sagen, dass ›etwas‹ geschehen ist, das ›wir-klich‹ ist.

L ITER ATUR Appiano, Lisa (2008): Sprache – eine Frage, die sich stellt, unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien. Aristoteles (1987): Physik, Hamburg: Meiner. Gadamer, Hans-Georg (1985): Griechische Philosophie II, Gesammelte Werke Bd. 6, Tübingen: Mohr. Böhler, Arno (2008): »Politiken der Re-Signation: Derrida – Adorno«. In: Eva Waniek/Erik M. Vogt (Hg.), Derrida und Adorno. Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule, Wien: Turia & Kant, S. 167-198. Bunz, Mercedes (2005): »Wann findet ein Ereignis statt? Geschichte und der Streit zwischen Michel Foucault und Jacques Derrida«, http://www.mercedes-bunz. de/wp-content/uploads/2006/06/bunz_ereignis.pdf vom 09.11.2012. Butler, Judith (1997): Köper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques (2000): Als ob ich tot wäre. Ein Interview mit Jacques Derrida, Wien: Turia & Kant. Derrida, Jacques (2001): Limited Inc., Wien: Passagen. Derrida, Jacques (2003): Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin: Merve. Hitz, Torsten (2005): Jacques Derridas praktische Philosophie, München: Fink. Kadi, Ulrike (1997): Bilderwahn. Arbeit im Imaginären, Wien: Univ., Diss. Kadi, Ulrike (1999): Bilderwahn. Arbeit im Imaginären, Wien: Turia & Kant. Krämer, Sybille (2001): Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lipowatz, Athanasios (1986): Die Verleugnung des Politischen. Die Ethik des Symbolischen bei Jacques Lacan, Weinheim/Berlin: Quadriga. Ovid (2005): Metamorphosen. Epos in 15 Büchern, übersetzt und herausgegeben von Hermann Breitenbach, Stuttgart: Reclam.

L. Appiano: Die Dinge, die geschehen sind

Wieland, Wolfgang (1992): Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

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Trauernde Identifizierungen Queere Interventionen in Erinnerungspraktiken Jacob Guggenheimer »Wenn einer ohnmächtig wird, dann ruft man nach Wasser, Eau de Cologne, Hoffmannstropfen, aber wenn einer verzweifeln will, dann heißt es, schaff Möglichkeiten, schaff Möglichkeiten, Möglichkeit ist das einzig Erlösende; eine Möglichkeit, dann atmet der Verzweifelte wieder, er lebt auf; denn ohne Möglichkeit kann ein Mensch gleichsam keine Luft kriegen.« (K IERKEGAARD 1984: 37, ZIT. NACH B ERGER 2008: 74)

Im letzen Kapitel von »Körper von Gewicht« (1993) und in ihrem Aufsatz »Melancholisches Geschlecht/Verweigerte Identifizierung« (1994) hat Judith Butler begonnen ihre Überlegungen zu den Zusammenhängen von Geschlechtsidentität und Homosexualitätsverbot in unserer Gesellschaftsstruktur auszuarbeiten. Einer ihrer zentralen Denkschritte war in diesem Zuge, dass ein fundamentales Homosexualitätsverbot am Werk ist, das nicht lediglich lesbisches und schwules Begehren untersagt, sobald es sich äußert, sondern präventiv festlegt, dass es niemals zu solchem Verlangen kommt, nicht kommen wird und es auch in der Vergangenheit niemals stattfand. Diese Kombination aus ›Verleugnungspflicht‹ und ›Erinnerungsverbot‹ tritt also nicht nur dem Ausleben des Begehrens in den Weg, sondern sie verhindert darüber hinaus auch, dass die Repression schwul-lesbischer Liebe (auch zu den gleichgeschlechtlichen Elternteilen in der Kindheit) eingestanden werden könnte. Deshalb bleibt diese Verletzung zwangsläufig unbetrauert. Wo sich Trauer aber nicht zeigen darf – und wo sie auch vor sich selbst verborgen bleiben muss – steht ihr (nur) noch die spezielle Variante der »melancholischen Identifizierung« mit dem verlorenen Liebesobjekt offen: Erst durch das strikte Verbot den erlittenen Verlust zu beklagen, erhält ein Individuum jene Geschlechts-Identität, die es nie begehren durfte.

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen »Ein ›Mann‹ zu werden, erfordert innerhalb dieser Logik die Zurückweisung von Weiblichkeit […]: Er will die Frau, die er nie sein wollte; ja er würde nicht im Traum sie sein wollen; deshalb will er sie. Deshalb ist sie gleichzeitig seine zurückgewiesene Identifizierung.« (Butler 1994, S. 173)

Doch der Reihe nach:

W AS BEDEUTE T › MEL ANCHOLISCHE I DENTIFIZIERUNG ‹? In seinem Text »Trauer und Melancholie« postuliert Freud gleich zu Beginn, dass Trauer »regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.« (Freud 1975 [1917]: 197) ist. Dieselbe Erfahrung kann aber auch, so Freuds Unterscheidung, Auslöser für eine Melancholie werden. Anders als bei trauernden Menschen üblich, die beklagen, dass die Welt nun schlechter und mangelhafter ist als noch zuvor, würden melancholische Menschen hingegen sich selbst erniedrigen und beschimpfen. Doch in diesen exzessiven Selbsterniedrigungen erkennt Freud Vorwürfe, die eigentlich einer anderen Person gelten als es den Anschein hat. Anstatt auf sich selbst zielen die Anschuldigungen eigentlich auf jemanden, den der/die Betroffene zu lieben meint, doch nun werden die Vorwürfe »auf das eigene Ich gewälzt« (ebd.: 202). Aus diesem Indiz wagt Freud seine entscheidende Schlussfolgerung, dass es zu einer ›Identifizierung‹ des Individuums mit dem Objekt gekommen ist, das zuvor aufgegeben werden musste. »Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie das verlassene Objekt, beurteilt werden konnte. Auf diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ichverlust verwandelt, der Konflikt zwischen dem Ich und der geliebten Person in einen Zwiespalt zwischen der Ichkritik und dem durch Identifizierung veränderten Ich.« (Ebd.: 203)

Diese eigenartige Verdoppelung des Ichs, durch die sich das Ich zugleich auch »verliert« bringt jene »besondere Instanz« hervor, die nun das Ich – welches aber nicht mit sich selbst identisch geblieben ist – zum Objekt nehmen kann und die Freud mit dem Namen »Über-Ich« (Freud 1975 [1923]: 301) versieht. Aber die Verdoppelung des Ichs führt zu einem bemerkenswerten Verwirrspiel. Es bleibt nämlich nicht restlos geklärt, welches der Ichs nun zur strafenden Instanz aufsteigt, die den anderen Selbst-Anteil zum Objekt nimmt. In »Trauer und Melancholie« (1917) scheint es eindeutig das verlorene Liebesobjekt zu sein, das im seelischen Apparat durch Identifizierung neuerlich errichtet wird und gegen das sich die erhobenen Anklagen und Aggressionen richten. In »Das Ich und das Es« (1923) kehrt Freud das Verhältnis um, ohne explizit darauf hinzudeuten. War es zuvor noch Ziel dieser Verwandlung, dass das Ich seine Beziehung zu einem Objekt

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nicht aufgeben muss, nimmt in Freuds neuem Denkansatz ein Teil des Ichs die Eigenschaften des Liebesobjektes an, um sich dem Es als Ersatzobjekt anzubieten. Doch mit der Verinnerlichung dieser (konfliktträchtigen) Beziehung, die sich nun zwischen Es und Über-Ich fortsetzen könnte, ist es für Freud diesmal nicht getan, denn das Über-Ich »ist nicht einfach ein Residuum der ersten Objektwahlen (des Es), sondern es hat auch die Bedeutung einer energischen Reaktionsbildung gegen die selben« (ebd.). Eine Reaktionsbildung ist allerdings ein Abwehrmechanismus, der sich darin äußert, dass ein starker Wunsch, etwa nach einer lustbesetzten Handlung (das berühmteste Beispiel ist der Wunsch des Kindes mit seinen eigenen Exkrementen zu spielen) in sein absolutes Gegenteil verkehrt wird (im genannten Beispiel wird der Gedanke an die Handlung statt mit Lust nun mit Ekel besetzt). Auf ein introjeziertes Liebesobjekt bezogen hieße das aber, dass auch das Liebesobjekt nicht unverändert Eingang in die Ich-Struktur gefunden hat. Anstatt die verlorene Liebesbeziehung in Zufriedenheit zu perpetuieren, sabotiert es sie. Während im einen Fall Reaktionsbildung die Verwandlung von Lust in Ekel bedeutet, bezeichnet sie hier die Transformation von Objektwahl in ›Identifikationspflicht‹. Damit kommt es zu einer entscheidenden Verschiebung in Freuds Erklärungsansatz: Denn nun wird nicht mehr angenommen, dass ein getreues Abbild des geliebten Objekts einverleibt wird. Stattdessen nehmen die Reaktionen auf den Verlust, die Affekte, mit denen die Psyche auf die Verletzung reagiert, also Hass, Zorn, Wut etc. (vgl. auch A. Freud 1991) im Über-Ich Gestalt an. Das Über-Ich ist »die vom Verlust verursachte Aggression« (Butler 1994: 177), die dem Ich nun als Introjekt entgegentritt. Mit anderen Worten: In dieser ›Identifizierung‹ verleibt sich das Ich gar nicht das Liebesobjekt ein, sondern die Aggressionen mit denen (vom Es) auf den Verlust des Objekts reagiert wurde.1 Die Introjektion selbst geht aber wiederum vom Ich aus, wie A. Anna Freud (1991) an einem Fallbeispiel illustriert: »Das Ich des Mädchens setzt jetzt einen […] Mechanismus in Tätigkeit. Es wendet den Haß, der bis dahin ausschließlich der Außenwelt galt, gegen die eigene Person. […] Für den Anschein von außen her ist sie seit Inkrafttreten dieser Abwehrtechnik masochistisch geworden.« (Ebd.: 37) Die wirkliche Pointe des melancholischen Identifikationsprozesses liegt aber darin, dass durch diesen Mechanismus es möglich zu werden scheint das Liebesobjekt loszulassen, während das Bedürfnis erfüllt zu werden verspricht an der »Liebe zum Objekt« festhalten zu können (Freud 1917: 205). »Die Liebe hat sich so durch ihre Flucht ins Ich der Aufhebung entzogen« (ebd. S. 210), resümiert Freud noch in »Trauer und Melancholie« (1917). Die Liebe, nicht das geliebte Objekt! Und auch nicht das einst liebende Subjekt! Schließlich existiert jenes Ich, das diese Liebe nicht aufgeben kann, nicht länger, und zwar aufgrund des ›Ichverlusts‹, 1 | Hier auf diese Weise mit Freuds Instanzen zu argumentieren ist hier insofern irreführend, weil diese Instanzen überhaupt erst aus diesem Prozess hervorgehen. Besser gesagt: Sie sind der Prozess!

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den der Identifizierungsprozess bedingt, weil bei ihm das Objekt »beginnt […] mit dem Ich zusammenzufallen« (Butler 1994: 170). Doch selbst diese Liebe, dieses Beziehungsverhältnis, existiert nur noch in jener Form, in der auf das Ende ihrer Lebbarkeit geantwortet wurde: Im nach innen verlagerten Konflikt zwischen Introjekt und Ich – der für andere Menschen etwa als Selbstvorwürfe oder als Minderwertigkeitsgefühle bemerkbar wird – perpetuiert sich so die Verlusterfahrung – und wir so zu Gedächtnis.2 Verlusterfahrungen führen also unweigerlich zu teilweisen Identifizierungen (wenn man Erfahrungen überhaupt von Identifizierungen unterscheiden kann), unabhängig davon, ob nun mit Trauer oder Melancholie auf sie reagiert wird. »Es ist nicht so, also ob hier auf dieser Seite ein ›Ich‹ unabhängig existiert und dann schlicht ein ›Du‹ als Gegenüber verliert«, schreibt Butler (2005: 36), als sie in »Gewalt, Trauer, Politik« das Thema erneut aufgreift, »besonders dann nicht, wenn die Zuneigung zu dem ›Du‹ ein Teil von dem ausmacht, wer ›ich‹ bin« (ebd.).3 Verluste und Verletzungen verändern uns. Sie leiten Prozesse der ›Verwandlung‹ ein, ohne dass im vornhinein absehbar wäre, wie sie verlaufen werden. Melancholie steht in Butlers Lesart von Freud für den ›Verlust von Möglichkeiten‹ und zwar paradoxer Weise deshalb, weil sie die Unmöglichkeit verleugnet mit sich selbst identisch zu bleiben. In dem von ihr gewählten Focus bezieht sich das auf Möglichkeiten des Begehrens, aber auch auf Möglichkeiten, Identifikationen mit anderen Menschen (die nicht dem gleichen Geschlecht zugeordnet werden) zu leben. Im melancholischen Agieren werden diese Identifikationen sowie die 2 | An dieser Stelle tun sich Anknüpfungsmöglichkeiten zu Eve Kosofsky Sedgwicks Überlegungen auf, die sie zur ›Formulierung des Perfomativen‹ beim Ausruf »Shame on you« (Sedgwick 2005: 18) angestellt hat. Auf eine m.E. zu spekulative Weise, aber dennoch sehr interessant, bemerkt sie dazu: »Die Abwesenheit eines expliziten Verbs zeigt den Ort an, an dem ein Ich, während es Scham verleiht, sich selbst und seine Handlungsfähigkeit auslöscht. Der Wunsch nach Selbstauslöschung ist natürlich die definitife Eigenschaft von – na was? – Scham. Also markiert die grammatikalische Verkürzung von ›Shame on you‹ den Satz als das Produkt einer Geschichte, von der aus ein Ich, das sich mitlerweile entzogen hat, Scham auf ein anderes Ich projeziert – ein verschobenes Ich […]« (ebd.). 3 | Butler macht hier ihren Bezug auf Hegels »Phänomenologie des Geistes« (1988) nicht explizit, spricht aber ganz deutlich von dem, was sie in »Antigones Verlangen« (2001) schon als »Drama der wechselseitigen Anerkennung« bei Hegel beschrieben hat, »wenn ein Bewußtsein erkennt, daß es verloren ist, daß es sich als der andere, ja im anderen findet. Somit beginnt die Anerkennung mit der Einsicht, daß man sich im anderen verloren hat, daß man in und durch eine Andersheit aufgenommen ist, die man selber ist und zugleich nicht ist, und die Anerkennung geht auf das Begehren zurück, sich dort gespiegelt zu finden, wo die Widerspiegelung keine endgültige Enteignung ist. Tatsächlich will das Bewusstsein sich wiederfinden, aber es muß erkennen, daß es aus der Andersheit keine Rückkehr mehr zu einem früheren Selbst, sondern, gerade wegen der Unmöglichkeit der Rückkehr, bloß eine Verwandlung geben kann.« (Ebd.: 32)

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ihnen zugrundeliegenden Verlusterfahrungen verleugnet und auf diese Weise ver-un-möglicht. Ex negativo weist Butler damit auch auf eine Denkrichtung hin, der man folgen kann, um besser zu verstehen was es mit Trauer auf sich hat: Das Trauern, so vermutet sie, wäre dann vielleicht eine Art Einsicht oder eine Akzeptanz dieses Veränderungsprozesses (vgl. Butler 2010; dies. 2005: 38). Und wieder klingt es paradox, dass eben in dieser Akzeptanz die Eröffnung von Möglichkeiten liegen soll. Dieser vagen Weganweisung möchte ich ein Stück weit nachgehen und dabei untersuchen, wie sich ›Trauer‹ mit dem philosophischen Begriff des ›Anfangs‹ bei Wilhelm Berger verbinden lässt. Denn dieses mühevolle Trauern scheint in bemerkenswerte Nähe zu jener ›Lücke‹ zwischen Vergangenheit und Zukunft zu stehen, die sich laut Arendt (1998) das ›Denken‹ erkämpft und von der Machart (2005) meint, sie kennzeichne viel besser das Wesen ›politischen Handelns‹.

D ER B EGRIFF DES A NFANGS Anfangen bezeichnet, mit Berger (2008) gesprochen, den »Bruch mit der Notwendigkeit« (ebd.: 74), also das radikale Gegenteil von Determiniertheit. In der »Kritik der Reinen Vernunft« verwendet Kant (1995) dafür den Begriff der »absoluten Spontanität« (ebd.: 4284), oder auch den der ›Freiheit‹, gedacht als »ein Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben, schlechthin anzufangen (ebd.: 4295). Und auch bei Arendt (1963) liegt das Wesen des Anfangens darin, dass es »außerhalb der Kausalitätskette« (ebd.: 265) positioniert ist, dass es sich keinesfalls in der Logik von Ursache und Wirkung zurückführen lässt auf die Summe all dessen, was zuvor existierte. Deshalb, so Arendt, ist es im Moment des Anfangens so »als ob die Zeitfolge überhaupt verschwunden wäre, beziehungsweise, als ob man selbst aus der kontinuierlichen Zeitordnung herausgetreten sei« (ebd.). Allerdings betont Arendt an anderer Stelle (1998), dass diese zeitliche Lücke ausschließlich im Denken (und durch Denken) stattfinden könne. Sie weist nachdrücklich darauf hin, dass dieser Gegenwartsmoment, dieser Augenblick nicht Teil des alltäglichen Lebens sein kann, also jener Welt, in der Menschen handeln. Machart (2005) arbeitet diesen Aspekt ihrer Argumentation detailliert heraus und bemerkt kritisch: »[D]enn Handeln findet für sie nicht an einem zeitlosen Ort statt, sondern greift, da es ja ein Neubeginn in die Welt setzt, in die Zukunft und hält sie offen, während Denken im ›stehenden Augenblick‹ des nunc stans verweilt.« (Ebd.: 52) In dieser Unterscheidung zwischen Denken und Handeln bezieht sie sich auf eine »Idee von der Überlegenheit der kontempla-

4 | |B 474 |A 446. 5 | |B 475 |A 447.

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tiven Lebensweise«, wie Arendt sie in einer Parabel von Pythagoras wiederfindet. Ich zitiere nach Arendt (1982): »Das Leben … ist wie ein Festspiel; zu einem solchen kommen manche Wettkämpfer, andere, um ihrem Gewerbe nachzugehen, doch die Besten kommen als Zuschauer [theatai], und genau so ist es im Leben: die kleinen Naturen jagen dem Ruhm [doxa] oder dem Gewinn nach, die Philosophen aber der Wahrheit.« (Ebd.: 75)

Die Zuschauenden, so dechiffriert Arendt die Parabel, stehen in einem anderen Verhältnis zum Geschehen als die Handelnden. Denn wer handelt, strebt nach Ruhm und ist deshalb davon abhängig, was für eine Meinung die Zuschauenden von ihm oder ihr haben. Und das bedeutet, laut Arendt: »[E]r ist nicht autonom (in Kants Sprache); er beträgt sich nicht gemäß einer angeborenen Stimme der Vernunft, sondern im Einklang mit dem, was der Zuschauer von ihm verlangen möge. Der Maßstab ist der Zuschauer.« (Ebd.:76) Mit anderen Worten: Handeln und Denken (womit die kantsche Urteilskraft angesprochen ist) schließen sich in dieser Logik gegenseitig aus: Wer handelt, ist zwar vielleicht frei Anfänge zu setzen, kann sein eigenes Tun aber letztlich nicht begreifen und überblickt nicht einmal die eigenen Beweggründe noch die Folgen der eigenen Handlungen. Wem es aber gelingt sich durch Denken aus diesem Gedränge zwischen Vergangenheit und Zukunft zu befreien, büßt für diesen Moment seine Handlungsfähigkeit ein. Es ist die Position der Richtenden, derjenigen, die sich aus dem Geschehen herausnehmen und nach einem unparteiischen Standpunkt streben. Das gelingt durch Denken (nicht Philosophieren wohlgemerkt), und zwar deswegen, weil Denken die Eigenschaft hat zu verallgemeinern, so Arendt. Machart möchte Arendt aber in diesem Punkt nicht folgen, jedenfalls nicht, wenn es darum geht zu begreifen was diese Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft, dieses »Schlachtfeld«, wie es Arendt (2008: 200) auch ein paarmal nennt, offen hält. Dies sei nicht das Denken, sondern zweifellos das politische Handeln, so Machart und verweist auf Walter Benjamins Begriff der ›Jetztzeit‹, jenem Moment »der Aufsprengung des historischen Kontinuums durch die revolutionäre Aktion […], [der] zum Stillstand der Zeit oder zum Wunsch der revolutionären Klassen nach einer Stillsetzung der Zeit« führt (Machart 2005: 55).

I DENTIFIZIERUNG UND G ESCHICHTE — B ENJAMINS J E T Z T ZEIT Laut Gagnebin (2011) unterscheidet Benjamin zwischen Überlieferung und Vergegenwärtigung, wobei Überlieferung eine Form des Erinnerns bezeichnet, die sich in der Gegenwart ereignet. Oder um Benjamins Allegorie zu verwenden: »wie sie im Augenblick einer Gefahr auf blitzt« (Benjamin 1974: 695). Diese Erinnerung, die Vergangenes und Gegenwart in ein Spannungsverhältnis zueinander setzt, weil sie das eine im anderen erkennt, besitzt die Fähigkeit, sowohl dieses ›Jetzt‹

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als auch jenes ›Früher‹ verändert wahrzunehmen. Das gelingt ihr, so Gagnebin, nur deshalb, weil in der Überlieferung die »Distanz zwischen Vergangenheit und Zukunft« (Gagnebin 2011: 287) anerkannt wird. Und genau dieses Element der Anerkennung fehlt dem konformistischen Umgang mit Vergangenem, der meint, es ginge darum »zu erkennen, ›wie es denn eigentlich gewesen ist‹« (Benjamin 1974: 695). Denn anstatt diese Spannung zwischen Gegenwart und Vergangenem auszuhalten und sein Potenzial zu begreifen, meint positivistischer Historismus, diesen Abstand um der Erkenntnis willen ungeschehen machen zu können und zu müssen, indem er Vergangenes vergegenwärtigt. Dabei bemerkt er aber nicht, dass es sich bei diesem »Verfahren der Einfühlung« (ebd.: 696), wie Benjamin es nennt, um eine Form der (projektiven) Identifizierung6 handelt. Eine Geschichtsschreibung, die gar nicht anders kann als sich »in den Sieger« (ebd.) einzufühlen. Diese Identifizierung sei, so Benjamin, die »Natur« einer ganz spezifischen »Traurigkeit« (ebd.). Von der ich annehme, dass sie auch ›Melancholie‹ genannt werden kann, insofern Benjamin hier, fast im Vorbeigehen, etwas Wichtiges bemerkt: Dass nämlich nicht nur Verletzung und Verlust zu Identifizierungen führen, sondern das Identifikationsprozesse (d.h. Veränderungen dessen was ich bin) grundlegend von einem Gefühl der Traurigkeit begleitet werden. Benjamin sucht nach einer Alternative, nach etwas, das er dieser Vergegenwärtigung, dieser Identifizierung mit den Herrschenden und ihrem Historismus, der sich bemüht »einen Kausalnexus von verschiedenen Momenten der Geschichte zu etablieren« (ebd.: 704), entgegenhalten kann. Sein Gegenentwurf Geschichte zu denken, führt ihn zum Begriff der ›Jetztzeit‹, mit dem er diese Vorstellung der Gegenwart benennt. Anstatt einem linearen Verlauf einer universell gültigen Geschichte, die aus dem ›Unendlichen der Vergangenheit‹ als deduktive Abfolge von Ursachen daherkommt, die Wirkungen nach sich ziehen, welche ihrerseits wiederum Ursachen für kommende Wirkungen werden, sieht er in der Vergangenheit einen einzigen, permanenten »Ausnahmezustand« (ebd.: 697). Auch deshalb unterscheidet sich das Verständnis von Erinnerung im Sinne der Überlieferung von althergebrachten Erinnerungskonzepten. Denn im Gegensatz zu ihnen weist es deutlich die Züge der freudschen Konzeption von Gedächtnis auf, wie Gagnebin betont, und verlangt »eine radikale Änderung der Subjektkonzeption« (Gagnebin 2011: 291). »Das Subjekt wird nicht mehr primär durch seine bewussten, absichtlichen und autonomen Handlungen definiert, sondern ebenso durch eine Art passives Vermögen, durch Empfänglichkeit und Aufnahmefähigkeit, […] die nun jedoch nicht negativ im Sinne von willenloser Trägheit, sondern positiv als aufmerksame Offenheit interpretiert wird.« (Ebd.)

6 | Die m.E. Freuds Model einer ›Identifizierung mit dem Angreifer‹ (1975 [1921]) weitestgehend entspricht.

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Diese Art des Erinnerungsprozesses ermöglicht aber eben nicht Vergangenes wiederzuerleben, sondern – weil sich im Gegenwärtigen das Vergangene versplittert zu erkennen gibt – sie erlaubt, die Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart ganz neu zu setzen. Und durch eben diese Fähigkeit ist sie in der Lage, die Kausalketten eines universalistischen Historismus aufzusprengen. Meiner Ansicht nach spiegelt sich in Benjamins Differenzierung dieser zwei Geschichte konstituierenden Prozesse auch die freudsche Unterscheidung von Trauer und Melancholie wieder, wie sie Butler erneut nutzbar macht: Die Strategie der ›Einfühlung‹ des Historismus verleugnet die Möglichkeit des Anfangens, also des Werdens an sich. Obwohl vermeintlich nach Identifikation mit der Vergangenheit gestrebt wird, negiert der Vergegenwärtigungsversuch, dass die Identifikation immer schon stattgefunden hat. Die Anerkennung dieser Veränderung gelingt nur dann, wenn man sich die Mühe antut, im Gegenwärtigen das Vergangene ›aufblitzen›‹ zu sehen. Wenn das gelingt, gilt auch hier was Butler gesagt hat: Dass es kein (von der Vergangenheit) unabhängiges Ich in der Gegenwart gibt und auch kein vergangenes Du. Die Gegenwart ist dann auch kein Zustand, der nach Regeln aus einem vergangenen Zustand hervorgegangen ist, denn Vergangenheit und Gegenwart existieren und begegnen sich in der ›Jetztzeit‹. Ich glaube Benjamin streift hier einen zentralen Aspekt, dem sich auch Berger (1992) bei seiner Auseinandersetzung mit Freuds Gedächtnis-Model gewidmet hat. Es geht ja um die heikle Frage, wie es denn möglich sein soll, dass sich Vergangenes und Gegenwärtiges ›begegnen‹ und miteinander in Beziehung treten, wo doch ein »Späteres […] aus dem Früheren hervor[gegangen]« ist (ebd.: 209). Und genau vor diesem Problem steht die Psychoanalyse angesichts der beschriebenen Identifikationsabläufe, aus denen die seelischen Instanzen Ich und ÜberIch hervorgehen. Freud nimmt deshalb an, so Berger, dass das ›Ursprüngliche‹, nämlich das Es »neben dem Späteren, das aus ihm geworden ist [das Ich]« (Freud 1930: 200) weiterexistiert. Doch damit hat Freud das Paradoxon nicht aus der Welt geschafft. Benjamin steht, wie ich annehme, an genau dem gleichen Punkt, zieht aber die logische Konsequenz, indem er die Zeit anhält. Warum sich dieses Phänomen scheinbar nicht mit der zeitlichen Ordnung (also der Kausalität) in Einklang bringen lässt, deutet Castoriadis (1990: 294) an, wenn er bemerkt: »[D]ie Kausalität leugnet die Veränderung, insofern sie eine doppelte Identität behauptet«. Denn wenn das eine, die Wirkung völlig auf das andere, dessen Ursache, zurückzuführen ist, dann ist die Ursache mit der Wirkung letztlich identisch, und dann ist letztlich »bereits alles entschieden« (Berger 2012: 60). Den Grundstein für diese Art sich die Welt vorzustellen findet Berger (2008) in Aristoteles’ Identitätslogik und deren zentralen »Satz vom Widerspruch«. Denn mit diesem Satz, diesem Axiom, wird festgelegt, dass es nicht möglich sein kann, »dass dasselbe demselben in der selben Beziehung zugleich zukomme und nicht zukomme« (Aristoteles 1994: 104). Anders formuliert: Indem festgelegt wird, dass jedes etwas als mit sich selbst identisch gedacht werden muss – komme was da wolle –, wird die Möglichkeit des Anfangs in diesem Verständnis von Welt von

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vorneherein ausgeschlossen. Doch weil ohne die Möglichkeit etwas anzufangen so etwas wie ›echtes Werden‹ gar nicht möglich ist, kann Berger (2012) sagen: »Der Satz von der Identität ist Eliminierung von Zeit.« (Ebd.: 61) Das Gefühl, das Arendt beschreibt, es sei als ob man außerhalb der Zeitfolge stünde, täuscht also, denn es verhält sich genau umgekehrt. Erst durch die Möglichkeit des Anfangens und damit durch das Werden ist es auch gerechtfertigt von Zeit zu sprechen. Angefangen wird aber dort wo es Brüche im Kontinuum determinierter Abfolgen gibt, also in der krisis, und diese Ordnung muss dafür zum Stillstand gebracht werden. Eine Einsicht, die Benjamin zufolge im Zerschießen der Turmuhren während der Juli-Revolution 1830 ihre Allegorie fand (Benjamin 1974: 702).7 »Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist sondern in der Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht verzichten. Denn dieser Begriff definiert eben die Gegenwart, in der er für seine Person Geschichte schreibt. […] Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen.« (Ebd.)

R ELE VANZ FÜR DIE Q UEER -THEORIEN Die Relevanz des Anfangs in den Queer-Theorien ist augenscheinlich, auch wenn sie hier vielleicht recht klausuliert erscheinen mag. Die Problemstellungen der Anforderungen und Zwänge, wie sie von Geschlechtsidentitäten und Geschlechterkategorien ausgehen, haben ihren Ursprung in diesen Grundregeln des abendländischen Denkens, sprich in dem logischen Gebot ›mit sich selbst über die Zeit hinweg stets identisch bleiben zu müssen‹, um als Person Anerkennung finden zu können (vgl. Gerhardt 1999: 286). Butler (2004) erzählt in einem Interview, wie sie diesen Identitätsstiftenden Prozess als Jugendliche erlebte: »Ich sah mich selbst nicht als heterosexuell oder homosexuell. Aber als ich mich mit vierzehn heftiger in ein, oder zwei junge Mädchen verliebte, stellte ich fest, dass es dafür ein Wort gab. Aber es war ein trauriger Moment, als mir dieser Begriff begegnete. Denn als ich auf das Wort ›lesbisch‹ stieß und mich fragte, ob das wohl ›lesbisch‹ ist, war das auch der 7 | Es verwundert, dass die Rezeption von Benjamins Beispiel der zerstörten Uhren in der Revolution scheinbar bislang nirgends mit jenem Trauerritus in Verbindung gebracht wurde die Uhren anzuhalten, wie er vielleicht auch erst durch Audens »Funeral Blues« (1936) berühmt oder üblich geworden ist: »Stop all the clocks, cut off the telephone,/Prevent the dog from barking with a juicy bone,/Silence the pianos and with muffled drum/Bring out the coffin, let the mourners come.« (Auden 1936, zit. nach Kampling 2011) Denn auch die intensive Trauer unterbricht und bringt das Kontinuum zum Stillstand. Und gerade dadurch bedroht sie ganz real die bestehende Ordnung – weshalb sie oft staatlich streng reglementiert wird (vgl. Loraux 1990).

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen Moment, in dem das gesellschaftliche Stigma in mein Denken eintrat. Ich empfand das Wort als Verurteilung. Und ich fürchtete mich davor: ›Ist es das, was mich ausmacht? Ist das der Name für meine Leidenschaft? Bin ich dadurch zu gesellschaftlicher Ächtung verdammt? Wird es meine Leidenschaft zerstören?«. (Butler 2004)

Queeres Denken sucht bekanntlich nach Wegen, diese gesellschaftlichen Zwänge der Identitätsfestlegung zu überwinden (vgl. u.a. Perko 2005; Kleve 2004). Deshalb ist ein Standpunkt, an dem es sich auch politisch situieren kann, der des ›Übergangs‹, wie ihn Berger beschreibt und den Butler als ›Werden‹ bezeichnet. Also jenem Moment der Entscheidung, an dem dieselbe noch aussteht und wo man im arendtschen Sinne nur durch Kontemplation, also durch Denken innehalten kann, was aber, wie schon gesagt, die Möglichkeit zu Handeln wiederum ausschließe. Darüber hinaus bedeutet Handeln nichts anderes als Entscheidungen zu fällen, also »Unentschiedenheit in Entschiedenheit« zu überführen (Berger 2012: 64). Die Brüche in kausalen Linearitäten, in denen sich queere Interventionen verorten können, würden also durch dieses Konzept des Handelns eben nicht offen gehalten, sondern geschlossen. Allerdings, so entgegnet Berger, setzt Handeln nicht nur an diesen Brüchen der Kontinuität an, um sie zu überwinden, sondern es schafft und vervielfacht zugleich die Brüche im Kontinuum. »Die Welt dieses Handelns könnte als sich selbst komplizierende Prozessualität gedacht werden.« (Ebd.) Trauen ist insofern eine besondere Form der Bewegung, weil sie sich nicht so recht in die arendtschen Kategorien des Handelns oder Denkens einordnen lässt – und schon gar nicht in jene des Herstellens oder der Arbeit8 (vgl. Arendt 2010). Das Trauern ist jene Aktivität (oder eine von mehreren), die den kausalen Bruch offenhält und eben dadurch handelt. Anders gesagt: Sie ist das Brechen mit der Kausalität. Ganz im Sinne von Benjamins Begriff der ›Überlieferung‹ ereignet sie sich als Jetztzeit. Jenes Auf blitzen im ›Augenblick der Gefahr‹, als das sie in der genealogischen Ideologie noch die Grenzen der Wahrnehmbarkeit hier und da erreicht, ist ihre gegenwärtige Veränderung.9 Es wäre aber fatal daraus zu folgern, dass das auch bedeuten muss, sich den aufgezwungenen Identifizierungen zu widersetzen oder zu versuchen sie ungeschehen zu machen. Auf Butlers biografisches Beispiel angewandt hieße das dann, den Zustand ursprünglicher Liebe wiederherstellen zu wollen. An solchen 8 | Insofern geht der Begriff der ›Trauerarbeit‹ eindeutig in die falsche Richtung. Einen Gedanken, den ebenfalls Wilhelm Berger in einem Gespräch angeregt hat. 9 | Hier gibt es einige Überschneidungen zu den Denkansätzen von Halberstam (2005), wenn sie schreibt: »Queer Time, as it flashes into view in the heart of crisis, exploits the potential of what Charles-Pierre Baudelaire called in relation to modernism ›The transient, the fleeting, the contingent‹« (ebd.: 2). Allerdings sind meine und ihre Überlegungen auch nicht ohne weiteres kompatibel, weswegen ich an dieser Stelle keine weiteren Vergleiche anstellen möchte.

J. Guggenheimer: Trauernde Identifizierungen

Versuchen festzuhalten bedeutet aber gerade zu übersehen, dass das Frühere (hier die frühere Liebe) im Späteren und neben dem Späteren weiterexistiert (vgl. Berger 1992: 205). Und eben dieser Prozess sich der ›Differenz in der Zeit‹, wie es Berger nennt, zu stellen (und sich ihrer bewusst zu werden), ist es, was Butler zur Folge Trauer auszeichnet. So lässt sich, auf Ernst Bloch (2010) Bezug nehmend, folgern: Wo Trauer ist, da – und nur da – ist auch Hoffnung. In der Melancholie fehlt aber beides, Trauer und Hoffnung, weil sie versucht, den Verlust ungeschehen zu machen, verleugnet sie die Veränderbarkeit an sich. Wenn aber alles unveränderbar, unabwendbar ist, dann ist auch gar nichts anderes möglich, d.h. auch nichts anderes denkbar als das, was bereits ist. Und alles was ist, ist notwendigerweise ewig. Umgekehrt weist die Trauer genau auf diese radikale Veränderbarkeit hin. Sie kann nur dort auftreten, wo etwas verloren ging, wo ein Verlust auftritt, der nicht unabwendbar war.10 In der Trauer wird so schmerzlich klar: »Es hätte auch anders kommen können.« Sie macht es nötig bzw. zwingt dazu die Möglichkeit zu denken, dass es auch anders hätte sein können – insofern macht sie das ›Unmögliche‹ denkbar und transformiert es in den Bereich der Kontingenz, d.h. ins Denk-Mögliche. Wo aber unmöglich Geglaubtes mit einem Mal (wieder) möglich und erreichbar erscheint, da ist – so verstehe ich Bloch – auch Anlass zu Hoffen und somit zu Tatendrang.

L ITER ATUR Arendt, Hannah (1963): Über die Revolution, München: Piper. Arendt, Hannah (1998): Vom Leben des Geistes, München Zürich: Piper. Arendt, Hannah (1982): Das Urteilen – Texte zu Kants Politischer Philosophie, München/Zürich: Piper. Arendt, Hannah (2008): Vom Leben des Geistes. Das Denken – Das Wollen, München: Piper. Arendt, Hannah (2010): Vita activa oder vom tätigen Leben, München: Piper. 10 | Insofern möchte ich Bultlers Gedanken zur Betrauerbarkeit einen weiteren Aspekt zur Seite stellen und deutlich machen, dass sich ihre Argumentation auch umkehren lässt. Sie schreibt: »Eben weil ein lebendiges Wesen sterben kann, muss man sich um es kümmern, wenn es überleben soll. Nur in Verhältnissen, in denen sein Tod von Bedeutung ist, kann der Wert dieses Lebens zutage treten. Betrauerbarkeit ist somit Voraussetzung dafür, dass es auf ein bestimmtes Leben ankommen kann. […] Ohne Betrauerbarkeit gibt es kein Leben: Wer nicht betrauerbar ist, lebt außerhalb des Lebens.« (Butler 2010: 22) Während es also bei Butler die permanente Möglichkeit ist, die sich im Wesen der Sterblichkeit (auch im Sinne eines stetig drohenden sozialen Todes) zeigt, die den Bruch in der Kontinuität offen hält, ist es beim Trauerprozess die Abwendbarkeit des Verlusts, die im Bereich der Kontingenz erhalten bleibt.

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen

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J. Guggenheimer: Trauernde Identifizierungen

Freud, Sigmund (1975 [1923]): »Das Ich und das Es«. In: In: Sigmund Freud, Psychologie des Unbewußten, Studienausgabe Bd. 3, hg. von Alexander Mitscherlich, James Strachey, Angela Richards, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 193-212. Gagnebin, Jeanne Marie (2011): »Über den Begriff der Geschichte«. In: Burkhardt Lindner (Hg.), Benjamin-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Metzler. Gerhardt, Volker (1999): Selbstbestimmung – Das Prinzip der Individualität, Stuttgart: Reclam. Halberstam, Judith (2005): In a Queer Time and Place – Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York University Press Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1988): Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner. Kampling, Rainer (2011): Über das Anhalten aller Uhren – Warum Trauerriten verloren gehen, http://www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/2008_01/08__01_kampling/index.html von 01.09.2011. Kant, Immanuel (1995): Kritik der Reinen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kleve, Heiko (2004): »Das Nicht-Identische denken: Queer im Kontext radikaler Theoriebildung«. In: Gudrun Perko/Leah Carolla Czollek (Hg.), Lust am Denken – Queeres jenseits kultureller Verortungen, Köln: PapyRossa. Loraux, Nicole (1990): Die Trauer der Mütter – Weibliche Leidenschaft und die Gesetze der Politik, Frankfurt/New York: Campus. Machart, Oliver (2005): Neu beginnen – Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Wien: Turia & Kant. Perko, Gudrun (2005): Queer-Theorien – Ethische, politische und logische Dimensionen plural-queeren Dnekens, Köln: PapyRossa. Sedgwick, Eve Kosofsky (2005): »Queere Performativität. Henry James’ ›The Art of the Novel‹«. In: Matthias Haase (Hg.): Outside. Die Politik queerer Räume. Berlin: B_Books.

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Kapitel 2 Remember Me! Nur was erinnert wird ist anerkannt — und umgekehrt? – Zur

Einleitung

Kirstin Mertlitsch »Was könnte es bedeuten, mit der Beunruhigung durch diese Herausforderung leben zu lernen – zu spüren, wie sich die Sicherheit der eigenen epistemologischen und ontologischen Verankerung verflüchtigt und gleichwohl im Namen des Menschlichen den Willen aufzubringen, dem Menschlichen zuzubilligen, etwas anderes zu werden als das, für was man es traditionellerweise hält.« (B UTLER 2009: 63)

Die Beiträge dieses Kapitels verbindet, dass sie nicht-erinnerte und verschwiegene Narrative von marginalisierten Gruppen thematisieren und in dieser Auseinandersetzung Geschichte neu und anders schreiben. Sie befassen sich mit Themen geschlechtlicher, sexueller und ethnischer Diskriminierung und zeigen (oft auf dramatische Weise), was es bedeutet, eine ›verworfene‹ Subjektposition im gesellschaftspolitischen Alltag zugewiesen zu bekommen, und mit welchen Schwierigkeiten, aber auch Erfolgen der Kampf um persönliche und gesellschaftliche Anerkennung verlaufen kann. Die Texte des Forschungskollektivs Elisabeth Koch, Manuela Saringer, Rosemarie Schöffmann und Viktorija Ratković untersuchen die ungeschriebenen Frauen-Geschichten von Gastarbeiterinnen in Kärnten. Cornelia Hippmann beschäftigt sich mit den nicht-erinnerten Ein- und Aufstiegsmöglichkeiten von ostdeutschen Politikerinnen nach der Wendezeit im wiedervereinten Deutschland. Martin Gössl zeichnet den Verlauf des Gleichstellungsprozesses von schwul-lesbischen Menschen (anhand des parlamentarischen Diskurses) nach und Persson Perry Baumgartinger jenen der Trans*Bewegung in Österreich. Mit Judith Butler gesprochen gelten die hier beschriebenen gesellschaftliche (Nicht-)Positionen von Gastarbeiterinnen, (ostdeutschen) Politikerinnen, Schwu-

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len, Lesben und Trans* – beinahe bis zur Gegenwart – als »verworfen«, weil sie sozusagen das konstitutive »Außen« von normierten gesellschaftlich anerkannten Subjekten bilden: »Das Verworfene (the abject) bezeichnet hier genau jene ›nicht lebbaren‹ und ›unbewohnbaren‹ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben im Zeichen des ›Nicht-Lebbaren‹ jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen.« (Butler 1997: 23) Besonders plastisch beschreibt eine Interviewpartner_in von Baumgartinger was verworfene oder nichtlebbare Subjektpositionen etwa für Trans* bedeuten konnte: »[…] in ein Geschäft zu gehen und was zu kaufen oder so – das hat zum Teil bis zu Polizeieinsätzen geführt. Ich weiß einen Fall, wo wirklich Polizei gekommen ist, weil jemand sich irgendwelche Frauenkleider kaufen wollte. Da war gerade ein gefährlicher Sexualtäter aus dem Zuchthaus Stein entkommen, und die Boulevardtageszeitung ›Kronen Zeitung– hat dick darüber berichtet. Die Leute im Geschäft haben sich halt gedacht: ›Da ist ein Mann, der schaut sich irgendwelchen Frauenfummel an, das muss der Sexualtäter sein– und haben wirklich einen Riesen-Polizeieinsatz mit gezückten Pistolen ausgelöst ((lacht)). Solche Dinge hat es gegeben, die Sichtbarkeit nach außen war daher eine ständige Mutprobe und manchmal eine lebensgefährliche Farce.« (Gloria G.1 in: Verein ][diskursiv 2011: 38)

Das Ringen um gesellschaftliche Anerkennung bedeutet daher oft auf einer individuellen, politischen, rechtlichen und symbolischen Ebene die existenzielle Voraussetzung für ein (soziales) Über-Leben von Personen, die Gefahr laufen aus der Vorstellung des Menschlichen ausgeschlossen zu werden. An anderer Stelle schreibt Butler, dass das spinozistische Prinzip der Selbstbeharrung, d.h. in seinem Sein beharren zu können, stets ein Verlangen nach Anerkennung sei. Im eigenen Sein verharren zu können, sei nur unter der Bedingung möglich, im Anerkennungsprozess von Nehmen und Geben beteiligt zu sein, argumentiert Butler: »Wenn wir nicht anerkannt werden können, wenn es keine Normen der Anerkennung gibt, durch die wir anerkannt werden können, dann ist es nicht möglich, im eigenen Sein zu beharren, und wir sind keine möglichen Wesen mehr.« (Butler 2009: 57) Für die in den Texten beschriebenen geschlechtlich diskriminierten Personengruppen von Gastarbeiterinnen, Politikerinnen, Schwulen, Lesben und Trans* trifft das Anerkennungsproblem graduell unterschiedlich zu. Für alle gilt jedoch, dass sie gemessen an herkömmlichen Normen, die in analysierten deutschsprachigen Kontexten wirksam sind, aufgrund ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung und/oder ihrer ethnischen Zugehörig-

1 | Alle folgenden Zitate sind – wenn nicht anders angegeben – Ausschnitte aus den Interviews mit den Trans*Aktivist_innen Gloria G., Mark Willuhn und Heike Keusch aus dem Projekt »Where Have All The Trannies Gone…« (Verein ][diskursiv 2011). Die vollständigen Interviews sind im gleichnamigen Booklet unter www.diskursiv.at zu finden.

K. Mer tlitsch: Remember Me!

keit von diesen abweichen und damit keine oder zumindest keine angemessene gesellschaftliche Anerkennung erfahren. Dadurch wird deutlich, wie eng der Anerkennungsprozess mit Normen verbunden ist. Es bestehen Normen der Anerkennung und nur wer in diesen Bereich des ›Menschlichen‹ gezählt wird, wird als (lebensfähiger) Mensch ›erzeugt und aufrechterhalten‹. Normen fungieren als komplexe gesellschaftliche Konstrukte. Einerseits ermöglichen sie als Prinzipien und als Orientierung gemeinschaftliches Handeln und Sprechen, ohne die ein gesellschaftliches Gefüge nicht funktionieren könnte. Anderseits können Normen als Normalisierungsprozess wirksam werden, der bestimmte Werte zu Idealen erhebt (vgl. Butler 2009: 328). Genau mit diesem Doppelcharakter von Normen als gesellschaftliche Anerkennung beschäftigt sich Martin Gössl in seinem Beitrag. Die Geschichte der rechtlichen Gleichstellung schwul-lesbischer Menschen bezeichnet er als die »Kontinuität der Abnormität« und macht die Diskrepanz zwischen (rechtlichen) Normen der Anerkennung und den gleichzeitigen Ausschluss aus einem Normalisierungsprozess an unterschiedlichen Textstellen deutlich. 1971, als Schwule und Lesben in Österreich rechtlich anerkannt wurden, indem Homosexualität als Straf bestand aufgehoben wurde, kommentiert ein Parlamentarier diese Gesetzesreform, nach Gössl, folgendermaßen: »Unsere schon von der biologischen Grundlage her heterosexuell strukturierte Gesellschaft wird Homosexualität nach wie vor als sozial nicht wünschenswert und als widernatürlich empfinden. Das bleibt das Schicksal der Homosexuellen: ›daß er anders ist als die normale Mehrheit; dagegen kann kein Gesetz ihm helfen‹.« (Gössl, in diesem Band: Seite 144)

Der Ausschluss aus einer hegemonialen Geschichtsschreibung hängt ebenso mit einer geringen Wertschätzung bzw. einer fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung zusammen, wie die Beiträge des Forschungskollektivs Ratković/Koch/ Saringer/Schöffman und von Cornelia Hippmann zeigen. Das Phänomen der NichtRepräsentation von Frauen in der Geschichtsschreibung, hier insbesondere von Gastarbeiterinnen und ostdeutschen Politikerinnen, interpretiert das Gastarbeiterinnen-Forschungsteam mit Bezug auf Aleida und Jan Assman als Exklusion aus dem kulturellen Gedächtnis: »Durch alle sozialen Schichten hindurch bilden Frauen den anonymen Hintergrund, vor dem sich männlicher Ruhm leuchtend abhebt. Solange die Bedingungen für den Einlass ins kulturelle Gedächtnis heroische Größe und die Kanonisierung als Klassiker ist, fallen Frauen systematisch dem strukturellen Vergessen anheim. Es handelt sich dabei um den klassischen Fall struktureller Amnesie.« (Zit. nach Koch et al., in diesem Band: 113)

Alle vier Texte machen deutlich, wie existenziell öffentliche Anerkennungsprozesse aus der Sicht der Betroffenen sind und damit verbunden auch die Imagination eine ›eigene‹ Geschichte zu besitzen. Nur was erinnert (betrauerbar) wird,

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ist anerkannt. Erst die Erzählung der eigenen Geschichte macht dieser Selbstwahrnehmung nach jene Erinnerung möglich, die für die Subjektkonstitution unerlässlich erscheint. Geschichte und Erinnerung kann nicht vorschnell als bloße Form der Identitätspolitik im postmodernen Sinne abgetan werden, sondern deren Motive müssen in kritischer Auseinandersetzung ernst genommen werden und können dadurch eine komplexe, alternative Form von Gegen-Geschichtsschreibung ermöglichen. Diese haben das Potenzial mit der Logik der großen Erzählungen zu brechen, sich als Gegen-hegemoniale Narrative ins kulturelle Gedächtnis einzuschreiben und können damit auch Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit verändern.

L ITER ATUR Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Verein ][diskursiv (Hg.) (2011): Where Have All the Trannies Gone, Wien, http:// www.diskursiv.at vom 26.04.2013.

›Gastarbeiterinnen‹ 1 in Kärnten Im Spannungsfeld zwischen Erinnern und Vergessen Elisabeth Koch, Viktorija Ratković, Manuela Saringer, Rosemarie Schöffmann

Sowohl in der Wissenschaft als auch in Alltags- und Mediendiskursen gewinnt das Thema Migration immer mehr an Bedeutung. Aufgrund der zunehmenden geografischen Mobilität in den vergangenen Jahrzehnten gehen manche Forscher_innen gar so weit, von einem ›Age of Migration‹ zu sprechen. Allerdings wanderten Menschen seit jeher aus verschiedensten Gründen, beispielsweise auf der Suche nach Arbeit, einer Verbesserung ihrer Lebenssituation, nach Frieden etc. in andere Länder. Die Besonderheit des ›Gastarbeiter_innen‹-Phänomens der 1960er und 1970er Jahre, um das es in diesem Beitrag geht, liegt jedoch darin, dass hier erstmals (u.a. in Österreich) in großem Maßstab versucht wurde, Migrationsbewegungen zu lenken. Bedingt durch den Wirtschaftsaufschwung in Österreich und Deutschland begann die Geschichte einer besonderen Form der Migration im Nachkriegseuropa (Weigl 2009: 14f.), die auch in der öffentlichen Wahrnehmung als ein prägendes Phänomen gesehen wurde und wird. Während in den 1960er Jahren weltweit an die 75 Millionen Menschen in andere Länder wanderten, waren es 2010 schon rund 214 Millionen und obwohl ca. die Hälfte aller Migrant_innen weltweit Frauen sind (Castles/Miller 2009: 11f.), kam ihnen in der Migrationsforschung lange Zeit der Part einer unsichtbaren Hälfte zu – weil vor allem Männer im Mittelpunkt des Forschungsinteresses standen. Erst als sich die Frauen- und Geschlechterforschung dem Thema der Migration annahm, wurden geschlechtsspezifische Entwicklungen und sich daraus ergebende Fragestellungen sichtbar. In der neuen Forschungsliteratur wird heute häufig vom Begriff der ›Feminisierung der Migration‹ gesprochen (Hahn 2000: 77). Unter diesem Begriff werden verschiedene Phänomene zusammengefasst, etwa die Tat1 | Der Begriff ›Gastarbeit‹ wird hier unter Anführungszeichen geführt, um zu signalisieren, dass er durchaus umstritten ist. So hat etwa Dilek Çınar darauf hingewiesen, dass Gast-Sein und Arbeiten einander im Grunde ausschließen (vgl. Çınar 2004: 47). Wir danken zudem dem Kärntner Landesarchiv für die Bereitstellung des Zeitungsmaterials.

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sache, dass in manchen Regionen der Welt mehr Frauen als Männer ins Ausland auswandern (Lutz 2005: 66). Dennoch werden und wurden Migrant_innen in Bezug auf das kollektive Gedächtnis von Nationen und Regionen marginalisiert, d.h. schlicht nicht in dieses aufgenommen. So bleiben gerade Migrantinnen häufig nicht nur in Alltagskursen und medialen Repräsentationen, sondern auch in wissenschaftlichen Arbeiten unerwähnt. Gleichzeitig ist es gerade bei der Thematisierung von Migrantinnen wichtig, nicht allein die Kategorie Geschlecht im Blick zu haben. Vielmehr müssen zusätzlich zum feministischen Erkenntnisinteresse auch immer vielfältige Dimensionen von Diskriminierungen miteinbezogen werden. In diesem Artikel wird die interdependente Perspektive gewählt, um jene Verschränkungen von der Dimensionen ›race‹, Klasse und Geschlecht etc. sichtbar machen zu können, die bei Diskursen um Migration zentral sind (vgl. Walgenbach et al. 2007). Zunächst wird kurz der geschichtliche Hintergrund von ›Gastarbeit‹ veranschaulicht und auf das Fehlen der Genderperspektive eingegangen. Danach folgt eine Auseinandersetzung mit dem Themengebiet Geschlecht und Erinnerung, bevor anhand einer Analyse von Kärntner Medien im Zeitraum von 1969 bis 1973 aufgezeigt wird, welche Diskurse zum Themengebiet ›Gastarbeit‹ und Geschlecht prägend waren und sind.

1. G ESCHICHTLICHE V ERORTUNG VON ›G ASTARBEIT‹ & DAS F EHLEN DER G ENDERPERSPEK TIVE Aufgrund des Wirtschaftsaufschwungs in den Nachkriegsjahren in Österreich konnte der Bedarf an Arbeitskräften mit einheimischen Arbeitnehmer_innen nicht mehr gedeckt werden. So kam es in Österreich zu einem Arbeitskräftemangel, welcher u.a. durch die Abwanderung österreichischer Arbeitskräfte nach Deutschland und in die Schweiz bedingt war. Arbeitskräfte wurden in dieser Zeit dringend benötigt und von der Wirtschaft stark umworben. Deshalb schlossen Staaten wie Österreich und Deutschland mit der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien so genannte Anwerbeabkommen wie das Raab-Olah-Abkommen, um an billige Arbeitskräfte zu gelangen. Dieses Abkommen, welches zwischen der Bundeswirtschaftskammer und dem Gewerkschaftsbund beschlossen wurde, diente als Grundlage für die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Im Jahre 1962 wurde das erste Anwerbeabkommen mit Spanien beschlossen, dieses blieb allerdings erfolglos. Im folgenden Jahr, 1963, wurde zwischen der Türkei und der Europäischen Wirtschaftsunion, EWG, ein Anwerbeabkommen unterfertigt. Jugoslawien folgte im Jahr 1966 (Bauer 2008: 5f.). Die folgende Grafik veranschaulicht die Zuwanderung aus dem ehemaligen Jugoslawien für das Jahr 1971 prozentuell nach den Herkunftsregionen (Pelger 2009: 41f.).

E. Koch/V. Ratkovi´c/M. Saringer/R. Schöffmann: ›Gastarbeiterinnen‹ in Kärnten

Tabelle 1: Herkunftsrepubliken jugoslawischer ›Gastarbeiter_innen‹ in Österreich 1971

Slowenien Kroatien 10 %

15,3 %

Bosnien

Serbien

Vojvodina

Kosovo

Makedonien und Montenegro

27,9 %

31,9 %

9,7 %

2,5 %

2,7 %

Quelle: Pelger 2009: 41, modifiziert.

Zwischen 1961 und 1974 wanderten insgesamt ca. 265.000 Menschen nach Österreich, der größte Teil kam jedoch zwischen 1969 und 1973. Der Anteil der ausländischen Arbeitskräfte lag 1971 bereits schon bei 6,1 Prozent; ihr Anteil an der Bevölkerung jedoch nur bei 2,8 Prozent. Im Jahre 1973 konnten 78,9 Prozent ›Gastarbeiter_innen‹ mit jugoslawischer Staatsbürgerschaft verzeichnet werden, hingegen nur 11,8 Prozent Türk_innen (Bauer 2008: 5f.). In den 1970ern stellte sich jedoch heraus, dass das System der ›Gastarbeit‹ nicht wie ursprünglich geplant funktionierte. So war alles darauf ausgelegt gewesen, dass die ›Gastarbeiter_innen‹ nur innerhalb eines bestimmten Zeitraums in Österreich beschäftigt sein sollten, um dann wieder in ihre Heimatländer zurückzukehren. Dies scheiterte vor allem daran, dass die Arbeitgeber_innen die Unwirtschaftlichkeit des Anlernens immer neuer Arbeiter_innen bemängelten, zudem hatten viele der ›Gastarbeiter_innen‹ den Wunsch, länger als geplant in Österreich zu bleiben. Mit der internationalen Erdölkrise kam allerdings die Kehrtwende der österreichischen Einwanderungspolitik – es wurde ein Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte verhängt und jene ›Gastarbeiter_innen‹, die sich noch im Inland befanden, gedrängt, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. So wurde im Jahr 1975 das Ausländerbeschäftigungsgesetz erlassen, das österreichischen Staatsbürger_innen Vorrang am Arbeitsmarkt einräumte. Für ausländische Arbeitnehmer_innen war es nun erst nach acht Jahren möglich, einen ›Befreiungsschein‹ zu erhalten, welcher ihnen den uneingeschränkten Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt ermöglichte. Folglich ging insgesamt die Zahl der ausländischen Beschäftigten in den nächsten zehn Jahren zwar zurück, viele ›Gastarbeiter_innen‹ verlängerten jedoch ihren Aufenthalt, blieben in Österreich und holten ihre Familien nach (Bauer 2008: 5f.).2 2 | In politischen und medialen Diskursen wandelte sich zu dieser Zeit auch die Bezeichnungspraxis: Während der ›Gastarbeiter‹ durchaus positiv als eine temporäre Arbeitskraft gesehen wurde, wurden auf jene, die in Österreich blieben, als ›Ausländer‹ und damit ›Andere‹ immer mehr Ängste und Vorteile projiziert (Fischer 2009: 265). ›Ausländer‹ wird als Bezeichnung in Österreich mittlerweile fast ausschließlich in rechtlichen Diskursen verwendet, wo der Begriff schlicht jene Personen bezeichnet, die zwar in Österreich leben aber nicht über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügen. Den heute verwendeten Begriffen ›Migrant_in‹ oder ›Mensch mit Migrationshintergrund‹ ist dagegen die Ambivalenz inhärent, einerseits das Bemühen auszudrücken, die ›Anderen‹ politisch korrekt bezeich-

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Waren es zu Beginn des Zuwanderungsstroms vorwiegend Männer, die in Österreich als ›Gastarbeiter‹ tätig waren, veränderte sich mit der Zeit der Frauenanteil unter den ›Gastarbeiter_innen‹. So konnte im Jahr 1971 ein Frauenanteil von 39 Prozent verzeichnet werden (ebd.). Im Jahr 1981 lag der Frauenanteil unter den Migrant_innen insgesamt bei 44 Prozent (ebd.). Ein Blick auf die bestehende Literatur aus den Anfängen der deutschsprachigen Migrationsforschung zeigt allerdings, dass es heute aufgrund mangelhafter oder fehlerhafter Aufzeichnungen über weibliche Migrantinnen oftmals schwierig ist, Rückschlüsse auf migrierende Frauen zu ziehen (Hahn 2000: 77). Ein grundlegendes Problem besteht darin, dass Frauen oftmals hinter allgemeinen Zahlen und Formulierungen verschwinden. Das Buch »Gastarbeiter. Wirtschaftliche und soziale Herausforderung« (Arbeitskreis für ökonomische und soziale Studien 1973) ist ein exemplarisches Beispiel für die Publikationen aus dieser Zeit: »Gastarbeiter [arbeiten] vorwiegend in stark konjunkturanfälligen Branchen (Baugewerbe, Gaststättengewerbe, Textil- und Bekleidungsindustrie, Autoindustrie) […]« (ebd.: 31). Die folgende Statistik sieht ähnlich aus: Tabelle 2: ›Gastarbeiter‹-Raten in Wirtschaftsklassen in Prozent in Österreich (nur Betriebe mit 15 und mehr Beschäftigten) Erzeugung von Textilien Erzeugung von Bekleidung und Bettwaren

16,0 4,7

Erzeugung von Waren aus Gummi und Kunststoffen

11,6

Erzeugung von Metallwaren

12,6

Erzeugung von Maschinen

11,7

Erzeugung von elektrotechnischen Einrichtungen Hoch- und Tiefbau

8,2 23,9

Bauhilfsgewerbe

8,5

Großhandel

6,8

Einzelhandel

1,2

Gastgewerbe

20,2

Kreditwesen, Versicherungen Körperpflege, Reinigung

0,2 18,0

Quelle: Arbeitskreis für ökonomische und soziologische Studien 1973: 18.

In dieser Statistik wird deutlich, dass das Geschlecht als Analysekategorie in der Forschung zunächst keine Beachtung fand; Frauen wurden unter dem allgemeinen zu wollen, und sie andererseits eben durch diese Bezeichnung weiterhin als die ›Anderen‹ zu konstruieren und dadurch in eine marginalisierte Position zu verweisen.

E. Koch/V. Ratkovi´c/M. Saringer/R. Schöffmann: ›Gastarbeiterinnen‹ in Kärnten

nen Begriff ›der Gastarbeiter‹ zusammengefasst. In der Migrationsforschung als auch in öffentlichen Diskursen ergab und ergibt sich daraus u.a. die folgende Konsequenz: Im Kontext der ›Gastarbeit‹ prägt das Bild des männlichen, hart arbeitenden ›Gastarbeiters‹ am Fließband oder auf der Baustelle die öffentliche Wahrnehmung. De facto arbeiteten seit jeher aber auch Frauen im Ausland, um ihre Existenz zu sichern und ihre Familien in der Heimat ernähren zu können (Kofler/Fankhauser 2009: 139). Trotz der Tatsache, dass es nur wenige Aufzeichnungen über weibliche ›Gastarbeiterinnen‹ gibt, können aus bestehenden Statistiken dennoch Rückschlüsse über Migrantinnen auf dem Arbeitsmarkt gezogen werden (Huth-Hildebrandt 2002: 85). Obwohl die angeführte Statistik nur allgemeine und keine geschlechtsspezifischen Prozentangaben beinhaltet, kann beispielsweise davon ausgegangen werden, dass vor allem in den Bereichen Erzeugung von Textilien, Gastgewerbe, Körperpflege und Reinigung, die jeweils über 15 Prozent Beschäftigte aufweisen, hauptsächlich weibliche ›Gastarbeiterinnen‹ beschäftigt waren. In diesen Branchen wurden vorwiegend als weiblich konnotierte Fähigkeiten wie Fingerfertigkeit, Geduld, Genauigkeit und Geschicklichkeit gefordert. Gerade Migrantinnen wurden daher in den 1960er und 1970er Jahren als flexible, billige und ausbeutbare Arbeitskräfte für die untersten Sektoren des Arbeitsmarktes angesehen. So wurden besonders in den oben erwähnten Bereichen Frauen eingesetzt, die als gesund, mobil und jung galten (Castro Varela 2003: 16).

1.1 Erinnerung & Geschlecht Der kritische Blick auf das Phänomen ›Gastarbeit‹ aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung ist heute schon alleine deswegen notwendig, weil – wie bereits weiter oben festgehalten – in wissenschaftlichen Diskursen der Begriff Feminisierung der Migration mittlerweile zentral ist, eben weil sich »der Anteil der Frauen, die ihre Herkunftsländer verlassen und in andere Länder (im-)migrieren derart erhöht« hat (Huth-Hildebrandt 2002: 87). So sind ›Gastarbeiterinnen‹ als Vorgängerinnen der heutigen Migrantinnen zu sehen, und die Beschäftigung mit ihrer Geschichte und ihren Erzählungen birgt relevante Erkenntnisse für die heutige Situation.3 Gleichzeitig dürfen Geschichten und Erzählungen nicht als etwas gesehen werden, das in der Vergangenheit liegt und im Grunde keinen Einfluss auf die Gegenwart hat. So beschreibt Jan Assmann zwei Aspekte von mythischen und historischen Erzählungen: Zum einen fungieren 3 | Im Rahmen des Forschungsprojekts »›Gastarbeiterinnen‹ in Kärnten. Auf Spurensuche der weiblichen Arbeitsmigration«, durchgeführt von den Autorinnen im Zeitraum 20112012, werden u.a. Interviews mit ehemaligen ›Gastarbeiterinnen‹ geführt, um ihnen Raum für das Erzählen ihrer Geschichten geben zu können. Damit soll die historische Perspektive der Akteurinnen dieser Zeit dargestellt und Verbindungen zur heutigen Situation von Migrantinnen bearbeitet werden (vgl. Koch/Ratkovi´c/Saringer/Schöffmann 2013).

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Erzählungen als Weisungen, d.h. sie sind normativ (und antworten damit auf die Frage »Was sollen wir tun?«), zum anderen sind sie narrativ und formativ, insofern als sie Zugehörigkeit oder Identität stiften, indem sie gemeinsames Wissen/ gemeinsame Regeln und Werte schaffen (und auf die Frage »Wer sind wird?« antworten) (vgl. Assmann 2007: 142). Durch die Erzählungen wird die »Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit« (ebd.) aufrecht erhalten (oder gar erst geschaffen), wobei das gemeinsame Wissen von Assmann als »konnektive Struktur« bezeichnet wird, die einzelne Individuen zu einem gemeinsamen »wir« zusammen bindet. Unter einer kollektiven oder Wir-Identität versteht Assmann das Bild, das eine Gruppe von sich auf baut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität besteht jedoch nicht per se, sondern ist immer nur so stark oder schwach, wie sie im Bewusstsein der Gruppemitglieder vorhanden ist. Zentral ist folglich die Bewusstmachung oder Bewusstwerdung, damit Zugehörigkeiten sich überhaupt zu einer Wir-Identität steigern können. In anderen Worten: Wird nicht bewusst gemacht, dass Migrantinnen sehr wohl auch als ›Gastarbeiter_innen‹ in Österreich tätig waren, werden sie auch nicht als Teil einer Wir-Identität wahrgenommen. 4 Kollektive Identitäten sind für Assmann »reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit, [wobei] kulturelle Identität […] entsprechend die reflexiv gewordene Teilhabe an bzw. das Bekenntnis zu einer Kultur [ist]« (ebd.: 135). Dem kulturellen Gedächtnis kommt dabei die Funktion zu, den Sinn innerhalb einer Gruppe zu überliefern. Unter Sinn versteht Assmann den Vorrat gemeinsamer Werte, Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen, »der die ›symbolische Sinnwelt‹ bzw. das ›Weltbild‹ einer Gesellschaft bildet« (ebd.: 140). Das kulturelle Gedächtnis ist für Assmann eine »Außendimension des menschlichen Gedächtnisses« (ebd.: 19), das insofern kulturell ist, als es »nur institutionell, artifiziell realisiert werden kann« (Assmann 2007: 24), d.h. es »zirkuliert und reproduziert sich nicht von selbst. Er muß [sic!] zirkuliert und inszeniert werden« (ebd.: 143). Dabei ist es wichtig, dass für das kulturelle Gedächtnis lediglich erinnerte Geschichte zählt, nicht die faktische. Assmann spricht von Erinnerungsfiguren, d.h. »kulturell geformte[n], gesellschaftlich verbindliche[n] ›Erinnerungsbilder[n]‹«, die sich nicht nur »auf ikonische, sondern z.B. auch auf narrative Formung bezieht« (ebd.: 38). Mit der Vergegenwärtigung dieser Bilder können sich Gruppen ihrer kollektiven Identität vergewissern, die keine Alltagsidentität ist – vielmehr haftet ihr laut Assmann etwas Feierliches und Außergewöhnliches an (ebd.: 53). Wird also anlässlich von »50 Jahre ›Gastarbeit‹« im Jahre 2011 diesem Phänomen erinnert und dieses z.T. gefeiert (siehe beispielsweise den Film »Almanya – Willkommen in Deutschland« aus dem Jahr 2011), wird durch die Konzentration auf 4 | Wichtig ist hier der Hinweis, dass auch die Aufnahme des männlichen ›Gastarbeiters‹ in das kollektive Gedächtnis z.T. eine prekäre ist – so wird zwar seine Existenz wahrgenommen, ohne sie gleichzeitig als Teil der eigenen/einheimischen Geschichte zu würdigen. Im Vergleich zu den weiblichen ›Gastarbeiterinnen‹ ist sein Bild dennoch präsent(er).

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das Bild des männlichen ›Gastarbeiters‹ ein wesentlicher – weiblicher – Teil der kollektiven Identität ausgeklammert. Der weitgehende Ausschluss von ›Gastarbeiterinnen‹ aus dem kollektiven Gedächtnis (Österreichs) steht dabei in direktem Zusammenhang mit dem Außerachtlassen von Frauen in der medialen Repräsentation und somit in der Erinnerungskultur an sich. Dies ist, wie von Assmann beschrieben, ein strukturelles Problem: »Durch alle sozialen Schichten hindurch bilden Frauen den anonymen Hintergrund, vor dem sich männlicher Ruhm leuchtend abhebt. Solange die Bedingung für den Einlass ins kulturelle Gedächtnis heroische Größe und die Kanonisierung als Klassiker ist, fallen Frauen systematisch dem strukturellen Vergessen anheim. Es handelt sich dabei um einen klassischen Fall struktureller Amnesie.« (Ebd.: 61)

Jan und Aleida Assmann erläutern, dass das kulturelle Gedächtnis zentral an mediale Vermittlung gebunden ist (Assmann 2007; Assmann/Assmann 1984), weswegen im Folgenden die Ergebnisse einer Analyse von Regionalzeitungen skizziert werden. In dieser wurde versucht nachzuspüren, wie zur Zeit des ›Gastarbeiter_innen‹-Phänomens über dieses berichtet wurde, d.h. was die Grundlagen der heutigen Wahrnehmung von ›Gastarbeit‹ in Kärnten bildet.

2. E INE M EDIENANALYSE : D IE E RGEBNISSE Medienanalysen sind insgesamt ein wichtiges Instrument, um die Repräsentationen und Diskurse über wirtschaftliche Entwicklungen und Migration historisch aufarbeiten zu können. Durch diese wird es möglich, den gesellschaftlichen Rahmen bestimmter Ereignisse miteinzubeziehen und zu kontextualisieren. Da der größte Teil der ›Gastarbeiter_innen‹ zwischen 1969 und 1973 nach Kärnten migrierte, wurde dieser Betrachtungszeitraum für eine durchgängige Auseinandersetzung mit zwei ausgewählten regionalen Medien Volkszeitung und der Kärntner Tageszeitung (KTZ) festgelegt. Diese waren in den 1960er und 1970er Jahren im Raum Kärnten die auflagenstärksten Printmedien. Aus allen Ausgaben wurden exemplarisch Artikel für die Analyse ausgewählt, die sich konkret mit dem Thema Gastarbeit beschäftigen. Insgesamt wurden im Rahmen der »Kritischen Diskursanalyse« nach Siegfried Jäger (1999) zwei dominante Diskursstränge in Bezug zu ›Gastarbeit‹ festgestellt: Erstens jener zu Arbeit und Geschlecht, zweitens jener zu Fremdheit und Geschlecht. Auf beide wird im Folgenden näher eingegangen.

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2.1 Diskurse zu Arbeit und Geschlecht Das Phänomen ›Gastarbeit‹ traf in Österreich mit einer anderen großen Umwälzung zusammen: Zwar nicht erstmals aber in verstärktem Maße fanden auch immer mehr österreichische Frauen den Weg auf den Arbeitsmarkt. Folglich müssen die Berichte über ›Gastarbeiter_innen‹ in diesem Kontext gesehen werden, d.h. in einem Umfeld, in dem das Themengebiet ›Frauen und Arbeit‹ immer mehr Beachtung fand. In den analysierten regionalen Tageszeitungen von 1969 bis 1973 waren zunächst Diskurse, die österreichische Frauen vor allem in ihrer Rolle als erwerbslose Ehefrauen und Mütter darstellten – und damit die Stellung von Frauen in Österreich abbildeten –, bestimmend. So werden Frauen vorwiegend als Unterstützerinnen der Ehemänner dargestellt, die dem »Mann die Leiter zum beruflichen Aufstieg, zur Karriere hält und daß [sic!] sie es vor allem ist, die daheim jene Atmosphäre schafft, in der der Mann die Kräfte für seine Berufsarbeit sammeln und erhalten soll« (Volkszeitung 19.01.1974: Gesellschaft). Dies stellt einen deutlichen Gegensatz zur zunehmenden Anwerbung von weiblichen Arbeitskräften in den regionalen Zeitungen dar, die in Kärnten im betrachteten Zeitraum von 1969 bis 1973 mit großer Intensität betrieben wurde. Abbildung 1-3: Anzeigen zur Anwerbung von weiblichen Arbeitskräften in Kärntner Printmedien

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Quellen: Volkszeitung, 02.08.1969: 24 (Abb. 1); Kärntner Tageszeitung 01.06.1972: 17 (Abb. 2); Volkszeitung 12.01.1974: 26 (Abb. 3).

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In den sehr groß abgebildeten Anzeigen von bis zu einer halben Seite wurden Frauen und Mädchen konkret angesprochen, wobei eine strikte Geschlechtertrennung vorgenommen wurde, wie beispielsweise bei den Bezeichnungen ›Bautechniker‹ vs. ›Näherin‹. ›Frauen-‹ und ›Männerberufe‹ wurden folglich gesondert beworben, und weil Frauen der Eintritt in den Arbeitsmarkt offenbar erst schmackhaft gemacht werden musste, wurde in den Anzeigen einerseits ausführlich erklärt, worin die Arbeit besteht – im Gegensatz zu den Anzeigen für als männlich konnotierte Berufe, bei denen offenbar davon ausgegangen wurde, dass den Umworbenen klar ist, worum es bei diesem Beruf geht. Andererseits wurde in den Anzeigen insbesondere auf vermeintliche ›Wohlfühlfaktoren‹ von typischen ›Frauentätigkeiten‹ eingegangen, und mit Adjektiven wie ›gemütliche Arbeit im Sitzen‹, ›sauber‹, ›leicht zu erlernen‹ oder ›für Frauenhände wie geschaffen‹ angepriesen. In solchen Formulierungen finden sexistische, rassistische und klassistische Vorurteile ihren Ausdruck, damit sei auf eine interdependente Verschränkung von diskriminierenden Praxen hingewiesen. Während sich die Anzeigen oberflächlich vor allem an die umworbenen Frauen richteten, ist es doch wichtig festzuhalten, dass die darin enthaltenen Diskurse von allen Leser_innen wahrgenommen werden mussten. Zentral ist dabei der Fakt, dass in Österreich erst Mitte der 1970er Jahre jene Gesetze abgeschafft wurden, die den Mann als das Oberhaupt der Familie definierten und ihm das Recht einräumten, seiner Ehefrau die Ausübung von Erwerbsarbeit zu verbieten. So kann also angenommen werden, dass die oben abgebildeten Anzeigen gleichsam auch dazu eingesetzt wurden, das Umfeld von arbeitswilligen Frauen zu überzeugen, dass die von ihnen auszuübenden Tätigkeiten ihrer Rolle als ›richtige‹ (Ehe-) Frauen nicht im Wege stehen würden. Gleichzeitig lassen sich in den analysierten Medien auch Artikelserien finden, die die Probleme jener Frauen thematisieren, die in den Arbeitsmarkt eingetreten waren: »Vor allem die Probleme der berufstätigen Ehefrau und Mutter sind in unserer modernen Industriegesellschaft weitgehend ungelöst. Prof. Rosenmayr sagt dazu: ›Die berufstätige Ehefrau zählt wegen einer Häufung und wechselseitigen Verstärkung von Benachteiligungen, besonders in den unteren Schichten unserer Gesellschaft und besonders dann, wenn sie Kinder hat, zu den schwächsten Positionen unserer Sozialordnung und bedarf einer kulturellen, sozialen wie materiellen Aufwertung‹« (Kärntner Tageszeitung 09.01.1971: 17).

Insgesamt blieben aber im analysierten Zeitraum die Diskurse (die österreichischen Frauen betreffend) zu Hausarbeit und Familienleben bestimmend, die Vereinbarkeit von Reproduktions- und Erwerbsarbeit wurden selten und wenn doch als problematischer Bereich diskutiert. Die Arbeitgeber_innen in Kärnten sahen sich also insgesamt mehreren Problemfeldern gegenüber: Wie oben beschrieben wanderten viele österreichische Frauen selbst als »Saisonarbeiterinnen« nach Deutschland und in die Schweiz ab, gleichzeitig war es offenbar schwer, die Verbliebenen für die Erwerbsarbeit zu

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motivieren, dazu kam noch der Wirtschaftsaufschwung, der insgesamt immer mehr Arbeitsplätze schuf. Dies wird beispielsweise in dem folgenden Artikel ersichtlich: Abbildung 4: »Die Flucht aus der Küche«

Quelle: Volkszeitung 24.01.1965: 2.

Für (Hilfs-)Tätigkeiten, die traditionell als weiblich konnotiert und entsprechend schlecht entlohnt wurden, kamen nun ›Gastarbeiterinnen‹ infrage. So wurde bei ›Gastarbeiterinnen‹ davon ausgegangen, dass sie ein niedrigeres Anspruchsniveau als einheimische Frauen hätten, folglich wurden sie in den untersten und am schlechtesten bezahlten Arbeitssegmenten eingesetzt (Liebig 2011: 27f.). Das Gastgewerbe war dabei eine jener Branchen, in denen ›Gastarbeiterinnen‹ eingesetzt wurden und in denen der Verdienst mit rund 3 Schilling pro Stunde am niedrigsten war. Im Vergleich dazu verdienten (österreichische) Frauen in der Industrie 4 Schilling pro Stunde.5 Die Medienanalyse hat weiterhin gezeigt, dass ›Gastarbeiterinnen‹ und einheimische Frauen in Kärnten vor allem in Schuhfabriken, wie ARA Schuhe oder Gabor, in Textil- sowie Industriefabriken, wie Phillips oder Siemens, und in Tourismusbetrieben eingesetzt wurden. Jedoch geht aus den einzelnen Zeitungsartikeln – analog zu der wissenschaftlichen Literatur dieser Zeit – nicht hervor, wie viele ›Gastarbeiterinnen‹ zur damaligen Zeit in den jeweiligen Betrieben beschäftigt wurden. Auffallend ist jedoch, dass Zeitungsberichte vor allem die großen Produktionszahlen und hohen Umsätze anpreisen und die arbeitenden Frauen eher zur Abbildung der Erfolgsberichte dienen (etwa indem sie bei der Arbeit hinter Nähmaschinen gezeigt werden). Zwar werden die Frauen dabei als Arbei5 | Auf die damalige (und noch immer vorhandene) Diskrepanz zwischen dem Einkommen von Männern und Frauen wird an dieser Stelle nur verwiesen, ohne dass auf sie näher eingegangen wird.

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tende sichtbar, dennoch wird ihr Anteil am Erfolg des Unternehmens nicht gewürdigt. Entsprechend dürften die Zeitungsartikel eher den Zweck erfüllt haben, die Unternehmen in den Vordergrund zu rücken und die vorhandenen Arbeitsplätze zu bewerben. Abbildung 5-6: ›Gastarbeiterinnen‹ in Kärntner Fabriken

Quellen: Kärntner Tageszeitung 20.02.1971: 5 (Abb. 5); Volkszeitung 04.01.1974: 4 (Abb. 6).

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich bei der Berichterstattung über ›Gastarbeiterinnen‹ verschiedene Diskurse kreuzen: So wurden sie analog zu den österreichischen Frauen vor allem in ihrer Frauenrolle wahrgenommen und in entsprechenden Arbeitsbereichen beschäftigt. Gleichzeitig wurde der Zugang zu

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Arbeit der unteren Lohnsegmente nicht nur geschlechtsspezifisch geregelt, sondern zusätzlich auch ethnisch codiert; folglich verbanden sich rassistische, klassistische und sexistische Bilder, die wiederum eine stereotypisierende Wirkung hatten. Migrantinnen sind noch heute vorwiegend von struktureller Diskriminierung betroffen, haben oft Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt und erfahren häufig soziale Deklassierung, etwa wenn ihre Bildungsabschlüsse nicht anerkannt werden. Als Folge werden sie in ›typisch weibliche‹ Berufe gedrängt. Daraus entstehen wiederum – wie oben erwähnt – stereotype Vorstellungen darüber, dass Migrantinnen vor allem für monotone Fließbandarbeit eingesetzt werden können, wofür Fähigkeiten wie Fingerfertigkeit und Geduld benötigt werden (vgl. Castro Varela 2003: 13ff.).

2.2 Diskurse zu Fremdheit und Geschlecht In den analysierten Kärntner Medien fanden weibliche ›Gastarbeiterinnen‹ nur selten Beachtung. So standen, wenn das Phänomen ›Gastarbeit‹ thematisiert wurde, vor allem die männlichen ›Gastarbeiter‹ im Fokus des Interesses. Meist wurden diese einerseits als in Verbindung mit Problemen, andererseits als die ›Anderen‹ dargestellt, wobei ein Bild des bzw. der Fremden konstruiert wurde, das dem Bild des/der Kärntner_in gegenübergestellt wurde. Prototypisch hierfür ist beispielsweise der folgende Artikelausschnitt: »Gastarbeiter – schon das Wort allein flößt einem eine bestimmte Vorstellung ein: dreckige, unfrisierte Typen, die dem Alkohol zusprechen und Mädchen auf der Straße belästigen […]« (Kärntner Tageszeitung 13.10.1973: 9). Gleichzeitig wurde gerade der männliche ›Gastarbeiter‹ als hart arbeitender Familienernährer inszeniert, im Untersuchungszeitraum finden sich unzählige Artikel, die dem folgenden Ausschnitt stark ähneln: »Er ist Vater von vier Kindern. Seine Familie lebt in einem kleinen Ort nahe bei Varazdin […]. Sein Pullover ist zerrissen, Hose und Schuhe sind schmutzig, trotzdem ist dieser Mann mit sich und der Welt zufrieden. Und ein bisschen stolz […]. Mit dem Geld, das er sich verdient, baut er sich in seiner Heimat ein neues, schönes Haus.« (Kärntner Tageszeitung 26.01.1972: 5)

Neben dem Diskurs, der den männlichen ›Gastarbeiter‹ als Familienmenschen konstruierte, dominierte allerdings vor allem das Bild des gewalttätigen ›Gastarbeiters‹ die Berichterstattung, indem beispielsweise solche Meldungen laufend abgedruckt wurden: »Gastarbeiter stieß 25jährigem Villacher Messer in die Brust – Der Flüchtige kurz nach der Tat verhaftet« (Kärntner Tageszeitung 09.02.1971: 4). Oder wie in diesem Artikel ersichtlich:

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Abbildung 7: ›Gastarbeiter_innen‹ als Täter_innen

Quelle: Volkszeitung, 07.02.1970: 3.

›Gastarbeiterinnen‹ wurden hingegen – so sie überhaupt Erwähnung fanden – eher als bedroht und/oder hilflos, d.h. als Opfer dargestellt, beispielsweise in diesem Artikel: Abbildung 8: ›Gastarbeiter_innen‹ als Opfer

Quelle: Kärntner Tageszeitung 20.02.1972: 4.

Wie stark diese Diskurse in die Gegenwart nachwirken, zeigen Studien, die in den letzten 10 bis 15 Jahren durchgeführt wurden. So werden diesen Studien zu-

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folge Migranten nach wie vor häufig mit Kriminalität, Gewalt, Asyl und Drogenhandel in Verbindung gebracht, während es bei Migrantinnen eher Opferthemen sind (etwa Menschenhandel und Prostitution) (vgl. Farrokhzad 2006: 65). In einer groß angelegten Studie zur Darstellung von Migrantinnen in deutschen Tageszeitungen (Zeitraum: 2005-2008) kommen die Autorinnen zwar zu dem Ergebnis, dass hier zwar »vielfältige […] Rollenkontexte und Lebensentwürfe sichtbar« werden (Lünenborg et al. 2011: 144), dass aber das Bild des hilfsbedürftigen, weiblichen Opfers quantitativ nach wie vor dominiert (vgl. ebd.). Auch in der Mainstream-Migrationsforschung herrschten lange Zeit Diskurse zu Migrantinnen vor, die sich sowohl von jenen zu männlichen Migranten als auch von jenen zu Frauen der Mehrheitsgesellschaft unterschieden. Während männliche Wanderer als Helden und Abenteurer galten, wurden Frauen als Exotinnen bzw. Gehilfinnen von Männern konnotiert. Auch erschienen und erscheinen weibliche Migrantinnen oftmals als besonders verletzlich, schwach, hilflos und ohne eigene Interessen (vgl. Huth-Hildebrandt 2002: 86). Sowohl Alltagsdiskurse als auch wissenschaftliche Diskurse waren und sind teilweise noch immer von diesem Opferdiskurs geprägt. Sie wurden und werden häufig als Opfer ihrer angeblich patriarchalen Herkunftskultur beschrieben sowie als weitgehend abhängig von den Entscheidungen ihrer Ehemänner. In wissenschaftlichen Diskursen wurden Stereotype geprägt und verfestigt, die migrierende Frauen lange Zeit auf die Rolle der fürsorgenden Ehefrau, der Schutzbedürftigen und der Fremden festlegten. Im Vergleich dazu werden männliche Migranten jedoch als stark und unabhängig dargestellt (vgl. Kofler/Fankhauser 2009: 21f.).

3. C ONCLUSIO Im Rahmen dieses Artikels wurde versucht aufzuzeigen, inwiefern die Berichterstattung über das Phänomen ›Gastarbeit‹ und dabei speziell über ›Gastarbeiter_innen‹ der 1960er und 1970er Jahre gleichsam die Grundlagen der heutigen Diskurse zum Thema Migration und Migrantinnen bildet. Zur Zeit der ›Gastarbeiter_innen‹-Beschäftigung versuchten sich deutsche und österreichische Frauen gerade selbst aus den traditionellen Bindungen, d.h. dem männlichen Familienernährer-Modell, zu lösen. Die Emanzipation der westlichen Frauen war, wie beispielsweise von Birgit Rommelspacher analysiert, nicht notwendigerweise auf Umverteilungen im Geschlechterverhältnis zurückzuführen, sondern basierte vielfach auf der Hierarchisierung zwischen Frauen. Folglich wurde und wird Emanzipation am Abstand zwischen den privilegierten – weißen/westlichen/ einheimischen – Frauen und den Migrantinnen gemessen (vgl. Rommelspacher 2009: 181). Gabriele Dietze spricht in diesem Zusammenhang auch von der »okzidentalistische[n] Dividende« bzw. »Überlegenheitsdividende«, die für »kulturell ›weiße‹ Frauen […] gegenüber den neo-orientalisierten ›Anderen‹« abfällt (Dietze 2009: 39). Die Vorstellung, im Vergleich mit der Anderen frei und selbstbe-

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stimmt zu sein, geht dabei auch mit der Vorstellung einher, nur die kulturell weißen Frauen könnten den Subjektstatus für sich beanspruchen, während die Anderen fremdbestimmt seien. In diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, dass zur Zeit des ›Gastarbeiter_innen‹-Phänomens jene Frauen, die selbstbewusst und selbstständig den Weg nach Österreich auf sich genommen haben, als Irritation wahrgenommen werden mussten. Statt ihre Rolle als selbstbestimmt Handelnde in den Mittelpunkt der Berichterstattung zu rücken, wurde folglich eher ihr angeblicher Status als Opfer fokussiert. ›Gastarbeiterinnen‹ der 1960er und 1970er Jahre sollten heute dennoch als Pionierinnen gesehen werden, die auch als agents of change bezeichnet werden können. Dies lässt eine neue Perspektive, die weit über den Opferdiskurs hinausgeht, zu (vgl. Castro Varela 2003: 16). Die Aufnahme der ›Gastarbeiterin‹ in das kollektive Gedächtnis (Österreichs) stellt in dieser Betrachtungsweise die Grundbedingungen für eine kritische Wahrnehmung von Migrantinnen insgesamt dar.

F ILM »Almanya – Willkommen in Deutschland« (D 2011, R: Yasemin Şamdereli)

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Der Einfluss von Erinnerungskulturen auf die Karrierechancen ostdeutscher Mandatsträgerinnen im Politikraum Cornelia Hippmann

1. E INLEITUNG : O STDEUTSCHE F R AUEN IN DER P OLITIK Nachdem am 22. November 2005 Angela Merkel von knapp 90 Prozent der Abgeordneten der Koalition von CDU/CSU und SPD zur ersten Bundeskanzlerin Deutschlands gewählt wurde, wurde ohne Zweifel ein neues Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik aufgeschlagen. Und auch andere Spitzenpolitikerinnen wie die drei zur Zeit amtierenden bundesdeutschen Ministerpräsidentinnen aus Ost und West, Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU), Hannelore Kraft (SPD) und Christiane Lieberknecht (CDU), haben bewiesen, dass es Frauen mittlerweile längst möglich ist, in den engsten politischen Macht- und Einflusszirkel vorzudringen und die zentralsten politischen Ämter und Ressorts zu erobern. Nichtsdestotrotz sind ›soziale Frauen‹ in der deutschen Politik gegenüber dem Männlichen auch zu Beginn des Dritten Jahrtausends, gerade in den mächtigsten Politikämtern und in Ressorts wie Wirtschaft, Finanzen oder Verteidigung, die häufig noch untrennbar mit dem ›männlichen‹ Tätigkeitsprofil verbunden sind, unterrepräsentiert. An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag, der die Karriere- und Aufstiegschancen und -bedingungen ostdeutscher politischer Aktivistinnen in seinen Mittelpunkt rückt, an. Dabei wird speziell auf die Erinnerungskulturen, auf die die Parlamentarierinnen zurückgreifen, eingegangen. Grundlage dafür sind 24 autobiografisch-narrative Interviews mit ostdeutschen Mandatsträgerinnen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene, die im Rahmen meines Dissertationsprojektes »Ostdeutsche Frauen in der Politik« durchgeführt und nach den narrationsanalytischen Auswertungsprinzipien (Schütze 1981; 1976) ausgewertet wurden. Dazu werden zunächst die theoretischen und methodologischen Überlegungen des bis dahin stark vernachlässigten Forschungsfeldes umrissen. Mit welchen Methoden die Soziologie soziale Gedächtnisse rekonstruiert, ist hierbei eine zentrale Fra-

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ge. Dazu wird aufgezeigt, warum gerade der qualitative Forschungszugang und speziell die biografieanalytische Forschungsstrategie geeignet sind, das bis dahin weder grundlagentheoretisch noch methodologisch erforschte Forschungsfeld zu erschließen. Darauf aufbauend wird die Relevanz der ›Gender‹-Perspektive zur Erforschung der Erinnerungskulturen für die Karrierechancen des weiblichen Geschlechts in der Politik in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Hier werden spezifisch zentrale Nachteile und Vorteile, die sich für die Politikerinnen aufgrund ihrer ›genderisierten‹ Rolle ergeben, aufgezeigt. Schließlich werden die Einstiegs- und Aufstiegsbedingungen ostdeutscher Mandatsträgerinnen und die damit verbundenen Erinnerungen, auf die sie in den autobiografisch-narrativen Interviews zurückgreifen, dargestellt. Auf dieser empirischen Basis werden letztendlich die aktuellen Karrierechancen von Frauen in der Politik tendenziell skizziert und dezidiert diskutiert.

2. THEORE TISCHE UND ME THODOLOGISCHE Ü BERLEGUNGEN ZU DEN H ANDLUNGSCHANCEN OSTDEUTSCHER P OLITIKERINNEN 2.1 Die qualitativen Forschungsstrategie Die Problematik »Ostdeutsche Frauen in der Politik« stellte bis dato einen »blinden Fleck« (Zurstiege 1998) in der Forschungslandschaft dar. Bisher existierten keine theoretisch fundierten Vorstellungen zu dieser Thematik, die für die Konzipierung von Erhebungsinstrumenten mit standardisierten quantitativen Methoden notwendig gewesen wären (vgl. Schlabs 2007: 75). Aus diesem Grund sind zur Erschließung neuer Forschungsfelder wenige oder gar nicht standardisierte methodische Designs, die im Vorfeld nicht schon den kategorialen Aufbau der Ergebnisse präjudizieren, ohne vollkommen entwickelter theoretischer Konstruktion geeignet (vgl. Flick/von Kardorff 2000). Durch den offenen und flexiblen Charakter des qualitativen Feldzugangs wurde es speziell möglich, sowohl die individuellen, kollektiven als auch gesellschaftlichen Sinnquellen, bezogen auf die sozialen bzw. biografischen Prozesse der Veränderung der Handlungsspielräume ostdeutscher Parlamentarierinnen im politischen Feld, zu rekonstruieren und die damit einhergehenden Erinnerungskulturen zu skizzieren. Da es hier um die besonderen Prozesse der Gestaltung und Veränderung der Geschlechterverhältnisse in der Politik aus mikro-soziologischer Perspektive geht, war die qualitative Forschungsstrategie geeignet, weil sie darauf abzielt, dichte und verlässliche Daten über die Sichtweisen von Individuen unter Berücksichtigung der subjektiven sozialen Konstruktion der Welt zu liefern (vgl. et al. Flick 1991). So war es möglich, die Mechanismen alltäglicher – gerade auch interaktiv-kommunikativer – Reproduktion und die Veränderungen von Ungleichheit und Machtverhältnissen, die einen Identitätsanspruch bieten (vgl. Behnke/Meuser 1999: 343), zu analysieren. Die Rekonstruktion der Ebene der differenten Geschlechterrollen

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und -bilder als gesellschaftliche Zuschreibungen und kulturelle Codierungen einerseits und der Ebene der Entschlüsselung der vielfältigen Interaktions- und Organisationsformen von Politiker*innen beiderlei Geschlechts im politischen Raum andererseits im Kontrast zu den bisherigen makro-politikwissenschaftlichen und makro-soziologischen Forschungsansätzen (z.B. Hoecker 2012; 2006; Holzhauer/Steinbauer 1994), die keine analytische Anbindung an die geschlechtsspezifischen Fragestellungen ostdeutscher Parlamentarier*innen zulassen, erforderte ein tragfähiges methodisches und theoretisches Gerüst. Eine neuartige Komposition theoretischer und methodischer Überlegungen, die nur durch einen qualitativen Feldzugang möglich war, ermöglichte die Erweiterung und Bereicherung sowohl für die soziologische und politikwissenschaftliche Forschung als auch für die Geschlechterforschung. Vor allem die Grundlagendiskussion über Macht- und Herrschaftsbeziehungen im Hinblick auf die Durchbrechung von Geschlechterdifferenzen im politischen Raum wurde erweitert. Die Untersuchung ostdeutscher Politikerinnen war explizit auf die Rolle von Geschlecht als ›soziales Konstrukt‹ der Handlungskontexte der Politikerinnen ausgerichtet, mit dem Ziel, zu analysieren, wie Geschlecht und Geschlechterdivergenzen in den Interaktions- und Handlungssituationen der Parlamentarierinnen aus den neuen Bundesländern konstruiert werden und welche Folgen sich aus ihren ›genderisierten‹ Rollen für ihre aktuellen Karrierechancen in der Politik ergeben.

2.2 Die Begründung eines biografieanalytischen Zugangs zur Erforschung der Erinnerungskulturen ostdeutscher Politikerinnen Um die Relevanz von Erinnerungskulturen für die Handlungsspielräume ostdeutscher Politikerinnen zu erforschen, bot sich die biografieanalytische Methode als Hauptunteruchungsmethode an, die in dieser Form von Fritz Schütze (1975) entwickelt wurde. Durch den offenen Steggreifcharakter1 der Interviews und den damit verbundenen dynamisierenden Erzählvorgang wird die Erfahrungsaufschichtung des Gedächtnisses konkretisiert (ebd.). Die Dynamik des Erzählvorgangs und die retroperspektiven Vorstellungen werden hierbei in Gang gesetzt und versetzen den/die ErzählerIn in die damalige Handlungs- und Erleidenssituation. Durch autobiografisch-narrative Interviews konnten demnach Rahmenbedingungen des faktischen sowie politischen Handelns und das Erleiden erlebter Erfahrungen der Politikerinnen aufgezeigt werden, die in Form von Abläufen 1 | Ziel der Steggreiferzählung ist es, eigene Ereignisverwicklungen in der Gegenwart und durch die Dynamik des Erzählvorgangs zu verflüssigen. Die zurückliegenden Erlebnisse werden auf diese Weise wieder lebendig und beginnen vor dem Auge des/der ErzählerIn wie im Film abzulaufen. In diesem Zusammenhang kann es wie auch im Film in der Darstellungsarbeit der Informantin/des Informanten durchaus zu Raffungen von einzelnen Ereignissen kommen (vgl. Glinka 2003: 9).

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rekonstruiert wurden (vgl. Schütze 1987; 1982; 1977). Die qualitative Forschung setzt an den subjektiven Wahrnehmungen und Handlungen von AkteuerInnen an und bietet die Möglichkeit, deren Konstruktion im Rahmen der Biografie und ihrer Erfahrungsaufschichtung zu rekonstruieren (vgl. Feldern 2003: 269). Aus diesem Grund konnte davon ausgegangen werden, dass ›Gender‹ nicht in konkreten Situationen interaktiv hergestellt, sondern gleichwohl in biografischen Erfahrungen und Erlebnissen konstruiert und reproduziert wird (ebda.). Vor allem durch die geführten autobiografisch-narrativen Interviews mit den Politikerinnen wurde es möglich, die Vergesellschaftung von ›sozialen Frauen‹ als widersprüchlichen Prozess zu hinterfragen, denn es zeigte sich, dass gerade Biografie als theoretisches Konzept und methodischer Ansatz die Möglichkeit bietet, den Identitätsanspruch von ›doing-gender‹-Prozessen zugänglich und theoretisch anschlussfähig zu machen (vgl. Feldern 2003: 272). In diesem Zusammenhang fragt die Konstruktion von Geschlecht – unabhängig vom Alltagswissen der Subjekte – nach dem Verhältnis gesellschaftlicher Konstituiertheit und somit nach der Aktivität der Subjekte, sei es als biografische Leistung oder als Performativität in Interaktion (bda: 261). Demnach thematisiert gerade Biografie als theoretisches Konzept die »subjektive Aneignung von ›Konstruktion von Gesellschaft […] ebenso wie die gesellschaftliche Konstitution von Subjekt‹« (Behnke/Meuser 1999: 53). Demnach konnte durch die Rekonstruktion der Politikerinnenbiografien skizziert werden, dass und wie Geschlecht und Geschlechterunterschiede konstruiert werden und welche Konsequenzen sich daraus für das soziale Erinnern bzw. Bewusstsein ostdeutscher Mandatsträgerinnen ableiten lassen. Diese konnten in den autobiografisch-narrativen Interviews vor allem durch die Episodenerzählungen, beispielsweise über alltägliche Konfliktereignisse, wie die Doppelbelastung des weiblichen Geschlechts durch Familie und Karriere, im Nachfrageteil der Interviews erzeugt und soziolinguistisch genauer analysiert werden (vgl. Riemann 2000; Schütze 1994: 238-247; Reim 1993).

3. D IE R ELE VANZ DER ›G ENDER ‹-P ERSPEK TIVE ZUR R EKONSTRUK TION DER K ARRIERECHANCEN OSTDEUTSCHER P OLITIKERINNEN Die Interviews mit den Politikerinnen verdeutlichen, dass ihre ›weibliche‹ Geschlechtszugehörigkeit und die damit aktivierten Stereotypen die zentrale Bedingung und Schlüsselkategorie sind, die ihre Politiklaufbahnen nachhaltig beeinflussten und beeinflussen. Dies zeigt sich z.B. bereits daran, dass Geschlecht sowohl in den Interaktions- als auch in den Arbeitsprozessen und -beziehungen in der Politik als vage Hintergrundskonstruktion stets persistent ist (vgl. Ridgeway 2001. Darin ist eine zentrale Ursache dafür zu sehen, dass die Politikerinnen häufig bei der Vergabe der mächtigsten Stellen und Ressorts weniger Berücksichtigung finden, aber auch viele von ihnen selbst kein Top-Amt anstreben. Die Rekonstruktion der auto-

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biografisch-narrativen Interviews mit den Politikerinnen aus den neuen Bundesländern verdeutlicht, dass ›Gender‹ auch für die Lebensgeschichten ostdeutscher Mandatsträgerinnen orientierungs- und handlungsleitend ist, aber vor allem erst durch die Wechselwirkung mit anderen Divergenzkategorien wie z.B. ›Bildung‹, ›Zeitpunkt des politischen Engagements‹ oder ›Alter‹ funktioniert und wirksam wird. Insofern zeigen die geführten autobiografisch-narrativen Interviews, dass ›Gender‹ vor allem erst im Zusammenkommen mit anderen Strukturen des sozialen Raumes wirksam wird (vgl. Dausien 1987) und Biografien als reflexive Strukturierungen von Erfahrungen eine konkrete Leistung von Akteurinnen darstellen. Dass die weibliche Geschlechtszugehörigkeit und die damit aktivierten Stereotype immer noch zur Benachteiligung von Frauen in der Politik führen, zeigen die Interviews und die damit einhergehenden Erfahrungen und Erlebnisse der befragten Politikerinnen deutlich. Ohne Zweifel ist die Politikbranche immer noch ein Bereich, in dem Geschlecht tagtäglich konstruiert wird und der Mann seiner klassisch ›männlichen‹ Geschlechtsidentität (vgl. Goffman 1994: 130) gerecht werden kann. Das heißt: »[It] involves a complex of socially guided preceptual, interactional and micro-political acitivities that cast particular pursuits as expressions of masculine and femine nature.« (West/Zimmermann 1991: 126) So sind gerade die Interaktions- und Arbeitsprozesse in der Politikbranche, besonders bei weit reichenden Entscheidungsprozessen, allgegenwärtig, persistent und in der Regel geschlechtlich eingefärbt. Dies zeigt sich z.B. bei Zugangsmöglichkeiten zu politischen Spitzenpositionen, bei der Besetzung wichtiger politischer Ämter und Ressorts sowie im Kontakt mit Abgeordneten unterschiedlichen Geschlechts. Hier wird ersichtlich, dass die Interaktion für die Aufrechterhaltung der geschlechtlichen Ungleichheit eine entscheidende Rolle spielt. Dies ist den befragten Politikerinnen bewusst, und die Interviews zeigen, dass diese Erfahrung verinnerlicht wurde. Die Rekonstruktion der Interviews und die damit einhergehenden Erinnerungskulturen der Politikerinnen zeigen, dass sich differente Gründe für den bestehenden Androzentrismus in der Politik konstatieren lassen: ›Soziale Männer‹ werden in ihrer Primärsozialisation immer noch stärker auf die Eroberung von Herrschafts- und Machtpositionen und auf die Ausübung von Macht, Herrschaft und Einfluss hin ausgerichtet als das Weibliche; auch wenn Frauen diesbezüglich aufgeholt haben, die öffentliche Meinung erwartet in ihren Präferenzstrukturen immer noch in der Regel eher eine ›männliche‹ Profilausübung der Politikerrolle. Demzufolge müssen sich viele Mandatsträgerinnen in der Regel in einem Amt bzw. Ressort besonders beweisen bzw. sie sind gezwungen, mehr zu leisten als ihre männlichen Kollegen. Aufgrund ihrer ›genderisierten‹ Rolle sind es tendenziell nach wie vor eher die Frauen, die ihre Karriere mit der familiären Arbeit zu vereinen haben. Dies ist oft Ergebnis ihrer Primärsozialisation im Elternhaus und den Erinnerungen an die zweigeschlechtliche Rollenaufteilung im Elternhaus geschuldet. Auch wenn ihre Mütter häufig dem Bild der Vollzeitberufstätigen entsprachen, hatten sie den Hauptteil bei den reproduktiven Pflichten zu leisten.

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Die Politikbranche ist eher auf die ›männliche‹ Normalbiografie zugeschnitten und den männlichen Abgeordneten stehen immer noch besser funktionierende Netzwerke, Seilschaften und Peergemeinschaften zur Verfügung, auf die sie bei ihrem Ein- und Aufstieg in die Politik zurückgreifen können. Dies verschafft ihnen einen entscheidenden Vorteil gegenüber der weiblichen Konkurrenz, die, auch wenn sie aufgeholt hat, häufig das Nachsehen hat. Ihre doppelte oder gar dreifache Belastung führt u.a. dazu, dass viele der Parlamentarierinnen oft weniger Zeit und Energie in ihr Fortkommen und ihren Aufstieg in der Politik investieren können und wollen. Aus diesem Grund sind sie oft mit einer politischen Tätigkeit in der ›zweiten‹ Reihe zufrieden. Viele Ehemänner haben Probleme mit einer besonders erfolgreichen Partnerin. Aufgrund ihrer eigenen Sozialisation und den damit verbundenen Erinnerungskulturen, die besagen, dass das männliche Geschlecht stärker als das weibliche auf Machtpositionen ausgerichtet sein muss, wird dies verständlich. Hierbei spielt Angst vor Verlust seiner hegemonialen Stellung sicherlich eine Rolle. Andererseits zeigt die Rekonstruktion der Erinnerungen der Politikerinnen, dass es besonders politisch ambitionierten Frauen gelingt, die geschlechtsspezifischen Abwehrmechanismen nicht nur mit der Unterstützung von Quotierungsregelungen, Frauenlisten oder eines (quasi) väterlichen Mentors zu überwinden. Politikerinnen verfügen in der Regel über spezifisch ›weibliche‹ sozialisierte Kompetenzen wie Multitasking, Empathie und Sinn für die Bedürfnisse der Wählerschaft. Gerade weil sie häufig diese ›von Haus aus‹ erworbenen Fähigkeiten mit ›männlich‹ zugesprochenen Fähigkeiten zu verknüpfen verstehen2 , eröffnen 2 | In diesem Zusammenhang soll auf den Psychologen und ehemaligen Willy-BrandtBerater Horst-Eberhard Richter verwiesen werden, der in seiner Studie zur »Krise der Männlichkeit in einer unerwarteten Gesellschaft« (2006) zu der Erkenntnis gelangt, dass Frauen zu Beginn des dritten Jahrtausends immer besser in der Lage sind, sowohl die dem weiblichen als auch die dem männlichen Geschlecht zugeschriebenen Eigenschaften miteinander zu kombinieren. Insbesondere durch ihre Flexibilität in der Übernahme nicht geschlechtskonformer ›männlicher‹ Tugenden würde es dem weiblichen Geschlecht immer stärker gelingen, den Männern nicht nur ebenbürtig zu werden, sondern sie auch zu überholen. Oftmals hielten Männer noch starr an ihren durch die Sozialisation erworbenen traditionellen Talenten fest und seien davon überzeugt, dass diese in allen Lebensbereichen weiterhin das Maß aller Dinge seien. So werde plausibel, warum sich Frauen dem »männlichen« Weltbild inzwischen nicht nur angenähert haben, sondern sich erfolgreich gegenüber der Konkurrenz behaupten können. Diese Meinung bestätigen auch die ostdeutschen Spitzenpolitikerinnen, die im Fokus der Untersuchung standen. Richter sieht daher in diesem Prozess verständlicherweise nicht nur eine soziologische Umstrukturierung im Geschlechterverhältnis, sondern zugleich auch kulturpsychologisch einen Umbruch. Zurecht begründet Richter seine These damit, dass bei »[…] Männern zwar eine Identitätsverunsicherung, nicht aber eine kompensatorische Ausfüllung des Gefühlsanteils stattgefunden hat, der durch den Rollenwandel der Frauen in den Hintergrund getreten ist, kann man

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sich immer öfter besondere politische Handlungsmöglichkeiten für die ›sozialen Frauen‹. Somit ist den Politikerinnen bewusst, dass sie ihre Karriere u.a. auch ihrem politischen Charisma, ihrer Fürsorglichkeit, ihrem Verantwortungsgefühl oder ihrer Rolle als Kommunikationsvirtuosin zu verdanken haben.

4. E IN - UND A UFSTIEGSBEDINGUNGEN OSTDEUTSCHER M ANDATSTR ÄGERINNEN 4.1 Wendezeit — unverhoffter Karrierekick für politische Aktivistinnen der ›ersten‹ Stunde Im Mittelpunkt meines Forschungsinteresses stand insbesondere die Frage, ob und inwieweit der Epochenwechsel 1989 Einfluss auf die Gestaltungs- und Partizipationschancen politischer Aspirantinnen aus den neuen Bundesländern hatte. Demnach hat sich vor allem der politische und kulturelle Systemwechsel in der ehemaligen DDR positiv auf die politischen Partizipationsmöglichkeiten ostdeutscher Frauen ausgewirkt. Für das weibliche Geschlecht ergaben sich besondere Gestaltungs- und Handlungsspielräume in der Politik in der frühen Wendezeit, d.h. in der ›Stunde Null‹ des Epochenwechsels. Der Systemwechsel in der DDR und die damit eingeleiteten Transformationsprozesse boten die Ausnahmesituation zunächst und kurzzeitig vergleichbare Startbedingungen für beide Geschlechter, um in den neuen Bundesländern eine neuartige Politikszene nach westdeutschem Vorbild zu etablieren. Wie die Biografieanalysen aufzeigen, konnte die überwiegende Zahl der heutigen Parlamentarierinnen aus den neuen Bundesländern den Grundstein für eine Karriere in der Politik in den Jahren 1989/1990 legen. Weil in der unmittelbaren Nachwendezeit ein ›Machtvakuum‹ im Osten Deutschlands bestand und die entsprechenden mächtigen Positionen in der Politik zum Teil von Männern noch nicht besetzt werden konnten, boten sich hervorragende politische Handlungsmöglichkeiten für von der früheren DDR-Herrschaftsordnung unbelastete und sich frühzeitig nach der Wende engagierenden Frauen. Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der politischen Aktivistinnen ursprünglich keine Karriere als Berufspolitikerinnen anstrebte. Vielmehr sahen sie in den Protesten erstmals die Gelegenheit, ihre Kritik am DDR-Staat offen kundzutun und einen Beitrag zu leisten, die Gesellschaft nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen aktiv zu verändern. In der Regel hatten diese Frauen die von der DDR propagierten politischen Leitlinien und die marxistisch-sozialistische Ideologie nicht verinnerlicht. Deshalb beteiligten sie sich an den Friedensgebeten, Demonstrationen und Protestkundgebungen und allein daraus eine Schwächung der emotionalen Widerstandskraft ableiten, die von einer Unterwerfung unter die Bedrohungspolitik und die moderne Kreuzungsideologie schützen sollten« (Richter 2006: 51).

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schlossen sich in der Wendezeit frühzeitig einer Partei an. Aufgrund dieser gemeinsamen Erfahrungen und Erlebnisse bilden diese politischen »Aktivistinnen der Stunde Null« im mannheimschen Sinne einen gemeinsamen »Generationszusammenhang« (Mannheim 1980: 542f.). Das heißt, die Partizipation und Teilhabe an den politischen Ereignissen der Wendezeit lässt sie zu einer »Schicksalsgemeinschaft« werden (ebd.).3 Aus diesem Grund können sie als »politische Aktivistinnen der ersten Stunde« bezeichnet werden, da sie den Grundstein für ihre Parlamentarierinnenkarriere in dieser gesellschaftlichen Umbruchsituation legen konnten. Auffällig ist, dass der überwiegende Anteil der ›Parlamentarierinnen der ersten Stunde‹ religiös gebunden ist, was in Anbetracht dessen, dass die DDR-Bevölkerung, gemäß der marxistisch-leninistischen Ideologie des Arbeiter-und-Bauern-Staates, mit über 90 Prozent nicht kirchlich gebunden war, zunächst doch verwundert. Vor dem Hintergrund, dass eine kirchliche Konfession und Sozialisation auf eine gewisse ablehnende Haltung gegenüber der DDR bzw. auf eine mögliche Distanzierung zu ihren soziokulturellen, politischen und nicht zuletzt ideologischen Regeln und Normen schließen lässt, überrascht dieses Faktum jedoch nicht. Demzufolge zeigt die Rekonstruktion der Interviews und der Erinnerungen der befragten Politikerinnen, dass sich exzellente Karrierechancen für das weibliche Geschlecht durch ein sehr zeitiges politisches Engagement und mit einer ›reinen‹ Vita in dieser Ausnahmezeit ergaben. Wie die Untersuchung bestätigt, war es für die Aktivistinnen, die sich bereits während der Umbruchphase 1989/1990 politisch engagierten und in einer Partei etablieren konnten, noch ohne größere geschlechtsspezifische Abwehrmechanismen seitens der männlichen Konkurrenz möglich, nicht nur ehrenamtliche Politikerin zu werden, sondern häufig auch den Status als Berufspolitikerin zu erreichen bzw. mitunter auch in politische Ressorts wie Wirtschaft oder Finanzen vorzudringen, die normalerweise für das männliche Geschlecht ›reserviert‹ waren und weitgehend immer noch sind. Aus diesem Grund ist zu schlussfolgern, dass die politischen Partizipations- und Aufstiegsbedingungen ostdeutscher Politikerinnen der ›ersten Stunde‹ viel günstiger als für die der nachrückenden weiblichen Abgeordneten waren, die sich häufig ihren Weg in die Politik über die ›Ochsentour‹ 4 erkämpfen mussten und müssen. Da die besondere Situation des gesellschaftlichen Umbruchs ohne Zweifel neuartige und einmalige Handlungsspielräume für das weibliche Geschlecht im politischen Raum bot, lässt sich resümieren, dass die Differenzkategorie ›Gen3 | Die kollektiven Erfahrungen prägten die Frauen, die sich in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs politisch engagierten.Diese mussten sich ihren Weg in die Politik häufig über den herkömmlichen Weg, über die steinige ›Ochsentour‹, erkämpfen. 4 | Der Begriff der ›politischen Ochsentour‹ umfasst den oftmals mühsamen Verlauf einer Politikkarriere, insbesondere seine Parteikarriere, d.h. durch Orts- und Kreisverbände, Gemeinde- und Stadträte. Beim Erfolg und Durchhalten kann es später zur Vergabe bedeutenderer Positionen in der öffentlichen Verwaltung kommen.

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der‹, insbesondere in der Wechselwirkung mit solchen Differenzkategorien wie ›Zeitpunkt des politischen Engagements‹ und ›Einstellung zum DDR-System‹, Einfluss auf die Karrieren der ostdeutschen politischen Aktivistinnen hatte und sich in deren Bewusstsein manifestierte. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Ostfrauen u.a. durchwegs über eine gute berufliche Ausbildung verfügten, berufstätig und an die »Doppelbelastung« durch Beruf und Familie gewöhnt waren. Aufgrund ihrer Berufstätigkeit verfügten sie in der Regel auch über genügend Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, was zentraler Bestandteil ihrer Erinnerungen, die in den Interviews generiert werden konnten, ist. Daher hatten diese Frauen, die während der Wendezeit bereits im Erwachsenenalter waren, gegenüber den jüngeren Politikerinnengeneration(en) aus den neuen Bundesländern zunächst deutlich bessere Chancen auf eine Karriere in der Politik. Für die jüngeren ostdeutschen Politikerinnen, die aufgrund ihrer ›Generationslagerung‹ (ebd.) zur Wendezeit noch im Kindes- oder Jugendalter waren, war und ist es nicht möglich, wie die Frauen der ›ersten‹ Generation ostdeutscher Politikerinnen von den einmaligen Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten zu profitieren. Sie haben heute deutlich größere Schwierigkeiten, sich gegen die männliche Konkurrenz zu behaupten. Divergierend dazu waren und sind die jüngeren Generationen aus den neuen Bundesländern aber z.B. aufgrund ihres Alters nicht gezwungen (gewesen), sich mit ihrer eigenen DDR-Vergangenheit auseinanderzusetzen.

4.2 Aufstiegsbedingungen 4.2.1 Mentorenschaft Ein ›männlicher‹ Zugangsweg, um sich gegen die männliche, aber auch gegen die weibliche Konkurrenz durchzusetzen, ist die so genannte ›Mentorenschaft‹ durch einen einflussreichen männlichen Politiker. Kontextuell ist den ostdeutschen Top-Politikerinnen bewusst, dass sie den Sprung an die politische Spitze und die Überwindung der nach wie vor bestehenden ›androzentristischen‹ Strukturen vor allem durch die Unterstützung einer männlichen mächtigen Persönlichkeit geschafft haben. Indem ein einflussreicher männlicher Politiker die politische Karriere seines Zöglings tatkräftig und gezielt förderte, war es der Politikerin möglich, die ›androzentristischen‹ Strukturen unter dem Schutz ihres Mentors zu überwinden, ohne die zahlreichen, sonst bestens funktionierenden, ›männlichen‹ Abwehrmechanismen zu spüren zu bekommen. In diesem Kontext lassen sich bei der Mentorenschaft zwei unterschiedliche Arten ausmachen: Zum einen gibt es die politischen Aktivistinnen, die von Beginn ihrer Politiklauf bahn an von männlichen Politikerpersönlichkeiten gezielt gefördert wurden. Gerade ostdeutsche Aspirantinnen, die sich in den ›ersten‹ Stunden des gesellschaftlichen Umbruchs politisch engagierten und die bereit waren, gesellschaftliche Verantwortung zu tragen, gelangten in die Obhut eines Mentors. Förderer der politischen Karrieren von Ostparlamentarierinnen waren oft männliche Top-Politiker mit viel Macht und Einfluss aus den alten Bundesländern wie Parteivorsit-

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zende, (ehemalige) Bundesminister, Ministerpräsidenten oder gar der (amtierende) Bundeskanzler. Durch die Unterstützung und Macht ihres Förderers waren diese politischen Aktivistinnen von Beginn an stark gegenüber ihren KontrahentInnen, welche sich ihren Weg in die Politik selbst erkämpfen mussten, begünstigt. Prominente Beispiele sind Hans-Dietrich-Genscher und Cornelia Pieper, Joachim Vogel und Dagmar Schipanski und nicht zuletzt Helmut Kohl und Angela Merkel. Eine zweite Gruppe der ostdeutschen Politikerinnen, die ebenfalls den Sprung in die Politik realisieren konnten, erfuhr keine derartige Unterstützung zu Beginn ihrer Karriere. Diese Frauen mussten sich den Weg in das Parlament und/oder in ein zentrales politisches Amt erst selbst erkämpfen. Wie die Rekonstruktion und die damit einhergehenden Erinnerungen der Politikerinnen offenbaren, zeichneten sich diese politischen Aspirantinnen aber, z.B. in einem so genannten ›männlichen‹ Politikfeld, durch hervorragende Arbeit aus. Dadurch gerieten sie allmählich in die Aufmerksamkeit mächtiger Politiker. Indem die entsprechende Abgeordnete bewies, dass sie in der Lage ist, die an sie gestellte Rollenerwartung bestens auszuüben, unterstützte der Politiker sie schließlich bei ihren politischen Intentionen wie etwa im Kampf um ein einflussreiches Amt.

4.2.2 ›Frauenticket‹ Eine weitere Gruppe ostdeutscher politischer Aktivistinnen schaffte den Aufstieg in die politische A-Liga mehr oder weniger durch das ›Frauenticket‹. Häufig mussten sie sich am Anfang ihrer Karriere in einem klassischen Politikressort oder in entsprechenden helfenden Zuarbeiten für die männliche Politikprominenz, d.h. im engen Rahmen der Zur-Verfügung-Stellung nur sehr begrenzter Kommunikations- und Handlungskompetenzen, beweisen. Durch ein plötzlich auftretendes politisches »›Machtvakuum‹ und das Fehlen einer fähigen männlichen zentralen Politikerpersönlichkeit wurden sie, da sie sich bereits im Umkreis eines mächtigen männlichen Abgeordneten ›bewährt‹ hatten, für ein zentrales Amt berücksichtigt. Die Darstellung der Aufstiegskarrieren der Politikerinnen verdeutlicht, dass sich oftmals das politische Handeln, die Energien und die Kompetenzen der Parlamentarierinnen erst durch eine Vermischung von ›Patronats- und Machtvakuumsbedingungen‹ entfalten konnten. Die Rekonstruktion der Erinnerungskulturen der befragten ostdeutschen Politikerinnen zeigt, dass die Gestaltung der speziellen endorisierten politischen ›Zugangswege und Profilentfaltungen‹, die sich in spezifischen ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Politikstilen oder auch in deren Vermischung niederschlagen, oft von politischen Vorbildern geprägt sind. Tendentiell und teilweise werden vor allem Parlamentarierinnen, die bereits frühzeitig im Laufe ihres Sozialisationsprozesses und/oder ihrer Politikkarrieren von einem ›männlichen‹ Vorbild unterwiesen wurden, häufig in ihrem ›Orientierungs- und Präsentationsprofil‹ von ihnen auch heute noch geprägt. Dies wird von den Politikerinnen aus der Retroperspektive als auch im Steggreifcharakter des Interviews thematisiert und verortet. Außerdem lässt sich resümieren, dass

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zahlreiche Politikerinnen aus ihrem eigenen kulturellen und biografischen Vorrat ›weiblicher‹ und ›männlicher‹ Identitätsbilder wie z.B. der ihres Vaters oder ihrer Mutter, die ihre heutigen ›Präsentations- und Orientierungsstile‹ in der Politik stark beeinflusst haben, schöpfen können.

5. S CHLUSSBE TR ACHTUNG : E GALITÄRE K ARRIERECHANCEN Z WISCHEN F R AUEN UND M ÄNNERN IN DER P OLITIK ? Die Situation von ›sozialen Frauen‹ in der Politik befindet sich zu Beginn des neuen Jahrtausends in einer ambivalenten Situation und in einem wahrhaften Dilemma. So hat sich zwar einerseits das gesellschaftliche Orientierungsbild von Politikerinnen in postmodernen Gesellschaftssystemen inzwischen anerkannt, aber der Androzentrismus in der Politikwelt besteht, trotz einiger Brüche, immer noch fort. Wie der Beitrag zeigt, gelang es politisch sehr engagierten Frauen gerade in gesellschaftlichen und politischen Umbruchsituationen, den Grundstein für ihren Ein- und auch Aufstieg in die Politik zu legen. Dass diese Erfahrung tief in den Erinnerungen von ›sozialen Frauen‹ verwurzelt ist, zeigen die Interviews mit den ostdeutschen Politikerinnen. Sie verdeutlichen, dass es dem weiblichen Subjekt vor allem durch ›Mentorenschaft‹, ›Machtvakuum‹ und die spezifische Verbindung vom besonderen ›Timing-Gefühl‹ gelingt, mit dem ›männlichen‹ Geschlecht, dem Eigenschaften wie Machthunger zugesprochen werden, zu konkurrieren und immer öfter politische Spitzenpositionen zu erklimmen. Dass politisch interessierte Frauen im Kampf um politische Spitzenpositionen oft das Nachsehen haben, wird vor dem Faktum, dass die ›weibliche‹ Sozialisation weiter in der Regel weniger an Machterwerb, Konkurrenz und beruflicher Karriere orientiert ist und dass die vorhandene gemeinschaftsorientierte Perspektive und Beziehungsgestaltung zahlreicher Parlamentarierinnen mit ›Doppelvergesellschaftung‹ (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 1987) und der damit verbundenen Gefahr der Überlastung des »weiblichen« Lebenslaufes aufgrund ihrer Familien- und Mutterrolle einhergehen, deutlich. Die größeren und mächtigeren ›männlicheren‹ Peergemeinschaften, Seilschaften und Machtkartelle und die damit verbundenen Widerstandskulturen, die die weibliche Konkurrenz und die Karriereentfaltung von Frauen in der Politik oft konterkarierend hemmen, wirken sich für Politikerinnen oft defizitär aus. Letztendlich ist zu resümieren, dass sich die weibliche Geschlechtszugehörigkeit sowohl als Chance aber auch als Erschwerung der Integration von Frauen in der Politik auswirkt. Aus diesem Grund kann noch längst nicht von einer Durchbrechung des geschlechter-segregierten Politikraums gesprochen werden.

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Die Kontinuität einer Abnormität Erklärungen zur Trägheit einer schwul-lesbischen Gleichberechtigung in Österreich Martin J. Gössl

E INLEITUNG » Im Griechischen gibt es zwei Varianten des Wortes Ethos: ethos mit dem Buchstaben Epsilon heißt soviel wie ›Wohnstätte, Gewohnheit, Sitte‹; mit dem Buchstaben Eta bedeutet das Wort fast dasselbe, legt aber die Betonung auf ›Sitte, Sittlichkeit und Charakter‹. Die ehtike episteme oder ta ethika (beide Male mit eta) reflektiert somit darüber, was das Ethos ist bzw. wie und warum denn eine bestimmte Sitte entsteht und besteht. Ethik ist also primär nicht selbst Sitte oder ein bestimmtes Verhalten, sondern die Reflexion darüber, obwohl sekundär ›Ethik‹ dann doch wieder im Sinne von ›Sittlichkeit‹ gebraucht wird und man z.B. von einem ›ethischen‹ bzw. ›unethischen‹ Menschen, Verhalten etc. spricht und dabei nicht mehr die Reflexion, sondern die Qualität von Handlungen und Einstellungen meint.« (Suda 2005: 15)

So die einleitenden Worte des Ethikers Max Suda in seinem Überblickswerk über Ethik. In weiterer Folge lautet es: »Neben den positiven (d.h. explizit gemachten und niedergeschriebenen) Gesetzen hat sich die Ethik immer auch mit den selbstverständlichen Gesetzen befasst, die mit dem Menschsein gegeben (also überindividuell und überstaatlich) sind, und die man bei einigem Bemühen mit der eigenen Vernunft erkennt: Es handelt sich um die Regeln des Naturrechts. Das antike Naturrecht wurde von den Stoikern systematisch diskutiert, es fand sogar Eingang in das Neue Testament (Röm. 2!) und in die ethische Theoriebildung der patristischen und scholastischen Systeme. In der Neuzeit bildet das Naturrecht die Wurzel (oder mindestens eine der Wurzeln) der Menschenrechte. […] ›Summum ius summa iniuria.‹ (Das höchste Recht ist das höchste Unrecht.) Dieser Satz will sagen, dass die strenge Anwendung von Gesetzen Unheil bewirken könne. Eine solche Kritik kann offensichtlich nur von einem übergeordneten ethischen Standpunkt her erfolgen. Deshalb ist des öfteren der

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen Gedanke vertreten worden, dass zuerst eine ethische Grundlage vorhanden sein müsse, damit Gesetze erlassen werden können, und nicht umgekehrt.« (Ebd.: 18)

Was ist Recht oder Unrecht, Schutz oder Bevormundung, Norm oder Abnorm? Lesben und Schwule haben in Österreich seit Ende des Zweiten Weltkrieges einige Erfolge feiern dürfen. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen schufen in vielen – jedoch nicht in allen – Bereichen eine Gleichstellung. Die Abnormität einer ›widernatürlichen Unzucht‹ hat sich im öffentlichen sowie juristischen Verständnis zu einem Menschenrecht gewandelt. Entsprechendes Bewusstsein in der Bevölkerung und bei den gewählten demokratischen VertreterInnen im österreichischen Nationalrat, führte zu einer kontinuierlichen Entwicklung der Gleichberechtigung gleichgeschlechtlich-liebender Menschen. Im Lichte des Erfolgs scheinen viele Brüche der nur scheinbar stringenten Entwicklung zu verblassen. Gleichsam erfahren gewisse Rechtsbereiche selbstverständliche Annahme und das Vertrauen, auf breiter Basis der Zustimmung statt eines realen Prinzips der Zufälligkeit entschieden worden zu sein. Im folgenden Artikel soll dieser Rezeption einer erfolgreichen Durchsetzung lesbisch-schwuler Forderungen die Frage und der Versuch einer Antwort entgegengestellt werden, ob der Entwicklung eines Menschenrechts auf eine schwul-lesbische Identität nicht auch das historische Moment einer Kontinuität der Abnormität innewohnt und dabei keineswegs der sichere Hafen ethischer Gewissheit über die Natürlichkeit von sexuellen Orientierungen erreicht wurde. Der Entzug einer natürlichen Grundlage führt, wie im Eingangszitat dargestellt, zu direkten Auswirkungen auf menschenrechtliche Überlegungen und ebenso zu geltenden und angestrebten gesetzlichen Bestimmungen einer queeren Gleichstellung. Eine kollektiv-euphemistische Erinnerungskultur wäre dabei die Erklärung für die Entspannung einer schwul-lesbischen Gleichberechtigungsbewegung, welche sich jedoch im Lichte der Fakten als Trägheit entpuppt. Als Grundlage für die folgende Ausführung dienen die parlamentarischen Dokumente des österreichischen Nationalrates von 1945 bis 2002. Hierbei stehen die Argumentationen rundum die rechtliche Gleichstellung schwul-lesbischer Personen im Zentrum der Aufmerksamkeit.

P ROLOG »Wir sollten auch beachten, daß die Kategorie›Geschlecht‹ und die naturalisierte Institution der Heterosexualität Konstrukte, gesellschaftlich instituierte und regulierte Phantasien oder ›Fetische‹ sind – d.h. keine natürlichen, sondern politische Kategorien (Kategorien, die zeigen, daß der Rückgriff auf das Natürliche in solchen Zusammenhängen stets politisch ist). Der zerrissene Körper, die Kriege der Frauen sind daher als textuelle Gewalt bzw. als Dekonstruktion von Konstrukten zu verstehen, die immer schon eine Gewalt gegen die Möglichkeiten des Körpers darstellten.« (Butler 1991: 187)

M. J. Gössl: Die Kontinuität einer Abnormität

Dieses Konstrukt einer heterosexuellen Norm hegemonialer Männlichkeit (vgl. Connell 2005) findet auch in der Regulierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens seinen Niederschlag. Die Förderung gewollter Familienkonstellationen oder das Verbot von Sodomie (vgl. Hergemöller 1998) haben rechtliche Rahmensetzungen erfahren. Im 20. Jahrhundert angekommen, scheinen mit dem Aufflammen der sozialen Revolution 1968 gerade diese geahndeten Verbrechen und weitverbreiteten Tabuisierungen eine spürbare Relevanz zu erlangen. So stellte die Anerkennung vieler unterschiedlicher Identitätskategorien (Geschlecht, Sexualität, Ethnie etc.) und die Ablegung eines aufoktroyierten Schamgefühls, treibende Kraft für Veränderungen dar. Gerade im schwul-lesbischen Bereich, so der amerikanische Historiker David Halperin, fungiert(e) die Scham als ein ungemein wichtiger Motor für die gesellschaftliche Veränderung: »Gay pride makes sense to me only in relation to shame, and it is only by returning to confront what still has the power to make us ashamed that we can meaningfully continue the work of gay pride.« (Halperin/Traub 2009: 44) Doch ist es ausreichend, die Schamhaftigkeit anzuerkennen und im selben zu bekämpfen, um die Norm zu wandeln, oder anders formuliert, die Abnormität verlassen zu können? Diese Immanenz der Scham stellt wohl eine bemerkenswert tragfähige Krücke für die Queer Studies dar, im Besonderen für die historischen Wissenschaften, scheint doch im speziellen die gleichgeschlechtliche Empfindung nur schwerlich kategorisierbar zu sein. Auch für den hier gewählten Zeitraum, betrachtet man alleine die terminologischen Herausforderungen: »Natürlich tragen sozialer Status und Klasse auch zur Produktion der letzten vier Kategorien [Effemination, Päderastie/Sodomie, Freundschaft/Liebe, Passivität/Inversion] bei. Zum Beispiel trifft Effemination besonders auf solche Männer zu, deren sozialer Rang und Status so hoch sind, daß sie für den Verlust oder die Abwertung ihres Ranges anfällig sind, falls ihr Verhalten von dem abweicht, das die Eliten akzeptieren. Freundschaft/Liebe fordert Ranggleichheit zwischen den Partnern, wohingegen Päderastie/Sodomie von einer sozial relevanten Differenz der Partner bezüglich Alter, Status und sexueller Rolle abhängt. Passivität/Inversion definiert sich in bezug auf die Geschlechterhierarchie. Mit der Ankunft der Homosexualität [als Terminologie] werden die Differenzsysteme, die den Strukturen der vier früheren Kategorien inhärent waren, externalisiert und auf der Grenze zwischen Homound Heterosexualität rekonstruiert; die alten Kategorien stellen nun neue Strategien sozialer Differenzierung und Regulierung dar. Die homo-/hetero-Kategorien wirken nicht in der Weise, daß sie eine bereits existierende Geschlechter- oder Statushierarchie aufrechterhalten, sondern daß sie mittels Differenzierung und Disziplinierung die zuvor nicht kategorisierte Masse theoretisch identischer ›Individuen‹ verwaltet. Eine der Bezeichnungen, die diese Technik der Beherrschung einer Masse von Individuen mittels Vergleichen und Differenzierungen benennen, ist die Normalisierung.« (Halperin 2003: 219)

Diese erfolgreiche Umsetzung einer Heteronormativität in Österreich soll im Folgenden problematisiert werden.

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1. D IE S IT TLICHKEIT ALS THEMA IM ÖSTERREICHISCHEN N ATIONALR AT »Allerdings können sich Werte und Regeln auch überleben und werden gesellschaftlich nicht mehr angenommen, was sich dann in einer wachsenden Nichtbeachtung der entsprechenden Strafnormen, also in zunehmender ›Kriminalität‹ ausdrücken kann. Vielleicht wird dann nicht mehr verfolgt. Geschieht dies doch, kann es zu Aufforderungen kommen, sich zu solchen Straftaten zu bekennen, um sie auf diese Weise außer Kraft zu setzen. Oder es wird schon einmal die Norm umdefiniert, um ihre Übertretung zu ermöglichen […]« (Sessar 2001: 25),

so der Kriminologe Klaus Sessar. Genau jene angesprochene Umdefinierung vollzog sich in Österreich bei der strafrechtlichen Beurteilung der gleichgeschlechtlichen Liebe zwischen Erwachsenen. Doch bevor es überhaupt zu einer Umdefinierung der rechtlichen Rahmenbedingungen kommen konnte, war die Enttabuisierung, also die Formulierung einer Definition auf breiter Ebene, notwendig. Im Rahmen der Sittlichkeitsdebatten des österreichischen Nationalrates stellte der ›Kampf gegen Schmutz und Schund‹ ein immer wiederkehrendes Thema dar. Die Formulierung dessen, was nun ›Schmutz und Schund‹ denn überhaupt sei, blieb dabei jedoch vage. Die beschlossene Regierungsvorlage nennt die Unzüchtigkeit als zu bewertendes Kriterium ohne weitere Spezifikationen. Dies implizierte, neben Darstellungen von Gewalt, ebenso eine Verbreitung von Inhalten über gleichgeschlechtliche Liebe (vgl. Gössl 2011: 78-81). Diese Implikation des Gemeinten, also die scheinbare Klarheit über die umfassenden Dimensionen von Unzüchtigkeit, entbehrte die Abgeordneten von der Aufgabe der vertiefenden Ausführung dessen, welche Taten nun als bestrafungswürdig angesehen wurden und welche nicht. Diese Form der Klarheit, welche ebenfalls für die Verwaltung zu gelten hatte, da diese für die Exekution der Verordnung zuständig war, klassifizierte die gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualität als etwas Unaussprechliches. Die ›stumme Sünde‹ scheint hier als gesellschaftlicher Mechanismus nach 1945 erneut zu greifen und an europäisch-mittelalterliche, christlich-geprägte Traditionen anzuknüpfen (vgl. Hergemöller 1999). Die Scheu, gleichgeschlechtliche Liebe zu benennen, musste mit dem Einsetzen der Überlegungen zu einer Strafrechtsreform zumindest für einen kleinen Kreis von Abgeordneten abgelegt werden. Dies und die Eröffnung der Debatte im Plenarsaal des österreichischen Nationalrates, führte schließlich zum endgültigen Bruch mit einem Konzept der Unaussprechlichkeit hin zu einem Diskurs der Zuschreibungen im Rahmen menschenrechtlicher Notwendigkeiten.

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2. D IE N OT WENDIGKEIT EINER U MDEFINIERUNG Als 1971 die Debatte um die kleine Strafrechtsreform auf die Tagesordnung des österreichischen Nationalrats gesetzt wurde, bildete die Neuregelung der ›einfachen Homosexualität unter Erwachsenen‹ einen zentralen Punkt der Reform. So wusste der Berichterstatter aus dem Justizausschuss zu berichten, dass, als wohlgemerkt erstes Argument für diese Neuregelung: »In fast allen Staaten Europas […] homosexuelle Handlungen, die ohne besondere qualifizierende Umstände begangen werden, nicht mehr bestraft [werden], und das zum Teil schon seit langer Zeit. Der letzte westeuropäische Staat, der außer uns die Homosexualität unter Erwachsenen verpönte, nämlich Finnland, hat zu Beginn dieses Jahres sein Gesetz geändert.« (Gössl 2011: 88)

Jedoch scheint es dem Berichterstatter und Abgeordneten Karl Reinhart von der SPÖ durchaus wichtig, im Verlauf seiner Rede festzustellen: »Der Ausschuß stimmte aber darin überein, daß die Aufhebung der Strafbarkeit der einfachen homosexuellen Betätigung und der zwischen Frauen sowie der Sodomie nicht dahin zu verstehen sei, daß diese Verhaltensweise ab nun sozial adäquat betrachtet werden könne.« (Ebd.: 89) Diese klare Feststellung der VertreterInnen des Justizausschusses führte zur Formulierung der vier Folgeregelungen, welche gleichgeschlechtliche Beziehungen in Teilbereichen weiterhin unter Strafe stellten: a) gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen männlichen Personen unter 18 Jahren, § 209 StGB; b) gewerbsmäßige gleichgeschlechtliche Prostitution (bzw. ›Unzucht‹, wie es im Gesetzestext formuliert wurde), § 210 StGB; c) Werbung für sexuelle Handlungen (auch hier erneut die Formulierung ›Unzucht‹ im Gesetzestext) mit Personen des gleichen Geschlechts oder mit Tieren, § 220 StGB; d) Verbindung zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Sexualität (auch hier kam die Bezeichnung ›Unzucht‹ zum Tragen), § 221 StGB (vgl. ebd.: 89f.). Die Argumentation der Abgeordneten folgte den inhaltlichen Rahmensetzungen des Berichterstatters beinahe zur Gänze. Otto Skritek von der SPÖ erklärte in seiner Wortmeldung: »Wir haben gleichzeitig, das wollen wir hier noch einmal festhalten, ebenso einmütig festgestellt: der Schutz der Jugendlichen bleibt, es soll Homosexualität jetzt nicht, weil sie straffrei wird, eine erwünschte, sagen wir, Betätigung darstellen.« (Ebd.: 91) Walter Hauser von der ÖVP wusste in seiner Rede zu erklären: »Im Regelfall handelt es sich aber um eine erworbene Eigenschaft. Sie beruht, wie die Wissenschaft heute annimmt, auf frühkindlichen Erlebnissen, die oft in der Mutter-Kind-Beziehungen liegen und zu falschen Identifikationen führen können, die später zur Unsicherheit gegenüber den normalen Sexualobjekten führen. Erst durch solche frühkindliche Entwicklungen werden jene Bedingungen geschaffen, die bei späteren, in der Pubertätsphase eintretenden homosexuellen Erlebnissen zu einer Manifestation der abwegigen Triebrichtung

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen führen können. Aussicht auf Heilung eines echten Homosexuellen durch die psychiatrische Medizin besteht nach Aussagen der Wissenschaft kaum.« (Ebd.: 91)

Dieser ging noch tiefer in die Materie und argumentierte für die bewusste Verwendung der Terminologie ›Unzucht‹ mit folgenden Worten: »Gerade die weitergeltende Strafbarkeit der qualifizierten Fälle von gleich-geschlechtlicher Unzucht – übrigens auch der mit Absicht beibehaltene Terminus: wir sprechen noch immer von Unzucht – beweist, daß der Gesetzgeber dem Phänomen der Homosexualität nicht etwas wohlwollend neutral oder gar indifferent gegenübersteht. Unsere schon von den biologischen Grundlagen her heterosexuell strukturierte Gesellschaft wird Homosexualität nach wie vor als sozial nicht wünschenswert und als widernatürlich empfinden. Das bleibt das Schicksal des Homosexuellen: daß er anders ist als die normale Mehrheit; dagegen kann kein Gesetz ihm helfen. Die Wertvorstellungen des moralischen, gesellschaftlichen und religiösen Bereiches werden durch die Aufgabe der staatlichen Strafbarkeit nicht beseitigt. Auch der Staat heißt aber das bisher strafbare und nun nicht mehr strafbare Verhalten nicht gut. Der Ausschußbericht hebt dies ausdrücklich hervor.« (Ebd.: 92)

Eine Verbreiterung der Perspektive auf das Thema vollzog sich in der Rede des FPÖ-Abgeordneten Gustav Zeillinger: »Was erwachsene gleichgeschlechtlich veranlagte Männer miteinander treiben, gehört nach Ansicht der überwiegenden Mehrheit der privaten Sexualsphäre an, in die sich der Staat umsoweniger einzumischen hat, als gerichtliche Verfolgung und Bestrafung der Homosexualität noch niemals einen Homosexuellen gebessert hat. […] Vor allem möchte ich aber noch darauf hinweisen, daß die Strafbarkeit der Homosexualität eine Reihe weiterer Delikte nach sich gezogen hat. Vor allem wurde immer wieder von Erpressungen berichtet, die die Beteiligten in schwerste Konflikte stürzten und vielfach noch ein wesentlich größeres Unglück mit sich gebracht haben. Das bedeutete, daß die Strafbarkeit sehr oft noch weitere schwere Verbrechen nach sich gezogen hat.« (Ebd.: 94)

Otto Kranzlmayr von der ÖVP erklärte die gleichgeschlechtliche Liebe, seines Erachtens bisher zu sehr vernachlässigt in der Argumentation, für unsittlich: »Aber wir müssen immer – und gerade wir Katholiken sind dazu verpflichtet – darauf hinweisen, daß die Homosexualität abnorm bleibt, daß sie eine Unsittlichkeit bleibt und daß wir sie keinesfalls billigen.« (Ebd.: 95) Jedoch blieben auch erklärende Worte für eine gesetzliche Änderung nicht ohne Stimme. Lona Murowatz von der SPÖ meinte in ihrer Rede: »Wir Sozialisten haben unseren Standpunkt in diesen Fragen klar und eindeutig im Justizprogramm festgelegt. Nach unserer Überzeugung kann ein Strafrecht in der pluralistischen Gesellschaft der Gegenwart nicht einseitig im Sinne einer bestimmten Weltanschauung gestaltet werden. Bei der Schaffung eines neuen Gesetzes darf der Blick nicht in die Vergan-

M. J. Gössl: Die Kontinuität einer Abnormität genheit, sondern er muß in die Zukunft gerichtet sein. Der Gesetzgeber kann nicht das Unmoralische, sondern nur das Gesellschaftsschädliche bestrafen. Der Strafrichter ist kein Sittenrichter, sondern soll durch das Gesetz in die Lage versetzt werden, für den strafrechtlichen Schutz von Rechtsgütern zu sorgen, die die Gesellschaft als schutzwürdig betrachtet. Menschliche Verhaltensweisen, die nach dem heutigen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis und unserer gesellschaftlichen Auffassung nicht vor den Strafrichter gehören, sollen auch nicht mehr von Strafe bedroht sein.« (Ebd.: 95)

Ob sie in der Tat für alle Sozialisten und Sozialistinnen sprach, bleibt zu hinterfragen, gerade in Anbetracht der bereits zitierten Wortmeldung des Berichterstatters. Der ÖVP-Abgeordnete Franz Karasek reagierte: »Ich möchte ausdrücklich betonen, daß das Eintreten für die Aufhebung einer Strafbestimmung nicht die Preisgabe moralischer Grundsätze bedeutet. Ich würde daher auch weiterhin die Auffassung vertreten, und ich werde es tun, daß man die gleich-geschlechtliche Unzucht als eine unmoralische Handlung qualifiziert, selbst wenn man der Meinung ist, daß es nicht Aufgabe des westlichen Strafgerichtes ist, in diesen Bereich der Intimsphäre des Menschen einzudringen.« (Ebd.: 96)

Peter Schieder (SPÖ) reagierte seinerseits mit den Worten: »Es gab ja noch andere Bestimmungen, die wir ändern, die aus dem Mittelalter stammen. Der österreichische Dichter Lernet-Holenia wies auf folgendes hin: ›Unsere Gesetze gegen die Homosexuellen sind sehr einfach zu klären: Wir stecken noch tief im Mittelalter, und zwar nicht in seiner leichten, sondern in seiner dunklen Zeit.‹« (Ebd.: 98)

Die Debatte um die kleine Strafrechtsreform ging über Stunden und dauerte insgesamt zwei Tage, bis schließlich der Neuregelung von gleichgeschlechtlicher Liebe und Sexualität zugestimmt wurde (vgl. ebd.: 102). Die Tatsache, dass trotz intensiver Beratungen im Justizausschuss, eine solch lange und emotionalisierte Diskussion folgte und vielmehr ein Großteil der RednerInnen gerade auf die gesetzlichen Änderungen betreffend gleichgeschlechtlicher Liebe Bezug nahmen, führt die Wichtigkeit einer öffentlich-protokollarischen Positionierung seitens der Abgeordneten vor Augen. Gleichermaßen stellt der internationale Vergleich eine starke Motivation für die Gesetzesänderung dar, erst in den späteren Wortmeldungen kommen menschenrechtliche Überlegungen und Neuinterpretationen von Privatsphäre zum Vorschein. Die historisch-traditionellen, christlich-moralischen Konzepte einer Sittlichkeit stehen dabei als Normrahmen der Umdefinierung von sexueller und individueller Freiheit entgegen, ein Gegensatz, der sich gerade anhand der Wortmeldungen der VertreterInnen im Plenarsaal abbildet.

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3. D IE H ARTNÄCKIGKEIT EINER N ORM Ende der 1980er Jahre stellten einige Abgeordnete der neuen grün-politischen Bewegung den selbstständigen Antrag auf die Schaffung eines Antidiskriminierungsgesetzes, welches die Abschaffung der vier Folgeparagrafen gegen gleichgeschlechtliche Liebe implizierte: »Mit der Erweiterung der vom Gleichheitsgebot umfaßten Eigenschaften um die sexuelle Orientierung wird klargestellt, daß jede Form sexueller Orientierung, soweit sie nicht Rechte anderer verletzt, schutzwürdig ist. Gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Frauen oder Männer haben stets Anlaß zu Diffamierungen und Verfolgung gegeben. Nach wie vor gilt Heterosexualität als die gesellschaftlich anerkannte Norm und Homosexualität als die diskriminierte Abweichung.« (Ebd.: 118)

Der Antrag blieb ohne Erfolg, stellt aber in seiner Formulierung einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von sexuellen Identitäten dar. Von nun an, im Besonderen durch die Etablierung von Kleinparteien im österreichischen Nationalrat, wurden gerade Diskriminierungen immer öfter zu Themenstellungen in den parlamentarischen Auseinandersetzungen. »Es war nämlich bisher so – und das muss man wissen –, daß den männlichen homosexuellen Prostituierten, um nicht zu sagen, den Strichjungen, selbst wenn sie sich polizeiärztlich untersuchen lassen wollten, diese Untersuchung von der Polizei und vom Polizeiarzt verweigert worden ist mit der Begründung: Wir leisten ja nicht Beihilfe zu einer strafbaren Handlung. Und da das ein unmöglicher Zustand ist, da man diese regelmäßige Untersuchung von Staats wegen herbeiführen muß und nicht indirekt unterbinden darf, deshalb haben wir eine Novellierung des AIDS-Gesetzes in dem Sinn vorgesehen, daß einerseits schärfere Sanktionen für die Verweigerung oder Nichtdurchführung der Untersuchung vorgesehen werden und andererseits die gerichtliche Strafbarkeit entfällt.« (Ebd.: 121f.)

So die Argumentation von Michael Graff von der ÖVP 1989, warum das Verbot der gleichgeschlechtlichen Prostitution fallen gelassen werden muss. Die Entdeckung und Verbreitung von AIDS führte auch in Österreich zu intensiven Debatten und ein entsprechendes Gesetz war die Folge. Doch gerade das Verbot einer Prostitution, wie die der mann-männlichen Prostitution, stand den Vorgaben einer regelmäßigen Testung der Prostituierten, wie im Gesetz gefordert, entgegen. Dieses gesundheitspolitische Paradoxon und keine menschenrechtlichen Überlegungen bedingte als logische Konsequenz die Abschaffung des ersten von vier Folgeparagrafen gegen gleichgeschlechtliche Handlungen. Weitere gleichstellende Maßnahmen wurden zwar gefordert, fanden jedoch keinen Willen zur Annahme (vgl. ebd.: 121-126). Die Übergänge in der Sprachkultur blieben teilweise verhalten, jedoch sind entsprechende Entwicklungen von der Tabuisierung, weiter zu einer wertenden

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Sprachform der unzüchtigen Unsittlichkeit hin zu einer terminologischen Öffnung der respektvollen Begriffen feststellbar. Elisabeth Hlavac (SPÖ) wusste in ihrer Wortmeldung zur Änderung des Pornografiegesetzes 1994 zu berichten: »Die Einstellung der Gesellschaft gegenüber abweichendem Sexualverhalten, insbesondere gegenüber gleichgeschlechtlicher Beziehungen, ist im Laufe der letzten Jahrzehnte wesentlich toleranter geworden und heute zunehmend von Verständnis bzw. dem Bestreben nach Nichtdiskriminierung geprägt.« (Ebd.: 136) Die Konzeption der gesellschaftlichen Norm blieb aber auch in ihrer Äußerung unbestritten. Ebenso in der Debatte 1996, als die restlichen drei Paragrafen einer gleichgeschlechtlichen Sonderregelung zur Abschaffung per Antrag in den Nationalrat einlangten. Die Positionierungen waren äußerst unterschiedlich und reichten von der vollkommenen Gleichstellung (Liberales Forum, Grüne) bis hin zu einer Abänderung bzw. Beibehaltung des Status quo (ÖVP, FPÖ). Die SPÖ war sich als Partei uneinig. Erneut konnte keine vollkommene Abschaffung der Sonderbestimmungen erreicht werden, ein Paragraf, nämlich jene Regelung für ein höheres Schutzalter von mann-männlichen Beziehungen, blieb bestehen. Der Schutz einer österreichischen Jugend vor der ›anderen‹ Form der Sexualität blieb als zentrales Argument und als Synonym der Abnormität von gleichgeschlechtlicher Liebe bestehen (vgl. ebd.: 153-182). Der Betrachtungszeitraum der hier zugrunde liegenden Forschungen endet mit dem Jahr 2002 und der Umwandlung des letzten bestehenden Paragrafen, welcher gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen zwei Männern mit einem unterschiedlichen Schutzalter zu verschiedengeschlechtlichen Beziehungen und Beziehungen zwischen zwei Frauen, vorschrieb. Die 1990er Jahre als auch der Beginn des neues Jahrtausends, im Besonderen die Beendigung der großen Koalition, brachten eine neue Dynamik in die Abschaffungsdiskussionen. Peter Kostelka von der SPÖ meinte 2001, »dass für mich Politik Gestalten heißt und nicht das Warten auf Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes. Das sage ich hier insbesondere im Zusammenhang mit dem in diesem Haus schon mehrmals diskutierten § 209 des Strafgesetzbuches und dem unterschiedlichen Schutzalter von Männern und Frauen hinsichtlich ihrer sexuellen Praktiken und deren Ausübung« (ebd.: 229). Der Abgeordnete sprach dabei die Notwendigkeit zum Handeln an, da der letzte Paragraf zur Behandlung beim österreichischen Verfassungsgerichtshofes vorlag. Die Ungleichbehandlung von mann-männlichen Beziehungen zu allen anderen Beziehungsformen in Österreich wurde tatsächlich, nur wenige Monate später, am 21.06.2002, aufgrund der Verfassungswidrigkeit aufgehoben (vgl. VfGH 21.06.2002, G 6/02). Als Reaktion auf diese gerichtliche Entscheidung, brachten die Regierungsparteien ÖVP und FPÖ einen Entschließungsantrag ein, welcher die Einführung des Paragrafen 207b mit dem Titel »Sexueller Missbrauch von Jugendlichen« vorschlug. Es kam durch die Mehrheit der Regierungsparteien zur Annahme. Zwei

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Faktoren sind hierbei hervorzuheben: Aufgrund der gerichtlichen Entscheidung entwickelte sich erstens eine reaktive Positionierung zweier politischer Lager, welche die Abschaffung des § 209 Strafgesetzbuches (StGB) nicht ohne eine entsprechende Konsequenz hinnehmen konnten. Die Schaffung einer darauf erfolgten Kreation des §207b StGB stellte diese entsprechende Antwort dar. Zweitens galt der Schutz von Jugendlichen erneut als zentrale Argumentationslinie für weitere Bestimmungen zu den ohnehin bestehenden Gesetzen in diesem Bereich (vgl. StGB §§ 207, 207a) und damit die Unmöglichkeit einer stillen Entgegennahme des Verfassungsgerichtshof-Urteils (vgl. Gössl 2011: 237-245).

4. E INE ANALY TISCHE N ACHBE TR ACHTUNG Der Mythos einer reflektierten, mehrheitlichen Entscheidungsfindung bei der rechtlichen Gleichstellung von sexuellen Identitäten in Österreich kann in der Aufarbeitung der parlamentarischen Dokumente nicht bestätigt werden. Die Norm einer heterosexuellen Matrix blieb im Betrachtungszeitrahmen unbestritten als der Mittelpunkt bestehen. Aus diesem Selbstverständnis der geschlechtlichen und sexuellen ›Normalität‹ ergaben sich, wenn auch nicht als solches definiert, gesellschaftliche Territorien der ›Abnorm‹. »Wie Iris Young andeutet, die auf Kristeva zurückgreift, um den Sexismus, die Homophobie und den Rassismus zu begreifen, ist die Verwerfung der Körper wegen ihres Geschlechts, ihrer Sexualität und/oder Farbe eine ›Austreibung‹ (expulsion), gefolgt von einer ›Abstoßung‹ (repulsion), die die kulturell hegemonialen Identitäten an der Achse der Differenzen von Geschlecht/Rasse/Sexualität entlang begründet und festigt. […] Was die ›Innen‹- und ›Außen‹welten des Subjekts mittels Teilung konstituiert, ist eine Schranke und Begrenzung, die zum Zwecke der gesellschaftlichen Regulierung und Kontrolle stets schwach aufrechterhalten wird.« (Butler 1991: 197)

Die Argumentationslinien für die Beibehaltung der letzten Folgeregelung nach dem Fall der allgemeinen Straf barkeit gleichgeschlechtlicher Sexualität 1971, und die Motivation für die Schaffung einer Ersatzregelung nach der Aufhebung des § 209 StGB durch den Verfassungsgerichtshof, drehten sich um die Konstruktion einer vor gleichgeschlechtlichen Einflüssen zu schützenden Jugend im Land. Die heteronormative Struktur fungiert(e) dabei als unbestrittene hegemoniale Identität, wobei das ›Andere‹ – die gleichgeschlechtliche Liebe und Sexualität – eine Begrenzung benötigte, um die Jugend, im Besonderen die männliche Jugend, zu schützen. Die Frage, warum gerade vor einer schwulen Identität beschützt werden sollte, blieb in den parlamentarischen Auseinandersetzungen unbeantwortet. Das Konstrukt einer schützenswerten Jugend, die im heterosexuellen Rahmen problemlos Erfahrungen sammeln kann, jedoch bei gleichgeschlechtlichen Dimensionen den Boden einer ›gesunden‹ Sexualität verlieren könnte, führt die

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starke Ideologisierung einer sexuellen und in weiterer Folge familiären Normgestaltung im österreichischen Recht vor Augen. Gerade die Debatten um die eingetragene Partnerschaft, eines der dominierenden Themen im österreichischen Nationalrat im 21. Jahrhundert, wird in den kommenden Jahren eine kritische Aufarbeitung seitens der Queer Studies notwendig machen und weitere Aspekte der Normgestaltung im Bereich Sexualität (künstliche Befruchtung), Familie (Regenbogenfamilie, Adoption) und Ehe (gleichwertige und gleich geschätzte Partnerschaftsformen) hervorbringen. Die Kontinuität einer Abnormität gleichgeschlechtlicher Dimensionen konnte zu keinem Zeitpunkt unterbrochen werden. VertreterInnen einer schwul-lesbischen Bewegung schafften es, einen durchaus beachtlichen Kreis an Freundinnen und Freunden in den parlamentarischen Zirkeln zu mobilisieren und dauerhaft für das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe und Sexualität als Menschenrecht zu sensibilisieren, doch die Normierung blieb unverändert der heterosexuellen Matrix entsprechend. Die kollektive Entspannung, vieles im lesbisch-schwulen Bereich erreicht und dabei gar Normierungen entlarvt, entkräftet und gewandelt zu haben, trügt, denn die Veränderung der Norm bedarf stetiger Energie und gestaltet sich als hartnäckiger als viele soziale Bewegungen seit 1968 gedacht haben.

L ITER ATUR Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Connell, R. W. (1995): Masculinities, Berkeley/Los Angeles: University of California Press. Gössl, Martin (2011): Von der Unzucht zum Menschenrecht, Eine Quellensammlung zu lesbisch-schwulen Themen in den Debatten des österreichischen Nationalrats von 1945 bis 2002. Mit persönlichen Erinnerungen von Peter Schieder und einem Beitrag zur Strafrechtsreform 1971 von Hans-Peter Weingand, Graz: RosaLila PantherInnen, Schwul-lesbische Arbeitsgemeinschaft Steiermark. Halperin, David M. (2003): »Ein Wegweiser zur Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität«. In: Andreas Kraß (Hg.), Queer Denken, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 171-221. Halperin, David M. (2009): »Why Gay Shame Now?«. In: David M. Halperin/ Valerie Traub (Hg.), Gay Shame, Chicago/London: The University of Chicago Press, S. 41-49. Hergemöller, Bernd-Ulrich (1998): Sodom und Gomorrha, Zur Alltagswirklichkeit und Verfolgung Homosexueller im Mittelalter, Hamburg: MännerschwarmSkript-Verlag.

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Trans*Bewegung Vergessen Erinnern Die Anfänge der aktuellen Trans*Bewegung in Österreich Persson Perry Baumgartinger, Verein ][diskursiv

Die Geschichte von Trans*Personen und Trans*Bewegungen in Österreich ist eine (fast) ungeschriebene1 , eine verschwiegene, eine ›vergessene‹ Geschichte. Dabei sind Geschlechterüberschreitungen keineswegs ein neues ›Phänomen‹ (vgl. u.a. Feinberg 1996; G./Fels o.J.) und Trans*Personen keineswegs politisch inaktiv. Dieser Artikel beschreibt die Anfänge der aktuellen österreichischen Trans*Bewegung zwischen Ende der 1980er und Mitte der 1990er Jahre und bindet sie in einen historisch-gesellschaftlichen Kontext ein. Dabei geht es nicht darum, diesen Prozess zu bewerten, sondern vielmehr darum, die Entstehung einer sozialen Bewegung nachzuzeichnen.

B EGRIFFLICHKEITEN UND ZUGRUNDELIEGENDE K ONZEP TE Begriffe sind Versuche, Realitäten zu benennen, zu fassen und festzulegen, auch wenn Sprache sich im Grunde ständig weiterentwickelt und nicht festgehalten werden kann. Trans* ist ein solcher Begriff, der bereits viele Wandlungen erfahren hat. Im Folgenden eine der möglichen Konkretisierungen2, die allgemein anerkannt ist: ›trans‹ steht für das Lateinische »über, darüber hinaus« – hier geht es um Überschreitungen von Zweigeschlechternormen –, der Asterisk * deutet die Vielfalt möglicher Geschlechterüberschreitungen an. Zwei dieser Möglichkeiten sind in den folgenden Begriffen enthalten: Trans-Gender wie auch TransSexualität bedeutet Geschlecht/er überschreiten. Zweiteres bezieht sich meist auf das so genannte körperliche Geschlecht (medizinisch-körperliche Geschlechtszuschreibungen wie etwa Genitalien, Chromosomen etc.), ersteres meist auf das so genannte soziale Geschlecht (angelerntes – konformes bzw. nichtkonformes weibliches oder männliches – geschlechtliches Verhalten). ›Transgender‹ ist da1 | Eine der wenigen Ausnahmen sind die Artikel von Gloria G. (2001) und G./Fels (o.J.). 2 | Für weitere Konkretisierungsmöglichkeiten siehe http://www.queeropedia.com.

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rüber hinaus ein sehr weit gefasstes Konzept, das über die binäre Einteilung in Körper (sex) versus Verhalten (gender) sowie deren Unterscheidung hinausgeht. Denn es handelt sich dabei um Konstruktionen: Das ›körperliche‹ und das ›soziale Geschlecht‹ sind genauso konstruiert wie deren Unterscheidung (vgl. u.a. Butler 1990). Ein weiteres Konstrukt ist die Vorstellung von allein zwei existierenden, bei der Geburt aufgrund von körperlichen Merkmalen und/oder im Laufe des Lebens aufgrund von sozialem Verhalten einteilbaren, immer gleichbleibenden, eindeutig voneinander unterscheidbaren, gesunden Geschlechtern Mann und Frau. In diesem Artikel geht es um die Anfänge der aktuellen Trans*Bewegung in Österreich, die als soziale Bewegung gesehen wird. Ein zentrales Merkmal sozialer Bewegungen ist der Aktivismus – und damit die agierenden Subjekte, die Aktivist_innen. Mit ›Subjekt‹ sind einerseits die konkreten einzelnen Aktivist_innen gemeint, die sich im Laufe der Zeit ändern – ihre Praxis, ihre Lebenskontexte und ihre Verhältnisse zu den Institutionen. Andererseits kann unter dem Subjekt einer sozialen Bewegung eine abstrakte Größe verstanden werden, die sich im Sinne der personellen Zusammenhänge, der Positionierung in der Gesellschaft und der Art der Diskurse im Laufe der Zeit ändert, während die Bezeichnung der Bewegung – die meist erst im Nachhinein vorgenommen wird – gleich bleibt (vgl. Foltin 2004: 12). In diesem Zusammenhang spricht Foltin daher von Multitude als einem variierenden, widerständigen und gesellschaftliche Zusammenhänge verändernden Subjekt verschiedener einzelner Aktivist_innen, das heterogen und nicht eingrenzbar ist, auch wenn an Identitäten festgehalten wird. Diese Unterscheidung ist wichtig, da einerseits einzelne Aktivist_innen sozialer Bewegungen eindeutig feststellbar sind, andererseits soziale Bewegungen sich hauptsächlich an Ereignissen wie Demonstrationen o.ä. festmachen lassen (vgl. ebd.).

TR ANS & A K TIVISMUS Trans*Leben und -Personen werden tagtäglich vergessen, auch wenn sie in den Medien als passive, kranke, perverse oder Witzfiguren noch immer zuhauf negativ präsent sind. Abgesehen davon, dass sie weder krank noch pervers oder Witzfiguren sind, sind Trans*Personen auch keineswegs passiv, sie sind vielmehr seit langer Zeit politisch aktiv. In queeren Widerständen, Aufständen und Bewegungen waren Trans*Personen – vor allem Sexarbeitende, ethnisierte Arbeitende – zentral (vgl. Feinberg 1998: 95-105). Der berühmte Stonewall-Aufstand etwa war ein Aufstand von Menschen unterschiedlichster prekärer Hintergründe und Lebensweisen: Arbeitende, Obdachlose, Sexarbeitende, Drags, Schwarze 3/People of Color – Queers im ursprünglichen Schimpfwortsinne –, »die um ihr Überle3 | Um die ungleichen Machtverhältnisse und wirksamen Diskriminierungsstrukturen, die u.a. aufgrund von ›Hautfarbe‹ konstruiert werden, sichtbar zu machen, wird Schwarz im Sinne eines Empowerments groß und weiß klein und kursiv geschrieben.

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ben kämpften« (Sylvia Rivera, zit. in Feinberg 1998: 97). In den meisten Büchern und Filmen wird er jedoch als eine Bewegung von (weißen) Schwulen und Lesben beschrieben. Es gibt also bereits eine lange Geschichte von Trans*Aktivismus und Trans*Aktivist_innen, auch wenn sie damals nicht unter dem Begriff Trans* stattfanden bzw. kämpften. In Bezug auf Österreich wird die so genannte Regenbogenparade z.B. zwar als »Parade für Schwule, Lesben und Transgender« bezeichnet, ihre Entstehung wird allerdings (weißen) Schwulen und Lesben zugeschrieben; beim International Day of Homophobia and Transphobia (IDAHOT) – bis 2010 IDAHO (ohne T) – wird zwar im Titel Transphobie mitgenannt, in den meisten Beschreibungstexten jedoch wieder ausgespart; die meisten (deutschsprachigen) akademischen Einführungsbücher zu Queer Studies schreiben die Entstehung des Begriffs Queer wie auch die Stonewall-Rebellionen weißen schwulen und lesbischen AktivistInnen zu (eine Ausnahme ist Perko 2005). Es stellt sich also die Frage: Wo sind all die Transen hin(-gekommen)? In dem Projekt »Where Have All The Trannies Gone…« ging der Verein ][diskursiv dieser Frage nach und suchte nach den Anfängen der aktuellen Trans*Bewegung in Österreich. In den Projekten des Vereins ][diskursiv ist ein partizipativer und respektvoller Umgang mit den Teilnehmenden wichtig. Teil dieses Zugangs ist es, die interviewten Trans*Aktivist_innen als Expert_innen und ihre – meist jahrelange ehrenamtliche Arbeit – auch finanziell zu honorieren sowie ihnen ein Mitspracherecht zu geben. Im Projekt wurden die Interviews (ohne inhaltliche Veränderungen) transliteriert und den Interviewten zur Durchsicht und freien Bearbeitung gegeben, was auch in Anspruch genommen und geschätzt wurde. Dadurch entstand eine weitere Ebene der Auseinandersetzung mit den Projektinhalten auf der Seite der Interviewten wie der Projektleitung. Weder das Projekt, noch dieser Artikel erheben den Anspruch, ›die‹ vollständige Geschichte der Trans*Bewegung in Österreich zu erzählen, denn Interviews stellen einen momentanen Einblick auf ein bestimmtes Thema dar und keine unveränderliche Wahrheit – als Momentaufnahmen sind sie jedoch sehr wichtig und aufschlussreich. Trans*Queeren Aktivismus etwa hat es schon vor den 1990ern geben und es gibt weitere Aktivist_innen, die für die aktuelle Trans*Bewegung wichtig waren. Nichtsdestotrotz stellen die Ergebnisse des Projektes einen wichtigen Anfang dar: Es arbeitete den Beginn der aktuellen Trans*Bewegung aus Sicht dreier Aktivist_innen, die Teil dieser Bewegung waren und sind, auf und gibt damit einen ersten, sehr aufschlussreichen Einblick in die Anfänge der aktuellen Trans*Bewegung in Österreich. Die Trans*Bewegung bildete sich in Österreich als soziale Bewegung Ende der 1980er heraus, indem einzelne Trans*Personen Treffen organisierten, aus denen sich Trans*Gruppen formierten, die bis Mitte der 1990er teilweise als Vereine institutionalisiert wurden. Davor waren Trans*Personen im Rahmen anderer sozialer Bewegungen wie etwa der Friedens-, BDSM- oder queer-schwul-lesbischen Bewegung aktiv. Ab Mitte der 1990er Jahre traten Trans*Personen und -Vereine verstärkt mit verschiedenen politischen Aktionen in die Öffentlichkeit.

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TR ANS & L EBEN In den 1980er und 1990er Jahren war das (medizinische, juristische, gesellschaftliche, individuelle) Wissen zu Trans* relativ gering, auch wenn Trans*Geschlechtlichkeit in Österreich spätestens seit dem so genannten »Transsexuellen-Erlass« 1983 durch das Bundesministerium für Inneres zentralistisch staatlich reguliert war. Der Erlass bezog sich auf die pathologisierende, medizinische Definition von »Transsexualismus« des ICD-9 (9. Ausgabe des »International Classification of Diseases« der Weltgesundheitsbehörde [WHO]) und schrieb diese fest: Er setzte für die Änderung des Vornamens- und Geschlechtseintrags im Geburtenbuch und somit in den amtlichen Dokumenten Hormoneinnahmen sowie geschlechtsangleichende Operationen voraus und annullierte bereits bestehende Ehen automatisch (vgl. Baumgartinger 2011). Interessanterweise spielte der Erlass am Anfang der Trans*Bewegung keine große Rolle (vgl. Verein ][diskursiv 2011) und wurde erst später zu einem zentralen Thema. Trans*Lebensweisen waren vor und in den 1990ern beinahe unsichtbar, obwohl bestimmte kriminalisierte Bilder von Trans*Personen bestanden und ihre (lebensbedrohliche) Wirkung hatten: »[…] in ein Geschäft zu gehen und was zu kaufen oder so – das hat zum Teil bis zu Polizeieinsätzen geführt. Ich weiß einen Fall, wo wirklich Polizei gekommen ist, weil jemand sich irgendwelche Frauenkleider kaufen wollte. Da war gerade ein gefährlicher Sexualtäter aus dem Zuchthaus Stein entkommen, und die Boulevardtageszeitung Kronen Zeitung hat dick darüber berichtet. Die Leute im Geschäft haben sich halt gedacht: ›Da ist ein Mann, der schaut sich irgendwelchen Frauenfummel an, das muss der Sexualtäter sein‹ und haben wirklich einen Riesen-Polizeieinsatz mit gezückten Pistolen ausgelöst ((lacht)). Solche Dinge hat es gegeben, die Sichtbarkeit nach außen war daher eine ständige Mutprobe und manchmal eine lebensgefährliche Farce.« (Gloria G.) 4

Daher kann allein als Trans*Person offen zu leben und somit in der Öffentlichkeit sichtbar zu sein, vor und in den 1990ern als (ungewollter) Aktivismus angesehen werden, wie es zwei Aktivist_innen in den Interviews zum Thema machten: »Der erste Aktivismus war, in den ersten vier Lebensjahren in einem Tiroler Dorf als Mädel sozusagen herumzuziehen ((lacht)). Aber […] mir war das auch als Aktivismus nicht bewusst.« (Gloria G.)

4 | Alle folgenden Zitate sind – wenn nicht anders angegeben – Ausschnitte aus den Interviews mit den Trans*Aktivist_innen Gloria G., Mark Willuhn und Heike Keusch aus dem Projekt »Where Have All The Trannies Gone…« (Verein ][diskursiv 2011). Die vollständigen Interviews sind im gleichnamigen Booklet unter www.diskursiv.at veröffentlicht.

P. P. Baumgartinger, Verein ][diskursiv: Trans*Bewegung Vergessen Erinnern »Ich hatte damals [Anfang der 1990er; Anm. PPB] auch noch angefangen Taxi zu fahren und hab dann in der [›gegengeschlechtlichen‹; Anm. PPB] Kleidung auch gearbeitet, bin also durch die Stadt gefahren damit – ist die Frage, ob man so was schon als Aktivismus bezeichnen kann, wahrscheinlich zu der Zeit schon.« (Mark Willuhn)

Dementsprechend war es im Österreich der 1980er und 1990er Jahre als Trans*Person keine Selbstverständlichkeit, Arbeit zu finden: »Also das war schon eine ziemlich dreiste Forderung am Anfang, einem ganz normalen Beruf nachzugehen und Transe zu sein. Also ich hab mal nach meinem Studium einen Job gesucht mit der Information ›Ich bin Transvestit‹. Ich habe dann einen Artikel über meine Erfahrungen damit geschrieben, das war schon sehr heftig, was da passiert ist. Das war eine ziemlich spannende Sozialstudie: man ist mitunter eingeladen worden, aber es war von vornherein klar, nicht, um einen Job zu bekommen, sondern das war eher so eine Freak Show. […] Der Schritt in die Öffentlichkeit zu gehen hat auch für mein Leben… ich mein, wenn ich in Anzug und Krawatte mit einem Magister von der Wirtschaftsuniversität arbeiten gegangen wäre und immer ja gesagt hätte zu allem Blödsinn, dann hätte ich schon Karriere machen können, dann hätte ich ein anderes Gehalt gehabt.« (Heike Keusch)

Viele Trans*Personen – vor allem Trans*Frauen – waren in der Sexarbeit tätig, was teilweise auch in den Gruppen und Aktionen thematisiert wurde:5 »Was mir jetzt gerade einfällt, wo die Transsexuellen vorher waren […] eigentlich durchweg in der Prostitution, das war fast die einzige Möglichkeit zu überleben.« (Mark Willuhn) »[…] zum Beispiel die Frage von Prostitution und TransSein, die hat sich ja auch gerade in der Anfangszeit [der Trans*Bewegung; Anm. PPB] in Österreich gestellt hat. Da waren mehrere, die mit dem Gewerbe ihr Geld verdient haben. […] Wir haben das damals bei Erotik Kreativ schon zum Thema gemacht, dass es da eine Vereinigung von Prostituierten gibt und so, die haben damals ja schon angefangen.« (Heike Keusch)

Die Kämpfe der Trans*Bewegung haben dazu beigetragen, die Situation von Trans*Personen am Arbeitsmarkt zu verbessern, auch wenn es in den 2000ern noch immer keine Selbstverständlichkeit war, als Trans*Person eine Arbeit zu finden (vgl. Frketić/Baumgartinger 2008).

5 | Zu den Überschneidungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Diskriminierungsformen mit Trans* – wie etwa Sexarbeit, Gefängnisaufenthalt, ›Behinderung‹ –, die besonders in den Anfängen der Trans*Bewegung Thema waren, siehe Verein ][diskursiv 2011.

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E NDE 1970 ER UND 1980 ER J AHRE – WAS WAR DAVOR Feministische Bewegungen, queere (schwul-lesbische) Bewegungen und (radikale) linke Bewegungen waren ab Ende der 1970er in Österreich sichtbar: Im Jahr 1979 etwa wurde die erste so genannte Homosexuelle Initiative (HOSI) in Wien gegründet, der in den Jahren darauf weitere HOSIs in den österreichischen Bundesländern folgten. Zu der Zeit waren noch § 221 StGB (Verbot der »Verbindung zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht«; kurz Vereinsverbot) sowie § 220 StGB (Werbeverbot für homosexuelle Themen) rechtskräftig, sie wurden erst 1997 außer Kraft gesetzt. Trans*Aktivist_innen waren Teil dieser Bewegungen, z.B. in den gerade gegründeten HOSIs oder in der BDSM6 -Bewegung. Überhaupt waren am Anfang in der schwul-lesbischen Bewegung die Abgrenzung zu Trans* bzw. Drag nicht so streng wie später:7 »[…] Ich hatte schon begonnen, Frauenklamotten zu tragen, aber das war in der Szene auch nichts Ungewöhnliches.« (Heike Keusch) In den 1980ern und 1990ern gab es einige Hausbesetzungen, die auch für die Trans*Bewegung wichtig waren: allen voran 1982 die Besetzung eines Hauses im 6. Wiener Gemeindebezirk, das als Rosa Lila Villa (Villa) zum ersten queerschwul-lesbischen Wohn- und Veranstaltungshaus wurde, das bis heute besteht; eine weitere für die Trans*Bewegung wichtige Hausbesetzung war im Jahr 1981 die Besetzung einer leerstehenden Fabrik im 9. Wiener Gemeindebezirk, die als Werkstätten- und Kulturhaus (WUK) bis heute selbstorganisiert geführt wird, hier fanden u.a. 1990 und 1992 Erotik Kreativ 1 und 2 statt, zwei von einer Trans*Aktivistin mitorganisierte, multimediale Veranstaltungen erotischer Kunst, wo beim zweiten Durchlauf ein erstes größeres öffentlich beworbenes Treffen von Trans*Personen stattfand; im Jahr 1990 wurde im 10. Wiener Gemeindebezirk ein weiteres für die Trans*Bewegung wichtiges Haus, das Ernst-Kirchweger-Haus (EKH), besetzt, in dem sich die autonome linke Szene, politische, kulturelle und sozial engagierte Gruppen treffen u.a. die Rosa Antifa Wien (RAW) 8, die später in die Rosa Lila Villa wechselte. 6 | Die Abkürzung BDSM steht im Englischen für Bondage-Discipline-Domination/Submission-Sadomasochism (dt. Fesseln, Disziplin, Dominanz/Unterwerfung und Sadomasochismus) und wird im deutschsprachigen Raum häufig verwendet, um den sehr oft negativ konnotierten Begriff Sadomasochismus zu vermeiden. Für die verschiedenen Begriffskonkretisierungen von BDSM siehe http://www.queeropedia.com. 7 | Zu Abgrenzungen innerhalb der Trans*Bewegung und anderen sozialen Bewegungen, insbesondere zum komplexen Verhältnis von Trans* und schwul-lesbischen Gruppen siehe Verein ][diskursiv 2011. 8 | Die RAW »kritisierte das Machoverhalten der Antifa-StraßenkämpferInnen und verbreiterte ihre Aktivitäten über Antifa hinaus: Schwulen- und Lesbenbewegung (die RAW hat ihre Kontaktadresse in der Rosa-Lila-Villa und beteiligte sich ab 1996 auch an der jährlichen Regenbogenparade), Genderfragen, Antisemitismus, Rassismus. Im Protest gegen

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Weiterin kam in den 1990ern die Techno-Bewegung mit Raveparties immer mehr an die Öffentlichkeit, die für die Trans*Bewegung als weiteres Sprungbrett angesehen werden kann. »Anfang der 1990er Jahre sind die Raver-Parties in Wien aufgekommen, das bot eine Plattform. […] als es dann als kulturelle Veranstaltung etabliert worden ist, […] ist es, glaube ich, verwendet worden […]. Man könnte sagen, vielleicht ist da eine Geburtshilfe gewesen für die Transsexuellen, durchaus.« (Mark Willuhn)

Gleichzeitig kamen – vor allem mit der Veröffentlichung »Gender Trouble« 1990 und »Bodies That Matter« 1993 von Judith Butler – die Queer-Theorien nach Österreich, die Geschlecht aus einer nicht-identitären und dekonstruktiven Perspektive als Konstrukt gesellschaftlicher Machtverhältnisse diskutierten.

E NDE 1980 ER BIS M IT TE 1990 ER — D IE TR ANS*B E WEGUNG FORMIERT SICH Die Trans*Bewegung entstand in einer Zeit, in der nach Foltin soziale Bewegungen in die Defensive gezwungen wurden (1980er) und sogar »jede Hoffnung verloren schien« (1990er) (Foltin 2004: 14). Ende der 1980er/Anfang der 1990er sind in Österreich erste Treffen von Trans*Personen zum internen Austausch von Fragen, Erfahrungen und Diskriminierungserlebnissen bekannt: die TranssexuellenInitiative (TSI) z.B. entstand Ende der 1980er in Graz und wurde von Elisabeth P. in Wien weitergeführt (vgl. Verein ][diskursiv 2011). Neben diesen ersten trans*internen Gruppen wurden mit der Zeit erste Trans*Treffen im öffentlichen Raum organisiert: über Anzeigen in Zeitungen (z.B. Wochenzeitschrift Falter), Verteilen von Flyer aber vor allem über Mundpropaganda. Diese Treffen fanden im Rahmen von Kulturfestivals statt (1992 Erotik Kreativ 2 bzw. 1994 Filmfestival TransX9) und bildeten Trans*Gruppen heraus, die sich teilweise später zu Vereinen institutionalisierten. Besonders das Treffen bei Erotik Kreativ 2 wurde im Oral-history-Projekt »Where Have All The Trannies Gone« (Verein ][diskursiv 2011) als zentrales Moment der Trans*Bewegung gesehen, aus dem heraus sich mindestens zwei Trans*Gruppen bildeten: Mark Willuhn, Heike Keusch und Ralph organisierten eine Gruppe, die kurz darauf den Verein Transvestitin – Verein für TransvestitInnen und Transsexuelle gründete; Chris S. organisierte eine Gruppe in der Rosa Lila Vildie Burschenschafter wurden besonders männerbündische Strukturen (nicht nur bei den Rechten) kritisiert.« (Foltin 2004, 224f.) 9 | Der Verein TransX hat sich nach dem Filmfestival TransX genannt. Um Verwirrung zu vermeiden, ist in diesem Artikel mit ›TransX‹ der Verein gemeint, beim Filmfestival wird immer der Zusatz ›Filmfestival‹ zum Titel geschrieben.

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la, die sich in regelmäßigen Abständen traf, aus dieser Gruppe wurde 1995 – gemeinsam mit anderen Gruppen – der Verein für TransGender Personen (TransX) gegründet, dieser Verein ist heute noch aktiv als offener Treffpunkt für Erfahrungsaustausch von Trans*Personen und Interessierten wie auch im politischen Feld mit unterschiedlichen Forderungen. Während der Verein Transvestitin von Anfang an politische Anliegen hatte, stand in der Gruppe um Chris S. vorerst der Erfahrungsaustausch im Mittelpunkt. Sichtbarkeit, ›Raus aus dem Versteck‹ und Austausch in Gruppentreffen waren wichtige Themenfelder und Strategien in den Anfängen der Trans*Bewegung: »Zum Zeitpunkt der TransX-Gründung haben sich auch viele sehr mutige Leute außerhalb der Szene überhaupt nicht gezeigt. Es war einfach zu riskant. Da hat es halt dann so gemixte Fetisch-Feste oder schwule Fetisch-Feste und BDSM-lesbische Feste gegeben, aber irgendwie war das alles hinter verschlossenen Türen, manchmal auch auf geheimnisvollen Schlössern im Waldviertel, sehr stimmungsvoll, ich erinnere mich sehr gern daran. Aber dass das sozusagen im Alltag stattfindet und gelebt wird, dass man miteinander, ich weiß nicht, Eis essen geht oder ein Museum besucht oder solche Dinge, bewusste Sichtbarmachung, das hat es nicht oder kaum gegeben.« (Gloria G.) »Also Häuser für uns – das war auch eine Zeit lang eine Forderung –, also auch ein Transenhaus oder sowas ist uns mal vorgeschwebt. Aber eigentlich deswegen, weil man dann halt sichtbarer wird, es ging dann eigentlich um das Sichtbarwerden, also das war für mich das Hauptding.« (Heike Keusch) »Es gab damals eigentlich zwei Sichtbarkeiten: Es gab die Sichtbarkeit nach außen, dass man sich halt traut in ein Geschäft zu gehen und was zu kaufen […]. Das andere war die Sichtbarkeit innerhalb der Szene. Und da geht es ja eigentlich auch um den interessanten Punkt, den ihr auf eurer diskursiv-Homepage anschneidet: Die Frage, wie z.B. die Ereignisse von Stone Wall rückwirkend zu einem sozusagen rein-schwul-lesbisch-›weißen‹ Event werden konnten. Neben unserer Sichtbarkeit nach außen war es also mindestens eine genauso große, aber auch reizvolle Aufgabe, der bestehenden lesbischwulen Szene sozusagen zu verklickern, da gibt es jetzt auch uns.« (Gloria G.)

Als 1994 das Filmfestival TransX im Filmcasino in Wien stattfand, waren auch Trans*Aktivisit_innen mit dabei: Im Rahmenprogramm wurde ein Seminar zur Auseinandersetzung mit Geschlechtlichkeit organisiert sowie ein weiteres öffentliches Treffen von Trans*Personen.

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M IT TE 1990 ER BIS A NFANG 2000 ER — V EREINSARBEIT UND A K TIONEN Sichtbarkeit von Trans* wurde vor allem über Medien und Aktionen an verschiedenen öffentlichen Plätzen erreicht. Die Medien wurden genutzt für Anzeigen zu Gruppentreffen (Internet gab es noch nicht in dem Ausmaß und der Zugänglichkeit wie heute), Protest (Beschwerdebriefe etwa) und um das Thema Trans* in die Öffentlichkeit zu bringen (Presseaussendungen von Veranstaltungen, aber auch filmische Porträts, Teilnahme an Talkshows etc.). Spätestens ab 1993 wurden Einzelporträts von Trans*Personen in den Medien Radio, Zeitung und Fernsehen veröffentlicht, u.a. gab es 1993 jeweils einen Beitrag in den Sendungen ZickZack (Radio) und X-Large (TV) im österreichischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ORF). Dem Live-Studioauftritt von Mark Willuhn 1995 bei X-Large folgte eine Kooperation von Trans*Aktivist_innen mit einer Psychologin. Auch Printmedien sind in dieser Zeit interessiert an der Thematik Trans*, es werden einige Einzelporträts von Trans*Personen gedruckt: u.a. 1994 in der Wochenzeitung Falter, 1996 im Magazin Wienerin, 1997 in der Wochenzeitschrift News. Trans*Personen wurden mit der Zeit zum ›Renner‹, was durch pathologisierende Darstellungen und gesellschaftliche Inakzeptanz zu weiteren Diskriminierungen führen konnte: »Es verging irgendwann kein Villa-Abend mehr, wo nicht irgend ein Journalist drin gesessen ist und gesagt hat, er sucht Leute, die, ich weiß nicht, sich fotografieren lassen und sich ausziehen dabei und über ihr Sexualleben referieren. Das ist zum Teil dann schon sehr grotesk geworden.« (Gloria G.) »Und obwohl ich ahnte, daß es da Zoff geben würde, habe ich mich auch für die eine oder andere mediale Selbstdarstellung in Mainstream-Medien selber hergegeben. Das ging manchmal gut, im Magazin Wienerin zum Beispiel, und manchmal weniger, wie in der Wochenzeitschrift News. Nach dem Erscheinen dieses mehrseitigen Artikels über mich haben Unbekannte immer wieder meine alten Eltern in Tirol angerufen und gesagt: ›Ihr Sohn ist ein perverses Schwein und gehört vergast!‹ So ist dieses Land.« (Gloria G.)

Ab 1996 arbeiteten Trans*Aktivist_innen bei der Sendung Radio Stimme mit und 2001 wird die erste Sendung des Transgender-Radio von TransVoice Austria produziert. Ab Mitte der 1990er finden immer mehr öffentliche politische Aktionen von bzw. mit Trans*Aktivist_innen statt: Am Michaelerplatz (im touristischen Zentrum Wiens) wird eine regelmäßige Aktion zur Sichtbarmachung von Schwulen, Lesben und Trans*Personen organisiert; im Rahmen des ersten internationalen Menschrechtstribunals unter dem Vorsitz von Freda Meissner-Blau und Gerhard Berschlick wird die Republik Österreichs u.a. der Verletzung der Menschenrechte homo*-, Bi*- und Trans*Menschen für schuldig befunden; in den Universitäten

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werden kritische Vorlesungen und Seminare zum Thema Geschlecht und Trans* angeboten; die vier Treffen des Österreichischen Lesben- und Schwulenforums (ÖLSF) mit ihren jeweiligen ProvokAktionen (u.a. »Mittagessen im Fummel« in Dornbirn und Protestaktion nach der katholischen Messe des Bischofs Krenn in St. Pölten) werden von Trans*Personen mitorganisiert; bei der ersten wie auch den folgenden Regenbogenparaden (CSD in Österreich) spielen Trans*- und BDSM-Aktivist_innen eine zentrale Rolle; 1999 findet im Rahmen der Regenbogenparade eine Gedenkaktion zu Erinnerung ›vergessener‹ Opfergruppen des Nationalsozialismus am Morzinplatz beim ehemaligen Gestapo-Hauptquartier statt. In dieser Zeit treffen sich verschiedene Interessensvertreter_innen von Trans*Personen, -Organisationen und -Gruppen und formulieren eine »Transgender-Resolution«, die über verschiedene politische Parteien lanciert wird und das Thema Trans* sowie die Diskriminierungsstrukturen ins Parlament bringt.

Z USAMMENFASSUNG UND A USBLICK Es gäbe noch viele weitere Aktionen von Trans*Gruppen und -Aktivist_innen zu beschreiben, nicht zu vergessen die gerichtlichen Klagen von einzelnen Trans*Personen, die den jeweils aktuellen »Transsexuellen-Erlass« außer Kraft setzten (s. Timetable im Anhang). Die österreichische Trans*Bewegung ist heute noch aktiv. Sie hat sich in mehrere Gruppen mit unterschiedlichen Schwerpunkten aufgeteilt – die Palette reicht von losen Gruppierungen und Selbsthilfetreffen (etwa Stammtische) über Onlineplattformen (http://www.transgender.at) und kämpfende Einzelpersonen bis hin zu institutionalisierten Vereinen. Manche Gruppen und Aktivist_innen sind seit ihrem Beginn in den 1990ern aktiv (z.B. TransX, Libertine), andere haben sich mit der Zeit aufgelöst (Mike’s Transfer, Transvestitin, Transsexuelle Initiative u.a.), wieder andere wurden im Laufe der Zeit neu gebildet (z.B. Transmann e.V.). Es wurde bereits viel erreicht: »Es hat sich sehr, sehr viel verändert, aber auch halt nur zu einem Teil dadurch, dass wir gearbeitet haben. Natürlich ist auch die Zeit eine andere, die Medien sind andere. Wir haben schon sehr, sehr viel erreicht: es ist heute nicht mehr so ein Thema wie vor dreißig Jahren, das war absolut anders. Die Älteren damals haben sich das ja überhaupt nicht vorstellen können, dass sich das in die Richtung bewegt. Die haben sich ja nie getraut irgendwo dabei zu sein. Also wie viele Leute ich kennengelernt habe, die gleichaltrig und älter waren, die gesagt haben: ›Bleib bloß versteckt. Sag niemandem was. Leb weiter so, dann hast du deine Ruhe‹, und: ›Tu dir das nicht an.‹, und: ›Das ist gefährlich‹, und was weiß ich. Die Ängste waren ja voll internalisiert.« (Heike Keusch) »Naja, es hat sich schon ein bisschen was verändert, das ist mir und uns auch in den Jahren gelungen. Es gab zum Beispiel einmal ein medizinisches Treffen, wo sich Psychologen,

P. P. Baumgartinger, Verein ][diskursiv: Trans*Bewegung Vergessen Erinnern Psychiater, Sexualtherapeuten und auch Operateure in Wien zusammengefunden haben. Da waren wir auch zu mehreren als Transsexuelle, Transidente, Transvestiten vorhanden. Wir haben wirklich auf dieser Fachtagung diese Begutachtungsnormen aufgebrochen. […] Es hat sich auch was bewegt mit den Erlässen und dem Personenstandsgesetz […].« (Mark Willuhn)

Und es gibt noch einiges zu erkämpfen: »Wir haben ja bei den Transen und bei den Sadomasochisten auch nach wie vor diese Krankheitsbegriffe in der Psychiatrie, die ja eigentlich auch alle weggehören, das gehört auch endlich mal wegpathologisiert, das Ganze. Das ist ja in Wirklichkeit eine Geschichte von gestern, die wir nach wie vor überall haben, also auch eine politische Forderung, die wir einmal ein bisschen stärker nach außen richten könnten.« (Heike Keusch) » […] und zugleich gelangen wir wieder an so eine Art von Ausgangspunkt zurück in mancher Hinsicht. Wenn ich mir die Entwicklung anschaue, in Europa, in unseren Nachbarländern, wo es zum Beispiel schon wieder ein Problem wird, eine Regenbogenparade abzuhalten… In Budapest etwa hat die Regenbogenparade bis vor kurzem noch völlig problemlos und selbstverständlich stattgefunden. Heuer musste sie abgesagt werden aus Angst vor Krawallen und vor rechtsradikalen Übergriffen. So gesichert, wie wir manchmal glauben, sind unsere Territorien nicht. Eher habe ich den Eindruck, dass sich was über uns zusammenbraut – über der ganzen Szene, und ich rede jetzt nicht nur von Transen, sondern auch von Lesben und Schwulen und all dem, was mit diesem wunderbaren Begriff queer benannt werden kann oder umrissen wird. Da kommt einiges an Bedrohung auf uns alle zu, und darum glaube ich, es ist wichtig, dass das Ganze nicht zerflattert, zerfällt in irgendwelche Kleingruppierungen. Gemeinsamkeit und Politisierung in jedem Sinn sind heute mehr denn je notwendig. […] Ist alles [Rechtsdruck in Ungarn; Anm. PPB] vor unserer Haustür und vielleicht hätten sich manche Leute dort vor ein paar Jahren auch nicht vorstellen können, was jetzt passiert ist. Und wir können uns so was momentan auch nicht wirklich vorstellen, aber es kommt vielleicht sehr schnell. Darum: wir haben schon viel erreicht, aber zufrieden oder gar beruhigt bin ich nicht. Ich würde es eher eine Beunruhigung nennen.« (Gloria G.)

Der Artikel gibt einen Überblick über die Entstehung der aktuelle Trans*Bewegung in Österreich und zeigt vielfältige politische und selbstorganisatorische Aktivitäten der Trans*Communities in Österreich auf. Dies ist insbesondere interessant, da Trans* zwar oft in der queeren Geschichtschreibung im Titel mitgenannt ist, Trans*Aktivismus und Trans*Aktivist_innen darüber hinaus aber unter schwul-lesbisch subsummiert und damit vergessen bzw. unsichtbar gemacht werden.

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Tabelle 1: Timetable der aktuellen Trans*Bewegung in Österreich Ende 1970er und 1980er Jahre – was war davor 1979 23.05.1980

1981 1982 1983 Mitte 1980er 1986

erste Homosexuelle Initiative (HOSI) wird in Wien gegründet Anschlag auf die Bude der HOSI bei den Alternativfestwochen, die Bude wird geschlossen und durch Solidarisierung aller anderen Teilnehmenden wieder geöffnet Hausbesetzung im 9. Wiener Gemeindebezirk führt zum Werkstättenund Kulturhaus (WUK) Hausbesetzung im 6. Wiener Gemeindebezirk führt zur Gründung der Rosa Lila Villa, dem ersten queer-schwul-lesbischen Haus in Wien HOSI Graz wird gegründet Demonstration für die Rechte von Schwulen und Lesben in Wien anlässlich der Krawalle in Christopher Street in New York Gründung der Libertine – Sadomasochismus-Initiative Wien

Entstehung – Ende 1980er bis Mitte 1990er Jahre: erste Treffen, Gruppen- und Vereinsbildung Ende 1980er Anfang 1990er 1990er Juni 1990

1990 1992

Mai 1992 ab 1992

1993 1993 1994 1994

1995 1995 1995

Transsexuelle Initiative, Graz, später Wien (Leitung: Elisabeth P.) Queer-Theorie taucht in Wien auf (u.a. durch Judith Butlers Bücher »Gender Trouble« (1990, dt. 1991) und »Bodies That Matter« (1993, dt. 1997) Techno-Bewegung entwickelt sich Hausbesetzung im 10. Wiener Gemeindebezirk führt zur Gründung des Ernst Kirchweger Hauses (EKH), in dem u.a. die Rosa Antifa Wien war, bevor sie in die Rosa Lila Villa wechselte Erotik Kreativ 1, WUK Wien (Konzept, Organisation, Durchführung: Heike Keusch, Clemens W.) Erotik Kreativ 2, WUK Wien (Konzept, Organisation, Durchführung: Heike Keusch, Clemens W.): Teil des Programms war ein öffentlich beworbenes Treffen von Trans*Personen. Erster Life Ball (Charity-Event für HIV-Positive und Aidskranke) im Wiener Rathaus regelmäßige Treffen von Trans*Gruppen in der Rosa Lila Villa, Wien: Gruppe rund um Heike Keusch, Mark Willuhn und Ralph – wird später zu Verein Transvestitin; Gruppe rund um Chris S. – wird später mit anderen Gruppen zu Verein TransX Gründung des Vereins Transvestitin, Wien Erstes Techno-Event Danube Rave (Eric Fischer) in Linz, Österreich Trans*Treffen und -Rahmenprogramm beim Filmfestival TransX; diesbezüglich eingereichte Förderungen werden abgelehnt auf dem Aktivist_innentreffen des Österreichischen Lesben- und Schwulenforums (ÖLSF) wird die Resolution zur Abschaffung der Geschlechter diskutiert, sie bekommt keine Mehrheit. Gründung des Vereins TransX – Verein für TransGender-Personen Kooperation zwischen Trans*Gruppe und Elisabeth Jupiter vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP) aus der Gruppe ÖLSF mit Aktivist_innentreffen seit 1991 wird ein Dachverband, Trans*Aktivist_innen sind aktiv beteiligt

P. P. Baumgartinger, Verein ][diskursiv: Trans*Bewegung Vergessen Erinnern Aktivismus – Mitte 1990er bis Anfang 2000er Jahre: Vereinsarbeit und Aktionen 1995

Juni 1996

ab 1996 1996

1996 1997 1997 1997 1997 1998 1998 1999 1999 1999 1999

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Erster Internationaler Menschenrechtstribunal (Organisation: ÖLSF; Vorsitz: Freda Meissner-Blau, Gerhard Oberschlick), die Republik Österreich wird u.a. der Verletzung der Menschenrechte homo-, bi- und transsexueller Menschen schuldig befunden (Vertreterin: Gloria G.) Erste Regenbogenparade (Christopfer Street Day – CSD), an deren Organisation Trans*Aktivist_innen aktiv beteiligt sind (ÖLSF, Grüne Andersrum, TransX, Libertine, RAW etc.) aktive Beteiligung verschiedener Trans*Gruppen und Trans*Aktivist_innen an den Regenbogenparaden (u.a. Libertine, TransX, ÖLSF) 1. ÖLSF-Treffen in Dornbirn: Leseperformance, katholische Messe für Lesben, Schwule und Trans*Personen, ProvokAktion »Mittagessen im Fummel«, Trauermarsch zum Denkmal für Opfer des Nationalsozialismus und Ablegen des Rosa Winkels. Beim ÖLSF-Aktivist_innentreffen wird die »Transgender-Resolution« diskutiert. §§ 220 und 221 StGB (Vereins- und Werbeverbot für homosexuelle Themen) treten außer Kraft. 2. ÖLSF-Treffen in St. Pölten, Österreich: incl. Protestaktion nach Messe von Bischof Krenn mit Medieneklat. Männertutorium incl. Männertransgruppe, Österreichische Hochschüler_innenschaft (ÖH), Universität Wien Seminar» Männer Bilder Wege«, Universität Wien Vortrag »Identitäten, ein Versuch über Grenzen«, LesBiSchwule Aktionswoche, ÖH, Universität Wien 3. ÖLSF-Treffen in Klagenfurt, Österreich Radio Stimme: Sendung zu Transsexualität & Transgender 4. und letztes ÖLSF-Treffen in Wien, Österreich Teilnahme und Intervention mehrerer Trans*Personen am Kongress »Transsexualität« im Allgemeinen Krankenhaus (AKH), Wien Gedenkaktion zu Erinnerung ›vergessener‹ Opfergruppen des NS am Morzinplatz (ehemaliges Gestapo-Hauptquartier) während der Regenbogenparade (ÖLSF, CSD Wien) Erste Sendung des Transgender-Radio von TransVoice Austria Mitarbeit bei Ausstellungs- und Buchprojekt »Der andere Blick – Lesbischwules Leben in Österreich« Performance anlässlich des 15-jährigen Bestehens der Libertine Wien (Heike Keusch, Andrea Smola) Gedenkzug zum 320. Jahrestag der Ermordung einer TransGender-Person, Wien (TransX, Volxtheater)

Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Verein ][diskursiv 2011 und Foltin 2004.

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L ITER ATUR Baumgartinger, Persson Perry (2011): TransWissen? – ZweiGeschlechter-Macht! Staatliche Wissen/Macht-Formationen zu Trans*Gender und Zweigeschlechtlichkeit, unveröffentlichter Projektbericht, Wien. Butler, Judith (1990): Gender Trouble : Feminism and the Subversion of Identity, New York et al.: Routledge. (dt. (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Butler, Judith (1993): Bodies That Matter. On The Discoursive Limits of Sex, New York et al.: Routledge. (dt. (1997): Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp) Frketić, Vlatka/Baumgartinger, Persson Perry (2008): TransPersonen am österreichischen Arbeitsmarkt, hg. v. Verein ][dikursiv, http://www.diskursiv.at G., Gloria (2001): Queer Durch. Körperpolitik in Österreich am Beispiel Transgender: Von Lesbenknaben, phallischen Frauen, Genderbenders, ÜberläuferInnen des Geschlechts. In: Förster, Wolfgang/ Natterer, Tobias G./ Rieder, Ines (Hg.): Der andere Blick. Lesbischwules Leben in Österreich. Eine Kulturgeschichte. Wien, S. 271-281. G., Gloria/Fels, Eva (o.J.): 320 Jahre TransGender-Hatz. 14. Juli 1683-14. Juli 2003, http://www.transx.at/1407/1407.htm Feinberg, Leslie (1996): Transgender Warriors. Making History from Joan of Arc to Dennis Rodman, Boston: Beacon Press. Feinberg, Leslie (1998): TransLiberation. Beyond pink or blue, Boston: Beacon Press. Foltin, Robert (2004): Und wir bewegen uns doch. Soziale Bewegungen in Österreich, Wien: Edition Grundrisse. Perko, Gudrun (2005): Queer Theorien. Ethische, politische und logische Dimensionen plural-queeren Denkens, Köln: PapyRossa. Verein ][diskursiv (2011): Where Have All The Trannies Gone… Wo sind all die Transen hin… Die TransBewegung der 1990er Jahre in Österreich, http:// www.diskursiv.at

Kapitel 3 »Ein Wir der Wut. Erledigt ist gar nichts!« Radikale Vergegenwärtigungen – Zur Einleitung Utta Isop

O RGANISIERTE K OLLEK TIVITÄT JENSEITS VON G ESCHLECHT UND I DENTITÄT »Wut verbindet, indem sie sich an die Anderen richtet, aber sie egalisiert nicht. Sie beinhaltet die Aufforderung, jene Differenzen neu zu bestimmen, die vom Herrschaftssystem negiert, verharmlost oder mystifiziert werden« »Doch der Feminismus war nie eine Ganzheit« »Das Überlieferte dem jeder Epoche eigenen Konformismus abringen« »Die Berührung gehört zu einer verfemten Ordnung« (B IRGE K RONDORFER)

Radikalitäten, Differenzen, queere Unbestimmtheiten, gegenkulturelle Archive und Gedächtnisse, die von den Abrissversuchen an symbolischer Weiblichkeit, an Heteronormativität, an Familie und von Rassismen und Antisemitismen innerhalb der Frauenbewegungen erzählen, bilden den Themenfächer dieses Kapitels. Wie den Herrschaftsstrukturen, den Gewaltformen, den Totalitätslogiken, den vereinnahmenden Universalisierungen, den ausblendenen Eurozentrismen, den Identitätspolitiken, den Partikularismen entkommen? Wie feministisch-queere Alternativen jenseits von Ein- und Ausschlüssen, wie libertäre, anarchistische, experimentelle intime Kollektive denken, sprechen und leben ohne die hegemonialen und dominanten Formen der Gewalt zu wiederholen? Wie die »Wirs« und »Ichs« ins Handeln von Politik und Öffentlichkeit bringen, indem »die Gesichter des Schweigens« (Thürmer-Rohr: Seite?, in diesem Band) zum Sprechen gebracht

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werden? Wie die Ausmaße von Gewalt, Hierarchie, Hegemonie, Dominanz und Herrschaft in gesamtgesellschaftlichen Organisierungsformen reduzieren? In geballter Form stellen sich solche komplexen gesellschaftskritischen Fragen in diesem Kapitel, das sich darum bemüht, die Dialoge und Bündnisse zwischen den Generationen, den Stimmen der Differenzen, der Feminismen, der queeren Pluralitäten, der Gegenkulturen, der Anarchafeminismen, der libertären Bewegungen und intersektionalen Diskurse ins Singen zu bringen. Die Produktivität von Unbestimmtheit, Offenheit, Nicht-Determiniertheit, Nicht-Identifizierung, die Produktivität ›des Dings‹ eröffnet dabei die Möglichkeiten Bündnisse zwischen den Gegenwarten und den Vergangenheiten zu schließen, ohne sich klagend mit den Beschränkungen von Identitäten und Wirs zu bescheiden. Die Verletzungen durch identitäre Ausschlüsse wie Rassismen und Antisemitismen in der Geschichte von Frauenbewegungen sollen in diesen Gesprächen ebenso artikuliert und gehört werden wie die Reduktion der historischen Feminismen auf EINE Frauenbewegung, die sie nie war. »Der Feminismus war nie eine Ganzheit«, so Birge Krondorfer in ihrem Artikel. Um dies in der Geschichtsschreibung auch stark werden zu lassen, wäre es wichtig von ›Feminismen‹ zu sprechen. Wie die Widerstandsgeschichten der Vergangenheit dem Konformismus der Vergangenheit und der Gegenwart abringen, fragt Krondorfer weiter. »Vor allem aber: Warum eigentlich sind Stich- und Reizworte hängen geblieben – wie ›Latzhosen‹, ›Männerhass‹, ›männerfreie Zonen‹, ›Orthodoxie‹, ›Verbissenheit‹, ›Betroffenheitskultur‹, ›Selbstbezug‹ etc. –, nicht aber das Wesentliche: die Suche nach Befreiung von Gewalt in ihrem ganzen Spektrum von persönlicher Diskriminierung bis hin zu einer universellen Bedrohung?« fragt Christina Thürmer-Rohr. Wie gegen die Missinterpretationen jüngerer Generationen auftreten, die sich abgrenzen, um Politiken der Freiheit selbst erfinden zu können und nicht im Wort und im Denken der Mütter steckenzubleiben? Wie das politische Wissen und Handeln der Eltern, der Mütter ehren ohne dabei stehenzubleiben, dass nichts mehr zu sagen, zu handeln, zu wissen, zu denken ist? Wie Differenzen in symbolischen Formen von Weiblichkeiten, Geschlechtlichkeit und von Transgenderpersonen finden und wie sich den Kritiken anderer Generationen, anderer Szenen, anderer Subkulturen, Anderer öffnen? Christina Thürmer-Rohr konstatiert und skandalisiert in ihrem Artikel »Gesichter des Schweigens – der Feminismus und das Kassandra-Syndrom«, dass feministische Fragen nach der Gewaltproduktion moderner Gesellschaften ungelöst geblieben sind und dennoch nicht mehr gestellt werden. »Die soziale und mentale Platzanweisung Geschlecht« (Krondorfer) und die damit verbundenen Formen von Gewalt in kapitalistischen Gesellschaften werden nicht mehr als Projekt der Moderne analysiert und begriffen, in welchem sich Kapitalismus und Patriarchat verbinden. Die nach wie vor weltweit geübte Gewalt, die in ihren Funktionsweisen eng mit den modernen Konzepten von Männlichkeit verbunden ist, wird in der Frauen- und Geschlechterforschung und im Feminismus nicht mehr in dem Ausmaß skandalisiert, wie es den vollzogenen Gewaltakten entsprechen würde:

U. Isop: »Ein Wir der Wut. Erledigt ist gar nichts!« »Die Erfahrung der Verwundbarkeit, jenes Entsetzen, das Gewalt noch stimulierte, erscheint heute wie eine übertriebene Skandalisierung. Dem widerspricht nicht, dass die Frauenpolitik ein institutionalisiertes Netz zur sozialarbeiterischen und therapeutischen Unterstützung von Opfern der ›Gewalt gegen Frauen‹ vorweisen kann – Frauenhäuser, Notrufe, Beratungsstellen. Aber die Zuständigkeit für die Analyse einer modernen Gewaltgeschichte, die Fragen nach einem umfassenden, wenngleich oft abstrakten Zusammenhang von patriarchaler Logik und Gewalt hat der Feminismus heute m.E. aufgegeben. Eine Neubesinnung auf die Gewaltfrage unter gegenwärtigen Bedingungen ist nicht in Sicht. Aber erledigt ist gar nichts.« (Thürmer-Rohr)

Birge Krondorfer argumentiert in ihrem Artikel »Wider ein Vergessen der Anderen. Erinnerung als Ort der (feministischen) Differenz.« wie Thürmer-Rohr dagegen Vergangenheiten, »wo es keine leuchtenden Erbschaften gab und nur Ahnungen vom Unaussprechlichen« zu beschweigen und sie Interpretationen zu überlassen, die das verborgene Widerstandswissen feministischer Vergangenheiten auf Essentialismen und Einförmigkeit reduzieren anstatt es zu bergen: »Doch der Feminismus war nie eine Ganzheit, ›vielmehr erwies er sich von Anfang an als gespalten, gar zerrüttet: von unterschiedlichen Ansichten über die Ursachen oder die Form der Unterdrückung, von Disputen über den Sinn von Befreiung, von konkurrierenden Interpretationen demokratischer Ideale […] und […] darüber, wie der öffentliche Bereich […] aussehen sollte‹ (Zerilli 2010: 10). Die retro-aktive Zuschreibung, sozusagen eine Erinnerungserzählung ex negativo über eine Gesamtidentität, die zwar zu einer jeden PionierInnenphase gehört und als politische Bewegung auch gewünscht war, sich jedoch in dieser Form nie realisiert hat, geriert sich wie eine die Erfahrung verdeckende Erinnerung, die durch permanent wiederholte Überlieferung im feministisch kollektiven Gedächtnis sich eingenistet hat.« (Krondorfer)

Anstatt feministische Vergangenheiten »dem poststrukturalistischen Verdächtigungschor von Essentialisierung und dem Abgesang aller Außenpositionen« zu überlassen versucht Krondorfer sprachlich einen Eindruck feministischen Differenzierens zu vermitteln, das Unterschiede setzt, wo andere nur Einheiten vermuten: »Wir waren eine Plage und haben uns mit allem geplagt […]« »Dieses sich Verausgaben – ohne stromlinienförmige Herrschaftsallüre […] ist so viel ins Vergessen geraten – so schnell« »Ein sprechendes und schreibendes (lallendes, weinendes, schreiendes, lachendes) nach-der-Luft-Schnappen der weiblichen Sprache.« Das weibliche Sprechen gruppiert sich hier um Unbestimmtes, Fallendes, Stolperndes, Differentes, nicht um Identitäres. Die Ichs und Wirs der Wut motivieren dazu, Archive und Gedächtnisse des Widerstands anzulegen, die sich nicht gegen die Kritik an Rassismus, Antisemitismus, Fremden- und Behindertenfeindlichkeit und vielen weiteren Kritiken immunisieren, sondern diese als Sprechen der Differenzen willkommen heißen. Dieses Sprechen der Differenz erzählt von der Kritik an der Indifferenz von Geld-Ökonomie und Technokratie

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und setzt dagegen die Berührung und »ein Subjekt, das die Last des Anderen trägt und übernimmt«. Kirstin Mertlitsch hebt in ihrem Artikel »20.000 Frauen für die cosa nostra. Frauen. Erinnern. Das feministische Ding. Eine Analyse zum 100-jährigen Internationalen Frauentag in Österreich« hervor, dass sich ein feministisches Wir um die Reflexion und die Brechung seiner Gründungsmythen, welche für die Erinnungskultur zentral sind, bemühen muss, wie sich dies anhand der »Plattform 20.000 Frauen« zum 100jährigen Frauentag in Österreich zeigen lässt. Durch den Bezug auf den 100 Jahre zuvor stattfindenden Frauentag in Wien, an welchem 20.000 Personen teilnahmen, setzt die Plattform einen Gründungsmythos, ein Ziel in der Gegenwart, nämlich wieder 20.000 Personen für Frauenrechte zu versammeln und konstituiert ein »feministisches Wir«. Mertlitsch kritisiert, dass die Brechung des Gründungsmythos bei dieser Veranstaltung nicht gelungen sei, hält aber zugute, dass kein »essentialistisches Subjekt Frau« und auch nicht ein »identitäres, homogenes Frauenkollektiv« durch die »Plattform 20.000 Frauen« performativ erzeugt werden sollte. Wenn aber, wie es die These der Autorin ist, weder das Eintreten für Frauenrechte, noch der Bezug auf ein gemeinsames Referenzsubjekt »Frauen« Tausende von Personen dazu motivierte an einer Großdemonstration zur Erinnerung des ersten Frauentages teilzunehmen, stellt sich die Frage nach der entscheidenden Motivation. Mertlitsch entwickelt den Gedanken, dass im Zentrum dieser Großdemonstration ein »feministisches Ding«, Zizek folgend, steht, das unbestimmt und offen ist und als solches ein Genießen ermöglicht. Die Metapher für diesen unbestimmten Gefühlszustand des Genießens in einem feministischen Wir ist »Schwesternschaft«, ein offener Platz, eine Leere im Zentrum des feministischen Wir, die es vielen verschiedenen unterschiedlichen Gruppen, Personen, Subkulturen, Szenen ermöglicht, diese Leere mit ihrer Zugehörigkeit zu füllen. Eine solche Form unabgeschlossener und offener Pluralität, die mit stetiger Aufmerksamkeit die kultur- und klassenübergreifenden »Wir-Bildungen« analysiert, findet sich auch im plural-intersektionalen Konzept Gudrun Perkos (2005), das den Hintergrund für ihre Kritik am Verschweigen von Rassismen und Antisemitismen in feministischen Bewegungen in ihrem Artikel »Bedenken. Kritiken des Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus gegen die Neue Frauenbewegung in Theorie und Praxis und ihre Aktualität in Queer Studies – eine kritische Bestandsaufnahme« bildet: »Sie gilt dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, dem Universalismus und dem Eurozentrismus, aus dessen Perspektive die Neue Frauenbewegung und feministische Theoriebildung eine klassen- und kulturübergreifende Wir-Kollektivität beansprucht.« Perko kritisiert das Verschweigen von anti-rassistischen und jüdischen Theoretikerinnen in der neuen Frauenbewegung und die Nicht-Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Weiß-Sein in den Queer Studies. Der von Perko entwickelte plural-intersektionale Ansatz einer Queer Theory arbeitet der Enge von queerer Gesellschaftsanalyse entgegen, sich ausschließlich auf Sexualität und Geschlecht, wie auch lesbisch-

U. Isop: »Ein Wir der Wut. Erledigt ist gar nichts!«

schwule Idenitätspolitik zu begrenzen und setzt stattdessen breit gefächerte Perspektiven gegen die identitären Zuspitzungen aller sozialer Bewegungen und für breite Bündnispolitiken: »In diesem Sinne geht es nicht um die Frage, wie viele Menschen ausgegrenzt werden, oder ob jene Menschen andere Orte finden, an denen sie sein dürfen. Vielmehr geht es um das Nachdenken über Denkschemata, denen keine Ausschlüsse inne liegen. In diesem Sinne muss der Blick auf Grundstrukturen und Wurzeln einer mit Identität operierenden Ordnung gerichtet werden, die Zeichen eines allgemeinen ›Wir‹ mit Argwohn betrachtet und Kritik gegen alle eindeutigen und vermeintlich natürlichen Identitäten und Identitätspolitiken formuliert werden. Dieses Wir meint kein situatives (z.B. ›Wir‹ feiern gemeinsam), kein politisch-strategisches Wir (z.B. ›Wir‹ handeln gemeinsam, weil ›Wir‹ gegen etwas und für anderes sind). Gemeint ist ein identitäres Wir, das einen starren Rahmen vorgibt und die Homogenität des Wir und damit die identitäre Übereinstimmung der je Einzelnen unter allen Umständen aufrechterhalten will. Diesem Einschluss folgt automatisch die Ausgrenzung jener, die dem nicht entsprechen.« Mate Ćosić, Hannes Dollinger, Utta Isop und Doris Leibetseder wenden sich in ihrem Artikel »Gegenkulturelle Archive. Intime Kollektivität jenseits von Familie und Geschlecht« ebenfalls gegen identitäre Schließungen und Ausschließungen von libertären, queeren, anarchistischen und alternativen Lebensformen: »Aus der Perspektive eines gegenkulturellen Gedächtnisses bzw. Archivierens ist es das Ziel queere Allianzen jenseits von Geschlecht und Sexualität zu bilden und gegenkulturelle Archive nicht auf letzteres zu reduzieren. Wir schlagen vor, dass der Fokus gegenkulturellen Archivierens auf den materiellen Lebens- und Arbeitsbedingungen von libertären, queeren, alternativen Menschen liegt und dadurch zur Vermassung des Diskurses und der sozialen Bewegungen beiträgt. Wir folgen Bernsteins und Reimanns Verständnis von queerer Politik als Destabilisierung von Kategorien und Identitäten in Konzentration auf Inklusion, als eine Hervorhebung von Schnittpunkten und als Werkzeug zur Schaffung von Koalitionen zwischen ungleichen Gruppen. (Bernstein und Reimann S. 3)«

Der Schwerpunkt der Analyse der vier Autor*innen liegt auf den materiellen Lebens- und Arbeitsbedingungen von anarchistischen und queeren Gegenkulturen in kapitalistischen Gesamtgesellschaften. Mittels eines internetbasierten Fragenkatalogs sammelten die Autor*innen narrative Daten zu den Themen Haushalt, Familie, Kommunen- und Gemeinschaftsleben, Elternschaft/Kindererziehung und sexuelle Identität in anarchistischen, libertären und queeren Communities. Die Ergebnisse zeigen, dass politischer Aktivismus als Basis und als Lebensform intime Kollektivität begründen und neue Strukturen von Wohnen, Zusammenleben und Lieben hervorbringt: »Die Öffnung und das Zurückdrängen von identitären Momenten innerhalb der queeren Bewegungen sind für uns von zentralem Interesse, da dadurch auch Anforderungen von Markt und Staat infrage gestellt werden können. Unser Anliegen ist es, soziale Bewegungen wie feministische,

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anarchistische, Lesben- und Schwule Bewegungen und Bewegungen für soziale Gerechtigkeit zu verknüpfen, indem verschiedene Intersektionen wie Klasse, ›race‹, Behinderung, Armut, Ethnie etc. miteinander in Verbindung gebracht werden, gerade weil wir denken, dass gegenkulturelle Gedächtnisse durch den Bruch mit Identitäten funktionieren.«

Gesichter des Schweigens Der Feminismus und das Kassandra-Syndrom Christina Thürmer-Rohr

Die folgenden Überlegungen zum Schweigen und zum Sprechen sind Rückblicke auf einen Stoff, der vor 30 Jahren so viele beunruhigt und beflügelt hatte und heute manchen veraltet erscheint. Dabei geht es mir nicht darum, einfach frühere Positionen zu revitalisieren. Was zu revitalisieren ist, ist die Debatte über einen Feminismus, für den heute niemand eine allgemeingültige Definition zur Hand hat. Heute müssen Frauen sich an die alten Schweigeregeln nicht mehr halten, greifen längst zum Mikrophon und sind an vielen öffentlichen Orten präsent. Was aber hat es mit der Bemerkung von Barbara Sichtermann auf sich, mit der sie vor einigen Jahren ihre Leserinnen provozierte: Jetzt, wo Frauen alles sagen dürfen, seien die Männer überrascht und erleichtert. Denn was sie zu hören bekämen, unterscheide sich eigentlich nicht substantiell von dem, was sie von sich selbst gewohnt seien. Eigentlich könne man sich wundern, warum den Frauen überhaupt ein jahrtausendealtes Redeverbot auferlegt worden sei. Denn wenn sie nun nichts als den Common Sense zu Gehör bringen, wäre die alte Schweigeverordnung ja gar nicht nötig gewesen; wenn sie an den alten Maßstäben gar nicht rütteln, wenn sie keine andere Welt anvisieren, hätte man sie ja gefahrlos schon längst reden lassen können (vgl. Sichtermann 1992: 131f.). Auch wenn das sicher nicht das letzte Wort ist: Die Frage stellt sich, was aus dem Selbersprechen der Frauen geworden ist. Wie steht es heute mit dem Schweigen, diesem Kardinalproblem in der Geschichte der Frauen? Was hat die Frauenbewegung erreicht mit ihrer Forderung, zu Wort zu kommen und die herrschenden Diskurse in andere Richtungen, zu anderen Inhalten zu treiben?

1. D IE G ENER ATIONENFR AGE Das sind Fragen an die eigene und an die nachfolgende Generation. Die Lebensläufe und Erfahrungen im 21. Jahrhundert sind nicht mehr die des 20. Jahrhunderts. Nicht nur die Menschen altern, auch die Deutungen gesellschaftlicher

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Verhältnisse altern, können sterben und werden nicht einfach von Generation zu Generation weitergereicht. Anfang der 1980er Jahre hatte Christa Wolf1 ihrer Kassandra in den Mund gelegt: »Wir hörten nicht auf, zu lernen …, oft redeten wir über die, die nach uns kämen. Wie sie wären. Ob sie uns noch kennten. Ob sie, was wir versäumt, nachholen würden, was wir falsch gemacht, verbessern. Wir zerbrachen uns die Köpfe, wie wir ihnen eine Botschaft hinterlassen könnten.« (Wolf 1983a: 150) Welche Botschaften sind das gewesen? Sind sie heute noch bekannt? Und welche Bedeutung hätten sie für die Nachkommenden? Über jene Botschaften gibt es heute ein jeweils spezifisches Schweigen der Älteren und der Jüngeren, und wie jedes Schweigen betreibt auch dieses einen charakteristischen Geschichtsverlust, z.B. durch eine Bagatellisierung oder Verzerrung von Inhalten, die vor noch nicht allzu langer Zeit das Denken bewegt und das Handeln elektrisiert hatten. Wenn man also heute etwas zum Feminismus sagen will, befasst man sich mit einer Geschichte, die für die einen erlebte Geschichte ist, für die anderen fast so weit zurückliegt wie ein anderes Zeitalter. Für die einen war es eine Zeit nachhaltiger Weichenstellungen, die die Lebensläufe nicht selten neu justiert haben. Für die anderen handelt es sich allenfalls um Lesestoff oder um etwas vom Hörensagen. Jedenfalls, die feministische Geschichte ist heute kein gemeinsamer Besitz mehr, auf den wir uns gleichermaßen beziehen könnten. Deswegen die Frage: wofür waren wir angetreten, was bedeutete Herrschaftskritik, Patriarchatskritik, Gewaltkritik, Opferkritik? Sind frühere Analysen gescheitert, überholt oder nur unabgeschlossen? Vor 40 Jahren ging es (wieder) darum, ein Schweigen zu brechen: über eine sich als naturgegebene Norm präsentierende Geschlechterpolitik; über ein strukturelles Unrecht, das in die Institutionen eingeschrieben und den Personen einverleibt war; über eine Platzzuweisung, die Frauen zugleich ausschloss und einschloss und ihnen eine Loyalität abverlangte, die die Sozialcharaktere zutiefst geprägt hat. Der Feminismus hat die Logik dieser systematischen Abdrängung als patriarchale Logik bezeichnet und zur Ursache destruktiver Entwicklungen der Gesellschaften überhaupt erklärt. Wir waren überzeugt von einem noch nicht realisierten Potenzial der Frauen, das – käme es zur Sprache – die Gesellschaft grundlegend verändern würde. Es ging nicht nur um die Zurückweisung persönlicher Diskriminierungen und die Behebung spezifischer Missstände, sondern um den radikalen Bruch mit einem gesellschaftlichen Grundverständnis, von dem kaum ein Bereich der Gesellschaft unberührt und unbeschädigt war. Es waren fundamentalistische Antworten auf eine fundamentalistische Macht. Und angesichts dieser so umfassenden, so groß angelegten Sicht der Dinge, dieser so grundsätzlichen Kritik gibt es sicher manche Gründe für heutiges 1 | Christa Wolfs Poetik-Vorlesungen in Frankfurt a.M. waren 1982 für viele im Westen zur Pilgerstätte geworden, die Hörsääle waren überfüllt, die Tonband-Mitschnitte standen hoch im Kurs und wurden anschließend in großer Andacht und meist in Gruppen angehört.

C. Thürmer-Rohr: Gesichter des Schweigens

Schweigen. Es ist ein distanzierendes Schweigen. Manchen der Älteren erscheint ihr früheres Engagement im Rückblick wie eine Phase jugendlicher Überemotionalität; manche haben die außenseiterische Aufsässigkeit abgelegt und sind zur Normalität zurückkehrt; manche sind gescheitert an den eigenen Ansprüchen; manche haben sich beeinflussen lassen vom veränderten Zeitgeist; manche verschrieben sich den Krisenbewältigungsanstrengungen der Therapiegesellschaft und zogen es vor, das Schlüsselwort ›Veränderung‹« erstrangig auf die eigene Person zu richten. Manche Distanzierungen betreffen auch die politische Einfärbung des Ortes, an dem ein wichtiger Teil der feministischen Arbeit stattfand, die Universität – damals ein weitgehend basisorientierter Ort, oppositioneller Sammelpunkt, Sprachrohr gesellschaftlicher Proteste. Damit diente diese Arbeit nicht unbedingt der wissenschaftlichen Reputation und seriösen institutionellen Einbettung. Sie schaffte noch keine anständige akademische Disziplin, kein respektables wissenschaftliches Territorium, sie war also nicht unbedingt dazu angetan, Niederschlag in den Annalen der Institution zu finden und die eigene Platznahme in der universitären Familie zu fördern (vgl. Hark 2005). Und für viele der Jüngeren scheinen die damaligen Bewegungsanlässe heute mehr oder weniger erledigt zu sein; für manche klingen die früheren Empörungen hypermoralisch; viele reden lieber von Erfolg als von Diskriminierung, viele meinen, von niemandem etwas verlangen zu können außer von sich selbst; viele können die damals gesichteten Schreckensbilder der Welt-Gesellschaft nicht mehr nachvollziehen; manche fühlen sich durch Mahnungen der Älteren belästigt. Alle sind schließlich erfasst von den fast unendlichen Möglichkeiten digitaler Kommunikation, alle sind letztlich überfordert von einer globalisierten Welt, in der Ursachen grassierender Probleme nicht mehr eindeutig zu lokalisieren sind, die Zuordnung von Tat und Tätern kaum noch gelingt, das globale Kapital undurchschaubar zusammenhängt. Niemand kann mehr für sich in Anspruch nehmen, wirklich durchzublicken. Außerdem: Viele der Jungen schweigen gar nicht. Für sie funktioniert Meinungsbildung geräuschlos über das Internet. Was man sagen will, kann man dort ungehindert multiplizieren. Wer mit dem Internet aufgewachsen ist, sagt z.B. die Piratenpartei, hätte es nicht mehr nötig, »sich auf die Straße zu stellen und rumzuschreien«. Es sei ein Befreiungsschlag der jungen Generation, dass sie im Netz diskutieren und abstimmen und alles verbreiten könne, was sie sagen will 2 , und dass sich so am Ende die beste Lösung finde. Die Rede ist von »neuen Ideen«, allerdings kaum von deren Inhalten. Diese können im Voraus auch gar nicht formuliert werden, weil erst die »Schwarmintelligenz«3 des Netzes sie hervorbringt.

2 | Marina Weisband im Interview mit Betra Ahne und Jan Thomsen (Ahne/Thomson 2012). 3 | Marina Weisband und Peter Altmaier im Gesprcä mit den Spiegelredakteuren René Pfister und Markus Feldenkirchen (Pfister/Feldenkirchen 2012).

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Insgesamt scheint es weniger darum zu gehen, was gesprochen wird, als um geeignete Durchsetzungstaktiken, um erfolgreiche Strategien des Machterhalts, ums Vorgehen und Funktionieren, um Quoten und noch mal Quoten, um geeignete Bündnisse und gute Nerven, um Selbstmarketing und gutes Timing, um Einflussnahme auf Regeln des politischen Spiels, um den Einsatz von Doppelstrategien, von bewusster Zweigesichtigkeit (vgl. Kullmann 2012), auch mal von strategischem Schweigen: Machtoptionen also vor Inhalten, die im Diffusen bleiben können, so als wüssten alle ungefähr, worum es sich handelt. Die Geschlechterfrage in umfassende gesellschaftskritische Zusammenhänge zu stellen scheint ebenso verschwunden wie das Vertrauen in die Kraft des Politischen, die auch eine Kraft des Benennens ist. 4

2. K ASSANDR A Vor 30, 40 Jahren war Patriarchatskritik eine Attacke gegen die traditionellen Wortinhaber, Wortführer und Sprechakteure. Das weibliche Schweigen, das denen, die immer schon das Wort hatten, das Wort hatte lassen müssen und das bekanntlich mal die Geschlechtergeschichte bestimmt hatte 5, wurde zum Hohn auf alle emanzipativen Vorhaben, zu denen die Mündigkeit, d.h. das Selbersprechen gehört. Vom öffentlichen Sprechen der Frauen war eine Diskursmacht erwartet worden, der es gelingen könnte, durch Klartextsprechen, durch neue, andere Stimmen an den kulturellen Fundamenten zu rütteln und die Verhältnisse aus dem Gleis springen zu lassen. Wenn Frauen endlich den Mund aufmachen und sagen, was sonst niemandem einfiel, würden sie »die Wahrheit« sagen. Es war die Erwartung, dass »die stumm gemachte Frau als Künderin der Wahrheit wiederkehrt« (Sichtermann 1992: 131). Dieser Satz klingt heute reichlich hochtrabend. Er war aber ernst gemeint, beladen mit neuem Wissen um unsere Geschichte und mit einer Art Verpflichtung, die aus dem Schock neuer Einsichten und aus der Vision von Gegenmodellen stammte. Es war das Kassandra-Syndrom, das für viele zu einer Art Aha-Erlebnis wurde: sehen, aussprechen, aber: nicht gehört werden. Vor 30 Jahren hatte Christa Wolf die Kassandra-Figur in ihrer gleichnamigen Erzählung (vgl. Wolf 1983b) aufgegriffen und aus dem Mythos in die sozialen Koordinaten auch der Gegenwart zurückgeführt. Aktueller Anlass war die atomare Aufrüstung in Ost und West, 4 | Schweigen bedeutet damit nicht nur eine schwerwiegende Beschneidung der Personen, sondern auch ein Ressourcenverlust für das Gemeinwesen, das sich selbst beschneidet, wenn zurückgehalten wird, was gesagt werden könnte (Ortega y Gasset 1963). 5 | Siehe Jacob und Wilhelm Grimm (1854-1961): »Kein Kleid steht einer Frau besser als das Schweigen« (ebd.: 74); »Ein Weib, das schweigen kann, ist eine Gabe Gottes« (Altes Testament – Buch Sirach: 26.17) etc. In den Gemeinden sollten Männer dafür sorgen, dass ihre Frauen den Mund halten (vgl. Neues Testament, 1. Korinther 14, 34, 35).

C. Thürmer-Rohr: Gesichter des Schweigens

der NATO-Doppelbeschluss vom 12.12.1979, die Befürchtung eines »potenziellen Schlachtfelds Europa« Ebd.: 107). Der Kassandra-Stoff in Verbindung mit dem Erschrecken über einen möglich werdenden Atomkrieg nahm die damaligen Ängste, den sog. Zeitgeist auf, sprach besonders vielen Frauen aus dem Herzen und hat einen starken Einfluss auch auf die west-feministische Wahrnehmung ausgeübt. Kassandra, Königstochter und Priesterin aus dem 3000 Jahre zurückliegenden griechischen Mythos vom Trojanischen Krieg, war die Gabe verliehen worden, in die Zukunft zu schauen, und das hieß, »die wirklichen Verhältnisse der Gegenwart zu sehen« (Wolf 1983: 96). Da sie aber wenig Erfreuliches sah und statt Siege Unheil prophezeite, wurde ihren Warnungen nicht geglaubt. Sie verletzten die Siegesgewissheit und das Selbstbewusstsein des eigenen Volks, Kassandra störte, man erklärte sie für verrückt, sie wurde in einen Turm gesperrt, damit niemand sie hören konnte. Sie musste der von ihr vorhergesagten Katastrophe hilflos zusehen und fand schließlich als Sklavin den Tod. Kassandra, wie Christa Wolf sie sah, war – durch Herkunft – eine Komplizin der Macht und zugleich eine Dissidentin, eine politisch obdachlos Gewordene, die mit eigenen Augen sehen und mit eigener Stimme sprechen wollte – Kassandra, die nicht nur schwer unter dem Kriegsvorbereiten und Kriegstreiben der Männer litt, sondern auch an ihren eigenen Skrupeln und Bedenken, ihrer Selbstzensur und gnadenlosen Selbstanklage, einer Selbstanalyse ohne Selbstmitleid. Diese Kassandra ist beides: gebunden an ihre Herkunft – die »Übereinstimmung mit den Herrschenden« – und zugleich aufsässig gegen die Bindung an dieses Wir, getrieben von der eigenen »Gier nach Erkenntnis« (Wolf 1983a: 73). Und da von jedem etwas in ihr war, gehörte sie zu keinem ganz (ebd.: 6). Kassandra wollte die Welt nicht, wie sie war (vgl. ebd.: 47), sie wollte die Blindheit ablegen, die an Macht gekoppelt ist, sie wollte Zeugin bleiben, auch wenn es niemanden mehr gäbe, der ihr das Zeugnis abverlangt vgl. (ebd.: 27) – ein widersprüchlicher, quälender Prozess des Vorpreschens und Zweifelns, in dem Kassandra mit vielen Fragezeichen spricht: Gibt es ein Recht, gibt es eine Pflicht zur Zeugenschaft (vgl. Wolf 1983b: 90)? Kann ich anderen meine Fragen aufdrängen (vgl. Wolf 1983a: 35)? Lebt ein Gedanken, wenn er einmal in der Welt ist, in anderen fort? Kann man das Unglück herbeiziehen, wenn man es sich vorstellt (vgl. Wolf 1983b: 110)? Ist die Müdigkeit, sich zu engagieren, eigentlich Hoffnungsmüdigkeit (vgl. ebd.: 94)? Führt Tatenarmut zu Untaten (vgl. ebd.: 114)? Müssen wir wirklich lernen, ohne Alternative zu leben (vgl. ebd.: 107)? Ist das Entweder-Oder nicht eine Zwangsidee – sich anpassen oder verschwinden (vebd.: 150)? Ist der Versuch, das männliche Realitätsprinzip außer Kraft zu setzen, wirklichkeitsfremd (vgl. ebd.: 112)? Was macht uns zu Komplizinnen der Selbstzerstörung, und was befähigt uns, ihr zu widerstehen (vebd.: 109)? In solchen Fragen stecken Basis-Erkenntnisse, die damals – wie schlicht auch immer – in große Fragen der Gesellschaftskritik und -veränderung eingebettet waren: die Erkenntnis, dass unser gesamtes Denken ein anderes wäre, wenn Frauen an ihm mitgewirkt hätten (vgl. ebd.: 145), dass Frauen als Beherrschte

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eine andere Wirklichkeit erleben als Männer (vgl. ebd.: 114), dass sich mit der Neueinstellung des Blickwinkels das gesamte Sehraster verändert (vgl. ebd.: 131); dass der radikale Sinn des Wortes ›Emanzipation‹ zurückgenommen und zur bloßen Gleichberechtigung heruntergespielt wird, sobald Frauen sie für sich in Anspruch nehmen (vgl. ebd.: 148); dass einem nichts mehr einfällt, wenn man das Wichtigste nicht sagen darf (vgl. Wolf 1983a: 82); dass bestraft wird, wer die Probleme benennt statt die, die sie verursachen; dass wir, was wir wissen, nicht glauben können; dass wir, was wir sehen und schon glauben, nicht aussprechen können; dass im kalten und im heißen Kriegsfall die Feinde wie ›wir‹ und wir wie die Feinde werden; dass das schwierigste Wagnis darin liegt, das Bild von sich selbst zu ändern; dass die Opferwerdung von Frauen nicht nur von außen, sondern auch aus sich selbst heraus vorbereitet wird. In der westfeministischen Rezeption wurde dieser komplexe Stoff mit seinen Geheimcodes, seinen Ost-West- und DDR-Metaphern zumeist etwas verkürzt wahrgenommen und auf ein Thema konzentriert, auf die Objektmachung der Frauen: Frauen, entführt, entjungfert, vergewaltigt, geschändet, eingesperrt, Frauen, die etwas zu sagen haben, aber nicht ernst genommen werden, Frauen, die schuldig gesprochen werden, obwohl sie nur aussprechen, was offensichtlich ist, und schließlich Frauen, die danach suchen, wer sie sind. Wir müssen die Sprache zurückerobern, war die Botschaft, leben, um zu sehen und sehen, um zu sprechen; Unglück ist, das Leben vorbeigehen zu lassen, nicht zu leben zu verstehen. Diese Kassandra wurde für viele zu einer Art Lebenshilfe: eine Kassandra, die sagt: »[I]ch will etwas anderes« (ebd.: 81), die zur Freiheit des ›Nein‹ kam, einer Befreiung zur Geschichte der Unterdrückten und zur Geschichte der Frauen. Die großen Worte Wissen, Wahrheit, Leben wurden zu Flügeln, mit denen Frauen zu eigenem Handeln, eigenem Raum und eigener Verantwortung gelangen wollten. Es war die Einsicht, dass die Impulse zum Weiterleben nicht aus der Wiederholung, sondern von etwas Neuem kommen müssen. Und das hieß auch: nicht Opfer bleiben (Wolf 1983b: 151), und »Freude aus Verunsicherung ziehen«, auch wenn uns das niemand beigebracht hat (ebd.: 131). Bei Christa Wolf heißt es: »Dass Frauen zu der Kultur, in der wir leben, über die Jahrtausende hin offiziell und direkt so gut wie nichts beitragen durften, ist nicht nur eine entsetzliche, beschämende und skandalöse Tatsache […] es ist, genau genommen, diejenige Schwachstelle der Kultur, aus der heraus sie selbstzerstörerisch wird« (ebd.: 115). Die Konsequenz hieß: Sprechen über eine Welt, deren destruktive Dynamik ihre Ursache im Überflüssigmachen von Frauen als gesellschaftsverändernde Kraft hat. Sprechen über eine Geschichte der Gewalt, die eine »kulturelle Revolution« braucht, in der Frauen sich vom Status des Opfers in den des Subjekts und Handelnden versetzen (Schrader-Klebert 1969: 1). Sprechen über die Einsicht, dass ›Frauen‹ durch Aushalten, Dulden, Anpassen und durch das zwiespältige Geschenk von Privilegien auch zu Komplizinnen dieser Unordnung werden können. Sprechen über eigene Veränderungsfähigkeiten – Abrissarbeiten an einer tradierten Weiblichkeit –, mit denen wir fragwürdige

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Bindungen aufgeben und bis an Grenzen gehen wollten, an denen man sich selbst als Fremde begegnet.

3. D IE G E WALTFR AGE Solche umfassenden existentiellen Gedanken sind aus den entschärften Auslassungen zum Thema »Feminismus heute« weitestgehend verschwunden. Vor allem aber: Warum eigentlich sind Stich- und Reizworte hängengeblieben – wie ›Latzhosen‹, ›Männerhass‹, ›männerfreie Zonen‹ 6, ›Orthodoxie‹, ›Verbissenheit‹, ›Betroffenheitskultur‹, ›Selbstbezug‹ etc. –, nicht aber das Wesentliche: die Suche nach Befreiung von Gewalt in ihrem ganzen Spektrum von persönlicher Diskriminierung bis hin zu einer universellen Bedrohung? Meine These ist, dass das Substrat der feministischen Bewegung der 1970er/ 1980er Jahre – bei allen ihren Unterschieden – die Absetzung von einer Logik der Gewalt gewesen ist. Das Signifikante dieser Gewaltkritik – nicht identisch mit pazifistischer Gesinnung oder friedfertigem Verhalten – lag im Umfang der wahrgenommenen Gewaltphänomene und ihrer vermuteten Ursachen: der gewaltsamen Monogeschlechtlichkeit gesellschaftlicher Entwicklungen. Letztlich handelt es sich hier um grundsätzliche Fragen an die Kultur- oder Zivilisationsentwicklung: Was alles ist Gewalt, was soll als Gewalt benannt werden, was darf als legitime Gewalt nicht akzeptiert werden? Es sind Einsprüche gegen eine systematische Unterschätzung oder Fehleinschätzung von Gewalt bzw. gegen die optimistische Vorstellung, dass die Moderne eigentlich zu Gewaltbegrenzungen und einem gewaltempfindlichen Gewissen gefunden habe (vgl. Reemtsma 2008). Wenn man die feministische Gewaltkritik ins Zentrum der Deutungen rückt, muss jedenfalls eine andere Geschichte erzählt werden, eine, die sich mit dem Ziel der Chancengleichheit nicht zufrieden gibt, eine, die die angedeuteten Zusammenhänge nicht so heillos bagatellisiert, wie es seit Jahren geschieht. Auch die Frauenbewegung hat Anspruch auf eine Analyse, die sie in den Kontext eines Jahrhunderts stellt, das Gewalt in infernalischen Ausmaßen vorgeführt hatte. Die Frauenbewegung, von der hier die Rede ist, war ein Kind des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Katastrophen – Exzessen der Gewalt, die man mit dem Prozess der Zivilisation für überwunden, jedenfalls für gemildert gehalten hatte (vgl. ebd.: 22). Agnes Heller schrieb, die beiden Weltkriege, Holocaust, Gulag, Hiroshima entsprechen einer Annullierung, wenn nicht sogar Umkehrung aller Errungenschaften (auch der künstlerischen) des gesamten 19. Jahrhunderts. Der Übermensch wurde zum Untermenschen, Ideen des Humanismus und einer Gesellschaft freier Produzenten wurden zu einer Welt der Arbeitslager, der Zwangs6 | Aktueller Höhepunkt: Der Feminismus sei ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (Chombart De Lauwe im Interview, Arte france, 07.03.2012 und Arte Web) und das Buch von Ralf Bönt (2012) »Das entehrte Geschlecht – ein notwendiges Manifest für den Mann«.

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arbeit, des Mordes, des Hungertods; Vorurteilslosigkeit wurde zum Rassismus; die Entwicklung der Produktivkräfte zur Technik der Vergasung. In ihrem »Requiem« für die ermordeten Menschen, die getöteten Ideen und enttäuschten Hoffnungen hat Agnes Heller das apokalyptische 20.Jahrhundert als teuflischen Mythos bezeichnet, in welchem Gewalt als jene heilsame Kraft dargestellt wird, die im Mittelpunkt aller radikalen Bewegungen dieser Epoche stand (vgl. Heller 1995). Vor der Gottesverlassenheit sollte eine rettende Kraft der Erlösung gefunden werden, ein neuer Mensch, eine neue Welt, die, wie man glaubte, nur durch Gewalt entstehen könnte. »Alle radikalen Bewegungen des 20. Jahrhunderts haben mit diesen Themen gespielt« – mit der rettenden Kraft der Gewalt (ebd.: 14). Die Frauenbewegung hat mit diesem Gedanken nicht gespielt. Er war ihr von Anfang an suspekt.Schon Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre zeigten viele Frauen eine spontane Distanz z.B. gegenüber den Militanzreden mancher männlicher Mitstreiter (vgl. Schneider 2008: 221). Das anfängliche Unbehagen mündete in unerwartete radikale Dementis. Diese richteten sich nicht nur gegen eigene alltägliche Diskriminierungen, die viele zunehmend unerträglich fanden. Sie richteten sich auch gegen eine Ideologieversessenheit, die nur eine Richtung des Denkens zulassen wollte und eigenes und anderes Denken verbot; gegen totalisierende Sätze wie »Macht kommt aus den Gewehrläufen«, »Gewalt heilt die Wunden, die sie schlägt« 7, »Gewalt gegen Gewalt ist das einzige Mittel, sie zu beenden«, oder auch »Das politische System der Bundesrepublik ist nicht mehr reparabel« (Enzensberger 2008: 305). Oder populär: »Macht kaputt, was euch kaputtmacht«; Skepsis also gegenüber der Vorstellung, dass Fortschritt durch Gewalt beschleunigt werden könne; dass alle Gewalt im Staat lokalisiert und Gewalt in zwischenmenschlichen Beziehungen lediglich ein Spiegel staatlicher Gewalt sei; dass die parlamentarische Demokratie mit ›demokratischen‹ Mitteln faschistische Ziele verfolge, dass sie mit ihren verschleiernden Methoden sogar ein faschistisches System noch übertreffe (vgl. Brückner/Krovoza 1972: S. 91f.) – Universalisierungen einer Faschismuskritik, die Militanz zu legitimieren schien. Solche Behauptungen haben ›wir‹ als Gewalt interpretiert und als Gewalt erfahren und diese Erfahrung exemplarisch gegen die Urheber gewendet. Es war die Gewaltfrage, um die sich Ende der 1960er Jahre letztlich alles drehte (vgl. Frei 2008: 149) und die zum Ausgangspunkt der Frauenbewegung wurde. Die Verbindung zur Gewalt-Geschichte des Jahrhunderts und die Spuren ihrer ideologischen Verkehrung waren anfangs im Erleben der Einzelnen sicher nicht explizit. Ich behaupte also nicht, dass es sich gleich und überall um erklärte Positionen auf der Basis differenzierten Geschichtswissens gehandelt hat, eher um ein Vorverständnis. Der Bezug zu unserem geschichtlichen Hintergrund blieb anfangs meist latent und unausgesprochen, indirekt und subkutan – wie eine Art Witterung – ich-nah, unmittelbar, lokal, orientiert am sozialem Nahbereich, oft auch versteckt hinter einem Vokabular, das sich zentrale Begriffe aus dem lin7 | Frantz Fanon, J.P. Sartre; siehe dazu z.B. Hannah Arendt (1970: 23).

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ken Theoriearsenal – wie Unterdrückung, Ausbeutung, Entfremdung – zu eigen machte, sie mit eigenen Inhalten füllte und mit ihnen die rechtmäßige Einbeziehung in den Prozess der Veränderung erkämpfte. Manifest dagegen war die Ersetzung der Kapitalismuskritik durch eine Patriarchatskritik, die auch in den ökonomischen Gesetzen des Kapitalismus ein Symptom patriarchaler Wirtschaftslogik sah, eines menschenverachtenden, klassenübergreifenden, geschlechtsaparten Prinzips. 8 Gewaltkritik und Patriarchatskritik wurden zu Synonymen.9 Die Frauenbewegung war also einerseits traditionell modern, insofern sie uneingelöste Rechte für Frauen und ihre volle demokratische Repräsentation beanspruchte, sie war aber andererseits radikal neu, insofern sie diese liberale Leerstelle nicht nur als nachholbares, reparables Defizit verstand, sondern als Strukturproblem, das nach einer Veränderung des Denkens und Handelns in allen gesellschaftlichen Bereichen verlangte – in Politik, Ökonomie, Philosophie, Wissen, Technologie, Ethik, Kunst, Erziehung, Sexualität bis hinein in den Habitus, die Psychen, die Körper der Individuen. Die Generation der neuen Frauenbewegung in Deutschland gehörte, ebenso wie die der neuen Linken, zur Nachkriegsgeneration bzw. hatte die letzten Kriegsjahre noch selbst erlebt. Und nicht anders als der größte Teil der Bevölkerung in Deutschland hatte sie bislang geschwiegen. Auch wenn bei allen Akteuren wesentliche Energiequellen aus Absetzungsversuchen zum eigenen Katastrophenjahrhundert stammten, kam der Zugang zum eigenen Sprechen bei den Töchtern aus anderem Stoff als bei den Söhnen. Sie, die Töchter, haben aus den biografischen und geschichtlichen Gewalterfahrungen andere Konsequenzen gezogen, bzw. es waren andere Erfahrungen, die weiterwirkten. Das Bewusstsein, Zeuginnen von Gewalt zu sein, basierte nicht auf der Tatausübung. Die Schubkraft dieser Zeugenschaft lag vielmehr in der Gewissheit, sich auf jener Seite der Gewalt zu befinden, die Gewalt erleidet, nicht auf der Seite, die Gewalt erdenkt und prakti8 | Die Formulierung stammt von Gisela Breitling. 9 | Mit der Gleichsetzung von Patriarchatskritik und Gewaltkritik, der Definition von ‹Gewalt‹ als Ausdruck des patriarchalen Prinzips und damit als Prototyp dessen, was zu bekämpfen war, war die Frauenbewegung durch militante Revolutionsphantasien, Gewalttheorien und -praxen wenig verführbar. Außerdem verfügte der Feminismus über keine definierten Vorbilder und vorformulierten Utopien. Die Rebellion speiste sich aus historischem und gegenwärtigem Unrecht, das immer konkret, für alle sichtbar und tagtäglich bekämpfbar war. Der Feminismus musste sich so auch nicht schmerzlich verabschieden von nicht erreichbaren oder diskreditierten revolutionären Hoffnungen. Er hatte nicht, wie die Linke, unter einem zerstörten Traum und einem schweren Abschied von der ›Revolution‹ zu leiden. Der Veränderungswille konnte nicht vom Vorbild diskreditiert werden. Schließlich blieb der Feminismus unbelastet von der Frage nach dem gültigen revolutionären Subjekt, mit der die Linke sich herumschlug. Er definierte ›Frauen‹ als zu befreiende ›Klasse‹ und befreite sich zugleich vom Balanceakt, als Nicht-Proletarier/innen revolutionär und frei von falschem Bewusstsein sein zu wollen.

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ziert. Diese Sicht bildete in den 1970er Jahren eine Art generalisierte Leitidee. Und sie wurde anfangs von der NS-Geschichtsforschung gestützt, solange sie Frauen im NS-System entweder als zu vernachlässigende Marginalie behandelte oder sich mit Frauen als Widerstandskämpferinnen oder Überlebensarbeiterinnen befasste (Kuhn/Rothe 1982). Es dominierte die Vorstellung, dass den Frauen in der Gewaltgeschichte eine andere und eigene Klassifizierung als Leidtragende und Geschädigte zukomme, die Vorstellung, dass sie mit ihrer historischen Leiderfahrung auch den Anspruch auf einen moralisch unbelasteten Status und dessen Sicherung erworben haben.

4. D IE O PFERFR AGE Wenn man von Gewalt spricht, muss man auch von Opfern sprechen. Der Kassandra-Mythos hat die Frau einerseits aufgewertet und andererseits ihre Ohnmacht bestätigt. Kassandra hatte die Gefahren der Gewalt gesehen und die Antworten gekannt, sie war stark, widerständig und wissend, aber sie wurde, sobald sie ihr Wissen kundtat, zum Opfer. Um der Realität ins Auge zu sehen, musste sie sich von Bindungen befreien und die Schrecken der Gewalt durchleben (Wolf 1983b: 152). Sie war nicht einfach ›anders‹ als andere, sie musste sich zu einem anderen Wissen, einer anderen Wahrheit durcharbeiten. Sie war aufsässig und auf die Folgen ihrer Aufsässigkeit nicht vorbereitet. Sie wusste, dass sie selbst sich verändern muss, dass sie die Verstrickungen durchschauen muss, dass sie zu ihrem Wissen stehen muss, dass sie die Gewalt nicht dulden kann. Die Kassandra-Figur wurde zu einer Metapher für die feministische Grundsatzkritik am Skandal der Geschlechterprägungen durch Gewalt und Gewaltlogik, und sie bekräftigte sowohl das Überlegenheitsbewusstsein als auch das Opferbewusstsein der Frauen. Ein nicht auflösbares Dilemma liegt in der Qual dieses einerseits – anderseits, diesem Amalgam von Aufwertung und Opfersein. Das Wort ›Opfer‹ wurde in der Frauenbewegung einerseits unentbehrlich, um Gewaltschäden unmissverständlich zu benennen, andererseits kategorisiert es die Bedrohten als Wehrlose, die ihre Souveränität und Handlungsfähigkeit einbüßen. Einerseits ist es Ziel feministischer Politik, Frauen zu ermutigen, ihr Leben in eigene Regie zu nehmen, andererseits stehen die Auswirkungen der Gewalterfahrungen diesem Ziel entgegen. Einerseits kann die Gewaltgeschichte zur Wahrnehmung der Frauen als ihr Opfer zwingen, andererseits kann gerade diese Wahrnehmung zur wesensbildenden Erfahrung, zur Opferidentität anwachsen, zur Imagination der Gesamtperson als einer, der Gewalt angetan wurde. Einerseits kann die Opfermentalität in eine weithin ignorante Gesellschaft ein wachsendes Unrechtsbewusstsein einbringen, andererseits wird mit dieser Viktimisierung der Täterseite eine Macht zugeschrieben, die diese stärken und das gesamte weitere Leben der Opfer verderben kann. Einerseits gibt es endlose Belege für die Vergeschlechtlichung der

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Gewalt, andererseits übersieht diese Vorgabe, dass auch Frauen Gewalt ausüben oder unterstützen können. Um Klartext sprechen zu können, muss der Realität ins Auge gesehen werden. Dieser Prozess ging im Feminismus mit heftigsten Kontroversen einher, die sich in den 1980er Jahren an der NS-Geschichte entzündeten und als ›Historikerinnenstreit‹ (Koonz 1992: 394-399; Boocks 1992: 400-404; Koonz 1991: Bocks 1989: 563-579) in die Literatur eingingen. Unter Verdacht geriet der Sonderstatus, den der Feminismus weitgehend für Frauen in Anspruch genommen hatte. War dieser Anspruch legitim? Oder war nicht auch er ein Zeichen der Abwehr oder Umdeutung von Geschichte und Erinnerung, gehörte er nicht auch zu den ausgebliebenen Trauerreaktionen (vgl. Mitscherlich/Mitscherlich 1967/1977) – zu einem Schweigen, das einem Berührungstabu entsprach, wie es der deutschen Gesellschaft insgesamt attestiert worden war (vgl. Arendt 1986)? War das Opferkonzept und der verbreitete Versuch, am Status der wirklichen Opfer teilzuhaben, letztlich ein Versuch, die Leidensbilanz auszugleichen – ein Sprung, um der Auseinandersetzung mit dem Problem eigener Komplizenschaft zu entgehen? Historikerinnen förderten ein Material zutage, das die Auffassung vom NSSystem als reiner Männeraktion widerlegte, und seit Anfang der 1980er Jahre widersprach die These von der Mittäterschaft (vgl. Thürmer-Rohr 2004: 85-90; 1983/1987/1990) der Verlockung, dass Frauen en bloc in sprachlosem Leid abseits gestanden hätten und durch Ausschluss heilgeblieben seien. Mit der These der Mittäterschaft von Frauen sollte die Art ihrer Beteiligung an patriarchalen Gewaltlogiken zum systematischen Untersuchungsfeld des Feminismus gemacht, d.h. die Gesellschaft als Ensemble von Männern und Frauen begreif bar werden10, womit auch die machtfernen Akteurinnen im Hintergrund als im patriarchalen Regelwerk mitagierende und zu ihm gehörende Subjekte gelten müssten, die der Verantwortung nicht enthoben sind. Resultat einer Patriarchats- und Gewaltanalyse, die Frauen auch als Objekte der Kritik einbezieht, war zunächst der Abschied von den alten Einheitsvorstellungen, ein Abschied, der nicht zu betrauern ist, denn er ist nichts als der Abschied von einer Phantasie. Die Einheit ist ja nicht irgendwann zerfallen, sondern es hat sie nie gegeben. Irritiert wurde vor allem das Konzept der Geschlechterdifferenz, d.h. die Annahme einer unausweichlichen Verschiedenheit der Geschlechter als Ergebnis ihrer unterschiedlichen historischen Erfahrungshorizonte. Die Eindeutigkeit dieser Differenz hat die feministische Theorie spätestens seit den 1990er Jahren infrage gestellt. Der frühere Glaubenssatz, ›Frauen‹ seien als homogene ›Klasse‹ mit irgendwie gemeinsamen Interessen und Kampfansagen historisch herleitbar und also zusammenfassbar, die Annahme trennscharfer Zweigeschlechtlichkeit wie zweier separater Spezien geriet in geradezu verzweifelte Abwehr- und Verteidigungskämpfe – zwischen Biologie, Empirie und Ideologie, zwischen Frauenpolitikerinnen und Gender-Theoretikerinnen, zwischen 10 | Siehe z.B. Gudrun Schwarz (1997; 1992: 33-49, 197-227).

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Normgemäßen und Normabweichler/innen, schließlich zum Auseinanderdriften von Praxis und Forschung, das die übliche Distanz zwischen diesen Ressorts übersteigt. Weitgehender Konsens besteht seither darüber, dass ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ Ergebnisse einer normierenden Geschlechterpolitik sind, eines Lernprozesses, der zwar in der Regel dem Gesetzestext der Zweigeschlechtlichkeit folgt, aber weder natürlich noch zwangsläufig ist. Dieser Lernprozess geht zum Glück keineswegs immer erfolgreich vonstatten. Es gibt jede Menge Lernvarianten, die renitent gegenüber den Normierungen bleiben – Abweichler und Abweichlerinnen, Unpassende, Querliegende, die vorführen, dass Menschen sich dem Regelwerk entziehen können. Die Absage an die klare Abgrenzbarkeit zweier Geschlechtergroßgruppen hat nachhaltige Folgen für die Frage nach der Geschlechtsspezifik der Gewalt, für die Frage nach der Trennschärfe der OpferTäter-Unterscheidung, schließlich für die Frage nach einer – außerbiologischen – Definierbarkeit der Bezeichnungen Frau und Mann. Die Geschlechterbilder und -praxen sind seit einigen Jahrzehnten explodiert. Aber das Dilemma bleibt bestehen. Mit der Infragestellung der Geschlechterdifferenz ist auch die frühere Selbstgewissheit ins Wanken geraten, dass der Feminismus einen eigenen Schlüssel zur Gewaltanalyse und zur Gegenwehr gefunden habe. Stattdessen sind neue Themen aufgetaucht, z.B. die attraktive Vorstellung von einer perspektivischen Auflösung der Geschlechterdichotomie, die Idee, verschiedenen Identitäten und Lebensformen gleichwertiges Spiel zu geben und ›Geschlecht‹ in seiner Pluralität und Uneindeutigkeit anzuerkennen. Mit dem Minimalkonsens – ›Erneuerung der Geschlechterbeziehungen‹ – kann der Feminismus allerdings in eine Enge geraten, die das Interesse auf die Herstellungspraxen der Zweigeschlechtlichkeit fokussiert bzw. auf den Zwangscharakter, die Lockerung, die Ausweiterung, die Vervielfältigung, die Abschaffung, die Auflösung der Geschlechtsidentitäten. Die Zurückweisung der Geschlechterdifferenz als unausweichlichem Gesetz, die Übereinkunft, dass Gewalt nicht an Biologie und Hormone gebunden ist, dass der Begriff Patriarchat nicht heißt, Frauen seien im Nirgendwo, dass die Normierung jedes Individuums auf eine Entweder-Oder-Seite nicht gelingt, dass Menschen also unendlich verschieden sind – diese Einsichten sind zwar keineswegs neu und jedenfalls überfällig, und sie sind ein Gewinn. Ein Verlust ist es allerdings, den Feminismus auf diese Fragen zu reduzieren. Die Gewaltfrage ist von jenen Einsichten kaum tangiert. Das Denken über Gewalt scheint aus dem Zentrum der Fragen entlassen und aus den einmal begriffenen historischen Zusammenhängen gelöst zu werden. Die vielen mikroskopischen und makroskopischen Gesichter der Gewalt – Gewalt als Körperzerstörung, Gewalt als Reduziertsein auf den Körper, Gewalt als Drohung mit dieser Zerstörung, sexualisierte Gewalt, rassistische Gewalt, Kriegsgewalt, bürokratische Gewalt, Gewalt der Finanzmärkte, ideologische Gewalt, normative Gewalt, Kategorisierungsgewalt, Ausgrenzungsgewalt, Unterlassungsgewalt etc. – wir waren mal davon ausgegangen, dass diese verschiedenen Erscheinungsformen einen gemeinsamen Kern haben könnten,

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dass sie Ausdruck eines Denkens, einer Logik, eines herrschenden Prinzips sind, das mit den überlieferten Geschlechterkonstruktionen und -praktiken ursächlich zusammenhängt, ohne an den Akteuren und ihrer Geschlechtlichkeit zu kleben. Die gedankliche und emotionale Rückbindung an das 20. Gewaltjahrhundert scheint sich allmählich zu verlieren. Es wird zu Geschichte, allenfalls zum Stoff der Erinnerungskultur. In einer vergleichsweise ideologiebefreiten Welt, in der wir hierzulande leben, wird Gewalt zum Unfall, Notfall, Ausnahmefall oder zum leider allgemeinmenschlichen Normalfall. Die Erfahrung der Verwundbarkeit, jenes Entsetzen, das Gewalt noch stimulierte, erscheint heute wie eine übertriebene Skandalisierung. Dem widerspricht nicht, dass die Frauenpolitik ein institutionalisiertes Netz zur sozialarbeiterischen und therapeutischen Unterstützung von Opfern der ›Gewalt gegen Frauen‹ vorweisen kann – Frauenhäuser, Notrufe, Beratungsstellen. Aber die Zuständigkeit für die Analyse einer modernen Gewaltgeschichte, die Fragen nach einem umfassenden, wenngleich oft abstrakten Zusammenhang von patriarchaler Logik und Gewalt hat der Feminismus heute m.E. aufgegeben. Eine Neubesinnung auf die Gewaltfrage unter gegenwärtigen Bedingungen ist nicht in Sicht. Aber erledigt ist gar nichts. Wenn die Gewaltfrage als Zentrum feministischer Politik verschwindet, wenn der ›Feminismus heute‹ das Spektrum früherer Fragen beschweigt, statt es mit neuen Fragen zu verbinden, stützt er zugleich ein Denken, das unsere soziale Ordnung und (illegitime) Gewalt in Widerspruch zueinander setzt, also Gewalt zum Grenzphänomen, zur kaum erklärbaren Entgleisung, zur pathologisierbaren Abweichung macht und so eigentlich in ein Außerhalb moderner sozialer Ordnung ansiedelt. Der Feminismus hätte damit Teil an einem Schweigen, das der »modernen Gewaltaversion« (Reemtsma 2008) entspricht: einer theoretischen Blindheit (vgl. ebd.: 324), die sich als unfähig erweist, zu den spezifischen Gewaltphänomenen der Moderne einen Zugang zu finden, der über die Diagnose abweichenden Verhaltens hinausgeht. Gewalt scheint eigentlich nicht oder nur am Rande zur modernen, aufgeklärten Gesellschaft zu gehören, sie erscheint wie ein exterritorialer Ort, rätselhaft, anachronistisch, irrational (vgl. ebd.: 458 ff.). So wird Gewalt auch zum analytischen Stiefkind der allgemeinen soziologischen Theorie und wird in Disziplinen abgeschoben, die sich solcher Abweichungen annehmen – Kriminologie, soziale Arbeit, Therapie etc. Seit Genderpolitik in pragmatischen Politikzweigen untergebracht und nicht mehr von der Emphase uneingelöster Sehnsucht angetrieben ist, hat sich eine Art Beruhigung eingestellt, die als Gedankenstillstand wirken kann. Die Konsequenz aus unseren Irrtümern, Verallgemeinerungen, Vereinfachungen, grobkörnigen Analysen, unmöglichen Forderungen kann aber nicht einfach darin bestehen, den Sinn des Wortes Patriarchat und dessen Logik aus dem Vokabular zu streichen, sondern darin, seine Totalität und Unausweichlichkeit zu bestreiten (vgl. Butler 2011: 331).

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5. M ACHT UND G E WALT Hannah Arendt hat bekanntlich auf der strikten Unterscheidung von Macht und Gewalt bestanden und der üblichen Gleichsetzung dieser beiden politischen Schlüsselbegriffe vehement widersprochen (Arendt 1970). Arendts Unterscheidung ist m.E. auch für das Verständnis verschiedener Gesichter des Schweigens hilfreich – eines Schweigens unter den Bedingungen der Macht und eines Schweigens unter den Bedingungen der Gewalt. In Arendts Sicht entsteht Macht, wenn Menschen sich zusammentun und im Einvernehmen handeln. Macht ist angewiesen auf Zustimmung. Sie entsteht und erhält sich in einem Ensemble von Akteuren und Mitakteuren. Wenn man von Macht redet, redet man also von einem Verhältnis handelnder Menschen bzw. von deren institutionellen Niederschlägen. Diese Macht braucht direkte oder indirekte Unterstützung und Akzeptanz. Sie schwindet, wenn sie niemanden mehr überzeugt. Ohne Zustimmungsgeber gibt es keine Macht, ihrer muss sie sich vergewissern, mit ihnen wird sie ausgehandelt, stabilisiert und geteilt. Gewalt dagegen ist die absichtliche Verletzung der Integrität der Opfer ohne deren Zustimmung, sie ist einseitiger Zwang, sie verhandelt nicht, ein Einzelner kann sie gegen viele ausüben. Gewalt braucht kein Einvernehmen, und die Zustimmungsverweigerung seitens der Opfer bleibt für die Gewalttat völlig irrelevant. Das Zustimmungsverhältnis ist restlos aufgekündigt, und damit hat der Gewalttäter, weil er Gewalt ausübt, gerade jede Macht verloren. Gewalt funktioniert wie eine Waffe. Opfer sind Opfer von Gewalt, nicht von Macht, der Täter ist allein verantwortlich. Wenn Macht und Gewalt gleichgesetzt werden bzw. Gewalt nur als Steigerung von Macht gilt, wird implizit den Gewaltakteuren Macht zugebilligt und damit unterstellt, dass sich die Opfer doch in irgendeinem Zustimmungsverhältnis zur erfahrenen Gewalt befänden.11 Die Unterscheidung von Macht und Gewalt ist folgenreich für das Verständnis des Sprechens als einer Form des Handelns bzw. der Sprache als einer Handlungsmacht (vgl. Butler 1998). Sprechen und Schweigen ereignen sich auf Schauplätzen, auf denen über Zugehörigkeit und Zustimmung entschieden wird, die Zustimmung der Beteiligten also auf dem Prüfstand steht. Sprechen und Schweigen hängen von der Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz ab, auf die trifft, was man sagt, was gehörig oder ungehörig ist, was sich gefahrlos sagen oder straflos nicht sagen lässt: Komme ich an mit dem, was ich sagen will? Ist es besser, zu schweigen, um meine Zugehörigkeiten nicht aufs Spiel zu setzen? In solchen Rückversicherungen kommt eine Zensur zum Tragen (vgl. Bourdieu 1989: 39), die jedes Machtensemble ausübt, indem es das Sprechen fördert oder beschränkt und damit die Zugehörigkeiten stabilisieren, verunsichern oder verweigern kann – wenn ich spreche oder wenn ich schweige, wenn ich sage, was ich eigentlich nicht sagen 11 | Die Vermischung von Macht und Gewalt spiegelt sich z.B. in der gängigen Bezeichnung des sexuellen Missbrauchs als ›Machtmissbrauch‹siehe Thürmer-Rohr (2012).

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wollte, wenn, was ich sage, nicht ankommt, wenn ich schweige, um nicht aufzufallen und nicht rauszufallen. Wer sich das abweichende Wort anmaßt, erfährt, wie Einbindungen oder Ausschlüsse hergestellt werden. Im Zustimmungsverhältnis der Macht spiegeln sich Normen und werden Normierungen geschaffen. Macht verfügt über ein wirkungsvolles Arsenal von Verletzungen und teilt diese auch aus, sobald eine Zugehörigkeit fraglich wird. Das Aussprechen akzeptabler oder nicht-akzeptabler ›Wahrheiten‹ trifft auf ein Umfeld, dessen Teil man ist oder sein möchte oder die man verweigert. Der Macht, die hier am Werk ist, stehen wir nicht als etwas Äußerlichem, nicht fremd wie einem äußeren knebelnden Feind gegenüber. Als Teil der jeweiligen Konstellation agieren wir in ihrem Feld, schaffen sie mit und sind auch ihr Produkt. Die Einbindungs-Macht, die um Zustimmung wirbt, die die gelungene, gefährdete, ambivalente, zurückgenommene Zustimmung kontrolliert und so das Sprechen begrenzen kann, ist aber nicht grenzenlos. Macht hat nicht nur totalisierende und endgültige Wirkungen, sie kann unterlaufen werden, sie kann auch immunisieren, Verletzungsabsichten können fehlschlagen (vgl. Butler 1998: 34), die Macht selbst stattet das Subjekt auch mit der Möglichkeit aus, die Normen umzugestalten (vgl. Butler 2002: 9). Macht wirkt nicht nur repressiv, sie produziert auch selbst die Möglichkeit störender, kritischer, abweichender Antworten, d.h. eigener Handlungsfähigkeit. Gewalt gibt solchen Antwortmöglichkeiten keinen Raum. Zu ihren Instrumenten gehört auch das verbotene Wort, das Schweigen erzwingt – eine bleibende Prägung im Ausgeliefertsein als pures Objekt der Willkür – weder reden noch denken können, heißt es in Kafkas »Brief an den Vater«, verlorenes Selbstvertrauen, grenzenloses Schuldbewusstsein 12 , eine kaum rückgängig zu machende Überwältigung, eine beispiellose Lebenshemmung (vgl. Stach 2008: 325): »Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der Vorstellung, die ich von deiner Größe habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche Gegenden.« (Ebd.: 326)

Der Täter haust auch im Innern der Opfer. Diese »tragen das Gift in sich, Kraftfeld einer Instanz, von deren Bild sie den Blick nicht wenden können – selbst dann nicht, wenn sie auf begehren« (ebd.: 332). Schäden, die Gewalt anrichtet, sind Schäden an den eigentlich ›menschlichen‹ und im weiten Sinne politischen Möglichkeiten, die erst im Sprechen und Handeln zwischen Menschen zum Vorschein kommen (vgl. Arendt 1970). Auf dieses ist Gewalt nicht angewiesen, ihre Instrumente machen das Sprechen überflüssig, Gewalt nimmt aufs Sprechen keine Rücksicht, Sprechen nützt nichts, wird gegenstandslos, bedeutungslos, bleibt 12 | Siehe: Kafka, Franz: Brief an den Vater. In: Er, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 147, 166.

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folgenlos. Gewalt ist stumm (vgl. Arendt 1994: 19f.) – und macht stumm. Sie behandelt ihre Opfer wie ein Ding. Gewalt macht damit überflüssig, was Menschen zu Menschen macht. Die Verwundbarkeit durch Gewalt ist eine Erfahrung der Ohnmacht gegenüber dem, was Menschen sich gegenseitig antun können, und die Erbitterung darüber entzündet sich nicht nur an persönlichem Leiden (vgl. Arendt 1970: 64). Die Ohnmacht bewirkt das bedrohliche Gefühl, zu zerfallen oder aus der Welt zu fallen, sie setzt den eignen Subjektstatus aufs Spiel 13, sie verletzt den Anspruch, anerkannt zu werden und Andere anzuerkennen, eine Daseinsform, mit der wir erst zu Menschen werden können. Gewalt ist die Attacke gegen diese Grundqualität des Menschlichen – ein zerbrechliches Gut, die Bereitschaft, die Welt mit Anderen zu teilen. Das aber ist der Sinn des Politischen. Die Fragen des Feminismus gehören m.E. auf dieses exemplarische Terrain, auf dem menschliches Leben sich in seinen pluralen Formen Geltung verschafft und auf dem ein Wissen um das beschädigte Leben leitend bleibt, welches Gewalt anrichtet. Die Produktion der Subjekte durch Macht und durch Gewalt zu unterscheiden und offenzulegen und die Annäherung an das Ziel, aus den Kreisläufen der Gewalt herauszufinden, das verlangt ein ständig neues Durchdenken unserer Prämissen, die Öffnung des Blicks für zuvor nicht gesehene Möglichkeiten, die Großzügigkeit und die Selbstbegrenzung (vgl. Butler 2009: 351) nicht totalisierender Entwürfe, und schließlich auch ein Wissen um die Grenzen des Wissbaren, um den Rest an Unerklärbarem (vgl. Butler 2002: 80) und die Verteidigung des Grundsatzes, einen »privilegierten Zugang zur Wahrheit« nicht zu kennen und nicht zu wollen (Reemtsma 2005: 12f.). Kassandra hatte etwas zu sagen, aber sie sollte nicht gehört werden und wurde schließlich zum Schweigen gezwungen. Heute können wir gehört werden. Und wir müssen etwas zu sagen haben, widersprüchlichen Stoff einbringen, neue Fragen stellen, innerhalb von Kontroversen argumentieren. Wir könnten das ausprobieren und uns überraschen lassen. Alle Fragen sind unabgeschlossen. Judith Butler schrieb vor einigen Jahren, dass die Probleme, die wir heute mit dem Feminismus haben und an denen man fast verzweifeln kann, »zu den interessantesten und produktivsten ungelösten Fragen zu Beginn dieses Jahrhunderts« gehören (Butler 2009: 282). Ich meine, sie könnten das sein! Vorerst steht der Satz zumindest hierzulande im Konjunktiv.

13 | In dieser Situation kann das Schweigen zu einer Art Schutz und zum möglichen Widerstand gegen den Normierungsdruck werden. Slavoj Zizek forderte dieses Schweigen anlässlich der Proteste der Occupy-Wall-Street-Bewegung im September 2011 in New York: »Alles, was wir jetzt sagen, kann uns wieder genommen werden – alles bis auf unser Schweigen. Dieses Schweigen, diese Verweigerung des Dialogs und jeglicher Form des Clinchens ist unser ›Terror‹ – beruhigend und bedrohlich, ganz so, wie es sein soll.« (Žižek 2011: 71)

C. Thürmer-Rohr: Gesichter des Schweigens

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Wider ein Vergessen der Anderen Erinnerung als Ort der (feministischen) Differenz Birge Krondorfer »Das Vermögen, die Zukunft in Gedanken vorwegzunehmen, leitet sich aus dem Vermögen ab, die Vergangenheit zu erinnern.« (H ANNAH A RENDT)

I N . E RINNERUNG »Erinnern: machen, daß jemand einer Sache inne wird; (sich) ins Gedächtnis zurückrufen, aufmerksam machen, mahnen« (B ARBARA D UDEN)

Immer wieder den Sinn an den Frauen und ihren Bewegungen nicht verlieren. Und immer wieder noch einmal – statt Resignation. Damit die Enttäuschungen nicht zu Täuschungen werden – und kein Kalkül. Damit nicht im Dunkeln gemunkelt wird, damit keine Trauer sich unhaltbar einnistet dort, wo die Frauennester und die Freude des Anfangs doch ihre Spuren hinterlassen haben – werden. Dort, wo es keine leuchtenden Erbschaften gab, bloß Ahnungen vom Unaussprechlichen und ein wagendes s/ich Ent-werfen ins Unbekannte wohinein. Das Begehren auf Demonstratives – wir wussten noch nicht, dass dieses Glück Öffentlichkeit heißt; wir schienen angekommen. Wenn unsere Lippen sich sprechen, so schrieb eine, so sind wir zwischen uns. Und keiner von den einen. Der Horizont: keine blendet die Andere aus, noch spiegelt sie sich ein; kein Auslassen, dennoch kein Vereinnahmen. Währendes Begehren nach diesem Begehren – auch wenn oder wo die Liebe hinfällt. Der Beginn des ›Schwestern zur Sonne, zur Freiheit‹, der hielt nicht lange, das merkten wir bald. Denn nur sonnig war es nicht an den Stränden – richtig frostig konnte es werden; und die Freiheit, ja was sollten wir denn davon wissen – außer vielleicht ungreifbare Erinnerungen an etwas nicht Dagewesenes. Wir waren eine Plage und haben

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uns mit allem geplagt; mit: den Körpern, den Küchen, den Kirchen, den Kindern, den Kerlen, den Knästen, den Kanzeln, den Köpfen, den Kälten, den Künsten, den Käufen, den Kriegen, den Kantianern, den Kulturen, den Klassen, den Klagen, den Kassen, den Kaschemmen, den Kapitalisten, den Kranken, den Klugen, den Kasernen, den Kakophonien, den Kunden, den Kaisern, den Kosten, den Kanälen … Aber da war ein Drängen nach Erkenntnis, ein Begehren des Wissens nach dem Ungewussten und umgekehrt, ein Ringen um neue Worte. Ein sprechendes und schreibendes (lallendes, weinendes, schreiendes, lachendes) Nach-der-LuftSchnappen der weiblichen Sprache der Frauen. Denn die bekannte eine und eindeutige Sprache von ihnen, die trug die Seele und die Sinne dieser Frauen nicht mehr. Scheinbar besinnungsloses Taumeln. Dieser Eigensinn ward alsgleich von jenen als Unsinn erklärt, von diesen als Wahnsinn verklärt. Es war eben bislang gänzlich unwahrscheinlich, dass dies einen Sinn machen konnte, dieses andere Ansinnen dieser un(an)erkannten Sinnlichkeit. Es schien unfassbar. Und das ist es ja auch. Frauen geben sich selber einen – nein viel – Sinn, sie anhängseln (sich) nicht mehr und stiften nunmehr – jedenfalls welche – sich selbst den Sinn. Wenn eine zur anderen spricht, ab- und zugeneigt, ist dies nach wie vor ein unerhörtes Geschehnis dann, wenn Sprache als die Gabe eines Tausches in der Fülle angesehen wird, als sich Ver-geben. Dieses sich Verausgaben – ohne stromlinienförmige Herrschaftsallüre und ohne Attitüde eines ›als ob‹ – ist so viel ins Vergessene geraten, so schnell. Die weibliche Erfahrung von Passiv und Passion zum Kon-sens, der den Dissens voraussetzt, ist mit Bürden übersät – innen wie außen. Frauen haben sich im Gesellschaftlichen etabliert und am Markt emanzipiert und sind dennoch in der Politik nach wie vor subsumiert. Wenn der weibliche Sinn das Besondere markiert und an-, aus- und einspricht, so ist es dringlich angeraten, dass wir uns wieder auf dies, das Besondere, was nicht das Partikuläre ist, besinnen. Das (männlich) Allgemeine als Vermittlung, das ewig idealisiert und realisiert wurde, als das aufhebende Dritte, als die versöhnende Synthese leibhaftiger Widersprüche, tut synthetisch jetzt so, als gäbe es diese nicht mehr. Und das ist eine Mär. 1 Die Aussage – »es sei irreführend zu behaupten wir hätten Gefühle von Wut, Hass und Zorn nicht (oder nicht mehr) nötig. Wir brauchen sie beispielsweise zur Entwicklung eines kollektiven Gedächtnisses für die von den Frauen […] erlittene Unterdrückung« (Enderwitz 1979: 259) – wurde ein Vierteljahrhundert vor der nachfolgenden Sequenz formuliert, die ein Wir wieder sagen will und damit zu »denjenigen von uns [spricht], die in bestimmtem Hinsichten außer sich leben, sei es in sexueller Leidenschaft, emotionaler Trauer oder politischer Wut« (Butler 2005: 41). Zweifelsohne gibt es das wieder oder noch – ein Wir der

1 | Mein für hier modifizierter Beitrag aus Maren Frank et al. (2005): »Sinn – Grundlage von Politik«.

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Wut 2 , auch wenn die Formulierung »when we were gender« Anlass gäbe zu meinen, diese sei – bezogen auf die Geschlechterproblematik – überholt. Doch gilt Geschlecht nach wie vor und weltweit als soziale und mentale Platzanweisung. Die theoretische Verweisung auf Identität als Konstruktion und die praktische Unterweisung auf Selbstermächtigung sind aktuelle Angebote zur Auf/Lösung des Problems. Ob diese Weisungen in gesellschaftspolitische Ohnmachtsverhältnisse verändernd eingreifen können oder eine je individualistische – und neoliberalistisch punzierte – Strategie darstellen, ist scheinbar keine Frage dort, wo Gleichstellungsziele auf der realpolitischen Agenda stehen und man mehr um Karriere denn um Kritik besorgt ist. Der Eindruck, dass es zwischen den feministischen Generationen kaum Erinnerung an die Notwendigkeit von Wut und Widerstand gegen das Regiertwerden als kontinuierliche Praxis der Kritik an Unterwerfung und Fügsamkeit gäbe,3 wird im Bewegungsinnen wie vom Mainstream pausenlos unterstrichen, was auf eine verdrängte Virulenz hinweist. Darum soll es gehen, insofern es »die Verantwortung einem Erbe gegenüber […] ist. […] Diese Verantwortung gegenüber dem Gedächtnis ist eine Verantwortung gegenüber dem Begriff der Verantwortung selbst, der das Gerechte und Angemessene unsrer eigenen Verhaltensweisen, unserer theoretischen, praktischen, ethisch-politischen Entscheidungen bestimmt.« (Derrida 1991: 40f.) Einer Verantwortung, die eine unabschließbare Antwort auf die Frage/n des/der Anderen ist, die nicht auf »Gleichheit, auf einem berechneten Gleichmaß, auf einer angemessenen Verteilung, auf der austeilenden Gerechtigkeit, sondern auf einer absoluten Asymmetrie« (ebd.: 45) beruht. 4 Es geht um die bange Vermutung der Entwicklung zu – und damit Kritik an – einem ›embedded‹ Feminismus.

2 | »Die Gründe, die gegen die Möglichkeit des Wir-Sagens stehen, scheinen überwältigend: Politisch scheint das Wir-Sagen imperialistischer Anmaßung, erkenntnistheoretisch einer Fiktion zu gleichen, die Autonomie mit Universalität verwechselt. Das Bedürfnis aber, ›wir‹ zu sagen […] bleibt: weder eine Theorie noch eine Politik unauflösbarer Vereinzelung erscheinen vielversprechend. Gerade der politische Aktivismus, der das Problem schuf – die Notwendigkeit, eine Theorie zu entwerfen, die den Kampf gegen die verschiedenen Formen der Unterdrückung aller Frauen voranbringt – braucht eine nichtskeptische Lösung. […] [E]s sei denn, man genießt das Vorrecht, einem fröhlichen Nihilismus frönen zu können« (Sheman 1988: 853f.), oder einem melancholischen. 3 | Die Haltung der Kritik ist – mit Foucault gesprochen – eine Praxis der »Entunterwerfung« und der »reflektierten Unfügsamkeit«, als dauernder Versuch, anders und weniger regiert zu werden (Foucault 1992: 11f.). 4 | In Anlehnung an den jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas gesprochen, der die Spur des (absolut) Anderen in die postmodernen Theoreme gebahnt hat.

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A US . E RINNERUNG »Der Andere ist jener, der mir erlaubt, mich nicht endlos zu wiederholen.« (J EAN B AUDRILLARD)

Zurzeit ist die Zeitlichkeit in Verruf geraten, ihre Vergänglichkeit ist ihr Vergehen. Das Vergangene, das Tradierte, das Herkömmliche, als das von woher Kommende ist passé. »Wo sich das Neue als Neues deklariert, muss das Alte verschwinden – und zwar sofort. Wäre dem nicht so, wäre das Neue kein Neues, sondern nur eine andere Möglichkeit. Das Neue will aber keine Alternative, keine Möglichkeit, sondern eine alles ausschließende Notwendigkeit sein.« (Liessmann 2000: 8) Dieser Wahrnehmung widerspricht zwar die Konjunktur der Gedächtnis- und Erinnerungs(kultur)forschungen5, aber möglicherweise sind diese (ungewusst) motiviert – und wohl nicht zufällig unter dem aktuellen Topos der Re/Konstruktion – sich gegen das Verschwinden der Geschichte, als »das Verschwinden der Einzelheiten der Welt im Flimmern der Geschwindigkeit« (Virilio 1990: 52), intellegibel zu stemmen.6 Es kann von unserer Zeit als eine der Augenblickskultur gesprochen werden, die nur eine akute Gegenwart feiert, welche sofort in unverarbeitbare Vergangenheit absinkt und dadurch Zukunft verblendet. Nietzsche spricht vom ›rasend-unbedachten Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente‹, von ›ihrer Auflösung in ein immer fließendes und zerfließendes Werden‹, vom ›unermüdlichen Zerspinnen und Historisieren alles Gewordenen‹ (nach Rinke 2011: 47). Die permanente mediale Verfügbarkeit, der Beschleunigungszwang und eine Pathologie der Zeitknappheit dienen der Vermeidung tieferer Auseinandersetzungen (nach ebd.). Beharrlichkeit am Rande der Ereigniszukleisterung, Verlangsamung dieser Zeit … die Plädoyers für Erinnerungs- und Abwägungszeit mehren sich von jenen, die noch nicht gänzlich in enteignete7 Zeitverhältnisse eingegangen und der Einsicht fähig sind, dass ›das reine Weiterleben unter Verlust der eigenen Geschichte nur bedeuten kann von Hölle zu Hölle in Ewigkeit zu springen‹ (vgl. Meyer 1989: 45). Die Dominanz der reinen Präsenz, die als bequemer Fortschritt

5 | Es gilt hier anzumerken, dass die begrifflichen wie materiellen und vor allem wissenschaftlichen Differenzierungen zwischen ›Erinnerung‹ und ›Gedächtnis‹ in diesem Essay nicht berücksichtigt werden können. Das ist nicht die Aufgabe. 6 | Zu verstehen als eine kleine These vom Rande. Der Boom dieser Forschungen wird (jenseits der Neurowissenschaften) mit den gesellschaftshistorischen Transformationen, den Medientechnologien und wissenschaftsgeschichtlichen Verschiebungen in Verbindung gebracht (vgl. Moller 2010). 7 | Wiewohl unter dem Aspekt der neoliberalistisch sedierten Mentalität das Gegenteil behauptet wird. Dem steht z.B. die Politik um Zeit entgegen: »[D]er Einsatz für die Aneignung der Zeit. Sie soll denen gehören, die sie leben.« (Haug 2011)

B. Krondor fer: Wider ein Vergessen der Anderen

gepriesen wird8, ist dabei, jede Distanz zu vernichten. »Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen« (Marinetti 1909). Das wurde vor 100 Jahren noch futuristisch ausgerufen und sprach schon seinen faschistoiden Subtext. »Für die Sterbenden, für die Kranken, für die Gefangenen mag das angehen: – die bewundernswürdige Vergangenheit ist vielleicht ein Balsam für ihre Leiden, da ihnen die Zukunft versperrt ist […]. Aber wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen, wir jungen und starken Futuristen!« (Ebd.) 9 Die Vorstellungen totaler Mobilisierung und universeller Simultanität sind heute dabei sich zu realisieren, ohne dass es eine Erinnerung an diesen historischen Kontext der Fortschrittsanrufung gäbe. »Ob Erinnerungen wahr sind, hängt […] auch davon ab, ob sie in einem öffentlichen Kommunikationsraum erzählbar und akzeptabel sind.« (Assmann 2001: 117) Ebenso wenig wird im allgemeinen Bewusstsein die Deklamation der Vergangenheit als bloßes Trostpflaster für Schwache und der Gegenwart als Zukunftsimperativ für Starke auf diese Herkunft zurückgeführt, wenn das heute deklarierte Selfempowerment-Strategem überall Geltung beansprucht. Positives Denken und nicht Rückbesinnung, Coaching und nicht Selbstkritik, Training und nicht Reflexion, Gesundheit und nicht Krankheit, Konkurrenz und nicht Solidarität, Erfolg und nicht Scheitern, Optimierung und nicht Rekapitulierung, Kompetenz und nicht Kritik, Effizienz und nicht Suffizienz, Progression und nicht Regression … die Serie ließe sich zweifelsohne fortsetzen und verweist auf die Berechtigung zu Stärke und Macht (als individueller Durchsetzungskraft). Wobei dieser (neoliberal-ideologisch) legitimierte Anspruch normativ nun mehr auch für die ›Schwachen‹ gilt, was von Regierungs- und Gegenregierungsseite gleichermaßen befürwortet wird – mit dem Effekt einer sozial/ökonomisch praktikablen Kompatibilität aller gesellschaftlicher Widersprüche.10 »Die Beförderung des allgemeinen Vergessens setzt instand für neue Unternehmungen; die Unruhe, nicht wirklich am Machen von großer Geschichte beteiligt gewesen zu sein und so nicht genau zu wissen, was man davon hat, wenn sie jetzt begraben wird, bevor sie aufgearbeitet ist, wird stillgestellt durch das Angebot von Mitbestimmung.« (Haug 1999: 14)

Durch das Vergessen historischer Vorlagen, die Weigerung des kollektiven Gedächtnisses deren Gewalt zu vergegenwärtigen, regeneriert sich eben diese in unkenntlicher Formation – wie gefangen in unerkanntem Epigonentum. »Der geschichtslose Mensch ist die Parole des Tages, geeignet die Gewissenlosigkeit zu 8 | Und im iPhone bspw. seinen technischen Fetisch als streichelbaren Weltallesverbinder gefunden hat. Wenn ich u.a. Studierenden die sklavenhalterischen Produktionsbedingungen ihrer alltäglichen Spielinstrumente vermitteln möchte, wird dies zumeist mit einem Achselzucken quittiert. 9 | Marinetti wurde unter Mussolini Kulturminister. 10 | Zu Motiven der Empowermentkritik vgl. auch Krondorfer 2007: 109f.

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entwickeln, welche die Atomisierung und Entsolidarisierung der Menschen […] in einer ausschließlich am Markt orientierten Gesellschaft brauchen.« (Ebd.1999: 13) Analog zur Indifferenz der Herrschaft der (Geld-)Ökonomie11 verhält sich die Indifferenz der Technokratie, die für rational, objektiv, fortschrittlich und unideologisch gehalten wird; beide zusammen sind Äquivalente utilitaristischer Hyperrealität. Was für die globale Durchsetzung des Geldes gilt, gilt dito für die Technik. Die Maschine ist indifferent gegenüber dem historischen Apriori einer jeden Kultur. Nicht mehr Inhalte, ›große‹ Theorien, sondern umfassende ›leere‹ Handlungsschemata, formale Kalküle gewinnen Weltgeschichte, materialisiert in Technologie. Um deren Anforderungen zu entsprechen, muss ein/e jede/r sich gleich verhalten, was der individuellen und kulturellen Diversifizierung nicht widerspricht, ist sie doch die Basis weltweiter Vernetzung von (gesellschaftlichen) Subsystemen. Technologische Formation und postmoderne Beliebigkeit sind zwei Seiten desselben Konstruktionsprozesses, der universelle Werte nicht im Bereich des Subjektiven herstellt, sondern vermittels der Technologie. Sie ist (zugleich) das trojanische Pferd des Okzidentzentrismus zur Durchsetzung der Weltgesellschaft (nach »Kurt Klagenfurt« 1995), womit sich Differenz/en als Simulakrum erweisen. Die Geist-Maschine stellt die materielle Transformation einer formalen Sprache dar, deren Merkmal die Ausschaltung aller Ambivalenzen, Emotionen, Besonderheiten ist. Dem Computer gelingt es, das Denken, die Sprache, die Empfindungen nach seinem Mechanismus zu gestalten. Und je mehr die Computersprache alle Lebensbedingungen reglementiert, desto mehr wird das Soziale auch in einer vereinheitlichten, quantifizierbaren Sprache und Denkform geregelt. Das neue Subjekt hat seinen symbolischen Anderen konstruiert und produziert. Es muss die Maschinisierung seines Denkens befördern, damit es mit der Maschine kommunizieren kann und es kommuniziert mit der Maschine, weil ihm kein anderer symbolischer Gegensatz mehr übrig bleibt (vgl. Braun 1994: 436f.). Andersheit und Entfremdung sind dem Imaginären des Interface und der Kopie, der Austauschbarkeit und Vernetzung gewichen, virtuell ist der Andere derselbe. »Die Interaktivität der Menschen ist zu der von Bildschirmen untereinander geworden […]. Sprachliche, geschlechtliche, wissenschaftliche Vorgänge zerlegen sie bloß in ihre einfachsten, digitalisierten Momente, um sie dann nach bestimmten Modellen wieder zusammenzusetzen.« (Baudrillard 1992: 61f.) Diese zeichnen sich in der beschleunigungsobsessiven Informationstechnologie durch Bedeutungsentwertung, einem beliebigen Nebeneinander der Inhalte – zugunsten von Information als Kommunikation – aus; das zirkulierende Wissen expandiert prinzipiell endlos aufgrund der Logik von Operationalität und Perfomativität, Faktizität und Ununterscheidbarkeit. Die Explosion von Information führt zur Implosion von Kommunikation im Banner einer grellen Transparenz, die eine reine Immanenz forciert: Schatten- und Geheimnislosigkeit, Medialisierung alles Unheimlichen, 11 | Zum Zusammenhang von Geld und Geschlechter(in)differenz vgl. Krondorfer 2000.

B. Krondor fer: Wider ein Vergessen der Anderen

permanente Ausleuchtung. »Wir sind […] einer weißen Sozialität [ausgeliefert], einer Weißwäsche der Körper wie des Geldes, des Gehirns und des Gedächtnisses bis zur totalen Asepsis. Man wäscht die Gewalt rein, wäscht die Geschichte rein in einem gigantischen Zugriff von Schönheits-Chirurgie […]« (Ebd.: 53). Und es nunmehr eine Gesellschaft gibt, (in) der Negativität verboten ist. In einer synthetisierenden Operation wird nicht nur eine von jeder Schicksalhaftigkeit und Andersheit gesäuberte Gegenwart modelliert, sondern auch die Vergangenheit wird im Nachhinein nach Verträglichkeit und Political Correctness 12 zur Positivität hin geliftet: Simulation des Gedächtnisses – Monitoring der Geschichte – Best Practice der Erinnerung?

A LS . E RINNERUNG »Das Überlieferte dem jeder Epoche eigenen Konformismus abringen« (G ERD B ERGFLETH)

Renovation und Innovation sind damit im Grunde genommen das Gleiche. Die Verschwindensfurore ist die Kehrseite des Innovationsfurors. Das Befremdliche der Vergangenheit muss offenbar nicht nur nivelliert, sondern durch Innovationsbesessenheit bewältigt werden. Die Geringschätzung des Vergangenen verhält sich komplementär zur hyperbolisch besetzten Zukunft, einem machbaren Vorwärts. »Kaum ein Begriff, der so strapaziert und mit soviel Aufmunterungsenergie ausstaffiert wurde wie das Zauberwort der Innovation […] der moralische Imperativ schlechthin. […] Nie zuvor war das Tempo des Verfalls so rasant […]. Daß das jeweils Neuere auch das Bessere sei, steht außer Frage. […] Das ›Zurück‹ ist gänzlich aus dem Richtungssinn geschlagen. Jede Rück-Sicht erscheint als Rückfall.« (Gronemeyer 2000: 177ff.)13 12 | Um nur eine Manifestation für die Verstricktheit auch der kritischen Genderpraxen in diese Prozesse zu benennen: Gerade für eine jahrzehntelange Verfechterin einer geschlechtergerechten Sprache, wie auch einer Re-Präsentation von Frauen in einer sie unterschlagenden Geschichtswahrnehmung, ist es irritierend, wenn unter dem Aspekt der Antidiskriminierung via Sprachgebrauch, Geschichte ›zurecht‹ geschrieben wird. Formulierungen wie ›GewerkschafterInnenorganisationen kämpften für …‹ (als x-beliebiges Beispiel), wo offensichtlich ist, dass diese Formierung eindeutig männerdominiert war, hat gerade mit ›Gerechtigkeit‹ nichts zu tun. Auch der aktuelle Antiopferdiskurs wäre, jenseits der Mittäterinnendebatte, diesbezüglich zu befragen: Werden die Opfer, die im Maßstab der Selbstregulierung keine mehr sind/sein dürfen, so nicht noch einmal geopfert? 13 | In keiner Projektbeantragung, Fortbildungsausschreibung etc. und der entsprechenden Bewerbung fehlt heute das Kriterium ›innovativ‹. Auch nicht im universitären Zusam-

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Rückbesinnung steht nicht auf der Agenda des Innovatismus, innehaltendes Nachdenken über Konsequenzen gilt als rückständig und wenn der Gegenwart schon die Patina des Überholten inhärent ist, hilft nur (Selbst-)Immunisierung gegen Erfahrung (des Scheiterns) und Erinnerung (an Grenzen). Das Phantasma der Novität ist die widerspruchslose Tat-Sache, die Vor- und Darstellung von Handlung und Wissen als Produkt: das Perfekte, das Vollendete.14 Exakt dies treibt Wissenschaft und Technologie an, nämlich das Planbare und Undefizitäre, das Kontrollierbare und die Verfügbarkeit herstellen zu können. »Das Perfekte hat […] keine andere Seite seiner selbst, […] kann in keine Richtung über sich hinaus […] und hat sich gegen jeden Einwand gehärtet.« (Ebd.: 196) Die Signatur der Machbarkeit übt eine magische Anziehungskraft aus und ist in quasireligiöser Manier nicht nur den dominanten Denk- und Praxisformen eingeschrieben. Eine – gerade auch feministische – Subjektkritik, die sich über Produkt(ions)kritik reflektiert, ist kaum vorhanden. So ließe sich bspw. das Speichern von Information, die damit verbundene Vergleichgültigung von Inhalten, von Innehalten, von Erinnerung und dessen Digitalgerätschaft als postmoderner Narzissmus entziffern, als monadologischer Wunsch »vom Anderen nicht belästigt zu werden« (Žižek 2002: 21), als Durchsetzung der ›virtuellen Realität‹, die per Schirm die Kontamination durch die Anderen abwehrt.15 Die Berührung gehört zu einer verfemten Ordnung, weil sie nicht abstrahiert. »Das elektronisch gesteuerte Signal ersetzt, was am Tastsinn ausgeschlossen wird. Das Ertastete darf nicht zum Zeichen werden, der Druck der Taste schon. […] Das hat […] mit der [….] Krankheit Frau […] zu tun – Voraussetzung und Effekt jedes Berührungsverbotes. Die Berührung durch die Frau […] war schon immer die Ansteckung, die Seuche.« (TreuschDieter 1991: 251)

Don’t touch me, touch the screen! Signifikant hierdurch wird, dass die solchermaßen auf- und abgerüsteten Subjekte männlich konnotiert sind – in dieser Gemengelage von un/bewusster Abwehr der Anderen und Allmacht über die Andere/n. Erinnerung hingegen, die die Stiftung einer Beziehung zwischen dem Gewesenen und dem Aktuellen bedeutet, hieße dann auch, in der Geschichte nicht nur ›all-gemeine‹ Geschlechterkonstruktionen – wobei dem Begriff der Konstruktion selbst schon das Herstellbarkeitsparadigma inhärent ist – anzunehmen, sondern menhang, wo jeder noch so kleine Lehrauftrag – selbst in Geistes-, Sozial-, Kultur- und Genderwissenschaften, die doch wissen müssten, dass es kein endloses Reservoir an Neuem geben kann – der-artig aufgeladen werden muss. 14 | perfekt: per facere – völlig machen. Vgl. Duden. Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache (1989: 519). 15 | Der Bildschirm entspricht der abendländischen Hierarchie der Sinne. Der Sehsinn gilt seit Aristoteles als bevorzugtes Wahrnehmungsorgan, was sich auch sprachlich spiegelt: Aufklärung, Anschauung, Erleuchtung, Durchblick, Übersicht …

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Geschichte als eine wahrzunehmen, in die männliche Hegemonialität eingeschrieben ist. Diese entäußert sich heute ebenso subtil wie barbarisch in Ausbeutungs- und Verfügungsgewalt, Machbarkeitswahn und Fortschrittsglauben. 16 In der abendländischen Wissens- und Produktionsordnung figuriert das symbolisch Weibliche wie das Unbewusste und die Natur als konstitutiv Andere/s, das umgangen wird, oder mit dem via Ex- und Inklusion, Instrumentalisierung und Idealisierung, Abstraktion und Anbetung umgegangen werden muss (vgl. Braun et al. 2009: 11). So obsessiv der imperfekte Mensch/Mann sich durch Perfektionierung aufrüstet, in dem Maß er sich nicht selbst als Abhängiger erkennen will, so maßlos wuchern die ›Innovationen‹; als Produktvariationen, die als Wiedergänger ungelöster oder aufgehobener Widersprüche in den hergestellten Dingen ihr Totem gefunden haben; Renovation: produziertes Wiederholen und Produktion von immer mehr vom Gleichen in technoider Immanenz. Das wissenschaftlich-technisch-ökonomische Produktionsprinzip hat sich weltweit durchgesetzt, in ihm realisiert sich »eine Teilwirklichkeit des Menschen, die gegen alle anderen dominant wird, der ›homo faber‹. Andere ›Produktionsformen‹ und -möglichkeiten werden zurückgedrängt, sogar vergessen« (Heintel 1993: 46). Die universalisierende Verwirklichung dieses Prinzips verfügt die Angleichung all derer, die sich diesen Vorgang gefallen lassen, sowie die Vernichtung dessen, was nach anderen Modellen lebt, mit dem Effekt der Entdifferenzierung und Formalisierung. »Wir werden in unseren Verständigungs-, Kommunikations-, Verkehrsmedien ›gleichgeschaltet‹; und es wird immer schwerer, Alternativen zur Geltung zu bringen.« (Ebd.: 54) Angesichts des Destruktions- und Krisenfurors aber müssen Alternativen erinnert, in die Gegenwart wiederholt 17 werden, um diese ›aus verschütteten Teilwirklichkeiten der Vergangenheit verändern‹ (ebd.: 48) zu können. Was etwas anderes ist als vom Sog des Aktuellen in Kombination mit teleologischem Zweckoptimismus imprägniert zu sein. Wo Vergangenheit als das Veraltete, Überkommene in Misskredit gerät, wird Erinnerung zu einer politischen Aufgabe. »Geschichte ist schon deshalb nicht am Ende, weil ein großer Teil ihrer Möglichkeiten nicht ausgetragen, also unausgeschöpft ist.« (Negt/Kluge 1993: 341) Die Wahrnehmung von Erinnerung als politische Schlüsselkategorie erachtet Geschichte nicht als etwas Abgeschlossenes, als wissenschaftliches Objekt, sondern erschließt den Verheißungsgehalt wie die Abgründe des Vergangenen für die Gegenwart. Erinnerung als das Vergessen des Vergessens kann im Sinne einer nicht eingebrachten Zukunft diese in umstürzende Erwartung verwandeln, wenn 16 | Neben den Maschinen sind ein Paradebeispiel hierfür die Gen- und Reproduktionstechnologie, sowie die Patentierung der natürlichen Ressourcen – Zugriffe aufs ›nackte Leben‹. 17 | Im Unterschied zur Wiederholung, die ›das Wieder-und-wieder-Tun‹ des Gleichen bedeutet, ein Akt mit erwartbarem Resultat (vgl. Gronemeyer 2000: 185). Die Assoziation zum Motiv der Wiederholung im konstruktivistischen Genderverständnis liegt nahe und eine Selbstuntersuchung zu diesen beiden Konnotationen wäre vielleicht aufschlussreich.

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nicht geleugnet wird, dass es so viele Formen des Vergessens wie Formen des Nichtwissens gibt. Wer vergisst, kommt immer wieder auf dasselbe zurück, um sich (seiner selbst) vergewissern zu können (vgl. Bergfleth 1979: 107ff.). Erinnern hingegen stellt das Nach-Denken konkreter geschichtlicher Erfahrungen dar. Geschichte darf nicht als geschlossenes Kontinuum, sondern muss als ein von Menschen geschaffener Handlungszusammenhang reflektiert werden, der grundsätzlich immer neu initiiert werden kann. Die Herausforderung für ein politisches Gemeinwesen besteht in der Rettung von (revolutionären) Neuanfängen über die Zeit, um geschichtliche Befreiungserfahrungen in die Gegenwart überführen zu können und in die Zukunft zu entwerfen. Und nichts bedroht die Freiheit mehr als das Vergessen, denn politisches Handeln ist auf das Andenken jener Quellen verwiesen, aus denen sie sich speist. Das Gedächtnis vollzieht sich in der Klärung der Erinnerungsgehalte und dem dauernden Gespräch (vgl. Neuhaus 2001: 175ff.). ›Nichts als dieses unaufhörliche Gespräch unter den Menschen rettet die menschlichen Angelegenheiten aus der ihnen inhärenten Vergänglichkeit‹ (Hannah Arendt nach Neuhaus ebd.). Narration bedingt Erinnerung – »wir erinnern uns an Vieles in dem Maße, wie wir Anlässe finden, davon zu erzählen« (Assman 2001: 108) – und Erinnerung veranlasst Narration: Dass ein Vergangenes nicht einfach mit dem Zeitablauf verschwunden, sondern in einer realen oder idealen Weise anwesend ist, ist Bedingung dafür, von und in Geschichte sprechen zu können. Erinnerung ist das Organon eines Geschichtsbewusstseins, das der Maxime des Fortschritts – »alles, was ist, ist wert, dass es zugrunde geht; nur was sich steigern lässt, ist wert, dass es erhalten wird« (Folkers 1979: 175) – widerspricht. Gegenüber dem vermeintlichen Stufengang des geschichtlichen Fortschritts wirkt Erinnerung als Zukunftswissen ex negativo. Das Vorhergesehene, nicht das Vorhersehbare, steht mit dem Unvorhergesehenen in einem Bezug. Die Unterbrechung, die menschliche Begabung durch Handeln einen Anfang setzen zu können, heißt Entzug der Kalkulierbarkeit. Es bedeutet, dass »das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, und dass das, was ›rational‹ […] nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden darf« (Arendt 2008: 217). Etwas anderes und mit Anderen etwas anfangen können leistet der Verfallsgeschichte des Politischen Widerstand, da es die Präsenz des Abwesenden ermöglicht.

A N . E RINNERUNG »Die Gewalttat des Gleichmachens reproduziert den Widerspruch, den sie ausmerzt.« (THEODOR W. A DORNO)

Das Abwesende ist hier Signum für das, was nicht bilanziert werden kann und doch im ›Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten‹ (vgl. Arendt 2008: 225) angesiedelt ist. (Politisches) Handeln und Sprechen existiert in der Bezo-

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genheit der vielen Verschiedenen und konstituiert Geschichte/n (vgl. ebd.: 227f.), d.h., dass Erzählen und Erinnern das gleichsam Verbindende und Trennende, das Gegenwärtige und Vergangene, das Ähnliche und das Unterschiedene darstellen und in Erscheinung bringen können; auch unter dem Aspekt, dass das Andere zur Selbstkonstitution gebraucht wird, da Bedeutung immer erst aus dem Verhältnis zum Anderen, zur Welt und zu mir selbst hervorgeht. Doch der männlich abendländische Geist hat – da anderes offenbar schwer erträglich – ein Denken in Gegensätzen favorisiert, das auf Oppositionen, Dualismen, Ausschlüssen und Eliminierung basiert. Der/die/das Andere wird in identitätslogischer Klassifizierung einerseits hergestellt (Othering) und andererseits subsumiert (hierarchisierende Verallgemeinerung). Es gibt aber die Möglichkeit einer Unterscheidung, die nicht in dieser Logik aufgeht: »Identität und Differenz. Der Gegensatz zu Gleichheit, wenn man Identität vereinfachend so übersetzen würde, ist Ungleichheit. Hier ist das Moment der Gleichheit negiert. Der Gegensatz zu Identität wäre dementsprechend Nichtidentisches, nämlich ›Differenz‹. Das Nichtidentische […] aber […] entzieht sich einer Bestimmung, einer Identifikation […].« (Drygala/ Günter 2010: 18)

Jede Art der Selbst- und Fremdidentifizierung entspräche also dem Prinzip der Identität und bedenkt nicht (ein Denken der) Differenz als eine Bewegung, die ›das Unterschiedene an die Bewegung des Unterscheidens zurückgibt‹ (vgl. ebd.: 25). Es ist die Fähigkeit, das Besondere zu wahren und zu beurteilen, ohne es »unter jene allgemeinen Regeln zu subsumieren, die gelehrt und gelernt werden können, bis sie sich zu Gewohnheiten entwickeln, welche von anderen Gewohnheiten und Regeln ersetzt werden können« (Arendt 1994: 155). Das hier angesprochene Inkommensurable 18, dessen Chiffren des Anderen, des Ausgeschlossenen, des Alteritären, des Fremden19 , des Widerspenstigen, des Alternativen, des Devianten, des Partikulären, des Unäquivalenten, des Disqualifizierten, des Heterogenen, des Pathologischen, des Unangepassten, des Verfemten, des Unaustauschbaren, des Minorisierten die Differenz selbst markieren, ist nicht nur als das Diskriminierte zu beklagen, sondern als das Unterlassene, das Verletzte, das Vergessene einzuklagen, das eine zu affirmierende Unterscheidung macht. »Nicht um Bestätigung der Herrschaft der Präsenz in der Wiederholung dessel18 | In bewusster Wendung gegen den beliebten poststrukturalistischen Verdächtigungschor von Essentialisierung, Machteingebundenheit einer/eines jeden und dem Abgesang aller Außenpositionen angedacht, da dieser der buchstäblichen Gleichgültigkeit und der Legitimation des (eigenen) Status quo zuspielt. Es ist ja umgekehrt evident, dass keine/r gottähnlich außerhalb jeglicher Abhängigkeit existieren kann und alle in der Geschichte eingelassen sind, was jedoch, in einer ethischen Perspektive, nicht heißt, sich den Grenzen der Konstruktionen und der Tatsache der eigenen Verstricktheiten beugen zu müssen. 19 | Auch in der Bedeutung des Befremdlichen der (eigenen) Vergangenheit.

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ben Aktes der Wiederholung handelt es sich also, sondern um die Wiedereinholung einer Differenz, ohne die keine andere Differenz Erscheinungsmöglichkeiten hat, weil sie der Ort des Gedächtnisses dieser Differenz ist.« (Meyer 1986: 76; Herv. B.K.) Ein Differenzwissen jedoch spricht nicht vom Antinormativen; nicht nur, weil dieses in Counterdependenz zur Norm verharrt, sondern in seiner GegenSetzung immer bloß von sich selbst ausgehen kann und damit der Fiktion eines autonomen Subjekts entspricht. Außer es wird bedacht, dass »das ›Ich‹ durch seine Beziehung zu dem Anderen infrage gestellt [wird], eine Beziehung, die mich nicht gerade zur Sprachlosigkeit verurteilt, die aber meine Rede mit Zeichen ihrer Auflösung übersät« (Butler 2005: 40). Die Verwiesenheit auf Andere/s befragt radikal den Ich-Zentrismus, das ›Ich‹ als ›Ich-Selbst‹ und somit die Verbindung der abendländischen Konzeption des Subjekts, dem ein identifizierendes und identifiziertes Bewusstsein inhärent ist, mit dem postliberalen Modell des Individuums, dem eine selbstbildende und selbsttätige Person kohärent ist. ›Selbst‹ ist das Losungswort der Zeit: Selbstaneignung, Selbstermächtigung, Selbstaufmerksamkeit, Selbsterzeugung, Selbstmanagement, Selbstverantwortung, Selbstregulierung, Selbsttechnologie … ad infinitum – der Diskurs dreht sich um das entweder zugeeignete oder enteignete ›Selbst‹. Wir sind vom ›Selbst‹ umstellt20 und dabei wird nicht nur vergessen, die Erinnerung aufgezehrt, dass eine jegliche Selbstwerdung permanent am Ort des Anderen stattfindet, sich davon nährt. Sondern es wurde und wird – in ethischer wie in politischer Hinsicht – verweigert vom »absoluten Vorrang des Anderen, der Asymmetrie von Beziehungen und der Unabschliessbarkeit des Denkens« (Drygala/Günter 2010: 27) auszugehen. Denn das okzidentale Denken mit seinem Modus der Erkenntnis als Vermittlung nimmt das/die/den Andere/n nicht wahr, sie werden der Selbstgenügsamkeit zu- bzw. eingeschlagen, das Andere auf das Selbe reduziert. »Nichts vom Anderen empfangen, als das, was in mir ist […]. Erkennen läuft darauf hinaus, […] das Sein […] seiner Andersheit zu entkleiden. […] Das Ideal der sokratischen Weisheit beruht […] auf der […] Genügsamkeit Desselben, auf seiner Identifizierung als Selbstheit, auf seinem Egoismus.« (Lévinas, zit. nach Taureck 1997: 42f.)21 Die Akzentuierung des Unfassbaren, des Unbegreif baren, des Unergründbaren des Anderen hingegen spräche die Antastbarkeit eines Subjekts an, das die Last des Anderen trägt und übernimmt. Nicht um die Devise der Selbstverbesserung geht es, sondern um die Frage der Schuldigkeit gegenüber dem Anderen. »[Die] Unbe20 | Selbst herrschaftskritische Formulierungen wie »Das umstellte Selbst« (Hauser 2011), wo es um die desaströsen Tendenzen gesellschaftlicher Entsolidarisierung geht, kommen ohne dieses Axiom nicht (mehr) aus. 21 | Ein kurzer philosophiegeschichtlicher Zusatz: Emmanuel Lévinas geht es um eine Unterscheidung zwischen dem hegemonial gewordenen griechischen Humanismus der ›Selbstsorge‹ sowie der Aneignung und dem verlorenen jüdischen Humanismus der Achtung des absolut Anderen, einer ›passiven‹ Subjektivität als Öffnung zum Anderen und der Verantwortung für den Anderen (vgl. Gelhard 2005; Taureck 1997).

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dingung des Sich beginnt nicht in der Selbstaffektion eines souveränen Ich, das nachträglich für den anderen ›Mitleid empfindet‹. Ganz im Gegenteil: Die Einzigkeit des verantwortlichen Ich ist nur möglich in der Besessenheit vom Anderen […].« (Lévinas, zit. nach Gelhard 2005: 106) Durch die immer schon vorausliegende Verantwortung für das/die/den Andere/n ist das Subjekt von der ›Unmöglichkeit sich zu entziehen‹ (vgl. ebd.: 96ff.) berührt und wird darauf verwiesen, (sich) nicht alleine denken zu können, denn »wenn ich das tue, habe ich mich aus dem Beziehungsgefüge entfernt, welches das Problem der Verantwortung von Anfang an strukturiert« (Butler 2005.: 64). Diesseits jeder Selbstidentifikation werden die Anderen und das Andere »in einem nicht zu vergegenwärtigendem Zuvor« (Lévinas, zit. nach Gelhard: 106) erfahren, was, jenseits des konkreten Gegenübers und der nächsten Anderen, metaphorisch hier auch bedeutbar wird als das Andere des nicht mehr Gewussten. Genauer hin das Weibliche, dessen Ort immer schon der des Anderen ist, des Ungewussten, »seine Ausschließung, die Schranke zum Inneren des Ich, das ausgeschlossene Innen, inklusive des Bewusstseins. Ausgeschlossen und übereignet« (Meyer 1986: 65). Es aufsuchen, damit das mit/in ihm Verschüttete und noch nicht Gewusste nicht den empirischen Zurichtungen ausgeliefert wird, »nicht um etwas Erlebtes oder Nichterlebtes zu ersetzen, sondern um zu verausgaben, was es hinterlassen hat« (ebd.: 69) und somit die Möglichkeit ›einer anderen Welt als Möglichkeit‹ nicht auszuschließen. »Kritik heißt eigentlich soviel wie Erinnerung, nämlich in den Phänomenen mobilisieren, wodurch sie das wurden, was sie geworden sind, und dadurch der Möglichkeiten innewerden, dass sie auch ein Anderes hätten werden und dadurch ein Anderes sein können« (Adorno, zit. nach Haug 1999: 33). Kein Ahnen ohne Ahnen, kein Andenken ohne Andenken.22 »Es scheint, als ob die jeweils herrschenden kulturellen Apparate um die Kraft der Erinnerung für Widerstand und befreiendes Handeln wüssten, da anders der verbreitete Kampf gegen die Erinnerung, um eine vergangenheitslose Gegenwart so wenig verständlich ist, wie das Beharren [U]nterdrückter […] auf Geschichte und Erinnerung.« (Haug ebd.: 42)

Erinnerungshoheiten, also die Erinnerungsinteressen des (medialisierten) Mainstreams dominieren die Gegenerinnerungen der Marginalisierten, die in Pseudokontinuitäten, referenzlosen Phantasien sowie der aktuellen Temporalisierung und Entkontextualisierung unterzugehen drohen. Und die selber Gefahr laufen, Erinnerung nicht mehr als Wahrnehmung einer Kontinuität und das ihr Unverfügbare anzunehmen, sondern in postmoderner Art willkürlich Bezüge zur Vergangenheit herzustellen und die Wechselbeziehung zwischen normativer Formung der eigenen Gegenwart und deren Rückprojektion auf die Vergangenheit 22 | Es war die Göttin Mnemosyne, welche die Toten vor dem Vergessen schützte und das Andenken vergangener Zeiten in Worten der Dichtung und des sakralen Textes einprägte (nach Meyer 1986: 82).

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nicht zu erkennen. Denn Erinnerungen sind immer auch geleitet von gegenwärtigen Erfahrungen, Motiven und Problemlagen (vgl. Oesterle 2005: 11ff.). Um das Verborgene aber erscheinen zu lassen und das Verdrängte, Zensierte – samt der Funktionsweisen dieser Vorgänge – entdecken zu können, dürfen scheinbar überholte Diskurse nicht abgeschafft werden, da mit ihnen zugleich das Verborgene verschwindet (vgl. Drygala/Günter 2010: 192). »Eher geht es darum, das ›Funktionieren der Grammatik‹ jeder Figur des Diskurses zu erfragen, ihre syntaktischen Gesetze oder Zwänge, ihre imaginären Konfigurationen, ihre metaphorischen Gespinste, und natürlich auch dasjenige, was sie in der Aussage nicht artikuliert: ihr Schweigen.« (Irigaray 1979: 77) Es ginge folglich darum, nicht das Vergangene als Vergangenes zu thematisieren, sondern den Anspruch des Vergangenen vernehmbar werden zu lassen und statt Abwicklung in historischem ›Wissen‹, das Verschwiegene und Verstummte zu Gehör zu bringen, denn nur derart lässt sich das Überlieferte dem jeder Epoche eigenen Konformismus abringen.

Z U . E RINNERUNG »Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.« (THEODOR W. A DORNO/M AX H ORKHEIMER)

»Es gehört nicht zum Fördertatbestand des Frauenministeriums, Archive zu fördern«. So beschied die grüne Emanzipationsministerin der von einer roten Ministerpräsidentin geführten Landesregierung die Aufruhr rund um die drastische Kürzung der Mittel für den 1984 gegründeten FrauenMediaTurm in Köln, dem größten feministischen Archiv und Dokumentationszentrum in Deutschland (vgl. Uslar 2012: 53). Dieser ›Fall‹ ist ein Indiz für den unpfleglichen Umgang mit Gedächtnismanifestationen der – und Erinnerungen an die – Frauenbewegung, ein Umgang, der sich nicht nur auf dem realpolitischen Parkett und dem medialen ›Emanzenbashing‹ abspielt, sondern auch innerhalb der feministischen Wissen(schaft)smentalitäten ›performt‹ wird. Mit der Einführung des Konstruktionsparadigmas und der Dominantwerdung des Genderbegriffs als Diskurs über ›Geschlecht als Diskurs‹ wurden23 – in der Diktion des Fortschritts und der Rundumerneuerung – andere feministische Perspektiven, Reflexionen und politische Praxen diskreditiert. Obwohl die ›großen Erzählungen‹ im postmodernen Wissen keinen Geltungsanspruch mehr haben, wurde sozusagen eine

23 | Es scheint diese Anschauung langsam ein Bewusstsein ihrer Grenzen zu entfalten, denn zunehmend wird die Partikularität dieses Konzepts diskutiert.

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›große Erzählung‹24 über die feministische Frauenbewegung zum geteilten Konsens, der summa summarum neben der Absprache von ›Frau‹ und der Auflösung der ›Zweigeschlechtlichkeit‹ das feministische Kollektivsubjekt ›Wir-Frauen‹ im Visier der Absage beinhaltet.25 Doch diese An-Sage ist ein rückwirkendes Phantasma über eine ursprüngliche Einheit, die zwar eine wörtlich bewegende Illusion zur Zeit ihrer Entstehung war und der, wie allen Gründungsereignissen, der Zauber des Anfangs innewohnte: ein politisches Handeln in der Idee der Freiheit als einer Macht des Neubeginns. »Der radikale Feminismus begann als mächtige Befreiungsbewegung. Erfahren – entdecken – aufbrechen – ausbrechen – eintreten – auftreten – zuwenden. […] Es war ein Enthusiasmus, der von der Vorstellung getragen war, dass Frauen, das gedrosselte Geschlecht, endlich als Subjekte in die Welt geraten. […] Die Unversöhnlichkeit zeigte die Leidenschaft zu einem anderen Leben und einer anderen Gesellschaft.« (Thürmer-Rohr 1994: 61f.)

Doch der Feminismus war nie eine Ganzheit, »vielmehr erwies er sich von Anfang an als gespalten, gar zerrüttet: von unterschiedlichen Ansichten über die Ursachen oder die Form der Unterdrückung, von Disputen über den Sinn von Befreiung, von konkurrierenden Interpretationen demokratischer Ideale […] und […] darüber, wie der öffentliche Bereich […] aussehen sollte« (Zerilli 2010: 10). Die retro-aktive Zuschreibung, sozusagen eine Erinnerungserzählung ex negativo über eine Gesamtidentität, die zwar zu einer jeden PionierInnenphase gehört und als politische Bewegung auch gewünscht war, sich jedoch in dieser Form nie realisiert hat, geriert sich wie eine die Erfahrung verdeckende Erinnerung, die durch permanent wiederholte Überlieferung im feministisch kollektiven Gedächtnis sich eingenistet hat. »Je öfter man etwas erzählt, desto weniger erinnert man sich an die Erfahrung selbst und desto mehr erinnert man sich an die Worte, mit denen man zuvor davon erzählt hat« (Assmann 2001:108). Über die Anlässe dieser Erzählung lässt sich spekulieren; eine Vermutung könnte sein, dass die Unterschiede zwischen Frauen für sie selbst emotional nicht aushaltbar waren26 und es dazu auch (bis heute) keine politische Übung gab, weshalb ein kollektives Wir angegriffen wird, obwohl umgekehrt ja auch ein Wir dieser 24 | Eine ›teleologischen Erzählung, in welcher es kein Nebeneinander und dementsprechende Kontroversen verschiedener geschlechtertheoretischer Ansätze gibt, sondern der linguistic turn alle anderen Diskurse als überholt erscheinen lässt‹ (vgl. Soiland 2010: 11ff.). 25 | Insbesondere von der jüngeren engagierten (post-)feministischen Generation wird (meiner Erfahrung nach) eine Gesamtentität nicht nur abgelehnt, sondern als historische ›Wahrheit‹ auch angenommen. 26 | Mögliche Gründe: internalisierte Misogynie, Brüche in der begehrten sisterhood sowie ›die‹ Frauen als patriarchales Konstrukt, das in der ersten Gleichheitsemphase ungewusst übernommen wurde und wo ein Scheitern unausweichlich ist, da das Politische nicht

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buchstäblich nach-träglichen Narration existiert. Denn jedes Ich ist verknüpft mit einem Wir – das keine Einheitsgröße, sondern in sich disparat ist, solange Menschen nicht völlig homogenisiert sind –, von dem es wichtige Grundlagen seiner Identität bezieht. »Das Gedächtnis des einzelnen bildet sich im Austausch mit solchen Wir-Gruppen, die zum Teil unverbunden nebeneinander stehen, zum Teil ineinander greifen und sich gegenseitig verstärken.« (Assmann o.J.). Durch routinisierte Erzählungen können Erfahrungen ihre herkünftige Qualität verlieren und Erinnerungen zu Phantomen werden (vgl. Assmann 2001: 118), wobei hier vorläufig offen bleiben muss, wieso es auch zur feministischen Vergangenheitsbewältigung gehört, den politisch-existentiellen Bezug ihrer selbst zugunsten von Einzelforschung und präskriptiv-normativer ›Objektivierung‹ verbleichen zu lassen. Dies führt zu apodiktischen Lesarten der Vergangenheit, wobei selbst die Erinnerungen an sich selbst als anders Gewesene gestrichen wird, statt sich um ein Verstehen zu bemühen. »Das Verstehen nämlich ist – im Unterschied zur fehlerfreien Information und dem wissenschaftlichen Wissen – ein komplizierter Prozeß, der niemals zu eindeutigen Ergebnissen führt.« (Arendt 1994:110) Wird die Vergangenheit als Geschichte im Singular synthetisiert, als geschlossene Entität beurteilt, verschließt sich auch die Gegenwart als Erfahrungshorizont der Möglichkeit des Besonderen und dieser verkümmert zur Artikulation von Partialinteressen und zur Gleichsetzung der eigenen partikulären Perspektive als Universalie, womit die Öffnung für das Unterschiedene, das Unvertraute, Unäquivalente sich erst gar nicht mehr ereignet. Jede Totalisierung des individuellen, auch subszenischen Standpunkts, jedes Konsensverhalten (und sei es noch so kritisch) entspricht der Gewalt der Logik des Marktes, einer Ökonomie der Tauschpraxen, die Erfahrungen verstellt und eine tätige Erinnerung als Voraussetzung wie Ziel von Befreiung nötig macht (vgl. Haug 1999: 32), zu der das Verlernen der Komplizenschaft mit den eigenen Privilegien gehört. ›Es kann in einer Politik der Freiheit nicht nur um das Verhältnis von gleichen DiskurspartnerInnen gehen, sondern – fundamentaler – um das Verhältnis der Einen zu den bedrohten und geopferten Anderen, also um asymmetrische Anerkennungsverhältnisse‹ (nach Bertrand-Pfaff 2010: 195); nicht um Hierarchien zu zementieren, sondern um im Rekurs auf Andere deren Würde wach zu halten. Und um an den Ausgangspunkt der Frauenbewegung und dieses Textes selbst zu erinnern: »Wut verbindet, indem sie sich an die Anderen richtet, aber sie egalisiert nicht. Sie beinhaltet die Aufforderung, jene Differenzen neu zu bestimmen, die vom Herrschaftssystem negiert, verharmlost oder mystifiziert werden« (Purtschert 2008). Weshalb es u.a. vorkommen soll, dass Feministinnen sich im Begriff ›Gender‹ und dessen implizite Aufhebung von Differenzen um Erfahrungen des Andersseins betrogen fühlen, denn die Erinnerung an die subversive Kraft im Paradies der erfahrungs- und damit erinnerungslosen Gleichen stattfindet, sondern nur um den Preis der Differenzen zu haben ist. Was gelernt werden muss.

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des Anfangens von etwas Anderem und das Begehren danach wird damit suspendiert. Wut reagiert auf die Problematik und die Notwendigkeit, unter ungleichen Bedingtheiten gemeinsam handeln zu können. Wut, die nur gegen innen gewendet wird, verliert ihre transformative Kraft (vgl. ebd.). »Mutter Courage: Wie lang vertragen Sie keine Ungerechtigkeit? Eine Stund oder zwei? … Ich sage nur, Ihre Wut ist nicht lang genug. Mit der können Sie nichts ausrichten, schad.« (Bert Brecht, zit. nach Enderwitz 1979: 258) Wir brauchen keine Anstandsdiskurse gepaart mit Inkludierungsbedarf, sondern Gespräche der Unterschiedenen, keine Selbstgewissheiten, sondern letztlich ein nach allen Seiten hin offenes Gewissen. Dieses benötigt ein differenzierendes Urteilsvermögen, das ›auf Andere reflektiert‹ und darum weiß, dass ›diejenigen, die Unterschiede nicht kennen wollen, zu allem ›bösen‹ fähig sind‹ (vgl. Arendt 2002: 767). Das ist die Voraussetzung für das notwendige Ringen um politische Zusammenschlüsse – ein immer im Werden sein.

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20.000 Frauen für die Cosa Nostra Frauen. Erinnern. Das feministische Ding. Eine Analyse zum 100-jährigen Internationalen Frauentag in Österreich Kirstin Mertlitsch

1. E INLEITUNG Im Jahr 2010 hat sich in Wien eine Art Aktionskomitee mit dem Namen 20.000 Frauen gegründet, um an den hundertsten Frauentag in Österreich zu erinnern. Dabei nahm die Plattform Bezug auf die historische Großdemonstration für Frauenrechte, die am 19. März 1911 am ersten Internationalen Frauentag auf der Wiener Ringstraße stattgefunden und 20.000 Frauen (und Männer) versammelt hat. Dieses historische Ereignis wurde zum Anlass genommen, den hundertsten Frauentag in Österreich 2011 mit einer Wiederholung zu begehen, indem wieder versucht wurde, 20.000 – vorwiegend – Frauen zu mobilisieren, um für Frauenrechte in der Öffentlichkeit zu demonstrieren.1 Die Aufrufe zu diesem Ereignis will ich hier zum Ausgangspunkt von Überlegungen nehmen, wie Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte (u.a.) erinnert wird. Die Positionspapiere der Plattform sowie deren Aussendungen dienen als Material, um der Frage nachzugehen, was am 100. Internationalen Frauentag gefeiert wurde und wie sich diese Erinnerungskultur von anderen, nicht-feministischen, unterscheidet. Dabei gehe ich von der These aus, dass die Aufrufe zur Demonstration gegen die unerfüllten Forderungen nach Gleichberechtigung nur ein Motiv dieser Aktion waren. Vielmehr sollte der Erinnerungsakt in Form einer Großdemonstration zur (Wieder-)Herstellung eines ( feministischen) Wirs dienen. Daher drängt sich die Frage auf: Um welche Gemeinschaft geht es? Und: Was bedeutet das feministische Wir bzw. was ist die cosa nostra des Feminismus? 1 | Die Medien berichteten, dass zwischen 5.000 und 15.000 Menschen laut Polizei und Organisatorinnen an der Großdemonstration am 19. März 2011 teilgenommen haben (Hausbichler 2011).

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2. A K TION »19. M ÄRZ 2011« »AUS! Aktion Umsetzung Sofort! – Demonstration für Frauenrechte am Ring« lautete der Aufruf der Plattform 20.000 Frauen. Die wesentlichen Informationen zu dieser Aktion lassen sich auf der Homepage der Plattform 2 sowie auf Flyern und Postkarten finden und wurden auch über diverse fachspezifische E-Mail-Verteiler3 ausgesendet. Der Kurztext des Aufrufes, auf den hier stark Bezug genommen wird, lautet: »›AUS! Aktion Umsetzung. Sofort.‹ Unzählige Forderungen und Kritiken von Frauen sind seit 100 Jahren und mehr auf dem Tisch. Unzählige Forderungen warten auf Umsetzung. Am 19. März 1911 gingen 20.000 Frauen (und Männer) für mehr Frauenrechte auf die Straße. Nun jährt sich dieser Tag zum 100sten Mal – ein guter Anlass, wieder zu einer großen Demonstration für Frauenrechte am Samstag, 19. März 2011 am Wiener Ring aufzurufen! Wir laden mit diesem Aufruf Frauen und Frauenorganisationen in ganz Österreich und über alle Grenzen hinweg ein, an dieser Demonstration teilzunehmen. Durch die Demonstration soll der Vielfalt und der Wichtigkeit feministischer Zugänge und Forderungen, die immer noch nicht umgesetzt sind, eine Stimme gegeben werden. Ziel ist es, das Trennende hintan zu stellen und möglichst zahlreich sichtbar zu werden, ohne Differenzen und Vielfalt zu leugnen. Frauen, meldet euch! Frauen, beteiligt euch! Frauen, bewegt! Wir sagen: AUS! Aktion Umsetzung. Sofort. Plattform 20.000 Frauen Kontakt: [email protected]« (zwanzigtausendfrauen.at), 23.09.2012

Diese Kurzversion unterscheidet sich vom längeren Positionspapier dadurch, dass sie keinen Forderungskatalog und keinen ausführlicheren geschichtlichen Rückbezug enthält. Trotzdem beinhaltet der Aufruf schon wesentliche Aspekte der Aktion, weil Name und Motto richtungsweisend für die Inhalte und Ziele der Aktion sind. Beschreibt der erste Absatz den Anlass der Veranstaltung, indem er historische Bezüge zu den Anfängen der ersten Frauenbewegung herstellt, so beinhaltet der zweite Absatz Inhalte und Ziele, aber auch ein Versprechen. Bemerkenswert ist – dies sei vorweggenommen – dass die Kurzversion keine einzige Forderung und Kritik formuliert, sondern diese als ›unzählige‹ unbestimmt lässt.

2 | http://zwanzigtausendfrauen.at/ vom 23.09.2012. 3 | Z.B. [email protected]

K. Mer tlitsch: 20.000 Frauen für die Cosa Nostra

Abbildung 1 und 2: Flyer Vorder- und Rückseite

Quelle: Abbildung 1: Flyer (Vorderseite): Plattform 20.000 Frauen, Abschlusskundgebung, 19. März 2011; Abbildung 2: Flyer (Rückseite): Plattform 20.000 Frauen, Abschlusskundgebung, 19. März 2011 (www.20000frauen.at, 29. September 2011)

3. E RINNERUNGSAK T ALS H ERSTELLUNG EINER G EMEINSCHAF T Im Ankündigungsmaterial wird Clara Zetkin als Gründungsfigur hervorgehoben, die den ersten weltweiten Frauentag bei einer internationalen sozialistischen Frauenkonferenz ausgerufen hat. 1911, so steht in der Langversion, ›war der Beginn einer kämpferischen Frauentradition‹. Dieses Ereignis wird als Ursprung des Frauentages, als sich selbst setzende Ursache und als relevantes feministisches Datum festgelegt. Wie bekannt ist, kann der Beginn dieses Feier- und

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Gedenktages jedoch auf unterschiedliche frauenspezifische Ereignisse zurückgeführt werden wie beispielsweise auf einen Textilarbeiterinnenstreik 1857 in New York. 4 Der Gründungsakt wird hier (im Nachhinein) aktiv von Feminist_innen performativ erzeugt. Die Setzung eines Ursprungs ist für die Identität von Kollektiven wie für Einzelpersonen von besonderer Bedeutung, zumindest im Menschenbild der Aufklärung. Diese Ansicht teilen viele Feminist_innen – u.a. auch die Philosophin Seyla Benhabib, die von einer »Wiederaneignung einer Frauengeschichte im Namen einer emanzipierten Zukunft« spricht. Eine eigene Geschichte zu haben und sich dieser zu erinnern, ist zentraler Bestandteil der Subjektwerdung und -konstitution, sowie für die Handlungsfähigkeit und das Selbstwertgefühl von Frauen, die in einer hegemonialen Geschichtsschreibung kaum vorkommen (vgl. Benhabib 1995: 9-31). In diesem Sinn kann und wird der Frauentag auch als Gründung einer weiblichen Erinnerungskultur gedeutet. Im Poststrukturalismus wurden Subjekt-Werdungs-Prozesse allerdings hinterfragt, etwa vom Philosophen Jacques Derrida, der davon ausgeht, dass es keinen Ursprung und keinen Beginn gibt, sondern, dass jeder Anfang erst im Nachhinein gesetzt werde, sozusagen ein performativer Akt sei und eine Form des Mythos darstelle (vgl. Derrida 1983: 312). Wenn nun der 19. März als der erste Internationale Frauentag – zumindest in Österreich – bezeichnet wird, dann hat der Mythos, der in diesem Erinnern steckt, auch die Funktion, etwas Gemeinsames zu stiften, das von vielen Menschen geteilt wird und letztlich auch sein eigenes Sein begründet, wie der Philosoph Jean-Luc Nancy schreibt: »Der Mythos kommuniziert das Kommune, er macht das Gemeine gemein, er teilt das Gemeinsam-Sein dessen mit, was er offenbart oder was er erzählt. Mit jeder seiner Offenbarungen offenbart er folglich der Gemeinschaft gleichzeitig auch ihr eigenes Sein und gründet sie. Er ist immer Mythos der Gemeinschaft d.h. er ist immer der Mythos der Einswerdung – einzige Stimme von vielen – der den Mythos erfinden und mit-teilen kann.« (Nancy 1988: 110)

Mit anderen Worten, der Mythos ist als eine Form von Geschichtsschreibung und Erinnerung für die Konstitution einer Gemeinschaft oder eines Gemeinschafts-Gefühls zentral. Die Erinnerung selbst ist ein Akt der Selbstkonstituierung und Selbstlegitimierung für die feministische Gemeinschaft. Nach Nancy ist der Mythos an sich, wie er in seinem Buch die »Undarstellbare Gemeinschaft« schreibt, nichts Negatives, wenn er unterbrochen wird. Die Bewegung bzw. das Spannungsverhältnis zwischen Mythos und seiner Unterbrechung würde für die feministische Gemeinschaft bedeuten, dass einerseits für die Subjektkonstitution 4 | Bei dem Textilarbeiterinnenstreik ist die historische Realität nicht nachgewiesen. Möglicherweise handelt es sich hier um eine Legende wie das Wikipedia schreibt, http:// de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Frauentag vom 23.09.2012.

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und seinem Wir ein (Ursprungs-)Mythos wie z.B. der Frauentag wesentlich ist, dieser jedoch beispielsweise als Selbstreflexion etwa durch feministische Theorien unterbrochen bzw. hinterfragt werden kann. Wiederholung in Form eines Gedenktages bedeutet nicht ein singuläres Projekt, sondern ist vielmehr eine permanente Aktivität, die zur Herstellung eines kollektiven Subjekts beiträgt. Der Philosoph Liepold-Mosser schreibt: »Jede Gegenwart setzt ihre Vergangenheit, der Mensch ist eine performative Maschine seiner eigenen Subjektivierung.« (Liepold-Mosser 1995: 76) Der Aufruf zur Großdemonstration ist damit auch Teil eines Erinnerungsaktes, der den Anfang der Frauenbewegung reinszenieren soll. Der Anfang ist ein unwiederbringliches Ereignis, wie der Philosoph Josef Vogl schreibt, und gehört zum Wesen der Gemeinschaft. Die Idee der Rückbesinnung und der Wunsch nach Wiederherstellung der Gemeinschaft (bzw. der Großdemonstration), die Bewegung von Verlust und Versprechen des Ursprungs der Gemeinschaft, nennt er deshalb ein doppeltes ›Einst‹ (vgl. Vogl 1994: 8). Der Name der Plattform 20.000 Frauen lässt die Beschreibung des doppelten ›Einst‹ besonders plastisch erscheinen. Hier wird die Erinnerung an den Beginn des Feminismus als auch das Versprechen bzw. den performativen Akt, wieder ein feministisches Wir von über tausenden Frauen herzustellen, besonders deutlich. Jean-Luc Nancy schreibt über das Phänomen des Verlusts von Gemeinschaft: »Die verlorene oder zerbrochene Gemeinschaft kann auf verschiedene Weise, mit allen möglichen Paradigmen illustriert werden: die natürliche Familie, die attische Polis, die römische Republik, die urchristliche Gemeinde, die Korporationen, Gemeinden oder Bruderschaften – immer geht es um ein verlorenes Zeitalter, in dem die Gemeinschaft sich noch aus engen, harmonischen und unzerreißbaren Banden knüpfte und in dem sie in ihren Institutionen, ihren Riten und Symbolen vor allem sich selbst das Schauspiel, ja sogar die lebendige Darbietung ihrer eigenen Einheit, der ihr immanenten Vertrautheit und Autonomie offenbarte. Im Unterschied zur Gesellschaft (die einfach ein Zusammenschluss oder eine Verteilung von Kräften und Bedürfnissen ist), im Gegensatz aber auch zur Gewaltherrschaft (welche die Gemeinschaft auflöst, indem sie die Völker ihrer Waffengewalt und ihrem Ruhm unterwirft), ist die Gemeinschaft nicht allein das vertraute Kommunizieren und die enge Verbindung ihrer Mitglieder untereinander, sondern auch das organische Einswerden ihrer selbst mit ihren eigenen Wesen.« (Nancy 1988: 27)

Dass es beim Aufruf zur Großdemonstration v.a. um das Erleben des eigenen Wir geht, veranschaulicht auch der Appell: ›AUS! Aktion Umsetzung. Sofort.‹ Der Appell drückt einen Protest aus, der ein Geschehen stoppen soll – nämlich die unerfüllten Forderungen des Feminismus, die hier und jetzt umgesetzt werden sollen.5 Wie bereits oben erwähnt, wird weder formuliert an wen sich die Forde5 | Zugleich begibt sich jedoch die Plattform mit ihrem Appell ›AUS! Aktion Umsetzung. Sofort.‹ in einen performativen Selbstwiderspruch. Sie ruft ein ›Wir‹ an, dass im Appell

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rungen konkret richten (›die Forderungen warten auf Umsetzung‹), noch werden konkrete Kritikpunkte bzw. Vorschläge für Maßnahmen geäußert, wie es eigentlich für Demonstrationen und Proteste üblich ist. Daher liegt es nahe, dass es in diesem Aufruf vielmehr um die ›Aktion‹, um die Bewegung selbst geht. Die Umsetzung, die hier gefordert wird, liegt bereits in der Handlung, der Bewegung und der Demonstration. Das würde aber dann weiter bedeuten, dass die Handlung oder vielmehr der Aufruf zum Protest an sich schon ein Wir hervorruft und der Beweggrund kein anderer ist als die Gemeinschaft des feministischen Wirs zu erleben, was später genauer argumentiert wird.

4. W ELCHE G EMEINSCHAF T WIRD HERGESTELLT ? — A PORIEN EINES S ELBST VERSTÄNDNISSES Die Mitarbeiter_innen der Plattform 20.000 Frauen riefen Frauen vorwiegend per E-Mail und mittels ihrer Homepage auf, sich bei der Großdemonstration zu beteiligen. Die An- und Aufrufung der Adressat_innen als Frauen bedeutet aber nicht unbedingt, dass hier von einem essentialistischen Subjekt Frau ausgegangen werden kann oder ein identitäres, homogenes Frauenkollektiv performativ erzeugt werden soll. Die Kritik, die Judith Butler an einem feministischem Wir-Frauen geäußert hat, dass Feminismus sich selbst als einheitliches Kollektiv aufgrund seines (biologischen) Geschlechts setzt, muss hier nicht unbedingt zu treffen (vgl. Butler 1994: 15-22). Mit dem Appell an ›Frauen‹ können die politischen Subjekte gemeint sein, die sich aufgrund der sozio-politischen Umstände und Verhältnisse (v.a. aufgrund der geschlechtlichen Benachteiligung und Diskriminierung) als Frauen verstehen. Zudem definierten die Initiator_innen der Großdemonstration das feministische Wir, an das hier appelliert wurde, als ein Vielfältiges: »Wir laden mit diesem Aufruf Frauen und Frauenorganisationen in ganz Österreich und über alle Grenzen hinweg ein, an dieser Demonstration teilzunehmen. Durch die Demonstration soll der Vielfalt und der Wichtigkeit feministischer Zugänge und Forderungen, die immer noch nicht umgesetzt sind, eine Stimme gegeben werden. Ziel ist es, das Trennende hintan zu stellen und möglichst zahlreich sichtbar zu werden, ohne Differenzen und Vielfalt zu leugnen.« (http://zwanzigtausendfrauen.at/)

Die Vielfalt und die Differenzen unter Frauen, die hier ausdrücklich hervorgehoben werden, gehen u.a. auf die Kritik der women of color und der poststrukturalistischen Feminist_innen an der Idee eines identitären feministischen Kollektivs bzw. einer global sisterhood zurück (vgl. Mohanty 2003; Benhabib 1995b). Offen›AUS‹ – als Abkürzung für ›Aktion Umsetzung Sofort.‹ – zugleich erschaffen und abgeschafft wird.

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bar wurden diese Ansätze in feministische Theorien und Praxen aufgenommen bzw. werden Differenzen unter Frauen nun verstärkt als selbstverständlich einbezogen. Auch die aktuellen Konzepte der Geschlechtertheorien, die Intersektionalitäts- und Interdependenzansätze, machen deutlich, dass Machtverhältnisse multidimensional und komplex sind und Frauen weltweit mit unterschiedlichen (patriarchalen) Ungleichheits- und Diskriminierungsformen konfrontiert sind. Die Dekonstruktion des feministischen Wir hat jedoch den (akademischen) Feminismus in eine tiefe Identitätskrise geführt. Wie Gudrun-Axeli Knapp schreibt, ist den feministischen Theorien das epistemische und politische Referenzsubjekt verloren gegangen (vgl. Knapp 2003: 243). Mit anderen Worten, wenn zum einen unklar ist, was Frauen überhaupt sind bzw. ob Frauen weltweit gleichermaßen durch patriarchale Verhältnisse unterdrückt werden, wird ein gemeinsames feministisches Handeln fragwürdig. Gerade aber in der Selbstkritik und -reflexivität liegen die Stärken der feministischen Theorien und Praxen, wie Knapp betont: »Es ist gerade die Gleichzeitigkeit von übereinstimmenden und trennenden Momenten, von Bezogensein und Verschiedenheit, die immer wieder Abarbeitungsprozesse stimuliert und zur Ausbildung einer spezifischen Kultur und Reflexivität beiträgt. Feministisches Denken lebt von seiner widersprüchlichen Verortung zwischen Wissenschaft und Politik, von der Suggestion der Gemeinsamkeit zwischen Ungleichen. Es bleibt im Rapport mit sich selbst, wenn es mit den und gegen die eigenen Identifikationen denkt, insbesondere gegen Formen einer verkennenden Eigenliebe, die identitätspolitische Vereinnahmungen produziert und Ähnlichkeit zur Voraussetzung von Solidarität macht.« (Ebd.: 245)

Für eine weiblich-feministische Erinnerungskultur ist der Aspekt der Selbstreflexivität als Form der Unterbrechung ihres eigenen ›Mythos‹ von besonderer Relevanz. Das heißt, die Betonung der Differenzen unter Frauen lässt vordergründig nicht unbedingt auf das Begehren einer Communio schließen. Damit jedoch trotz Differenzen unter Frauen und der Dekonstruktion des feministischen Wir weiterhin ein gemeinsames (feministisches) Handeln möglich ist, so Knapp, kann nicht auf ein Referenzsubjekt verzichtet werden. Damit begibt sich die feministische Theorie und Praxis in einen unauflösbaren Widerspruch. Das heißt, trotz Identitätskritik an Geschlechter-Kategorien müssen geschlechtliche Identitäten angenommen werden, einerseits um Ungleichheiten zu benennen und andererseits um (feministisches) Agieren zu ermöglichen. Um mit diesem ›Dekonstruktions-Dilemma‹ umzugehen, hat Gayatri Spivak das Konzept des ›strategischen Essentialismus‹ entwickelt, das eine feministisch-kritische Handlungsfähigkeit zulässt (vgl. ebd.: 243, 247).6

6 | Strategischer Essentialismus bedeutet die Ambivalenz einer »Identitätspolitik von Gruppen, die sich über deren Konstruktionscharakter bewusst sind, sie aber für die Durchsetzung ihrer Interessen für unverzichtbar halten« (Schönhuth 2008).

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Um nochmals auf unseren Untersuchungsgegenstand der Aktion 20.000 Frauen zurückzukommen, kann vorschnell angenommen werden, dass hier das politische Referenzsubjekt, ›Frauen‹, bereits eindeutig aus den Appellen hervorgeht. Der umfangreiche Forderungskatalog, der aus acht Abschnitten zu unterschiedlichen Themenfeldern besteht, beginnt jeweils mit dem Satz »Wir wollen in einer Welt leben, in der […]«. Dieses ›Wollen‹ ist ein Wunsch der Organisator_innen, macht aber auch die Adressat_innen zu ›Wollenden‹. Es bleibt unklar und unwahrscheinlich, dass die adressierten Frauen dieselben Kritikpunkte und Veränderungsvorschläge teilen. Die feministische Soziologin Gudrun-Axeli Knapp weist ausdrücklich auf das Phänomen hin, dass die Vorstellung bestehe, Feminist_innen hätten dieselben Veränderungswünsche. Sie schreibt, dass »es zu den erstaunlichsten und nachhaltigsten Erfahrungen der internationalen Frauenbewegung gehöre, dass Frauen aus unterschiedlichsten Kontexten (Herkunft, Orientierung etc.) davon ausgehen würden, sie hätten einander etwas zu sagen und Gründe, sich als Frauen zu adressieren« (ebd.: 244). An anderer Stelle hält Knapp fest, dass die implizite Annahme einer Gleichgerichtetheit von Erkenntnis- und Veränderungsinteresse des feministischen ›Wir‹ immer auch ein Stück weit fiktiv sei (vgl. ebd.: 244).

5. W AS BEDEUTE T DAS FEMINISTISCHE W IR BZ W . W AS IST DIE C OSA N OSTR A? Das ›Wollen‹ bleibt zwar unbestimmt, drückt jedoch eine Form der Gemeinsamkeit und Verbindung unter Frauen in diesem Kontext aus. Folgt man der Interpretation von Knapp, so verbindet Feminist_innen der Widerstand gegen Ungleichheit und Sexismus und eine bestimmte Form der Eigenliebe. Ersteres, wie bereits oben argumentiert, mündet jedoch in einem unbestimmten gemeinsamen ›Wollen‹. Oder wie die Philosophin Cornelia Klinger argumentiert: »Genau gesehen basiert nicht einmal das ›Anti‹, der negativ vergemeinschaftende Impetus, der sich gegen die Deklassierung als Frau richtet, auf identischen Motiven« (Klinger, zit. nach ebd.: 244). Wenn nun das verbindende unter Frauen weder in einem gemeinsamen Referenzsubjekt noch in einer gemeinsamen Benachteiligung bzw. hier in der ›Demonstration für Frauenrechte‹ liegt, dann stellt sich die Frage: Welche Motive teilen Frauen miteinander, um an einer Großdemonstration zur Erinnerung an ein Ereignis vor über 100 Jahren zu partizipieren? Und ist dafür die Eigenliebe, die Knapp erwähnt, von Relevanz? Möglicherweise bedeutet dieses ›Wollen‹ mehr die Vorstellung, etwas Gemeinsames zu wollen bzw. zu glauben, etwas Gemeinsames zu wollen. Der Glaube an etwas Gemeinsames wäre dann auch ein Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühles, dem hier nachgegangen werden soll. Mit dem Philosophen Slavoj Žižek kann reflektiert werden, was die Mitglieder einer Gemeinschaft verbindet, wenn nicht unbedingt klar ist, was sie gemeinsam

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wollen. In seinem Beitrag »Genieße Deine Nation wie Dich selbst« schreibt er, dass die Verbindung der Individuen zu einer Gemeinschaft in einer gemeinsamen Beziehung zu einem ›Ding‹ besteht, indem sich das Genießen verkörpert: »Nationale Identifizierung ist ihrer Definition nach aufgebaut auf eine Beziehung zur Nation als Ding. Dieses Nation-Ding ist bestimmt durch eine Reihe widersprüchlicher Eigenschaften. Es erscheint uns als ›unser Ding‹ (vielleicht könnten wir sagen cosa nostra), als etwas, das nur uns zugänglich ist und das ›sie‹ die anderen, nicht erfassen können, das aber nichtsdestoweniger fortwährend durch ›sie‹ bedroht ist; es erscheint als das, was unserem Leben Fülle und Lebendigkeit verleiht, und dennoch können wir es nur bestimmen, indem wir zu verschiedenen Versionen leerer Tautologie Zuflucht nehmen – alles, was wir darüber sagen können, ist, dass das Ding ›the real Thing‹ ist, ›das, worum es wirklich geht‹ etc.« (Žižek 1994: 135)

Überträgt man Žižeks Gedanken auf diese Analyse, so kann das Verbindende des gemeinsamen Wollens im Aufruf zur Großdemonstration als ›feministischesDing‹ und die Beziehung zum feministischen Ding als ›Schwesternschaft‹ oder sisterhood interpretiert werden. Der Begriff Schwesternschaft wird hier als Figuration und Metapher für einen bestimmten Gefühlszustand des feministischen Wir verwendet, der ohne diese Bezeichnung schwer begreifbar ist. Zum einen, weil der Begriff ›sisterhood‹ im Sinne von Norbert Elias als eine Figuration bezeichnet werden kann, ähnlich wie das Gebilde einer Nation, einer Schulklasse oder die Bewohner_innen eines Dorfes. Elias versteht unter Figuration das Zusammenspiel und die Interdependenzen von Individuen als ein Gefüge (Elias 1991: 140). Zum anderen wird ›sisterhood‹ ab den 1970er Jahren als Schlagwort zur Mobilisierung von Frauen im Kampf gegen patriarchale Unterdrückung definiert, wobei die Solidarisierung der Frauen untereinander eine zentrale Rolle spielt (vgl. Kroll 2002: 364). Definitionen zur ›sisterhood‹ bzw. Schwesterlichkeit heben besonders hervor, dass Schwesterlichkeit als globales Gebilde bzw. Gemeinschaft gedacht wird, unabhängig von ethnischen, klassistischen etc. Differenzen, als auch als Verhalten von Frauen untereinander (vgl. Hervé/Steinmann/Wurms 1985: 967977).7 Um nochmals auf die Ausgangsfrage zurückzukommen – was bei dieser Großdemonstration erinnert und gefeiert wird bzw. was das Verbindende ist? –, wird ein Abschnitt der Langversion des Aufrufs zur Großdemonstration zitiert. Es wird deutlich, dass die Gemeinsamkeiten nicht unbedingt in den geforder7 | Zudem impliziert im afroamerikanischen Kontext brother- und sisterhood eine ethnisierte Konnotation, die die Zugehörigkeit zu einer black community meint. Die Literaturwissenschafterin bell hooks vereint in ihrem Zugang zu sisterhood, sowohl gender- als auch race-Komponenten. Sie spricht von differenten aber gleichen Schwestern, die trotz ihrer diversen Interessen in einer gemeinsamen politischen Solidarität gegen patriarchale Unterdrückungen vereint sind (united in political solidarity) (vgl. hooks 1997: 500).

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ten Frauenrechten bestehen, sondern vielmehr in einem gemeinsamen (unbestimmten) Wollen, das sich in der Beziehung der Frauen durch ein Gefühl, das ich hier als Schwesternschaft bezeichne, ausdrückt. Geschwisterforscherinnen definieren Beziehungen unter den leiblichen als auch gewählten »Schwestern« durch Gefühle wie »Zuneigung, Verbundenheit, Liebe, Empathie, Nähe, Anteilnahme und Hilfe, aber auch Gleichheit aufgrund von Selbstlosigkeit« (OnnenIsemann/Rösch 2005: 12; Kraus/Kraus 1991: 21). Viele dieser Eigenschaften einer Schwesternschaft – v.a. Empathie, Solidarität und Verbundenheit – spiegeln sich in einem Zitat des Aufrufes zur Großdemonstration wieder: »Wir wissen, dass wir uns – trotz aller Unterschiede – nicht spalten lassen dürfen, wollen wir als gemeinsame Bewegung Kraft entfachen. Für uns gilt, was schon Audre Lorde, eine afroamerikanische Feministin, 1984 sagte: Ich bin nicht frei, solange eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Ketten trägt als ich.« (http://zwanzigtausendfrauen.at/) Lorde appelliert an eine globale Frauensolidarität. Unter Solidarität versteht man Gleichgesinnte, d.h. Personen, die sich zusammenschließen, um gemeinsame Strategien und Politiken zu entwickeln, die ihre Situation verbessern. Die schwesterliche Solidarität wird als ein Wir-Gefühl verstanden, das Frauen weltweit aus Abhängigkeiten befreit (Hervé/Steinmann/Wurms 1985: 967-977). Solidarität bedeutet hier also die Fähigkeit, trotz Unterschiede, sich durch Empathie in eine andere Person hineinzuversetzen. Einfühlungsvermögen entsteht durch einen Perspektivenwechsel, durch die Identifikation mit Anderen und der Vorstellung, gleich zu sein wie sie, ›ich bin so wie du‹. Ein ähnliches Phänomen beschreibt die Kulturwissenschafterin Sara Ahmed (2004) in ihrem Beitrag zu ›collective feelings‹, in dem sie u.a. der Frage nachgeht, wie Gemeinschaftsgefühle bei so genannten globalen Bürger_innen entstehen. Am Beispiel der Überlegungen zu einer Weltgemeinschaft von Martha Nussbaum zeigt sie kritisch auf, dass die Idee des Universalismus letztlich durch ein ›Wir-Gefühl‹ entsteht, dass jedoch dem Ethnozentrismus verhaftet bleibt: Sie argumentiert, dass Globalität eine Form von Beziehung zu jenen (Menschen) darstellt, die »mit mir« oder so »wie ich bin« sind »as a love for those others who are ›with me‹ and ›like me‹«, insofern sie als »Menschen« anerkannt werden (vgl. ebd.: 38). Was Ahmed hier kritisiert, ist, dass die Idee eines Weltbürgertums nicht durch Universalismus, sondern hauptsächlich durch Eigenliebe, d.h. durch die Spiegelung des Eigenen im Anderen entsteht: »Such a cosmopolitan identity hence allows others to become members of the community only insofar as they take form in a way that I recognize as ›like me‹. I would suggest this merely shifts ethnocentrism form a local or national to a global level: others become loved as global citizens insofar as they, like me, can give up their local attachments and become part of the new community.« (Ebd.: 37)

Das Beispiel von Sara Ahmed macht deutlich, egal ob es um Schwesternschaft oder Weltbürgertum geht, Gemeinschaftsgefühle können Formen von Eigenliebe

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sein, die auch als Narzissmus bezeichnet werden können und auf ein Liebesobjekt ›the real thing‹ gerichtet sind. In dieser Spiegelung drückt sich ein gemeinsamer Glaube und eine Vorstellung von etwas aus: ›You are with me and like me‹ bedeutet in Hinblick auf die Großdemonstration, wir sind gemeinsam ›Wollende‹. Dabei wird eine doppelte Bindung erkennbar: Zum einem die Beziehung der Individuen untereinander, die etwas Gemeinsames wollen bzw. an etwas Gemeinsames glauben, zum anderen wiederum die Bindung an ein bestimmtes Ding. Slavoj Žižek behauptet, dass die Bindungen der Massenindividuen untereinander und zum Liebesobjekt Formen des Glaubens sind. Das heißt die Mitglieder einer Gemeinschaft gehen davon aus, dass sie dieselben Ideen, Vorstellungen und Haltungen zu einem Objekt teilen. Nachdem aber unklar ist, ob die Vorstellungen zu einem Ding dieselben sind, weil diese, wie festgestellt werden konnte, unbestimmt bleiben, so kann man nur davon ausgehen, dass man glaubt, dass der/die andere auch an das Ding glaubt. Dabei fallen der Glaube und das Ding, an das geglaubt wird, in eins, weil unklar ist, was überhaupt der Gegenstand des Glaubens ist: »Das Ding ist nicht direkt eine Sammlung solcher Züge, es ist da etwas mehr in ihm, etwas, das in diesen Zügen präsent ist, das durch sie erscheint. Die Angehörigen eines Gemeinwesens, die einen bestimmten ›way of life‹ teilen, glauben an ihr Ding, wobei dieser Glaube eine reflexive Struktur aufweist, die dem intersubjektiven Raum eigen ist: ›Ich glaube an das nationale Ding‹ heißt soviel wie: »Ich glaube das andere Angehörige des Gemeinwesens an das Ding glauben.« Der tautologische Charakter des Dinges – seine semantische Leere, die Tatsache, dass wir über es nur sagen können, dass es ›the real Thing‹ sei etc. ist genau in dieser paradoxen Struktur begründet. Das nationale Ding existiert so lange, wie die Angehörigen des Gemeinwesens daran glauben, es ist buchstäblich ein Effekt dieses Glaubens an es. Wir haben es hier mit derselben Struktur wie der des Heiligen Geists im Christentum zu tun. Der Heilige Geist ist die Gemeinschaft der Gläubigen, in der Christus nach seinem Tod lebt; an Ihn glauben heißt, an den Glauben selbst glauben, d.h. glauben, dass ich nicht allein bin, dass ich ein Angehöriger der Gemeinschaft der Gläubigen bin.« (Žižek 1994: 136)

Überträgt man Žižeks Zitat auf den Appell zur Großdemonstration kann ein ähnliches Phänomen festgestellt werden: Es ist unklar, was die Frauen untereinander verbindet bzw. welche gemeinsamen Frauenrechte bzw. um welches ›feministisches Ding‹ es überhaupt geht. Vielmehr besteht der Glaube, dass die angerufenen Frauen an dasselbe ›feministische Ding‹ glauben. Das ›feministische Ding‹ ist daher bereits die Gemeinschaft der angerufen Frauen. Das heißt, in diesem Erinnerungsakt geht es um den Glauben an die Cosa Nostra, die unbestimmt bleibt und in der Großdemonstration in Form eines Verhaltens und Gefühls, in der Metapher der Schwesternschaft, begreifbar werden kann.

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Bedenken Kritiken des Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus gegen die Neue Frauenbewegung in Theorie und Praxis und ihre Aktualität in Queer Studies — eine kritische Bestandsaufnahme 1 Gudrun Perko

Die Neue Frauenbewegung westeuropäischer Länder hat gesellschaftspolitisch einiges bewirkt. Erinnert sei u.a. an Forderungen nach politischer und ökonomischer Gleichstellung von Frauen, an die Öffentlichmachung von (struktureller) Gewalt gegen Frauen und Initiativen dagegen, an Analysen von Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen gegen Frauen zugunsten der Befreiung der Frauen, an die Einforderung des Selbstbestimmungsrechts von Frauen und insgesamt an feministisch-politische Strategien zugunsten der (Selbst-)Gestaltung weiblicher (lesbischer, heterosexueller, bisexueller) Liebesformen, Arbeits- und Denkformen u.v.m. Trotz möglicher positiver Bewertung brachten die Neue Frauenbewegung und feministische Theorien aber auch Strukturen der Ausgrenzung und Mechanismen der Reproduktion dieser Strukturen hervor, die in historischen Darstellungen gerne vergessen werden. Diese werden im folgenden Beitrag in Bezug auf Kritiken des Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus skizziert, wie sie gegen Teile der Neuen Frauenbewegung und feministische Theorien öffentlich wurden. Gefragt wird ferner, inwiefern jene Kritiken später aufgenommen wurden. Exemplarisch werden dabei gegenwärtige Queer Studies im deutschsprachigen Raum mit der Frage beleuchtet, inwiefern jene Kritiken bei dieser Theorierichtung eine Rolle spielen und welche Ausblicke es gibt.2 1 | Erstmals veröffentlicht in: »Quer. Lesen denken schreiben«. In: Frauenrat und der Frauenbeauftragten der Alice-Salomon-Fachhochschule für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik und Pflege/Pflegemanagement, Nr. 16/09, Berlin 2009: 4-14. 2 | Hier können nur wenige Aspekte aufgegriffen und Quellen lediglich gesammelt und exemplarisch angeben werden. Vertiefend vgl. Perko (2005) und Czollek/Perko/Weinbach (2009).

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PAR ADIGMATISCHE P HASEN DER NEUEN F R AUENBE WEGUNG IN THEORIE UND P R A XIS Werden die Neue Frauenbewegung und ihre Theorien aus heutiger Perspektive beurteilt, so müssen die einzelnen Phasen dieser politischen (und sozialen) Bewegung differenziert werden. Cornelia Klinger fasst ihre paradigmatischen Phasen schematisch zusammen: »Forderung nach Gleichheit zwischen Frauen und Männern; […] Postulat der Geschlechterdifferenz; verbunden mit der […] Annahme einer Gleichheit zwischen Frauen im Sinne universaler Schwesterlichkeit (›global sisterhood‹); […] Debatte um Differenzen zwischen Frauen, wobei das Verhältnis zwischen Frauen und Männern im Wesentlichen außer Betracht bleibt.« (Klinger 2003: 14)

Erst mit der Etablierung von Gender Studies wurde dieses Verhältnis in den Blick genommen. Mit Queer Theory bzw. Queer Studies erweiterte sich der Fokus, insofern nicht mehr nur von zwei Geschlechtern – Frauen und Männern –, sondern von einer Vielzahl von Geschlechtern – Transgender, Transsexuelle, Lesben, Schwule, Intersexuelle etc. – ausgegangen wird (vgl. Perko 2005). Die Annahme einer ›universalen Schwesterlichkeit‹ ist verbunden mit den 1970er Jahren. Hier entstand eine neue Frauenbewegung als Befreiungsbewegung, die das Ziel verfolgte, Geschichte als Schädigungs- und Ausschlussgeschichte der Frau zu definieren. ›Die Frau‹ als Singular galt als Neuentdeckung, mit der die Gemeinsamkeit ›der Frauen‹ betont wurde. Diese Gemeinsamkeit bestehe, so der Tenor, in der Vereinnahmung der Frau durch Männer, sprich durch das Patriarchat als Gewaltsystem ohne Frauen gegen Frauen. Im Zuge dessen wurde die provokant gemeinte These untermauert, Frauen seien unschuldig, machtlos und Opfer. Das Patriarchat verursache dabei die prinzipielle Entmenschlichung der Frau: weltweit, klassen- und kulturübergreifend. Die Annahme der Frauenunterdrückung, der Frauen als Opfer des Patriarchats etc. verband Frauen, denen Selbstbestimmung wesentlich war, im Sinne einer ›global sisterhood‹ (vgl. Schrader-Kleber 1969). Mit der ›These der Mittäterschaft der Frauen‹ wurde in den 1980er Jahren jene Auffassung verändert. Diese These bezog sich auf die Mittäterschaft von Frauen im Nationalsozialismus und entlarvte Frauen insgesamt als Mitgestalterinnen jeglicher Kulturbildung und jeglicher menschlicher (Un-)Taten und veränderte damit sowohl die Vorstellung des Feminismus als auch die bipolare Einteilung ›Frauen=Opfer, Männer=Täter‹. Nach Thürmer-Rohr ist Mittäterschaft ein Doppelbegriff, der sowohl auf den gesellschaftlichen Prozess als auch auf den je persönlichen Zustand verweist: Er hat eine gesellschaftsanalytische Seite und betrifft die Frage nach der Mittäterschaft der Frauen an historischer Gesamthandlung der Männerkultur und eine subjektiv-moralische Seite, was die persönliche Ver-

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wobenheit der einzelnen Frauen in der patriarchalen Ordnung anbelangt.3 Veränderte diese Haltung die Auffassung einer ›global sisterhood‹, in der auf Differenzen der Frauen keine Rücksicht genommen wurde, so waren aber auch die 1980er Jahre der Frauenbewegung und feministischer Theorien nicht frei von Strukturen der Ausgrenzung und Mechanismen der Reproduktion dieser Strukturen (siehe weiter unten). Das Aufgreifen der Einteilung von Formen der Gewalt durch Johann Galtung und die davon abgeleitete Thematisierung von Gewalt gegen Frauen gilt bis heute als Verdienst der Frauenbewegung: »Erstens hat die Frauenbewegung die alltägliche Gewalt von Männern gegenüber Frauen aufgedeckt […]. Zweitens hat die Frauenbewegung auf einer Erweiterung des Gewaltbegriffes […] bestanden. […] Drittens hat die Frauenbewegung die Gewalt im männlichen Sozialcharakter aufgezeigt […] und somit auch die immaterielle Seite der Gewalt als Gewalt gekennzeichnet. […] Viertens hat die Frauenbewegung Gewalt überhaupt als ein strukturelles männliches patriarchales Phänomen deklariert […].« (Thürmer-Rohr 2003: 11)

Für die Soziale Arbeit ist diese Thematisierung auch in der praktischen Konkretisierung von zentraler Bedeutung. So gelten etwa Frauenhäuser (in den 1970er Jahren entstanden) bis heute als Beispiel dafür, dass aus einer politischen Analyse der Neuen Frauenbewegung eine konkrete Praxis auch der sozialen Arbeit wurde (vgl. Lehmann 2001). Forderungen, Errungenschaften oder Theorien der Frauenbewegung können aus vielen Perspektiven positiv bewertet werden. Doch wäre das nur eine Seite der Medaille. Die andere zu bedenken, eine kritische Bestandsaufnahme zu skizzieren, ist Aufgabe der folgenden Bereiche.

K RITIK DES A NTIJUDAISMUS UND A NTISEMITISMUS Die Kritik des Antijudaismus und Antisemitismus gegen Teile westeuropäischer (autonomer) Frauenbewegung und feministischer Theoriebildung provozierte in den 1980er und 1990er Jahren heftige Auseinandersetzungen. Publikationen von Maria Baader, Leah Carola Czollek, Susannah Heschel, Jessica Jacoby, Gotlinde Magiriba Lwanga, Charlotte Kohn-Ley u.v.m. schildern diesbezüglich Ignoranz bis hin zu wirklichkeitsverdrehenden Bezugnahmen in feministischen Diskursen. 4 »Diesen Sommer werde ich«, so Baader, »meinen Standort nach New York verle3 | Einen guten Überblick, inwiefern die These der Mittäterschaft v.a. in der BRD diskutiert bzw. bestritten wurde, gibt Windhaus-Walser (1988). Als bedeutend für die These der Mittäterschaft der Frauen gilt bis heute Thürmer-Rohr (1989; 1994). 4 | Vgl. Czollek (1998), Kohn-Ley (1994), Heschel (1994), Baader (1993), Jacoby/Magiriba Lwanga (1990).

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gen. Damit endet ein Abschnitt meiner Geschichte, der 1984 mit der Entstehung des lesbisch-feministischen Schabbeskreises begann und der Teil der Westberliner Frauengeschichte und jüdischer Geschichte im Nachkriegsdeutschland ist.« (Baader 1993: 82) Maria Baader resümiert im Zuge dessen den Umgang der Westberliner Frauenszene im Herbst 1989: Die Teilnehmenden »reagierten abwehrend und aggressiv zugleich […]; das Stichwort ›jüdisch‹ war offenbar geeignet, ein ganzes Spektrum von Schuldgefühlen, Verdrängungswünschen, Lebenslügen und Aggressionen zu mobilisieren. Und dann wagten wir, den Umgang der modernen Frauenbewegung mit dem Nationalsozialismus zu hinterfragen« (ebd.: 83f.). Und sie hält ferner fest: »Für mich gilt, dass ich es müde bin, mich im deutschen Kontext aufzureiben. Ich will es nicht mehr aushalten müssen, hier jüdisch zu sein.« (Ebd.: 93) Dass die Ursache der Verabschiedung jener Kritikerinnen eine Auswirkung des Umgangs mit ihnen im feministischen Kontext ist, wird immer wieder deutlich. Die Kritik des Antijudaismus und Antisemitismus gegen Teile westeuropäischer Frauenbewegung und feministischer Theoriebildung bezog sich in den 1980er und 1990er Jahren keineswegs nur auf christliche Feministinnen, von denen einige die Ursprünge des Patriarchats in der hebräischen Bibel zu finden glaubten, den Juden die Erfindung des Patriarchats zuschrieben, welches das Matriarchat abgelöst habe, und zuweilen daraus folgerten, die Juden seien selbst Schuld am Holocaust.5 Jesus galt ihnen als Überwinder und als weibliche Figur – ein Sieg nicht nur des Christentums, sondern der Frauen über Männer, so die Vorstellung.6 Darüber hinaus verschränkte sich das antijudaistische Denken in Teilen der westeuropäischen Frauenbewegung immer vehementer mit Antisemitismus in Form der Gleichsetzung von Israel mit den Juden, wie Charlotte Kohn Ley hervorhebt, was bis heute keine Seltenheit ist.7 Noch in den 1990er Jahren werden Jüdinnen bewertet, wird gewusst, was für sie gut ist und was sie tun sollen: »Ich hatte gehofft, in feministischen Kreisen politische Verbündete zu finden,« so Czollek, die weiter formuliert: »Dann, in Westberlin, bekomme ich Kontakt mit einer Reihe feministischer Therapeutinnen. Von ihnen lernte ich, dass Judentum eine patriarchale Religion ist, die man grundsätzlich 5 | Mulack verdeutlicht, womit Jüdinnen in der Frauenbewegung konfrontiert waren, indem sie darauf beharrt, in der Frauenbewegung sei die Ansicht vertreten worden, dass »die Vernichtung der Juden nichts anderes [ist] als die späte logische Folge von deren früherer Ausrottung matriarchaler Kulturen (und [dass] das) Patriarchat, von den Juden verschuldet, letztlich zurückgeschlagen und im Nationalsozialismus seine destruktive Kraft gegen seine Stifter gewendet [habe].« (Mulack, zit. nach Heine 1994: 17). 6 | Viele bezogen sich auf Alt (1989). 7 | Vgl. etwa Kohn-Ley (1994). Jacoby und Magiriba Lwanga (1990: 104) schreiben in Bezug auf den Umgang mit Antisemitismus und den Umgang mit Jüdinnen in der Frauenbewegung: »Schuld wird den Juden (Synonym für Israel) nun als besonders verwerfliche zugeschrieben, denn ›gerade sie hätten alles besser machen müssen‹.«

G. Perko: Bedenken ablehnen muss. Jüdin und Feministin, das geht nicht. […] Meine Identität wird in Frage gestellt. Deutsche bestimmen immer noch und immer wieder, was und wer jüdisch ist.« (Czollek 1998: 42)

Fern von christlich-religiösen oder feministisch-therapeutischen Zusammenhängen findet sich ein weiterer Umgang mit der Vergangenheit im Rahmen feministischer Theoriebildungen. Die Wirklichkeiten verdrehende Aneignung erlangte Bekanntheit durch die immer wieder wiederholte Formulierung des ›Holocaust gegen Frauen‹ bzw. ›Holocaust der Frauen‹, die insbesondere in Bezug auf Analysen des christlichen Hexenimaginären in den Vordergrund gerückt wird (vgl. u.a. Birkhan 1993). Die Verwendung des Begriffes Holocaust evoziert hierbei die Vorstellung, Frauen seien mehr Opfer als Juden und Jüdinnen während des Nationalsozialismus. Der Begriff Opfer werde, resümieren Jacoby und Magiriba Lwanga, in der Frauenbewegung inflationär gebraucht, und die Konkurrenz um die Erstrangigkeit des Opferstatusnehme vielfach makabre Züge an, vor allem wenn das Stichwort ›Jüdinnen im Nationalsozialismus‹ falle: »Ein Dauerrenner sind z.B. die Hexen. Mit neun Millionen, so die feministische Vox populi, verbrannter Hexen, auf die frau sich als Vorfahrinnen beruft und die sich Lesben gern als Lesben denken, werden sechs Millionen verbrannter Juden doch glatt um drei Millionen überboten.« (Jacoby/Magiriba Lwanga 1990: 99) Historisch noch näher ist die Vorstellung, so Jacoby und Magiriba Lwanga, »alle Frauen seien Opfer des NS gewesen. Eine Zuspitzung dieser These ist die Behauptung, Lesben wären im NS genauso systematisch verfolgt worden wie Jüdinnen und Juden. […] Sie brauchen auch die historische Absicherung ihres Opferstatus über die Shoa.« (Ebd.: 99) In diesem Zusammenhang ist auch folgende Aussage von Alice Schwarzer zu verstehen: »Wir Frauen wissen alle, wovon Jean Améry da redet. Auch wir sind die Anderen. […] Auch wir sind die Minderen, auch wir sind die Untermenschen, mit denen man es machen kann. Uns aber ist Amérys Schock im Erwachsenenleben erspart geblieben. Wir sind von Geburt an die Anderen. Die meisten von uns haben gar nicht erst die Chance, ihr Urvertrauen zu verlieren – sie haben es nie gehabt.« (Schwarzer 1999: 22)8 Hier steht die ›weibliche Geburt‹ diametral der ›Gnade der weiblichen Geburt‹ gegenüber, die – gegen die in den 1980er Jahren heftig diskutierte These der ›Mittäterschaft von Frauen‹ – Frauen von ihrer Verantwortung als Täterinnen im Nationalsozialismus entbinden sollte. Zementiert werden hier Frauen als erstrangiges Opfer, das keine Konkurrenz neben sich duldet. Zweifelsohne sind Frauen qua Geschlecht Diskriminierungen ausgesetzt,9 doch pointieren Jacoby und Magiriba Lwanga eine 8 | Jean Améry, Schriftsteller, war seit 1938 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, wurde durch die Gestapo verhaftet und nach Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen deportiert. Er überlebte und war danach als Journalist und Korrespondent für Schweizer Zeitungen sowie als Schriftsteller tätig. 9 | Young (1996) führt Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, Kulturimperialismus und Gewalt als Unterdrückungsformen an.

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Haltung innerhalb »der« Frauenbewegung, die heute oftmals vergessen wird und für die sie stellvertretend eine Tagung nennen: »Die Tagung ›Frauen als Opfer im NS‹ (Berlin Frühjahr 1989) hatte zwar überwiegend Jüdinnen zum Thema, aber nicht im Titel. Versuche, deutsche Frauen als Täterinnen zu thematisieren, wurden rigoros abgewürgt.« Vorträge wurden gehalten, die »alle Frauen als Opfer zum Thema hatte(n)« (Jacoby/Magiriba Lwanga 1990: 99). Die Kritik des Antijudaismus und Antisemitismus gegen Teile der Frauenbewegung schlug damit in ihr dialektisches Gegenteil um. Im Bemühen, den Opferstatus von Frauen und damit die Polarisierung Mann = Täter, Frau = Opfer durch die These der Mittäterschaft von Frauen aufzulösen, fand über den Cyberfeminismus bis hin zu Queer Theory losgelöst von der Kritik des Antijudaismus und Antisemitismus Aufnahme. Im Rahmen von Queer Studies werden Frauen nicht mehr als (bloße) Opfer gesehen. Antijudaismus und Antisemitismus stehen nicht zur Diskussion. In den Forschungs- und Publikationsbereich schreibt sich ein nochmals anderer Duktus ein: die Benennung von Denkerinnen als Jüdinnen und deren Biografisierung als Frau und Jüdin. So existieren zwar auch aus feministischer Perspektive zahlreiche Auseinandersetzungen zu Hannah Arendts Grundpfeilern ihrer politischen Philosophie,10 doch wird ihre Biografie vermehrt als Ursache bestimmter inhaltlicher Auffassungen herangezogen: Arendt trete als »Androgyne mit dem Charakter psychischer Bisexualität« auf, sie hebe »angesichts ihrer eigenen Erfahrung der Staatenlosigkeit« hervor, dass jeder ein Recht auf Rechte haben müsse; ihre Analysen über das Böse nähmen ihren Anfang »durch ihre persönlichen Verwicklungen in der Geschichte […] Als Jüdin im zwanzigsten Jahrhundert ist sie der unfassbaren Grausamkeit des Holocaust zwar entgangen, seine Wirkung erfasste sie jedoch bis in die Wurzel ihrer Persönlichkeit«, und eine ganz brisante Formulierung lautete: »Sie war Jüdin, musste jedoch nicht um jeden Preis dieses Jüdisch-Sein verteidigen.«11 Diese Zuschreibungen stehen den Forderungen des Rechts auf Selbstdefinition, wie sie auch in Queer Studies formuliert werden, diametral gegenüber. Sie muten umso eigentümlicher an, als es in deutschsprachigen Wissenschaftsbereichen nicht üblich ist, Autobiografisches von sich selbst als Grundlage bestimmter Denkweisen zur Diskussion zu stellen. Insbesondere im letzten Zitat ließe sich die Frage stellen, wer etwas zu verteidigen hätte. Nicht nur in feministischen Forschungen und Gender Studies, sondern auch in Queer Studies werden Antisemitismus, Rassismus sowie die Kritik von Migrantinnen, schwarzen Frauen und Jüdinnen oftmals in einem Atemzug als Reflexionsgegenstand genannt. Doch entpuppt sich die Aufzählung von Migrantinnen, schwarzen Frauen und Jüdinnen immer wieder als politisch korrekt an10 | Verschiedene Auseinandersetzungen finden sich u.v.a. bei Kristeva (2001), Benhabib (1998), Thürmer-Rohr (1996), Honig (1994), Kubes-Hofmann (1994), Nordmann (1994), Nye (1994), Benhabib (1992), May (1990), Young-Bruehl (1982). 11 | Vgl. Kristeva (2001: 55), Leitgeb (2002: 28), Rommelspacher (2002: 84), Hangel (2002: 7, 13ff.).

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mutende und undifferenziert formulierte Begriffstriade, in der die Namen der Kritikerinnen, insbesondere von Jüdinnen, unerwähnt bleiben. Als Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen lässt sich hierbei kein Perspektivenwechsel im Feminismus ableiten, der durch die Kritik des Antisemitismus ausgehend von den 1980er Jahren motiviert wäre. In diesem Sinne muss die Frage von Jacoby und Magiriba Lwanga in Bezug auf Queer Studies reflektiert werden: »Welche Möglichkeit hat eine Jüdin in Deutschland, an jüdische Traditionen, religiöser oder sekularisierter Art, anzuknüpfen und unter feministischen Gesichtspunkt weiterzuentwickeln? […] Besteht ihre Chance in der Assimilation an die herrschende feministische Kultur ohne Judentum?« (Jacoby/Magiriba Lwanga: 1990: 98) Kohn-Ley pointiert für die BRD und für Österreich: »Es ist für eine jüdische Frau unmöglich, sich ohne Selbstverleugnung feministischen Gruppierungen in Deutschland und Österreich anzuschließen.« (Kohn-Ley 1994: 229) Im Rahmen von Queer Studies, wie sie im deutschsprachigen Raum diskutiert werden, ist Antisemitismus bislang kein Thema. In dieser Hinsicht bleibt das Resümee der Tagung »Queering the Humanities« (2004) eine wichtige Erinnerung: »Die Begründungen, der Argumentationsgang, nicht zuletzt die politischen und wissenschaftli chen Referenzen (›Essentialismusvorwurf‹) haben sich in den letzten Jahren wohl beträcht lich verschoben, offenbar aber nicht die Strukturen, nicht die Emotionen. […] Ich hatte den Eindruck eines verfahren-spiraligen Wieder-Erlebens der Konflikte bei der Lesbenwoche 1985 in Berlin, als es um jüdische Lesben und den Vorwurf des Antisemitismus in der deutschen Frauen/Lesbenbewegung ging.« (Hacker 2004)

K RITIK DER R ASSISTISCHEN D ENK - UND H ANDLUNGSSCHEMATA Auch die 1980er Jahre zeichneten sich innerhalb der neuen Frauenbewegung und feministischen Theoriebildung durch heftige Kontroversen aus. Ein zentraler Vorwurf gegen Teile der Frauenbewegung und feministischen Theoriebildung galt der (Re-)Produktion rassistischer Denk- und Handlungsschemata. Publikationen von bell hooks, Avtar Brah, Gloria Joseph, Kader Konuk, Trinht Minh-Ha, Nira Yuval-Davis, Ika Hügel-Marshall, Audre Lorde u.a. zeigen die Kritik, die sich nicht nur auf die 1980er Jahre beschränken lässt.12 Sie gilt dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, dem Universalismus und dem Eurozentrismus,13 aus dessen 12 | Vgl. u.a. Hügel-Marshall (1998); Brah Avtar, Kader Konuk, Trinht Minh-Ha, Nira YuvalDavis in Fuchs/Habinger (1996); hooks (1996); Joseph (1993); Lordes (1986). 13 | Mit Universalismus (von lat. universalis) wird eine Anschauung bezeichnet, die den Anspruch erhebt, die Vielfalt aller Wirklichkeit auf ein einzelnes Prinzip, ein Ordnungsgesetz zurückführen zu können. Eurozentrismus meint die Beurteilung außereuropäischer Gesellschaften bzw. Kulturen nach europäischen (westlichen) Vorstellungen und auf der

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Perspektive die Neue Frauenbewegung und feministische Theoriebildung eine klassen- und kulturübergreifende Wir-Kollektivität beansprucht. Gloria Joseph pointiert bestehende Differenzen zwischen Schwarzen Frauen und der Frauenbewegung: »Die Debatte, ob Rasse oder Geschlecht das zentrale Moment der Unterdrückung sei, hat Schwarze und weiße Frauen in den aktuellen wie in den früheren Befreiungskämpfen getrennt. Feministinnen wenden sich nicht gegen Rassismus und die Folgen von Rassismus. Feministinnen haben nicht die Bedingungen Schwarzer Menschen oder Schwarzer Frauen untersucht […], die sogenannten weiblichen Eigenschaften, die Feministinnen proklamieren, sind bei weißen Frauen nicht dasselbe wie bei schwarzen Frauen […], der Feminismus ist eine weiße Mittelschichtbewegung […].« (Joseph 1993: 113)

Ika Hügel-Marshall erinnert die ehemalige Parole »das Persönliche ist politisch« als eine der weißen Frauenbewegung. Sie vergegenwärtigt die Zeit der Entstehung von Frauencafés, Frauenkneipen, Wohngemeinschaften und Frauenhäusern in Berlin, den gemeinsamen politischen Kampf gegen Unterdrückung und Gleichberechtigung und hält fest: »Meine weißen Mitstreiterinnen, die gesamte weiße Frauenbewegung, hat kein Interesse daran, sich auch mit der Geschichte Schwarzer Frauen vertraut zu machen. Sie wollen sich nicht klarmachen, dass unsere Gesellschaft sowohl sexistisch als auch rassistisch ist. Weiße Feministinnen erkennen nicht, dass auch sie Nutznießerinnen des existierenden Rassismus sind. Dass Rassismus ihnen erlaubt zu ignorieren, wie unterschiedlich weiße Hautfarbe und schwarze Hautfarbe bewertet werden.« (Hügel-Marshall 1998: 82ff.)

Die Aktualität dieser Ausklammerung zeigt Hügel-Marshall sowohl mit dem Prozess der Umkehrung, durch den die Erfahrung und das Wissen von Rassismus nicht nur ignoriert, sondern aberkannt werden, als auch mit der Verlagerung nach außen: »Du weißt doch, wir sind ganz anders als die anderen Frauen, wir sind Feministinnen und haben nichts gegen Schwarze Menschen. Lass doch mal deine Hautfarbe aus dem Spiel, wenn du uns etwas sagen willst. […] Als Feministin sage ich dir: Es gibt Bereiche, wo eine Auseinandersetzung mit Rassismus wichtig und notwendig ist, aber das trifft für uns hier nicht zu.«

Zwar haben einzelne Autorinnen so nach und nach die Kritik des Rassismus reflektierend aufgenommen und in ihre Analysen aus feministischer Perspektive

Grundlage der in Europa entwickelten Werte und Normen; Eurozentrismus ist somit eine Einstellung, die Europa unhinterfragt in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns rückt.

G. Perko: Bedenken

einbezogen, 14 doch erfolgte bis heute in Deutschland und in Österreich keine umfassende Rassismusforschung oder ein umfassender Einbezug jener Kritik.15 Die Aussage Hügel-Marshalls in Bezug auf jene Abschottung – »Ich fühle mich gesichtslos gemacht, nicht berechtigt, so zu empfinden, wie ich es tue. […] Ich soll lernen, Rassismus gefälligst auf die anderen, die Unbekannten zu beschränken« (Hügel-Marshall 1998: 83f.) – ist bis heute aktuell. So erscheint das 2004 veröffentlichte Resümee zwar wünschenswert, doch nicht zutreffend: »Mit ihrer Kritik am deutschen Feminismus haben Migrantinnen, Schwarze und jüdische Frauen die vermeintliche Sicherheit eines feministischen ›Wir‹ nachhaltig erschüttert. Damit wurde ein Perspektivenwechsel im Feminismus eingeleitet, in dem Differenzen zwischen Frauen stärker in den Blick genommen und als soziale Konstrukte verstanden werden.« (Stötzer 2004: o.S)

Wird hierbei der Perspektivenwechsel als vollzogener beschrieben, so verwundert allein die folgende Textpassage: »Im Rahmen interkultureller Frauenforschung, der Forschung Afro-Deutscher sowie in Modellen von Ilse Lenz und Birgit Rommelspacher [werden] die Geschlechterdifferenz innerhalb rassistischer Verhältnisse kontextualisiert und stereotype Konstruktionen der ›Schwarzen Frau‹ oder ›der Migrantin‹ aufgebrochen.« (Ebd. 179) Namenlos bleiben die als ›Afro-Deutsche‹ Bezeichneten. Die Frage danach, wer namentlich benannt und wer nicht benannt wird, führt hier weit über die Notwendigkeit wissenschaftlicher Korrektheit des Zitierens hinaus. Die Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen zeigt sich nicht nur in der Nicht-Benennung, sondern schreibt ein Verhältnis fest, das die einen einschließt, die anderen ausgrenzt: Bestimmte werden genannt, Andere im anonymen Kollektiv identitätsmarkierend (›die Afro-Deutschen‹) aufgehoben. Die Ausgrenzung aus dem wissenschaftlichen Bereich findet hier über das Medium der Publikationen statt. Doch ist sie im akademisch-universitären Bereich alltägliche Praxis. Grada Kilomba Ferreira analysiert, wie schwarze Menschen immer wieder zu Anderen projiziert und stilisiert werden, und beschreibt alltägliche Situationen, deren Subtext das Festschreiben einer doppelten Konstruktion birgt (Kilomba Ferreira 2004): die Festschreibung der ›weißen Kompetenz‹ und der ›schwarzen Inkompetenz‹, mittels derer Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe von akademischen Sphären fern gehalten, an die Peripherien verwiesen und festgezurrt werden. Die Befragung von Seiten weißer AkademikerInnen erfolgt stereotyp. Zur Disposition stehen Schwarze Menschen, denen in akademischer Umgebung von weißen KollegInnen nicht zugetraut wird, AkademikerIn, sondern 14 | Vgl. u.a. Ebner (2001); Frankenberg (1996); Rommelspacher (1995);Schultz (1983).. 15 | Als Hauptgründe des Negierens der Kritik des Rassismus analysiert Rommelspacher (1995) die These vom Patriarchat, wonach alle anderen Machtverhältnisse unwesentlich seien, und sie analysiert die These der Gleichsetzung von Rassismus und Sexismus, wonach alle Frauen in gleicher Weise zur diskriminierten Minderheit gehörten.

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bestenfalls StudentIn zu sein: »Die Konversation findet zumeist ihr Ende mit einer kurzen Bemerkung darüber, wie schwierig es sei, in Europa eine Arbeit zu finden. Damit ist ein seltsamer Zirkel geschlossen: Schwarz-Sein, Naivität, Ignoranz, Verfälschung, Inkompetenz und nationale Bedrohung.« (Ebd. 55) Kilomba Ferreira zeigt mit dieser Praxis den diskursiven Rassismus, mit dem – durch Worte und eine Reihe von Entsprechungen – Identitäten konstituiert respektive aufrecht erhalten werden. Schwarze Menschen werden über den Körper, die Hautfarbe festgeschrieben, ihre Haut wird zum Siegel, zum Abdruck. Kilomba Ferreira benennt Rassismus als Reinszenierung des Kolonialismus und beschreibt in diesem Beitrag akademisch-universitäre Orte als geschlossene weiße Orte, an denen selbstbestimmte Entscheidungen und Definitionen für schwarzen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe unmöglich ist. So mag jener hoffnungsvoll formulierte Perspektivenwechsel auch im Feminismus vereinzelt zutreffen; eine Veränderung der Sichtweise des Feminismus oder der feministischen Theorien steht diesbezüglich jedoch ebenso aus wie ein Perspektivenwechsel im akademisch-universitären Bereich, der längst nicht mehr nur als patriarchale Sphäre definierbar ist. Während in Queer Studies die einstige Kritik des Antijudaismus und Antisemitismus kein reflektiertes Thema ist, sind deutliche Spuren der im Rahmen der Neuen Frauenbewegung und feministischen Theorien formulierten Kritiken in Bezug auf rassistische Denk- und Handlungsschemata zu finden.

A K TUALISIERUNGEN IN Q UEER S TUDIES ? Queer Theory bzw. Queer Studies lassen sich nicht direkt von der Frauenbewegung westeuropäischer Länder oder von feministischen Theorien ableiten, werden aber doch immer wieder in Bezug auf bestimmte Fragestellungen in deren Tradition gestellt (siehe Kasten). Sie wurden im deutschsprachigen Raum aus den USA übernommen und v.a. über Judith Butlers Analysen aufgegriffen, dass Sex (›biologisches Geschlecht‹) immer schon Gender (›kulturelles Geschlecht‹) gewesen ist.16 Im Sinne ihrer Auseinandersetzung mit Geschlecht und Begehren lassen sie sich in drei Richtungen einteilen (die [feministisch]lesbisch-schwulqueere Richtung, die lesbisch-bi-schwul-transgender-queere Richtung und die plural-queere Richtung), zwischen denen es sowohl Übereinstimmungen als auch Differenzen gibt (vgl. Perko 2006).

16 | Eine detaillierte Ausführung zu Queer Theory vgl. u.a. Perko (2005), Hark (2004), Perko et al. (2004), Engel (2002), Polymorph (2002), Jagose (2001), Quaestio (2000), Halberstam (1998), Genschel (1996), Butler (1995), Fausto-Sterling (1993), Lauretis (1991);

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Queere und feministische Fragestellungen Queer Theory bzw. Queer Studies lassen sich nicht direkt von der Frauenbewegung westeuropäischer Länder oder von feministischen Theorien ableiten, werden aber doch immer wieder in deren Tradition gestellt. Eine kurze Skizze ähnlicher Problematisierungen soll dies veranschaulichen. Analyse der (Zwangs)Heterosexualität und Heteronormativität: Queer Theory schließt u.a. an die lesbisch-feministischen Problematisierungen von (Zwangs-) Heterosexualität an. Zentral waren feministische Analysen der (Zwangs) Heterosexualität als Institution und nicht hinterfragte Norm, als System der Zweigeschlechtlichkeit in der Verknüpfung von Herrschaftsform, persönlicher Eigenschaft und sexueller Praxis. Damit in Verbindung stehend, rücken Queer Studies die Auseinandersetzung mit Heteronormativität ins Zentrum. Sie befragen u.a., wie Heterosexualität als Heteronormativität in Geschlechterverhältnissen und weiter gehend in Gesellschaftsverhältnissen verankert ist. 1 Kategorie Geschlecht: Die Einforderung des feministisch(-lesbischen) Subjektes »Frau« war lange Zeit verbunden mit feministisch-politischen Strategien von (Selbst-)Entwürfen und (Selbst-)Gestaltungen weiblicher (lesbischer) Liebes-, Arbeits- und Denkformen. Im Zuge der postmodernen Kritik wurde auch in feministischen Kontexten die Kategorie »Frau« beanstandet. So charakterisiert Monique Wittig diese Kategorie in ihrer ausschließlichen Bedeutung im heterosexuellen System des Denkens und in heterosexuellen ökonomischen Systemen (die Kategorie »Frau« gibt es nur in Relation zur Kategorie »Mann«) und strebt an, die Kategorien des Geschlechts obsolet zu machen.2 Im Zuge der Intention, Geschlecht in seiner Eindimensionalität (heterosexueller Mann/ heterosexuelle Frau) zu dekonstruieren und gleichzeitig mehrere Geschlechter sichtbar zu machen, verdeutlichen Queer Studies Bezüge zu jenen feministischen Problematisierungen. Debatten um Gender und Sex: Diese Debatten führten dazu, dass Queer Theory sich auch vom Feminismus abgrenz(t)en. Die Abgrenzung zentriert sich im Vorwurf, in feministischen Theorien werde der Begriff Gender implizit als heteronormativ aufgefasst und stelle damit keine adäquaten Instrumente für die Analyse von Sexualität bereit. Mit diesem Konstruktionsgedanken zeigt Butler selbst inhaltliche Verbindungen zu feministischen Ansätzen und zugleich deren Veränderung. So galt ihr Simone de Beauvoirs Analyse »Man kommt nicht

1 | Vgl. Rich 1983; Hagemann-White 1984. 2 | In diesem Zusammenhang formuliert Wittig, dass »Lesben keine Frauen« sind. Vgl. Wittig 1980, 1985.

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als Frau zur Welt, man wird es«1, die Ende der 1960er Jahren in der Frauenbewegung als Referenzrahmen aufgegriffen wurde, als ein Ausgangspunkt. Doch erweitert sie diesen Konstruktionsgedanken in Bezug auf Sex, Gender und Geschlechterkategorien. Skandalisierung (struktureller) Gewalt: (Strukturelle) Gewalt gilt als ein Ausgangspunkt feministischer Bewegungen und Theorien: u. a. alltägliche Gewalt von Männern gegen Frauen, Gewalt als strukturell patriarchales Phänomen.2 Gewalt spielt in queeren Kontexten eine wesentliche Rolle. Sie öffentlich sichtbar zu machen, intendieren Berichte von Gewalt gegen queere Menschen: als alltägliche, institutionelle und strukturelle Gewalt. Sie beginnt bereits da, wo es um die Nicht-Wahrnehmung und Nicht-Benennung queerer Menschen geht. Analysen von Gewalt im Kontext feministischer Auseinandersetzungen standen im Zeichen der Befreiung der Frauen. Queer Studies greifen jene Analysen auf – mit dem Unterschied, dass sie den Blick nicht ausschließlich auf Frauen richten. Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen: Im Kontext feministischer Auseinandersetzungen wurde der intersektionale Ansatz als einer beschrieben, der sich gegen die Additionstheorie von Unterdrückung und Diskriminierung wendet. Wie oben dargestellt, greifen Queer Studies diesen Ansatz auf und verbinden ihn mit der Forderung nach politisch-ökonomischer Gleichstellung von Queers mit dem Ziel des Social Justice, d.h. von Partizipationsmöglichkeiten an gesellschaftlichen Ressourcen.3

1 | Vgl. Beauvoir 1951. 2 | Vgl. Thürmer-Rohr 2003. 3 | Vgl. Czollek/Perko/Weinbach 2009.

Ebenso wie feministische Theorien sind Queer Studies keine einheitliche Theorie. Wie positiv sie auch zu bewerten sind, zeigen sich doch immer wieder auch Ausgrenzungsstrukturen, auf die in Form von Kritiken zu Beginn ihrer Etablierung im deutschsprachigen Raum gegen sie aufmerksam gemacht wurde. Eine Kritik richtet sich dagegen, andere gesellschaftliche Regulative als Sex und Gender in ihren Reflexionen auszulassen oder sie nur am Rande zu erwähnen bzw. sich anderer Unterdrückungsformen lediglich im Sinne von Metaphern zu bedienen.17 Dabei sind jene Publikationen am zahlreichsten, in denen das Bedenken von rassistischen Strukturen, das Infragestellen von Nationalstaaten oder 17 | Eine häufig verwendete Metapher ist jene von Geschlecht und Diaspora oder im Exil Lebender.

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das Reflektieren der Bedeutungen, transgender und schwarz zu sein, eingefordert werden (vgl. Ferreira 2002). Der Vorwurf an Queer Theory geht dabei dahin, dass nicht nur die Reflexion allgemein ausgespart bleibt, sondern dass vielmehr schwarze Transgender gar nicht als Subjekte auftauchen, so als gäbe es sie nicht – in einem Diskurs, der von Weißen geführt wird, die selbst ihr Weiß-Sein nicht reflektieren. Verschränkungen von Unterdrückungsmechanismen, z.B. in Bezug auf schwul-lesbische und transgender MigrantInnen bzw. Flüchtlinge, bleiben ausgespart (vgl. Castro Varela/Rodriguez 2000). Insgesamt besagen jene Kritiken, dass Queer Theory nur eine marginalisierte Kategorie herausgreift – Sex/ Gender – und zur Basis des ›Widerstands‹ erklären, womit die Struktur des dominanten Diskurses nicht angegriffen wird. Maria del Mar Castro Varela und Encarnacion Gutierrez Rodriguez formulieren: »Die Auseinandersetzung mit Konzepten wie dem Glora Anzaldúas oder Cherrie Moragas ›Queer of Color‹, die Rassismus, Kolonialismus und Antisemitismus als konstitutive Bestandteile der westlichen Gesellschaft betrachten«, findet kaum Beachtung.« (Ebd.: 103) Rassismus, Kolonialismus und Antisemitismus als konstitutive Bestandteile der westlichen Gesellschaft finden auch in Queer Studies kaum Beachtung. Die Ausblendung beginnt bereits da, wo in historischen Darstellungen der Genese von Queer Theory zu Recht politische Bewegungen (Homophilenbewegung der 1950er Jahre, GAY-Liberation [Homo-Befreiungsbewegung] und der lesbische Feminismus der 1960er und 1970er Jahre) und die Aidskrise genannt werden, 18 doch ausgeblendet wird, dass die Initiator_innen, Queer als positive Eigenbezeichnung zu verwenden, Schwarze und coloured Lesben und Schwule an den sozialen Rändern US-amerikanischer Metropolen waren.

I DENTITÄTSPOLITISCHES D ENKEN ALS P RODUK TION VON (STRUK TURELLER) A USGRENZUNG Sowohl die Frauenbewegung als auch queere Bewegungsformen konstituier(t)en sich immer wieder auch über bestimmte Identitätsmerkmale (z.B. Weißsein). Identität verspricht Sicherheit. Doch Identität grenzt auch aus. Im Sinne von Gruppen oder Bewegungen basieren Ausgrenzungen auf der Etablierung konzeptioneller, abgeschlossener ›Wir‹ in öffentlichen Räumen: ein feministisches ›Wir‹, bei dem Jüdinnen und schwarze Frauen oder women of colour etc. nicht Teil hatten; ein queeres ›Wir‹, in dem queers of colour, schwarze Transgender oder Jüdinnen etc. nicht vorkommen. Diese Konstituierung basiert auf einem identitätspolitischen Denken, d.h. einem Denken im Zeichen einer kulturellen oder essentialistischen Einheit, das stets Ausgrenzungen produziert und Hierarchien setzt, in denen Menschen bewertet werden. Ihm liegt ein Code inne, durch den

18 | Zu den politischen Bewegungen und die Aidskrise, vgl. Perko (2005); Jagose (2001).

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das Wir positiv gesetzt, das Ihr als möglicher Verbündeter gesehen und das Sie (im Plural) als Gegner hervorgebracht wird (vgl. Cavarero 1997). Zwar lassen sich zweifelsohne Unterschiede zwischen Formen von Ausgrenzungen, Motivationen, Prozessen und deren Folgen etc. in Hinsicht darauf analysieren, wer ausgrenzt (so sind zweifelsohne Unterschiede gegeben zwischen z.B. einer Lesbengruppe oder einem Staat als Ausgrenzende). Doch bleiben Strukturen von Ausschlussmechanismen ebenso vergleichbar wie die Tatsache der Ausgrenzung selbst. In diesem Sinne geht es nicht um die Frage, wie viele Menschen ausgegrenzt werden, oder ob jene Menschen andere Orte finden, an denen sie sein dürfen. Vielmehr geht es um das Nachdenken über Denkschemata, denen keine Ausschlüsse inne liegen. In diesem Sinne muss der Blick auf Grundstrukturen und Wurzeln einer mit Identität operierenden Ordnung gerichtet werden, die Zeichen eines allgemeinen ›Wir‹ mit Argwohn betrachtet und Kritik gegen alle eindeutigen und vermeintlich natürlichen Identitäten und Identitätspolitiken formuliert. Dieses Wir meint kein situatives (z.B. ›Wir‹ feiern gemeinsam), kein politisch-strategisches Wir (z.B. ›Wir‹ handeln gemeinsam, weil ›Wir‹ gegen etwas und für anderes sind). Gemeint ist ein identitäres Wir, das einen starren Rahmen vorgibt und die Homogenität des Wir und damit die identitäre Übereinstimmung der je Einzelnen unter allen Umständen aufrechterhalten will. Diesem Einschluss folgt automatisch die Ausgrenzung jener, die dem nicht entsprechen.

A USBLICK Strukturen der Ausgrenzung und Mechanismen der (Re-)Produktion dieser Strukturen sind so sehr in der griechisch-okzidentalen Tradition verankert, dass sie auch politische Bewegungen und Theorien immer wieder charakterisieren, die auf der Suche nach Alternativen zu Herrschaftsstrukturen und -mechanismen sind (vgl. Weinbach 2004).. Erst der radikale Verzicht darauf birgt die Möglichkeit, mit jener Tradition zugunsten der Vielfalt und Diversität von Menschen zu brechen (vgl. Czollek/Perko 2007). In Bezug auf die neue Frauenbewegung könnten Analysen im Hinblick auf die oben beschriebenen Kritiken des Antijudaismus, Antisemitismus und Rassismus zur Veränderung gegenwärtiger feministischer Theorien führen. Anknüpfungspunkte fänden sich im intersektionalen Ansatz (Intersektionalität), wie er auf wissenschaftlich-analytischer Ebene von Kimberle Crenshaw und Patricia Hill Collins eingeführt wurde, der seine politischen und wissenschaftlichen Wurzeln im amerikanischen ›Black Feminism‹ hat. 19 Crenshaw thematisierte die Zusammenhänge von race und gender in den Kontexten von (häuslicher) Gewalt. Collins beschreibt, wie die verschiedenen Unterdrückungssysteme sich wechsel-

19 | Vgl. Collins (1998); Crenshaw (1998).

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seitig konstruieren und stabilisieren. bell hooks thematisiert die Zusammenhänge von race, class und gender (vgl. hooks 2000). Queer Studies müssen, wollen sie nicht jener Tradition der Produktion von Ausgrenzungsstrukturen anheim fallen, Kritiken reflektierend aufnehmen. Eine Aufnahme findet sich bereits in ihrem plural-intersektionalen Ansatz, der von Perko (2005) entwickelt wurde. Mit diesem Ansatz wird die öffentliche Anerkennung verschiedener Lebensweisen von Menschen (Lesben, Schwule, Transgender, Intersexen etc.) unterschiedlicher kultureller Herkünfte, Hautfarben, Klasse, Religionen, Alter, Ability etc. gefordert und gegen Fremdbestimmungen, Heteronormativität und hierarchische Bewertungen von Menschen die Dekonstruktion von identitären Wir-Konstellationen und Selbstbestimmung eingefordert. Dieser Ansatz wird immer mehr im queeren Kontext aufgegriffen; eine erste umfassende Konzeption zu »Queer und Migration« findet sich im Konzept von Vlatka Frketic und wird in der 2008 geplanten Tagung im Rahmen von diskursiv. Verein zur Verqueerung gesellschaftlicher Zusammenhänge in Wien erstmals zur Diskussion gestellt.20 Wenige Aufarbeitungen existieren zum queeren Kontext aus postkolonialer Perspektive (vgl. Castro Varela/Dhawan 2007). Mit den Fokussierungen des plural-intersektionalen Ansatzes gehen Queer Studies mittlerweile weit über das Thema Sex und Gender hinaus, indem sie sich gegen (strukturelle) Gewalt, Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen, denen Menschen ausgesetzt sind, richten. Doch vieles bleibt zu bedenken und zu tun: Das Thema Antisemitismus und Rassismus ist noch lange nicht umfassend reflektiert; Auseinandersetzungen mit der postnationalsozialistischen Gesellschaft (vgl. Messerschmidt 2008) sind bislang zur Gänze ausgespart.

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20 | Vgl. Vlatka Frketic/Persson Perry Baumgartinger: [email protected].

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Gegenkulturelle Archive jenseits von Familie und Geschlecht Mate Ćosić, Johannes Dollinger, Utta Isop, Doris Leibetseder

Q UEERES A RCHIV UND MATERIELLE E RINNERUNG In dieser Einleitung werden die Kritiken und Problematiken an und von Archiven angeführt und die Besonderheiten von alternativen queeren Archiven erwähnt, aber auch Problemfälle dieser queeren materiellen Erinnerungsformen werden beachtet und Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen.

A RCHIV — EIN REPRESSIVES W ERK ZEUG Wie Aleida Assmann erwähnt, beschreibt das griechische Wort ›arché‹ den Anfang, Ursprung, die Autorität, Verwaltung und das Büro. Die problematische Seite der materiellen Erinnerung in Form eines traditionellen Archivs mit Objekten wird bereits durch diese griechischen Bedeutungen enthüllt, da es auch als das Gedächtnis der Autorität gesehen wird und wie Assmann mit der Hilfe Derridas erklärt, so ist die politische Macht an der Kontrolle über Archive interessiert, denn auf diese Weise beherrscht sie auch die Erinnerung (Assman 2010: 343f.). Foucault ist der gleichen Meinung und geht einen Schritt weiter, indem er die Archive als ein »unterdrückendes Werkzeug, das die Bandbreite an Gedanken und Artikulationen einschränkt« sieht (ebd.: 344). In seiner »Archäologie des Wissens« schreibt er: »Das Archiv ist zunächst das Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht.« (Foucault 1981: 187)

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Q UEERES A RCHIV : MATERIELLE I NSTANZ EINES DEKONSTRUK TIVEN A RCHIVS Ann Cvetkovich findet Alternativen für ein konventionelles Archiv, indem sie auch den psychoanalytischen Zugang von Derridas Archivfieber benützt und meint, dass traumatische Erfahrung durch den Erinnerungsverlust geprägt ist, was für Derrida die Logik aller Erinnerung darstellt, die es nicht einmal im Unbewussten schafft archiviert zu werden. Cvetkovich bestimmt die queeren Archive als die materialisierte Form von Derridas dekonstruiertem Archiv, denn sie bestehen aus materiellen Praktiken, die die traditionellen Konzepte der Geschichte herausfordern und die Suche nach der Geschichte eher als psychische Notwendigkeit denn als Wissenschaft sehen (vgl. Cvetkovich 2003: 268).

G ESCHICHTE AUS A BWESENHEIT SCHAFFEN Von großer Wichtigkeit sind die Gefühle für dieses queere Archiv, weil das Trauma nach Sammlungen und Installationen verlangt, die emotionelle Gerechtigkeit ausüben können (vgl. ebd.: 269). Des Weiteren ist die Phantasie für diese innovativen und alternativen Archive von Bedeutung, um eine Geschichte zu kreieren, die auf Abwesenheit und Verlust baut (vgl. ebd.: 271). Für alle alternativen Bewegungen, die darauf ausgerichtet sind, Gegenkulturen, utopische Elemente und Möglichkeiten zu eröffnen, ist es zentral Geschichte aus Abwesenheiten schaffen zu können.

Q UEERES A RCHIV : EIN KOLLEK TIVES KULTURELLES P RODUK T Jack/Judith Halberstam hebt hervor, dass es wichtig ist, gerade weil die queere Geschichte sich vor allem mit individuellen und ungewöhnlichen Personen beschäftigt hat, mehr Augenmerk auf die Konstruktionen der Gemeinschaft (community) zu legen (vgl. Halberstam 2005: 44f.). Halberstam bietet eine konkrete Lösung in Bezug auf diese problematische Seite des queeren Archivs an, indem er/sie auf das Brandon Archiv verweist, das ein kollektives kulturelles Produkt als Antwort auf einen brutalen und phobischen Mord darstellt (vgl. ebd.: 35).

G EGENERZ ÄHLUNGEN ALS K ONSTRUK TION DER G EMEINSCHAF T UND DES S ELBST Besonders bedeutsam sind die Produktion von Gegenerzählungen sowie ein neues Konzept des Archivs, in welchem Untergrundszenen, Nachtclubs und flüchtige Trends miteinbezogen werden. Halberstam beschreibt dies mit Jose Muñoz

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Worten als ein Archiv des Ephemeren (vgl. ebd.: 161). Dieses Archiv soll es ermöglichen, das unterworfene oder bezwungene Wissen (Foucault) zu zeigen 1 (auch in: Halberstam 2011: 23). Lynne Huffer schlägt vor, dass Foucaults Praktiken des Archives – mit all den Bedeutungen des Begriffs, die Aktion, das Denken, das Gefühl, das Zuhören miteinschließend – in seiner Antwort auf Nietzsche auf das »anders Denken« abzielt, um später sogar mehr zu erzielen, nämlich ein anderes Gefühl, oder ein anderes Fühlen (Huffer 2010: 274). Halberstam plädiert dafür, eine ethnografische Forschung mit dem Focus auf Subkultur für das queere Archiv einzusetzen. In diesem Zitat findet sich eine kurze Zusammenfassung zu Halberstams Ideen über das Archiv: »The archive is not simply a repository; it is also a theory of cultural relevance, a construction of collective memory, and a complex record of queer activity. In order for the archive to function it requires users, interpreters, and cultural historians to wade through the material and piece together the jigsaw puzzle of queer history in making.« (Halberstam 2005: 169-170)

A LLIANZ DER*S QUEEREN THEORE TIKERS*IN UND QUEERER S UBKULTUREN Außerdem soll die/der Akademiker*in, queere Theoretiker*in ein vollwertige*r Teilnehmer*in dieser Szene sein und daher als organische*r Intellektuelle*r im Sinne von Antonio Gramsci tätig sein, im Gegensatz zu/r/m traditionelle/n/m Intellektuellen, die nur dazu dient, die politischen Interessen der Elite zu legitimieren und autorisieren, wohingegen aber in der Subkultur eine Allianz zwischen der/m minoritären Akademiker*in und der minoritären subkulturellen Produzentin*en stattfindet: »Where such alliances exist, academics can play a big role in the construction of queer archives and queer memory. Furthermore, queer academic can – and some should – participate in the ongoing project of recoding queer culture as well as interpreting it and circulating a sense of its multiplicity and sophistication.« (Ebd.: 159)

1 | »[…] we need to understand subjugated knowledge as a form of thinking that has been suppressed. It is a set of topics that have become unimaginable as scholarly topics. Queer is often part of subjugated knowledges simply because it has a hard time presenting itself as relevant knowledge.« (Herv.i.O.) Interview mit Halberstam, http://www.trikster.net/1/ halberstam/1.html vom 04.05.2011.

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*) D AS »M ATERIELLE « UND »G EGENKULTURELLE « ZU ARCHIVIEREN FÜHRT ZU EINEM GEGENKULTURELLEN G EDÄCHTNIS Halberstams Kritik, dass die queere Geschichte auf Varianten von Geschlecht und Sexualität reduziert wird beziehungsweise, dass queere Gemeinschaftsvorstellungen auf das ›generalisierte Individuum‹ beschränkt werden, sehen wir als gerechtfertigt an. Die Vorstellung eines ›generalisierten Individuums‹ eröffnet wenig Raum für Fragen nach Strukturen von Klasse und ›race‹ jenseits des individuellen Körpers und der Identität der Einzelnen. Diese Strukturen von Klasse, Geschlecht und ›race‹ lassen sich nicht als die Summe der Individuen und deren Eigenschaften beschreiben, sondern werden durch soziale Beziehungen gekennzeichnet, welche die Individuen zuallererst in soziale Positionen und Unterdrückung pressen und so die Möglichkeiten und Identitäten von Individuen hervorbringen. Klasse und ›race‹ stehen für jene gesellschaftlichen Strukturen, die bedeutsamen Einfluss auf das Leben der eigenen sexuellen und geschlechtlichen Identität ausüben und sich nicht in Sexualität und Geschlecht erschöpfen. Diese gesellschaftlichen Beziehungen können sich im Lebensstandard, in der Erreichbarkeit von Gütern und Zugänglichkeit von sozialen Gemeingütern, in der Qualität der Lebensumwelt, in den Räumen und Abstufungen von Homophobie etc. ausdrücken. Es gibt keinen Grund, Klasse und ›race‹ einen marginalisierten Platz in der queeren Geschichte zuzuordnen, auch besonders weil diese Dimensionen für die Analyse der in marxistischer Diktion Produktionsverhältnisse, der Frage nach der Kapitalisierung sozialer Verhältnisse und deren Einflüssen auf Klasse, ›race‹, Geschlecht und Sexualität stehen. Halberstams Wunsch ein neues Konzept des Archivs zu erarbeiten, das besonderes Augenmerk auf das Unterdrückte legt, überzeugt uns, so dass wir uns bemühen, es mit dem Konzept von Kašić zu verbinden. Oder, wie es die feministische Theoretikerin Biljana Kašić jüngst formulierte, sollten wir von einem »living archive« ausgehen, das lebendiges und intersektionales Wissen produziert: »[I]iving knowledge which intersects artistic, activist and theoretical ruptures in the common process of knowledge production.« Für Kašić birgt das »living archive« das Potenzial »for (re)invigorating the public space by an interactive, participative/inclusive and emancipatory approach« (Kašić 2012, 21). Kašićs Konzept des ›living archive‹ verbindet also den Archivierungsprozess mit der Intervention in den öffentlichen Raum. Diese Verknüpfung von Archivierung und Intervention in den öffentlichen Raum spielt eine bedeutsame Rolle in unserer eigenen Motivation bei der Suche nach queeren und gegenkulturellen Gedächtnissen. Wie Halberstam ausführt besteht eine Notwendigkeit, spezifische Formen der Archivierung des Subkulturellen, Ephemeren, Untergrunds, der Unterdrückten und Marginalisierten zu entwickeln, denn diese Formen von Wissen sind meist zentral für das Verständnis von Gesamtgesellschaften, sozialen Bewegungen, Kulturen und dominanten Werten. Diese gegenkulturellen Inhalte und Gegenerzählungen stellen die Hegemonie einer Kultur oder einer Ideologie infrage. Wir erachten also Halberstams Ansatz

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zum queeren Archiv für einen guten Ausgangspunkt, an welchem wir aber einige fehlende Aspekte ergänzen möchten. Besonders hervorheben möchten wir nicht nur den subkulturellen Kontext, auf welchem Halberstams Fokus liegt, sondern gerade den gegenkulturellen Impetus von Gegenerzählungen und Gegen-Geschichten, welche die Gedächtnisse von Gesamtgesellschaften infrage stellen, wie dies beispielsweise Jan Assmann ausführt. Assmann arbeitet befreiende Aspekte durch Gegen-Geschichten innerhalb des Gedächtnisses und des gegenwärtigen Bewusstseins heraus: »Wir haben es mit dem typischen Fall einer Gegen-Geschichte (›counter-history‹) zu tun. Die Vergangenheit wird aus der Sicht der Besiegten und Unterdrückten so dargestellt, dass die heutigen Unterdrücker darin eine erbärmliche Figur machen und die heute Besiegten als die einzigen und wahren Sieger erscheinen. […] Diese Kritik verweist sehr nachdrücklich auf die kontrapräsentische Funktion des kulturellen Gedächtnisses: die Funktion der Befreiung durch Erinnerung.« (Assmann 2002: 84-85)

Neben dem gegenkulturellen Aspekt möchten wir Halberstams queerem Archiv noch ›das Materielle‹ hinzufügen, im Sinne der materialistischen Tradition einerseits und des Materiellen als Gegensatz zu Ephemerem andererseits.

W IR RE AK TIVIEREN DAS G EDÄCHTNIS MATERIALISTISCHER THEORIE TR ADITIONEN Einerseits beziehen wir uns mit dem Begriff des Materiellen auf eine Reihe von philosophischen und epistemologischen Konzepten des historischen Materialismus und des marxistischen Feminismus mit dem analytischen Fokus auf soziale, kulturelle und ökonomische Produktionsverhältnisse wie auch Produktionsverhältnisse im so genannten Privaten, dem Haushalt beispielsweise. Ebenfalls beziehen wir den Begriff des Materiellen auf vielfältige soziale Bewegungen in syndikalistischer, anarchistischer, kommunistischer Tradition oder aus der Tradition des sozialistischen Feminismus wie auch auf vielfältige alternative Projekte und Praktiken, die mit der Veränderung von Produktionsverhältnissen und Lebensweisen, Lebensformen experimentieren. Uns ist bewusst, dass der Begriff ›Materialismus‹ kontrovers interpretiert werden kann, jedoch werden wir im Rahmen dieses Textes nicht näher darauf eingehen. Wichtig ist, um es in der Tradition des materialistischen Feminismus auszudrücken, dass sich Materialismus auf die materiellen Lebens-und Arbeitsbedingungen von Frauen und minoritären Geschlechtern bezieht, die durch Klasse, Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Diskriminierung aufgrund von Behinderung, Heteronormativität usw. strukturiert werden. Materialistische Forschung untersucht die materiellen Bedingungen, unter welchen sich soziale Arrangements, unter anderem auch die zwischen den Geschlechtern, entwickeln.

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Sie argumentiert, dass alle Arten von materiellen Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle in der sozialen Konstruktion von Geschlecht spielen. Materieller Feminismus berücksichtigt auch, dass Frauen und Männer verschiedener Rassen und ethnischer Herkunft in ihrem niedrigen ökonomischen Status verbleiben müssen, bedingt durch Machtungleichgewichte, welche diejenigen privilegieren, die bereits privilegiert sind und somit den Status quo aufrechterhalten. Kurzum, ›materialistische Analyse‹ bezieht sich stärker auf die (machtgestützten) Bedingungen sozialer Arrangements – auf die Art und Weise der Produktion – wie sich Menschen reproduzieren, unabhängig von ihren Identitäten und Erscheinungsformen (was nicht heißen soll, dass Identität und Erscheinungsform keine wichtige Rolle im Reproduktionsvorgang spielen). Andererseits ist der Ansatz des ›Materialismus‹ keine neue Herangehensweise, sondern eröffnet eine lange und heutzutage oft verschwiegene Sichtweise, die in feministischen Ansätzen und den Gender Studies – beispielsweise in den Werken von Kate Millett (1968; 1969), Juliet Mitchell (1966), Selma James (1975), Mariarosa Dalla Costa & Selma James (1972), Lydia Sargent (1981), Rosemary Hennessy (2000), um nur ein paar zu nennen – diskutiert wird. Weit weniger wurde der Ansatz, die soziale Konstruktion von Sexualität in Bezug auf materielle Bedingungen zu analysieren, auch in den Gay und Lesbian Studies dokumentiert, beispielsweise in der Arbeit von John D’Emillio (1983).

M ATERIELLE B EDINGUNGEN DER A RBEITSTEILUNG IN G ESCHLECHT UND S E XUALITÄT Anstatt die unterdrückenden Vorgehensweisen der Aufteilung und Wertung von Arbeitsprozessen und materiellen Lebensbedingungen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität zu analysieren, wie von Halberstam veranschaulicht, halten sich die Queer und Gender Studies hier an die Theorien von Körper und Sexualität und an das vorherrschende Paradigma des sozialen Konstruktivismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Aber diese Ansätze bieten bestenfalls eine unvollständige Sichtweise auf die Welt und auf globale unterdrückende Strukturen, soziale Beziehungen und Arten der sozialen Reproduktion. Obwohl die Ansätze von Gender und Queer Studies sehr wichtige Erkenntnisse und bedeutende Wahrheiten beinhalten, bleibt es charakteristisch für sie, dass sie das Verhältnis zwischen Geschlecht/Sexualität und den Reproduktionsweisen der kapitalistischen Gesellschaft, also die Arbeitsteilung, tendenziell ignorieren. Deshalb werden hier oftmals Klassifizierung und Funktion von Geschlecht und Sexualität in Bezug auf dauerhaft konstruierte Formen der Arbeitsaufteilung nicht zentral. Doch paradoxerweise bestätigen verschiedene historische und zeitgenössische Zeugnisse über Frauen und queere Erfahrungen die Beziehungen zwischen Geschlecht/Sexualität und kapitalistischer Produktionsweise und Klasse. Die sich verändernden Darstellungen von Frauen in der Geschichte – wie etwa Bil-

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der ›sensibler Frauen‹ in romantischen Diskursen, ›glücklicher Hausfrauen‹ in Wohlfahrtsstaat-Diskursen und ›zwanghafter Konsumfrauen‹ im gegenwärtigen sozialen System verweisen auf die tiefe Verbundenheit mit Veränderungen in der kapitalistischen Produktionsweise (wie zum Beispiel ihrer industriellen und postindustriellen Gesellschaftsorganisation). Dasselbe kann für die ›Geschichte der Sexualität‹ und den Umgang mit gleichgeschlechtlichem Verlangen behauptet werden, die in solch widersprüchlichen Formen wie Foucaults »regulation of species« oder in zeitgenössischen Ausprägungen wie dem »gay market« oder »pink cash« (Dollinger 2010) auftreten – beides im Rahmen kapitalistischer Produktionsweise. Zudem weist auch der gegenwärtige Gebrauch sexualisierter Bilder von Frauen in der Werbung (und im Konsum) auf die Beziehung zwischen Sexualität und Kapitalismus hin. Diese Veränderungen von Sexualität und Geschlecht in Bezug auf die kapitalistische Gesellschaft und ihre sozialen Ausprägungen wurde auch von einigen Soziologen untersucht, wie zum Beispiel Anthony Giddens (1998; 1992; 1991), Lynn Jamieson (1998), Zygmunt Bauman (2003; 1998), Weeks (2007).

K APITALISMUS STRUK TURIERT G ESCHLECHT UND S E XUALITÄT UND UMGEKEHRT

Diese Beispiele zeigen, dass die kapitalistische Gesellschaft, die Beziehungen der Gesellschaftsschichten, die (Geschlechter-)Trennung der Arbeit und die ›Regulierung der Sexualität‹ nicht nur durch Vorstellungen von Sexualität, Geschlecht und Geschlechterrollen strukturiert werden, sondern das auch der umgekehrte Fall gilt; die Arten der kapitalistischen Sozialformen, die Rekomposition von Gesellschaftsschichten und die Organisation der Arbeit bilden alle gemeinsam unsere Vorstellungen über Geschlecht, Geschlechterrollen und Sexualität. Die Veränderungen im Kapitalismus beeinflussen somit also auch signifikante Veränderungen in Sexualität und Geschlechterrollenbeziehungen und definieren die Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gütern. Mit der Berücksichtigung einer ›materialistische Tradition‹ rückt die aktuell allgegenwärtige Essentialismuskritik in den Hintergrund, stattdessen wird es wichtig, zu analysieren, wie Institutionen und Arbeitsteilung Geschlecht und Sexualität formen, um die Reproduktion der kapitalistischen Gesellschaft sicherzustellen (und mit ihr verschiedene Strukturen der Unterdrückung, Entfremdung und Ausbeutung). Materialistische Ansätze können sich als äußerst wichtig im Schaffen von emanzipatorischen und ›living archives‹ erweisen.

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G EGENKULTURELLE A RCHIVIERUNG Von diesem Standpunkt ausgehend wollen wir argumentieren, dass ein Archiv des Ephemeren (Muñoz), das sich auf Subkultur (Halberstam) bezieht, überdies durch ein Konzept des ›gegenkulturellen Gedächtnisses‹ vervollständigt werden muss, das die konkreten Lebens-, Liebes- und Arbeitsbedingungen und kollektiven Praktiken von queeren, freiheitsliebenden und alternativen Menschen hervorhebt. Wir behaupten, dass ›Gegenkulturen‹ ein wichtiger Aspekt der materiellen Analyse sind, da sie sich auf soziale Bewegungen und alternative Experimente beziehen, in welchen versucht wird, soziales Leben, Liebes- und Arbeitsbedingungen jenseits dominanter Praktiken von Kultur, Geschlecht, Sexualität, Ökonomie und Politik zu organisieren. Sowohl der Bezug auf soziale Bewegungen als auch jener auf Gegenkulturen betont die Langlebigkeit alternativer, libertärer oder queerer Organisierungsformen, jenseits ephemerer Erscheinungsformen. Diese langlebigeren Lebens-, Arbeits- und Liebespraktiken ermöglichen eine materialistische Analyse von sozialen Beziehungen in Haushalten und intimen Verbindungen, in welchen Gegenkulturen überleben und sich nicht auf ephemere Phänomene beschränken lassen. Deshalb sehen wir den Begriff der ›Gegenkultur‹ auch im Zusammenhang mit queeren libertären oder alternativen Archiven als besonders bedeutsam an. Laut dem Penguin Dictionary der Soziologie ist ›Gegenkultur‹ historisch gesehen mit dem Aufkommen von neuen sozialen Bewegungen (wie der radikalen Studierendenbewegung) verbunden, die neue und unkonventionelle Theorien und Praktiken zu Politik, Arbeit und Familienleben praktizierten. Diese widersprachen hegemonial akzeptierten Werten, Verhaltensmustern und repressiven Qualitäten konventioneller Familienformen. Diese Definition berücksichtigt jedoch historisch weiter als in den 1970er Jahren zurückliegende Gegenkulturen wie anarchistische und libertäre Praktiken nicht. Das normative Konzept von Familie ist seit jener Zeit bekannt, als der kapitalistische bürgerliche Staat sie ins Zentrum der Nationsgründung rückte. Die Kritik von Marx, Engels, Babel oder anarchistischen Feministinnen wie Voltairine de Cleyre, Louise Michel, Emma Goldman sowie der sozialen Bewegungen und Revolutionen von 1871 (die Pariser Kommune) und der spanischen sozialen Revolution von 1936 (Bürgerkrieg) hinterfragten das Konzept von Ehe, Familie und Arbeit theoretisch und praktisch. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Zygmunt Bauman beispielsweise den Sozialismus als Gegenkultur der Moderne bezeichnet und in ihm beides, »a continuation of the liberal-capitalist culture as well as its rejection«, sieht. Mit anderen Worten, »What remained to be done by socialist counterculture was to draw conclusions the liberal ideology could not, and did not want to draw: that what has been done in politics could and should be repeated in other spheres of human deprivation.« (Bauman 1976: 42f.) An dieser Stelle ist es wichtig anzumerken, dass der Begriff ›Gegenkultur‹ weiter gefasst werden muss als die Begriffe ›life politics‹ (Giddens) oder ›biopolitics‹ (Foucault), welche in den 1960er Jahren aufkamen. Nichtsdestotrotz stellen diese wichtige Aspekte dar, die den Begriff der Gegenkultur bekannt gemacht haben.

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Der Begriff der ›Gegenkultur‹ ist für uns auch deshalb wichtig, weil er sich vom Begriff der Subkultur unterscheidet und nicht auf diesen reduziert werden kann. Obgleich beide in mehr oder weniger großem Ausmaß Bezug auf dominante Kulturen nehmen und in gewisser Weise zumindest deren Vorherrschaft hinterfragen, erscheinen diese Aspekte nicht ausreichend, um zwischen ihnen zu differenzieren. Was Gegenkultur und Subkultur voneinander unterscheidet sind nicht unbedingt die unkonventionellen Lebensweisen und Minderheitenpositionen, sondern die Idee höchst politisierter Opposition gegen eine Gesamtgesellschaft, sowie der aktivistische Wunsch, diese radikal zu verändern, ohne sich auf Subkulturen zu beschränken. Sie zielt darauf ab, ihre Minderheiten- und subkulturellen Grenzen zu überwinden und jene gesellschaftlichen Beziehungen selbst aufzulösen, die sie in diese Minderheiten- und Gegenposition bringt. Dies funktioniert sowohl durch konkretes Bemühen als auch durch das Schaffen von »cultures of resistance« (Anarchist Federation 2010: 19, 23), in denen alternative Experimente mit verschiedenen Lebensformen nur einen Aspekt darstellen. Wir denken, dass die Verwendung des Begriffs der Gegenkultur bereichernd für Halberstams Auffassung von Archiven ist, weil der alleinige Fokus auf den ephemeren Charakter von queeren Archiven und queeren Erinnerungen eine Prolongierung des subkulturellen Status von queerer Kritik an der Gesellschaft bedeutet, und damit oft die beständigeren materiellen Lebensbedingungen queerer Menschen ausgeschlossen werden. Stattdessen fokussieren wir nicht nur den Moment (den ›cairos‹), das Ephemere, sondern stellen jene langlebigen, gegenkulturellen und alternativen Lebenspraktiken in den Mittelpunkt, die versuchen, Gesellschaft als Ganzes infrage zu stellen. Jedoch ist es wichtig klarzustellen, dass Gegenkulturen Gesellschaften als Ganzes nicht in eine Alternative einschließen wollen, sondern Gesamtgesellschaften für eine Vielheit von Organisierungen so offen als möglich halten wollen. Wir begreifen Gegenkulturen als eine Möglichkeit, erneut Bündnisse alternativer Lebensformen zu initiieren, die gesamtgesellschaftliche Organisierungsformen mit geringerem Zwang, geringerer Gewalt und weniger Hierarchie als die bereits bestehenden experimentieren und herstellen können. Gegenkulturelle Gedächtnisformen eröffnen Möglichkeiten, Techniken und Praktiken der Verkörperung, des Beziehungsauf baus und von Gegenerzählungen, jedoch nicht ausschließlich diese, zu analysieren. In Verbindung mit Halberstams Gedanken zu Archiven eröffnen gegenkulturelle Gedächtnisformen zusätzliche Perspektiven auf die Konstitution von Gemeinschaft und Selbst, durch das Experimentieren mit alternativen Konzepten von kollektiven Wohnformen, Ökonomien und Familie jenseits von identitären Zielen (wie z.B. lesbischer und schwuler Identitätspolitik). In libertären, geldkritischen und alternativen Projekten wird besonders darauf geachtet, die Privilegierungen durch kapitalistische und andere Herrschaftsformen, Identitätspolitiken und Ausschlüsse, die durch Praktiken der Arbeitsteilung hergestellt werden, zu unterlaufen. In diesem Sinne liegt unser Fokus nicht auf Körper und Sexualität, sondern auf dem Aspekt der Arbeitsteilung zwischen Geschlechtern.

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G EGENKULTURELLE UND ALTERNATIVE K ONSTRUK TIONEN DES S ELBST UND DER G EMEINSCHAF T Im folgenden Kapitel möchten wir das Projekt des gegenkulturellen Archivierens weiterentwickeln, indem wir Begriffe wie ›Familie‹, ›Haushalt‹ und ›intime Beziehungen‹ in die Debatte miteinbeziehen. Wir tun dies, weil Institutionen wie ›Familie‹ und ›Haushalt‹ eine lange Geschichte innerhalb der materialistischen Analyse aufweisen. Weil diese Begriffe als solche von materialistischen, feministischen, queeren und gegenkulturellen Standpunkten aus gesehen hoch kontrovers sind und speziell der Begriff ›Familie‹ im letzten Jahrzehnt von LGBT-Aktivistinnen und -Aktivisten in ihrem Kampf für Gleichberechtigung wiedereingeführt wurde. Kollektive Lebensformen, wie Haushalte, Familien, Wohngemeinschaften, Kommunen dienen uns als Beispiele für nicht-ephemere, langlebige, materielle Praktiken. So haben wir im letzten Teil dieses Aufsatz Beispiele von Gegenerzählungen über Familien, Haushalte und intime Verbindungen angeführt, die Alternativen zu konventionellen Vorstellungen von Familie und zur lesbischen und schwulen Identitätspolitik aufzeigen.

A RCHIVIERUNG DER ›FAMILIE ‹, DER ›H AUSHALTE‹ UND › INTIMER B EZIEHUNGEN ‹ — EINIGE THEORETISCHE B ETR ACHTUNGEN Seit dem 19. Jahrhundert wissen wir um eine Traditionslinie von alternativen, freiheitsliebenden und nicht-heteronormativen Gemeinschaftsgründungen. Trotz dieser langen Geschichte von Experimenten, Analysen und möglichen Alternativen zum Model der konventionellen Familie, werden solche Formen von Wissen und Gegenerzählungen, heutzutage vernachlässigt, an den Rand gedrängt und ignoriert. Deshalb schrieb David R. Mace 1978: »It is therefore not altogether surprising that the counterculture in its violent rebellion against modern American society, should have turned back to discarded family forms and tried to revive them in a modern setting« (Stinnett/Birdsong 1978: viii). 1978 stellten Stinnet und Birdsong beispielsweise die Entwicklung sechs unterschiedlicher, alternativer Lebensstile in den USA fest. Dazu zählten sie: Außereheliche, sexuelle Beziehungen, Swingen, Kohabitation, Kommunen, Vielehen und Familien mit alleinerziehenden Eltern. Sie gingen der Frage nach, warum die 1960er und 1970er Jahre eine derartige Explosion an alternativen Lebensstilen hervorgebracht hatten und kamen zu dem Schluss, dass viele Menschen mit traditionellen Familienmodellen unzufrieden waren. Diese Unzufriedenheit entwickelte sich nach der Analyse von Stinnett und Birdsong aufgrund eines ›Materialismus‹, einer Tendenz Menschen als Dinge anzusehen, aufgrund der immer schneller werdenden technologischen Gesellschaft, aufgrund einer immer toleranter werdenden Gesellschaft, aufgrund der Entstehung neuer Lebensorientierungen, die über eine technologisch-kontrollierte, wettbewerbsorientierte, kapitalistische Gesellschaft

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hinausgehen, aufgrund eines größeren Individualismus und einer größeren Entfremdung, und schließlich aufgrund der Desillusionierung in Bezug auf traditionelle Ehe und Familie. Der konservative Theoretiker Ferdinand Mount konstatierte 1982 Feindseligkeit und Propaganda in den alternativen Angriffen auf die hegemoniale Lebensform der Kernfamilie: »Most of us accept the face value the claims of those who present themselves as the real subversives, feminists, anarchists, hippies, utopians and radicals – people who are rebelling against the ›conventional‹ customs and obligations of the family. (In this view …) the family is a source of trouble. […] The family is second-best, pedestrian, material, selfish. Alternative families are promoted – communes, party cadres, kibbutzes, monasteries.« (Mount 1982: 3)

Mount versucht hier, das Konzept der konventionellen Familie ahistorisch und universell als subversive und alternative Geschichte von Liebe und Ehe darzustellen. Er setzt Familie mit einer rettenden Einheit des Widerstands gegen Kirche und Staat gleich; sie ist für ihn die ›wahre Alternative‹ im Gegensatz zu der großen Anzahl an alternativen ›Pseudofamilien‹. Beide Standpunkte, obwohl offen pessimistisch gegenüber alternativen, ›intimen Beziehungen‹, sind aus dem einfachen Grund interessant, weil sie bereits zu dieser Zeit einräumten, was heute offensichtlich ist und dass das, was in den letzten vier Jahrzehnten beobachtet werden konnte – nämlich, dass der Prozess einer Pluralisierung von »family forms and the ways of familial living« (Švab 2000: 223), intimen Beziehungen, Sexualität, der Rückgang der (heterosexuellen) traditionellen Ehe und das Interesse von immer mehr Menschen mit neuen Formen intimer Beziehung zu experimentieren – Fakt ist. Diese Aspekte beinhalten Möglichkeiten, über die Subkultur hinaus, neue Allianzen alternativer Arten der Lebensführung und libertäre, queere Gesellschaftsstrukturen mit weniger Zwang, Gewalt, Hierarchie und Unterdrückung zu schaffen. Dennoch bleibt bezeichnend, dass diese Autoren die Ursprünge der Veränderungen hauptsächlich im subjektiven Bemühungen gegenkultureller Menschen sehen, so wie sie auch deren Originalität verleugnen, indem sie diese entweder als vergangene, ›verworfene Familienformen‹ oder ›Pseudofamilien‹ bezeichnen. Behauptungen dieser Art neigen dazu, den Begriff der Familie als transhistorische, unveränderbare Institution, wie im Falle von Mount, darzustellen und materielle Gründe für Veränderungen zu ignorieren, indem sie diese hauptsächlich als Auswirkungen des heutigen, überzogenen Individualismus sehen (vgl. Jamieson 1998: 170f.; Weeks 2007: 124-129). Unserer Ansicht nach weisen diese Interpretationen eher auf ideologische Standpunkte hin, als dass sie korrekte Argumentationen hinsichtlich der ständigen Veränderungen darstellen. Doch weiter in der Zeitlinie. 1997 stellt Udo Rauchfleisch die wachsende Anzahl an Einfamilienhaushalten, gleichgeschlechtlichen Eltern und Hausmännern für Deutschland fest. Er

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verweist auf die steigende Anzahl der Forschungen, die den Trend der Pluralisierung von Familienformen bestätigen. Dies zeigt sich auch in weiteren Forschungen über diese Thematik speziell aus der Soziologie. So sieht beispielsweise Anthony Giddens (vgl. 1998; 1992; 1991) die Veränderungen der Intimität dialektisch als Kombination von strukturellen Veränderungen und Veränderungen auf der Akteursebene. Er bezieht sich im Speziellen auf die Differenzierung zwischen Moderne und dem was er als ›reflexive‹ oder ›Hochmoderne‹ bezeichnet. Was diese sozialen Formen voneinander unterscheidet, ist ihr Verhältnis zu Tradition und Autorität. Giddens zufolge sind die Veränderungen im Intimleben der heutigen Gesellschaft eine Folge der Dynamik der Moderne – einer Loslösung aus sozialen Institutionen und somit einer Enttraditionalisierung des täglichen Lebens. Obwohl sich die Moderne von Beginn an in Opposition zur Tradition positionierte, bleiben die Wirkungsweisen der Tradition häufig im alltäglichen Leben bestehen (vgl. Giddens 1998: 118). Jedoch wurde mit dem Auftreten der Hochmoderne der Alltag demokratisiert (vgl. ebd.), womit eine Abnahme des Einflusses von Tradition und Autorität als Referenzpunkte für die soziale und individuelle Identität, für Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten einherging. Durch die wachsende Dynamik der Moderne wird das Individuum mit der Notwendigkeit, sich selbst zu erschaffen, konfrontiert. Identität sowie Lebensorientierung, hören deshalb mehr und mehr auf, eine Frage von ›sozialen Rollen‹ (vorgeschrieben von einigen ›externen Einflüssen‹ wie beispielsweise Tradition) zu sein und werden tatsächlich zur Selbstidentität, zur aktiven Erschaffung jedes einzelnen Individuums (vgl. Giddens 1991). Diese Veränderungen entstanden jedoch nicht nur strukturbedingt durch den Kapitalismus. Giddens (1992) sah Strömungen wie die Frauenbewegung und die Schwulen- und Lesben-Bewegung als, wie er es ausdrückt, Wegbereiter dieser Veränderungen an. Sie bewirkten diese Veränderungen durch die Ablehnung vorherrschender Werte sowie durch das Experimentieren mit anderen Intimitäten, im Besonderen mit dem Offenlegen von Intimitäten (vgl. Giddens, nach Jamieson 1998: 7f., 158-166), wofür die gleichwertige Beziehung der Partner entscheidend ist. Weeks folgt der Argumentation Giddens und zieht daraus den Schluss, dass wir »in a world of transition, in the midst of a long, convoluted, messy, unfinished but profound revolution that has transformed the possibilities of living our sexual diversity and creating intimate lives« (Weeks 2007: 3) leben, was auch die Formen der Intimität, der Familie und des Haushalts tiefgreifend verändert hat. Die meisten Publikationen unterstützen plurale und alternative Arten der Lebensführung und setzen sich mit gegenkultureller Selbst- und Gemeinschaftsgestaltung fasziniert auseinander. Über verschiedene Auffassungen von Familie wird auch in den unten folgenden Ausschnitten aus Interviews reflektiert, in denen Menschen mit verschiedenen gegenkulturellen Hintergründen ihren Bezug zu dem Begriff der Familie darlegen. Einige wollen diesen Begriff durch Wörter wie Haushalt oder ›tribe‹ ersetzen, andere definieren den Begriff auf eine

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Art und Weise, welche dem engen Zusammenhang von Nation, Staat und Familie entgegenwirken. Im letzten Kapitel gehen wir näher auf diese Interviews ein.

Q UEERE F AMILIEN UND QUEERE P OLITIK ERSCHWEREN L ESBEN - UND S CHWULENPOLITIK In der Publikation »Queer families – Queer Politics. Challenging Culture and the State« aus dem Jahr 2001 argumentieren Mary Bernstein und Renate Reimann, dass »[queer families] not only challenge culture and the state, but also, because of their diversity, complicate lesbian and gay politics.« (Ebd.: 2) Mit anderen Worten: »Queers of color, low-income LGBTs, resistance to dyadic coupled bliss, preference for nonmonogamy, same-sex couples wanting children, lesbians not wanting children – all confound heteronormativity, contest the hegemonic family ideal, and complicate lesbian and gay politics.« (ebd.:  5) Im Sinne von Bernstein und Reimann bezieht sich Familie auf »groups of individuals who define each other as family and share a strong emotional and/or financial commitment to each other, whether or not they cohabit, are related by blood, law, or adoption, have children, or are recognized by the law.« (Ebd.: 3) Die kleine Pilotstudie, die wir hier präsentieren, verwendet den Begriff Familie auf tautologische Art und Weise. Familie wird definiert als das, was die Interviewten selbst darunter verstehen, bzw. wird Familie durch von den Interviewten selbst gewählte Begriffe ersetzt. Allerdings nahmen wir Forscher*Innen Einfluss auf die Bedeutung des Begriffs Familie, indem wir über anarchistische, libertäre, queere, solidarökonomische und andere alternative Kommunikationskanäle unsere Interviewpartner*innen auswählten. Folglich entwickelten sich im Rahmen unserer Interviews hoch politisierte und spezielle Formen von intimer Kollektivität und Familie.

Q UEERE A LLIANZEN JENSEITS VON S E X , G ESCHLECHT UND S E XUALITÄT Aus der Perspektive eines gegenkulturellen Gedächtnisses bzw. Archivierens ist es das Ziel, queere Allianzen jenseits von Geschlecht und Sexualität zu bilden und gegenkulturelle Archive nicht auf letzteres zu reduzieren. Wir schlagen vor, dass der Fokus gegenkulturellen Archivierens auf den materiellen Lebens- und Arbeitsbedingungen von libertären, queeren, alternativen Menschen liegt und dadurch zur Vermassung des Diskurses und der sozialen Bewegungen beiträgt. Wir folgen Bernsteins und Reimanns Verständnis von queerer Politik als Destabilisierung von Kategorien und Identitäten in Konzentration auf Inklusion, als eine Hervorhebung von Schnittpunkten und als Werkzeug zur Schaffung von Koalitionen zwischen ungleichen Gruppen (vgl. ebd.:. 3):

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen »Especially the intersections for example between class, gender and sexuality lead to concealment of poor queer families within the movement, because they don’t fit into the model minority: Terry Boggis, director of Center Kids at the Gay and Lesbian Community Services Center in New York, argues that the creation of the model minority, particularily by the lesbian and gay parenting movement, increases the marginalization and invisibility of poor queer parents. […] For example, the lesbian and gay parenting movement ignores issues of social support and public services for poor queers […].« (Ebd.: 9)

Q UEERE B ÜNDNISBILDUNG DURCH DIE K ONZENTR ATION AUF I NTERSEK TIONEN Die Öffnung und das Zurückdrängen von identitären Momenten innerhalb der queeren Bewegungen sind für uns von zentralem Interesse, da dadurch auch Anforderungen von Markt und Staat infrage gestellt werden können. Unser Anliegen ist es, soziale Bewegungen wie feministische, anarchistische, Lesben- und Schwulen-Bewegungen und Bewegungen für soziale Gerechtigkeit zu verknüpfen, indem verschiedene Intersektionen wie Klasse, ›race‹, Behinderung, Armut, Ethnie etc. miteinander in Verbindung gebracht werden, gerade weil wir denken, dass gegenkulturelle Gedächtnisse durch den Bruch mit Identitäten funktionieren. Um gegenkulturelle Archivierungen und gegenwärtige gegenkulturelle Aktivitäten zu stärken, konzentrieren wir uns auf materielle Aspekte, die verschiedene soziale Bewegungen jenseits von Geschlecht und Sexualität verbinden, besonders jedoch auf ökonomische Gerechtigkeit. Laut unseren Ergebnissen kombiniert das gegenkulturelle Gedächtnis eine Menge an verschiedenen Intersektionen, indem es das allgemeine Verständnis von ›Familie‹ infrage stellt. Wir denken, dass die Freiheit, ein gegenkulturelles Gedächtnis und Archiv zu erzeugen, eine Fülle an sozialen und ökonomischen Vorstellungen und Experimenten benötigt, um sich zu entwickeln. Wie es Sushila Mesquita für queere Familien ausdrückt: »Dazu gehört etwa die Bereitstellung umfassender ganztägiger, qualitativ hochwertiger und ausreichend finanzierter öffentlicher Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen […]. Elternschaft sollte kein Klassenprivileg sein, die Kosten für die Kinderbetreuung vielmehr als öffentliche Aufgabe der Reproduktion künftiger Generationen verstanden werden. Die Forderung einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung und der gerechteren Aufteilung von reproduktiver und produktiver Arbeit fällt ebenso unter die notwendigen flankierenden Maßnahmen wie die Forderung nach leistbarem Wohnraum und Zugang zu einer guten Ausbildung für alle. […] Zum anderen hat jede Person Anspruch auf eine umfassende Kranken- und Sozialversicherung […] sowie auf eine eigenständige Existenzsicherung – das heißt Anspruch auf Sozialhilfe und Arbeitslosengeld bzw. auf ein bedingungsloses Grundeinkommen […].« (Mesquita 2011: 270f.)

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Wir würden hier noch die Forderung ›zu kommen und zu gehen‹, also nach einem unbeschränkten Bleibe- und Bewegungsrecht, hinzufügen.

G EGENKULTURELLES G EDÄCHTNIS : D IE A RCHIVIERUNG INTIMER B E ZIEHUNGEN Die hegemonialen Repräsentationen von Kernfamilien in der Öffentlichkeit formen sowohl das individuelle wie auch das kollektive Gedächtnis in westlichen Gesellschaften. Während solche Vorstellungen das Bild der heterosexuellen Familie seit einem Jahrhundert geprägt haben, sind Bilder queerer Familien erst kürzlich der breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden – beispielsweise durch Medien, Werbung und LGBT-Politik. Solche Darstellungen sind jedoch häufig lediglich Nachahmungen ihrer heterosexuellen Originale, wie ein Poster der Stadt Wien zeigt, auf dem zwei Frauen und ihr Pflegekind zu sehen sind. Das Poster repräsentiert die gesellschaftliche vorstellbare queere Familie: Zwei Elternteile, die der Abbildung nach der Mittelschicht zuzurechnen sind, und eine stabile, monogame und im besten Fall legalisierte Beziehung führen, und ein oder zwei Kinder haben. Egal ob hetero oder queer, solche Ideal-Vorstellungen stimmen nicht mit der existierenden sozialen Realität überein, die sich mehr und mehr durch geschiedene Ehen, Patchwork-Familien, Alleinerziehende und/oder polyamouröse Formen intimer Beziehungen auszeichnet. Viele dieser kollektiven Sozialformen wurden bewusst gebildet, um der vorherrschenden Familienform entgegenzutreten. Sie waren für uns von Interesse, als wir im Jahr 2009 damit anfingen, Menschen, die in alternativen, nicht-traditionellen, Familienformen leben, über ihre Erfahrungen zu befragen. Mittels eines internetbasierten Fragenkatalogs sammelten wir narrative Daten zu den Themen Haushalt, Familie, Kommunenund Gemeinschaftsleben, Elternschaft/Kindererziehung und sexuelle Identität und präsentierten erste Ergebnisse auf einer Konferenz zu »LGBT families: the new minority« in Ljubljana/Slowenien (2009). Einige Ergebnisse bieten interessante Einblicke in das tägliche (Familien-)Leben innerhalb alternativer intimer Beziehungen und stellen wichtige Gegenerzählungen dar, die zur Schaffung von Archiven eines queeren Gedächtnisses beitragen und als Beispiele für alternative Konstruktionen von Gemeinschaft und Selbst angesehen werden können. 2

2 | Jahreszahlen und Datumsangaben beziehen sich auf das Jahr 2009. Da die Zitate im Original beibehalten wurden, können Rechtschreibfehler und andere Fehler auftreten.

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W AS/W ER IST EINE ›F AMILIE‹? — O FFENE , VAGE , UNGE WOLLTE UND FEHLENDE B EZEICHNUNGEN In einem ersten Interessensschwerpunkt befragten wir die Interviewten nach ihrer Definition von ›Familie‹ und wen sie als dazugehörig ansehen würden. Für Caroline, eine 19-jährige College-Studentin aus Boston/Massachusetts, besteht ihre Familie aus ihren drei Müttern (»two from birth, and one-step mother through marriage«), den drei jüngeren Schwestern, einer älteren Schwester und einem älteren Bruder. Innerhalb dieses Personenkreises differenziert sie zusätzlich anhand räumlicher Nähe bzw. Distanz: »I am closest with my three youngest sisters, because we are the ones that share a house. My older siblings live with the mother that I do not live with, so I am not as close with them.«

Die Mutter, mit der sie nicht zusammenlebt, ist die erste Partnerin ihrer leiblichen Mutter. Obwohl sie schon seit vielen Jahren getrennt leben, sieht Caroline die erste Partnerin ihrer Mutter noch immer als Teil der Familie. Eine ähnliche Distanzbeziehung findet man bei den Aussagen von Lisa, einer 45-jährigen Frau-zu-Mann-transgender Alleinerzieherin mit zwei Söhnen in Kanada, wenn er seinen Ex-Partner, der in einem anderen Haushalt lebt, als Familienmitglied ansieht. Doch auch Lisa nimmt eine Unterkategorisierung des inneren Kreises innerhalb der Familie vor, während er über seine Erinnerungen berichtet: »I see my family as a family of three equal people where everybody has a right to be him or herself. […] My family is what is commonly called a single parent family.«

Jimmy ist ein 31 Jahre alter Mann, der mit drei anderen Erwachsenen und zwei Kindern in einem von vielen Häuserblocks, der Teil eines legalisierten »squats« in Amsterdam ist, lebt. Trotz dieser scheinbar radikalen Gemeinschaft kommentiert Jimmy einige Probleme, mit denen sich queere Personen in solchen Kontexten konfrontiert sehen: »As we are also still dealing in our radical communities (or scenes) with sexism, homo-, queer- and transphobia, racism and classism, […] we are also still dealing with getting rid of the nuclear family as the norm. Though the variants are accepted and many radical communities in this part of the world have a history with alternative formats, the majority of people entering a radical community are raised in a mindset that places the nuclear family as the right and most healthy surrounding to raise a kid in.«

Wie er angibt, spiegelt nicht einmal die Welt außerhalb des ›squats‹ im Stadtzentrum Amsterdams solche Vorstellungen wider, »[since] there’s not a whole lot of families that fit the tight nuclear family format«. Daher spricht Jimmy über

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seine »issues with the concept of ›family‹« und fordert ein weitgefächertes und kontextualisiertes Verständnis des Begriffs, das in folgendem Zitat seinen Ausdruck findet: »[I]t’s still depending on the context, and who is asking, on who I mention as my family. So it’s either 1) biological connections (incl. my parents, my brother, my kids), 2) my household (incl. my housemates and kids), or 3) includes my long term and trusted good friends who happen not to live in the same country as I do.«

Frank, ein 52 Jahre alter Mann, distanziert sich ebenfalls kritisch vom Begriff Familie. Er lebt schon seit ungefähr elf Jahren in der deutschen Kommune Niederkaufungen. Als er nach einer Beschreibung bezüglich der Zusammensetzung seiner Familie befragt wird, antwortet er: »Rather than use the term family I would use the sociological term ›primary group‹ to describe those people closest to me. This primary group includes most, but not all, of my living group. It includes my lover/partner, who is not a member of the commune. It includes some members of my men’s radical therapy group. In addition, it includes the members of my work collective. Finally, I would include one other close woman friend living outside the commune. Most of these people are men and women whom I got to know since I have been in the commune. They are mostly people with whom I have shared good experiences with and with whom I feel the most empathy.«

Obwohl er versucht, den Ausdruck ›Familie‹ zu vermeiden, verwendet er ihn trotzdem, jedoch nur wenn er sich auf seine ›biologische‹ Familie bezieht, von der einige Mitglieder (Eltern, Brüder) bereits verstorben sind und andere keine ›bedeutende Rolle‹ in seinem Leben spielen. Sie sind von geringerer Bedeutung als frühere Partner oder politische Gefährten, die außerhalb der Kommune leben. Am wichtigsten in seinem Leben sind für ihn seine Kommunarden und »a couple of very close friends«. Während er sein Alltagsleben in der Kommune beschreibt, bezieht sich Frank auf andere Mitglieder mit Kindern und deren Formen des Familienlebens: »We live in […] small living groups rather than nuclear families with the aim of reducing traditional, nuclear-family and patriarchal structures and roles. Some of the living groups have parent couples with children living together, but there are also single parents with children in some groups. One couple consciously live apart within the commune, and some communards have partners outside the commune, their children then having rooms in both homes.«

Wenn man die Aussagen der Interviewten bezüglich der Auffassungen von Familie analysiert, zeigt sich auf der einen Seite, dass der Begriff selbst immer infrage gestellt wird. Aufgrund der Assoziation mit dem hegemonialen Konzept

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der Kernfamilie, die auch in alternativen Kontexten wie einer Kommune stark zu sein scheint, entsteht offensichtlich ein Bedürfnis nach anderen Begriffen, die nicht mit dieser Assoziation verknüpft sind. Während diese Strategie von Frank bewusst verwendet wird, um etablierten Ideen bezüglich der Familie entgegenzuwirken, kann man in seinen Erzählungen erkennen, dass er auf den von ihm abgelehnten Begriff ›Familie‹ zurückgreift, wenn er sich auf seine Eltern und Brüder bezieht. Auf der anderen Seite wird der Begriff recht offen gehalten. Die Anzahl der Personen, welche als Familie gelten, kann sich aufgrund von räumlicher Nähe unterscheiden, ist jedoch nicht notwendigerweise durch einen gemeinsamen Haushalt gekennzeichnet. Konstellationen von Eltern bestehend aus drei Müttern, keinem Vater oder Freundschaft ohne sexuelles Verhältnis passen alle zu so einem neu gefassten Begriff von intimer Kollektivität. Wie wird eine Familie oder eine Form intimer Kollektivität gegründet? Gegenpraktiken zwischen persönlichen Wünschen, Institutionen und politischem Aktivismus Nach diesen Selbstdefinitionen von ›Familie‹ durch die Interviewten, soll nun ein Blick auf die Familiengründungen geworfen werden. Caroline aus Boston, die sich selbst als »Queerspaw« bezeichnet, bezieht sich auf ihre Eltern und deren Weg zur Elternschaft. Ihre leibliche Mutter und deren erste Partnerin entschieden sich für eine künstliche Befruchtung: »I do not know my father. Insemination was legal but anonymous. At the time, finding sperm banks and doctors to do the insemination was difficult, but not impossible. There were not as many sperm banks and family reproductive clinics as there are now. Thankfully, there is a queer health center in Boston that had some of the only family reproductive services for same-sex couples or couples with transgender members at that time, and my parents were thus able to become pregnant with me.«

Sie setzt den Gründungsmoment ihrer Familie mit ihren zwei Müttern an, die sich später trennten und wieder heirateten, einer Schwester und ihr selbst. Der Vater spielt keine große Rolle – sie erwähnt ihn im Interview nur im oben angeführten Zitat. Es wird deutlich, dass diese Art der Familiengründung zur damaligen Zeit nicht einfach war, dass es aber bereits eine Institution gab, die dies ermöglichte, zu einem späteren Zeitpunkt erwähnt Caroline das trotz allem liberale Umfeld Bostons. Jimmy aus Amsterdam erzählt von einer ebenfalls schwierigen und institutionell unterstützten Form der Familiengründung. Er bezeichnet sich je nach Kontext als queerer/homosexueller/schwuler Mann (»depending on who asks«), der zwei Kinder mit seiner heterosexuellen Mitbewohnerin hat: »She was reaching the age where it was having kids now or never. She asked me to be a donor with a father role (see below for further explanations). I knew her as my housemate,

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Die größte Schwierigkeit, die es für die beiden zu überwinden galt, war, dass Jimmy HIV-positiv ist und eine Institution gefunden werden musste, die eine künstliche Befruchtung in diesem speziellen Fall ermöglichte. Wiederum bildete ein recht progressives Umfeld, die Stadt Amsterdam, die Grundlage für dieses Vorhaben: »Before she asked me she did a bit of research on the possibility of having kids with an HIV+ person. This hospital and medical center here is quite progressive and helps out couples receiving HIV-children when one of the two is HIV+. […] We were honest about our relation to each other towards the doctors in the hospital. Besides raising some eyebrows at times we got fully accepted […].«

Aufgrund des wachsenden Vertrauens in die Ärzte der Klinik waren sie beide in der Lage, Bedenken hinsichtlich des Prozederes (was, wenn das Kind HIV-positiv ist?) recht schnell auszuräumen und es kamen nie wirklich schlimme Zweifel auf, sondern eher ein Gefühl der Sicherheit. Den Prozess selbst beschreibt Jimmy folgendermaßen: »The impregnation involves no sex but several tubes. My sperm went through a ›washing‹ process in the lab to wash off the virus that encloses the sperm cell. This minimizes the risk and with the additional factor that my health has been quite stable and my viral load undetectable for many years, the chance for infecting her was barely there.«

Jimmys Mitbewohnerin wurde innerhalb der nächsten Monate schwanger und gebar Zwillinge. Alle drei blieben HIV-negativ. In den Aussagen von Lisa, dem alleinerziehenden Transgender-Vater, wird klar, dass er versucht hat, seine Familie entgegen den Erfahrungen, die er in seiner Ursprungsfamilie gemacht hatte, zu gründen. Seine zwei Söhne, die er zusammen mit seinem bisexuellen, ehemaligen Partner bekam, sind nun Teenager. »My family is a woman empowered family as in my family of origin the man was the head of the family. I have sole custody of my children whereas my parents were married and stayed together. I see my family as a family of three equal people where everybody has a right to be him or herself. My family now is mostly democratic unless I enforce rules or arrangements, like chores. I have always been alternative, feminist and ecologically responsible. My family lives that way and that is what I wanted and it worked out. I also never wanted a man to be head of my family and that worked out as well even at the time I was still married.«

Frank, der Kommunarde aus Niederkaufungen, gibt an, keine eigenen Kinder zu haben, aber zwei Patenkinder. Wie bereits oben erwähnt, sieht er seine Kommu-

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ne beziehungsweise seine Wohngruppe als seine ›Primärgruppe‹ an, das ist das Wort, das er statt Familie verwendet: »I chose to join the commune eleven years ago as I find the Core Principles decided on by founders of the commune fit my anarcho-communist ideals. (These commune principles are: a completely communal income sharing economy, consensus decision making, reduction of patriarchal and hierarchical structures, work in collectives, and left wing politics.)«

Seine Entscheidung, diesem intimen Setting beizutreten, wurde in erster Linie von seiner politischen Einstellung bestimmt, doch – wie die folgende Aussage zeigt – auch durch ein Auswahlverfahren begründet, welches innerhalb der Kommunen zur Anwendung kommt: »I moved into the already existing men’s living group about eight years ago. The living group had evolved from a mixed living group and has been consciously a men’s living group for about 15 years. When a man moves out, the remaining men discuss which other male communard they would most like to live with and ask him. When I joined the commune it was the living group that I found most attractive, but at that time there was no free room. I was happy when, a few years later, a room became free and the men asked me to join them.«

Diese Aussagen dokumentieren eine Vielzahl von Gegenerzählungen, die über verschiedene Arten der Familiengründung und der Beziehungen in intimen Beziehungen berichten. Während künstliche Befruchtung heutzutage nichts Besonderes mehr ist, mussten Carolines Eltern zur Zeit ihrer ›Zeugung‹ erst eine Institution finden, die bereit war, ihrem Kinderwunsch nachzukommen. Auch Jimmy und seine Freundin waren vom Wohlwollen öffentlicher Einrichtungen abhängig. Die Geschichte des HIV-positiven, schwulen Mannes, der mit einer heterosexuellen Frau, die seine Kommunarde und Mitbewohnerin ist, zwei Kinder mittels künstlicher Befruchtung zeugte, reicht weit über die Vorstellungen der Kernfamilie hinaus. Sie trennt und befreit die Elternschaft von sexueller Orientierung und Objekten des Begehrens. Diese Gegenerzählung wird weiterhin durch die detaillierte Beschreibung des Prozesses der künstlichen Befruchtung bereichert. Lisa hat seine Familie gegen die Erfahrungen mit seiner Ursprungsfamilie gegründet, die ganz offensichtlich von seinem Vater dominiert wurde. Frank hat seine ›Primärgruppe‹ in einer Kommune gefunden. Er hat sich bewusst dazu entschieden, dieser beizutreten, da ihre Prinzipien mit seinen Idealen eines gegenkulturellen, libertären Lebens übereinstimmten.

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W IE IST EINE F AMILIE ORGANISIERT ? — M ÖGLICHKEITEN UND B EDÜRFNISSE ALS G RUNDL AGE DER A RBEITSTEILUNG Die unterschiedlichen Formen von Familien und intimen Beziehungen strukturieren sich durch verschiedene Praktiken der Organisierung. Für die Organisierungsform der Kommune sind die Aussagen von Frank (Niederkaufungen) und Jimmy (besetztes Haus in Amsterdam) von Interesse. Die erstgenannte Kommune ist in elf Gruppen organisiert – im Falle von Frank ist es eine männliche Gruppe, bestehend aus acht Männern und einem Kind, die sich das Haus mit einer weiblichen/lesbischen Gruppe, bestehend aus fünf Frauen, teilt. Auf Kommunenebene folgen die Mitglieder vereinbarten Vorgaben und kollektiven Lösungen für Reproduktionsarbeiten. Die Kommune basiert auf 100-prozentiger Einkommens-, Arbeits- und Güterteilung sowie auf kollektivem Eigentum. Die Gliederung der Reproduktionsarbeit wird im Detail wie folgt beschrieben: »A large part of the childcare and cooking is done by collectives. From the age of one, commune children can attend the commune Kindergarten in the mornings. This enables both parents to work, not just one (usually the man). The Kindergarten evolved from a selforganised childcare group and has places for children from the village of Kaufungen as well as for commune children. As most people work in the commune, parents are near their children if needed, and children regularly get to visit commune workplaces to see what is going on. The Kindergarten collective is made up of two men and two women, with a third woman at present in maternity leave as she is pregnant.«

Obwohl er keine eigenen Kinder hat, erlauben ihm die Prinzipien der Kommune, an der Kinderbetreuung teilzuhaben: »The commune tries to keep to a ratio of one child per three adults in order that there are enough non-parents who can help with the children. Childcare is shared between parents and some non-parents, sometimes adults chosen by the children themselves. As mentioned above, in the mornings from Monday to Friday, pre-school aged children are cared for by the workers of the commune kindergarten collective. In addition, every year there is a children’s summer holiday (ten days to two weeks) when most of the commune children go on holiday as a group cared for exclusively by non-parents.«

Kochen ist ein zweiter wichtiger Aspekt der Reproduktionsarbeit auf Kommunenebene: »From Monday to Friday, lunch-time cooking for the commune is done by the kitchen collective (Komm Menu). The collective is, at present, made up of four men and one woman, with three regular helpers, two men and a woman. The ›centralized‹ preparation of meals by a collective again frees up communards from some housework usually done by women.«

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Weitere Reproduktionsarbeiten, wie Reinigung und Heizen, sind im Rotationsmodus organisiert oder werden von Freiwilligen übernommen. Freiwilligenarbeit ist immer mit einem hohen Grad an Freiheit verbunden, »but it is clear that everyone has to do their fair share.« Auf Ebene der engeren Wohngruppe gibt es laut Frank keine formalen Strukturen in Bezug auf Reproduktionsarbeit. Diese wird freiwillig ausgeführt, abhängig von Notwendigkeit und verfügbarer Zeit. Es existiert jedoch ein Reinigungsplan für das Stiegenhaus, der mit der weiblichen/lesbischen Wohngruppe abgestimmt wird. Die Bewohner von Jimmys Haushalt in Amsterdam teilen sich Küche, Wohnzimmer und sanitäre Einrichtungen und haben jeweils eigene Räume. Bezugnehmend auf finanzielle Belange und Reproduktionsarbeit bemerkt Jimmy: »Rent is individually paid but the additional costs (water, electra, newspaper, basic food supplies etc.) are collectively paid and each contributes on a sliding scale (one who has more pay more money) […]. We all are highly active people but try to eat together and cook for each other when possible. We saw ourselves forced to introduce a cleaning roster as, especially now with the kids crawling around, the house needs to be cleaned more often. These tasks are shared.«

Was die Kinderbetreuung betrifft, berichtet Jimmy über eine Vereinbarung, die er mit seiner Mitbewohnerin getroffen hat, als sie ihn fragte, ob er Spender sein möchte: »When asked to become donor and fill in a father role it was clear that I was not ready to give up all the different activities i’m involved in and running. There’s an age difference of 10 years between me and the mother. She had expressed that she would take on (and wanted to do so) the majority of responsibilities.«

Bald nach der Geburt der Zwillinge wurde ihnen jedoch klar, dass sie Aufwand und Arbeitsumfang unterschätzt hatten und die Vereinbarung deshalb angepasst werden musste: »Twins are a hell-of-a-lot of work. Currently I do one day a week plus one evening/night a week and help out a bit here and there as we do live in the same house. In addition they go one day a week and two mornings to a daycare center, have a friend baby sitting one afternoon, and have two more pairs of helping hands with our other two housemates.«

Eine weitere Entscheidung musste bezüglich der anstehenden finanziellen Belastungen im Zusammenhang mit der Elternschaft gefällt werden. Aufgrund der großen Einkommensunterschiede beschlossen sie, dass die Mutter den finanziellen Teil übernehmen würde. Nichtsdestotrotz ist Jimmy in Entscheidungsprozesse voll eingebunden, auch bei wichtigen Fragen wie beispielsweise der schuli-

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schen Ausbildung. Es fällt auf, dass der größte Teil der Belastung, sowohl der konkreten alltäglichen Organisierungsarbeit als auch die finanzielle Belastung auf der Frau liegt und Jimmy tendenziell aushilft. Im Fall des transsexuellen Lisa aus Kanada übernimmt er die Rolle des Alleinerziehers. Obwohl er die demokratischen Prinzipien innerhalb der Familie und bezüglich des Haushalts betont, bemerkt er: »Traditional, I do most of the cleaning, I have a homehelper paid for by the city because of my disability status.«

Trotz dieser externen Hilfe gibt Lisa an, dass er mit der Reproduktionsarbeit meistens überfordert ist. Darüber hinaus befindet er sich aufgrund seines niedrigen Einkommens in einer prekären finanziellen Situation. Vor der Trennung von seinem Ex-Partner scheint die Lage nicht anders gewesen zu sein: »My sexual identity as a transgendered person was not out there at that time, I was not aware of it but I chose a man who acted less than a traditional man. He let me decide, basically I was the head of the family. He also worked in the household but when we had kids, I stayed at home and he worked a lot.«

›Queerspawn‹ Caroline hat Probleme sich daran zu erinnern, wie ihre Ursprungsfamilie organisiert war. Sie gibt an, dass ihre leibliche Mutter und deren erste Partnerin bis zu deren Trennung zu gleichen Anteilen an Carolines Erziehung beteiligt waren; »[afterwards, I] began living primarily with one of my mothers, and spending time with the other as well.« Als sie noch sehr jung war, lebte ihre Familie in einer Wohngemeinschaft mit mehreren anderen queeren Familien: »I’m not sure how things were organized, although I know that everyone split rent according to their income and that otherwise than that, financials were kept separate. Since then, we have lived in cohousing with one other family, and we each have our own living space, but spend a lot of time together. We share cooking responsibilities, but cleaning is done separately.«

Die Aufteilung von Wohnraum, Einkommen, wichtigen Gütern und Reproduktionsarbeit aufgrund individueller Möglichkeiten und Bedürfnisse ist sicherlich nicht die gängige Praxis in der heutigen Gesellschaft. Daher bieten solche Erzählungen alternative und gegensätzliche Einblicke in die organisatorischen Strukturen von Familien und intimen Beziehungen. Obwohl sich auch in diesen libertären, queeren und alternativen intimen Kollektiven dominante Arbeitsteilungen durchsetzen, so dass die größten Belastungen von Familie Frauen treffen, existieren doch kontinuierliche Bemühungen gegen die geschlechtliche Arbeitsteilung vorzugehen. Dies scheint am weitesten in der Kommune Niederkaufungen als

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bewusster, reflektierter und politisierter Raum von ca. 70 Personen gelungen zu sein.

W IE SIEHST DU DEINE I DENTITÄT IN B E ZUG AUF DEINE F AMILIE ? Politischer Aktivismus spielt eine zentrale Rolle bei der Gründung von intimen Kollektiven/Familien. Ein letztes interessantes Detail in diesem Kontext ist der Zusammenhang zwischen familiärer/intimer Bindung und sexueller, politischer oder radikaler Identität der Interviewten. Caroline ist der Meinung, dass ihre Identität als›Queerspawn‹ sowohl ihre sexuelle als auch ihre politische Identität beeinflusst hat. Das Umfeld, in dem sie aufgewachsen ist, scheint ein sicherer Hafen für queere Menschen gewesen zu sein: »I think my parents are connected with other queer families just because they used to live with other queer families, and have queer friends who had children. My mother used to be involved in activism and political work, so she has many queer friends that she made when she was younger. Additionally, because Boston is especially liberal metropolised and because gay marriage is legal in Massachusetts, the state where Boston is, there are many queer couples and families in the area.«

Ihre Sozialisierung in diesem Umfeld hat sie schon seit ihrer Jugend für Unterdrückung und Ungleichheit in staatlichen Institutionen sensibilisiert: »I was sort of involved in the queer community my entire life, so I’ve also had a long time to develop my ideas about action and politics.«

Bis heute ist sie als Aktivistin für radikale, queere und politische Gruppen in Boston tätig. Wie bereits oben erwähnt, definiert Jimmy aus Amsterdam seine sexuelle Identität in Abhängigkeit vom Fragenden als queer, homosexuell oder schwul. Der paradoxe Zusammenhang zwischen seiner Identität und seiner Lebensweise in Bezug in einer queeren, libertären, anarchistischen Gegenkultur ist für ihn schnell gezogen: »Even the radical queer community tries to box you in and I refuse to follow their dogmas on lifestyle, behavior and looks. In that sense my alternative family shakes up people’s assumptions and refuses their boxes and borders.«

In diesem Sinne lehnt er es ab, sich selbst als Teil einer solchen queeren Gemeinschaft zu sehen, die er zusätzlich noch für deren Mainstream-Politik kritisiert:

´ c /J. Dollinger/U. Isop/D. Leibetseder: Gegenkulturelle Archive M. Cosi´ »LGBT politics seems to follow a bit the order of the letters. In claiming rights we’re first sorting the rights of L-parents, then maybe G-parents but we’re still a bit disgusted by that idea (two men raising a child), B as a whole still seems a bit difficult to accept and comprehend, and the T is of course last in line and will come when the first letters have received their rights from the authorities. And it seems each for its own so forget about one struggle and solidarity.«

Trotzdem sieht er seine politische Identität, die er mit seiner Hausgemeinschaft und seinen Freunden teilt, als durch seine sexuelle Identität definiert an, die ihm eine größere Sensibilität gegenüber Strukturen der Unterdrückung verschaffe und ihn in verschiedenen Kontexten politisch aktiv werden ließ. Er gibt an, dass ein gewisser Vorbehalt gegenüber ›Normalität‹ ebenfalls eine wichtige Rolle spielte. Dies resultiert nicht zuletzt aus seinen Erfahrungen mit Sozialisierung: »One thing I certainly dont want to give to my kids is this feeling of shame. Where community bonds become a way of control as often is the case in smaller towns as where I grew up – e.g. ›What would the neighbor think of your behaviour, shame yourself.‹ Though I don’t like the lack of community in our gentrifying big city neighborhoods, there is more space for people to live their lives without being judged by others. Certain sets of moral that I was passed on I want to keep – e.g. taking responsibility for your neighborhood and living soberly and appreciating what you have.«

Interessanterweise fällt dieser Vorbehalt gegenüber Normalität wieder auf ihn zurück und zwar dann, wenn Menschen die Meinung äußern, dass er, weil er Kinder hat, den Bereich des ›Normalen‹ betritt. Seine Antwort darauf: »Idioten!« Indem er seine sexuelle Orientierung als »weiblich« definiert, ist Lisa aus Kanada Teil der lokalen Transgender- und Bisex-Community in Ottawa. In diesen Aussagen betont er seine Geschlechtsidentität als Frau-zu-Mann-TransgenderPerson am stärksten: »My sons are aware that I am not only a biological woman, but that I am transgendered and feeling partly like a man.« »I also don’t get enough time and means to also live my male role, like buying male clothing to go out into the scene or in public in general.« »Just for clarification: I am biologically and born female, gave birth to my sons and I am not transitioning to become a man.«

Lisa betont, dass sie sich als Vater in Bezug auf seine Söhne fühlt, da sie viele Unternehmungen gemeinsam tätigen würden, die traditionell eher männlich konnotiert sind. Darüber hinaus versucht sie, ihre Wertvorstellungen in Bezug auf sexuelle Orientierung an ihre Kinder weiterzugeben:

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen »There is no judgment about sexual or gender role preferences in my family which was something I also wanted. I have more than one partner both sexual and emotional which was something I did not plan.« »The sexual preferences of my sons will not be judged so they can freely express their preferences which they do.«

Nichtsdestotrotz ist es vielmehr ihre politische Identität als ihre sexuelle, ihr »interest for politics, developing countries, other cultures etc«, die sie als wichtigste Grundlage ihrer Familie ansieht: »[…] I had married a man from Egypt who was living in Austria. I have raised my children during the time of my marriage among many Egyptians rather than among Austrian friends.«

Frank aus Niederkaufungen äußert einen Wunsch für seine sexuelle Identität: »I would like to think of myself as bi-sexual and polyamorous, but in practice my sexual life has been 95 % heterosexual/5 % homosexual, and serial monogamous.«

Alle Männer in seiner Wohngruppe waren zum Zeitpunkt des Interviews heterosexuell. Franks Identität bestimmt sich jedoch entscheidend durch den politischen Bezug zu dieser Männergruppe, wie durch den politischen Bezug zur Kommune Niederkaufungen, die er als Teil seiner Identität ansieht. Für viele Kommunardinnen spielt jedoch die sexuelle Orientierung durchaus die bedeutendste Rolle, wenn sie gefragt werden, warum sie sich für ein Leben in Niederkaufungen entschieden haben: »[M]ostly [for] the lesbians, sexual orientation has also played a role, especially in their choice to live in women’s living groups.« Diese Aussagen untermauern, dass den Konventionen widersprechende sexuelle Identitäten aufgrund besserer Wahrnehmung und größerer Sensibilität gegenüber Unterdrückung und Ungleichheit zu zusätzlichen gegenkulturellen Aktivismen führen können. Bei einer Großzahl der Interviewten waren es in erster Linie politische Gründe, die sie dazu veranlassten, diese spezielle Form intimer Beziehungen und intimer Kollektivität einzugehen. Alle Interviews sind in voller Länge im Blog »Queer Libertarian Alternative Families« (http://qlafamilies.wordpress.com/) veröffentlicht.

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Kapitel 4 Express yourself! Wider oder für das Vergessen? Geschlechtliche Ausdrucksweisen und Erinnerungsformen in den Künsten – Zur Einleitung Doris Leibetseder »Kauen als eine Form des Wahrnehmens, des Erinnerns und der – potenziell politischen – Praxis. Eine Form, die sich durch ihre affektiven Momente auszeichnet, die lustvoll und genießerisch oder angewidert, widerstrebend oder auch leidvoll sein können. Kauen […] ist keineswegs das gleiche, wie etwas im Mund zergehen zu lassen. Kauen ist eine aggressive, zerstörerische Tätigkeit, die etwas zu Brei mahlt – auch wenn dabei köstliche Säfte spritzen.« (A NTKE E NGEL 2011)

Wie können zeitliche Zwischenräume überschritten werden, um einen queerfeministischen Vergemeinschaftungsprozess zu erzeugen? Wie materialisieren sich solche zeitüberschreitende Erinnerungskulturen? Kann das Vergessen auch eine aktive Handlung im Sinne einer queeren Politik sein? Wie können neue Geschlechter in Erinnerungsstrukturen eingehen? Eine queer-feministische Strategie, um zeitliche Zwischenräume für Erinnerungsstrukturen zu vereinen, ist der temporale Drag. Elizabeth Freeman erklärt, dass dieser zeitliche Drag die Möglichkeit einer gegen-zeitlichen Identifikation kreiert und so über Zeiträume springen kann (vgl. Freeman 2000; 2011: 85-95) Wie Jack Halberstam am Beispiel der Band »Lesbians on Ecstasy« (LOE) ausführt, gelingt es den LOE mithilfe ihrer elektronischen Coverversionen von feministischen und lesbischen ›Klassikern‹ (z.B. k.d. lang, Melissa Etheridge, Tracy Chapman) einen solchen temporalen Drag zu erzeugen. Die Inhalte der Lieder aus den 1980er und 1990er werden in eine aktuelle Form gebracht, die auch jüngere

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queere Personen affektiv anspricht. Somit werden Verbindungen zwischen verschiedenen Teilen der feministischen, lesbischen und queeren Community aufgebaut, verschiedene Generationen miteinander verbunden und ein Vergemeinschaftungsprozess erzeugt (vgl. Halberstam 2007). Renate Lorenz bringt diese Strategie des temporalen Drag in Verbindung mit einer queeren Chronopolitik, die sich gegen normalisierende Zeitkonzepte richtet, z.B. gegen eine reproduktive Zeitlichkeit, die auf die familiäre und somit nationale Zukunft baut und deswegen auf heteronormativen Zeitperioden im menschlichen Leben basiert, wie z.B. nach der Jugendphase in das Erwachsenenalter überzugehen, das durch frühes Aufstehen, Kinderversorgung und Geldverdienen gekennzeichnet ist (vgl. Lorenz 2012; Halberstam 2005). Laut Lorenz formen der temporale Drag und andere, queere Zeitkonzepte einen transtemporalen Drag (Lorenz 2012: 103), der eine Alternative zur Unterwerfung unter biografische und historische Zeitkonzepte ist. Durch diese Spannung zwischen Unterbrechung und Gleichzeitigkeit, meint Lorenz, kann die sentimentale Praxis zur Geschichte zurückzukehren ersetzt werden, und ermöglicht so in Konflikten und Umständen zu intervenieren anstatt sie bloß zu vermeiden (vgl. ebd.: 104). Der transtemporale Drag wird bei Lorenz als eine Methode gesehen, mit der es möglich ist »to go back into the event, to take one’s place in it as in a becoming« (ebd.: 109). Oder wie, so mein Vergleich, Antke Engel es mit der Metapher des Kauens (Siehe Zitat am Anfang des Kapitels) ausdrückt, in der sie das Kauen als eine affektive Form der Erinnerung sieht, die entweder positiv oder negativ empfunden werden kann. Wie sich solche zeitüberschreitenden Erinnerungskulturen in den Künsten materialisieren und wie somit dieser temporale Drag angewandt wird und zu welchen leidvollen bis, wenn auch problematischen, sexualisierten Affekten dieser führen kann, zeigen die Beiträge von Cristina Beretta »Riskante Subjektwerdung: Slavenka Drakulićs Kao da me nema (1999, ›Als gäbe es mich nicht‹) und das Erzählen über Massenvergewaltigung von Frauen im Krieg« und von Gintare Malinauskaite »Filmische Darstellung sexueller Gewalt im litauisch-deutschen Shoah-Film ›Ghetto‹«. Berettas Analyse des Romans, der sich mit der Erfahrung der Massenvergewaltigung von Frauen im Bosnienkrieg beschäftigt, stellt klar, warum die ›realitätsnahe‹ und nicht leicht verdaubare Fiktion in diesem Werk Sinn macht. Um einen problematischen temporalen Drag handelt es sich in Malinauskaites Filmanalyse von »Ghetto«, in der sie die sexualisierte und erotisierte Darstellung von Aggression und Gewalt an jüdischen Frauen aufzeigt, die leider sinnbildlich für einen großen Teil des Shoah-Kinos ist und die Erinnerung an die Massenvernichtung in eine ›sexy memory‹ verwandelt hat. Um das Phänomen des Ausschlusses der Regisseurinnen aus der hegemonialen sowjetischen Stummfilmgeschichte geht es in Gerlinde Schwarzs Artikel »Stumm und unsichtbar? Ol’ga Preobraženskajas Stummfilm „Baby Rjazanskie / Die Frauen von Rjazan“«, in dem sie das Schaffen von Preobraženskaja ans Licht holt und darlegt, wie diese Regisseurin die ›Frauenfrage‹ und Geschlechterkonst-

D. Leibetseder: Express yourself! Wider oder für das Vergessen?

ruktionen im Film darstellt. Auch besteht ein thematischer Zusammenhang mit den Beiträgen von Cristina Beretta und Gintare Malinauskaite, da  Preobraženskajas Film sehr früh (1927) sexuelle und strukturelle Gewalt in der Familie thematisiert und nicht zuletzt aufgrund der expliziten und exemplarischen Darstellung patriarchalischer Strukturen eine herausragende Stellung in der internationalen Stummfilmgeschichtsschreibung einnehmen sollte. Indem Schwarz die Filme in die Erinnerungsstruktur des sowjetischen Stummfilmschaffen einbindet, erhält Preobraženskaja die verdiente positive Wertschätzung und Anerkennung ihres Werkes. Was aber, wenn die Erinnerung nicht mehr relevant ist, sondern das Vergessen eine aktive Rolle im politischen, queer-feministischen Prozess einnimmt? Das Vergessen kann die heteronormativen Zeitkonzepte stören, wie Halberstam am Beispiel des queeren Fischs, Dory, in »Finding Nemo« erklärt. Dorys Vergesslichkeit unterbricht nicht nur die ödipale Beziehung, sondern sie zeigt eine queere Version des Selbst, die von der Ablösung von der Familie und die von den zufälligen Freundesbeziehungen und improvisierten Beziehungen zur Community abhängt (vgl. Halberstam 2012: 80). Der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses und ihr eigenartiger Zeitsinn führt bei Dory zu einem flüchtigen und kurzlebigem Wissen und zu einer kontinuierlichen Empfindung den Kontext verloren zu haben. Halberstam betont »Dory offers fascinating models of queer time (short-term memory), queer knowledge practices (ephemeral insights), and antifamilial kinship« (ebd: 81). In »Finding Nemo« kommt auch ein Clownfisch vor und wie Joan Roughgarden erklärt, können Clownfische ihr Geschlecht wechseln, wenn z.B. die weibliche Partnerin stirbt, wird der männliche Fisch weiblich und paart sich mit einem männlichen Fisch des Nachwuchs und stellt so wieder den Verwandtschaftskreis her (vgl. ebd.: 81) Trans*Personen vergessen und löschen das ihnen bei Geburt von Autoritäten zugewiesene Geschlecht aus und ermöglichen so eine queere Selbstdefinition ihres Geschlechts in verschiedenen Variationen. Das Vergessen des zugewiesenen Geschlechts ermöglicht die Entstehung von neuen Geschlechtern. Neue queere Geschlechter wurden bereits von Magnus Hirschfeld dokumentiert und wie es ein Film von Renate Lorenz und Pauline Baudry schafft, Hirschfelds gesammelte Bilder nachträglich zu animieren, zeigt uns Barbara Eder in »Butterfly Kisses, addressed to N.O. Body«. Dieser Artikel zeigt bereits, wie neue Geschlechter in die Erinnerungsstrukturen eingehen können und wie durch den Film ein erfolgreicher transtemporaler Drag erzeugt wird. Den Abschluss des Kapitels und des Sammelbands stellt der Text von Rebecca Carbery dar, in dem sie aktuelle Bestrebungen das Geschlecht neu zu gestalten anhand von genderqueeren Selbstrepräsentationen in der Amateurfotografie aufzeigt und gleichzeitig deren Zeitlichkeit und Räumlichkeit miteinbezieht. Mit ihrer Queertopia liefert sie am Ende des Buches einen Ausblick in die Zukunft jenseits von binären Geschlechtereinteilungen, in eine Zukunft, in der Geschlechternormierungen überflüssig sind und auf Geschlechterkategorien bewusst vergessen werden kann.

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Riskante Subjektwerdung Slavenka Drakuli’s »Kao da me nema« (1999, ›Als gäbe es mich nicht‹) und das Erzählen über Massenvergewaltigung von Frauen im Krieg 1 Cristina Beretta

Wie kann man das Erinnern an etwas hervorrufen, was man selbst nicht erlebt hat? Etwa das Erinnern an die weitgehend tabuisierte Erfahrung der Vergewaltigung im Krieg. Wie kann jemand von dieser Erfahrung erzählen, wenn er/sie diese selbst nicht gemacht hat? In diesem Fall kann man höchstens über diese Erfahrung erzählen. Und auch dies ist heikel, wie die Erfahrung der so genannten zweiten Generation von Holocaust-Schriftsteller_innen, d.h. derjenigen, die den Holocaust nicht erlebt haben und dennoch darüber schreiben, zeigt. 2 In ihrem 1999 erschienen Roman »Kao da me nema« (Als gäbe es mich nicht) wagt Slavenka Drakulić gar das Unerhörte: Sie erzählt die Geschichte einer in einem serbischen Lager fünf Monate lang tagtäglich vergewaltigten Frau, und zwar aus deren Perspektive. Die Protagonistin dieser Geschichte wird im Mai 1992 aus einem bosnischen Dorf zusammen mit dessen muslimischer Bevölkerung von bewaffneten serbischen Männern deportiert, in einem Lager interniert und dort in den so genannten ›Frauenraum‹ eingeschlossen, wo sie zusammen mit anderen Frauen von Juni bis November desselben Jahres vergewaltigt wird. Diese Erfahrungen im Lager werden im Roman aus dem Blickwinkel der erlebenden Protagonistin in der dritten Person Singular erzählt; zudem werden diese Erfahrungen durch Reflexionen a posteriori der 1993 im Krankenhaus liegenden Protagonistin, die das in einer Vergewaltigung gezeugte Kind soeben entbunden hat, in der Ich-Form ergänzt. Der Roman berichtet also genauestens über das, was sich im Inneren dieser Frau abspielt, wie sie die Vergewaltigung, die Täter, das Lagerleben usw. wahrnimmt. Ein hoch riskantes Manöver.

1 | Ich danke Alice Pechriggl für ihre kritischen Anmerkungen. 2 | Siehe dazu Mc Glothlin (2006: 13ff.).

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Zudem ist der Text 1999, das heißt im gleichen Jahr wie »Molila sam ih da me ubiju. Zločin nad ženom Bosne i Hercegovine« (Ich flehte um meinen Tod. Verbrechen an Frauen in Bosnien-Herzegowina) erschienen – die erste Sammlung von Erfahrungsberichten, die von Vergewaltigungsopfern geschrieben wurden, die beim Tribunal in Den Haag auch ausgesagt haben (siehe Drakulić 2001). Der Roman erschien also, als sich die zu der Zeit eher (in Anlehnung an Spivak) sprachlosen Subalternen selbst gerade zu Wort meldeten. Die Autorin, Slavenka Drakulić, Journalistin und Schriftstellerin aus Zagreb, ist kein Opfer, aber sie ist Zeitzeugin insofern, als sie schon während des Kriegs ab 1992 viele Gespräche mit vergewaltigten Frauen aus Bosnien geführt hat. Anders als die erwähnte Sammlung bosnischer Opfer ist »Kao da me nema« ein Roman, ein Werk der Fiktion, situiert sich aber an der Schnittschnelle zwischen dem, was nach Aristoteles’ Poetik (9. Kapitel) »geschehen könnte«, und dem »wirklich Geschehenen«. Die Angaben im Roman über Realia decken sich weitgehend mit den Angaben in Zeitzeugenberichten,3 Zeitungsartikeln sowie Berichten des International Criminal Tribunal for Former Yugoslavia (ICTY) in Den Haag, ob diese nun allgemeine Zeit- und Ortsangaben, Beschreibungen von Deportationen, Konzentrationslager, Vergewaltigungen, Folter, Massenexekutionen, Leichenverbrennungen, Massengräber, Reaktionen der Gefangenen oder traumatische Auswirkungen auf die Opfer betreffen. 4 Drakulić hat sorgfältig recherchiert und sich offensichtlich mit der Traumaforschung auseinandergesetzt.5 Was hier aber erörtert werden soll, ist nicht der Anteil der an der Empirie überprüfbaren Angaben, als vielmehr folgende Frage: Ist – angesichts der Tatsache, dass inzwischen mehrere Zeitzeugenberichte von vergewaltigten Frauen in den Jugoslawienkriegen erschienen sind und viele Opfer von Massenvergewaltigung in Den Haag ausgesagt haben –, dieses Werk der ›realitätsnahen‹ Fiktion noch aktuell und relevant, kurzum lesenswert? Drakulić betont, dass sie im Roman »dort ansetzen wollte, wo die Frauen verstummt sind« (ohne Angabe: 2010). Die Autorin will über die Erfahrung der Mas3 | Ein weiterer Zeitzeugenbericht ist Cigeljs »Appartment 102 Omarska. Ein Zeitzeugnis« (Cigelj 2005) über die Erfahrungen im Lager Omarska, Bosnien. 4 | Originalzitate werden nach Drakuli´c 2010 (nach dem Muster: Kao da: Seitenangabe) angeführt; die deutschen Übersetzungen werden nach Drakuli´c 2006 (nach dem Muster: Als gäbe: Seitenangabe) zitiert. Zum unerwarteten Charakter des Kriegs in Sarajevo (Kao da: 19, 21, 23) s. Cigelj 2005: 46 und Drakuli´c 2004: 87; zum schweigsamen Verhalten der Opfer während der Deportation (Kao da: 25), siehe Lati´c 2009: 21 sowie Drakuli´cs 2003: 108; zum Versuch der inhaftierten Frauen, sich durchs Schminken gegen die im Lager systematisch durchgeführte Reduktion der Opfer auf Objekte zu wehren (Kao da: 75), siehe Cigelj 2006: 95. 5 | Vgl. Kobolt 2009: 251ff. Jasmin Weiss hat in einer Proseminararbeit aufgezeigt, wie die Darstellung der Reaktionen der Protagonistin auf die (wiederholten) Vergewaltigung(en) unterschiedlichen Traumatheorien (Vera Folnegovi´c-Šmalc, Gabriele Fröhlich-Gildhoff, Ingrid Olbricht und Klaus Ottomeyer) entspricht (Weiss unveröffentlicht).

C. Beretta: Riskante Subjektwerdung

senvergewaltigung von Frauen im Bosnienkrieg informieren. Sie hat also eine moralische Mission – und dies macht sich mitunter bemerkbar. Zum Beispiel in einer gewissen Pedanterie der Erzählinstanz, die den Lesenden wenig Raum für eigene geistige Anstrengung gewährt, 6 oder in der Darstellung der Protagonistin als einer moralisch integren Gestalt, die unter den ungeheuer belastenden Bedingungen in der Lage ist, zu differenzieren.7 Auch ist die Erzählperspektive, wie schon vorweggenommen, eine problematische: Drakulić entscheidet sich gegen einen ›Standort des Erzählers‹, der in Anlehnung an Theodor Adorno (vgl. Adorno 1984) zugibt, wenig über die erzählten Vorgänge zu wissen und trotzdem von dort aus versucht, das Unbekannte zu vermitteln – ein Vorgang, der eben etwa in der Holocaustliteratur der zweiten Generation, etwa in David Albaharis Roman »Gec i Majer« (1998, ›Götz und Meyer‹), vorkommt. Alles wird in »Kao da me nema« aus der Perspektive der Protagonistin erzählt, d.h. die Lesenden erfahren genauestens, wie sie was erlebt. Das ist ein gewagtes Erzählverfahren, denn Drakulić selbst ist ja kein Opfer. Außerdem werden Emotionen, Affekte eher begrifflich benannt, als ästhetisch veranschaulicht; so sind keine Brüche oder Dissonanzen in der Romantextur, etwa in der Sprache der Protagonistin oder in der Bildlichkeit, erkennbar. Der Roman ist linear im Modus eines auf Realitätsillusion und Sinnstiftung abzielenden Erzählens verfasst.8 Das Unbehagen beim Lesen rührt vom Erfahren der schrecklichen Fakten her, die man – und das ist der Punkt – auch in Zeitzeugenberichten nachlesen kann. Drakulić will offensichtlich über Reales informieren. Und der Roman ist realistisch verfasst, d.h. er erzeugt eine Realitätsillusion.9 Aber: Wozu ein Roman? Da so viele Zeitzeugenberichte und weitere nichtfiktionale, journalistische Texte ›nichts als die nackte Wahrheit‹ erzählen, wozu brauchen wir eine fiktionalisierte Prosa? Ist der Roman »Kao da me nema« lesenswert? Meine Antwort lautet: Ja. Und das aus mehreren Gründen. Diese Gründe betreffen Fragen des kulturellen Gedächtnisses, der Repräsentation und der ästhetischen Wahrnehmung. Als erstes sei auf die Frage des kulturellen Gedächtnisses eingegangen. 6 | So erklärt und benennt die erzählende und reflektierende Ich-Erzählerstimme häufig Sachverhalte, die in der dritten Person Singular aus der Perspektive der erlebenden Protagonistin erzählt werden (Kao da: 18, 23, 27, 145). 7 | Etwa beim Wahrnehmen der Verbrennung von Menschenleichen in Müllcontainern (Kao da: 80). 8 | Zum problematischen Charakter dieses Erzählmodus siehe Müller-Funk 2006: 299. 9 | Der Name der Protagonistin wird mit dem Initialbuchstaben S. markiert, als ob es darum ginge, die Anonymität einer real existierenden Frau zu bewahren. In der Auflage des Romans von 2010 (Zagreb) folgt dem Roman ein Nachwort, das in der ersten Ausgabe (Split 2001) und in der deutschen Übersetzung (Berlin 1999) nicht enthalten ist und den Faktualitätscharakter des Romans betont.

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E RGÄNZUNG DES KULTURELLEN G EDÄCHTNISSES UM DIE GESCHLECHTLICHE D IMENSION Im Roman wird die Protagonistin, deren Name mit dem Initialbuchstaben S. gekennzeichnet wird, wie die anderen Frauen des ›Frauenraums‹, fünf Monate lang vergewaltigt, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie und zu einem bestimmten Geschlecht. Zum ersten Punkt, der ethnischen Dimension. Die ethnische Motivation für die Internierung wird im Roman mehrmals erwähnt und gilt als Prämisse der Handlung. Die Bewohner_innen des Dorfes B. werden im Zuge der sog. ›ethnischen Säuberungen‹ von serbischen bewaffneten Männern inhaftiert, denn sie sind Muslim_innen (Kao da: 24).10 Zwar wird im Roman nicht auf der ethnischen Dimension beharrt, 11 die Koordinaten sind aber dennoch klar. In diesem Sinne würde der Roman die Auslegung von Vergewaltigung von Frauen als strategische Waffe im Krieg, etwa zur Vernichtung und Demütigung des Feindes, bekräftigen. Nun sei auf diese Dimension der Vergewaltigung kurz eingegangen. In fünf Thesen lotet 1993 Ruth Seifert die Funktion und kulturelle Bedeutung von Vergewaltigung im Krieg aus. Sie definiert Vergewaltigungen als »Spielregel« des Krieges, »ein Teilstück männlicher Kommunikation«, Ausdruck der militärischen »Überhöhung von Männlichkeit«, Waffe zur Zerstörung der feindlichen Kultur und Ausdruck einer »kulturell verankerte[n] Mißachtung von Frauen […], die in Extremzeiten ausgelebt wird« (Seifert 1993: 92-104). Diese Thesen sind nicht nur im deutschsprachigen Raum aufgegriffen bzw. diskutiert worden (Perko/Pechriggl 1996: 155ff, Oppenheimer 2006), sondern haben auch eine Entsprechung im internationalen feministischen Diskurs (Engle 2005: 777) sowie im Kontext des Internationalen Gerichthofs gefunden – es sei hier daran erinnert, dass feministische Bestrebungen zur Entnaturalisierung sexueller Gewalt dazu geführt haben, dass 2001 der Internationale Gerichtshof erstmalig in der Geschichte Männer wegen sexueller Aggression gegen Frauen im Krieg verurteilt hat, und zwar im Foča-Fall.12 Worum es mir hier geht: Verfolgt der Versuch der Historisierung der Vergewaltigung von Frauen im Krieg das Ziel, das Phänomen aus dem Rande der Naturalisierung ins Zentrum eines kritischen Diskurses zurückzuholen, so läuft die Fokussierung der ethnischen, nationalen und sozialen Dimension der Vergewaltigung Gefahr, die individuelle sowie geschlechtliche Dimension des Leidens

10 | Die Protagonistin gilt als Moslem, da sie einen muslimischen Vater hat; dass sie eine serbische Mutter hat, spielt keine Rolle (Kao da: 29). 11 | Etwa auf das falsche oder unreine Blut (Kao da: 65). 12 | Siehe dazu Drakuli´cs Bericht in Drakuli´c 2004: 37 sowie die Rede der Richterin Mumba im Fall-Foˇca vom 22. Februar 2001 in Drakuli´c 2004: 47f.

C. Beretta: Riskante Subjektwerdung

der Opfer wieder an den Rand des Diskurses zu drängen 13 – was auch der Zankapfel ist, der den feministischen Diskurs spaltet (vgl. Engle 2005). So ist die Koppelung des Urteils im Foča-Fall an den systematischen Charakter der serbischen sexuellen Gewalt gegen bosnische Frauen (vgl. ebd.: 800) problematisch, denn: Was ist mit den anderen, nicht systematisch durchgeführten Vergewaltigungen? Die Gefahr ist, sexuelle Gewalt zu »de-genderize« (ebd.: 801). Die Autorin selbst hat auch in Artikeln die Vergewaltigung von Frauen als Kriegswaffe ausgelegt (vgl. Drakulić 2008), warnte aber schon 1992 mit vier anderen kroatischen Intellektuellen (Dubravka Ugrešić, Rada Iveković, Vesna Kesić & Jelena Lovrić), vor der Instrumentalisierung der Vergewaltigung kroatischer und bosnischer Frauen zu Zwecken der nationalistischen kroatischen Kriegspropaganda. Diese Intellektuellen haben versucht, Gender von Ethnizität abzukoppeln, und wurden darum einer perfiden Hetzkampagne ausgesetzt, woraufhin Drakulić ins Exil ging. 14 Tatsächlich wird die Auslegung von Vergewaltigung als Kriegswaffe auf allen Seiten instrumentalisiert. So dient etwa im der Kriegsvergewaltigung gewidmeten 90.-91. Heft der bosnischen Zeitschrift »Behar, Časopis za kulturu i društvena pitanja« (Blüte, Zeitschrift für Kultur ›und soziale Fragen) die religiös-nationale Heroisierung vergewaltigter Frauen deren patriarchalischer Anspruchnahme und Zurückweisung auf stereotype Geschlechterrollen (vgl. Begović 2009: 3; Ćimić 2009: 8); die Betrachtung von Vergewaltigung als Kriegswaffe dient der Dämonisierung der Serben und des orthodoxen Glaubens (vgl. Ćimić 2009: 14), und der Marginalisierung von Frauen, denn im Vordergrund steht das Vaterland. Drakulićs Buch, »Kao da me nema«, vermeidet beides. Die ethnische und strategische Dimension der Vergewaltigung ist im Roman präsent, die Erzählinstanz insistiert jedoch nicht darauf. Zum einen findet somit keine Dämonisierung der Serben statt. Zum anderen bewirkt die weitgehende Vernachlässigung des Ethnischen, Strategischen und Militärischen die Fokussierung auf das Geschlechtliche. Im Fokus des Romans selbst steht ein Mensch, der aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit inhaftiert, jedoch aufgrund seines Körpers und seines Geschlechts vergewaltigt wird: Im Lager werden die jungen und schönen Frauen ausgesucht, die im Frauenraum zur tagtäglichen Befriedigung der »Bedürfnisse der Männer [gelagert]« werden. 15 Drakulić wehrt sich offensichtlich gegen die im feministischen Kontext verbreitete Auffassung (Seifert 1993: 88, 93), Vergewaltigung habe mit Sexualität, mit einer sexuellen Lust seitens der Täter nichts zu tun. Die Protagonistin staunt ja nicht über die Brutalität der Serben, sondern über das, was Männer im Krieg Frauen alles antun können 13 | Auch Kobolt betont, dass in diesem Diskurs die ›Frauen‹ selbst oft übersehen werden (Kobolt 2009: 253). 14 | Für einen Bericht über diesen Vorfall siehe Kesiˇc/Lyubimir 1993 sowie Zagreb Women’s Lobby 1992. 15 | Im Frauenraum »su ženska tijela uskladištena za upotrebu muškarcima« (Kao da: 59).

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(Kao da: 57, 156). Dies entspricht jedoch nicht einer Reduktion des Phänomens der Vergewaltigung, denn die ethnisch-militärische Funktion von Vergewaltigung ist sehr wohl präsent. Das Buch trägt aber dazu bei, das kollektive Gedächtnis, das sich, wie etwa die Holocaust-Erfahrung lehrt, stark auch aus Werken der Kunst speist, um das Geschlechtliche zu erweitern. Dieser Hinweis auf die Holocaustliteratur ist nicht zufällig. Dem Roman sind drei Motti vorangestellt, allesamt aus der Lagerliteratur des 20. Jahrhunderts, und zwar aus Primo Levis »Se questo è un uomo‹ (1947, ›Ist das ein Mensch?‹) über die Erfahrungen in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager, 16 aus Eva Grlićs »Sjećanja« (1997, ›Erinnerungen‹) 17 über die Erfahrungen in einem titoistischen Lager und aus Varlam Šalamovs »Kolymskie rasskazy« (1978, ›Erzählungen aus Kolyma‹) über die Erfahrungen in einem stalinistischen Lager. 18 Es handelt sich um Zitate um das Thema des Vergessens und des Nicht-Da-Seins, jeweils von Zeitzeugen verfasst. Mit diesem Bezug auf die Lagerliteratur strebt die Autorin nicht nur eine Einbindung der osteuropäischen (sowjetischen und jugoslawischen) Lagerliteratur in die gesamteuropäische Lagerliteratur und somit eine Vergleichbarkeit dieser Erfahrungen bzw. Verfolgungspolitiken an, sondern auch die Einordnung des Romans »Kao da me nema« in die europäische Lagerliteratur und somit die Erweiterung der Lagerliteratur und der Geschichtsschreibung um die geschlechtliche Dimension, in diesem Fall um das Verbrechen der Vergewaltigung von Frauen als Kriegsmittel, die sonst eine Fußnote in der Geschichtsschreibung sind.19 Slavenka Drakulićs Roman ist eine klare Positionierung gegen die hegemoniale Geschichtsschreibung und es ist ein Erinnern im öffentlichen Raum. Der Roman stellt die Vergewaltigung von Frauen im Krieg in eine Reihe mit anderen Verbrechen, die im Lager begangen wurden/werden. Im Folgenden sei nun anhand der Frage der Repräsentation erörtert, wie das Buch funktioniert. In ihrem Aufsatz »Can the Subaltern speak?« (1988) unterscheidet Gayatri Spivak zwischen ›Repräsentation‹ als ›Vertretung‹ (»speaking for«), und Repräsentation als ›Darstellung‹. Beide Dimensionen sind eng mit16 | Der Titel von Drakuli´cs Roman »Kao da me nema« selbst ist ein aus »Se questo è un uomo« und wird im Motto zitiert, siehe Kao da: 5. Primo Levis Gedanken über das MenschBleiben im Lager wird später im Roman noch aufgegriffen: »Koliki je minimum stvari na kojem ˇcovjek može preživjeti i da ipak ne izgubi osje´caj da je ˇcovjek?« (Kao da: 43), s. Levi 2002: 23. 17 | Zu Goli Otok sowie für einen Überblick über die mangelnde Forschungslage darüber siehe Münnich (ohne Jahresangabe). 18 | Zur sowjetischen/russischen Lagerliteratur siehe Thaidigsmann 2009. 19 | Dazu Seifert 1993: 106. In der Geschichtsschreibung hat dies erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts mit Helke Sander und Barbara Johr begonnen, siehe Sander/Johr 1992. Zur allgegenwärtigen sexuellen Gewalt gegen Frauen im NS-Lager siehe Anschütz/ Meier/Obajdin 1994; zu den so genannten Bordellen in NS-Lagern siehe Schulz 1994: 135.

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einander verwoben. Repräsentation wird besonders problematisch, wenn es um die Repräsentation von ›Subalternen‹, also von marginalisierten Gruppen geht, die keine Repräsentationsmacht haben, da diese die Art bestimmt, in der Individuen sich selbst wahrnehmen bzw. von anderen wahrgenommen werden. Den Begriff der ›Darstellung‹ enge ich hier nun auf die Frage nach dem ›wie‹ des Textes ein, also wie ein Text geschrieben ist: Es geht um die Machart eines Werks. Den Begriff der ›Vertretung‹ verstehe ich hier als den ›tropologischen Sinn‹ des literarischen Textes im Sinne von Horst-Jürgen Gerigk: Der Text weist mit dem, was er bildlich sagt, auf mich, appelliert an mich, an mein Gewissen; er ist eine Anweisung zur Lebensführung bzw. zur Auslegung des Lebens (vgl. Gerigk 2002: 119-139, 169-178). Auf Drakulićs Roman angewendet: Der Text liefert ein Deutungsmuster einer Erfahrung, das die Wahrnehmung dieser Erfahrung mitprägen kann, und zwar die Wahrnehmung sowohl derjenigen, die diese oder eine ähnliche Geschichte nicht erlebt, als auch derjenigen, die diese oder eine ähnliche Geschichte erlebt haben. Der Roman ist ein Erinnern im öffentlichen Raum, das ein bestimmtes Narrativ anbietet. Die intendierten Lesenden von Drakulićs Roman sind sowohl die ›Unbetroffenen‹, die ihr Wissen (Gedächtnis) eben erweitern sollen, als auch die Opfer von Vergewaltigung, für die der Text ein eigenes Narrativ der Subjektwerdung, eine »retrospektive Sinnstiftung« (Neumann 2005: 49) anbietet.

V ERTRE TUNG : S UBJEK T WERDUNG Im Lager findet eine progressive Reduktion von Menschen auf Objekte dadurch statt, dass diese ihrer Selbstbestimmung und Zukunft (vgl. Thaidigsmann 2009: 45) beraubt werden und deren Körpern massives Leiden durch Hunger, Kälte, Schlaflosigkeit, Zwangsarbeit und Folter zugefügt wird (vgl. Kao da: 29, 31). Frauen sind doppelt belastet, wenn dazu Vergewaltigung kommt. »Das gewalttätige Eindringen in das Innere des Körpers [bedeutet] den schwersten denkbaren Angriff auf das intimste Selbst und die Würde des Menschen«, denn es »bewirkt [unter anderem] den Verlust der Selbstbestimmung über den eigenen Körper« (Seifert 1993: 89); jeder Kampf um Würde und Selbstbestimmung »hat seine Wurzeln im Kampf um die Kontrolle über den physischen Zugang zum eigenen Körper«.20 Nach der ersten Vergewaltigung fühlt sich die Protagonistin, eine 29-jährige Lehrerin, »völlig entmachtet« (Kao da: 58). Sie wird zum ausschließlich und dauernd verfügbaren Körper gemacht.21 Der Titel des Romans »Kao da 20 | Andrea Dworkin: »Pornographie. Männer beherrschen Frauen«, Frankfurt 1990: 243, zitiert aus Seifert 1993: 89. Vgl.: »Žene ovdje postoje samo još kao množina. Bezimene, bezliˇcne, zamjenjive popot komada kruha ili sapuna« (Kao da: 47). 21 | Die Frauen im Lager »funktioniraju na poseban naˇcin, kao pogon za servisiranje« (Kao da: 77).

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me nema« – ein Zitat aus »Primo Levis Se questo è un uomo« – spielt nicht nur auf die Erfahrung der Dissoziation bei der ersten Vergewaltigung der Protagonistin an (denn sie fühlt sich, als ob sie nicht da wäre, Kao da: 55f.). Der Titel spielt auch auf diese Dimension des Nicht-Existierens, des gänzlich Objekt-Seins an. Dagegen kämpft aber die Protagonistin, denn der Roman schildert eine dreifache Strategie zur Wiedererlangung eines Subjektsstatus als – soweit es unter den Umständen möglich ist – doch noch selbst bestimmter Mensch. Die erste Stufe dieser Subjektwerdung ist der Versuch, die Täter zu ›vermenschlichen‹ (»rehumanizing«, Halpern/Weinstein 2004). Das Ziel ist keine naive Versöhnung oder gar Rechtfertigung. Ganz im Gegenteil. Wenn es über die Vergewaltiger heißt: »Doch auch die Männer sind keine Personen mehr. […] Ihre Körper, ihr Wille gehören ebenfalls nicht ihnen, sondern der Armee, dem Anführer, der Nation. Sie gehorchen und erfüllen die Befehle von Menschen, denen sie glauben oder vor denen sie sich fürchten« (Als gäbe: 82),22 so ist das eher ein Versuch der Relativierung der Selbsterhöhung von Männern zu Helden im Krieg. Das, was als rechtfertigender Gestus anmutet, entpuppt sich als Rache der Erzählerin sowie ein Auslegungsangebot an die Opfer und die Lesenden: Die Soldaten sind keine Helden, sondern eben bloß bewaffnete Männer. Ob sie nun mehr oder minder eigenständig entschieden haben, ihre Selbstbestimmung aufzugeben, so sind sie dennoch auch nicht selbstbestimmt, sondern auch, bis zu einem gewissen Grade, fremdgesteuerte, außengelenkte Objekte. Nun zur zweiten Stufe der Subjektwerdung der Protagonistin: Nachdem das Bewusstsein der Entmachtung in den Körpern der vergewaltigten Frauen buchstäblich eingeschrieben worden ist (einem 13-jährigen Mädchen wird das sog. serbische Kreuz in den Rücken eingeritzt),23 beschließt die Protagonistin, Widerstand zu leisten. Sie beschließt, sich zu weigern, sich als verfügbares Objekt zu definieren. Von einem »Stück Fleisch wie eine Schafskeule oder Eingeweide« (Kao da: 75) will sie wieder Mensch werden. Indem sie sich schminkt, will die Protagonistin sich eine Maske schaffen, um eine bestimmte Rolle zu spielen (Kao da: 74f.), die einer Verführerin: »Wenn sie [die Frauen] so täten, als genössen sie es, die [Krieger] glaubten, verführt zu werden, dann schaffen es die Krieger, sie zu erniedrigen« (Als gäbe: 94).24 In freier Anlehnung an Joan Rivière: Eine spezifische Form von Weiblichkeit wird zur Maskerade zur Wiedererlangung der eigenen Subjektivität. Zum Lagerkommandanten gerufen, versucht sie, dieses Rollenspiel durchzuführen (Kao da: 84f.). Sie erzwingt eine Normalisierung ihres 22 | »Ali ni vojnici više nisu osobe […] Njihova tijela i njihova volja također pripadaju nekome drugom – vojsci, vođi, naciji. Slušaju i izvršavaju naredbe ljudi kojima vjeruju ili kojih se boje« (Kao da: 66). 23 | Das Kreuz besteht aus vier kyrillisch geschriebenen ›s‹: »Samo sloga srbinja spasava« (Nur Eintracht rettet den Serben). 24 | »ako [žene] glume da uživaju, ako [vojnici] misle da su zavedeni, vojnici su onda nemoćni da ih ponize« (Kao da: 75).

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Verhältnisses mit diesem Mann, um ein alternatives Narrativ zu konstituieren, in dem sie sich weniger als Objekt fühlt.25 Es ist aber ein riskantes, belastendes Manöver: Die Protagonistin zweifelt zunehmend an der eigenen moralischen Integrität, fühlt sich kompromittiert und hat Schuldgefühle.26 Dennoch: Die Erinnerung an Geschlechterrollen hilft der Protagonistin aus ihrer psychischen Auslieferung. Der Kampf »um die Erhaltung des Körpers und seiner Weiblichkeitsattribute« wird in den Erfahrungsberichten z.B. aus NS-Lagern »häufig als Widerstands- und Selbstbehauptungsakt« dargestellt (Anschütz/Meier/Obajdin 1994: 132). Durch das bewusste Rollenspielen wird S. wieder zur Protagonistin im etymologischen Sinne des Wortes: ›agon‹, Kampf. Nun zur dritten Stufe der Subjektwerdung: Nachdem die Protagonistin entlassen wird, möchte sie alles vergessen, um sich selbst wieder zu ›finden‹.27 Dies wird aber dadurch zusätzlich erschwert, dass sie schwanger ist und es für eine Abtreibung zu spät ist. Zunächst wünscht sie sich den Tod des »Wesens« in ihrem Bauch (Kao da: 119), sie empfindet es als »Tumor« (Kao da: 120), »Last« (Kao da: 144) und »Parasit« (Kao da: 144), denn schon wieder bestimmt jemand anders über ihren Körper (Kao da: 119, 120, 128). Nach einem quälenden Prozess beschließt sie, das Kind doch anzunehmen. Nun: Diese Lösung, die Annahme des Kindes, klingt versöhnlich und stereotypisch – ist es aber nicht, oder zumindest nicht nur. Was die Protagonistin S. bewegt, sind weniger moralische Überlegungen und noch weniger etwa eine essentialistische Auffassung von Mutterschaft, sondern eine kämpferische Haltung: Es geht ihr um die Behauptung ihrer eigenverantwortlichen Existenz, die, so ihre Erkenntnis, nur mit dem Erinnern einhergehen kann. Mit dieser Entscheidung löst sich die permanente Angst der Protagonistin, im ewigen Zustand des vergessenen, nicht als Individuum wahrgenommenen Objekts zu verharren. S. hat einen wiederkehrenden Traum, in dem sie einen ihrer Vergewaltiger ersticht und dieser sie nicht erkennt, was für sie etwas höchst Quälendes ist (Kao da: 154). Mit dem Entschluss, nicht zu vergessen, kehrt dieser Traum nicht mehr wieder: Sie versteht, dass der Täter sie zwar nie erkennen würde, das Wesentliche jedoch darin liege, sie, als Opfer, dürfe nicht vergessen, denn das sei, was die Täter wollten (Kao da: 160). Mit dem Willen zum Erinnern – der als schwerer Prozess dargestellt wird, wie der Film »Grbavica« (2005, ›Esmas Geheimnis‹), der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanić später zeigen wird – vollzieht sich die Subjektwerdung der Protagonistin, die somit wie-

25 | Zudem bewirkt dies, dass sie für die nächsten drei Monate von ›nur‹ einem Mann vergewaltigt wird, der sie nicht schlägt oder ihr ins Gesicht uriniert, und dass sie bei ihm warmes Essen und Pausen vom Lagerleben bekommt. Das hierarchische Verhältnis bleibt unverändert: Sie wohnt im Frauenraum und er verfügt über sie. 26 | Siehe Kao da: 91ff. Zu Schuldgefühlen im Lager siehe auch Thaidigsmann 2009: 85. 27 | Dieser Versuch des Vergessens wird detailliert beschrieben, Kao da: 124, 131, 138, 147f., 149.

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der selbst bestimmte Handlungsfähigkeit erlangt. Der Titel von Drakulićs Roman lautet: »Als gäbe es mich nicht.« Das Buch ist ein Aufruf zum Dasein. Die kämpferische Dimension des Buches fällt noch mehr ins Auge, vergleicht man es mit anderen literarischen Darstellungen von Vergewaltigungen von Frauen im Krieg: In Aleksander Tišmas »Upotreba čoveka« (1980, ›Der Gebrauch des Menschen‹), der u.a. das Schicksal einer in einem NS-Lagerbordell internierten Frau erzählt, wird diese in der Nachkriegszeit zwangsläufig zur Hure; die Kurzgeschichten von Zlatko Topić »Almasa« und »Metamorfoze« (1999, ›Almasa‹ und ›Metamorphosen‹), die auf den Bosnienkrieg anspielen, realisieren mittels der Verschleierung durch Ästhetisierung den konventionellen Topos der entehrten Frau, wobei die Frau als Objekt der kollektiven Wahrnehmung dargestellt wird; in seinem »Pokušaj zaboraviti« (2010, ›Versuch, zu vergessen‹«) liefert der kroatische Autor Miro Gavran eine friedfertige Lösung, die einer Bagatellisierung des empfundenen Leidens des vergewaltigten Mädchens gleichkommt, denn in der Liebe zu einem aufrichtigen Jungen kann das Ganze vollkommen vergessen werden.

D ARSTELLUNG , ODER DIE ÄSTHE TISCHE D IMENSION Das Thema des Romans ist also sehr delikat und belastend, der Text liest sich dennoch gut. Die Gründe hierfür, also die Ebene der Darstellung, seien hier angeschnitten. Erstens, anders als Zeitzeugenberichte, die meist zersplittert und repetitiv sind, fokussiert der Text auf eine Geschichte und einen Aspekt. Zweitens, Drakulić geht mit der Technik des Spannungsauf baus, d.h. mit der Technik, das Interesse der Lesenden wachzuhalten, gekonnt um.28 Drittens, der Roman verzichtet auf einen für die Opfer erniedrigenden Hyperrealismus; so wird die vulgäre Sprache der Täter nicht reproduziert, die Darstellung der Vergewaltigung zielt nicht auf Voyeurismus ab, da sie diskret und stets aus der Perspektive des Opfers geschieht. Viertens, dieser zu weiten Strecken interiorisierte Roman erscheint als Psychogramm eines Vergewaltigungsopfers.29 Fünftens, der Text liefert kein leichtfertiges, versöhnliches Identifikationsangebot mit der Protagonistin: Es ist ein verstörender Text. »Kao da me nema« bricht die »Logik des Schweigens«, die danach trachtet, die weibliche Erfahrung von Vergewaltigung im Krieg (Seifert 1993: 197) zu marginalisieren, und stellt zudem einen Akt des Widerstands gegen die Repräsentation von Frauen im Krieg als »bloße Körper« (Kesić/Lyubimir 2003) dar. Der Roman liefert ein offensives Narrativ der Wiederaneignung von Körper, Gedächtnis und Identität, welches das Erinnern an die geschlechtlich markierte Erfahrung der 28 | Als Beispiel sei der Spannungsaufbau rund um die erste Vergewaltigung von S. erwähnt (Kao da: 41ff.). 29 | Siehe Anm. 5.

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Vergewaltigung zur Voraussetzung für einen Lebensentwurf macht. Zugleich ist er aufgrund der darin geschilderten riskanten Strategie der Subjektwerdung ein hoch problematischer Text, umso mehr als die Autorin über Erfahrungen erzählt, die sie selbst nicht gemacht hat. Jenseits all der hier vorgenommenen literaturwissenschaftlichen und kritischen Differenzierungen möchte ich mit zwei rezeptionsästhetischen Tatsachen schließen, die mir ebenso wichtig erscheinen. Die erste: Der Roman ist in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach rezipiert worden.30 Die zweite: Die Autorinnen der erwähnten Sammlung von Zeitzeugenberichten »Molila sam ih da me ubiju« (›Ich flehte um meinen Tod‹) haben diesen Roman mit einer kaum anzufechtenden auctoritas versehen: Diese, so Drakulić (vgl. Drakulić 2001), haben ihr ihr eigenes Buch, in dem sie über ihre Erfahrungen als Opfer von Vergewaltigung in Krieg berichten, geschenkt und sich bei ihr für ihren Roman »Kao da me nema« bedankt.

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Drakulić, Slavenka (2008): »Rape as a Weapon of War«. In: The Nation, 07.07.2008, http://www.thenation.com/article/rape-weapon-war vom 14.03.2012. Drakulić, Slavenka (1993): »The Enemy Within«. In: The Women’s Review of Books 10/8, S. 5f. Engle, Karen (2005): »Feminism and its (Dis)contents: Criminalizing Wartime Rape in Bosnia and Herzegovina«. In: The American Journal of International Law, 99/4, S. 778-816. Gerigk, Horst-Jürgen (2002): Lesen und Interpretieren, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Grlić, Eva (2001: Sjećanja. Zagreb: Durieux. Halpern, Jodi/Weinstein, Harvey M. (2004): »Rehumanizing the Other: Empathy and Reconciliation«. In: Human Rights Quarterly 26/3, S. 561-583. Kesić, Vesna/Lyubimir, Vinka (1993): »The High Price of Free Speech«. In: The Women’s Review of Books 10, Nr. 10/11, S. 16-17. Kobolt, Katja (200): Frauen schreiben Geschichte(n): Krieg, Geschlecht und Erinnern im ehemaligen Jugoslawien. Klagenfurt; Wien: Drava-Verlag Latić, Nedžad: »Ispovijest silovane muslimanke«. In: Behar 90-91, S. 19-27. Levi, Primo (1997): Se questo è un uomo. La tregua, Turino: Einaudi. McGlothlin, Erin (2006). Second-generation Holocaust Literature: Legacies of Survival and Perpetration, Rochester/New York: Camdon House. Müller-Funk, Wolfgang (2006): Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften, Tübingen/Basel: Francke, S. 286-305. Münnich, Nicole (o.J.): ›Tito tabuisiertes ›Hawaii‹: Zum Stand der Forschung über die jugoslawische Lagerinsel Goli Otok und zur Frage nach Aufarbeitung, http://www.fraumuennich.de/KommunismusforschungMuennich.pdf am 14.03.2012. Neumann, Birgit (2005): »Literatur, Erinnerung, Identität«. In: Astrid Erll/Angsar Nünning (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlagen und Anwendungsperspektiven, Berlin: de Gruyter, S. 149-178. Verfasser unbekannt (2010): »Slavenka Drakulić je predstavila reizdanje knjige ›Kao da me nema‹«. In: Metroportal, 25.10.2010, http://metro-portal.hr/slavenka-drakulic-predstavila-reizdanje-knjige-kao-da-me-nema/50252 vom 14.03. 2012. Oppenheimer, Christa (2006): Anerkennung, Mißachtung und Gewalt. Anerkennungstheoretische Reflexionen am Beispiel Frauen- und Heiratshandel sowie Vergewaltigung als Kriegspraxis, Königstein/Taunus: Helmer. Perko, Gudrun/Pechriggl, Alice (1996): Phänomene der Angst. Geschlecht – Geschichte – Gewalt, Wien: Milena. Šalamov, V. (2008): Kolymskie rasskazy. Moskva: Eskmo. Sander, Helke/JoKao da: Barbara (1992): BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigung, Kinder, München: Kunstmann. Schulz, Christa (1994): »Weibliche Häftlinge aus Ravensbrück in Bordellen der Männerkonzentrationslager«. In: Claus Stolberg-Füllberg/Martina Jung/Re-

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Filmische Darstellung sexueller Gewalt im litauisch-deutschen Shoah-Film »Ghetto« Gintare Malinauskaite

Kino ist eine Erfahrung, die uns nicht nur die Geschichten anderer mitteilt, sondern auch versucht Empathie für seine ProtagonistInnen zu beschwören. Filme kreieren das, was Alison Landsberg »transferential spaces« nennt, nämlich Räume zwischen den ZuschauerInnen und einem Filmnarrativ. Auf diese Weise übernehmen die ZuschauerInnen prosthetische Erinnerungen, welche es laut Landsberg den KinobesucherInnen ermöglichen »to experience in a bodily way something that one was not actually living through« (Landsberg 2004: 28). In diesem Beitrag werden die filmischen Erinnerungen und Darstellungsstrategien der jüdischen Weiblichkeit und der sexuellen Gewalt gegen Frauen während der Shoah im litauisch-deutschen Film skizziert, um »transferential spaces« zu erschaffen, die es dem Publikum erlauben, die Gräueltaten und die Gewalt gegen jüdische Frauen während des Holocausts zu erfahren und zu verstehen. Es ist erwähnenswert, dass das Bild der JüdInnen immer durch die visuelle Darstellung in öffentlichen Räumen geschaffen wurde und dies heute durch das Medium Film transportiert wird (vgl. Bartov 2005: 311). Der Film ist nicht nur ein Phantasieort, sondern er ist auch, wie Eike Wenzel es nennt, ein Gedächtnisraum (vgl. Wenzel 2000). Die Figur der JüdInnen im Kino beeinflusst die öffentliche Vorstellung und Wahrnehmung dieser Stereotypen (vgl. Bartov 2005: 311). Einleitend werden das in Litauen dominierende kulturelle Gedächtnis und der Erinnerungsdiskurs über die Shoah vorgestellt. Diese Hintergrundinformationen sind wichtig, um die filmische Unwissenheit zu verstehen sowie den Unwillen darüber, das Gedächtnis der Judenvernichtung darzustellen. Nachfolgend werden die filmische Repräsentation von Jüdinnen und die weiblichen Erfahrungen während ders Massenmordes analysiert. Dabei wird besonders auf die weibliche Stimme im Shoah-Film und auf die filmische Darstellung der Frauen während des Holocausts eingegangen. Zunächst werden die ikonografischen Transfers, die die Schilderung jüdischer Weiblichkeit im litauisch-deutschen Shoah-Film beeinflusst haben könnten, untersucht. Anschließend wird die Frage diskutiert, wie sehr das filmische Gedächtnis der Shoah mit der litauischen Gedächtniskultur

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kompatibel ist und mit welchen Herausforderungen die FilmemacherInnen konfrontiert sind, um den Holocaust in die litauische Gegenwart zu projizieren.

H ISTORISCHE UND FILMISCHE G EDÄCHTNISR ÄUME DER S HOAH IN L ITAUEN Litauen wurde während des Zweiten Weltkriegs zweimal durch die Sowjetunion und einmal durch NS-Deutschland besetzt. Diese Besatzungen schufen mehrere historische Gedächtnisräume. Die sowjetische Besatzung dauerte annähernd 50 Jahre an (bis 1990) und wurde zum Symbol der litauischen Opferrolle. Wie einer der bekanntesten gegenwärtigen litauischen Philosophen, Leonidas Donskis feststellt, leidet Litauen an einer neuen sozialen Krankheit, die durch einen »loss of a sense of history« charakterisiert ist (Donskis 2006: 23). Donskis behauptet, dass »many Lithuanians are still inclined to portray their country as an absolute victim of the twentieth century, without giving much consideration to the political faults and moral evils committed by their compatriots to their fellow Jewish citizens« (ebd.: 13). Dieses Opfernarrativ, das sich demnach in das historische Gedächtnis einer ganzen Nation verwandelte, dient laut Budryte einer ganz bestimmten Funktion. Es hilft nämlich, das Gefühl der Einheit und Stabilität in der Gesellschaft zu schaffen (vgl. Budryte 2005: 176). Auf diese Weise bleibt die Periode der NS-Besatzung, die durch die Judenvernichtung charakterisiert wird, als ein paralleler Geschichtsraum des Gedächtnisses erhalten, der bis heute nicht Teil der Mainstreamerinnerungskultur geworden ist. Trotz der Tatsache, dass in Litauen mehr als 200.000 litauische JüdInnen ermorden wurden, was 95 Prozent aller litauischen JüdInnen entsprach. Einen so hoher Anteil an ermordeten JüdInnen gab es nirgendwo sonst im NS-besetzten Europa. Natürlich konnte solch eine Massenvernichtung nicht ohne die Einbeziehung der lokalen Bevölkerung und Verwaltung vollzogen werden. Diese Erinnerungskonkurrenz ist auch in dem litauischen Kino und den Dokumentarfilmen zu beobachten. Der litauischer Historiker Nikzentaitis sieht die Gefahr, dass solche konkurrierenden Gedächtnisräume »zur Entstehung von Parallelgesellschaften oder zur erinnerungskulturellen Ghettoisierung von Minderheiten führen können« (2008: 166). Der Film »Ghetto« (Reg. Audrius Juzenas, 2006) ist der erste und einzige litauische Shoah-Spielfilm1, der auch zur Diversifizierung des litauischen historischen Kinos beitrug. Litauische Film1 | Alle anderen Shoah-Filme sind Dokumentarfilme. Es ist wichtig die Serie von Filmen zu erwähnen, die vom litauischen Filmregisseur Saulius Beržinis gedreht wurden. Einige seiner Filme sind »Farewall, Yerushalayim de Lita!« (1994), »End of the Road« (2000) oder »Unwritten Diary of Judel« (2005). Lilija Kopač führte auf die Inititative des Vilna Gaon Jüdischen Museum bei zwei Dokumentarfilmen die Regie, »I Leave My Child to You« (2005) und »Étude of Hope« (2007), welche vom Leben der Künstlerin Helene Holzman handeln.

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emacherInnen lassen in ihren Filmen keine jüdischen Charaktere auftauchen, außer vereinzelt in Nebenrollen. Diese filmische Ignoranz kann dadurch erklärt werden, dass sich die litauische Erinnerungskultur einschließlich des filmischen Gedächtnisses seiner Geschichte nach der Unabhängigkeit Litauens von der Sowjetunion im Jahre 1990 vor allem auf die Erinnerung der Opfer unter sowjetischer Herrschaft und auf die litauische Mehrheitsbevölkerung konzentrierte. In diesem Zusammenhang sind Filme ein wichtiges Instrument zur Verbreitung von Ideen der Zugehörigkeit zu einer Nation und ihrer traumatischen Vergangenheit. Wie Marsha Kinder beobachtet, war das Medium Film schon immer ein »important vehicle for construing images of a unified national identity« (1993: 7). Die Absicht, die nationale Identität zu vereinen, führte zu der Entwicklung des so genannten Partisanenkinos, das sich auf die ›ethnischen LitauerInnen‹ konzentriert und die Geschichte durch die Erzählungen von Opfern darstellt. Das Aufkommen des Shoah-Kinos ist ein Phänomen des letzten Jahrzehnts. Es ist eng verknüpft mit dem Prozess der Transnationalisierung des Gedächtnisses. Dieses transnationale Phänomen im Feld des nationalen kollektiven Gedächtnisses wird gegenwärtig auch von Levy und Sznaider (2006) in ihrem Buch »The Holocaust and Memory in the Global Age«. Sie beobachten die Vervielfältigung des Gedächtnisses und den Niedergang des Nationalstaats, da »national memories are now mixed with collective memories culled from other, collective expressions of solidarity such as ethnicity, gender and religion« (ebd.: 35). Dies führt zu einem Wandel der Grenzen des Gedächtnisses und das kollektive Gedächtnis der jeweiligen Nation wird tatsächlich an neuen Orten geformt (ebd.: 202). Filmischer Ausdruck wird den Erinnerungen an die litauische Shoah vorwiegend durch ausländische Filmschaffende oder Mitglieder der jüdisch-litauischen Diaspora verliehen. Beispielhaft hierfür stehen der amerikanische Film »Partisans of Vilna« (1985) des Regisseurs Josh Waletzky oder der australische Dokumentarfilm »Uncle Chatzkel« (2000), der von einem Mitglied einer neuen Generation der litauisch-jüdischen Gemeinschaft, die im Ausland lebt, geschaffen wurde. Gleichermaßen wurde der Film »Ghetto« durch ein Team deutscher und litauischer Filmschaffender produziert. Dieser transnationale Wesenszug des litauischen Shoah-Kinos könnte damit erklärt werden, dass sich die litauischjüdische Gemeinschaft im 19. Jahrhundert und nach der Judenvernichtung in unterschiedlichen Teilen der Welt ansiedelte – von den USA über Deutschland und Australien bis nach Südafrika, wo rund 90 Prozent der dort lebenden JüdInnen von litauischen JüdInnen abstammen. Wie schon erwähnt, ist »Ghetto« der erste und einzige litauische ShoahSpielfilm. Er basiert auf Joshua Sobols Theaterstück »Ghetto« und erzählt die Geschichte der Ghettoisierung und systematischen Ermorderung im Ghetto von Vilnius (1942-43), in dem ungefähr 15.000 JüdInnen lebten und schließlich umgebracht wurden. Den historischen Horizont bildet die Zeit der Besetzung Litauens durch die Nazis, die von 1941 bis 1944 dauerte. Im Jahre 1941 wird das Ghetto von Vilnius durch den Nazi-Offizier Kittel geleitet. Im Ghetto trifft er die jüdische

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Sängerin Haya. Fasziniert von ihren Gesangskünsten entscheidet er sich dazu, ein Ghetto-Theater zu schaffen. Die Funktion des Theaters ist es, das Alltagsleben im Ghetto zu normalisieren. Das Theater ist erfolgreich und wird von den JüdInnen genutzt, um ihrem Widerstand gegenüber den Nazis in ihren Theaterstücken Ausdruck zu verleihen. Der Film hat den Anspruch, eine authentische Nacherzählung der Ereignisse zu präsentieren, die sich im Ghetto von Vilnius vollzogen haben. Aber die These der Authentizität ist angreif bar. Natürlich sind die Örtlichkeiten, das Ghetto-Theater und auch einige Personen authentisch, dennoch war nicht die einseitige und erzwungene Liebe zwischen einem Nazi-Offizier und einer jüdischen Sängerin der Grund für Entstehung dieses Theaters. Darüber hinaus haben sich die beiden Figuren in der Realität nie getroffen, da die Hauptfigur, die Sängerin Liuba Levicka, bei Kittels Ankunft im Ghetto bereits in Paneriai erschossen worden war (vgl. Vasinauskaite 2006).

D IE R EPR ÄSENTATION DER SUBALTERNEN WEIBLICHEN S TIMME IM S HOAH -F ILM Trotz dieses Widerspruchs versucht der Film die jüdischen Frauen mit einer Stimme und einem Bild zu versehen. Haya ist nicht nur die Hauptfigur des Filmes, sondern sie ist auch die Erzählerin. Ihre Stimme führt uns durch den gesamten Film, sie erzählt nicht nur die Geschichte des jüdischen Lebens und Sterbens im Ghetto von Vilnius, sondern sie sinniert auch über ihr eigenes Schicksal und ihren Überlebenskampf. Die weibliche Stimme und ihr Zeugnis von der Grausamkeit der Shoah ist bis jetzt nach der Meinung von WissenschaftlerInnen eine marginale Erfahrung in der Erinnerung an den Massenmord, in welcher der Mann als der primäre Träger der Holocausterfahrung und die Frau nur als passive Opfer dargestellt werden. Hedgepeth und Saidel (2010) argumentieren, dass die Erlebnisse von jüdischen Frauen und Themen, wie z.B. die sexuelle Gewalt, in der Geschichte des Holocausts vollständig vernachlässigt wurden. Sie erörtern, dass »there has been a resistance overall to looking at survivor’s experiences in the terms of gender«, weil »for some historians, focusing on women means that you are taking away from the totality of the Holocaust experience« oder »questioning who suffered more« (Hedgepeth/Saidel 2010: 2). Ähnlich argumentieren die deutschen Wissenschaftler Paletschek und Schraut, die erklären, dass Frauen und ihre Leistungen vom kulturellen Gedächtnis ausgeschlossen wurden (vgl. 2008: 9). Assmann beobachtet, dass Frauen normalerweise diejenigen sind, die sich erinnern. Frauen seien Subjekte, aber nicht Objekte des Erinnerns und Männer seien Subjekte und nicht Objekte des Vergessens (vgl. Assmann 2006). Auch wenn ›Rasse‹ das primäre Ziel der Naziherrschaft war, müssen wir, wie Ofer und Weitzman erklären, »be attentive to the differences between men and women just as we must be attentive to other social

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differences among Jews«, wie zum Beispiel Religion und soziale Klassen (Ofer/ Weitzman 1992: 2). Nur ein solcher Analyserahmen ermöglicht es, wie Sara Horowitz bemerkt, »die komplexe und vollständige« Darstellung der Gewaltsamkeiten des Holocausts zu sehen (Horowitz 1999: 364). Der Film »Ghetto« beleuchtet nicht nur die weibliche Stimme, sondern offenbart auch die Problematik, ein persönliches Trauma zum Ausdruck zu bringen. In der Szene, in der Haya NS-Offiziere inklusive Kittel sexuell befriedigen muss, um das Leben von 600 JüdInnen zu retten, wird sie gezwungen sexuelle Gewalt zu erfahren. Ihr Körper wird in dieser Szene öffentliches Eigentum der NS-Herrschaft und sie wird von Kittel vergewaltigt. Dennoch bleibt diese traumatische sexuelle Erfahrung nach dieser Szene unerwähnt, obwohl die erzwungene Nacktheit im öffentlichen Raum und Vergewaltigung eine gewaltsame und traumatische Erfahrung für die meisten Frauen ist. Diese Momente der Stille und der Stimmlosigkeit, in denen das Opfer ihre privaten schmerzhaften Erinnerungen nicht öffentlich äußert, sind die Momente, die Frank Stern als Momente bezeichnet, »when the public and private spaces of remembering and forgetting do not coincide« (Stern 2007: 57). Haya kann auch nach vielen Jahren ihren Schmerz nicht in Worte fassen. Wie die israelische Filmforscherin Yvonne Kozlovsky-Golan bemerkt, schafft Gewalt gegen Frauen einen von Blicken verborgenen und wörtlich unbeschreibbaren Raum (vgl. 2010: 246).

F ILMISCHE S TR ATEGIEN DER D ARSTELLUNG VON F R AUEN IM S HOAH -F ILM »G HE T TO «: S E XUALISIERUNG UND M ILITARISMUS Auch wenn der Film »Ghetto« die emotionale Verletzung bildlich aber nicht verbal darstellen kann, so kann er jedoch andere Bilder weiblicher Erfahrungen während der Shoah übermitteln. Deshalb ist es das Ziel dieses Teils, die filmischen Strategien zu diskutieren, in denen Weiblichkeit, Gewalt und Überleben artikuliert werden. Es wird gezeigt, wie eine jüdische Frau in einer gewaltsamen Umgebung und unter schwierigen Bedingungen handelt. In diesem Film ist das Überleben der Frau eng mit ihrer Fähigkeit verknüpft, ihre Weiblichkeit auszudrücken. Dennoch versucht sie ihrer Weiblichkeit zu entfliehen, aufgrund derer sie sexuelle Gewalt erleiden muss, und sie wandelt sich in eine bewaffnete Frau, die im Wald den Kampf an der Seite von PartisanInnen aufnimmt. Auf diese Weise repräsentiert der Film eine Gender-Dynamik, da Hayas Charakter sich von dem einer stereotyp weiblichen und zerbrechlichen Sängerin hin zu einer mutigen Partisanin mit normalerweise nur Männer zugesprochenen Attributen wandelt. Die erste Strategie des Films jüdische Frauen zu porträtieren ist die Sexualisierung und Erotisierunng von Aggression und Gewalt, eine Strategie, die sinnbildlich für das Shoah-Kino ist. Laut Rebecca Scherr thematisieren erfundene Holocausterzählungen (filmische Narrative mit eingeschlossen), sexuelle Bezie-

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hungen und Erotismus und lassen es so zu, dass sich die ZuschauerInnen zwischen Sex und Gewalt bewegen können (2003: 276). In diesem Fall wandelt sich der weibliche Körper zu einem »site of eroticism and the site of memory« (ebd.). Dahingegen diente die Sexualität den Frauen in den meisten Fällen als ein Mittel des Widerstands gegen das NS-Regime und als ein Mittel das Ghetto zu überleben. Dennoch wird Sexualität, wie wir an dem Film »Ghetto« sehen werden, falsch interpretiert und wird auch auf Filmplakaten unter dem Slogan »Leidenschaft im Schatten des Todes« dargestellt (Abb. 1). Die Ikonografie des Films »Ghetto« konzentriert sich auf den weiblichen Charakter, doch ist seine Erzählung beschränkt auf die Darstellung des weiblichen Körpers. Die Körpersprache der Hauptdarstellerin und die Schilderung der weiblichen Nacktheit sollten das zentrale Thema des Films offenlegen, das auf den Filmplakaten als Liebe beworben wird. Der Film strebt nämlich danach, die abnormale Liebe zwischen einem Opfer und ihrem Täter darzustellen, die hilft, dem Tod im Ghetto zu entfliehen. Aber im Film wird es sofort deutlich, dass es sich um keine Liebe handelt, wenn, dann nur einseitig und gewaltsam vom Täter ausgehend. Eine der zentralen Szenen im Film ist die Partyszene (Abb. 2). Diese Episode versucht den intimsten Moment der so genannten ›passionierten Liebe‹, die eigentlich als sexuelle Gewalt angesehen werden kann, zwischen den beiden HauptdarstellerInnen zu porträtieren. Dennoch gibt diese Szene nicht Liebe, sondern eher die Demütigung der jüdischen Frauen und ihrer Körper zu erkennen. Diese Szene umfasst daher die Nacktheit jüdischer Frauen in der Öffentlichkeit. Es wird gezeigt, wie Haya und andere Frauen vom Ghetto, die leichte Kleider tragen, Nazi-Offiziere befriedigen. Die bildliche Darstellung dieser Frauen legt die sexuelle Gewalt, die im Ghetto vorherrscht, offen und es findet auch noch eine weitere Vergewaltigung statt. In dem Moment, als die Hauptfigur Haya gefilmt wird, kann vermutet werden, dass die Liebesgeschichte eigentlich eine irreführende Beschreibung der Filmsynopse ist. Haya tanzt mit dem Nazi-Offizier Kittel, doch als er sie berührt und küsst sind ihre Augen voller Angst. Er fordert sie dazu auf, ihre Kleidung abzulegen und ihre Brüste zu entblößen. Sie widersetzt sich ihm nicht. Im Falle der beiden Hauptfiguren endet die Szene daher ohne eine direkte Darstellung der Vergewaltigung und hinterlässt so nur deren Andeutung. Wie schon früher erwähnt, gibt es in dieser Szene keine verbale Erwähnung sexueller Gewalt, die Erzählerin, die gealterte Haya, bringt diese traumatische Erfahrung nicht zum Ausdruck. Dennoch hat die Szene eine erzählerische Bedeutung und verschafft Hinweise auf die Informationen, die dem Blick der Kamera verborgen bleiben. Wenn eine Frau in eine ausweglose Situation gebracht wird, durch die sie es zulassen muss, dass man ihre Kleidung wegnimmt und sie so den Blicken von Männern aussetzt »with whom she had no familial or sexual relationship was a crude and effective act of sexual violation« (Ni Aolain 2000). Diese Handlungen waren öffentlich – im Falle dieses Filmes während der Partyszene. Solch ein Aus-

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druck von vergeschlechtlichter, öffentlicher Gewalt war ein Weg »to demonstrate humiliation of the loser and the advantage of the victor« (ebd.). Darüber hinaus waren das Ziel, nicht nur die Frauen, sondern auch die gesamte Gemeinschaft in der sie lebten wie Eltern, Kinder und andere zu demütigen (vgl. ebd.). Das Ziel war es ihnen allen Leid zuzufügen. Tatsächlich sahen jüdische Frauen, die zustimmten sexuellen Kontakt mit NS-Offizieren zu haben, ihre Körper als ein Mittel, um zu überleben. Dennoch wird in vielen Szenen die Erotik von Haya ambivalent vorgeführt und ist als Leidenschaft und Liebe dargestellt. Auf diese Weise werden nicht nur die historischen Fakten und Erfahrungen falsch interpretiert, sondern auch die Shoah selbst, indem die Erinnerung an die Judenvernichtung in eine »sexy memory« (Scherr 2003: 298) umgewandelt wird. Nichtsdestotrotz wird Haya in diesem Film nicht nur als das Opfer sexueller Gewalt dargestellt, sondern auch als Heldin des jüdischen Widerstands im Ghetto. Auf diese Weise wandelt sie sich von dem passiven weiblichen Opfer zu einer aktiven Kämpferin und versucht dadurch, ihre menschliche Würde wieder herzustellen. Sie wird Mitglied der vereinten Partisanenorganisation, die eine der ersten Widerstandsorganisationen war, die in den Nazi-Ghettos während des Zweiten Weltkriegs gegründet worden waren, und deren Ziel es war, eine jüdische Selbstverteidigung im Ghetto zu begründen. Im Film besteht ein starker Gegensatz zwischen der heroischen jüdischen Frau und dem passiven jüdischen Mann. Als Haya sich dazu entschließt in den Widerstand zu gehen, fragt sie ihren männlichen Freund Brulik, der zu dieser Zeit Direktor des jüdischen Ghetto-Theater ist, sie bei ihrem Kampf im Wald zu begleiten, aber er entscheidet sich im Ghetto zu bleiben. In diesem Augenblick scheint es so, als haben männliche und weibliche Charaktere ihre sozialen Rollenmodelle im Ghetto komplett vertauscht. Die Frau wird eine Kämpferin mit Waffen und der Mann wird zu einem Kämpfer des Geistes, indem er im Theater arbeitet, das als das Zentrum des jüdischen Widerstands gegen die Nazis erachtet wurde. Anhand des Filmes konnte gezeigt werden, dass die weibliche Hauptfigur Haya viele Gesichter hat, auf der einen Seite wird sie als Opfer sexueller Gewalt beschrieben, die ihren Körper als Waffe gegen die Nazis benutzen muss. Auf der anderen Seite wird sie stärker als der jüdische Mann dargestellt, wenn sie als Partisanin, als eine Heldin des bewaffneten jüdischen Widerstands, präsentiert wird. Dennoch ist es wichtig zu analysieren, wie diese gegenderten Darstellungen zum Vorschein kommen und auf welche cineastischen Traditionen sich die Darstellung der jüdischen Weiblichkeit im Film »Ghetto« zurückverfolgen lässt.

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D ER IKONOGR AFISCHE TR ANSFER JÜDISCHER W EIBLICHKEIT : DIE N AZI -M ETAPHORIK DER S EXUALITÄT UND DAS S OWJETHELDENTUM Normalerweise ist es einer der anspruchsvollsten Momente für einen Film, wenn dieser nicht nur im eigenen Land, nämlich für die Quellkultur, als »das Selbst« gesehen, aus dessen Kontext der Film stammt, sondern auch international, für die Zielkultur, als »das Andere« gesehen, für welche der Film nicht nur sprachlich sondern auch kulturell übersetzt werden sollte, gezeigt wird (Ramière 2006: 152f.). Im Fall des Filmes »Ghetto« ist dies noch komplizierter, da dieser als deutschlitauische Produktion ein binationaler Film in englischer Sprache ist. Deshalb muss sich der Film gleich an zwei Publika wenden, nämlich Deutschland und Litauen. Darüber hinaus sollte auch das internationale Publikum angesprochen werden. Um die internationale Anerkennung des Films und seine Rezeption in Deutschland zu erleichtern, wird der Film zunächst in Litauen und Deutschland anders betitelt. In der litauischen Ausgabe heißt er »Vilniaus getas« (»Das Ghetto von Vilnius«) und in Deutschland und auf dem internationalen Markt wird der Film unter dem Namen »Ghetto« vertrieben. In diesem Fall verschwindet die Ortsangabe Vilnius und der Filmtitel wird internationalisiert. Eine solche Entscheidung schafft den Eindruck, dass diese Ereignisse an jedem anderen Ort des von den Nazis okkupierten Europas hätte passieren können. Deshalb wird die Geschichte in den Zielgesellschaften als heimisch und nicht als fremd angesehen. Dennoch offenbaren nicht nur der Filmtitel, sondern auch die ikonografischen Traditionen der Shoah den transnationalen Charakter des Films. Die filmische Darstellung der jüdischen Weiblichkeit während der Judenvernichtung in Litauen basiert auf zwei Traditionen des Shoah-Kinos, nämlich auf der Metaphorik der Nazikunst und dem sowjetischen Kino. Die voyeuristische Erzählung der Judenvernichtung, gefüllt mit sexueller Gewalt und Erotik, ist ein Merkmal vieler Filme aus Europa und Hollywood, auch das neue deutsche Kino mit eingeschlossen, das den Symbolismus der Nazikunst, besonders der Hypersexualisierung und der Erotik, übermittelt. Die sexualisierte und melodramatische Auffassung der Shoah im Film wurde als eine der »body genres«2 des gegenwärtigen Kinos abgestempelt (Kerner 2011: 121). Diese ikonografische Tradition, die Nacktheit, Sexualität und Gewalt im Holocaustkino auf die Leinwand zu bringen, kann zum Symbolismus der Nazis selbst zurückverfolgt werden. Susan Sontag (1974), die die Kunst im Nationalsozialismus analysierte, argumentierte, dass die »utopische Ästhetik der physischen Perfektion einen idealen Erotismus implizieren«. Das Ziel einer solchen Bloßstellung der Erotik war das Ziel der Nazis, »die sexuelle Energie in eine höhere 2 | Das Konzept der ›body genres‹ ist durch die Feministin Linda Williams geschaffen worden. Danach können Filme, die eine bis in Mark und Bein gehende Reaktion bei den ZuschauerInnen auslösen, zu diesem Genre hinzugezählt werden. Sie behauptet, dass Melodrama, Horror und Pornografie zu diesen Filmen gehören.

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spirituelle Kraft um[zu]wandeln« (ebd.). Das erotische Element, nämlich die Frau in der nationalsozialistischen Kunst »ist als eine Versuchung gegenwärtig« (ebd.). Darüberhinaus behauptet Genet, dass »Faschismus […] ein Theater« ist, das die Sexualität aufführt (ebd.). Laut Kerner (2011: 139-140) ist die sexuelle Ausbeutung ein gemeinsames Thema in vielen »body genre« Holocaustfilmen, wie zum Beispiel der Lee Frost Film »Love Camp 7« (1969) oder Tinto Brass Film »Salon Kitty« (1976) oder Pier Paolo Pasolinis Film »Salo, oder Die 120 Tage von Sodom« (1975). Der Film »Ghetto« ist keine Ausnahme, Haya und die anderen weiblichen Darstellerinnen werden als Lustobjekte der Nazi-Offiziere dargestellt. Die Partyszene wird nicht nur in eindringlichen Farben gezeigt, sondern auch in Einzelbilde, die sich permanent bewegen und den Eindruck eines Dokumentarfilms erzeugen, der von einem Nazi-Offizier gefilmt wurde. Die schwarz-weißen Bewegungen der Kamera bilden hauptsächlich den weiblichen Körper ab, ihre Kleidung und den sexuellen Kontakt mit Nazi-Offizieren. Dadurch kann während dieser Szene der Eindruck gewonnen werden, dass es sich um einen geheimen Nazi-Dokumentarfilm handelt, der mit Erotik und sexueller Ausbeutung gefüllt ist. In vielen osteuropäischen Ländern hat die Shoah während der Sowjetbesatzung Aufmerksamkeit erlangt. Dennoch waren diese Filme, wie Lawrence Baron bemerkt, durch ihre kommunistische Ideologie gekennzeichnet, wo kommunistische PartisanInnen im Kampf gegen das NS-Regime gezeigt wurden (Baron 2005: 11-12). In diesen Filmen wurden die JüdInnen primär als passive Opfer dargestellt oder sie wandelten sich zu kommunistischen AktivistInnen (ebd.: 12). Derart ideologisches Shoah-Kino begann nach dem Zusammenbruch der UdSSR zu verschwinden. Dennoch überlebten die erzählerischen und ikonografischen Traditionen. In Litauen ignorierte die sowjetische Ära das Thema der Judenvernichtung und konzentrierte sich auf die poetische litauische Kinotradition, die trotz der Zensur daraufhin abzielte, die spezifische Identität des Landes zu offenbaren (Paukstyte 2003). Die filmische Repräsentation der Shoah, die erst während des letzten Jahrzehnts begann, hat gezeigt, dass die sowjetischen Traditionen der Darstellung der JüdInnen noch immer im Kino präsent sind. Die weibliche Hauptfigur Haya wandelt sich in diesem Film von einem Opfer sexueller Gewalt zu einer kommunistischen Partisanin. Die Ikonografie ihrer Zeit als Partisanin erinnert an die Bilder vieler sowjetischer Filme. Sie ähnelt nicht nur dem jüdischen Aktivisten, der gegen diejenigen kämpft, die mit Nazis kollaborieren, sondern auch der proletarischen Frau, die für Wohlstand und soziale Gerechtigkeit kämpft. Während einer Szene, in der ein Theaterstück des Ghetto-Theaters gezeigt wird, tragen Haya und die anderen JüdInnen Kleider, die nicht nur durch einen Davidstern, sondern auch mit den Zeichen der kommunistischen Ideologie, wie einem roten Schal, einem roten Taschentuch in ihren Taschen oder dem Schwenken einer Flagge, gekennzeichnet sind. Bald nach dieser Szene entschließt sich Haya, das Ghetto zu verlassen und sich den jüdischen PartisanInnen in ihrem Kampf gegen die Nazis anzuschließen. Es ist wichtig zu erwähnen, dass im Jahre 2008 litauische Staatsanwälte drei jüdische Partisanin-

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nen, Rachel Margolis, Fania Brantsovsky und Sara Ginaite, aus dem Ghetto Vilnius ins Visier nahmen. Ihnen wurde unterstellt, für die Gewalt an ZivilistInnen im Zweiten Weltkrieg verantwortlich gewesen zu sein. Jedoch waren sie durch die Einflussnahme ausländischer DiplomatInnen geschützt worden. Demnach kann bemerkt werden, dass die cineastische Darstellung von Jüdinnen, die sich von Opfern zu aktiven Kommunistinnen wandelten, der litauischen Geschichtspolitik ähnelt, in der JüdInnen nicht nur als Opfer, sondern auch als TäterInnen und VerräterInnen des litauischen Staates gesehen werden.

F A ZIT : D IE H ÜRDEN ÜBERWINDEN Wie kann ein cineastischer Raum geschaffen werden, der es den ZuschauerInnen, die aus einem Land kommen, das die Erinnerung an die Shoah marginalisiert und die JüdInnen nicht als einen Teil des litauischen Nationalstaats sieht, ermöglicht, die Abscheulichkeiten des Holocausts zu erfahren? Der Film »Ghetto« stellt eine Möglichkeit dar, wie dieser Weg anzugehen sei. Die Internationalisierung des Shoah-Kinos, besonders die internationale Zusammenarbeit mit anderen Ländern, die ähnliche Erinnerungsorte teilen, könnte der Startpunkt für eine Debatte über die Judenvernichtung in Litauen sein. Dieser Film zielt darauf ab, weibliche Opfer mit einer Stimme auszustatten und ihre Erfahrungen während der Nazibesatzung in Litauen zu teilen. Dennoch, wie gezeigt werden konnte, ermöglichen der internationale Charakter des Films und die ikonografischen Traditionen, die vom europäischen Film, dem Hollywoodfilm und dem Kino der Sowjetunion herrühren, den litauischen ZuschauerInnen, sich selbst vom Thema der Shoah zu entfremden. Der internationale Filmtitel, der die Erwähnung des Ortsnamen Vilnius vermeidet, die englische Sprache und die ausländischen SchauspielerInnen begründen den Eindruck, dass der Film nicht inländisch sei, sondern eher fremdländisch, auch wenn der Regisseur Litauer und die Geschichte litauisch sind. Was den Film dem litauischen Publikum fremd macht, sind seine ikonografischen und erzählerischen Unterschiede zum traditionellen litauischen Kino, das als poetisch bekannt ist, in dem nicht die Worte oder die Handlung, sondern die besondere Atmosphäre, Stimmung und Bilder die zentralen Erzählmomente sind (Davoliuté 2006). Deshalb muss das weibliche jüdische Opfer eine doppelte Hürde überwinden, um im nationalen litauischen Kino integriert zu werden. Die erste Hürde begründet sich in der Ethnizität, da das litauische Kino durch das sowjetische Trauma und ›ethnisch litauische‹ Opfer bestimmt ist. Die zweite Hürde ist das Geschlecht, da das litauische Kino und auch das Shoah-Kino hauptsächlich das männliche Märtyrertum beleuchtet, bei dem die Frauen normalerweise von der Handlung ausgenommen werden. Der Film »Ghetto« endet mit Kittels Sieg, da er am Leben bleibt. Zugleich weist der Film aber darauf hin, dass Kittel als Mensch niedergeschlagen wurde. In der letzten Szene legt er seine Uniform ab und ver-

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lässt das Theater im Mantel und Hut eines Juden. Dadurch erfolgt seine Umwandlung von einem Nazi-Offizier zu einem Juden. Wir wissen nichts über das Schicksal von Haya, ihr weiteres Leben bleibt den ZuschauerInnen ein Geheimnis und wird nicht dargestellt. Deswegen, um das weibliche jüdische Gedächtnis in das litauische Kino einzuschreiben, müssen die litauischen Filmschaffenden nicht nur das sowjetische Gedächtnis, sondern auch die vorwiegend männliche Geschichtsschreibung überwinden. Abbildung 1: Das Filmplakat definiert den Spielfilm »Ghetto« als die Geschichte der »Leidenschaft im Schatten des Todes« (auf Litauisch »Aistra mirties šešėlyje«)

Quelle: Ghetto (LT/DE 2006, Regie: Audrius Juzenas), Party-Szenecollage, Min.: 60-64

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Abbildung 2: Sexualisierung und Erotisierung sexueller Gewalt in Film »Ghetto« (Party-Szene)

Quelle: Ebd.

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F ILM »Ghetto« (LT/DE 2006, R: Audrius Juzenas).

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Stumm und unsichtbar? Ol’ga Preobraženskajas Stummfilm »Baby Rjazanskie/Die Frauen von Rjazan« Gerlinde Schwarz »Alle Filmgeschichten müssen neu geschrieben werden.« (E ISENSCHITZ 2003: 5) »Erinnerung bedarf immer eines Anstoßes;« (A SSMANN 2010: 18)

Bei den 53. Filmfestspielen von Locarno im August 2000 wurde der Versuch unternommen, einige Kapitel der sowjetischen Filmgeschichte neu zu schreiben. Unter dem Titel »Die Schattenlinie. Eine andere Geschichte des russischen und sowjetischen Films (1926-1967)« präsentierte die Reprise erste Ergebnisse einer so genannten Konfliktkommission, die vom russischen Filmemacherverband ins Leben gerufen worden war, um unter internationaler Beteiligung die Archive nach verschollenen, unter Verschluss gehaltenen oder einfach nur ›vergessenen‹ Filmen zu durchsuchen. Erklärtes Ziel der Kuratoren war die Öffnung und Erweiterung des Kanons, da sowohl die westliche als auch die sowjetische Filmgeschichtsschreibung jahrzehntelang die Verbindung von ›Film und Revolution‹ betonte und nur eine begrenzte Anzahl von »Meisterwerken großer Autoren« ständig wiederholte (Fuchs/Grabherr 2003: 7f.; Herv. G.S.). Der Filmhistoriker Bernhard Eisenschitz kritisiert, dass die »akademische Geschichte« der Programmgestaltung von Festivals hinterherhinke und sich »weiterhin auf eine begrenzte Anzahl von Filmen [konzentriert], die allein die großen Regisseure1 und die Behandlung der großen Themen umfasst« (Eisenschitz 2003: 5; Herv. G.S.). 1 | Abgesehen vom inflationären Gebrauch des Epithetons ›groß‹ verdeutlicht folgendes Zitat, wie ›überragend‹ die Regisseure der sowjetischen Filmavantgarde diskursiv gemacht wurden: »Film historians in fact consider this period the Golden Age of Soviet cinema, pointing to the achievements of such geniuses as Sergei Eisenstein [Sergej Ejsenštejn], Vsvevelod Pudovkin, Lev Kuleshov [Kulešev], Dziga Vertov, and Aleksandr Dovzhenko [Dovšenko].« (Youngblood 1991: VII; Herv. G.S.).

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Die Slawistik ist ebenfalls um eine Neubewertung der russischen/sowjetischen Kinematografie bemüht. Die von Christine Engel 1999 herausgegebene »Geschichte des sowjetischen und russischen Films« stellt für den deutschsprachigen Raum eine erste und nach wie vor aktuelle Gesamtdarstellung des russischen/sowjetischen Filmschaffens von den Anfängen bis Ende der 1990er Jahre dar. Neben der breit angelegten Überblicksdarstellung soll durch die Monografie »die Lücke geschlossen werden zwischen den im deutschsprachigen Raum intensiv rezipierten Perioden und jenen, die bisher aus verschiedenen Gründen weniger zur Kenntnis genommen worden sind« (Engel 1999: XIf.). Aus feministischer Sicht ist es bedauerlich, dass sowohl die Retrospektive von Locarno als auch die »Geschichte des sowjetischen und russischen Films« es verabsäumt haben, filmschaffenden Frauen jenen Stellenwert einzuräumen, der ihnen gebühren würde. Obwohl gerade die 1920er Jahre zu den international am meisten beforschten Perioden der sowjetischen Kinematografie zählen, und Namen wie Sergej Ejšenstejn oder Dziga Vertov nicht nur Slawist_innen oder Filmwissenschaftler_innen, sondern auch filminteressierten Laien ein Begriff sind, hat die Wissenschaft gerade erst begonnen, die Beiträge von Frauen zur frühen Filmgeschichte sichtbar zu machen. O’lga Preobraženskaja, die erste Regisseurin Russlands, oder Esfir Šub, die ›Erfinderin‹ des Kompilationsfilms, stehen noch immer im Schatten der ›großen Autoren‹. Ihre Werke wurden kaum untersucht, ihr Schaffen nur unzureichend in größere Kontexte gestellt, ihre Namen sind im kulturellen Gedächtnis nicht mehr präsent. Laut Penkwitt führten die Verdrängung von Frauen aus dem Kanon der Literatur und Künste, die bis ins 20. Jahrhundert anhaltende Exklusion von Frauen aus den Wissenschaften sowie die Marginalisierung ihrer Beiträge, das Verschweigen und Vergessen ihrer aktiven Mitgestaltung der Politik und Geschichte zu einer doppelten Ausgrenzung »von ›Frauen‹ (und ihrer Werke) aus dem identitätsbildenden kulturellen Gedächtnis und damit zugleich zu einer Abwertung der sozialen Gruppe ›Frauen‹ oder auch von ›Weiblichkeit‹« (Penkwitt 2006: 4). Aleida Assmann differenziert zwischen dem »kulturellen Funktionsgedächtnis«, mit dem ein politischer Anspruch verbunden ist, und dem »kulturellen Speichergedächtnis«, welches als »Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse« und somit als »eine grundsätzliche Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens und eine Bedingung der Möglichkeit kulturellen Wandels« verstanden werden kann. Während das Funktionsgedächtnis als offizielles, politisches Gedächtnis entweder eine »Legitimation« von Herrschaft oder bei einem Machtwechsel eine »Delegitimierung« beabsichtigt und mit der »Distinktion«, das heißt mit »der Profilierung einer kollektiven Identität« in Verbindung steht, kann das Speichergedächtnis als dessen »Kontext« bzw. »Außenhorizont« betrachtet werden. (Assmann 2010: 138ff.) Das Archiv »als institutionalisiertes Gedächtnis der Polis, des Staates, der Nation, der Gesellschaft« hat laut Assmann sowohl Anteil am Funktionsgedächtnis als auch am Speichergedächtnis: »je nachdem, ob es eher als Herrschaftsinstrument oder als ausgelagertes Wissensdepot organisiert ist« (ebd.: 345). Als externer, kollektiver Wis-

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sensspeicher enthält es einerseits »Beweisstücke, die die Legitimationsgrundlage bestehender Machtverhältnisse absichern«, und andererseits stellt es ein »Reservoir möglicher noch nicht aktualisierter Erinnerungsanlässe und damit Chancen der Wiederanknüpfung« an die Vergangenheit dar (ebd.: 409).

F ILM — P OLITIK — I DENTITÄT Im Gegensatz zu anderen technisch reproduzierbaren Kunstwerken wird beim Medium Film die massenweise Reproduktion aufgrund der hohen Produktionskosten erzwungen. Während sich eine einzelne Person ein Gemälde leisten könne, musste ein ›größerer‹ Film laut Walter Benjamin bereits Ende der 1920er Jahre ein Millionenpublikum erreichen, um seine Produktionskosten einzuspielen. War die soziale Funktion von Kunstwerken bis zur Zeit ihrer massenweisen Reproduktion primär rituell, so wird sie nun in engstem Zusammenhang mit der politischen Praxis gesehen (vgl. Benjamin 1963). Massenkunst und politische Massenbewegungen sind für Benjamin miteinander verknüpft: Im Kommunismus drücke sich dies durch eine »Politisierung der Kunst« aus, die er der »Ästhetisierung der Politik«, die der Faschismus betreibe, gegenüberstellt (ebd.: 44). In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich festzustellen, dass für Benjamin Frauen, die im ausgehenden 19. und in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts öffentlich ihre Rechte einforderten, keine erwähnenswerte ›Masse‹ darstellten. Die später so genannte ›Erste Frauenbewegung‹ bleibt bei Benjamin als (politische) Massenbewegung unerwähnt, ebenso die Beiträge von Frauen zur ›Massenkunst Film‹. Politiker_innen 2 wie auch zahlreiche Künstler_innen in der frühen Sowjetunion betrachteten den Film als Medium, das am besten dazu geeignet sei, »die Realisierung der gesellschaftlichen Utopie voranzutreiben« (Engel 1999: XII). Neben dem ›Reiz des Neuen‹, genauer: dem ›Kult um das Neue‹, sprachen rein pragmatische Gründe für die Bevorzugung des Films. Vor allem die geringe Alphabetisierungsrate 3 der Bevölkerung zwang die Politik dazu, visuelle Massenmedien zu bevorzugen und zugleich zu reglementieren. Der sowjetische Film stand insofern vor einem Neubeginn, als er sich an »ein grundlegend anderes Publikum [wandte], das aus wirtschaftlicher und technischer Rückständigkeit 2 | Auf dem XIII. Parteikongress der RKP(b) wurde 1924 beschlossen, das Medium Film als »bedeutendstes Mittel der Erziehung, Ausbildung und Agitation der Massen« zu fördern (Schattenberg 2003: 1). 3 | Die Alphabetisierungsrate im Russländischen Imperium lag 1897 bei ca. 27 Prozent. Betrachtet man die Verteilung nach Geschlechtern, so wird die Ungleichheit sehr deutlich: ungefähr 39 Prozent der männlichen Bevölkerung und nur 17 Prozent der weiblichen Bevölkerung waren alphabetisiert. In ländlichen Gebieten waren es nur 10 Prozent der Frauen (vgl. Kappeler 1997).

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mit dem Film bis dahin nie in Berührung gekommen war« (Margolit 1999: 17). Das ›neue‹ Massenpublikum, die erst 1861 von der Leibeigenschaft befreite Bauernschaft, sollte durch das Kino politisch mobilisiert und sich seiner als Klasse bewusst werden. Die direkte politische Einflussnahme auf alle Bereiche der Filmproduktion und der Archivierung hatte den Auf bau einer ›neuen Gesellschaft‹ und die Schaffung einer ›neuen, sozialistischen Identität‹ zum Ziel; mit anderen Worten: Aufgabe der Kunst war es, das kulturelle Gedächtnis ›umzuprogrammieren‹. Der Film schien dabei aufgrund seiner spezifischen Apperzeptionsbedingungen geradezu wie geschaffen, den programmatischen ›neuen Menschen‹ als Vorbild zu präsentieren, um neue Identifikationen herzustellen, alte zu verwerfen, denn »[d]ie Masse ist eine matrix [sic], aus der gegenwärtig alles gewohnte Verhalten Kunstwerken gegenüber neugeboren hervorgeht« (Benjamin 1963: 39). War die individuelle Apperzeption von Kunstwerken primär mit Konzentration und Kontemplation verbunden – »[d]er vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein [sic]« – so geht die »simultane Kollektivrezeption«, wie der Film sie verlangt, mit einer »Zerstreuung« einher: »Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich« (ebd.: 40). Die »fachmännische Beurteilung« verbindet sich mit der »Lust am Schauen und am Erleben«, das durch die Reaktionen der anderen im Saal verstärkt, abgeschwächt und in gewisser Hinsicht gelenkt wird: »Indem sie [die Einzelnen] sich kundgeben, kontrollieren sie sich.« (Ebd.: 33; Herv. G.S.)4 In den eingangs erwähnten ›großen‹ Filmen der ›großen‹ Autoren schimmern all jene Strategien durch, die für Assmann das kulturelle Funktionsgedächtnis charakterisieren: die Delegitimierung der alten Herrschaft (der zaristischen Autokratie), die Legitimation der neuen Macht (der Bolschewiken unter Lenin, euphemistisch: des Volkes) sowie die Distinktion in Form einer dichotomischen Schwarz-Weiß-Malerei (alt – neu, patriarchalisch – sozialistisch, zaristisch – bolschewistisch, rural – urban, böse – gut ...). Welche Rolle der Gegensatz männlich – weiblich in der Filmkunst der frühen Sowjetunion spielte, wird im folgenden Kapitel deutlich.

4 | Auch für Schenk bietet das Kino einen Raum, in dem das Individuum zwischen kollektiver und individueller Rezeption eine Zone der spielerischen Identifikationen, der Ichund Wir-Bildungen, vorfindet: »Das Kino wiederum ist hierbei so etwas wie ein gefahrloses Experimentierlabor, in dem der Zuschauer [sic] Vorlagen zur Modellierung seiner Identitätskonstrukte bekommt, die er weitgehend frei von Realängsten phantasieren und kombinieren darf.« (Schenk 2003: 7)

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P OLITISCHE UND FILMISCHE R EPR ÄSENTATION VON F R AUEN IN DER FRÜHEN S OWJE TUNION Laut Judith Butler geht »[d]ie Matrix der geschlechtsspezifischen Beziehungen […] dem Zum-Vorschein-Kommen des ›Menschen‹ voraus« (Butler 1995: 29). Der ›neue Mensch‹ mit ›sozialistischer Identität‹ wäre demnach nicht von seiner Geschlechtlichkeit zu trennen und käme daher entweder als ›neuer Mann‹ oder als ›neue Frau‹ zum Vorschein. Judith Mayne hat sich in zwei Arbeiten intensiv mit dem Zusammenhang von Geschlecht und Politik im sowjetischen Stummfilm auseinandergesetzt. »All Soviet films of the 1920s are explorations of different facets of revolutionary consciousness. I want to examine whether, in Soviet cinema, there are ›female‹ and ›male‹ versions of political consciousness.« (Mayne 1980: o.A.) Judith Mayne schränkte den umfangreichen Untersuchungsgegenstand – ›alle sowjetischen Filme der 1920er Jahre‹ – zunächst auf folgende drei ein: »Strike« 5 von Sergej Ejsenštejn, Vsevolod Pudovkins »Mother« sowie »Fragment of an Empire« von Friedrich Ermler. Abram Room’s »Bed and Sofa« wurde dabei als Referenzwerk herangezogen. ›Die weibliche Version des politischen Bewusstseins‹ scheint sie nicht gefunden zu haben, wohl aber die Verortung der Frauen in der Sphäre des Privaten, sei es die Familie oder der Bereich der Sexualität (vgl. Mayne 1980). Zu den oben genannten Filmen kommen in einer späteren, ausführlichen Monograpfie Vertovs »Man with the Movie Camera« sowie »By the Law« (R: Lev Kulešov) und mehrere Ejsenštejn-Filme als Referenzwerke hinzu. Mayne ging davon aus, dass die Metaerzählung des Klassenkampfes mit Genderfragen bzw. mit der so genannten ›Frauenfrage‹ verknüpft ist und untersuchte die Filme dahingehend, wie Frauen auf narrativer und visueller Ebene repräsentiert werden: »Soviet representations of women in films of the 1920s occupy an often precarious balance betweeen stereotypically patriarchal, one-dimensional images of women [...] and contradictory figures that expose tensions and do not neatly serve narrative or ideological demands for unity and coherence.« (Mayne 1989: 20) Ein Beispiel stereotyper, eindimensionaler Darstellung von Frauen wäre Pudovkins »Mutter«, die vom Ehemann unterdrückt, vom Sohn politisch erweckt und sich so der Ungleichheit im (patriarchalischen) System bewusst wird: 5 | Die englisch- bzw. deutschsprachigen Verleihtitel stimmen nicht immer mit dem russischsprachigen Original überein: »Staˇcka«/»Streik« sowie »Mat’«/»Die Mutter« sind in allen drei Sprachen bedeutungsgleich, während der deutschsprachige Verleihtitel von »Oblomok imperii« – »Der Mann, der sein Gedächtnis verlor« – die politische Dimension verschweigt, denn die korrekte Übersetzung müsste lauten: »Bruchstück eines Imperiums«. Ähnliches gilt für die englische Übersetzung von »Tret’ja Mešˇcanskaja [Ljubov’ v trojom]«/ »Dritte Kleinbürgerstraße [Liebe zu dritt]« und den alternativen Verleihtitel »Bett und Sofa«. ˇ elovek s kinoapparatom«, eigentlich »Der Mensch mit der Filmkamera«, wird im Vertovs »C deutschen Verleih zu: »Der Mann mit der Kamera« (vgl. Bulgakova 1995).

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen »In Mother, a sense of class identity and solidarity is created by a shift in representation of the woman, from oppressive servitude to her husband, to supposed authentic nurturance of her son. In other words, class solidarity is shaped and consolidated by the substitution of one traditional gender role for another.« (Ebd.: 189)

Der Meister der Montage – Sergej Ejsenšteijn – kann ferner als Meister der Inszenierung althergebrachter Geschlechterstereotype angeführt werden, wenn er Frauen einerseits in der ›Opferrolle‹ aus der Klassenperspektive positiv bewertet und andererseits aktive Frauen negativ zeichnet, indem ihr Bild mit provokanter Sexualität und der ›falschen‹ Klassenzugehörigkeit verknüpft wird: sei es die sadistische Attacke mehrerer, offensichtlich der Bourgeoisie angehörender Frauen auf einen männlichen Demonstranten (vgl. ebd.: 51) oder das auf Seiten der provisorischen Regierung kämpfende Frauenbataillon in »Oktober«, dessen Darstellung Hinweise auf Homosexualität enthält: »In October, female autonomy is portrayed as perverse and unnatural. [...] Hence the film stumbles in its own articulation of natural versus unnatural definitions of womanhood.« (Ebd.: 57) In »Streik« werden Frauen aus dem Bereich des Öffentlichen gänzlich vertrieben, »[W]omen are defined as creatures of private space who confound the neat and clear distinctions drawn in the film between workers and bosses.« (Ebd.: 189) Attwood weist darauf hin, dass weder die Darstellung der Revolution als reine ›Männerangelegenheit‹ in »Oktober« noch die ›Verbannung‹ von Frauen aus dem Bereich des Öffentlichen in »Streik« den historischen Tatsachen entspricht.6 Für Attwood verkörpern Frauen im sowjetischen Stummfilm nicht reale Subjekte der Geschichte, sondern vielmehr abstrakte Ideen: als Symbole für »die Nation/nationhood«, »das Land/the land«, »Heimat/homeland«. Unter der narrativen Ebene ist für sie ein Subtext zu finden, der Frauen als Repräsentationen des »Volkes/the people« lesbar macht. Aus der Darstellung von Frauen bei Ejsenštejn zieht Attwood deshalb folgenden Schluss: »This suggests, that women function not only as metaphors for the Russian people and their moral virtue, but more generally as a standard of morality. Since women should be the epitome of moral purity, the cruelty of bourgeois women emphasises the moral degradation of their class.« (Attwood 1993: 16f.; Herv. G.S.) In Ejsenšteijns »Das Alte und das Neue« sowie in Pudovkins »Mutter« stehen Frauen wiederum für ›das einfache Volk‹, das vom ›männlichen Bolschewismus‹ über seine Unterdrückung aufgeklärt und aus ihr befreit wird. Allerdings hallt bei Pudovkin zusätzlich ein Echo der französischen politischen Allegorie nach, und »Die Mutter« kann als Personifizierung der »Republik« gelesen werden (Attwood

6 | Sowohl der Frauenanteil von 15 Prozent in politischen Parteien und illegalen revolutionären Bewegungen (Ende 19. Jahrhundert) als auch die Erwerbsquote von Frauen – 32 Prozent der Industriearbeiterschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts – waren im Vergleich zum übrigen Europa sehr hoch (vgl. Fieseler 2009).

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1993: 18).7 In diesem Zusammenhang hebt Attwood hervor, dass die sowjetische politische Allegorie im Gegensatz zur französischen keine Frauenfiguren, wie »die Republik« oder »Marianne« als Verkörperung der »Revolution« hervorgebracht hat. Die Revolution wird vielmehr von historischen Personen, in erster Linie von Lenin selbst verkörpert oder von männlichen Figuren: Revolutionären, Bolschewiken, Rotarmisten, Industriearbeitern, die das Volk – meist in Gestalt einer Frau – politisch aufklären und befreien (vgl. Attwood 1993). 8 Laut Butler legen »[d]ie Bereiche der politischen und sprachlichen ›Repräsentation‹ […] vorab die Kriterien fest, nach denen die Subjekte selbst gebildet werden, so daß nur das repräsentiert werden kann, was als Subjekt gelten kann« (Butler 1991: 16). Wie Mayne überzeugend gezeigt hat, sind die handelnden Subjekte in den untersuchten Filmen immer ›männlich‹, selbst wenn ein ›weiblicher‹ Standpunkt eingenommen wird (vgl. Mayne 1989). Für Attwood repräsentieren Frauen in den Filmen der 1920er Jahre in erster Linie ›das Volk‹, das durch den ›männlichen‹ Bolschewismus seiner selbst bewusst und erst dadurch zum politisch handelnden Subjekt wird. Bevor aus der (film-)sprachlichen Analyse der Repräsentation von Frauen der Schluss gezogen werden kann, dass Frauen nach der Revolution ein weiterhin durch die patriarchalische Unterdrückung geeintes Subjekt bilden würden, lohnt es sich, die Bereiche der politischen Repräsentation genauer zu betrachten. Die Einführung des Frauenwahlrechts im Juli 1917 durch die provisorische Regierung, die völlige Rechtsgleichstellung von Männern und Frauen nach der Oktoberrevolution, Reformen im Ehegesetz, die Legalisierung der Abtreibung (1920) sowie die Einführung des gesetzlichen Mutterschutzes waren für die damalige Zeit progressiv und sind in Zusammenhang mit der politischen Partizipation von Frauen zu sehen. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert waren Frauen relativ stark in den damals noch illegalen politischen Parteien vertreten, was durch ein für europäische Verhältnisse gut ausgebautes Frauenbildungswesen in den urbanen Zentren St. Petersburg und Moskau erklärt werden kann. Rund um eine dieser urbanen, gebildeten Frauen – die Ökonomin Alexandra Kollontai [Aleksandra Michajlovna Kollontaj] – formierte sich eine revolutionär-sozialistische Frauenbewegung, die maßgeblich an der Aufnahme der ›Frauenfrage‹ in die politische Agenda der unterschiedlichen sozialistischen Parteien beteiligt war. Als Volkskommissarin für soziale Fürsorge und später als Vorsitzende der neu 7 | Attwood unterscheidet für die französische politische Allegorie zwei Figuren, die junge, erotisch herausfordernde »Marianne« und die etwas reifer dargestellte »Republik«. In »Neues Babylon«/»Novyj Vavilon« von Trauberg und Kozincev findet sie ein seltenes Beispiel für erstere: »If Pudovkin’s Mother is an echo of The Republic, Louise (and, perhaps, Oktyabrina before her) is clearly Marianne.« (Attwood 1993: 18) 8 | Zum Fehlen von Frauenfiguren in der politischen Ikonografie vgl. Waters 1991 und zu ihrer Darstellung in der Bildenden Kunst der frühen Sowjetunion, die sich weitestgehend mit der Repräsentation von Frauen im Film deckt, vgl. Hilton 1993.

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gegründeten Frauenabteilung beim ZK der RKP9 hat sie an der Ausarbeitung der oben erwähnten Gesetze mitgewirkt (vgl. Fieseler 2009; Kollontai [o.J.]). Für Butler ist »[d]ie politische Konstruktion des Subjekts […] mit bestimmten Legitimations- und Ausschlußzielen verbunden; […] Demnach muß es der Politik um die Doppelfunktion der Macht gehen, nämlich um die juristische und die produktive.« (Butler 1991: 17) Juristisch wurden Frauen nach der Revolution als politische Subjekte legitimiert, während gleichzeitig bestimmten Gruppen – Adel, Klerus, Polizisten – die Bürgerrechte und somit der Subjektstatus im politischen Sinn verweigert wurden (vgl. Häfner 2009). 10 Durch die politische Partizipation und Repräsentation von Frauen konnte zwar ein ›weibliches‹ Subjekt hergestellt werden, allerdings nur um den Preis, dass anderen ›weiblichen‹ (und ›männlichen‹) Subjekten dieser Status vorenthalten blieb oder entzogen wurde. Das »Subjekt Frau(en)« erweist sich für Butler auch insofern als problematisch, als es sich auf eine »gemeinsame Identität« stützt, die es laut Butler nicht geben könne, »[…] weil die Geschlechtsidentität in den verschiedenen geschichtlichen Kontexten nicht immer übereinstimmend und einheitlich gebildet worden ist und sich mit den rassischen, ethnischen, sexuellen, regionalen und klassenspezifischen Modalitäten diskursiv konstituierter Identitäten überschneidet« (Butler 1991: 18).

(O HN -)M ACHT PERFORMATIVER A K TE IN O L’GA P REOBR A ŽENSK A JAS F ILM »B ABY R JA Z ANSKIE « Der russische Originaltitel11 verweist darauf, dass Frauen – in ironisierender Absicht auch Männer – aus dem bäuerlichen Milieu im Mittelpunkt stehen. Ol’ga 9 | Ziel der 1919 geschaffenen »Abteilung für Arbeiterinnen und Bäuerinnen im Zentralkomitee der RKP« (Russländische Kommunistische Partei), kurz »ženotdel« bzw. »Frauenabteilung«, war ›die Befreiung der Frauen der Arbeiterklasse und der Bauern‹. Dieses Ziel sollte in erster Linie durch Bildung, Förderung der Erwerbstätigkeit und die vermehrte politische Partizipation von Frauen erreicht werden (vgl. Fieseler 2009; Kollontai o.J.). 10 | In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Personen, denen das Wahlrecht aufgrund ihrer Klassen- bzw. Standeszugehörigkeit entzogen worden war (so genannte ›lišency‹), Bürgerrechte beantragen konnten, und diese erhielten, wenn sie ihre ›sozialistische‹ Gesinnung glaubhaft machen konnten (vgl. Häfner 2009). Der Subjektstatus im politischen Sinne war also nicht ausschließlich von der Herkunft (Klasse, Stand, Beruf) abhängig, sondern vielmehr von der performativ hergestellten Identität. 11 | In den 1920er Jahren kam der Film unter dem Titel »Das Dorf der Sünde« in die deutschen Kinos (vgl. Lukasz-Aden/Strobel: 1985). Der Verleihtitel lautet mittlerweile »Die Frauen von Rjazan«, was der Übersetzung aus dem Russischen zwar näher kommt, ohne jedoch die pejorative Bedeutung des Femininums »baba« mitzutransportieren. Das Russisch-Deutsche Wörterbuch nennt folgende Bedeutungen für das Substantiv »baba« »I. Bäuerin; Frau vulg. II. schwacher unentschlossener Mann, Knabe, ›altes Weib‹ iron. «

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Preobraženskajas Film blickt, wie von der Filmpolitik gefordert, ›dem Dorf entgegen‹, indem einerseits die weibliche, rurale Bevölkerung direkt als Adressatin angesprochen und andererseits deren Lebenswelt thematisiert wird. Realistisch und detailgetreu werden die Welt der Bauern und Bäuerinnen, deren Alltag und Feste, deren patriarchalisch geprägten Bräuche, die Arbeit, die einer strengen Geschlechterhierarchie folgt, gezeigt. 12 Die in einem ›typischen‹ russischen Dorf spielende Handlung beginnt im Frühling 1914 und endet nach der Revolution, eigentlich mitten im Bürgerkrieg des Jahres 1918, den Preobraženskaja weitestgehend ausblendet, wofür sie von der ARRK (Assoziation der Arbeiter der revolutionären Kinematografie) stark angegriffen wurde (vgl. Youngblood 1991). Narratives Zentrum bilden zwei junge Frauen: Anna, die als Waise in ärmlichen Verhältnissen mit ihrer Tante lebt, wird Vasilisa, der Tochter eines wohlhabenden Bauern, in dessen Familie Anna einheiratet, gegenübergestellt. Anhand von Annas ›Schicksal‹ wird exemplarisch die rechtliche Situation von Frauen sowie deren soziale Stellung vor 191713 dargelegt: Anna heiratet nicht, sie wird von ihrer Tante verheiratet. Die spärliche Mitgift, ein Kälbchen, verbleibt in ihrer Verfügungsgewalt. Sie ist als Schwiegertochter die unterste in der Hierarchie. Während der kriegsbedingten Abwesenheit ihres Mannes wird sie vom Schwiegervater (mehrfach?) vergewaltigt, schließlich schwanger und bekommt ein Kind. Nicht der Täter, sondern das Opfer wird von den anderen Frauen im familiären Umkreis bezichtigt, die Familie entehrt zu haben. Mit Butler gesprochen zitiert Anna zwangsweise und unbewusst jene Geschlechternormen, die ihr vom patriarchalischen System abverlangt werden, um einen bescheidenen Platz innerhalb des Systems zu erhalten, bis sie schließlich am Konflikt zwischen der Unterwerfung dem Schwiegervater gegenüber und dem Treueversprechen ihrem Ehemann gegenüber zerbricht und Selbstmord begeht. Für Butler ist die »Zitierung der geschlechtlichen Norm« eine Voraussetzung für die Subjektbildung, die (Bielfeldt et al. 1967: 17). Spätestens im Sprachgebrauch der Bolschewiki erfuhr dieses Nomen eine weitere pejorative Konnotation, indem es mit ›ländlicher Rückständigkeit‹, ›Bildungsferne‹ und v.a. ›Agitations-Resistenz‹ sowie ›mangelndem Klassenbewusstsein‹ gleichgesetzt wurde (vgl. Wood 1997). 12 | Der filmpolitisch geforderte ›Realismus in der Darstellung‹, wofür Preobraženskajas Melodrama ein gelungenes Beispiel wäre, wurde sowohl in der »Assoziation der Arbeiter der revolutionären Kinematographie« als auch in der Presse negativ herausgestellt: Der Film sei ein »ethnographisches Museum« und würde außerdem zu viele Nahaufnahmen von alten Gesichtern anstatt von jungen enthalten (Youngblood 1991: 150). 13 | Die Kultur Russlands war patriarchalisch und hierarchisch geprägt, allerdings hatten Frauen in mancher Hinsicht eine bessere soziale Stellung als in anderen europäischen Staaten. Beispielsweise blieb die Mitgift immer in der Verfügungsgewalt der Frauen. Als Witwen erhielten sie ausgedehnte Besitz- und Verfügungsrechte und konnten nach außen die Stellung des Familienoberhauptes übernehmen, wenn keine volljährigen männlichen Nachkommen vorhanden waren (vgl. Fieseler 2009; Kappeler 1997).

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wiederum von der vorgängigen »Legitimierung geschlechtlicher Normen« abhängig ist (Butler 1997: 319). »Weiblichkeit ist deshalb nicht das Ergebnis einer Wahl, sondern das zwangsweise Zitieren einer Norm, einer Norm, deren komplizierte Geschichtlichkeit untrennbar ist von den Verhältnissen der Disziplin, der Regulierung, des Strafens.« (Ebd.: 318f.) Während Annas passiver Leidensweg für die machtvolle Zitatförmigkeit der Geschlechternormen steht, kann Vasilisas Handeln als Beispiel für die Kraft der Performativität gelesen werden, die in der Möglichkeit liegt, durch ›falsche Zitierung‹ bzw. ein »fehlerhaftes oder falsches Aufrufen« konventioneller Rituale oder gebräuchlicher, anerkannter Formeln gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen (Butler 2006: 229). Vasilisas Auflehnung gegen die patriarchalischen Strukturen wäre demnach mit Rosa Parks ›Fehlverhalten‹ gegenüber den rassistischen Strukturen vergleichbar, da beide durch ihr Handeln, das »keine vorgängige Legitimität besitzt, die bestehenden Formen der Legitimität herausfordern und damit die Möglichkeit zukünftiger Formen eröffnen« (ebd.: 230). Als Schlüsselszene in dieser Hinsicht kann das Hochzeitsritual interpretiert werden: Während Anna als Braut in die Familie des Bräutigams einzieht und sich dadurch sowohl der Macht des Ehemannes als auch des Haus- und Schwiegervaters performativ unterwirft, gibt Vasilisa die konventionelle Formel des Eheversprechens in nicht-konventioneller Form wieder und führt so die Möglichkeit einer neuen Form in das Geschlechterverhältnis ein.14 Vasilisa erhebt somit »ohne vorgängige Autorisierung Anspruch auf [das] Recht«, sich den Lebensgefährten selbst auszusuchen, mit diesem ohne Legitimierung von außen (oder ›oben‹) zusammenzuleben, sich über patriarchalische Normen und Werte hinwegzusetzen oder – wiederum mit Butler gesprochen – einen »Umsturz der bestehenden Legitimitätscodes« herbeizuführen (ebd.: 230). Wird Frauen in den meisten Stummfilmen der frühen Sowjetunion, wie Judith Mayne herausgearbeitet hat, der Ort des Privaten – sei es der häusliche Raum oder der sexualisierte – zugewiesen, so wird in Ol’ga Preobraženskajas Melodram das Private in zweierlei Hinsicht zum Öffentlichen und Politischen: Indem gezeigt wird, dass sozialer Wandel nicht, wie in den von Mayne und Attwood untersuchten Filmen, durch einen ›männlichen‹ Akteur eingeleitet wird, sondern durch ›fehlerhaftes oder falsches Aufrufen‹ der Konvention. Vasilisas scheinbar ganz ›private‹ performative Fehlaneignung macht zugleich die soziale Hierarchie im Geschlechterverhältnis und deren politische Konsequenzen deutlich. Hinter der sexualisierten Gewalt kommt die strukturelle Gewalt zum Vorschein. Kol-

14 | Nachdem Vasilisas Vater droht, sie zu verstoßen, wenn sie ihr unstandesgemäßes Liebesverhältnis mit einem besitzlosen Schmied nicht aufgibt, fragt sie ihren Geliebten vor den Augen ihres Vaters, ob er sie auch ohne Trauschein ehren und achten würde. Der ›Bräutigam‹ gibt sein ›Ja-Wort‹ und beide leben ohne väterlichen oder kirchlichen Segen sowie ohne standesamtliche Bestätigung ›als Mann und Frau‹ zusammen.

G. Schwarz: Stumm und unsichtbar?

lontais Aufruf zu einer radikalen ›Revolution der Geschlechterbeziehungen‹, 15 die nicht alleine durch die rechtliche Gleichstellung beziehungsweise durch die Beseitigung kapitalistischer Ausbeutung zu erreichen sei, findet in »Die Frauen von Rjazan« eindeutige Bilder, wobei aufgezeigt wird, dass sozialer Wandel nicht durch ›männliche‹ Aufklärung, sondern vielmehr performativ herbeigeführt wird.

S CHLUSSBEMERKUNG Der große und lang anhaltende Erfolg trotz vergleichsweise geringer Produktionskosten 16 war der zeitgenössischen, ›männlichen‹ Filmkritik ein Rätsel. So konstatierte Viktor Šklovskij: »Wir wundern uns, […] wenn die Bauern in Novosibirsk in die Stadt kommen und dort kampieren, um BABY RJAZANSKIE [Die Frauen aus Rjazan] zu sehen. Völlig unerwartet ist für uns der totale kommerzielle Mißerfolg von MAT’ (Die Mutter) und KONEC SANKT-PETERBURGA (Das Ende von St. Petersburg) […].« (Šklovskij 2005: 267) Die meisten westeuropäischen Intellektuellen der damaligen Zeit kamen über Deutschland erstmals mit Filmen aus der Sowjetunion in Berührung, so auch Bryher (Annie Winifred Ellerman), Mitglied der POOL-Group, Co-Herausgeberin der Filmzeitschrift Close-Up und Feministin (vgl. Hartsough 1985). Bryher bezeichnete Preobraženskajas Film als: »the most moral film I have ever seen«, dennoch »utterly free from propaganda« (Bryher zit. nach Leyda 1983: 231). Die internationale zeitgenössische Rezeption des sowjetischen Filmschaffens war demnach weder auf den Montagefilm reduziert noch ließ sie sich vom Massenerfolg eines Filmes negativ beeinflussen. Und doch ist Ol’ga Preobraženskajas Name aus dem internationalen kollektiven Funktionsgedächtnis verschwunden, während Ejsenštejn, Vertov und andere Autorenfilmer der russischen Avantgarde den Anfang einer Traditionslinie bilden, auf die sich 15 | Um Frauen aus der gesellschaftlichen ‚Versklavung‘ und der Doppelmoral, die den Männern sexuelle Freiheit zuerkennt und Frauen dafür verurteilt, zu befreien, müsse sich laut Kollontai ihre soziale Rolle als Ehefrau und Mutter radikal ändern, indem Kinderfürsorge, Erziehung und Pflege sowie die Haushaltsführung vergemeinschaftet werden (vgl. Kollontai o.J.). Wenn Vasilisa in der Schlussszene des Films das mutterlose Kind von der patriarchalischen Familie weg in das noch leere Waisenhaus trägt, um es kollektiv zu erziehen, kann dieses ›Happy End‹ als Verweis auf Kollontais Erzählung »Wassilissa Malygina [Vasilisa Malygina]« interpretiert werden, worauf bereits die Namensgleichheit beider Figuren hindeutet: »›Ja, aber wie willst du es [das Kind] denn allein aufziehen?‹ ›Wieso allein? Die Parteiorganisation, der Staat wird es aufziehen. Wir werden eine gute Krippe einrichten. […] Und es wird eben unser Kindchen sein, unser gemeinsames.‹ ›Ein kommunistisches?‹ ›Jawohl!‹ Beide lachen.« (Kollontai 1992: 273) 16 | »Die Frauen von Rjazan« spielte in 15 Monaten das 4,5-fache der Kosten ein (vgl. Leyda 1983: 231).

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nachfolgende Generationen Filmschaffender und Film Deutender berufen (vgl. Mayne 1989). Von der Filmgeschichtsschreibung zu Unrecht vergessen, gelegentlich auf Festivals und Retrospektiven gezeigt, zählt »Die Frauen von Rjazan« weder zu den verschollenen Filmen noch wurde er unter Verschluss gehalten. Preobraženskajas Melodrama ist nach wie vor in mehreren Archiven als 35-mm-Kopie erhalten und mittlerweile auch als DVD verfügbar.17 Ein Platz im kollektiven ›unbewohnten Speichergedächtnis‹18 des digitalen Zeitalters ist der ersten Regisseurin Russlands somit gewiss. Ob ihr Name und Werk in das »bewohnte Funktionsgedächtnis« überführt werden können und somit sichtbar gemacht werden, ist nicht zuletzt von den Vorlieben und Vorbehalten der Kurator_innen und Forscher_innen abhängig. Der selbstkritische Vorwurf des Filmhistorikers Eisenschitz, dass die akademische Filmgeschichte der Programmgestaltung von Festivals hinterherhinke und ständig die gleichen Namen der großen Autoren wiederhole (vgl. Eisenschitz 2003), kann meines Erachtens auch an die Geschlechterstudien gerichtet werden.19 Die Kategorie Geschlecht wurde zwar in Schlüsselwerken des sowjetischen Stummfilms untersucht, ohne jedoch dabei den Versuch zu unternehmen, 17 | Für den deutschsprachigen Raum ist eine 35-mm-Kopie bei Arsenal Institut für Film und Videokunst e.V. (vormals Freunde der Deutschen Kinemathek e.V.) erhältlich. Eine DVD mit französischen Zwischentiteln ist bei Lobster Films (Frankreich) erschienen (vgl. http:// www.lobsterfilms.com/details_film.140.htm?id=827). 18 | Assmann unterscheidet zwei unterschiedliche Erinnerungsmodi: während das »unbewohnte« Gedächtnis erst durch »körperexterne und vom menschlichen Gedächtnis unabhängige Speichermedien« wichtig wird und als »Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpaßter Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen« enthält, ist das »bewohnte Funktionsgedächtnis« an ein Subjekt gebunden – sei es ein Individuum oder ein »kollektives Handlungssubjekt wie Staaten oder Nationen« – und geht mit einer Auswahl des zu Erinnernden, einer Konstruktion von Identität und einer Sinnkonstitution einher (Assmann 2010: 137). 19 | Beispielsweise wurde 1989 auf dem FrauenFilmFestival »femme totale« in Dortmund das Filmschaffen von Frauen aus der Sowjetunion gewürdigt. Ein wichtiges Resultat des Festivals stellt die Publikation »Würde oder Das Geheimnis eines Lächelns. Frauen Film Kultur in der Sowjetunion« dar, die einen raren historischen Überblick über das Filmschaffen von Frauen in der UdSSR von den Anfängen bis Ende der 1980er Jahre gibt. Zehn Jahre später organisierten die Freunde der Deutschen Kinemathek (Berlin) die Filmreihe »Amazonen der Avantgarde im Film«. Für die gleichnamige Publikation wurden erstmals kürzere zeitgenössische Texte (Tagebuchausschnitte von Filmschaffenden der 1920er Jahre, Rezensionsausschnitte) ins Deutsche übersetzt und durch einen Essay der Filmwissenschaftlerin Maja Turowskaja eingeführt (vgl. Freunde der Deutschen Kinemathek e.V./Deutsche Guggenheim Berlin 1999; Femme Totale e.V. 1990).

G. Schwarz: Stumm und unsichtbar?

den Kanon zu revidieren beziehungsweise zu erweitern. Das Werk der ›großen Regisseure‹ einmal mehr – aus der Geschlechterperspektive – beleuchtend, wurde der althergebrachte Kanon dadurch wiederholt und bestätigt, während Forschungsarbeiten zum Filmschaffen von Frauen dieser Zeitspanne nach wie vor ein Desiderat darstellen. So begründet Mayne in »Kino and the Women Question. Feminism and Soviet Silent Film« die Filmauswahl wie folgt: »The only theoretical justification I offer for the fact that all of the directors whose films I shall examine are male is that the scope of my study is defined by Soviet film of the 1920s as an already constituted field.« (Mayne 1989: 10, Herv. G.S.) Ein Gang in die Filmarchive jenseits abgetretener, akademischer Pfade könnte den Anstoß geben, die Geschichte des (sowjetischen) Stummfilms neu zu schreiben und Erinnerung anders zu bearbeiten, denn »[d]as Archiv ist nicht nur ein Ort, wo Dokumente aus der Vergangenheit auf bewahrt werden, sondern auch ein Ort, wo Vergangenheit konstruiert, produziert wird« (Assmann 2010: 21).

F ILME »Baby rjazanskie« (UdSSR 1927, R: Ol’ga Preobraženskaja/Ivan Pravov)

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Butterfly Kisses, addressed to »N.O. Body« Zur Animation von Magnus Hirschfelds Bilderatlas »Geschlechtskunde« Barbara Eder Gewidmet jener »Frau«, die einem Foto von Magnus Hirschfeld zufolge ihrer »Freundin, die als Mann arbeitet«, Essen bringt 1

Es ist ein ganz besonderes theatrum mundi, das seine Pforten eröffnet, als die mit voluminösem Kopf- und Barthaar reichlich beschenkte Hauptdarsteller_in aus Renate Lorenz und Pauline Baudrys Film »N.O. Body« (D 2008) die der Aura des Sakralen noch heute nicht ganz entweihte Säulenhalle eines akademischen Hörsaals betritt. Was diesen Raum zur Bühne eines ›Welttheaters‹ macht, das den Duktus profanen Sprechens allein aufgrund seiner architektorischen Ausstattung nur bedingt befördern kann, wird im establishing shot zu Beginn des Films deutlich gemacht: Von jenem im Film durch einen Diaprojektor markierten imaginären Zentrum aus, von dem die Stimme eines zumeist männlichen Redners – Professor, Anatom oder andere akademische Deutungshoheiten – zum Sprechen anhebt, wird vermittels einer Kamerafahrt in Diagonale den Betrachter_innen die dazugehörige Hierarchie, die als symbolisches Arragement sich im Raum verdoppelt, vor Augen geführt: Zu sehen sind in aufsteigender Abfolge angeordnete Sitzreihen, in denen Platz zu nehmen eine Haltung einzunehmen nach sich zieht. Die hierarchisierende Verteilung zwischen Lehrenden und zu Belehrenden, zwischen Sprechenden und Zuhörenden, zwischen Sender_in und Empfänger_ in, erweist sich als fixer Bestandteil einer geronnenen Architektur der Angst, die ihre Legitimität auch daraus bezieht, metaphysisch fundiert und damit unveränderbar zu wirken. In der darauf folgenden Kameraperspektive werden die Betrachter_innen des Films »N.O. Body« jedoch mit der Möglichkeit konfrontiert, einen anderen Blickpunkt im Raum zu adaptieren. Eine alternative Optik auf das für die Dauer des gesamten Films unbewohnte Arrangement aus wuchtigem Kirschholz wird infolge einer Veränderung des point of view denkbar: Von einem 1 | Zit. nach Hirschfeld 1930: 621, Abb. 928.

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Stehplatz des ebenso zum Hörsaal gehörigen Balkons wird schräg ›von oben‹ aus die Sicht auf ein Zentrum frei, in dem vorerst (noch) nichts zu sehen ist. Was ermöglicht ein derartiger Blick auf das kommende Geschehen? Gibt es im Film jenen Fluchtpunkt, von dem aus eine mit knappen Mitteln skizzierte Geschichte abendländischer Wissensvermittlung über Queers anders betrachtet werden kann? Und was hat das dazugehörige Blickverhältnis, das die Autor_innen am Ende einer diagonalen Kamerafahrt auf brechen, mit der neuzeitlichen Generierung von visuell basiertem Wissen über Queerness zu tun?

1. R AUMDE TERMINATIONEN — N EUZEITLICHES G ESCHLECHTER WISSEN VERSUS QUEERE W ISSENSPRODUK TION Nach wie vor befinden wir uns in einem mit filmischen Mitteln vergegenwärtigten Hörsaal ohne Publikum und Redner_innen. Den ›Muff von Tausend Jahren‹ scheint selbiger nie abgelegt zu haben. Viel eher erweckt das räumliche Arrangement, das die Filmemacher_innen ihrem Publikum zu Beginn von »N.O. Body« zu sehen geben, in Gestalt und Aufbau Erinnerungen an eine Zeit, die das unter dem Eindruck des studentischen Protests der 1970er Jahre reformulierte Erbe der Aufklärung noch nicht kannte. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstand eine an der Schnittstelle von Medizin, Jurisprudenz und Theologie situierte Institution, die ein Zweigeschlechtlichkeit voraussetzendes Wissen über den anatomischen Aufbau menschlicher Körper auf spektakulärem Weg forcierte. Auch sie bestand aus Holz, den dazugehörigen Köpfen sowie festgefahrenen Hierarchien des Sicht- und Hörbaren. Die ersten Aufführungsorte wurden 1594 in Padua und wenig später auch im holländischen Leiden (1597) nach dem Vorbild eines griechischen Amphitheaters in Kirchen errichtet (vgl. Sarasin 1998: 431). Bewusst Anleihen am Repertoire des Theatralen nehmend, um nicht in Konflikt mit der unterm theologischen Baldachin untersagten Sektion menschlicher Körper zu kommen, kultivierte man in den Anatomischen Theatern des 16. Jahrhunderts neben der Suche nach der körperbasierten Fundierung von geschlechtlicher Differenz vor allem die dazugehörige Inszenierung von wissenschaftlicher Autorität. Obgleich der von Renate Lorenz und Pauline Baudry gefilmte Raum immer noch leer und sein Zentrum nach wie vor vakant zu sein scheint, sind die durch Anatomische Theater erstmals ins Spiel gebrachten Konnotationen immer dann erneut gegenwärtig, wenn sie durch die spezifische Beschaffenheit eines Raumes reaktualisiert werden. Diese zu verschieben, zu transformieren oder sie sogar zu subvertieren, setzt ein reflexives Umgehen mit bereits vorhandenen Bedeutungen ebenso voraus wie eine Politik der Repräsentation, die auf die Veränderung von geschlechtlich konnotierten Blickkonventionen abzielt. Dieser Prozess kann mit subtilen Mitteln vonstatten gehen und dennoch letal sein. »Wie fühlte sich Medusa, als die sich selbst erschlagen und auf Leinwände, Mauern, Reklametafeln und andere Schilde männlicher Identität genagelt sah?« (Lauretis 1990: 6) fragte die queer-feministi-

B. Eder: Butter fly Kisses, addressed to »N.O. Body«

sche Theoretiker_in Teresa de Lauretis zu Beginn der 1990er Jahre im Kontext ihrer repräsentationskritischen Lesart des Medusa-Mythos. Ihre Kritik belief sich nicht bloß auf jenes unter anderem auch durch Blickdimensionen interaktiv hergestellte Subjekt-Objekt-Verhältnis innerhalb eines dualistisch gedachten Geschlechtermodells; Lauretis kritisierte ebenso die Folgen der Viktimisierung von Frauen durch ›falsche‹ Bilder im öffentlichen Raum und spekulierte darüber, wie der antike Mythos geendet hätte, wenn Medusa nicht durch Perseus ermordet worden wäre. Perseus machte sich beim Tötungsakt einen optischen Trick zunutze: Es war das als Spiegel verwendete Schild der Athene, durch das dieser die direkte Konfrontation mit Medusas versteinerndem Blick umgehen konnte. Medusa hätte zwar nicht den Spieß asymmetrischer Machtverteilungen, aber dennoch die spiegelnde Oberfläche dieses Schildes so wenden können, dass ihr eigener Blick an Perseus rückadressiert worden wäre. Mit der extravaganten Kamerafahrt zu Beginn des Films »N.O. Body« beginnt jene von Teresa de Lauretis mithilfe der Reinterpretation des Medusa-Mythos initiierte Geschichte einer kritischen Befragung der Entstehungsbedingungen von Bildern queerer Akteur_innen. Im von Baudry/Lorenz kreierten filmischen Raum sind zu Beginn und gegen Ende ihres Films indes Geräusche zu vernehmen, die auf den Befreiungsversuch eines eingeperrten Insekts hindeuten. In Panik geraten, reagiert dieses auf die bedrohliche Situation des Zur-Schau-gestellt-Werdens mit einem Zuviel an Flügelschlägen. Dieses Flattern deutet auf den Versuch der Befreiung aus einem symbolisch überdeterminierten Bildraum hin: Es ist ein erstes Anzeichen für den vitalen Ausbruchversuch aus einer freakshowartigen Anordnung von Bildern queerer Körper, die historisch betrachtet zumeist dazu diente, die Grundfesten einer heteronormativen Gelsellschafts- und Wissensordnung qua Abgrenzung von ihrem ›Anderen‹ indirekt zu stabilisieren.

2. H IRSCHFELDS B ILDER DES »U RNISCHEN « — R OHSTOFFE FÜR DIE I MAGINATION QUEERER K ÖRPER Animation bedeutet im Zusammenhang mit dem Film »N.O. Body« nicht primär die Belebung des Unbelebten mithilfe filmischer Tricks, sondern vielmehr die Rekontextualisierung bildlicher Objekte, die aus einer ›ursprünglichen‹ Taxonomie herausgelöst und einem anderen Feld des Wissens zugeführt werden. Renate Lorenz und Pauline Baudrys filmische Auseinandersetzung mit visuellen Relikten ›sexueller Devianz‹, die dem Bildkompendium des Berliner Arztes und Sexualwissenschafters Magnus Hirschfeld entnommen sind, beginnt mit der Neuanordnung von Porträts, die die gezeigten Protagonist_innen oftmals in einer dualen oder tryptichonartigen Aufteilung darstellen. Diese sind im ersten Bild einer aus mehreren Bildern bestehenden Anordnung zumeist in ihren erwünschten Geschlechterrollen (gender) zu sehen, was in deutlichem Kontrast zu den folgenden Fotos steht, die diese zumeist nackt oder wenig bekleidet zeigen. Das Arran-

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gement der Bilder legt den Schluss nahe, dass die von Hirschfeld Porträtierten eine Existenz in einer ihrem Herkunftsgeschlecht diametral entgegengesetzten Geschlechtsidentität favorisierten, wobei unklar bleibt, ob den dazugehörigen Bildern eine Performance im Sinne einer situativen Geschlechtsdarstellung für den Moment der fotografischen Aufnahme, eine die zeitweilige Lust an der travestierenden Maskierung verbürgende Pose, eine Dokumentation einer temporären Lebensform oder der Evidenzbeweis einer dauerhaften Abweichung vom Herkunftsgeschlecht im Sinne einer ›Geschlechts-migration‹ zugrunde liegt. Anstelle einer nachträglichen Enthüllung des ›wahren Geschlechts‹, durch die in pathologisierender Manier auf eine Abweichung vom biologisch Gegebenen geschlossen werden könnte, lassen Hirschfelds Bilder jedoch auf eine klandestine ›Kompliz_innenschaft‹ mit den Dargestellten schließen: Es erfolgen wohlmeinende Sympathiebekundungen anstelle von medizinischen Anamnesen oder psychologisierenden Ursachenerhebungen2 , im Bilderatlas selbst ermöglicht Hirschfeld seinen Protagonist_innen vor allem vermöge der Mehrdeutigkeit der nachträglich hinzugefügten Bildunterschriften ein möglichst reibungsfreies passing. Denotiert werden Hirschfelds Bilder unter anderem durch Aussagen, die weitere Fragen nach dem ›wahren‹ Geschlecht obsolet machen. In »Geschlechtskunde« finden wir folglich kein Insistieren auf geschlechtliche Eindeutigkeit im Sinne einer Klassifikation entlang eines dual gedachten Geschlechterspektrums vor, sondern vielmehr Verweise auf intrapersonale Zwei- und Mehrgeschlechtlichkeit wie etwa im Fall einer mit der Bildunterschrift »Männer, die als Frauen arbeiten« (Hirschfeld 1930: 552) denotierten Fotografie. Von Hirschfeld selbst wurden die Bilder seiner tryptichonartigen Tableaus zudem nicht in Sukzession, sondern vielmehr in Form von Überblendungen wahrgenommen. So beschreibt dieser etwa die Anordnung von vier Fotos von ein und derselben Person im Sinne eines queeren Imaginariums: Eine Protagonist_in namens »Dorchen«, die von Hirschfeld als »Mann«, der »als Frau arbeitet«, beschrieben wurde, ist Hirschfeld zufolge »auf demselben Bilde als Mann und als Weib« (ebd.: 552; Herv. B.E.) zu sehen. Hinzufügungen wie »Selbstbildnis als Jo2 | Erstmals erweckte die Bartdame Annie Jones-Elliott Hirschfelds Interesse im Zusammenhang mit dessen frühen Untersuchungen von »Geschlechtsübergängen« (Hirschfeld 1905, teilw. paginiert) im Jahr 1905. Auf Tafel XIV ist die Bartdame gemeinsam mit vier anderen Geschlechtsgenoss_innen zu sehen, denen die Aufmerksamkeit des Forschers im Rahmen seiner Überlegungen zu geschlechtsspezifischen Ausgestaltungen des Haarwuchses zuteil wurde. Hirschfeld scheut es nicht zu erwähnen, dass er mit vielen der fotografierten Bartdamen, darunter »zunächst die liebenswürdige Miss Annie Elliot-Jones, dann die Kellnerin Anna Hudjos«, persönlich bekannt war (ebd.: nicht paginiert). Die Annahme, dass der Bartwuchs eine exklusiv männliche Angelegenheit sei, wird von Hirschfeld im Zuge der Bekanntschaft mit den Bartdamen deutlich infrage gestellt. Seinen Ausführungen zufolge gäbe es eine »totale oder partielle Bartlosigkeit« bei Männern, die mit dem »weibliche[n[ Bartwuchs« durchaus vergleichbar sei (ebd.: nicht paginiert).

B. Eder: Butter fly Kisses, addressed to »N.O. Body«

seph, Herrn Doktor Magnus Hirschfeld zugeeignet von Mark V, Januar 1927« zum Bildtitel »Seelische Projektionsmalerei einer männlich veranlagten Künstlerin« (ebd., nicht paginiert, Taf. XXXV) antizipieren an anderen Stellen wiederum den vollständigen Verzicht auf geschlechtlich eindeutige Zuschreibungen (Abb. 1). Abbildung 1: »Seelische Projektionsmalerei einer männlich veranlagten Künstlerin«

Quelle: Hirschfeld 1930, nicht paginiert, Taf. XXXV

Hirschfelds Bildanordnungen, die bisweilen lose, ungeordnet und keinem klaren ikonografischen Motiv zu folgen scheinen, erhalten auch durch die Einteilung des Bilderatlasses in 32 Kapitel nicht die nötige Stringenz, die den Rückschluss auf ein den positivistischen Prämissen heteronormativer Geschlechterforschung entsprechendes Forschungsvorhaben zuließe.3 Die Repräsentationsformen, die 3 | Formal ist Hirschfelds Bilderatlas in 32 Kapitel unterteilt. Dieser beherbergt Darstellungen aus so weit voneinander entfernten Wissensgebieten wie der Anthropologie, der Kriminologie und der Demografie. Die einzelnen Sujets erstrecken sich von schematischen Darstellungen von Geschlechtsorganen über Geschlechtskrankheiten, außereuropäische

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Hirschfelds Bildkompendium, der als vierter Band eines sexualwissenschaftlichen Werkes mit dem Titel »Geschlechtskunde« im Jahr 1930 im Berliner Verlag Julius Püttmann erschien, zugrunde liegen, evozieren ebenso wenig jene voyeuristische Lust am Ausstellen des ›Anderen‹, die den Habitus der herrschenden Sexualwissenschaft seit 1900 prägte. Der Bildersammlung ist ein Satz vorangestellt, der vielmehr die aufklärerische Intention des Vorhabens akzentuiert: »Bilder sollen bilden.« (Hirschfeld 1930: 1) Angesprochen wird damit nicht nur Hirschfelds Vorhaben, mithilfe der Distribution von Bildern die Verbreitung von Wissen über Trans*, Inter* und Homosexualitäten zu forcieren. Der pädagogische Auftrag 4 der Bilder wird auch hervorgehoben, um den Verdacht der Verbreitung von Genital-Trachten und Formen der Fortpflanzung, die nicht selten unter Rückgriff auf Tierbilder illustriert wurden, bis hin zu genealogisch angeordneten Bildtafeln, Ahnenreihen von Sexualreformer_innen, Fotos von metatropischen und homosexuellen Paarformationen, die sich trotz des unterschiedlichen Modus in der geschlechtlichen Objektwahl nebeneinander befinden, bis hin zu Ansammlungen von Fetisch- und S/M-Darstellungen. In Hirschfelds Bildband findet man so unterschiedliche Bildtypen wie Statistiken, Skizzen, satirische Darstellungen und Wiederabdrucke von Karikaturen, also Gemaltes, Gezeichnetes und Druckbares aus eigentlich miteinander inkommensurablen Bereichen. Will die Betrachter_in sich Klarheit über Biografie, Pychologie oder Herkunft der auf den Fotos zu sehenden Darsteller_innen verschaffen, wird das Quellenverzeichnis im Anhang sie_ihn diesbezüglich herb enttäuschen: Zwar befindet sich in den hinteren Seiten des Bildbandes ein Abbildungsverzeichnis; dieses ist jedoch rudimentär und unvollständig. Ursprungsort, Herkunft, Entstehungsbedingungen und Autor_innenschaft der Bilder verbleiben weitgehend im Dunkeln. Teilweise handelt es sich bei den von Hirschfeld kompilierten Motive auch um dazumal im Bereich der Alltagskultur weit verbreitete Bilder, die auf Zündholzschachteln, Bierdeckeln, in Zeitungsnotizen sowie in szenespezifischen Magazinen und Gazetten auffindbar waren, um Material aus medizingeschichtlichen und ethnografischen Sammlungen und den dazumal populären Sammelbildern, die Waren aller Art beigegeben wurden. 4 | Als Mitglied des im Jahr 1897 von Karl Heinrich Ulrichs gegründeten Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) und Begründer des weltweit ersten Instituts für Sexualwissenschaft in Berlin forcierte Magnus Hirschfeld bildliche Darstellungen zum Zweck der sexuellen und politischen Aufklärung ebenso wie zur Plausbilisierung seiner These vom ›dritten Geschlecht‹. Er setzte sich zeitlebens mit Vehemenz für die Abschaffung des auf die Kriminalisierung männlicher Homosexualität ausgerichteten Paragrafen 175 ein und verfasste eine unter anderem auch durch August Bebel unterzeichnete Petition, die im Januar 1898 im Reichstag vorgelegt wurde (vgl. Hoffrogge 2011: 118). Wenngleich der Anspruch auf intrapersonale Mehrgeschlechtlichkeit mithilfe von Hirschfelds Bildunterschriften auf paradoxe Weise eingelöst worden zu sein scheint, geht mit der emanzipativen, weil zwischen den Geschlechtern changierenden Verwendung von Geschlechterkategorien dennoch eine temporäre Reifikation des dazugehörigen Wahrnehmungsspektrums einher: Obgleich Hirschfeld mit dem Ziel einer Entkriminalisierung der Homosexualität von einem ›dritten Geschlecht‹ sprach, das sich in physischer Hinsicht von Männern ebenso wie von

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Pornografie frühzeitig abzuwenden, der sexualwissenschaftliche Publikationen jeglicher Art um 1900 überschattete: In der Ersten Österreichischen Republik ebenso wie in der Weimarer Republik mussten SexualforscherInnen, deren Publikationen Lichtbilder enthielten, auf den wissenschaftlichen Gebrauch ihrer Schriften geradezu insistierten. Zum Zweck der Ahndung von Darstellungen, die die Schaulust der Lesenden befördern könnten, existierte ein von der »Deutschen Zentralpolizeistelle zur Bekämpfung Unzüchtiger Bilder, Schriften und Inserate« herausgegebener Katalog mit Maßnahmen zur Bekämpfung von Verletzungen des Paragrafen 184 (vgl. Lang 2010: 7).

3. R ADIO , Z EIGESTAB , P ROJEK TOR , O KUL AR — EINE QUEERE G ESCHICHTE ANIMIERTER ›E VIDENZEN ‹ Hirschfelds im Zuge einer mit sexualreformerischem Geist gepaarten Sammelmanie entstandenes Konvolut betrachten Baudry und Lorenz in ihrem Film »N.O. Body« mit zeitversetztem Blick. Wo einst Bildphantome archiviert wurden, wird vom Blickpunkt des Jetzt aus neu entdeckt, was ansonsten dem Vergessen überlassen worden wäre. Renate Lorenz und Pauline Baudry haben mit ihrem Film das hirschfeldsche Projekt within a little difference fortgesetzt und dieses über die Sprengkraft des Originals hinausgetrieben. Mithilfe der bereits bei Hirschfeld rudimentär vorhandenen Strategien der Multimedialität und des Zitats wird eine Geschichte geschlechtlicher Uneindeutigkeiten mit filmischen Mitteln fortgeschrieben. Im Film »N.O. Body« überschreitet die dem weiblichen Kleidercode ihrer Zeit standesgemäß auftretende ›Bartdame‹ Annie Jones-Elliott, deren Bild in Hirschfelds Schrift »Geschlechts-übergänge« ebenso präsent ist wie im Ergänzungsteil zu »Geschlechtskunde«, selbstbewusst die Schwelle zu einem Hörsaal, den sie zu Lebzeiten lediglich als Objekt des Interesses betrat. Obgleich der Eingang, den sie wählt, sich am oberen Ende des Saals befindet und damit jener ist, der traditionell für die zu Belehrenden bestimmt war – wissenschaftliche Autoritäten benutzen den Eingang auf ebener Erde – wird sie es sein, die einen anderen Blick Frauen abhebt, sind die zu dessen Definition nötigen Geschlechterkategorien noch nicht obsolet. Verbunden war mit diesem Ansatz dennoch eine als Vorform eines queeren Geschlechterdekonstruktivismus rekodierbare Kritik an der Annahme der Existenz einer in männlich und weiblich gegeliederten Geschlechterordnung. Hirschfeld ersetzte die Annahme eines bipolaren Geschlechtermodells durch ein Modell der »sexuellen Zwischenstufen«, »von denen man nach beiden Richtungen immer wieder über eine Mittelstufe in die unmittelbarste Nähe des Durchschnittstypus gelangt« (Hirschfeld 1905: 4). Inmitten der Extrempole findet Hirschfeld den Normalfall »eine[r] ununterbroche[nen] Übergangsreihe« (ebd.) vor: »Sehr streng wissenschaftlich genommen, dürfte man in diesem Sinne gar nicht von Mann und Weib sprechen, sondern nur von Menschen, die größenteils männlich oder größtenteils weiblich sind.« (Ebd.)

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auf ihr eigenes Bild entwickeln wird. Dass es Annie ist, die die Betrachter_innen zu einer Zeitreise animiert, verdankt sich keineswegs dem Zufall. Baudry/Lorenz verweisen in einem ergänzenden Text zu ihrem Film mit dem Titel »Laughing about N.O. Body« auf ihre genuine Wahrnehmungsweise der ›Bartdame‹ Annie Jones-Elliott (Abb. 2, Abb. 3): »Uns gefielen die ›Bartdamen‹. Männlichkeit und Weiblichkeit sind auf den Fotografien der ›bearded ladies‹ gleichzeitig ausgestellt, ohne dass ein Körper in eine Richtung hin vereindeutigt wird. Auffällig war auch, dass die Bartdamen stolz in die Kamera sehen und sich keineswegs einem objektivierenden Blick zu fügen scheinen.« (Baudry/Lorenz 2008; Herv. B.E.)

Abbildung 2: Porträt von »Mrs. Annie Jones-Elliott«

Quelle: Hirschfeld 1930: 510

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Abbildung 3: »Transvestistische Frau als Ehemann«

Quelle: (Hirschfeld 1930: 594)

Annie Jones-Elliott, die zu Lebzeiten als Ausstellungsstück im amerikanischen Zirkus Barnum Karriere machte, wird im Verlauf des Films im Zentrum eines Hörsaals mithilfe unterschiedlicher Medien mit gefühlten Verwandten aus ihrer Vergangenheit Kontakt aufnehmen. Zur Verfügung stehen ihr eine Hand, mit der sie die Konturen der Projektion ihres eigenen Bildes nachzeichnet, ein Zeigstab, mit dem sie die Umrisse eines Fotos von Hirschfeld ›berührt‹, und ein Foto einer ihren männlichen Nebenmenschen um ein vielfaches überragenden Riesin abtastet5 sowie ein auf neugierige Schaulust, veritables Interesse und sexuelles 5 | Hirschfeld, der selbst eher von kleiner Statur war, erklärte die erotische Anziehungskraft »von groß und stark gewachsenen Frauen« auf »kleine, zierliche Männer« durch formbedingte Veränderungen im Zuge einer Zusammenkunft (Hirschfeld 1905: 11). Bei einigen Bildern, die Größenunterschiede zwischen Menschen zum Thema haben, greift Hirschfeld auf das Mittel der Fotomontage zurück, um jene »morphotaktisch« (ebd.) bedingte Anzie-

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Begehren zugleich hindeutendes Fernglas, mit dem sie Bilder aus der Berliner Lesbenszene der Jahrhunderwende genauer unter die Lupe nimmt. Auch zeigt Annie eine Fotografie der Führerin der chinesischen Frauenbewegung der 1930er Jahre Alice Wu Ma6, sie verwendet des Weiteren eine Maske, mit deren Hilfe sie ihre Person(a) beim Blick auf Fotos aus S/M-Ateliers kurzfristig anonymisieren kann, und ein Radio, das erst nach und nach die passende Musik zur verspäteten Zusammenkunft von ›Kessen Vätern‹, masochistischen Männern und lesbischen Frauen aus der Arbeiter_innenklasse abspielt. Die im Film durch Medienwechsel gezielt erzeugten Brüche in der Wahrnehmung und der fortwährende Verweis auf Gesten des Zeigens, des Darstellens und des Ausstellens initiieren die Reflexion darüber, was jene Wirklichkeit eigentlich ausmacht, die im Film »N.O. Body« neu zusammengesetzt wird. Den Betrachter_innen wird auf diese Weise vor Augen geführt, dass es sich bei Hirschfelds Fotografien keineswegs um verzerrungsfreie Nullmedien und damit Garant_innen von und für optische Evidenzen handelte. Die Mutmaßlichkeit fotografischer Indizes wurde bereits bei Hirschfeld durch das ›Einschmuggeln‹ so genannter ›Wunschzeichnungen‹ in Zweifel gezogen: nach dem Gesetz einer ›guten Nachbarschaft im Geiste‹7 angeordnet, koexistierten die im Hinblick auf ihren Evidenzcharakter stets unterschiedlich beurteilten Bildtypen Fotografie, Karikatur und Malerei in »Geschlechtskunde« hierarchiefrei nebeneinander. Das mit dem Medium der Fotografie verbundene Realismus-Verdikt eines ›So ist es gewesen‹ 8 hung zur Darstellung zu bringen. So werden etwa im Bild mit dem Titel »Riese und Zwerg« (Hirschfeld 1930: 429, Abb. 582) die Figuren so zueinander positioniert, dass Größenunterschiede ausgeglichen werden: In einer Art akrobatischem Akt nimmt ein winziger Mann auf der Handfläche einer Riesin Platz. 6 | Anders als die von Baurdry/Lorenz mithilfe eines Projektors reanimierten Bilder im Film ist das Foto von Alice Wu Ma nicht dem Bildband »Geschlechtskunde« entnommen. Als illustrative Ausschmückung zu Hirschfelds Ausführungen zu seinem ersten Vortrag in China, der im Jahr 1931 im Chinese Women’s Club in Shanghai gehalten wurde und unter dem Titel »Sexueller Wissensdrang« Eingang in die aus tagebuchartigen Einträgen bestehende »Weltreise eines Sexualforschers« fand, ist das Porträt der chinesischen Sexualreformerin und Feministin abgedruckt (Hirschfeld 2006: 121). 7 | Dieses Ordnungsprinzip geht auf den Kulturwissenschafter Aby Moritz Warburg zurück (vgl. Warburg 2008). Das auf vermuteten Ähnlichkeiten zwischen den Dingen basierende Prinzip der Anordnung, das der Büchersammlung der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg zugrunde lag, ist Ausdruck eines Denkens, das erst im Zuge der Entdekkung der foucaultschen Ideengeschichte als Form des ›wilden Denkens‹ nobilitiert wurde. 8 | Der naive Charakter eines ›Es ist so gewesen!‹, das jedwede Fotografie realistischen Stils zu evozieren scheint, ist Roland Barthes zur folge Bestandteil des Mechanismus des fotografischen Zeichen systems selbst: Die Ideologie des Ikonischen besteht gerade darin, den Konstruktionscharakter von fotografischen ›Realitäten‹ zu verschleiern. Barthes geht deshalb davon aus, dass das dazugehörige visuelle Zeichensystem sich »trügerisch

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wird bei Lorenz/Baudry noch einmal dekonstruiert: Vermittels der Projektion von Fotografien aus der Vergangenheit in der Gegenwart entsteht der Eindruck einer leibhaften Präsenz des eigentlich Apräsenten. Ein fiktionaler Bildraum wird generiert, der an der Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart angesiedelt ist. Das aus der konventionellen Gebrauchsweise des Mediums Fotografie resultierende Verdikt des Realistischen wird durch den apparateunterstützen Blick der Annie Jones-Elliott nicht nur problematisiert; durch ihren zeitversetzten Blick werden auch jene Koordinaten eines Raumes im Nachhinein verschoben, der niemals nur ein territorialer war: Hirschfelds nur dem Anschein nach im Physischen fundierte Genealogie des Queeren war stets reich an Begriffen, die dem semantischen Terrain der fiction stets näher standen als jenem der science. Die von ihm für männliche Homosexuelle – ›Urninge‹ – und weibliche Homosexuelle – ›Urninden‹ – von Karl Heinrichs von Ulrichs9 übernommenen Bezeichnungen rekurrierten auf einen mythischen Ursprungsort, der infolge der alltäglichen Erfahrung von Stigmatisierung und Pathologisierung den early queers näher zu sein schien als die Erde. Als ein der Sphäre des Alltäglichen entrückter Ort in der Fantasie wurde der Planet Uranus zum Fluchtpunkt und zum Entstehungsort einer queeren Gegen-Geschichte.

4. ›Q UEER M OMENT‹ — Z UR E IGENZEIT QUEERER B ILDGESCHICHTE (N) Queer – so könnte man aus einer Aussage von Sabine Hark folgern – hat keine Geschichte, die geschrieben werden könnte: Im Zusammenhang mit der Entstehung der dazugehörigen Bewegung in den USA der 1970er Jahre sprach die in Berlin lebende Queer-Theoretiker_in von einem periodisch wiederkehrenden ›queeren Moment‹, der die Voraussetzung für den Beginn der Institutionalisierung eines ursprünglich transitorisch angelegten Projekts bildete (vgl. Hark 2008). Hirschfelds weit vor Stonewall entstandener Bilderatlas steht am eigentlichen unmöglichen, weil immer erst post festum geltend gemachten Ursprung dieses emanzipativen Projekts. Mithilfe des Mediums Film haben Renate Lorenz und Pauline Baudry seine Bilder vom unmöglichen Ursprung zum Laufen gebracht. Was bringen diese damit in der Zeit der Gegenwart erneut zum Erscheinen? Der Verweis auf geschlechtliche Inkongruenzen ebenso wie die Fähigkeit, Brüche wahrzunehmen, sind unabdingbare Voraussetzungen für eine nachträgliim Gewand von Natürlichkeit und Transparenz präsentiert, hinter der sich aber ein opaker, verzerrender, willkürlicher Mechanismus der Repräsentation, ein Prozeß ideologischer Mystifikation verbirgt« (Barthes 1990: 18). 9 | Die Homosexuellen seien Karl Heinrich von Ulrichs fiktiver Genealogie zufolge Töchter bzw. Söhne des antiken Gottes Uranus. Zum affirmativen Zugriff auf diese bereits existente Genealogie durch Magnus Hirschfeld vgl. Hirschfeld [1914] 2001: 9f.

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che Sichtbarmachung der ›Unsichtbaren‹. Dies erfordert nicht die geschlechtsvereindeutigende Operation wissenschaftlicher Klassifikation, sondern ein intimes Wissen aus der Innenperspektive. Der 1868 in der pommerschen Stadt Kolberg geborene Arzt, homosexuelle Sozialist, Sexualreformer, Jude und Weltbürger Magnus Hirschfeld, der sich ebenso als Sammler, als politisch motivierter Kompilator und Kolporteur von Bildern verstand, verfügte bei gleichzeitigem Wissen um die dem visuellen Darstellungsprozess selbst zugrunde liegenden Widersprüche über frühe queere Sensibilitäten. In seinem Bildkompendium gibt es auch aus diesem Grund nicht einfach Bilder von Männern oder Frauen, sondern Bilder von »Frauen, die als Männer arbeiten« (Hirschfeld 1930: 621) 10, einen »Feminine[n] Soldat A., der in Frauenkleidern desertierte« (ebd.: 559) ebenso wie »Frauen aus der Arbeiterklasse, die als Männer lebten« (ebd.: 550) und mithilfe von Hirschfelds Hinzufügungen sogar zu »Frauen« wurden, »die als Matrose geschwängert« (ebd.: 551, Abb. 802) worden waren. Von Formen des Transfers, von Wechseln im Eigentumsverhältnis und damit auch davon, wie der ›Bildner‹ Hirschfeld zu seinen Bildern gelangte, erzählen dessen Bildunterschriften zum einen; zum anderen berichten diese von den Entstehungsbedingungen der von Hirschfeld arrangierten Bilder. Einem Foto mit dem Titel »Transvestistische Frau als Ehemann« fügte Hirschfeld die folgenden Informationen hinzu (Abb. 4): »Valerie Smith, die sich als Capt. Leslie Ivor Victor Gauntlett Barker ausgab und eine Frau Elfriede Haward heiratete. Sie wurde, weil sie auf dem Standesamt eine falsche Unterschrift leistete, in London im April 1929 mit Gefängnis bestraft. Bild 886 zeigt sie aus dem Gericht kommend, nachdem man sie gezwungen hat, Frauenkleider anzuziehen. Sie hält das Gesicht zu, um nicht fotografiert zu werden.« (Hirschfeld 1930: 594)

Indem Hirschfeld Valerie Smith souverän als »Ehemann« bezeichnete, gibt er diesem jenen Subjektstatus zurück, dessen Auslöschung mit dem gewaltsamen Akt des Fotografiert-Werdens in Frauenkleidern vor Gericht verloren ging. Wo ein Wiederabdruck andernfalls mit einer erneuten Viktimisierung einherginge, gelingt Hirschfeld ein nachträgliches Zurechtrücken des Bildes seiner Protagonist_ in. Das unter dem Eindruck repräsentativer Gewalt gewonnene Foto von Leslie Ivor Victor Gauntlett Barker wird durch ein nachfolgendes Bild in seiner Drastik abgemildert. Dieses zeigt ihn_sie in einer Pose, die er_sie selbst für sich gewählt hat. Vermittels einer spezifischen Politik der Anordnung wird eine Fremddarstellung durch eine Selbstdarstellung neutralisiert. Der lesbische Captain geht Hirschfelds Bildpolitik zufolge nicht als lesbische Frau, nicht als heterosexueller 10 | Zur verhältnismäßigen Normalität ›sexuellen‹ Arbeitens von Frauen in der dem Herkunftsgeschlecht entgegengesetzten Geschlechtsidentität zur Mitte des 19. Jahrhunderts siehe Lorenz 2007, zum Konzept des ›sexuellen Arbeitens‹ exemplarisch Kuster/Lorenz 2007: 151f.

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Mann, sondern als mit einer Frau verheiratetes Zwischengeschlecht in eine Geschichte der (hetero-)queeren Bilder ein. Abbildung 4: »Schmetterlingszwitter«

Quelle: Hirschfeld 1930: nicht paginiert

Abbildung 5: Geste des Zeigens im Film »N.O. Body

Quelle: »N.O. Body« © Laurenz/Baudry

Renate Lorenz und Pauline Baudrys Film zufolge beginnt queere Geschichte mit einem Akt des Zurechtrückens, der bereits bei Hirschfeld Teil einer Repräsentationsstrategie war. In der letzten Einstellung von »N.O. Body« sehen die Betrach-

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ter_innen das Bild eines mit den Zeichen für männlich und weiblich gleichermaßen versehenen Schmetterlings, auf die durch Annie Jones-Elliotts gekrümmte Hand subtil verwiesen wird (Abb. 5, Abb. 6). Das bereits zu Beginn des Films durch Flattergeräusche angedeutete Versprechen, den durch imaginäre Nadeln im Schaukasten heteronormativer Wissenschaftsgeschichten aufgespießten, toten Schmetterling 11 zum Fliegen zu bringen, wird in der Endeinstellung des Films eingelöst. Fast scheint es so, als ob das an die Wand projizierte Bild ›jenes intersexuellen Schmetterlings‹, das sich im Original auf den hinteren Seiten von Magnus Hirschfelds Bilderatlas befindet, nicht nur einer von der Geschichte fast vergessenen Bartdame namens Annie Jones-Elliott jene Flügel verleihen kann, die ihr Bild in die Zukunft tragen (Abb. 7). Das von Magnus Hirschfeld im Kontext seines durch die Nazis im Mai 1933 zerstörten Sexualwissenschaftlichen Instituts generierte Wissen konnte auf ähnliche Weise überleben: Für einen filmischen Moment, der durchaus als ›schräg‹ zu bezeichnen ist, beginnt in der Jetztzeit ein Schmetterling erneut zu fliegen, der im Jahre 1929 zu Ehren von Magnus Hirschfeld benannt worden war. Künftige Generationen queerer Forscher_innen haben sich die Augen auf den Flügeln dieses intersex Insekts namens Perrhybris Lypera Magni Hirschfeldi 12 schon heute geborgt. In ihnen ist bereits jener Blick angelegt, durch den ein stetig sich wiederholender ›queerer Moment‹ inmitten einer bereits geschriebenen Geschichte heteronormativer Ordnungen immer wieder aufs Neue sicht- und hörbar gemacht werden kann.

11 | Als Tier steht der Schmetterling innerhalb der griechischen Tradition als Platzhalter für Psyche und Metamorphose (vgl. Scherer 2012). Unter dem Banner dieses Symbols könnte einerseits eine noch ungeschriebene Geschichte jener aus eurozentrischer Perspektive als ›barbarisch‹ und ›primitiv‹ bezeichnete Denkweise der Tiere und Dinge verfasst werden. Die Koordinaten einer im instrumentellen Denken fußenden Praxis der Wissensgenerierung und mit ihr die Vorausgesetztheit einer rigiden Dichotomie von Subjekt und Objekt könnten durch eine Rehabilitierung von als ›prämodern‹ bezeichneten Denk- und Darstellungsweisen zumindest partiell verschoben werden. Im Kontext eines genuin lesbischen Bildrepertoires verweist der Schmetterling ebenso auf die Tradition der ›Psycho‹Dyke-Filme der frühen 1990er Jahre: Mit »Butterfly Kiss« (GB 1995, R: Michael Winterbottom) erreichte ein derartiges Paradigma in der filmischen Darstellung von lesbischen Frauen den vorläufigen Höhepunkt. 12 | Den hinteren, nicht paginierten Seiten von Magnus Hirschfelds Bilderatlas ist die dezente Information zu entnehmen, dass ein intersex*Schmetterling im Jahr 1929 »Herrn Dr. Magnus Hirschfeld zu Ehren« benannt worden war, »der uns das Wesen des Transvestismus erschlossen hat«.

B. Eder: Butter fly Kisses, addressed to »N.O. Body«

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Selbstrepräsentationen des genderqueeren Lebens Jenseits des binären Geschlechtersystems und der heteronormativen Zeitlichkeit und Räumlichkeit Rebecca Carbery

Genderqueer ist ein bemerkenswertes und aus den LGBTIQ (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Intersex, Queer) Communities kommendes Konzept, das nun auch in die Geschlechterstudien eingeht und daher an der Schnittstelle zwischen traditionellem akademischen Diskurs und der Selbstbezeichnungen im wirklichen Leben liegt. Genderqueer behandelt die Grauzone jenseits des konventionellen Binarismus, und trägt etwas Radikales zur Dekonstruktion des biologisch-bestimmten binären Geschlechtersystems bei und wird immer mehr als Beschreibung nicht-binärer Geschlechteridentitäten in solchen Communities benutzt. Auf den Ansatz von Riki Wilchins in Bezug auf nicht-binäre Geschlechter in »GenderQueer: Voices from Beyond the Sexual Binary« (Nestle/Howard/Wilchins 2002) aufbauend, versuche ich die genderqueere Identifikation mit den Ideen der Geschlechterkonstruktion in Einklang zu bringen, indem ich das Geschlecht als performativ lese. Ein weiteres wichtiges Werk stellt Halberstams Buch »In a Queer Time and Place« dar, das zeigt, dass queere Zeit und der queere Raum sich im Gegensatz zu heteronormativen Zeitplänen, die auf Familie, Reproduktion und Zukünftigkeit fokussiert sind, entwickeln und sich nach anderen zeitlichen und räumlichen Konzepten richten. Halberstams Versuch entsprechend »to detach queerness from sexual identity« (Halberstam 2005: 1), schlage ich eine radikale Erweiterung vor, die Konzeptionen von Nicht-Normativität umfasst, die über Geschlechter und Sexualitäten hinausgehen, um Konzeptionen der wesentlichen Kategorien von Zeit und Raum miteinzuschließen. Genderqueere Personen benutzen zunehmend die visuelle Kultur, um diese Normen und Kategorien kritisch zu hinterfragen, insbesondere die Fotografie. Während die Fotografie traditionell als ein Mittel, das die Realität reflektiert, gesehen wurde, betonen aktuelle Werke im Bereich der visuellen Kultur ihre perfor-

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mativen Aspekte (vgl. Engel 2009). Weiterhin kann die Fotografie als ein Medium, das die Realität nicht nur darstellt, sondern auch als eines, das die Wahrnehmung der Realität vermittelt und gestaltet, gesehen werden. Die Fotografie ist daher ein geeignetes Mittel, um Geschlechterselbstdarstellungen zu betrachten. Daher kann das analysierte Bild in diesem Artikel als beides, sowohl als Symptom der Gesellschaft als auch als ein möglicher starker Einfluss auf die Gesellschaft, in der sie kreiert wurde, interpretiert werden. Dieser Artikel befasst sich mit der Frage: Wie veranschaulicht die zeitgenössische Amateurfotografie dieser genderqueeren Künstler_innen die Herausforderung von den vorher erwähnten Normen? Solche Amateurfotografien funktionieren als biografische Erzählungen und dienen daher auch als konkrete Beispiele und Archivierungen (genderqueerer) gelebter Praktiken und queerer Ansätze, die solche Normen infrage stellen. Erlebnisse der Nicht-Normativität, die ein Gefühl der Desorientierung und Entfremdung auslösen, können zu neuen Richtungen in Erinnerungsstrukturen führen. Dabei sind u.a. Aspekte wie die Geschlechterperformativität und Geschlechtersymbole und Merkmale der materiellen, genderqueeren Körper besonders wichtig. Insbesondere untersuche ich verschiedene Möglichkeiten der Konzeptualisierung nicht-normativer Geschlechter und nichtnormativer Zeit und Raum, bevor ich mich mit der visuellen Subversion dieser Kategorien beschäftige.

G ENDERQUEER Menschen, die sich als genderqueer (oder ähnliche Begriffe) identifizieren, sehen ihr Geschlecht oft als eine Mischung von männlich und weiblich (bi-gendered), irgendwo zwischen männlich und weiblich, als ganz außerhalb des binären Geschlechtersystems oder ganz ohne Geschlechtsidentität (a-gendered). Das Konzept von genderqueer stellt die binäre Konstruktionen von Geschlecht, in denen männlich und weiblich die einzigen möglichen Geschlechter sind, und sogar auch die traditionellen Bilder von transsexuellen Personen infrage. Die unterschiedlichen Geschlechterkonzeptualisierungen der genderqueeren Leute wirken sich auf die Bedeutung ihrer eigenen Geschlechtsidentitäten aus. Wie genderqueere Personen das Geschlechtersystem und ihre Beziehung mit diesem System betrachten, unterscheidet sich sehr stark. Für manche ist das Geschlecht ein Kontinuum von Mann zu Frau und umgekehrt, und ihrer eigener genderqueerer Ort ist irgendwo dazwischen. Andere glauben, dass es genauso viele Geschlechter wie Menschen gibt und ihre eigene genderqueere Identität nur ein einziges Geschlecht von vielen ist. Andere wiederum fühlen, dass ihr Geschlecht nicht in das sozialkonstruierte binäre System passt und es ganz außerhalb dieses Konstrukts liegt. Dieser konzeptuelle Ort ist etwas schwierig zu definieren, weil ein Ort, der außerhalb des binären Geschlechtersystems platziert ist, sich trotzdem auf dieses System bezieht. Manche genderqueere Menschen erleben ihr

R. Carber y: Selbstrepräsentationen

Geschlecht als fluid, indem es von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr variiert; diese Leute würden vielleicht den Begriff gender fluid verwenden, um sich zu beschreiben. Andere Genderqueere sehen sich ›ohne Geschlecht‹ und verwenden oft den Begriff a-gender, wohingegen einige Geschlecht als eine Methode Individuen zu kategorisieren überhaupt ablehnen. Andere Begriffe, die zusätzlich zu genderqueer verwendet werden, sind unter anderem bi-gendered, multi-gendered, androgyne, gender outlaw, gender bender, gender-fluid and gender-fuck. Wenn es um Pronomen geht, verwenden manche die gewöhnlichen binären Pronomen, während andere lieber geschlechterneutrale Pronomen benutzen. Man stößt auf das Problem der normativen und binären Sprache, die verwendet wird, um über das Geschlecht zu sprechen, um etwas zu beschreiben, das eigentlich weit darüber hinausgeht. Obwohl genderqueer immer mehr innerhalb der LGBTiQ Communities akzeptiert wird, gibt es fast keine akademische Arbeit, die sich in Detail mit diesem komplexen Konzept auseinandersetzt und analysiert, wie es mit aktuellen Geschlechterdiskursen in Verbindung gebracht werden kann. Dies kann daran liegen, dass genderqueer als Begriff und Konzept noch relativ neu ist, aber auch an der Schwierigkeit die Bedeutung genau zu bestimmen, weil es so viele verschiedene mögliche Ideen und Meinungen zu Geschlecht gibt und daher viele verschiedene Interpretationen dieses Begriffs bestehen. Das Problem liegt darin, dass Identität als essentialistisches Konzept gesehen wird, denn tatsächlich war der Hauptpunkt in Butlers »Das Unbehagen der Geschlechter« (1991), dass Identität und nicht nur Geschlecht performativ konstruiert sind und nicht angeboren. Daher stimmt die Idee von genderqueer als innere Identität, wenn auch eine nicht-binäre Identität, nicht mit Ideen von Geschlecht als performativ konstruiert überein. Viele beschreiben nicht nur ihre Geschlechtsidentität als außerhalb des traditionellen binären Geschlechtersystems, sondern verwenden eine Geschlechterpräsentation, die außerhalb der erwarteten Stereotype oder Normen für männlich oder weiblich liegen, um eine politische Aussage über die Proliferation von Geschlecht zu machen. Genderqueere Personen leben Butlers Ruf zum Unbehagen der Geschlechter aus. Sie nehmen die performative Akte, die ihre (Geschlechts-)›Identität‹ konstituieren, selbst in die Hand. Diesen Ruf auszuleben heißt, nicht nur sich als geschlechter-nicht-normativ oder uneindeutig zu präsentieren, sondern bezieht sich auf die anderen genderqueeren Leute, die den (visuellen) Normen für ein oder das andere binäre Geschlecht entsprechen (entweder das Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeteilt wurde, oder das ›andere‹). Diese performativen Akte sind nicht das gleiche wie die theatralische Performanz, sondern sind Akte, die das ›reale‹ Geschlecht zu ›kreieren‹ oder ›konstituieren‹ scheinen. Diese Akte sind nicht nur körperlich oder visuell, sie können auch Sprechakte sein; indem jemand sein Geschlecht als genderqueer beschreibt, ist das ein Akt, der in Verbindung mit anderen Praktiken, den genderqueeren Raum kreiert.

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Das einzige Werk, das sich wirklich mit genderqueer beschäftigt, sind die einleitenden Aufsätze von Riki Wilchins in der Sammlung von persönlichen Geschichten, »GenderQueer: Voices from Beyond the Sexual Binary«, dessen Mitherausgeber_in sie ist (vgl. Nestle/Howard/Wilchins 2002). In diesen Aufsätzen kombiniert sie diese Konzepte von Geschlechtsidentität, die von manchen genderqueeren Leuten im ›echten Leben‹ verwendet werden mit Butlers Idee von performativer Konstruktion. Sie sieht das binäre Geschlechtersystem als die Regulierung von diesen performativen Akten, um die Erscheinung von zwei kohärenten Geschlechtern hervorzurufen, und erklärt, dass, da diese performativen Akte wiederholt werden müssen, die binären Geschlechter unstabil sind. Die performativen Akte können manchmal innerhalb des binären Geschlechtersystems unlesbar werden, deshalb ›scheitern‹ diese Geschlechter, weil sie nicht als die eine oder die andere binäre Option für Geschlecht gelesen werden können. Wilchins erwähnt Butlers Idee, dass es kein originales Geschlecht gibt (vgl. Butler 1991: 201f.) und argumentiert, dass ›gelungene‹ Geschlechter auf schon existierende Kopien verweisen ohne die Möglichkeit offenzulassen neue Variationen anzuerkennen. Diese würden als ›gescheitert‹ betrachtet werden. Für Wilchins »Genderqueers are people for whom some link in the feeling/expression/ being perceived fails« (Nestle/Howard/Wilchins 2002: 28). Sie schreibt weiter, dass es problematisch ist, zu definieren zu versuchen, wer in diese Identität passt, weil, wie mit allen identitätsbasierenden Politiken, das Risiko besteht Menschen auszuschließen, die repräsentiert werden wollen würden. Sie kritisiert die geläufige Idee des Geschlechts als ›Spektrum‹, in dem eine Geschlechterpluralität angenommen wird, die aber zwischen den zwei binären Extremen (Mann und Frau) liegt. Sie argumentiert, dass diese Idee keinen Ausweg aus der herkömmlichen Binarität ermöglicht, obwohl sie leicht erweitert wird, um Platz in der Mitte zu schaffen, dabei aber doch im Einklang mit den heterosexuellen Normen steht und nur »slightly less oppressive« (ebd.: 30) ist und »not less binary than is predecessors« (ebd.: 30f.). Sie fragt dann, ob, wenn Geschlecht unabsichtlich ›scheitern‹ kann, der Mensch sich nicht bewusst entscheiden kann das Geschlecht zu stören?

A NDERE Z EIT UND ANDERER R AUM In »Of Other Spaces‹ konzeptualisiert Foucault nicht-normative Zeit und Raum und beschreibt Utopien als »sites with no real place« (Foucault 1986: 24), die entweder eine perfekte Form der aktuellen Gesellschaft darstellen oder eine ganz veränderte, gegensätzliche Form, die als Ideal präsentiert wird. Er schreibt weiter, dass Orte oder Räume auf einer kulturübergreifenden Ebene existieren, die als Gegenörtlichkeit (›counter-site‹), in der andere Örtlichkeiten »represented, contested and inverted« werden, dienen (ebd.: 24). Foucault argumentiert, dass, obwohl diese Örtlichkeiten im echten Raum verortet werden können, sie außerhalb

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aller Orte liegen. »They are absolutely different from all the sites that they reflect and speak about«, deswegen hat er sie »heterotopias« genannt. Foucault erwähnt auch, dass »heterotopias« mit »heterochronies« eng verbunden sind, die Brüche in der traditionellen oder normativen Zeit sind. Heterochronies können Zeiten sein, die »fleeting, transient, precarious« sind (ebd.: 26). Basierend auf Foucaults »Of Other Spaces‹, gibt es jetzt einige verschiedene, aktuellere Konzeptionen der nicht-normativen Zeit und Raums, die als ›postmodern geography‹ bezeichnet werden. Beispiele davon sind der 2009 erschienene Sammelband von Andre Jansson und Amanda Lagerkvist »Strange Spaces« und »Thirdspace« (1996) von Edward W. Soja. In »Strange Spaces«behandeln Andre Jansson und Amanda Lagerkvist auch nicht-normative Räumlichkeit. In dem einleitenden Kapitel von diesem Buch definieren sie ›strange spaces‹ (eigenartige Räume) als »those bewildering and sometimes unspeakably bizarre spaces where disruption or disarray leave social subjects estranged and out of place« (Jansson/Lagerkvist 2009: 2). Diese eigenartigen Räume sind »geographies of uncertainty and in-betweenness; of cognitive displacement, loss, fear or exhilaration« (ebd.). Diese Definitionen haben ein Art Andersheit, Entfremdung und/oder etwas Neues oder Unbekanntes gemeinsam. Diese Formen von Andersheit schließen das ›Exil‹, ›das Obszöne‹, das ›Deviante‹ mit ein, und auch queer wird als eine Form der Andersheit erwähnt, die dieses Gefühl der Entfremdung auslösen kann. Edward W. Soja stellt sein Konzept von thirdspace vor als »a purposely tentative and flexible term that attempts to capture what is actually a constantly shifting and changing milieu of ideas, events, appearances and meanings« that brings about »ew ways of thinking about space and social spatiality« (Soja 1996: 2). Auf eine etwas abstrakte Art und Weise erklärt Soja, dass das thirdspace nicht auf binäre Oppositionen beschränkt ist, sondern im Widerstand dazu steht. Thirdspace kombiniert diese Unvereinbarkeiten innerhalb sich selbst und arbeitet genauso wie Heterotopia darauf hin, diese binären Kategorien aufzubrechen. Er schreibt weiter über »thirding as othering« und argumentiert, dass es möglich ist binäre Kategorien aufzubrechen, indem man einen anderen Begriff, eine dritte Möglichkeit, einführt. Diese dritte Möglichkeit soll nicht nur eine Kombination von beiden binären Kategorien und auch keine Zwischenstufe in einem imaginären Kontinuum sein. Dieses kritisches »thirding as othering« ist ein wichtiger Schritt beim Auf brechen von binären Kategorien und führt ein kritisches ›Anderes‹ ein, das nicht nur eine zusätzliche Kategorie ist, sondern eine »disordering, deconstruction, and tentative reconstitution of their presumed totalisation producing an open alternative that is both similar and strikingly different« (ebd.: 60f.). 1

1 | Homi Bhabha hat bereits 1990 über thirdspace geschrieben, aber im Kontext von Hybridität.

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Q UEERE Z EIT UND QUEERER R AUM In »In a Queer Time and Place« ist das Ziel Halberstams »to detach queerness from sexual identity« und Halberstam argumentiert, dass »queer time« and »queer space« (Halberstam 2005: 1) als »an outcome of strange temporalities, imaginative life schedules and eccentric economic practices« existieren, die sich als Widerstand gegen die Heteronormativität entwickeln (ebd.). Wichtig ist, dass queere Einsätze von Zeitlichkeit und Räumlichkeit sich, oder zumindest teilweise, im Gegensatz zu Institutionen von Familie, Heterosexualität und Reproduktion entwickeln (vgl. ebd.). Halberstam bemerkt, dass eine Form von queerer Zeit besonders auffällig und spürbar während der AIDS-Krise in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geworden ist und argumentiert, dass der Verlust der Erwartung einer langfristigen Zukunft zu »a new emphasis on the here, the present, the now« innerhalb dieser Communities geführt hat. Diese »urgency […] expands the potential of the moment, […] squeezes new possibilities out of the time at hand« and leads to a »rethinking of the conventional emphasis of longevity and futurity« (ebd.: 2). Halberstam konzeptualisiert die queere Zeit als außerhalb des erwarteten Lebenszeitplans liegend und erklärt, dass die queere Zeit »lies outside of those paradigmatic markers of life experience – namely, birth, marriage, reproduction, and death« und in dieser Zeitform geht es besonders um »the potentiality of life unscripted by the conventions of family, inheritance, and child-rearing« (ebd.). Weiterhin beschreibt Halberstam diese heteronormative Zeitlichkeit, wogegen sich die queere Zeit richtet. Dieser normative Lebenszeitplan wird von der menschlichen biologischen Uhr bestimmt, insbesondere die der Frauen und der rigiden Regeln über das, was als korrekter und anständiger Zeitplan für die Heirat und das Kinderkriegen gilt, der oft als natürlich vorausgesetzt wird. Solche heteronormative Zeitlichkeit umfasst auch die erwartete Zeitplanung des täglichen Lebens, die Halberstam als »early to bed, early to rise« beschreibt und als ein nötiger Teil des gesunden Lebens und Umfeldes eines Kindes gilt. Halberstam argumentiert, dass diese normative Zeit auch eine »time of inheritance […] within which values, wealth, goods and morals are passed through family ties from one generation to the next« (ebd.: 4) ist und auch eine hypothetische Zeitlichkeit, in der Gesundheits- und andere Versicherungspolicen und ein Testament gemacht werden. Das Konzept einer queeren Zeitlichkeit wird von Halberstam benutzt, um die Normen der Respektabilität, die von dieser Logik der reproduktiven Zeitlichkeit aufrechterhalten werden, sichtbar zu machen (vgl. ebd.). Eine queere Zeitlichkeit ermöglicht all die anderen nicht-normativen (Lebens-) Zeitpläne, die sich gegen die normative Idealisierung der Langlebigkeit als die erwartete und erwünschte Zukünftigkeit, die Verlängerung des Lebens um jeden Preis und die Pathologisierung von anderen Konzepten der Zeitlichkeit und anderer Lebensweisen wehren, die die Langlebigkeit und Stabilität nicht als Priorität setzen. Indem das Konzept Halberstam der queeren Zeit gebildet wird, präsentiert Halberstam eine neue Verständnisweise der queeren Praktiken und queeren

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Aktivität, die auch ein Konzept der queeren Räumlichkeit benötigen und auch sogar vielleicht kreieren. Dieser »queer space« wird als solcher beschrieben »the place-making practices within postmodernism in which queer people engage« (ebd.: 6). Die queere Räumlichkeit verweist auf neue Verständnisse von Raum, die aus queeren Praktiken resultieren. Halberstam bemerkt auch, dass diese normativen Zeitpläne, zum Beispiel die der Reproduktion und des Familienlebens, »that we have naturalised and internalised […] are also spatial practices« (ebd.: 7f.). Daher, wenn normative Zeitlichkeiten Raum kreierende Praktiken sind, die heteronormative Räumlichkeit produzieren, können queere Zeitlichkeiten queere Räumlichkeiten kreieren, die außerhalb der räumlichen Praktiken der Hetereonormativität, Reproduktion und Familienplanung liegen. Bevor ich ein Beispiel aus der zeitgenössischen Amateurfotografie gebe, das als visuelle Darstellung der nicht-normativen Zeitlichkeit und Räumlichkeit bezeichnet werden könnte, muss das Gefühl von Desorientierung, wie es Sarah Ahmed im letzten Kapitel ihrer Publikation »Queer phenomenology: Orientations, Objects, Others« (2006), others erklärt, definiert werden. Sie beschreibt Desorientierung als »bodily experiences that throw the world up, or throw the body from its ground«. Diese Erfahrungen »can be unsettling and it can shatter one’s sense of confidence in the ground« (Ahmed 2006: 157). Als Beispiel gibt sie das Gefühl an, in dem die tiefe Konzentration auf eine bestimmte Aufgabe oder Objekt plötzlich gestört wird und einen ›switch of dimensions« (hier wird von Konzentration gesprochen) herbeiführt, das einen momentanen Verlust der Perspektive bewirkt (ebd.: 157f.). Dieses Gefühl beschreibt sie auch als »a feeling of losing one’s place« (ebd.: 160). Sie behauptet auch, dass eine solche Desorientierung das Potenzial hat, politisch radikal zu sein, dass sie eine Hoffnung hinsichtlich neuer Richtungen anbieten kann. Ich würde vorschlagen, dass das Gefühl, das Ahmed als Desorientierung beschreibt, nicht so unähnlich ist zu dem Gefühl, das Jansson und Lagerkvist als Entfremdung in ihrem Buch »Strange Spaces« bezeichnen. Mit der Möglichkeit, dass durch Begegnungen mit nicht-normativer Räumlichkeit solche Gefühle, die von Ahmed, Jansson und Lagekvisst beschrieben werden, ausgelöst werden können, kann behauptet werden, dass das Beispielbild aus der zeitgenössische Amateurfotografie diese Macht haben kann.

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Abbildung 1: Ohne Titel

Quelle: Zory Montpetit http://www.flickr.com/photos/locatei/ 3722552241/in/photostream/

U RBAN B L ACK H OLE Dieses Bild könnte als das, was Jansson und Lagerkvist als »urban black hole« bezeichnen, beschrieben werden, die »decaying zone« in urbanen Gebieten, dessen Seltsamkeit und Andersheit ein tiefes Gefühl der Entfremdung oder Desorientierung (Jansson/Lagerkvist 2009: 6) auslöst. Der Hintergrund besteht aus einer Porenbetonsteinmauer eines verfallenen, verlassenen Gebäudes (das eine alte Fabrik zu sein scheint) und eines großen Fensters im oberen Teil der Mauer. Beide sind mit Graffitis besprüht. Am unteren Teil des Bildes und im Vordergrund ist ein Asphaltboden, der einige kleine Schlaglöcher hat; kleine Steine, Müll und Laub sind am Boden zerstreut. Durch das Graffiti verschmierte Fenster sind verschiedene Kisten mit unterschiedlichen Größen, die auf Regale gestapelt sind, im dunklen Raum erkennbar. Die weiße Farbe löst sich vom Fensterrahmen ab und auf der linken Seite ist ein graue Metallstange, die teilweise mit Rost oder brauner Farbe bedeckt ist und unterhalb der Stange wächst Unkraut, von dem manches

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schon vertrocknet ist. Oben auf der Stange ist ein kleines, weißes, quadratisches Parkverbotsschild angebracht. Ein weiteres Schild ist auf der Wand in der oberen rechten Ecke des Fensters montiert. Die Schrift auf diesem Schild sagt »Notice (groß geschrieben) this area is under 24 hr. video surveillance«. Etwas rechts vom Zentrum des Bildes steht eine Person, die sich an die Wand mit der rechten Fußsohle lehnt. Ihre Kleidung besteht aus schwarzen Turnschuhen, schwarzen Socken, einer dunkelbraunen, knielangen kurzen Hose mit einem unfertigen Saum. Man bekommt den Eindruck, dass die kurze wahrscheinlich eine abgeschnittene lange Hose ist. Am Oberkörper trägt die Person ein braunweiß kariertes Hemd mit einem dunkelblauen oder schwarzen Kapuzenpulli. Der Reißverschluss des Pullis ist vorne offen, so dass man das Hemd sieht. Eine Sonnenbrille mit rotem Brillengestell hängt auf der äußeren Seite der Hosentasche. Der Körper ist in die Richtung der Kamera gedreht, während das Gesicht zur rechten Seite schaut. Der Gesichtsausdruck könnte als ernst und nachdenklich oder etwas leer beschrieben werden. Die Körperhaltung ist leger; die Person lehnt an der Wand, hat leicht gebeugte Schultern, einen Fuß an der Wand und die Daumen in den Hosentaschen. Diese Körperhaltung in Verbindung mit dem Gesichtsausdruck könnte man als einen Ausdruck des Wartens auf irgendwas oder jemanden, oder dass irgendwas passiert, interpretieren. Die Graffitis an der Wand sind nicht diese durchdachten, kunstvollen Verzierungen, die oft auf Gebäuden zu sehen sind und wie ein geplantes Mauerbild wirken, sondern dieses Bild besteht nur aus unlesbarem Gekritzel (Tags) in verschiedenen Farben. Der allgemeine Eindruck ist ein urbaner Verfall. Die Steine, Blätter und der Müll am Boden, das Unkraut, das unten bei der Stange wächst, das gekritzelte Graffiti an der Wand und am Fenster nicht nur außen, sondern auch auf der inneren Seite des Fensters vermitteln den Eindruck, dass das Gebäude wirklich verlassen ist, da sich jemand anscheinend irgendwie Zugang verschaffen hat und Zeit gehabt hat, um Graffitis zu hinterlassen. Die Stange ist verrostet oder ist mit Farbe beschmiert und die Farbe, die sich vom Fenster ablöst, trägt zu dem verfallenen Eindruck dieses Ortes bei. Die kahle, graue Mauer und der dunkle Asphalt und der generelle Mangel an Farbe (die Graffitis ausgenommen) akzentuiert auch den feindlich wirkenden Eindruck der Umgebung. Weiterhin deuten bestimmte Sachen auf ein Gefühl des Nicht-Willkommen-Seins hin, dass das Parkverbotsschild impliziert, dass man nicht zu diesem Ort als Ziel fahren darf, da es nicht erlaubt ist dort stehenzubleiben. Dies wird durch das Überwachungsschild, das an einer auffälligen Position aufgehängt wurde, verstärkt. Dieses Gefühl des ständig von einem ›unsichtbaren Auge‹ beobachtet werdens (wie auch Foucault in seiner Analyse des Panoptikummodells eines Gefängnises in »Überwachen und Strafen« schreibt, und es als Metapher für moderne disziplinarische Gesellschaften sieht, in denen die Leute einander beobachten und kontrollieren) trägt auch zum störenden und eigenartigen Gefühl (strangeness) bei, das dies ein Ort oder ein Raum ist, wo keine_r sein soll.

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Die Zeit ist auch nicht mehr normativ, weil die bestimmten Zeitmomente, die hier erfolgen, im Bild festgehalten und wiederholt werden können, indem das Überwachungskameravideo angesehen wird. Weiterhin könnte man auch sagen, dass in diesem verfallenden, verlassenen Ort des Nichts die Zeit stehen bleibt, in einem Raum, wo nichts passiert. Die Figur in diesem Bild trägt auch zur ›strangeness‹ durch ihre queeren zeitlichen und räumlichen Praktiken bei. Wenn man im Sinne des heteronormativen binären Geschlechtersystems die Hinweise oder Symbole der normativen Geschlechterzuschreibung liest, benutzt diese Figur gemischte Geschlechtersymbole, die ein_e Betrachter_in verwirren, da keine unmittelbare Geschlechterzuschreibung gemacht werden kann. Das kann zu einem Gefühl der Entfremdung, Verunsicherung und Verwirrung führen. Das Hemd, zum Beispiel, kann ein männliches Kleidungsstück sein; die kurze Hose und die Schuhe sind wahrscheinlich für ›beide‹ Geschlechter. Auch die Frisur ist nicht eindeutig, da sie auf eine Seite kurz rasiert, aber auf der anderen Seite lang ist. Die legere oder gelangweilte Körperhaltung wäre normalerweise einer männlichen Rolle zugeschrieben, während bestimmte Körpermerkmale, wie schmale Schultern, die Beine, Hüfte und der Mangel an sichtbaren Gesichtshaaren als weibliche Eigenschaften gesehen werden würden. Diesen Charakteristiken wid aber von der ›männlich‹ aussehenden flachen Brust widersprochen. Die nicht eindeutige Selbstdarstellung kann als queere Praktik gesehen werden, die normative Praktiken der binären Geschlechterpräsentation herausfordert und infrage stellt, die genauso naturalisiert und auch verbunden mit heteronormativen, reproduktiven und familiären Praktiken sind. Dieses Bild verbindet mehrere Aspekte nicht-normativer Zeitlichkeit und Räumlichkeit, so wie das Aussehen und die Bedeutungen des Raumes, der Person selbst und die Relation zwischen dem Raum und der Person, das zu einem visuellen Erlebnis führt, das entfremdend ist.

Q UEERTOPIA Dieses Bild stellt dar, was ich als Queertopia bezeichnen will. Es löst das Queere von der sexuellen Identität ab (vgl. Halberstam 2005:1) und verbindet es mit Praktiken, die normative Ideen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit (wie von Halberstam beschrieben) aufbrechen. Ich verwende den Begriff Queertopia, insbesondere das Suffix topia aus mehreren Gründen: Es stammt aus dem Griechischen und hat mit Örtlichkeit oder Position zu tun2; weiterhin wollte ich das Queere mit Praktiken verbinden, die beides, räumlich und zeitlich, sind. Es hat auch Ähnlichkeiten mit Foucaults Heterotopia (vgl. Foucault 1986), indem dieses Bild ein Ort 2 | Von der Webseite wordinfo.info, die ›cross-references‹ für Wörter, die hauptsächlich aus dem Lateinischen oder Griechischen stammen und den Eintrag für ›topography‹ im »Oxford English Dictionary Online«, der auch mit Ort und Örtlichkeit zu tun hat.

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und eine Zeit darstellt, das in der Wirklichkeit existiert, aber auch eine Art ›NichtRaum‹ ist, der verlassen und vernachlässigt ist, wo die Zeit in dieser eigenartigen Umgebung für die nachdenklich wartende Person mit einem nicht eindeutigem Geschlecht (eine solche Selbstdarstellung kann als queere Praktik gesehen werden) stehen bleibt. Es ist ein strange space, thirdspace, ein anderer oder marginalisierter Raum, der Gefühle der Entfremdung des ›out of place‹-Seins, ein Gefühl von »displacement, loss, fear or exhilaration« (Jansson/Lagerkvist 2009: 2) oder, wie von Ahmed bezeichnet, der Desorientierung auslöst. Wie Ahmed erwähnt, kann dieses Gefühl der Desorientierung politisch radikal sein, weil es die Hoffnung auf neue Richtungen bietet (vgl. Ahmed 2006: 158). Daher verweist topia von Queertopia auch auf Utopia, eine neue Gesellschaft oder die Gesellschaft in einer geänderten, idealen Form. Die Gefühle der Entfremdung und Desorientierung, die von der strangeness von diesem »urban black hole« (Jansson/Lagerkvist 2009: 6) oder von Queertopia verursacht wird, kann zur Kontemplation und in Fragestellung der Normen von reproduktiven und familialen, zeitlichen und räumlichen Praktiken führen. Die queeren zeitlichen und räumlichen Praktiken, die in diesem Bild dargestellt werden, und das Konzept von Queertopia denaturalisieren diese heteronormativen Praktiken, die sonst so streng durchgesetzt werden. Ein nicht-binärer, genderqueerer Ort beginnt daher an Bedeutung zu gewinnen.

L ITER ATUR Ahmed, Sara (2006): Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others, Durham/London: Duke University Press. Bhabha, Homi (1994): The Location of Culture, London/New York: Routledge. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Engel, Antke (2009): »How to Queer Things with Images: On the Lack of Fantasy in Performativity and the Imaginativeness of Desire«. In: Barbara Paul/ Johanna Schaffer (Hg.), Mehr(wert) queer: Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken/Queer Added (Value): Visuelle Kultur, Kunst und Gender-Politiken – Visual Culture, Art, and Gender Politics, Bielefeld: transcript, S. 101-118. Foucault, Michel (1967/1986) »Of Other Spaces«. In: Diacritics 16, Nr. 1, 22-27. Foucault, Michel (1997/1995): Discipline and Punish, New York: Vintage. Halberstam, J. (2005): In a Queer Time and Place: Transgender Bodies, Subcultural Lives, New York: New York University Press. Jansson, André/Lagerkvist, Amanda (2009): Strange Spaces: Explorations into Mediated Obscurity, Surrey: Ashgate. Nestle, Joan /Howard, Clare/ /Wilchins, Riki (2002): GenderQueer: Voices From Beyond the Sexual Binary, New York: Alyson books. Soja, Edward W. (1996): Thirdspace: Journeys to Los Angeles and other real and imagined places, Oxford: Blackwell Publishing.

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Bemerkung zum Schluss — Gedächtnis und politisches Handeln Utta Isop »Wir sind Teilende, nicht Besitzende. Wir sind nicht wohlhabend. Keiner von uns ist reich. Keiner von uns ist mächtig. Wenn ihr Anarres wollt, wenn es die Zukunft ist, die ihr sucht, dann sage ich euch, daß ihr mit leeren Händen kommen müßt. Ihr müßt allein kommen, und nackt, wie das Kind in die Welt, in seine Zukunft kommt, ohne Vergangenheit, ohne Besitz, ganz und gar von anderen Leuten abhängig, um zu leben. Ihr könnt nicht nehmen, was ihr nicht gegeben habt, und ihr müßt euch selbst geben. Ihr könnt die Revolution nicht kaufen. Ihr könnt die Revolution nicht machen. Ihr könnt nur die Revolution sein. Sie ist in euch, oder sie ist nirgends.« (U RSULA L E G UIN: D ER P LANET DER H ABENICHTSE)

Ungleichzeitiges Gedenken geschieht, wenn feministisches Gedächtnis, GenderDiskurse und queere Entwürfe neben- und miteinander aktuelle Widersprüche und gegenkulturelle Vergangenheit und dadurch auch politisches Handeln in der Gegenwart eröffnen. Wie Frauen werden, dass Geschlechter sich dekonstruieren und welche Transgender sich realisieren, diese Prozesse eröffnen vielstimmige Chöre im Widerstreit um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Radikale Vergegenwärtigungen erinnern daran, dass die ›Puppen der Vergangenheit‹ wie wir/Ihr sie in Abgrenzung zueinander meist holzschnittartig gestaltet/en, lauthals gegen das Zerrbild protestieren, dass wir und Ihr uns heute von ihnen machen und macht. Die Gespenster sind unsere und Eure Zeitgenoss*innen, wie Ursula Le Guin zu denken gibt, denn Respekt und Würde gebühren den Lebensrealitäten von Frauen, Geschlechtern, Transgendern und allen Potenzialitäten, in und jenseits von Identität in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Verworfene und Subjekte begegnen uns und Euch in gegenkulturellen Momenten und fordern diesen Re-

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spekt und ihre Würde, seien es Frauen, Geschlechterdekonstrukte oder Transgenderpersonen. Remember me!, erinnere mich!, entwirf mich!, phantasiere mich!, gibt mir Alternativen! in Deiner und Eurer ausweglosen identitären Gegenwart, in jenem hegemonialen kulturellen Gedächtnis ohne Gegen-. Und wie realisieren wir und wie realisiert ihr gegenkulturelle Archive, feministisch-queeres Gedenken mit und ohne Identität? So geht es zum Schluss einmal mehr um die Frage, wie ins politische Handeln kommen? Indem wir uns zur Vergangenheit in Beziehung setzen, unser Gedächtnis nützen und uns an den Erinnerungen motivieren heute, hier und jetzt, Herrschaft aufzubrechen. Uns den Freiheiten und feministisch-queeren Alternativen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zuwenden.

Zu den Autor*innen

Lisa Appiano, Universitätsassistentin am Institut für Philosophie der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt. Studierte Philosophie und Gender Studies in Wien und arbeitete 2011 am Institut for Cultural Analysis (ASCA) der Universität Amsterdam an ihrer Dissertation. Ihre Dissertation behandelt die philosophiehistorische und psychoanalytische Begriffsbildung der Kategorie der Ursache. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geschichte der Philosophie (Begriffsgeschichtliche Forschung zu den Schwerpunkten antike Philosophie und frühe Neuzeit) und Sprachphilosophie (französische Dekonstruktion und Postmoderne). Thematische Schwerpunkte bilden queerfeministische Theoriebildung und Psychoanalyse. Anna Babka ist Assistenzprofessorin am Institut für Germanistik der Universität Wien. Von 2006 bis 2011 war sie Hertha-Firnberg sowie Elise-Richter-Stelleninhaberin des FWF. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen zum einen im theoretisch-methodologischen Bereich, hier besonders in der Erprobung und Evaluierung neuer theoretischer Ansätze für die germanistische und komparatistische Forschung. Als zentrale Felder haben sich dabei kulturwissenschaftlich informierte Literaturtheorie, komparatistische Theorie und Methodik, Gattungstheorie, Theorie der Autobiografie, Rhetorik, Gendertheorie und Queertheorie sowie postkoloniale Theorie herauskristallisiert. Zum anderen beforscht sie ein breites Spektrum deutschsprachiger Literatur, u.a. Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Literatur der Jahrhundertwende, österreichische/deutsche Nachkriegsliteratur und Gegenwartsliteratur. Persson Perry Baumgartinger, Mag., studierte Angewandte Sprachwissenschaft mit Fächerkombination aus Ehtnologie, Slawistik, Feminismus und Gender Studies an der Universität Wien. Derzeit schreibt er seine Dissertation an der Universität Wien und Humboldt-Universität Berlin (Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«). Er ist Wissenschafter, Lektor, Trainier und Coach und lehrt derzeit an der HU Berlin. Weiterhin ist er (Mit-)Begründer der Initiativen Verein ][diskursiv  und  queeropedia. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Kritische Dis-

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kurs- und Dispositivanalyse, Transgender Studies, Queer Linguistics. Publikationen (Auswahl): TransPersonen am österreichischen Arbeitsmarkt, Wien 2008 (gem. m. Vlatka Frketić); »queeropedia« [print], hg.  v. Referat für HomoBiTrans-Angelegenheiten der Universität Wien, 3. Aufl. 2009; Where Have All The Trannies Gone, Die TransBewegung der 1990er Jahre in Österreich, Wien 2011 (hg. Verein ][diskursiv). Cristina Beretta: Post-doc-Assistentin am Institut für Slawistik der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt (Österreich). Forschungsschwerpunkte: postjugoslawische (bosnische/kroatische/serbische) Literatur, russische Literatur um 1900, Krieg, Eros, Gender- und Queer Studies. Einschlägige Arbeiten: Lehrveranstaltungen, Vorträge bzw. wissenschaftliche Beiträge zum Holocaust in der bosnisch/kroatisch/serbischen Literatur (David Albahari, Danilo Kiš, Aleksandar Tišma) sowie zu den Jugoslawienkriegen in der (post-)jugoslawischen Literatur (Maša Kolanović, Dževad Karahasan, Vida Ognjenović). Buchpublikation: Das erotische Unbehagen in der russischen Literatur um 1900. Subversive Entsagung von Arthur Schopenhauer über Lev Tolstoj und Vladimir Solov’ev zu Fedor Sologub (= Beiträge zur slavischen Philologie 17; Dissertation), Heidelberg 2011. Mate Ćosić received his MA in Sociology at the University of Zadar/Croatia in 2008 and is currently finishing his second MA in Sociology at the University of Ljubljana/Slovenia. His interests of study include materialist approaches to society in relation to class, gender and sexuality themes and their intersections. Besides his academic interests he is also writing for various journals in Croatia and is involved in activist practices there. Currently he is teaching »Main Concepts in Gay and Lesbian Studies« at the University of Klagenfurt. Rebecca Carbery ist Doktorandin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Sie hat ihren MA in Fotografieanalyse 2011 und BA in Fremdsprachen 2009 an der University of Durham, GB, absolviert. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Gender und QueerTheorien und neuen digitalen Medien. Hannes Dollinger, Mag. phil., studierte Angewandte Kulturwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, wo er auch als Studienassistent am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien arbeitete, als Mitarbeiter im Queer-Referat der österreichischen HochschülerInnenschaft und als Lektor des Wahlfachstudiums Feministische Wissenschaft/Gender Studies aktiv war. Seine Interessen liegen in den Bereichen der Gender, LGBT und Queer Studies, der Kultursoziologie und der Kulturgeschichte des Alpen-Adria-Raums. Momentan arbeitet er als Gender & Diversity Expert am Institute of Science and Technology Austria.

Zu den Autor*innen

Barbara Eder, Autor_in & freie Wissenschafter_in, derzeit OEAD-Lektor_in, Debrecen/Ungarn. Studium der Soziologie, Philosophie, Theater-, Film- und Medienwissenschaften und der Gender Studies in Wien und Berlin, Doktorarbeit über Comic-Darstellungen in Verbindung mit repräsentationskritischen Aspekten und (post-)kolonialen Theorien (2011), Diplomarbeit zur queeren Körperkonstruktion in den Fotoarbeiten Nan Goldins (2005), AIDS-Aktivismus, Lehrtätigkeiten, Verlagsarbeit, politische Arbeit, journalistisches und essayistisches Schreiben, zuletzt: »Ich seh was, was Du nicht siehst…« Einige pragmatisch-politische Überlegungen zu Vlado Kristls trickreicher Vogelkunde. In: Maske und Kothurn 2/2011: Vlado Kristl – Der Mond ist ein Franzose, hg. von Christian Schulte/Franziska Bruckner/Stefanie Schmitt/Kathrin Wojtowicz, Wien: Böhlau 2011, S.  255-264 – Theorien des Comics. Ein Reader, Bielefeld: transcript (Mitherausgeber_in); demnächst: Seelengrammatik. Flying Words als Verständigungsform zwischen Geste und Zeichen. In: An Paenhusen/Wolfgang Müller (Hg.Innen): Gebärde, Zeichen, Kunst. Ausstellungskatalog Kunsthaus Bethanien, Berlin: Martin Schmitz. [email protected]. Martin J. Gössl (geboren in Graz 1983), Mag. Dr. phil., studierte Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. Der promovierte Kultur- und Sozialanthropologe mit seiner fachlichen Expertise in den Queer Studies absolvierte mehrere Forschungsaufenthalte; ein permanenter Schwerpunkt bildet dabei New York. Als Beauftragter für Gleichbehandlung und Vielfalt an der FH JOANNEUM gehören sowohl die Verwaltung, Lehre als auch die Forschung zu seinen Aufgabenbereichen. Die Queer Theory aber auch queere Dimensionen im zeithistorischen sowie anthropologischen Rahmen stellen die Kernthemen von Martin J. Gössl dar. Aktuell befinden sich urbane, queere Individualisierungen einer »virtuellvernetzten« Gesellschaft des 21. Jahrhunderts im Mittelpunkt des forschenden Interesses. Jacob S. Guggenheimer, ist Sozialpsychologe und koordiniert das Interfakultäre Forschungsnetzwerk Kultur & Konflikt der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Von 2010 bis 2013 war er u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie im trilateralen Forschungsprojekt DNA and Immigration tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den sozialphilosophischen Teilbereichen der Gender Studies und Queer Theorien. Zuletzt erschien von ihm u.a. »Beschützter Staatsfeind Familie – Ethische Implikationen von DNA-Tests« im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 2013/Heft 3 (Steiner-Verlag). Er war Mitherausgeber des Sammelbandes Kausalität der Gewalt – Kulturwissenschaftliche Konfliktforschung an den Grenzen von Ursache und Wirkung 2012 (transcript). Neben seiner Monographie Der Sand in den Augen – E.T.A. Hoffmann und die Geburt einer deutschen Männlichkeit 2008 (Drava) sind seine Forschungsbeiträge zur Menschenhandelsthematik in der Anthologie Frauenhandel in Österreich 2009 (Drava) veröffentlicht, die ebenfalls von ihm mitherausgegeben wurde.

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen

Cornelia Hippmann, Dr.in phil. geb. 1978 in Wippra, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der TU Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Qualitative Forschungsmethoden, Biografieforschung, Intersektionalität, Mediensoziologie, Soziologie der Emotionen. Ihre Promotion schrieb sie zum Thema »Ostdeutsche Frauen in der Politik. Eine qualitative Analyse«. Derzeit arbeitet sie am Forschungsprojekt: Geschlecht, Milieu, Ethnizität: »Peer-Kulturen« und schulische Anforderungen in intersektionaler Perspektive. Utta Isop ist Philosophin und Frauen- und Geschlechterforscherin mit den Schwerpunkten Geschlechterdemokratie, Solidarische Ökonomie, Bedingungsloses Grundeinkommen, soziale Bewegungen, Losverfahren, Soziogenese des Mentalen und arbeitet am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Mitherausgeber*innenschaft von Differenzen leben. Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion (2011), Spielregeln der Gewalt. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Friedens- und Geschlechterforschung (2009), Über Geschlechterdemokratie hinaus. Beyond Gender Democracy (2009) Webseite: http://wwwu.uni-klu.ac.at/uisop/ wordpress/; Kontakt: [email protected] Elisabeth Koch, Mag.a phil., hat Angewandte Kulturwissenschaften an der AlpenAdria-Universität Klagenfurt mit einem Schwerpunkt auf Feministische Wissenschaft/Gender Studies studiert. Sie war Studienassistentin am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien und ist nun Projektmitarbeiterin am Forschungsprojekt »Gastarbeiterinnen in Kärnten. Auf Spurensuche der weiblichen Arbeitsmigration«. Zusätzlich arbeitet sie im Mädchenzentrum Klagenfurt an einem Projekt, welches die Chancen und Bedingungen für Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund im Arbeitsprozess verbessern soll. Birge Krondorfer: Politische Philosophin. Lehraufträge an diversen in- und ausländischen Universitäten seit 1990 in den Bereichen Bildung, Kultur, Politik, Gender, Ästhetik. Erwachsenenbildnerin und Trainerin. Zertifiziert in Groupworking, Supervision, Mediation, Interkulturelles Training. Mitarbeit (2003-2007) in zwei EU-Projekten zur Situation von MigrantInnen am Arbeitsmarkt. Mitorganisation vieler Frauentagungen und Aktionen, zuletzt http://zwanzigtausendfrauen.at/. Mitgründung (1990) und tätig in der feministischen Bildungsstätte Frauenhetz. Zahlreiche Vorträge und Texte zur feministischen Theorie- und Praxisbildung der Geschlechterdifferenzen. Hg.: Gender im Mainstream? Kritische Perspektiven, Wien 2007. Co.Hg. u.a: Frauen und Ökonomie. Oder: Geld essen Kritik auf, Wien 2000; Frauen und Politik. Nachrichten aus Demokratien, Wien 2008; Frauen-Fragen.100 Jahre Bewegung, Reflexion, Vision, Wien 2012; Prekarität und Freiheit – Feministische Wissenschaft, Kulturkritik und Selbstorganisation, Münster 2013.

Zu den Autor*innen

Doris Leibetseder: Scholar in Residence der Beatrice Bain Research Group des Department for Gender and Women’s Studies, University of California, Berkeley (2013/14). Zuvor Mitarbeiterin am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Externe Lektorin für Gender Studies an der Universität Klagenfurt und Graz, und im Sommersemester 2013 für Musikwissenschaft an der Hauptuniversität Wien. Vorher war sie zwei Jahre OeAD-Lektorin im German Department der University Durham, UK, und kurz Gastlektorin an der Universitat Autònoma de Barcelona für den MA-Kurs in Literatur und Kultur. 2008 schloss sie ihre Doktorat in Philosophie an der Universität Wien mit Auszeichnung ab. Während des Studiums arbeitete sie als Radiologietechnologin und hatte längere Auslandsaufenthalte in Barcelona (Universitat de Barcelona, MACBA-PEI: Technologies of Gender) und am Goldsmiths, University of London. Buchpublikationen: Queer Tracks. Subversive Strategies in Rock and Pop Music. Ashgate: Farnham/Burlington 2012. Queere Tracks. Subversive Strategien in der Rockund Popmusik. transcript: Bielefeld 2010. Gintare Malinauskaite promoviert in Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bachelorstudium im Bereich Politikwissenschaft an der Universität Vytautas Magnus in Litauen. Masterstudien: im Bereich Interdisziplinäre Lateinamerikastudien an der Freien Universität Berlin und im Bereich Politikwissenschaft an der Central European University in Budapest, Ungarn. Ihre Promotionsarbeit beschäftigt sich mit der filmischen Erinnerung an die Shoah und sowjetische Okkupation in Litauen nach der Unabhängigkeit. Lisa Malich hat Psychologie an der Freien Universität Berlin und an der Indiana University in Bloomington studiert. Von 2009 bis 2011 war sie Stipendiatin des Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2012 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medizingeschichte der Charité Berlin. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit Konzeptionen von Emotionalität in der Schwangerschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschlechterstudien, Diskurstheorie sowie Wissensund Wissenschaftsforschung. Kirstin Mertlitsch studierte Philosophie und Gender Studies in Wien, Pavia und Klagenfurt. Sie ist Mitbegründerin und seit 2004 Geschäftsführerin am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien, sowie Universitätslektorin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Von 2011-2013 ist sie Stipendiatin am DFGGraduiertenkolleg »Geschlechtals Wissenskategorie« an der Humboldt Universität zu Berlin und schreibt an ihrer Dissertation »Sisters, Cyborgs,Drags. Begriffspersonen in feministisch-queeren Theorien«. Zuletzt war sie Mitherausgeberin des Bandes Kulturelle Dimensionen von Konflikten (2010).

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»When we were gender...« — Geschlechter erinnern und vergessen

Gudrun Perko Mag.a Dr., Philosophin, Gastprofessorin an der FH-Potsdam zu Gender und Diversity; Wissenschaftscoach und Mediatorin, Begründerin und Ausbilderin für Social Justice und Diversity. Publikationen u.a.: Phänomene der Angst. Geschlecht - Geschichte - Gewalt, gem. mit Alice Pechriggl, Wien 1996; Mahlzeit. Frauen zwischen Siebzig und Hundert erzählen aus ihren Erinnerungen, Wien 2000; Verständigung in finsteren Zeiten. Interkulturelle Dialoge statt »Clash of Civilizations«, Hg., gem. mit Leah Carola Czollek, Köln 2003; Lust am Denken: Queeres jenseits kultureller Verortungen. Das Befragen von Queer-Theorien und queerer Praxis hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf verschiedene gesellschaftspolitische Bereiche, Hg., gem. mit Leah Carola Czollek, Köln 2004; Queer-Theorien. Ethische, politische und logische Dimensionen plural-queeren Denkens, Köln 2005; Lehrbuch Gender und Queer. Grundlagen, Methoden und Praxisfelder (Studienmodul Soziale Arbeit), gem. mit Leah Carola Czollek und Heike Weinbach, Berlin 2009; Praxishandbuch Social Justice und Diversity. Theorien, Training, Methoden, Übungen, gem. mit Gudrun Perko und Heike Weinbach, Beltz/Juventa, Weinheim/München 2012. Nähere Informationen unter: http://www.perko-profundus.de Viktorija Ratković, Mag. a phil., ist geschäftsführende Leiterin des Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Sie hat Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Anglistik und Amerikanistik sowie Feministische Wissenschaften/Gender Studies studiert. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation zum Themengebiet Medien von Migrant_innen und leitet das Forschungsprojekt »Gastarbeiterinnen in Kärnten. Auf Spurensuche der weiblichen Arbeitsmigration«. Aktuelle Publikation (zusammen mit Utta Isop): Differenzen leben. Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion, Bielefeld: transcript 2011. Manuela Saringer arbeitet am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und ist Projektmitarbeiterin im Projekt »Gastarbeiterinnen in Kärnten. Auf Spurensuche der weiblichen Arbeitsmigration«. Sie studiert Angewandte Betriebswirtschaftslehre und Angewandte Kulturwissenschaften. Gerlinde Schwarz, Mag.a Phil., 1970 in Zell am See (Salzburg); Studium der Slawistik und Gewählter Fächer an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck; Initiatorin und Organisatorin des feministischen Filmzyklus »kinovi[sie]on« (gemeinsam mit Mag.a Gertraud Eiter); siehe: http://www.kinovisieon.at Rosemarie Schöffmann, Bakk.a phil., studiert an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt Anglistik, Geografie und Deutsch als Fremdsprache mit einem Schwerpunkt auf Feministische Wissenschaft/Gender Studies sowie Friedensstudien. Sie ist Studienassistentin am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien und

Zu den Autor*innen

Projektmitarbeiterin am Forschungsprojekt »Gastarbeiterinnen in Kärnten. Auf Spurensuche der weiblichen Arbeitsmigration«. Christina Thürmer-Rohr, Dr. phil., Dipl. Psych., Professorin (em.) an der Technischen Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaften. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Feministische Theorie/Menschenrechte. 1996 Gastprofessur Universität Fribourg/Ch (zur politischen Theorie Hannah Arendts), 2001 Gastprofessur Universität Salzburg/Oesterreich (Genderforschung). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Patriarchatskritik, Mittäterschaft von Frauen und politischen Theorie Hannah Arendts. Gründung und Veranstaltung des Forums »Akazie 3 e.V.«: Übungen im politischen und musikalischen Denken (http://forumakazie3.de) Bettina Wuttig, Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie und Psychoanalyse an der Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Doktorandin am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Lehrbeauftragte am Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung der Philipps-Universität Marburg. Ihre Dissertation behandelt das Verhältnis von Körper(n), Geschlechter(n), Trauma und Widerständigkeiten aus körpersoziologischer, körperphilosophischer, neuro- und tanzwissenschaftlicher Perspektive. Sie hat eine Praxis für Traumatherapie und ist Performancekünsterlin. Publikationen (Auswahl): 2010: Der traumatisierte Körper, die vibrierende Ruhe und die Kraft der Vergesslichkeit. Zum Verhältnis von Körper, Trauma und Geschlecht. In: Abraham, Anke, et.al. (Hrsg_innen): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld, Bielefeld: transcript; demnächst: Kann man anders wahrnehmen als man wahrnimmt? Alexandertechnik als querliegende Rationalität zu gendernormativen Körperinszenierungs- und Wahrnehmungsweisen. In: Ehlers, Hella, et.al. (Hrsg_innen): Geschlecht – Körper – Wahrnehmung. Geistes und sozialwissenschaftliche Beiträge zur Genderforschung, Zürich: LIT.

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Kultur & Konflikt Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktorija Ratkovic (Hg.) Kulturelle Dimensionen von Konflikten Gewaltverhältnisse im Spannungsfeld von Geschlecht, Klasse und Ethnizität 2010, 198 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1367-4

Daniela Gronold, Bettina Gruber, Jacob Guggenheimer, Daniela Rippitsch (Hg.) Kausalität der Gewalt Kulturwissenschaftliche Konfliktforschung an den Grenzen von Ursache und Wirkung 2012, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1987-4

Utta Isop, Viktorija Ratkovic (Hg.) Differenzen leben Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion 2011, 266 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1528-9

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2013-08-07 12-04-46 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c4342287801824|(S.

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2) ANZ2397.p 342287801832

Kultur & Konflikt Utta Isop, Viktorija Ratkovic, Werner Wintersteiner (Hg.) Spielregeln der Gewalt Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Friedens- und Geschlechterforschung 2009, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1175-5

Erol Yildiz, Marc Hill (Hg.) Nach der Migration Postmigrantische Perspektiven jenseits der Parallelgesellschaft Dezember 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2504-2

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2013-08-07 12-04-46 --- Projekt: transcript.anzeigen / Dokument: FAX ID 03c4342287801824|(S.

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2) ANZ2397.p 342287801832