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German Pages [389] Year 2019
Eva Labouvie (Hg.)
Glaube und Geschlecht – Gender Reformation
Eva Labouvie (Hg.)
Glaube und Geschlecht – Gender Reformation
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Frau Prof. Dr. Monika Grütters MdB, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin, aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Lucas Cranach der Ältere, Luther predigt vor dem Kruzifix, Aufnahme der Predella des Reformationsaltars aus der Wittenberger Stadtkirche St. Marien/bpk Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51252-1
Inhalt
Eva Labouvie
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Jens Strackeljan
Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Ilse Junkermann
Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Eva Labouvie
Reformation und Geschlecht – Glaube und Geschlecht. Eine Einführung zum Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Maria Jepsen
Die Reformation – Impulse aus der Vergangenheit für die Zukunft: Ein einleitender Erfahrungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
I. Reformation – Geschlecht – Geschlechterordnung: Überlegungen aus der Schwellenzeit Heide Wunder
Glaube und Geschlecht in der Vormoderne. Alte und neue Debatten . . . . . . . . . . . . . . 49 Ute Gause
Geschlechterkonstruktionen der Reformation – Wandel, Konstanz, Interdependenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Christian Volkmar Witt
Die Ehe als geheiligte Gemeinschaft der Geschlechter. Luthers theologisches Eheverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
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Inhalt
Julia A. Schmidt-Funke
Buben, Hausväter und neue Mönche. Reformatorische Männlichkeiten . . . . . . . . . . . 109 Claudia Opitz-Belakhal
Von Ehelob und Zölibatsverbot, Priesterehen und streitbaren Nonnen: Reformationsgeschichte als Geschlechtergeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Tafelteil 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 II. Unordnungen, Umordnungen, Neuordnungen: Wirkungen auf Glaube und Alltag Dorothee Kommer
Neue Handlungsspielräume durch neue Medien. Frauen verfassen Flugschriften für die Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Heiner Lück
Zur Problematik der Rechtswidrigkeit in Luthers Testament vom 6. Januar 1542 zugunsten seiner Ehefrau Katharina. Zugleich ein Beitrag zur Rechtsstellung von „Pfarrfrauen“ und „Pfaffenkindern“ in der Reformationszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Anne Conrad
Das helle Licht der Wahrheit? Klosteraustritte in der Reformationszeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Nicole Grochowina
Geschlechterunordnung durch neue Lebensformen? Weiblichkeit und Männlichkeit in täuferischen Martyrologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Mareike Fingerhut-Säck
Pietismus in weiblicher Generationenfolge. Christine zu Stolberg-Gedern und Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode als Gestalterinnen des Pietismus in der Grafschaft Wernigerode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Tafelteil 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Inhalt
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III. Aktuelle Geschlechterdiskurse in den Weltreligionen Cornelia Schlarb
Von der Pfarrgehilfin zur Bischöfin. Geschlechterrollenwandel und die Ordination von Frauen in den evangelischen Kirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Kerstin Söderblom
Geschlechtsidentitäten und Lebensformen. Evangelische Kontroversen . . . . . . . . . . . . 283 Margit Eckholt
Ämter für Frauen in der katholischen Kirche? Gender-Diskurse aus der Perspektive der systematischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Birgit Heller
Weltreligionen und Geschlecht. Rollen, Bilder und Ordnungen der Geschlechter in vergleichend-systematischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Ahmet Toprak und Umut Akkus¸
„Gott hat uns ja so geschaffen“. Gender und Sexualität bei Musliminnen und Muslimen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
ANHANG Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Das Reformationsjubiläum 2017 bot einen inspirierenden Impuls, um während einer international wie interdisziplinär ausgerichteten mehrtätigen Konferenz (29.6.–1.7.2017) zu einem Grundlagenthema der Reformation sowie der Erforschung von Glaubenslehren und ihren Auswirkungen auf vergangene wie gegenwärtige Lebenswelten zu diskutieren. Unter der Thematik „Glaube und Geschlecht – Gender Reformation“ trafen sich in einem transnationalen wissenschaftlichen Rahmen erstmals hochrangige Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler aus deutschen wie ausländischen Universitäten und aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, darunter HistorikerInnen, TheologInnen, ReligionswissenschaftlerInnen, Rechts- und KirchenhistorikerInnen, um im Jahr des Reformationsjubiläums und zugleich als Beitrag der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg zu diesem Ereignis die zentrale Bedeutung der Reformation für die damalige und besonders auch die heutige Geschlechterordnung sowie die Wechselbeziehungen und Verflechtungen von Glaube und Geschlecht seit der Reformation bis in die heutige Gesellschaft zu diskutieren, neue Ansätze, Neubewertungen und gedankliche Neupositionierungen zu initiieren. Die Ergebnisse dieser Konferenz, ergänzt durch weitere Beiträge, versammelt der vorliegende Band. Die Tagung stand unter der Schirmherrschaft des Rektors der Otto-von-GuerickeUniversität, Prof. Dr. Jens Strackeljan, und der Landesbischöfin der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands, Ilse Junckermann, denen ich für ihre Grußworte in diesem Band danke. Gedankt sei ebenfalls der Landesbischöfin i. R. des Sprengels Hamburg-Lübeck der Nordelbischen Kirche, Maria Jepsen, die 1992 in Hamburg zur ersten evangelisch-lutherischen Bischöfin der Welt und damit an die Spitze der evangelischen Kirchenhierarchie gewählt wurde, für ihren Abendvortrag bei der Tagung 2017, der in diesem Band als thematische Ouvertüre zur aktuellen Theorie und Praxis veröffentlicht ist.1 Herrn Prof. Dr. Strackeljan danke ich für die bedingungslose und schnelle Bereitschaft, die Tagung „Glaube und Geschlecht“, die die Grundlage zu diesem Buch schuf, finanziell zu unterstützen, ebenso den Freunden und Förderern der Otto-von-Guericke-Universität und der Fakultät für Humanwissenschaften sowie der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Frau Prof. Dr. Monika Grütters MdB, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin, letzterer ebenfalls für die finanzielle Gewährleistung der Drucklegung dieses Bandes.
1 Vgl. in diesem Band: Maria Jepsen, Die Reformation – Impulse der Vergangenheit für die Zukunft: ein einleitender Erfahrungsbericht.
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Vorwort
Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Projektmitarbeiterin und wissenschaftlichen Mitarbeiterin Stefanie Fabian für ihre umfassende Unterstützung bei der Drucklegung dieses Bandes. Für redaktionelle Mitarbeit sei ebenfalls meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Dr. Mareike Fingerhut-Säck gedankt. Dem Team vom Böhlau Verlag, insbesondere Harald Liehr und Julia Roßberg, danke ich für die stets hervorragende Zusammenarbeit. Magdeburg im Mai 2019 Eva Labouvie
Grußwort Die Ausrichtung der Tagung „Glaube und Geschlecht – Gender Reformation“ war der offizielle Beitrag der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg zum Reformationsjubiläum 2017. Frau Professorin Eva Labouvie ist es sehr schnell gelungen, mich davon zu überzeugen, dass es gerade mit dieser Themensetzung möglich sein würde, noch weitgehend unerforschte Aspekte der Reformation zu adressieren und gleichzeitig einen engen Bezug zur Geschlechterforschung an unserer Universität herzustellen. Die Historikerin und Geschlechterforscherin Eva Labouvie hat in der Vergangenheit wiederholt die Rollen von Frauen und Männern in unterschiedlichen Epochen und deren Auswirkung auf unsere Zeit untersucht. Während Martin Luther als Persönlichkeit schon viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zum Forschen angeregt hat, ging es der Tagung nicht primär um die Person Luthers, sondern um die Rolle von Mann und Frau im entstandenen protestantischen Glauben und im alltäglichen Zusammenleben der Geschlechter zu Zeiten der Reformation bis in die heutige Gesellschaft. Der Tagung ist es gelungen, durch das bewusste Ausbrechen aus der Lutherzentrierung den Blick für die vielfältigen Transformationsprozesse der Reformation zu öffnen, welche für Frauen völlig neue Handlungsmöglichkeiten zugänglich machten und die Geschlechterordnung nachhaltig veränderten. Die Frage nach der Prägung der Rollen von Mann und Frau innerhalb der verschiedenen Religionen und die Umkehrung, was die Religionen für das Alltagsleben von Frauen und Männern vorgeben, ist auch heute in Zeiten eines engen Zusammenlebens von Menschen verschiedener Nationen und Religionen für Magdeburg und Sachsen-Anhalt von hohem Interesse. Der überaus erfolgreiche Verlauf der Tagung und die Zusammenstellung der Vorträge im vorliegenden Band verdeutlichen, dass die Themensetzung klug gewählt war. Ohne die Frage nach „Glaube und Geschlecht“ wäre die Agenda des Reformationsjubiläums unvollständig geblieben. Ich danke Frau Professorin Labouvie ganz herzlich für die Konzeption und Organisation der Tagung im Reformationsjubiläum 2017. Als Schirmherr freue ich mich, dass nun auch diejenigen, die an der Tagung nicht persönlich teilnehmen konnten, an den wissenschaftlichen Erkenntnissen partizipieren können und dass für die Wissenschaftscommunity sowie alle anderen Leserinnen und Leser deutlich wird: Die Geschlechterforschung hat an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg auch in Zukunft einen festen Platz. Prof. Dr. Jens Strackeljan
Rektor der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Grußwort Die Tagung „Glaube und Geschlecht – Gender Reformation“ hat auf eine wichtige Lücke im Jahr des 500. Reformationsjubiläums, ja in der Geschichtsschreibung der Reformation aufmerksam gemacht und Regionen innerhalb der Forschungslandschaft markiert, die noch relativ unerforscht sind. Die lange als singuläre Ereignis- und Heldengeschichte – mit Männern als den ‚Helden‘ – geschriebene Reformationsgeschichte hat im Horizont des 500. Reformationsjubiläums bereits wichtige Korrekturen erfahren: Die Reformation neu zu verstehen als einen längeren und komplexeren Transformationsprozess, mit vielen Akteuren und Beteiligten, als Bewegung ‚von unten‘ wie ‚von oben‘, als politische wie religiöse wie soziale wie kulturelle Bewegung – mit weitreichenden Wirkungen und Folgen bis heute. Was aber weitestgehend in dieser auch neueren Forschungslandschaft fehlt, ist die Kritik der geschlechtsspezifischen Hermeneutik, des selbstverständlichen, unreflektiert männlich orientierten Blicks. Genau dies hat die Tagung mit ihrem umfassenden Blick offengelegt, indem sie in sehr weit gefächerten Beiträgen darauf aufmerksam macht und danach fragt, dass und wie die Reformation als ein Prozess zu verstehen ist, der von Menschen beiderlei Geschlechts gleichermaßen sowohl getragen und geprägt wurde wie er auch für Menschen beiderlei Geschlechts Wirkungen zeigte, eben weitgehend geschlechtsspezifische Wirkungen. Und die Tagung hat wesentliche Grundlagen für weitere Forschungen zu „Gender Reformation“ gelegt. Denn: Wohl waren in den letzten Jahren auch Frauen der Reformation in den Blick gekommen, allerdings ‚nur‘ mit ihrem individuellen Lebensbild und darin den männlichen ‚Helden‘ gleich, aber eben als Ausnahmeerscheinung, als Minderheit. Der dezidiert geschlechterspezifische Fokus öffnet den Blick auf alle Menschen – wie ja die Allgemeinheit des Priestertums einer der wesentlichen Erkenntnisse der Reformation ist, die allerdings rasch über Jahrhunderte der einen Hälfte der Gläubigen aufgrund ihres Geschlechts dann doch eine nachrangige Stellung zuwies. Frau Professorin Eva Labouvie gebührt größter Dank und Respekt, dass und wie sie durch die international wie interdisziplinär ausgerichtete Tagung nicht nur einen Vorgeschmack auf weitere Forschungen gibt, sondern auch aufgezeigt werden konnte, wie ertrag- und erkenntnisreich diese sind. So danke ich für die Ehre der Schirmherrschaft und für diesen Tagungsband und wünsche ihm viele Leserinnen und Leser, Forscherinnen und Forscher, die sich von diesem Grundlagenwerk inspirieren lassen und gerne darauf aufbauen. Ilse Junkermann
Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland
Eva Labouvie
Reformation und Geschlecht – Glaube und Geschlecht. Eine Einführung zum Band
„Die Reformation wurde ausgelöst“, so heißt es noch bei Rainer Wohlfeil in seiner berühmten „Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation“ aus dem Jahr 1982, „durch die Veröffentlichung der 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 … des Augustinereremiten-Mönchs und Inhabers der Bibelprofessur an der kursächsischen Universität Wittenberg, Luther“.1 Ob Martin Luther (1483–1546) diese Ablassthesen tatsächlich an jenem Tag des Jahres 1517 an die Tür der Wittenberger Schlosskirche anschlug, oder ob seine Schreiben zunächst nur den Adressaten, unter ihnen vor allem Albrecht von Brandenburg (1490–1545), dem Erzbischof von Magdeburg und Kurfürsten von Mainz, bekannt wurden, bleibt ungeklärt und wird zur Zeit wieder diskutiert.2 Fest steht freilich, dass seine in lateinischer Sprache abgefassten Thesen in wenigen Wochen ihren Weg durch ganz Europa nahmen. Erste Reaktionen erfolgten bereits im November und Dezember 1517: Dürer etwa schickte Luther voller Begeisterung einige seiner Kupferstiche, der Humanist Erasmus von Rotterdam (1466–1536) ließ die Thesen Thomas Morus (1478– 1535) in England zukommen, und im Januar bereits beschloss eine Versammlung deutscher Dominikaner, Luther in Rom wegen Ketzerei anzuklagen. Luther selbst verfasste auf diese enorme öffentliche Resonanz hin zwischen 1517 und 1519 45 Einzelpublikationen mit insgesamt 259 Auflagen, die in einem Gesamtvolumen von über 200.000 Einzel-
1 Rainer Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der Reformation, München 1982, S. 19 f. 2 Vgl. zur älteren Annahme unter anderem: Andrea van Dülmen, Luther-Chronik. Daten zum Leben und Werk, München 1983, S. 30; Lucien Febvre, Martin Luther, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 85 f.; Walther Peter Fuchs, Das Zeitalter der Reformation, Stuttgart 41979, S. 69 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 8); Winfried Schulze, Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1987, S. 83; Hans Jochen Genthe, Martin Luther. Sein Leben und Denken, Göttingen 1996, S. 119; Luise Schorn-Schütte, Die Reformation. Ursache – Verlauf – Wirkung, München 32003, S. 32; neuerdings: Joachim Ott (Hg.), Luthers Thesenanschlag. Faktum oder Fiktion, Leipzig 2008 (= Schriften/Kataloge der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 9); Manfred Schulze, Thesenanschlag, in: Religion in Geschichte und Gegenwart 8 (2005), Sp. 357 f.; Uwe Wolff, Iserloh. Der Thesenanschlag fand nicht statt, Basel 2013 (= Studia Oecumenica Friburgensia 61).
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Eva Labouvie
exemplaren aufgelegt wurden. 1525 hatte der Buchverkauf etwa 1,7 Millionen Druckwerke erreicht.3 Die hier bewusst gewählte Luther- bzw. Personenzentriertheit spiegelt noch immer den neueren und neuesten wissenschaftlichen Stand sowie den Buchmarkt zur Geschichte der Reformation4 und hat auch im Jubiläumsjahr 2017 mit einem Blick etwa in „Luther 2017. 500 Jahre Reformation“, den digitalen Newsletter zur „Lutherdekade“ der Staatlichen Geschäftsstelle „Luther 2017“ in Wittenberg, die Veranstaltungsevents des Reformationsjubiläums deutlich geprägt.5 Die evangelische Theologin und Historikerin Katharina Kun3 Vgl. zu den Zahlen: Fuchs, Das Zeitalter, S. 102; Schulze, Deutsche Geschichte, S. 121–127, besonders S. 123 f.; Bernd Moeller, Die frühe Reformation als Kommunikationsprozess, in: Hartmut Boockmann (Hg.), Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 148–164, hier: S. 151–153 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Folge 3, Nr. 206); allgemein zur Mediensituation: Thomas Kaufmann, Erlöste und Verdammte. Eine Geschichte der Reformation, München 2016; Andrew Pettegree, Die Marke Luther. Wie ein unbekannter Mönch eine deutsche Kleinstadt zum Zentrum der Druckindustrie und sich selbst zum berühmtesten Mann Europas machte – und die protestantische Reformation lostrat, Berlin 2016; Ilonka von Gülpen, Der deutsche Humanismus und die frühe Reformationspropaganda 1520–1526, Hildesheim/Zürich u. a. 2002 (= Studien zur Kunstgeschichte 144); Johannes Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung 1517–1617, Stuttgart 2002. 4 Vgl. allein zum Jubiläum unter anderem: Peter Opitz, Ulrich Zwingli. Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus, Zürich 2015; Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten, München 2015; Reinhard Schwarz, Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015; Martin Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den „Schwärmern“, Tübingen 2016 (= Jus ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und Staatskirchenrecht 114); Joachim Köhler, Luther! Biografie eines Befreiten, Leipzig 2016; Lyndal Roper, Der Mensch Martin Luther. Die Biografie, Frankfurt a. M. 2016; Willi Winkler, Luther. Ein deutscher Rebell, Berlin 2016; Siegfried Bräuer/Günter Vogler, Thomas Müntzer. Neu Ordnung machen in der Welt. Eine Biografie, München 2016; Daniela Blum, Der katholische Luther. Begegnungen – Prägungen – Rezeptionen, Paderborn 2016; Walter Kasper, Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive, Ostfildern 2016; Tillmann Bendikowski, Der deutsche Glaubenskrieg. Martin Luther, der Papst und die Folgen, München 2016; Volker Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016; Volker Reinhardt, Luther, der Ketzer. Rom und die Reformation, München 2016; Norbert Mecklenburg, Der Prophet der Deutschen. Martin Luther im Spiegel der Literatur, Stuttgart 2016; Georg Diez, Martin Luther, mein Vater und ich, München 2016; Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2017; Veit-Jakobus Dieterich, Martin Luther. Sein Leben und seine Zeit, München 2017; Alberto Melloni (Hg.), Martin Luther. Ein Christ zwischen Reformen und Moderne (1517–2017), Berlin 2017; Andreas Holzem/Volker Leppin (Hg.), Martin Luther. Monument, Ketzer, Mensch. Lutherbilder, Lutherprojektionen und ein ökumenischer Luther, Freiburg i. Br. 2017; Heinz Zahrnt, Luther. Reformator wider Willen, München 2017; Heimo Schwilk, Luther. Der Zorn Gottes – Biografie, München 2017; Thomas Kaufmann, Martin Luther, München 2017. 5 In der Liste der Projekte zum Reformationsjubiläum finden sich einige wenige mit einer anderen Ausrichtung: 2012: Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek: Ausstellung „Reformatorinnen gesucht. Frauen und Reformation“, vgl. dazu: Frauenwerk der Nordkirche/Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek (Hg.), „… von gar nicht abschätzbarer Bedeutung“. Frauen schreiben Reformationsgeschichte, Kiel 2017; 2014: Schloss Rochlitz: Sonderausstellung „Starke Frauen in der Reformation“, URL: https://www.
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ter betont wie viele andere den bis heute ungebrochenen Willen sowohl auf staatlicher wie kirchlicher Seite, Luther als einen Vorreiter für Zivilgesellschaft und westliche demokratische Kultur, ja sogar für die Prinzipien der Gleichberechtigung zu vereinnahmen, ihn zum Kämpfer für die Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten zu stilisieren. Das aber sei, so Kunter, eine „historisch nicht gerechtfertigte Instrumentalisierung“.6 Selbst Joachim Gauck sprach bei der Eröffnung des Reformationsjubiläums im Oktober 2016 von Martin Luther als dem „Vorreiter der Moderne“.7 Die Reformation sei, so Thomas Kaufmann, Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, Mitglied und ordinierter Pastor der evangelisch-lutherischen Kirche zu dieser Entwicklung, seit den 1530er-Jahren in eine Verstaatlichungsdynamik eingetreten: „Wir haben, was die Reformationsgeschichte angeht, eine ausgesprochen starre und starke nationalistische Deutungstradition, insbesondere in Deutschland“, so Kaufmann. „Der Deutsche braucht keine Revolution, … der Deutsche hat die Reformation“8 – und eben Martin Luther. Man könnte also meinen, die Reformation sei eine männliche Angelegenheit gewesen. Treffend wies Margot Käßmann 2014 als „Botschafterin des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsjubiläum 2017“ in der Zeitschrift „Zeitzeichen“ nach sieben Jahren der 2008 eröffneten Reformationsdekade darauf hin, dass die Beteiligung von Frauen an der Reformation immer noch ein bloßes Randthema der Reformationsgeschichte sei.9 Was aber nun, oder besser: wer war die Reformation? Statt
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schloesserland-sachsen.de/de/news-presse/pressemitteilungen/?tx_news_pi1 %5Bnews%5D=1218&tx_ news_pi1 %5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1 %5Baction%5D=detail&cHash=4f060b63c6552192c5 aea472d5863966 (Stand 2.4.2019) und 2017: Weibliche Reformation. Von der Pfarrersfrau bis zur Bischöfin. Ausstellung im Frauenmuseum Bonn, URL: https://www.evangelisch.de/inhalte/141735/17-01-2017/ ausstellung-zur-rolle-der-frauen-der-reformation (Stand 26.3.2019) sowie ein Kunstprojekt der Evangelischen Kirche im Rheinland zu Reformatorinnen, URL: https://www.ekir.de/www/mobile/service/reformatorinnen27560.php (Stand 2.4.2019). Keines der Themenjahre des Reformationsjubiläums war den Frauen der Reformation oder den Frauen der Reformatoren gewidmet. Interview im Deutschlandfunk mit Katharina Kunter zum Thema „Der deutscheste Mann, den es je gegeben hat“ am 14.3.2017, URL: https://www.deutschlandfunk.de/luther-1917-und-2017-der-deutschestemann-den-es-je-gegeben.886.de.html?dram:article_id=379679 (Stand 26.3.2019). Festrede des Bundespräsidenten zum Festakt „500 Jahre Reformation“ am 31.10.2016, URL: http:// www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/10/161031-FestaktReformation.html (Stand 26.3.2019). Interview mit Thomas Kaufmann im Deutschlandfunk über Martin Luther und „Die Reformation ist nicht abgeschlossen“ am 31.10.2016, URL: https://www.deutschlandfunk.de/thomas-kaufmann-uebermartin-luther-die-reformation-ist.886.de.html?dram:article_id=370057 (Stand 26.3.2019). Vgl. Margot Käßmann, Endgültig beantwortet. Die Beteiligung von Frauen an der Reformation war exemplarisch für deren Inhalte, in: Zeitzeichen. Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft 15 (2014), Heft 5, S. 8–11, hier: S. 8. In den letzten Jahren erschienen einige wenige fachwissenschaftliche Publikationen zum Thema Frauen und Reformation außerhalb von Einzelbiographien, unter anderem: Wilma Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst. Reformatorische Theologie in Texten von Frauen (1523–1558), St. Ingbert 2017 (= SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung 21); Martina Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement, Leipzig 2016
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vom „Luthereffekt“ wie die große Ausstellung 2017 des Deutschen Historischen Museums in Berlin, von „Luther und die Deutschen“ oder von „Luther! 95 Schätze – 95 Menschen“, wie die beiden nationalen Sonderausstellungen des Jahres 2017 auf der Wartburg und in Wittenberg in Konzentration auf den Reformator hießen10, und statt wie in vielen Veranstaltungen der Lutherdekade, die großen Reformatoren in den Mittelpunkt zu rücken, geht der Band „Glaube und Geschlecht“ von der Reformation als einer Bewegung Vieler und einem Prozess aus, der von sehr unterschiedlichen Menschen beiderlei Geschlechts getragen wurde. Und selbstverständlich waren nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder oder Paare und ganze Menschengruppen an dieser reformatorischen Bewegung beteiligt.11 Die Reformation wurde, wie die sozial- und kulturgeschichtliche Forschung der letzten 20 Jahre ermittelte, sogar zu einem nicht unerheblichen Teil durch das religiöse Engagement der Laien getragen, ein Aufbruch, der Frauen zum Teil völlig neue Handlungsmöglichkeiten eröffnete und die Geschlechterordnung nachhaltig veränderte. Viele überlieferte Wertvorstellungen wurden für eine kurze Zeit aufgegeben, es entstand, (= Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 55); Katrin Keller, Zwischen Reformation und Aufklärung. Frömmigkeit und Konfession als Handlungsfeld adliger Frauen, in: Ruth Albrecht/Ulrike Gleixner u. a. (Hg.), Pietismus und Adel. Genderhistorische Analysen, Halle 2015, S. 23–49 (= Hallesche Forschungen 49); Daniel Gehrt/Vera von der Osten-Sacken (Hg.), Fürstinnen und Konfession. Beiträge hochadliger Frauen zur Religionspolitik und Bekenntnisbildung, Göttingen 2015, S. 107–124 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 104); Dorothee Kommer, Reformatorische Flugschriften von Frauen. Flugschriftenautorinnen der frühen Reformationszeit und ihre Sicht von Geistlichkeit, Leipzig 2013 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 40). 10 Vgl. Der Luthereffekt. 500 Jahre Protestantismus in der Welt. Ausstellung des Deutschen Historischen Museums im Martin-Gropius-Bau in Berlin vom 12. April bis 5. November 2017; Luther und die Deutschen. Nationale Sonderausstellung vom 4. Mai bis 5. November 2017 auf der Wartburg in Eisenach; Luther! 95 Schätze – 95 Menschen. Nationale Sonderausstellung vom 13. Mai bis 5. November 2017 im Augusteum in Wittenberg. 11 Vgl. Claudia Ulbrich, Frauen in der Reformation, in: Nada Boskovska Leimgruber (Hg.), Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge, Paderborn 1997, S. 162–177; Anne Conrad (Hg.), „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform, Münster 1999 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 59); Martina Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation; Martin H. Jung, Nonnen, Prophetinnen, Kirchenmütter. Kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zu Frauen der Reformationszeit, Leipzig 2002; Ursula Koch, Die gelebte Botschaft. Frauen der Reformation, Norderstedt 2010; Marlies Mattern, Leben im Abseits. Frauen und Männer im Täufertum (1525–1550). Eine Studie zur Alltagsgeschichte, Frankfurt a. M./Berlin u. a. 1998 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 791); Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst; Heide Wunder, Frauen in der Reformation. Rezeptions- und historiographiegeschichtliche Überlegungen, in: ARG 92 (2001), S. 303–320; Christina von Braun, Glauben, Wissen und Geschlecht in den drei Religionen des Buches, Wien 2012; Ruth Albrecht, Glaube und Geschlecht. Fromme Frauen, spirituelle Erfahrungen, religiöse Traditionen, Köln/Weimar u. a. 2008 (= Literatur, Kultur, Geschlecht, Große Reihe 43); Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), „Als Mann und Frau schuf er sie“. Religion und Geschlecht, Würzburg 2014 (= Religion und Politik 7).
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ebenso wie während und kurz nach Kriegen oder in anderen Ausnahmesituationen, Raum für Freiheiten und Experimente. Die Reformation hat daher nicht nur einschneidende Veränderungen im Kontext des Glaubens bewirkt, indem erstmals in der abendländischen Geschichte das Glaubensmonopol des Katholizismus durch die Möglichkeit der Wahl zwischen verschiedenen Konfessionen durchbrochen wurde, sondern auch das soziale Zusammenleben verändert. Denn auch im alltäglichen Leben vollzogen sich enorme Wandlungsprozesse in Anlehnung an die neuen Glaubenslehren und ihre Vorgaben. Insbesondere durch Martin Luther wurden die Rollen von Mann und Frau, Mutter und Vater, die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie vom Zusammenleben der Geschlechter nachhaltig und bis heute verändert – „Gender Reformation“. Bis heute ist die Einbindung von Frauen, sei es als Pfarrfrauen nicht mehr zölibatär lebender Pfarrer oder als Pfarrerinnen, das sichtbarste Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden größten christlichen Konfessionen. Diese grundlegenden sowohl religiösen wie gesellschaftspolitischen Wandlungsprozesse, die man zu den Grundfragen und Basisstücken der Reformation zählen muss, haben dazu motiviert, anlässlich und im Nachgang zum Reformationsjubiläum 2017 den Blick auf die Reformation durch eine geschlechterwissenschaftliche Fokussierung auf die Wechselbeziehungen zwischen Glaube und Geschlecht zu bereichern. Ein solches Themenfeld, insbesondere in seiner eben nicht nur frauenspezifischen, sondern dezidiert auf das Miteinander und Zusammenwirken der Geschlechter konzentrierten Schwerpunktsetzung, hat in den Veranstaltungen der Lutherdekade ebenso gefehlt, wie bis heute in den wissenschaftlichen Lektüreangeboten. Insgesamt geht der hier vorliegende und im Wesentlichen auf den Vorträgen der im Sommer 2017 in Magdeburg veranstalteten Tagung „Glaube und Geschlecht“ basierende Band der für das Reformationsgeschehen und sein Verständnis grundlegenden Frage nach, wie die Reformation durch ihre Protagonisten und Protagonistinnen, aber auch als Bewegung „von unten“ geschlechtsspezifische Positionen in der neuen evangelisch-lutherischen Lehre und im Glauben neu gefasst und über den gelebten Glauben die Geschlechterordnung der vormodernen Gesellschaft bis heute verändert hat. Dabei geht es keineswegs darum, nur die Beteiligung von berühmten Männern und Frauen sichtbar zu machen, sondern gesamtgesellschaftliche Veränderungen von Männer- und Frauenrollen, von Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit und die Auswirkungen des neuen Glaubens auf die Geschlechterordnung insgesamt mit ihren Kontinuitätslinien bis in die heutige Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Hierzu verfolgen die Beiträge in unterschiedlicher Akzentsetzung eine thematisch über den Protestantismus und zeitlich weit über das Reformationszeitalter hinausführende Doppelperspektive, indem sie einerseits der Frage nach den geschlechtsspezifischen Aspekten von Reformation bzw. der Glaubenslehre(n) selbst nachgehen (Glaube und Geschlecht), zum anderen
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nach den geschlechtsspezifischen gesellschaftlichen Veränderungen durch Reformation oder Glauben, etwa aufgrund der neuen Ehelehren Luthers oder der Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Weltreligionen, fragen (Gender Reformation). Dabei spannen die Themenschwerpunkte, ausgehend von der Zeit der Reformation mit ihren vielfältigen Auswirkungen, einen Bogen bis hin zum Verhältnis von Glaube und Geschlecht im 21. Jahrhundert. Denn die zwar erstmals von Frauen und Männern in den reformatorischen Bewegungen des 16. Jahrhunderts angelegten Wechselbeziehungen zwischen Glaube und Geschlecht beinhalten Bezüge, die jenseits von Konfession und eigener Gläubigkeit bis in die Gegenwart ein Kulturgut der westlichen Welt darstellen. Trotz der Ökumene bilden gerade Geschlechterfragen – als letzte Bastion der einen, als liberales Aushängeschild der anderen Konfession – bis heute die immer wieder betonte Trennlinie zwischen römisch-katholischer und protestantischer Kirche. Und keineswegs zufällig sind es Fragen der sozialen Geschlechterordnung und der Rollen von Mann und Frau in Kirche und Religion, in denen sich wie kaum in anderen Bereichen christliche von nicht christlichen Glaubensformen unterscheiden. Diesen Problemstellungen und Entwicklungen möchte dieser Band in drei Themenschwerpunkten nachgehen: in einem ersten, auf die reformatorischen und nachreformatorischen Diskurse konzen trierten Komplex zu „Reformation – Geschlecht – Geschlechterordnung: Überlegungen aus der Schwellenzeit“ (I.), einem zweiten auf die Praxis ausgerichteten Themenfeld zu „Unordnungen, Umordnungen, Neuordnungen: Wirkungen auf Glaube und Alltag“ (II.) und einem dritten, thematisch wie zeitlich vergleichenden Schwerpunkt zu „Aktuelle(n) Geschlechterdiskursen in den Weltreligionen“ (III.). Im ersten dieser Themenkomplexe (I.) werden einführend grundsätzliche historische, theologische, philosophische oder rechtliche Überlegungen zum Geschlechterverhältnis und seinem Wandel während der Reformation, zu Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, Ehe und Familie, Einstellungen zum Engagement von Frauen und Männern und ihrer Beteiligung in Wort und Tat, aber auch bisherige Forschungsdiskussionen zur Reformationsgeschichte als Geschlechtergeschichte vorgestellt. Da das Reformationsgeschehen häufig aus der Sicht und der Feder aktiver Männer beschrieben wurde und wird, widmen sich die Beiträge dieses ersten Komplexes unter Einbezug bisheriger Forschungsdebatten sowohl der Rolle und dem neuartigen Engagement von Frauen als auch dem Zusammenwirken beider Geschlechter. Einführend stellt die Historikerin Heide Wunder in ihrem Beitrag „Glaube und Geschlecht in der Vormoderne. Alte und neue Debatten“ grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Glaube und Geschlecht unter Bündelung und kritischer Beleuchtung des Forschungsertrages der letzten Jahrzehnte an. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive stellt sie die Frage, ob Reformation und katholische Reform als Erneuerung des Glaubens das Verhältnis der Geschlechter neu geordnet haben und ob Männer und Frauen ein tat-
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sächlich neues Verständnis von den Glaubensinhalten entwickelten. Mit einem Blick auf die christliche Anthropologie und die daraus legitimierte Ungleichheit in der mittelalterlichen Gesellschaft (zwischen Männern und Frauen, Priestern und Laien, Herren und Knechten oder Mägden) konstatiert Heide Wunder als generelles, bis heute bestehendes Dilemma der christlichen Kirchen das Spannungsverhältnis von heilsgeschichtlicher – spiritueller – Gleichheit der Geschlechter einerseits und der Geschlechterhierarchie in der Kirche wie „in der Welt“ mit der Ehe als deren gesellschaftlichem Ort andererseits. Der Rückgriff auf das Postulat des allgemeinen Priestertums aller Getauften habe zwar die Grundlage für die Legitimation größerer religiöser Teilhabe von Frauen geschaffen, zunächst mit ihrer Rolle in der „Hauskirche“, im 20. Jahrhundert schließlich mit der Durchsetzung der Frauenordination. Doch hätten keineswegs innerkirchliche Reformen eine Erneuerung von Glauben und Kirche durchgesetzt als vielmehr die „normative Zentrierung“ von kirchlichen und religiösen Laienbewegungen im Zusammenwirken mit den politischen Interessen der weltlichen Herren beider Konfessionen. Im Unterschied zur Reformation habe die katholische Reform im Konzil von Trient freilich die traditionellen, männlich geprägten Kirchenstrukturen unter Ausschluss der Frauen bekräftigt. Je mehr sich die Reformation institutionalisierte und die Frauen in Ehe, Heterosexualität, Familie und Haushalt einband, je stärker man ehelose Nonnen, Frauen in „wilden Ehen“, Prostituierte und unangepasste Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts bekämpfte, desto stärker wurden auch die weiblichen Akteure an den Rand der reformatorischen Bewegung gedrängt. Ihnen wurde alsbald wieder und für lange Zeit der Zugang vor allem zu religiösen Ämtern verwehrt. Gründe und theologische Legitimationen dieser Entwicklung hinterfragt der Band insbesondere anhand der neuen Glaubenspostulate in Bezug auf Ehe und Familie und der dadurch bewirkten Veränderungen der Geschlechterordnung. Gezielt rücken die durch Luther und andere Reformatoren verbreiteten Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, Vater- und Mutterrolle sowie zum Zusammenleben der Geschlechter mit den jeweils ihnen zugeschriebenen Rechten, Aufgaben und Pflichten in den Blick. Kritisch hinterfragt wird die Aufwertung der Ehe im Protestantismus unter gleichzeitiger Abwertung nichtehelicher Lebensformen, aber auch die Anerkennung der Stellung und Aufgaben der Ehefrauen bei gleichzeitiger Stärkung des Einflusses des männlichen Familienoberhauptes. Diskutiert wird die These von der durch die Reformation propagierten „Verhäuslichung“, d. h. der idealtypischen Zentrierung des weiblichen Lebens auf Haus, Familie, Kinder und Hausherrn12, mit ihren Auswirkungen auf die Geschlechterhierarchien bis heute, ebenso die Rolle der neuartigen protestantischen Ehegesetzgebung. 12 Vgl. zur Verhäuslichungsthese: Lyndal Roper, Das Fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a. M./New York 1995.
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Der Beitrag der Kirchenhistorikerin Ute Gause zu „Geschlechterkonstruktionen der Reformation“ widmet sich diesen Entwicklungen auf der diskursiven Ebene des katechetischen und religiös-erbaulichen Schrifttums und bündelt in einer Zusammenschau die Geschlechterzuschreibungen der Reformatoren für ihre Untersuchung von Genderkonstruktionen. An vier Markern – der Gegnerschaft zum Priesterzölibat unter gleichzeitiger Aufwertung von Sexualität und Ehe, der Egalisierung aller Gläubigen im Priestertum aller Getauften, den neuen Rollen von Mann und Frau in Haushalt und Familie und der Neubewertung weiblicher Lebenszusammenhänge –, die sich theologisch als „evangelische Neuorientierungen“ verstanden, aber nicht unbedingt oder sofort auch Veränderungen in der Praxis ausgelöst hätten, untersucht sie an unterschiedlichen Einflussbereichen Veränderungen in den Zuschreibungen und Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Zugleich plädiert Ute Gause für ein Abrücken von Binarisierungen in der Bewertung dieser reformatorischen Diskursfelder und einen deutlich stärkeren Einbezug der Erkenntnisse der Intersektionalitätsforschung. Mit der in der reformatorischen Glaubenslehre wurzelnden Neubewertung der Ehe als einem ‚weltlich Ding‘ ging gleichsam eine grundsätzliche Umdeutung des Zusammenlebens von Männern und Frauen einher. Diese Thematik greift eingehend der Kirchenhistoriker Christian Volkmar Witt in seinem Beitrag zur „Ehe als geheiligter Gemeinschaft der Geschlechter“ und zu Luthers theologischem Eheverständnis auf. Dabei kann er anhand der Schriften Luthers aufzeigen, dass dessen schöpferische Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Gott und Menschen eine Neuformierung des Verhältnisses von Frau und Mann nach sich ziehen musste. Dieses neuartige Eheverständnis habe gleichsam einen Bruch mit den ehetheologischen Vorgaben der Papstkirche vollzogen, indem Luther die Ehe als nach dem Willen Gottes gestiftete, auf Liebe, Treue und „oeconomia“ basierende Gemeinschaft von Eltern und Kindern zu einem Ort „göttlichen Gnadenhandelns“ sowie zu einem christlichen Lebensideal erhoben und dem Elternhaus einen Bewährungs- und Heilsrang in der Verantwortung für das Seelenheil aller Familienmitglieder zugesprochen habe. Vier Grundpfeiler seien es letztlich, die die Ehetheologie des Reformators kennzeichneten und die Christian Volkmar Witt ausführlich diskutiert: die schöpfungstheologische Verankerung der Ehe, die Zweckbestimmung der Ehe in der Nachwuchszeugung und Evangeliumsverkündigung, die Überordnung der Ehe über das zölibatäre Leben und schließlich die Auflösbarkeit der ehelichen Gemeinschaft. Eine neuartige Perspektive auf diskursive „Reformatorische Männlichkeiten“ eröffnet der Beitrag der Historikerin Julia A. Schmidt-Funke vor dem eher kargen Forschungsstand zur reformatorischen Männlichkeitsforschung der letzten Jahrzehnte13 und am 13 Vgl. unter anderem Susan C. Karant-Nunn, „Fast wäre mir ein weibliches Gemüt verblieben“. Martin Luthers Männlichkeit, in: Hans Medick/Peer Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeit-
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Beispiel von Quellen aus der Stadt Frankfurt am Main. Zwar hätten zu Beginn der Frühen Neuzeit durchaus unterschiedliche Lebensentwürfe und parallele Imaginationen von Männlichkeit existiert. Doch sei es durch die reformatorischen Vorstellungen von Ehe, Heirat und dem Ideal des protestantischen Hausvaters zu einer Änderung von Erwartungshaltungen in der Gesellschaft gekommen, wodurch sich nicht nur Weiblichkeitskonstrukte gewandelt hätten, sondern bisherige Männlichkeitsentwürfe zunehmend bis hin zur Kriminalisierung abgewertet worden seien, deutliche Anzeichen für ihre Infragestellung. Habe man bei der Transformation klerikaler Männlichkeiten an antiklerikale Stereotype der Zügellosigkeit und Unmäßigkeit angeknüpft und diese mit dem Bild des frommen Ehemannes und Familienvaters in der Klerikerehe kontrastiert, seien Vorstellungen stadtbürgerlicher Männlichkeiten einem Prozess der reformatorischen Hegemonialisierung und „normativer Zentrierung“ (Bernd Hamm) auf das protestantische Hausväterideal und die eheliche Zweisamkeit unterworfen worden. Für alle Männlichkeitskonstruktionen konstatiert Julia A. Schmidt-Funke eine Anpassung an die neuen reformatorischen Sittlichkeits- und Reinheitsvorstellungen. Im abschließenden Beitrag zu diesem Themenbereich verbindet die Historikerin Claudia Opitz-Belakhal bei ihren grundlegenden Überlegungen zur „Reformationsgeschichte als Geschlechtergeschichte“ Ergebnisse der Wissenschaftsgeschichte mit unterschiedlichen Interpretationsmodellen zur Instrumentalisierung und Ausdeutung der Reformation. Die Bandbreite der hierbei aufgezeigten Positionen reicht von dem Versuch, Luther zu einem frühen Feministen und die Reformation zu einer Emanzipationsbewegung zu stilisieren über eine eher kritische Haltung gegenüber den reformatorischen Geschlechterund Eheordnungen bis hin zum Vorwurf der Domestizierung von Weiblichkeit und damit der Verschlechterung der Lebenssituation von Frauen14, dem „psychischen Verschwinden
genossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004, S. 49–65; Merry E. Wiesner-Hanks, Der lüsterne Luther. Männliche Libido in den Schriften des Reformators, in: Jens Flemming/Pauline Puppel u. a. (Hg.), Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, S. 179–195 (= Kasseler Semesterbücher 14); Ute Gause, Durchsetzung neuer Männlichkeit? Ehe und Reformation, in: Evangelische Theologie 73 (2013), S. 326–338; Scott H. Hendrix/Susan C. Karant-Nunn (Hg.), Masculinity in the Reformation Era, Kirksville/Missouri 2008; Roper, Der Mensch Martin Luther. 14 Vgl. Roper, Das Fromme Haus; Luise Schorn-Schütte, Wirkungen der Reformation auf die Rechtsstellung der Frau im Protestantismus, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 94–104; zur idealtypischen Zentrierung des weiblichen Lebens auf Haus, Familie und Hausherrn, mit ihren Auswirkungen auf die Geschlechterhierarchien bis heute vgl.: Julia A. Schmidt-Funke, Reformation und Geschlechterordnung. Neue Perspektiven auf eine alte Debatte, in: Werner Greiling/Armin Kohnle u. a. (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620, Köln/Weimar u. a. 2015, S. 29–54, hier: S. 31 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 4).
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der Ehefrau als Person hinter der des Ehemannes“15 oder der Verfestigung patriarchaler Herrschaft durch die Reformation. Selbstverständlich, so Claudia Opitz-Belakhal, habe die geschlechtergeschichtliche Erforschung der Reformation vor allem durch Quellenstudien einige Meilensteine gesetzt, so dass die Reformationszeit für beide Geschlechter als eine Umbruchphase mit Kontinuitäten und Brüchen in der Geschlechterordnung und mit ambivalenten Entwicklungen gelten könne. Ob sich die festgestellten Veränderungen nicht auch ohne die Reformation aufgrund der bereits zuvor einsetzenden sozialen und ökonomischen Entwicklungen ergeben hätten, bleibe mit einem vergleichenden Blick auf die häufig zeitgleichen Entwicklungen im katholischen Europa aber mittels einer multiperspektivischen, alle Beteiligten einschließenden Zusammenschau zu klären. Mit „Unordnungen, Umordnungen, Neuordnungen“ als Folgen der praktischen Auswirkungen des neuen Glaubens auf die Glaubenslehre(n), die Frömmigkeit und den Alltag von Männern und Frauen sowie auf die gelebten Geschlechterverhältnisse beschäftigen sich in einem zweiten Themenschwerpunkt (II.) des Bandes Dorothee Kommer, Heiner Lück, Anne Conrad, Nicole Grochowina und Mareike Fingerhut-Säck. In einer für das Mitwirken von Frauen auf breiter Ebene offenen ersten Phase der Reformation haben gerade Reformatorinnen, Frauen der Reformationsbewegung und die Frauen der Reformatoren aus der Bibel sowohl Positionierungen des eigenen Geschlechts als auch emanzipatorische Forderungen abgeleitet, die schon zu Beginn des Reformationsgeschehens die bisherige Geschlechterordnung in Frage stellten. Vor diesem Hintergrund betrachtet der Beitrag der Theologin Dorothee Kommer die Handlungsspielräume, Motive und Argumentationsmuster dieser zum Teil schriftlich überlieferten Auf- und Ausbrüche insbesondere in von Frauen verfassten Flugschriften, von denen bisher 18 aufgefunden wurden.16 Am Beispiel der publizistischen Tätigkeit von Argula von Grumbach (1492–1554), 15 Heide Wunder, Überlegungen zum Wandel der Geschlechterbeziehungen im 15. und 16. Jahrhundert aus sozialgeschichtlicher Sicht, in: Dies./Christina Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1990, S. 12–26, hier: S. 24. 16 Vgl. unter anderem Kommer, Reformatorische Flugschriften von Frauen; Silke Halbach, Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften, Frankfurt a. M./Berlin u. a. 1992 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie 468); Peter Matheson, Argula von Grumbach. Eine Biographie, Göttingen 2014; Gisela Brandt, Ursula Weyda – prolutherische Flugschriftautorin (1524). Soziolinguistische Studien zur Geschichte des Neuhochdeutschen, Stuttgart 1997 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 358); Anne Conrad, Weyda (Weida, Weydyn, Wydin), Ursula (1504–nach 1565), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar u. a. 2016, S. 372–375; Thomas Kaufmann, Pfarrfrau und Publizistin – Das reformatorische „Amt“ der Katharina Zell, in: ZHF 23 (1996), S. 169–218; Gisela Möncke, Margareta von Treskow, eine unbekannte Flugschriftenverfasserin der Reformationszeit, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 108 (1997), Heft 2, S. 176–186; allgemein: Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst; Elisabeth Cheauré/Ortrud Gutjahr u. a. (Hg.), Geschlechterkonstruktionen in Sprache, Literatur und Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2002 (= Rombach-Wissenschaften, Reihe Cultura 21); Albrecht Classen, Frauen in der deutschen Reformation. Neufunde von Texten und Autorinnen sowie deren Neubewertung,
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Ursula Weyda (vor 1510–nach 1565), Katharina Zell (1498–1562) und Margareta von Treskow (um 1500–nach 1548) thematisiert sie, wie die neuen Druckmedien Frauen sichtbar gemacht und wie sich Frauen durch sie sichtbar gemacht hätten. Die von ihr untersuchten unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Handlungszusammenhänge für ihre schriftlichen öffentlichen Äußerungen bringt sie auf die Formel des Zusammenspiels von Aktion und Publikation. Eine wichtige Rolle habe dabei der Bezug auf Bibelstellen mit der Betonung der Gleichheit von Mann und Frau im Glauben (etwa Mt. 10,32–33) und vor Gott sowie der Verweis auf biblische Frauengestalten gespielt. Alle Verfasserinnen von Flugschriften hätten gleichsam mit der Nutzung der neuen Medien, mit ihrer Einmischung und öffentlichen Wortmeldung die Rollenbilder ihrer Zeit durchbrochen und hierbei durchaus auch Unterstützung erfahren. Besonders deutlich werde die überwiegend negative Bewertung ihres Aufbegehrens aber an den Argumenten in den Gegenschriften zu ihren Texten. Auf die trotz der vermeintlichen Aufwertung der Ehe und der verheirateten Frauen rechtlich problematische Situation von Frauen geht der Beitrag des Juristen und Rechtshistorikers Heiner Lück ein. Er widmet sich am Beispiel der „Problematik der Rechtswidrigkeit in Luthers Testament vom 6. Januar 1542 zugunsten seiner Ehefrau Katharina“ Fragen nach den Geschlechterdiskursen der Reformationszeit aus rechtshistorischer Perspektive.17 An den Verfügungen, die Martin Luther für den Fall seines Todes hinterließ und anhand des Umgangs der Obrigkeiten mit den darin enthaltenen Bestimmungen zugunsten (s)einer Frau macht er die problematische Rechtslage der Ehe zwischen einem dem Zölibat unterliegenden Mönch und einer Nonne und ebenso die rechtliche Benachteiligung von (Pfarrers-)Frauen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft mit ihren in: Paul Gerhard Schmidt (Hg.), Die Frau in der Renaissance, Wiesbaden 1994, S. 179–201 (= Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 14); Silke Halbach, Legitimiert durch das Notmandat. Frauen als Verfasserinnen frühreformatorischer Flugschriften, in: ZHF 27 (2000), S. 365–389. 17 Vgl. auch Hartwig Dieterich, Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, München 1970 (= Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und Staatskirchenrecht 10); Heckel, Martin Luthers Reformation und das Recht; Christoph Strohm (Hg.), Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, Tübingen 2017; Pauline Puppel unter Mitwirkung von Stephan Buchholz, Zur Rechtsstellung der Katharina von Bora, in: Martin Treu (Hg.), Katharina von Bora, die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages, Wittenberg 1999, S. 33–51; Mathias Schmoeckel, Das Recht der Reformation. Die epistemologische Revolution der Wissenschaft und die Spaltung der Rechtsordnung in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2014; Schorn-Schütte, Wirkungen der Reformation, S. 94–104; Ralf Frassek, Eherecht und Ehegerichtsbarkeit in der Reformationszeit. Der Aufbau neuer Rechtsstrukturen im sächsischen Raum unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte des Wittenberger Konsistoriums, Tübingen 2005 (= Jus E cclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und Staatskirchenrecht 78); Eva Labouvie, Zwischen Geschlechtsvormundschaft und eingeschränkter Rechtsfähigkeit. Frauen im Magdeburger Recht, in: Heiner Lück/Matthias Puhle u. a. (Hg.), Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Weimar u. a. 2009, S. 117–139 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 6).
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Folgen deutlich. Vor diesem Hintergrund habe das Testament Luthers mit den rechtswidrigen Bestimmungen, Katharina Luther als Vormund für die gemeinsamen Kinder einzusetzen und ihr die Verfügungsgewalt über sein Vermögen zu übertragen, schon zum Zeitpunkt der Abfassung juristische Problemlagen beinhaltet, die Luther vorausgeahnt und daher ausführlich kommentiert habe. Er habe, so Heiner Lück, in seinem Testament bereits Mitte des 16. Jahrhunderts für die Mütter als die besten Vormünder für ihre Kinder plädiert, wogegen der deutsche Bundesgesetzgeber noch bis in die 1990er-Jahre ledigen Müttern einen Amtspfleger zugewiesen habe. Die Überzeugung des Reformators, sein Stand als „Gottes Notarius“ würde ausreichen, um die rechtlichen Hürden in seinem Testament zu überwinden, hätte sich jedoch nicht bewahrheitet, denn Katharina und den gemeinsamen Kindern seien wie allen Witwen und Waisen damaliger Zeit vom Kurfürsten männliche Vormünder zugewiesen worden. Mithin bestätigte die Obrigkeit indirekt zwar die Gültigkeit der zwischen Martin und Katharina Luther geschlossenen Ehe, nicht aber eine Abwandlung der Geschlechterordnung im Recht, wie sie Luther in seinem Testament vorgenommen hatte. Zugleich mit der Analyse des Testamentes zeigt Heiner Lück das liebe- und vertrauensvolle sowie von hoher Achtung gekennzeichnete Verhältnis Luthers zu seiner Ehefrau auf. Aus der Perspektive der Geschlechterforschung erbrachte die Reformation Gewinne, aber auch Verluste. Besonders die Auflösung der Klöster kann als durchaus ambivalente reformatorische Folge betrachtet werden, die Frauen und Männer in sehr unterschiedlicher Weise (be-)traf und ihre Lebensumstände radikal veränderte.18 Während ehemalige Ordensgeistliche als Prediger und Pfarrer weiterhin geistliche Funktionen wahrnehmen konnten, verbanden sich vor allem für die weiblichen Klosterangehörigen mit der Auflösung ihrer geistlichen Gemeinschaften existenzielle Fragen in ungleich höherem Maße. Ehemaligen Klosterfrauen fehlte es nicht nur an beruflichen bzw. ökonomischen, son18 Vgl. Gisela Muschiol, „Ein jammervolles Schauspiel …“? Frauenklöster im Zeitalter der Reformation, in: Sigrid Schmitt (Hg.), Frauen und Kirche, Stuttgart 2002, S. 95–114 (= Mainzer Vorträge 6); Enno Bünz, Schicksale von Mönchen und Nonnen in der Reformationszeit. Ihre Zukunftsperspektiven nach Aufhebung der Klöster im Kurfürstentum Sachsen, in: Werner Greiling/Armin Kohnle u. a. (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Köln/Weimar u. a. 2015, S. 81–108, hier: S. 91 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 4); Ders., Gezwungene Mönche, oder: Von den Schwierigkeiten, ein Kloster wieder zu verlassen, in: Ders./Stefan Tebruck u. a. (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar u. a. 2007, S. 427–446 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 24); Sybille Knecht, Ausharren oder Austreten? Lebenswege ehemaliger Nonnen nach der Klosteraufhebung am Beispiel der Städte Zürich, Bern und Basel, Zürich 2016; Antje Rüttgardt, Klosteraustritte in der frühen Reformation. Studien zu Flugschriften der Jahre 1522 bis 1524, Gütersloh 2007 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 79); Sabine Zinsmeyer, Fliehen oder bleiben? Nonnen in der Reformationszeit, in: Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation, S. 287–302; Dies., Frauenklöster in der Reformationszeit. Lebensformen von Nonnen in Sachsen zwischen Reform und landesherrlicher Aufhebung, Leipzig 2016 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 41).
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dern auch an sozialen und lebensweltlichen Alternativen. Vielen Nonnen war die Klostergemeinschaft Familienersatz, Alternative zur Ehe und zum Kindergebären und vor allem ein Ort der Bildung. Der Beitrag der Theologin und Historikerin Anne Conrad setzt sich in diesem Zusammenhang mit den Folgen freiwilliger Klosteraustritte für männliche und weibliche Biographien auseinander. Anhand prominenter und wenig bekannter Beispiele zeigt sie den Kanon an Problemen auf, die für die jeweiligen Akteurinnen und Akteure mit dem Ausscheiden aus dem Kloster verbunden waren. Abgesehen von einer Lebensund Gewissensentscheidung mit weitreichenden Folgen in finanzieller, existenzieller und sexueller Hinsicht, hätten Klosteraustritte für Männer und Frauen unterschiedliche Problemlagen ergeben: Während Männern Möglichkeiten des Broterwerbs eröffnet worden seien, hätten Frauen die erlangte geistige Freiheit mit neuen Abhängigkeiten bezahlt und sich zumeist dem Zwang zur Eheschließung beugen müssen, um ihrer wirtschaftlich prekären Lage zu begegnen. Männer seien trotz besserer ökonomischer Bedingungen allerdings gleichfalls dem Druck ausgesetzt gewesen, sich den heteronormativen reformatorischen Erwartungen an ihr Geschlecht anzupassen und den Klosteraustritt mit dem Ehebund zu besiegeln. Vor dem Hintergrund der Auswirkungen auf das Alltagsleben dürfen die vermeintlich ‚devianten‘ Formen des Zusammenlebens und die alternativen Formen der Geschlechterordnung, die sich als Auswirkungen und in Folge der Reformation innerhalb der Täuferbewegung oder im Pietismus ausbildeten, nicht ausgeblendet werden.19 Mit dem Gedanken, dass Frauen „Mitgenossen … der Gnade Gottes“20 seien, wurde hier ein revolutionär neues, egalitäres Konzept der Geschlechterbeziehungen propagiert. Dabei stellt sich die Frage, in welcher Hinsicht sich die neuartigen Formen religiös-sozialen Miteinanders der Geschlechter in ihren Gemeinden, die weit über die Zugeständnisse der katholischen Kirche oder der Reformatoren hinausreichten, auf die Entwicklung einer gesamtgesellschaftlichen Geschlechterordnung auswirkten bzw. Eingang in allgemeingesellschaftliche Diskurse fanden. Vor allem Thomas Müntzer (um 1489–1525) sprach Frauen in gleicher Weise wie Männer als geistig Erleuchtete an und bezog das 19 Vgl. unter anderem Katharina Reinholdt, Ein Leib in Christo werden. Ehe und Sexualität im Täufertum der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte 227); Linda A. Huebert Hecht, A Brief Moment in Time. Informal Leadership and Shared Authority Among Sixteenth Century Anabaptist Women, in: Journal of Mennonite Studies 17 (1999), S. 52–74; Sylvia Brown (Hg.), Women, Gender, and Radical Religion in Early Modern Europe, Leiden/Boston 2007 (= Studies in Medieval and Reformation Traditions 129). 20 Nicole Grochowina, Zwischen Gleichheit im Martyrium und Unterordnung in der Ehe. Aktionsräume von Frauen in der täuferischen Bewegung, in: Conrad (Hg.), „In Christo ist weder man noch weyb“, S. 100; vgl. auch Marion Kobelt-Groch, Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen, Frankfurt a. M./New York 1993 (= Geschichte und Geschlechter 4).
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Priestertum aller Gläubigen explizit auf das männliche wie weibliche Geschlecht. Derartige Geschlechterutopien wurden bereits in zeitgenössischer Wahrnehmung als höchst gefährlich abgelehnt, die „Sektierer“ sowohl von Vertretern des Protestantismus wie des Katholizismus zum Teil mit der Todesstrafe belegt. In diesem Kontext setzt sich der Beitrag der Historikerin Nicole Grochowina zu den „Geschlechterunordnungen“ im Täufertum mit dem Märtyrertod als Indikator für eine neuartige Geschlechterordnung mit gewandelten Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit in der Täuferbewegung auseinander. Zu Beginn der Täuferbewegung sei es Frauen ebenso wie in der Reformationsbewegung noch möglich gewesen, das religiöse Leben mitzugestalten – als Predigerinnen, Lehrerinnen und Prophetinnen. Mit der Gemeindeetablierung habe man die zeitgenössische Geschlechterordnung mit ihrer genderspezifischen Hierarchisierung jedoch auch in den Täufergemeinden wieder aktiviert. Die allein in den Martyrologien zum Märtyrertod von Täufern und Täuferinnen vordergründig noch aufscheinende Parität der Geschlechter im Tod, die vorübergehend sogar ein neues ‚role model‘ für Frauen geschaffen habe, schien, so Nicole Grochowina, aber offenbar im Zuge der Entwicklung die zeitgenössischen Geschlechterhierarchien zu stark in Frage gestellt zu haben. Anhand der Schriften des Martyrologiums „Het offer des Herren“ von 1562 gelingt es ihr, eine gezielt manipulierte Erinnerungspolitik nachzuweisen, mit der Absicht, die zeitgenössisch übliche Geschlechterordnung jetzt auch in der Lebensform des Martyriums wiederherzustellen und die Parität der Geschlechter selbst im Tod und in der Erinnerungskultur zurückzudrängen. Langfristige Entwicklungen des Verhältnisses von Glaube und Geschlecht werden im nachreformatorischen Eheentwurf und der damit in Verbindung stehenden Geschlechterordnung im Pietismus sichtbar. Die außergewöhnlichen Handlungsspielräume und Betätigungsfelder, die der Pietismus Frauen ermöglichen konnte, aber auch die neuen Formen und Qualitäten des durch Frauen praktizierten Glaubens21, analysiert der Beitrag zum „Pietismus in weiblicher Generationenfolge“ der Historikerin Mareike Fingerhut-Säck am Beispiel der pietistischen Landesmütter Christine zu Stolberg- Gedern (1663–1749) und Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode (1695–1762). Beide nutzten ihre herausgehobene Position, um als fromme Vorbilder aus ihren Untertanen „Kinder Gottes“ zu machen. Christine habe sich dazu der Handlungsoption der vor21 Vgl. Pia Schmid (Hg.), Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen, Halle 2015 (= Hallesche Forschungen 40); Wolfgang Breul/Stefanie Salvadori (Hg.), Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus, Leipzig 2014 (= Edition Primustexte 5); Ulrike Gleixner, Gendering Tradition. Erinnerungskultur und Geschlecht im Pietismus, Korb 2007; Andreas Gestrich, Ehe, Familie, Kinder im Pietismus. Der „gezähmte Teufel“, in: Hartmut Lehmann/Ruth Albrecht u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelt, Göttingen 2004, S. 498–521; Mareike Fingerhut-Säck, Das Gottesreich auf Erden erweitern. Einführung und Festigung des Pietismus durch das Grafenpaar Sophie Charlotte und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode in seiner Grafschaft (1710–1771), Halle 2019.
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mundschaftlichen Regentschaft bedient, ihrer Schwiegertochter Sophie Charlotte sei es auf der Basis dieser Reformen gelungen, den Pietismus zusammen mit ihrem Mann Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode (1691–1771) als Ehe- und Arbeitspaar in ihrer Grafschaft zu konsolidieren. Die Analyse zeigt an unterschiedlichen Kontexten auf, dass im Pietismus nicht nur Standesgrenzen, sondern auch Geschlechtergrenzen aufgebrochen wurden und sich ein neues, über den Glauben legitimiertes Egalitätsmodell ausbilden konnte, das es in dieser Form im Protestantismus nicht gegeben habe. Dieses neue Geschlechterverhältnis sei nicht zuletzt dadurch initiiert und verwirklicht worden, dass Frauen im Pietismus neue Zugänge zu politischen und gesellschaftlichen Räumen, Aufgaben und Rechten erlangt hätten und als Vermittlerinnen und Bewahrerinnen der religiösen Erneuerungsbewegung anerkannt und integriert worden seien. Die vor dem Hintergrund der derzeitigen Migrationsbewegungen sehr „aktuellen Geschlechterdiskurse in den Weltreligionen“ bis in die Gegenwart nimmt der abschließende Themenbereich (III.) in den Fokus. Auf Lyndal Roper geht die These zurück, die Reformatoren hätten parallel zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre des geistlichen und des weltlichen Regiments „eine Zwei-Reiche-Lehre des Geschlechterunterschieds“ entwickelt: „Mann und Frau waren in geistlicher Hinsicht gleich, aber ihre Ämter (und Aufgaben) auf Erden unterschieden sich“.22 Diese „Zwei-Reiche-Lehre des Geschlechterunterschieds“ und die sich darin spiegelnde Auffassung von der Verschiedenheit von Mann und Frau sowie ihren irdischen Aufgaben hielten sich in den christlichen Ländern unabhängig von der Konfession bis ins 21. Jahrhundert. Erst im Zuge der Zweiten Frauenbewegung der 1960er- und 1970er-Jahre und der Forderung nach Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen begannen sich die Wege von Frauen im Katholizismus und Protestantismus entlang von theologisch definierten Demarkationslinien auseinanderzuentwickeln. In der evangelischen Kirche wurde die Ordination von Frauen seit den 1950er- und 1960er-Jahren möglich und üblich, ging erwartungsgemäß aber nicht ohne Verwerfungen vonstatten. So stellte die Evangelische Kirche Deutschlands erst 1978 die Pfarrerinnen ihren männlichen Kollegen rechtlich gleich.23 Erstaunlich bleibt freilich, dass trotz eines männlich ausgerichteten Gottesbildes im Protestantismus den Frauen der Weg ins Pfarramt geebnet wurde, wohingegen in der katholischen Kirche, die mit Maria, vielen weiblichen Heiligen und Prophetinnen weit mehr weibliche Identifikationsfiguren bereithält, bislang Priesterinnen oder die Ehe der Priester unvorstellbar sind.24 Die Beiträge dieses Themenschwerpunktes gehen auf diese brisanten und gegenwärtig vieldiskutierten Entwicklungen, etwa die aktuellen Überlegungen zum katholischen weiblichen Diakonat oder eine flexiblere 22 Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 227. 23 Vgl. Kornelia Sammet, Die Bedeutung des Geschlechts im evangelischen Pfarramt, URL: https://www.genderopen.de/bitstream/handle/25595/83/Sammet_2010.pdf ?sequence=1&isAllowed=y (Stand 2.4.2019). 24 Vgl. Adrian Loretan, Religionen im Kontext der Menschenrechte, Zürich 2010, S. 225.
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Auslegung des geltenden kanonischen Rechts, aus unterschiedlichen Perspektiven ein. Sie werfen vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen darüber hinaus einen Blick auf Geschlechtervorstellungen und die Rollen von Frauen und Männern im Glauben und Alltag in Hinduismus, Buddhismus, Islam und Judentum. Der Entwicklung der rechtlichen, amtlichen und realen Gleichstellung von Frauen und Männern in der evangelischen Kirche25 von der Zulassung zum Theologiestudium zu Beginn des 20. Jahrhunderts über das Vikariat und den Pfarrdienst für Frauen bis hin zur Wahl zur Bischöfin geht die Theologin und Kirchenhistorikerin Cornelia Schlarb unter Berücksichtigung theologischer Debatten in ihrem Beitrag zum „Geschlechterrollenwandel“ und zur „Ordination von Frauen in der evangelischen Kirche“ nach. Als Grundbedingung für die Gleichstellung von Frauen im kirchlichen Bereich sieht sie dabei die Überwindung „der Jahrhunderte lang gepredigten, gelehrten und internalisierten Minderwertigkeit und Unterordnung“ der Frauen an, die in der patriarchalischen Interpretation sowohl der biblischen Schriften als auch der Texte der Reformatoren wurzele. Dazu zählten beispielsweise die schöpfungstheologisch festgeschriebene Unterordnungsforderung der Frauen, die auf Genesis 2 und 3 gestützte „Wesensbestimmung“ der Frau als Gehilfin und Dienerin des Mannes oder Luthers Kleiner Katechismus. Seien daher die theologischen Diskussionen um die Ordination von Frauen seit Mitte der 1920er-Jahre um dieses Unterordnungsparadigma gekreist, so hätten Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit durch den aus der Not geborenen Einsatz von Pfarrerinnen zunächst und bis zur Zulassung und Gleichstellung von Frauen im Pfarramt in den 1970er-Jahren eine Dynamisierung mit sich gebracht. Der Prozess des Umdenkens sei mit einem Blick etwa auf Länder wie Lettland und Polen, in denen die Frauenordination wieder zurückgenommen wurde, aber bis heute in der evangelischen Kirche nicht abgeschlossen und bedürfe der weiteren Förderung. Mit einem gleichermaßen vieldiskutierten Themenfeld und hochaktuellen Kontroversen setzt sich der Beitrag der Theologin Kerstin Söderblom anhand der Analyse des 25 Vgl. grundlegend: Konferenz der Frauenreferate und Gleichstellungsstellen in den Gliedkirchen der EKD (Hg.), Gleichstellung im geistlichen Amt. Ergänzungsband 1 zum Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2017; vgl. auch: Auguste Zeiß-Horbach, Evangelische Kirche und Frauenordination. Der Beitrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zur deutschlandweiten Diskussion im 20. Jahrhundert, Leipzig 2017 (= Historisch-theologische Genderforschung 8); Anja Funke, „Kanzelstürmerinnen“. Die Geschichte der Frauenordination in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens von 1945 bis 1970, Leipzig/Berlin 2011; Wilfried Härle, Von Christus beauftragt. Ein biblisches Plädoyer für Ordination und Priesterweihe für Frauen, Leipzig 2017; Rainer Hering, Frauen auf der Kanzel. Die Auseinandersetzungen um Frauenordination und Gleichberechtigung der Theologinnen in der Hamburger Landeskirche, in: Ders./Inge Mager (Hg.), Kirchliche Zeitgeschichte (20. Jahrhundert). Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen, Teil 5, Hamburg 2008, S. 105–153 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 26); Cornelia Schlarb, Frauenordination weltweit. Zur Gleichstellung der Frau im geistlichen Amt, in: Deutsches Pfarrerblatt 117 (2017), Heft 2, S. 64–69.
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Umgangs der evangelischen Kirche mit pluralisierten Lebensentwürfen und Geschlechtsidentitäten auseinander.26 Als Gründe für eine seit den 1990er-Jahren zunehmende Öffnung theologischer Positionen konstatiert sie zum einen die Neubewertung entsprechender Bibelstellen zur Homosexualität, die deren Zeit- und Kontextgebundenheit sowie die gesamte Heilsbotschaft und die Gottesebenbildlichkeit aller Menschen berücksichtigten, das kontinuierliche und erfolgreiche Engagement von Lesben- und Schwulennetzwerken und schließlich die grundlegenden Neuerungen in der deutschen Gesetzeslage ab den 1990er-Jahren. Obwohl viele Gliedkirchen die Segnung oder Trauung gleichgeschlechtlicher Paare mittlerweile befürworteten, existierten weiterhin Irritationen, Kontroversen und erbitterter Widerstand insbesondere im Kontext der Schriftauslegung, der Ordination gleichgeschlechtlicher oder transidenter Pfarrerinnen und Pfarrer und der Zulassung homosexueller Partnerschaften und Regenbogenfamilien im Pfarramt, die Kerstin Söderblom eingehend diskutiert. Letztlich gehe es um die Kernfrage, „wie Menschen ihre Geschlechtsidentität, ihre Partnerschaftswünsche und Sexualität achtsam und respektvoll miteinander leben können“, also um Würde, Nächstenliebe und Menschenrechte, um die nur sachlich und ohne Polemik, Vorurteile oder Stereotype debattiert werden könne. Mit dem Beitrag der Theologin Margit Eckholt zu Ämtern für Frauen in der katholischen Kirche greift der Band brisante und gegenwärtig vieldiskutierte Entwicklungen in der römisch-katholischen Kirche auf.27 Gerade die Ämterfrage, aktuell die Diskussion um den Frauendiakonat, beinhalte besonderen „Sprengstoff“, wie die Autorin formuliert, denn sie ziele auf eine notwendige grundsätzliche „reformatio“ ab, der sich der größte 26 Vgl. Kerstin Söderblom, Aspekte einer Theologie der Vielfalt, in: Deutscher Evangelischer Kirchentag Dresden 2011. Dokumente, Gütersloh 2012, S. 318–325; Dies., Lebensformen im Pfarrhaus, in: Simone Mantei/Regina Sommer u. a. (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Pfarrberuf im Wandel. Irritationen, Analysen und Forschungsperspektiven, Stuttgart 2013, S. 135–146 (= Praktische Theologie heute 128); Wolfgang Vögele, Theologie und Homosexualität. Ein Gutachten zu Homosexualität, zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und zum Leben gleichgeschlechtlicher Paare im Pfarrhaus, URL: https://wolfgangvoegele.files.wordpress.com/2016/02/homosexualitc3a4t-endgc3bcltig-april-2014.pdf (Stand 26.3.2019); Eva Harasta (Hg.), Traut euch. Schwule und lesbische Ehe in der Kirche, Berlin 2016; Annebelle Pithan/ Silvia Arzt u. a. (Hg.), Gender, Religion, Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt, Gütersloh 2009; Klaus-Peter Lüdke, Jesus liebt Trans. Transidentität in Familie und Kirchgemeinde, Göppingen 2018. 27 Vgl. Walter Groß (Hg.), Frauenordination. Stand der Diskussion in der katholischen Kirche, München 1996; Loretan, Religionen, S. 226; Ida Raming, Priesteramt der Frau. Geschenk Gottes für eine erneuerte Kirche. Erw. Neuaufl., Münster 2002; Margit Eckholt, Ohne die Frauen ist keine Kirche zu machen. Der Aufbruch des Konzils und die Zeichen der Zeit, Ostfildern 2012; Dies., Frauendiakonat – neue Bewegung? in: Theologisch-praktische Quartalschrift 165 (2017), Heft 3, S. 266–275; Sabine Demel, Frauen und kirchliches Amt. Vom Ende eines Tabus in der katholischen Kirche, Freiburg i. Br./Basel u. a. 2004; Dies., Im Spagat von Gleichwertigkeit und Nichtzulassung zur Weihe. Die Frauenfrage in der katholischen Kirche, in: Kirchen in Bewegung. Forschungsjournal Soziale Bewegungen März 2015 (Heft 1), S. 65–71; Dies., Frauendiakonat als Endstation – Weiterdenken verboten?, in: Theologie und Glaube 102 (2012), S. 275–286.
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Teil der Kurie und der Bischöfe, aber auch weite theologische Kreise mit Bezug auf die päpstlichen Dokumente „Inter insigniores“ (1976, Paul VI.) und „Ordinatio sacerdotalis“ (1994, Johannes Paul II.) freilich verweigerten. Wichtig für eine Revision der bisherigen theologischen Anthropologie, die den Ämterausschluss von Frauen begründe, sei neben der Exegese der Konzilientexte und dem Überdenken einer unhinterfragten männlichen Überlegenheit der Einbezug des Gender-Begriffs in seiner Differenzierung von „sex“ und „gender“ durch eine gendersensible Theologie, weil Ämter- und Geschlechterfragen in der katholischen Kirche wie Theologie aufs engste miteinander verzahnt und die Ämterfrage „Prüfstein der Glaubwürdigkeit“ sei. Glaube und Geschlecht stünden für die kontinuierliche „reformatio“ von Machtbeziehungen und Identitätskonstruktionen, über deren Wechselbeziehungen die Diskussionen in der katholischen Kirche um Gleichberechtigung, Gleichheit, Priestermangel, Weihe, Amt oder Dienst noch lange nicht abgeschlossen seien. Der Beitrag der Religionswissenschaftlerin Birgit Heller erweitert mit der Perspektive auf die Weltreligionen sowie mit vergleichend-systematischem, religionsübergreifendem Blickwinkel das Spektrum über den europäischen Rahmen hinaus.28 Rollen, Geschlechterordnungen und der Status von Männern, Frauen und anderen Geschlechtern zeige, dass die großen religiösen Traditionen – Buddhismus, Christen- und Judentum, Islam wie auch die altindischen Religionen – starke Ähnlichkeiten in der Beschränkung der Rolle der Frauen aufweisen: Typisch sei eine aktive weibliche Beteiligung in der Entstehungsphase und die Zurückdrängung der Frauen nach der Etablierung der Religionen, woraus eine rein männliche Besetzung von Leitungsfunktionen resultiere. Trotz der mehr oder weniger erfolgreichen Reformbewegungen der Moderne auch in den traditionell patriarchalen Religionen würden geschlechterabhängige Stereotype, wie etwa das Bild von der triebhaften oder von der unwissenden Frau oder das Bild vom weibischen Mann als einer Bedrohung der patriarchalen Ordnung, dennoch weiterhin religionsübergreifende Diskriminierungen und Marginalisierungen von Frauen stützen. Eine Schlüsselrolle weist Birgit Heller dabei einmal der Gottesebenbildlichkeit, Heilsfähigkeit und Vollkommenheit zu, die noch immer als männliche Privilegien angesehen würden und ebenso wie Vorstellungen von der Unreinheit von Frauen unausweichlich ihre Herabwürdigung und eine ambivalente Haltung zur Gleichstellung bzw. Gleichberechtigung in allen religiösen Traditionen nach sich zögen. Zum anderen komme den als universal geltenden, traditionell polar gedachten Geschlechterrollen innerhalb einer heterosexuell orientierten Gesellschaftsordnung eine ebenso große Bedeutung zu, die den Ausschluss der Frauen 28 Vgl. Anna-Katharina Höpflinger/Ann Jeffers u. a. (Hg.), Handbuch Gender und Religion, Göttingen 2008; Birgit Heller, Gender und Religion, in: Johann Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft, Innsbruck 2003, S. 758–769; Edith Franke/Verena Maske, Religionen, Religionswissenschaft und die Kategorie Geschlecht/Gender, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin/Boston 2012, S. 125–149.
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von Ämtern und Leitungsfunktionen, das Verbot des Studiums der Schriften ( Judentum, Islam, Hinduismus) oder auch einen Würde-Diskurs zugunsten des männlichen Geschlechts begünstigten. Trotz der aufgezeigten Übereinstimmungen im Genderdiskurs der Weltreligionen sind es aber gerade die Unterschiede im Blick auf die hier geltenden Wechselbeziehungen von Glaube und Geschlecht, die aktuell in den Blick geraten. Im Zuge der Globalisierung und des ständigen Austausches mit Menschen anderer Wertesysteme stellt sich die Frage nach Verständigung bzw. Verständnis und Wissen umso intensiver. In Folge der Ereignisse in der Silvesternacht 2015 in Köln ist vor allem der Islam als vermeintlich frauenfeindliche Religion in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit gerückt. Eine Aufarbeitung derartiger Einschätzungen ist durch die Kölner Ereignisse zwar nicht erstmals, aber doch immer wieder angeregt worden, denn mit der Aufgabe zur Integration von nach Europa geflüchteten tausenden muslimischen Familien wird die größtenteils religiös geprägte Verschiedenheit der Geschlechterordnungen in Herkunfts- und Einreiseland umso mehr zur Herausforderung.29 Dieser Thematik widmet sich aus pädagogischer Perspektive der Beitrag des Erziehungswissenschaftlers Ahmet Toprak und des Soziologen Umut Akkus¸ zu „Gender und Sexualität bei Musliminnen und Muslimen in Deutschland“. Die Autoren thematisieren die Geschlechterrollen und die Sexualerziehung in den keineswegs homogenen muslimischen Familien, um weit verbreiteten kulturalistischen Vorurteilen einen fundierten Wissensbestand zur Seite zu stellen. Die Auswertung der von ihnen mit 22 konservativ-autoritären bzw. religiösen Familien und insgesamt 61 Befragten im Alter von 14 bis 69 Jahren geführten Interviews ermöglichen einen Zugang zur Erziehung der Söhne und Töchter durch ihre Familien, zu Selbstsichten und zur gelebten Praxis des „doing gender“ in Deutschland lebender Muslime und Musliminnen. Sie schaffen zugleich ein Bewusstsein für die Heterogenität und Vielfalt ihrer Auffassungen zu Ehre, Sexualität und Geschlechterrollen. Doch führten Konflikte mit den in Deutschland vorherrschenden Orientierungsmustern und Normen in konservativen und religiösen Familien, so die bei29 Vgl. Ahmet Toprak, Integrationsunwillige Muslime? Ein Milieubericht, Freiburg i. Br. 2010; Schirin Amir-Moazami, Islam and Gender in Europe. Subjectivities, Politics and Piety, in: Feminist Review 98 (2011), S. 1–8; Dies., Dialogue as a Governmental Technique. Managing Gendered Islam in Germany, in: Feminist Review 98 (2011), S. 9–27; Dies., Reaffirming and Shifting Boundaries. Muslim Perspectives on Gender and Citizenship, in: Yearbook of Sociology of Islam 6 (2006), S. 209–233; Dies., Islam und Geschlecht unter liberal-säkularer Regierungsführung – Die Deutsche Islam Konferenz, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 37 (2009), S. 185–205; Ann Elizabeth Mayer, Islam, Menschenrechte und Geschlecht. Tradition und Politik, in: Feministische Studien 2 (2003), S. 281–289; Hiltrud Schröder, Das Gesetz Allahs. Menschenrechte, Geschlecht, Islam und Christentum, Königstein/Taunus 2007; Dies., Mohammeds deutsche Töchter, Königstein/Taunus 2002; Ina Wunn/Mualla Selçuk (Hg.), Islam, Frauen und Europa. Islamischer Feminismus und Gender Jihad – neue Wege für Musliminnen in Europa, Stuttgart 2013.
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den Autoren, zu modifizierten, aber aus den alten Traditionen und Wertorientierungen, insbesondere der muslimischen Identität, abgeleiteten, stark geschlechtsspezifisch ausgerichteten Erziehungsmodellen. Der Beitrag formuliert, basierend auf eigenen und fachspezifischen wissenschaftlichen Erkenntnissen, eine Reihe von pädagogischen Implikationen, die nach der religiösen Begründung von Glaube und Geschlecht im Islam sowie nach Möglichkeiten und Grenzen der Integration in eine westlich und christlich strukturierte Gesellschafts- und Geschlechterordnung mit dem Prinzip der Geschlechtergleichheit fragen und einen Weg in die Zukunft weisen. Insgesamt möchte der Band mit seinen vielfältigen, interdisziplinär angelegten geschlechterwissenschaftlichen Beiträgen einen besonderen und bislang wenig berücksichtigten Beitrag in der Nachbetrachtung des Reformationsjubiläums und zur kulturwissenschaftlichen Erforschung der Reformation und ihrer Folgen aus der Genderperspektive leisten. Er stellt Fragen nach der Bedeutung der Reformation in Geschichte und Gegenwart für die Ausformung einer teilweise noch heute gültigen Geschlechterordnung, mit der wir Männlichkeit und Weiblichkeit, geschlechtsspezifisches Verhalten, Denken, Aussehen, Arbeiten oder die Fähigkeiten, Eignungen und Emotionen von Männern und Frauen wahrnehmen und bewerten. Viele moderne Phänomene entpuppen sich bei näherer Betrachtung nicht selten als Ergebnisse grundlegender Wandlungsprozesse der Frühen Neuzeit von prägender geistesgeschichtlicher, gesellschaftspolitischer und kultureller Bedeutung, deren Wurzeln nicht zuletzt in den fundamentalen Umwälzungen der Reformation zu verorten sind. In den Veranstaltungen zur Reformationsdekade wurden die Leistungen und die Teilhabe von Frauen in und an der Reformation wenig repräsentiert, und auch das Zusammenwirken von Frauen und Männern in den reformatorischen Bewegungen, ihre geschlechtsspezifischen Rollen und Zuständigkeiten, ihre Glaubensvorstellungen sowie die „Gender Reformation“ im Zuge der ge- und erlebten, erstrittenen, diskutierten und beschriebenen Reformation harren noch einer angemessenen Berücksichtigung durch die Forschung. Anliegen dieses Bandes ist es daher, die Reformationsforschung mit der Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Glaube und Geschlecht und den Folgen der „Gender Reformation“ bis heute um eine der grundlegendsten geschlechterwissenschaftlichen Facetten des reformatorischen Geschehens mit Langzeitwirkung zu erweitern. Mit der Herstellung aktueller Bezüge durch die Beschäftigung mit derzeit relevanten Diskursen um Glaube und Geschlecht in Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus sowie in der Auseinandersetzung mit heutigen vielfältigen Lebensrealitäten und -entwürfen will der Band zudem einen Rahmen bieten, um Erkenntnisse über das Vergangene und das vermeintlich Fremde und Andere zu gewinnen, zu erweitern und dadurch einen vorurteilsfreien, wissenschaftlichen Diskurs anzuregen. Die Aufnahme von nach Europa geflüchteten muslimischen Männern und Familien hat die durch ihre
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Religionen bzw. ihre Wertesysteme geprägte Verschiedenheit der Geschlechterordnungen und der Zuschreibung von Geschlechterkonstruktionen zu einem Kernelement wie Gradmesser für Integration gemacht. Die in der Reformationszeit beginnenden und bis in die Gegenwart geführten Diskussionen um die Zusammenhänge zwischen Glaube und Geschlecht erlauben dabei Einsichten zur Förderung eines respektvolleren Miteinanders. Vorbedingungen für ein toleranteres Zusammenleben und Schlüssel zum Verständnis anderer Wertesysteme und Glaubensgrundsätze sind zugleich Wissen und Bildung, die uns gleichermaßen zu den historischen Wurzeln der Reformation zurückführen: Die allmähliche Ausbildung von Wissensbeständen, Verständnis und schließlich Toleranz gehört integral auch zur Geschichte des von Beginn an keineswegs gebilligten oder gar begrüßten, ja zunächst als fremd- und andersartig verurteilten Glaubenssystems des europäischen Protestantismus.
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Die Reformation – Impulse aus der Vergangenheit für die Zukunft: Ein einleitender Erfahrungsbericht
Frauen und Männer heute – was hat sie geprägt, bewegt, angeregt? Welchen Anteil hat die Reformation daran? Wenn ich an Frauen und Männer in meiner näheren Umgebung in Schleswig-Holstein und Hamburg oder der ganzen Bundesrepublik denke, existieren wahrscheinlich mindestens so viele Unterschiedlichkeiten wie Gemeinsamkeiten. Wir sind keine einheitliche Gesellschaft. Viele Kulturen stoßen aufeinander, Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen. Dazu die Schere im Sozialen und Ökonomischen. Auch in der Erziehung von Mädchen und Jungen werden unterschiedliche Wege gegangen – viele werden schon frühkindlich auf ihre weibliche oder männliche Rolle vorbereitet, mit der farblichen Gestaltung der Kleidung, rosa-pink oder hellblau, mit geschlechterspezifischem Spielzeug, interesseleitenden Medien und Sportarten.1 Und: hat die Reformation überhaupt nennenswerte gesellschaftliche Auswirkungen gehabt? Abgesehen von den vielen Sprachschöpfungen Luthers, die uns erneut in den Medien vorgehalten werden, was ist vom Drängen der Reformatoren bei uns noch zu erkennen? Spüren wir noch etwas von dem Freiheitstrieb und der brennenden Frage nach einem gnädigen Gott, nach einer Transzendenz, die biblischen Ursprungs ist? Am 29. Juni – dem Eröffnungstag der diesem Band zugrunde liegenden Tagung „Glaube und Geschlecht“ – war der Tag der Apostel Petrus und Paulus, der großen Kirchenmänner. Beide starben als Märtyrer in Rom und wurden schon bald als Apostelfürsten herausgestellt. Aus dieser Verehrung entwickelte sich die Vorrangstellung der römischen Bischöfe, des Papsttums.2 Zwei Männer, die für kirchliche Macht und Ord1 Die Anmerkungen zu diesem Beitrag wurden von Stefanie Fabian erstellt. Vgl. Kerstin Böhm, Archaisierung und Pinkifizierung. Mythen von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Kinder- und Jugendliteratur, Bielefeld 2017; Carolin Wiedemann, Mädchenkultur. Rosa Rollback, URL: http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/maedchenkultur-rosa-rollback-11970522.html (Stand 26.3.2019). Die Problematik greift auch die Liedermacherin Suli Puschban in dem 2016 populär gewordenen Kinderlied „Schnauze voll von Rosa“ auf, URL: https://rosa-hellblau-falle.de/2016/05/schnauze-voll-von-rosa-suli-puschban/ (Stand 26.3.2019). 2 Vgl. Otto Zwierlein, Petrus und Paulus in Jerusalem und Rom. Vom Neuen Testament zu den apokryphen Apostelakten, Berlin 2013 (= Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 109); Uwe Jochum, Der Urkonflikt des Christentums. Paulus, Petrus, Jakobus und die Entstehung der Kirche, Regensburg
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nung und theologische Lehre standen und als deren Garanten gegen alle Feinde von innen und außen verteidigt wurden. Mit je besonderen Schwertern. Peter-und-Paul-Tag, Tag der Apostelfürsten, die für eine männliche Kirche stehen, für Papsttum und Märtyrertum und theologische Lehre mit Dogmen und Machtinstrumenten, die Unterordnung verlangen und Schweigen für die Frauen und alle, die anders dachten und handelten und lebten. Denken und Lehren, die Leitung der Kirche und die Ausbreitung des Glaubens lagen in Männerhand. Mit klaren hierarchischen Lebens- und Glaubensordnungen. An der Schlüsselgewalt durfte nicht gerüttelt werden. Rechter Glaube, rechtes gesellschaftliches Leben wurden männlich geordnet. Wer dem Mainstream nicht folgte, musste mit Konsequenzen rechnen, mit Exkommunikation und Inquisition. Ein gedanklicher Schritt zu weit nach rechts oder links – schon stand man im Ruch der Ketzerei. Diese Beschreibung ist recht holzschnittartig, aber im Großen und Ganzen verlief die Kirchengeschichte so – und die weltliche, gesellschaftliche Geschichte in den Regionen des Abend- und Morgenlandes dementsprechend. Die Frauen hatten im Allgemeinen – nicht nur in der Gemeinde und in der Öffentlichkeit – zu schweigen und sich unterzuordnen.3 Besondere weibliche Vorbilder waren die Gottesmutter und andere Heilige, die zu Demut und Unterwerfung, zu Frömmigkeit und Nächstenliebe anleiteten. Die kirchenleitenden Frauen der Bibel und der frühen Kirche und ihre theologischen Schriften – die es durchaus gab – wurden verdrängt, vergessen, beseitigt.4 Was in späteren Frauenklöstern des Mittelalters gelehrt wurde, gelangte selten über die Klostermauern hinaus. Reformationsbewegungen gab es von Anfang an in der Kirche, in den Kirchen des Westens und des Ostens, mit Spaltungen und Abspaltungen. Der große Umbruch erfolgte 2011. Speziell zum Papsttum vgl. Sabine Panzram, Ille ecclesiae fundamentum et hic sapiens architectus. Die Erschaffung des Papsttums, in: Historia 65 (2016), S. 73–107 und Birgit Emich/Christian Wieland (Hg.), Kulturgeschichte des Papsttums in der Frühen Neuzeit, Berlin 2013. 3 Das Schweigegebot von Paulus aus dem 1. Korintherbrief ist immer wieder zur Untermauerung der Unterordnung der Frauen in Kirche und Gemeinde herangezogen worden. Zuschreibungen über ihr Wesen und ihre Rolle im kirchlichen Kontext und die Rechtfertigung ihrer Beschränkung stützen sich maßgeblich auf diese eine Bibelstelle. Kritisch hat sich die feministische Theologie damit auseinandergesetzt, so unter anderem Claudia Janssen/Luise Schottroff u. a. (Hg.), Paulus. Umstrittene Traditionen, lebendige Theologie. Eine feministische Lektüre, Gütersloh 2001; Marlene Crüsemann, Paulus, in: Wörterbuch der feministischen Theologie, Gütersloh 22002, S. 444–448. 4 Die Suche nach bedeutenden Frauen in biblischen Texten begann bereits im 19. Jahrhundert. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete die amerikanische Feministin Elizabeth Cady Stanton 1895 mit ihrer kontrovers diskutierten „Woman’s Bible“, einer kommentierten Zusammenstellung von Bibelstellen, die die Rollen von Frauen beleuchten und eine Neuinterpretation anregen sollten, vgl. URL: https://www.gender-ekd.de/ images/sfg_JanssenVortragPullachFrauenundMnnerindenGemeinden12–10.pdf (Stand 26.3.2019). Erst die 1970er-Jahre brachten im Zuge der Frauenbewegung neue Impulse, vgl. Theres Wacker, Geschichtliche, hermeneutische und methodologische Grundlagen, in: Luise Schottroff/Silvia Schroer u. a. (Hg.), Feministische Exegese. Forschungserträge zur Bibel aus der Perspektive von Frauen, Darmstadt 1995, S. 3–79.
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dann im 16. Jahrhundert, mit der Folge, dass für die neue Bewegung der völlige Bruch mit dem Papsttum und der römisch-katholischen Kirche stattfand. Politisch und wissenschaftlich, aber auch wirtschaftlich agierende Potentaten5 stellten sich auf die Seite der Reformer, ebenso Buchdrucker und Maler. So konnten die neuen Erkenntnisse und Erfahrungen in die Breite der Gesellschaft hineinfließen und alle Schichten erreichen.6 In Kirche und Gesellschaft wurde der einzelne Mensch neu wahrgenommen, nicht mehr als Abhängiger der Machtinstrumente, sondern als einer/eine, der/die vor Gott ohne alle Vermittlungsinstanzen stehen und bestehen konnte. Allen Männern und Frauen steht das „rechte priesterliche Amt“ offen, alle Christenmänner sind Priester, alle Frauen Priesterinnen, jung oder alt, Herr oder Knecht, Herrin oder Magd, Gelehrter oder Laie, wie Luther sagte.7 Das normale Leben der Menschen, der Alltag mit Erwerbs- und Familienarbeit, 5 Zur Rolle der Fürsten unter anderem: Michael Henker/Markus Nadler u. a. (Hg.), FürstenMacht & wahrer Glaube. Reformation und Gegenreformation. Das Beispiel Pfalz-Neuburg, Regensburg 2017 (= Neuburger Kollektaneenblatt 165); Armin Kohnle/Manfred Rudersdorf (Hg.), Die Reformation. Fürsten – Höfe – Räume, Stuttgart 2017 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 42); Konrad Minkner, Frauenbekenntnisse. Glaubensübertritte adliger und hochadliger Frauen. Ein Beitrag zur Konversion adliger und hochadliger Frauen 1520–1830, Osterwieck 2016; Heide Wunder/Alexander Jendorff u. a. (Hg.), Reformation – Konfession – Konversion. Adel und Religion zwischen Rheingau und Siegerland im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2017 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 88); Susan Richter/Armin Kohnle (Hg.), Herrschaft und Glaubenswechsel. Die Fürstenreformation im Reich und in Europa in 28 Biographien, Heidelberg 2016 (= Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 24); Staatliche Kunstsammlungen Dresden/Dirk Syndram u. a. (Hg.), Luther und die Fürsten. Selbstdarstellung und Selbstverständnis des Herrschers im Zeitalter der Reformation, 1. Nationale Sonderausstellung zum 500. Reformationsjubiläum. Aufsatzband, Dresden 2015; Martina Schattkowsky, Nur eine Fürstenreformation? Überlegungen zu gesellschaftlichen Trägergruppen der reformatorischen Bewegung, in: Dresdner Hefte 121 (2015), S. 26–34; Daniel Gehrt/Vera von der Osten-Sacken, Fürstinnen und Konfession. Beiträge hochadliger Frauen zu Religionspolitik und Bekenntnisbildung, Göttingen 2015 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 104); Martina Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement, Leipzig 2016 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 55). 6 Zum Kontext von Reformation und Medien vgl. Thomas Kaufmann/Elmar Mittler (Hg.), Reformation und Buch. Akteure und Strategien frühreformatorischer Druckerzeugnisse, Wiesbaden 2017; Annika Stello/Udo Wennemuth u. a. (Hg.), Die Macht des Wortes. Reformation und Medienwandel, Regensburg 2016; Andrew Pettegree, Die Marke Luther. Wie ein unbekannter Mönch eine deutsche Kleinstadt zum Zentrum der Druckindustrie und sich selbst zum berühmtesten Mann Europas machte – und die protestantische Reformation lostrat, Berlin 2016; Bridget Heal/Joseph Leo Koerner (Hg.), Art and Religious Reform in Early Modern Europe, Oxford 2018; Elke A. Werner/Anne Eusterschulte u. a. (Hg.), Lucas Cranach der Jüngere und die Reformation der Bilder. Beiträge des Internationalen Symposiums „Lucas Cranach der Jüngere und die Reformation der Bilder“ vom 20. bis 22. März 2014 in der Lutherstadt Wittenberg, München 2015; Stiftung Schloss Friedenstein Gotha/Julia Carrasco u. a. (Hg.), Bild und Botschaft. Cranach im Dienst von Hof und Reformation, Heidelberg 2015. 7 Zum Menschenbild der Reformationszeit vgl. Annette Kurschus/Vicco von Bülow (Hg.), Die Entdeckung des Individuums. Wie die Reformation die Moderne geprägt hat, Bielefeld 2017. Zu den theologischen Diskussionen um das Priestertum aller Gläubigen vgl. Harald Goertz, Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther, Marburg 1997 (= Marburger theologische Studien 46); Gerhard Müller, All-
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wurde statt des klösterlichen und zölibatären Lebens als gottgefällig herausgestellt. Das Leben mit Sexualität und mit Kindern galt als von Gott gesegnet.8 So wurde der Dienst der Hebammen als bedeutendes kirchliches Amt verstanden. Die Pfarrfamilie sollte eine Art Schule der Nation werden, mit Katechismus und Kultur. Allgemein wurde gute Bildung für notwendig erachtet, und es wurden Schulen für Jungen und auch Mädchen eingerichtet, wenn auch mit unterschiedlichen Lehrinhalten und zeitlichen Verbindlichkeiten.9 Es hätte vieles so gut verlaufen können, wenn die Reformatoren ihre eigenen Worte konsequenter in Kirche und Gesellschaft eingebracht und umgesetzt hätten. Die Idee war groß, die Taten klein. Patriarchale Strukturen blieben weitgehend bestehen. Frauen wurden weiterhin überhört, verschwiegen, an den Rand gedrängt – mit wenigen Ausnahmen. Positive Beispiele zeigten sich am ehesten im Pietismus, zum Beispiel bei den Herrnhutern, die alle Ämter für Frauen öffneten, bis auf das Bischofsamt.10 Männer wurden weiterhin aufs Patriarchat getrimmt, als Ernährer der Familie, als Oberhaupt und Außenvertretung. Die eher weichen Faktoren galten nicht als männlich. In der Kunst war es oft einfacher: Da malte der calvinistische Rembrandt das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, das heute in der Eremitage in St. Petersburg hängt (vgl. Tafel 1). Der Vater legt seinem Sohn seine Hände auf die Schultern – dabei ist die linke Hand die eines Mannes, aber die rechte Hand die einer Frau. Als wollte Rembrandt damit einen Hinweis geben auf die Bedeutung des Weiblichen in der Familie und in der Religion. Als wollte er den religiösen „common sense“ seines 17. Jahrhunderts ein wenig verrücken. Denn damals war der Gedanke, dass Gott eine weibliche Hand, eine weibliche Seite habe, unerhört. Gott wurde als Herr, König, Richter, Gebieter dargestellt, angebetet und besungen. Es ist zu bedauern, dass viele Erkenntnisse der Reformation des 16. Jahrhunderts nur minimal zum Tragen kamen: Also keine Revolution und nur wenig Evolution. Das Gleichnis vom Senfkorn sollte man sich öfter vor Augen halten, dass aus kleinsten Anfängen gemeines Priestertum aller Getauften und kirchliches Amt in der Reformationszeit, in: Kerygma und Dogma. Zeitschrift für theologische Forschung und kirchliche Lehre 52 (2006), Heft 1, S. 98–104. 8 Vgl. Christian Volkmar Witt, Martin Luthers Reformation der Ehe. Sein theologisches Eheverständnis vor dessen augustinisch-mittelalterlichem Hintergrund, Tübingen 2017 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 95) und seinen Beitrag in diesem Band. 9 Zum protestantischen Pfarrhaus als Modell und Mythos vgl. Christian Albrecht/Eberhard Hauschild (Hg.), Pfarrhausbilder. Literarische Reflexe auf eine evangelische Lebensform, Tübingen 2017 (= Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 22); Thomas A. Seidel/Christopher Spehr (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus. Mythos und Wirklichkeit, Leipzig 2013; Cord Aschenbrenner, Das evangelische Pfarrhaus. 300 Jahre Glaube, Geist und Macht. Eine Familiengeschichte, München 2016. 10 Vgl. dazu: Pia Schmid, In Christo ist weder Mann noch Weib. Zur Aufwertung des Weiblichen in der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert, in: Meike Sophia Baader/Helga Kelle u. a. (Hg.), Bildungsgeschichten. Geschlecht, Religion und Pädagogik in der Moderne. Festschrift für Juliane Jacobi zum 60. Geburtstag, Köln/Weimar u. a. 2006 (= Beiträge zur historischen Bildungsforschung 32), S. 103–117; vgl. auch den Beitrag von Mareike Fingerhut-Säck in diesem Band.
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sehr Großes wachsen kann – und dann bedenken: So winzig klein war die Reformation damals gar nicht – was daraus folglich noch alles werden kann! – so wir uns aus Gleichgültigkeit, Trägheit oder Angst heraus begeistern lassen für dringend notwendige Reformen, Korrekturen und neue Wege, dass von der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes unser gesellschaftliches und kirchliches Leben wieder durchlüftet wird. Der große Aufbruch geschah für die spezifischen Frauen- und Männerrollen damals noch nicht, abgesehen davon, dass die Geistlichen heiraten konnten. Eine Sexualethik aber wurde nicht weiterentwickelt, auch nicht die Rolle der Frauen neu entfaltet.11 Erst von außen, insbesondere durch die Aufklärung und durch die späteren Emanzipationsbewegungen brach die patriarchale Ordnung auf. Die Freiheitserfahrungen und -forderungen der Reformatoren schufen sich eigene Bahnen, zuerst außerhalb der konservativen Institution Kirche und dann auch dort – durch theologische Anstöße, durch Synodalentscheidungen, durch pragmatisches Verhalten einzelner Kirchenleitender. Wobei offizielle Verlautbarungen nicht immer mit dem übereinstimmten und übereinstimmen, wie im normalen kirchlichen Alltag verfahren wurde und wird.12 Ein Beispiel sind die Missbrauchsfälle, die Vergehen an Abhängigen, die in den letzten Jahren öffentlich wurden. Sie gab es immer, und viele wussten davon, aber verharmlosten, deckten zu, sahen zudem meist die Schuld bei den Frauen, den Mädchen, den Jungen – und ansonsten tat man so, als wären es nur Kavaliersdelikte. Als hätten Männer Freiräume, als wären Frauen Freiwild.13 11 Die Frage nach angeblicher oder tatsächlicher Verbesserung der gesellschaftlichen Situation der Frau durch die Reformation ist kontrovers diskutiert worden. So stellte in den 1970er-Jahren Eleanor McLaughlin die provokante Frage „Was There a Reformation in the Sixteenth Century?“ und kam zu dem Schluss, für die protestantischen Frauen sei mit der Reformation eher eine Verschlechterung einhergegangen, vgl. McLaughlin, Male and Female in Christian Tradition. Was There a Reformation in the Sixteenth Century? in: Ruth Tiffany Barnhouse/Urban T. Holmes (Hg.), Male and Female. Christian Approaches to Sexuality, New York 1976, S. 39–52. Auch Lyndal Roper konstatierte Ende der 1980er-Jahre die Domestizierung der Frau im Zuge der Reformation, vgl. Roper, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg, Oxford 1989. Zu den ambivalenten Entwicklungen für beide Geschlechter, vgl. zuletzt Julia A. Schmidt-Funke, Reformation und Geschlechterordnung. Neue Perspektiven auf eine alte Debatte, in: Werner Greiling/Armin Kohnle u. a. (Hg.), Negative Implikationen der Reformation?, Köln/ Weimar u. a. 2015, S. 29–53 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 4) und ihren Beitrag in diesem Band. 12 Vgl. Jörg M. Fegert/Mechthild Wolff (Hg.), Kompendium „Sexueller Missbrauch in Institutionen“. Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention, Weinheim/Basel 2015; Klaus Laubenthal, Regelungen zur Sanktionierung von sexuellem Missbrauch im Bereich der katholischen Kirche, in: Christian Fahl/Eckhart Müller (Hg.), Ein menschengerechtes Strafrecht als Lebensaufgabe. Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, Heidelberg 2015; Ursula Gasch, Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche – Aktuelle Befunde, in: Trauma & Gewalt. Forschung und Praxisfelder 4 (2010), Heft 2, S. 94– 104; Stephan Goertz/Herbert Ulonska (Hg.), Sexuelle Gewalt. Fragen an Kirche und Theologie, Berlin/ Münster u. a. 2010. 13 Vgl. Anmerkung 12.
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Und doch haben die reformatorischen Ansätze eine Wirkung gezeigt. Dass sich, wie mir scheint, in den lutherisch geprägten skandinavischen Ländern und im calvinistisch geprägten Holland mehr liberale gesellschaftliche Entwicklungsstränge als in den katholischen südeuropäischen Ländern ergeben haben, deute ich als Folgen der Reformation.14 Die Freiheit wurde als Kernaussage des evangelischen Glaubens gedeutet und führte damit auch zu neuen kirchlichen Gruppierungen sowie säkularen gesellschaftlichen Bewegungen. Die Freiheit des Individuums, die Freiheit der Glaubens- und Lebensentwürfe, dazu die Hinwendung zum weltlichen, wirtschaftlichen Agieren, in Verantwortung vor Gott, das hat die Menschen in reformatorisch geprägten Gesellschaften angeleitet, zusammen mit sozialstaatlichen Gesetzgebungen und Frauenrechten, die schließlich die Berufstätigkeit ohne große Hindernisse ermöglichten. Auch die Fragen der Sexualität wurden nicht so stark und so lange tabuisiert wie in katholischen Ländern. Eine Nebenbemerkung: Für Luther war die Freiheit vor Gott entscheidend – und von daher die persönlich geschenkte Freiheit in der Welt, die das Beste anstrebt und alles zum Besten kehrt. Wenn heutzutage politische Gruppierungen mehr christlichen Glauben einfordern, das christliche Abendland beschwören, dann sollten wir sehr wohl prüfen, ob diese Forderungen aus einer wirklichen Gottesbeziehung und aus christlicher Verantwortung herrühren oder nur aus Ideologie und Fremdenfeindlichkeit. Zumal die Frauen- und Männerbilder mancher politischer Gruppen, die aufs Christentum pochen, oft geradezu starr und einengend sind – und all die ausgrenzen, die anders sind. Vor 500 Jahren begann die Reformation mit Luthers 95 Thesen, und es folgten reformatorische Aufbrüche in den Jahren und Jahrzehnten danach, insbesondere von Wittenberg aus, in vielen theologischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Komplexen. Die Geschlechterdebatte, so zeigte es sich auch beim letzten Kirchentag im Mai 2017 (Berlin/Wittenberg), bedarf noch einer stärkeren Aufmerksamkeit und Unterstützung. Da ist langer Atem gefragt. Manchmal scheint es mir, dass beispielsweise Gewerkschaften und inzwischen auch der medizinische Sektor mehr davon begriffen haben als viele politische und kirchliche Entscheidungsgremien. „Ecclesia semper reformanda, res publica semper reformanda, mea vita semper reformanda“ (die Kirche bedarf ständiger Erneuerung, die Gesellschaft bedarf ständiger Erneuerung, mein Leben bedarf ständiger Erneuerung), so wahr das ist, so bleibt doch die Frage nach dem Kontinuum. Was ist so prägend, dass wir uns nicht in Aktionismus und Beliebigkeit verlieren? Den Evangelischen wird oder wurde ja gern nachgesagt, sie seien in ihren theologischen und kirchlichen Fragen zu offen, keinesfalls ernst zu nehmen und zu respektieren als seriöse Institution und Einzelpersonen. Angeblich sei deshalb auch keine ökumenische Gemeinschaft mit der römisch-katho14 Vgl. u. a. Svenska Kyrkan, URL: https://web.archive.org/web/20111011042345/http://www.svenskakyrkan.se/default.aspx?id=585440.
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lischen Kirche und mit den orthodoxen Kirchen möglich. Gerade die Zulassung von Frauen im ordinierten Amt, die sexualethischen Entscheidungen und kritische soziale und gesellschaftliche Einmischungen in diesen Themenkomplexen wurden der evangelischen Kirche oft vorgeworfen, als Hindernisse für mehr ökumenische Nähe. Doch meine Erfahrungen waren schon vor 20 Jahren ganz anders, und inzwischen lassen sich viele Beispiele nennen. Sobald wir biblisch und aus unserer reformatorischen Tradition argumentieren, dazu freundlich werben und den anderen Respekt entgegenbringen, hören die Vorwürfe auf. Und die Partner und Partnerinnen lernen, dass auch Frauen, dass auch Homosexuelle ein geistliches Amt übernehmen und dass auch nicht ordinierte Männer und Frauen kirchenleitende Verantwortung tragen können. Die reformatorische Freiheit bindet uns nicht an die Ketten der Tradition, sie hält uns an sehr langer Leine. Und Gott sei Dank werden die ökumenischen Beziehungen im Allgemeinen unverkrampft und respektvoll gepflegt. Ja, ich bin froh und dankbar, dass wir uns nicht von dogmatischen Aussagen ferner Jahrhunderte einengen lassen müssen, auch nicht von Vorschriften und Gewohnheiten früherer Kirchen- und Universitätsmänner. Jedes Mal, wenn wir die Bibel aufschlagen und in eine ihrer Geschichten und Texte neugierig und kritisch einsteigen, ist gleichsam eine „Stunde Null“: Dass viele biblische Geschichten inzwischen neu interpretiert werden können, durch Befreiungsbewegungen politischer, sozialgeschichtlicher oder feministischer Ausrichtung, dass viele dieser Zuspruchs- und Aufbruchsgeschichten uns immer neu herausfordern, gerade auch im politischen und wirtschaftlichen Bereich, dass wir von Christinnen und Christen Afrikas, Asiens und Amerikas neue Lesarten lernen können und uns in globale Verantwortung rufen lassen, ist eine Folge davon, dass zwischen uns und Gott irgendwelche Traditionen keine hemmenden Mauern sind. Es ist an der Zeit, die je besonderen Möglichkeiten und Herausforderungen zu erkennen und zu ergreifen. Internationale und interkulturelle Verknüpfungen wurden bis ins letzte Jahrhundert hinein aus der Sicht europäischer Männer definiert und diktiert. Als Kirche, als Ökumene haben wir mehr und mehr gelernt, diese hegemonialen Spielregeln aufzugeben. Das betrifft auch Angehörige anderer Religionen. Ein Beispiel: Zum ersten Mal wird das Reformationsjubiläum nicht mehr rein deutsch, gar national/nationalistisch begangen, sondern als weltweites Ereignis, im engen Kontakt mit der römisch-katholischen Kirche und in Verbundenheit mit den orthodoxen Kirchen, den Juden und in Dialogbemühungen mit Angehörigen anderer christlicher Gemeinschaften und anderer Religionen. Und zum ersten Mal wird für das Reformationsjubiläum von einer Frau geworben und eingeladen, von der ehemaligen Bischöfin Margot Käßmann. Wir stellen unser Licht nicht unter den Scheffel, so mit Luthers Wort ausgedrückt. Kirche ist nicht mehr allein in männlicher Hand. Das Zeitalter der Missionierungen ist vorbei, so heißt es manchmal. Für Deutschland ist es allerdings noch immer mehr als angebracht, ebenso für viele westliche und
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östliche Länder. Die Wörter Missionierung und Mission haben einen unangenehmen Beigeschmack. Als ginge es bei der Missionsarbeit darum, Nichtchristen zu bedrängen, sich taufen zu lassen und Kirchenmitglieder zu werden. Das gab es, aber seit Jahrzehnten schon setzen wir als Kirche und unsere Missionswerke vor allem auf Dialog, auf Angebote zur Hilfe und Selbsthilfe, auf Bildung und Transparenz in der Gesellschaft und Politik. Für den religiösen und theologischen Austausch benötigen wir Wissen, Positionierung und Respekt. Solche Gespräche werden gepflegt, von Angesicht zu Angesicht, oder, wie man sagt: auf Augenhöhe; ich ergänze: auch auf Ohrenhöhe. Es geht bei den ökumenischen Begegnungen darum, dass wir uns als gleichberechtigte, gleichverantwortliche freie Menschen, Christenmenschen, begegnen, ernst nehmen und achten, Männer wie Frauen, dass wir verhärtete Strukturen und unterdrückende Gewohnheiten benennen, geschwisterlich. Die Rolle von Frauen und Männern ist traditionell in der Gesellschaft und vom religiösen Einfluss her in China anders als in Tansania und anders als in Lettland und bei uns. Vieles erschreckt und verschreckt die Menschen, die die anderen Gesellschaften nur über Medien kennen, aber auch bei Besuchen oder auf Konferenzen. Dabei geduldig und einfühlsam die jeweils eigene Lebensweise darzulegen und zu erklären, ist eine gute Chance, gesellschaftliche Veränderungen und kirchliche Aufbrüche in Gang zu setzen – vor dem Hintergrund, dass Männer und Frauen als Ebenbilder Gottes geschaffen sind, mit derselben Würde beschenkt und je nach ihren Begabungen den Ort bekommen sollten, von dem aus sie sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen können, so auch für Minderheiten gleich welcher Art. Bei uns und in anderen Ländern werden wieder verstärkt rückwärtsgewandte Frauen- und Männerrollen vorgesetzt, in Medien und in der Politik – der starke Mann und die schöne Frau. Selbst in der Kirche sind an leitenden Stellen nur wenige Frauen. Frauenbeauftragte, Männerbeauftragte, Frauenwerke, Männerwerke, Genderstellen – und wie die Titulierungen gerade sind, sie werden zu wenig befragt. Schnell ist der Rotstift angesetzt, zuerst mit Arbeitszeitverkürzung und Verlagerung auf Ehrenamtliche. Die übliche Weise, wie man mit Frauen in spezifischen Frauenberufen umgeht, in den viel zu niedrig bezahlten, aber auch anderen. Ein namhafter Theologieprofessor warnte davor, zu viele Frauen in den pastoralen Dienst und leitende Ämter kommen zu lassen – das führe zu einer Feminisierung von Theologie und Kirche.15 Mit dieser Warnung, diesem 15 Vgl. Ein Gott zum Kuscheln. Ein Gespräch mit Friedrich Wilhelm Graf, in: FAZ vom 27.3.2011, URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/gespraech-mit-friedrich-wilhelm-graf-eingott-zum-kuscheln-1610609.html (Stand 26.3.2019). Mit diesem Thema setzte sich auch eine Konferenz, 2011 veranstaltet von den Evangelischen Frauen in Mitteldeutschland, der Evangelischen Akademie in Thüringen und den Universitäten Jena und Erfurt auseinander, vgl. den Tagungsbericht: Die Zukunft der Kirche ist weiblich. Zur Ambivalenz der Feminisierung von Gesellschaft, Kirche und Theologie, URL: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3579 (Stand 26.3.2019).
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Menetekel sollten Seriosität und gute Löhne für Männer in der Kirche abgesichert werden. Was für ein Frauenbild! Und was für ein Männerbild! Dass Tagesväter und Erzieher, Putzmänner und Altenpfleger heute noch abgelehnt werden, nicht nur von Menschen mit Migrationshintergrund, ist nicht hinzunehmen. Als mein Mann sich nach 18 Jahren im Gemeindepfarramt beurlauben ließ, um mehr Zeit für sich und für mich als Pröpstin und Bischöfin zu haben, wurden wir immer wieder gefragt, ob er denn eine Promotion oder ein Zweitstudium anstrebe – oder krank sei. Ein Mann im besten Alter, Mitte 40, könne doch nicht einfach nur zu Hause sein! Veränderungen im Denken und im Arbeitsrecht sind notwendig, unter anderem über Teilzeit, Jobsharing, Familienzeiten, Kinderbetreuung und gesellschaftliches Ehrenamt. Zudem halte ich die Quote weiterhin für unverzichtbar, um mehr Frauen in kirchlichen Gremien zu etablieren, da freiwillige Selbstverpflichtungen offenbar nicht den gewünschten Effekt bringen.16 Für die Kirche bin ich nach wie vor froh, dass wir von der Feministischen Theologie viel Ermutigung und Anstoß erhalten, und zwar aus der weltweiten Christenheit. Die sozial-geschichtlichen Forschungen, interreligiösen Schriften und Dialoge haben uns einen neuen Blick auf unsere Tradition und Theologie ermöglicht und uns dabei unter anderem mutiges und eindeutiges Engagement von Frauen und Männern wahrnehmen lassen. Wir haben beispielsweise gelernt, dass Frauen in der frühen Kirche leitende Ämter innehatten und theologisch versiert waren.17 Das war den Männern unheimlich. Als Witwen konnten sie diakonisch tätig werden. Die Angst vor der Sexualität schuf eine Leibfeindlichkeit, die theologisch begründet wurde: Es gehe doch um die Seele, das Seelenheil. Dem hat Martin Luther insofern widersprochen, als er zur Sexualität als guter Gabe Gottes stand, und doch blieb sein Frauenbild, sein Familienbild, dem damals und heute Konservativen verhaftet. Im evangelischen Pfarrhaus war nicht immer viel von Freiheit zu spüren. Gendermainstreaming blieb fremd. Es ist noch gar nicht lange her, dass ich als einzige Frau in einem Gremium von fünf oder 50 Männern saß. Schwierig war es vor allem, wenn es um Sexualität ging, um § 218, sexuellen Missbrauch und Entschädigungserwartungen oder -forderungen sowie Umgang mit den Tätern. Es fällt auf, dass die vielfältigen Fragen der Homosexualität oder Trans16 Zur Wirkungslosigkeit freiwilliger Selbstverpflichtungen vgl. das Interview mit der Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages Ellen Ueberschär: „Angst vor Feminisierung der Kirche muss niemand haben“. Kirchentags-Generalsekretärin: Wir brauchen eine Quote für Führungsfunktionen, URL: https://www.evangelischefrauen-deutschland.de/home/402 (Stand 26.3.2019). 17 Vgl. Anne Jensen, Gottes selbstbewußte Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum? Freiburg i. Br./Basel u. a. 1992. Darin entfaltet Sie ein breites Spektrum der Teilhabe von Frauen in der frühen Kirche und verortet diese als Apostelinnen, Asketinnen, Märtyrerinnen, Prophetinnen und Lehrerinnen. In den letzten Jahren hat das Thema deutlich an Fahrt gewonnen, vgl. J. Cheryl Exum, Fragmented Women. Feminist (sub)versions of biblical Narratives, Sheffield 2015; Katharina Greschat, Gelehrte Frauen im frühen Christentum. Zwölf Porträts, Stuttgart 2015 (= Standorte in Antike und Christentum 6).
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sexualität in kirchlichen Debatten nicht selten von Frauen vorangetrieben wurden, da Männer fürchteten, schnell in den Verdacht des Schwulseins zu geraten. Dumme, diskriminierende Bemerkungen gab es nicht selten, auch über lesbische Frauen, hier meist als mitleidige Bemerkungen. Daran haben wir noch weiterhin zu lernen: Die Sexualität von Frauen und Männern, von Jugendlichen und älteren Menschen ist nicht zu allererst im jeweiligen juristischen Ordnungsrahmen mit Paragraphen-Drohungen zu sehen, auch nicht mit wortwörtlichen biblischen Versen einzuengen, sondern im individuellen Gestaltungsrahmen, vom Gewissen her und damit in Verantwortung vor dem Partner, der Partnerin und vor Gott. Ehrlichkeit ist hier vonnöten – und keine Heuchelei, keine Doppelmoral, keine Scheinheiligkeit. Manche Kirchen, manche Kirchenleute haben hier Nachholbedarf, in den Leitungen meist mehr als an der Basis. Der Rückblick auf die Geschichte wird vornehmlich aus der Perspektive der Sieger dargelegt, derer, die sich durchgesetzt haben, interessengeleitet. Das heißt: festgelegte Rollenbilder für Frauen und Männer, so wie sie sich eben bewährt hatten, mit der bekannten Aufteilung der Aufgaben und Chancen. Für uns, die wir die Reformation feiern, heißt es, kritisch die gesamte Tradition zu befragen, ad fontes. Da zeigt sich, dass auch damals sehr kompetente Frauen sich kirchlich und gesellschaftlich einbrachten, theologisch, politisch, mit Texten, die verbreitet wurden. Frauen waren nicht nur Familienglieder, und für die Familienarbeit konnten auch Männer zuständig sein – zum Beispiel Windeln waschen und für Kinder sorgen, wie Martin Luther einmal betonte. Es fällt auf, dass eine spezifische Männerarbeit in unserer Kirche und Gesellschaft ein Randthema geblieben ist und konsequent in die Genderarbeit eingebunden werden muss. Ich glaube: Im Himmel wird nicht auf das Geschlecht gesehen, sondern auf die Worte gehört, auf die Gedanken geachtet, auf die Taten der Liebe, auf unserer Hände Werk. Tröstlich, ermutigend. Wie gut wäre es, auch einen Maria-und-Martha-Tag zu haben, jener biblischen Schwestern, mit denen sich nicht Macht und Exklusivität verbinden, sondern Ergänzung. Maria hört zu und wird als theologisch interessierte Frau dargestellt und Martha als tätige Haushälterin. Zwar lobt Jesus in besonderer Weise Maria, aber er tadelt Martha nicht. Und es bleibt bemerkenswert, dass die späteren Kirchenleute den theologischen Part der Maria nicht auf Frauen übertrugen, dass die haushälterischen Belange aber den Frauen zugeordnet wurden, bis hin zu den Martha-Häusern, die sich um „gefallene“ Mädchen und Frauen zu kümmern hatten. Und dieses Gefallensein war meist durch sexuellen Missbrauch geschehen, stand unter Schande für die Frauen, deren Namen nicht zählten, wie auch die Namen derer, die dafür verantwortlich waren, meist geheim blieben.18 Die gefallenen Frauen waren Opfer der Männer. Dagegen wurden 18 Die moralische Abwertung wird schon in den zeitgenössischen Bezeichnungen ersichtlich, vgl. unter anderem Albert Hinze, Geschichte der Anstalten für die gefährdete und gefallene weibliche Jugend.
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Männer, die im militärischen Dienst gefallen waren, hoch geehrt, ihre Namen auf Stein und Metall festgehalten. Märtyrertod, Heldentod als Ehrensache. Da werde ich erinnert an die Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg – unvorstellbar, dass diese Festung und dieses grausame Gefängnis den Namen von Maria und Martha trügen! Nach ihnen sollte eine Einrichtung, die darauf zielt, jede Form von Diskriminierung zu überwinden und Differenzen auszuhalten und respektvoll aufzuzeigen, benannt werden. Fragen wir uns also in Ernsthaftigkeit, wo und wie wir unsere Kirche und unsere Gesellschaft weiterhin aus alten einengenden Bahnen und Dogmen herausbewegen und Freiheit schaffen mit allen Konsequenzen, Freiheit in Verantwortung, die uns handlungsfähig und sprachfähig macht, auch in den heute oft verworrenen Lebens- und Handlungsfeldern. Auf dass Rollenzuweisungen mehr und mehr überwunden werden. Dass das nicht leicht ist, weiß ich aus eigener Erfahrung nur allzu gut. Aber anders werden wir dem nicht gerecht, was die Reformation, was der christliche Glaube uns zumutet und zutraut.
Magdalenenstifte, Frauenheime, Versorgungshäuser, Kaiserswerth 1912, oder: Die verlorenen Töchter unseres Volkes und ihre Rettung. Ein Zeugnis aus der Arbeit. Von Hofprediger D. Baur, Seelsorger am Berliner Magdalenenstift, Berlin 1880.
I. Reformation – Geschlecht – Geschlechterordnung: Überlegungen aus der Schwellenzeit
Heide Wunder
Glaube und Geschlecht in der Vormoderne. Alte und neue Debatten
„500 Jahre Reformation“ sind der gegebene Anlass und Ansatzpunkt, grundsätzlich über das Verhältnis von „Glaube und Geschlecht in der Vormoderne“ nachzudenken. Die Reformation gilt als Wendepunkt in der Geschichte der westlichen christlichen Kirche mit weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Folgen; sie nimmt damit einen zentralen Platz im Erklärungsmuster der „Zeitenwende um 1500“ ein. Unter „Vormoderne“ verstehe ich die „Frühe Neuzeit“, den Zeitraum zwischen Reformation und Aufklärung/ Französischer Revolution,1 nicht, wie heute vielfach üblich, den gesamten Zeitraum vor der „Moderne“ von der Antike bis zur ‚Sattelzeit‘ (1750–1850).2 Gleichwohl spielt der Großraum „Vormoderne“ insofern eine wichtige Rolle für die christlichen Kirchen, als sich ihre Theologien auf der Basis der jüdischen Traditionen und in der Auseinandersetzung mit den Philosophen der Antike wie in der Abgrenzung von anderen religiösen Kulturen entwickelten. Die folgende Argumentation beruht zum einen auf der kritischen Rezeption der vorliegenden Forschungen zum Thema, zum anderen – angesichts kontroverser Positionen und Interpretationen – auf der unerlässlichen Re-Lektüre zentraler Quellen. Ich beschränke mich auf die für das Verhältnis von Glaube und Geschlecht grundlegenden Schriften Martin Luthers, andere reformatorische Bewegungen werden nur punktuell vergleichend herangezogen. Abschließend erörtere ich die Frage des Endes der Frühen Neuzeit für das Verhältnis von Glaube und Geschlecht.
1 Johannes Burkhardt, Frühe Neuzeit, in: Richard van Dülmen (Hg.), Das Fischer Lexikon Geschichte, Frankfurt a. M. 1990, S. 364–385; Winfried Schulze, Neuzeit, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 287–317; Thomas Kaufmann, Geschichte der Reformation in Deutschland. Durchgesehene, ergänzte und um einen Epilog anlässlich des Reformationsjubiläums erw. Neuausgabe, Berlin 2016, S. 20–32; aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive: Merry Wiesner-Hanks, Women and the Reformation. Reflections on Recent Research, in: History Compass 2 (2004), S. 1–27, hier: S. 8–10. 2 So z. B. die Definition des Zentrums Vormodernes Europa der Universität Tübingen: URL: https:// www.uni-tuebingen.de/forschung/zentren-und-institute/zentrum-vormodernes-europa/themen-und-ziele (Stand 9.4.2019).
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1. Reformation: Glaube und Geschlecht als Forschungsfeld Als religiöses Ereignis steht die Reformation für die Erneuerung von Glaube und Kirche, aber ob und in welcher Weise sie eine Erneuerung des Verhältnisses von Glaube und Geschlecht einschloss, ist umstritten. Nachdem diese Frage lange weder in der kirchennoch in der politikgeschichtlichen Erforschung der Reformation Beachtung gefunden hatte,3 gehörte sie schnell zu den Themen, die von der Frauen- und Geschlechterforschung in ihren verschiedenen disziplinären Ausprägungen mit je spezifischen erkenntnisleitenden Fragen und im Kontext wechselnder Forschungstrends („turns“) analysiert wurden.4 Dabei ging es sowohl um das „Sichtbarmachen“ von Frauen in zentralen Konstellationen des historischen Prozesses, also um Wissenszuwachs, als auch um das „Einschreiben“ von Frauen in die Geschichte als Selbstverortung dieser Forschungsrichtung in ihren jeweiligen Disziplinen. War in den 1970er-Jahren die „Frauengeschichte“ zunächst stark von den gesellschaftlichen Erfahrungen und Erwartungen der Historikerinnen geprägt, was in der Bewertung des reformatorischen Aufbruchs als emanzipatorischer Bewegung zum Ausdruck kam,5 hat sie sich im Zuge ihrer Akademisierung verwissenschaftlicht und ausdifferenziert. Insbesondere der Paradigmenwechsel von der Frauenforschung zur Geschlechterforschung mit „Geschlecht“ (gender) als Analysekategorie sozialer Differenz hat ihre gesellschaftliche Relevanz explizit gemacht.6 Bezeichnend für die frauen3 Ursula King, Religion and Gender. Embedded Patterns, Interwoven Frameworks, in: Teresa A. Meade/ Merry E. Wiesner-Hanks (Hg.), Companion to Gender History, Oxford 2006, S. 70–85; Ute Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantische Perspektiven, Tübingen 2006; vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band. 4 Bilanzen: Merry E. Wiesner-Hanks, Women, in: Hans J. Hillerbrand (Hg.), Oxford Encyclopedia of the Reformation, Bd. 4, Oxford/New York u. a. 1906, S. 290–298; Anne Conrad (Hg.), „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform, Münster 1999 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 59); Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann, Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002, S. 92–99; Merry E. Wiesner-Hanks, Women and Gender in Early Modern Europe, Cambridge 32008, S. 207–251, hier: S. 214–232; Martina Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement, Leipzig 2016 (= Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 55). 5 Vgl. Heide Wunder, Frauen in der Reformation. Rezeptions- und historiographiegeschichtliche Überlegungen, in: ARG 92 (2001), S. 303–320. 6 Vgl. Eva Labouvie, Was ist Geschlechtergeschichte?, in: Abhandlungen der Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung 19 (2004), S. 57–73; Andrea Griesebner, Feministische Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Wien 2005; Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./ New York 2010; Thomas Kühne, Männergeschichte als Geschlechtergeschichte, in: Ders. (Hg.), Männergeschichte – Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 7–30 (= Geschichte und Geschlechter 14); Martin Dinges, Geschlechtergeschichte mit Männern!, in: Ders. (Hg.), Hausväter, Priester und Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 7–28; Ders., ‚Hegemoniale Männlichkeit‘ – ein Konzept auf dem Prüfstand, in: Ders. (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M./New York u. a. 2005, S. 7–33; Gause, Kirchengeschichte, S. 95–101; Julia
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und geschlechtergeschichtliche Reformationsforschung ist die interdisziplinäre und konfessionsübergreifende Kooperation. Von Anfang an spielte der Vergleich von „reformatorischem Aufbruch“ mit der Katholischen Reform, die aus den gleichen Wurzeln entsprang, aber andere Handlungsoptionen für Männer und Frauen hervorbrachte,7 eine wichtige Rolle. Als Ergebnis der Forschung zeichnet sich ein breites Spektrum aktiver Teilnahme von Frauen aus allen Ständen insbesondere in der ersten Phase der Reformation bis 1525 ab, nicht nur als frühe Anhängerinnen und Unterstützerinnen oder Gegnerinnen8, sondern auch als Akteurinnen: so die Verfasserinnen von Flugschriften in Glaubensfragen wie die Freifrau Argula von Grumbach (1492–1554) und die Schösserin Ursula Weyda (vor 1510–nach 1565),9 so Nonnen, die sich der Reformation anschlossen10 oder auf der Beibehaltung ihres geistlichen Status bestanden,11 so Reichsgräfinnen und
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A. Schmidt-Funke, Reformation und Geschlechterordnung. Neue Perspektiven auf eine alte Debatte, in: Werner Greiling/Armin Kohnle u. a. (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620, Köln/Weimar u. a. 2015, S. 29–53, hier: S. 40–46 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 4); vgl. auch den Beitrag von Julia A. Schmidt-Funke in diesem Band. Anne Conrad, Aufbruch der Laien, Aufbruch der Frauen. Überlegungen zu einer Geschlechtergeschichte der Reformation und Katholischen Reform, in: Dies., „In Christo ist weder man noch weyb“, S. 7–22; vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band. Siehe z. B. Chronik der Katharina Weiss von Limburg, genannt Scheffers Kreinchen, in: Frankfurter Chroniken und annalistische Aufzeichnungen. Nebst einer Darstellung der Frankfurter Belagerung von 1552, bearb. von Rudolf Jung, Frankfurt a. M. 1888, S. 279–296 (= Quellen zur Frankfurter Geschichte 2); zur Autorschaft siehe ebd., S. XXII f. Vgl. Dorothee Kommer, Reformatorische Flugschriften von Frauen. Flugschriftenautorinnen der frühen Reformationszeit und ihre Sicht von Geistlichkeit, Leipzig 2013 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 40); vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band; Wilma Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst. Reformatorische Theologie in Texten von Frauen (1523–1558), St. Ingbert 2017 (= SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung 21). Besondere Beachtung hat Argula von Grumbach gefunden: Silke Halbach, Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften, Frankfurt a. M./Berlin u. a. 1992 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie 468); Peter Matheson (Hg.), Argula von Grumbach. Schriften, Gütersloh 2010 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 83); Ders., Argula von Grumbach. Eine Biographie, Göttingen 2014. Vgl. z. B. Alice Zimmerli-Witschi, Frauen in der Reformationszeit, Zürich 1981, S. 43–53, S. 57–73. Vgl. Ursula Hess, Caritas Pirkheimer (1467–1532), in: Kerstin Merkel/Heide Wunder (Hg.), Deutsche Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen, Darmstadt 2000, S. 19–38; Wolfgang Wüst, Caritas Pirckheimer (1467–1532). Die streitbare und intellektuelle Gegnerin der Nürnberger Reformation, in: Thomas Schauerte (Hg.), Neuer Geist und neuer Glaube. Dürer als Zeitzeuge der Reformation. Katalog zur Ausstellung der Stadt Nürnberg im Albrecht-Dürer-Haus vom 30. Juni–4. Oktober 2017, Petersberg 2017, S. 52–65, S. 206–216 (= Schriftenreihe der Museen der Stadt Nürnberg 14).
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Fürstinnen, die die neue Lehre in ihren Herrschaftsgebieten einführten12 – oder aber entschieden ablehnten, wie beispielsweise Margarethe von Anhalt (1473–1530)13 (vgl. Tafel 2). Weiterhin unentschieden ist jedoch die Bewertung der Folgen der Reformation für Frauen, insbesondere ob sie mehr kirchliche Teilhabe als in der römischen Kirche erhielten und ob sie ihre Stellung in der Ehe verbessern konnten. Julia A. SchmidtFunke, die sich mit diesen Fragen im Kontext der „negativen Implikationen der Reformation“ auseinandergesetzt, auch die Folgen für Männer einbezogen und den Akzent auf die „Geschlechterordnung“ gelegt hat, bilanzierte 2015, „dass das wichtigste Ergebnis der frauen- und geschlechtergeschichtlichen Reformationsforschung darin besteht, ein eindeutiges Urteil über die Auswirkungen der Reformation auf die Geschlechterordnung nicht fällen zu können.“14 Um dieser „alten Debatte“ neue Perspektiven zu öffnen, schlägt Schmidt-Funke einen mikrohistorisch-kulturgeschichtlichen Ansatz vor, während ich, entsprechend dem Thema dieses Bandes, bei der Geschichte des Glaubens und der Glaubenspraxis ansetze, um die Denk- und Sichtweisen der Akteure und Akteurinnen, der Reformatoren wie der „Christenmenschen“, stärker in die Diskussion einzubeziehen. Unter „Glaube“ verstehe ich sowohl das System von theologischen Aussagen mit ihrer Institutionalisierung in der Kirche als auch das persönlich angeeignete Wissen von Gott, die religiösen Haltungen und Praktiken der handelnden Subjekte. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche religiösen Hoffnungen im „reformatorischen Aufbruch“ zum Ausdruck kamen und was der Rückgriff der Reformatoren auf die Ursprünge des Christentums zur Erneuerung von Glaube und Kirche für das Christsein von Männern und Frauen bedeutete, aber auch, wo Grenzen dieser Erneuerung erkennbar werden. In diesem Fragehorizont ist es erlaubt, generell von ‚Männern‘ und ‚Frauen‘ zu sprechen, da 12 Vgl. Siegfried Bräuer, Katharina – evangelische Landesherrin in Sachsen (1487–1561), in: Yves Hoffmann/ Uwe Richter (Hg.), Herzog Heinrich der Fromme (1473–1541), Beucha 2007, S. 107–130; Eva Schlotheuber/Birgit Emich u. a. (Bearb.), Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (1510–1558). Herrschaft – Konfession – Kultur, Hannover 2011 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 132); Daniel Gehrt/Vera von der Osten-Sacken (Hg.), Fürstinnen und Konfession. Beiträge hochadeliger Frauen zu Religionspolitik und Bekenntnisbildung, Göttingen 2015 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 104); André Thieme (Hg.), Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Rochlitz, Bd. 1: Die Jahre 1505 bis 1532, Leipzig 2010 (= Quellen und Materialien zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 3/1); Jens Klingner, Die Korrespondenz der Herzogin Elisabeth von Rochlitz, Bd. 2: Die Jahre 1533 und 1534, Leipzig 2016 (= Quellen und Materialien zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 3/2). 13 Wilhelm Hosäus, Margaretha, Fürstin von Anhalt, in: ADB 20 (1884), S. 319 f., digitale Volltext-Ausgabe in: Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Margarethe_(F%C3 %BCrstin_von_Anhalt (Stand 6.4.2019); Heribert Smolinsky, Margarethe von Münsterberg, in: NDB 16 (1990), S. 157, URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd137338252.html#ndbcontent (Stand 27.3.2019). 14 Schmidt-Funke, Reformation und Geschlechterordnung, S. 53; so bereits Rüdiger Schnell, Text und Geschlecht. Eine Einführung, in: Ders. (Hg.), Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1997, S. 9–46.
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in der theologischen Argumentation vom männlichen und weiblichen Geschlecht ohne Ansehen des Standes die Rede ist. Allerdings, wie Männer und Frauen sich den neuen Glauben aneignen konnten, hing nicht allein von ihrer Persönlichkeit ab, sondern vor allem von ihrer ständischen Zugehörigkeit. Dies zeigt exemplarisch Nadja Bennewitz in ihrer Studie zur reformatorischen Bewegung in Nürnberg.15 Hier ist das Handeln der Patrizierinnen und ihrer Töchter in den Klöstern der Stadt sehr viel besser dokumentiert als das der Frauen aus dem Handwerkerstand; Händlerinnen werden nur greifbar, wenn sie sich als Verkäuferinnen von lutherischen Schriften strafbar gemacht haben. Insbesondere „Selbstzeugnisse“, die Auskunft über den Bildungsstand und die persönlichen Motive der Handelnden geben,16 fehlen für die einfachen Bürgerinnen, ganz zu schweigen von den Frauen der unterbürgerlichen Schichten, so dass der Rekurs auf das Konzept der „reformatorischen Öffentlichkeit“17 notwendig ist, um die schnelle Verbreitung des Wissens über die reformatorischen Lehren zu erklären. Da das Selbstverständnis der Menschen als Männer und Frauen um 1500 von der christlichen Anthropologie der Geschlechter geprägt war, seien kurz theologische Kernpositionen zum Geschlechterverhältnis, wie sie den Gläubigen von der spätmittelalterlichen Kirche mit Predigt18 und Bilddidaxe vermittelt wurden, in Erinnerung gerufen. Das große Arsenal an frauen- und ehefeindlichen Argumenten war auch in den gelehrten Humanistenkreisen bekannt und wurde zum Beispiel in dem viel gelesenen Ehebüchlein des Albrecht von Eyb (1420–1475)19 in aller Breite dargelegt, bevor schließlich doch die Argumente für das eheliche Leben den Ausschlag gaben.20 Die Gottesvorstellung des Christentums war (und ist) wie in anderen monotheistischen Offenbarungsreligionen dominant männlich konnotiert und impliziert eine Hierarchie 15 Vgl. Nadja Bennewitz, Handlungsmöglichkeiten und begrenzte Mitwirkung. Die Beteiligung von Frauen an der reformatorischen Bewegung in Nürnberg, in: Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte 68 (1999), S. 21–46, hier: S. 22. 16 Vgl. Kaspar von Greyerz, Das Haus als Ort der Andacht, in: Ders./Inken Schmidt-Voges (Hg.), Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, Berlin/Boston, S. 537–552. Selbst für Agnes Frey, die Ehefrau Albrecht Dürers, fehlt es an Selbstzeugnissen: siehe Ulrike Halbe-Bauer, Mein Agnes. Die Frau des Malers Albrecht Dürer. Biographischer Roman, Mühlacker/Irdning (Steiermark) 1996. 17 Rainer Wohlfeil, Einführung in die Geschichte der deutschen Reformation, München 1982, S. 123–133. 18 Vgl. Rüdiger Schnell, Geschlechtergeschichte und Textwissenschaft. Eine Fallstudie zu mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ehepredigten, in: Ders. (Hg.), Text und Geschlecht. S. 145–175; Ders., Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Probleme und Perspektiven eines Forschungsansatzes, in: Ders. (Hg.), Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der Frühen Neuzeit, Tübingen 1998, S. 1–58. 19 Vgl. Michael Dallapiazza, minne, husere und das ehlich leben. Zur Konstitution bürgerlicher Lebensmuster in spätmittelalterlichen und frühhumanistischen Didaktiken, Frankfurt a. M./Bern 1981, S. 131– 143 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 455). 20 Siehe auch Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft. Die Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt, Frankfurt a. M./New York 2011, S. 48–50.
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der Geschlechter, ein Über- und Unterordnungsverhältnis, das mit den entsprechenden Umdeutungen der Schöpfungserzählung21 legitimiert wurde. Im Christentum wird in der dominanten Interpretation der Schöpfungserzählung Eva als Zweiterschaffener eine geringere Gottebenbildlichkeit zugesprochen und ihrer „weiblichen Schwäche“ die Verführbarkeit durch die Schlange zugeschrieben: Dennoch war der Sündenfall die Schuld Adams, der sich von Eva verführen ließ, er ist es auch, der diese Sünde an die Nachkommen weitergab („Erbsünde“). Demgegenüber verheißt das Neue Testament, die zweite Berufungsinstanz für die Geschlechterordnung der christlichen Kirche, die Erlösung aller Gläubigen – gleich welchen Geschlechts – durch den Sühnetod Jesu Christi. Die schöpfungsgeschichtlich fundierten Geschlechterkonstruktionen begründeten zugleich einen zentralen Modus der Machtverteilung sowohl in der Institution Kirche wie „in der Welt“ als potenzielle Unterstellung aller Frauen unter männliche Vormundschaft.22 Die christliche Anthropologie legitimierte somit die Herrschaftsverhältnisse der mittelalterlichen Gesellschaft, die auf „Ordnung durch Ungleichheit“23 beruhten, als von Gott gegeben, wobei das Verhältnis von Mann und Frau das Modell für Über- und Unterordnung abgab – auch für das Verhältnis von „Herr und Knecht“. Die übergreifende Ungleichheit war jedoch die von Klerus („die Erwählten“) und Laien („Volk“) im Hinblick auf den „geistlichen Status“ und den Status in der Kirche. In dieser asymmetrischen Beziehung ging es vor allem um den Pfarrklerus, den die Priesterweihe ermächtigt, die Sakramente zu spenden und zu predigen. Allein Priester (und Mönche) hatten Zugang zur Heiligen Schrift und ihrer Auslegung; volkssprachliche Übersetzungen der Bibel wurden zwar von den Päpsten verboten, blieben aber unter den „gelehrten Laien“ im Umlauf.24 Insbesondere besaßen Priester als Delegation der päpstlichen „Schlüsselgewalt“ die Binde- und Lösegewalt, zum Beispiel im Rahmen des Bußsakraments von der Sündenschuld loszusprechen. Die damit verbundene Bußpraxis hielt mehrere Möglichkeiten bereit, die sich immer neu anhäufenden Sündenstrafen zu mindern und damit die Verweildauer im drohenden Fegefeuer zu verkürzen, vor allem den Ablass, den die Gläubigen aus dem von der Kirche angesammelten Gnadenschatz erwerben konnten. Im 21 Vgl. Helen Schüngel-Straumann, Die Frau am Anfang. Eva und die Folgen, Freiburg i. Br./Basel u. a. 1989; Dies., Eva. Biblisch, in: Elisabeth Gössmann/Beate Wehn (Hg.), Wörterbuch der Feministischen Theologie, Gütersloh 22003; S. 125–128; Elisabeth Gössmann, Eva. Theologiegeschichtlich, in: ebd., S. 128–131; Dies., Anthropologie, in: ebd., S. 18–23. 22 Vgl. dagegen Alfred Haverkamp (Hg.), Haus und Familie in der spätmittelalterlichen Stadt, Köln/Weimar u. a. 1984 (= Städteforschungen Reihe A: Darstellungen 18). 23 Ich variiere hier: Gerhard Dilcher, Die Ordnung der Ungleichheit. Haus, Stand und Geschlecht, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 55–72. 24 Volker Honemann, Der Laie als Leser, in: Klaus Schreiner/Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge, München 1992, S. 241–251 (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 20).
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15. Jahrhundert wurde das Vertrauen der Gläubigen in die Würdigkeit des Weltklerus erschüttert, weil er vielfach seine Gelübde brach und innerkirchliche Reformforderungen nicht durchsetzbar waren.25 Die intensive „Laienfrömmigkeit“ am Vorabend der Reformation hat nicht zuletzt in dieser Krise der Kirche ihre Ursachen.26
2. „darumb seyn all Christen man pfaffen, alle weyber pfeffyn”27 Was machte die Attraktion der neuen Lehre Martin Luthers und der anderen Reformatoren für die Gläubigen, für Frauen und Männer aus? Der Mönch und Theologe Luther steht als Exponent von Erfahrungen, die er mit Vielen teilte, nicht allein die existenziellen Bedrohungen in „riskierten Zeiten“ (Paul Münch), sondern vor allem die spirituellen Bedrohungen – die Ungewissheit über die Erlangung der Erlösung und des ewigen Lebens. Daher ist es kaum verwunderlich, dass der skandalöse Ablasshandel zum Auslöser der Reformation wurde. Luthers 95 Thesen vom 31. Oktober 1517 gegen den Missbrauch des Bußsakraments im Ablasshandel waren eigentlich innerkirchlich adressiert, wurden aber sofort in gelehrten Laienkreisen rezipiert und wohl bereits Anfang 1518 ins Deutsche übersetzt und gedruckt. Luther selbst hat im Frühjahr 1518 in dem kurzen „Sermon von Ablaß und Gnade“28 zur schnellen Verbreitung beigetragen und damit einen Nerv der geängstigten Gläubigen getroffen. Seine Erkenntnis, dass Christen allein durch den Glauben (sola fide) und die Gnade Gottes (sola gratia) „gerecht“ gesprochen werden, nicht durch gute Werke,29 war zentral für die Heilserwartung der Gläubigen. Zugleich war hier der Ansatzpunkt, die Autorität der Kirche und des Papstes, weil angemaßt und nicht auf das Neue Testament gestützt, grundsätzlich in Frage zu stellen. Die für das Verhältnis von Glaube und Geschlecht bahnbrechende Neuerung zeichnete sich 1520 im „Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe“ ab, in dem Luther darlegte, „das nit allein der priester die meß opffert, ßondern eynis yglichen solcher eigener glaub, der ist das rechtt priesterlich ampt, durch wilchs Christus wirt fur 25 Vgl. Hans-Jürgen Goertz, Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 1995; Marjorie Elizabeth Plummer, From Priest’s Whore to Pastor’s Wife. Clerical Marriage and the Process of Reform in the Early German Reformation, Farnham/Burlington 2012, Kapitel 1. 26 Vgl. Klaus Schreiner, Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? in: Ders./Müller-Luckner (Hg.), Laienfrömmigkeit, S. 1–78. 27 D. Martin Luthers Werke, WA 6, 370 (Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe, 1520). 28 WA 1, 243–246, siehe dazu Kaufmann, Geschichte, S. 210–215. 29 Vgl. Berndt Hamm, Warum wurde für Luther der Glaube zum Zentralbegriff des christlichen Lebens? in: Bernd Moeller/Stephen E. Buckwalter (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, S. 103–127 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199).
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gott geopfert, wilchs ampt der priester mit den euserlichen geperden der meß bedeutet, und sein alßo alsamt gleych geystliche priester für gott.“ Im folgenden Absatz heißt es explizit: „darumb seyn all Christen man pfaffen, alle weyber pfeffyn“30. Zur Bekräftigung verwies er auf Prophetinnen im Alten Testament, die Paulus anführt. Im gleichen Jahr 1520 formulierte Luther diese Einsicht in der in vielen Auflagen verbreiteten Flugschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“31 als „Priestertum aller Gläubigen“ – gleich ob Mann oder Frau. Mit diesem Rückgriff auf den Apostel Paulus (Gal. 3,26–29 mit Berufung auf den Propheten Joel 2. Kapitel: „Ich werde ausgießen von meinem Geist über alles Fleisch und eure Söhne und Töchter werden weissagen …“) eröffnete sich den bisherigen ‚Laien‘, Männern und Frauen, ein unmittelbarer Zugang zu Gott – ohne die Vermittlung der Kirche. Denn die Taufe verleiht den Status des allgemeinen Priestertums und umfasst daher auch die Fähigkeit, das geoffenbarte Wort Gottes richtig zu verstehen. Für die Glaubenspraxis „in der Welt“ machte Luther jedoch einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, indem er zwischen der individuellen und der gemeindeöffentlichen Glaubenspraxis unterschied: Die öffentliche Verkündigung, also das Predigen in der Kirche, sei ein Amt, das sich die Einzelnen nicht anmaßen dürften, vielmehr solle die Gemeinde darüber entscheiden,32 und zwar indem sie einen „gelereten frumenn burger“33 als Diener am Wort in dieses Amt wählt. Auf die Kritik der „Papisten“, er habe Paulus’ Schweigegebot für Frauen (I Kor. 14, 33b–36) missachtet, antwortete er, indem er sich 1521 in „Vom Mißbrauch der Messe“ mit den verschiedenen Referenzstellen bei Paulus (I Kor. 11, 14; 2. Tim. 2,2) sowie in Genesis 3,16 eingehend auseinandersetzte: „Darum foddert die ordnung, tzucht unnd eher, das weyber schweygen, wenn die menner reden; wenn aber keyn mann predigt, ßo werß von nötten, das die weyber predigten.“34 Luther löste also den scheinbaren Widerspruch, indem er sich zum einen an der schöpfungsgeschichtlich festgelegten Rangfolge der Geschlechter orientierte, d. h. an erster Stelle Männer, danach Frauen, zum anderen zwischen dem Grundsatz des allgemeinen Priestertums aller Christenmenschen und dem Wahlamt des Predigers/Pfarrers unterschied. In dieser Argumentation verband Luther spirituelle Gleichheit von Mann und Frau mit dem „in der Welt“ geltenden Über- und Unterordnungsverhältnis von Mann und Frau; dabei verwies er explizit auf den Apostel Paulus, hatte aber sicher auch den in den städtischen und ländlichen Gemeinden üblichen Wahlmodus für politi30 WA 6, 370 (Ein Sermon von dem neuen Testament, das ist von der heiligen Messe, 1520). 31 Thomas Kaufmann, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, Tübingen 2014 (= Kommentare zu den Schriften Luthers 3). 32 WA 6,408, 13–21. 33 WA 6,440, 30–36. 34 WA 8, 497 f., hier: 498.
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sche Ämter vor Augen, nach dem nur die männlichen Inhaber der aktiven Bürgerrechte wahlberechtigt waren.35 In diesem Kontext gesehen erscheint die gängige Meinung wenig plausibel, dass lutherisch gesinnte Frauen vom Priestertum aller Gläubigen erwarteten, zur öffentlichen Verkündigung in der Kirche zugelassen zu werden. Bislang gibt es nur vereinzelte Belege dafür, dass sie die Kanzel bestiegen oder besteigen wollten,36 während dies bei ‚radikalen‘ reformatorischen Bewegungen wie den Täufern keine Ausnahme darstellte.37 Tatsächlich ging es den Frauen – so meine These – nicht um ‚Gleichberechtigung‘, sondern um den allen Getauften gegebenen Status des Christenmenschen, die religiöse Vergewisserung über den unmittelbaren Zugang zum Wort Gottes und um die Hoffnung auf Erlösung (sola gratia, sola fide und sola scriptura). Diese These legt nahe, die Wirksamkeit Argula von Grumbachs etwas anders als bisher zu bewerten. Sie sah sich als Christenmensch und durch ihre Lektüre der Heiligen Schrift befähigt und legitimiert, mit den Gelehrten der Universität Ingolstadt zu disputieren, nachdem kein Mann das Wort ergriffen hatte. Daher verwundert es, dass sie ebenso wie die Straßburger Pfarrersfrau Katharina Zell (1498–1562) in der Fachliteratur als „Laientheologin“, also mit dem modernen Verständnis von „Laie“ als Gegenbegriff zum „Gelehrten“, klassifiziert wird, was eindeutig im Widerspruch zum Priestertum aller Gläubigen steht. Die Abwertung des weiblichen Christenmenschen, der „pfeffyn“ und der „episcopae“,38 findet sich ebenfalls im Hinblick auf die Sakramente, denn grundsätzlich haben alle Getauften und Gläubigen die Fähigkeit, die Sakramente – Taufe und Abendmahl – zu spenden und die Beichte abzunehmen.39 Luther zufolge sind es pragmatische Gründe, dafür an erster Stelle Männer und Frauen erst an zweiter Stelle vorzusehen, für den Fall, dass keine Männer verfügbar sind. Diese Klausel verlor freilich in dem Maß an Bedeutung, als sich der neue Pfarrer stand als Teil des Gelehrtenstandes mit einem eigenen Amtsverständnis etablierte,40 so dass meist keine „Not am Mann“ war.
35 Vgl. auch Peter Blickle, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985, S. 135–138. 36 Vgl. Bennewitz, Handlungsmöglichkeiten, S. 43. 37 Vgl. Marion Kobelt-Groch, Katharina Kreutter hält Messe, des Schneiders Tochter predigt, und die Müllerin liest in Willis Haus. Täuferinnen und das Priestertum aller Gläubigen, in: Dies., Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen, Frankfurt a. M./New York 1993 (= Geschichte und Geschlechter 4), S. 147–163. 38 Zitiert nach Gause, Kirchengeschichte, S. 141. 39 WA 6,407, 28–408; vgl. Gause, Kirchengeschichte, S. 154. 40 Vgl. Luise Schorn-Schütte, Evangelische Geistlichkeit in der Frühneuzeit, Gütersloh 1996 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 62).
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3. Ehe in der Oeconomia Christiana Eine weitere Konsequenz der Neubegründung des Christseins auf dem Priestertum aller Getauften bezog sich zunächst auf den ehemaligen Klerikerstand, wirkte sich aber generell auf das Verhältnis von „Glaube und Geschlecht“ aus, denn es handelte sich um die Ehe, die bis dahin als Lebensmodell der Laien gegolten hatte. In der Auseinandersetzung um die „Priesterehe“ stellt sich Luther der Herausforderung, neu zu definieren, wie ein gottgefälliges, auf die Heilige Schrift gegründetes Leben zu gestalten sei.41 Dafür bot sich die Ehe an, die schon im Verständnis des Mittelalters als „erste Ordnung Gottes“ galt und daher „heilig“ war;42 allerdings galt sie nur als „remedium für die Schwachheit der Menschen“ (Paulus), während Keuschheit und Ehelosigkeit der gnadenreichere Zustand waren. Luthers Neubestimmung der Ehe für Christenmenschen und deren institutionelle Konsequenzen umfassten mehrere Aspekte: (1) Die Ehe wurde wieder, was sie bis zum 2. Laterankonzil 1215 gewesen war, ein „weltlich ding“ und konnte, weil sie den Status eines Sakraments verloren hatte, nach klar definierten Kriterien geschieden werden, und zwar mit dem Recht der Wiederverheiratung des schuldlosen Teils.43 Zugleich war die Konkurrenz von geistlicher und weltlicher Ehegerichtsbarkeit mit je eigenen Prinzipien beseitigt, die Kläger wie Beklagte bis dahin nutzten und die Frauen, die vor geistlichen Gerichten um die Einhaltung eines Eheversprechens klagten, oft zu ihrem Recht verholfen hatte. Diese Entwicklung entsprach ganz den Interessen vor allem städtischer Obrigkeiten, die zum Beispiel in Frankfurt bereits 1411 vom zuständigen Mainzer Erzbischof Johann von Nassau (um 1360–1419) die geistliche Gerichtsbarkeit in Fällen von Ehebruch, Unzucht und Inzest gekauft hatten, um ihre Vorstellungen einer sittlichen Ordnung durchzusetzen.44 (2) Da Gott die Menschen als geschlechtliche Wesen geschaffen hatte, um als Mann und Frau das göttliche Gebot „seid fruchtbar und mehret euch“ zu erfüllen, gehörte Geschlechtlichkeit zur von Gott gewollten „Natur“ des Menschen. „Wahre Keuschheit“ war somit der sittliche Umgang von Mann und Frau mit ihrem Begehren in der 41 Thomas Kaufmann, Ehetheologie im Kontext der frühen Wittenberger Reformation, in: Andreas Holzem/ Ines Weber (Hg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn/München u. a. 2008, S. 285–299; vgl. auch den Beitrag von Christian Volkmar Witt in diesem Band. 42 Vgl. Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft. S. 179. 43 Vgl. Luise Schorn-Schütte, Wirkungen der Reformation auf die Rechtsstellung der Frau im Protestantismus, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, S. 94–104; vgl. aus der Perspektive der Rezeption des Römischen Rechts Elisabeth Koch, Die Frau im Recht der Frühen Neuzeit. Juristische Lehren und Begründungen, in: ebd., S. 73–93. 44 Vgl. Bettina Günther, Sittlichkeitsdelikte in den Policeyordnungen der Reichsstädte Frankfurt und Nürnberg (15.–17. Jahrhundert), in: Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 121–148 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 129).
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Ehe. Daher sollten möglichst alle erwachsenen Männer und Frauen verheiratet sein, um Unzucht zu vermeiden. (3) Aus diesem Ehekonzept folgte, dass die Trauung in der Kirchenöffentlichkeit vor dem Altar in Anwesenheit der Gemeinde stattfand und „heimliche Ehen“, die allein auf dem wechselseitigen Konsens von Braut und Bräutigam beruhten, nicht mehr gültig waren. Es richtete sich zugleich gegen das nichteheliche Zusammenleben von Frau und Mann (Konkubinat) sowie gegen die Prostitution, die als „Unzucht“ in Ehe- und Kirchenordnungen verboten und von geistlichen wie weltlichen Gerichten geahndet werden sollten. Unter „Unzucht“ fielen aber auch die Formen der traditionellen Eheanbahnung und das Recht Verlobter, nach dem Eheversprechen den Geschlechtsverkehr aufzunehmen. Hier entstand ein permanentes Konfliktpotenzial.45 (4) Das „Priestertum aller Gläubigen“ eröffnete dem Ehepaar ein neues Feld der Glaubenspraxis, indem Glaube und Lebensführung eng miteinander verflochten werden sollten. Ehemann und Ehefrau sollten nicht nur „ein Fleisch“ sein, sondern auch „im Geiste Freunde“ werden46 und gemeinsam „den Glauben ins Leben ziehen“47. Dieses Gebot bezog sich auf die persönliche Gebetspraxis und das gemeinsame Beten und Singen aller Haushaltsangehörigen, insbesondere aber auf die christliche Erziehung der Kinder. Eine solche „Hauskirche“ als zweites Zentrum der Glaubenspraxis neben der lokalen Kirchengemeinde unterschied die neue Oeconomia Christiana48 vom herkömmlichen ehelichen Haushalt, wie er sich seit dem hohen Mittelalter mit dem Ehe- und Arbeitspaar als Kern in den Städten ausgebildet hatte49 und im 15. Jahrhundert als Ort von „er und frumkait“ die Grundlage einer gesegneten Ehe darstellte.50 In der Oeconomia Christiana verbindet sich somit die theologische Neubewertung der Ehe mit den Sitt45 Vgl. Siegrid Westphal/Inken Schmidt-Voges u. a. (Hg.), Venus und Vulcanus. Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit, München 2011 (= biliothek altes Reich 6). 46 Gerta Scharffenorth, „Im Geiste Freunde werden“. Mann und Frau im Glauben Martin Luthers, in: Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 97–108. 47 Diese Handlungsanweisung formulierte Gerta Scharffenorth, Den Glauben ins Leben ziehen … – Studien zu Luthers Theologie, München 1982, S. 51, in Anlehnung an Luthers „Magnificat verdeutschet und ausgelegt“ (1521), WA 7, 574: „Es ist leichtlich gesagt, aber hoh zugleuben unnd ynsz leben zihen.“ 48 Vgl. Ute Gause/Stephanie Scholz (Hg.), Ehe und Familie im Geist des Luthertums. Die Oeconomia Christiana (1529) des Justus Menius, Leipzig 2012 (= Historisch-theologische Genderforschung 6). 49 Vgl. Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 96–98. 50 Heide Wunder, „iusticia, Teutonice fromkeyt.“ Theologische Rechtfertigung und bürgerliche Rechtschaffenheit. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte eines theologischen Konzepts, in: Moeller/Buckwalter (Hg.), Die frühe Reformation, S. 307–332, hier: S. 319; vgl. Dies., Marriage in the Holy Roman Empire of the German Nation from the Fifteenth to the Eighteenth Century. Moral, Legal and Political Order, in: Silvana Seidel Menchi (Hg.) with the Collaboration of Emlyn Eisenach, Marriage in Europe 1400–1800, Toronto/Buffalo 2016, S. 61–93, hier: S. 64–67.
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lichkeitsbestrebungen der spätmittelalterlichen städtischen Laiengesellschaft, in der die Ehe eine sozial hoch bewertete Lebensperspektive war. Diese „normative Zentrierung“51 erklärt die große Resonanz, die Luthers Ehevorstellungen fanden. (5) Die „normative Zentrierung“ in der Oeconomia Christiana als sozialem Ort der Verchristlichung des Lebens verlieh jedoch auch den tradierten christlichen Verhaltensregeln neuen Nachdruck. Den langen Katalog dieser Tugendanforderungen hat Hans Sachs (1494–1576) in einem Gedicht zu „Frumkeit“ aufgezählt,52 sie bezogen sich in gleicher Weise auf Männer wie Frauen, kollidierten aber bei den Männern mit vorfindlichen Männlichkeitsvorstellungen, wie den Trinkgewohnheiten der Handwerksgesellen, die sich keineswegs an den christlichen Tugenden orientierten.53 Dem entspricht die Selbstdarstellung des schlesischen Ritters Hans von Schweinichen (1522–1616) in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Zwar präsentierte er sich als überzeugter Lutheraner, aber die Männlichkeitsvorstellung seines Standes konnte er nur schwer mit der geforderten Mäßigkeit im Trinken vereinbaren, auch das buchhalterische Protokollieren seiner Räusche half nicht gegen diese Untugend. Doch er war weder rauflustig oder gewalttätig noch ließ er seinen Begierden freien Lauf. Vielmehr ging er – wie seine Braut – als Jungfrau in die Ehe.54 Für Ehefrauen stellte die biblisch mit dem Sündenfall begründete Gehorsamspflicht gegenüber dem Ehemann die größte Herausforderung dar. Sie wurde der Braut bei der Trauung in der Kirche eingeprägt55 und in der „Oeconomia Christiana“ (1529), die der Theologe Justus Menius (1499–1558) der Kurfürstin Sybille von Sachsen (1512–1554) 51 Berndt Hamm, Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation, Göttingen 1996, S. 73–76. 52 „Frümkeit ist ghorsam, und demütig, Diensthafft, holdtselig, trew und gütig, Friedtlich, auffrichtig und mitsam. Stil, warhafft, verschwiegen, genügsam, Bescheiden, senfftmütig, gerugsam Messig und züchtig alle zeyt.“ Zitiert nach Barbara Könneker, Die Ehemoral in den Fastnachtspielen von Hans Sachs. Zum Funktionswandel des Nürnberger Fastnachtspiels im 16. Jahrhundert, in: Horst Brunner (Hg.), Hans Sachs und Nürnberg. Bedingungen und Probleme reichsstädtischer Literatur. Hans Sachs zum 400. Todestag am 19. Januar 1976, Nürnberg 1976, S. 219–244, hier: S. 235 (= Nürnberger Forschungen 19). 53 Vgl. Lyndal Roper, Saufen, Fressen, Huren. Disziplinlosigkeit und die Ausbildung protestantischer Identität, in: Dies., Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 147–169. 54 Vgl. Heide Wunder, Überlegungen zur Konstruktion von Männlichkeit und männlicher Identität in Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit. Hans von Schweinichen (1552–1616) in seinem „Memorial“, in: Doris Ruhe (Hg.), Geschlechterdifferenz. Texte, Theorien, Positionen. Kolloquium des Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald, Würzburg 2000, S. 151–171, hier: S. 163 f. 55 Vgl. Martin Luther, Ein Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherrn, 1529, WA 30, 3, 79.
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widmete, ausführlich mit Bibelzitaten begründet.56 Ein Verstoß gegen diese Pflicht stellte die Autorität des Ehemanns in Frage und konnte von ihm mit Züchtigungen geahndet werden; auch willkürliche Züchtigungen sollten demütig und klaglos ertragen werden. Doch auch der Bräutigam wird bei der kirchlichen Trauung ermahnt: Ihm wird vor Augen geführt, dass die Ehefrau „sein eigen Fleisch“ sei und er sie daher wie sich selbst lieben müsse. Die Gehorsamspflicht der Ehefrau dokumentiert vor allem das innereheliche Konfliktpotenzial, das auch in den Rügebräuchen und in den populären literarischen und bildlichen Darstellungen des „Kampfs um die Hosen“ (vgl. Abb. 1) und der „Weibermacht“ thematisiert wurde.57 Diese „Verkehrte Welt“ erschien als besonders bedrohlich, weil der innereheliche Unfrieden zugleich den „Hausfrieden“58 gefährdete und damit die Ordnung im Haus, die Grundlage des „gemeinen Wesens“. Dieser Unterordnung der Ehefrau entgegen steht jedoch ihre Position als „Hausmutter“ im christlichen Haushalt, denn sie teilte die Hausherrschaft mit dem Hausvater: Kinder und Gesinde schuldeten ihr Gehorsam. Befehl – Gehorsam war also keine für das Ehepaar spezifische Beziehungskonstellation, sondern galt generell in der ständischen Gesellschaft, ohne sie schien keine Ordnung herstellbar: nicht nur im Verhältnis von Kindern und Eltern, wie in den Zehn Geboten festgelegt, sondern ebenso im konfliktanfälligen Verhältnis von Gesinde und Hausherrschaft.59 Das Haus war kein „Privatraum“, sondern ein Herrschaftsraum und damit die kleinste Öffentlichkeit.60 Diese Gehorsamspflicht galt selbstverständlich nicht für Witwen, die allein ihrem Haushalt vorstanden.
56 Vgl. Gause/Scholz, Ehe und Familie, S. 77–94. 57 Vgl. Sigrid Metken, Der Kampf um die Hose. Geschlechterstreit und die Macht im Haus. Die Geschichte eines Symbols, Frankfurt a. M./New York 1996; Lyndal Roper, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg, Oxford 1989, S. 258–260. 58 Inken Schmidt-Voges, „Si domus in pace sunt …“. Zur Bedeutung des ‚Hauses‘ in Luthers Vorstellungen vom weltlichen Frieden, in: Luther-Jahrbuch 78 (2011), S. 153–186; Dies., Mikropolitiken des Friedens. Politisch-soziale Ordnung und häusliche Konflikte in der Frühen Neuzeit, in: Dies. (Hg.), Pax perpetua. Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit, München 2010, S. 197–218 (= bibliothek altes Reich 8). 59 Vgl. Renate Dürr, Mägde in der Stadt. Das Beispiel Schwäbisch Hall, Frankfurt a. M./New York 1995 (= Geschichte und Geschlechter 13); Adolf Spamer, Der Bilderbogen von der geistlichen Hausmagd. Ein Beitrag zur Geschichte des religiösen Bilderbogens und der Erbauungsliteratur im populären Verlagswesen Mitteleuropas, bearb. und mit einem Nachwort versehen von Mathilde Hain, Göttingen 1970 (= Veröffentlichungen des Instituts für mitteleuropäische Volksforschung an der Philipps-Universität Marburg-Lahn 6). 60 Daher kann ich Lyndal Ropers These von der „Domestikation“ (d. h. ‚Verhäuslichung‘) der Frauen als Folge der Reformation nicht teilen. Aufgrund der Analyse der Fürsorge für Frauen bei Schwangerschaft und Geburt schränkt Gause, Kirchengeschichte, S. 148 f., die Reichweite der Domestikationsthese ein.
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Abb. 1: Der Kampf um die Hose (Das böse Weib), aus der zwölfteiligen „Folge aus dem Alltagsleben“, Kupferstich von Israhel van Meckenem (um 1440/1445–1503), [1497]
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4. Einige Folgerungen Die Erneuerung des Verhältnisses von Glaube und Geschlecht war Teil der reformatorischen Erneuerung des Glaubens.61 (1) Mit dem Priestertum aller Getauften/Gläubigen, das in der spätmittelalterlichen Theologie eine Minderheitenposition dargestellt hatte,62 gewannen die Christenmenschen, Frauen wie Männer, ‚Christenrechte‘, in deren gemeindeöffentlicher Ausübung als „Amt“ Christinnen allerdings den Christen nachstanden, von denen sie aber nicht ausgeschlossen waren. Diese Rangfolge ist nicht erst mit der Institutionalisierung in der reformatorischen Kirche entstanden, sondern bei Luther von Anfang an in seiner Adelsschrift (1520) angelegt. Theologisch ist das Priestertum aller Gläubigen das Äußerste, was an spiritueller Gleichheit der Geschlechter denkbar war, denn das Beiseiteschieben der ja auf Paulus zurückgehenden Tradition der Interpretation des Sündenfalls als „Erbsünde“ (heute: „Ursünde“) hätte dem Christentum, das auf der Erlösung von „Adams Schuld“ durch Jesus Christus beruht, seine Grundlagen entzogen. Trotz seiner Grenzen hat das Priestertum aller Gläubigen für beide Geschlechter, besonders aber für Frauen, in der Frühen Neuzeit – bis in die Gegenwart – eine bleibende Dynamik entfaltet, wann immer eine Orthodoxie oder das Eigeninteresse des Pfarrerstandes es unternahmen, die Gläubigen von den Wurzeln des Glaubens abzuschneiden und zu entmündigen. (2) Die Neudefinition der Ehe als Gott wohlgefälligem Lebensmodell und als Kern der Oeconomia Christiana bedeutete für die Eheleute/Hauseltern die Aufwertung ihres spirituellen wie ihres sozialen Status, verbunden mit neuer Verantwortung für sich und die Haushaltsangehörigen. Die Ehefrau/Hausmutter gewann eine religiöse Zuständigkeit in der Hauskirche, vor allem für die christliche Erziehung der Kinder. (3) Bisher zu wenig beachtet wurde die Gewissensfreiheit, die Ehefrauen gegenüber der Autorität des Ehemannes erlangten. Bereits Argula von Grumbach bestritt ihrem Gemahl das Recht, ihr in Glaubensfragen Vorschriften machen zu dürfen.63 Bei den Täufern war sogar eine Ehescheidung wegen Glaubensverschiedenheit möglich. Besonders aufschlussreich für das Verhältnis von „Glaube und Geschlecht“ sind konfessionsverschiedene Ehen,64 die bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in fränkischen 61 Vgl. die systematische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Forschungspositionen bei Rademacher- Braick, Frei und selbstbewusst, S. 564–592. 62 Vgl. Ida Raming, Stellung und Wertung der Frau im kanonischen Recht, in: Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts, S. 698–712, hier: S. 703. 63 „Ich bin jm in disem nit schuldig zuo gehorsam sein.“ Zitiert nach Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst, S. 486. 64 Vgl. Dagmar Freist, Glaube – Liebe – Zwietracht. Religiös-konfessionell gemischte Ehen in der Frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2017 (= bibliothek altes Reich 14).
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Städten65 und seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vor allem für adelige und fürstliche Paare belegt sind. In den Eheverträgen wurde den Ehefrauen die freie Glaubensausübung garantiert,66 während die Frage der religiösen Erziehung der Kinder bei innerprotestantischen Ehen ausgehandelt wurde, in protestantisch-katholischen Ehen jedoch in der Regel die katholische Erziehung der Kinder entsprechend dem katholischen Eherecht festgelegt war. In welche religiösen Konflikte dies die Mutter stürzen konnte, dokumentiert die Ehe zwischen der reformierten Gräfin Maria von Nassau-Katzenelnbogen (1568–1625) und dem lutherischen Grafen Johann Ludwig von Nassau-WiesbadenIdstein (1564–1596).67 Auch bei einer Konversion des Gemahls „in stehender Ehe“ konnte die Gemahlin nicht zur Konversion gezwungen werden. Als Graf Johann Ludwig von Nassau-Hadamar (1590–1653) konvertierte, stand seine Gemahlin Gräfin Ursula von Lippe (1598–1638) zu ihrem calvinistischen Glauben und erhielt freie Religionsausübung für sich und die Töchter – aber nicht für die Söhne; die eheliche Gemeinschaft mit dem konvertierten Gemahl blieb gleichwohl erhalten.68 (4) Zu den negativen Folgen des „Priestertums aller Gläubigen“ wird die Aufhebung der Frauenklöster gerechnet, weil Frauen damit die Möglichkeit verloren, ein spirituelles, weltabgewandtes Leben als Alternative zum ehelichen Leben zu wählen. Diese Bewertung bedarf der Modifizierung.69 Denn der Eintritt in ein Kloster wurde in der Regel von der Herkunftsfamilie festgelegt; nur wenn Witwen statt einer Wiederverheiratung das Kloster wählten, kann von einer eigenständigen Entscheidung für das Klosterleben gesprochen 65 Vgl. Hans-Christoph Rublack, Zur Sozialstruktur der protestantischen Minderheit der geistlichen Residenz Bamberg am Ende des 16. Jahrhunderts, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.) in Verbindung mit Peter Alter und Robert W. Scribner (Hg.), Stadtbürgertum und Adel in der Reformation. Studien zur Sozialgeschichte der Reformation in England und Deutschland, Stuttgart 1979, S. 130–148. 66 Vgl. Anke Hufschmidt, „den Krieg im Braut-Bette schlichten“. Zu konfessionsverschiedenen Ehen in fürstlichen Familien der Frühen Neuzeit, in: Jens Flemming/Pauline Puppel u. a. (Hg.), Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, S. 333–355 (= Kasseler Semesterbücher 14). 67 Vgl. Silvia Böhnert, Multikonfessionalität als dynastisches Problem im Haus Nassau um 1600. Die konfessionsverschiedene Ehe zwischen Johann Ludwig von Nassau-Wiesbaden-Idstein und Maria von Nassau-Katzenelnbogen, in: Heide Wunder/Alexander Jendorff u. a. (Hg.), Reformation – Konfession – Konversion. Adel und Religion zwischen Rheingau und Siegerland im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2017, S. 245–276 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 88). 68 Vgl. Lorenz Baibl, Neuer Glaube, neue Elite? Grafenkonversionen und ihre Auswirkungen auf die Führungsschicht in Nassau-Hadamar und Nassau Siegen, in: Wunder/Jendoff u. a. (Hg.), Reformation, S. 191–215, hier: S. 200 f. 69 Zu neuen Perspektiven der Forschung siehe den Bericht über die von Eva Schlotheuber und Sigrid Hirbodian geleitete Tagung des Konstanzer Arbeitskreises „Zwischen Klausur und Welt. Autonomie und Interaktion spätmittelalterlicher geistlicher Frauengemeinschaften“, in: H-Soz-Kult, URL: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7422 (Stand 27.3.2019); siehe auch Milena Svec Goetschi, Klosterflucht und Bittgang. Apostasie und monastische Mobilität im 15. Jahrhundert, Köln/Weimar u. a. 2015 (= Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 7), besonders S. 103–105, S. 155–169, S. 297–314.
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werden. Die kleinen Töchter, die oft mit vier oder sechs Jahren zur Erziehung in ein Kloster gegeben wurden, hatten keine Alternative kennengelernt, wenn die Ablegung der Gelübde anstand. Zudem ist zu bedenken, dass das Klosterleben keineswegs ‚herrschaftsfrei‘ war: Die Nonnen waren in eine strenge Gebetspraxis eingebunden und unterstanden der ‚Zucht‘ von Äbtissin und Priorin. Allerdings, die Töchter des Adels fanden im Kloster meist andere nahe Verwandte vor, mit denen gemeinsam sie ein durchaus standesgemäßes Leben führten.70 Die Schließung der Klöster wirkte sich unterschiedlich auf die Klosterfrauen der verschiedenen Stände aus. Abgesehen von der Landgrafschaft Hessen, wo tatsächlich alle Klöster und sogar die Stifte aufgehoben wurden,71 sind in anderen lutherischen Territorien viele Frauenklöster in frei-weltliche adelige Damenstifte umgewandelt worden, in denen keine Gelübde verlangt wurden, so dass die Stiftsdamen das Stift wieder verlassen konnten.72 Während somit viele Töchter des Adels weiterhin eine zeitweise oder lebenslange Alternative zur Ehe besaßen, die ihnen meist eine bescheidene standesgemäße Lebensweise erlaubte, erhielten Frauen aus den Städten keine Plätze, schon gar nicht Laienschwestern, die oft nur ihre Arbeitskraft in das Kloster eingebracht hatten.73 Sie sollten heiraten oder ihren Lebensunterhalt als Lohnarbeiterinnen verdienen. Schließlich vermitteln die Abfindungsregister der 17 hessischen Frauenklöster und Stifte eine Vorstellung von der Zahl der betroffenen Nonnen und Laienschwestern: Es handelte sich um 450 Nonnen und Laienschwestern,74 darunter 150 Nonnen aus dem Adel, so dass das Klosterleben nur für einen sehr kleinen Teil der weiblichen Bevölkerung eine Alternative zur Ehe dargestellt haben dürfte.75 Ein knapper Vergleich mit den Ergebnissen der Katholischen Reform für das Verhältnis von Glaube und Geschlecht akzentuiert die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten mit der reformatorischen Erneuerung von Glaube und Kirche. Die tridentinische Reform umfasste sowohl die Abstellung der Missstände und die Wiederherstellung der katholischen Kirche auf der Grundlage des tradierten Kirchenrechts als auch die Anpassung an veränderte Verhältnisse. So wurde die Gültigkeit der Ehe – wie in den protestantischen Kirchen – nicht allein an das Eheversprechen der Brautleute, sondern auch 70 Vgl. Christina Vanja, Besitz- und Sozialgeschichte der Zisterzienserklöster Caldern und Georgenberg und des Prämonstratenserinnenstiftes Hachborn in Hessen im späten Mittelalter, Darmstadt/Marburg 1984, S. 160–164 (= Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 45). 71 Vgl. Eckhart G. Franz, Die Hessischen Klöster und ihre Konvente in der Reformation, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 19 (1969), S. 147–233. 72 Siehe auch Wiesner-Hanks, Reflections, S. 5. 73 Vgl. Johannes Schilling, Das Ende des Klosters, in: Ders. (Hg.), Kloster Germerode. Geschichte, Baugeschichte, Gegenwart, Kassel 1994, S. 81–85, hier: S. 82 (= Monographia Hassiae 16); siehe auch Vanja, Besitz- und Sozialgeschichte, S. 193–198. 74 Vgl. Franz, Die hessischen Klöster, S. 158 f. 75 Für einen Vergleich der Zahl der Nonnen und Laienschwestern mit der Zahl von verheirateten Frauen in der Landgrafschaft Hessen fehlt es für die 1520er-Jahre an Quellen.
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an den Konsens der Eltern und an die Öffentlichkeit der Eheschließung in Gegenwart des Priesters gebunden, womit der alte Kampf gegen die „heimliche Ehe“ beendet war. Es blieb zwar bei der spirituellen Ungleichheit von Klerus und Laien und der besonderen Hochschätzung von Keuschheit und Ehelosigkeit,76 doch die Anforderungen an die theologische und seelsorgerliche Ausbildung der Priester stiegen, um verlorene Gläubige zurückgewinnen und im Zuge der Gegenreformation zum wahren Glauben zurückführen zu können. Ein Hauptunterschied zwischen den Konfessionen lässt sich in den Rollen von Pfarrer und Priester mit den daran gebundenen Glaubenspraxen fassen. Während bei den Protestanten neben dem Pfarrer als Prediger und Katechet die „Hauskirche“ der Gläubigen religiöser Mittelpunkt im Alltag sein sollte, ebenso der Ort der individuellen wie gemeinsamen Bibellektüre, blieb in der nachtridentinischen Kirche der zunehmend sakralisierte Kirchenraum77 mit täglichen Messen und Andachten der zentrale religiöse Ort der Gläubigen mit dem Priester als autoritativer Vermittlerperson zwischen Gott und den Gläubigen. Der Alltag wurde durch Gebete gegliedert, signalisiert von akustischen und bildlichen Zeichen, sei es, wenn es zum Angelus läutete, sei es, wenn der Bildstock in der Flur eine kurze Andacht forderte oder der Priester mit dem Sakrament zu einem Sterbenden ging. Aus der Sicht der Kirche stand das öffentlich sichtbare Bekenntnis zur Konfession im Vordergrund, wie es vor allem in den vielen Regionen gefordert wurde, deren Bewohner im Zeichen der Gegenreformation zur katholischen Kirche zurückgeführt wurden. Die individuelle häusliche Andacht trat demgegenüber zurück. Ein weiterer für das Verhältnis von Glaube und Geschlecht relevanter Unterschied zeigt sich in der Art und Weise, wie der „Aufbruch der Laien“ in die Erneuerung der katholischen Kirche eingebunden wurde. Die neuen Männerorden und geistlichen Frauengemeinschaften waren zunächst nicht auf eine monastisch-beschauliche Lebensweise ausgerichtet, sondern auf das Wirken „in der Welt“. Insbesondere Jesuiten, „Jesuitinnen“ (Ursulinen) und Englische Fräulein legten einen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Vermittlung und Festigung des religiösen – konfessionellen – Wissens in Schulen und verstanden dies als Beitrag zur Rückgewinnung der vom „wahren Glauben“ Abgefallenen.78 Allerdings schränkte die erneuerte Kirche die Wirksamkeit der Ursulinen und Engli76 Renate Dürr, „… die Macht und Gewalt der Priestern aber ist ohne Schrancken“. Zum Selbstverständnis katholischer Seelsorgegeistlicher im 17. und 18. Jahrhundert, in: Dinges (Hg.), Hausväter, S. 75–99; Eva Labouvie, Geistliche Konkubinate auf dem Land. Zum Wandel von Ökonomie, Spiritualität und geistlicher Vermittlung, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 105–127. 77 Vgl. Anne Conrad, Der Katholizismus, in: Kaspar von Greyerz/Dies. (Hg.), Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 4: 1650–1750, Paderborn 2012, S. 17–142, hier: S. 89–92. 78 Vgl. Anne Conrad, Zwischen Kloster und Welt. Ursulinen und Jesuitinnen in der katholischen Reformbewegung des 16./17. Jahrhunderts, Mainz 1991 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Religionsgeschichte 142).
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schen Fräulein ein, indem auch für sie die Klausur obligatorisch wurde und ihnen nicht gestattet wurde, den Lehrkanon der Jesuitenkollegien – wie intendiert – für ihre Internatsschulen zu übernehmen. Große Bedeutung für Laien erlangten die vielen Bruderschaften. Daneben führten unverheiratete Frauen und Witwen spätmittelalterliche semireligiöse Lebensformen fort: Sie legten ein Keuschheitsgelübde ab und widmeten sich vor allem der Unterrichtung von Mädchen, der Katechese und dem Küsterdienst.79 In der erneuerten katholischen Kirche übernahmen also Ordensfrauen und Semireligiöse einen Teil der religiösen Aufgaben der protestantischen Hausmutter, zudem schulische Aufgaben im engeren Sinne, die in den protestantischen Territorien von Kirchspielschulen und den vielen, zu einem erheblichen Teil von Frauen geführten „Winckelschulen“ erfüllt wurden.80 Bilanzierend lässt sich behaupten, dass im Zeitalter von Reformation und Katholischer Reform die enge persönliche wie institutionelle Verbindung von „Glaube und Geschlecht“ eine zentrale Konstellation für die Verchristlichung des Lebens war, die in allen Konfessionen – wenn auch mit unterschiedlichen Formen – im Zusammenwirken von christlichen Obrigkeiten/frühmodernen Staaten und kirchlichen Instanzen mit den Instrumenten der Kirchenzucht wie der „guten Polizey“ erstrebt wurde. Dieser Prozess ist als eigentliche Christianisierung bewertet worden ( Jean Delumeau), da er den christlichen Glauben nicht nur in den kirchlichen Institutionen, sondern auch in den Köpfen der Menschen und ihrer Glaubenspraxis verankert habe.81
5. Wann endet die Frühe Neuzeit – aus der Perspektive von „Glaube und Geschlecht”? Feministische Theologinnen haben vor fast 50 Jahren festgestellt, dass erst mit ihnen – also am Ende des 20. Jahrhunderts – die „Moderne“ in Theologie und Kirche einzog.82 Es ging ihnen um die Zulassung zu Kirchenämtern (jedenfalls in den protestantischen Kirchen), um die Lehrbefugnis an Universitäten und um einen Perspektivwechsel der Forschung 79 Vgl. ebd., S. 101–169; vgl. Dies., Ehe, Semireligiosentum und Orden – Frauen als Adressatinnen und Aktivistinnen der Gegenreformation, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 1 (1997), Heft 3/4 Sonderheft: Aspekte der Gegenreformation, hg. von Viktoria von Flemming, S. 529–545. 80 Vgl. Thomas Töpfer, Die „Freyheit“ der Kinder. Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600–1815, Stuttgart 2012 (= Contubernium 78); Heide Wunder, Schule halten in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, in: Gabriele Ball/Juliane Jacobi (Hg.), Schule und Bildung in Frauenhand. Anna Vorwerk und ihre Vorläuferinnen, Wiesbaden 2015, S. 45–75 (= Wolfenbütteler Forschungen 141). 81 Vgl. Hartmut Lehmann, Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot, Stuttgart 1980, S. 171 (= Christentum und Gesellschaft 9). 82 Vgl. King, Religion and Gender, S. 73 f.
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zur Revision der androzentrischen Religions- und Kirchengeschichte. Sie handelten aus einem Selbstverständnis, das sich an demokratischen Rechten – den Freiheits- und Gleichheitsforderungen der Französischen Revolution – orientierte, nicht am Gleichheitsdiskurs im Medium ihrer Religion. Das markiert einen Paradigmenwechsel in der Geschichte von „Glaube und Geschlecht“, denn die Theologinnen klagten nicht primär ‚Christenrechte‘ ein, sondern Menschenrechte, die gesellschaftspolitisch als „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ definiert waren. Diese Schlagworte der Französischen Revolution finden sich zwar auch in der christlichen Tradition – die Freiheit eines Christenmenschen, die Gleichheit aller Getauften, die Brüderlichkeit als Nächstenliebe –, aber ihre Reichweite war auf das Spirituelle/Geistliche beschränkt, abgesehen von der Nächstenliebe, die sich im Handeln ‚in der Welt‘ bewähren musste. Demgegenüber generalisierte das politische Programm der Französischen Revolution diese Forderungen zu allgemeinen politischen Menschenrechten, die jedoch schnell auf Bürger eingeschränkt wurden, womit die große Zahl der Nichtbürger und alle Frauen ausgeschlossen waren. Gründe für die verspätete Durchsetzung der „Menschenrechte auch für Frauen“83 erst seit dem beginnenden 20. Jahrhundert sind in den Ambivalenzen der Aufklärung zu suchen, die mit zu den intellektuellen Voraussetzungen der Französischen Revolution gehören. Sie seien kurz erläutert und in Beziehung zu der bis dahin dominanten christlich definierten Geschlechterordnung gesetzt. Bereits im 17. Jahrhundert, dem Zeitalter des Rationalismus und des Naturrechts, wurde die theologische Deutungshoheit der Welt in Frage gestellt und das Weltwissen der Vernunft als kritischer Instanz unterworfen. Diese „Frühaufklärung“ enthielt ein neues Gleichheitsversprechen für Frauen – „Vernunft hat kein Geschlecht“ – und legitimierte damit das „gelehrte Frauenzimmer“ als Denkfigur,84 aber immer im Rahmen der vorgegebenen Ordnungen, d. h. Gelehrsamkeit durfte es vor der Ehe oder für Witwen geben, und zwar für solche Frauen, deren Alltag nicht mit den häuslichen Geschäften ausgefüllt war. Gelehrte Bildung war also ein Standesprivileg und die Voraussetzung dafür, dass Frauen der gehobenen Stände in der geschlechtergemischten Geselligkeit der Spätaufklärung eine bedeutende Rolle zu spielen begannen.85 Ein 83 Ute Gerhard, Menschenrechte auch für Frauen. Der Entwurf der Olympe de Gouges, in: Kritische Justiz 2 (1987), S. 127–140; vgl. Dies., Menschenrechte – Frauenrechte 1789, in: Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760–1830, Frankfurt a. M. 1989, S. 55–72. 84 Vgl. Elisabeth Gössmann, Das Wohlgelahrte Frauenzimmer, München 1984 (= Archiv für philosophieund theologiegeschichtliche Frauenforschung 1); Heide Wunder, ‚Gelehrte Frauen‘ im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. „Res publica christiana, res publica litteraria“ und literarische Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, in: Trude Maurer (Hg.), Der Weg an die Universität. Höhere Frauenbildung vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 48–69. 85 Vgl. Gisela Brinker-Gabler (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen, Bd. 2: 19. und 20. Jahrhundert, München 1988; Ulrike Weckel/Claudia Opitz u. a. (Hg.), Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert, Göttingen 1998 (= Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 6); Claudia Opitz/Ul-
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weiteres Gleichheitsversprechen, die im Naturrecht postulierte natürliche Gleichheit aller Menschen, also auch die von Mann und Frau, erweist sich ebenfalls als Denkfigur, die aber eine Begründung für die vorfindliche Unterordnung der Frau als Ehefrau forderte und vertragsrechtlich mit der freiwilligen Unterwerfung der Ehefrau – analog zur freiwilligen Unterwerfung der Untertanen in einem Herrschaftsvertrag – konstruiert wurde. Trotz dieser Einschränkungen der Gleichheitsversprechen bleibt festzuhalten, dass an die Stelle der gottgewollten, schöpfungsgeschichtlich begründeten christlichen Geschlechterordnung eine innerweltliche Grundlegung trat, die Veränderungen überhaupt denkbar machte. Die frühaufklärerischen Ansätze für Geschlechtergleichheit konterkarierten jedoch die Spätaufklärer. Im Gefolge Jean Jacques Rousseaus (1712–1778) entwarf diese kleine gelehrte Elite eine neue Geschlechteranthropologie, in der sie die Ordnung der Geschlechter in der „Natur“ verankerte. Sie habe Mann und Frau mit entgegengesetzten, aber sich ergänzenden Geschlechtscharakteren ausgestattet: „männliche Stärke“ korreliere mit „weiblicher Schwäche“, die in den jeweiligen Körper- und Verstandeskräften verankert sei. Daraus ergab sich wie von selbst die Unterordnung der Frauen und „die natürliche Bestimmung des Weibes“ zur „Gattin, Hausfrau und Mutter“,86 die zugleich den Ausschluss der Frauen von öffentlicher höherer Bildung und damit von öffentlichen Ämtern legitimierte. Diese neue Geschlechterkonstruktion, das Konzept der „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“,87 entfaltete eine enorme gesellschaftliche Wirkungsmacht, die bis in das 21. Jahrhundert reicht. Sie lässt sich nicht allein in literarischen Projektionen und im Selbstverständnis von Frauen und Männern nachweisen. Sie liegt der Neuformulierung des Privatrechts im 19. Jahrhundert zugrunde, angefangen mit dem Code Civil, der auch in einigen Teilen Deutschlands galt, und dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch für die habsburgischen Länder. Diese Gesetzbücher verankerten in neuer Weise die Herr-
rike Weckel u. a. (Hg.), Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster/New York u. a. 2000; Julia Frindte/Siegrid Westphal (Hg.), Handlungsspielräume von Frauen um 1800, Heidelberg 2005. 86 Vgl. Pia Schmid, Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen? Bürgerliche Theorien zur weiblichen Bildung um 1800, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 327–345; Katrin Horn, Leben zwischen Weiblichkeitsideal und sozialer Praxis – Handlungsspielräume einer ‚Gattin, Hausfrau und Mutter‘ in Weimar um 1800, in: Frindte/Westphal (Hg.), Handlungsspielräume, S. 119–142. 87 Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerb und Familienleben, in: Dies., Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte, Göttingen 2012, S. 19–49 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 202); Dies., Der Aufsatz über die „Geschlechtscharaktere“ und seine Rezeption. Eine Spätlese nach dreißig Jahren, in: ebd., S. 83–105; neuerdings Rüdiger Schnell, Geschlechtscharaktere in Mittelalter und Moderne. Interdisziplinäre Überlegungen zur Natur/ Kultur-Debatte, in: Frühmittelalterliche Studien 31 (2017), S. 325–388.
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schaft des Ehemannes in Ehe und Familie auf Kosten der „beschränkten Grundrechtssubjektivität der Ehefrau“ (zum Beispiel im Ehegüterrecht und im Erziehungsrecht).88 Unter den Merkmalen des weiblichen Geschlechtscharakters steht Religiosität auffallenderweise nicht an vorderster Stelle.89 Das deutet auf einen veränderten Stellenwert der Religion für Staat und Gesellschaft um 1800, sie scheint in Tugenden, Sittlichkeit, Moral und Humanität aufgegangen und eher zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten zu gehören. Es ist signifikant, dass Wilhelm von Humboldt (1767–1835) 1792 in seinen „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, ein ganzes Kapitel der Beziehung von Staat und Religion widmet, in dem er unter anderem beabsichtigt „zu zeigen, dass die Moralität, auch bei der höchsten Konsequenz des Menschen, schlechterdings nicht von der Religion abhängig, oder überhaupt mit ihr verbunden ist …“.90 Auch diese veränderte Beziehung von Religion und Staat hat einen Ursprung in der Aufklärung, denn Religionskritik war zentral für die Programmatik der Aufklärung. Obwohl sie nicht auf die Abschaffung von Religion zielte, vielmehr auf „Religion in den Grenzen der Vernunft“, trug sie zu der beobachteten Trennung von Religion und Moral/ Sittlichkeit bei, die Immanuel Kant (1724–1804) schließlich im „Kategorischen Imperativ“ formulierte. Gleichzeitig mit der Aufklärung lässt sich aber im Pietismus eine von Männern und Frauen getragene innerkirchliche religiöse Erneuerungsbewegung beobachten, die gegen die orthodoxen Amtskirchen mit Berufung auf das Priestertum aller Gläubigen die Reformation vollenden und „den Glauben ins Leben ziehen“ wollte. Seit dem beginnenden 19. Jahrhundert fand sie in den Erweckungsbewegungen ihre Nachfolge.91 In den gehobenen/gebildeten Ständen gab es ein Nebeneinander von Vernunftreligion, äußerlicher Kirchlichkeit oder gar Gleichgültigkeit in Glaubensfragen gegenüber einer ausgesprochenen Frömmigkeitskultur, wie sie zum Beispiel für die baltische Adelige Helene von Kügelgen (1774–1842) und ihren Sohn, den Maler Wilhelm von Kügelgen (1802–1867), überliefert ist.92 Für die Erweckungsbewegungen trifft die viel zitierte These von der „Feminisierung der Religion“ im 19. Jahrhundert, die für die angloamerikanischen
88 Ursula Floßmann, Die beschränkte Grundrechtssubjektivität der Frau. Ein Beitrag zum österreichischen Gleichheitsdiskurs, in: Gerhard (Hg.), Frauenrechtsgeschichte, S. 293–324; vgl. Barbara Dölemeyer, Frau und Familie im Privatrecht des 19. Jahrhunderts, in: ebd., S. 633–658; Dieter Schwab, Gleichberechtigung und Familienrecht im 20. Jahrhundert, in: ebd., S. 790–827. 89 Vgl. Hausen, Polarisierung, S. 24. 90 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, eingeleitet von Dr. Eduard Cauer, Breslau 1851, S. 68. 91 Vgl. Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005, S. 347–407. 92 Zur Frömmigkeit von Helene von Kügelgen und ihres Sohnes Wilhelm siehe Bettina Brockmeyer, Selbstverständnisse. Dialog über Körper und Gemüt im frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2009, S. 228–256.
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Gesellschaften mit ihren spezifischen kirchlichen Verhältnissen entwickelt worden ist, jedenfalls nicht zu.93 Einen Einblick in die Widersprüchlichkeiten der Normierungen und der uneingelösten Gleichheitsversprechen, denen sich Frauen im 19. Jahrhundert gegenübersahen, erlaubt ein Brief, den die Pastorentochter Henriette Breymann (1827–1899) (vgl. Tafel 3), die als Unverheiratete zur „hervorragenden Förderin der Kindererziehung und Frauenbildung“94 wurde, 1861 an ihren jüngeren Bruder Karl schrieb, der sich im Wolfenbütteler theologischen Seminar auf das Pfarramt vorbereitete: „Zwar ist es spät, aber ich kann nicht anders als meiner Empörung Luft machen über das, was Du mir von Deinem berühmten Psychologen geschrieben. Ich werde mit Wollust alle Qualen leiden, die ein vereinsamtes Leben mit sich bringt, wenn ich mir meine Idee über das Weib treu bewahre, und wenn ich je getrauert, daß mir die Ehe versagt blieb, so jauchze ich jetzt darüber; denn ich bin frei, frei von den Banden, die ich verfluchte von dem Momente an, wo es mir zum Bewusstsein kam, wie die Männer über uns Frauen denken, was wir ihnen sind. Weh, weh Euch! Das einzige Rettungsmittel aus dem Elende verwerft Ihr! Was wollt Ihr Theologen mit Eurer Bibel und Eurer engherzigen Auffassung derselben? Waren die Apostel nicht etwa Menschen, die unter dem Einflusse ihrer Zeit standen? War Christus nicht von einem Weibe geboren? In ihrem Schoße keimte, entwickelte sich das Göttliche, der Mann ist nur bestimmt, es zu formulieren, wir gebären es und geben es Euch; da liegt das große Geheimnis. Ihr kurzsichtigen Theologen, die nicht schauen können in das Innere der Natur! Immer besser verstehe ich das Jesuswort ‚Nicht alle, die in meinem Namen Teufel ausgetrieben, werden in das Himmelreich kommen.‘ Es gibt keinen Namen, es müsste einer erfunden werden, um die Aussage Deines Psychologen auszudrücken! Hätte er recht, so würde mein einziges Gebet sein, mich zu vernichten. Ihr Kurzsichtigen, Ihr laßt Euch lieber zu Sklaven eines geschickten Weibes machen, als daß Ihr das Weib in seiner Würde als Eure Gleichberechtigte anerkannt. Geht hin mit Eurem Panier an der Brust, in der der Hochmutsteufel wohnt! Schwört auf Eure Bibelsprüche und Propheten, daß das Weib nur in und durch Euch existiere; zieht sie hin in den Staub, seid kurzsichtig, engherzig, unlogisch. Gerade da, wo das Weib steht, steht
93 Vgl. Hugh McLeod, Weibliche Frömmigkeit – männlicher Unglauben. Religion und Kirchen im bürgerlichen 19. Jahrhundert, in: Ute Frevert (Hg.), Bürgerinnen und Bürger, Göttingen 1988, S. 134–156 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 77). 94 Vgl. Paul Zimmermann, Schrader ( Johanne Juliane) Henriette, in: ADB 54 (1908), S. 172–178, hier: S. 172; vgl. Henriette Schrader-Breymann. Ihr Leben aus Briefen und Tagebüchern zusammengestellt und erläutert von Mary I. Lyschinska, 2 Bde., Berlin/Leipzig 21927; Elisabeth Moltmann-Wendel, Macht der Mütterlichkeit. Die Geschichte der Henriette Schrader-Breymann, Pädagogin und Gründerin des Berliner Pestalozzi-Fröbel-Hauses, Berlin 2003.
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Ihr selbst, denn sie ist Eure Hälfte! Karl, laß die Stickluft des Theologenseminars nicht Einfluß auf dich haben …“.95 Henriette Schrader-Breymanns spontane Reaktion auf einen Brief des Bruders vermittelt einen lebendigen Eindruck von ihren eigenen Erfahrungen mit „Glaube und Geschlecht“. Doch zugleich steht die Auseinandersetzung des Geschwisterpaars exem plarisch für die theologischen Geschlechterkonstruktionen und das unterschiedliche Verhältnis der Geschlechter zu Kirche und „Glaube“: der Mann als theologischer Experte, die Frau als die ewige Laiin. Der zukünftige Pfarrer – zuständig für Verkündigung und für die Seelsorge – war Teil der kirchlichen Hierarchie. Im Hinblick auf die Geschlechterrollen vertrat er offensichtlich die traditionelle Position der evangelischen Kirche, nämlich die Inferiorität des weiblichen Geschlechts und die damit legitimierte Unterordnung der Ehefrau in der Ehe. Darüber hinaus berief er sich auf die Studie eines Psychologen, der die traditionsreiche Abwertung und Unterordnung des weiblichen Geschlechts mit den Methoden seiner modernen Wissenschaft fundierte. Dem setzt seine begabte Schwester, für die in dieser Geschlechterkonstruktion allein die Ehe und der häusliche Lebenskreis als Perspektive vorgesehen ist, die schöpfungsgeschichtlich angelegte Gefährtenschaft von Mann und Frau in der Ehe, aber auch den gesunden Menschenverstand entgegen. Sie beruft sich unmittelbar auf Jesus und relativiert – bibelkritisch informiert – die Bedeutung der Apostel als Menschen in ihrer Zeit. Soweit steht Schrader-Breymann ganz in der Tradition christlicher Frauen, die ungeachtet aller sie abwertender theologischer Geschlechterkonstruktionen ihre eigenen Gottesbezüge herstellten, ihre Glaubensgewissheit aus dem Wort Gottes/Jesus gewannen und sich auf diese Weise ihrer Teilhabe an der Heilsgeschichte und der Erlösung versicherten. Neu ist jedoch der kämpferische Ton, den Schrader-Breymann anschlug. Ebenfalls 1861 bekannte sie dem zukünftigen Schwager P. W. Amsinck: „Ich bin im ganzen Sinne des Wortes Protestant. Ich protestiere mit ganzer Macht gegen jede mir von außen aufgedrungene Ansicht. Ich will freie Forschung in der Schrift …“.96 In diesem Sinn liest sie dem Bruder die Leviten und setzt ihm den Kopf zurecht. Sie fordert den angehenden Theologen auf, sich von der Orthodoxie der evangelischen Kirche und deren „Hochmutsteufel“ zu lösen und seine Position als zukünftiger Ehemann kritisch zu reflektieren. Sie macht ihm drastisch klar, dass die strikte Gehorsamspflicht der Ehefrau erst das „geschickte Weib“ hervorbringt, das mit List seine Absichten durchsetzt. Diese Unwahrhaftigkeit steht im Widerspruch zum Vertrauen, das in der Ehe herrschen soll. Die Figur des listigen Weibs lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen und war in der „Querelle des Femmes“ für die Frauenfeinde eine beliebte Argumentationsfigur, um 95 Lyschinska, Henriette Schrader-Breymann, S. 204. 96 Ebd., S. 203.
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die Bosheit der Frauen zu beweisen.97 Dagegen legt Schrader-Breymann den Zusammenhang von Zwang und List offen, ganz wie 1792 Wilhelm von Humboldt in seinen „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“: „Die Freiheit erhöht die Kraft, und führt, wie immer die grössere Stärke, allemal eine Art der Liberalität mit sich. Zwang erstickt die Kraft, und führt zu allen eigennützigen Wünschen, und allen niedrigen Kunstgriffen der Schwäche.“98 Schrader-Breymann geht noch weiter: In Opposition zum orthodoxen Luthertum ihres Vaters fordert sie eine „neue Kirche“ von Gleichgesinnten. Sie fordert nicht nur „Freiheit“, in der „Schrift“ zu lesen, sondern ebenso, um ihre Begabung in der Gesellschaft zu entfalten, und zwar als unverheiratete Frau mit eigener Rechtspersönlichkeit und legitimer öffentlicher Handlungsfähigkeit. Sie hatte nur die Bildung einer „höheren Tochter“ erhalten und die deutschen Klassiker, aber auch Schleiermacher und die Frühsozialisten erst während ihrer Jahre bei Friedrich Wilhelm August Fröbel (1782–1852) kennengelernt. Viele Jahre mühte sie sich, das für den Fachunterricht an ihrer Pfarrhaus-Schule notwendige Wissen zu erwerben. Trotz ihrer großen Tatkraft, die so gar nicht dem weiblichen Geschlechtscharakter entsprach, blieb auch sie den Geschlechterentwürfen ihrer Zeit verhaftet, wie der Brief an den Bruder belegt, in dem sie sich auf die Bedeutung Marias als Mutter Jesu berief und später ihre pädagogische Tätigkeit als „geistige Mutterschaft“99 legitimierte. In ihrer Kritik an den orthodoxen kirchlichen Geschlechter- und Ehekonzepten formuliert Schrader-Breymann ein generelles Dilemma aus der Perspektive von Frauen: nämlich das Spannungsverhältnis von heilsgeschichtlicher – spiritueller – Gleichheit der Geschlechter und Geschlechterhierarchie „in der Welt“ mit der Ehe als deren gesellschaftlichem Ort, wo sich langlebige kirchliche Geschlechterkonstruktionen und politische Ordnungsvorstellungen eng verbinden. Es ist davon auszugehen, dass dieses Spannungsverhältnis so lange bestehen wird, wie die bisherige biblisch begründete Geschlechterordnung in den christlichen Theologien aufrecht erhalten bleibt. Es hat sich gezeigt, dass die fundamentale Erneuerung von Glaube und Kirche in der Reformation nicht mit innerkirchlichen Reformen durchgesetzt wurde, vielmehr war es die „normative Zentrierung“ von kirchlicher und religiöser Laienbewegung im Zusammenwirken mit den weltlichen Obrigkeiten. Doch selbst dem ‚revolutionären‘ Rückgriff auf das paulinische Priester97 Siehe z. B. „Die Galerie der Starken Frauen. La Galerie des Femmes Fortes.“ Die Heldin in der französischen und italienischen Kunst des 17. Jahrhunderts. Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof (10.9.– 19.11.1995) und Hessisches Landesmuseum Darmstadt (14.12.1995–26.2.1996). Katalog bearb. von Bettina Baumgärtel und Silvia Neysters, Düsseldorf 1995. 98 Humboldt, Ideen, S. 98. 99 Juliane Jacobi, „Geistige Mütterlichkeit“. Bildungstheorie oder strategischer Kampfbegriff gegen Männerdominanz im Mädchenschulwesen?, in: Die Deutsche Schule. DDS. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, Sonderheft (1990), S. 208–224, hier: S. 213.
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tum aller Gläubigen waren im Hinblick auf die kirchliche Geschlechterordnung Grenzen gesetzt, die erst im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen einer demokratischen Gesellschaft durchlässig wurden, so dass in Teilen der evangelischen Kirche Frauen zu Pastorinnen ordiniert werden können. Demgegenüber warten Katholikinnen noch heute auf ihre Zulassung zu den Weihämtern ihrer Kirche.
Ute Gause
Geschlechterkonstruktionen der Reformation – Wandel, Konstanz, Interdependenzen
1. Forschungszugänge Dank des feministischen Aufbruchs innerhalb der Wissenschaften der 1970er-Jahre ist eine Sensibilisierung der Forschung in verschiedensten Disziplinen (unter anderem Geschichtswissenschaft, Germanistik, Kirchengeschichte und Kulturgeschichte) nicht nur für „Frauenthemen“ und „berühmte Frauen“ eingetreten, und umfassende Forschungen sind entstanden. Vielmehr wird zunehmend die Frage nach der Konstruktion von Geschlecht(ern) innerhalb der Geschichte gestellt. Wird im 16. Jahrhundert Heteronormativität anders definiert als bisher? Dient die Aufwertung der Ehe innerhalb der Reformation als die erwünschte Lebensform nicht nur jedes „Mannes“ und jeder „Frau“, sondern im Besonderen des Pfarrers und seiner Frau in Abgrenzung zu asketischen Idealen den Festschreibungen neuer Normativitäten, und wie sehen diese aus? Bis heute bergen diese Fragestellungen Brisanz, weil die historischen Veränderungen je nach heuristischen Voraussetzungen der Forschenden und ihrer Hermeneutik unterschiedlich bewertet werden. Es scheint als nächster Schritt einer mit pluralen Methoden untersuchenden und hermeneutisch möglichst differenzierten Forschung daher geboten, Erkenntnisse der Intersektionalitätsforschung in die Beurteilung der Genderkonstruktionen im 16. Jahrhundert einfließen zu lassen. Ebenso wie Schichtenzugehörigkeit und die ethnische Herkunft bestimmt auch das Geschlecht eines Menschen seine Lebensverhältnisse. Die Eigenschaften, die den Geschlechtern zugeordnet werden, müssen jedoch historisiert werden, da es keine „Natürlichkeit“ der Geschlechtsidentität gibt. Oder, wie Monika Mommertz es formuliert: „Statt eine Zeiten und Räume umfassende Differenz von ,Männern‘ und ,Frauen‘ zu postulieren, lässt sich unter ,Geschlecht‘ eine kulturell konstruierte und codierte ,Markierung‘ verstehen, deren Bedeutung zunächst offengelassen wird. Diese Herangehensweise, die das Gewicht von Geschlecht aus analytischen Gründen erst einmal zurücknimmt, verdeutlicht die Distanz, die wir als Untersuchende zu geschlechtlichen Zuschreibungen überhaupt einnehmen sollten.“1 Neben die klassischen Kategorien „Klasse“, „Rasse“, „Geschlecht“ 1 Monika Mommertz/Claudia Opitz-Belakhal,,Religiöse Kulturen‘ und ,Geschlecht‘, in: Dies. (Hg.), Das Geschlecht des Glaubens. Religiöse Kulturen Europas zwischen Mittelalter und Moderne, Frankfurt a. M./ New York u. a. 2008, S. 7–46, hier: S. 33.
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treten jedoch weitere Differenzierungen, die ebenfalls identitätsprägend sind. So werden innerhalb der Intersektionalitätsforschung bis zu vierzehn Differenzkategorien unterschieden (Gender, Sexualität, „Rasse“ oder Hautfarbe, Ethnizität, nationale Zugehörigkeit, Klasse, Kultur, Religion, Gesundheit, Alter, Sesshaftigkeit, Besitz, geographische Position und gesellschaftlicher Entwicklungsstand).2 Durch die Zuordnung spezifischer Normierungen zu den jeweiligen Geschlechtern – wie es innerhalb des katechetischen und erbaulichen religiösen Schrifttums der Fall ist –, erfolgt eine Essentialisierung von Geschlechtscharakteren, die eine Realität herstellen wollen, von der jedoch offenbleibt, inwiefern dieser entsprochen worden ist. Diese Zuordnungen bleiben theoretisch, und es liegt die Annahme nahe, dass der diskursive Normenhorizont auch durchbrochen werden konnte. Dies zeigt sich sowohl in den Zölibatsbrüchen von Priestern und ihren öffentlichen Verheiratungen als auch in den öffentlichen Flugschriften von Frauen, in denen sie zu theologischen Sachverhalten Stellung beziehen. Privilegierte Frauen, wie die Adlige Argula von Grumbach (1492–1554) oder die Herzogin Elisabeth von Calenberg-Göttingen (1510–1558), fanden Einflussmöglichkeiten, die Frauen und Männer anderer Schichten nicht hatten.3 So wenig wie eine bekannte Flugschriftenautorin als Indiz für eine vermeintlich frauenfreundliche Reformation gesehen werden kann, so wenig können misogyne Äußerungen Luthers in seinen Tischreden, deren Quellenwert als recht gering anzusehen ist, für eine insgesamt patriarchalische Reformation in Anspruch genommen werden. Die Neuordnung des Diskursfeldes Ehe durch die Reformation muss insofern immer intersektional betrachtet werden, als hier unterschiedliche Einflussbereiche interagieren: Mit der Integration oder auch Enttabuisierung von Sexualität – jedenfalls wenn sie im normativen Rahmen der Ehe verbleibt – verbinden sich Konfessionalisierungskonkurrenzen, Hierarchisierungsansprüche der frühneuzeitlichen Gesellschaft und ihrer Autoritätsdiskurse mit religiös konnotierten Reinheitsdiskursen und Sozialisierungsanstrengungen, wie sie sich in den vielfältig erlassenen Ordnungen spiegeln, in denen eine Synthese von politischen mit religiösen Interessen eingegangen werden kann – wie es das Genre der Fürstenspiegel illustriert.4 Im Folgenden werden vier Marker, die sich theologisch begründet als evangelische Neuorientierungen verstehen, benannt – selbst wenn 2 Vgl. Helma Lutz/Norbert Wenning, Differenzen über Differenz – Einführung, in: Dies. (Hg.), Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001, S. 11–24. 3 Vgl. Daniel Gehrt/Vera von der Osten-Sacken (Hg.), Fürstinnen und Konfession. Beiträge hochadeliger Frauen zu Religionspolitik und Bekenntnisbildung, Göttingen 2015 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 104); vgl. auch die Beiträge von Dorothee Kommer und Heide Wunder in diesem Band. 4 Den ersten evangelischen Fürstenspiegel verfasste Elisabeth von Calenberg-Göttingen 1545 für ihren Sohn Erich II. (1528–1584). Vgl. zu ihr: Inge Mager, Elisabeth von Calenberg-Göttingen, in: Gehrt/von der Osten-Sacken (Hg.), Fürstinnen, S. 148–167.
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sie auf antiken, mittelalterlich-„katholischen“ oder humanistischen Grundlagen beruhen, sich also einem anderen Erbe verdanken –, die Auswirkungen auf das Verständnis von Geschlechterbeziehungen, Ehe und Familie hatten. Diese neuartigen normativen Zen trierungen – um hier an die Begrifflichkeit von Berndt Hamm anzuschließen – stellen ein Diskursfeld dar. Inwiefern damit direkte Veränderungen auf der Handlungsebene eingeleitet wurden, bedürfte weiterer Untersuchungen. Anzunehmen ist, dass der Praxis neuer Normierungen nicht in jedem Fall Veränderungen auf der Handlungsebene folgten. Die Aufhebung des Priesterzölibats beispielsweise führte nicht direkt zu einer Anerkennung der Pfarrfrau, sondern es dauerte Jahrzehnte, bis diese gesellschaftliche Akzeptanz erfuhr.
2. Genderreformationen 2.1 Priesterehe als Aufwertung von Ehe und Sexualität
Eine erste Phase der Veränderung von Genderkonstruktionen beginnt mit der Opposition gegen den Priesterzölibat und einem Eintreten für „unvermeidbare Sexualität“.5 Mit der Aufhebung des Priesterzölibats wird zugleich die Binarisierung der Gesellschaft in Klerus und Laien aufgebrochen. Das hat weitreichende Konsequenzen: Reinheit und Unreinheit werden neu konnotiert bzw. spiritualisiert.6 Die Reformation im Umfeld Martin Luthers (1483–1546) und Heinrich Bullingers (1504–1575) – wie Susanna Burghartz gezeigt hat – transzendierte Zustände von Reinheit und Unreinheit: Der nicht-zölibatär lebende Priester durfte ein nicht-asketisches Leben führen, da die Ehe als anthropologische Grundverfasstheit bereits mit der Schöpfung gegeben wurde und auch, weil der letztgültig Handelnde in Gottesdienst und Sakrament immer Gott selbst ist. Mit dem Aufgeben des Zölibats war gleichzeitig eine, wenn auch eingeschränkte, weil ausschließlich in der Ehe lebbare, positive Würdigung männlicher und weiblicher Sexualität verbunden.7 Der Reinheitsdiskurs ist gleichzeitig ein Diskurs zwischen den Konfessionen: „Erst vor dem Hintergrund des Kampfes gegen die ,Hure Babylon‘ und ihre Unreinheit erhält die Aufwertung der ehelichen Sexualität durch die Reformatoren ihren systematischen Platz.“8 Diese Idealisierung der Ehe hatte eine sich diskursiv artikulierende Aufwertung der Frau zur Folge. Die schärfere Abgrenzung von Ehe und Nicht-Ehe war eine Folge dieser Auf5 Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit – Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit, Paderborn/München u. a. 1999, S. 17. 6 Vgl. ebd., S. 14–25. 7 Vgl. Ute Gause, Durchsetzung neuer Männlichkeit? Ehe und Reformation, in: Evangelische Theologie 73 (2013), Heft 5, S. 326–338. 8 Burghartz, Reinheit, S. 14 f.
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wertung: „Integrativen Momenten, die wie der Kampf um die Priesterehe zur Integration von Sexualität in die Ehe führen sollten, standen ausgrenzend-repressive Momente gegenüber, die der schärferen Abgrenzung von Unzucht dienten.“9 Die Reformation leistete durch die Anerkennung der Priesterehe mithin zwei fundamentale Umorientierungen: eine Abschaffung der Askese und damit der Haltung, dass sexuelle Enthaltsamkeit die höchste Form christlichen Lebens darstelle, und die Installierung und Idealisierung eines Gegenmodells, nämlich der monogamen Ehe. Mit dieser Umorientierung war eine Neubewertung von Virilität verbunden, die als zum vollgültigen Menschsein gehörend und als gottgegebene Kraft in einem begrenzten, strikt heterosexuellen Rahmen gelebt werden durfte.10 Dass diese Normierungen im realen Leben unterlaufen wurden, veranschaulicht Helmut Puffs Aufsatz über den Schweizer Kleriker Werner Steiner (1492–1542), der sich dem Reformiertentum zugewandt und geheiratet hatte, sich aber 1541 vor dem Zürcher Rat wegen homosexueller Handlungen verantworten musste.11 Lyndal Roper hat in zahlreichen Publikationen darauf hingewiesen, dass die Reformation im Hinblick auf Sexualität in Grauzonen geriet, insofern ein neues Verhältnis der Geschlechter zueinander zu regeln war, das neben Devianz auch Polygamie (Täufer) oder Bigamie (Philipp von Hessen) ausschließen wollte.12 2.2 Egalisierung durch das Priestertum aller Gläubigen
Das Aufbrechen der Binarisierung Klerus – Laien, verbunden mit dem auch von anderen sozialen Schichten, etwa in den „Zwölf Artikeln aller Bauernschaft“ oder in Flugschriften von Handwerkern geäußerten Verständnis des emanzipatorischen Anspruchs der Mündigkeit im Sinne eines Priestertums aller Getauften/Gläubigen, ist eine weitere eklatante Veränderung, die sich auch in den schriftlichen Äußerungen von Frauen niederschlug. Frauen publizierten vielfältiges religiöses Schrifttum im 16. Jahrhundert. Offensichtlich fühlten sie sich durch Luthers These vom Priestertum aller Gläubigen, die das Individuum ins Recht setzte, ermutigt, selbst in der Bibel die Botschaft des Glaubens zu entdecken – ohne den Umweg über die Autorität der Kirche und der Geistlichen. Frauen 9 Ebd., S. 17. 10 Vgl. Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 3 2006, S. 206 (= Geschlecht & Gesellschaft 8): „Die eheliche Heterosexualität verdrängte die klösterliche Enthaltsamkeit als angesehenste Form von Sexualität.“ 11 Vgl. Helmut Puff, The Reform of Masculinities in Sixteenth-Century Switzerland. Case Study, in: Scott H. Hendrix/Susan C. Karant-Nunn (Hg.), Masculinity in the Reformation Era, Kirksville/Missouri 2008, S. 21–43; Scott H. Hendrix, Masculinity and Patriarchy in Reformation Germany, in: Ders./Karant-Nunn (Hg.), Masculinity, S. 21–44; vgl. auch den Aufsatz von Julia A. Schmidt-Funke in diesem Band. 12 Lyndal Roper, Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995; vgl. auch den Beitrag von Nicole Grochowina in diesem Band.
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verfassten Kirchenlieder; sie schrieben Katechismen und Erbauungsbücher oder auch gelehrte dogmatische Abhandlungen. Eine exemplarische Vertreterin ist Argula von Grumbach, die sich für die Verteidigung der Reformation in Bayern einsetzte. Sie schrieb 1523 einen Protestbrief an die Fakultät der Universität Ingolstadt.13 Die Problematik ihres Auftretens als Frau reflektiert sie unter Zuhilfenahme der prophetischen Tradition. Diesen Rückgriff auf das Alte Testament und seine Propheten und Prophetinnen hatten bereits die Mystikerinnen des Mittelalters zur Legitimation ihres öffentlichen Sprechens benutzt. Als weiteres Argument für ihre Stellungnahme nennt sie explizit Luthers Plädoyer für das Priestertum aller Gläubigen. In ihrer Argumentation mit der Bibel, ihrer Berufung auf das Bekenntnis zu Christus und ihrem Verständnis, dass der Glaube aus der Predigt resultiere, zeigt sich ihre reformatorische Prägung.14 Auf den Vorwurf, sie sei lutherisch, entgegnet Argula von Grumbach mehrfach, dass es ihr auf die rechte Auslegung des Wortes Gottes ankomme und begründet ihre Schriften mit ihrer Verantwortung vor Gott: „Darumb wer ain Christ will seyn, muß ye, so vil er kann, den, die Gottes Wort wöllen verda[m]men, widersprechen, aber nit mit fechten, sondern mit dem wort Gottes“.15 Argula von Grumbach zählte in den Jahren 1523 und 1524 zu den meistgelesenen Flugschriftenautor(inn)en.16 In der 1523 veröffentlichten Schrift an ihre zuständige Obrigkeit, den Pfalzgrafen, fühlt sie sich aus christlicher Pflicht berufen, die Obrigkeit und den christlichen Stand überhaupt an das Wort Gottes zu weisen: „dann ye kein mensch gewalt ha / das wort gottes zuverpiet / noch darinn zu regier / Allein das wort gottes soll vnnd muß alle ding regier / Sy heyssen es Lutterische wort sein aber nit Lutherisch / sonder gottes wort“.17 Das Schriftprinzip erweist sich hier als Mittel, um die weltlichen Autoritäten auf ihren Platz zu verweisen und Kritik zu üben. Sie legitimiert ihr öffentliches Hervortreten einerseits durch Berufung auf die prophetischen Traditionen in der Bibel, andererseits durch ihr Gewissen als Christin. Verankert ist diese Verantwortung in der Christusbeziehung, die von ihr solches Bekennen erfordert: „Vn[d] ob gleich darzu kem, dauor got sey, das Lutther widerrrüffet, sol es mir nichtz zuschaffen geben. Jch baw nit
13 Vgl. Silke Halbach, Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften, Frankfurt a. M./ Berlin u. a. 1992 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie 468). 14 Vgl. ebd., S. 118–155. 15 Argula von Grumbach, An ain Ersamen Weysen Radt der stat Ingolstat (1523), in: Peter Matheson (Hg.), Argula von Grumbach. Schriften, Gütersloh 2010, S. 98–100, hier: S. 98 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 83). 16 Vgl. ebd., S. 189. 17 Argula von Grumbach, Ein christenliche schrifft einer erbarn frawen vom Ade / darin sie alle Christenliche stende vnd obrigkeiten erman / Bey der warheit vnd dem wort Gottes zupleiben (1523), in: Matheson (Hg.), Argula von Grumbach, S. 86–93, hier: S. 86.
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auff sein, mein oder keines menschen verstand, sunder auff den waren felsen Christum selbst, welchen die Baumaister haben verworffen.“18 Katharina Zell (1498–1562), die Ehefrau des Straßburger Reformators Matthias Zell (1477–1548), veröffentlichte 1524 eine Apologie, in der sie ihre eigene Eheschließung und die Eheschließungen protestantischer Pfarrer insgesamt verteidigte. Ihr Schreiben legitimiert sie mit dem Argument der Nächstenliebe: Ihr Mann sei unschuldig, und deshalb sei es ihre christliche Pflicht, ihn zu verteidigen. Im selben Jahr verfasste sie einen Trostbrief an die „leydenden Christglaubigen weyberen der gmein zu Kentzigen“, deren Männer die Stadt verlassen hatten, um den das Evangelium verkündigenden Pfarrer vor den einrückenden Soldaten des Bischofs von Konstanz zu schützen und dann daran gehindert wurden, wieder in die Stadt zurückzukehren. Sie ermahnte die Frauen, am unüberwindlichen Wort Gottes festzuhalten und sich eines „männisch Abrahamisch gmüt[s]“ zu befleißigen, d. h. allen Widerständen zum Trotz an dem neuen Glauben festzuhalten. Dieses Bekenntnis erforderte im Zweifelsfall das Martyrium. Legitimiert fühlte sich auch Katharina Zell durch das biblische Wort: „Darumb lieben Christlichen weybe / gedencken dieser Wor / die nit mei / sunder des geyst gottes sin / und seind danckbar und empfenglich sollicher gottes gaben. Christus sagt Der mir will nachvolge / der verleükken sein selbs und nem sein creütz uff sic / und folge mir nach.“19 Frauen stehen genauso wie die Männer in der unmittelbaren Christusnachfolge. Diese zwei Forderungen der Reformation – das Priestertum aller Gläubigen sowie die Orientierung an der Bibel („sola scriptura“) – trugen wesentlich dazu bei, dass auch Frauen sich legitimiert fühlten, sich öffentlich zu äußern. 2.3 Oeconomia Christiana – Normierung von Haushalt, Ehe und Familie
Die mit Justus Menius (1499–1558) (vgl. Tafel 4) 1529 beginnende evangelische „Oeconomia“ oder „Hausväterliteratur“ zeigt beispielhaft, wie Heteronormativität mit genau definierten Rollen für die Geschlechter in evangelischem Sinne verstanden werden sollte. Die sich unter anderem Xenophon und Aristoteles verdankende Oeconomia-Literatur betont einerseits die Komplementarität der Aufgabenbereiche von Mann und Frau, andererseits die Herrschaft des Mannes.20 Dennoch greift es zu kurz, hier nur grundsätzlich Repression oder Minorisierung der Frauen zu proklamieren.21 Das Ehepaar bil18 Dies., Wie eyn christliche Frau des Adels, in ebd., S. 63–75, hier: S. 74. 19 Katharina Schütz-Zell, Letter to the Women of Kentzingen, in: Elsie Anne McKee (Hg.), Katharina Schütz-Zell, Vol. 2: The Writings. A Critical Edition, Leiden/Boston u. a. 1999, S. 1–13, hier: S. 10. 20 Vgl. Rosa Reuthner, Die Hausfrau und die Ökonomie in Ökonomiken und Haushaltslehren von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 2018, S. 20 (= Gender-Diskussion 30). 21 Vgl. ebd., S. 239.
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det als Arbeitspaar eine gesellschaftliche Arbeitsteilung ab; die Aufwertung der Ehe als gemeinsamer „Produktionsanstalt“ konnte einen Gewinn an Handlungsmöglichkeiten gegenüber den gesellschaftlichen und politischen Institutionen bedeuten.22 Menius’ Oeconomia eine „Überbetonung der physisch-elementaren Aspekte des Frauenlebens“ vorzuwerfen, steht dann doch unter dem Vorbehalt, dass Schwangerschaften, Geburten und Sorge um die Kinder eine im 16. Jahrhundert fraglos gegebene Realität darstellten.23 Während man heute geneigt ist, von einem partiarchalischen Determinismus auszugehen, liegt hier ein gleichsam biologischer Determinismus vor, insofern Kinderreichtum erwünscht war, jede Schwangerschaft jedoch eine Gefährdung der Mutter (und des werdenden Babys) mit sich brachte. Der Lebenswirklichkeit von Frauen des 21. Jahrhunderts entspricht dies selbstverständlich nicht mehr. Die hohe Frauen- und Kindersterblichkeit stellte im 16. Jahrhundert eine Tatsache und eine existentielle Bedrohung dar, und es fällt auf, wie stark seelsorgerische Schriften sich um eine Begleitung von Schwangerschaft und Geburt bemühten. Dem Mann wird gleicherweise in der Hausregierung „Mühe und Arbeit“ des Broterwerbs aufgrund des Sündenfalls auferlegt. Die Bibel weist ihn an, „er sol arbeite / das yhm die haut rauch / vnd der Schweis vber das angesichte leuff / auff das er sich vnd sein haus erneren müge/“.24 Insofern sind die Aufgaben, die Mann und Frau durch Menius zugeordnet werden, seinem theologischen Konzept geschuldet und bergen Normierungen – wie die Auferlegung strikter Monogamie für den Mann –, die weniger auf Hierarchisierung als auf Disziplinierung abzielen.25 Der Mann ist wie die Frau verpflichtet, als gewissenhafter Christ seine Aufgaben zu verrichten, die durchgängigen Vorstellungen einer Subordination der Frau unter den Mann gelten nicht im Hinblick auf die Gottesbeziehung. Scott H. Hendrix, der zahlreiche Eheschriften der Reformationszeit auf ihre Dimensionen von Männlichkeit hin befragt hat,26 sieht Stereotype innerhalb der Forschung des 19. Jahrhunderts, die es aufzubrechen gilt. Männer sahen sich angewiesen auf und angefochten in ihren sexuellen Bedürfnissen.27 Ehe galt als einzige legitime Möglichkeit,
22 Vgl. Susanna Burghartz, Umordnung statt Unordnung? Ehe, Geschlecht und Reformationsgeschichte, in: Helmut Puff/Christopher Wild (Hg.), Zwischen den Disziplinen. Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, S. 165–185, hier: S. 172. 23 Reuthner, Hausfrau, S. 239. 24 Justus Menius, Oeconomia Christiana, in: Ute Gause/Stephanie Scholz (Hg.), Ehe und Familie im Geist des Luthertums. Die Oeconomia Christiana (1529) des Justus Menius, Leipzig 2012, S. 72 (= Historisch-theologische Genderforschung 6). 25 Vgl. ebd., S. 65. 26 Vgl. Hendrix, Masculinity and Patriarchy, S. 74. 27 Vgl. ebd., S. 74–78.
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der Sünde der Unkeuschheit zu entgehen.28 Die aus einer Ehe resultierende Verpflichtung, eine möglichst harmonische Ehe zu führen und Ehefrau und Kinder angemessen zu versorgen, lastete als schwere Bürde auf ehemaligen Mönchen und Priestern, die ein Auskommen finden mussten. Hendrix resümiert: „The encumbrances on sixteenth-century men and the sacrifices expected of them were different from the public handicaps of women and the burdens placed upon them, but they existed nonetheless and extracted their costs from men in ways less visible then and now to the people who write about them … Under the cover of patriarchy men, like women, required affection, support, and consideration that would pay back the investment in others that their roles demanded.“29 Ein von Hendrix nicht untersuchtes Ehebüchlein, nämlich das von Johannes Fischart (1545–1591) verfasste Ehezuchtbüchlein, das Standardbeigabe des lutherischen Katechismus der Kirchengemeinde Straßburgs war und insofern eine Breitenwirkung hatte, plädiert im Hinblick auf die Ehemänner unbedingt auf eine Vorherrschaft zu verzichten und preist die Sinnlichkeit der Ehe und eine Gemeinschaft, in der beide aufeinander angewiesen sind: „Also soll auch ein rechter Man Seiner Männin jr ehr thun an, Dieweil die ehr doch ist gemein, Wie auch das guts keins hat allein“.30 2.4 Neubewertung weiblicher Lebenszusammenhänge
Durch die Reformation richtete sich die Aufmerksamkeit auf die ‚normalen‘ Lebenssituationen verheirateter Frauen. Dies demonstrieren die Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts eindrücklich, die sich mit der Seelsorge an schwangeren und gebärenden Frauen befassen und nachdrücklich eine Ausbildung der Hebammen in dieser Hinsicht fordern. Die Reformation brachte so für das Geburtswesen einschneidende Veränderungen: Mit Hilfe von Kirchen- und Hebammenordnungen wurde der Stand der Hebamme gefestigt, und es wurde vor allem die seelsorgerliche Ausbildung durch den Pfarrer festgeschrieben.31 Johannes Bugenhagens (1485–1558) (vgl. Tafel 5) Kirchenordnungen waren im Norden Deutschlands einflussreich. In diesen Kirchenordnungen blieb die Hebamme autorisiert, 28 Vgl. ebd., S. 75. 29 Ebd., S. 89. 30 Johannes Fischart, Das Philosophisch Ehzuchtbüchlin, in: Hans-Gert Roloff/Ulrich Seelbach (Hg.), Johann Fischart, Sämtliche Werke, Bd. 1, Bern 1993, S. 419; auch erwähnt und zitiert in: Reuthner, Hausfrau, S. 217. 31 Vgl. hierzu ausführlich: Ute Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006, S. 114–156.
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im Falle der Lebensbedrohung des Säuglings eine Nottaufe durchzuführen.32 Dies ist hervorzuheben, weil im Reformiertentum die Nottaufe durch die Hebamme abgeschafft wurde und ausschließlich der Pfarrer taufen durfte. Karen E. Spierlings Darstellung jedenfalls legt nahe, dass in der Ablehnung jeder Form von Nottaufe durch andere Personen eine androzentrische Komponente vorhanden ist – auch wenn sie selber der Aussage, die Zurückdrängung der Taufe durch die Hebammen sei „a misogynistic repression of the authority of midwives“ nicht zustimmt.33 Jedoch merkt Karen Spierling zur konsequenten Abschaffung der Taufe durch Hebammen Folgendes an: „We cannot, however, escape the fact that the two sections he [Calvin U. G.] added to the Institutes focused specifically on the question of women baptizing. This strongly suggests that the concern over infant baptism was, on some level, also a concern about the authority of midwives specially as women.“34 Gleicherweise verlangte Calvin die bis dahin nicht übliche Anwesenheit des Vaters bei der Taufe und ließ Patinnen nicht ins Taufregister eintragen – dieses Vorgehen charakterisiert Spierling immerhin als patriarchalisch.35 Im reformierten schottischen Bekenntnis von 1560 wird die Gemeinschaft mit der Papstkirche abgelehnt unter anderem mit der Begründung: „Ihre Diener sind gar nicht Christi Diener, und was noch verwerflicher ist, sie erlauben den Frauen sogar, die Taufe zu vollziehen, obwohl der Heilige Geist nicht einmal duldet, dass sie in der Kirche lehren.“36 Eine gravierende Neuerung stellte es dar, dass eine Frau während und nach der Geburt nicht mehr als unrein galt.37 Die evangelischen Kirchenordnungen beziehen explizit Stellung: 32 Bugenhagen und Luther halten an der Nottaufe durch Frauen fest, offensichtlich ziehen spätere Kirchenordnungen diese Praxis in Zweifel: Vgl. Eva Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt, Köln/Weimar u. a. 22000, S. 173 (mit Beispielen aus dem 18. Jahrhundert). 33 Vgl. Karen E. Spierling, Infant Baptism in Reformation Geneva. The Shaping of a Community 1536–1564, Ashgate 2005, S. 70–87, vgl. besonders S. 78. Wenn Eva Labouvie zu Recht betont, dass die Calvinisten jede Nottaufe ablehnten, ist davon auszugehen, dass Calvin die „Weibertaufe“, gegen die sich ja auch im Luthertum Protest erhoben hatte, ausschließen wollte. Vgl. Labouvie, ebd., S. 171 f. 34 Spierling, ebd., S. 74. 35 Vgl. ebd., S. 114. 36 Schottisches Bekenntnis (1560), in: Paul Jacobs (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, Neukirchen 1949, S. 63. 37 Darüber, dass es hier um alttestamentliche Konzepte von Unreinheit geht, herrscht in der Forschung ein breiter Konsens, vgl. z. B. Siegrid Westphal, Frau und lutherische Konfessionalisierung. Eine Untersuchung zum Fürstentum Pfalz-Neuburg 1542–1614, Frankfurt a. M./Bern u. a. 1994, S. 78 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 594). Das hat eine lange, bereits altkirchliche Tradition: „Bezeichnenderweise nimmt Origenes als erster christlicher Theologe Lev. 12 bejahend auf: Wenn dort gesagt werde, die Wöchnerin und ihr neugeborenes Kind seien unrein, so treffe das zu – Zeugung und Geburt seien und machten nun einmal unrein, weshalb die Kindertaufe nötig sei.“ So jedenfalls: Dorothea Wendebourg, Die alttestamentlichen Reinheitsgesetze in der frühen Kirche, in: Dies., Die eine Christenheit auf Erden. Aufsätze zur Kirchen- und Ökumenegeschichte, Tübingen 2000,
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„Und ob sich vileicht der Satan untersteht, die kindbetterin mer dann andere leut anzufechten, so tuot ers doch one zweifel darumb, dass er den eelichen stand, den Got gesegnet hat, und die menschliche geburt, die ein sonder wunderwerk Gottis ist, veracht mach, als ob si unrein weren (wie dan sein art ist), so doch der eelich stand heilig und das kindergeberen eben der weiber fürnembster beruf ist, dadurch sie Gott gefallen.“38 In der Schleswig-Holsteinischen Kirchenordnung von 1542 wird den Wöchnerinnen explizit der Zustand der Unreinheit abgesprochen: Das Gesetz Mose gelte nicht für sie. Sie bedürften keiner Aussegnung.39 Das sechswöchige Wochenbett solle zur Schonung eingehalten werden, nicht etwa weil es einer Zeit der Reinigung diente: „Haben sie auch dieses zu lerne / daß sie nach ihrer schweren und schmertzlichen gebur / ein gewisse ruhe zeit habe / da sie sich widerumb erhole / vnnd durch gute nötige pflege und wartun / sie und ihre Erblein widerumb gedeie / zur gesundtheit vnnd Leibs krefften kommen … Ihnen selbst zur wolfar / damit sie ihrer eigner gesundheit dienen und rahte / irer selbst schone / mit gebürender speis / tranc / vnnd anderer nötiger bequemer wart“.40 Wenn auch der Brauch einer Aus- oder Einsegnung nach dem Wochenbett in den evangelischen Kirchen mancherorts erhalten blieb, wurden Implikationen eines Zustandes der Unreinheit ausgeschlossen.41 Der erste Kirchgang nach der Geburt diente dem Dank für das Überleben der Mutter und das gnädige Geschenk des Kindes: „Derhalben wann nun jetzt Christliche Weiber nach außgang ihrer Sechswoche / desß Ersten ganges (wie es ein feine / löblicher brauch ist) die Gemein Gottes besuche / sollen sie neben eiveriger anhörung Göttliches Wort / ihre Kindlein dem Herre / mit Dancksagun / durchs Gebet auffopfer / und darstellen“.42 Wie die Aussegnung der Wöchnerin als Ritus im 16. Jahrhundert zu beurteilen ist, ist in der Forschung umstritten. Eine Untersuchung zu diesem Brauch in den Niederlanden im Spätmittelalter betont den feierlichen und fröhlichen Charakter der Aussegnungs-
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S. 1–22; hier: S. 12. Vgl. auch Franz Kohlschein, Die Vorstellung von der kultischen Unreinheit der Frau. Das weiterwirkende Motiv für eine zwiespältige Situation?, in: Teresa Berger/Albert Gerhards (Hg.), Liturgie und Frauenfrage. Ein Beitrag zur Frauenforschung aus liturgiewissenschaftlicher Sicht, St. Otilien 1990, S. 269–288; besonders S. 282 f. Kirchenordnung von Pfalz-Neuburg (1543), in: Emil Sehling (Hg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 13, Tübingen 1966, S. 56. Vgl. Westphal, ebd. Vgl genauso die Kirchenordnung von Braunschweig (1528), in: Sehling, ebd., Bd. 11, Tübingen 1961, S. 135 – und weitere. Walter Göbel (Hg.), Die Schleswig-Holsteinische Kirchenordnung von 1542, Neumünster 1986 [Reprint Magdeborch 1542], S. 136. Jeremias Schweiglin, Ein trefflicher Schöner Lere und Trostspiege / Auß Gottes wor / D. Luthers selige / vnd anderer Euangelischer Lehrer Bücher / Schriffte / vnd Sendbrieffen, Frankfurt 1580, 256 f. Vgl. beispielsweise die im Vorfeld des Augsburger Reichstags geübte Kritik an folgenden Zeremonien: Eine „Kindtbetterin Inn die kirchen fhuren; Frawen, die Im kindtbette sterben, auch mit aigener Ceremonien begraben“, in: Karl Eduard Förstemann (Hg.), Urkundenbuch zu der Geschichte des Reichstages zu Augsburg im Jahre 1530, Bd. 1, Osnabrück 1966 [Reprint der Ausgabe 1833], S. 103. Vgl. Schweiglin, Trostspiegel, S. 267 f.
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feier.43 Anne-Marie Korte urteilt dagegen: „The Catholic church has never stressed the cultic (im)purity of women to the extent that Judaism has. Yet the ‚churching‘ rite for mothers after childbirth is an indication that the cultic impurity of women has played some role until very recently.“44 Die umfangreichen Forschungen von Eva Labouvie belegen, dass auf der Handlungsebene des Brauchtums und der Praxis sowohl im Protestantismus wie Katholizismus ganz anders bewertet, angewendet und gehandelt wurde als die offiziellen Vorgaben das nahelegen: „Erst ein Blick über einen größeren historischen Zeitraum ermöglicht es, die Spannbreite des Selbstverständlichen, Wünschenswerten oder Notgedrungenen und die Möglichkeiten, sich meist nur langsam vollziehender strukturierender Veränderungen in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu entdecken.“45 Die von Eva Labouvie dargestellten hartnäckigen, mit magischen Konnotationen verbundenen Volksbräuche während des Wochenbettes belegen eindrücklich, wie wenig kirchlichen Normierungen auf der Handlungsebene gefolgt wurde.46 Es gilt, auf den begrenzten Zeitraum Mitte bis Ende des 16. Jahrhunderts zu blicken und stets zwischen Diskurs und Praxis zu unterscheiden. Normative Vorgaben konnten selbstverständlich unterlaufen und verändert werden. Faktum bleibt, dass die evangelischen Pastoren des 16. Jahrhunderts die Vorgaben der Reformatoren auf der Diskursebene – die Handlungsebene bleibt hier unberücksichtigt – übernommen haben. Konsequenterweise erfolgte aus der protestantischen Umdeutung, dass Reinheit in der Ehe und damit im Zusammenhang mit Sexualität erlangt werden konnte, dass körperliche Vollzüge, die mit Blut und Sexualität in Zusammenhang standen, wie eine Geburt, keinen Zustand der Unreinheit verursachten. Unreinheitsvorstellungen, die Frauen betreffen, weist schon Luther in den Invokavitpredigten als „papistisch“ zurück.47 Die seelsorgerliche Begleitung der Frau durch die Hebammen sowie unterstützende Gebete durch die bei der Geburt anwesenden Frauen wurden nachdrücklich gefördert.48 Zwar ist es von hier noch ein weiter Weg bis zur Frauenordination, aber gerade in dieser Bestätigung der Kompetenz der Hebammen liegt eine Anerkennung der geistlichen Kompetenzen von Frauen. 43 Vgl. Charles Caspers, Leviticus 12, Mary and Wax. Purification and Churching in Late Medieval Christianity, in: Marcel Poorthuis/Joshua Schwartz (Hg.), Purity and Holiness. The Heritage of Leviticus, Leiden/Boston u. a. 2000, S. 295–309 (= Jewish and Christian Perspectives Series 2). 44 Anne-Marie Korte, Reclaiming Ritual. A Gendered Approach to (Im)Purity, in: ebd., S. 313–327, hier: S. 313. 45 Labouvie, Umstände, S. 268. 46 Vgl. ebd., S. 239 f. 47 Vgl. Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000, S. 410. 48 Vgl. ausführlich dazu: Ute Gause, Johannes Bugenhagens Seelsorge an schwangeren und gebärenden Frauen, in: Irmfried Garbe/Heinrich Kröger (Hg.), Johannes Bugenhagen (1485–1558). Der Bischof der Reformation, Leipzig 2010, S. 154–170.
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3. Fazit Mit diesen Markern sind einige grobe Schneisen in ein mittlerweile uferloses und kaum noch zu überblickendes Forschungsfeld geschlagen. Letztlich greift eine Bewertung, ob mit den benannten Markern Fortschritt oder Repression, Patriarchalismus oder Emanzipation verbunden, zu kurz. Hier wird wiederum vorschnell auf Binarisierungen zurückgegriffen, die nicht weiterführend sind. Viel stärker als bisher – so wäre mein Plädoyer – wäre auf der Ebene der Quellen auch nach den Vorstellungen reformatorischer Männlichkeiten/ Männlichkeitskonstruktionen und eben auch nach einem Pluralismus von Weiblichkeiten/Weiblichkeitskonstruktionen zu fragen, um den bis jetzt doch noch – mit wenigen Ausnahmen – vorherrschenden Konsens, dass hier ein ungebrochener Patriarchalismus steuerndes Movens war, zu relativieren. So jedenfalls könnte es gelingen, unser durch die Dualismen des 19. Jahrhunderts geprägtes Geschlechterwissen, das wir geneigt sind, in das 16. Jahrhundert zu transportieren, zu irritieren.
Christian Volkmar Witt
Die Ehe als geheiligte Gemeinschaft der Geschlechter. Luthers theologisches Eheverständnis
Bereits seit 1519 bringt Luther in bestimmten Werken, die zwar ganz unterschiedlichen Diskursen geschuldet bzw. Streitfeldern gewidmet sind, aber allesamt in den grundsätzlichen Auseinandersetzungen mit der hierarchischen Kirche verortet werden müssen, für sein Eheverständnis grundlegende Einsichten zur Geltung.1 Diese führt er dann in seinem Sermon „Vom ehelichen Leben“ von 15222 zum ersten Mal argumentativ-strukturell zusammen, weshalb der genannte Sermon als erste wirklich umfassende Darlegung seines theologischen Eheverständnisses zu stehen kommt. Von dort aus vertieft der Reformator seine Ehetheologie fortwährend3, bis er sie in seiner großen Genesisvorlesung4, entstanden in den Jahren 1535 und 1545, ein letztes Mal bündelt. Insgesamt ist und bleibt sein Eheverständnis dabei direkt an die Genese seiner reformatorischen Grundeinsichten, an seine schöpferische Neubestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch sowie an deren theologische Vertiefung gekoppelt. 1 Vgl. dazu auch Michael Beyer, Luthers Ehelehre bis 1525, in: Martin Treu (Hg.), Katharina von Bora, die Lutherin. Aufsätze anlässlich ihres 500. Geburtstages, Wittenberg 1999, S. 59–82, hier: S. 59: „Der Umfang von Luthers Inanspruchnahme seitens dieses Themas [der Ehe, C. W.] und dessen Stellenwert im Rahmen seines Wirkens über die direkte Beschäftigung hinaus werden vollends deutlich, wenn seine Ausführungen zur Ehe als Sakrament, zur Priesterehe und zum Keuschheitsgelübde der Mönche und Nonnen im Rahmen seiner reformatorischen Schriftstellerei aus der ersten Hälfte der zwanziger Jahre hinzugenommen werden“. 2 Vom ehelichen Leben, WA 10.II, S. 275–304. 3 Siehe dazu ausführlich Christian Volkmar Witt, Martin Luthers Reformation der Ehe. Sein theologisches Eheverständnis vor dessen augustinisch-mittelalterlichem Hintergrund, Tübingen 2017 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 95). Grundlegend bleiben auch Paul Althaus, Die Ethik Martin Luthers, Gütersloh 1965, S. 88–104; Werner Elert, Morphologie des Luthertums, Bd. 2: Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums, München 21958, S. 80–124; Thomas Kaufmann, Reformation der Lebenswelt. Luthers Ehetheologie, in: Ders. (Hg.), Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012, S. 550–564 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 67); Waldemar Kawerau, Die Reformation und die Ehe. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des sechzehnten Jahrhunderts, Halle 1892 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 10/II); Reinhold Seeberg, Luthers Anschauung von dem Geschlechtsleben und der Ehe und ihre geschichtliche Stellung, in: Luther-Jahrbuch 7 (1925), S. 77–122; Jane Strohl, Luther’s New View on Marriage, Sexuality and the Family, in: Luther-Jahrbuch 76 (2009), S. 159–192. 4 Die Genesisvorlesung ist abgedruckt in WA 42, 43 und 44.
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1. Grundlegendes Um mit den grundlegenden Einsichten Luthers zu beginnen: Die Ehe ist die auf eine göttliche Willenssetzung zurückzuführende und von Gott selbst seinem Schöpfungswerk eingestiftete Gemeinschaft von Frau und Mann. Als Werk des Schöpfers ist sie integraler Bestandteil der Natur- bzw. Schöpfungsordnung. Die Ehe als gottgewollte Gemeinschaft von Frau und Mann beruht auf der gegenseitigen Achtung und Treue der Ehepartner, die die eheliche Gemeinschaft, auch die Härten des Ehelebens, mit- und füreinander tragen lassen. Weil und sofern das eheliche Miteinander der Geschlechter eine göttliche Einsetzung ist, erfreut es sich in besonderer Abb. 2: Titelblatt zu Luthers Sermon „Vom ehelichen Leben“, Drucker Johann Rhau-Grunenberg, Weise des göttlichen Wohlgefallens; dies Wittenberg 1522 gilt es im Glauben, im festen Vertrauen auf das Wort Gottes zu erkennen und festzuhalten. „Sittlich gesehen also gibt es keinen Stand, der höher wäre als der Ehestand. Gerade auch durch die Lasten, die er den Gatten auflegt, hilft er zum Töten des alten Menschen und ist die hohe Schule der geduldigen Untergebung unter Gottes Willen. Die Ehe gibt unzählige Gelegenheiten, Geduld und Liebe zu erweisen, wie sie der Ehelose nicht hat … Ja, man soll froh in die Ehe gehen und froh in ihr stehen, weil man weiß, daß Gott Wohlgefallen an ihr und an den Eheleuten als solchen hat“5. Nun ist zwar auch die Ehe von der aus dem Einbruch der Begierde nach dem Sündenfall resultierenden Sündhaftigkeit des Geschlechtsakts nicht frei, aber „gott verschonet yhr auß gnaden darumb, das der ehliche orden seyn werck ist und behellt auch mitten unnd durch die sund alle das gutt, das er dareyn gepflantzt und gesegenet hatt“6. Dass die eheliche Gemeinschaft von Frau und Mann die Sündhaftigkeit des Geschlechtsverkehrs zwar nicht aufhebt, ihr aber die gnadenhafte Vergebung ihres Schöpfers zusichert, ist aufs Engste mit den Gütern verbunden, die Luther der Ehe beimisst: Treue sowie Nachwuchszeugung und -erziehung. 5 Althaus, Die Ethik Martin Luthers, S. 93. 6 Vom ehelichen Leben, WA 10.II, S. 304.
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Während die Treue nicht nur die sexuelle Lust der Eheleute dämpft, die in der Ehe kanalisiert wird, ohne den Zorn Gottes auf sich zu ziehen, und so die Sünde des Ehebruchs verhindert, sondern auch für einen liebe- und respektvollen Umgang der Eheleute miteinander sorgt, gibt die Zeugung und Erziehung von Nachwuchs als Resultat des mit dem göttlichen Segen versehenen Fortpflanzungstriebes der Ehe ihre gottgewollte Aufgabe und verleiht ihr so ihre besondere Würde innerhalb des göttlichen Schöpfungswerkes. Das Gut der Treue, das „bonum fidei“, hat dabei sein Fundament im christlichen Glauben, der als Vertrauen in die grundlos sich schenkende Gnade das eheliche Miteinander als Gottes gnädige Einrichtung erkennen und so den Menschen frohen Herzens alle Mühen, die das eheliche Leben mit sich bringt, erdulden lässt. Der feste Glaube, dass alles, was in der Ehe zu verrichten ist, dass alles, was auch und gerade von Seiten des Partners geduldig zu ertragen ist, Gottes Wohlgefallen findet, ja seinem Willen entspricht und somit als Erweis seiner Gnade zu stehen kommt, trägt den Menschen in der alltäglichen Gestaltung des Ehelebens. Unverkennbar sind hier Luthers theologische Grundeinsichten, mittels derer er ein neuartiges Wesensverständnis der christlichen Religion formuliert und die in seine Lehre von Gesetz und Evangelium und damit in seine schöpferische Rechtfertigungslehre münden, mit Händen zu greifen. Sie finden gleichsam ihre Bewährung in und an seinem theologischen Eheverständnis und damit mittelbar auch in und an der Praxis des Ehelebens, welches im Glauben der Eheleute gleichermaßen sein Fundament wie auch seine höchste Bewährungsinstanz hat, also in der steten Gewissheit des göttlichen Wohlgefallens und im Vertrauen auf die sich in der Einsetzung und Segnung der Ehe manifestierende Gnadenzusage Gottes. Die Nachwuchszeugung und -erziehung – von Luther bis 1522 zum Dreh- und Angelpunkt seiner theologischen Legitimierung des Ehestandes ausgebaut – hängt mit dieser Fundierung der ehelichen Treue im Vertrauen auf das göttliche Gnadenhandeln aufs Engste zusammen: Die Worte in Gen 1,28, mit denen Gott den Menschen als seinen Geschöpfen aufgibt, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren, sind, wie Luther pointiert herausstellt7, nicht ein Gebot Gottes unter vielen, ja es handelt sich dabei überhaupt nicht um ein Gebot, sondern um Gottes Werk, um einen Teil des Schöpfungsaktes und als solchen um einen Teil der göttlichen Schöpfungsordnung. Der Fortpflanzungstrieb ist von Gott der menschlichen Natur eingepflanzt worden und für den menschlichen Lebensvollzug von ebenso zentraler Bedeutung wie beispielsweise die Ernährung. Davon zeugt schon die geschlechterspezifische Ausstattung der Leiber mit den entsprechenden Organen. Der Mensch muss sich somit vermehren, eben weil er von Gott zur Vermehrung erschaffen worden ist. Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass der eheliche Geschlechtsakt frei von Sünde sei, ganz im Gegenteil; doch Gott hat in seiner Gnade ein Nach7 Vgl. ebd., S. 276 und S. 304.
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sehen mit der Sünde, da sie in der Ehe als integralem Bestandteil seines gnadenvollen Schöpfungshandelns geschieht. Dabei erschöpft sich diese der Ehe ihre Würde verleihende Aufgabe nach Luther freilich nicht in der bloßen fleischlichen Vereinigung, deren Konsequenz dann Schwangerschaft und Geburt sind; vielmehr ist es dem Reformator auch und gerade um die Verantwortung der Eltern gegenüber ihren in der Ehe gezeugten Kindern zu tun. Anders formuliert: Gottgewollter Sinn und Zweck der Ehe ist die Zeugung und Erziehung des Nachwuchses. Erziehung meint für Luther in diesem Kontext Erziehung zum Glauben als unbedingtem Vertrauen in die göttliche Gnadenzusage. Damit ist Erziehung wesentlich Evangeliumsverkündigung durch Wort und Tat – dafür hat Gott die Menschen als zwei Geschlechter geschaffen, dafür hat er Frau und Mann den Fortpflanzungstrieb in ihre Natur eingepflanzt und die eheliche Gemeinschaft beider Geschlechter als sein ureigenes Werk eingesetzt, dafür spricht er der Fleischessünde in der Ehe seine Vergebung zu, dafür lässt er in der Ehe Frau und Mann ein Fleisch werden. Dass Luther überhaupt die geistliche Erziehungsfunktion der Eltern zu einem Grundpfeiler seines Eheverständnisses erhebt, ist bei Kenntnis der mittelalterlichen Verhältnisse schon an und für sich bemerkenswert.8 Darüber hinaus aber lässt sich festhalten: „In der Zeugung und gemeinsamen Aufzucht von Kindern aber kommt diese Gottesordnung, in der das in der Schöpfung Geordnete sich als Gnade erweist, zu ihrer Vollendung“9. Denn so wie die Eheleute zur den eigenen sündhaften Willen überwindenden Treue zueinander verpflichtet sind, wie sie die Nächstenliebe und die Achtung vor dem Willen Gottes gebietet, so sind sie im Rahmen ihres Erziehungshandelns auch zur Liebe ihrem Nachwuchs gegenüber verpflichtet: Sie müssen ihren Kindern das Evangelium in Wort und Tat vor Augen führen – und zwar sowohl zum Wohle der Seelen der Kinder, die es zu Gott zu führen gilt, als auch zum Wohle der eigenen Seelen. Denn die nach dem Willen Gottes eingerichtete und gelebte Ehe bedeutet nicht nur Glaubensverkündigung den Kindern gegenüber, sondern auch Bewährung des eigenen Glaubens der Eltern bzw. Eheleute. Denn: „Alles liegt daran, ob man mit Gott oder selbstsicher, ohne Gott, mit Furcht Gottes und Gebet um seinen Segen oder ohne das in die Ehe tritt und in ihr steht; ob man Gottes Willen in der eigenen Ehe am Werke weiß, auch in ihrer Enttäuschung und Not, oder ob man alles nur mit den Augen der Selbstsucht sieht“10. 8 So hatten Entwicklungen in der Katechese im Mittelalter dazu geführt, dass neben der Mutter Kirche und durch dieselbe vor allem den Paten als geistlichen Eltern eine zentrale Rolle bei der Erziehung der Kinder zukam, wie Heinrich Julius Holtzmann, Die Katechese des Mittelalters, in: Zeitschrift für praktische Theologie 20 (1898), S. 1–18, S. 117–130 nachweist. 9 Bernd Moeller, Wenzel Lincks Hochzeit. Über Sexualität, Keuschheit und Ehe im Umbruch der Reformation, in: Johannes Schilling (Hg.), Bernd Moeller, Luther-Rezeption. Kirchenhistorische Aufsätze zur Reformationsgeschichte, Göttingen 2001, S. 194–218, hier: S. 211. 10 Althaus, Die Ethik Martin Luthers, S. 98.
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Entsprechend stehen eheliche Treue einerseits, Nachwuchszeugung und -erziehung andererseits miteinander in einem fein austarierten, heilsgeschichtlich hochgradig bedeutsamen Bedingungsgefüge zu- und miteinander. So erhebt Luther die Ehe als Gemeinschaft von Eltern und Kindern zum Stand der gelebten, Anfechtungen erduldenden, auf Gottes Gnadenwort in Jesus Christus vertrauenden Gottes- und Nächstenliebe, da die auf der nach dem Willen Gottes geführten Ehe fußende Familie ein Ort der Evangeliumsverkündigung und damit des göttlichen Gnadenhandelns ist. Wo die Eltern ihrer damit benannten, schwerlich zu überschätzenden Verantwortung gegenüber ihren Kindern gerecht werden, sieht der Reformator die Idealform gottgefälligen Lebens realisiert, weshalb er erklären kann: „O wie ein selige ehe und hauß were das, wo solch eltern ynnen weren! furwar es were ein rechte kirche, ein außerwelet Closter, ja ein Paradiß“11. Obgleich Luther die Ehe bei all dem als göttliches Werk qualifiziert, als Ort der gelebten Gottes- und Nächstenliebe, als Gott wohlgefälligen Stand der Evangeliumsverkündigung, entbehrt sie jedes sakramentalen Charakters. Denn seine Identifikation der Ehe mit einer göttlichen Einsetzung, die ihren Ursprung unverrückbar im göttlichen Schöpfungshandeln hat und somit in die gottgewollte Ordnung der Welt grundsätzlich hineingehört, lässt ihm die Ehe zu einem „Werk“ Gottes werden. Dieses Werk Gottes an den Menschen als seinen Geschöpfen bildet den Rahmen für die gottgewollte – und das heißt für Luther: die natürliche – Anlage des Menschen, sich fortzupflanzen, wobei die Triebe wiederum direkt hineingehören in das göttliche Heilshandeln. „Die sexuelle Bestimmtheit des Menschen ist ein Teil der guten Schöpfung Gottes, und so auch die sexuelle Anziehung“12. Anders formuliert: Gott hat den Menschen mit seinem Fortpflanzungstrieb genauso geschaffen, wie er ihn beispielsweise der Nahrungsaufnahme bedürftig geschaffen hat. Das Zusammengehen von Frau und Mann zum Zwecke der Nachwuchszeugung ist von Gott in der Anlage des Menschen verankert und somit als Akt göttlicher Willenssetzung und unabdingbarer Teil der gottgewollten Schöpfungsordnung vollkommen natürlich und gottgefällig. Und genau deshalb ist die Ehe nach Luther „eyn eußerlich leyplich ding … wie andere weltliche hanttierung“ auch.13 Die nun mit der Desakramentalisierung einhergehende Unterordnung der Ehe unter die Jurisdiktionsgewalt der weltlichen Obrigkeit bei gleichzeitiger Delegitimierung der Papstkirche und ihres Rechts ist vor dem Hintergrund seines Eheverständnisses letztlich nur konsequent. Sie verläuft als theologisch fundierte Ermächtigung des Laienstands im Gegenüber zum geistlichen Stand, als Aufwertung der weltlichen Gewalt im Gegenüber zur geistlichen entlang der argumentativen Linien, denen Luther auch im Falle seiner Neuverortung des 11 Von den guten Werken, WA 6, S. 202–276, hier: S. 254. 12 Moeller, Wenzel Lincks Hochzeit, S. 209. 13 Vom ehelichen Leben, WA 10.II, S. 283.
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kirchlichen Amts folgt.14 So nimmt der Reformator der ehelichen Gemeinschaft folglich ihre kirchlich-institutionell sanktionierte Sakramentalität; aus biblisch-theologischen Gründen fällt das „bonum sacramenti“ und mit diesem der traditionelle Garant für die Unauflösbarkeit der Ehe – „… because marriage is not a sacrament, divorce and remarriage are licit, and sometimes even necessary“15.
2. Umwertung Vor diesem Hintergrund vollzieht Luther dann im Zuge seiner theologischen Verortung des ehelichen Standes innerhalb des göttlichen Gnadenhandelns den unumkehrbaren Bruch mit Zentralstücken der kirchlich sanktionierten Glaubenswelt des spätmittelalterlichen Christentums und mit den institutionellen Grundpfeilern, auf denen die Selbstwahrnehmung der Papstkirche primär als Heils-, sekundär dann als Lehr- und Rechtsanstalt ruht. Denn Luthers genannte Hochschätzung der wahrhaft christlichen, d. h. gottgefälligen Ehe als „ein rechte kirche, ein außerwelet Closter, ja ein Paradiß“16, die ihm auch und gerade aus den aufgezeigten Grundfesten seiner theologischen Einsichten und Aufbrüche erwächst, führt geradezu zwangsläufig zu einer grundstürzenden Neubestimmung des Verhältnisses von ehelicher Gemeinschaft, Keuschheit und Jungfräulichkeit. Die durch Luther bereits 1519 in seinem Sermon „Von dem Elichen Standt“17 ehetheologisch initiierte und in den Folgejahren konsequent weitergeführte Um- und Neubestimmung des Verhältnisses von Ehe und kirchlich sanktionierter Virginität ist inhaltlich-argumentativ untrennbar verbunden mit seiner theologischen Auseinandersetzung mit den Gelübden. Genauer: mit dem Keuschheitsgelübde und dem Zölibat18, wie sie uns vor allem in „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“19, in „De captivitate Babylonica ecclesiae“ sowie den „Themata de Votis“20 14 Vgl. dazu ausführlich Christopher Voigt-Goy, Potestates und ministerium publicum. Eine Studie zur Amtstheologie im Mittelalter und bei Martin Luther, Tübingen 2014, S. 136–181 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 78). 15 John Witte Jr., From Sacrament to Contract. Marriage, Religion, and Law in the Western Tradition, Louisville/Kentucky 22012, S. 132. 16 Von den guten Werken, WA 6, S. 254. 17 Von dem Elichen Standt, WA 2, S. 166–171. 18 Die hier unter den Maßgaben des Themas lediglich angerissene publizistische Auseinandersetzung Luthers mit Zölibat und Keuschheitsgelübde bzw. mit deren altgläubigen Verfechtern zeichnet ausführlicher Kawerau, Die Reformation und die Ehe, S. 12–40, nach. 19 An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, WA 6, S. 404–469. 20 Themata de Votis, WA 8, S. 323–335.
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und dem „De votis monasticis iudicium“21 begegnet, bevor sie dann in Luthers erste umfassende Darlegung seines theologischen Eheverständnisses eingeht, nämlich in den genannten Sermon „Vom ehelichen Leben“. Seit seinen entsprechenden Ausführungen in der Adelsschrift geht Luthers Kritik an den Gelübden mit dem Thema Ehe einher; stehen dabei anfangs noch monastischer und ehelicher Stand nebeneinander, so führt ihn seine Absage an die Verdienstlichkeit und die ewige Bindekraft der Gelübde zusehends zur Umwertung, d. h. zur Überordnung des ehelichen Miteinanders über die monastische Enthaltsamkeit, in deren Verlauf ihm erstgenannte Lebensform 1521/22 zum Ideal christlichen Lebensvollzugs wird.22 Luthers Kritik an Keuschheitsgelübde und Zölibat stützt sich auf folgende argumentative Grundlinien: Gelübde und Zölibat entbehren nicht nur jedweder biblischen Grundlage, sondern widersprechen dem in der Heiligen Schrift fixierten Gotteswillen diametral. Sie beruhen nicht auf göttlichen Willenssetzungen, sondern sind Resultate des sündhaften menschlichen Willens, der eben etwas von Gott will, und legen so beredt Zeugnis ab von der Verfallenheit der Menschen. Diese blicken lieber auf ihre von ihnen selbst erfundenen, vermeintlich verdienstvollen Werke, um sich ihr Seelenheil zu sichern, anstatt – dem Willen ihres Schöpfers gemäß – auf die göttliche Gnadenzusage in Jesus Christus zu vertrauen, anstatt also an das Evangelium von der grundlos sich selbst schenkenden Gnade Gottes zu glauben. Nichts könnte aber diesem Glauben, verstanden als bedingungsloses Vertrauen, ferner sein als der sich mit dem Streben nach „merita“ durch menschengemachte „opera“ verratende Egoismus, wie er aus der Furcht um das eigene Seelenheil erwächst. Die damit einhergehende Verhältnisbestimmung von monastisch-asketischer Lebensweise und ehelichem Leben besitzt vor dem Hintergrund ihrer Entstehungs- und Artikulationszeit eine schwerlich zu überbietende Tragweite: Sinn und Zweck der Ehe ist im Rahmen des göttlichen Heilshandelns vor allem die Zeugung und Erziehung des Nachwuchses, eben weil die Eltern in der Evangeliumsverkündigung ihren Kindern gegenüber die edelsten Werke vollbringen können. Damit kann sich das spätmittelalterliche Elitechristentum nach Luther schlicht nicht messen. Galt bisher das monastisch-enthaltsame Leben als Realisierungsort des christlichen Lebensideals, ja als Ort des höchsten Verdiensterwerbs, so dreht Luther den Spieß um: Es ist gerade ihr Gegenstück, also die Ehe mit ihrer Absage an die sexuelle Enthaltsamkeit, weil und sofern die ausgelebte Sexualität die Fortpflanzung, diese die Erziehung und diese wiederum die Verkündigung 21 De votis monasticis iudicium, WA 8, S. 573–669. 22 Um es mit Karl Holl, Der Neubau der Sittlichkeit, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 1: Luther, Tübingen 61932, S. 155–287, hier: S. 239, zu sagen: „Die Auseinandersetzung mit der Kirche in den nächsten Jahren bewirkte nun zuvörderst, daß sich ihm das ‚Verhältnis der beiden Stände‘ umdreht“. Zur frühen theologischen Genese der Absage Luthers an das Mönchtum siehe ebd., S. 239–242.
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des Evangeliums Jesu Christi ermöglicht. Galt nun die im Geschlechtsverkehr gelebte Sexualität bisher als Ausdruck der Sündhaftigkeit des Fleisches, der Lust und Begierde, so entzieht Luther sie in der Ehe – und nur dort – der Sphäre des Sündhaften, da für ihn Ehe und Fortpflanzung als Teile der Schöpfungs- und Naturordnung Gottes in die Sphäre des göttlichen Segenshandelns gehören. Allerdings geht es Luther nicht darum, das enthaltsame Leben generell zu diskreditieren: „Eyn iglicher fare, wie er kan und sich fület, das yhm geben ist von got“23. Der in dieser Formulierung liegende Bezug auf die in Mt 19,12 formulierten und damit biblisch legitimierten Ausnahmen ist unverkennbar. Luther weiß sehr wohl, dass nicht alle Menschen zum ehelichen Leben mit seiner bis 1522 klar umrissenen Zweck- und Zielbestimmung taugen. Zentral ist für ihn in diesem Zusammenhang allein der souveräne Gotteswille: Wer aufgrund göttlicher Willenssetzung oder Segnung der Ehe fern bleibt, verstößt selbstredend nicht gegen den Willen des Schöpfers. Das Problem liegt für Luther in der Antagonie des göttlichen und des menschlichen Willens: Wer sich der göttlichen Schöpfungsordnung bewusst entzieht, ohne von Gott dazu auserwählt zu sein, und sich so gegen den göttlichen Willen stellt, um dem eigenen willfahren zu können, wer sich in seinem Lebensvollzug auf menschliche Einrichtungen verlässt statt auf von Gott geschaffene und somit Menschenwerk höher schätzt als Gottes Werk, wer sein Vertrauen auf Menschenworte setzt und nicht auf die göttliche Gnadenzusage, der darf nicht damit rechnen, vor Gott Wohlgefallen zu finden. Um es auf den Punkt zu bringen: „Man soll keynen stand fur gott besser seyn lassen denn den ehlichen“24. Selbstverständlich weiß Luther um das paulinische Lob der Keuschheit, aber er folgt der Argumentation des Apostels in 1. Kor 7,32–35 sehr genau und erklärt entsprechend: „Gottis wort und predigen macht den keuschen stand besser denn der ehliche ist, wie yhn Christus und Paulus furet haben. An yhm selber aber ist er viel geringer“25. Der sündhafte Mensch darf sich somit nicht als Subjekt der Entscheidung für ein enthaltsames Leben sehen, sondern muss sich als Objekt derselben verstehen lernen. Spürt er nach eingehender Selbstprüfung, dass er nicht von Gott zum keuschen Leben bestimmt ist, muss er, sollte er bereits ins Kloster gegangen oder die Weihe empfangen haben, seine Gelübde bzw. den mit der Weihe auferlegten Zölibat hinter sich lassen und heiraten, wenn er sich nicht zum Schaden seiner eigenen Seele bewusst gegen den göttlichen Willen stellen will. Die Freiheit, sich von Gelübden und Zölibat zu lösen, wird dem Menschen mit der Taufe geschenkt. Sie ist als Element göttlichen Erlösungshandelns ein unveräußerliches Gut, dem die schändliche Gelübde- und Weihepraxis zuwiderläuft. Und 23 Vom ehelichen Leben, WA 10.II, S. 302. 24 Ebd. 25 Ebd.
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eben weil der Mensch durch die mit der Taufe geschenkte Gnadenzusage Gottes in Jesus Christus zur christlichen Freiheit berufen ist, hat er jederzeit das Recht und die Pflicht, alle von Menschen erdachten Einschränkungen der christlichen Freiheit abzuschütteln. Die kirchenrechtlich und theologisch sanktionierte Hierarchisierung von Ehe, Keuschheit und Jungfräulichkeit, wie sie die mittelalterliche Papstkirche bezüglich der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Stellung und des heilsgeschichtlichen Wertes des ehelichen Miteinanders prägte26, lässt Luther folglich aus rechtfertigungstheologischen Gründen hinter sich, wobei ganz grundsätzlich festzuhalten ist: „Die eherechtlichen Fragen sind natürlich bei Luther ganz in seine Theologie der Ehe eingebettet“27. Die Ehe als gottgefällige Gemeinschaft von Frau, Mann und Kindern wird ihm „ein rechte kirche, ein außerwelet Closter, ja ein Paradiß“28: Die Kinder werden ihren Eltern von Gott anvertraut, gerade damit diese an jenen im Zuge der christlichen Erziehung wahrhaft christliche Werke tun können, denn „gewißlich ist vater und mutter der kinder Apostel, Bis schoff, pfarrer, ynn dem sie das Euangelion yhn kundt machen“29. Mit anderen Worten: Die Eltern sollen ihrem Nachwuchs zur Kirche werden. „Und kurtzlich, keyn grosser, edler gewalt auff erden ist denn der elltern uber yhre kinder, Syntemal sie geystlich unnd welltlich gewallt uber sie haben. Wer den andern das Euangelion leret, der ist warlich seyn Apostel und bischoff“30. Damit ist die hohe Verantwortung der Eltern gegenüber ihrem Nachwuchs genauso unzweideutig benannt wie ihre Funktion. Zur Identifizierung derselben erkennt nun der Reformator dem Elternhaus den Heilsrang zu, den sich ursprünglich und eigentlich die hierarchische Kirche in ihrer Selbstwahrnehmung als Heilsanstalt zuschreibt. Der theologische Ermöglichungsgrund dafür liegt in der Annahme, dass die Aufgabe der Kirche ihr Zentrum nicht in der sakramentalen Heilsvermittlung hat, son26 Siehe dazu das Resümee bei Kawerau, Die Reformation und die Ehe, S. 2: „Das ehelose Leben, so lehrte die mittelalterliche Ethik, ist besser als das eheliche Leben, da jenes den Menschen direkt seiner Bestimmung entgegenführt, dieses dagegen ihn auf das Ungöttliche ablenkt. Die Ehe galt ihr im Grunde nur als eine leidige Notwendigkeit; die Eheleute befinden sich eigentlich in einem unvollkommenen Stande, in dem die Aufgaben des christlichen Lebens viel schwerer erfüllt werden können als in der Ehelosigkeit. Die Ehe war ihr kaum etwas andres, als eine geduldete Form der Unkeuschheit“. 27 Hartwig Dieterich, Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, München 1970, S. 24 (= Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und Staatskirchenrecht 10). Dass nun der von Luther vollzogene und eben theologisch fundierte Bruch mit dem Recht der Papstkirche auf juridischer Ebene protestantischerseits weder leicht nachvollzogen noch derartig scharf ausfallen konnte, sondern deutlich behutsamer gestaltet werden musste, und zwar inhaltlich wie terminologisch in bewusster Anknüpfung an das „Corpus Iuris Canonici“, verdeutlicht prägnant auch Mathias Schmoeckel, Das Recht der Reformation. Die epistemologische Revolution der Wissenschaft und die Spaltung der Rechtsordnung in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2014, S. 67–93; für die diesbezüglichen spezifisch eherechtlichen Entwicklungslinien siehe Dieterich, Das protestantische Eherecht in Deutschland, S. 109–166. 28 Von den guten Werken, WA 6, S. 254. 29 Vom ehelichen Leben, WA 10.II, S. 301. 30 Ebd.
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dern in der worthaften Verkündigung, in der worthaften Kommunikation; das Sakrament braucht Priester, das Wort nicht. Somit ist nicht die hierarchische Kirche die geistliche Obrigkeit der Kinder, sondern deren Eltern, nicht die Heilige Mutter Kirche trägt die Verantwortung für das Seelenheil des Nachwuchses, sondern dessen Erzeuger, nicht die Bischofskirche ist für die Predigt des Evangeliums zuständig, sondern das Elternhaus.31 So bestreitet Luther der Kirche überhaupt jedwedes Verfügungsrecht über und damit jeden normativen Anspruch auf die Ehe, den die Kirche vollends mit dem „Corpus Iuris Canonici“ behauptete und – sei es juridisch, sei es theologisch – bis in Luthers Gegenwart hinein zu legitimieren suchte.32 Denn Luthers schöpferische theologische Einsichten, seine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen dem sündigen Menschen und seinem gnädigen Gott, seine Zuordnung von Glaube und Freiheit im Erlösungshandeln Gottes in und durch das Evangelium Jesu Christi, führen zu seiner konsequenten Ablehnung papstkirchlicher Werkfrömmigkeit durch Dekonstruktion des überkommenen Verdienstgedankens und wirken sich folglich auch auf sein Eheverständnis aus. Dieses wiederum flankiert seinen Angriff auf den genannten integralen Bestandteil spätmittelalterlicher Frömmigkeit und lässt den Reformator ein anderes, dem ursprünglichen diametral entgegengesetztes Bild der idealen Realisationsform gottgefälligen Lebens entwerfen.
3. Einordnung Durch seine gleichermaßen entschiedene wie folgenreiche Absage an das „bonum sacramenti“ sowie an die Werk- bzw. Verdienstfrömmigkeit und durch seine radikale Aufwertung und theologische Füllung von Nachwuchszeugung und -erziehung entzieht Luther die Ehe also dem Zugriff der hierarchischen Kirche seiner Zeit als Hort des Antichrist, und zwar nicht zum Zwecke der endgültigen Profanierung und Säkularisierung der Ehe, sondern um die christliche, gottgefällige, auf Freiheit und Glauben beruhende und das Evangelium verkündigende Ehe wieder zu ermöglichen und zu etablieren. Kurz: Luther
31 Dabei formuliert Luther in seinem Sermon „Vom ehelichen Leben“ eine Funktionszuweisung aus, die ihren Wurzelgrund letztlich in seiner theologischen Reflexion der Bedeutung des Elternhauses innerhalb der christlichen Gesellschaft hat – und die er seit 1520 gedanklich längst vorbereitet hat, nämlich maßgeblich in seinen „Operationes in Psalmos“ (WA 5), wie Voigt-Goy, Potestates und ministerium publicum, S. 125–129, belegt. 32 Zum allumfassenden Geltungsanspruch, den die Papstkirche im Spätmittelalter für ihr Recht reklamiert, sowie zum daraus resultierenden, faktisch jeden Teil der Gesellschaft erfassenden juridischen Verfügungsbereich des „Corpus Iuris Canonici“ siehe bündelnd John Witte Jr., Law and Protestantism. The Legal Teachings of the Lutheran Reformation, Cambridge 2002, S. 35–40.
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,entkirchlicht‘ Ehe, um sie zu (re-)christianisieren.33 Das Kirchenrecht, die spätmittelalterliche Verdienstfrömmigkeit, die kirchliche Hierarchie: Sie alle verlieren in Luthers Vorstellung von einer wahrhaft christlichen Ehe ihre Macht über dieselbe, eben weil sie Resultate des verkommenen menschlichen Willens sind, der aufgrund seines sündhaften Egoismus dem Gotteswillen widerstreitet und widerstreiten muss. Doch allein dem Willen Gottes, dessen ureigenes Werk die Verbindung von Frau und Mann in der Ehe ist, gilt es zu folgen, auch und gerade in der und in Bezug auf die Ehe. Mit anderen Worten: Luthers heilsgeschichtliche Verortung der ehelichen Gemeinschaft und der auf ihr beruhenden christlichen Familie, die einhergeht mit dem theologisch irreparablen Bruch mit Zentralbeständen ehetheologischer Tradition seit Augustin34, hat – genau wie seine Rechtfertigungslehre – ihren Wurzelgrund in seinem neuartigen und schöpferischen Wesensverständnis der christlichen Religion. Das in vielfältigen Anfechtungen und Mühen sein Gottvertrauen bewährende Miteinander der Geschlechter erfüllt seinen gottgewollten Zweck in der und durch die Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi in Wort und Tat. Diese hier nur in groben Zügen nachvollzogene folgenreiche Einzeichnung der Ehe in seine Lehre von Gesetz und Evangelium, von göttlicher Gnade und christlicher Freiheit, lässt sie dem Reformator zum innerweltlichen Ideal christlicher Lebensverwirklichung, ja zu einer Trägerin der christlichen Gesellschaft werden, wodurch Luther die auf ihn gekommenen Eheverständnisse in ihrer Abhängigkeit von Augustin weit hinter sich lässt. Unter Berücksichtigung der weitreichenden Folgen dieser ehetheologischen Zäsur lässt sich zusammenfassend sagen: „Die familialen Verbindlichkeiten, insbesondere in den Eltern-Kind-Beziehungen, waren für Lutheraner selbstverständlich in einen religiös regulierten, biblisch formatierten Sinn- und Wertekosmos integriert, so dass es unangemessen sein dürfte, die Desakramentalisierung der Ehe, die seit Luthers ‚De captivitate Babylonica‘ opinio communis der Protestanten war, als Desakralisierung
33 Damit ist Luthers theologisches Eheverständnis ein weiteres Feld, auf das sich die viel diskutierte und nicht nur in der Reformationsforschung bekannte Christianisierungsthese von Scott H. Hendrix anwenden lässt; vgl. Ders., Recultivating the Vineyard. The Reformation Agendas of Christianization, Louisville/Kentucky/ London u. a. 2004. Die Anwendbarkeit von Hendrix’ These auf bestimmte Facetten des in unserem Zusammenhang nachgezeichneten Eheverständnisses Luthers auf eher lebensweltlich-praktischer Ebene konnte bereits nachgewiesen werden; siehe dazu exemplarisch Merry Wiesner-Hanks, Jacob’s Branches and Laban’s Flocks. Christianizing the Maternal Imagination, in: Anna Marie Johnson/John A. Maxfield (Hg.), The Reformation as Christianization. Essays on Scott Hendrix’s Christianization Thesis, Tübingen 2012, S. 231–244 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 66) und Susan C. Karant-Nunn, The Tenderness of Daughters, the Waywardness of Sons. Martin Luther as a Father, in: ebd., S. 245–255. 34 Siehe zum Eheverständnis des Kirchenvaters Philip L. Reynolds, Marriage in the Western Church. The Christianization of marriage during the patristic and early medieval periods, Leiden/New York u. a. 1994, S. 241–311 (= Supplements to Vigiliae Christianae 24) und Witt, Martin Luthers Reformation der Ehe, S. 35–66.
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oder gar Säkularisierung der Ehe zu fassen. Im Gegenteil: Gerade als weltliche Ordnung war die Ehe schöpfungsgemäße und insofern heilige, sakrale Ordnung“35. Luthers Eheverständnis hat sein Fundament in seinen reformatorisch-theologischen Neuaufbrüchen. Die Ehe fungiert vor diesem Hintergrund gleichsam als Betätigungs- und Bewährungsfeld des sündigen Menschen in seinem von Luther neubestimmten Verhältnis zu Gott; von dieser Neubestimmung mit all ihren theologischen Folgegedanken geht er aus, wenn er von der Ehe, ihrer heilsgeschichtlichen Bedeutung und damit von ihrem Ort im göttlichen Gnaden- und Erlösungshandeln spricht, wenn er theologisch Zeugung und vor allem Erziehung der Kinder in ihrer Koordinierung mit der ehelichen Treue zum eigentlich entscheidenden, Ziel- und Zweckbestimmung umfassenden Charakteristikum der christlichen Ehe erhebt, wenn er die daraus resultierende Verantwortung der Eheleute als Eltern unzweideutig benennt und sein Urteil über die Statthaftigkeit des kirchlichen Zugriffs auf die eheliche Gemeinschaft fällt, wenn er schließlich die weltliche Obrigkeit zum Schutz der gottgefälligen Ehe sowie zur Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen in die Pflicht nimmt mit all den darin liegenden ordnungsrechtlichen und -politischen Implikationen. Und so kann Luther pointiert erklären: „Das aller best aber ym ehlichen leben, umb wilchs willen auch alles tzu leyden unnd tzu thun were, ist, das gott frucht gibt unnd befilht auff tzutzihen tzu gottis dienst, das ist auff erden das aller edlist theurist werck, weyll gott nicht liebers geschehen mag denn seelen erlößenn“36.
4. Verhältnisbestimmung Nehmen wir von hier aus noch einmal das Verhältnis der Geschlechter als liebende Ehegemeinschaft in den Blick: In seiner „Hochzeitpredigt über den Spruch Hebr. 13,4“ von 1531 führt Luther aus: „Wie wol ich vormals offt vom Ehlichen stand und leben gepredigt und geschrieben habe, doch wil ich itzt … auch ein wenig davon reden, Weil es auch der nötigsten stück eines ist, so man inn der Christenheit predigen, und alle Christen wissen sollen, Denn es auch ist der gemeinste und doch der fürnemeste stand, durch welchem alle andern stende bestehen und erhalten werden“37. Die Ehe war in der augustinisch-mittelalterlichen Tradition, wie sie den ehetheologischen Bildungshorizont des Spätmittelalters prägte, eine lediglich geduldete Einrichtung, die ihren Ort im Heilshandeln Gottes seit der Fleischwerdung Christi eingebüßt hatte und gegenüber dem eigentlichen Ideal menschlichen Lebensvollzugs, der 35 Kaufmann, Reformation der Lebenswelt, S. 563. 36 Vom ehelichen Leben, WA 10.II, S. 301. 37 Eine Hochzeitpredigt über den Spruch Hebr. 13,4, WA 34.I, S. 51–75, hier: S. 51.
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monastisch-asketischen Keuschheit, klar minderwertig war.38 Der Reformator hingegen erhebt sie zu dem Ort des gelebten Gotteswillens und der Evangeliumsverkündigung, an dem und durch den Gott in seiner grundlos sich selbst schenkenden Gnade heilsam an den Menschen als seinen Geschöpfen wirkt. Die Ehe wird Luther zum gottgewollten und vom liebenden Schöpfer selbst eingesetzten Ideal des menschlichen Lebensvollzugs und zum Kern der christlichen Gesellschaft. In diesen Zusammenhang stellt er seit den Anfängen seiner Beschäftigung mit der Ehe und seiner daraus resultierenden ständigen Profilierung und Vertiefung seines Eheverständnisses auch die eheliche Treue und die gegenseitige Liebe der Ehepartner. In seiner Auslegung von 1. Kor 7 aus dem Jahr 1523 erklärt Luther ausdrücklich die Ehe als in „der liebe gesetz verfasset“, wenn er das göttliche Wohlgefallen des ehelichen Geschlechtsverkehrs unter anderem wegen der Vermeidung der Hurerei begründen will.39 Diese Rede vom Gesetz der Liebe, in dem die Ehe verfasst ist, zielt nun bei Luther nachweislich in zwei Richtungen: Einmal nimmt er damit die göttliche Liebe den Menschen gegenüber in den Blick. In seiner Liebe hat Gott den Menschen im Rahmen seiner Schöpfung den
Abb. 3: Holzschnitt zum Hochzeitsgedicht für Pastor Hermann Jakobi und Veronika Rose, Druckerin Katharina Gerlachin (1520–1591/92), Nürnberg 1590. Im Bildumlauf werden die Pflichten von Mann und Frau innerhalb einer christlichen Ehe umrissen. 38 Siehe dazu ausführlich Witt, Martin Luthers Reformation der Ehe, S. 35–171. 39 Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern, WA 12, S. 92–142, hier: S. 101.
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ehelichen Stand geschenkt, damit seine Geschöpfe ihren eingepflanzten Trieben dem Willen Gottes entsprechend nachgeben können. Diese Zielrichtung ist in Luthers Sermon „Vom ehelichen Leben“ präsent. Hinzu tritt sodann eine weitere Deutungsrichtung, nämlich die, die auf das Verhältnis der Ehepartner abhebt. Schließlich geht es in der Ehe darum, „gutts und bößes, suss und saures mit seynem gemalh [zu, C. W.] leyden“40. Das Gesetz der Liebe waltet demnach nicht nur zwischen Schöpfer und Geschöpf, sondern auch unter den Geschöpfen. Zur Vermeidung der zügellosen Lust, der schändlichen Begierde, muss der eine Ehepartner „dem andern dienen, wie der liebe art ist“41. Mehr noch: Die ehelichen Pflichten, die Frau und Mann einander schulden, um das Abirren des Ehepartners auf sündhafte Wege gottgefällig zu verhindern, resultieren aus „der liebe gesetz, darynnen sie [die Ehepartner, C. W.] verbunden sind“42. Freilich greifen beide Ebenen ineinander: Die eheliche Gemeinschaft beruht auf der Liebe der Verheirateten, die ihrerseits wieder von der Liebe ihres Schöpfers ermöglicht und getragen wird. Schließlich ist es Gott, der die Partner einander zum Zwecke der Eheschließung zugesellt. Ihm allein obliegt nach Luther zudem die Sorge um das Gelingen des ehelichen Miteinanders, wie er nicht nachlässt zu betonen. Für Luthers Bild der Ehe und des christlichen Hausstands ist somit die Annahme konstitutiv, „daß Gott das Haus für den Hausstand bauen muß; insofern gehört zum Wagnis der Ehe der Glaube“43. Und gerade in der Bewährung der Liebe der Ehepartner zueinander und des Vertrauens auf Gottes liebende Führung liegt nach dem göttlichen Willen der schwerlich zu überschätzende Wert der Ehe im Rahmen des göttlichen Heilshandelns im und am sündigen Subjekt. Unter diesen Voraussetzungen wird Luther die Ehe dann zur Glaubensschule: „Sihe, so greyffistu hie fur das erst, das der ehestand von natur der art ist, das er den menschen treybt, iagt und zwinget hyneyn ynn das aller ynnerlichst, höhist, geystlich weßen, nemlich zum glauben“44. Denn der Ehestand übt „nicht alleyn das hertz und ynnwendig weßen durch den glauben fur Gott, sondern auch den leyb eusserlich ynn wercken, das also der ehestand beyde glauben unnd werck treybt, beyde leyb und seel hilfft, versorget und recht furet“45. Dass sich der gottgewollte, heilsgeschichtliche Sinn und Zweck der ehelichen Gemeinschaft in ihrer Funktion als Bewährungsraum des Glaubens und damit als Verkündigungsort des Evangeliums erfüllt, stellt Luther somit unzweideutig heraus. 40 41 42 43
Ebd., S. 124 f. Ebd., S. 101. Ebd., S. 103. Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521–1532, Stuttgart 1986, S. 273. 44 Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern, WA 12, S. 107. 45 Ebd., S. 108.
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„Zur Ehe gehört demnach im Sinne Luthers nicht nur der sinnliche Trieb der Geschlechter zueinander, denn dieser könnte an sich auch außer der Ehe befriedigt werden, sondern weiter auch die persönliche Liebe der Gatten zueinander … Der bloß sinnliche Trieb des Menschen, der unbeherrscht auch die Ehe zur Hurerei werden lassen kann, soll durch das persönliche Verhältnis, wie es durch die Liebe und die Monogamie hergestellt wird, und durch die Treue der Ehegatten sowie den Willen zur Nachkommenschaft gedämpft und veredelt werden. Die Ehe gibt also dem Menschen mit der sinnlichen Befriedigung auch ein Verhältnis gegenseitiger persönlicher Treue und eine umfassende soziale Aufgabe in dem Dienst Gottes. So ist sie ein ‚heiliges Leben und seliger Stand‘ und daher aller selbstgemachten Heiligkeit, Askese und Jungfräulichkeit vorzuziehen, wie Luther nicht müde wird hervorzuheben“46. Dabei nimmt Luther die partnerschaftliche Liebe der Eheleute primär in ihrer die Geschlechter verbindenden und verpflichtenden Wirkung in den Blick. Weil und sofern Frau und Mann in der Ehe im Gesetz der Liebe verbunden sind, schulden sie einander die Hurerei und Ehebruch entgegenwirkende, einander auch physisch verpflichtende Treue, die auch den Schöpfungsanlagen des Menschen – hier konkret: dem Fortpflanzungsdrang – Rechnung trägt, ohne dass diese in sündhaftes Treiben abgleiten. Doch darin erschöpft sich Luthers Umgang mit dem Traditionsstück des „bonum fidei“ keineswegs: Zudem erhebt er nämlich die liebende Gemeinschaft der Ehepartner, die ihrerseits wieder auf der liebenden Zuwendung Gottes beruht, zum Fundament des christlichen Haushalts und damit der Gesellschaft schlechthin. Schließlich ist nach Luther die Ehe der Stand, „durch welchem alle andern stende bestehen und erhalten werden“47. Die autoritative Grundlage auch dafür findet Luther in der Heiligen Schrift als der alleinigen Urkunde des unverbrüchlichen Gotteswillens, wie freilich nicht nur, aber auch seine große Genesisvorlesung belegt. Dieses Spätwerk des Reformators ist überlieferungsgeschichtlich bekanntlich nicht ganz unproblematisch, bildet als fulminanter „Abschluss seiner Lehrtätigkeit“ jedoch „ein monumentales Dokument von Luthers Alterstheologie, in dem sich zugleich seine Partizipation an den Entwicklungen, Problemen und Auseinandersetzungen seines letzten Lebensjahrzehnts spiegelt“48. 46 Seeberg, Luthers Anschauung von dem Geschlechtsleben, S. 102 f. 47 Eine Hochzeitpredigt über den Spruch Hebr. 13,4, WA 34.I, S. 51. 48 Martin Brecht, Martin Luther, Bd. 3: Die Erhaltung der Kirche 1532–1546, Stuttgart 1987, S. 139. Zu den überlieferungsgeschichtlichen Problemen siehe ebd., zum Aufbau des Gesamtwerks überblicksartig ebd., S. 139–143. Einen materialreichen Überblick bietet Ulrich Asendorf, Lectura in Biblia. Luthers Genesisvorlesung (1535–1545), Göttingen 1998 (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 87). Eine vergleichende Studie zum Frauenbild Luthers und seiner theologischen Aufladung in der großen Genesisvorlesung liegt vor mit Mickey Leland Mattox, „Defender of the Most Holy Matriarchs“. Martin Luther’s Interpretation of the Women of Genesis in the „Enarrationes in Genesin“, 1535–1545, Leiden/Boston 2003 (= Studies in Medieval and Reformation Thought 92). Zur prägnanten Bewertung der
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Gedanklich von der göttlichen Einsetzung des Haushalts und der Familie ausgehend, erklärt Luther bei der Auslegung von Gen 2,18, Gott habe aus dem einsamen Adam einen Ehemann gemacht und diesem eine Ehefrau zugesellt, auf dass beide gemeinsam die Vermehrung des menschlichen Geschlechts ins Werk setzten.49 Dabei setzt Luther Vermehrung und Schöpfungssegen qualitativ gleich, was seine Bewertung der Fortpflanzung unterstreicht, die eben nur beiden Geschlechtern gemeinsam möglich ist.50 „Deshalb war die Frau Adam eine Hilfe, denn allein konnte er sich nicht fortpflanzen, wie auch die Frau sich allein nicht vermehren kann. Dies sind sodann die höchsten Lobpreisungen der Geschlechter, dass der Mann im Kinderzeugen ein Vater, die Frau aber eine Mutter und eine Hilfe des Ehemannes ist“51. Zur Nachwuchszeugung von Gott im Rahmen seines Schöpfungshandelns eingesetzt, wird die eheliche Gemeinschaft dann in die Worte miteinbezogen, mittels derer der Schöpfer seine Schöpfung gutheißt und seine Zufriedenheit artikuliert.52 Bei aller Verschiedenheit der Geschlechter ist nun die Ehefrau Mitregentin des ehelichen Haushalts und hat somit das Mitbestimmungsrecht in die Kinder oder den gemeinsamen Besitz betreffenden Fragen53, weshalb sie nach dem Willen Gottes von selbem Wert ist wie der Mann.54 In diesem Zusammenhang folgert Luther aus der Bezeichnung der Frau als Männin in Gen 2,23: „Diese Benennung aber beinhaltet eine wunderbare und liebliche Beschreibung der Ehe … Denn alles, was der Ehemann hat, das alles hat und besitzt auch die Ehefrau. Nicht nur der Besitz ist ihnen gemein, sondern auch die Kinder, die Nahrung, das Bett und das Haus; sie sind auch gleichen Willens gegeneinander. So dass der Ehemann sich von der Ehefrau in keiner anderen Sache unterscheidet als dem Geschlecht, in allen anderen Dingen ist die Frau ganz wie der Mann“55. Und an dieser ganz grundsätzlichen Gleichrangigkeit der Geschlechter hat auch die Ursünde nichts geändert: Sofern die Frau fromm und ehrbar ist, partizipiert sie zu gleichen Teilen an der ehelichen Sorge um Ernährung und Hausstand, obgleich als Resultat des Sündenfalls und als Strafe für denselben die Frau dem Mann unterworfen ist.56 Diese Vorlesung vgl. auch Volker Leppin, Vorlesungen, in: Ders./Gury Schneider-Ludorff (Hg.) unter Mitarbeit von Ingo Klitzsch, Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, S. 728–734, hier: S. 734: Die Genesisvorlesung wurde „zu einem Kompendium seiner [Luthers, C. W.] exegetischen wie dogmatischen Erkenntnisse, zu einem noch viel zu wenig erschlossenen Vermächtnis seiner Theologie“. Die deutschen Übersetzungen der angeführten Passagen aus Luthers lateinischsprachiger Genesisvorlesung stammen vom Autor. 49 Genesisvorlesung, WA 42, S. 87. 50 Ebd., S. 89. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 55. 53 Ebd., S. 52. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 103. 56 Ebd.; siehe dazu ausführlicher auch ebd., S. 151.
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Unterordnung der Frau unter ihren Mann als Hausvater gibt diesem aber mitnichten irgendein Recht, seine ihm von Gott zugesellte Partnerin schlecht zu behandeln, ganz im Gegenteil: Seine Verantwortung gebietet ihm, wie Luther aus Gen 12,11 herausliest, seiner Partnerin mit Liebe und Respekt und nicht etwa wie einer Leibeigenen zu begegnen, und zwar nicht nur in guten, sondern auch und vor allem in schlechten Zeiten.57 Diese Qualität des zwischenmenschlichen Verhältnisses spiegelt sich dann auch in der von Gott eingesetzten Aufgabenverteilung wider: Denn trotz ihrer Unterordnung verfügt die Ehefrau ja innerhalb der „oeconomia“ mit der Aufsicht über die Kinder und das Gesinde über ihren eigenen Zuständigkeitsbereich, durch dessen selbstbestimmte Verwaltung sie teilhat am Gesamtregiment über Haushalt und Familie.58 Nimmt sie ihre Rolle als Mitregentin des ehelichen Haushalts im Vertrauen auf Gottes Wohlgefallen ernst und kommt ihren Pflichten entsprechend nach, übertrifft sie damit „alle Gottesdienste und Werke aller Nonnen“59. So gilt es, die Ehe zu loben als den Stand, durch den nicht nur die Kirche aufgerichtet, sondern auch das durch die Ursünde verdorbene Fleisch gezügelt und in gottgefällige Bahnen gelenkt wird.60 In dem und durch das Zusammenwohnen, die „cohabitatio“ von Frau und Mann, ist es den Eheleuten aufgegeben, eine Familie zu gründen und sich dann gemeinsam um die familiäre Gemeinschaft zu kümmern, also Kinder zu zeugen und christlich – d. h. für Luther zum Vertrauen auf die grundlos sich selbst schenkende Gnade Gottes in Jesus Christus – zu erziehen. Für den Reformator steht folglich fest: Auch und gerade die eheliche Gemeinschaft ist in ihrer gegenseitigen Zuordnung der Partner als „oeconomia“, „cohabitatio“ und „familia“ unbeschadet all der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Risiken, die sie gerade im Zuge der Nachwuchszeugung und -erziehung mit sich bringt, unbeschadet all des Jammers und der Unbequemlichkeiten, ein Gottesgeschenk, auf dem der Segen und damit das Wohlwollen des Schöpfers ruhen. Und dies gilt nach der Ursünde von jeder konkreten Einzelehe: So wie Gott einst die ersten Ehepartner im Paradies für einander geschaffen und nach seinem Willen zusammengeführt hat, so stiftet er jede christliche Ehe nach seinem Willen, indem er in seiner Gnade Frau und Mann einander zugesellt und damit den ehelichen Stand nicht nur einmalig, sondern fortwährend einsetzt und ordnet.61 Es ist eben das Vertrauen auf die göttliche Stiftung der eigenen Ehe, die das Miteinander der Eheleute aus- und stark macht: „Deshalb ist dort eine Ehe, wo Mann und Frau von Gott und durch den sicheren Willen Gottes verbunden werden, und
57 Ebd., S. 474. 58 Siehe dazu WA 43, S. 18. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 19. 61 Vgl. WA 42, S. 100.
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die Eheleute, die dies wissen, ertragen und überwinden leicht, was auch immer ihnen an Unannehmlichkeiten begegnet“62.
5. Bündelung Es sind vier Grundpfeiler, die die Ehetheologie des Reformators kennzeichnen, nämlich die schöpfungstheologische Verankerung des ehelichen Standes, die Zielbestimmung des ehelichen Miteinanders der Geschlechter in Nachwuchszeugung und Evangeliumsverkündigung, die rechtfertigungstheologisch fundierte Überordnung der Ehe über das monastisch-zölibatäre Leben und schließlich die Auflösbarkeit der ehelichen Gemeinschaft zugunsten wahrhaft gottgefälliger Verbindungen. Nach Luther ruht die Ehe auf Gottes Schöpfungswerk, erfreut sich seines Wohlgefallens und wurzelt in seinem Gnadenhandeln – kurz: die Ehe ist Gottes ureigenster Stand, aus dem die gesamte christliche Menschheitsordnung hervorgeht. Die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter und der Fortpflanzungstrieb sind folglich zwar göttliche Setzungen, die für Luther geradezu zwangsläufig zur ehelichen Vereinigung von Frau und Mann führen (müssen) und als solche dem Schöpfer wohlgefällig; doch daraus ergibt sich für ihn mitnichten ein wie auch immer zu beschreibender sakramentaler Charakter der Ehe. Gott will die eheliche Verbindung der Geschlechter, wo er keine Ausnahmen beruft, eben weil und sofern er die Ehe mit ihren drei Dimensionen „oeconomia“, „cohabitatio“ und „familia“ zur Keimzelle der Familie und des Haushalts, der weltlichen Ordnung und der Kirche macht. So ist Luther die eheliche Gemeinschaft von Frau und Mann, deren gottgewolltes Ziel und gottgeschenkte Würde in der Evangeliumsverkündigung dem Nachwuchs gegenüber in Wort und Tat beschlossen liegt, der eigentliche Realisationsort gottgefälliger innerweltlicher Lebensführung. Die aufgezeigte Integration der ökonomischen Dimension in seine Rede von der Ehe bei gleichzeitiger Betonung der Bedeutung von Liebe und Treue für das Verhältnis der Eheleute zueinander63 markiert folglich ein aus der theologischen Vertiefung des Gedankens vom „bonum fidei“ resultierendes Zentralstück des Eheverständnisses Luthers. Schließlich identifiziert Luther die Ehe als den Ort der gelebten Nächstenliebe.64 Ent62 WA 43, S. 299. 63 Auf den engen Zusammenhang von Ehelehre und Hausstandsethik im theologischen Denken Luthers verweist jüngst auch Andreas Stegmann, Luthers Auffassung vom christlichen Leben, Tübingen 2014, S. 415 (= Beiträge zur historischen Theologie 175). Zur Verknüpfung siehe auch ebd., S. 434 f. 64 Vgl. z. B. Vom ehelichen Leben, WA 10.II, S. 291. Vgl. dazu Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Bd. 2, Tübingen 1994 (Neudruck in zwei Bänden der Ausgabe Tübingen 1912), S. 556: Die Ehe und die daraus resultierende Familie „werden beim Christen unmittelbar auch zur Form der ersten und elementarsten religiösen Liebesbetätigung, indem das Gatten- und Elternverhält-
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sprechend gilt es, den ehelichen Stand zu ehren und zu preisen „als einen Christlichen, seligen stand“, der „von Gott geordent und gestifft sey. Das ist fast die höchste kunst im Ehelichen leben, das man diesen stand lerne ansehen nach seiner höchsten ehre, Nemlich, das er Gottes gestifft ist und Gottes Wort hat“65. Eben davon ausgehend, ermuntert Luther die Menschen angesichts der Härten des Ehelebens zu der Einsicht: „Das ich mit meinem ehelichen gemahl alhie sitze und lebe, des bin ich gewis, das es Gotte also wol gefalle, weil ers selbs also gestifftet und geordent hat und durch sein wort mich solchs heisset, Denn solch wort tröstet die eheleute und macht ein gut gewissen“66. Diese Perspektivierung, die die Liebe der Eheleute für- und zueinander als ein Zentralmoment seines Eheverständnisses in den Fokus rückt und somit als theologische Vertiefung der Reflexion Luthers über das zwischenmenschliche Verhältnis von Frau und Mann zu stehen kommt, lässt sich dabei noch an einem anderen Punkt festmachen, nämlich an Luthers Begründung der Ehescheidung: „Es redet aber der Apostel von eyner ursach des scheydens, nemlich vom zorn, wenn man und weyb nicht mugen mitteynander eyntrechtig leben, das sie ym hass und hadder leben, damit sie widder betten noch yrgent eyn gutt werck thun mugen“67. Auf Dauer gestellte, das Miteinander der Partner konterkarierende Uneinigkeit steht auch und vor allem der liebenden Gemeinschaft der Geschlechter im Weg. Die auf Liebe und Treue basierende Gemeinschaft ist als Trägerin der Ehe und damit des christlichen Haushalts dort unmöglich geworden, wo das Verhältnis der Eheleute derartig massiv gestört ist, dass eine Versöhnung zur Aufrechterhaltung des Miteinanders ausgeschlossen werden muss. Entsprechend votiert Luther im Falle einer solchen Qualität der Uneinigkeit für eine Scheidung der Ehe mit der Option auf anschließende Wiederverheiratung. Sind die Eheleute also außerstande, ihre ihnen von Gott im Rahmen seines Heilshandelns zugedachte Rolle zu erfüllen, hört die je einzelne eheliche Gemeinschaft somit auf, Ort des gelebten Gotteswillens sowie der Evangeliumsverkündigung zu sein, darf die Ehe als „eyn eusserlich leyplich ding, das nicht hyndert noch foddert den glauben“68, voll und ganz aufgelöst bzw. geschieden werden, auch und gerade zugunsten einer bezüglich ihres gottgewollten Sinns und Zwecks aussichtsreicheren Verbindung. Für wie wichtig Luther bei all dem die gegenseitige Liebe für das Gelingen der Ehe erachtet, wie sehr ihm das auf treuer Liebe beruhende Miteinander der Eheleute Voraussetzung ist für die Erfüllung der von Gott gesetzten Zielbestimmung der Ehe, unter-
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nis die nächstliegende Gelegenheit zur Betätigung der Liebe darbietet und in diesem Verhältnis die gemeinsame Selbsthingabe an Gott und das göttliche Liebesgesetz betätigt werden soll“. Eine Hochzeitpredigt über den Spruch Hebr. 13,4, WA 34.I, S. 53. Ebd., S. 57. Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern, WA 12, S. 119. Ebd., S. 120.
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streichen auch seine Gedanken zum Ehezwang: „Wenn nu eyn vater seyn kind zur ehe dringet, da das kind nicht lust noch liebe hyn hat, da tritt er uber und ubergehet seyne gewallt und wird aus vater eyn tyrann, der seyner gewallt braucht nicht zur besserung, da zu sie yhm geben ist von Gott, sondern zum verderben, dazu er sie yhm selbs nympt on Gott, ja widder Gott“69. Denn wo die potenziellen Ehepartner „widder lust noch liebe zusamen haben“, ist „zu besorgen … eyn ewige helle und alles ungluck das gantze leben lang“70. Luthers hier zur Sprache kommender sensibler Blick für die Bedeutung, die das zwischenmenschliche Verhältnis der Ehepartner für die nach seiner Wahrnehmung gottgefällige Gestaltung des ehelichen Mit- und Füreinanders hat, äußert sich auch in seiner theologischen Reflexion über die eheliche Gemeinschaft überhaupt, wenn er beispielsweise ausführt: „Aber rechte lust drynnen [in der Ehe, C. W.] haben kan niemant, der nicht solchen stand ym glauben festiglich erkennet, das er gott gefalle unnd fur yhm thewr geachtet sey mit allen seynen wercken, wie geringe sie sind. Geringe sind sie und verechtlich, aber wyr komen alle daher und haben yhr alle bedurfft, unnd were keyn mensch, wo sie nicht weren. Darumb gefallen sie gott, der sie alßo verodnet hatt und unßer damit pflegt alß eyn mutter ynn aller gutte“71. Und es sind solche Worte des Reformators, bei deren Lektüre schon an anderer Stelle und von prominenter Seite gefragt wurde, „ob derart unbefangen und unverstellt überhaupt jemals geredet worden war. Alle asketischen, leibfeindlichen oder das Leibliche sublimierenden Traditionen vieler Jahrhunderte waren da beinahe vergessen, alle umständlichen Konstruktionen, um trotz der hochgeschätzten Jungfräulichkeit doch auch der Ehe noch eine gewisse religiöse Weihe zu bewahren. Und doch kam bei Luther alles andere als purer Naturalismus dabei heraus, wie wir ihn heute vielleicht gewohnt sind. Vielmehr war die ganze Argumentation theologisch fest verankert, es konnte plausibel werden, daß es der Gott Jesu Christi war und nur er, der diese Freiheit des Denkens und Verhaltens erlaubte, ja gebot“72. Bei all dem belegt beispielsweise Luthers wirkmächtiges „Traubüchlein für die einfeltigen Pfarherrn“73, dass und wie sich der Reformator ausdrücklich als Seelsorger versteht, dessen Auslassungen zum Thema Ehe als Rat und Meinungsäußerung verstanden werden wollen und sollen – und nicht als normativ-direktive Weisungen eines herrschsüchtigen Pfaffen. Denn der Ratgeber und Seelsorger Martin Luther geht von einer ihm unumstößlichen Grundbedingung aus, die sein theologisches Eheverständnis genauso durchdringt 69 Daß Eltern die Kinder zur Ehe nicht zwingen noch hindern, und die Kinder ohne der Eltern Willen sich nicht verloben sollen, WA 15, S. 163–169, hier: S. 164. 70 Ebd. 71 Vom ehelichen Leben, WA 10.II, S. 298. 72 Moeller, Wenzel Lincks Hochzeit, S. 209 f. 73 Der Text des „Traubüchleins“ ist abgedruckt in WA 30.III, S. 74–80.
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wie sie überhaupt seine ganze Welt- und Selbstwahrnehmung prägt, und von der aus er entschlossen Stellung bezieht gegen das Selbstverständnis der Papstkirche, und zwar nicht nur in Eheangelegenheiten: „Der glaube und Christlicher stand ist so eyn frey ding, das er an keynen stand verbunden ist, sondern ist uber allen stenden, ynn allen stenden, und durch allen stenden, darumb keyn not ist, das du yrgent eynen stand an nemist odder verlassest, das du selig werdist. Sondern ynn wilchem stand dich das Evangelion und der glaube findet, da kanstu ynnen bleyben und selig werden … Bistu on ehe, so bistu drumb auch widder selig noch verdampt. Das ist alles frey, frey. Sondern wenn du Christen bist und bleybst, so wirstu selig, und wenn du unChristen bleybst, wirstu verdampt“74.
74 Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern, WA 12, S. 126, auch ebd., S. 133: „Denn es gillt fur Gott alles gleich, und ist keyn unterscheyd der person, noch verdienst der werck, sondern alleyn der gleyche glaube ynn allen und durch alle“. Vgl. dazu Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis, WA 26, S. 261–509, hier: S. 504 f.: „Aber die heiligen orden und rechte stiffte von Gott eingesetzt sind diese drey: Das priester ampt, Der Ehestand, Die weltliche öberkeit … Darumb das solche drey stiffte odder orden ynn Gottes wort und gebot gefasset sind, Was aber ynn Gotts wort gefasset ist, das mus heilig ding sein, denn Gotts wort ist heilig und heiliget alles, das an yhm und ynn yhm ist … Dennoch ist keiner solcher örden ein weg zur seligkeit, Sondern bleibt der einige weg uber diese alle, nemlich der glaube an Jhesum Christum, Denn ist gar viel ein anders heilig und selig sein. Selig werden wir allein durch Christum, Heilig aber beide durch solchen glauben und auch durch solche Göttliche stiffte und orden“.
Julia A. Schmidt-Funke
Buben, Hausväter und neue Mönche. Reformatorische Männlichkeiten
1. Reformationsgeschichte als Geschichte von Männlichkeiten Im Jahr 2008 – und damit pünktlich zum Beginn der Reformationsdekade – erschien der Band „Masculinity in the Reformation Era“, herausgegeben von Scott H. Hendrix und Susan C. Karant-Nunn.1 In neun Beiträgen zeichneten die Autorinnen und Autoren ein vielseitiges Bild reformationszeitlicher Männlichkeit, das nicht nur den Mann Martin Luther (1483–1546) thematisierte, sondern in einer europäischen Perspektive auch katholische und calvinistische Männlichkeitskonzepte in den Blick nahm. Zehn Jahre intensivierter Reformationsforschung später muss konstatiert werden, dass trotz dieses vielversprechenden Auftakts der Reformationsdekade die Ausbeute an männlichkeitsgeschichtlichen Studien gering ausfällt. Zwar drehen sich zahlreiche Untersuchungen nach wie vor um Männer, und vor allem um den einen Mann Martin Luther,2 so dass die Reformationszeit auf der noch viele weiße Flecken aufweisenden Karte geschichtswissenschaftlicher Männlichkeitsforschung vordergründig ein vergleichsweise gut erschlossenes Gebiet darzustellen scheint.3 Dennoch stehen Zugänge, die das Mannsein explizit zum Thema der Reformationsgeschichte machen,4 hinter der Zahl wissenschaftlicher und 1 Vgl. Scott H. Hendrix/Susan C. Karant-Nunn (Hg.), Masculinity in the Reformation Era, Kirksville/ Missouri 2008. 2 Vgl. Susan C. Karant-Nunn/Merry E. Wiesner (Hg.), Luther on Women. A Sourcebook, Cambridge/ New York 2003; Susan C. Karant-Nunn, „Fast wäre mir ein weibliches Gemüt verblieben“. Martin Luthers Männlichkeit, in: Hans Medick/Peer Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen. Zeitgenossenschaft – Weltwirkung, Göttingen 2004, S. 49–65; Merry E. Wiesner-Hanks, Der lüsterne Luther. Männliche Libido in den Schriften des Reformators, in: Jens Flemming/Pauline Puppel u. a. (Hg.), Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, S. 179–195 (= Kasseler Semesterbücher 14). 3 Dies bildet der neueste deutschsprachige Überblick zur geschichtswissenschaftlichen Männlichkeitsforschung bedauerlicherweise nicht ab, da er die Frühneuzeitforschung unberücksichtigt lässt. Vgl. Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz u. a., Geschichtswissenschaft, in: Stefan Horlacher/Bettina Jansen u. a. (Hg.), Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2016, S. 104–126. 4 Vgl. Ute Gause, Durchsetzung neuer Männlichkeit? Ehe und Reformation, in: Evangelische Theologie 73 (2013), S. 326–338 und ihren Beitrag in diesem Band; Helmut Puff, Die Geschichte der Reformation als Geschichte der Maskulinitäten. Ein Vorschlag zur Erforschung des 16. Jahrhunderts, in: Rebecca Gisel-
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populärer Arbeiten zu Frauen in der Reformationszeit, die ihre inhaltliche Klammer im Frausein finden, deutlich zurück.5 Greifbar wird darin das bekannte Problem der Frauenund Geschlechtergeschichte, dass die Kategorie „gender“ bei männlichen Akteuren häufig unsichtbar bleibt. Die dafür zu benennenden Gründe führen unmittelbar in die Diskussion um eine Geschichte der Männlichkeiten hinein. Forschungsgeschichtlich ist zunächst daran zu erinnern, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschlecht auch in der Reformationsgeschichte zuerst bei Frauen ansetzte. Da es anfänglich darum ging, der Reformation einen Platz in der Geschichte des asymmetrischen Geschlechterverhältnisses zuzuweisen,6 interessierte Männlichkeit vorrangig als patriarchalischer Gegenpart von Weiblichkeit. Erst mit einiger Verzögerung wurde dann dem Hinweis nachgegangen, „daß die Reformation für die Geschichte der Männlichkeit ein ebenso bedeutender Einschnitt war wie für die Geschichte der Weiblichkeit“.7 Nicht weniger als zwischen den Geschlechtern warf die Reformation unter Männern Fragen von Macht/Ohnmacht, Gleichheit/Ungleichheit auf. Die Frauengeschichte reagierte mit ihrer Betonung weiblicher Geschichte auf die Tatsache, dass Männer den vermeintlichen Normalfall der Geschichte darstellten. Männliche Handlungsspielräume sind deshalb lange Zeit nicht als geschlechtlich markiert wahrgenommen worden. Da diese auf Regularität basierende Unsichtbarkeit an Diskurse und Praktiken der historischen Akteure selbst anknüpft,8 ergibt sich für eine Geschichte der Männlichkeiten die Gefahr, dass sie ihr Studienobjekt ex post essentialistisch definiert. Die Frage, „how do we decide what constitutes an expression of masculinity when it does not come to us with a label,“9 ist deshalb als grundsätzliches methodisches Bedenken ernst zu nehmen, greift aber letztlich nur ein altbekanntes Problem der Geschlechterforschung brecht (Hg.), „Hör nicht auf zu singen“. Zeuginnen der Schweizer Reformation, Zürich 2016, S. 205– 236; Ders., Männlichkeit in Bildquellen des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschlechtergeschichte im Reformationszeitalter, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), S. 535–548. 5 An Neuerscheinungen seit 2008 vgl. unter anderem Kirsi Stjerna, Women and the Reformation, Malden/Massachusetts/Oxford u. a. 2009; Sonja Domröse, Frauen der Reformationszeit. Gelehrt, mutig und glaubensfest, Göttingen 2010; Sylvia Weigelt, „Der Männer Lust und Freude sein“. Frauen um Luther, Weimar 2011; Lisbeth Haase, Mutig und glaubensstark. Frauen und die Reformation, Leipzig 2011; Giselbrecht, „Hör nicht auf zu singen; Martina Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement, Leipzig 2016 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 55). 6 Vgl. Julia A. Schmidt-Funke, Reformation und Geschlechterordnung. Neue Perspektiven auf eine alte Debatte, in: Werner Greiling/Armin Kohnle u. a. (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Köln/ Weimar u. a. 2015, S. 29–53 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 4), mit weiterführender Literatur. 7 Lyndal Roper, Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a. M. 21999, S. 229. 8 Vgl. Kenneth Gouwens/Brendan Kane u. a., Reading for Gender, in: European Review of History/Revue européenne d’histoire 22 (2015), S. 527–535, hier: S. 528. 9 Ebd.
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auf. Männlichkeiten dürfen ebenso wenig wie Weiblichkeiten a priori definiert werden, sondern müssen in ihrer Relationalität begriffen und unter Berücksichtigung verschiedener Kategorien, d. h. intersektional, erforscht werden.10 Wenn es das Ziel der Geschichte der Männlichkeiten ist, „historisch zu zeigen, was Männer zu einem bestimmten Zeitpunkt auf welche Art zu Männern gemacht hat“11, besteht ihre Aufgabe darin, geschichtswissenschaftlich plausibel zu machen, was in der jeweiligen Zeit, Situation und Position ein Ausdruck von Männlichkeit war. Wie sich dies für die frühe Reformationszeit umsetzen lässt, soll im Folgenden mit zwei verschiedenen Zugängen aufgezeigt werden. Zunächst wird auf der Grundlage neuerer Forschungsergebnisse die Reformation als Transformation klerikaler Männlichkeit in den Blick genommen, wobei der Analyse hier in erster Linie die Äußerungen und Erfahrungen der Reformatoren selbst zugrunde liegen. In einem zweiten Schritt soll dann die Reformation als Herausforderung städtischer Männlichkeit dargestellt werden, indem das Neben- und Gegeneinander verschiedener Männlichkeitsentwürfe im reformationszeitlichen Frankfurt am Main analysiert wird.
2. Neue Mönche. Reformation als Transformation klerikaler Männlichkeit Nur wenige Männer der Reformationszeit dürften so umfassend erforscht sein wie Martin Luther, und von kaum einem Mann dieser Zeit haben sich so viele Äußerungen zu Fragen des Geschlechterverhältnisses und der Sexualität erhalten wie von ihm. Die reiche Überlieferung ist nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass schon die Zeitgenossen die Leiblichkeit des Reformators für so wichtig hielten, dass sie entsprechende Zeugnisse als bewahrungswürdig ansahen bzw. – wie im Fall der auf homosozialer Geselligkeit beruhenden Tischreden12 – bewusst generierten. Lyndal Roper hat sich dies für ihre viel beachtete Luther-Biographie nicht nur zunutze gemacht,13 sondern auch herausgearbeitet, dass die körperlich-virile Präsenz des Reformators schon bald nach Ablegung des Mönchshabits zum Bestandteil der „Marke“ Luther wurde.14 Entsprechend reichhaltiges Quellen10 So auch grundsätzlich Claudia Opitz-Belakhal, „Krise der Männlichkeit“ – ein nützliches Konzept der Geschlechtergeschichte? in: L’homme 19 (2008), S. 31–49, hier: S. 31. 11 Martschukat/Stieglitz, Geschichtswissenschaft, S. 107. 12 Die Bedeutung der Tischreden betont auch Lyndal Roper, Der feiste Doktor. Luther, sein Körper und seine Biographen, Göttingen 2012, S. 8, S. 27 (= Historische Geisteswissenschaften 3). Zur Problematik der Tischreden vgl. Katharina Bärenfänger/Volker Leppin u. a. (Hg.), Martin Luthers Tischreden. Neuansätze der Forschung, Tübingen 2013 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 71). 13 Lyndal Roper, Der Mensch Martin Luther. Die Biographie, Frankfurt a. M. 2016. 14 Roper, Der feiste Doktor, S. 5 f. und öfter.
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material findet sich zu Huldrych Zwingli (1484–1531) oder Johannes Calvin (1509–1564) nicht, weil die hausväterliche Männlichkeit aus verschiedenen Gründen15 nicht auf denselben Resonanzboden traf und dementsprechend auch kaum in ihre Memoria einging.16 Emotional engagierte und sexuell aktive Ehemänner waren aber wohl alle drei.17 Hinsichtlich der zentralen Frage ehelicher Sexualität herrschte zwischen der lutherischen und der zwinglianisch-calvinischen Reformation weitgehende Einigkeit: Die Ehe war der Rahmen, der den Reformatoren – auch ganz persönlich – ein „Bekenntnis zur Leiblichkeit und Sinnlichkeit“18 erlaubte bzw. abrang. Die Neubewertung von Geschlechternormen und Sexualität, die in Luthers Haushalt so große Strahlkraft erlangte, war ein gleichermaßen in Wittenberg, Zürich oder Genf, Altenburg oder Straßburg verfolgtes Projekt, und die Ehetheologie, die von den persönlichen wie den seelsorgerischen Erfahrungen der Reformatoren getragen war, wurde zum Kristallisationskern reformatorischer Geschlechterordnung. Doch waren es selbstverständlich nicht allein die vergleichsweise gut untersuchten Stellungnahmen zur Ehe,19 die eine geschlechternormierende Wirkung entfalteten. Für eine Geschichte reformatorischer Männlichkeiten sind beispielsweise auch die theologischen Beschäftigungen mit der Genesis zu berücksichtigen.20 So unterstrich Luther in seinen Genesisvorlesungen anhand der alttestamentarischen Männer von Adam bis 15 Dies hatte zum einen einfache biographische Gründe: Weder Zwingli noch Calvin lebten so lang mit ihren Ehefrauen zusammen wie Luther, aus Calvins Ehe ging auch nur ein Sohn hervor, der kurz nach der Geburt verstarb. Ein weiterer Faktor dürfte die bessere, von zahlreichen Schenkungen profitierende ökonomische Lage des lutherischen Haushalts gewesen sein, die den Eheleuten Luther auch ihre Gastlichkeit ermöglichte. Zur Ökonomie des lutherischen Hauses vgl. Martin Treu, Luther und das Geld. Aus Luthers Schriften, Briefen und Tischreden, Wittenberg 2000 (= Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 9). Zu Zwinglis ökonomischen Verhältnissen vgl. Oskar Farner, Anna Reinhart, die Gattin Ulrich Zwinglis, in: Zwingliana 2/8 (1916), S. 197–211, 3/8 (1916), S. 229–245, hier: S. 232. 16 Das Fehlen von Quellen führte im Fall Zwinglis dazu, dass entsprechende Familienszenen im 19. Jahrhundert erfunden wurden. Vgl. Farner, Anna Reinhart, S. 229–231. 17 Zu Luther vgl. neben der bereits angeführten Literatur auch Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 22013, S. 329–334. Zu Zwingli vgl. Farner, Anna Reinhart; Edward J. Furcha, Women in Zwingli’s World, in: Zwingliana 19/1 (1992), S. 131–142. Zu Calvin vgl. Isabelle Graessle, Calvin und die Frauen – die Frauen Calvins … zwischen Irritation und Bewunderung, in: Martin Sallmann/Moisés Mayordomo u. a. (Hg.), Johannes Calvin 1509–2009. Würdigung aus Berner Perspektive, Zürich 2012, S. 139–156; John Witte Jr./Robert McCune Kingdon (Hg.), Sex, Marriage, and Family in John Calvin’s Geneva, Grand Rapids/Michigan/Cambridge 2005. 18 Gause, Durchsetzung neuer Männlichkeit, S. 337. 19 Vgl. zur lutherischen Ehetheologie zuletzt und umfassend Christian Volkmar Witt, Martin Luthers Reformation der Ehe. Sein theologisches Eheverständnis vor dessen augustinisch-mittelalterlichem Hintergrund, Tübingen 2017 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 95) und seinen Beitrag in diesem Band. Zur zwinglianisch-calvinischen Ehetheologie vgl. Herman J. Selderhuis, Marriage and Divorce in the Thought of Martin Bucer, Kirksville/Missouri 1999 (= Sixteenth Century Essays & Studies 48). 20 Zur Bedeutung des Sündenfalls für die Traugottesdienste vgl. Stephen Ozment, When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe, Cambridge/Massachusetts 1983, S. 8 f.
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Josef, wie ausgeprägt männliche Wollust sei. Die biblische Erzählung ermöglichte es ihm, männliche Libido zu charakterisieren; an den Urvätern ließen sich Überzeugungen darlegen, die auch Luthers Eheverständnis zugrunde lagen: Die Wollust bestehe unabhängig von weiblichen Verlockungen, sie sei in der Jugend besonders ausgeprägt und werde durch das Alter und die Ehe gemildert.21 In den Auslegungen der Genesis wird eine reformatorische Anthropologie greifbar, die mit ihrem Bezug auf die Ureltern Adam und Eva und ihre Nachkommen zwangsläufig Positionen zu einer Geschlechterordnung enthält.22 Dies lässt sich in einen größeren geschlechtsbezogenen Adam-und-Eva-Diskurs einbetten, dessen Relevanz für eine Naturalisierung der Geschlechtscharaktere bereits von literatur- und kunsthistorischer Seite skizziert worden ist:23 Verena Krieger hat in diesem Zusammenhang anhand von bildkünstlerischen Sündenfalldarstellungen des frühen 16. Jahrhunderts gezeigt, dass die Figur Adams zwar zwischen Opfer, Täter und Held changierte. Doch insgesamt gewann der dominante und aktive Adam gegenüber mittelalterlichen Darstellungen an Bedeutung, während zugleich „der katastrophische Charakter“ der Ursünde an Bedeutung verlor.24 Eine solche Betonung viriler Aktivität fügt sich ein in die gleichzeitige Aufwertung der Hausvaterrolle, die – wie auch die von Krieger analysierten Adam-Darstellungen – keine Neuschöpfung des Protestantismus war, sondern in der Reformationszeit protestantisch ausgestaltet und zum faktisch alternativlosen Ideal erhoben wurde.25 Als Justus Menius (1499–1558) 1529 mit seiner „Oeconomia Christiana“ dem vorreformatorischen Hausväterideal eine protestantische Signatur verlieh, unterstrich Luther in seiner an den unverheirateten Wittenberger Hauptmann Hans von Metsch/Metzsch gerichteten Vorrede die Unausweichlichkeit der Ehe: Die Unverheirateten gingen „lass vnd sicher dahi / dencken nich / das sie Gottes gepot zwinget vnd nötiget zum ehestand / gerade als weren sie fre / vnd stünde ynn yhrem gutdüncken vnd freyen wille / sich zu verehlichen wenn sie wollen odder nymmer meh / bleiben gleich wol daneben ynn offentlichem erkandtem sundli21 Vgl. Wiesner-Hanks, Lüsterner Luther, S. 193 f. 22 Entsprechende Überlegungen trug Ute Gause in ihrem Vortrag „Körperlichkeit und Sexualität bei Martin Luther anhand der Genesisvorlesung von 1535–1545“, auf der Tagung „Madensack, Fleischsbrod und Doktorbarett. Luther, der Leib und die Valenz des Materiellen“, Kassel, 6.–7.4.2017, vor. Eine Publikation des Beitrags ist geplant. 23 Vgl. Kathleen M. Crowther, Adam and Eve in the Protestant Reformation, Cambridge 2010; Verena Krieger, Adam als Liebespartner. Zur Konstruktion eines neuen Männlichkeitsideals in Sündenfalldarstellungen des frühen 16. Jahrhunderts, in: Doris Guth/Elisabeth Priedl (Hg.), Bilder der Liebe. Liebe, Begehren und Geschlechterverhältnisse in der Kunst der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2012, S. 29–66, hier: besonders S. 30 (= Image 29). 24 Vgl. ebd., S. 55 f., Zitat S. 56. 25 Vgl. Thomas Kaufmann, Ehetheologie im Kontext der frühen Wittenberger Reformation, in: Andreas Holzem/Ines Weber (Hg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn/München u. a. 2008, S. 285–299, hier: S. 292.
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chem lebe / trösten sich der letzten stund / darynn sie denn büssen wolle / wenn sie nicht mehr sundigen könne / vnd sie nicht die sunde verlasse / sondern die sunde sie verlesset.“26 Die Reformatoren griffen mit ihrer uneingeschränkten Aufwertung der Ehe mehrere Stränge eines bereits in vorreformatorischer Zeit fassbaren und die zeitgenössischen Männlichkeitskonzepte unmittelbar ansprechenden Wertewandels auf. Sie knüpften an antiklerikale Stereotype der Zügellosigkeit und Unmäßigkeit an, mit denen das asketische Ideal des Klerikers ad absurdum geführt wurde, und stellten diesem Zerrbild klerikaler Männlichkeit die Tugenden hausväterlicher „fromkeyt“27 gegenüber. Dadurch wurde dem sexualitätsbejahenden Hausvater der Vorrang vor dem zölibatär lebenden Geistlichen eingeräumt und die Lebensführung des Klerus nachhaltig abgewertet. Der protestantischen Kritik am Zölibat lag dabei nicht nur die Ablehnung altgläubiger Werkgerechtigkeit zugrunde, sondern auch die Überzeugung von der gottgewollten und unausweichlichen Geschlechtlichkeit der Menschen: „Denn wo die natur gehet, wie sie von Gott eingepflanzt ist, ist es nicht müglich ausser der Ehe keusch zubleiben, Denn fleisch und blut bleibt fleisch und blut, und gehet die natürlich neigung und reitzung ungewehret und unverhindert, wie ydermann sihet und fühlet“.28 Da sich auch und gerade Männer ihrer wollüstigen Natur nicht entziehen könnten und die männliche Begierde einzig in der Ehe sittlich aufgehoben sei, war eine andere als eine eheliche Männlichkeit kaum mehr denkbar: Aus der Reformation resultierte deshalb „a narrowing of the possible roles for men.“29 Am dringlichsten war die Ehe für junge Männer. Es passe doch, so argumentierte Zwingli in seiner zölibatskritischen Schrift von 1522, überhaupt nicht zur altersabhängigen männlichen Libido, dass den Priestern „inmitten aller fleischlichen anfechtung die umb die xxiiii. Jar am größten ist, gebotten nit ze wyben“.30 Doch auch ältere Geistliche einschließlich der Wenigen, die – wie es Wolfgang Capito (1478–1541) für sich in Anspruch nahm – von Gott mit der Gabe der Keuschheit versehen seien, müssten um das Heil ihrer schwächeren Brüder willen mit gutem Vorbild vorangehen und heiraten:31 „Der aber der 26 Justus Menius, Oeconomia Christian / das is / von Christlicher haußhaltung, Wittenberg 1529, fol. Aiir, URL: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10989972–6 (Stand 27.3.2019). 27 Heide Wunder, „iusticia, Teutonice fromkeyt.“ Theologische Rechtfertigung und bürgerliche Rechtschaffenheit. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte eines theologischen Konzepts, in: Stephen E. Buckwalter/ Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte, Gütersloh 1998, S. 307–332 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199) und ihren Beitrag in diesem Band. 28 Martin Luther, Großer Katechismus, WA 30, S. 162. 29 Lyndal Roper, Gender and the Reformation, in: ARG 92 (2001), S. 290–302, hier: S. 296. 30 Huldrych Zwingli, Ein früntlich Bitt und Ermanung etlicher Priesteren der Eidgnoschafft …, Zürich 1522, unpag. (im Exemplar der Zentralbibliothek Zürich S. 536), URL: http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-2786 (Stand 27.3.2019). 31 So lautete die Argumentation Martin Bucers in seiner Brautwerbung für Wolfgang Capito. Vgl. Bernd Moeller, Die Brautwerbung Martin Bucers für Wolfgang Capito. Zur Sozialgeschichte des evangelischen
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eh gefreyt ist vnd wurdt erst vmb der bruder willen ein knecht, der sucht allein das sein nit, der ist in der lieb der volkumest.“32 Bei Luther lässt sich nachvollziehen, wie diese reformatorische Umkehrung des Wertegefüges durch eine Überschreibung zentraler Begrifflichkeiten vorgenommen wurde: Die in der römischen Kirche verankerten Wertungen von Keuschheit und Mönchtum wurden in ihr Gegenteil verkehrt, wenn Luther den ehelichen Haushalt als Kloster und die eheliche Sexualität als Mittel zur Abtötung der Welt bezeichnete.33 In der visuellen Ordnung der Vormoderne ging die Transformation klerikaler Männlichkeit auch mit einem Gestaltwandel einher, der mit Bart, Haupthaar und weltlicher Kleidung geschlechtlich markierte Erscheinungsweisen betraf. Obschon Kleriker bereits in vorreformatorischer Zeit weltlich aufgetreten waren, wenn sie gegen die Kleidungsgebote und das Bewaffnungsverbot verstoßen hatten,34 gehörte es zu den sichtbaren Zeichen für die Einführung der Reformation, wenn Ordensleute und Weltgeistliche ihren Habit ablegten, auf die liturgischen Gewänder verzichteten, die Tonsuren verwachsen ließen und Bärte trugen.35 Ein solcher Gestaltwandel ist wiederum für Luther am besten belegt: In den Porträts aus der Cranach-Werkstatt folgte auf den asketischen Mönch der bärtige Junker Jörg, der seinerseits vom korpulenten bartlosen Hausvater abgelöst wurde. Allerdings war dieser Prozess selbst bei Luther nicht geradlinig, denn nach seiner Rückkehr von der Wartburg trat Luther während des schwelenden Konflikts mit Andreas Bodenstein genannt Karlstadt (1486–1541) demonstrativ mit frischgeschorener Tonsur und Mönchshabit vor die Gemeinde.36 Als verheirateter Mann zeigte sich Luther dann – zumindest im Porträt – im Kostüm ehrbarer Männlichkeit, d. h. mit einem materialreichen,
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Pfarrerstands, in: Ludger Grenzmann (Hg.), Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters, Göttingen 1987, S. 306–325, hier: besonders S. 315. Martin Bucer an Otilie von Berckheim, 28.4.1524, zitiert nach: Moeller, Brautwerbung, S. 322. Vgl. Bernd Moeller, Die frühe Reformation in Deutschland als neues Mönchtum, in: Buckwalter/Ders. (Hg.), Die frühe Reformation, S. 76–91; Susan C. Karant-Nunn, Reformation und Askese. Das Pfarrhaus als evangelisches Kloster, in: Irene Dingel/Wolf-Friedrich Schäufele (Hg.), Kommunikation und Transfer im Christentum der Frühen Neuzeit, Mainz 2007, S. 211–228 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 74); Witt, Reformation der Ehe, S. 219. Vgl. Beverly Ann Tlusty, The Martial Ethic in Early Modern Germany. Civic Duty and the Right of Arms, Basingstoke/Hampshire/New York 2011, S. 186. Vgl. beispielsweise Johann Martin Usteri (Hg.), Gerold Edlibach’s Chronik nebst einem Anhange, Zürich 1847, S. 271: „Item man töfte die nüwgebornenn kinder nüt mer dan jm waser ane crisem saltz vnd andre cerremony item es war ouch kein wiechwaser noch salt am suntag mer gesegnet vnd sprachten nüwe presicanten es werrind als unnütze ceremony &c Item sy töften ouch die kinder anne überrück vnd stüllen (stolen) vnd gabent die lüt jn der e züsamen vnd seitend dz gotz (wort) ouch an den Kantzlen bekleidet wie die leigen &c vnd zugend der mertel alle lang bärt wie aceten.“ Vgl. Natalie Krentz, Ritualwandel und Deutungshoheit. Die frühe Reformation in der Residenzstadt Wittenberg (1500–1533), Tübingen 2014, S. 153 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 74); Treu, Martin Luther und das Geld, S. 59 f.
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Abb. 4: Martinus Lutherus. Der Heiligen Schrifft Doctor, Ausschnitt aus einem Flugblatt von Johann Daniel Müller, Magdeburg [1546/47]
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die Lenden überdeckenden Obergewand, mit dem er sich von der körperbetonten Wamsund Hosenmode seiner Zeit abhob (vgl. Abb. 4).37 Ob man die reformatorische Transformation klerikaler Männlichkeit nun mit Connell als zentralen Bestandteil einer zäsursetzenden „Krise der gesamten Geschlechterordnung“38 begreift, oder ob man sie nur als eine von vielen, mehr oder weniger krisenhaften Infragestellungen von Männlichkeit interpretiert,39 ist vielleicht eher aus reformations- denn aus geschlechtergeschichtlicher Sicht interessant40 – und aus einer akteurzentrierten Perspektive ohnehin von geringerer Bedeutung. Feststellen lässt sich in jedem Fall, dass die reformatorische Abwertung klerikaler Männlichkeit Veränderungen und Unsicherheiten hervorrief,41 die nicht alle Geistlichen so souverän überwanden wie Martin Luther. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die neuen Konzepte unterschiedslos auf eine recht heterogene Gruppe von Männern bezogen wurden, auf Ordensleute, Weltpriester, Stiftsherren und Universitätsgelehrte, auf ländliche und städtische, reiche und arme, gebildete und ungebildete, junge und alte Kleriker. Was zunächst die Ordensleute angeht, so war das Gros der ehemaligen Mönche in einer sehr viel schlechteren Ausgangslage als der Wittenberger Reformator.42 Sofern ihnen nicht ein fortwährendes Wohnrecht im Klostergebäude eingeräumt worden war, verließen sie freiwillig oder gezwungenermaßen die klösterliche Gemeinschaft, um sich ein anderes Auskommen zu suchen. Doch gerade für Mönche im fortgeschrittenen Alter stellte dies eine Schwierigkeit dar, weshalb Friedrich Myconius (1490–1546) in einem entwürdigenden Vergleich empfahl, „man mus sie vmb Gottes willen als abgelaufne alte iaghund nehren.“43 Die eigene Haushaltsgründung, die in jedem Fall verlangte, sich mit einer völlig veränderten Lebenssituation zurechtzufinden, wurde zuweilen mit etwas Geld 37 Zum Typus der Ganzfigurbildnisse, wie sie die Jenaer Grabplatte zeigt, vgl. Martinus Lutherus. Der heiligen Schrifft Doctor, Ausschnitt aus einem Flugblatt von Johann Daniel Müller, Magdeburg ca. 1546/47, Luthergedenkstätten, Sign. grfl IId 583. Zur maskulinen Mode der Schamkapsel vgl. Lyndal Roper, Blut und Latze. Männlichkeit in der Stadt der Frühen Neuzeit, in: Dies., Ödipus und der Teufel. Körper und Psyche in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1995, S. 109–126, hier: S. 123–125. 38 Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Wiesbaden 42015, S. 138 (= Geschlecht & Gesellschaft 8). Zu Luther als Vorbild neuer Männlichkeit vgl. ebd., S. 248. 39 Vgl. Opitz-Belakhal, Krise der Männlichkeit. 40 Zur Diskussion um den Zäsurcharakter der Reformation vgl. differenziert Berndt Hamm, Abschied vom Epochendenken in der Reformationsforschung. Ein Plädoyer, in: ZHF 39 (2012), S. 373–411. 41 Vgl. Roper, Gender and the Reformation, S. 294–296. 42 Vgl. Enno Bünz, Schicksale von Mönchen und Nonnen in der Reformationszeit. Ihre Zukunftsperspektiven nach Aufhebung der Klöster im Kurfürstentum Sachsen, in: Greiling/Kohnle u. a. (Hg.), Negative Implikationen, S. 81–108, hier: besonders S. 90 f., S. 97–99. 43 Vgl. Friedrich Myconius, Memorandum für Kurfürst Johann, den Fortgang der Reformation in Gotha betreffend, Gotha, Frühjahr 1527, zitiert nach: Ernst Koch, Wohin mit den Mönchen? Eine unbekannte Quelle zur frühen Reformation in Gotha und in Westthüringen, in: ARG 102 (2011), S. 87–102, hier: S. 98.
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oder Hausrat aus dem Klosterbesitz subventioniert. Eine Ehe, wie sie beispielsweise der ehemalige Augustinermönch Wenzel Linck (1483–1547) 1523 in Altenburg schloss, stellte dann einen – zumindest in protestantischen Augen – erfolgreichen Abschluss der Umorientierung dar, den Linck und seine prominenten Gäste entsprechend spektakulär begingen.44 Aber längst nicht alle gingen diesen Weg bzw. beschritten ihn ebenso geradlinig. Dies zeigt beispielsweise der Fall des Benediktiners Simon Blich/Blick (um 1490–nach 1542), letzter Abt des 1539 aufgehobenen Klosters Pegau.45 Blich nahm 1519 als Gegner Luthers an der Leipziger Disputation teil und trat 1524 als (offizieller) Verfasser einer antilutherischen Schrift hervor, welche die Eisenberger Schösserin Ursula Weyda (vor 1510–nach 1565) zu einer Gegenschrift veranlasste.46 Nachdem er sich 1539, also im Jahr der Konventsauflösung, für seine Kritik an Luther entschuldigt hatte, ließ er sich in Naumburg nieder und nahm Kontakt zu dem dortigen Stadtpfarrer und Reformator Nikolaus Medler (1502–1551) auf. Diesen bat er 1541 darum, sein seit rund zehn Jahren bestehendes Konkubinat durch eine Eheschließung zu legitimieren. Dies stieß zunächst auf Schwierigkeiten, weil Blichs Lebensgefährtin bereits verheiratet, allerdings von ihrem Mann betrogen und verlassen worden war. Medler schaltete deshalb das Konsistorium in Wittenberg ein, das in einem langwierigen Prozess entschied, dass der Neuvermählung unter diesen Umständen nichts im Wege stehe. Unterdessen hatte Blich jedoch von der Eheschließung Abstand genommen und sich stattdessen mit einer Naumburger Bürgerstochter verlobt, die er schließlich auf albertinischem Territorium heiratete. Das Wittenberger Konsistorium plädierte daraufhin für eine Bestrafung Blichs, da er durch das seiner Konkubine gegebene Eheversprechen gebunden gewesen sei. Auch Luther bezog zu dem Fall Stellung und wünschte Blich ironisch Glück für das in seinen Augen unrechtmäßig eingegangene Eheverhältnis. Nach protestantischen Maßstäben scheiterte Blich als unkeuscher Mönch und Bigamist gleich mehrfach an den Herausforderungen reformatorischer Männlichkeit. Deutlich wurde dieses Scheitern zum Ausdruck gebracht, wenn der Naumburger Stadtpfarrer Medler ihn als einen
44 Zu Linck vgl. Bernd Moeller, Wenzel Lincks Hochzeit, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 97 (2000), S. 317–342; ferner Roper, Der Mensch Martin Luther, S. 290 f. Ein weiteres Beispiel bei Bünz, Schicksale, S. 98. 45 Vgl. Gerritdina D. Justitz, The Abbot and the Concubine. Piety and Politics in Sixteenth-Century Naumburg, in: ARG 92 (2001), S. 138–164. 46 Bereits die Zeitgenossen vermuteten eine Autorschaft seines Bruders, des promovierten Juristen Wolfgang Blich. Vgl. Stefan Oehmig, Ursula Weida – eine streitbare Verfechterin der Reformation, in: Peter Freybe (Hg.), Frauen fo(e)rdern Reformation: Elisabeth von Rochlitz, Katharina von Sachsen, Elisabeth von Brandenburg, Ursula Weida, Argula von Grumbach, Felicitas von Selmnitz, Wittenberg 2004, S. 77–112, hier: S. 97.
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hergelaufenen, verlogenen, stinkigen, garstigen und räuberischen Mönch bezeichnete und sein Eheverhältnis mit allen ihm zu Gebote stehenden Invektiven diffamierte.47 Anders als die in den Klöstern lebenden Ordensangehörigen hatten Kanoniker oder Weltpriester auch schon vor der Reformation in einem Hausstand und möglicherweise auch im Konkubinat gelebt. Was änderte sich für diese Männer durch die Eheschließung, die anfangs eine Möglichkeit, bald aber eine Pflicht darstellte? Gewannen sie mit der Heirat Glaubwürdigkeit und Würde zurück, hatte ihnen diese ohnehin nie gefehlt oder erlegte ihnen die Ehe Verbindlichkeiten auf, denen sie lieber aus dem Weg gingen? Die Eheschließung ermöglichte zum einen – und dies spielte in den antizölibatären Schriften der frühen Reformationszeit eine zentrale Rolle48 – die theologische Legitimation von Sexualität. Aus der quälerischen Auseinandersetzung mit der eigenen Begierde entstand der Wunsch nach christlicher Tröstung: „Ich hab in mir befunden die anfechtungen des fleyschs also geschwind / daß mir Keuscheyt zuhalten nit müglich. Vnnd wiewol ich Gott darumb vilmahlß gepete / so hab ich gespür / daß mir solchs von Got nit gegebe / so lang ich trost von Christo Math. am. xix. empfange / da er sprich / non omnes capiunt verbum hoc: sed quibus datum est.“49 Das eigene (Fehl-)Verhalten konnte dabei umso freimütiger geschildert werden, je mehr sich die reformatorische Position der Klerikerehe durchsetzte, denn nun verstieß ja nicht länger die eigene Begierde, sondern der Zölibat gegen Gottes Ordnung. Entschuldigend wurde dabei die eigene Jugend ins Feld geführt, so etwa von Zwingli: „… das vnerber schantlich leben das wir leyder byß har gefuert habend (wir wellend allein von vns selbst gredt haben) mit frowe / damit wir mercklich übel verergert vnd verbösret haben / wie wol die schuld zu eim teil der jugend die niemand gantz meistren mag.“50 Zum anderen erlaubte die Ehe eine juristische Legitimation der Lebensgefährtin und eventuell vorhandener leiblicher Kinder. Plummer hat in ihrer breit angelegten Studie zu den frühen Pfarrfrauen nachgewiesen, dass zwischen einem und zwei Dritteln der ersten Pfarrfrauen ehemalige Konkubinen waren.51 Eine ökonomische Besserstellung ging aus der Eheschließung aber nicht unbedingt hervor, sei es, weil Kleriker schon zuvor Wege der finanziellen Absicherung für Frau und Kinder gefunden hatten, sei es, weil sich mit dem 47 Vgl. das Quellenzitat bei Justitz, The Abbot, S. 114, Anm. 19. 48 So auch Gause, Durchsetzung neuer Männlichkeit, S. 335–337, mit Verweis auf Eberlin von Günzburg. 49 Handlung des Bischoffs vonn Merßburg, mit den zweyen Pfarhern von Schonbach und Buch, geschehen am Dinstag nach Bartholomei Anno 1523, o. O., fol. Aiiv, URL: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/ resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11226326–1 (Stand 27.3.2019). 50 Zwingli, Ein früntlich Bitt und Ermanung, unpag. (im Exemplar der Zentralbibliothek Zürich S. 535 f.). 51 Vgl. Marjorie Elizabeth Plummer, ‚Partner in his Calamities‘. Pastors’ Wives, Married Nuns and the Experience of Clerical Marriage in the Early German Reformation, in: Gender & History 20 (2008), S. 207– 227, hier: S. 211. Ausführlich dazu: Dies., From Priest’s Whore to Pastor’s Wife. Clerical Marriage and the Process of Reform in the Early German Reformation, Farnham/Burlington 2012.
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neuen Status als Ehefrau nicht mehr alle wahrgenommenen Verdienstmöglichkeiten vereinbaren ließen.52 Plummer konnte zudem zeigen, dass einige der im Konkubinat lebenden Geistlichen ihre Frauen nur unter massivem Druck obrigkeitlichen Heiratszwangs ehelichten oder sich der Eheschließung ganz entzogen.53 Altgläubige Widerständigkeit könnte dabei eine Rolle gespielt haben, aber angesichts der Herkunft der Konkubinen aus den unteren, unvermögenden Ständen scheinen die entscheidenderen Beweggründe in der ständischen Ehre und der individuellen bzw. familiären Ökonomie zu liegen. Die betreffenden Frauen waren ja gerade deshalb ein Verhältnis mit den Klerikern eingegangen, weil ihnen oftmals eine reguläre Heirat verwehrt blieb. Zudem spielte wiederum das Alter eine Rolle als Motiv bzw. Argument: Konkubinen konnten als Heiratspartnerinnen aufgrund höheren Alters abgelehnt werden, und Geistliche entschieden sich wegen ihres eigenen fortgeschrittenen Alters gegen eine Eheschließung: „vnd warren uil junger pfaffen die dz gern tädent, dargegen warrend etliche alt vnd kranck priester die dz unger tadent vnd zugen jrrn uil von Zürich vnd uerliessend jrre hüsser vnd pfründen vnd blibent bin alten glöben“.54 Aus solchen Beispielen lässt sich ersehen, auf welche Widerstände und Hindernisse die Transformation klerikaler Männlichkeit stieß. Selbst in den Gebieten, die sich frühzeitig zur Reformation bekannten, brauchte es längere Zeit, um aus einer heterogenen vorreformatorischen Klerikerschaft den hausväterlichen evangelischen Pfarrer zu formen. Die zahlreichen Hinweise auf die Relevanz des Alters ermuntern in diesem Zusammenhang dazu, die Reformation als Generationenkonflikt zu denken, denn möglicherweise begeisterten sich vor allem diejenigen Geistlichen für das neue reformatorische Modell, denen ein Leben als Hausvater aufgrund ihres jüngeren Lebensalters als attraktiv erschien.
3. Buben und Hausväter. Reformation als Herausforderung städtischer Männlichkeit Die reformatorische Herausforderung klerikaler Männlichkeit brachte mit dem Hausvater ein Modell zur Vorherrschaft, das bereits in vorreformatorischer Zeit in der auf dem Haus basierenden Sozialordnung der Städte zentrale Bedeutung erlangt hatte. Dennoch würde es einen falschen Eindruck erwecken, von einer reformatorischen Bestätigung städtischer oder stadtbürgerlicher Männlichkeit zu sprechen, denn zum einen war der Haus52 Vgl. Plummer, Partner in his Calamities, S. 213. 53 Zu den Motiven vgl. ebd., S. 210–211. Zur Fortdauer unehelicher Verhältnisse auch im protestantischen Pfarrhaus vgl. Eva Labouvie, Geistliche Konkubinate auf dem Land. Zum Wandel von Ökonomie, Spiritualität und religiöser Vermittlung, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 105–127. 54 Gerold Edlibach’s Chronik, S. 278.
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vater auch in den Städten nur eine von mehreren, konkurrierenden Männlichkeiten, zum anderen war die Figur des Hausvaters nicht allein in den Städten verankert.55 Wohl aber lassen sich die Auswirkungen der Reformation in Anknüpfung an Connell als ein Prozess theologisch legitimierter Hegemonialisierung beschreiben, in dem alternative Männlichkeitskonzepte marginalisiert wurden. Dieser Prozess des „narrowing“ (Roper) umfasste tendenziell alles, was dem hausväterlichen Ideal entgegenstand: Er berührte sämtliche Spielarten vor- und außerehelicher Sexualität einschließlich der gleichgeschlechtlich-männlichen, bezog sich auf alle Formen zölibatären Lebens und betraf allerlei Arten von Exzessen, vom Trinken über das Tanzen bis zum Raufen.56 Diese Maßnahmen gehörten zweifellos in den größeren Zusammenhang einer der historischen Forschung seit langem bekannten Entwicklung, die sowohl zeitlich als auch räumlich weiter ausgriff als die Reformation. Für sie sind unterschiedliche interpretative Konzepte vorgeschlagen worden, von denen aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive Berndt Hamms Konzept einer „normativen Zentrierung“ als besonders treffend erscheint, da es Wertewandel nicht primär als etatistische Disziplinierungsmaßnahme begreift.57 Wie sich die reformatorische Verengung oder Zentrierung männlicher Rollen vollzog, soll im Folgenden am Beispiel von Frankfurt am Main und hier für das reichsstädtische Patriziat nachgezeichnet werden. In den Blick genommen werden somit nicht die Männer des Zunftbürgertums, mit denen Lyndal Roper vielfach argumentiert hat, sondern die männlichen Angehörigen der alteingesessenen ratsfähigen Familien. Diese verfolgten im beginnenden 16. Jahrhundert eine eigene Agenda humanistisch inspirierter Erneuerung, die sich in Frankfurt (aber keineswegs überall) mit reformatorischen Zielsetzungen verband. So hing es auch wesentlich mit den patrizischen Belangen humanistischer Bildung zusammen, dass die Reichs- und Messestadt in den frühen 1520er-Jahren in engere Berührung mit den reformatorischen Ideen kam. 1520 nämlich wurde auf Betreiben mehrerer Patrizier eine neue, humanistisch inspirierte städtische Lateinschule eingerichtet, die als Alternative zu den kirchlichen Schulen fungieren sollte, welche an den drei Stiften der Stadt (St. Bartholomäus, St. Leonhard und Liebfrauen) bestanden. Zum Leiter dieser für die eigenen Söhne geschaffenen sogenannten Junkerschule wurde 1520 Wilhelm Nesen (1492–1524) bestimmt, ein Schüler des Erasmus von Rotterdam (1466/1467/1469–1536), 55 Vgl. Peter Blickle, Kommunalismus. Skizzen einer gesellschaftlichen Organisationsform, Bd. 1, München 2000, S. 76. 56 Vgl. dazu kritisch Lyndal Roper, Saufen, Fressen, Huren. Disziplinlosigkeit und die Ausbildung protestantischer Identität, in: Dies., Ödipus und der Teufel, S. 147–169, hier: besonders S. 147–155. 57 Vgl. Berndt Hamm, Normative Zentrierung im 15. und 16. Jahrhundert. Beobachtungen zu Religiosität, Theologie und Ikonologie, in: ZHF 26 (1999), S. 163–202.
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der in diesen Jahren für Luther Partei ergriff und innerhalb des Frankfurter Patriziats für dessen Sachen warb.58 Der Schulleiter Nesen stand in direkter Opposition zu dem ebenfalls humanistisch gebildeten Dechanten von Liebfrauen, Johannes Cochläus (1479–1552), der als Leiter der neuen Schule gleichfalls im Gespräch gewesen war.59 Anders als Nesen trat Cochläus um das Jahr 1520 in scharfe Gegnerschaft zu Luther. Während der eine – Nesen – Luther auf seinem Weg zum Wormser Reichstag willkommen hieß, reiste ihm der andere – Cochläus – nach und forderte ihn zur Disputation heraus.60 Als sich Luther und Cochläus bald darauf auf eine publizistische Kontroverse einließen, war Nesen, in dessen Obhut sich die Frankfurter Patriziersöhne und damit die zukünftige städtische Führungsriege befanden, als Widmungsempfänger von Flugschriften ihr offizieller Adressat. Durch die Polemiken, die Luther und Cochläus gegeneinander richteten, wurde Frankfurt zu einer Arena theologischen Streits, der mit einer Diffamierung der jeweils gegnerischen Männlichkeit verknüpft war. Luther diskreditierte Cochläus in seiner Anfang 1523 erschienenen Schrift „Adversus Armatum Virum Cochlaeum“61 gleich in doppelter Hinsicht, denn zum einen bezeichnete er ihn als „bewaffneten Mann“, was im Widerspruch zum klerikalen Bewaffnungsverbot stand, das übrigens in Frankfurt 1521 nochmals eingeschärft worden war.62 Zum anderen zog Luther eben diese Bewaffnung mit den Stereotypen des Geschlechterkampfs ins Lächerliche, indem er den Spinnrocken als Cochläus’ Waffe bezeichnete. Demselben Zweck, nämlich Cochläus als weibisch darzustellen, diente auch ein Wortspiel Luthers, das auf dem ähnlichen Klang von Cochläus und Kochlöffel beruhte.63 Cochläus wiederum nannte Luther in seiner Gegenschrift „Adversvs Cvcvllatvm Minotaurum Vuittembergensem“ einen Minotaurus im Mönchsgewand und unterstellte ihm ein stierisches Verhalten.64 Luther als Monster zu bezeichnen, entsprach durch58 Vgl. Georg Eduard Steitz, Der Humanist Wilhelm Nesen, der Begründer des Gymnasiums und erste Anreger der Reformation in der alten Reichsstadt Frankfurt a. M. Lebensbild, auf Grund der Urkunden dargestellt, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 14 (1877), S. 36–160. 59 Vgl. Heinrich Grimm, Cochlaeus, Johannes, in: NDB 3 (1957), S. 304–306, URL: https://www. deutsche-biographie.de/pnd118521330.html#ndbcontent (Stand 27.3.2019). 60 Vgl. Sabine Hock, Luther, Martin, in: Frankfurter Personenlexikon, URL: http://www.frankfurter-personenlexikon.de/node/41 (Stand 27.3.2019). 61 Vgl. Martin Luther, Adversus armatum virum Cokleum (1523), in: WA 11, S. 292–307. 62 Vgl. Rudolf Jung (Bearb.), Chroniken der Reformationszeit nebst einer Darstellung der Frankfurter Belagerung von 1552, Frankfurt a. M. 1888, S. 45. 63 Vgl. Schmidt-Funke, Reformation und Geschlechterordnung, S. 38 f. 64 Vgl. Johannes Cochlaeus, Adversvs Cvcvllatvm Minotauru[m] Vuittembergensem, Tübingen 1523, URL: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10203798–6 (Stand 27.3.2019). Die Schrift trägt die Widmung „Vilhelmo Neseno, Io. Cochlaeus, bene agere, & ad Christum redire.“
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aus den Gepflogenheiten der reformationszeitlichen Polemik.65 Dass ihn Cochläus aber ausgerechnet als das menschenfressende Mischwesen aus Stier und Mann beschrieb, das in einem widernatürlichen Akt gezeugt worden war, dürfte durchaus als sexualisierte Anspielung auf eine Luther unterstellte tierische Zügellosigkeit gemeint gewesen sein, die die humanistisch gebildeten Patrizier in Frankfurt gewiss verstanden. Auf die ihn selbst diffamierende Effeminierung reagierte Cochläus also mit einer polemischen Überzeichnung von Luthers Virilität; dem Zerrbild des weibischen Mannes stellte er das des tierischen Mannes gegenüber. Doch obwohl Cochläus in seiner Kontroverse mit Luther schweres Geschütz aufgefahren hatte, trug Luther den Sieg über Cochläus davon: Im Zuge reformatorischer Unruhen musste Cochläus 1525 aus Frankfurt fliehen.66 Dies gründete allerdings nicht darauf, dass er der Stiftsgeistlichkeit angehörte, sondern darauf, dass er sich in seinen Flugschriften als dezidiert antilutherisch zu erkennen gegeben und damit die proreformatorische Bevölkerung gegen sich aufgebracht hatte. Zu einer Vertreibung des gesamten altgläubigen Klerus kam es in Frankfurt hingegen nicht, auch wenn sich das antiklerikale Klima seit der Mitte der 1520er-Jahre verschärfte und sukzessive einige der städtischen Klöster aufgelöst und die beiden Frauenkonvente in evangelische Damenstifte umgewandelt wurden. Dank kaiserlicher und kurmainzischer Protektion blieben die drei Stifte und einige Männerklöster bestehen, so dass eine größere Gruppe männlicher Ordens- und Stiftsgeistlicher dauerhaft in der Stadt lebte.67 Insofern war die von den Reformatoren diskreditierte klerikale Männlichkeit in Frankfurt fortwährend präsent, allerdings verlor sie in der Reformationszeit ihre enge Anbindung an die städtische Elite des Patriziats. Denn während eine Existenz als Stiftsgeistlicher als standesgemäß gegolten hatte, traf dies auf ein Leben als evangelischer Prediger nicht zu. Vor der Reformation hatten die aus den vornehmen Frankfurter Familien stammenden Kanoniker für ein enges Band zwischen Klerus und städtischer Laienschaft gesorgt, und das familiäre Netzwerk hatte den Klerikern nicht zuletzt dabei geholfen, ihre unehelichen Kinder zu versorgen. Bekannt ist beispielsweise ein illegitimer Sohn des Kanonikers Claus von Rückingen (–1523), der zwar vom Erbe ausgeschlossen, aber dank der väterlichen Unterstützung das Handwerk des Goldschmieds erlernte. Claus von Rückingen musste in einem Rechtsstreit zugeben, dass er die Mutter des „Liebkinds“ in Eltville am Rhein
65 Vgl. Peter Burschel, Das Monster. Katholische Luther-Imagination im 16. Jahrhundert, in: Medick/ Schmidt (Hg.), Luther zwischen den Kulturen, S. 33–48. 66 Vgl. Grimm, Cochlaeus. 67 Vgl. Sigrid Jahns, Frankfurt am Main im Zeitalter der Reformation (um 1500–1555), in: Frankfurter Historische Kommission (Hg.), Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 151–204 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Stadt Frankfurt am Main 17).
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als Jungfrau verführt habe.68 Dass der gemeinsame Sohn auf den Namen Ovid hörte und damit nach dem Verfasser der „Ars amatoria“ benannt war, lässt vor diesem Hintergrund aufhorchen. Die Liebe, die semantisch auch im Begriff des Liebkinds präsent war, stellte offensichtlich den entscheidenden Interpretations- und Legitimationsrahmen für solche außerehelichen Beziehungen dar, die im Gefolge der Reformation bei Geistlichen wie bei Laien an Akzeptanz verloren.69 Da sich in Frankfurt innerhalb einer Generation nahezu alle Familien der neuen Lehre zuwandten, kappte die Reformation die enge Verbindung zwischen Stiftsgeistlichkeit und Patriziat bis auf wenige konfliktträchtige Ausnahmen.70 Besonders aufsehenerregend war dies, wenn die in die geistliche Laufbahn eingetretenen Söhne sich zur Reformation bekannten und heirateten, wie es bei Peter Niclas genannt Steinmetz (–1541) (latinisiert Petrus Lapicida oder Latomus) der Fall war.71 Seit 1531 Dechant von St. Bartholomäus, legte er das Amt 1535 nieder und heiratete 1536 die Witwe eines Frankfurter Bürgers. Peters Bruder Hans (–1561) blieb hingegen altgläubig und versuchte nach dessen Tod im Jahr 1541, das Erbe seiner Schwägerin und ihrer Kinder anzufechten. Der Konflikt wirkte bis in die 1560er-Jahre nach, denn zum einen trat Hans’ Sohn Johannes Latomus (1524–1600) Peters Nachfolge als Dechant von St. Bartholomäus an und bekräftige damit die altgläubige Ausrichtung des Familienzweigs. Zum anderen errichteten Peters Witwe und ihre Schwiegersöhne nach Hans’ Tod im Jahr 1561 einen aufwendigen Fachwerkbau, der an prominenter Stelle das Allianzwappen der beiden Eheleute zeigte und damit ihrer Eheschließung ein dauerhaftes Denkmal setzte.72 Dass den Söhnen der protestantisch gewordenen Patrizierfamilien die geistliche Laufbahn fortan verschlossen blieb, stellte den Wegfall einer bis dahin üblichen Option männlicher Lebensführung dar. Ein Bewusstsein dafür bestand in Frankfurt bereits um die Mitte der 1520er-Jahre. So beklagte die verwitwete Patrizierin Margaretha Hornchin (–1541), als sie 1526 an ihren in Wittenberg studierenden Sohn Johann von Glauburg (1503–1571) (vgl. Tafel 6) schrieb, es wisse in dieser Zeit niemand, wo man mit den Söhnen hinsolle, denn das Studium gewährleiste trotz großer Kosten nicht, dass man das 68 Vgl. Walther Karl Zülch, Frankfurter Künstler 1223–1700, Frankfurt a. M. 1935, S. 297–299. 69 Vgl. Andreas Tacke (Hg.), „… wir wollen der Liebe Raum geben“. Konkubinate geistlicher und weltlicher Fürsten um 1500, Göttingen 2006 (= Schriftenreihe der Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt 3). Zur Normalität unehelicher Kinder im vorreformatorischen Frankfurter Patriziat vgl. Georg Ludwig Kriegk, Deutsches Bürgerthum im Mittelalter, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1871, S. 276–283. 70 Vgl. Andreas Hansert, Geburtsaristokratie in Frankfurt am Main. Geschichte des reichsstädtischen Pa triziats, Köln/Weimar u. a. 2014, S. 143–171. 71 Vgl. ebd., S. 166. Hansert nennt S. 161 und S. 164 auch die Beispiele des Conrad Humbracht und Bernhard Kühorn. 72 Vgl. Irene Haas, Reformation, Konfession, Tradition. Frankfurt am Main im Schmalkaldischen Bund 1536–1547, Frankfurt a. M. 1991, S. 48 (= Studien zur Frankfurter Geschichte 30); Fried Lübbecke, Das Haus zum Engel in Frankfurt am Main, Berlin 1929, S. 11–13.
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Richtige lerne. Weder das Seelenheil, noch ein standesgemäßes Auskommen seien durch eine lange universitäre Ausbildung garantiert. Johann müsse daher einsehen, dass es sich angesichts der Zeitläufte nicht schicke, unverheiratet zu bleiben. Margaretha Hornchin hatte deshalb schon die passende Braut ausgesucht, nämlich die Tochter ihrer unlängst verstorbenen Freundin73 (vgl. Tafel 7). Da Johann von Glauburgs Vater bereits verstorben war, stand Johann unter der Vormundschaft des Hamman von Holzhausen (1467–1536), der als zentrale Figur eines Frankfurter humanistischen Zirkels zu den entschiedensten Anhängern der Reformation gehörte.74 Mit Sicherheit ging es auf Hammans Einfluss zurück, dass sein Mündel Johann von Glauburg seit 1524 gemeinsam mit seinem eigenen Sohn Justinian (1502–1553) in Wittenberg studierte, wo sich seit 1523 auch Nesen aufhielt. Hamman nutzte die Korrespondenz mit seinem Sohn, um sich aus erster Hand über das Geschehen an der Elbe informieren zu lassen und um im Gegenzug seine Einschätzung der Lage nach Wittenberg zu übermitteln. So kommentierte er 1525 die Nachricht, dass „D. Martinus Luther sich in die ehe begeben“, was Hamman für bedenklich hielt, da dies viele Anhänger Luthers gegen ihn aufbringen werde.75 Der patrizische Hausvater in Frankfurt war folglich nicht der Ansicht, dass die Klerikerehe eine unaufschiebbare Notwendigkeit sei, sondern hielt sie angesichts der politischen Situation eher für eine unnötige Provokation. Im gleichen Brief missbilligte Hamman Luthers harsches Vorgehen gegen die aufständischen Bauern, das ihm den Vorwurf eintragen werde, blutrünstig zu sein.76 Hamman war es hingegen kurz zuvor gelungen, die reformatorischen Unruhen in Frankfurt friedlich beizulegen, weshalb er nun seinem Sohn empfahl, bei Philipp Melanchthon (1497–1560) Rhetorikvorlesungen zu besuchen, um auf vergleichbare Aufgaben vorbereitet zu sein. Greifbar werden hier Werthaltungen des patrizischen Stadtpolitikers, dem das undiplomatische Auftreten Luthers missfiel. Entfernt klingt dabei die stierische Zügellosigkeit an, die Cochläus Luther unterstellt hatte. Als Ratsangehöriger hatte Hamman von Holzhausen seit den frühen 1520er-Jahren dazu beigetragen, lutherisches Gedankengut in Frankfurt zu verbreiten, indem er als Pfle73 Brief der Margarethe Hornginn an ihren Sohn Johann von Glauburg, in: Frankfurtisches Archiv für ältere deutsche Litteratur und Geschichte 2 (1812), S. 125–131, hier: S. 126. Vgl. dazu Heide Wunder, Von Vermögen und Frömmigkeit. Frankfurter Bürgerinnen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Hessische Landeszentrale für Politische Bildung/Weib e. V. (Hg.), FrauenStadtGeschichte. Zum Beispiel Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1995, S. 57–76, hier: S. 59–62. 74 Vgl. umfassend zu ihm Michael Matthäus, Hamman von Holzhausen (1467–1536). Ein Frankfurter Patrizier im Zeitalter der Reformation, Frankfurt a. M. 2002 (= Studien zur Frankfurter Geschichte 48). 75 Vgl. die Wiedergabe des Briefes von Hamman von Holzhausen an Justinian von Holzhausen vom 16. Juli 1525 bei Franz Lerner, Gestalten aus der Geschichte des Frankfurter Patrizier-Geschlechts Holzhausen, Frankfurt a. M. 1953, S. 114 mit der Reproduktion des Briefes auf Tafel 13. 76 Vgl. Lerner, Gestalten, S. 114.
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ger des Katharinenklosters in der dem Konvent zugehörenden Kirche die ersten lutherischen Predigten in Frankfurt ermöglicht hatte. Unterstützt wurde er dabei von seinem Vetter Blasius von Holzhausen (vor 1481–1524), der als Reichstagsgesandter 1521 Augenzeuge der Anhörung Luthers in Worms geworden war.77 Interessanterweise war eben dieser Blasius für Margaretha Hornchin ein ausgemachtes Negativbeispiel männlicher Lebensführung. In ihren Augen hatte er sich der Büberei schuldig gemacht, also einer vor- und außerehelichen Sexualität, die auch Luther mit dem pejorativen Begriff der „buberei“ zu bezeichnen pflegte,78 und damit den Fortbestand seiner Familie aufs Spiel gesetzt: „… do her der buberei gewont, do kont in niemant zu Veranderung bringen, bis her zom alter kam, dar nach hat er kein Gesundtheit, und hat auch kein kind verlassen …“.79 Tatsächlich hatte Blasius von Holzhausen erst im fortgeschrittenen Alter von 35 Jahren geheiratet und war 1524 ohne legitime Nachkommen verstorben. Vermutlich war aus seiner „Büberei“ jedoch ein illegitimes Kind in Mainz hervorgegangen, denn ein solches bedachte er in seinem Testament mit der stattlichen Summe von 400 Gulden und forderte seine Verwandten auf, es ehren- und tugendhaft zu erziehen.80 Darüber hinaus war Blasius von Holzhausen ein Mann, der seine Jagdwaffen und seine Bücher liebte.81 Seinem Nachlassinventar zufolge beherbergte sein weitläufiges Wohnhaus eine sorgsam ausgestattete Kemenate, in der Blasius das Jagdgerät und die Schriften antiker Autoren aufbewahrte, darunter Ovids Metamorphosen und die „Ars amatoria“.82 Die geschätzten Dinge seiner Waffen- und Büchersammlung wollte er in der Familie bewahrt wissen, weshalb er sie dem Sohn seines Vetters Hamman vermachte83 – eben jenem Justinian von Holzhausen, der mit Johann von Glauburg in Wittenberg studierte. Die beiden Wittenberger Studenten Johann und Justinian entsprachen dem Hausväterideal in ihrem weiteren Lebensweg und ihrer reichen Nachkommenschaft sehr viel besser als Blasius von Holzhausen.84 Zweifellos knüpften sie damit an das Leben 77 Vgl. Anja Johann, Kontrolle mit Konsens. Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Frankfurt am Main im 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001, S. 88 (= Studien zur Frankfurter Geschichte 46); Lerner, Gestalten, S. 109 f. 78 Vgl. Martin Luther, Vom ehelichen Leben, in: WA 10.II, S. 267–304. 79 Brief der Margarethe Hornginn, S. 129 f. 80 Vgl. Testament des Blasius von Holzhausen, 4.9.1524, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., Holzhausen Urkunden Nachträge, 1524. Vgl. Kriegk, Deutsches Bürgertum im Mittelalter, Bd. 2, S. 279. 81 Zur Büchersammlung vgl. Gerhardt Powitz, Privater Buchbesitz in Frankfurt am Main während des späten Mittelalters, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 66 (2000), S. 161–199. 82 Vgl. Inventar der Verlassenschaft Blasius’ von Holzhausen (2.10.1524), Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., Holzhausen Urkunden Nachträge 1524/3. Vgl. dazu Lerner, Beiträge zur Geschichte, S. 77–93. 83 Vgl. Testament des Blasius von Holzhausen. 84 Vgl. Franz Lerner, Glauburg, Johann von, in: NDB 6 (1964), S. 438 f., URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd13921111X.html#ndbcontent (Stand 27.3.2019); Michael Matthäus, Holzhausen, Justinian von, in: Frankfurter Personenlexikon, Frankfurt a. M. 2016, URL: http://www.frankfurter-personenlexikon.de/node/4169 (Stand 27.3.2019).
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ihrer patrizischen Ahnen an, unter denen es auch in vorreformatorischer Zeit schon respektable Hausväter gegeben hatte. Doch als Angehörige einer neuen, evangelisch geprägten Generation akzentuierten sie diese Rolle in protestantischer Weise. Die beiden Studenten kehrten zunächst ohne akademischen Grad nach Frankfurt zurück, um kurz darauf standesgemäß zu heiraten: Johann von Glauburg die von seiner Mutter vorgeschlagene Braut Anna Knobloch (1510–1567), Justinian von Holzhausen Anna Fürstenberger (1510–1573), die Tochter des proreformatorischen Ratsherren und Gesandten Philipp Fürstenberger (1479–1540).85 Beide schlugen dann die für das Patriziat typische Ämterlaufbahn als Ratsherr, Bürgermeister und Gesandter ein, unterstützten die Hinwendung der Stadt zum protestantischen Lager und vertraten ihre Heimatstadt im Schmalkaldischen Bund. Innerhalb der Stadt setzten sie verschiedene reformatorische Maßnahmen durch: Während Justinian von Holzhausen mehrfach einer neugegründeten Ratsdeputation angehörte, die seit dem Erlass eines antiklerikalen Sittenmandats über die „Delicta carnis“ wachte,86 erzwang Johann von Glauburg 1542 die Auflösung des Weißfrauenklosters.87 Justinian von Holzhausen machte sich überdies im Dienst seiner Vaterstadt als Kriegsrat und Hauptmann verdient. Justinians Selbstverständnis als patrizischer, humanistisch gebildeter und protestantischer Mann ist eingefangen in einem Gemälde, das Conrad Faber von Kreuznach (um 1500–1552/53) 1536 von ihm und seiner Ehefrau schuf (vgl. Tafel 8).88 Der Maler stellte das Ehepaar in einer angedeuteten Loggia-Architektur dar. Zwischen den standesgemäß prächtig gekleideten Eheleuten sitzt – diese verbindend – Amor mit seinen Attributen, den Liebespfeilen und der Augenbinde. Doch Amor ist gebändigt: Justinian hält seinen Pfeil mit den Fingerspitzen der rechten Hand auf, und die Augenbinde ist so durchsichtig, dass sie es dem Liebesboten erlaubt, Justinians Ehefrau Anna anzublicken, während ihm diese eine Weintraube reicht. Die Komposition des Gemäldes ist in Frankfurt einzigartig und hebt sich ab von den zahlreichen Doppelbildnissen, die Mann und Frau in zusammengehörigen Einzelporträts
85 Vgl. Michael Matthäus, Fürstenberger, Philipp, in: Frankfurter Personenlexikon, Frankfurt a. M. 2017, URL: http://www.frankfurter-personenlexikon.de/node/2319 (Stand 27.3.2019). 86 Vgl. Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a. M., Ratswahlen und Ämterbestellungen 1 (1427–1543), fol. 238r (zum Jahr 1530). Zur Institutionalisierung der städtischen Sittenzucht vgl. Johann, Kontrolle mit Konsens, S. 122 f. 87 Vgl. Jung, Chroniken der Reformationszeit, S. 292. 88 Conrad Faber von Kreuznach, Doppelporträt des Justinian von Holzhausen und Anna Fürstenberger, Mischtechnik auf Lindenholz, 69,3 × 98,5 cm, Städel Museum, Inventarnummer 1729, URL: http://www. staedelmuseum.de/go/ds/1729 (Stand 27.3.2019). Vgl. Wolfgang Brücker, Conrad Faber von Creuznach, Frankfurt a. M. 1963, S. 58–60, S. 188–190; Andreas Hansert, Aus auffrichtiger Lieb vor Franckfurt. Patriziat im alten Frankfurt, Frankfurt a. M. 2000, S. 87–90.
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zeigen (vgl. Tafel 6 und 7).89 Trotz der antiken Ikonographie, die das Gemälde verwendet, dürfte es nicht bloß eine humanistisch inspirierte Allegorie ehelich-sinnlicher Liebe sein, sondern sich um eine Verbildlichung des reformatorischen Eheideals handeln: Wie der gebändigte Amor im Bild sind Lust und Liebe in der Ehe gleichermaßen aufgehoben wie gezähmt. Die Hintergrundszenerie fügt dieser Bedeutung eine weitere Ebene hinzu. In der idealisierten Landschaft hinter den Eheleuten ist das belagerte Münster dargestellt, gegen das Justinian als reichsstädtischer Hauptmann 1535 zu Felde gezogen war.90 Das Gemälde setzt damit nicht nur Justinians männliche Wehrhaftigkeit ins Bild, sondern unterstreicht mit der implizit aufgerufenen täuferischen Verfehlung der Polygamie nochmals die im Vordergrund dargestellte eheliche Zweisamkeit.
4. Resümee und Ausblick – für eine Geschichte reformationszeitlicher Männlichkeiten Die Reformation dynamisierte den Wandel männlicher Rollen und führte innerhalb weniger Jahre bei Geistlichen wie bei Laien dazu, dass vormals übliche Formen männlicher Lebensführung ihre Selbstverständlichkeit verloren. Ausgehend von Rechtfertigungslehre und neuer Geschlechteranthropologie setzte der sich formierende Protestantismus eine Transformation klerikaler Männlichkeit in Gang, von der weite Teile der Geistlichkeit betroffen waren. Auch wenn Kleriker bereits in vorreformatorischer Zeit im Konkubinat gelebt hatten, stellte die Klerikerehe einen tiefgreifenden Wandel dar, weil sie zen trale Elemente geistlichen Lebens umwertete. Demonstrativ vollzogen deshalb viele der ehemals im Zölibat lebenden Reformatoren ihre eigenen Eheschließungen, doch gerade für ältere Kleriker stellte diese Umorientierung eine Herausforderung dar, der nicht alle gewachsen waren. Zum anderen führte die Reformation dazu, dass die Lebensführung der Laien zunehmend an den mit neuer theologischer Vehemenz vorgetragenen Sittlichkeits- und Reinheitsvorstellungen ausgerichtet wurde. Das reformatorische Vorgehen gegen Hurerei und Büberei hatte zwar zunächst eine starke antiklerikale Stoßrichtung gehabt, doch die neueingerichteten Instanzen der Sittenzucht intensivierten auch die Aufsicht über die Laien. Für die männlichen Angehörigen des Frankfurter Patriziats bedeutete die Reforma89 Als zusammengehöriges Doppelbildnis sind auch die Porträts des Johann von Glauburg und der Anna Knobloch gestaltet. Vgl. Conrad Faber von Kreuznach, Doppelbildnis des Johann von Glauburg und der Anna Knobloch, 1545, Mischtechnik auf Lindenholz, jeweils 58 × 44 cm, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie, Inventarnummer 628A und 628B, URL: https://www.bildindex.de/document/obj02552104?medium=gg0128z (Stand 27.3.2019). 90 Vgl. Lerner, Gestalten, S. 116 f.
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tion deshalb nicht nur, dass sich ihnen fortan die standesgemäße Existenz als Stiftsgeistlicher verschloss. Auch die weitreichende Akzeptanz vor- und außerehelicher Sexualität und der aus ihr hervorgegangenen unehelichen Kinder schwand schnell. Die hier skizzierten Entwicklungen korrespondierten mit anderen, die sich sowohl innerhalb, als auch außerhalb der protestantischen Einflusssphäre vollzogen. Der evangelische Hausvater war selbstverständlich nicht die einzig denkbare Männlichkeit der Reformationszeit, er hatte seine Mit- und Gegenspieler in katholischen Pfarrern, Jesuiten und Täufern, Studenten, Landsknechten und „Sodomiten“, Humanisten und Renaissancekünstlern.91 Diese Männlichkeiten in einer weiter gefassten Geschichte reformationszeitlicher Männlichkeit miteinander in Beziehung zu setzen, wäre ein lohnendes Projekt – auch über die Reformationsdekade hinaus.
91 Vgl. Gadi Algazi, Scholars in Households. Refiguring the Learned Habitus, 1480–1550, in: Science in Context 16 (2003), S. 9–42; Josef Ehmer, Alter, Arbeit, Ruhestand. Zur Dissoziation von Alter und Arbeit in historischer Perspektive, in: Ursula Klingenböck (Hg.), Alter(n) hat Zukunft. Alterskonzepte, Innsbruck 2009, S. 114–140 (= Querschnitte: Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts-, und Kulturgeschichte 26); Antje Flüchter, Der Zölibat zwischen Devianz und Norm. Kirchenpolitik und Gemeindealltag in den Herzogtümern Jülich und Berg im 16. und 17. Jahrhundert, Köln/Weimar u. a. 2006 (= Norm und Struktur: Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit 25); Etienne François, Das andere Pfarrhaus. Das katholische Pfarrhaus, in: Stiftung Deutsches Historisches Museum (Hg.), Leben nach Luther. Eine Kulturgeschichte des evangelischen Pfarrhauses, Berlin 2014, S. 195–201; Margaret Gallucci, Benvenuto Cellini. Sexuality, Masculinity and Artistic Identity in Renaissance Italy, New York 2003; Jan Willem Huntebrinker, „Fromme Knechte“ und „Garteteufel“. Söldner als soziale Gruppe im 16. und 17. Jahrhundert, Konstanz 2010 (= Konflikte und Kultur: historische Perspektiven 22); Barbara Krug-Richter, Von Messern, Mänteln und Männlichkeit. Aspekte studentischer Konfliktkultur in Freiburg im Breisgau in der Frühen Neuzeit, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 4 (2004), S. 26–52; John Jeffries Martin, „Et nulle autre me faict plus proprement homme que cette cy“. Michel de Montaigne’s Embodied Masculinity, in: European Review of History/Revue européenne d’histoire 22 (2015), S. 563–578; Helmut Puff, Sodomy in Reformation Germany and Switzerland, 1400–1600, Chicago 2003; Katharina Reinholdt, Ein Leib in Christo werden. Ehe und Sexualität im Täufertum der Frühen Neuzeit, Göttingen 2012 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 227); Matthias Rogg, Landsknechte und Reisläufer. Bilder vom Soldaten. Ein Stand in der Kunst des 16. Jahrhunderts, Paderborn/ München u. a. 2002 (= Krieg in der Geschichte 5); Ulrike Strasser, „The First Form and Grace“. Ignatius von Loyola and the Reformation of Masculinity, in: Hendrix/Karant-Nunn (Hg.), Masculinity, S. 45–70.
Claudia Opitz-Belakhal
Von Ehelob und Zölibatsverbot, Priesterehen und streitbaren Nonnen: Reformationsgeschichte als Geschlechtergeschichte
1. Reformationsgeschichte als Emanzipationsgeschichte? Ich beginne mit einem Zitat aus Luthers berühmter Eheschrift in der Version von 1522: „Es sind viele heidnische Bücher, die nichts als der Weiber Laster und des ehelichen Standes Widerwärtigkeiten beschreiben, so daß etliche gemeint haben, wenn die Weisheit selbst ein Weib wäre, sollte man dennoch nicht freien … So haben sie beschlossen, dass ein Weib sei ein nötiges Übel und kein Haus ohne solches Übel. Das aber sind blinder Heiden Worte, die nicht wissen, dass Mann und Weib Gottes Schöpfung ist, und lästern ihm sein Werk, gerade, als kämen Mann und Weib unversehens daher. Ich halte auch dafür, wenn die Weiber würden Bücher schreiben, so würden sie von den Männern auch dergleichen schreiben.“1 Mit diesen Worten versuchte der Reformator bekanntlich, seine Kritik an den traditionellen Einwänden gegen das Eheleben und damit letztlich auch die Höherwertung des Zölibats in der kirchlichen Lehre zu begründen. Die Passage liest sich dabei wie ein klassischer Beitrag zu jener „Querelle des femmes“, die gut ein Jahrhundert zuvor durch die französische Hofdichterin Christine de Pizan (1364–1430) mit ihrem Einspruch gegen eine frauenfeindliche Literatur- und Kulturtradition ins Leben gerufen worden war. Auch Christine de Pizan hatte sich empört gegen die Ehe- und Frauenschelte gewandt, die sich in spätmittelalterlichen Traktaten und Unterhaltungsschriften wie dem sogenannten „Matheolus“ oder auch der Schrift über die „Fünfzehn Freuden der Ehe“ finden.2 War Luther also ein Feminist der ersten Stunde und die Reformation infolgedessen ein wichtiger Einschnitt auf dem Weg zur Emanzipation – gleichsam eine Vorstufe moderner feministischer Bewegungen, die schließlich mehr oder weniger direkt in die 1 Martin Luther, Vom ehelichen Leben (1522), in: Karin Bornkamm/Gerhard Ebeling (Hg.), Martin Luther, Ausgewählte Schriften, Bd. III, Frankfurt a. M. 21983, S. 186. 2 Zu Christine de Pizans Schriften, v. a. auch zu ihren Beiträgen zur „Querelle des femmes“ siehe v. a. ihre Schrift: Margarete Zimmermann (Hg.), Le livre de la Cité des Dames [1405, C. O.-B.], Berlin 21987, siehe dazu auch Margarete Kottenhoff, „Du lebst in einer schlimmen Zeit“. Christine de Pizans Frauenstadt zwischen Sozialkritik und Utopie, Köln/Weimar u. a. 1994.
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moderne Geschlechtergleichheit führen würde? Tatsächlich hat sowohl die ältere Historiographie wie auch die um 1970 neu entstandene, konfessionell ausgerichtete protestantische „Frauengeschichte“ eine solche Deutung von Luthertum und Reformation formuliert und propagiert.3 Zu nennen wären hier etwa die Untersuchung von Steven Ozment zu den Auswirkungen der Reformation auf Ehe und Familie oder die Arbeiten von Roland H. Bainton.4 In Anlehnung an solche Arbeiten schrieb auch Luise Schorn-Schütte dem protestantischen Ehemodell eine „emanzipatorische“ Dimension zu – sei dies mit Blick auf die bedeutende Rolle der Pfarrfrau, sei dies aber auch im Hinblick auf allgemeinere rechtliche Regelungen bzw. Neuerungen im Eherecht durch die Reformation.5 Wie aber passen solche Interpretationsansätze zu einem Lutherzitat wie dem folgenden, das sich in einer Tischrede aus den 1540er-Jahren findet: „Wenn sie [die Frauen, C. O.-B.] ausser der Haushaltung reden, so taugen sie nichts. Denn wiewol sie wort genug haben, doch fehlets und mangelts ihnen an Sachen, als die sie nicht verstehen, drum reden sie auch davon läppisch, unordentlich und wüste durch einander über die Maaße. Daraus erscheinet, dass das Weib geschaffen ist zur Haushaltung, der Mann aber zur Policey, zu weltlichem Regiment, zu Kriegen und Gerichtshändeln, die zu verwalten und führen“.6 Ein klareres Plädoyer für die Domestizierung von Frauen und die Trennung der Lebenswelten von Männern und Frauen lässt sich ja kaum finden!
2. Reformationsgeschichte als Patriarchatskritik Tatsächlich hat schon 1973 die amerikanische Frühneuzeithistorikerin Natalie Zemon Davis am Beispiel der städtischen Reformation in Frankreich gezeigt, in welchem Maß (religiöse und andere) Handlungsspielräume und Identifikationsmuster von Frauen in der und durch die Reformation beseitigt wurden: Der Heiligen- und der Marienkult wurden 3 Vgl. dazu auch die Ausführungen von Natalie Zemon Davis, Städtische Frauen und religiöser Wandel, in: Dies., Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich, Frankfurt a. M. 1987, S. 75–105, besonders S. 75–78, sowie Heide Wunder, Frauen in der Reformation. Rezeptions- und historiographiegeschichtliche Überlegungen, in: ARG 92 (2001), S. 303–320. 4 Steven Ozment, When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe, Cambridge/Massachusetts 1983; Roland H. Bainton, Frauen der Reformation. Von Katharina von Bora bis Anna Zwingli. 10 Por träts, Gütersloh 1995. 5 Luise Schorn-Schütte, „Gefährtin“ und „Mitregentin“. Zur Sozialgeschichte der evangelischen Pfarrfrau in der Frühen Neuzeit, in: Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 109–153. Ähnlich argumentierte auch Gerta Scharffenorth, „Im Geiste Freunde werden“. Mann und Frau im Glauben Martin Luthers, in: ebd., S. 97– 108. 6 Zitiert nach: WA TR, 1531–1546, Bd. 1: Tischreden aus der ersten Hälfte der dreißiger Jahre (Sprachliche Anmerkungen und Erläuterungen von Oskar Brenner), Weimar 1912, S. 532.
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abgeschafft, das Gebet konnte fortan nicht mehr an eine weibliche Hilfsfigur gerichtet werden. Darüber hinaus verloren die Frauen nicht nur ihre heiligen Hilfsfiguren – beiderlei Geschlechts –, sondern auch das Gemeinschaftsleben im Kloster, das im Katholizismus eine ebenso angesehene wie praktische Alternative zum Familienleben darstellte. Zwar sollte nicht übersehen werden, so Davis weiter, welche Möglichkeiten sich allen Laien, auch den weiblichen, hinsichtlich der Bibellektüre und dem direkteren Zugang zu Gott in den protestantischen Gottesdiensten und im Gemeindeleben eröffneten, aber es lässt sich bei den frühen Protestanten keineswegs ein ungehinderter Zugang zum „Priesteramt aller Gläubigen“ oder zur Verkündigung des Wortes Gottes durch Frauen finden.7 In der geschlechterhistorischen Forschung herrscht damit schon länger eine eher kritische Einschätzung der Reformation, ihrer Voraussetzungen und ihrer Folgen für Frauen und, allgemeiner formuliert, für die Geschlechterordnung der Frühen Neuzeit vor. Sie basiert im Übrigen auch weniger auf den Schriften Luthers, sondern sehr viel mehr auf sozialgeschichtlich aussagekräftigeren Quellen – wie etwa Reformationsordnungen, Gerichtsakten oder Flugblättern der Reformationszeit – und rückt damit näher an die „alltagsgeschichtliche“ Dimension der Reformationsereignisse heran. Bahnbrechend hierfür war die Studie von Lyndal Roper über die Reformation in Augsburg, die sie unter dem Titel „The Holy Household“ 1989 veröffentlichte (deutsch: Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, 1995) und in der sie eine deutliche Verschlechterung der Situation von Frauen und eine „Domestizierung“ von Weiblichkeit in verschiedenster Hinsicht durch die Reformation diagnostizierte – nicht zuletzt durch Kriminalisierung von Prostitution und vorehelicher Sexualität als strafwürdiger „Unzucht“ (vgl. Tafel 9).8 Da sie sich ebenfalls weniger mit programmatischen theologischen Texten, als vielmehr mit rechtlichen und politischen Handlungen – insbesondere der (männlichen) Zunftvertreter und der Augsburger Stadtväter – befasste, kam sie zum Schluss, dass die „Domestizierung von Frauen“ eine Grundbedingung für die „Domestizierung“ der Reformation selbst, also 7 Davis, Städtische Frauen, S. 75–105. Gerade die Frage der weiblichen Beteiligung an der Durchsetzung der Reformation ist weiterhin offen und wird in der Forschung auch weiterhin debattiert. Siehe dazu v. a. die Studien von Angelika Nowiki-Pastuschka, Frauen in der Reformation. Untersuchungen zum Verhalten von Frauen in den Reichstädten Augsburg und Nürnberg zur reformatorischen Bewegung zwischen 1517 und 1537, Pfaffenweiler 1990 (= Forum Frauengeschichte 2); Martin H. Jung, Nonnen, Prophetinnen, Kirchenmütter. Kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Studien zu Frauen der Reformationszeit, Leipzig 2002; Kirsi Stjerna, Women and the Reformation, Malden/Massachusetts/Oxford 2009; Sonja Domröse, Frauen der Reformationszeit – gelehrt, mutig, glaubensfest, Göttingen 2010; Dorothee Kommer, Reformatorische Flugschriften von Frauen. Flugschriftenautorinnen der frühen Reformationszeit und ihre Sicht von Geistlichkeit, Leipzig 2013 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 40), vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band; Wilma Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst. Reformatorische Theologie in Texten von Frauen (1523–1558), St. Ingbert 2017 (= SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung 21). 8 Lyndal Roper, Das Fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a. M./New York 1995.
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ihre Durchsetzung und Veralltäglichung wurde. Der Wandel der Geschlechterordnung, der hier zu konstatieren war, rückte damit im Übrigen von der Peripherie ins Zentrum der Erklärung der Reformation, des Handelns der städtischen Akteure und ihrer Motivationen. In der Tat, die Gestaltung von Ehe und häuslichem Zusammenleben war für die frühneuzeitliche Gesellschaft keine Nebensache. Die Bedeutung, die das Zusammenleben und -arbeiten unter einem Dach für praktisch alle gesellschaftlichen Bereiche hatte, wurde von der sozialgeschichtlichen Frühneuzeitforschung – etwa von Richard van Dülmen – schon vor Längerem festgestellt: Von der gewerblichen Produktion, also dem Handwerk, bis hin zur Kranken- und Armenpflege, von der höfischen politischen Kultur bis hin selbstverständlich zur familiären Reproduktion, wurden fast alle gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens in die Form des Haushalts (oder allenfalls des fürstlichen oder bäuerlichen Hofes) gegossen und als solche auch vielfach gelebt.9 Und in den meisten Fällen stand ein, um mit Heide Wunder zu sprechen, „Ehe- und Arbeitspaar“ diesen diversen Haushaltungen vor, dem eine hohe Autorität und Verfügungsgewalt über sämtliche „Hausinsassen“ und Mitbewohner zukam.10
3. Wandel oder Kontinuität der Geschlechterordnung? War diese hohe Bedeutung von Haushalt und häuslichem Zusammenleben für praktisch alle Stadt- und Landbewohner nun aber eine Folge dieser „Verhäuslichung“ der Reformation und der ihr vorangehenden „Domestizierung der Frauen“? Heide Wunder hat 1991 in ihrer grundlegenden Studie über den „Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit“11 eine solche Schlussfolgerung verneint. Sie geht vielmehr davon aus, dass der Wandel der Vorstellungen von und der Praktiken in Haushalt und Ehe der Reformation bereits lange vorausging und eine Vorbedingung dafür war, dass sie sich überhaupt in den frühneuzeitlichen Städten so durchsetzen konnte. So waren etwa, wie sie schreibt, „langjährige eheähnliche Lebensgemeinschaften“ von Klerikern mit einer Frau – einschließlich entsprechendem Kindersegen – seit dem 15. Jahrhundert eher die Regel als die Ausnahme – und gerade aus dieser Gruppe, so ihre Beobachtung, gingen auch die Verfechter der Priesterehe hervor. Allerdings, so hält sie weiter fest, war zahlenmässig weit bedeutender „die Gruppe von Männern und Frauen, die ohne die Einholung elterlicher und herrschaftlicher Zustimmung, allein mit der kirchlichen Legitimation eine Konsens 9 Dazu immer noch wichtig: Richard van Dülmen, Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Bd. 1: Das Haus und seine Menschen 16.–18. Jahrhundert, München 1991. 10 Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, besonders Kap. 4. 11 Wunder/Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen.
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135 Abb. 5: Darstellung eines Ehe- und Arbeitspaares, hier im Seidensticker-Gewerbe, bei dem Ehemann und Ehefrau eng zusammenarbeiteten, Holzschnitt „Der Seydensticker“ von Jost Amman (1539–1591), 1568
ehe … eingingen“.12 Dabei etablierte sich eine gegenüber dem früheren Mittelalter neue Art der Paarbeziehung – das „Ehe- und Arbeitspaar“, das vielfach auf neue Möglichkeiten des Erwerbs durch Lohnarbeit angewiesen, aber dadurch auch ein Stück weit autonomer wurde – Wunder spricht hier gar von einer „gemeinsamen Emanzipation aus herrschaftlicher Abhängigkeit“. Stattdessen wurde nun die Beziehung zwischen den Eheleuten, ihre gegenseitige „Liebe“, zum beherrschenden Thema der Literatur und Kultur. Die Ehe wurde des Weiteren zu einem neuen Ordnungsfaktor des entstehenden modernen Staates – und dies insbesondere, aber nicht nur, in den protestantischen Gemeinwesen, die nach Ansicht Wunders die Ehe stärkten, indem sie auch die Ehescheidung erlaubten, „die dann unerlässlich wurde, wenn die Ordnungsaufgaben von den Eheleuten nicht mehr gewährleistet werden konnten“.13 Wunder sieht daher insgesamt 12 Heide Wunder, Überlegungen zum Wandel der Geschlechterbeziehungen im 15. und 16. Jahrhundert aus sozialgeschichtlicher Sicht, in: Wunder/Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen, S. 12–26, hier: S. 18. 13 Ebd., S. 23.
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weniger eine „physische“ Domestizierung der Frauen durch die Reformation, sondern eher „das psychische Verschwinden der Ehefrau als Person hinter der des Ehemannes“.14 Damit einher ging eine Intensivierung der symbolischen und rechtlichen Unterordnung der Ehefrauen, verbunden mit der obrigkeitlichen Intention, alle Frauen in das „Ehejoch“ einzubinden – und jene, die sich dem entzogen, gegebenenfalls etwa als Prostituierte, Vagantinnen oder Hexen zu kriminalisieren – zum Zweck der „Stabilisierung der Geschlechterbeziehungen“, die ja im Prinzip auf einer gleichwertigen und unverzichtbaren Gemeinsamkeit häuslichen Nahrungserwerbs und häuslicher Reproduktion basierte. Die Reformation spielt dabei indes allenfalls eine Nebenrolle, da sich gewisse „Verhäuslichungs-“ bzw. „Domestizierungsvorgänge“ durchaus auch in katholischen Städten des Reiches feststellen lassen, wie etwa Ulrike Strasser in ihrer Studie über das katholische München zur Zeit der katholischen Reform gezeigt hat.15
4. Politische Herrschaft als Geschlechterherrschaft Wie schon die Erhellung der Vorgeschichte unverzichtbar ist, um die Frage nach den reformatorischen Neuerungen und den Traditionen, auf welchen sie aufruht, zu beantworten, so ist auch im Hinblick auf die Reformationsgeschichte selbst in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich geworden, wie notwendig Differenzierungen in der Betrachtung und Deutung dieses komplexen Geschehenszusammenhangs sind. So lässt sich etwa mit Claudia Ulbrich eine Frühphase definieren, in der sich viele gesellschaftliche Akteure für oder gegen eine Einführung des „neuen Glaubens“ einsetzen konnten, unter ihnen auch zahlreiche Frauen wie Argula von Grumbach (1492–1554) oder Katharina Zell (1498–1562), aber auch all jene Nonnen, die ihre Frauenklöster eben nicht verlassen und dem vermeintlichen „Ruf in die Freiheit“ nicht folgen wollten, die in der historischen Forschung ja lange Zeit leider sträflich vernachlässigt wurden.16 Eine zweite Stufe setzte dann mit der Niederschlagung der sozialen Unruhen ein, die gemeinhin als „Bauernkrieg“ bezeichnet werden: Nun wurden reformatorische Theologie und Ethik in erster Linie zum Instrument der Herrschaftssicherung in den reformierten Territorialstaaten des Reiches und seiner Repräsentanten. Auf diesem Wege hielt auch das auf männlicher Autorität beruhende Hausmodell Einzug in die Politik: Die Haus14 Ebd., S. 24. 15 Vgl. Ulrike Strasser, State of Virginity. Gender, Religion and Politics in an Early Modern Catholic State, Ann Arbor/Michigan 2004. 16 Vgl. Claudia Ulbrich, Frauen in der Reformation, in: Nada Boskovska Leimgruber (Hg.), Die Frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft. Forschungstendenzen und Forschungserträge, Paderborn/München u. a. 1997, S. 163–178.
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herrschaft wurde zum Vorbild aller denkbaren Herrschaftsbeziehungen – ausformuliert etwa in Luthers Drei-Regimenter-Lehre, in der drei Ebenen von Herrschaft unterschieden werden: der „status oeconomicus“ (das Haus), der „status politicus“ (der Staat) und der „status ecclesiasticus“ (die Kirche). Da alle drei „status“ als unmittelbar von Gott geschaffen definiert wurden, rückte damit auch der „Hausvater“ zu einer starken, fast gottähnlichen oder jedenfalls fürstlichen Stellung auf. Claudia Ulbrich schlussfolgert daraus, ähnlich wie dies schon Lyndal Roper getan hatte, dass durch die lutherische Ständelehre „Haushalt und Familie zu Prototypen einer hierarchischen Ordnung des sexuellen und sozialen Lebens [wurden, C. O.-B.].“17 Dass dies in der Praxis auch zu Widersprüchen führen konnte und sich Frauen durchaus – etwa bei ehelichen Konflikten oder für ihr Scheidungsbegehren – hilfesuchend an die staatlichen Obrigkeiten oder die „Stadtväter“ wenden konnten, um der Herrschaft der Ehemänner und Hausväter Grenzen zu setzen, ist von der Forschung – etwa durch Thomas Safley oder Heiner Schmidt – zwar mehrfach konstatiert, aber doch auch rasch relativiert worden.18 So hat etwa Susanna Burghartz mit Blick auf Basler Gerichtsquellen solche Interpretationen, die von einem engen Bündnis zwischen Ehefrauen und Obrigkeiten ausgingen, als methodisch fragwürdig kritisiert und auch ein gutes Stück weit widerlegt.19 Frauen traten zwar vergleichsweise häufig vor Ehegerichten auf, aber ob sie dort ihre Interessen und Wünsche durchsetzen konnten, bleibt eine offene Frage.
5. Kritik und Ende der weiblichen Klosterkultur? In jedem Fall lassen sich in der protestantischen Konfessionalisierung durchaus Brüche und Widersprüche konstatieren. Doch bleibt die These von der Verfestigung patriarchaler Herrschaft durch die Reformation bestehen und kann auch durch den Hinweis auf 17 Ebd., S. 172 f. 18 Vgl. Heinrich R. Schmidt, Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert, in: Martin Dinges (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 213–236; Thomas M. Safley, „Let no man put asunder“. The control of marriage in the German South-West 1550–1600, Kirksville/Missouri 1984. Ähnlich argumentiert für das frühneuzeitliche Gerichtswesen allgemein auch Eva Labouvie, Macht der Begrenzung. Von der Nutzbarmachung gesellschaftlicher Vorstellungen von Weiblichkeit durch Frauen in Strafjustiz und Rechtsprechung (16.–19. Jahrhundert), in: Kriminologisches Journal, 7. Beiheft 1999, S. 65–80; Dies., „Weiber Recht“ in „Weiber Not“. Zum kollektiven Widerstand von Frauen gegen obrigkeitliche Anordnungen, in: Julia Frindte/Siegrid Westphal (Hg.), Handlungsspielräume von Frauen um 1800, Heidelberg 2005, S. 211–222. 19 Vgl. Susanna Burghartz, Umordnung statt Unordnung? Ehe, Geschlecht und Reformationsgeschichte, in: Helmut Puff/Christopher Wild (Hg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Göttingen 2003, S. 165–185, v. a. S. 171 f.
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deren innere Widersprüche und daher letztlich ihre Fragilität nicht völlig zurückgewiesen werden.20 Zudem wird erst in den letzten Jahren deutlicher, welche Konsequenzen etwa die Aufhebung von Klöstern für Frauen (bzw. Nonnen), aber auch für die Angehörigen des männlichen Geschlechts zeitigten. Auch wenn es zahlreiche Mönche und Nonnen gab, die ein säkulares und gegebenenfalls sogar eheliches Leben dem Klosterleben vorzogen, so finden sich doch in praktisch allen klösterlichen Gemeinschaften immer auch solche Personen, die an der älteren Lebensweise festhalten, sie allenfalls reformieren wollten. Ein besonders anschauliches, aber keineswegs das einzige Beispiel hierfür ist das Katharinenkloster in Nürnberg, dessen abrupte Schließung von der energischen und gelehrten Äbtissin Caritas Pirckheimer (1467–1532) zwar abgewendet werden, aber dessen „Aussterben“ sie nicht verhindern konnte, wie Barbara Steinke in ihrer umfassenden Studie über Klosterschließungen durch die Reformation belegen konnte.21 Dem höchst negativen Bild des (vermeintlich unkeuschen) Lebens von Mönchen und Nonnen, wie es die Reformatoren fast ausnahmslos zeichnen, sollte die Forschung jedenfalls nicht kritiklos folgen. Aber ebenso wenig sollten Frauenklöster als „freiheitliche Enklaven weiblichen Wirkens in patriarchalischen Gesellschaften“ idealisiert werden, wie Anna Sauerbrey in ihrer Studie über die Straßburger Klöster in der Reformationszeit betont.22 Dass Nonnen – jedenfalls im reformatorischen Straßburg – stärker Widerstand gegen die Abschaffung ihrer Klöster leisteten als Mönche und dabei auch das Festhalten an den alten Kultpraktiken verlangten, ist ein erklärungsbedürftiger Befund, da „die Handlungsmöglichkeiten von Nonnen und Mönchen im Widerstand gegen den Rat sich nicht grundsätzlich unterschieden zu haben“ scheinen. Ein Grund hierfür war sicherlich, dass die Optionen ehemaliger Nonnen im Leben nach dem Klosteraustritt begrenzt waren: Sie konnten in ihre Familien zurückkehren oder im besten Fall heiraten, was etwa in Straßburg dazu führte, das ehemalige Nonnen in außerklösterlichen Wohngemeinschaften lebten, welche vom Rat toleriert wurden. Dort, wo die Frauenklöster erhalten blieben, zeigt sich darüber hinaus eine dezidierte Orientierung auf den alten Glauben und die traditionelle Liturgie, explizit auch als Abwehr der protestantisch-lutherischen Angriffe auf das Klosterleben besonders der Nonnen, wie Sauerbrey ausführt: „Das Ideal der ‚wehrhaften Nonne‘, die den protestantischen Widersachern mit Witz, Tücke und Beständigkeit begegnete, wurde den Konventualinnen der hagiographischen Praxis folgend vorgehalten, um sie auf den Widerstand gegen den Protestantismus einzuschwören und sie in ihrer altgläubigen 20 Dazu legte vor einiger Zeit Kathleen M. Crowther eine breit angelegte und sehr differenzierte Studie vor, vgl. Kathleen M. Crowther, Adam and Eve in the Protestant Reformation, Cambridge 2010. 21 Vgl. Barbara Steinke, Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation, Tübingen 2006 (= Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 30). 22 Vgl. Anna Sauerbrey, Die Straßburger Klöster im 16. Jahrhundert. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechtergeschichte, Tübingen 2012, S. 73.
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Identität zu bestärken. Den Nonnen waren dabei Geschlechterdifferenzen ganz offensichtlich bewußt. Sie erkannten den stärkeren Widerstand weiblicher Gemeinschaften gegen die Reformation und entwickelten daraus eine positive, spezifisch weibliche konfessionelle Identität“.23 Andererseits findet sich aber eben auch vehemente Kritik am Klosterleben aus weiblicher Sicht – wie etwa die von Luther selbst herausgegebenen Rechtfertigungsschriften der hochadligen Nonne Ursula von Münsterberg (um 1491/95–1534) und der Eislebener Zisterzienserin Florentina von Oberweimar (um 1506–). Letztere erreichte sechs Ausgaben und zwei Nachdrucke und kann als klassisches Beispiel einer lutherischen antimonastischen Propagandaschrift gelten, wie Antje Rüttgardt in ihrer Studie über Klosteraustritte in der frühen Reformation in den Flugschriften des 16. Jahrhunderts betont.24
6. Widersprüche und Fragilität der reformatorischen Geschlechterordnung Letztlich gibt aber vor allem der Vergleich mit den zeitgleichen Entwicklungen im katholischen Europa hinsichtlich der weltlichen Geschlechterordnung und deren Wandel zu denken. Denn vieles, was die feministische Geschichtsforschung zunächst für den Protestantismus oder die protestantischen Gemeinwesen herausgearbeitet hat, gilt mit wenigen Abstrichen (etwa bezüglich der Frauenklöster und -orden) auch für die katholischen Gebiete.25 Auch hier werden Ehe und Haushalt zu wesentlichen Trägern neuer religiöser Vorstellungen und Praktiken – und auch hier werden staatliche, fürstliche und häusliche Herrschaft in einer Apotheose der Männlichkeit bzw. Väterlichkeit symbolisch eng zusammengedacht. Der französische Kulturhistoriker Robert Muchembled spricht in diesem Zusammenhang gar von „Kaskaden der väterlichen Autorität“, denen Frauen, jüngere Männer und Kinder sich unterordnen mussten.26 Natalie Zemon Davis konstatiert
23 Ebd., S. 353. Siehe dazu auch die durchaus vergleichbaren Befunde bei Sybille Knecht, Ausharren oder Austreten? Lebenswege ehemaliger Nonnen nach der Klosteraufhebung am Beispiel der Städte Zürich, Bern und Basel, Zürich 2016. 24 Siehe dazu Antje Rüttgardt, Klosteraustritte in der frühen Reformation. Studien der Flugschriften der Jahre 1522–1524, Gütersloh 2007, besonders S. 319 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 79); vgl. auch den Beitrag von Dorothee Kommer in diesem Band. 25 Vgl. dazu etwa Strasser, State of Virginity. 26 Robert Muchembled, Die Erfindung des modernen Menschen. Gefühlsdifferenzierung und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des Absolutismus, Reinbek bei Hamburg 1991, v. a. das 5. Kapitel, hier: S. 309 ff.
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ebenfalls eine „Patriarchalisierung“ der Gesellschaft, die Frauen zunehmend entmündigte und marginalisierte, gerade auch im katholischen Frankreich.27 Tatsächlich hat die historische Forschung in den letzten Jahren deutlich herausgearbeitet, in welchem Maße es – neben zahlreichen Unterschieden – doch auch etliche Gemeinsamkeiten bzw. genauer: gegenseitige Bezugnahmen der verschiedenen aus der Reformation hervorgegangenen Konfessionen gegeben hat. Und dies gilt gerade auch für die nachreformatorischen Geschlechterordnungen, -ideale und -praktiken.28 Diese gingen über die vermeintlich typischen Lebensbereiche von Frauen im Haushalt übrigens weit hinaus. Neben den bereits genannten Bereichen wären hier etwa Erziehung und Bildung, aber auch das Hilfs- und Fürsorgewesen zu nennen. Vor allem aber hatten die religiösen Umwälzungen der frühen Neuzeit auch wesentliche Auswirkungen auf die Angehörigen des männlichen Geschlechts – sei dies durch eine Re-Patriarchalisierung der symbolischen Ordnung, etwa durch die Erhöhung des Hausvaters zum Familienmonarchen, unter dessen Herrschaft auch die Söhne sich ducken mussten, sei es aber auch – etwa durch die Abschaffung der Klöster – durch die Etablierung eines „Ehezwangs“, dem längst nicht alle Männer Folge leisten konnten oder wollten. Wie Susanna Burghartz und Lyndal Roper konstatieren, ging es bei der reformatorischen Neuordnung von Gesellschaft und Glauben eben um die Neudefinition sowohl weiblicher wie männlicher Rollen und Handlungsräume. Beides betraf und verunsicherte nicht nur Frauen, sondern auch die Angehörigen des männlichen Geschlechts. Ausgehend von einem psychohistorischen Ansatz wies etwa Lyndal Roper in mehreren Aufsätzen darauf hin, wie die den differenten Geschlechtsidentitäten und -ordnungen inhärente Labilität in der Reformation besonderes Gewicht erhielt. Nach ihrer Auffassung artikulierten sich in der Reformation tiefe Ängste vor Weiblichkeit, Sexualität und Begehren, die sich unter anderem in der Dämonisierung des Gegners und in der Vorliebe für sexuelle Metaphern äußerten. Um ihre eigene, neu zu definierende männliche Identität zu finden, brauchten die reformierten Priester ein Feindbild – in der Regel die „dissidente“ oder unklare Männlichkeit von Mönchen und Kirchenvertretern männlichen Geschlechts, denen ebenso sehr Geilheit und sexuelle Ausschweifung wie z. B. auch Homosexualität, Feigheit und „weibisches“ Verhalten vorgeworfen wurde.29 27 Natalie Zemon Davis, Die aufsässige Frau, in: Dies., Humanismus, Narrenherrschaft, S. 136–170. 28 Vgl. hierzu Monika Mommertz/Claudia Opitz-Belakhal, Einleitung. Religiöse „Kulturen“ und „Geschlecht“. Einige konzeptionelle Überlegungen, in: Dies. (Hg.), Das Geschlecht des Glaubens. Religiöse Kulturen Europas zwischen Mittelalter und Moderne, Frankfurt a. M./New York 2008, S. 7–48. 29 Lyndal Roper, Was there a Crisis in Gender relations in Sixteenth-Century Germany?, in: Monika Hagenmaier (Hg.), Krisenbewusstsein und Krisenbewältigung in der Frühen Neuzeit – Crisis in Early Modern Europe, Frankfurt a. M. 1992, S. 371–386. Siehe dazu auch die Beiträge im Sammelband: Scott H. Hendrix/Susan C. Karant-Nunn (Hg.), Masculinity in the Reformation Era, Kirksville/Missouri 2008.
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Abb. 6: Allegorie auf das Mönchtum, Holzschnitt von Hans Sebald Beham (1500–1550), 1521
Helmut Puff interpretiert diesen Unzuchtsdiskurs als rhetorischen Machtkampf unter Männern. Die polemischen Diskussionen um die Priesterehe, die zunächst im Zentrum reformatorischer Ehe- und Unzuchtsrhetorik standen, erweisen so ihren Doppelcharakter: Sie waren einerseits Diskussionen um Standesgrenzen zwischen Geistlichen und Laien und gehören damit in den Bereich der Auseinandersetzungen um ein neues Amtsverständnis der „gereinigten“ Kirche. Zum anderen waren die intensiven Auseinandersetzungen um Sexualität, Ehe und Unzucht aber auch ein wirksames Mittel im Kampf um gesellschaftliche Definitionsmacht und damit ein wichtiger Bestandteil jener „politics of rethoric“, die für die Reformationszeit von so vitaler Bedeutung waren.30 Auch im katholischen Kulturraum spielen solche sexualisierten Bilder eine wichtige, teilweise gar zentrale Rolle. Wie Ulrike Strasser in ihrer bereits zitierten Studie über das katholische Bayern zeigte, bündelte und realisierte sich das konfessionelle Ausgreifen staatlich-kirchlicher Institutionen und Akteure im katholischen Bayern über die stark geschlechtlich konnotierte Figur der „virginitas“, der Jungfräulichkeit, die gleichsam auf einen Blick konfessionelle Differenz mit Geschlechterdifferenz und Tugendhaftigkeit, ja Stärke und Kampfkraft programmatisch zu verbinden vermag.31 30 Helmut Puff, Sodomy in Reformation Germany and Switzerland.1400–1600, Chicago 2003, besonders Part 2: Acting Words, S. 107 f. 31 Vgl. Strasser, State of Virginity, v. a. die Einleitung.
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Praktisch gewendet führen diese Differenzierungen schließlich zu der vielleicht nicht für alle immer befriedigenden, aber historisch letztlich unumgänglichen Erkenntnis, dass „die Reformation“ weder nur positive noch nur negative Auswirkungen auf „die Frauen“ gehabt haben kann. Dafür waren die Ereigniszusammenhänge zu komplex und sind die jeweiligen Wertmaßstäbe aber auch zu kontingent oder im schlimmsten Fall schlicht anachronistisch – etwa wenn wir die „Emanzipation“ von Frauen durch die Reformation suchen oder gar finden wollen.32 Vor allem ist es aber auch nicht damit getan, Kontinuitäten zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit hinsichtlich „der Stellung“ „der Frauen“ hervorzuheben oder zurückzuweisen, wenn gleichzeitig deutlich wird, wie einerseits Ehe und weibliche Lebensführung auch im Katholizismus der frühen Neuzeit „verhäuslicht“ wurden, andererseits aber auch epochemachende Veränderungen in Männerrollen zu konstatieren sind und darüber hinaus Auseinandersetzungen über das eheliche, sexuelle und religiöse Verhalten beider Geschlechter, vor allem aber der Angehörigen des männlichen Geschlechts gerade zwischen Männern zur Debatte standen und neu verhandelt wurden. Folglich sollte es heute und künftig darum gehen, die ganze Breite der geschlechtlichen Markierungen aufzusuchen und nachzuzeichnen – in Wort und Schrift, in Metaphern und konkreten Handlungsanweisungen, ebenso aber auch, die Differenzierungen und Differenzen in den Einstellungen, Vorstellungen und Praktiken der Akteure und Akteurinnen differenzierter zu betrachten und damit ein bunteres, interessanteres und schließlich auch anschlussfähigeres Bild der reformatorischen Umbrüche zu erhalten, als dies in vielen älteren, vor allem aber populären Darstellungen „der Reformation“ und „der Frauen“ der Fall war und ist.
32 Vgl. dazu die Ausführungen von Heide Wunder zur Rechtsstellung und Rechts(-Un)Gleichheit von Männern und Frauen in der frühen Neuzeit, in: Wunder, Er ist die Sonn’, besonders Kap. 11.
Tafelteil 1
Tafel 1: Die Rückkehr des verlorenen Sohnes, Gemälde von Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669), [1668], © The State Hermitage Museum, Fotograf Vladimir Terebenin
Tafel 2: Margarethe von Münsterberg (1473–1530), Gemälde von Christian Friedrich Reinhold Lisiewsky (1725–1794), vor 1772
Tafel 3: Henriette Schrader-Breymann (1827–1899), Genfer Porträt, Gemälde eines unbekannten Künstlers, [1864]
Tafel 4: Bildnis des Justus Menius (1499–1558), kolorierter Holzschnitt, Gregor Bruno zugeschrieben, [1551/1600]
Tafel 5: Johannes Bugenhagen (1485–1558), Gemälde von Lucas Cranach dem Jüngeren (1515–1585), 1579
Tafel 6: Johann von Glauburg und Anna Knobloch, Doppelbildnis, hier: Johann von Glauburg, Gemälde von Conrad Faber von Kreuznach (um 1500–1552/53), 1545
Tafel 7: Johann von Glauburg und Anna Knobloch, Doppelbildnis, hier: Anna Knobloch, Gemälde von Conrad Faber von Kreuznach (um 1500–1552/53), 1545
Tafel 8: Doppelbildnis des Justinian von Holzhausen (1502–1553) und seiner Frau Anna Fürstenberger (1510–1573), Gemälde von Conrad Faber von Kreuznach (um 1500–1552/53), 1536
II. Unordnungen, Umordnungen, Neuordnungen: Wirkungen auf Glaube und Alltag
Dorothee Kommer
Neue Handlungsspielräume durch neue Medien. Frauen verfassen Flugschriften für die Reformation
1. Frauen als Flugschriftenautorinnen Flugschriften sind handliche, gedruckte Schriften, die sich an eine anonyme Leserschaft richten und aktuelle Themen zum Inhalt haben.1 In vielen historischen Bibliotheken finden sich Flugschriften des 16. Jahrhunderts nicht nur in ihrer ursprünglichen Form als Einzelschrift, sondern auch eingebunden in Sammelbände. Diese Sammelbände haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass bis heute viele Flugschriften der Reformationszeit erhalten sind, denn eine in einem Buch eingebundene Schrift überdauert die Zeiten leichter als ein dünnes Heft. Die Existenz solcher Sammelbände beweist, dass es ein Sammelinteresse gab – von Menschen, die Flugschriften sammelten und sie für die Nachwelt erhalten wollten. In der Bibliothek des Predigerseminars in Wittenberg bin ich bei der Suche nach von Frauen verfassten Flugschriften aus der Reformationszeit auf einen solchen Sammelband gestoßen, in dem Schriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert zusammengebunden sind. Dass dieser Band von Frauen verfasste Flugschriften enthält, ist kein Zufall, denn hier lag offensichtlich ein besonderes Sammelinteresse vor. Im hinteren Teil des Sammelbandes finden sich ausschließlich Schriften, die von Frauen verfasst wurden oder die Frauen zum Thema haben. Diese Schriften sind chronologisch angeordnet, beginnend mit drei Flugschriften aus der frühen Reformationszeit, unter anderem einer Flugschrift von Argula von Grumbach (1492–1554) von 1523, endend mit der 1631 erschienenen Schrift „Die Lobwürdige Gesellschafft Der Gelehrten Weiber“, einer Aufzählung der damals bekannten gebildeten Frauen aller Jahrhunderte.2 1 Diese Definition von Flugschrift lehnt sich im Wesentlichen an Volker Leppin, Antichrist und jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftpublizistik im deutschen L uthertum, Gütersloh 1999, S. 29 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 69) an. 2 Argula von Grumbach, An den Edlen vnd gestrengen herren / Adam von Thering der Pfaltzgrauen stathalter zuo Newburg …, [Augsburg: Philipp Ulhart der Ältere 1523, D. K.], Signatur LC434/30; Johann Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft Der Gelehrten Weiber / Das ist: Kurtze / Historische Beschreibung / der fürnembsten gelehrten / vertständigen und Kunsterfahrnen Weibspersonen / die in der Welt biß auff diese Zeit gelebet haben [s. l. 1631, D. K.], Signatur LC434/34. Bei den in den Sammelband unter den Signaturen LC434/28, 29, 31, 32 und 33 eingebundenen Schriften handelt es sich ebenfalls um
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Dorothee Kommer
Glaube und Geschlecht, Bildung und Geschlecht – schon in der frühen Neuzeit haben sich Menschen mit diesen Fragestellungen beschäftigt. Diese Menschen trugen mit ihrem gegenderten Sammelinteresse dazu bei, dass von Frauen verfasste Schriften bis heute erhalten geblieben sind, obwohl die Verfasserinnen vom Mainstream der historischen und theologischen Forschung lange Zeit wenig oder gar nicht beachtet wurden. Auf beeindruckende Weise wird hier deutlich, wie das damals neue Medium des Buchdrucks Frauen sichtbar gemacht hat, von denen wir heute sonst nichts mehr wüssten. Frauen war die Teilhabe an der Reformation dadurch erschwert, dass sie als geistesgeschichtliches Phänomen zunächst an den Orten der Bildung beheimatet war. Neben den theologischen Fakultäten der Universitäten waren auch Kloster und Kirchenamt solche Orte. Die Frauen der Reformationszeit verstanden sich, sofern sie nicht selbst im Kloster lebten, als zur Gruppe der Laien gehörig, die von diesen Orten des theologischen Diskurses ausgeschlossen waren. Mit dem Aufkommen des Buchdruckes hatten Laien – Männer wie Frauen – die Möglichkeit, an den aktuellen geistesgeschichtlichen Fragen teilzuhaben, obwohl ihnen die Institutionen höherer Bildung verschlossen waren. Sie taten dies sowohl als Autorinnen und Autoren als auch als Rezipientinnen und Rezipienten. Mehr noch als für gebundene Bücher galt dies für Flugschriften, die aufgrund ihres moderaten Preises für eine breitere Bevölkerungsschicht erschwinglich waren. Eine dünne Flugschrift war „wohl nicht teurer als ein gutes Mittagessen“.3 Durch ihre hohe Stückzahl konnten Flugschriften eine bisher nicht dagewesene Breitenwirkung entfalten. Die durchschnittliche Auflagenhöhe lag in der frühen Reformationszeit bei 1000 Stück.4 Neben der Predigt spielten daher Flugschriften eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung reformatorischer Ideen im Volk. Insgesamt sind 18 von Frauen verfasste Flugschriften, die in der frühen Reformationszeit im deutschen Sprachraum von Anhängerinnen der Reformation verfasst wurden, bekannt. Dabei handelt es sich um acht Flugschriften von Argula von Grumbach, zwei Flugschriften von Katharina Zell (1498–1562), drei anonyme Flugschriften sowie je eine Flugschrift von Ursula Weyda (vor 1510–nach 1565), Florentina von Oberweimar (um 1506–), Herzogin Ursula von Münsterberg (um 1491/95–1534), Margareta von Treskow (um 1500–nach 1548) und der Priorin des Konstanzer Klosters St. Peter. Von Katharina Zell ist darüber hinaus eine weitere Flugschrift aus der späteren Reformationszeit über-
von Frauen verfasste oder Frauen thematisierende Schriften. Bei den im vorderen Teil des Sammelbandes unter den Signaturen LC434/1–27 eingebundenen Schriften ist dies nicht der Fall. Hier finden sich unter anderem Schriften von Matthias Flacius Illyricus. 3 Martin Arnold, Handwerker als theologische Schriftsteller. Studien zu Flugschriften der frühen Reformation (1523–1525), Göttingen 1990, S. 48 (= Göttinger Theologische Arbeiten 42). 4 Vgl. Johannes Schwitalla, Flugschrift, Tübingen 1999, S. 30 (= Grundlagen der Medienkommunikation 7).
Neue Handlungsspielräume durch neue Medien
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liefert.5 Im Verhältnis zur Gesamtzahl der in der frühen Reformationszeit erschienenen Flugschriften ist dies eine sehr kleine Zahl. Dennoch bleibt festzuhalten: „Bis ins 18. Jahrhundert hinein haben nie wieder so viele Frauen (wie übrigens auch männliche Laien) sich öffentlich zu Fragen der Gesellschaft geäußert.“6 Frauen war es damals nicht gestattet, zu kontroversen Themen in der Öffentlichkeit Stellung zu nehmen; und nur wenige Frauen brachten die notwendigen Bildungsvoraussetzungen zum Abfassen einer Flugschrift mit. Frauen, die lesen und schreiben konnten, stammten fast immer aus der Oberschicht – dem Adel oder dem Stadtpatriziat. Ihre Bildung hatten sie zumeist im Kloster oder an einem Fürstenhof erhalten. Die Lese- und Schreibfähigkeit eröffnete ihnen neue Handlungsspielräume.
2. Flugschriftenautorinnen und ihre Handlungsspielräume Für die Autorinnen, die zur Unterstützung der Reformation Flugschriften publizierten, war in der Regel eine Konfliktsituation der Anlass zum Abfassen ihrer Schrift. Ihre Handlungsspielräume wurden von den Autorinnen in diesen Situationen unterschiedlich wahrgenommen und genutzt. Die beiden Flugschriftenautorinnen Argula von Grumbach und Ursula Weyda verbindet, dass sie sich mit Flugschriften in einem Konflikt zu Wort meldeten, von dem sie selbst persönlich nicht betroffen waren. Das Medium der Flugschrift war dementsprechend das einzige Mittel, mit dem diese Verfasserinnen im jeweiligen Konflikt aktiv wurden. Argula von Grumbach und Ursula Weyda waren zudem die ersten namentlich bekannten Flugschriftenautorinnen auf der Seite der Reformation. Dies, und die Tatsache, dass sie sich offensichtlich in fremde Angelegenheiten einmischten, provozierte kontroverse Reaktionen auf ihre Flugschriften. Martin Luther lobte Argula von Grumbach als „instrumentum singulare Christi“.7 Andererseits war Argula von Grumbach auch großen Anfeindungen ausgesetzt. Sowohl auf die Flugschriften Argula von Grumbachs als auch auf die von Ursula Weyda verfasste Schrift erschien eine Gegenschrift. Diese Gegenschriften polemisierten gegen die Reformation im Allgemeinen und gegen die auf Seiten der Reformation schreibenden Autorinnen im Besonderen. 5 Vgl. Dorothee Kommer, Reformatorische Flugschriften von Frauen. Flugschriftenautorinnen der frühen Reformationszeit und ihre Sicht von Geistlichkeit, Leipzig 2013, S. 34–50 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 40). 6 Johannes Schwitalla, Frauen als Autorinnen in der reformatorischen Öffentlichkeit. Der Streit um das Recht des öffentlichen Worts, in: Elisabeth Cheauré/Ortrud Gutjahr u. a. (Hg.), Geschlechterkonstruktionen in Sprache, Literatur und Gesellschaft, Freiburg i. Br. 2002, S. 281–304, hier: S. 281 (= Rombach Wissenschaften: Reihe Cultura 21). 7 Martin Luther, WA BR, Bd. 3, Weimar 1933, Nr. 713, S. 247.
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Darin, dass sie sich in einem Konflikt, der sie persönlich nicht betraf, zu Wort meldeten, bilden Argula von Grumbach und Ursula Weyda die Ausnahme unter den Autorinnen, die Flugschriften auf der Seite der Reformation verfassten. Der Großteil dieser Schriften entstand in einer Konfliktsituation, von der die Autorinnen selbst betroffen waren. Die Konflikte ergaben sich daraus, dass diese Frauen selbst aktiv ins Reformationsgeschehen eingriffen. Aktionen und Publikationen für die Reformation gingen bei Autorinnen wie Katharina Zell oder Margareta von Treskow Hand in Hand.
3. Argula von Grumbach Argula von Grumbach war die erste und erfolgreichste Flugschriftenverfasserin auf Seiten der Reformation.8 Sie war eine geborene von Stauff. Somit entstammte sie dem bayerischen Hochadel. Sie genoss eine standesgemäße Erziehung am Münchner Hof als Hofdame von Herzogin Kunigunde von Bayern (1465–1520). Bereits im Alter von zehn Jahren war sie im Besitz einer deutschen Bibel, in der sie sich sehr gut auskannte, wie die zahlreichen Bibelzitate in ihren Flugschriften beweisen.9 In den Jahren 1523 und 1524 verfasste sie acht Flugschriften in insgesamt 30 Auflagen. Allein ihre Erstschrift erfuhr 16 Auflagen.10 Bei dieser Schrift handelt es sich um einen offenen Brief an die Universität Ingolstadt, in dem Argula den Ketzerprozess gegen den jungen Magister Arsacius Seehofer (1503–1545) kritisierte. Ihm wurde abverlangt, seine reformatorischen Lehren zu widerrufen. Nach erfolgtem Widerruf wurde er in das Kloster Ettal verbannt, konnte aber von dort fliehen. Später war er als Pfarrer in Württemberg tätig und verfasste eine evangelische Predigthilfe. Sein Widerruf war somit nicht aus Überzeugung erfolgt. Argula von Grumbach war von diesem Ketzerprozess zwar nicht persönlich betroffen, empfand ihn aber als Unrechtsprozess. Über die Vorgänge an der Universität Ingolstadt war sie vermutlich durch ihren dort studierenden Bruder Marcellus informiert.11 Da sonst niemand gegen den Ketzerprozess protestierte, sah sie sich als Christin verpflichtet, das Wort zu ergreifen. 8 Zu Argula von Grumbach vgl. Silke Halbach, Argula von Grumbach als Verfasserin reformatorischer Flugschriften, Frankfurt a. M./Berlin u. a. 1992 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie 468); Kommer, Flugschriften, S. 51–115; Peter Matheson (Hg.), Argula von Grumbach. Schriften, Gütersloh 2010 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 83); Ders., Argula von Grumbach. Eine Biographie, Göttingen 2014; Wilma Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst. Reformatorische Theologie in Texten von Frauen (1523–1558), St. Ingbert 2017, S. 21–79 (= SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung 21). 9 Vgl. Matheson, Schriften, S. 72. 10 Argula von Grumbach, Wie eyn Christliche fraw des adels … / die hohenschul zuo Jngoldstat … straffet, [Nürnberg: Friedrich Peypus 1523, D. K.]. Zu den 16 Aufl. dieser Schrift vgl. Kommer, Flugschriften, S. 337–340. Zu den weiteren Flugschriften von Argula von Grumbach siehe unter Anm. 17. 11 Zu Arsacius Seehofer und Argula von Grumbachs Verbindung zur Universität Ingolstadt vgl. Kommer, Flugschriften, S. 71 f.
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Abb. 7: Argula von Grumbach disputiert mit den Professoren der Universität Ingolstadt, Titelholzschnitt aus Argula von Grumbach, Wye ein Christliche fraw des adels / in // Beyern durch iren / in Gotlicher schrifft / wolgegrund // tenn Sendbrieffe / die hohenschul zu Jngoldstat // vmb das sie eynen Euangelischen Jungling / zu // widersprechung des wort Gottes / betrang // haben / straffet, Erfurt 1523
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Abb. 8: Gott als Weltenherrscher und die auf einem Drachen reitende Hure Babylon, Titeleinfassung aus Argula von Grumbach, Ein Christennliche schrifft // einer erbarn frawen vom Adel / darinn // sie alle Christenliche stendt vnd obri = // keiten ermant / Bey der warheit vnd // dem wort gottes zuopleiben, Bamberg 1523
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Diese Verpflichtung leitete sie aus der Bibel ab. In ihren Flugschriften führte sie dafür das Christuswort aus Matthäus 10,32–33 an: „Wer mich bekent vor den menschen, den beken[n] ich auch vor meinem himlischen Vatter. Vn[d] … Wer sich mein schembt vnd meiner wort, des wird ich mich auch scheme[n], so ich kom[m] in meiner Maies[tet] etc.“12 Zu diesen Bibelversen bemerkte sie: „es werden weder frawe[n] noch ma[n] darinne[n] ausgeschlossen“.13 Für Argula von Grumbach zählte somit nicht das Geschlecht, sondern Glaube und Bekennermut. So schrieb sie an anderer Stelle: „wer gott nit bekennt, ist kain Christ nit, ob er tausent mal getaufft wurdt.“14 Die Grundlage für ihre Überzeugung war die Bibel. Die Gelehrten der Ingolstädter Universität forderte Argula von Grumbach daher auf, mit ihr auf Deutsch zu disputieren und sie anhand der Bibel zu widerlegen.15 Neben der schriftlichen Öffentlichkeit, die sie durch die Publikation ihrer Flugschriften in Anspruch nahm, forderte sie somit auch die mündliche Öffentlichkeit.16 Argula von Grumbach verfasste innerhalb von wenigen Monaten sechs weitere Flugschriften. Die Adressaten waren der ihr aus ihrer Zeit am Münchner Hof persönlich bekannte Herzog Wilhelm von Bayern (1493–1550), der Rat der Stadt Ingolstadt, Pfalzgraf Johann von Pfalz-Simmern (1492–1557), Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen (1463–1525), ihr Verwandter Adam von Thering (–1529) und der Rat der Stadt Regensburg.17 Die zahlreichen Veröffentlichungen brachten Argula von Grumbach in Schwierigkeiten. Ihr Mann verlor ihretwegen seine gut dotierte Stellung als Pfleger in Dietfurt.18 Zudem wurde ein gegen sie gerichtetes Spottgedicht veröffentlicht.19 Der unter dem Pseudonym Johannes aus Landshut firmierende Verfasser bezeichnete Argula von Grumbach in Anspielung auf ihren Vornamen als „arg“,20 schamlos und ohne weibliche Zucht. Er unterstellte ihr, L uthers Lehre nur deswegen anzuhängen, weil sie den Frauen Unzucht
12 Matheson, Schriften, S. 64. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 120. 15 Vgl. ebd., S. 74 f. 16 Vgl. Schwitalla, Frauen, S. 286. 17 Argula von Grumbach, Ein Christennliche schrifft einer erbarn frawen vom Adel … [Bamberg: Georg Erlinger, 1523, D. K.]; Dies., An ain Ersamen Weysen Radt der stat Jngolstat / ain sandtbrieff … [Augsburg: Philipp Ulhart der Ältere, 1523, D. K.]; Dies., Ermanung an den Durchleuchtigen … Johannsen Pfaltzgrauen bey Reyn … [Bamberg: Georg Erlinger, 1523, D. K.]; Dies., Dem Durchleuchtigisten … Friderichen / Hertzogen tzuo Sachssen … [Erfurt: Wolfgang Stürmer, 1523, D. K.]; Dies., An den Edlen vnd gestrengen herren / Adam von Thering … [Augsburg: Philipp Ulhart der Ältere, 1523, D. K.]; Dies., Ein Sendbrieff der edeln Frawen Argula Staufferin / An die von Regenßburg [Nürnberg: Hans Hergot, 1524, D. K.]. Zu weiteren Aufl. und bibliographischen Angaben vgl. Kommer, Flugschriften, S. 340–345. 18 Vgl. Halbach, Grumbach, S. 90. 19 Ein Spruch Von der Staufferin Ires disputierens halben [Landshut: Johann Weißenburger, 1524, D. K.]. Zu den in dieser Flugschrift verwendeten negativen Frauenstereotypen vgl. Schwitalla, Frau, S. 292–294. 20 Matheson, Schriften, S. 150.
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und Ehebruch erlaube.21 Argula von Grumbachs Parteinahme für Arsacius Seehofer wird in diesem Gedicht mit derben Worten als sexuelles Interesse an dem achtzehnjährigen „Arsacius im kraußen har“22 gedeutet. Statt „mit gottes wortten Stoltzieren vnd die Menner leren“23 solle sie handarbeiten und wie Magdalena zuhören. Argula von Grumbach reagierte auf das Spottgedicht mit einer ebenfalls in Reimform abgefassten Flugschrift.24 Dabei verwies die Autorin auf die in Joel 3,1 verheißene Geistausgießung auf Männer und Frauen, und bezog sich auf biblische Frauengestalten wie Judith, Deborah und Jael.25 Trotz des Heranziehens dieser Bibelstellen, in denen man Frauen als den Männern gleichgestellt begegnet, akzeptierte Argula von Grumbach die zeitgenössischen Vorstellungen der Frau als körperlich und geistig schwach. So schrieb sie von sich „als ainem thorlichem weyb“26 und bezeichnete sich selbst als schwach und ihren Verstand als klein.27 Ebenso wie Kinder, Bauern und Ungebildete gehöre sie als Frau zu den „klainen“.28 Andererseits sah Argula von Grumbach gerade in ihrer Schwäche eine Legitimation für ihr öffentliches Auftreten in Glaubensfragen, denn nach ihrem Verständnis wirkte Gottes Geist durch die Schwachen.
4. Ursula Weyda Ursula Weyda stammte aus der Adelsfamilie von Zschöpperitz, die in Altenburg ansässig war und in enger Beziehung zum fürstlichen Hof stand. Wahrscheinlich war der Altenburger Hof auch der Ort, an dem sie ihre für eine Frau des 16. Jahrhunderts auffallend gute Bildung erhielt.29 Die einzige bekannte Flugschrift Ursula Weydas zeigt, dass die Autorin mehr gelernt hatte als nur Lesen und Schreiben. Sie beherrschte auch rhetori-
21 Vgl. ebd., S. 152. 22 Ebd., S. 153. 23 Ebd. 24 Argula von Grumbach, Eyn Antwort in gedichtß weiß / ainem auß der hohen Schul zu Jngolstat … [Nürnberg: Hieronymus Höltzel, 1524, D. K.]. Vgl. Kommer, Flugschriften, S. 345. 25 Vgl. Matheson, Schriften, S. 136 und S. 141–143. 26 Ebd., S. 119. 27 Vgl. ebd., S. 93 und S. 136. 28 Vgl. ebd., S. 67 und S. 137. 29 Zu Ursula Weyda vgl. Gisela Brandt, Ursula Weyda – prolutherische Flugschriftautorin (1524). Soziolinguistische Studien zur Geschichte des Neuhochdeutschen, Stuttgart 1997 (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 358); Kommer, Flugschriften, S. 144–173; Rademacher-Braick, Theologie, S. 80–92; Anne Conrad, Weyda (Weida, Weydyn, Wydin), Ursula (1504–nach 1565), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar u. a. 2016, S. 372–375.
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sche Fertigkeiten und kannte Lutherschriften.30 Ursula Weyda war verheiratet mit Johann Weyda, der in Eisenberg das kurfürstliche Amt des Schössers innehatte und wie seine Frau ein Anhänger der Reformation war. Selbst bezeichnete Ursula Weyda sich im Titel ihrer Flugschrift als „Schoesserin zuo Eyssenbergk.“31 Ursula Weyda sah sich durch eine antilutherische Flugschrift des Pegauer Abts Simon Blich (um 1490–nach 1542) herausgefordert zur Abfassung ihrer Flugschrift.32 Sie verfasste diese Entgegnung, ohne den Abt persönlich zu kennen und obwohl seine Flugschrift keinerlei persönliche Angriffe auf sie oder ihr nahestehende Personen enthielt. Zu ihrer Schreibmotivation und den zu erwartenden Anfeindungen äußerte sich Ursula Weyda folgendermaßen: „Jch weyß wol das spoettisch / vnd für gering wurt angesehen / das sich ein weybs bilde vnderstet solch groß hansen zu straffen / die antworten weren … wiltu ein frembde sach vorantworten welche dich nit belangt? Aber was gehet mich yr widderrede an / mir wer von hertzen leyd / wenn der frum Christlich Luther sein zeit nit nützer solt zu bringen / denn solchen eseln zuo antworten“.33 Wie Argula von Grumbach zog auch diese Flugschriftenautorin das Christuswort aus Matthäus 10,32– 33 zu ihrer Legitimation heran: „wer mich bekent vor den menschen / den wil ich auch bekennen vor meinem vater / der in hymel ist / der aber mein wort vorleugnet vor den menschen / den wil ich auch fur meim vater vorleugnen“.34 Weit schärfer als alle anderen prolutherischen Flugschriftenautorinnen polemisierte Ursula Weyda gegen die beim alten Glauben gebliebenen Geistlichen, die sie als ungebildet, habgierig und vom wahren Glauben abgefallen bezeichnete. Das Klosterleben sei nicht von Gott eingesetzt und daher teuflisch. Austrittswillige Klosterleute sollten durch ihre Schrift zum Verlassen des Klosters und zur Heirat ermutigt werden. Außer der Erstauflage sind keine weiteren Drucke dieser einzigen von Ursula Weyda überlieferten Flugschrift bekannt. Umso bemerkenswerter ist, dass von allen Flugschriften, die in der Reformationszeit von Frauen verfasst wurden, einzig auf Ursula Weydas Flugschrift gleich zwei Antwortflugschriften erfolgten. Einzigartig ist auch, dass eine dieser Antwortflugschriften Ursula Weyda und ihre Schrift verteidigte. Gegen Ursula Weyda 30 Zu den rhetorischen Fertigkeiten vgl. Albrecht Classen, Frauen in der deutschen Reformation. Neufunde von Texten und Autorinnen sowie deren Neubewertung, in: Paul Gerhard Schmidt (Hg.), Die Frau in der Renaissance, Wiesbaden 1994, S. 179–201, hier: S. 197 (= Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 14); zu den von ihr gelesenen Lutherschriften vgl. Kommer, Flugschriften, S. 150–152. 31 Brandt, Weyda, S. 279. 32 Simon Blich, Verderbe vnd schaden der Lande vnd leuthen an gut leybe ehre vnnd der selen seligkeit auß Lutherischen vnd seins anhangs / lehre zugewant …, Leipzig: Wolfgang Stöckel, 1524; Ursula Weyda, Wyder das vnchristlich schreyben vnd Lesterbuoch / des Apts Simon zuo Pegaw vnnd seyner Brueder …, [Zwickau: Jörg Gastel, D. K.], 1524. 33 Brandt, Weyda, S. 300. 34 Ebd.
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gerichtet war die Antwortschrift, die unter dem Pseudonym „Henricus P. V. H.“35 erschien. Diese Schrift richtete sich auch gegen Frauen überhaupt – insbesondere, wenn diese sich nicht an die Bibelstellen hielten, die besagten, dass die Frau schweigen und sich dem Mann unterordnen solle. Für die Bosheit solcher Frauen werden zahlreiche biblische Beispiele von Eva über Isebel bis zu Herodias genannt. Den Frauen, die für Luthers Lehre Flugschriften schreiben, werden sexuelle Interessen unterstellt. In diesem Zusammenhang werden nicht nur die entlaufenen Mönche, an die sich Ursula Weyda mit ihrer Flugschrift wandte, erwähnt, sondern auch der Theologiestudent, gegen dessen Ketzerprozess Argula von Grumbach mit ihren Flugschriften protestierte. Der Verfasser kannte also nicht nur Ursula Weydas Flugschrift, sondern auch eine oder mehrere der Flugschriften Argula von Grumbachs. An dieser Antwortschrift wird somit zum einen deutlich, wie verbreitet die von Frauen verfassten Flugschriften waren. Zum anderen lässt der selbst für die damalige Zeit ungewöhnlich scharfe Ton erahnen, welch großen Anstoß das schriftliche Auftreten reformatorischer Flugschriftenautorinnen erregte. Diese außerordentlich scharfen Angriffe gegen Ursula Weyda mögen der Anlass dafür gewesen sein, dass eine weitere Antwortflugschrift in den Druck ging, um Ursula Weydas Schrift zu verteidigen. Wer sich dafür des Pseudonyms „Contz Drometers von Niclaßhausen“36 bediente, erschließt sich nicht. Erklärtes Ziel dieser Verteidigungsschrift war, die in der vorausgegangenen Antwortschrift gegen Frauen im Allgemeinen und gegen Ursula Weyda im Besonderen erhobenen Anschuldigungen zu widerlegen. Die Schrift belegt somit, dass es in der damaligen Zeit Personen gab, die Frauen unterstützten, die sich wie Ursula Weyda mit Flugschriften für die Reformation einsetzten.
5. Katharina Zell Katharina Zell, geborene Schütz, stammte aus einer Handwerkerfamilie. Ihr Vater war Schreinermeister.37 Über ihre Bildung und religiöse Entwicklung schrieb sie in einer ihrer Flugschriften: „Jch bin seit jch zehen jar alt / ein kirchen muoter / ein ziererin des predig stuols und schuolen gewesen“ „und haben mich im Bapstumb / und voller handlung des 35 Henricus P. V. H. [Pseudonym, D. K.], Antwurt wider das vnchristlich Lesterbuch Vrsula Weydyn der Schosserin tzu Eyßenbergk …, Leipzig: Jacobus Thanner, 1524. Zum Inhalt der Flugschrift vgl. auch Schwitalla, Frauen, S. 294 f. 36 Contz Drometer [Pseudonym, D. K.], Apologia Fur die Schösserin zu Eysenbergk … [Nürnberg: Hans Hergot, 1524, D. K.], Bl. [A]r. 37 Zu Katharina Zell vgl. Elsie Anne McKee, Katharina Schütz Zell, Vol. 1: The Life and Thought of a Sixteenth-Century Reformer, Vol. 2: The Writings. A Critical Edition, Leiden/Boston u. a. 1999 (= Studies in Medieval and Reformation Thought 69); Kommer, Flugschriften, S. 174–214; Rademacher-Braick, Theologie, S. 160–242.
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Evangelij / die frummen gelerthen geliebt“.38 Ihre Bildung erhielt Katharina Zell demnach durch eine der Straßburger Mädchenschulen und den Besuch des Predigtgottesdienstes. 1523 heiratete sie den Straßburger Münsterprediger Matthäus Zell (1477–1548). In der Eheberedung beauftragte sie ihr Mann, „armer unnd verjagter leüth / Mutter zuo sein“.39 Nur wenige Monate später setzte Katharina Zell dies in die Tat um, als in der nahegelegenen Stadt Kenzingen der dortige Pfarrer Jakob Otter (1485–1547) die Reformation einführen wollte. Die Stadt wurde daraufhin von bischöflichen Truppen besetzt. Jakob Otter musste fliehen, und 150 Kenzinger Männer gaben ihm Geleit. Sie fanden Zuflucht in Straßburg, wo viele von ihnen von Katharina Zell versorgt wurden.40 Für deren in Kenzingen verbliebene Frauen, die Misshandlungen durch die bischöflichen Truppen ausgesetzt waren, verfasste Katharina Zell eine Trostschrift.41 In dieser ersten Flugschrift sah Katharina Zell die Kenzinger Frauen in ihrem Leiden als in einer „von got gesandten truebsal“.42 Wie stark Katharina Zells Stellung als Pfarrfrau ihr eigenes Selbstverständnis bestimmte, zeigt sich an der Unterschrift dieser Flugschrift, wo sie sich als „Kathe rina schützin ein eegemahel Matthei Zell / verkinder des wort gottes der Christenlichen gemein zuo Straßburg“43 vorstellt. Ebenfalls 1524 erschien eine weitere Flugschrift Katharina Zells, in der sie die Priesterehe verteidigte.44 Die Eheschließung von Priestern war ein wichtiges Thema in der frühen Reformationszeit. Entsprechend fand die Auseinandersetzung mit der Priesterehe auch in zahlreichen Flugschriften ihren Niederschlag.45 Eine Sonderstellung nimmt dabei Katharina Zells Schrift ein, die als einzige von einer Pfarrfrau verfasst ist. Katharina Zell beschrieb in dieser Flugschrift die Beweggründe für ihre Ehe mit dem Straßburger Münsterprediger Matthäus Zell. Ursprünglich habe sie ehelos bleiben wollen, habe sich dann aber bewusst für die Ehe mit einem Pfarrer entschieden, um ein Beispiel gegen die Hurerei zu geben und anderen einen Weg zu ebnen. Über ihre Ehe kursierten falsche Gerüchte, denen Katharina Zell entgegentrat. So wurde ihrem Ehemann Matthäus Zell moralisches Fehlverhalten nachgesagt wie Verführung einer Bürgerin, Ehebruch mit der 38 39 40 41 42 43 44 45
McKee, Zell, Vol. 2, S. 170 und S. 298. Ebd., S. 239. Vgl. ebd., S. 233. Katharina Zell, Den leydenden Christglaubigen weybern der gemain zuo Kentzingen meinen mit schwestern in Christo Jhesu zuo handen … [Augsburg: Philipp Ulhart, D. K.], 1524. Der ebenfalls 1524 bei Wolfgang Köpfel in Straßburg erschienene Erstdruck erfolgte anonym. McKee, Zell, Vol. 2, S. 4. Ebd., S. 13. Katharina Zell, Entschuldigung Katharina Schützinn / für M. Matthes Zellen / jren Eegemahel / der ein Pfarrher vnd dyener ist im wort Gottes zuo Straßburg … [Straßburg: Wolfgang Köpfel, 1524, D. K.]. Vgl. dazu etwa Stephen E. Buckwalter, Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation, Gütersloh 1998 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 68).
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Abb. 9: Säulen und Engel, Titeleinfassung aus Katharina Zell, Den leyden= // den Christglaubigen // weybern der gemain zuo // Kentzingen meinen // mit schwestern in // Christo Jhesu // zuo handen, Straßburg 1524
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Magd oder Gewalt gegen seine Frau. Zudem wurde verbreitet, er habe sich erhängt, oder Katharina Zell sei ihm weggelaufen. Katharina Zell und ihr Mann litten unter diesen falschen Gerüchten. Dieses Leiden wertete Katharina Zell jedoch als Leiden für die Sache Gottes und damit als große Ehre, vergleichbar mit dem Leiden der Kenzinger Frauen. Wie schon Argula von Grumbach bezog sich Katharina Zell in dieser Flugschrift auf biblische Frauengestalten. Darüber hinaus zitierte sie zu ihrer Legitimation als schreibende Frau ein Bibelwort aus Galather 3,28: „in gott und Christo / ist weder man noch weib.“46 Die zweite Flugschrift Katharina Zells hatte für die Autorin weitreichende Konsequenzen. Der Rat der Stadt Straßburg ließ ihr die Veröffentlichung solcher Schriften verbieten. Das Verbot wurde ihr über ihren Mann erteilt.47 Katharina Zell hielt sich zu Lebzeiten ihres Mannes an dieses Publikationsverbot und veröffentlichte lediglich ein Gesangbuch. Als 1557 eine weitere Flugschrift von ihr erschien,48 war sie schon seit Längerem Witwe. Dass Katharina Zell sich noch 1557 mit einer Flugschrift an die Öffentlichkeit wandte, ist bemerkenswert. Die Flugschriftenproduktion ging in dieser Zeit stark zurück. Zudem wurde ein immer geringerer Anteil an Flugschriften von Autoren oder gar Autorinnen ohne universitäre Bildung verfasst.49 Auch in Katharina Zells Heimatstadt Straßburg hatte sich die Situation verändert. Straßburg war sowohl von der Wittenberger als auch von der Schweizer Reformation geprägt. In den 1540er- und 1550er-Jahren setzten sich die Anhänger der Wittenberger Reformation durch. Ein Vertreter dieser Richtung war der Straßburger Münsterpfarrer Ludwig Rabus (1523–1592). Aufgrund der Haltung des Stadtrats blieb Straßburg aber auch in dieser Zeit tolerant gegenüber anderen Strömungen der Reformation, wie Zwinglianern, Täufern und Spiritualisten wie etwa Caspar Schwenckfeld (1490–1561).50 Katharina Zell war eine Verfechterin dieser Straßburger Toleranz. Dies brachte sie in Konflikt mit Ludwig Rabus, wobei dieser Konflikt wiederum zur Abfassung ihrer späten Flugschrift führte.
46 McKee, Zell, Vol. 2, S. 23. Zu den biblischen Frauengestalten vgl. ebd, S. 30 und S. 33. 47 Vgl. Léon Dacheux (Hg.), Sebastian Brant. Annales de Sébastien Brant, in: Mittheilungen der Gesellschaft für Erhaltung der geschichtlichen Denkmäler im Elsass, 2. Folge, Bd. 19 (1899), S. 33–260, hier: S. 102. 48 Katharina Zell, Ein Brieff an die gantze Burgerschafft der Statt Straszburg … [Straßburg, D. K.] 1557. 1558 erschien außerdem eine Psalm- und Vaterunserauslegung von Katharina Zell, vgl. McKee, Zell, Vol. 2, S. 305–366. 49 Vgl. Thomas Kaufmann, Pfarrfrau und Publizistin. Das reformatorische „Amt“ der Katharina Zell, in: ZHF 23 (1996), S. 169–218, hier: S. 213 f. 50 Vgl. Birgit Emich, „Als ob es ein new bapstum were …“. Straßburg auf dem Weg zur Konfessionalisierung (1522–1549), in: Freiburger Diözesan-Archiv 113 (1993), S. 129–176, hier: S. 139 f.; Marc Lienhard, Religiöse Toleranz in Straßburg im 16. Jahrhundert, Stuttgart 1991, S. 11 (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 1).
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Das erste bekannte Schriftstück in diesem Konflikt war ein Brief von Ludwig Rabus an Katharina Zell, den sie in ihrer Flugschrift mit veröffentlichte. In diesem polemischen Brief bezeichnete der Pfarrer Katharina Zell als teuflische, pharisäische Unruhestifterin. Er warf ihr vor, ihr Handeln sei eine Frucht der „stinckenden / Schwenckfelder / unnd dergleichen Ketzerischen hertzen und gemueter.“51 Sie sei eine Unruhestifterin in der Straßburger Kirche und gegenüber ihrem Mann.52 Mit ihrer Flugschrift wandte sich Katharina Zell daraufhin an die Straßburger Bevölkerung, die sie darum bat, sich ein Urteil zu bilden, ob sie oder Rabus in dieser Auseinandersetzung christlicher gehandelt hätten. Diesem Urteil wollte sich die Autorin fügen.53 Katharina Zell vermutete, dass Rabus sie angriff, weil sie als Frau eine so wichtige Rolle in der Straßburger Reformation gespielt hatte. Sie betonte daher, dass ihr Wirken als „kirchen muoter“54 stets im Rahmen dessen geblieben wäre, was Paulus den Frauen zugestehe.55 Wenn Ludwig Rabus von jemand anderem auf seine Fehler aufmerksam gemacht worden wäre, hätte sie „als ein arm Weib geschwigen“.56 Wie Argula von Grumbach und Ursula Weyda berief sich auch Katharina Zell in dieser Flugschrift zu ihrer Legitimation auf das Christuswort in Matthäus 10,32 bzw. Lukas 9,26: „Wer mich bekennet vor den menschen / den wil ich auch bekennen vor meinem Vatter und seinen Engeln / Wer sich aber mein und meiner warheit schempt / desse wil ich mich auch schemmen.“57 Ebenfalls erfolgte auch auf Katharina Zells Spätschrift eine Entgegnung in Flugschriftform.58 Bei den Verfassernamen Erhard Landolff und Clemens Hartman handelt es sich vermutlich um Pseudonyme.59 Die Antwortflugschrift polemisiert stark gegen Katharina Zell, die als teuflische Sektiererin verstanden wird. Sie wendet sich gegen deren Selbstbezeichnung als Kirchenmutter und spottet, Katharina Zell wäre eine gute Äbtissin und Heilige geworden.60
51 52 53 54 55 56 57 58
McKee, Zell, Vol. 2, S. 222. Vgl. ebd., S. 229. Vgl. ebd., S. 303. Ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 232 und S. 245. Ebd., S. 219. Ebd., S. 168. Erhard Landolff/Clemens Hartman [Pseudonym, D. K.], Billiche Antwort zum vorsprung / allein auff die Vorrede des schmähbrieffes / welchen Katharina Zellin / wider Doctor Rabum / offentlich hat lassen außgehn … [s. l., D. K.] 1558. 59 Vgl. Kommer, Flugschriften, S. 194. 60 Vgl. Landolff/Hartman, Billiche Antwort, Bl. D2v, [B4]v–Cr, C2r.
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6. Margareta von Treskow Margareta von Treskow, geborene von Krüsicke (Krosig), lebte im Dorf Bukow im Jerichower Land (heute Sachsen-Anhalt).61 Sie war die Witwe von Joachim von Treskow, der zwischen 1526 und 1530 gestorben war und sechs minderjährige Kinder hinterlassen hatte. Als Witwe übte Margareta von Treskow stellvertretend für ihre erbberechtigten minderjährigen Kinder die an ihre Adelsgüter gebundenen Rechte und Pflichten aus. Dazu gehörte auch das Patronatsrecht, das insbesondere darin bestand, für den pfarramtlichen Dienst an der Ortskirche einen Geistlichen auszuwählen und dem Bischof zur Amtseinsetzung vorzuschlagen. Margareta von Treskow wählte als Pfarrer für Bukow Michael Topp aus, der daraufhin auf die dortige Pfarrstelle eingesetzt wurde. Im Einverständnis mit Margareta von Treskow predigte Michael Topp in Bukow reformatorisch und teilte das Abendmahl in beiderlei Gestalt aus. Margareta von Treskow nutzte somit den Handlungsspielraum, den sie als Vormund für ihren Sohn hatte, um über die Ausübung des Patronatsrechts in Bukow die Reformation einzuführen. Ähnliches geschah laut dem Chronisten Gebhard von Alvensleben auch an anderen Orten im Erzstift Magdeburg. Er berichtete von „etlichen von Adel, so ungeachtet ihres Herren Verbot und Ungnade sich zu der evangelischen Religion bekannt und evangelische Prediger vociret, unter denen Andreas von Meyendorf zu Ummendorf, Joachim von Alvensleben zu Eichenbarleben, Matthias von der Schulenburg zu Altenhausen und Joachim von Treskow zu Buckow Wittwe Margarethe von Krosigkin, wo nicht die ersten, doch gewiß unter den ersten gewesen“.62 Hier zeigt sich, dass eine auf einzelne Orte beschränkte Einführung der Reformation auch in beim alten Glauben gebliebenen Territorien wie dem Erzstift Magdeburg möglich war. Sie stand aber immer in der Gefahr, von den altgläubigen Autoritäten wieder unterbunden zu werden. In Bukow strengte der zuständige Bischof von Havelberg, Busso von Alvensleben (1468–1548), einen Strafprozess an gegen den von Margareta von Treskow ausgewählten Pfarrer Michael Topp. Als im Herbst 1534 die Flugschrift von Margareta von Treskow erschien,63 war Michael Topp schon über ein Jahr lang ein Gefangener des Bischofs.64 In dieser Zeit hatte Marga61 Zu Margareta von Treskow vgl. Kommer, Flugschriften, S. 214–234; Gisela Möncke, Margareta von Treskow, eine unbekannte Flugschriftenverfasserin der Reformationszeit, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 108 (1997), Heft 2, S. 176–186; Rademacher-Braick, Theologie, S. 129–135. 62 Zitiert nach Gustav Hertel, Zur Geschichte der Reformation im Erzstift Magdeburg, in: Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg 15 (1880), S. 365–367, S. 416–420, hier: S. 417. 63 Margareta von Treskow, Ein Sendebreff einer Erbaren frowen / van wegen eres gefangenen Parheren / An den Bischop tho Hauelberg / Mit einer klenen voerrede Niclas Ambsdorffs, [Magdeburg: Michael Lotter, D. K.] 1534. 64 Dies erwähnt Nikolaus von Amsdorf in seinem Vorwort zu Margareta von Treskows Flugschrift, vgl. Treskow, Sendebreff, Bl. [A1]v.
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reta von Treskow ihre Beziehungen zu den Fürsten von Anhalt und zu Kardinal Albrecht von Mainz (1490–1545) genutzt und diese einflussreichen Personen dafür gewinnen können, im Fall Michael Topp zwischen Bischof Busso und ihr zu vermitteln.65 Diese Vermittlungsversuche waren jedoch gescheitert. Margareta von Treskow verwandte daraufhin das neue Medium der Flugschrift, um eine größere Öffentlichkeit auf den Prozess gegen Michael Topp aufmerksam zu machen. Für ihre Flugschrift wählte sie die Form eines offenen Briefs an Bischof Busso von Alvensleben, in dem sie den Havelberger Bischof um Freilassung ihres Pfarrers bat und darlegte, welche Härte es für eine Gemeinde bedeute, keinen Pfarrer zu haben. Aufgrund dieser Abfassungssituation war es Margareta von Treskow in ihrer Flugschrift nicht möglich, so deutlich Stellung gegen die altgläubige Seite zu beziehen, wie dies etwa die Flugschriftenautorinnen Argula von Grumbach oder Ursula Weyda taten. Ohne jede Polemik bezeichnete sie Bischof Busso in ihrer Schrift durchgängig als lieben Vater und Hirten. Seine Autorität wurde von ihr nicht in Frage gestellt, um ihr Anliegen nicht zu gefährden. Dennoch gelang es Margareta von Treskow, ihre reformatorischen Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Sie tat dies, indem sie diese als allgemein christliche Einsichten hinstellte, die somit auch dem Havelberger Bischof ein Anliegen sein müssten. So sei es etwa Bischof Bussos Pflicht, den ihm anvertrauten Christen das Evangelium zugänglich zu machen. Falls es unter diesen Irrtümer gebe, sei es seine Aufgabe, diese Christen anhand des Wortes Gottes ihrer Irrtümer zu überführen.66 Somit „ist zu konstatieren, daß sie auf der Basis eines freundlich scheinenden Tones ganz dezidiert ihre Grundüberzeugungen vertritt: An der allein an Christus ausgerichteten Predigt in Deutsch und am Abendmahl in beiderlei Gestalt hält sie fest“.67 Der offene Brief an Bischof Busso von Alvensleben ist die einzige Flugschrift, die von Margareta von Treskow überliefert ist. Offenbar verfasste die Autorin aber noch andere reformatorische Schriften, von denen der Chronist Gebhard von Alvensleben schrieb, sie seien „durch Unseligkeit der Zeiten von abhanden kommen“.68 Margareta von Treskow fasste ihre Flugschrift in niederdeutscher Sprache ab. Der eigentlichen F lugschrift vorangestellt ist ein Vorwort in hochdeutscher Sprache des Reformators, ersten Superintendenten in Magdeburg und Bischofs von Naumburg Nikolaus von Amsdorf (1483–1565). Dieses Vorwort war für den Magdeburger Drucker Michael Lotter (1499–1554) offenbar so bedeutsam, dass er allein Amsdorfs Name auf den Titel der Flug-
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Vgl. Treskow, Sendebreff, Bl. B3r–v. Ebd., Bl. [B6]v–[B7]r. Rademacher-Braick, Theologie, S. 134. Zitiert nach Hertel, Geschichte, S. 418. Möglicherweise ist dabei an die Wirren des Dreißigjährigen Kriegs zu denken.
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Abb. 10: Kains Brudermord, Titeleinfassung aus Margareta von Treskow, Ein Sendebreff // einer Erbaren frowen / van // wegen eres gefangenen // Parheren / An den // Bischop tho // Hauelberg / // Mit einer klenen voerrede // Niclas Ambsdorffs, Magdeburg 1534
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schrift setzte. Der Name der Autorin erscheint erst am Ende der Flugschrift: „Margareta moder Margareta Jochim van Treskaw yn Godt seliger nagelaten wedwe“.69 Wie der Prozess um Michael Topp ausgegangen ist, lässt sich nicht mehr im Einzelnen nachvollziehen. Jedoch muss es offensichtlich eine Lösung gegeben haben, die es Margareta von Treskow bis zum Jahr 1549 ermöglichte, für reformatorische Pfarrer in Bukow zu sorgen. 1549 wurde mit Johann Schulde wieder ein reformatorischer Geistlicher, der auf Betreiben von Margareta von Treskow Pfarrer in Bukow geworden war, gefangen genommen. Im Zusammenhang mit diesem Konflikt wandte Margareta von Treskow sich ratsuchend an Nikolaus von Amsdorf, der ihr am 2. Juni 1549 brieflich antwortete. Johann Schulde kam 1552 auf Vermittlung von Fürst Wolfgang von Anhalt (1492–1566) frei und war wieder als Pfarrer in Bukow tätig. Aber Margaretas Sohn Hans von Treskow war kein Anhänger der Reformation. Als er mündig wurde, machte er die von seiner Mutter in Bukow eingeführte Reformation rückgängig: „Als die Bauern zu dem alten Pfarrer, der eine neue Stelle auf dem Nachbargut Groß Wudicke erhalten hatte, zum Abendmahl gingen, ließ Hans mehrere deren aufgreifen und elf Tage in den Stock gespannt sitzen. Auf die Klagen der Bauern erfolgte eine scharfe Vermahnung des evangelisch erzogenen Erzbischofs Sigismund, gegen die Leute nicht so tyrannisch zu verfahren.“70
7. Fazit Argula von Grumbach und Ursula Weyda meldeten sich in Konflikten, von denen sie persönlich nicht betroffen waren, zu Wort. Den Antrieb dafür gab ihnen die in Matthäus 10,32–33 überlieferte Aufforderung Jesu Christi zum Bekenntnis. Sie erkannten, dass diese Aufforderung zum Bekenntnis für Frauen und Männer gleichermaßen und standesunabhängig Geltung habe. Das neue Medium der Flugschrift eröffnete ihnen den Handlungsspielraum, sich als Frauen zu einem kontroversen Thema öffentlich zu äußern. Katharina Zell und Margareta von Treskow nutzten ihre Handlungsspielräume zunächst in öffentlichen Aktionen für die Reformation und wurden erst durch die daraus resultierenden Konflikte zu Flugschriftenautorinnen. Diese Aktionen waren bei Katharina Zell ihre Ehe mit einem Priester und ihre Fürsorge für aus Glaubensgründen Vertriebene. Margareta von Treskow nutzte die rechtlichen Möglichkeiten, die sie als Vormund für ihren Sohn hatte für die Einführung der Reformation in ihrem Herrschaftsgebiet. Diese Aktionen führten zu Kontroversen, auf die Katharina Zell und Margareta von Treskow 69 Treskow, Sendebreff, Bl. [B8]v. 70 Heinrich von Tresckow, Familien-Geschichte derer von Tresckow, Potsdam-Wildpark 1920, in: Wiprecht U. von Treskow, Chronik der Familie von Treskow, Dülken 1956/59, S. 39. Zur Entwicklung in Bukow bis 1549 vgl. Kommer, Flugschriften, S. 221–223.
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mit der Abfassung von Flugschriften reagierten. Alle diese Flugschriftenautorinnen durchbrachen als Frauen, die in für die Öffentlichkeit bestimmten Schriften zu theologischen Streitfragen Stellung bezogen, die Rollenbilder ihrer Zeit. Dies zeigt sich auch in den Gegenschriften, die auf drei der von diesen Autorinnen verfassten Flugschriften hin erschienen.
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Zur Problematik der Rechtswidrigkeit in L uthers Testament vom 6. Januar 1542 zugunsten seiner Ehefrau Katharina. Zugleich ein Beitrag zur Rechtsstellung von „Pfarrfrauen” und „Pfaffenkindern” in der Reformationszeit
Vorbemerkung Der Wittenberger Reformator Martin Luther (1483–1546) (vgl. Tafel 10) hat drei Texte hinterlassen, die etwas mit seinem immateriellen und materiellen Erbe, der Vormundschaft über seine Kinder sowie mit seiner Ehefrau Katharina L uther1 (1499–1552) (vgl. Tafel 11) zu tun haben. In der Literatur werden diese ganz unterschiedlichen Schriften aus den Jahren 1537, 1542 und 1544 als „Testamente“ bezeichnet.2 Jedoch sind die drei Texte in Bezug auf ihren Rechtscharakter, ihren Inhalt, ihren Zweck und die Kontexte ihrer Entstehung sehr verschieden. Das zeitlich früheste als „Testament“ bezeichnete Schriftstück („erstes Testament“)3 datiert vom 28. Februar 1537 und wurde in Gotha, ganz überwiegend in Latein, verfasst.4 Es handelt sich um eine Art „Nottestament“, das vom Inhalt jedoch eher ein „politisches Testament“, in dem sich der Testator um den Fortgang der Reformation und das Schicksal der Kirche sorgt, darstellt. Zum Zeitpunkt der
1 Vgl. dazu die diesem Aufsatz zugrunde liegende Studie des Verfassers: L uthers Testamente, in: Armin Kohnle (Hg.), L uthers Tod. Ereignis und Wirkung, Leipzig 2019, S. 69–88 (= Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 23). Zu Katharina Luther vgl. stellvertretend für viele einschlägige Autorinnen und Autoren: Sabine Kramer, Luther, Katharina (1499–1552), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar u. a. 2016, S. 212–218; Dies., Katharina von Bora in den schriftlichen Zeugnissen ihrer Zeit, Leipzig 2016 (= Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 21). 2 Die Texte der Testamente sind unter anderem abgedruckt bei Karl Eduard Förstemann, D. Martin Luther’s Testamente aus den Jahren 1537 und 1542, nebst urkundlichen Nachrichten über des letzteren Vollstreckung im Jahr 1546 und über L uther’s Wittwe und Kinder. Zur dritten Säcularfeier des Todes Luther’s …, Nordhausen 1846 (vgl. hier den Plural im Titel) sowie WA Br 9, S. 571–587 (Nr. 3699, Beilage 1), hier: S. 574: Luthers Testament im Wittenberger Gerichtsbuch, 1. Februar 1544. 3 Sabine Kramer, Testament L uthers, in: Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.), Das Luther-Lexikon, Regensburg 2014, S. 676 f., hier: S. 676. 4 Abgedruckt bei Förstemann, Testamente, S. 23–25.
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Entstehung während einer Reise von Schmalkalden5 ging L uther davon aus, dass er in Kürze sterben würde. Dem mit ihm reisenden Johannes Bugenhagen (1485–1558), genannt „Doctor Pomeranus“ (bzw. „Pomeranus“), hat Luther seinen letzten Willen und weitere Gedanken, gewiss unter den starken Schmerzen einer Nierenkolik,6 offenbart.7 Das so Artikulierte war für Luther sehr wichtig, wollte er doch seinen lebenden Zeitgenossen und den nachfolgenden Generationen etwas mitgeben, was ihn zeitlebens sehr bewegt hatte.8 Bugenhagen hat aufgrund dieser Mitteilungen entsprechende Notizen dazu angefertigt. Daraufhin hat er sie in Gotha niedergeschrieben, wo Luther Quartier genommen hatte.9 Wider Erwarten erholte sich Luther von der schmerzhaften Attacke auf seine Gesundheit, nachdem der quälende Stein durch das Gerüttel des Reisewagens in der Nähe von Tambach in der Nacht auf den 27. Februar 1537 abgegangen war.10 Das sogenannte „zweite Testament“11 (auch das „große Testament“)12 hat Luther eigenhändig am 6. Januar 1542 in Wittenberg abgefasst.13 Es trägt neben der Unterschrift des Testators die Unterschriften von engen Mitstreitern Luthers und damit von herausragenden Persönlichkeiten der Wittenberger Reformation: Philipp Melanchthon (1497–1560), Caspar Cruciger dem Älteren (1504–1548) und Johannes Bugenhagen. Sie fungierten als Zeugen dieses wichtigen Rechtsdokuments. Dieser Text zeichnet sich durch Festlegungen aus, die für ein bürgerliches Testament charakteristisch sind.14 Dazu gehört vor allem die Übertragung materieller Güter (Grundstücke und bewegliche Sachen) und Rechte an die Erben. Was dieses Testament von anderen Testamenten der Zeit unter 5 Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen, genannt der Großmütige (1503–1554, reg. 1532–1547/1554), hatte zur Tagung des Schmalkaldischen Bundes nach Schmalkalden eingeladen; vgl. auch Joachim Bauer, Schmalkalden, in: Leppin/Schneider-Ludorff, Luther-Lexikon, S. 618 f. 6 Vgl. Martin Treu, Krankheiten L uthers, in: Leppin/Schneider-Ludorff, L uther-Lexikon, S. 368–370, hier: S. 369. 7 Bugenhagen vermerkte auf seiner Niederschrift: „Confessio et Testamentum venerandi Patris nostri D. Lutheri Gothae MDXXXVII. in hebdomada post Reminiscere nocte, quando deficientibus corporis viribus non potuit sperare, se vsque ad diem victurum. Apud me Pomeranum solum. Nam alii non admittebantur“ (Bekenntnis und Testament unseres verehrten Vaters Dr. Luther in Gotha im Jahr 1537 in der Woche nach Reminiscere in der Nacht, als er wegen Schwachheit seines Leibes keine Hoffnung mehr hatte, den nächsten Tag zu erleben. Vor mir, Pomeranus, allein, denn andere waren nicht zugelassen – H. L.; Armin Kohnle, Leipzig, danke ich für wertvolle Hinweise), zitiert nach Förstemann, Testamente, S. 23. 8 Vgl. WA Br 8, S. 52–56 (Nr. 3141). 9 Vgl. WA Br 8, S. 54. 10 Vgl. Treu, Krankheiten, S. 369. 11 Vgl. Kramer, Testament Luthers, S. 676. 12 Tibor Fabiny, Martin L uthers letzter Wille. Das Testament des Reformators und seine Geschichte, Berlin 1983 (Budapest 32017; zitiert wird im Folgenden die erste Aufl.), S. 30. 13 Gedruckt WA Br 9, S. 571–587 (Nr. 3699), hier: S. 572–574. Ausgabe mit Faksimile (4 Blätter zwischen S. 32 und 33) und Text (S. 35–37): Fabiny, Testament des Reformators. 14 Vgl. Werner Ogris, Testament, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann u. a. (Hg.), HRG, Bd. 5, Berlin 1998, Sp. 152–165.
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scheidet, ist der ganz auffällige Umstand, dass ausschließlich die Ehefrau L uthers Katharina zur Alleinerbin eingesetzt wurde. Ein dritter Text, der den „Testamenten“ L uthers zugerechnet wird, ist eine letztwillige Verfügung Luthers, die er vor dem Stadtgericht zu Wittenberg am 1. Februar 1544 vornehmen ließ. Sie beinhaltete die Vergabe von über das Testament von 1542 hinausgehenden Nutzungsrechten und Grundstücken, wiederum zugunsten seiner Ehefrau Katharina. Diese Verfügung ist, wie es rechtlich üblich und erforderlich war, in das Gerichtsbuch15 der Stadt Wittenberg eingetragen worden. Ein interessantes Detail besteht darin, dass der bekannte Buchdrucker und Wittenberger Bürger Hans Lufft (1495–1584)16, welcher insbesondere als Drucker der deutschen Bibelübersetzung aus Luthers Feder in die Reformationsgeschichte eingegangen ist,17 zu dieser Zeit das Stadtrichteramt innehatte und in dieser Eigenschaft für den Eintrag in das Gerichtsbuch zuständig war. Alle drei Texte weisen eine Selbstbezeichnung „Testament“ nicht auf. Eine Kopie des sogenannten „zweiten Testaments“ (1542) trägt den auf Melanchthon zurückgehenden Vermerk „Copia Testamenti des Ernwirdigen Herrn Doctoris Martini Lutheri“18. Das „Testament“ von 1537 wurde von Bugenhagen als „testamentum“ bezeichnet.19 Das Original des Testaments von L uthers Hand aus dem Jahr 1542 befindet sich heute im Evangelischen Landesmuseum zu Budapest.20 Der ungarische Sammler Miklós von Jankovich (1772–1846) hatte es 1804 für 40 Dukaten ersteigert.21 Vor der Versteigerung befand sich
15 Zur Quellengattung Gerichtsbücher vgl. Heiner Lück, Gerichtsbücher, in: Albrecht Cordes/Heiner Lück u. a. (Hg.), 2HRG, Bd. 2, Berlin 2012, Sp. 144–150; zu den sächsischen Gerichtsbüchern vgl. auch Birgit Richter (Red.), Sächsische Gerichtsbücher im Fokus. Alte Quellen im neuen Informationssystem. Fachkolloquium des Sächsischen Staatsarchivs 16. September 2016, Staatsarchiv Leipzig, Halle 2017 (= Veröffentlichungen des Sächsischen Staatsarchivs, Reihe A: Archivverzeichnisse, Editionen und Fachbeiträge 20). 16 Zu ihm vgl. Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Werkes von Josef Benzig, Wiesbaden 22015, S. 1083 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 51). 17 Vgl. Uwe Schirmer, Buchdruck und Buchhandel im Wittenberg des 16. Jahrhunderts. Die Unternehmer Christian Döring, Hans Lufft und Samuel Selfisch, in: Stefan Oehmig (Hg.), Buchdruck und Buchkultur im Wittenberg der Reformationszeit, Leipzig 2015, S. 169–189, hier: S. 174–181 (= Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 21). 18 Förstemann, Testamente, S. 25; heute im Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar, Reg. N 182, Bl. 10–14. 19 Vgl. Förstemann, Testamente, S. 23. 20 Von August bis November 2017 war es in der Ausstellung im Lutherhaus zu Wittenberg zu sehen. Vgl. dazu die Exponatbeschreibung von Stefan Rhein, Martin L uthers Testament, in: Stiftung Luthergedenk stätten in Sachsen-Anhalt (Hg.), LUTHER! 95 Schätze – 95 Menschen. Begleitbuch zur Nationalen Ausstellung. Augusteum Lutherstadt Wittenberg 13. Mai–5. November 2017, München 2017, S. 288 f. (Abb. der ersten Seite), S. 588 (Verzeichnis der Exponate mit Bildnachweis). 21 Vgl. WA Br 9, S. 572.
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das Testament im Nachlass des Helmstedter Professors Johann Benedikt Carpzov IV. (1720–1803), dessen Wurzeln in Leipzig liegen.22 Das zweite Testament (1542), das die entscheidenden Verfügungen an L uthers Ehefrau Katharina enthält, soll im Folgenden in Bezug auf seine Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit vor dem Hintergrund des in Wittenberg und Kursachsen geltenden Rechts, insbesondere im Hinblick auf das weibliche Erbrecht, etwas näher untersucht werden. Dabei soll in vier Schritten vorgegangen werden. In einem ersten Schritt sind der Rechtscharakter und der Aufbau des Testaments vorzustellen. Die wichtigsten inhaltlichen Festlegungen des Testators sind Gegenstand des zweiten Abschnitts. Es schließt sich ein dritter Abschnitt an, in welchem einige rechtlich problematische Aspekte des Testaments näher betrachtet werden sollen. Ein vierter Abschnitt wird auf einige Folgen des Testaments, die offenbar aus den rechtlich fragwürdigen Festlegungen resultieren, eingehen.
1. Rechtscharakter und Aufbau Nach der Schmalkalden-Reise von 1537 hatte Luther weitere Koliken und andere gesundheitliche Tiefschläge zu überstehen.23 Unter dem 6. Januar 1542 verfasste er zu Hause in Wittenberg eigenhändig sein Testament auf vier Papierseiten. Die fünfte Seite weist die eigenhändigen Zeugenvermerke mit Unterschriften von Melanchthon, Cruciger dem Älteren und Bugenhagen auf. L uther wählte die deutsche Sprache für die Abfassung seines letzten Willens. Ganz typisch für Testamente sind bis heute Verfügungen über vermögensrelevante Sachen und Rechte in Abweichung von der gesetzlichen Erbfolge. Solche machen auch den hauptsächlichen Inhalt des hier in Rede stehenden Testaments aus. Die Verfügungen Luthers zielen auf eine Neuordnung seines Vermögens nach dem Tod zugunsten seiner Familie. Das Testament enthält als Kernstück die Aufzählung von zu vererbenden Vermögenspositionen. Darüber hinaus werden darin Begründungen für die konkret getroffenen Verfügungen sowie Bitten des Testators für die Realisierung (Vollstreckung) des Testaments mitgeteilt. Es schließt mit Datum und Unterschriften des Testators sowie der drei Zeugen. Dieser Aufbau ist gut durchdacht und bringt in einer hohen Präzision das zum Ausdruck, was Luther nach seinem Tod in Bezug auf sein Vermögen und seine Familie wollte. Das Testament beginnt mit einem Satz, der die Namen des Verfügungsberechtigten („Martinus Luther“) und der Begünstigten („Hausfrawen Katherin“) ausweist. 22 Vgl. Fabiny, Testament des Reformators, S. 40–45. 23 Vgl. Treu, Krankheiten.
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Abb. 11: Erste Seite von Martin Luthers Testament aus dem Jahr 1542
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Ferner werden in diesem Satz die eigene Handschrift bei der Abfassung als Ausdruck der hohen Authentizität und die Zuwendung verschiedener Vermögenspositionen auf Lebenszeit an die Begünstigte kraft des vorliegenden Schriftstücks („Briefes“ = Testaments) hervorgehoben. In einem zweiten Teil werden die einzelnen Vermögenspositionen, die zu vererben sind, aufgeführt: das Gut („gütlin“) in Zölsdorf24; das Wohnrecht im „Haus Bruno“; Becher25 und Kleinodien wie Ringe26, Ketten, goldene und silberne Schenkgroschen27, deren Wert mit insgesamt etwa 1000 Gulden28 angegeben wird. Dieser Aufzählung folgen als dritter Teil Begründungen, die L uther für die Übertragung der genannten Vermögenswerte an Katharina anführt. Sie werden mit den Worten: „Das thü ich darumb“ eingeleitet. Darin hebt L uther hervor, dass ihn seine K atharina als eine fromme, treue, eheliche Gemahlin allezeit lieb und schön gehalten und ihm durch Gottes Segen fünf Kinder29, die auch noch vorhanden seien (von den ursprünglich sechs Kindern war die Tochter Elisabeth am 3. August 1528 verstorben), geboren und erzogen habe. Des Weiteren führt er an, dass seine Ehefrau mit den ihr zugedachten Zuwendungen in die Lage versetzt werden solle, die noch zu begleichenden Schulden zu bezahlen. Diese würden sich, so Luther, auf ungefähr 450 Gulden belaufen. Es sei nicht ausgeschlossen, dass sich darüber hinaus noch weitere Schulden anfinden würden. Explizit führt L uther aus, dass Katharina nach seinem Tod nicht von den Kindern abhängig sein sollte. Daran war ihm ganz besonders gelegen. Es sollen die Kinder sein, die ihrer Mutter „ynn die hende sehen“. Er selbst habe oft erlebt, wie der Teufel Kinder anstachele, dass sie sich infolge24 Auch Zülsdorf. Das Anwesen befand sich in der Nähe des heutigen Neukieritzsch. Die letzten baulichen Reste des Gutes wurden 1802 abgetragen. Zwischen 1988 und 1992 fiel die Mark Zölsdorf einem Braunkohlentagebau zum Opfer. Vgl. dazu Detlef Bergholtz, Die Heimat der Katharina Luther. Lippendorf und Zölsdorf, Beucha 1999, insbesondere S. 22–36, S. 61. 25 Vgl. dazu Mirko Gutjahr, „Non cultus est, sed memoriae gratia“. Hinterlassenschaften Luthers zwischen Reliquien und Relikten, in: Harald Meller (Hg.), Fundsache L uther. Archäologen auf den Spuren des Reformators, Stuttgart/Halle 2008, S. 100–105. 26 Zum Siegelring Luthers im Grünen Gewölbe zu Dresden und zum Ehering der Katharina von Bora im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig vgl. Gutjahr, Hinterlassenschaften, S. 103; Ders., Siegelring Martin Luthers (Exponatbeschreibung), ebd., S. 234; Ders., Hochzeitsring Katharina von Boras (Exponatbeschreibung), ebd., S. 238. 27 Vgl. dazu Gutjahr, Hinterlassenschaften, S. 101, S. 104. Das Deutsche Rechtswörterbuch kennt „Schenkgroschen“ als Geldstücke, welche wandernde Handwerksgesellen in die Zunftlade für die Krankenversorgung einzahlten (allerdings erst im 17. Jahrhundert) – Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hg.), Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, Bd. 12, Heft 3/4, Weimar 2010, Sp. 467. Im Falle Luthers könnte es sich um besondere Gaben von Stammgästen ihres geselligen Hauses handeln. 28 Zum Vergleich zu Preisen aus der Zeit um 1560: eine Kuh 3 fl. (Gulden), eine Ziege 2 fl., ein Schwein 1 fl., 525 Bausteine 1 fl. (vgl. Fabiny, Testament des Reformators, S. 21). 29 Johannes (1526–1575), Elisabeth (1527–1528), Magdalena (1529–1542), Martin (1531–1565), Paul (1533– 1593), Margarethe (1534–1570). Vgl. auch Katharina Bärenfänger, Kinder Luthers, in: Leppin/Schneider- Ludorff, L uther-Lexikon, S. 341–344.
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dessen gegen ihre Mütter als Witwen30 stellen würden. Nach seiner Auffassung seien die Mütter die besseren Vormünder für die Kinder und nicht die männlichen Verwandten, die normalerweise zu Vormündern bestellt werden würden. Für die Mütter als die besseren Vormünder spreche ferner, dass selbige aus dem gleichen Fleisch und Blut wie deren Kinder bestünden und jene unter ihrem Herzen getragen hätten. Auch in Anbetracht einer möglichen Wiederheirat Katharinas vertraue er seiner Ehefrau. Er sei überzeugt davon, dass sie nichts unternehmen würde, was den gemeinsamen Kindern schaden könnte. Vielmehr wisse er, dass Katharina alles treu mit ihnen teilen würde. In einem weiteren Teil des Testaments formuliert L uther Bitten. So bittet er den Kurfürsten, die schriftlich niedergelegten Zuwendungen („begabüng oder leibgedinge“) zu schützen und durchzuführen („handhaben“). Seine Freunde bittet er, seiner Katharina („meiner lieben kethen“) beizustehen für den Fall, dass sie in ein schlechtes Licht gerückt werde. Ihr könnte nämlich vorgeworfen werden, dass sie das Barvermögen („barschafft“) ihren Kindern vorenthalte. Ein solches Barvermögen, mit Ausnahme der oben genannten Becher und Kleinodien, sei aber gar nicht vorhanden. Luther räumt ein, dass die Erfüllung einiger Geldforderungen seiner Gläubiger noch ausstehe. Sein Barvermögen habe er in Gebäude, Käufe und eine kostenintensive Haushaltung investiert, so dass keine nennenswerte Barschaft vorhanden sei.31 Daraus schlussfolgert er, dass der Teufel seiner Käthe nichts anhaben könne. Letzterer könne ihr nur vorwerfen, dass sie des „Mannes Doctor Martinus eheliche hausfraw gewest und (Gott lob) noch ist.“ Der Testator bittet allgemein um Verständnis dafür, dass er in dem vorliegenden Testament nicht die juristisch erforderlichen Formen und Fachtermini beachtet habe. Als Begründung dafür führt er an, dass er die Person bleiben wolle, die im Himmel wie auf Erden und sogar in der Hölle bekannt sei. Vor diesem Hintergrund nimmt er für sich eine größere Autorität als ein Notar in Anspruch. Schließlich habe Gott ihm das Evangelium anvertraut. Letzteres sei durch ihn in der Welt bekannt geworden und dort angenommen worden. Dem päpstlichen Bann und dem Zorn von Königen, Fürsten, Pfaffen und aller Teufel zum Trotz würde man in ihm einen Lehrer der Wahrheit sehen. Insofern sei es 30 Zur Stellung der Witwen in der frühen Neuzeit vgl. Martina Schattkowsky (Hg.), Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, Leipzig 2003 (= Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 6). 31 Der Haushalt der Luthers gehörte zu den größten der Stadt Wittenberg. Der Grundbesitz, der Viehbestand und die Kleinodien wurden 1542 mit 7079 Gulden veranschlagt; vgl. Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 22013, S. 337; vgl. auch Martin Treu, Katharina von Bora, Wittenberg 21996, S. 54–61 (= Biographien zur Reformation), sowie eingehend Stefan Oehmig, Katharina von Bora, die L utherin – eine Wirtschafterin und Saumärkterin, in: Evangelisches Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg/Peter Freybe (Hg.), Mönchshure und Morgenstern. Katharina von Bora, die L utherin – im Urteil der Zeit als Nonne, eine Frau von Adel, als Ehefrau und Mutter, eine Wirtschafterin und Saumärkterin, als Witwe. Wittenberger Sonntagsvorlesungen, Wittenberg 1999, S. 96–119, insbesondere S. 97–116.
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doch eine weitaus geringere Sache, seinem niedergelegten Testament zu glauben. Und deshalb müsse es völlig ausreichen, dass er den Text seines letzten Willens eigenhändig geschrieben und mit seinem Siegel versehen habe. Es habe zu genügen, dass der Testamentstext („meinüng“) derjenige Dr. Martin Luthers sei, denn er selbst sei „Gottes Notarius und zeüge … ynn seinem Evangelio“.32
2. Wichtige inhaltliche Festlegungen Die vermögensrechtlichen Verfügungen Luthers betrafen das Gut Zölsdorf, das Wohnrecht im „Haus Bruno“ und verschiedene konkret benannte Wertgegenstände.33 Das Gut Zölsdorf hatte L uther 1540 von seinem Schwager Hans von Bora (um 1490–um 1572) für 610 Gulden gekauft. Es lag südlich von Leipzig in der Nähe von Neukieritzsch. Das im Zusammenhang mit dem Wohnrecht genannte „Haus Bruno“ stand in unmittelbarer Nähe des Schwarzen Klosters in Wittenberg (heute Lutherhaus). Der letzte Wittenberger Augustinerprior Eberhard Brisger (um 1490–1545)34 hatte das Grundstück erhalten und darauf ein Haus errichtet. Der Bau- und Hausherr verließ 1525 mit dem Niedergang der Klöster Wittenberg und wandte sich nach Altenburg. Das Haus wurde von Bruno Brauer,35 Pfarrer in Dobien36, erworben. Von diesem kaufte Luther besagtes Haus37 1541 für 450 Gulden. Die Kaufpreiszahlung erfolgte in mehreren Raten.38 Das Testament enthält die Information, dass Luther das Haus „unter meins Wolffs Namen“ gekauft habe. Diese Formulierung legt den Schluss nahe, dass L uther den Kaufvertrag unter dem Namen 32 Zitiert nach Fabiny, Testament des Reformators, S. 37. 33 Das Wohnhaus der Luthers (ehemaliges Augustinereremitenkloster; das „Schwarze Kloster“) wird nicht im Testament erwähnt. Es war zunächst von Kurfürst Friedrich III., genannt der Weise, (1463–1525, reg. 1486–1525) der Familie zu Wohn- und Wirtschaftszwecken überlassen worden. Am 4. Februar 1532 hat Kurfürst Johann, genannt der Beständige (1468–1532, reg. 1525–1532), das Anwesen Martin Luther, seiner Ehefrau Katharina und deren Kindern ( Johannes Luther, Martin Luther der Jüngere) zu freiem erb lichen Gut verschrieben. Mit dieser kurfürstlichen Verschreibung war offenbar unstreitig, dass Katharina und die Kinder in diesem Haus weiterhin wohnen konnten. Vgl. dazu auch Heiner Lück/Michael Rockmann, Der Verkauf des Lutherhauses an die Universität Wittenberg 1564. Die Originalurkunde und die Nachlaßsache Martin Luther d. J., in: Luther-Jahrbuch 69 (2002), S. 79–100, hier: S. 86. 34 Auch Eberhard Breisgen; vgl. Ernst Kähler, Brisger, Eberhard, in: NDB 2 (1955), S. 618. Magister Eberhard Breisgen ist als schosspflichtiger Hausbesitzer im Elsterviertel (Collegienstr. 55) zwischen 1528 und ca. 1536 nachweisbar, vgl. Insa Christiane Hennen, Reformation und Stadtentwicklung – Einwohner und Nachbarschaften, in: Heiner Lück (Hg.), Das ernestinische Wittenberg: Stadt und Bewohner. Textband, Petersberg 2013, S. 33–76, hier: S. 55 (= Wittenberg-Forschungen 2.1). 35 Bruno Brauer ist zwischen 1537 und 1567 als schosspflichtiger Hausbesitzer im Elsterviertel (Collegienstr. 55) nachweisbar, vgl. Hennen, Reformation, S. 55. 36 4 Kilometer nordwestlich von Wittenberg. 37 Heute nicht mehr vorhanden. 38 Kaufvertrag vom 29. Juni 1541, abgedruckt in WA Br 9, S. 576–578 (Beilage II zu Nr. 3699).
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seines Famulus Wolfgang Sieberger39 geschlossen hat. Die Gründe dafür, dass Luther den Kaufvertrag nicht selbst schloss, sind nicht bekannt. Vielleicht wollte er wegen der Ratenzahlung (in einer für ihn schwierigen finanziellen Situation?) unerkannt bleiben. Worum es sich bei den genannten Schenkgroschen aus Gold und Silber handelt, ist nicht sicher zu bestimmen. Vielleicht waren es Geschenke in Gestalt von Silber- und Goldmünzen oder Medaillons, welche die Familie L uther von ihren zahlreichen Gästen und Mitbewohnern erhalten hatte. Von den im Testament vorkommenden Personen nimmt Luthers Ehefrau Katharina zweifelsohne die zentrale Rolle ein. Für sie hat es ihr Ehemann Martin geschrieben. Die Formulierungen, die L uther wählt, sind sehr liebevoll und von einer ausgesprochen ehrlichen Hochachtung gegenüber seiner Käthe gekennzeichnet. Er wollte durch das Testament für die Zeit nach seinem Tod vorsorgen. Seine Familie sollte ein Auskommen haben und die Kinder sollten bei der Mutter bleiben. Letztere sollte für die Kinder sorgen – im faktischen wie im rechtlichen Sinne. Luther hatte schon Jahre vor der Testamentserrichtung den Tod permanent vor Augen. Abgesehen von seinen Krankheitserfahrungen, die sich in den 1530er-Jahren intensiviert hatten, musste er täglich damit rechnen, dass er als Gebannter gefangen gesetzt und als Ketzer hingerichtet werden würde.40 Zudem kalkulierte er seine kriegsbedingte Gefangennahme mit ungewissem Ausgang ein. Es gab somit hinreichende Beweggründe dafür, ein Testament zu verfassen. Schon 1540 hatte L uther beabsichtigt, seine Käthe als Universalerbin einzusetzen. In den Tischreden ist zu jenem Jahr die eindeutige Formulierung „Te Ketam constituo haeredem omnium.“ überliefert.41 Ähnlich wie im Testament von 1542 verweist L uther auf die Tatsache, dass Katharina die Kinder geboren und diesen die Brust gereicht habe. Von daher könne er sich auch nicht vorstellen, dass seine Ehefrau das Erbe jemals zum 39 Wolfgang Sieberger, auch Seberger, Seeberger, in: WA Br 4, S. 148: „mein Diener Wolfgang“. „Dieser Wolfgang ist Luthers Famulus Wolfgang Sieberger, ein Münchener, der von 1519 bis an Luthers Lebensende ihm treu gedient hat, † 1547“, Erwin Mülhaupt (Hg.), D. Martin L uthers Evangelien-Auslegung, Teil 2: Das Matthäus-Evangelium (Kap. 3–25), Göttingen 41973, S. 860; Förstemann, Testamente, S. 20–22, S. 26. Sieberger scheint eine Vorliebe für das Fangen von Singvögeln, die als Delikatesse galten, gepflegt zu haben. Vor diesem Hintergrund verfasste L uther die feuilletonistische „Schrifft oder Klage der Vogel an D. Martinum Luthern vber Wolffgang Siberger seinen Diener“ (WA 38, S. 292 f.); vgl. auch Johannes Schilling, Vögel, in: Leppin/Schneider-Ludorff, L uther-Lexikon, S. 726 f. Auf dem Gelände des ehemaligen „Schwarzen Klosters“ wurde bei Ausgrabungen eine Lockpfeife aus Gänseknochen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts gefunden. Von einem Zusammenhang mit Sieberger kann freilich nicht ausgegangen werden. Vgl. Björn Schlenker, Lockpfeife, in: Meller, Fundsache L uther, S. 236/238 (Exponatbeschreibung). 40 Vgl. auch WA Br 3, S. 394 (Nr. 800). 41 WA TR 4, S. 631, Z. 12 f. (Nr. 5041) (Dich, Käthe, konstituiere ich zum Alleinerben). Vgl. auch Pauline Puppel unter Mitwirkung von Stephan Buchholz, Zur Rechtsstellung der Katharina von Bora, in: Martin Treu (Hg.), Katharina von Bora, die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages, Wittenberg 1999, S. 33–51, hier: S. 41; Fabiny, Testament des Reformators, S. 32, sowie WA TR 4, S. 631 (Nr. 5041).
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Nachteil der Kinder verwenden würde. Erläuternd führt er dazu aus: „Den vormunden bin ich feindt, si machens selten gutt.“ Seine Kritik ist an die üblicherweise aus der Verwandtschaft bzw. Öffentlichkeit zu bestellenden männlichen Vormünder gerichtet.42 Diese Ausführungen nehmen inhaltlich die ganz ähnlichen Formulierungen im späteren Testament vorweg. Die Ausnutzung der Vormundposition zum Nachteil der Mündel war ganz sicher ein grassierendes Problem der Zeit. Daher enthält der auch noch in der Mitte des 16. Jahrhunderts geltende Sachsenspiegel (Landrecht I Art. 41) die Regelung, wonach Mädchen oder Witwen gegen den Vormund auf Herausgabe des ihnen zustehenden Vermögens (Güter, Nutzungsrechte) klagen können. Ein typisches Rechtsinstitut zur wirtschaftlichen Absicherung der Witwe, vor allem mit Wohnraum und einigen materiellen Gütern, war das Leibgedinge (auch „Leibzucht“)43. Von daher überrascht es nicht, dass es auch in L uthers Testament eine Rolle spielt. Wie das Kompositum gut erkennen lässt, setzt es sich aus „Leib“ und „Gedinge“ zusammen. „Leib“ bedeutet ‚Leben‘ bzw. ‚lebender menschlicher Körper‘. „Gedinge“ steht für die Begründung eines Rechts an öffentlicher Stelle (etwa vor Gericht oder vor einem Notar) oder durch ein Testament. Das Wort „Zucht“ hat die Bedeutung von ‚sich beziehen auf‘‚ ‚an etwas heran ziehen‘. Somit ist Leibgedinge eine öffentlich erklärte/verbriefte bzw. begründete Berechtigung an irgendetwas auf Lebenszeit. Gemeint ist ein lebenslanges Nutzungsrecht an einem Grundstück bzw. Haus einschließlich dessen Nutzungen und Gewinnerwirtschaftung. Die dafür geltenden Rechtsregeln finden sich im Sachsenspiegel (Lehnrecht 31 § 1; Landrecht II Art. 44 § 3; Art. III 74).
3. Ausgewählte Rechtsprobleme Bevor auf einige rechtlich problematische Aspekte des Testaments einzugehen ist, muss kurz die Kategorie der Rechtswidrigkeit klargestellt werden. Rechtswidrigkeit ist Widerspruch zur Rechtsordnung.44 Der Begriff in der hier verwendeten Form ist relativ jung. Das Deutsche Rechtswörterbuch als das maßgebliche Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache45 kennt ihn nicht. Gleichwohl gibt es diese Erscheinung, seitdem es Recht gibt. In den deutschsprachigen Quellen des 15. und 16. Jahrhunderts ist oft davon die 42 Die Veruntreuung des Vermögens der Mündel durch die Vormünder war eine latente Gefahr, die sich wohl auch oft verwirklichte. Der Sachsenspiegel sieht daher vor, dass die Vormünder öffentlich Rechnung legen müssen und dass gegebenenfalls der Vormund verklagt und ausgewechselt werden könne (Sachsenspiegel-Landrecht I Art. 23 § 2; I Art. 41). 43 Vgl. dazu Wilhelm Brauneder, Leibzucht, in: 2HRG, Bd. 3, Berlin 2016, Sp. 800–803. 44 Vgl. Gerhard Köbler, Zielwörterbuch europäischer Rechtsgeschichte, Gießen 52009, S. 777. 45 Vgl. Heino Speer, Deutsches Rechtswörterbuch, in: 2HRG, Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 1007–1011.
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Rede, dass diese oder jene Handlung bzw. eine Entscheidung wider das Recht46 ist (zum Beispiel „widder das beschreben recht“47). Die Rechtswidrigkeit einer Handlung konnte und kann bestimmte Rechtsfolgen nach sich ziehen. Rechtsgeschäfte, also auch Testamente oder Teile davon, die gegen gesetzliche Verbote verstoßen, sind nach geltendem Recht nichtig (vgl. § 134 BGB).48 Das Testament L uthers barg von vornherein eine ganze Reihe rechtlicher Probleme in sich. Diese betreffen sowohl die Form als auch inhaltliche Aspekte.49 Sie reichen von Zweifelsfragen bis hin zur eindeutigen Rechtswidrigkeit, d. h. zu Verstößen gegen das geltende sächsische Recht bzw. Magdeburger Recht, an welche sich das Wittenberger Stadtrecht anlehnte.50 Einige dieser rechtswidrigen bzw. problematischen Formalien und Inhalte sollen im Folgenden näher vorgestellt werden. Da ist zunächst die Frage nach der Wirksamkeit der am 13. Juni 1525 geschlossenen Ehe zwischen dem Mönch Martin Luther und der entlaufenen Nonne Katharina von Bora. Die Eheschließung eines dem Zölibat unterliegenden Mönches war verboten und die Ehe einer Nonne ebenso. Wurde eine Eheschließung dennoch durchgeführt, galt die „Ehe“ als nichtig, und die Heiratswilligen wurden verfolgt. Das war auch noch so in den 1520er-Jahren.51 Zum Zeitpunkt der Eheschließung Luthers im Juni 1525 war keineswegs klar, wie dieser Rechtsakt juristisch beurteilt werden würde. Das Testament L uthers war damals freilich noch nicht in Sicht. Mit einer solchen zumindest fragwürdigen Ehe ist die Frage nach dem Rechtsstatus der Kinder, die aus einer solchen Verbindung hervorgingen, verbunden. Dieses Problem wird in der Literatur zu Martin Luther und Katharina zum Teil ausführlich behandelt.52 Da es zu allen Zeiten Kinder, deren Väter Kleriker waren, und nichteheliche Kinder gab, 46 Vgl. die zahlreichen Belegstellen in der Buch’schen Glosse des Sachsenspiegels, zusammengestellt bei Frank-Michael Kaufmann/Peter Neumeister (Hg.), Monumenta Germaniae Historica (MGH). Fontes iuris germanici antiqui, nova series, X. Glossar zur Buch’schen Glosse, Wiesbaden 2015, S. 1344–1346 [wed(d)er], hier: insbesondere S. 1345 f. (w. recht). 47 Zitiert nach Heiner Lück, Ein Magdeburger Schöffenspruch für den Bischof von Meißen und das „peinliche Strafrecht“ im frühneuzeitlichen Kursachsen, in: Uwe John/Josef Matzerath (Hg.), Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1997, S. 241–257, hier: S. 242 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 15). 48 Für das geltende deutsche Erbrecht vgl. etwa Hans Brox/Wolf-Dietrich Walker, Erbrecht, München 28 2018, S. 162–164. 49 Vgl. dazu Puppel/Buchholz, Rechtsstellung, S. 33–51. 50 Vgl. Heiner Lück, Wittenberg, in: Wolfgang Adam/Siegrid Westphal (Hg.), Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum, Berlin 2012, Bd. 3, S. 2201–2248, hier: S. 2203. 51 Vgl. etwa die Fälle bei Ulrich Bubenheimer, Streit um das Bischofsamt in der Wittenberger Reformation 1521/22. Von der Auseinandersetzung mit den Bischöfen um Priesterehen und den Ablaß in Halle zum Modell des evangelischen Gemeindebischofs, Teil 1, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung 104 (1987), S. 155–209, hier: S. 166–203. 52 Vgl. Puppel/Buchholz, Rechtsstellung, S. 46.
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enthält der Sachsenspiegel dazu entsprechende Regelungen. Die Kinder von Geistlichen nennt der Sachsenspiegel „Pfaffenkinder“. Gemeinsam mit den nichtehelichen Kindern hatten diese einen stark geminderten Rechtsstatus. So waren sie zum Beispiel nicht erbberechtigt (Sachsenspiegel-Landrecht I Art. 51 § 2) und erhielten bei einer Körperverletzung keine materielle Wiedergutmachung (Schadensersatz), sondern eine sogenannte Spottbuße (Sachsenspiegel-Landrecht III Art. 45 § 9). Die Lektüre der im Kontext des Testaments entstandenen Dokumente – etwa das Rechtsgutachten des Kanzlers Gregor Brück (1484–1557)53, die Schriftsätze des Kurfürsten und ähnliche Schriften – ergibt, dass die Frage der Eheschließung im Jahre 1546 zumindest in Wittenberg nahezu keine Rolle mehr gespielt zu haben scheint. Am Zentralort der lutherischen Reformation hatte sich die neue Auffassung von der Ehe54, vor allem in Bezug auf die nunmehr rechtlich zulässige „Priesterehe“, offenbar weitgehend durchgesetzt.55 Daran hatte gewiss auch die Errichtung des Konsistoriums 1539 als der maßgeblichen Behörde für Eherechtsfragen einen Anteil.56 Spätestens seit diesem Jahr konnten Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Ehe schnell und unter Zugrundelegung der evangelischen Lehre sowie der inzwischen entstandenen Ehe- und Kirchenordnungen geklärt werden. Eine weitgehende Akzeptanz dieser klarstellenden Entscheidungen des Konsistoriums kann angenommen werden. Ein zweites Problem bestand in der Form, in welcher das Testament Luthers abgefasst worden war. L uther, dem Verfasser des Testaments, war bewusst, dass seine Verfügung formelle Rechtsmängel aufwies. Im Jahre 1512 hatte Kaiser Maximilian I. (1459–1519, reg. 1486/1508–1519) eine Reichsnotariatsordnung erlassen.57 Diese war auch in Kur 53 Zu ihm vgl. Ulrich von Brück, Im Dienste der Reformation. Ein Lebensbild des kursächsischen Kanzlers Gregor Brück, Berlin 1985. 54 Vgl. Heiner Lück, Zur Grundlegung des evangelischen Eherechts in Wittenberg, in: Treu, Katharina von Bora, die Lutherin, S. 161–177. 55 Vgl. dazu Heiner Lück, Beiträge ausgewählter Wittenberger Juristen zur europäischen Rechtsentwicklung und zur Herausbildung eines evangelischen Eherechts während des 16. Jahrhunderts, in: Christoph Strohm (Hg.), Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, Tübingen 2017, S. 73–109. 56 Vgl. auch Ralf Frassek, Eherecht und Ehegerichtsbarkeit in der Reformationszeit. Der Aufbau neuer Rechtsstrukturen im sächsischen Raum unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte des Wittenberger Konsistoriums, Tübingen 2005 (= Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und Staatskirchenrecht 78). 57 Edition in: Herbert Grziwotz/Bundesnotarkammer (Hg.), Kaiserliche Notariatsordnung von 1512. Spiegel der Entwicklung des Europäischen Notariats, München 1995. Zur Entstehungsgeschichte und rechtsgeschichtlichen Würdigung vgl. Mathias Schmoeckel, Die Reichsnotariatsordnung von 1512. Entstehung und Würdigung, in: Ders./Werner Schubert (Hg.), Handbuch zur Geschichte des deutschen Notariats seit der Reichsnotariatsordnung von 1512, Baden-Baden 2012, S. 29–74 (= Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte 17); Sebastian Ludes, Die Reichsnotariatsordnung: Inhalt und Auswirkungen auf das deutsche Notariat. Unter besonderer Berücksichtigung der Osnabrücker Notariatsinstrumente, Hamburg 2016 (= Studien zur Rechtswissenschaft 369).
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sachsen geltendes Recht.58 Danach war die Beurkundung mit Siegelung eines Testaments durch einen Notar vorgesehen.59 Allerdings waren einige Ausnahmen zugelassen. So konnten an die Stelle der notariellen Beurkundung drei Zeugen treten, welche mit ihren eigenhändigen Unterschriften dem Testament zur Gültigkeit verhalfen. Im hier vorliegenden Fall waren es die Zeugnisse Melanchthons, Crucigers des Älteren und Bugen hagens, welche das Testament wirksam machten, auch wenn dieses der sogenannten „solennen“, also der üblichen rechtsformalen Ausfertigung in Urkundenform, nicht entsprach. Somit ist auch klar, dass es nicht die vollmundige und angriffslustige Aussage Luthers, er selbst sei „Gottes Notarius“, war, welche die Wirksamkeit des Testaments herbeiführte.60 Luther sah die möglichen Probleme mit der formellen Gültigkeit offenbar voraus. Vor diesem Hintergrund ist auch seine Bitte an den Kurfürsten, das Testament zu beschützen und auszuführen, zu lesen. Tatsächlich sorgte der Kurfürst nach dem Tod Luthers dafür, dass eventuelle Zweifel an der formellen Gültigkeit des Testaments nicht aufkamen. Er bestätigte unter dem 11. April 1546 die Wirksamkeit des Testaments, obwohl es auch von ihm als formell mangelhaft bezeichnet wurde: „Und ab nun gleich gemeldte Verordenunge an Zierlikeiten und Solemnitäten, so die Recht erfordern mogen, mangelhaftig wäre, so haben wir … angezeigt, … zu confirmiren und zu bestätigen …“.61 Die Beurkundung durch einen Notar wurde in Kursachsen erst 1572 zwingend vorgeschrieben.62 Insofern könnte man eine nicht ganz eindeutige Rechtslage der unvollkommenen Form zugutehalten. Wie Katharina die Hauptfigur des Testaments überhaupt war, bestand das zen trale materiell-rechtliche Problem in der Einsetzung ihrer Person als Vormund63 für die gemeinsamen Kinder.64 Diese Verfügung Luthers stand dem geltenden sächsischen Recht 58 Vgl. Heiner Lück, Zur Geschichte des Notariats in Sachsen, in: Schmoeckel/Schubert, Handbuch, S. 569– 587, hier: S. 574. 59 §§ 25–36; vgl. auch Schmoeckel, Reichsnotariatsordnung, S. 45, S. 72. 60 Fabiny, Testament des Reformators, S. 37. 61 Förstemann, Testamente, S. 53. 62 Vgl. Kursächsische Konstitutionen, abgedruckt in: Johann Christian Lünig (Hg.), Codex Augusteus Oder Neuvermehrtes Corpus Juris Saxonici … in richtige Ordnung gebracht, Teil I, Leipzig 1724, Sp. 73–132 (hier: Teil II Const. XIV; Teil III Const. V); Lück, Notariat in Sachsen, S. 574. 63 Vgl. Adalbert Erler, Vormundschaft, in: HRG, Bd. 5, Berlin 1998, Sp. 1050–1055. 64 Zur Frage der Einflüsse der Reformation auf die Rechtsstellung der Frau vgl. Luise Schorn-Schütte, Wirkungen der Reformation auf die Rechtsstellung der Frau im Protestantismus, in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 94–104; zum Aktionsradius der Pfarrfrau in Bezug auf die Bewirtschaftung des Pfarrhauses und darüber hinaus S. 103, sowie Dies., „Gefährtin“ und „Mitregentin“. Zur Sozialgeschichte der evangelischen Pfarrfrau in der Frühen Neuzeit, in: Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 109–153; Dies., Das ganze Haus. Evangelische Pfarrhäuser im 16. und 17. Jahrhundert, in: Thomas A. Seidel/Christopher Spehr (Hg.), Das evangelische Pfarrhaus. Mythos und Wirklichkeit, Leipzig 2013, S. 37–54; Jane Strohl/Volker Leppin, Mann und Frau, in: Leppin/Schneider-Ludorff, Luther-Lexikon, S. 470 f.
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diametral entgegen.65 Sachsenspiegel-Landrecht I Art. 46 und II Art. 63 § 1 enthalten dazu die entsprechenden Regelungen, welche auch später im sogenannten Gemeinen Sachsenrecht66 weiter beachtet, ausgestaltet und kommentiert wurden. Diese Regeln lauten (verkürzte Wiedergabe)67: „Mädchen und Frauen müssen bei jeder Art von Klage einen Vormund haben …“. „Eine Frau kann weder Vorsprecher sein noch ohne Vormund klagen.“ Und Sachsenspiegel-Landrecht I Art. 23 §§ 1–2 teilt mit: „Wenn die Söhne noch nicht zu ihren Jahren gekommen sind, so nimmt der älteste ebenbürtige Verwandte von Vatersseite die Heeresausrüstung68 allein und ist der Vormund der Kinder … Er ist auch der Vormund der Witwe bis zu ihrer Wiederverheiratung …“. Die sächsischen Kurfürsten hielten große Stücke auf ihr altes Sachsenrecht.69 Den betonten Rückgriff darauf nutzten sie auch politisch gegenüber dem Reich, um dessen Höchstgerichtsbarkeit, verkörpert im Reichskammergericht bzw. dessen Vorgänger (Kammergericht) und im Reichshofrat, zurückzuweisen bzw. zu umgehen. Sie bekräftigten vehement die Eigenständigkeit des sächsischen Rechts und wurden sogar als Beschützer, Förderer und Interpreten dieses einzigartigen Rechtskomplexes innerhalb der weitgehend romanisierten Rechtsordnung des Alten Reiches angesehen.70 Es war also nicht unbedingt zu erwarten, dass sich der Kurfürst über ein Gebot des sächsischen Rechts zugunsten Katharina L uthers hinwegsetzen würde. Auf der anderen Seite hatte L uther in verschiedenen Lebenssituationen erfahren können, dass sich Kurfürst Johann Friedrich (vgl. Tafel 12) mit seinem entschlossenen Handeln, Ignoranz und damit Bruch der Reichsverfassung eingeschlossen,71 stets als ein entschiedener Förderer der Reformation erwiesen hatte.72 Seit dem Thesenanschlag waren 25 Jahre vergangen, und L uther hatte sich letzt65 Zur Rechtsstellung der Frau im Magdeburger Recht des Spätmittelalters vgl. Eva Labouvie, Zwischen Geschlechtsvormundschaft und eingeschränkter Rechtsfähigkeit. Frauen im Magdeburger Recht, in: Heiner Lück/Matthias Puhle u. a. (Hg.), Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Weimar u. a. 2009, S. 117–139 (= Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 6). 66 Vgl. Heiner Lück, Gemeines Sachsenrecht, in: 2HRG, Bd. 2, Berlin 2012, Sp. 77–84. 67 Zitiert wird die Ausgabe: Clausdieter Schott (Hg.), Eike von Repgow. Sachsenspiegel, Zürich 31996. 68 Vgl. Wilfrid Bungenstock, Heergewäte, Heergeräte, in: 2HRG, Bd. 2, Berlin 2012, Sp. 858 f. 69 Vgl. Heiner Lück, Kursächsische Gerichtsverfassung und höchste Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Zur Geschichte einer besonderen Wechselbeziehung (1423–1559), in: Ignacio Czeguhn (Hg.), Recht im Wandel – Wandel des Rechts. Festschrift für Jürgen Weitzel zum 70. Geburtstag, Köln/Weimar u. a. 2014, S. 303–326. 70 Vgl. etwa den Titel der Disputation Christian Rau (praes.), Heinrich Blümmer (resp.), Elector Saxoniae iuris Saxonici defensor, Leipzig 1785; weitere Belege bei Lück, Kursächsische Gerichtsverfassung, S. 323 f. 71 Johann Friedrich setzte sich 1541 über den Widerstand des Naumburger Domkapitels hinweg und setzte den evangelischen Theologen Nikolaus von Amsdorf (1483–1565) als Bischof von Naumburg ein, vgl. Uwe Schirmer, Die ernestinischen Kurfürsten bis zum Verlust der Kurwürde 1485–1547, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Die Herrscher Sachsens. Markgrafen, Kurfürsten, Könige 1089–1918, München 2004, S. 55– 75, hier: S. 73 f. 72 Ebd., S. 71.
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lich auf den Rückhalt der Kurfürsten Friedrich III., Johann und Johann Friedrich immer verlassen können. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass L uther die aktive Unterstützung seiner Frau, seiner Kinder und seiner Freunde in Anbetracht der praktischen Umsetzung des Testaments durch den Kurfürsten erhoffte. L uther argumentierte für seine Legitimation der Verletzung bzw. Umgehung des positiv geltenden Rechts naturrechtlich, also mit einem über dem geltenden Recht stehenden, aus der Natur und von Gott abgeleiteten Normensystem.73 Seine Formulierungen in Bezug auf den biologischen und seelischen Zusammenhang von Mutter und Kindern bringen diese Sichtweise deutlich zum Ausdruck. Ein größeres rechtliches Problem bestand darin, dass der Sachsenspiegel ein „Testament“, d. h. eine individuelle Verfügung von Todes wegen mit Begünstigten auch außerhalb der Familie, nicht kennt.74 Die Institution und der Begriff Testament kommen aus dem römischen Recht,75 welches erst allmählich in das sächsische Rechtsgebiet eindrang. Einen gewissen Auftakt dazu bildet die berühmte Glosse des Landrechts des Sachsenspiegels, welche der aus der Altmark (Dorf Buch bei Tangermünde), stammende Absolvent der Rechtsschule von Bologna, Johann von Buch (um 1290–um 1356)76 um 1325 geschaffen hatte.77 Die einem Mann zu Lebzeiten zustehenden Vermögenswerte waren für den Todesfall nicht frei verfügbar. Regelmäßig fielen die einzelnen Vermögensmassen, die sich durch Einbringung von Vermögenswerten in die Ehe und deren Vermehrung während der Ehe gebildet hatten, im Erbfall wieder auseinander (Erbe, Eigen, Heergewäte, Gerade, Musteil). Nach dem sächsischen Recht konnten diese verschiedenen Bestandteile des Nachlasses nach dem Prinzip der Spezialsukzession nur bestimmten männlichen oder weiblichen Verwandten zugewendet werden.78 Somit wären nach Sachsenspiegel73 Vgl. Heiner Lück, Naturrecht, in: Manfred Landfester (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 15/1, Stuttgart/Weimar 2001, Sp. 772–780. 74 Vgl. auch Adrian Schmidt-Recla, Kalte oder warme Hand? Verfügungen von Todes wegen in mittelalterlichen Referenzrechtsquellen, Köln/Weimar u. a. 2011, S. 378 (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 29). 75 Vgl. Max Kaser/Rolf Knütel u. a., Römisches Privatrecht. Ein Studienbuch, München 212017, S. 386–440; Helmut Coing, Europäisches Privatrecht, Bd. 1: Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985, S. 559–584. 76 Zu ihm vgl. Heiner Lück, Johann von Buch (um 1290–um 1356), in: 2HRG, Bd. 2, Berlin 2012, Sp. 1376 f. 77 Vgl. Heiner Lück, Sächsisches Recht contra Römisch-kanonisches Recht. Ein Sonderweg der „Rezeption der fremden Rechte“?, in: Wolfgang Huschner/Enno Bünz u. a. (Hg.) unter Mitwirkung von Sebastian Kolditz, Italien – Mitteldeutschland – Polen. Geschichte und Kultur im europäischen Kontext vom 10. bis zum 18. Jahrhundert, Leipzig 2013, S. 211–229 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 42). Das Wort „Testament“ kommt in der Landrechtsglosse des Johann von Buch (1519 moderne Druckseiten im Quartformat) lediglich zweimal vor, vgl. Frank-Michael Kaufmann (Hg.), Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht. Buch’sche Glosse, Hannover 2002, S. 184, S. 215 (= MGH. Fontes iuris Germanici antiqui, Nova series, VII). 78 Vgl. auch Ludger Meuten, Die Erbfolgeordnung des Sachsenspiegels und des Magdeburger Rechts, Frankfurt a. M./Berlin u. a. 2000 (= Rechtshistorische Reihe 218).
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recht das im Testament genannte Gut Zölsdorf und das „Haus Bruno“ (das eigentliche Erbe nach sächsischem Recht) nur an die Söhne vererbbar gewesen. Für die Witwe bzw. Mutter war ein sechs Wochen und 30 Tage dauerndes Besitzrecht am Erbe (in der Regel Wohn- und Versorgungsrecht auf dem Gehöft bzw. im Haus ihres verstorbenen Mannes) vorgesehen.79 Nach Ablauf dieser Frist konnte sie von den Erben aus dem Grundstück gewiesen werden (Sachsenspiegel-Landrecht I Art. 20 § 2). Das „Leibgedinge“, die Bestellung einer dinglichen Berechtigung auf Lebenszeit, war das rechtliche Instrument, um die skizzierten kinderfreundlichen und witwenunfreundlichen Folgen des sächsischen Erbrechts zu regulieren. Der Duktus des Testaments spricht dafür, dass L uther auf diese rechtlichen Risiken keine Rücksicht nahm, indem er die genannten Immobilien seiner Ehefrau zuwies. Man könnte konstatieren, dass er möglicherweise die Nachteile, die seiner Ehefrau und damit seinen Kindern aus der Mangelhaftigkeit des Testaments drohten, in Kauf nahm. Andererseits hatte er gewiss die nicht unbegründete Hoffnung, dass der Kurfürst diese Mängel und Rechtsfehler aus seiner fürstlichen Machtstellung heraus mit einem entsprechenden Herrscherbefehl kompensieren würde. So ist es dann auch, wenigstens in einigen Punkten, real geschehen.
4. Zu einigen Wirkungen des Testaments Nachdem Luther in der Nacht vom 17. auf den 18. Februar 1546 in Eisleben gestorben war, sandte Kurfürst Johann Friedrich unter dem 20. Februar 1546 an die Witwe ein Trostschreiben.80 Darin versicherte er – ganz so, wie von L uther im Testament erbeten –, dass er sich um die Hinterbliebenen kümmern werde. Die vier Kinder ( Johannes, Martin, Paul, Margarethe; zwei Töchter, Elisabeth (–3.8.1528) und Magdalena (–20.9.1542), waren inzwischen verstorben) erhielten vom Kurfürsten eine Zuwendung in Höhe von je 500 Gulden. Der Kurfürst ließ sich von seinem Kanzler, dem Juristen Dr. Gregor Brück, ein Rechtsgutachten zu dem Testament anfertigen. Dieses hat Brück mit Datum vom 23. März 1546 vorgelegt.81 Es enthielt selbstverständlich die ganz rechtskonforme Aussage, dass Katharina nicht die Position eines Vormundes für ihre Kinder übernehmen könne, da sie als Frau und Witwe selbst unter Vormundschaft stehe.82 Wörtlich heißt es in Brücks 79 80 81 82
Vgl. Werner Ogris, Dreißigster, in: 2HRG, Bd. 1, Berlin 2008, Sp. 1150. Vgl. Treu, Katharina von Bora, S. 70. Abgedruckt bei Förstemann, Testamente, S. 29–41. Der Sachsenspiegel begründete die zwingende Vormundschaft für Frauen damit, dass im antiken Rom eine Frau namens Calefurnia den Kaiser als Richter desavouiert habe: „Eine Frau kann weder Vorsprecher sein, noch ohne Vormund klagen. Dies hat Calefurnia für alle Frauen verloren, die sich vor dem Kaiser un-
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Gutachten: „Dann nach sächsischen Rechten kann sie nit Vormund sein, dieweil sie bei ihrem Wittwenstand selbst Vormunden bedurftig …“83 (so in Sachsenspiegel-Landrecht I Art. 23 § 2). Katharina bat den Kurfürsten, Vormünder zu bestellen, deren Auswahl sie mitbestimmen wollte. Nach Sachsenspiegel-Landrecht I Art. 44 bestellte der zuständige Richter den Vormund bzw. die Vormünder. Im hier zu betrachtenden Fall übernahm diese Aufgabe der Kurfürst. Er war nach allgemeinem Verständnis der höchste Richter in seinem Kurfürstentum84 und daher auch für solche Fragen zuständig. Kurfürst Johann Friedrich bestellte schließlich als Vormünder für Katharina Luthers jüngeren Bruder85 Jakob (1490–1571) in Mansfeld, den kurfürstlichen Leibarzt Dr. Matthaeus Ratzenberger (1501–1559)86 und den Wittenberger Bürgermeister Ambrosius Reuter (1497–1564). Melanchthon und Cruciger wurden als Mitvormünder für die Kinder eingesetzt.87 Am 11. April 1546, also etwa sieben Wochen nach Luthers Tod, erklärte der Kurfürst das Testament für rechtskräftig. Er machte dabei allerdings die Einschränkung, dass für Katharina und deren Kinder Vormünder eingesetzt werden müssten. Wörtlich heißt es: „Confirmiren und bestätigen dieselbe Verordenung … und wollen, daß die ihres Inhalts so viel vorgenannter seiner nachgelassenen Wittwen Verleibgedingung und gethane Vermächtniß betreffen thut, von den Kindern und ihren von uns verordneten Vormunden … vor kräftig solle gehalten … werden … und … gedachte Wittwe darbei gnädiglich schutzen und handhaben wollen …“.88 Darüber hinaus verhalf der Kurfürst noch im Sterbejahr Luthers der Lutherwitwe zum Ankauf des Rittergutes Wachsdorf.89 Zuvor hatte es der mit Luther befreundete Rechtsprofessor Dr. Sebaldus Münsterer (um 1495–1539)90
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gebührlich aufführte …“ (Sachsenspiegel-Landrecht II Art. 63 § 1). Diese Legende findet sich bereits im römischen Recht (Digesten 3, 1, 1, 5). Vgl. dazu auch Heiner Lück, Der Sachsenspiegel als Kaiserrecht. Vom universalen Geltungsanspruch eines partikularen Rechtsbuches, in: Matthias Puhle/Claus-Peter Hasse (Hg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Von Otto dem Großen bis zum Ausgang des Mittelalters, Bd. 2: Essays, Dresden 2006, S. 263–273, hier: S. 268. Förstemann, Testamente, S. 34. Vgl. dazu Heiner Lück, Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423–1550, Köln/Weimar u. a. 1997, insbesondere S. 91–110 (= Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 17). Sachsenspiegel-Landrecht I Art. 45 § 1 sah für die Witwe einen Vormund aus dem Kreis der nächsten männlichen Verwandten väterlicherseits vor („Schwertmage“). Dafür wäre der bereits erwähnte Schwager Luthers, Hans von Bora, in Frage gekommen. Offenbar wurde hier jedoch der Wunsch Katharinas zugunsten des Bruders ihres verstorbenen Ehemanns berücksichtigt. Zu ihm vgl. Hans-Theodor Koch, Die Wittenberger medizinische Fakultät (1502–1652). Ein biobibliographischer Überblick, in: Stefan Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit, Leipzig 2007, S. 289–348, hier: S. 323 f. (= Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 6). Vgl. Treu, Katharina von Bora, S. 72. Förstemann, Testamente, S. 53. Ca. 5 Kilometer südöstlich von Wittenberg bei Pratau. Zu ihm vgl. Heiner Lück, Juristen um L uther in Wittenberg, in: Helga Schnabel-Schüle (Hg.), Reformation. Historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2017, S. 71–92, hier: S. 82.
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inne, welcher 1539 an der Pest verstorben war.91 Bei diesem Kauf wurde Katharina auch von den Grafen von Mansfeld mit 2000 Gulden unterstützt.92 Die Wirkungen von L uthers zweitem Testament waren damit aber noch nicht beendet. Den weiteren Entwicklungen muss und kann hier nicht nachgegangen werden.93 Katharina wohnte mit ihren Kindern in dem ihnen seit 1532 erblich gehörenden Anwesen in Wittenberg. Angesichts der drohenden Pest, die sich im Frühsommer 1552 in Wittenberg angekündigt hatte, verließ die Mutter mit ihren zwei jüngsten Kindern (Paul, 1533–1593; Margarethe, 1534–1570) im September 1552 Wittenberg und wandte sich Torgau zu.94 Nach Torgau war die Universität bereits im Juli wegen der Pestgefahr ausgewichen. Kurz vor den Toren Torgaus erlitt Katharina mit ihrem Pferdewagen einen Unfall, von dem sie sich nicht wieder erholen sollte. Sie starb am 20. Dezember 1552 in Torgau.
5. Schluss Statt eines Schlusswortes sei eine kleine Reminiszenz an das jüngere deutsche Familienrecht gestattet. Noch bis in die 1990er-Jahre traute der deutsche Bundesgesetzgeber ledigen Müttern nicht zu, sich selbst hinreichend für die Rechte ihrer Kinder einzusetzen. Von Amts wegen wurde ihnen ein Amtspfleger zugewiesen (§ 1706 a. F. BGB). Bei der Wiederherstellung der Rechtseinheit Deutschlands am 3. Oktober 1990 wurde die Regelung nicht in die neuen Bundesländer übernommen.95 Hier gab es diese schon seit 1950 nicht mehr. Erst 1998, d. h. 49 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, wurde das antiquierte Rechtsinstitut der Amtspflegschaft, das in unserem Kontext an die Maßnahmen des sächsischen Kurfürsten für die vormundbedürftige Katharina Luther und damit an Luthers Testament erinnert, endlich auch in den alten Bundesländern abgeschafft.
91 92 93 94 95
Vgl. Förstemann, Testamente, S. 39. Ebd., S. 63. Vgl. dazu ausführlich Puppel/Buchholz, Rechtsstellung, S. 38–47, sowie Kramer, Katharina von Bora. Treu, Katharina von Bora, S. 78. Vgl. auch Heiner Lück, Beginn und Ende der gesetzlichen Amtspflegschaft nach dem Einigungsvertrag, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 38 (1992), S. 886–892.
Zur Problematik der Rechtswidrigkeit in L uthers Testament
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Anhang uthers Testament, Wittenberg, 6. Januar 1542 L (Text bei Tibor Fabiny, Martin L uthers letzter Wille. Das Testament des Reformators und seine Geschichte, Berlin 1983, S. 35–37) Ich Martinus Lüther Doctor e[t]c bekenne mit dieser meiner eigen Handschrifft, das ich meiner lieben vnd trewen Hausfrawen, Katherin gegeben habe züm leibgedinge (oder wie man das nennen kan) aüff yhr lebelang damit sie yhres gefallens und zü yhrem besten gebaren müge. Vnd gebe yhr das ynn krafft dieses brieües, gegenwertiges vnd heütiges tages Nemlich, das gütlin Zülstorff, wie ich das selb gekaüfft vnd zügericht habe, aller dinge wie ichs bis daher gehabt habe, Züm andern das Haüs Brüno zur wonüng, so ich vnter meins Wolffs namen gekaüfft habe Züm dritten, die Becher vnd kleinot, als ringe, ketten, Schenck groschen, gülden vnd silbern welche vngeferlich solten bey taüsent gülden werd sein Das thü ich darümb Erstlich, das sie mich als ein from, trew, ehlich gemalh, allzeit lieb, werd vnd schon gehalten. Vnd mir dürch reichen Gottes segen fünff lebendige Kinder (die noch für handen, Gott gebe lange) geborn vnd erzogen hat Züm andern, das sie die Schüld so ich noch schüldig bin (wo ich sie nicht bey leben ablege) aüff sich nemen vnd bezalen sol, Welcher mag sein ongefer mir bewüst ccccl fl. [Gulden, H. L.] Mügen sich villeicht wol mehr finden Züm dritten vnd aller meist darümb, das ich will sie müsst nicht den Kindern, sondern die Kinder sollen yhr ynn die hende sehen, sie ynn ehren halten vnd vnterworffen sein, wie Gott geboten hat. Denn ich wol gesehen vnd erfaren, wie der Teüffel wider die gebot die kinder hetzet vnd reitzet, wenn sie gleich from sind, dürch bose vnd neidissche Meüler sonderlich wenn die müttere widwen sind, Vnd die Söne ehefrawen und die töchtere ehemenner kriegen, vnd widerumb Socrüs Nürüm Nürüs Socrüm96
96 Die Schwiegermutter [wird gegen] die Schwiegertochter [stehen]; die Schwiegertochter [gegen] die Schwiegermutter (Lukas-Evangelium 12, 53).
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Denn ich halt, das die Mütter werde yhrer eigen Kinder der beste fürmünde sein, vnd solch gütlin vnd leibgedinge nicht zü der Kinder schaden oder nachteil, sondern zü nütz vnd besserüng braüchen, als die yhr fleisch vnd blüt sind vnd sie vnter yhrem hertzen getragen hat Vnd ob sie nach meinem tode, genottigt oder sonst verürsacht würde (denn ich Gott ynn seinen wercken vnd willen, kein Zil setzen kan) sich zu verendern, so trawe ich doch vnd will hiemit solchs vertrawet haben, sie werde sich mütterlich gegen vnser beider kinder halten Vnd alles trewlich, es sey leibgedinge oder anders, wie recht ist, mit yhnen teilen Vnd bitte aüch hiemit vntertheniglich meinen gnedigsten herrn Hertzog Johans Fridrichen Kürfürsten e[t]c s[einer] k[uer] f[ürstlichen] g[naden] wolten solche begabüng oder leibgedinge gnediglich schützen vnd handhaben. Auch bitte ich alle meine güten freünde, wolten meiner lieben kethen zeügen sein vnd sie entschuldigen helffen, wo ettliche vnnütze meüler sie beschweren oder verünglimpfen wolten, als solt sie ettwa einer Barschafft hinder sich haben die sie den armen Kindern entwenden oder vnterschlahen würde. Ich bin des zeüge, das da keine Barschafft ist, on die Becher vnd kleinod, droben ym leibgedinge erzelet. Vnd zwar solts bey yderman die rechnung offentlich geben, weil man weis, Wie viel ich einkomens gehabt von M[einem] g[nädigsten] H[errn] herrn, vnd sonst nicht einen heller noch kornlin von yemand einzükomen gehabt, on was geschenk ist gewesen, welchs droben vnter den kleinoten. Züm teil aüch noch ynn der schuld steckt vnd zü finden ist Vnd ich doch von solchem einkomen vnd geschenck so viel gebawet, gekaüff, grosse vnd schwere haüshaltüng gefürt Das ichs müs neben andern selbs für einen sonderlichen wünderlichen segen erkennen, das ichs habe konnen erschwingen, vnd nicht wunder ist das keine Barschafft, sondern das nicht mehr schüld da ist Dis bitte ich darümb denn der Teüffel, so er mir nicht kündte neher komen, solt er wol meine kethe allein der vrsachen, allerley weise süchen, das sie des Mannes Doctor Martinüs eheliche haüsfraw gewest vnd (Gott lob) noch ist Zü letzt bitte ich aüch ydermann, Weil ich ynn dieser begebüng oder leibgedinge, nicht braüche der jüristischen forme vnd worter (dazü ich vrsachen gehabt) Man wolle mich lassen sein die person, die ich doch ynn der warheit bin Nemlich offentlich, vnd die beide ym himel aüff erden, aüch ynn der Helle bekand, ansehens oder aütoritet gnüg hat der man trawen vnd gleüben mag mehr denn keinem Notario. Denn so mir verdampten, armen vnwirdigen elenden sünder, Gott der Vater aller Barmhertzickeit, das Eüangelion seines lieben Sons vertrawet, dazu mich aüch trew vnd warhafftig drinnen gemacht, bis
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her behalten vnd fünden hat, Also das aüch viel ynn der welt dasselb dürch mich angenomen, Vnd mich für einen lerer der Warheit halten, vndgeacht des Bapsts bann, keisers, konige, fürsten, pfaffen, ia aller teüffel zorn Sol man ia viel mehr mir hie ynn dieser geringen sachen gleüben, sonderlich weil hie ist mein hand, fast wol bekand Der hoffnüng, Es solle gnüg sein wenn man sagen vnd beweisen kan, dis ist D Martinüs Luthers (der Gottes Notarius vnd zeüge ist ynn seinem Eüangelio) ernstliche vnd wolbedachte meinüng mit seiner eigen hand vnd siegel zu beweisen. Geschehen vnd gegeben Am tage Epiphanie 1542 M Luther vts Ego philippus Melanthon testor hanc esse et sententiam ac voluntatem te manum Reuerendi domini doctoris Martini Lutheri praeceptoris et patris nostri carissimi. Et ego Caspar Creuciger d. testor hanc esse et sententiam et voluntatem et manum Reuerendi d. doctoris Martini L utheri carissimi patris nostri. Quare et ipse mea manu subscripsi. Et ego Johannes Bugenhagius Pomeranüs d. idem testor mea manü.
Anne Conrad
Das helle Licht der Wahrheit? Klosteraustritte in der Reformationszeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive
Marie Dentière (1490/95–1561)1, ehemalige Priorin eines Augustinerinnenklosters und eine der Reformatorinnen der ersten Generation, versuchte im Jahr 1535 die Genfer Klarissen mit folgenden Worten davon zu überzeugen, ihr Kloster zu verlassen und sich der Reformation anzuschließen: „Ich bin zum hellen Licht der Wahrheit gelangt … Deshalb habe ich ohne langen Verzug dem Schatz etwa 500 Dukaten entnommen und mich aus diesem unglückseligen Dasein zurückgezogen, und durch die Gnade des allein wahren Gottes habe ich schon fünf schöne Kinder und lebe auf heilsame Art“.2 In diesem Zitat spiegelt sich nicht nur wider, was die Motivation für einen Klosteraustritt sein konnte, nämlich die Überzeugung von der ‚erhellenden Wahrheit‘ der reformatorischen Lehre, sondern auch, was die Realität des neuen Lebensstandes ausmachte: die Sorge um den Lebensunterhalt – „ohne langen Verzug“ hatte sich Marie Dentière aus der Kasse, über die sie als Priorin vermutlich verfügen konnte, bedient – und eine neue Bewertung der Sexualität – die fünf „schönen“ Kinder als Alternative zum zölibatären Klosterleben. Damit verbunden war eine existenzielle Neuorientierung: die Abkehr vom „unglückseligen“ Klosterleben hin zu einem Leben auf „heilsame Art“ – mit weitreichenden Folgen. Mönche und Nonnen, die legal oder heimlich ihr Kloster verließen, hatte es auch in der vorreformatorischen Zeit schon gegeben, doch in den 1520er-Jahren war es, motiviert durch Martin L uthers Schriften „Iudicium de votis“ und „De votis monasticis“ von
1 Vgl. Wilma Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst. Reformatorische Theologie in Texten von Frauen (1523–1558), St. Ingbert 2017, S. 156–159 (= SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung 21); Christina L. Griffiths, Marie Dentière, URL: http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=41 (Stand 27.3.2019). 2 Zitiert nach: Helmut Feld (Hg.), Jeanne de Jussie, Kleine Chronik. Bericht einer Nonne über die Anfänge der Reformation in Genf, übersetzt von Helmut Feld, Mainz 1996, S. 145 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 40).
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1521 und 15223, zu einer „regelrechten Austrittsbewegung“4 gekommen, die in ihren langfristigen Auswirkungen nicht hoch genug einzuschätzen ist.5 Sie verband sich seit Mitte der 1520er-Jahre mit organisierten Klosterauflösungen, die von den Reformatoren vorangetrieben, aber auch durch ökonomische Interessen der Landesherren befördert wurden6 und in „den meisten Territorien Mittel-, Ost- und Norddeutschlands … das Klosterwesen zum Erliegen“7 brachten. Inzwischen haben sich unsere Kenntnisse über die Modalitäten der Klosterauflösungen in der Reformationszeit deutlich erweitert,8 und es hat sich gezeigt, wie vielschichtig die Entwicklungen in den einzelnen Territorien und Klöstern waren. Neben den vergleichsweise gut organisierten Auflösungs- und Austrittsverfahren mit entsprechenden Abfindungsregelungen stehen die vielen individuellen Schicksale, die zeigen, wie schwierig sich der Übergang vom alten ins neue Leben im Einzelnen gestaltete. Dies gilt besonders für die riskanten Klosteraustritte und -fluchten in den frühen 1520er-Jahren. Hier wird in markanter Weise erkennbar, „welche existenziellen Gewissenskonflikte, Identitätskrisen 3 Enno Bünz, Schicksale von Mönchen und Nonnen in der Reformationszeit. Ihre Zukunftsperspektiven nach Aufhebung der Klöster im Kurfürstentum Sachsen, in: Werner Greiling/Armin Kohnle u. a. (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620, Köln/Weimar u. a. 2017, S. 81–108, hier: S. 87 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 4); Ders., Gezwungene Mönche, oder: Von den Schwierigkeiten, ein Kloster wieder zu verlassen, in: Ders./Stefan Tebruck u. a. (Hg.), Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar u. a. 2007, S. 427–446, hier: S. 439 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, Kleine Reihe 24); Stephen E. Buckwalter, Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformationszeit, Gütersloh 1998, S. 102–109 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 68). 4 Antje Rüttgardt, Klosteraustritte in der frühen Reformation. Studien zu Flugschriften der Jahre 1522 bis 1524, Gütersloh 2007, S. 11 (= Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 79). 5 Mehrere Studien werfen ein Licht auf die Breitenwirkung des Diskurses und geben Auskunft über die Verhältnisse in einzelnen Konventen. Vgl. dazu Johannes Schilling, Klöster und Mönche in der hessischen Reformation, Gütersloh 1997; Rüttgardt, Klosteraustritte; Barbara Steinke, Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation, Tübingen 2006 (= Spätmittelalter und Reformation, Neue Reihe 30); Sabine Zinsmeyer, Frauenklöster in der Reformationszeit. Lebensformen von Nonnen in Sachsen zwischen Reform und landesherrlicher Aufhebung, Leipzig 2016 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 41); Anna Sauerbrey, Die Straßburger Klöster im 16. Jahrhundert. Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechtergeschichte, Tübingen 2012 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 69); Sabine Klapp, Das Äbtissinnenamt in den unterelsässischen Frauenstiften vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Umkämpft, verhandelt, normiert, Berlin/Boston 2012 (= Studien zur Germania Sacra, Neue Folge 3). Letztere lässt insbesondere in einem prosopographischen Anhang gut erkennen, wie stark die in den Stiften angesiedelten Kanonissen und Kanoniker nicht nur die reformatorischen Ideen aufnahmen, sondern auch durch eine Heirat den Übergang ins neue Leben demonstrierten. 6 Vgl. Bünz, Schicksale, S. 87 f. 7 Bünz, Gezwungene Mönche, S. 430. Zum Werdegang der Ordensgemeinschaften, die die Reformation überstanden, vgl. auch Friedhelm Jürgensmeier/Regina Elisabeth Schwerdtfeger (Hg.), Orden und Klöster im Zeitalter von Reformation und katholischer Reform 1500–1700, 3 Bde., Münster 2005–2007 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 65–67). 8 Vgl. v. a. Bünz, Schicksale; Schilling, Klöster; Sauerbrey, Straßburger Klöster; Zinsmeyer, Frauenklöster.
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und Versorgungsängste mit dem Austritt aus dem Kloster einhergingen, aber auch, welche befreienden Lebensperspektiven sich dadurch eröffnet haben mögen“9. Im Folgenden wird dies an teils prominenten, teils weniger bekannten Beispielen illustriert, fokussiert auf die unmittelbare Zeit, in der diese Lebensentscheidung gefällt und vollzogen wurde, und auf die Konsequenzen, die sich daraus ergaben. Im Anschluss daran soll aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive noch einmal nach den von Marie Dentière bereits genannten drei Aspekten gefragt werden.
1. Martin Luther, Katharina von Bora und der Einfluss der Wittenberger Reformation Martin Luthers (1483–1546) Haltung zum Ordensleben war zunächst weniger eindeutig, als es seine Schriften seit den 1520er-Jahren erwarten lassen.10 1518 hatte ihn sein Ordensoberer Johann von Staupitz (1460–1524) von seinem Ordensgelübde entbunden, wobei allerdings speziell die Gehorsamsverpflichtung im Blick war; das Keuschheitsgelübde und Luthers ‚Identität‘ als Mönch standen zunächst weder für Staupitz noch für L uther in Frage.11 Abgesehen von seinem Wartburg-Aufenthalt trug Luther weiterhin seinen Mönchshabit, und weiterhin blieb er im ‚Schwarzen Kloster‘ der Augustinereremiten auch nach Auflösung der Mönchsgemeinschaft wohnen12, nun als von der Stadt bezahlter Prediger.13 9 Bünz, Schicksale, S. 108. 10 In seinen Frühschriften vertritt L uther noch eine konventionell affirmative Sicht des Mönchtums. Sofern das Ordensgelübde freiwillig abgelegt wurde, steht für ihn der „verpflichtende Charakter des Gelübdes noch fraglos fest. Ein geleistetes Gelübde darf auf keinen Fall gebrochen werden.“ (Bernhard Lohse, Mönchtum und Reformation. L uthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, Göttingen 1963, S. 327). Besonderen Wert misst er dabei dem Keuschheitsgelübde zu (vgl. ebd., S. 326). Zum Einfluss von Luthers zwischen 1519 und 1523 verfassten Schriften auf die Geschichte der Klosterauflösungen vgl. Schilling, Klöster, S. 128–137 und Zinsmeyer, Frauenklöster, S. 60 f. Grundsätzlich befürwortete L uther „einen freiwilligen und überdachten Weggang“ (ebd., S. 61) aus dem Kloster, ohne allzu großes Aufsehen zu erregen. 11 Vgl. Lyndal Roper, Der Mensch Martin Luther. Die Biographie, Frankfurt a. M. 2016, S. 157. Hintergrund war, dass Staupitz im Auftrag des Generaloberen L uther unter Druck setzen sollte, seine Thesen zu widerrufen. Staupitz, der keinen Zwang ausüben wollte, entband L uther von den Gelübden und damit von seiner Gehorsamspflicht gegenüber dem Orden, so dass er sich ‚rechtmäßig‘ dem Widerruf entziehen konnte. 12 Ebd., S. 354. Im Zuge der reformatorischen Bewegung in Wittenberg hatte sich der Konvent 1521 aufgelöst. 13 Luther hatte Gegenstände aus dem Kloster übernommen, die seiner Ansicht nach „weniger als 20 Gulden wert waren“; der Stadtrat von Wittenberg habe dafür 15 Jahre lang sein „Predigergehalt von neun alten Schock Groschen“ einbehalten; jährlich brauche ein Mensch mindestens 31 Gulden zum Lebensunterhalt. Zitiert nach Hendrik Mäkele, Martin Luther und das Geld, in: Elisabeth Doerk (Hg.), Reformatio in Nummis. L uther und die Reformation auf Münzen und Medaillen. Katalog zur Sonderausstellung auf der Wartburg, 4. Mai bis 31. Oktober 2014, Regensburg 2014, S. 32–39, hier: S. 34.
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Ungeachtet der intensiven Bemühungen, die er an den Tag legte, um ehemalige Nonnen mit passenden Männern bzw. seine Kleriker-Freunde mit passenden Frauen zusammenzubringen, lehnte er die Ehe für sich selbst zunächst ab.14 Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass er seinen Freund und Mentor Johann von Staupitz nicht vor den Kopf stoßen wollte.15 Erst nach dessen Tod im Jahr 1524 mochte er sich frei gefühlt haben, das Keuschheitsgelübde ostentativ zu brechen. 1525 heiratete er Katharina von Bora (1499–1552). Katharina von Bora16 gehörte zu jenen Zisterzienserinnen aus dem Kloster Mariathron bei Nimbschen im Kurfürstentum Sachsen, deren Flucht den spektakulären Auftakt für die Flucht vieler weiblicher Klosterinsassen bildete.17 Zu neunt waren sie 1523 mit Hilfe des Torgauer Ratsherrn Leonhard Koppe und zwei weiteren Fluchthelfern heimlich nach Wittenberg geflohen, wo sie Unterstützung im Freundeskreis Luthers fanden. Nur wenige Tage danach veröffentlichte Martin L uther die Schrift „Ursach und anttwortt, das junkgfrawen kloester gottlich verlassen mugen“ (1523), in der er die Geschichte der Flucht beschrieb und auch die Namen der geflohenen Nonnen nannte (vgl. Tafel 13). Die Schrift verbreitete sich schnell und bestärkte ihrerseits wieder andere Nonnen in ihrem Austrittswillen.18 Der weitere Werdegang der Nimbscher Nonnen kann als paradigmatisch für den Lebensweg ehemaliger Nonnen gelten: Vier von ihnen heirateten – die bekannteste unter ihnen: Katharina von Bora, die mit Luther später sechs Kinder hatte –, vier weitere gingen in ihre Ursprungsfamilien zurück, und nur eine, Magdalena von Staupitz (1485–1548)19, als Schwester von L uthers Mentor und Beichtvater Johann von Staupitz die zweite prominente Frau unter ihnen, blieb selbstständig und konnte ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten.20 Hier deutet sich bereits ein Generationenunterschied an21, der sich so ähn14 Roper, Mensch Martin Luther, S. 353 und S. 357 f. 15 Ebd., S. 358. 16 Vgl. die Beiträge in: Evangelisches Predigerseminar Lutherstadt Wittenberg/Peter Freybe (Hg.), Mönchshure und Morgenstern. Katharina von Bora, die Lutherin – im Urteil der Zeit als Nonne, eine Frau von Adel, als Ehefrau und Mutter, eine Wirtschafterin und Saumärkterin, als Witwe. Wittenberger Sonntagsvorlesungen, Wittenberg 1999. 17 Vgl. dazu die Hinweise und Beispiele bei Sabine Zinsmeyer, Fliehen oder bleiben? Nonnen in der Reformationszeit, in: Martina Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement, Leipzig 2016, S. 287–302, hier: S. 290 f. (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 55). 18 Vgl. Zinsmeyer, S. 294 f. 19 Vgl. Doris Riffelmann, Magdalena von Staupitz, URL: http://www.frauen-und-reformation.de/index. php?s=bio&id=114 (Stand 27.3.2019). 20 Vgl. Bünz, Schicksale, S. 99; vgl. ausführlich Anne-Katrin Köhler, Geschichte des Klosters Nimbschen. Von der Gründung 1243 bis zu seinem Ende 1536/1542, Leipzig 2003, S. 117–134 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 7). 21 Vgl. Bünz, Schicksale, S. 100. Zinsmeyer kann für das Freiberger Magdalenenkloster feststellen, dass sich vor allem die jüngeren Nonnen dem L uthertum zuwandten, während die älteren zum Bleiben im alten Glauben tendierten; vgl. Zinsmeyer, Frauenklöster, S. 170.
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lich auch sonst wiederfindet: Jüngere Frauen im heiratsfähigen Alter wie Katharina von Bora konnten sich mit ihrer Rolle als Ehefrau, Mutter und Leiterin eines großen Hauses offenbar gut identifizieren, während dies für ältere Frauen wie Magdalena von Staupitz weniger naheliegend war. Hinzu kam in ihrem Fall womöglich ihr Respekt vor dem älteren Bruder, für den es „ziemlich beschämend gewesen sein dürfte“22, dass seine Schwester als geflohene Nonne öffentlich bekannt war. Ab 1529 arbeitete Magdalena von Staupitz als Lehrerin an der neu eingerichteten Mädchenschule in Grimma und wurde durch die Stadt finanziert. Erst später heiratete sie Tiburcius Geuder aus Grimma, hatte aber keine Kinder und leitete auch als Ehefrau noch die Schule bis zu ihrem Tod. Zum weiteren Umfeld Martin L uthers gehören auch jene zwei Frauen, von denen Druckschriften zu ihrer Klosterflucht erhalten sind: Florentina von Oberweimar (um 1506–) und Ursula von Münsterberg (um 1491/95–1534). Florentina von Oberweimar23, von der kaum mehr als ihre Rechtfertigungsschrift bekannt ist, war schon als Kind in das Zisterzienserinnenkloster Neu-Helfta gebracht worden. Nach einem vergeblichen Fluchtversuch und misslungenen Versuchen, Kontakt zu möglichen Fluchthelfern aufzunehmen, gelang es ihr 1524 endlich zu fliehen. Unklar ist, ob sie sich danach tatsächlich bei Luther aufhielt oder ob sie bei ihren Verwandten unterkam.24 Bekannt wurde sie durch ihre noch im gleichen Jahr verfasste Schrift „Vnterricht der erbarn und tugentsamen Jungfrawen F. v. obern weymar / wie sie aus dem kloster durch Gottes hülff komen ist“, in der sie die vergangenen Ereignisse beschrieb und ihre Flucht begründete. Martin Luther gab ihre Schrift unter dem Titel „Eyn geschicht wie Got eyner Erbarn kloster Jungfrawen ausgeholffen hat. Mit eynem Sendebrieff M. Luthers an die Graffen zu Manßfelt“ öffentlichkeitswirksam heraus.25 Ursula von Münsterberg26, Herzogin von Münsterberg und Gräfin von Glatz, lebte als Nonne im Magdalenenkloster in Freiberg in Sachsen, wo in den 1520er-Jahren die lutherischen Schriften schnell Eingang fanden. Die Resonanz im Kloster war geteilt; etwa die Hälfte, vor allem die jüngeren Nonnen, schloss sich den reformatorischen Ideen an. Auch Ursula von Münsterberg, die im Kloster aufgrund ihrer Herkunft etliche Privilegien genoss, hatte sich schon 1521 der lutherischen Lehre zugewandt und seither um die Durchsetzung der Reformation im Kloster bemüht. Als sie ihre Forderungen nicht 22 Roper, Mensch Martin Luther, S. 683, Anm. 4. 23 Vgl. Anne Conrad, Oberweimar, Florentina von (um 1506), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittealter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/ Weimar u. a. 2016, S. 285–288; Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 256–315; Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst, S. 100–107. 24 Vgl. Conrad, Oberweimar, S. 286. 25 Vgl. ebd., S. 288. 26 Vgl. Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst, S. 108–124; Zinsmeyer, Frauenklöster, S. 136–170 und S. 305–308.
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Abb. 12: Holzschnitt mit Darstellung der Klosterflucht von Florentina von Oberweimar, Titelbild zu ihrer Flugschrift: Eynn geschicht wye Got // eyner Erbarn kloster Jungfrawen auß= // geholffen hat. // Mit eynem Sendbrieff D. Mar. Lutthers. // An dye Graffen zuo // Manßfelt, Wittenberg. 1524
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erfüllt sah, entschloss sie sich 1528, das Kloster zu verlassen. Sie wandte sich an Luther um Unterstützung und floh mit zwei weiteren Nonnen, Dorothea Tanbergin aus Freiberg und Margaretha Volckmarin aus Leipzig27, nach Wittenberg, wo sie zunächst im Hause L uthers aufgenommen wurde. Nach dem Vorbild Florentina von Oberweimars verfasste auch sie eine Flugschrift, in der sie ihre Flucht rechtfertigte.28 Die Jahre danach waren „von Mittellosigkeit, Krankheit und Heimatlosigkeit gezeichnet“29. Seit Anfang des Jahres 1529 lebte sie in Marienwerder im Haus ihrer Schwester, ebenfalls einer ehemaligen Nonne, die mit einem ehemaligen Geistlichen verheiratet war. Als noch im gleichen Jahr ihre Schwester im Kindbett starb, ein paar Monate später auch ihr Schwager, nahm Ursula von Münsterberg ihre neugeborene Nichte zu sich und ging nach Königsberg, kurz darauf zu Verwandten nach Liegnitz,30 bemühte sich dann aber um die Aufnahme in das evangelische Stift Gernrode, wobei unklar ist, ob ihr dies gelang. Jedenfalls blieb Ursula von Münsterberg zeitlebens unverheiratet und „auf die Unterstützung durch Freunde und Verwandte angewiesen“31. Seit 1534 war sie krank und lebte in desolaten finanziellen Verhältnissen.32 In ihrem Testament schreibt sie, dass sie über keine finanziellen Mittel verfüge33 und ihre getragenen Kleider und ihren Schmuck ihrer langjährigen Gefährtin Dorothea Tanbergin vermache, die ebenfalls mittellos sei. Aus anderen Quellen ist bekannt, dass Ursula von Münsterberg Bücher besaß, was im Testament aber nicht erwähnt wird.34 Über ihren Tod ist nichts weiter bekannt. Einen schwierigen Lebensweg hatte auch Ursula Topler35, Dominikanerin im Kloster Engelthal bei Nürnberg, das sie 1524 aus lutherisch-reformatorischer Überzeugung verließ. Offenbar auf Druck ihrer Familie heiratete sie im gleichen Jahr den ehemaligen Dominikaner Jobst Kern, weigerte sich dann aber aus „Gewissensgründen“ und mit Verweis auf ihr klösterliches Keuschheitsgelübde, die Ehe zu vollziehen. Im Sommer 1525 trennte sie sich von ihrem Mann, der ihr zuvor „Gewalt angetan“ hatte, wurde von ihrer Familie verstoßen und nach einigen Verhandlungen schließlich wieder im Engelthaler Kloster aufgenommen.36 Die Quellenüberlieferung beschränkt sich auf drei Briefe. Ursula selbst schrieb noch 1525 an ihren Ehemann, um ihm zu erklären, dass sie sich 27 Vgl. Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 52. 28 Interessant ist die „Gegenschrift“ der Nonnen dazu, die allerdings nur im Manuskript erhalten ist und nie publiziert wurde. Transkription des Textes in: Zinsmeyer, Frauenklöster, S. 340–360. 29 Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 55. 30 Vgl. ebd. 31 Ebd., S. 52, Anm. 177. 32 Ebd. 33 Ebd.: „das ich keynen heller an gelde nach mir lasse“. 34 Vgl. ebd. 35 Ihre Lebensdaten sind unbekannt. 36 Steinke, Paradiesgarten, S. 268; vgl. Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst, S. 125–128; Sauerbrey, Straßburger Klöster, S. 294 f.
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durch ihr Keuschheitsgelübde gebunden fühle. Sie wolle ihr „Seelenheil nicht dadurch aufs Spiel … setzen, daß eine nachrangige Bindung an einen Menschen die vorrangige an Gott stört oder ihr gar im Wege steht“37. Der Vollzug der Ehe erscheine ihr als „Verrat an Gott“38. Überliefert sind zudem zwei weitere Briefe von Nürnberger Frauen, einer adressiert an Ursula Topler, der andere an ihren Mann, die von Unverständnis gegenüber der Auffassung Toplers zeugen.39 Auch von zwei Männern im näheren Umfeld Luthers sind Rechtfertigungsschriften über ihren Klosteraustritt überliefert. Johannes Schwan (um 1485–um 1526)40, Franziskaner in Basel, lehrte seit 1522 in Wittenberg an der Universität und verfasste 1523 eine Schrift über seinen Klosteraustritt, in der er seinen Vater um Verständnis bat und darum, ihm beim Aufbau einer „neuen ‚christlichen‘ Existenz außerhalb des Kloster behilflich zu sein“41. 1524 heiratete er Margarethe Prüss42, die Witwe des Druckers Balthasar Beck in Straßburg, bekam dadurch Bürgerrecht in Straßburg und lebte als Drucker in sicheren Verhältnissen. Mit Margarethe Prüss hatte er eine Tochter. François Lambert (1487–1530)43, Franziskanerobservant in Avignon, ging 1523 nach Wittenberg und lebte dort im Schwarzen Kloster. Im gleichen Jahr publizierte er eine lateinische Flugschrift zur Begründung seines Klosteraustritts44 sowie, ebenfalls in Latein, eine kritische Auseinandersetzung mit der franziskanischen Ordensregel, zu der Luther ein Vorwort schrieb. 1523 heiratete er die Tochter eines Bäckers45, hatte aber Probleme, den gemeinsamen Lebensunterhalt zu bestreiten. 1524 versuchte er zunächst vergeblich, in Metz Fuß zu fassen, um die Reformation in Frankreich voranzutreiben, konnte dann aber in Straßburg das Bürgerrecht erwerben. Hier geriet er jedoch mit den Reformatoren wie auch dem städtischen Rat in Konflikt, ging daher 1526 nach Hessen und lehrte bis zu seinem Tod an der Universität in Marburg. Von ihm sind zwanzig gedruckte Werke, vor allem exegetische Texte, erhalten.46 37 Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst, S. 127. 38 Ebd. 39 Vgl. ebd., S. 126. 40 Vgl. Johannes Schilling, Johannes Schwan aus Marburg. Sein Leben und seine Schriften, in: Jörg Hau stein/Harry Oelke (Hg.), Reformation und Katholizismus. Beiträge zu Geschichte, Leben und Verhältnis der Konfessionen. Festschrift für Gottfried Maron, Hannover 2003, S. 141–177 (= Reformation und Neuzeit 2). 41 Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 38; Schwan verfasste noch eine weitere klosterkritische Schrift. 42 Zu Margarethe Prüss vgl. C. Arnold Synder/Linda A. Huebert Hecht (Hg.), Profiles of Anabaptist Women. Sixteenth Century Reforming Pioneers, Waterloo/Ontario 1996, S. 256–272 (= Studies in Women and Religion 3). 43 Vgl. Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 45–48; Gerhard Müller, Lambert von Avignon, Franz (1487–1539), in: Ders. (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 20, Berlin/New York 1990, S. 415–418. 44 Vgl. Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 45. 45 Vgl. ebd., S. 47. 46 Vgl. ebd., S. 48.
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2. Martin Bucer, Elisabeth Silbereisen und die Geschwister Blarer Martin Bucer (1491–1551) gehört wie Martin Luther zu den Protagonisten der Reformation. Auch er war ein ehemaliger Mönch. 1508 war er ins Dominikanerkloster im elsässischen Schlettstadt eingetreten, 1518 hatte er sich der Reformation zugewandt und 1520 beschlossen, aus dem Kloster auszutreten, wobei er den rechtlich vorgesehenen Weg einschlug und bei der Päpstlichen Pönitentiarie um Dispens von seinen Gelübden bat.47 Mit Unterstützung einflussreicher Freunde48 erreichte er 1521, dass er diese erhielt und als ‚Weltpriester‘ weiter tätig sein konnte, zunächst am Hof Friedrichs von der Pfalz (1596–1632), ab Mai 1522 dann als Prediger in Landstuhl.49 Zum Bruch mit der Kirche und damit auch zu existenziellen und finanziellen Unsicherheiten kam es erst, nachdem er im Sommer 1522 die ehemalige Nonne Elisabeth Silbereisen (1495–1541) geheiratet hatte. Elisabeth Silbereisen gehörte ebenfalls zur jüngeren Generation der Reformatorinnen. Sie war nach dem frühen Tod ihrer Eltern 1511 von ihren Verwandten ins Benediktinerinnenkloster Lobenfeld „gedrängt“50 worden, wo sie ein „ansehnliches Vermögen“ als Mitgift eingebracht habe und elf Jahre geblieben sei.51 Im Kloster ging es ihr jedoch nicht gut, sie war häufig krank und mehrfach zur Behandlung bei Ärzten unterwegs, so auch beim Stadtarzt in Worms Theobald Fettich, wo sie vermutlich Martin Bucer kennenlernte. Details ihres Weggangs aus dem Kloster sind unbekannt, nur dass 47 Zu den kirchenrechtlichen Gegebenheiten vgl. Bünz, Gezwungene Mönche, S. 429–431. Das Professgelübde war rechtlich verbindlich und konnte nur durch eine Dispens, die beim Papst oder bei der päpstlichen Pönitentiarie zu beantragen war, revidiert werden. Ein Mönch war nach abgelegter Profess „nicht mehr besitzfähig, nicht mehr erbfähig und konnte fortan keine öffentlichen Ämter bekleiden“ (ebd., S. 429). Wer also das Kloster aus welchen Gründen auch immer ohne Dispens verließ, war kirchlich und gesellschaftlich ausgegrenzt und musste sich um Rehabilitation bemühen. Dispensiert wurde vor allem dann, wenn nachweislich die Profess unter Zwang abgelegt worden war. Zur Praxis in den Frauenklöstern vgl. Zinsmeyer, Fliehen oder bleiben, S. 292 f., sowie Eva Schlotheuber, Per vim et metum. Die bitteren Klagen der Mädchen und Frauen an der römischen Kurie über ein erzwungenes Professgelübde, in: Andreas Meyer (Hg.), Kirchlicher und religiöser Alltag im Spätmittelalter. Akten der internationalen Tagung in Weingarten, 4.–7. Oktober 2007, Ostfildern 2010, S. 165–176 (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 69). 48 Unterstützung erhielt er unter anderem durch Ulrich von Hutten, Franz von Sickingen und Friedrich von der Pfalz, an dessen Hof er zunächst als Kaplan eine Anstellung fand. Im Anschluss an die päpstliche Dispens (vom 20.2.1521) urteilte am 29.4.1521 das geistliche Gericht zu Bruchsal: „Dass Herr Martin Butzer in Anbetracht des Inhalts des apostolischen Breves, durch die Regeln und Statuten des von Menschen gestifteten Predigerordens, nicht verpflichtet und durch ihre Regular-Observanz weder im Allgemeinen, noch im Einzelnen gebunden werde, sondern in den Weltpriesterstand zurücktreten und darin bleiben und streiten, und geistliche Pfründen, mit oder ohne Seelsorge, annehmen könne, wenn kein anderes kanonisches Hindernis im Wege stehe.“ Zitiert nach Doris Ebert, Elisabeth Silbereisen. Bürgerstochter, Klosterfrau, Ehefrau des Reformators Martin Bucer. Familie und Lebensstationen, Buchen-Walldürn 2000, S. 47. 49 Vgl. ebd., S. 47 f. 50 Laut Martin Bucer wurde sie „mit ungewöhnlichen Listen und Tricks ihres väterlichen und mütterlichen Erbes wegen ins Kloster gedrängt“, Zitat ebd., S. 34. 51 Ebd., S. 38.
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Abb. 13: Ambrosius Blarer von Giersberg, Kupferstich von Hendrik Hondius dem Älteren (1573–1650), [1599/1604]
sie, nach Darstellung der Lobenfelder Priorin, „ohne unser aller Willen und Wissen zu nachtschlafener zeit aus dem Kloster genommen“52 wurde. Belegt ist dann nur die Hochzeit mit Martin Bucer, die beide zunächst aber noch geheim hielten. Es folgten häufige Ortswechsel und die Exkommunikation durch den Speyerer Bischof nach einer Anklage aus Weißenburg. Seit Mai 1523 lebten Bucer und Silbereisen in Straßburg, zunächst bei Bucers Vater, dann bei Matthäus (1477–1548) und Katharina Zell (1498–1562).53 Als Bucer in Straßburg offiziell seine Ehe anzeigte, provozierte dies heftigen Protest und Polemik.54 Seitens des Bischofs wurden ihm „Predigt und geistliche Handlungen … untersagt“55, auch der Rat hatte Bedenken, weil es Unruhe in die Stadt bringe, wenn ein ehemaliger Mönch, der mit einer ehemaligen Nonne verheiratet sei, predige. Unterstützung erhielt er von Matthäus Zell. Durch dessen Vermittlung konnte 52 53 54 55
Zitat ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 57 f. Vgl. Buckwalter, Priesterehe, S. 227–229. Ebd., S. 58.
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er im reformatorischen Milieu fester Fuß fassen und gehörte hier schon bald zu den führenden Persönlichkeiten. Bucer und Silbereisen entsprachen geradezu vorbildlich dem von Luther propagierten Familienideal. Sie hatten gemeinsam 13 Kinder, von denen allerdings nur der geistig behinderte Sohn Nathanael das Erwachsenenalter erreichte.56 1541 starb Elisabeth Silbereisen zusammen mit fünf ihrer Kinder an der Pest. Nach ihrem Tod bemühte sich Bucer um die Erstattung der ins Kloster eingebrachten Mitgift seiner Frau, um damit den Sohn zu versorgen. Er selbst heiratete Wibrandis Rosenblatt (1504–1564), die Witwe Wolfgang Capitos (1478–1541). Zum Freundeskreis der Bucers gehörte Ambrosius Blarer (1492–1564).57 Er stammte aus einer renommierten und wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Konstanz und war seit 1510 Benediktiner im Kloster Alpirsbach im Schwarzwald, seit 1521 dortiger Prior. Zur reformatorischen Szene in Konstanz gehörten auch sein Bruder Thomas (1499–1567), Ratsmitglied und zeitweise Bürgermeister, sowie seine Schwester Margarete (1493–1541).58 Ambrosius Blarer hatte sich 1518 der Reformation zugewandt und ab 1520 versucht, reformatorische Schriften in seinem Kloster bekannt zu machen, war dabei aber auf Widerstand gestoßen. 1522 verließ er heimlich das Kloster, ging nach Konstanz und lebte zunächst bei seiner schon früh verwitweten Mutter. Anders als bei Bucer gab es bei Blarer also keine formelle Entlassung aus dem Kloster. In den 1520er-Jahren wirkte er in Konstanz sowie in mehreren Städten in Württemberg und in der angrenzenden Schweiz als Reformator. Er stand in engem Verhältnis zu Bucer, der ihn immer wieder davon zu überzeugen versuchte, möglichst bald zu heiraten. Doch Ambrosius Blarer zeigte sich zögerlich, verteidigte sogar in einem Schreiben an einen Konvent von reformatorisch gesinnten (ehemaligen) Nonnen in Konstanz die „Ehelosigkeit von Frauen nicht als von der Norm der Ehe abweichenden Einzelfall, sondern als eine mögliche christliche Lebensform neben anderen“59. Die Frauen sollten aber nicht müßig sein, sondern sich karitativ betätigen.60 Auch für sich selbst zog er die Ehelosigkeit vor und „heiratete erst 1533 nach langem Drängen und um Verleumdungen aus dem Weg zu gehen“61. Die „Verleumdungen“ 56 Vgl. ebd., S. 98–101. 57 Vgl. die Beiträge in: Bernd Moeller (Hg.), Der Konstanzer Reformator Ambrosius Blarer. 1592–1564. Gedenkschrift zu seinem 400. Todestag, Konstanz/Stuttgart 1964, sowie Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 103–210. 58 Vgl. Urte Bejick, Margarete Blarer (1493–1541). Humanistin, Reformatorin und Diakonin in Konstanz, in: Adelheid M. von Hauff (Hg.), Frauen gestalten Diakonie, Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus, Stuttgart 2007, S. 295–304; sowie Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst, S. 136–144. 59 Dorothee Kommer, Reformatorische Flugschriften von Frauen. Flugschriftenautorinnen der frühen Reformationszeit und ihre Sicht von Geistlichkeit, Leipzig 2013, S. 255 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 40). 60 Ebd., vgl. dazu seinen „Sendbrieff“ aus Esslingen nach Konstanz von 1532. 61 Moeller, Ambrosius Blarer 1492–1564, in: Ders. (Hg.), Der Konstanzer Reformator, S. 11–38, hier: S. 22.
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bezogen sich auf sein enges Verhältnis zu seiner Schwester Margarete, die ebenfalls nicht gewillt war zu heiraten. Margarete, hochgebildet, reformatorisch und karitativ engagiert und auch in Finanzfragen versiert, weigerte sich zeitlebens, eine Ehe einzugehen.
3. Dominikanerinnen und Klarissen in Nürnberg Neben den prominenten Frauen und Männern, die nach ihrem Klosteraustritt im reformatorischen Netzwerk Rückhalt fanden, stehen die vielen anderen, über die die Quellen nur wenig Auskunft geben. Genannt seien hier einige Beispiele aus dem Nürnberger Dominikanerinnenkloster St. Katharina, deren Werdegang Barbara Steinke recherchiert hat.62 Im Zuge der städtischen Reformation, die in Nürnberg 1525 durchgesetzt wurde, sollten das Kloster aufgelöst und die Klosteraustritte organisiert und abgesichert durchgeführt werden. Doch der Dominikanerinnenkonvent reagierte, ähnlich wie das Nürnberger Klarissenkloster unter seiner Äbtissin Caritas Pirckheimer (1467–1532), auf die geforderte Reformation mehrheitlich mit Widerstand. Dennoch traten in den folgenden Jahren zehn Nonnen aus dem Kloster aus. Vier davon unfreiwillig, auf Druck ihrer Familien, drei aus religiöser Überzeugung und drei aus persönlichen bzw. nicht genau beschriebenen Motiven. Ihre Schicksale nach dem Klosteraustritt verliefen unterschiedlich. Finanziell war auch ihre Lage zunächst unsicher. Die Nonnen beanspruchten die Rückzahlung ihres eingebrachten Guts, das Kloster kam diesen Forderungen jedoch nur zögerlich nach. Bis zu zwei Jahre zogen sich die Rückzahlungen in einzelnen Fällen hin. Von den ausgetretenen Frauen wurde erwartet, dass sie heirateten, was aber auch nicht in allen Fällen gelang. Insbesondere für jene Nonnen, die schon älter waren und nicht mehr mit Kindern rechnen konnten, war eine Heirat wohl keine Option mehr. Von den zehn ehemaligen Dominikanerinnen heirateten drei, drei blieben ledig und lebten recht und schlecht bei ihren Familien, von einer ist bekannt, dass sie ein uneheliches Kind hatte, den Rechtsstreit gegen den Kindsvater aber verlor, bei den übrigen Frauen geben die Quellen über eine Eheschließung keine Auskunft. Etwas mehr biographische Details sind über Barbara von Ploben (vor 1482–1545) und die leiblichen Schwestern Anna und Katharina Schwarz bekannt: Barbara von Ploben63 hatte in einer schweren Krankheit das Gelübde abgelegt, nach der Genesung ins Kloster einzutreten, was sie 1495 auch tat. 1514/15 hatte sie das Amt der Schaffnerin inne. Anfang der 1520er-Jahre versuchte ihre reformatorisch gesinnte Familie, sie zum Klosteraustritt zu bewegen, blieb aber zunächst erfolglos, weil Barbara 62 Vgl. Steinke, Paradiesgarten, S. 255–267. 63 Vgl. zum Folgenden: Steinke, Paradiesgarten, S. 258 f.
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von Ploben sich an ihr Gelübde gebunden fühlte. Ihre Skrupel wurden durch einen Brief von Lazarus Spengler (1479–1534)64 beseitigt, so dass sie sich schließlich doch freiwillig zum Austritt entschloss. Aber sie ging keine Ehe ein, übte auch keine handwerkliche oder gewerbliche Tätigkeit aus und lebte in den folgenden zwanzig Jahren bis zu ihrem Tod „in unmittelbarer lokaler Nähe zu ihrem früheren Kloster in ihrem Elternhaus in der Nonnengasse“ als „junckfrau Barbara vonn Ploben im Nunnenngeslein“65. Katharina Schwarz gehört zu jenen Nonnen, die eindeutig aus religiöser Überzeugung aus dem Kloster austraten. Sie habe sich „von Bessers ihrer Sele hails willen widerrumbs inn die Wellt gethan“66, schrieb sie 1526. Nach ihrem Austritt blieb sie unverheiratet und arbeitete wahrscheinlich im elterlichen Fischgeschäft mit.67 Allerdings ging es mit dem Fischhandel in Nürnberg bergab, weil die katholischen Fasttage abgeschafft worden waren, so dass die Familie in finanzielle Bedrängnis kam. An ihrem Fall wird denn auch deutlich, wie sehr ein Klosteraustritt mit ökonomischen Problemen verbunden war.68 Denn als zwei Jahre später ihre Schwester Anna Schwarz, Nonne im Nürnberger Klarissenkloster, ebenfalls austreten wollte – auch sie aus religiöser Überzeugung, „weil sie erkannt habe, dass das Klosterleben dem Heiligen Evangelium entgegen sei und sie sich darin geirrt habe“69 –, wurde diese von ihrer Mutter und ihrem Bruder „beschworen, sie möge aus finanziellen Gründen im Kloster bleiben“70. Aufgrund von Erbstreitigkeiten und geschäftlichen Defiziten sah die Familie keine Möglichkeit für die Versorgung einer zweiten ehemaligen Nonne, so dass Anna Schwarz den Rat erhielt: „‚Liebe schwester, kanstu beleyben, so beleyb! Es ist nymer inn unnßers vaters hauß, wie du es geloßen hast, es zeucht ein ytlichs auf seyn thayl‘“71. Die Familie „argumentierte also mit dem Aspekt der Versorgung“72. Anna Schwarz trat dennoch aus – als einzige Nonne aus dem Nürnberger Klara-Kloster – und „erreichte auch nur wenige Tage nach ihrem Austritt die Auszahlung der von ihr eingebrachten Gelder in Höhe von 100 rheinischen Gulden.“73 1532 heiratete sie Friedrich Pistorius (–1553), den letzten Abt des Nürnberger Klosters St. Ägidien, was für sie „sicherlich einen sozialen Aufstieg“74 bedeutete. 64 Zum Inhalt des Briefes vgl. ebd., S. 216–218. 65 Zitat ebd., S. 259. 66 Zitat ebd. 67 Ebd., S. 261. 68 Vgl. ebd. 69 Ebd., S. 260. 70 Ebd. 71 Zitat ebd. nach: Frumentius Renner (Hg.), Caritas Pirckheimer, Die Denkwürdigkeiten der Äbtissin Caritas Pirckheimer, St. Ottilien 1982, S. 145. Ausführlich zur ordensinternen Auseinandersetzung um Anna Schwarz: ebd., S. 144–147. 72 Steinke, Paradiesgarten, S. 260. 73 Ebd. 74 Ebd.
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4. Nachfragen: Existenzsicherung und Familienideal Die Beispiele verweisen eher auf Probleme und Schwierigkeiten als auf Chancen und neue Perspektiven, die mit dem Klosteraustritt verbunden waren, wobei es kaum möglich ist, aus den bisherigen Forschungen allgemeingültige und quantifizierende Schlussfolgerungen zu ziehen. Sehr deutlich hat Anna Sauerbrey im Sinne einer „vergleichenden Geschlechtergeschichte“75 gezeigt, wie differenziert die Lebensperspektiven von Frauen und Männern nach einem Klosteraustritt im Einzelnen zu betrachten sind, ohne dass sich eindeutige geschlechtsspezifische Muster erkennen lassen. Durchgehend relevant sind allerdings jene Aspekte, die bereits im eingangs zitierten Statement Marie Dentières angesprochen wurden. In finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht war ein Klosteraustritt für Männer wie Frauen immer eine prekäre Angelegenheit. Reformatorische Führungspersönlichkeiten wie Martin Luther und Katharina von Bora, die vom Gehalt des Ehemanns und den selbstständigen Einnahmen der Ehefrau76 ein gutes Auskommen hatten, gehörten zu den privilegierten Ausnahmen. Im Zuge der Auflösung der Klöster erhielten die Mönche und Nonnen zwar Pensionen, die jedoch in ihrer Höhe, je nach Finanzkraft des Klosters, stark differierten und kaum für eine standesgemäße Lebensführung ausreichten.77 Jene, die in den frühen reformatorischen Jahren aus eigenem Antrieb das Kloster verlassen hatten, konnten versuchen, im Nachhinein eine solche Pension zu beanspruchen. Dessen ungeachtet waren Männer und Frauen gleichermaßen darauf angewiesen „Unterkunft und Unterhalt zu finden“78. Die wenigen statistischen Auswertungen zeigen, dass der Idealfall einer glücklichen Ehe mit „schönen Kindern“, wie Marie Dentière es beschreibt, keineswegs selbstverständlich war. Auch die Rückkehr in die Ursprungsfamilie gelang oft nicht, weil erbrechtliche Streitigkeiten dem entgegenstanden oder die Familie sich finanziell überfordert sah. Belegt, wenn auch vermutlich eher als Ausnahmen, sind Wohngemeinschaften von zwei oder drei unverheirateten Frauen sowie Einzelfälle von Frauen, die als Lehrerinnen selbstständig erwerbstätig waren.79 Von der Familie Blarer, die von Haus aus vermögend war, ist bekannt, dass sie ehemalige Nonnen finanziell unterstützen konnte.80 Auch für die meisten Männer, vor allem für jene im vorgerückten Alter, stellte sich die Existenzsicherung als schwierig dar. Nur ein geringer Teil fand nach dem Klosteraustritt 75 Sauerbrey, Straßburger Klöster, S. 16. 76 Katharina von Bora bezog vor allem Einkünfte aus der Untervermietung an Studenten, sorgte außerdem durch Landwirtschaft und Brauerei für den Lebensunterhalt; vgl. Roper, Mensch Martin L uther, S. 364. 77 Vgl. Sauerbrey, Straßburger Klöster, S. 300; Zinsmeyer, Fliehen oder bleiben, S. 299–301. 78 Sauerbrey, Straßburger Klöster, S. 290. 79 Vgl. ebd., S. 292. 80 Vgl. Kommer, Reformatorische Flugschriften, S. 257.
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als Geistlicher eine Anstellung.81 Die meisten versuchten, sich in einem Handwerk oder Gewerbe zurechtzufinden, was vielen, aber längst nicht allen gelang; einige fanden durch eine Heirat mit einer finanziell abgesicherten Bürgerin ihr Auskommen.82 Im geschlechtergeschichtlichen Vergleich zeigt sich, dass sich Männern zwar einige berufliche Möglichkeiten boten, dass ihre Perspektiven aber auch „stark vom Bildungsgrad … und, ebenso wie bei den Nonnen, vom Alter abhängig waren“.83 Frauen wie Männer waren dabei zugleich den kirchlichen und gesellschaftlichen Erwartungen und entsprechendem Druck ausgesetzt, einem bestimmten Ideal zu entsprechen: dem lutherischen Ideal des fleißig arbeitenden Mannes84 und der für Kinder, Ehemann und Familie sorgenden Frau.85 So oder so waren mit dem Klosteraustritt zwar neue Freiheiten verbunden, aber auch neue finanzielle und ideelle Unsicherheiten und Abhängigkeiten. Der zweite wesentliche Aspekt war die mit der reformatorischen Stilisierung der Ehe als idealer Lebensform einhergehende Neubewertung der Sexualität. So schwärmte Marie Dentière zwar euphorisch: „Wenn Ihr wüßtet, was für eine gute Sache es ist, bei einem hübschen Gatten zu sein, und wie angenehm es Gott gemacht hat!“86 Doch diese Sicht der Dinge wurde nicht von allen geteilt. Ursula Topler weigerte sich hartnäckig, ihre eheliche Pflicht zu erfüllen, etliche ehemalige Nonnen gingen offenbar bewusst keine neue Ehe ein, und auch auf Seiten der Männer finden sich dazu unterschiedliche Positionen. Ambrosius Blarer wollte für sich zunächst keine Heirat, ließ sich von Martin Bucer aber dann doch dazu drängen. Martin Bucer seinerseits plädierte immer wieder dafür, möglichst bald nach dem Klosteraustritt zu heiraten, betonte aber für sich, dass er dies nicht aus sexuellen Gründen tue, denn die sexuellen Wünsche ließen sich unkomplizierter und
81 In Hessen wurden nur 60 von 300 ehemaligen Mönchen evangelische Pfarrer; vgl. Sauerbrey, Straßburger Klöster, S. 295 f. 82 So z. B. Johann Schwan, der die Druckerin Margaretha Prüss heiratete. 83 Sauerbrey, Straßburger Klöster, S. 310. Steinkes Aussage, dass die ehemaligen Mönche „nahtlos eine neue Beschäftigung“ finden konnten (Steinke, Paradiesgarten, S. 267), mag für Nürnberg zutreffen, ist insgesamt aber zu relativieren. In Nürnberg werden nach Auflösung des Augustinerklosters als Berufe genannt: Prediger, Pfarrer, Kaplan, „handwerkliche Berufe, wie ‚Chuchenmeister‘ und ‚Tuchheffter‘“; aber auch: einer habe „eine gemeine dirn aus dem frauen hauß genommen“ (ebd., S. 267, Anm. 108). 84 Zum Arbeitsethos vgl. Sauerbrey, Straßburger Klöster, S. 264. 85 Aufschlussreich ist hier das Frauenbild in Luthers Eheschriften: Dagmar C. G. Lorenz (Hg.), Martin Luther, Vom ehelichen Leben und andere Schriften über die Ehe, Stuttgart 1978. Zur lutherischen Ehetheologie vgl. Christian Volkmar Witt, Martin Luthers Reformation der Ehe. Sein theologisches Eheverständnis vor dessen augustinisch-mittelalterlichem Hintergrund, Tübingen 2017 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 95) und seinen Beitrag in diesem Band. 86 Zitiert nach de Jussie, Kleine Chronik, S. 144. Zur reformatorischen Eheschließung von Geistlichen vgl. auch Marjorie Elizabeth Plummer, From Priest’s Whore to Pastor’s Wife. Clerical Marriage and the Process of Reform in the Early German Reformation, Farnham/Burlington 2012.
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billiger im Frauenhaus befriedigen, sondern weil seine Frau und er von Gott für einander geschaffen seien.87 Die reformatorische Neubewertung der Ehe war zunächst einmal theologisch begründet. Während die Bindung an die Klostergelübde und die Auffassung, durch ein vorbildliches Leben im Kloster gelange man zum Seelenheil, als ‚Werkgerechtigkeit‘ gebrandmarkt wurden, galten die Ehe sowie das Zeugen und Gebären von Kindern als gottgewollt und daher auch die dafür notwendige eheliche Sexualität, aber nur diese, als gottgefällig.88 Ute Gause hat in diesem Zusammenhang die „Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens“ herausgestellt und dafür plädiert, die „Konstruktion von Männlichkeit in der Reformationszeit“89 stärker in den Blick zu nehmen. Nicht um „Bändigung der Sexualität“ sei es gegangen, sondern ganz im Gegenteil um „die Anerkennung der männlichen Sexualität überhaupt“.90 Während im Mittelalter der ideale Mann der zölibatär lebende Mann gewesen sei, sei nun die „neuzeitliche Konstruktion des Priesters bzw. Pfarrers als Hausvater“ entstanden, „der sich wie der Rest der männlichen Bevölkerung zu seiner Sexualität bekennen durfte, wenn sie im Rahmen einer monogamen Ehe gelebt wurde.“91 Die Fokussierung auf die „monogame“ Ehe impliziert allerdings, dass Sexualität hier faktisch nur in einem sehr eingeschränkten Maße Anerkennung fand. Es ging nicht primär um (männliche) Sexualität, sondern um Fortpflanzung und Familie; Kinderlosigkeit war ein Scheidungsgrund; ledige und kinderlose Menschen, besonders Frauen, waren unter Rechtfertigungsdruck. Margarete Blarer, aber auch ihr Bruder Ambrosius sind Beispiele dafür. Aus einer anderen Perspektive hat Peter Burschel auf die „geradezu unheimliche und zudem bemerkenswert nachhaltige Konjunktur von Reinheitsdiskursen, Reinheits87 „Wenn ich / nicht gottesfürchtig wäre und allein Fleischeslust gesucht hätte, so hätte ich nicht geheiratet. Sind doch die Frauen [aus den Frauenhäusern, A. C.] nicht so kostspielig. Wenn es mir darum gegangen wäre, hätte ich statt einer wohl zwei oder drei haben, diese alle Tage wechseln und dabei ein großer Herr sein können … Das betone ich: Gott hat uns zusammengeführt und keiner den anderen mit List oder Überredung dazu gebracht.“ Zitiert nach Ebert, Elisabeth Silbereisen, S. 59 f.; und an anderer Stelle: „hätte ich Lust gewinnen wollen, hätte ich wie andere wohl [Wege, A. C.] gefunden, auf denen ich weniger Nachrede und noch weniger Nachteile zu erwarten gehabt hätte“, Zitat ebd., S. 60. Zum Zusammenhang dieser Haltung mit den polemischen Verunglimpfungen, die Bucer in Straßburg wegen seiner Heirat erlebte, vgl. Buckwalter, Priesterehe, S. 228. 88 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Tilmann Walter, Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland, Berlin/New York 1998 (= Studia Linguistica Germanica 48); zu L uther: ebd., S. 102–118. 89 Ute Gause, Reformation und Genderforschung. Schritte der Neukonzeptionierung, in: Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation, S. 21–37, hier: S. 24. 90 Ebd., S. 28. 91 Ebd., S. 33; vgl. auch den Beitrag von Ute Gause in diesem Band.
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modellen und Reinheitspraktiken“92 im frühen 16. Jahrhundert verwiesen und die These stark gemacht, dass „Reinheit als kultureller Code“ eine „Erfindung der frühen Neuzeit“ sei.93 Insbesondere die Reformation habe dies vorangetrieben, und dabei sei der Ehe als ‚institutionalisiertem‘ Weg zur „ethischen Reinheit“ eine Schlüsselfunktion zugekommen.94 Dem entspricht, dass Wolfgang Schmale den „neuen Mann“ der Frühen Neuzeit gerade nicht als von seiner Sexualität bestimmt charakterisiert. Er zeichne sich vielmehr dadurch aus, dass er diese zwar nicht negiere, aber bis zu einem gewissen Grad doch sublimiere: in geistigen Produkten wie dem Schreiben von Büchern, speziell auch Autobiographien, in Bildung und eben auch in der Hinwendung zu Familie und Kindererziehung.95 Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive wären, wenn es um Sexualität in der Ehe als Merkmal von Männlichkeit geht, zudem noch genauer die Frauen, die Ehepartnerinnen, mit in den Blick zu nehmen und zu fragen, wie kompatibel dieser Ansatz mit deren Wahrnehmungen, Bedürfnissen und Vorstellungen ist. Martin Luthers Äußerungen über die typischen, von Frauen mehrheitlich negativ erfahrenen Begleiterscheinungen von Schwangerschaft und Geburt, nämlich Übelkeit und Schmerzen bis hin zum Tod,96 sind mehr als bloße Rhetorik. Sie verdeutlichen, dass die Folgen der „befreienden“ Sexualität für Frauen mindestens ambivalent waren. Katharina von Bora und Elisabeth Silbereisen97 galten zwar als ideale Ehefrauen mit mehreren Kindern, aber als Reformatorinnen im eigentlichen Sinn agierten eher kinderlose Frauen wie Margarete Blarer oder Katharina Zell.98 92 Peter Burschel, Die Erfindung der Reinheit. Eine andere Geschichte der frühen Neuzeit, Göttingen 2014, S. 31. 93 Ebd., S. 22. 94 Ebd., S. 28. Zum frühneuzeitlichen Reinheitsdiskurs, speziell auch zum katholischen Anspruch auf „priesterliche Reinheit“ als Charakteristikum des zölibatären Lebens, vgl. Walter, Unkeuschheit, S. 98 f. 95 Vgl. Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Köln/Weimar u. a. 2003, S. 25–31. 96 Von Luther z. B. sehr anschaulich geschildert in seiner „Predigt vom Ehestand“ von 1525; vgl. Luther, Vom ehelichen Leben, S. 67 f. 97 Dass mit dieser Lebensentscheidung auch Verlusterfahrungen, Verzicht und Marginalisierung verbunden waren, wird bei Elisabeth Silbereisen deutlich. Sie stand 13 Geburten durch, sorgte für die Familie und nahm relativ gelassen zur Kenntnis, dass und wie sich Martin Bucer mit der humanistisch gebildeten, selbstbewussten und bewusst unverheiratet gebliebenen Margarete Blarer auf einer ganz anderen Ebene verständigte. In den Briefen Bucers an Margarete Blarer, in denen es um die Entwicklung der Reformation, den gemeinsamen Lesestoff und humanistisches Dies und Das ging, kommt Elisabeth Silbereisen nur ab und zu im Schlussgruß zu Wort – immer mit dem Hinweis, dass sie mit Kindern, Haus und Essenszubereitung viel zu tun habe und daher sich nicht ausführlicher äußern könne. Die Briefe Bucers an Margarete Blarer sind zum Teil gedruckt im Anhang von: Badische Historische Kommission (Hg.), Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer 1509–1548, bearb. von Traugott Schieß, Bd. 2, Freiburg i. Br. 1910. 98 Vgl. Anne Conrad, „Ein männisch Abrahamisch gemuet“. Katharina Zell im Kontext der Straßburger Reformationsgeschichte, in: Heide Wunder/Gisela Engel (Hg.), Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit, Königstein/Taunus 1998, S. 120–134.
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5. Das „helle Licht der Wahrheit” – Perspektiven? Der Klosteraustritt beruhte auf einer Lebens- und Gewissensentscheidung99, die viele in eine existenzielle Krise stürzte. „Identität, Religiosität und Lebenspraxis“100 standen gleichermaßen in Frage. Im altgläubigen oder auch nur konventionell gebundenen Milieu erlebten die Ausgetretenen gesellschaftliche Ausgrenzung, Kritik und Missachtung oder gar Ächtung; nach kirchlichem Recht galten sie, weil sie ihr Gelübde gebrochen hatten, als wortbrüchig und sündig und wurden von den Sakramenten ausgeschlossen. Auch für Familie und Freundeskreis wurde dies zur Belastungsprobe. Ambrosius Blarer berichtet, wie schwer sich seine Mutter und seine Schwestern101 damit taten, dass er das Kloster verlassen hatte. Andererseits zählten die ehemaligen Mönche und Nonnen in reformatorischen Kreisen zur innovativen Avantgarde und genossen entsprechendes Ansehen. Die Klosterauflösungen wie auch der individuelle Klosteraustritt oder die Klosterflucht und vor allem dann die oft publikumswirksam inszenierte Priesterehe hatten schließlich Symbolcharakter und waren als öffentliche Aktionen ähnlich wie das Brechen der Fastengebote102 ein demonstratives Bekenntnis zur neuen Lehre, das das ‚helle Licht‘ der reformatorischen ‚Wahrheit‘ leuchten ließ. Festzuhalten ist, dass die „gesellschaftliche Brisanz“103 der Klosterauflösungen kaum hoch genug eingeschätzt werden kann, dass die männlichen und weiblichen Akteure aber eben auch mit Spannungen, Ambivalenzen und existenziellen Nöten konfrontiert wurden, die nicht leicht zu bewältigen waren. Individuell kam es wesentlich auf den Rückhalt durch die Familie und den Freundeskreis an und darauf, wie sich die ehemaligen Mönche und Nonnen im neuen reformatorischen Kontext positionieren konnten. Männer und Frauen waren dabei gleichermaßen unter Druck, bestimmten Erwartungen zu genügen, konkret dem reformatorischen Eheideal, das den fleißigen, arbeitsamen, seine Familie ernährenden Mann der auf das Wohl von Mann und Familie bedachten, gebärfreudigen Frau zuordnete. Entsprechend diesen Erwartungen waren, so weit der Konsens der Forschung, die Perspektiven der Frauen schlechter als die von Männern, wobei Anna Sauerbrey zu Recht festhält, dass zwar „in der Frage der alltagspraktischen Perspektiven 99 Der Verweis auf die Freiheit des Gewissens war allerdings nicht nur für jene, die austraten, sondern auch für jene, die im Kloster blieben, das zentrale Argument. Vgl. etwa durchgängig die Argumentation Caritas Pirckheimers. 100 Sauerbrey, Straßburger Klöster, S. 247. 101 Vgl. Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 149 f.; die zweite, weniger bekannte Schwester Blarers, Barbara von Ulm, lebte auf Schloss Griesenberg im Thurgau (vgl. ebd., S. 116). 102 Vgl. Anne Conrad, Von Würsten, Spanferkeln und moralischer Nüchternheit. Essen und Fasten als „christliche Freiheit“, in: Justus Nipperdey/Katharina Reinholdt (Hg.), Essen und Trinken in der Europäischen Kulturgeschichte, Berlin 2016, S. 79–93 (= Kulturelle Grundlagen Europas 3). 103 Rüttgardt, Klosteraustritte, S. 12.
Das helle Licht der Wahrheit?
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nach einem Klosteraustritt … Nonnen deutlich geringere Handlungsmöglichkeiten hatten“104, zugleich allerdings davor warnt, „die Perspektiven ehemaliger Mönche … zu überschätzen“105. Solchen notwendigen Relativierungen gängiger geschlechtergeschichtlicher Interpretationen steht jedoch gegenüber, dass das reformatorische Engagement von Männern und Frauen grundsätzlich mit zweierlei Maß gemessen wurde. Dies gilt auch für Marie Dentière, die in ihrer Person zunächst ein ‚Erfolgsmodell‘ verkörperte. 1539 setzte sie sich in einer Streitschrift mit der ‚Frauenfrage‘ auseinander und forderte, wenn es in der Kirche schon kein Rederecht für Frauen gebe, dann doch das Recht, sich schriftlich öffentlich zu äußeren. Sie begründete dies mit Verweis auf die Bibel und stellte die rhetorische Frage „Oder haben wir zwei Evangelien – eines für Männer, eines für Frauen?“106 Sie selbst wurde jedoch, als sie in innerprotestantischen Auseinandersetzungen Position bezog, mundtot gemacht. Ihre Schrift wurde beschlagnahmt, und bis zum Ende des 16. Jahrhunderts erschien in Genf „kein Werk mehr, das eindeutig einer Frau zuzuordnen ist“107. Die Möglichkeiten, unabhängig von Kloster und Ehe die reformatorische ‚Wahrheit‘ zu leben, blieben auch nach dem reformatorischen Aufbruch noch sehr begrenzt.
104 Ebd., S. 309. 105 Ebd., S. 310. 106 Zitiert nach Rademacher-Braick, Frei und selbstbewusst, S. 158. 107 Ebd., S. 159.
Nicole Grochowina
Geschlechterunordnung durch neue Lebensformen? Weiblichkeit und Männlichkeit in täuferischen Martyrologien
„Keiner der großen Aufbrüche in der Kirchengeschichte [kann, N. G.] die Lebendigkeit, Frische und Stoßkraft des Anfangs behalten.“ Vielmehr kann eine Bewegung „in der Gebrechlichkeit der Welt … nur dadurch für längere Zeit geschichtsmächtig werden, dass sie feste organisatorische Formen annehme, die, mit den Ursprüngen verglichen, eine Erstarrung darstellen.“1 So hat es Lydia Präger mit Blick auf geistliche Gemeinschaften und Bewegungen bereits im Jahr 1959 festgehalten. Damit macht sie deutlich, dass der Bewegung grundsätzlich eine „Erstarrung“ oder – etwas weniger zugespitzt formuliert – die Etablierung einer neuen Ordnung folge, in der dann sowohl Elemente des zuvor Bestehenden als auch des neu Geschaffenen ihren Platz finden, ohne um diesen gleich wieder fürchten zu müssen. Gleichwohl ist dabei im Vorfeld allerdings auszuhandeln, in welchem Verhältnis beide letztlich stehen sollen, wo also die Schwerpunkte innerhalb der neuen Ordnung zu setzen sind. Insgesamt geht es also immer auch um die Aushandlung von wirkmächtigen, weil sinnstiftenden Deutungshoheiten, welche dann die neue Ordnung und damit in letzter Instanz auch das Leben gestalten sollen.2 Vom Verhältnis zwischen Bewegung, Ordnung und Erstarrung hat Lydia Präger mit Blick auf evangelische Ordensgemeinschaften gesprochen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland entstanden sind,3 aber ihr Gedankenansatz kann durchaus auch auf die täuferische Bewegung des 16. Jahrhunderts übertragen werden, denn hier zeigt sich im Groben eine ähnliche Entwicklung: Zunächst fanden sich die Täufer in kleinen Zirkeln zusammen, die von Verfolgung bedroht und bisweilen auch zerschlagen wurden oder sich selbst auflösten, wenn die Führungspersönlichkeit starb, weiterzog oder es zu
1 Lydia Präger, Vorwort, in: Dies (Hg.), Frei für Gott und die Menschen. Evangelische Bruder- und Schwesternschaften der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Stuttgart 1959, S. 5–11, hier: S. 5. 2 Auf die dabei entstehende Spannung von „Aufbruch“ und „Vermeidung des Abbruchs“ ist dabei in besonderer Weise zu achten. Vgl. Michael Hochschild (Hg.), Die Zukunft geistlicher Bewegungen, Münster 2016 (= Time-lab Studies 2). 3 Vgl. Nicole Grochowina, Evangelische Communitäten – Unfall oder reformatorisches Erbe?, in: Ordenskorrespondenz. Zeitschrift für Fragen des Ordenslebens 58 (2017), S. 5–13.
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Nicole Grochowina
Streitigkeiten in der Gruppe kam.4 Der Weg führte dann aber auch in die kurzfristige oder langfristige Gemeindebildung. Dies belegen exemplarisch das Täuferkönigreich von Münster 1534/35 sowie der Gemeindeaufbau der Hutterer in Mähren oder später der Mennoniten im Nordwesten des Alten Reiches.5 In der Forschung ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass dort, wo der Übergang von der täuferischen Bewegung in die Ordnung erfolgen konnte, weil die Täufer von der Landesherrschaft toleriert wurden bzw. diese nicht organisiert genug war, um gegen sie vorzugehen,6 auch die zeitgenössische Geschlechterordnung re-etabliert wurde. Wo vorher also Frauen wie Helena von Freyberg (1491–1545) predigten und lehrten und wo Frauen wie Ursula Jost (um 1500–1530/39) und Barbara Rebstock (–nach 1538) Visionen und Gesichter hatten, setzte sich nun größtenteils die zeitgenössische Geschlechterordnung mit ihrer Hierarchisierung wieder durch, die es zudem Frauen auch untersagte, 4 Wie wenig Zeit mitunter zwischen Gründung und Niedergang eines täuferischen Zirkels liegen konnte, zeigt beispielsweise der Kreis, der sich in Augsburg um den Täufer Hans Hut gebildet hat. Nach dessen Tod im Gefängnis 1527 bei einem Brand, den er vermutlich selbst entfacht hatte, wurde seine Gruppe entweder verfolgt oder zerbrach mangels Führung. Zu Hans Hut vgl. Gottfried Seebaß, Müntzers Erbe. Werk, Leben und Theologie des Hans Hut, Gütersloh 2002; Nicole Grochowina, Der Täufer ohne Schwert? Hans Huts Sicht auf die Gewaltfrage, in: Thomas T. Müller (Hg.), Umstrittene Empörung. Zur Gewaltfrage der frühen Reformation. Studien zu Thomas Müntzer, Andreas Karlstadt, Hans Hut, Philipp Melanchthon und Martin L uther. Hans-Jürgen Goertz zum 80. Geburtstag, Mühlhausen 2017, S. 41–57 (= Thomas-Müntzer-Gesellschaft e. V., Veröffentlichung 24); Hans-Jürgen Goertz, Apokalyptik in Thüringen. Thomas Müntzer, Bauernkrieg, Täufer, in: Ders., Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen, Göttingen 2007, S. 97–118 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 93). 5 Die Forschungslage zur täuferischen Bewegung ist inzwischen umfänglich, so dass sie hier nur in wenigen Strichen nachgezeichnet werden soll. Vgl. als umfängliche Zusammenführung John D. Roth/James M. Stayer (Hg.), A Companion to Anabaptism and Spiritualism, 1521–1700, Leiden/Boston 2007 (= Brill’s Companions to the Christian Tradition 6). Vgl. auch weiterhin George H. Williams, The Radical Reformation, Kirksville/Missouri 31992; C. Arnold Snyder, Anabaptist History and Theology. An Introduction, Kitchener/Ontario 1995; Hans-Jürgen Goertz, Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit, München 1993 (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte 20). Zum Weg von der Bewegung zur Gemeindebildung vgl. Nicole Grochowina, Zwischen Gleichheit im Martyrium und Unterordnung in der Ehe. Aktionsräume von Frauen in der täuferischen Bewegung, in: Anne Conrad (Hg.), „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform, Münster 1999, S. 95–114 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 59). Vgl. auch Linda A. Huebert Hecht, A Brief Moment in Time. Informal Leadership and Shared Authority Among Sixteenth Century Anabaptist Women, in: Journal of Mennonite Studies 17 (1999), S. 52–74. Zu Frauen in den Hutterischen Gemeinden vgl. Wes Harrison, The Role of Women in Anabaptist Thought and Practice. The Hutterite Experience of the Sixteenth and Seventeenth Century, in: Sixteenth Century Journal 23 (1992), S. 49–69. 6 Mangelnde Organisation und Durchsetzungskraft der zerstrittenen Landesherrschaft war beispielsweise das Problem in der Grafschaft Ostfriesland. In der Konsequenz konnten sich hier zahlreiche täuferische Zirkel ansiedeln und Gemeinden aufbauen. Damit wurde Ostfriesland zugleich zum Zielhafen zahlreicher niederländischer Täufer, als insbesondere in Groningen Verfolgungen einsetzten. Zur besonderen Situation Ostfrieslands vgl. Nicole Grochowina, Indifferenz und Dissens in der Grafschaft Ostfriesland im 16. und 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M./Berlin u. a. 2003 (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie 766).
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beispielsweise in den Schulen der Hutterer zu lehren oder im Täuferreich in Münster der Polygynie die Polyandrie entgegenzusetzen.7 Dabei ist festzuhalten, dass die Rede von der Re-Etablierung der Geschlechterordnung auch den Blick auf die Entwicklung von Männlichkeit(en) in der täuferischen Bewegung benötigt, bevor eine vergleichende Analyse erfolgen kann. Hier öffnet sich ein weites Feld, das noch viele Forschungen hervorbringen wird. Erste Ansätze zeigen sich nicht zuletzt auch beim vergleichenden Blick auf die Märtyrer und Märtyrerinnen unter der Frage, wie in der täuferischen Erinnerungspolitik etwa durch Bilder und Zerrbilder geschlechtlich konnotierte Zuschreibungen eingesetzt und verstärkt werden, damit die Parität zwischen den Geschlechtern, die sich durch den alles egalisierenden Tod ergab, in der Erinnerungskultur bzw. durch Erinnerungspolitik8 wieder in eine Hierarchisierung der Geschlechter überführt und damit quasi aufgehoben wurde.9
7 Zu Frauen im Täufertum vgl. unter anderem Sylvia Brown (Hg.), Women, Gender, and Radical Religion in Early Modern Europe, Leiden/Boston 2007 (= Studies in Medieval and Reformation Traditions 129); C. Arnold Snyder/Linda A. Huebert Hecht (Hg.), Profiles of Anabaptist Women. Sixteenth-Century Reforming Pioneers, Waterloo/Ontario 1996 (= Studies in Women and Religion 3); Linda A. Huebert Hecht, Women in Early Austrian Anabaptism. Their Days, Their Stories, Kitchener/Ontario 2009; Sigrun Haude, Gender Roles and Perspectives among Anabaptist and Spiritualist Groups, in: Roth/Stayer (Hg.), A Companion, S. 425–465; Marion Kobelt-Groch, Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen, Frankfurt a. M./New York 1993 (= Geschichte und Geschlechter 4); Hermina Joldersma/Louis Grijp (Hg.), Elisabeth’s Manly Courage. Testimonials and Songs of Martyred Anabaptist Women in the Low Countries, Marquette 2001 (= Reformation Texts with Translation (1350–1650)/Women of the Reformation 3). 8 Zum Begriff der Erinnerungspolitik vgl. Thomas Fuchs, Protestantische Heiligen-Memoria im 16. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 587–614. 9 Vgl. hierzu Nicole Grochowina, Images of Women in the Anabaptists’ Martyrology ‚Het offer des Heeren‘, in: Mirjam van Veen/Piet Visser u. a. (Hg.), Sisters. Myth and Reality of Anabaptist, Mennonite, and Doopsgezind Women ca. 1525–1900, Leiden/Boston 2014, S. 105–121 (= Brill’s Series in Church History and Religious Culture 65). Auch die Frage nach der Ausgestaltung von Männlichkeiten während des reformatorischen Geschehens bedarf noch vieler – quellengestützter – Untersuchungen. Vgl. als eine Spur zu neuen Lesarten von Quellen: Scott H. Hendrix/Susan C. Karant-Nunn (Hg.), Masculinity in the Reformation Era, Kirksville/Missouri 2008. Dazu eher als Zusammenschau der Forschung Julia A. Schmidt-Funke, Reformation und Geschlechterordnung. Neue Perspektiven auf eine alte Debatte, in: Werner Greiling/Armin Kohnle u. a. (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620, Köln/Weimar u. a. 2015, S. 29–53 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 4) und ihren Beitrag in diesem Band. Mit engem Bezug auf die Ausbildung von Männlichkeiten in täuferischen Martyrologien: Nicole Grochowina, „Die Opfer des Herren“. Das Ringen um Männlichkeiten im ersten täuferischen Martyrologium, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 85–103 (= Geschichte und Geschlechter 49).
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1. Tod als Lebensmodell Doch an zumindest einem Ort schien die Gleichheit der Geschlechter und damit die Unordnung des Geschlechterverhältnisses auch und gerade in der Phase der Konsolidierung der Bewegung bestehen zu bleiben: Gemeint ist der Tod um des Glaubens willen, das Martyrium, das sowohl von täuferischen Männern als auch Frauen erlitten und dann in unterschiedlichen täuferischen Martyrologien verzeichnet wurde.10 An dieser Stelle auf den Tod zu verweisen, auch wenn es vom Ansatz her um „neue Lebensformen“ innerhalb der täuferischen Bewegung geht, scheint nicht angebracht zu sein. Und doch geht es bei dem Blick auf den Tod zahlreicher Täuferinnen und Täufer genau darum, denn: Mit der Märtyrerin wird in unterschiedlichen regionalen täuferischen Martyrologien und schließlich im international verbreiteten „Märtyrerspiegel“11 ein neues „role-model“ insbesondere für das Leben von Frauen geschaffen, das sich vom Martyrium her definiert und aus dieser Perspektive das gesamte Leben gestalten sollte. Die Frauen erscheinen in dieser Lebensform als standhaft im Verhör, treu im Glauben und selbstredend auch als fürsorgend ihren Kindern und ihrer ganzen Familie gegenüber. Formale oder informelle Autorität sowie Leitungskompetenz der Frauen spielten dabei allerdings keine Rolle mehr, auch wenn sie diese in der Phase der Bewegung noch ausgeübt hatten.12 Gleichzeitig wurden vor diesem Hintergrund Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit ausgehandelt, indem diese in ein Verhältnis zueinander gestellt wurden. Zunächst ging es dabei um die Frage, wer überhaupt als Märtyrer oder Märtyrerin anzusehen war. Schon den Weg durch diese Auswahl bezeichnet Sylvia Brown als eine „gendered procedure“13, die von einer geschlechtlich konnotierten Sprache und dem Umgang mit den sozialen – und damit ebenfalls geschlechtlich codierten – Normen der Zeit geprägt war.
10 Die täuferischen Martyrologien sind zahlreich, weil sich hier auch regionale Gegebenheiten und zugleich Versuche zeigen, gegenüber anderen täuferischen Gruppen ein eigenes Profil deutlich zu machen. Zu täuferischen Martyrologien vgl. Brad S. Gregory, Salvation at Stake. Christian Martyrdom in Early Modern Europe, Cambridge/London 1999 (= Harvard Historical Studies 134); Nicole Grochowina, „Het offer des Herren“. Das Martyrium als Heiligenideal niederdeutscher Täufer um 1570, in: Jürgen Beyer/Albrecht Burkardt u. a. (Hg.), Confessional Sanctity (c. 1500–c. 1800), Mainz 2003, S. 65–81 (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Beiheft 51). 11 Vgl. Thieleman Jansz van Braght, Het Bloedig Tooneel, of Martelaars-Spiegel der Doops-Gesinde of Weereloose Christenen …, Dordrecht 1660. Vgl. hierzu auch die eher grobe Einordnung durch David L. Weaver-Zercher, Martyrs Mirror. A Social History, Baltimore 2016. 12 Vgl. Hecht, A Brief Moment in Time. 13 Sylvia Brown, Introduction, in: Dies. (Hg.), Women, Gender, S. 1–14, hier: S. 2.
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Dass eben diese Aushandlungsprozesse über Märtyrerinnen und Märtyrer für die Erinnerungskultur einer Glaubensgemeinschaft14 wichtig und prägend waren und zudem die Lebenswirklichkeiten der Glaubenden gestalten sollten, hat nicht zuletzt Peter Burschel in seinen Studien deutlich herausgearbeitet.15 Demnach ist das Martyrium als ein Ort zu verstehen, an dem „kulturelle Normen verhandelt werden“. Das liege daran, so Burschel, dass das Martyrium ein „Medium der Inszenierung“ sei, bei dem es außer Frage stehe, dass hier gleichsam die Konstruktion sowohl von Weiblichkeit als auch von Männlichkeit in einer „historisch-anthropologischen Spurensuche“ erkannt werden könne und solle.16 Insbesondere der Körper werde dabei zum Medium der Erkenntnis, bildeten sich doch hier die Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit ab, indem körperliche Merkmale und Eigenschaften betont oder vernachlässigt oder diese mit unterschiedlichen – kulturell bedingten – Zeichen codiert wurden. Dies machte den Körper gleichsam zum „Kommunikationsträger und [zur, N. G.] Projektionsfläche.“17 Aus diesen Zuschreibungen ließen sich dann auch Vorstellungen von Heiligkeit ableiten, die nicht selten in differenzierte Heiligkeitsmodelle mündeten. Diese – so B urschel – wurden zunehmend männlich akzentuiert, was bedeutet, dass nun die „Glaubenshelden“ deutlich in den Vordergrund traten, von der Kirche in ihrer Verehrung explizit gefördert wurden und so – zumindest in der überregionalen Erinnerungskultur – Märtyrerinnen und die damit einhergehenden Vorstellung einer weiblich konnotierten Heiligkeit zurückdrängten.18 Dies entwertete aber keineswegs den Körper, der weiterhin als Projektionsfläche diente. Vor diesem Hintergrund erscheint es dann auch als geradezu folgerichtig, dass Sarah Schäfer-Althaus in ihrer 2016 erschienenen Studie „The Gendered Body“ gezeigt hat, wie sehr Vorstellungen von Weiblichkeit, Männlichkeit und Hybridi-
14 Studien zur Erinnerungskultur sind zahlreich, und auch die Religion spielt darin eine wichtige Rolle. Dennoch ist bemerkenswert, dass es dessen ungeachtet noch erheblichen Forschungsbedarf bei Untersuchungen zur konkreten Ausgestaltung der Erinnerungskultur in religiösen Glaubensgemeinschaften gibt, die über den Blick auf Rituale und normative Quellen hinausgehen. Zur Ausdifferenzierung von Erinnerungskulturen vgl. als einen kleinen Ausschnitt der reichhaltigen Forschung: Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967; Ders., Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985; Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2005; Thomas Laubach, Warum sollen wir uns erinnern? Annäherung an eine Anamnetische Ethik, Tübingen 2006 (= Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 23). 15 Vgl. Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit, München 2004 (= Ancien Régime. Aufklärung und Revolution 35). 16 Alle Zitate aus: Peter Burschel, Männliche Tode, weibliche Tode. Zur Anthropologie des Martyriums in der frühen Neuzeit, in: Saeculum 50/I (1999), S. 75–97, hier: S. 76. 17 Ebd. 18 Vgl. ebd., S. 83.
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tät der Geschlechter durch die Hagiographie in die Körper der Heiligen eingeschrieben wurden – ein auch weiterhin dezidiert hagiographisches Geschehen.19 Diese Einschreibungen dienten explizit dazu, den Lesenden ein Lebens- und letztlich auch Sterbensmodell vorzustellen, das sowohl vom Lebenswandel als auch von der (Geschlechter)ordnung her als erinnerungswürdig und zugleich als nachahmenswert erschien. Schließlich sollte durch Martyrologien, in denen diese Zuschreibungen und Konstruktionen in besonderer Weise zum Ausdruck kommen, das Leben der Täuferinnen und Täufer aktiv gestaltet werden; die täuferische Erinnerungskultur sollte also im jeweils einzelnen Leben einen praktischen Niederschlag und Ausdruck finden. Diese Form der Erinnerungskultur, die weit in das Leben der Einzelnen hineinreichen sollte, forderte bereits das erste täuferische Martyrologium, das im Jahr 1562 unter dem Titel „Het offer des Herren“ erschien und die Täuferzirkel im niederländischen und niederdeutschen Raum prägen sollte.20 Im Vorwort dieses im Folgenden noch genauer auf die Ausdifferenzierung der Geschlechterordnung und der neuen Lebensmodelle hin zu untersuchenden Martyrologiums fordert der Kompilator der Schrift deshalb die Lesenden auf, die hier verzeichneten Täuferinnen und Täufer als „Kinder Gottes“ und „Exempel“ zu verstehen,21 die sich nahtlos in die beeindruckenden Zeugnisse des Alten und Neuen Testaments einpassen ließen, denn: Auch ihr Leben, ihre Standhaftigkeit im Verhör und ihr Tod seien göttlich inspiriert und sollten deshalb die Lebensführung der Lesenden nachhaltig prägen. Dies sei nicht zuletzt deswegen möglich, weil die Märtyrer und Märtyrerinnen ein Beispiel dafür gäben, wie sich Gläubige in der „letzten“ und damit der „gefährlichen“ Zeit zu verhalten hätten, wenn sie aller „menschlichen Lehre“ entsagen und sich allein mit dem „Blut des Lammes“ besprengen lassen wollten, um dann schließlich ganz mit Christus zu leben, zu sterben und schließlich aufzuerstehen.22 Gottesfurcht solle deswegen auch die Frucht der Lektüre des Martyrologiums sein, ebenso die Feindesliebe und die Standhaftigkeit im Glauben.23 Insofern ist die Rede vom Lebensmodell angesichts der Martyrien zutreffend, denn sie verweist auf eine aktive Erinnerungskultur, die sowohl für Männer als auch für Frauen eine Lebensform avisierte, die – in all ihrer geschlechtlich konnotierten Unterschiedlichkeit – als heroisch und nachahmungswürdig verstanden wurde und sich bereits durch die Haltung im diesseitigen Leben zeigen sollte. 19 Vgl. Sarah Schäfer-Althaus, The Gendered Body. Female Sanctity, Gender Hybridity and the Body in Women’s Hagiography, Heidelberg 2016 (= Regensburger Beiträge zur Gender-Forschung 8). 20 Vgl. Samuel Cramer (Hg.), Het Offer des Heeren (de oudste verzameling doopsgezinde martelaarsbrieven en offerliederen), Den Haag 1904 (= Bibliotheca Reformatoria Neerlandica 2). 21 Für beide Zuschreibungen ebd., S. 54. 22 Vgl. ebd., S. 53. 23 Vgl. ebd., S. 54 f.
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2. Parität im Tod – Parität zwischen den Geschlechtern? Dass diese Aufforderungen und Themen aus der Vorrede von „Het offer des Herren“ zahlreiche Möglichkeiten offerieren, um gleichsam zu bestimmen, was vor diesem Hintergrund Weiblichkeit und Männlichkeit ausmacht, liegt auf der Hand. Denn all diese für den Nachfolgeweg unerlässlichen Eigenschaften und Kompetenzen erlauben es, dass die bestehenden kulturellen Normen diese geschlechtlich konnotieren. Gleichwohl zeichnet sich dabei ein nicht zu unterschätzendes Problem ab, denn im Moment des Todes herrscht Parität zwischen den Geschlechtern – oder: in den etwas lapidaren, aber zutreffenden Worten von Philippe Ariès: „Wir sterben alle.“24 Das bedeutet, dass mit dem Tod und der Verehrung von Täuferinnen und Täufern, die als Exempel verstanden werden, das Problem einhergeht, dass dadurch die bestehende und zeitgenössisch verankerte Geschlechterhierarchie im Grunde zumindest erst einmal aufgelöst wird. Marion Kobelt-Groch setzt dies ganz eindeutig und fast schon irreversibel, wenn sie festhält, dass Frauen und Männer der täuferischen Bewegung letztlich nicht als Individuen starben, sondern als die Schwestern und Brüder, die der Glaube aus ihnen gemacht hätte. Dies habe dazu geführt, dass der Kampf um den wahren Glauben verstanden werden könne als „levelling act that overcame all social and gender-specific barriers.“25 Im Folgenden wird allerdings zu zeigen sein, dass dies in der Tat für den Tod um des Glaubens willen als solchen gilt, nicht aber für die Erinnerungspolitik, die in den täuferischen Martyrologien betrieben wird. Denn diese zielte im Gegenteil darauf, die Parität im Tod abzuschwächen und die zeitgenössische Geschlechterordnung zu stärken. Demzufolge wurde diese Parität im Tod auch im Martyrologium „Het offer des Herren“ thematisiert – und zwar sowohl als Wunsch bzw. Bestätigung der gemeinsamen Geschwisterlichkeit im Glauben als auch als Problemanzeige. Dabei verweisen insbesondere Frauen deutlich auf die Gleichheit der Geschlechter im Märtyrertod und betonen, wie sehr dadurch die bestehende Geschlechterordnung außer Kraft gesetzt werde. Ein eindrückliches Beispiel hierfür liefert die 1539 in Amsterdam hingerichtete Täuferin Anneken Jansz (1509/10–1539): In ihrem Testament an ihren Sohn, den sie vorher noch einem Bäckermeister übergeben hatte, der – so will es die Geschichte – ihren Sohn dann auch groß gezogen hat und nicht zuletzt durch diese uneigennützige Tat zu Reichtum und zwei Brauereien gelangte, hält sie in großer Klarheit fest: „Höre, mein Sohn, die Unterweisungen Deiner Mutter, öffne Deine Ohren, um die Reden meines Mundes zu hören. Siehe, ich gehe heute den Weg der Propheten, Apostel und Märtyrer, und trinke 24 Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München 112005, S. 11. 25 Marion Kobelt-Groch, Mouldered Away in the Tower With the Fruit of the Womb? On the Treatment of Pregnant Anabaptist Women under Criminal Law, in: Brown (Hg.), Women, Gender, S. 219.
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aus dem Kelch, aus dem sie alle getrunken haben. Ich gehe den Weg, sage ich, den Christus Jesus, das ewige Wort des Vaters, … auch allein gegangen ist, auch er hat aus diesem Kelch trinken müssen … Diesen Weg haben auch die königlichen Priester beschritten, … auf diesem Weg wanderten auch die Toten, die unter dem Altar liegen, … auf diesem Weg wandelten auch die Gezeichneten des Herren … Sieh, all diese haben den Kelch der Bitterkeit trinken müssen.“26
Abb. 14: Anneken Jansz bei der Übergabe ihres Sohnes an den Bäckermeister kurz vor ihrer Hinrichtung in Rotterdam 1539, Kupferstich von Jan Luyken (1649–1712), vor 1685
26 „Hoort mijn Sone die onderwijsinge ws moeders, opent v ooren om te hooren die reden mijns monts. Siet, ic gae huyden den wech der Propheten, Apostelen ende Martelaren ende drincke den kelc, die sy alle gedroncken hebben. Ick gae den wech, segge ic, die Christus Jesus dat eewige Woort des Vaders … door hem seluen en niet door eenen anderen gewandelt heeft, ende heeft desen kelck moeten drinken … Desen wech zijn door gheghaen de Conincklijke Priesteren, … desen wech hebben getreden de dooden, die daer liggen onder den Altaer, … desen wech hebben oock ghewandelt die geteyckenden des Heeren … Siet, alle dese hebben den kelck der bitterheyt moeten drincken.“ Cramer (Hg.), Het Offer, S. 70 f.
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In ihrem Testament ermahnt Anneken Jansz ihren Sohn, ebenso wie sie Leid zu erfahren und sich durch die Übernahme des Kreuzes schon im diesseitigen Leben als wahrer Christ zu beweisen, als „Gezeichneter des Herren“ zu leben.27 Zu diesem Leben gehöre es unbedingt, den „Kelch der Bitterkeit“ zu trinken, also mit den Verfolgungen und Anfechtungen der gegenwärtigen Zeit offen und glaubend umzugehen. Doch Anneken Janszs Ansage an ihren Sohn birgt noch mehr in sich, denn sie ebnet gleichzeitig die bestehende Geschlechterordnung ein. So macht sie deutlich, dass nicht ihr Tod an sich an dieser Stelle für sie entscheidend ist. Vielmehr geht es ihr um die von ihr geleistete Einordnung ihrer Person und ihres Todes in die Reihe der zahlreichen anderen Märtyrer, Apostel, Propheten und Heiligen, auch die des Täufertums. Sie reiht sich also ohne Probleme bei den – größtenteils – heiligen Männern ein und stellt sich mit ihnen auf dieselbe Stufe. Ja, mehr noch: Diese Reihe verfolgt sie letztlich bis zu Christus selbst zurück, denn so wie dieser sterbe sie nun auch. Es ist also das gemeinsame „Trinken aus dem Kelch der Bitterkeit“, d. h. das gemeinsame Martyrium, das alle von Anneken Jansz benannten Personen auf eine Ebene stellt und auf diese Weise, ganz im Sinne von Marion Kobelt-Grochs bereits benannten Aussagen, die Unterschiede zwischen ihnen aufhebt. Nach Brad Gregory stellte Anneken Jansz keine Ausnahme dar, wenn sie den Tod um des Glaubens willen als einen Moment der Parität zwischen den Geschlechtern beschreibt. Vielmehr sei, so Gregory, dieser Grundgedanke der Parität auch auf das Leben zu erweitern, das im Zugehen auf das Martyrium von Frauen und Männern gelebt worden sei, da bereits hier die Geschlechterordnung weitgehend in Unordnung geraten sei. Denn, so hält Gregory es fest, beide Geschlechter hätten doch nicht nur aus dem Gefängnis heraus Briefe und Testamente an Freunde und Familie geschrieben, um diese zu ermahnen und zu stärken. Auch in ihren ganz konkreten Todesvorbereitungen könne mehr von einem ähnlichen als von einem unterschiedlichen Verhalten von Männern und Frauen gesprochen werden.28 So beteten sowohl Männer als auch Frauen intensiv um Gottes Gnade, um die Qualen der Folter zu bestehen und sich auf den Tod vorzubereiten. Überdies gingen beide Geschlechter davon aus, von Gott besonders für diese Lebensform auserwählt worden zu sein. Mit diesem sehr speziellen Nachfolgeweg, der das gesamte Leben umfasste, gehe zudem viel Leiden einher, das von beiden Geschlechtern in großer Gelassenheit getragen werden sollte, denn es diene nicht allein der Ehre Gottes, sondern auch der Reinigung dessen, der diesen Weg mitten in der Welt gehe. Dies erkannten sowohl jene Männer als auch jene Frauen, die sich gleichermaßen „in der Heiligen Schrift und im Exempel Christi verwurzelt“29 erlebten. Nicht zuletzt diese postulierte Nähe zu 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. Brad Gregory, Weisen die Todesvorbereitungen von Täufermärtyrern geschlechtsspeizische Merkmale auf ?, in: Mennonitische Geschichtsblätter 54 (1997), S. 52–61, hier: S. 52–54. 29 Ebd., S. 55.
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Christus deckt sich auch mit den bereits zitierten Einschätzungen von Anneken Jansz, die ihr Leben auf dieselbe Stufe stellt wie das Leben und Leiden Jesu. Zusammenfassend kommt Gregory zu dem Schluss, dass beide Geschlechter sich angesichts des Todes ähnlich verhielten, „dieselben Sorgen zum Ausdruck brachten, sich derselben Begrifflichkeit bedienten und [sich, N. G.] auf dieselben Autoritäten beriefen“, das Geschlecht also die Erlebnisse „sehr wenig geprägt zu haben“ scheint und entsprechend wenig zum Ausdruck gekommen sei.30 Insofern sorgte die neue Lebensform Martyrium dafür, dass die Geschlechterunordnung aus der Zeit der täuferischen Bewegung offenbar nicht fortbestand, Zuschreibungen von Männlichkeit und Weiblichkeit also nicht klar voneinander zu differenzieren waren, sondern hinter einem höheren Ziel zurücktraten, von dem aus dann das gesamte Leben gestaltet werden sollte. So sahen sich laut Gregory „Frauen ebenso gut wie Männer in der Lage …, die Implikationen des Glaubens in der äußersten Not zu verstehen und zu verwirklichen.“31
3. Parität im Tod – Ungleichheit in der täuferischen Erinnerungskultur? Diesem insgesamt auf Parität zielenden Befund, der die Zeit Anneken Jansz mit Grundgedanken der gegenwärtigen Forschung verbindet, ist nun aber trotz seiner Eindrücklichkeit zu widersprechen, dann nämlich, wenn er durch die täuferische Erinnerungskultur ergänzt wird. Der Blick auf die einzelnen Schriften im Martyrologium zeigt, dass der Tod zwar die Parität schuf, eine entsprechend neue Geschlechterordnung und damit auch neue Lebensformen innerhalb der täuferischen Erinnerungskultur aber dennoch nicht erwünscht waren und deshalb letztlich durch die Erinnerungspolitik im Martyrologium ausgebremst, wenn nicht gar vollends zurückgedrängt werden sollten. Dabei war es selbstredend nicht möglich, die Parität zu leugnen, die zwischen Männern und Frauen durch den Tod entstanden war. Es mussten also andere Wege gefunden werden, um eine „momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats“32 zu geben, das die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen wieder gewährleisten sollte, wie es Robert Connell in den Forschungen zur Männlichkeit so deutlich formuliert hat, als er die Re-Etablierung und Festigung der Geschlechterordnung in den Blick genommen hat. 30 Ebd., S. 57. 31 Ebd. 32 Robert Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit, Opladen 1999, S. 98 (= Geschlecht & Gesellschaft 8).
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Wie diese Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen sich im Einzelnen entwickelte, soll am Beispiel von einigen Briefen aus dem Martyrologium „Het offer des Herren“ exemplarisch deutlich gemacht werden. Diese – nicht selten auch mehrere Seiten umfassenden – Briefe stellen neben Bekenntnissen, Vermahnungen an die Gemeinde und Testamenten einen wesentlichen Bestand des Martyrologiums dar. Zudem wurden sie sowohl von Frauen als auch von Männern verfasst, teilweise handelt es sich sogar um Briefwechsel von Ehepartnern, die in besonderer Weise heranzuziehen sind, um nach der geschlechtlich konnotierten Ausgestaltung der neuen Lebensform Martyrium zu fragen. 3.1 Erste Beobachtung: Zahlen
Bereits der Blick auf einige Zahlen macht deutlich, wie eine solche Ausgestaltung der täuferischen Erinnerungskultur aussehen konnte, welche die Parität der Geschlechter, die der Tod gesetzt hat, nicht verneint, aber doch hinter sich lässt: Von den insgesamt 162 im Martyrologium genannten Personen machen die Frauen 47 aus, wobei der größte Teil von ihnen im angehängten Liederbuch besungen wird, also nicht mit eigenen Briefen, Testamenten oder Vermahnungen aufgenommen wurde. Von den Frauen liegen fünf Bekenntnisse, fünf Briefe an ihre Familien und vier Briefe an die Gemeinden vor. Ihnen stehen 12 von Männern verfasste Bekenntnisse, 13 Briefe an die Familie, in denen sie insbesondere ihre Ehefrauen ermahnen, standhaft im Glauben zu bleiben, und 13 Briefe an die Gemeinden gegenüber.33 Bei den Testamenten sieht es ähnlich aus: Anneken Jansz hatte sich in ihrem Testament auf eine Stufe mit den Aposteln, Propheten und mit Christus gestellt, aber ihr Testament ist nur eines von insgesamt zwei von Frauen verfassten Testamenten in dem umfänglichen Martyrologium. Das zweite stammt von Mayken Boosers und entstand im Jahr 1564.34 Auch sie reiht sich bewusst bei den Märtyrern ein, die vor ihr um des Glaubens willen ermordet worden sind. Während Anneken Jansz auf den Kelch verweist, aus dem sie alle – ungeachtet des Geschlechts – trinken würden, fordert Boosers ihre Kinder auf, mit aller Kraft auf göttlichen Wegen zu wandeln und sich dabei immer bewusst zu sein, dass ihre Mutter eine „heilige Frau“ sei, also ein Ansehen erreicht habe, mit dem die Kinder sich „verzieren“ könnten und sollten.35 Sie wusste also um ihre besondere Lebensform Martyrium und wünschte deshalb, dass alles, 33 Vgl. Nicole Grochowina, Von Opfern zu Heiligen. Martyrien von Täuferinnen und Täufern im 16. Jahrhundert, in: Anne Conrad/Peter Burschel (Hg.), Vorbild, Inbild, Abbild. Religiöse Lebensmodelle in geschlechtergeschichtlicher Perspektive, Freiburg i. Br. 2003, S. 121–151, hier: S. 125–128 (= Rombach-Wissenschaften 15). Zum Zahlenverhältnis der Geschlechter in täuferischen Martyrologien vgl. auch Auke Jelsma, Frontiers of the Reformation. Dissidence and Orthodoxy in Sixteenth-Century Europe, Aldershot 1998, S. 85. 34 Vgl. Cramer (Hg.), Het Offer, S. 415 f. 35 Ebd., S. 70 und S. 416.
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was ihr Leben an Gottesfurcht ausmachte, von ihren Kindern übernommen und gelebt werde. Diesen beiden Testamenten von Frauen stehen insgesamt aber neun Testamente von Männern gegenüber. Es überrascht nicht, dass sich Frauen nur auf insgesamt 30 Seiten des Martyrologiums bekennen oder bemühen durften, den Brüdern und Schwestern der Gemeinde einzuschärfen, den bereits eingeschlagenen Weg weiterzugehen, den Glauben zu bewahren und die Nachfolge Christi mit dem Tod zu besiegeln, also ihr ganzes Leben diesem Weg zu widmen und so das Martyrium zu einer Lebensform zu machen. Demgegenüber füllen Männer 246 Seiten mit diesen Aufforderungen, die auch Trost für die Gemeinden und differenziertere Berichte von theologischen Debatten und von Verfolgung, Verhören und Hinrichtungen einschließen. Allein diese quantitative Auswertung entkräftet die Setzung von Gregory aber noch nicht hinreichend, dass hier die Geschlechterordnung eingeebnet worden sei. Dennoch deutet sich hier bereits an, dass die Parität im Tod, die gleichsam für eine endhierarchisierte Geschlechterordnung stehen könnte, sich keineswegs durch die täuferische Erinnerungskultur zieht. 3.2 Vertiefte Beobachtung: Geschlechterordnung in den Briefen
Deutlicher und auch inhaltlich pointierter wird die geschlechtlich konnotierte Erinnerungskultur des täuferischen Martyrologiums beim Blick auf die Briefe, die darin gesammelt sind. Sie erfüllten sowohl für Männer als auch für Frauen einen sehr wichtigen Zweck, denn mit ihnen sollte die Familie oder die Gemeinde in direkter Ansprache dazu bewegt werden, den in den Bekenntnissen formulierten Wegen in großer Intensität weiter zu folgen, so dass der mögliche Tod um des Glaubens willen die eigene Haltung und letztlich die gesamte Lebenssituation gestaltete. Deshalb ist genau hier zu fragen, wo die Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit abzulesen und wie sie beschaffen sind. Zwei inhaltliche Aspekte beherrschen die Briefe sowohl der Männer als auch der Frauen: Zunächst rekurrieren sie alle – ähnlich wie Anneken Jansz in ihrem Testament von 1539 – auf das Leiden. Dieses müsse jeder für sich und ganz persönlich auf sich nehmen, wenn die „imitatio Christi“ eine ernsthafte sein sollte.36 Leiden war also ein, wenn nicht der Grundbestandteil dieser neuen Lebensform und ging dabei nicht mit Rebellion gegen den Verursacher des Leidens einher, sondern mit der demütigen Wehrlosigkeit des Einzelnen. Es galt, sich daran zu erinnern, wie Jesus agierte, als ihm – obwohl er Gottes Sohn war – Gotteslästerung vorgeworfen wurde. Und es galt, sich am Bild des Lamm Gottes zu orientieren, das sich um der Liebe willen hat ans Kreuz bringen lassen, um so alle Menschen zu erlösen. Insofern verwundert es nicht, dass die Täufer sich in 36 Zur Ernsthaftigkeit des „imitatio“-Gedankens vgl. ebd., S. 162.
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ihren Schriften ebenfalls als Schafe oder wehrlose Lämmer bezeichnen, die in den gefährlichen Zeiten um der Wahrheit willen auf die Schlachtbank geführt würden. Diese Spur hat bereits die Vorrede des Kompilators des Martyrologiums vorgegeben.37 Sie bestimmt demzufolge den Duktus der nachfolgenden Texte. „Lijdsamkeit“ (Leidsamkeit)38 wurde deshalb zum stehenden Begriff, der sich hierfür in der Forschung eingebürgert hat, um diese geforderte und in den Zeugnissen auch bekannte Leidensbereitschaft und Leidenserfahrung zu benennen. Brad Gregory spricht angesichts dessen gar von einer „Märtyrer-Mentalität“ der Täuferinnen und Täufer und adressiert damit insbesondere für die Zeit zwischen 1525 und 1530 den Willen, Nachfolge niemals ohne Leid und Tod zu verstehen, sondern bewusst auf beides zuzugehen und es um Gottes willen zu erleben.39 Dies macht die „Lijdsamkeit“ bzw. die Märtyrer-Mentalität zumindest in der täuferischen Erinnerungskultur geradezu zu einem „terminus technicus“40 der Bewegung, der zudem die Kraft entfalten konnte, die unterschiedlichen Zirkel miteinander zu verbinden. Insofern verwundert es nicht, dass das Leiden auch in den Briefen einen breiten Raum einnimmt und dabei insbesondere als Prüfung dargestellt wird, die aber mit Gottes Hilfe und einem gehörigen Maß an Gottesfurcht bestanden werden könne. Damit ist zugleich auch der zweite Aspekt adressiert, der in den Briefen bei beiden Geschlechtern eine wichtige Rolle spielt: die ständige Einforderung der Gottesfurcht. Diese ist auch im Zusammenhang mit dem Leiden zu sehen, denn das richtige Maß an Gottesfurcht würde es leichter machen, dem Leiden und den Anfechtungen in der Welt und insbesondere auch in der Situation des Verhörs oder der Folter zu widerstehen. All diese Herausforderungen erschienen dann als ein geradezu nichtiges Beiwerk auf dem Weg zur persönlichen Erfüllung. Sie würden durch Gottesfurcht in ihrer Bedeutung zurückgedrängt werden.41 Doch auch hier werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern deutlich erkennbar – und zwar genau dann, wenn die Anforderungen an die Gemeinden für einen korrekten, täuferischen Lebensstil formuliert werden: Wenn es also letztlich um die Frage geht, wer die Autorität besitzen soll, Gemeinden bindende und wichtige Weisungen zu geben. Diese Machtfrage korrespondiert notwendigerweise mit der Geschlechterordnung, die durch die täuferische Erinnerungspolitik gestaltet werden soll. Entsprechend der 37 38 39 40
Vgl. ebd., S. 53. Vgl. zu diesem Begriff Burschel, Sterben, S. 141. Vgl. Gregory, Salvation, S. 207. Vgl. Ethelbert Stauffer, Märtyrertheologie und Täuferbewegung, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 52 (1933), S. 545–598, hier: S. 592. Stauffer verwendet viel Aufmerksamkeit auf den Begriff der „lijdsamkeit“: ebd., S. 570–592. 41 Vgl. Cramer (Hg.), Het Offer, S. 332 f. und S. 444.
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Vorstellung, dass innerhalb der täuferischen Erinnerungskultur die Parität durch den Tod von einer hierarchisierenden Geschlechterordnung abgelöst werden soll, ergibt sich konsequenterweise, dass die Täufer in den abgedruckten Briefen einen deutlich größeren Anteil in Länge und Intensität an den Weisungen und Aufforderungen haben als die Täuferinnen. Zudem lassen sich auch inhaltliche Unterschiede klar benennen: So sind die Märtyrerinnen in ihren Forderungen an die Gemeinden grundsätzlich eher unkonkret. Nur eine von ihnen wird etwas deutlicher: Claesken (–1559), die noch 1559 Briefe aus dem Gefängnis geschrieben hat, bevor sie dann im März desselben Jahres hingerichtet wurde.42 Von ihr ist auch – und dies hat ebenfalls Seltenheitswert – ein Bekenntnis überliefert, in dem sie nur wenige Punkte inhaltlich vertieft, sich insgesamt aber darauf versteift, dass der sie verhörende „Commissarius“ nicht würdig sei, dass sie ihm antworte.43 Ihr Bekenntnis unterscheidet sich allerdings dadurch von den Bekenntnissen der Täufer, die sich jeweils ausführlich und kenntnisreich zu einzelnen theologischen Fragen (Kindertaufe, Beschneidung der Kinder, täuferischer Kirchenbegriff etc.) äußern, was Claesken in dieser Weise nicht tut. Vielmehr legt sie ihren Schwerpunkt eher darauf zu fordern, dass alle Handlungen der Lektüre der Heiligen Schrift entspringen und damit zu einem Werk der Nächstenliebe werden sollen.44 Darüber hinaus rechtfertigt sie das Leiden, indem sie die Gemeinden auffordert, nicht den breiten Weg zu beschreiten, sondern die enge Straße zu wählen und dort allezeit die Wahrheit zu verkünden.45 Die Motive der „Lijdsamkeit“ und der Gottesfurcht klingen also bei ihr gleichermaßen an. Warum hat Claesken diese besondere Rolle innerhalb des Martyrologiums inne? Ist dies als Würdigung ihres Lebens, ihrer Haltung oder ihrer Theologie zu verstehen? Abschließend ist dies nicht zu beantworten. Gleichwohl fällt auf, dass dieser Aufruf an die Gemeinde ausschließlich von Claesken formuliert wird, welche die Ehefrau des Täufers Jacques ist, von dem zahlreiche Schriften im Martyrologium zu finden sind. Und mehr noch: Er galt offenbar als Lehrer der Bewegung, hatte also eine besondere Rolle inne.46 Dies mag dann auch erklären, warum Claesken sowohl mit einem Brief an die „Freunde im Fleische“47 als auch mit einem Bekenntnis aufgenommen worden ist, denn dies hob sie nicht als Einzelperson heraus, sondern würdigte auch und gerade ihren Ehemann, auf den bereits in der Einleitung zu ihrem ersten Brief Bezug genommen wird, um Claesken
42 43 44 45 46 47
Zum umfänglichen Brief vgl. ebd., S. 330–336. Vgl. ebd., S. 336–339. Zur Abwehr des „Commissarius“ vgl. ebd., S. 338. Vgl. ebd., S. 331 und S. 160. Vgl. ebd., S. 334 und S. 331. Dies ist eine Anspielung auf Mt. 7, S. 13 f. Vgl. ebd., S. 323. Vgl. ebd., S. 330.
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so zu verorten.48 Er selbst ist im Martyrologium mit zwei extrem langen Bekenntnissen, Zeugnissen49 und einem Lied vertreten. Zudem wird am Ende seines zweiten Bekenntnisses darauf verwiesen, dass dieses in französischer, deutscher und niederländischer Sprache vorliege. Erst daran schließen sich Claeskens deutlich kürzere Schriften an.50 Außerdem wird Claeskens Rede in ihrer Wirkmächtigkeit beschnitten bzw. wieder in die hierarchisierende Geschlechterordnung eingefügt, weil sie hoch emotional erscheint und deshalb der Weisung und des Trostes bedarf. Auch hier ähnelt sie den Zeugnissen anderer Täuferinnen im Martyrologium. Konkret verweist sie auf den sechs Seiten ihres Briefes 17-mal auf das Herz und 21-mal auf die Liebe, sei es in der Anrede oder um ihre Motive zu verdeutlichen, die sie ansonsten offenbar nicht differenzierter versprachlichen kann.51 Vergleichbares findet sich in den Schriften ihres Mannes und der anderen Märtyrer nicht, so dass offenbar Emotionalität und Weiblichkeit als eng miteinander verknüpft vorgestellt wurden, während es zur Ausgestaltung der Männlichkeit gehörte, dass sich Männer – wie Claeskens Ehemann Jacques – eher in theologische Auseinandersetzungen vertieften und so den Verhörenden ihre mit Bibeltexten gesättigten Positionen entgegenhielten.52 Eine solche Unterschiedlichkeit kommt ebenfalls im Briefwechsel des Ehepaars Seghers zum Ausdruck,53 das im Martyrologium abgedruckt ist: So bekennt Jeronimus Seghers (–nach 1550) zwar, dass er unter Tränen die Briefe seiner Frau Lijsken (–nach 1550) gelesen habe, doch im gesamten Martyrologium war der Tränenfluss eindeutig die weibliche Domäne. Und auch Seghers schloss gleichsam Passagen des Trostes und der Ermutigung an.54 Zudem setzt Jeronimus Seghers auch selbst explizit die Geschlechterordnung wieder ein, wenn er in seinen Briefen die Gnade von Gott erbittet, vor seiner Frau sterben zu dürfen. Dies versteht er als „vorangehen“, sie indes solle ihm dann „folgen“. Auch wolle er großes Leiden auf sich nehmen und diesen Weg mit seinem Blut besiegeln. Und mehr noch: Er wolle vor ihr leiden, um dann um ihretwillen sein „Fleisch zu opfern“. Mit seinen Tränen könne er ihr nicht helfen, wohl aber mit seinem Blut, denn es gelte, damit den Nachfolgeweg als erster der beiden zu besiegeln. Diesen Dienst müsse sie also nicht leisten, vielmehr solle sie in Wahrheit und Gerechtigkeit bestehen bleiben, damit sie einander im ewigen Leben wiedersehen und die Zeit beständig miteinander verbringen könnten.55 48 49 50 51 52 53 54 55
Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 268–320. Vgl. ebd., S. 320. Vgl. den gesamten Brief ebd., S. 330–336. Vgl. hierzu das umfängliche Verhör von Jacques, das eher einer Disputation gleicht, ebd., S. 273–320. Zum gesamten Briefwechsel vgl. ebd., S. 126–176. Vgl. ebd., S. 151 und S. 153. Für alle Zitate: ebd., S. 151.
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Die Liebe, die hier aufleuchtet, verneint die Geschlechterordnung also nicht. Vielmehr steht sie hinter der Frage zurück, wer welches Maß an Leiden für wen auf sich nehmen soll. Zudem gibt sie Lijsken Seghers nicht die Chance, vor ihrem Ehemann getötet zu werden. Stattdessen ist es sein Wunsch, hier „voranzugehen“, im Grunde also den Weg zu bereiten, weil ihm offenbar die erforderliche Leidenskompetenz innewohnt. Letztlich beschreibt das Lied von Jeronimus Seghers – zu seiner Frau ist kein Lied abgedruckt –, dass er tatsächlich seine Liebe habe hinter sich lassen müssen, um als erster von ihnen beiden die Folter auf sich zu nehmen.56 In der Erinnerungskultur verblieb die hierarchisierende Geschlechterordnung also grundsätzlich unangetastet. Und so erfüllen Jeronimus Seghers Ehefrau Lijsken, aber auch Claesken in ihrem emotionalen Brief und mit ihrer Rückbindung an ihren Ehemann das, was wiederum Jeronimus Seghers in seinem Brief mit Blick auf die Gottesfurcht zu den Frauen in der täuferischen Bewegung formuliert: „Ihr jungen Frauen, seid eurem Mann untertan in der Gottesfurcht, und ihr Männer, habt eure Frauen lieb wie euch selbst und nehmt sie mit aller Demut und Lieblichkeit auf und vermahnt und unterweist sie mit dem Wort des Herren.“57 Gottesfurcht möge demnach die Frauen dazu führen, ihren Männern „untertan“ zu sein, während diese ihre Aufgabe der Ermahnung in allem Ernst zu erfüllen hätten. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass die Aufträge, welche die Männer in ihren Briefen an die Gemeinden weitergeben, deutlich präziser als die der Frauen sind: Primäres Ziel – so sagen sie anders und sehr viel deutlicher als ihre Ehefrauen – sei es, in einer Gemeinde zu leben, die „nicht einen Flecken, eine Runzel hat, sondern sie soll heilig, unsträflich und tadellos vor Christus in der Liebe wandeln.“58 Die Grundvoraussetzungen dafür galten als geschaffen, denn Gott habe sie selig gemacht, habe sie auserwählt, sein Volk auf Erden zu sein. Er habe sie als würdig genug anerkannt, Leid zu ertragen, um dann den ewigen Trost zu erhalten. Kurzum: Die Täufer sollten die königliche Priesterschaft, das auserkorene Geschlecht sein; an dieser Vorstellung sollten die Gemeinden immer festhalten und danach leben.59 Dennoch wurde die konkrete Umsetzung in der Welt in den Briefen der Märtyrer noch einmal eingeschärft: Dazu mussten zunächst einmal alle „Gottlosen“ vertrieben werden, das vernichtende Beil musste an die Wurzeln der Bäume angelegt werden, die keine 56 Vgl. ebd., S. 176. 57 „Ghy ionge vrouwen weest doch uwe mannen oderdanich inde vreese Gods, ende ghy mannen hebt uwe huysvrouwen lief als v seluen, ende wilt haer met alder ootmoedicheyt ende lieflijcheyt opnemen ende dragen, ende haer soetelijk vermanen ende onderwijsen met des Heeren woort“, ebd., S. 143. 58 „niet een vlecke oft rimpel en heeft, maer dat si heylich, ontsraffelijc ende onberijspelijc voor hem [Christus, N. G.] inder liefden wandelen“, ebd, S. 138. 59 Vgl. ebd., S. 141, S. 179 f., S. 190, S. 386.
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Frucht brachten.60 Erst dann würde eine reine Gemeinde entstehen, die sich anschließend in Zucht üben, im Evangelium leben und den Charakter der Reinheit bewahren sollte. Die Märtyrer empfahlen daher dringend, dass der wahre Glaube nicht zu einem Zungenbekenntnis verkommen sollte. Hier hatten die Gemeinden besonders Acht zu geben.61 In den Gemeinden bestand zudem die Aufgabe, die bereits Jeronimus Seghers adressiert hatte: Die Männer sollten die Frauen lehren und für sie sorgen. Auch in dieser Aufforderung geht er offenbar davon aus, dass die Männer den Frauen im Martyrium „vorangehen“, ihnen also durch ihre kraftvolle Leidensbereitschaft den Weg bereiten sollten. Dies erklärt auch, warum immer wieder betont wird, was geschehen solle, sobald der Ehemann ermordet worden sei. Dann solle seiner Witwe Trost zugesprochen und gut darauf geachtet werden, dass die weitere Unterweisung in der Lehre nicht aufhöre.62 Keineswegs also sollte die Frau ohne diese Fürsorge sein, die den Charakter einer Vormundschaft hatte.
4. Parität oder hierarchisierende Geschlechterordnung? Ein Fazit Insgesamt werden in „Het Offer des Herren“ keine festen Typen von Männlichkeit stilisiert, sondern geschlechtlich konnotierte Handlungsmuster entworfen, die es im Leben der täuferischen Gemeinden umzusetzen galt. Das Martyrium entsprach dabei einer wichtigen Forderung, ihm sollte nicht aus dem Weg gegangen werden. Vielmehr sollte das ganze Leben unter dieser Ägide bestritten werden – und dies hieß, ein gottgefälliges Leben zu führen, das gerade in den gefährlichen Zeiten den Willen zur „lijdsamkeit“ stärken sollte. Dabei sollte allerdings die Geschlechterordnung gewahrt werden, auch und gerade weil sie durch die Parität gestört wurde, die dadurch entstand, dass Männer und Frauen gleichermaßen um des Glaubens willen verfolgt und hingerichtet wurden, hier also alle Unterschiede zwischen den Geschlechtern eingeebnet wurden. Die dann entstehende „Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriachats“63, durch welche die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen wieder gewährleistet werden sollte, lag im bekennenden, gestorbenen Mann, der – ungeachtet aller innertäuferischen Auseinandersetzungen – gründliche Ermahnungen an seine Gemeinden hinterließ, flammende Reden hielt, standhaft im Verhör war und fast emotionslos seiner Familie Trost spendete – all dies im Vorgriff auf die wunderbare Ewigkeit, die sich nach der Parusie Christi einstellen sollte. Das heißt, dass die Parität, die durch den Märtyrertod zwischen den Geschlechtern gesetzt wurde, im Martyrologium relativiert werden sollte. Dazu betrieb der Kompilator 60 61 62 63
Vgl. ebd., S. 138. Vgl. ebd., S. 137, S. 139, S. 141 f. und S. 178. Vgl. ebd., S. 143 und insbesondere S. 191. Connell, Der gemachte Mann, S. 98.
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von „Het offer des Herren“ eine aktive Erinnerungspolitik, die auf „Erstarrung“ zielte, weil nun – nach der Zeit der Bewegung – die zeitgenössische Geschlechterordnung auch in der Lebensform Martyrium und damit in der täuferischen Erinnerungskultur wiederhergestellt werden sollte. Dazu wurde Männern und Frauen in der Schrift unterschiedlich viel Platz eingeräumt, und auch die theologischen Reflexionen sowie die konkreten Anordnungen an die Gemeinden blieben primär den Männern vorbehalten. Die Parität im Tod, die deutlich auch in den Zeugnissen einzelner Frauen betont worden ist, trat also hinter die Unterscheidung und Hierarchisierung der Geschlechterverhältnisse in der Erinnerung zurück. Damit reflektiert das täuferische Martyrologium „Het offer des Herren“ die zeitgenössische Geschlechterordnung64, ohne sie letztlich zu durchbrechen.
64 Vgl. hierzu Haude, Gender Roles, S. 440 und S. 460.
Mareike Fingerhut-Säck
Pietismus in weiblicher Generationenfolge. Christine zu Stolberg-Gedern und Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode als Gestalterinnen des Pietismus in der Grafschaft Wernigerode
1. Vorbemerkungen In einer „Vermahnung“, die die Gräfin und Pietistin Christine zu Stolberg-Gedern (1663– 1749)1 im Jahr 1721 an ihre Familie, speziell an ihre Schwiegertochter Sophie Charlotte (1695–1762) und ihren Sohn Christian Ernst (1691–1771) zu Stolberg-Wernigerode richtete, betonte sie: „Haltet euch stets zu den Frommen, habt sie lieb und folget ihnen; fliehet aber alle, die euch von der rechten Lehre oder euch von einem heiligen Wandel, wollen abziehen. Laßet euch nicht überreden, euer Stand bringe es nicht mit, daß ihr so praecise leben könnet, sondern glaubt, daß die Regeln Christi allen Ständen gelten, die seelig werden wollen … Die Gott von euch in den Obrigkeitlichen Stand gesetzet; daß sie für andere sorgen müßen, auch die bedenken, daß sie Gottes Bilder an sich tragen, auch demselben in Gerechtigkeit, Liebe und Sanftmuth gegen die Unterthanen müßen nachfolgen, und daß sie denen Unterthanen zum Besten von Gott gesetzet sind, also für die Unterthanen sorgen, und mit ihrem ganzen Wandel ihnen vorleuchten müßen, und was für eine große Verantwortung auf ihrer Seele liegt; dagegen auch, wie Gott ihnen wird beistehen, wenn sie es redlich mit Gott und ihren Unterthanen meinen.“2 Mit diesen Worten machte sie deutlich, in welcher herrschaftlichen und religiösen Verantwortung sie einen regierenden, in dem Fall vor allem pietistisch geprägten Landesherrn, dessen Ehefrau und Familie sah. Als christliche Vorbilder fungierend, sollten Graf und Gräfin indi1 Zu ihrer Person vgl. unter anderem Eduard Jacobs, Christine, geb. Herzogin zu Mecklenburg-(Güstrow), vermählte Gräfin zu Stolberg, in: ADB 4 (1876), S. 219–221, hier: S. 219. Christine stand in einem engen Verhältnis zu Philipp Jakob Spener (1635–1705), was jüngst von Dietrich Blaufuß anhand eines intensiven Briefwechsels der beiden nachgewiesen werden konnte. Vgl. dazu Dietrich Blaufuß, Pietismus und Adel. Ph. J. Spener an Christine von Stolberg-Gedern 1683–1700, URL: http://www.forschungen-engi. ch/mitarbeiter/pietismus_und_adel.pdf (Stand 27.3.2019). 2 LASA H9–9, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, Nr. 2a, fol. 6 f. Bei dem Zitat handelt es sich um einen Auszug aus einer „Vermahnung“ an ihre Kinder, die sie im Februar 1721 aufgesetzt hatte und die später bei ihrem Testament gefunden wurde.
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viduell oder als Paar den Untertanen vorstehen und sie, legitimiert über ihren Glauben, zu Pietisten und Pietistinnen machen. Dabei sollten sie nicht auf ihre Standesprivilegien verzichten, sondern sie im Gegenteil für die Erweiterung des „Reichs Gottes“3 nutzen. Der Adelsstand hatte nach Ansicht von Christine zu Stolberg-Gedern demnach die Pflicht, nicht nur die Beförderung des Pietismus zu ermöglichen, sondern aktiv für dessen Konsolidierung zu sorgen. Dass diese Sichtweise einer langen Tradition folgte und Auswirkungen auf die Handlungsspielräume vor allem von pietistischen Landesherrinnen hatte, zeigen die Beiträge im Band „Fürstinnen und Konfession“, in dem unter anderem die Frage gestellt wird, welche Handlungsräume sich für Herrschaftsträgerinnen im Zuge der Reformation und des sogenannten Konfessionellen Zeitalters ergaben.4 Heide Wunder bezieht sich in ihrem Bandbeitrag speziell auf hochadlige Damen aus dem 16. Jahrhundert und betont im Hinblick auf Fürstinnen und Gräfinnen, dass im Prozess von Reformation und Konfessionalisierung der Ausgangspunkt für ihr religionspolitisches Handeln zu finden sei. Ausschlaggebend für die Möglichkeiten von Fürstinnen und Gräfinnen, ihren persönlichen Glaubensüberzeugungen auch religionspolitisch Ausdruck zu verleihen, so Heide Wunder, seien deren eherechtliche Position und die sich daraus ergebenden Handlungsräume. Zu bedenken bleibe allerdings, dass Fürstinnen sich den neuen Lehren nicht so spontan anschließen oder sich zu ihnen bekennen konnten, wie es Menschen aus anderen Ständen möglich war. Bei Angehörigen des Herrschaftsstandes hatte die Hinwendung zu einer neuen Lehre immer eine politische Dimension, die weit über das persönliche Bekenntnis hinausging.5 Neben dem eherechtlichen Handlungsraum gewannen Frauen aber vor allem als vormundschaftliche Regentinnen ihrer minderjährigen Söhne neue Handlungsmöglichkeiten, die sie auf religionspolitischer Ebene zu nutzen wussten.6 3 Im Zusammenhang mit der Konsolidierung des Pietismus von „Reich Gottes“ zu sprechen, ist in der Grafschaft Wernigerode üblich. Vgl. dazu unter anderem die Bibeldrucke aus Wernigerode, in denen von der intendierten Erweiterung des „Reich Gottes“ in Wernigerode in den Danksagungen geschrieben wird, beispielsweise in der Bibel von 1727. Weiterhin werden Berichte vom Grafenpaar verlangt, die sich mit der „Reich Gottes Arbeit“ in ihrer Grafschaft und darüber hinaus auseinandersetzen sollen. Vgl. dazu beispielsweise LASA H9–17, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, I A Nr. 1, fol. 1, Vorbericht zum Bau des Reichs Gottes in der Grafschaft Wernigerode, 1728–1742; ebd., I A Nr. 5, Nachrichten vom Bau des Reichs Gottes aus Drübeck, 1737–1740; ebd., I A Nr. 6, Nachrichten vom Bau des Reichs Gottes in Stapelburg, 1738–1742; ebd., I B Nr. 12 „Ausbreitung und Hindernisse des Reichs Gottes unter den Juden“; ebd., I B Nr. 19 „Ausbreitung und Hindernisse des Reichs Gottes im Magdeburgischen“. 4 Vgl. Daniel Gehrt/Vera von der Osten-Sacken, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Fürstinnen und Konfession. Beiträge hochadliger Frauen zur Religionspolitik und Bekenntnisbildung, Göttingen 2015, S. 7–13, hier: S. 9 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 104). 5 Vgl. Heide Wunder, Fürstinnen und Konfession im 16. Jahrhundert, in: Gehrt/von der Osten-Sacken (Hg.), Fürstinnen und Konfession, S. 15–34, hier: S. 21 f. 6 Vgl. Wunder, Fürstinnen und Konfession, S. 24.
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Hinsichtlich der vormundschaftlichen Regentschaft, die Christine zu Stolberg-Gedern für ihren Sohn Christian Ernst zwischen 1710 und 1714 übernommen hatte und der Initiative, die ihre spätere Schwiegertochter bei der Einführung und Konsolidierung des Pietismus in der Grafschaft Wernigerode zeigte, folgt dieses Modell demnach einer Tradition, die im Prozess der Reformation und Konfessionalisierung ihren Ursprung fand, im Pietismus allerdings nochmals eine neue Dimension der politischen Partizipation für Frauen erreichte. Die Hinwendung der Grafenfamilie zum Pietismus hatte nicht nur Bedeutung für jeden Einzelnen innerhalb der Familie, sondern erhielt eine politische Dimension, die in einer umfassenden Reform der Kirchen- und Landesverordnungen im Sinne des Pietismus mündete. Während dieser Entwicklung schufen sich die Frauen als Angehörige des Herrschaftsstandes eigene politische und soziale Handlungsspielräume, um ihren pietistischen Glauben nicht nur durch individuelles, sondern auch durch öffentliches Handeln zu demonstrieren und zu festigen. Sie sahen sich dabei als „Werkzeuge Gottes“, die, legitimiert über ihren Stand, in erster Linie die Aufgabe hatten, das „Reich Gottes“ auf Erden zu erweitern und dabei besonders ihre Familie, aber auch ihre Untertanen in diese „Reich Gottes Arbeit“ einzubeziehen.
2. Glaube, weibliche Regentschaft und die Handlungs möglichkeiten einer Gräfin: Christine zu Stolberg-Gedern Als erste in der Grafschaft Wernigerode schuf sich Christine zu Stolberg-Gedern, geborene Herzogin zu Mecklenburg-Güstrow, eigene Handlungsspielräume. Eine Lebensbeschreibung der Gräfin deutet an, dass ihr starker Glaube schon aus ihrer Kindheit stammte.7 Einen entscheidenden Einfluss hatte ihre Mutter Magdalena Sybille zu Mecklenburg-Güstrow (1631–1719), geborene Herzogin zu Schleswig-Holstein- 7 LASA H9–9, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, Nr. 2a. Aus dem Leben von Fürstin Christine, o. D. Verfasst wurde der Bericht vermutlich von einer ihrer Töchter oder Enkeltöchter. Es wird zwar im Bericht betont, dass Christine keine Leichenpredigt wünsche. Die Verfasserin beabsichtigte jedoch, die Fürstin mit ihrem Bericht zu würdigen. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Aussagen aus den Lebensbeschreibungen nicht das reale Leben der Gräfin abbilden können. Lebensbeschreibungen wie diese galten häufig als Exempel für eine gottesfürchtige Lebensweise, mit der die betreffende Person sich christlicher Vollkommenheit anzunähern versuchte. Trotzdem bieten die Lebensbeschreibungen eine Annäherung an das Wirken des oder der Verstorbenen. Vgl. dazu unter anderem Ulrike Gleixner, Warum sie soviel schrieben. Sinn und Zweck des (auto)biographischen Schreibens im württembergischen Pietismus (1700–1830), in: Udo Sträter/Hartmut Lehmann u. a. (Hg.), Interdisziplinäre Pietismusforschung. Beiträge zum ersten Kongress für Pietismusforschung, Bd. 1., Tübingen 2005, S. 521–526 (= Hallesche Forschungen 17) sowie Dies., Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17. bis 19. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 119–165 (= Bürgertum. Studien zur Zivilgesellschaft 2).
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Gottorf.8 Sie galt als eine gläubige, aber auch introvertierte Frau, die es sich der Lebensbeschreibung zufolge zur Aufgabe gemacht hatte, ihren Seelenzustand zu erforschen und sich durch „einen lebendigen Glauben von den Eitelkeiten der Welt unbefleckt zu erhalten.“9 Man erkennt Bezüge zum Halleschen Pietismus, der zu Selbsthingabe und Selbstpreisgabe an Gott ermutigte, verbunden mit der Pflicht, der Welt zu entsagen10, wie dies Ulrike Witt auch für die pietistischen Überzeugungen der Frauen aus dem Umkreis des Halleschen Pietismus Abb. 15: Sterbemedaille mit dem Brustbild von beschreibt. Christine war seit ihrer KindChristine zu Stolberg-Gedern (1663–1749), leicht nach rechts in eng anschließendem Spenzer, heit „von ihren, dem wahren ChristenWitwenschleier, gefälteter Bandhaube, Halstuch und thum so beständig ergebenen, fürstlichen über den linken Arm geworfenem Hermelinmantel; Eltern … zur Liebe, Furcht und Verunter dem Armabschnitt links: J. Thibaud fecit ( J. Thibaud hat es gemacht) trauen gegen Gott sorgfältig angeführet, in der rechten Heilsordnung an Christum gründlich angewiesen und zu einem rechtschaffenen Wesen in ihrem ganzen Lebenswandel zeitlich angewöhnet worden“.11 Obwohl ihre Eltern Angehörige des Herrschaftsstandes waren und ihrer Tochter somit ein Leben boten, das von standesgemäßer Repräsentation geprägt war, distanzierte sich Christine davon schon als Kind und Jugendliche. Ihr Glaube beherrschte schon in dieser Zeit ihr Verhalten. Nach den Ausführungen des Historikers Eduard Jacobs hatte sie mit 16 Jahren ein erstes Erlebnis, das sie als Erweckung deutete. Ihr Lehrer und Freund Philipp Jakob Spener (1635–1705), mit dem sie ein enges Verhältnis verband, soll ihr allerdings vermittelt haben, dass diese Erfahrung „nur eine Auffrischung und nachhaltige Aufmunterung des in ihr schon gegründeten christlichen Lebens“ gewesen 8 Vgl. Jacobs, Christine, S. 219. 9 LASA H9–9, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, Nr. 2a, Aus dem Leben von Fürstin Christine, o. D., fol. 3. 10 Vgl. Ulrike Witt, Bildung, Bekehrung und Biographie. Frauen im Umkreis des halleschen Pietismus, Tübingen 1996, S. 231 (= Hallesche Forschungen 2). 11 LASA H9–9, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, Nr. 2a, Aus dem Leben von Fürstin Christine, o. D., fol. 3 f. Verfasst wurde die Lebensbeschreibung wahrscheinlich von einer ihrer Töchter oder Enkeltöchter.
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sei.12 Nach Genesung von schwerer Krankheit sei sie noch stärker in ihrem Glauben bestärkt gewesen und habe begonnen, einen regen Briefkontakt mit Spener zu führen, der rund 20 Jahre andauerte.13 Mit 20 Jahren heiratete die Herzogin 1683 den Grafen und Besitzer der Grafschaft Stolberg-Gedern, Ludwig Christian (1652–1710), den Bruder des Grafen Ernst zu Stolberg-Wernigerode (1650–1710). Christine und Ludwig Christian bekamen im Zeitraum von 23 Jahren insgesamt 24 Kinder, wobei deren Erziehung und der Elementarunterricht in Christines Händen lagen.14 In ihren Lebensbeschreibungen wurde hervorgehoben, dass „sie vornemlich und eifriges besorgt gewesen, um die gute Erziehung und Beförderung des leiblichen und geistlichen Wohlseyns ihrer von Gott geschenketen Kinder, wie sie denn selbst den ersten Unterricht im Lesen und in den Grundlehren des Christenthums in fleißiger Katechismusübung persönlich und unermüdet ihnen hat angedeyen lassen.“15 Am prägnantesten, vor allem in Hinsicht auf die religiöse Zukunft der Grafschaft Wernigerode, war diese pietistisch geprägte Erziehung für Christian Ernst, der am 2. April 1691 in Gedern geboren wurde.16 Nachdem der Onkel des jungen Grafen, Ernst zu Stolberg-Wernigerode, ohne männlichen Nachkommen 1710 verstorben war, ebenso sein Bruder, Christian Ernsts Vater, im selben Jahr, wurde der minderjährige Christian Ernst zum Regent über beide Grafschaften Wernigerode und Gedern bestimmt.17 Bis zu seiner Volljährigkeit übernahm nun Christine als vormundschaftliche Regentin die Geschäfte.18 Regentinnen hatten grundsätzlich die gleiche politische Handlungsfähigkeit wie die regierenden Fürsten, doch besaß häufig ihr persönlicher Glaube innerhalb ihres (religions-)politischen Handelns eine hohe Bedeutung.19 12 Jacobs, Christine, S. 219. Philipp Jakob Spener war häufiger Gast im Hause der Familie zu Stolberg-Gedern, da er als Senior des lutherischen Predigerministeriums in Frankfurt am Main zwischen 1666 und 1686 tätig war. Zu dieser Zeit hielt er zu vielen Grafenhöfen der Wetterau Kontakt. Vgl. dazu Johannes Wallmann, Der Pietismus, Göttingen 2005, S. 74 f. 13 Vgl. dazu Blaufuß, Pietismus und Adel sowie Jacobs, Christine, S. 219. 14 Vgl. Ernst Wilhelm Förstemann, Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode, Hannover 1868, S. 3 f. 15 LASA H9–9, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, Nr. 2a, Aus dem Leben von Fürstin Christine, o. D., fol. 5. 16 Vgl. LASA H9–1, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 93 Fach 1–8 Nr. 14, die Geburt des Grafen betreffend. 17 Vgl. LASA H9–2, Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 58 Fach 10 Nr. 8. Zu der Grafschaft Wernigerode gehörte noch die Grafschaft Hohenstein im südlichen Harz. Die Grafschaft Gedern trat Christian Ernst später an seinen Bruder Friedrich Carl zu Stolberg-Gedern (1693–1767) ab. Der dritte Bruder regierte in Schwarza. Die neu entstandene gederische Linie, die auch in den Reichsfürstenstand erhoben wurde, starb 1804 aus. Die Linie zu Schwarza starb schon 1748 aus und fiel an Christian Ernst. 18 Vgl. unter anderem Robert Falke, Lebensbilder aus dem Hause Stolberg-Wernigerode aus den letzten fünfhundert Jahren. 1429–1929, Wernigerode 1929, S. 58. Vgl. weiterhin LASA H9–2, Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 58 Fach 10 Nr. 8, fol. 24 f., die Vormundschaft betreffend. 19 Vgl. dazu Wunder, Fürstinnen und Konfessionen, S. 24 f.; Martina Schattkowsky (Hg.), Witwenschaft in der Frühen Neuzeit. Fürstliche und adlige Witwen zwischen Fremd- und Selbstbestimmung, Leipzig
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Christine nutzte zunächst ihre vormundschaftliche Regentschaft, um die Kirchenund Landesverordnungen in Wernigerode im Sinne des Pietismus, dem eine strenge Frömmigkeitspraxis und die Abkehr von Alkohol, Musik, Spiel und Tanz zugrunde lag, zu reformieren. Beispielhaft dafür stehen unter anderem die „Herrschaftliche(n) Verordnungen wegen der Sonn- und Fest- Tages- Feyern, auch gegen die Üppigkeiten in der Fastenzeit“20 aus dem Jahr 1711. Es sei an den Sonn-, Fest-, Buß-, und Bettagen in der Grafschaft Wernigerode gearbeitet, getrunken und gespielt worden, keineswegs akzeptable Verhaltensweisen, die verändert werden müssten, „… weil die Sonn-Fest-Buß- und Bethtage dazu einig und allein gewidmet sind / daß an denselben ein jeder Christ das Wort Gottes andächtig lesen / hören und erwegen / … und solche zum öffentlichen und allgemeinen Gottesdienst gewidmete Tag ganz feyern und … dagegen alle Uppigkeit / Anstellung der Gastereyen und anderer Zusammenkünfte / dadurch Sünde veranlasset / oder Tumult und Lermen verursacht werden … in gleich das Nachtschwermen bey Vermeydung unnachlässiger Strafe unterlassen sollen.“21 Nur wer sich wie sie selbst an diesen Tagen voll und ganz Gott widme, könne im Sinne des Pietismus ein „Kind Gottes“ werden. Selbst ein Brief des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. (1688–1740), der ihr schrieb, „daß an diesem Edikt die Bürger und Einwohner der Stadt Wernigerode Anlass genommen demnach außer der Stadt auf dem Land und in ein gantz fremdes Territorium hauffenweise zu lauffen und daselbst allerhand Üppigkeiten zu treiben, folglich der darunter intendierte auf sich selbst sehr gute Zweck nicht verrichtet worden“22, änderte nichts an der Position der vormundschaftlichen Regentin.23 Auf die Empfehlung des Königs, sie möge ihren Untertanen erlauben, nach dem Gottesdienst für eine Stunde in die Gaststätten zu gehen, wobei Tanz und Spiel weiterhin verboten bleiben sollten, erklärte Christine, sie habe durch ihre Maßnahmen Unruhe an den Sonn- und Feiertagen in der Grafschaft verhindern wollen.24 Als vormundschaftliche Regentin schuf sich Christine Handlungsräume, die sie vor allem auf religionspolitischer Ebene nutzte. Ihre persönliche Hinwendung zum Pietis-
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2003 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 6); Heide Wunder (Hg.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht, Berlin 2002 (= Beiheft der ZHF 28). LASA H9–2 Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 43 Fach 2 Nr. 4. Ebd., fol. 27. Die Verordnung wurde am 16. September 1711 auf dem Schloss Wernigerode von Christine erteilt. Vgl. ebd., fol. 34: Brief vom preußischen König an Christine zu Stolberg-Gedern vom 28. August 1712. Das alleinige Recht kirchliche Verordnungen zu erlassen, erhielt erst ihr Sohn Christian Ernst im Jahr 1714 in einem Rezess zwischen dem Grafen und dem Preußischen König. Vgl. dazu Uwe Lagatz, Modellstaatspolitik im Detail. Die Grafschaft Wernigerode im Königreich Westphalen 1807–1813, in: Thomas Großbölting/Roswitha Willenius (Hg.), Landesherrschaft – Region – Identität. Der Mittelelberaum im historischen Wandel, Halle 2009, S. 130–158, hier: S. 131 f. (= Studien zur Landesgeschichte 20). Vgl. LASA H9–2, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 43 Fach 2 Nr. 4, fol. 37. Christine zu Stolberg-Gedern an den preußischen König vom 3.10.1713.
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mus bestimmte, wie schon bei protestantischen Herrscherinnen des 16. Jahrhunderts, ihre kirchenpolitische Richtung, die wiederum den Untertanen die politische Dimension des Glaubens der Landesherrin verdeutlichte. Anders als protestantische Herrscherinnen sah sich Christine jedoch als ein „Werkzeug Gottes“, als das sie, privilegiert über ihren Stand, den Pietismus verbreiten konnte. Die hohen Ansprüche, die sie als Pietistin an ihre eigene Frömmigkeit stellte, übertrug sie auch auf ihr Umfeld. Zur Stärkung der Gemeinde forcierte sie beispielsweise im Jahr 1712 die Ausgabe eines Wernigerödischen Gesangbuches, um Konformität in den Gemeinden zu erreichen.25 Dass ihr Sohn Christian Ernst sie in vielen Belangen unterstützte und die kirchenpolitischen Ansätze, die seine Mutter geschaffen hatte, weiter ausbaute26, stellt, wie Katrin Keller verdeutlichen konnte, eine Rahmenbedingung von erheblicher Bedeutung schon seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts für die Handlungsoptionen und Handlungsspielräume von Fürstinnen bzw. Regentinnen dar.27 Auch Pauline Puppel zeigt auf, dass weibliche Regentschaft konstitutiv für die Herrschaftssicherung regierender Dynastien gewesen ist.28 Im Jahr 1716 wurden die von Christine erlassenen Ordnungen in vollem Umfang von ihrem Sohn Christian Ernst übernommen und nochmals bestätigt.29 Später profitierte auch seine Ehefrau Sophie Charlotte von der kirchenpolitischen Basis, die ihre Schwiegermutter als vormundschaftliche Regentin geschaffen hatte.
3. Zwischen Glaube und Stand zum „Werkzeug Gottes”: Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode Am 31. März 1712 heiratete Christian Ernst die 17-jährige Sophie Charlotte zu Leiningen-Westerburg (1695–1762) (vgl. Tafel 14). In der älteren Forschung wird vermutet, dass die junge Gräfin auf Anraten von Christine zu Stolberg-Gedern an ihren Hof geholt und mit ihrem Sohn verheiratet wurde.30 Dieser Gedanke liegt nahe, da es, wie Anne-Simone Rous herausstellt, üblich war, dass sich Herrschaftsträgerinnen an der 25 Vgl. ebd., 50 Fach 10 Nr. 2. 26 Vgl. ebd., 43 Fach 2 Nr. 4, fol. 42 f. Bestätigung der Deklaration Christines in allen Punkten vom 12.5.1716. 27 Vgl. Katrin Keller, Hüterin des Glaubens. Fürstin und Konfession in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Gehrt/von der Osten-Sacken (Hg.), Fürstinnen und Konfession, S. 35–61, hier: S. 37. 28 Vgl. Pauline Puppel, Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500–1700, Frankfurt a. M./ New York 2004 (= Geschichte und Geschlechter 43). 29 Vgl. LASA H9–2, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 43 Fach 2 Nr. 4, fol. 42 f. Bestätigung der Deklaration Christines in allen Punkten vom 12.5.1716. 30 Vgl. unter anderem Elisabeth Quast, Christian Ernst Graf zu Stolberg-Wernigerode (1691–1771) und der Pietismus, in: Philipp Stolberg-Wernigerode/Jost-Christian Stolberg-Stolberg (Hg.), Stolberg 1210–2010. Zur achthundertjährigen Geschichte des Geschlechts, Dößel 2010, S. 154–171, hier: S. 158 f.
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Heiratspolitik ihrer Kinder beteiligten31 und auch hierdurch Handlungsmöglichkeiten ausbildeten. Sophie Charlotte war in ihrer Kindheit ebenfalls pietistisch erzogen worden, so dass sich das Paar im gleichen religiösen Sinnhorizont bewegte, eine gute Voraussetzung für eine gemeinsame religionspolitische Ausrichtung.32 Im Pietismus, so Andreas Gestrich in Bezug auf die Partnerwahl, sei über eine gemeinsame religiöse Grundlage der Ehepartner eine Transformation des natürlichen in ein geistliches Verhältnis gelungen, was die Ehe zu einem Symbol der Vereinigung Christi mit der Kirche hätte werden lassen.33 Man suchte nicht nur einen Ehepartner oder eine Ehepartnerin, sondern auch einen Partner bzw. eine Partnerin im Geiste.34 Dies traf auf Christian Ernst und Sophie Charlotte zu: Das pietistische Paar stellte sich im Verlauf seiner Ehe als ein ‚Arbeitspaar‘ dar, wobei Sophie Charlotte als Haus- und Landesmutter ihre Handlungsmöglichkeiten zu nutzen wusste, um den Pietismus innerhalb der Familie und innerhalb der Grafschaft zu konsolidieren.35 Nach der Hochzeit 1712 begann für beide sehr schnell eine Zeit der Veränderungen.36 Christian Ernst stand noch unter der Vormundschaft seiner Mutter, unterstützte sie aber schon in ihren Regierungsgeschäften, vor allem in Bezug auf die Reformierung der Kirchen- und Landesverordnungen. Im Juni 1712 zog das junge Paar von Gedern nach Wernigerode. „Das neuvermählte Paar hatte nun in Wernigerode auf dem damals verödeten Schlosse seine gemeinschaftliche Laufbahn begonnen und schuf in jeder Hinsicht eine neue Welt um sich her. Freude und Segen wurde auf mannigfache Weise verbreitet und vorzüglich, seit dem die Stimme des heiligen Geistes ihnen selbst immer hörbar zu ihrem Herzen sprach, und Sophie Charlotte nicht nur in ihren Kindern das Haus baute, sondern auch als eine Mutter in Israel, wie es von Deborah heisst, eine Mutter der Gläubigen wurde“.37 Die Konsolidierung des Glaubens in der Familie und in der Grafschaft 31 Vgl. Anne-Simone Rous, Fürstinnen als Ehestifterinnen im konfessionellen Zeitalter, in: Gehrt/von der Osten-Sacken (Hg.), Fürstinnen und Konfession, S. 107–124, hier: S. 107. 32 Vgl. Gleixner, Pietismus und Bürgertum, S. 209–236. Zu grundsätzlichen Ehefragen im Pietismus, vor allem auch im theologischen Sinne vgl. Wolfgang Breul/Stefanie Salvadori (Hg.), Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus, Leipzig 2014 (= Edition Primustexte 5). 33 Vgl. Andreas Gestrich, Ehe, Familie, Kinder im Pietismus. Der „gezähmte Teufel“, in: Hartmut Lehmann/ Ruth Albrecht u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelt, Göttingen 2004, S. 498–521, hier: S. 504. 34 Vgl. Gleixner, Pietismus und Bürgertum, S. 209–236. 35 Vgl. Heide Wunder, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 262 f. Zum Konzept des Arbeitspaares vgl. Dies., Überlegungen zum Wandel der Geschlechterbeziehungen im 15. und 16. Jahrhundert aus sozialgeschichtlicher Sicht, in: Dies./Christina Vanja (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 12–26. 36 Vgl. LASA H9–1, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 93 Fach 1–8 Nr. 28; ebd., 4 Fach 1–5 Nr. 12. Zur Hochzeit und zum „Ehepacta“ zwischen den beiden vom 4. April 1712. 37 Ebd., 1 Fach 1 Nr. 18 fol. 6. Züge aus dem Leben der Gräfin Christiane Luise von Leiningen-Westerburg und deren Tochter. AutorIn und Verfassungszeitraum sind nicht bekannt. Es handelt sich bei der
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besaß für Sophie Charlotte Priorität.38 Voraussetzung dafür war in ihren Augen eine gute christliche und elementare Bildung für ihre Kinder sowie für die Untertanen. Zwischen 1713 und 1728 brachte sie insgesamt 12 Kinder zur Welt, von denen innerhalb von neun Jahren acht im Kleinkindalter verstarben.39 Der einzig überlebende Sohn, der spätere Mitregent und Nachfolger Heinrich Ernst zu Stolberg-Wernigerode (1716–1796)40, erhielt wie seine Schwestern eine Erziehung im Sinne des Pietismus. Anders als sein zuvor verstorbener älterer Bruder war Heinrich Ernst jedoch nicht zu seiner Großmutter nach Gedern geschickt worden, sondern sollte in der Obhut seiner Eltern verbleiben und sowohl durch Sophie Charlotte als auch durch Lehrpersonal aus den theologischen Fakultäten in Halle oder Jena unterrichtet werden. Vor allem Sophie Charlotte bemühte sich um geeignetes Lehrpersonal für die Kinder, nahm somit aktiv an personalpolitischen Entscheidungen teil und überließ die Auswahl nicht allein ihrem Mann.41 Wie zuvor Christine zu Stolberg-Gedern sah auch Sophie Charlotte sich selbst wie ihren Sohn, den späteren Regenten, als „Werkzeug Gottes“ an. Als solches sei es ihre Aufgabe, die Bewohner ihrer Grafschaft durch die Verherrlichung des Namens Gottes zum Pietismus zu führen, wobei sie betonte, wie wichtig die entsprechende Ausbildung für ihre Kinder und Nachfolger sei, um dieses Werk fortzuführen. Für das Ziel, den Pietismus dauerhaft in Wernigerode zu konsolidieren und für die Ansprüche, die dafür an den künftigen Wernigeröder Grafen gestellt wurden, reichte es nicht, Heinrich Ernst allein durch seine Mutter im elementaren Bereich erziehen zu lassen. Vielmehr sollte er umfassend von pietistisch geprägten Lehrern in Geschichte, Genealogie, Geographie und Chronologie sowie der Sittenlehre und Politik unterrichtet werden.42 Mehr noch als im Protestantismus war es im Pietismus wichtig, dass zukünftige Herrscher oder zukünftige
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Verfasserin aber vermutlich um die Urenkelin Louise von Schönberg, geb. Gräfin zu Stolberg-Wernigerode (1771–1856). Dass sich das „regierende Paar“ bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts herauskristallisierte, stellte schon Heide Wunder heraus. Vgl. Wunder, Fürstinnen und Konfession, S. 33. Vgl. Detlev Schwennicke (Hg.), Europäische Stammtafeln Bd. XVII., Frankfurt a. M. 1998, Tafel 102. Vgl. LASA H9–1, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 93 Fach 1–8 Nr. 19. Zur Geburt von Heinrich Ernst. Zur Mitbestimmung an der Personalpolitik vgl. beispielsweise LASA H9–16, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, I Nr. 103 fol. 1 ff. Die Berufung der Informatoren Zimmermann oder Lau betreffend. Vgl. LASA H9–2, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 44 Fach 6 Nr. 15. Zu bemerken bleibt, dass dies in erster Linie, wie Andreas Pečar herausstellt, den gängigen Erziehungsmethoden adeliger Knaben dieser Zeit entspricht, in der der Geburtsstand alleine nicht mehr ausreichte, um seine Position als Führungskraft, ob in Regierungsämtern oder am Hof, durchzusetzen. Die Konkurrenz durch gut ausgebildete bürgerliche Personen wuchs stark an. Aus diesem Grund wurde eine umfangreiche Unterweisung der Kinder immer notwendiger. Vgl. dazu Andreas Pečar, Adelserziehung und Pietismus – ein Widerspruch?, in: Claus Veltmann/Thomas Ruhland (Hg.), „Mit göttlicher Güte geadelt“. Adel und Hallescher Pietismus im Spiegel der Fürstlichen Sammlungen Stolberg-Wernigerode, Halle 2014, S. 89–98, hier: S. 89 (= Kataloge der Franckeschen Stiftungen 31).
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Herrscherinnen lernten, ihren Stand zu nutzen, um mit Gottes Unterstützung die religiöse Erneuerungsbewegung im Herrschaftsgebiet zu festigen.43 Sophie Charlotte war es, die sich dafür verantwortlich sah, ihre Kinder in die Frömmigkeitspraxis einzubinden, die sich im Laufe der Regierungszeit des pietistischen Grafenpaares am Hof und in der Grafschaft herausgebildet hatte. Dies zeigt ein Bericht des Hofpredigers und Lehrers Johann Liborius Zimmermann (1702–1734), der die Frömmigkeitspraxis am Hof unter Sophie Charlotte und Christian Ernst als intensiv und konstant beschreibt: „Mein gnädiger Herr stehen in den größten Bewegungen und wollen sich ernstlich zu Gott bekehren. Unsere teuerste Gräfin danebst der gnädigsten Komtesse Sophie, wie auch die gesamte Herrschaft stehen in einem recht ernstlichem und gesegnetem Zustande. Ich darf kommen, wann ich will, und wird ihnen die Zeit nicht zu lang, wenn ich Tag und Nacht um ihnen säße … Ja, das ist ihnen nicht genug, sondern auch außerdem suchen sie Gelegenheit, durch vieles Spazierengehen und Ausfahren mit mir und Herrn Lau ihre Zeit recht himmlisch zuzubringen, in dem dabei nichts anderes gethan als gebetet, gesungen, und von göttlicher Wahrheit gesprochen wird. Und weil solches auf öffentlichem Felde geschiehet, da oft Leute herdurchgehen, erschallt solches bereits in der Stadt und ganzem Land herum.“44 Untermauert wird die Beobachtung durch einen Pfarrer aus Wernigerode, der in seinen Aufzeichnungen ebenfalls von sogenannten Feldpredigten schreibt, an denen die gesamte gräfliche Familie teilnahm.45 Sophie Charlotte zeigte demnach Engagement in der Frömmigkeitspraxis ihrer Familie und forcierte die eigene Unterweisung sowie die der Familienmitglieder in den Lehren des Pietismus. Neben Heinrich Ernst sollten selbstverständlich auch die Töchter, wie bereits die Mutter und Schwiegermutter, im Sinne des Pietismus erzogen werden und an der Konsolidierung des Pietismus in der Grafschaft mitwirken. Hierfür wurden zuerst Christine Eleonore (1723–1786) von 1752 bis 1755 und dann Luise Christiane (1713–1796) von 1755 bis 1796 als Äbtissinnen im Damenstift in Drübeck eingesetzt. Das Kloster war im Zuge der Mediatisierung im Jahr 1714 in die Verantwortung von Christian Ernst übergegangen, und er veranlasste ab 1720 eine Renovierung der Anlage.46 Angelehnt an die pietistische Frömmigkeitspraxis erbaute er neben den klösterlichen Gemeinschaftsräumen auch separate Räume für die individuelle Frömmigkeitspraxis der Stiftsdamen, ließ Bibel43 Vgl. dazu unter anderem LASA H9–2, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 44 Fach 6 Nr. 9. In dieser Akte, die sich mit der Berufung eines Pietisten zum Hofdiakon beschäftigt, äußert der Graf ebenfalls die Bitte, dass dieser zusätzlich als Lehrer seines Sohnes agieren soll. 44 Zitiert nach Jacobs, Johann Liborius Zimmermann, S. 155. Es handelte sich hierbei wohl um einen Brief vom 20.10.1728, aus dem der Bericht entnommen wurde. 45 Vgl. ebd., S. 156. 46 Zu baulichen Veränderungen vgl. beispielsweise LASA H9–2, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 44 Fach 4 Nr. 8. Die Verordnungen des Grafen bezüglich des Stifts aus dem Jahr 1739.
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sprüche im Inneren des neu erbauten Gartenhäuschens anbringen, um dadurch dem Raum den Charakter einer „Betkapelle“ zu geben47 und schaffte im Jahr 1730 den gewohnten Sonntagsgottesdienst zugunsten einer täglichen Erbauung durch Katechismusunterricht, das Singen frommer Lieder sowie die Auslegung von Bibelsprüchen ab.48 Im Jahr 1731 erließ er außerdem eine neue Klosterordnung und befahl, dass diese jeder Äbtissin bei ihrer Einführung vorgelesen werden müsse.49 Die jüngste Tochter Ferdinande Adriane (1718–1778), die nicht Äbtissin geworden war, heiratete den Grafen Ludwig Friedrich zu Castell-Remlingen (1707–1772). Dieser war ebenfalls Anhänger des Pietismus und versuchte durch die Aufnahme verfolgter Pietisten in seinem Gut Rehweiler die religiöse Erneuerungsbewegung zu befördern.50 In seinem pietistischen Wirken unterstützte ihn nach der Heirat 1744 auch seine Frau aus dem Hause Stolberg-Wernigerode, ganz so, wie es ihre Mutter in ihrer Ehe tat. Sophie Charlotte befand sich zu Beginn ihrer Regierung noch in einem ständigen Dilemma zwischen ihrem Glauben und Stand, was sie unter anderem in ihren Aufzeichnungen im Personalia-Teil ihrer Leichenpredigt thematisierte.51 Als Gräfin und Landesmutter wurde von ihr erwartet, ein repräsentatives Leben zu führen. Teure Kleidung, Feste mit Musik und Tanz und andere ‚weltliche‘ Vergnügungen gehörten zum adligen Alltag. Anders als im Protestantismus war dies jedoch nicht mit der pietistischen Lebensweise, die eine Abkehr von solchen Dingen verlangte, vereinbar. Sophie Charlotte musste also, wie schon ihre Schwiegermutter Christine zuvor, einen Weg aus diesem Widerspruch finden und zugleich eine Landesherrin werden, die die ihr gewährten Handlungsräume in der Kirchenpolitik auch zu nutzen wusste. Bis zu ihrem Bekehrungserlebnis im Jahr 1728 befand sich Sophie Charlotte anders als ihr Mann in einem fortwährenden Bußkampf.52 Erst die Ankunft des Jenaer Theologen Johann Liborius Zimmermann am Wernigeröder Hof konnte ihren inneren Zwiespalt zum Teil auflösen. „Anno 1727 wurde Johann Liborius Zimmermann, eines Bürgers u. Bäckers in Wernigerode Sohn, der damals noch als Magister legens in Jena stand, bey dem gräfl. Hofe bekannt. Dieser Mann war das gesegnete Werkzeug, das Gott fürnemlich zur mehreren Aufrichtung des Reichs Christi in dieser Grafschaft gebrauchte. Er fand sonderlich an der Frau Gräfin, Sophie Charlotte, einer geborenen Gräfin von 47 Vgl. dazu Thomas Grunewald, „Vergnügte Einsamkeit, Verborgenes stilles Leben“. Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode und das Damenstift Drübeck, in: Veltmann/Ruhland (Hg.), „Mit göttlicher Güte geadelt“, S. 51 f., hier: S. 51. 48 Vgl. dazu LASA H9–2, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 44 Fach 4. Verordnung bzgl. der Betstunden und des Lesens von Bibelsprüchen vom 15.7.1730. 49 Vgl. Förstemann, Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode, S. 109. 50 Vgl. dazu Hermann Schüssler, Castell-Remlingen, Ludwig Friedrich Graf zu, in: NDB 3 (1957), S. 172. 51 Vgl. HAB, Nr. 15158, Leichenpredigt auf die Gräfin Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode, S. 321. 52 Ebd., S. 324 f.
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Leiningen Westerburg, ein Gemüth, das der Eitelkeit ziemlich müde war, u. sich nach was besseres sehnete …“.53 Am 20. April 1727 hielt Zimmermann in der Schlosskirche eine Predigt, die vom Seelenfrieden handelte. Die Worte des Predigers erweckten vor allem die Aufmerksamkeit Sophie Charlottes, da sie sich in ihnen wiederfand. Wie die Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus54 zweifelte auch Sophie Charlotte, ob sie eine weltflüchtige Selbsterforschung mit dem Ziel der Gotteserkenntnis einerseits, mit der Bewährung in der „Welt“, das heißt mit ihren Aufgaben und den Erwartungen an sie als Haus- und Landesmutter andererseits, in Einklang bringen könne, um die eigene Bekehrung zu erreichen. Die Handlungsräume, in denen sie ihr religiös motiviertes Engagement auf eine „Umgestaltung der Welt“, also die Konsolidierung des Pietismus aus herrschaftlicher Direktive, hätte richten können, waren für sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht sichtbar.55 Erst der Gesprächspartner Zimmermann nahm ihr ihre Ängste und Zweifel, indem er ihren Stand anerkannte, jedoch betonte, dass der Weg zu Gott und zu einem frommen Leben im Sinne der religiösen Erneuerungsbewegung für alle Menschen, gleich welchen Geschlechts und Standes, gleich sei. Vielmehr sollte eine hochgestellte Pietistin die Handlungsoptionen, die sie durch Reichtum und Wirkungsmacht besitze, dafür nutzen, den Untertanen Wohl und Seelenheil zu bringen, ein Weg, der für Sophie Charlotte bestimmt sei.56 Die Interpretationen Zimmermanns ähneln den Vermahnungen, die Christine zu Stolberg-Gedern schon Anfang der 1720er-Jahre für Sophie Charlotte und Christian Ernst formuliert hatte. Anders als im Protestantismus müsse der hohe Stand als Privileg und Voraussetzung für Handlungsmöglichkeiten angesehen werden, durch die eine Bekehrung der Menschen zum Pietismus viel effektiver möglich sein und auch genutzt werden sollte.57 Durch die Unterstützung und Bekräftigung, die Gräfin Sophie Charlotte in der Konversation mit Zimmermann erfuhr, fing sie an, ihren Stand allmählich zu akzeptieren und sich Räume innerhalb ihrer Tätigkeit als Haus- und Landesmutter zu schaffen, die es erlaubten, sich außerhalb ihrer damit einhergehenden Pflichten ihrem Glauben zu widmen. „Es ward mir aber das Wort gleich leid, das ich gesagt hatte: ich hätte keine Zeit vor mich zu beten; denn ich sahe bereits an selbigem Tage, daß man dann und
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LASA H9–17, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, I A Nr. 1. Vgl. Witt, Bildung, Bekehrung und Biographie, S. 231. Vgl. ebd., S. 234. Zu der Konversation mit Zimmermann vgl. unter anderem LASA H9–16, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, I Nr. 103, Brief Nr. 3. Zimmermann an Sophie Charlotte vom 2.8.1728 sowie ebd., XI Nr. 23. Fragmente ihres Tagebuches aus dem Jahr 1728, in denen sie von der Konversation mit Zimmermann berichtet. 57 LASA H9–9, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, Nr. 2a, „Vermahnung“ der Fürstin Christine an ihre Kinder, von 1721.
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wann schon ein Viertelstündgen allein bekommen könne, und konnte ich es anders nicht haben, so bediente ich mich eines ganz geheimen Ortes, da suchte mich niemand auf.“58 Das prägnanteste Ereignis, das letztlich dazu führte, dass Sophie Charlotte sich ganz der „Reich Gottes Arbeit“ widmete und ihre Handlungsräume als Haus- und Landesmutter intensiv nutzte, war ihre eigene Bekehrung, die sie am 10. September 1728 in Wernigerode erfuhr und von der sie wie folgt berichtet: „So bald ich Gott als einen Vater anrufen wollte, so bald war mir in meinem Gemüthe; das kanst du nicht, er ist dein Vater nicht, welches mich manchmal sehr niederschlug, bis mir GOtt am 10 ten September, ich nenne solchen meinen Geburtstag, indem ich die vorige Zeit nicht zu meinem Leben rechnen darf,) des Nachts die Gnade that, daß, da ich im besten Schlaf lag, ich erwachen musste, und mir in den Sinn kam, ich sollte beten, da ich auch gleich niederfiel, und recht herzlich bat, GOtt mögte mich doch zu seinem Kinde annehmen, mein vergangenes Leben nochmals recht herzlich bereuete und mich so GOtt ganz hinlegte. Da wurde mir ganz gewiß in meinen Sinn eingedruckt, ich könne nun GOtt meinen Vater nennen, welches ich auch mit großer Freudigkeit that.“59 Sie schien demnach – als Pietistin ihr größter Wunsch – mit 33 Jahren endlich bekehrt. Dieses Ereignis bewog sie dazu, wie sie am Ende ihrer Ausführungen zur Bekehrung selbst andeutet, als Exempel für andere voranzugehen und im Dienste Gottes zu arbeiten: Aus „Kindern der Welt“ sollten „Kinder Gottes“ werden. Im weiteren Verlauf ihres Lebens verfolgte Sophie Charlotte eben dieses Ziel, einerseits durch die Partizipation an der Regierung ihres Mannes und andererseits durch eine sichtbar gelebte Frömmigkeitspraxis. Sich als „Seelsorgerin der Untertanen“ verstehend, empfing sie nun stunden- und manchmal sogar tageweise Frauen und Männer aus der Grafschaft auf dem Schloss und besprach mit ihnen ihre Seelennöte. Dabei verteilte sie Erbauungsbücher in großen Mengen.60 Weiterhin beteiligte sich Sophie Charlotte intensiv an der Personalpolitik ihres Mannes und beriet bzw. beeinflusste ihn, wenn es um die Einstellung von Predigern in der Grafschaft ging. Nicht nur die Berufung von Johan Liborius Zimmermann oder seines Nachfolgers Samuel Lau (1703–1746) nach Wernigerode können dem Einfluss der Gräfin zugeschrieben werden.61 Vielmehr nahm Sophie Charlotte die Korrespondenz mit vielen auswärtigen Theologen auf. Ihre Netzwerkarbeit zeigt, dass sie als Akteurin
58 HAB, Nr. 15158 Leichenpredigt auf die Gräfin Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode, S. 330. 59 Ebd., S. 334. 60 Vgl. das unveröffentlichte Manuskript von Ilse Saft, Wernigerode unter Graf Christian Ernst als Pflegestätte des Pietismus 1691–1771, in: Yb 215 km, Fürstliche Herrschaftsbibliothek Stolberg-Wernigerode, S. 1–31, hier: S. 13. 61 Zur Mitbestimmung an der Personalpolitik vgl. beispielsweise LASA H9–16, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, I Nr. 103 fol. 1 ff., die Berufung von Zimmermann oder Lau betreffend.
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im Pietismus auftrat und sich aktiv an der religiösen Erneuerungsbewegung beteiligte.62 Was Ulrike Gleixner in ihrem Konzept des „Pietismus als Netzwerk“ im Hinblick auf den Adel konstatiert, dass nämlich insbesondere (hoch)adlige Frauen privilegierte Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf pietistische Netzwerke besaßen und häufig eine handlungsorientierte Allianz zwischen hochadligen Frauen und Geistlichen existierte63, lässt sich auch für Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode eindeutig bestätigen. Das gut ausgebaute pietistische Netzwerk, das sich seit Ende des 17. Jahrhunderts unter den pietistisch geprägten Adelshäusern des protestantischen Europas und darüber hinaus gebildet hatte, bot auch für sie umfangreiches Potenzial, um ihre Herrschaft auszubauen und zu etablieren. Sophie Charlotte korrespondierte mit den bekanntesten pietistischen Vertretern und Vertreterinnen ihrer Zeit. Nachdem durch Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode erste Kontakte nach Halle geknüpft worden waren, intensivierte sich die Kommunikation mit den dortigen Anhängern des Pietismus recht schnell, und es kam zu einem regen Austausch zwischen der Grafenfamilie und August Hermann Francke (1663–1727) sowie Anhängern Franckes, die verstreut weit über Halle hinaus lebten. Die Beziehungen wurden genutzt, um sich zur gegenseitigen Erbauung Bücher, musikalische Kompositionen und Predigten zu schicken oder sich, wenn es möglich war, persönlich in Wernigerode oder Halle auszutauschen.64 Sophie Charlotte informierte sich regelmäßig über die „Reich Gottes Arbeit“ und tauschte ihre Gedanken rund um den Pietismus und seine Frömmigkeitspraxis mit ihren Korrespondenzpartnern wie z. B. Johann August Seydlitz (1704–1751), Anton Heinrich Walbaum (1696–1753) oder Gotthilf August Francke (1696–1769) aus.65 Dazu verschickte die Gräfin eigene Betrachtungen, die sie nach dem Anhören von Predigten oder nach markanten Lebensereignissen, wie Geburt, Hochzeit oder Tod, verfasst hatte, um sie mit den Briefpartnern zu besprechen. Im Gegenzug ließ sie sich vor allem Gedichte, Aufsätze, Predigten oder auch Leichenpredigten zusenden.66 Daneben verkehrte Sophie 62 Vgl. Pia Schmid, Vorwort, in: Dies. (Hg.), Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen, Halle 2015, S. VII (= Hallesche Forschungen 40). 63 Vgl. Ulrike Gleixner, Potenziale eines Konzepts „Pietismus als Netzwerk“ für die Genderforschung, in: Schmid (Hg.), Gender im Pietismus, S. 3–17, hier: S. 14. 64 Vgl. Quast, Christian Ernst Graf zu Stolberg Wernigerode, S. 160 f. 65 Zu Seydlitz vgl. unter anderem LASA H9–16, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, I Nr. 81, fol. 12. Briefwechsel der Gräfin mit der Familie Seydlitz sowie ebd., I Nr. 81. Seydlitz an Sophie Charlotte, 13.4.1738. Zu Walbaum vgl. u. a, LASA H9–17, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, I B Nr. 13. „Die Nachricht zur Ausbreitung und Hindernissen des Reichs Gottes im Harz“, die er an Sophie Charlotte verschickte. Zu Francke vgl. den zahlreichen Briefkontakt bzgl. der dänisch-halleschen Mission, LASA H9–1, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 67 Fach 6 Nr. 1, fol. 42 f. Francke an Sophie Charlotte zur Ordination der Missionare, 5.11.1733. 66 In der Korrespondenz zwischen Gotthilf August Francke und Sophie Charlotte kam es zu einem intensiven Austausch von sogenannten Geistlichen Betrachtungen, Gedichten oder auch Büchern. Vgl. dazu
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Charlotte mit einflussreichen Adelshäusern des 18. Jahrhunderts und hatte unter anderem intensiven Kontakt zu den Adelsgeschlechtern Sachsen-Coburg, Reuß-Köstritz, Solms-Laubach, Castell-Remlingen oder Anhalt-Köthen.67 Außerdem stand sie zusammen mit ihrem Mann mit dem dänischen Königshaus in engem Kontakt. Den dänischen Kronprinzen Christian (1699–1746) lernte sie bei einer Fahrt nach Halle zu Gotthilf August Francke, die sie mit ihrem Mann im Jahr 1728 unternahm, kennen. Die Männer verband eine enge verwandtschaftliche Beziehung, da ihre Mütter Schwestern waren.68 Aus diesem ersten Kontakt entwickelte sich nicht nur eine Freundschaft, sondern auch eine politisch-religiöse Zusammenarbeit. Mit seiner Krönung im Jahr 1730 ernannte Christian von Dänemark Christian Ernst zu seinem Berater. Den Titel eines Geheimen Rats führte dieser von 1735 bis 1745.69 Sophie Charlotte reiste nicht nur mit ihrem Mann nach Dänemark, sie stand auch in regem Briefkontakt mit Personen am dänischen Königshof, ließ sich durch die Korrespondenz über die dortige Konsolidierung des Pietismus informieren und erbaute sich an den ihr zugesandten Schriften.70 Als Netzwerkerin veranstaltete die Gräfin zusammen mit ihrem Mann an christlichen Feiertagen wie Weihnachten, Ostern oder Pfingsten Festkonferenzen auf dem Schloss. Hierbei kamen Pietisten und Pietistinnen aus der Grafschaft sowie von außerhalb zusammen, um sich gegenseitig zu erbauen und über den Fortschritt in der „Erweiterung des Reichs Gottes“ zu berichten.71 Auch an den Predigerkonferenzen, die in monatlichen Abständen in den Pfarrhäusern oder im Waisenhaus in Wernigerode abgehalten wurden, beteiligten sich Sophie Charlotte oder andere Mitglieder der Grafenfamilie.72 Zur Festigung einer strengen Frömmigkeitspraxis, die für das pietistische Grafenpaar einen unter anderem AFSt/H C 703 : 15. Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode an Gotthilf August Francke vom 24.1.1732, mit dem Dank der Übersendung von Psalter, Predigten und Büchern. 67 Vgl. den Nachlass von Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode. Dort befinden sich nicht nur 100 Briefe von verschiedenen Personen an ihre „Freunde“, sondern ebenso 42 Briefe von verschiedenen Personen sowie über 35 Briefpartnern und Briefpartnerinnen der Gräfin. Vgl. dazu LASA H9–16, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, Nachlass Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode, die unter Punkt 01. aufgeführten Briefe. 68 Vgl. HAB, Nr. 15158 Leichenpredigt auf die Gräfin Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode, S. 332. 69 Vgl. dazu LASA H9–2, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 1 Fach 5–6 Nr. 6a. Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode und seine Übernahme und Abgang von den Geschäften der königlichen Höfe. 70 Vgl. LASA H9–16, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, VII Nr. 7. Aus dem Nachlass von Sophie Charlotte, Reisediarium nach Dänemark, 1735. 71 Vgl. zu den Festkonferenzen unter anderem LASA H9–17, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg- Wernigerode, IV A Nr. 6 ff. Weihnachts-, Oster- und Pfingstkonferenzen zwischen 1735 und 1750. 72 Zu den Predigerkonferenzen vgl. unter anderem LASA H9–1, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 67 Fach 1–3, Nr. 17, fol. 100 f. Die Aufzeichnungen über die Konferenzen, die vor allem im neuen Waisenhaus abgehalten worden, beginnen 1743 und enden erst 1767.
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hohen Stellenwert innerhalb seiner Regierungsarbeit besaß, praktizierten sie zusammen mit ihrer Familie öffentliche Sing- und Betstunden, in denen sie an verschiedenen Orten der Grafschaft mit Theologen zusammenkamen und gemeinsam öffentlich beteten, sangen und Bibelverse auslegten.73 Zusätzlich verlangten Sophie Charlotte und Christian Ernst regelmäßig „Nachrichten vom Bau des Reichs Gottes“, in denen Pfarrer aus den Gemeinden der Grafschaft Wernigerode das Grafenpaar vom Fortschritt der Konsolidierung des Pietismus informierten.74 Vor allem Sophie Charlotte forcierte zudem den Bau eines neuen und größeren Waisenhauses in der Grafschaft. Sie reiste nach Halle zur Besichtigung des dortigen Waisenhauses75 und verschaffte sich, wie aus ihrem Nachlass ersichtlich, Auskünfte über andere Waisenhäuser und Höfe und deren Regularien in Bezug auf die Kinder. Umgekehrt war es die Gräfin, die von Personen außerhalb der Grafschaft um Rat bezüglich der Unterweisung von Kindern gefragt wurde.76 Schließlich stiftete sie zusammen mit Christian Ernst im Jahr 1733 ein neues Waisen- und Armenhaus.77 Weiterhin karitativ tätig wurde sie, indem sie sich für ein Schulkonvikt einsetzte, in dem arme Schüler unterstützt wurden. Zusätzlich stiftete die Landesmutter im Jahr 1752 mit 4000 Talern ein Theologisches Seminar in der Stadt Wernigerode.78 Außerhalb der eigenen Arbeit an der Konsolidierung des Pietismus, an der Sophie Charlotte in der Grafschaft aktiv und maßgeblich mitwirkte, war das Paar ab den 1730er-Jahren auch in der Missionierung indischer und nordamerikanischer Gebiete sehr engagiert, denn die Mission hatte im Pietismus einen hohen Stellenwert.79 Eine wichtige Zusammenarbeit ergab sich durch Examination und Ordination von dänisch-halleschen Missionaren durch das Konsistorium in Wernigerode, das durch das Grafenpaar orga-
73 Vgl. Jacobs, Johann Liborius Zimmermann, S. 156. 74 LASA H9–17, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, I A Nr. 1. Bericht zum Bau des Reichs Gottes in der Grafschaft Wernigerode, 1728–1742; ebd., I A Nr. 5. Nachrichten vom Bau des Reichs Gottes aus Drübeck, 1737–1740; ebd., I A Nr. 6. Nachrichten vom Bau des Reichs Gottes in Stapelburg, 1738–1742. 75 Vgl. LASA H9–16, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, VII Nr. 6a. 76 Vgl. ebd., I Nr. 14. Katharina Sophie Böhm, welche sich für die Gastfreundschaft in Wernigerode bedankte, die sie und ihr Mann dort erfahren hatten. Die Frage der Gräfin, wie es sich mit den Hof-Kindern aus Kalbe verhalte, beantwortet sie ihr gern. Am Schluss bat sie die Gräfin darum, ihr Verbesserungsvorschläge zu übermitteln, 3.4.1742. 77 Vgl. dazu unter anderem LASA H9–2, Herrschaftliche Bibliothek Stolberg-Wernigerode, 48 Fach 1–2 Nr. 11. Die Errichtung eines Witwer und Witwenhauses im Jahre 1728 sowie ebd., 104 Fach 3 Nr. 4. Die Verbesserung und Vergrößerung des Waisenhauses zwischen 1744 und 1790. 78 Vgl. ebd., Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 47 Fach 10 Nr. 8. Akte, des von Sophie Charlotte mit 400 Talern gestifteten Theologischen Seminars, 1752. 79 Vgl. zur dänisch-halleschen Mission allgemein unter anderem Manfred Jakubowski-Tiessen, Der Pietismus in Dänemark und Schleswig-Holstein, in: Martin Brecht/Klaus Deppermann u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 446–454.
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nisiert wurde.80 Wenn möglich, nahmen Sophie Charlotte und Christian Ernst persönlich daran teil. Als legitime Vertreterin ihres Mannes koordinierte die Gräfin diese wichtige Aufgabe, wenn ihr Mann auf Reisen war. Im Jahr 1733 trat deshalb Gotthilf August Francke an die Gräfin heran, da Christian Ernst sich zu diesem Zeitpunkt in Dänemark aufhielt. „Da mir bekannt ist, daß Eur. Hochgräfli. Gnaden Ihnen eine Freude und Vergnügen machen, Sachen, die zu Ausbreitung des Reichs Gottes gereichen können zu befördern, so nehme mir die Freyheit dieselbe hierdurch unterthänig zu ersuchen, vor den H. Bolzium und H. Gronau, die mit denen Salzburgern als Prediger nach Georgien gehen sollen, die Gnade zu haben, daß selbige gleichier ehemals mit dem H. Missionario Geister geschehen, in Wernigerode ordiniert und wo mögl. nicht lange aufgehalten werden. Ich hoffe, Gott werde durch diese beyde Personen auch in America ein Licht aufgehen laßen …“.81 Francke anerkannte demnach in Sophie Charlotte eine Beförderin und Koordinatorin der Mission und war davon überzeugt, dass sie eine schnelle Ordination der Missionare gewährleisten würde. Sophie Charlotte antwortete, sie freue sich, dass die beiden Missionare nach Wernigerode kommen würden, denn sie könne sich dann mit ihnen zusammen erbauen.82 Die Ordination der Missionare schien offensichtlich ohne Probleme unter der Aufsicht von Sophie Charlotte abgelaufen zu sein. Zusätzlich unterstützte die Gräfin seit 1736 die missionarischen Tätigkeiten durch das Sammeln von Spenden. Dabei unterhielt sie ständigen Kontakt mit den Verantwortlichen für die Missionsspenden aus Halle und nutzte ihre Beziehung zu Francke, um die Gelder zu verschicken und Einfluss auf deren Verteilung zu nehmen.83 Die Landesmutter engagierte sich auch außerhalb der Grafschaft für den erfolgreichen Ausbau des „Reichs Gottes“ und nutzte dafür ihre Position. Nach dem Tod der Gräfin im Jahr 1762 übernahm in weiblicher Nachfolge ihre Schwiegertochter Christiane Anna Agnes zu Stolberg-Wernigerode, geborene zu Anhalt-Köthen (1726–1790) und Ehefrau von Heinrich Ernst, diese verantwortungsvolle Aufgabe. In einem Brief an August Hermann Francke teilte Christiane Anna Agnes mit, dass auch nach dem Tod ihrer Schwiegermutter die Kollekte der „Liebesgaben“ nicht aufgehört habe.84
80 In einem Schreiben von Christian Ernst an Francke im Jahr 1745 betonte der Graf, dass er in den Dingen, die Gottes Reich angingen, alles Mögliche tue und dies als seine Pflicht achte. Vgl. AFSt/M 1 K 7 : 2, Christian Ernst an Francke, 19.1.1745. 81 LASA H9–1, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, 67 Fach 6 Nr. 1, fol. 42 f. Francke an Sophie Charlotte zur Ordination der Missionare, 5.11.1733. 82 Vgl. AFSt/M 5 A 1 : 15. Sophie Charlotte an Gotthilf August Francke, 10.11.1733. 83 Vgl. ebd./M 3 H 34 : 88. Sophie Charlotte, vermutlich an Gotthilf August Francke, 11.4.1749. Zur genauen Auflistung der Gelder siehe ebd./M 3 H 34 : 89. Liste der übersandten Gelder samt ihrer gewünschten Verteilung. 84 Vgl. ebd./M 3 H 62 : 40. Christine Anna Agnes an Gotthilf August Francke, 9.4.1763.
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Die Vielzahl der Leistungen, die Sophie Charlotte am Ende ihres Lebens in Bezug auf die Verbreitung und Konsolidierung des Pietismus zu verzeichnen hatte, zeigt, dass sie ihren Stand, ihr Geschlecht und ihr Wirken in der religiösen Erneuerungsbewegung in Einklang gebracht hatte. In einem Schreiben an ihren Enkel Christian Friedrich zu Stolberg-Wernigerode (1746–1824), dem die Konfirmation 1760 bevorstand, reflektierte sie, wie ihre Schwiegermutter viele Jahre zuvor, was es bedeute, ein gläubiger Regent und Pietist zu sein. Sie schrieb ihm, dass er aus einer Familie vieler rechtschaffener Knechte und Kinder Gottes stamme, die ihm ein Exempel für sein eigenes Leben geboten hätten. Dies müsse er für sich erkennen, um zur eigenen Seligkeit zu gelangen und auch andere zur Seligkeit zu bringen. Das wiederum sei die besondere Bestimmung seines Standes.85
4. Pietismus und (weibliches) Geschlecht: ein vorläufiges Fazit Die Frauen der Familie Stolberg wirkten aktiv an der Regierung ihres Herrschaftsgebietes mit und trieben in Generationenfolge die Beförderung der religiösen Erneuerungsbewegung durch ihr Wirken voran. Wie Frauen aus der Zeit des konfessionellen Zeitalters86 nutzten auch Christine zu Stolberg-Gedern und Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode Handlungsräume, die ihnen, legitimiert über den Pietismus und ihren Stand, als Frauen gerade im Bereich des Religiösen gestattet wurden. Sie setzten sich sozial- und kirchenpolitisch für die Durchsetzung ihrer Glaubensinhalte ein. Ein Unterschied zu adligen Protestantinnen bestand allerdings im Selbstverständnis der regierenden Pietistinnen. In ihrem Stand verstanden sie sich als „Werkzeuge Gottes“ und sahen sich deshalb in der Pflicht, den Pietismus über herrschaftliche Prozesse zu konsolidieren. Ähnlich wie in der Reformation und im konfessionellen Zeitalter nutzen die Frauen ihre Potenziale als weibliche Herrscherinnen zur religiösen Gestaltung ihres Machtbereichs, anders jedoch als in der Reformation erkannte und anerkannte man die Aufgabe der pietistischen Landesmütter, als fromme Vorbilder weitere „Kinder Gottes“ zu schaffen. Christine bediente sich dazu der Handlungsoptionen, die ihr durch die vormundschaftliche Regentschaft über ihren Sohn gegeben wurden und schuf durch die Reformierung wichtiger Kirchen- und Landesverordnungen die Grundlage für den Einzug des Pietismus in die Grafschaft. Christian Ernst und Sophie Charlotte griffen diese Reformen auf und nahmen sie als Basis, um den Pietismus als Arbeitspaar innerhalb und außerhalb ihrer Grafschaft zu konsolidieren. Da es im Pietismus gewünscht, ja notwendig 85 Vgl. LASA H9–16, Fürstliches Herrschaftsarchiv Stolberg-Wernigerode, IV Nr. 17, fol. 1–6. Sophie Charlotte an Christian Friedrich, 6.8.1760. 86 Vgl. Gehrt/von der Osten-Sacken (Hg.), Fürstinnen und Konfession.
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war, dass beide Ehepartner der religiösen Erneuerungsbewegung angehörten, schien im Falle eines regierenden Paares nur das Selbstverständnis beider, als „Werkzeuge Gottes“ zu agieren, den Erfolg in der „Erweiterung des Reichs Gottes“ auf Erden zu garantieren. Gerade das Zusammenwirken von adligen Männern und Frauen für den Glauben war im Pietismus von besonderer Bedeutung. Durch den gemeinsamen pietistischen Glauben wurden anders als im Protestantismus nicht nur Standesgrenzen, sondern auch Geschlechtergrenzen aufgebrochen und ein neues Egalitätsmodell, legitimiert über den Glauben, geschaffen. Dies zeigt sich nicht nur in den Konventikeln als neuer pietistischer Sozialform, die es Frauen und Männern der religiösen Erneuerungsbewegung gleichermaßen ermöglichen konnten, sich in gemischtgeschlechtlicher Runde gegenseitig zu erbauen. Es war vor allem auch das pietistische Netzwerk und ihr Netzwerken, welches gerade adligen Frauen als Korrespondenzpartnerinnen die Möglichkeit bot, an der „Reich Gottes Arbeit“ teilzunehmen und aktiv zu agieren, was umgekehrt ihre Anerkennung als geistig kompetente Korrespondenzpartnerinnen voraussetzte. Letztlich erkannte und nutzte der Pietismus die von Frauen eingebrachten Potenziale als Vermittlerinnen und Bewahrerinnen der religiösen Erneuerungsbewegung. Er entwickelte ein neues, genuin pietistisches Geschlechterverständnis und brachte eine neue, religiös motivierte Geschlechterordnung hervor, in welcher Frauen wichtige und wertvolle neue Zugänge zu politischen und gesellschaftlichen Räumen, Aufgaben und Rechten gewährt wurden, die sie, vor allem als Regentinnen, Landesmütter oder Landesfürstinnen, intensiv und kundig nutzten. Ähnlich wie in der Reformation gestattete der Pietismus Frauen bis in die Spitzen der damaligen Ständegesellschaft, wenn auch wie im 16. Jahrhundert nur zeitlich begrenzte, experimentelle Entgrenzungen nicht nur aus der gängigen gesellschaftlichen Geschlechterordnung, sondern auch aus den geschlechtsspezifischen Vorstellungen der jeweiligen Konfessionen und eröffnete ihnen neuartige Denk-, Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten, die in der wissenschaftlichen Diskussion um die „Querelles des femmes“ noch wenig Berücksichtigung fanden.
Tafelteil 2
Tafel 9: Ein schöne Tischzucht (Augsburger Bürgerfamilie bei Tisch), kolorierter Holzschnitt von Abraham Bach dem Älteren, Augsburg [1680]
Tafel 10: Martin Luther, Gemälde aus der Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren (1472–1553), 1528
Tafel 11: Katharina von Bora, Gemälde aus der Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren (1472–1553), [1528]
Tafel 12: Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen (1503–1554) in alltäglicher Kleidung, Gemälde von Lucas Cranach dem Jüngeren (1515–1585), 1578
Tafel 13: Titeleinfassung zu Martin Luthers Schrift: Ursach. vnd antt= // wortt. das iunkg= // frawen. kloster. got= // lich. verlassen mugen. // Doctor Martin‘ // Lutther. // Wittemberg. // 1523, kolorierter Holzschnitt von Lucas Cranach dem Älteren (1472–1553), 1523
Tafel 14: Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode (1695–1762), geborene Gräfin zu Leiningen-Westerburg, teilkolorierte Radierung, nach 1762
Tafel 15: Die Taufe des Kämmerers, Ölgemälde von Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669), 1626
Tafel 16: Her Holiness Mahājagadguru Māte Mahādēvi: Inthronisationsfeier am 13. Januar 1996
Tafel 17: Verführerische Frauengestalten zieren häufig hinduistische Tempel, werden aber als Gefahr für den Mann betrachtet. Tempelanlage in Shrirangam, Tamil Nadu, 14. Jahrhundert
III. Aktuelle Geschlechterdiskurse in den Weltreligionen
Cornelia Schlarb
Von der Pfarrgehilfin zur Bischöfin. Geschlechterrollenwandel und die Ordination von Frauen in den evangelischen Kirchen
1. Forschungsstand Die Geschichte der Ordination von Frauen, oder besser: die Geschichte der Gleichstellung von Frauen im geistlichen Amt, ist noch nicht geschrieben. Dies mag der unterschiedlich und ungleichzeitig verlaufenden Geschichte der Frauenordination in den einzelnen Kirchen in Deutschland und weltweit oder den nicht enden wollenden Auseinandersetzungen um den Dienst und das Amt der Frau in den Kirchen geschuldet sein. Eine Gleichstellung im geistlichen Amt erreichten Theologinnen in evangelischen Landes- und Freikirchen in Deutschland erst nach dem Zweiten Weltkrieg.1 Die ausführliche Bibliographie von Wolfgang Lienemann, die vor allem deutschsprachige Titel umfasst, dokumentiert den Forschungsstand und die Auseinandersetzungen um die Frauenordination anhand sachlicher und konfessioneller Zuordnung bis zum Jahr 2000.2 Wichtige Beiträge zur Erforschung der Frauenordination in Deutschland lieferte das Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, das Hannelore Erhart (1927–2013), damals Professorin an der Georg-August-Universität Göttingen, in den 1980er-Jahren initiierte. Diese Forschungsgemeinschaft hat viele Dissertationen und Monographien zum Thema ermöglicht, Zeitzeuginnen mit jungen Forscherinnen in Verbindung gebracht und viele Spuren für die nachfolgenden Generationen gesichert. Ebenso hat Hannelore Erhart das „Lexikon früher evangelischer Theologinnen“ mit über 450 Kurzbiographien gemeinsam mit dem Konvent Evangelischer Theologinnen in der 1 Zum Forschungsstand siehe auch Auguste Zeiß-Horbach, Evangelische Kirche und Frauenordination. Der Beitrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zur deutschlandweiten Diskussion im 20. Jahrhundert, Leipzig 2017, S. 28–36 (= Historisch-theologische Genderforschung 8), sowie Wilfried Härle, Von Christus beauftragt. Ein biblisches Plädoyer für Ordination und Priesterweihe für Frauen, Leipzig 2017, S. 11–38. 2 Vgl. Wolfgang Bock/Wolfgang Lienemann (Hg.), Frauenordination. Studien zu Kirchenrecht und Theologie, Bd. 3, Heidelberg 2000, S. 261–292 (= Texte und Materialien der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft 47). Wolfgang Lienemann führt diese Bibliographie weiter, die inzwischen stark angewachsen, jedoch noch nicht öffentlich zugänglich ist, Auskunft W. Lienemann am 24.10.2017.
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Bundesrepublik Deutschland e. V. herausgegeben.3 Seit etwa zehn bis 15 Jahren finden vermehrt Jubiläumsfeierlichkeiten anlässlich der Gleichstellung und Ordination von Frauen in den evangelischen Kirchen statt. Im Rahmen dieser Ereignisse entstehen Festschriften, Dokumentationen, Zeitzeuginnenberichte, Ausstellungskataloge, die die Anfänge und Akteure wie Akteurinnen der Ordination von Frauen in den verschiedenen Kirchen festhalten.4 Für einzelne Landeskirchen, wie die württembergische, mecklenburgische5, hamburgische6, sächsische, oldenburgische, westfälische und die bayerische Landeskirche, liegen bereits fundierte Monographien zur Entwicklung der rechtlichen und personalen Geschichte der Gleichstellung von Frauen im geistlichen Amt vor. Die Konferenz der Frauenreferate und Gleichstellungsstellen in den Gliedkirchen der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) und das Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Gesellschaft haben 2017 einen ersten Ergänzungsband zum Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der evangelischen Kirche in Deutschland herausgegeben.7 Dieser Band vereinigt Daten zur Geschichte und Erinnerungskultur der Ordination von Frauen, die von den einzelnen Landeskirchen abgefragt wurden. Bilder von Frauen, die in einem Amt oder einer Funktion die ersten waren, geben den geschichtlichen und kirchenrechtlichen Daten ein Gesicht. Dieses Werk liefert wertvolle Hinweise für die weitere Erforschung der Frauenordination. Eine Übersicht über Frauenordination weltweit bietet das Web-Projekt http://frauenordination-weltweit.org, das ständig aktualisiert wird.
3 Vgl. Hannelore Erhart (Hg.), Lexikon früher evangelischer Theologinnen, Neukirchen-Vluyn 2005. Neben den Sammelbänden des Frauenforschungsprojekts erschienen wichtige Quellensammlungen und Monographien. Siehe auch Gerburgis Feld, Hannelore Erhart: „Theologie kann man nicht abseits von dem treiben, was läuft!“, in: Dies./Dagmar Henze u. a. (Hg.), Wie wir wurden, was wir sind. Gespräche mit feministischen Theologinnen der ersten Generation, Gütersloh 1998, S. 11–19. 4 Der Konvent evangelischer Theologinnen in der BRD e. V. sammelt und dokumentiert diese Ereignisse und die erscheinende Literatur auf seiner website URL: http://www.theologinnenkonvent.de/gesch_jub. php (Stand 27.3.2019) und URL: https://www.theologinnenkonvent.de/gesch.php (Stand 27.3.2019). 5 Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Mecklenburgs bildet seit Pfingsten 2012 mit der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche und der Pommerschen Evangelischen Kirche die Evangelisch-Luthe rische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche). 6 Die Evangelisch-Lutherische Kirche im Hamburgischen Staate gehörte seit 1. Januar 1977 zur Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, seit 2012 ist sie Teil der Nordkirche. 1992 wurde Maria Jepsen in Hamburg zur ersten lutherischen Bischöfin weltweit gewählt; siehe auch ihren Beitrag in diesem Band. 7 Konferenz der Frauenreferate und Gleichstellungsstellen in den Gliedkirchen der EKD (Hg.), Gleichstellung im geistlichen Amt. Ergänzungsband 1 zum Atlas zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 2017. Ein zweiter Ergänzungsband zur Einführung des Frauenwahlrechts in den Evangelischen Landeskirchen erschien im Januar 2019.
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2. Die Anfänge des Theologiestudiums und der kirchlichen Examina „Es muß einmal eine Zeit kommen, in der man ohne Kampf Vikarin werden kann. Die große Unsicherheit über den Beruf muß den Studierenden oder denen, die vielleicht Theologie studieren möchten, genommen werden“8, schrieb Dr. Elisabeth Haseloff (1914–1974) 1958 im Rundbrief des Konventes evangelischer Vikarinnen in Deutschland. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg war die landläufige Bezeichnung für Theologinnen, die in kirchlichen Arbeitsfeldern tätig waren, Vikarin oder Pfarrvikarin,9 und der Kampf um die rechtliche und reale Gleichstellung der Frau im geistlichen Amt bei Weitem nicht ausgefochten. Zum Studium waren Frauen an deutschen Universitäten erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugelassen. Das Großherzogtum Baden war hier Vorreiter und öffnete 1900 die Universitäten auch für die Frauen. Im Königreich Sachsen mit der Universität Leipzig konnten Frauen ab 1906 studieren, in Preußen erst ab dem Wintersemester 1908/09 (Berlin, Bonn, Breslau, Göttingen, Greifswald, Kiel, Königsberg, Marburg, Münster).10 Mit dem vollen Immatrikulationsrecht verband sich jedoch kein Anspruch auf die Zulassung zu den universitären, staatlichen und (landes-)kirchlichen Prüfungen. Bis zur Gleichstel 8 Elisabeth Haseloff, Der Auftrag der Vikarin in der heutigen Stunde der Kirche, in: Die Theologin. Rundbrief des Konventes evangelischer Vikarinnen in Deutschland 18 (1958), Heft 4, S. 4. 9 Vgl. Johannes Ehmann, Theologinnen in der Frauenarbeit – Wahrnehmung eines Weges, in: Anke Ruth-Klumbies/Christoph Schneider-Harpprecht (Hg.), Erinnerungen und Perspektiven. Evangelische Frauen in Baden 1916–2016, Leipzig 2016, S. 63–83, der auf S. 83 eine Liste von Sarah Banhardt mit den Namen der frühen Theologinnen und ihrer Titel veröffentlicht. 10 Vgl. Corinna Schneider, Die Anfänge des Frauenstudiums in Europa. Ein Blick über die Grenzen Württembergs, in: Gleichstellungsbüro der Universität Tübingen (Hg.), 100 Jahre Frauenstudium an der Universität Tübingen 1904–2004. Historischer Überblick, Zeitzeuginnenberichte und Zeitdokumente, Tübingen 2007, S. 17–23; vgl. auch Annette Kuhn/Valentine Rothe u. a. (Hg.), 100 Jahre Frauenstudium. Frauen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Göttingen 1996, S. 16–59; Sabine Happ/Veronika Jüttemann, „Laßt sie doch denken!“ 100 Jahre Studium für Frauen in Münster, in: Dies. (Hg.), „Laßt sie doch denken!“ 100 Jahre Studium für Frauen in Münster, Münster 2008, S. 13–42 (= Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Münster 2); Theresa Wobbe, Die erste Generation von Wissenschaftlerinnen. Institutionelle Kontexte für Neuankömmlinge in Deutschland und den Vereinigten Staaten, in: Gisela Horn (Hg.), Die Töchter der Alma mater Jenensis. 90 Jahre Frauenstudium an der Universität von Jena, Rudolstadt 1999, S. 15–33 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Jena 2); Siegrid Westphal, Über die Frauenpromotion zum Frauenstudium. Der Kampf um die Zulassung von Frauen zum Studium in Jena, in: Horn (Hg.), Die Töchter, S. 35–55; Edith Glaser, Die erste Studentinnengeneration – ohne Berufsperspektiven?, in: Elke Kleinau/Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 310–324; Dagmar Henze/ Heike Köhler, Völlige Gleichberechtigung der Geschlechter auf dem Gebiet der Wissenschaft? Ausschnitte aus der theologischen Bildungsgeschichte von Frauen in Göttingen, in: Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen (Hg.), Querdenken. Beiträge zur feministisch-befreiungs theologischen Diskussion. Festschrift für Hannelore Erhart zum 65. Geburtstag, Pfaffenweiler 21993, S. 179–216 (= Theologische Frauenforschung – Erträge und Perspektiven 1).
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lung von Mann und Frau in der Weimarer Verfassung 1919 konnten Theologinnen lediglich mit der Licentiatenprüfung, d. h. der Promotion, ihre Studien abschließen.11 52 (11,5 %) der über 450 im „Lexikon früher evangelischer Theologinnen“ erfassten Frauen (Geburtsjahrgänge bis 1920) promovierten und erhielten die Titel Licentiatus theologiae oder Doktor der Philosophie, darunter auch die Kirchenhistorikerin Hanna Jursch (1902–1972, 1932 promoviert, 1934 habilitiert), die als erste Frau ab 1945 einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte in Jena erhielt.12 Um Theologiestudentinnen den Abschluss ihres Studiums zu ermöglichen, führten die Universitäten ab 1919 das Fakultätsexamen ein (abgelegt erstmals in Marburg von Eva Oehlke, 1893–1970); es wurde jedoch bis in die Mitte der 1920er-Jahre von den Landeskirchen nicht als Erstes Theologisches Examen anerkannt.13 Als erste evangelische Kirche ließ
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Abb. 16: Hanna Marie Margarete Jursch (1902– 1972), erste Professorin auf einem theologischen Lehrstuhl in Deutschland
11 Vgl. Dagmar Henze, Zwei Schritte vor und einer zurück. Carola Barth. Eine Theologin auf dem Weg zwischen Christentum und Frauenbewegung, Neukirchen-Vluyn 1996, S. 45–47; Dies., Carola Barth (1879– 1959). Karriere zwischen Engagement und Anpassung, in: Annebelle Pithan (Hg.), Religionspädagoginnen des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1997, S. 40–52. 12 Zu Hanna Jursch liegt bisher keine Monographie vor. Vgl. neuere Aufsätze zu Hanna Jursch von Hannelore Erhart, Hanna Jursch, in: Heike Köhler/Dagmar Henze u. a. (Bearb.), Dem Himmel so nah – dem Pfarramt so fern. Erste evangelische Theologinnen im geistlichen Amt, Neukirchen-Vluyn 1996, S. 87–91; Dies., Theologin und Universität – das Beispiel Hanna Jursch, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 89 (1991), S. 385–398; Ines Fischer, Selbstlosigkeit im Zeichen von Wissenschaft und Menschlichkeit. Die Jenaer Theologieprofessorin Hanna Jursch, in: Horn (Hg.), Die Töchter, S. 157–174; Klaus Raschzok, Hanna Jursch (1902–1972). Seelsorge im akademischen Kontext, in: Peter Zimmerling (Hg.), Evangelische Seelsorgerinnen. Biografische Skizzen, Texte und Programme, Göttingen 2005, S. 298–313; Susanne Schuster, Hanna Jursch. „Wissenschaft und Seelsorge als zwei Modi des Sehens“, in: 500 Jahre Reformation von Frauen gestaltet, URL: http://www.frauen-und-reformation. de/?s=bio&id=39 (Stand 27.3.2019). 13 Vgl. Henze, Zwei Schritte, S. 46; Rainer Hering, Frauen auf der Kanzel. Die Auseinandersetzungen um Frauenordination und Gleichberechtigung der Theologinnen in der Hamburger Landeskirche, in: Ders./ Inge Mager, Kirchliche Zeitgeschichte (20. Jahrhundert). Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen, Teil 5, Hamburg 2008, S. 105–153, besonders S. 107–109 (= Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 26);
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die badische Landeskirche Elsbeth Oberbeck (1871–1944) bereits 1915 zu den landeskirchlichen Prüfungen zu (Erstes Theologisches Examen 1916, Zweites Theologisches Examen 1917 beim Evangelischen Oberkirchenrat (EOK) in Karlsruhe), was aber nicht die Aufnahme in den landeskirchlichen Dienst mit einschloss. Mit Zustimmung des EOK in Karlsruhe stellte die Kirchengemeinde Heidelberg Elsbeth Oberbeck mit einem Privatvertrag als Religionslehrerin und Seelsorgerin in der Frauen- und Hautklinik und im Gefängnis an. Ihre selbst gewählte Dienstbezeichnung „Pfarrgehilfin“ wurde vom EOK abgelehnt, stattdessen wurde sie zunächst als „Gemeindehelferin“ geführt.14 Die großen beruflichen und rechtlichen Unsicherheiten, die drängenden Fragen um das Amt der Theologin und der Wunsch nach Austausch und Gemeinschaft unter Gleichgesinnten führten 1925 schließlich zur Gründung des Theologinnenverbandes.15
Hanna Dallmeier, Eva Oehlke (1893–1970), in: Forschungsprojekt Erste Theologinnen in Marburg. Gedenktafelprojekt am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg „Zwischen Blaustrumpf und Studeuse“. Dokumentation eines Projekts, Marburg 2001, S. 54–57. 14 Vgl. Hilde Bitz, Frauenordination in der badischen Landeskirche, in: Dagmar Herbrecht/Heike Köhler u. a. (Hg.), Sechs Jahrzehnte Frauenordination. Ilse Härter zum 60. Ordinationsjubiläum, o. O. 2003, S. 153–156; Dies., Elsbeth Auguste Oberbeck. „Frauenarbeit, nach dir wird gerufen!“ – „Das Leben zu einem rechten Gottesdienst gestalten“, in: 500 Jahre Reformation von Frauen gestaltet, URL: http://www. frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=39 (Stand 27.3.2019); Dies., 100 Jahre Landeskirchliches Examen für Frauen in der Badischen Landeskirche. Bericht einer Zeitzeugin, in: Ruth-Klumbies/Schneider-Harpprecht, Erinnerungen und Perspektiven, S. 112–116; Ehmann, Theologinnen, in: ebd., S. 63. 15 Vgl. Hannelore Erhart, Der „Verband evangelischer Theologinnen Deutschlands“ zwischen Frauenbewegung und Kirche in der Zeit der Weimarer Republik, in: Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen (Hg.), „Darum wagt es, Schwestern …“. Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland mit Beiträgen von Andrea Bieler, Hannelore Erhart u. a., Neukirchen-Vluyn 1994, S. 151–157 (= Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert 7); Dies., Der „Verband evangelischer Theologinnen Deutschlands“ in kirchenpolitischen Auseinandersetzungen der Jahre 1933 und 1934, in: ebd., S. 283–293; Cornelia Schlarb, Der Konvent Evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland e. V., in: Gisela Matthiae/Renate Jost u. a. (Hg.), Feministische Theologie. Initiativen, Kirchen, Universitäten. Eine Erfolgsgeschichte, Gütersloh 2008, S. 193–196; siehe auch die Homepage des Theologinnenkonventes: URL: http://www.theologinnenkonvent.de (Stand 27.3.2019). Die Aufarbeitung der Konventsgeschichte(n) steht ebenfalls noch aus. Gelegentlich enthalten die Festschriften, die anlässlich von Jubiläumsfeierlichkeiten herausgegeben werden, Beiträge zur Entwicklung, Aufgabe und Funktion der Theologinnenkonvente, z. B. Heidemarie Wünsch, Der Theologinnen-Konvent in Westfalen. Eine 80jährige Geschichte im Kontext, in: Antje Röckemann/Antje Grüter u. a. (Hg.), „Mein Gott, was haben wir viel gemacht“. Geschichte der westfälischen Theologinnen von 1974 bis 2014, Bielefeld 2014, S. 19–58; Anne-Kathrin Koppetsch, Am Puls der Zeit. Der Westfälische Theologinnen-Tag (WTT) – Vollversammlung der Theologinnen, in: ebd., S. 120–129; Dies., Westfälischer Theologinnen-Tag – Themen und Referentinnen, in: ebd., S. 130–133; Antje Röckemann, „Es gibt ein Leben nach dem Examen“. Die Gelsenkirchener Initiative feministischer Theologinnen: g.i.f.t. (1991–2001), in: ebd., S. 137–143; Dies., Tagungen der Gelsenkirchener Initiative feministischer Theologinnen von 1991 bis 1999, in: ebd., S. 144–146; Angelika Weigt-Blätgen, 20 Jahre Westfälischer Theologinnen-Tag. 14. Februar 2009 in Dortmund, in: ebd., S. 202–211; 20 Jahre Konvent evangelischer Theologinnen in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers. Festschrift (Broschüre), o. O. [2009].
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Carola Barth (1879–1959), die erste 1907 in Jena promovierte Theologin,16 hatte bereits 1919 dazu aufgerufen. Denn als sich die ersten Landeskirchen anschickten, gesetzliche Bestimmungen zur Verwendung theologisch gebildeter Frauen auf den Weg zu bringen, wurde es höchste Zeit, sich in einem Berufsverband zu sammeln, um gemeinsam Interessen vertreten zu können.
Abb. 17: Lic. theol. Carola Barth (1879–1959), erste promovierte Theologin in Deutschland 16 Carola Barth bestand das Kolloquium des Lizentiats am 14.12.1907, ihre Arbeit erschien 1908 im Druck, vgl. Henze, Zwei Schritte, S. 49–64, hier: S. 264. Elisabeth Boedeker, 25 Jahre Frauenstudium in Deutschland. Verzeichnis der Doktorarbeiten von Frauen 1908–1933, Hannover 1939, S. 3 ordnet Carola Barths Dissertation 1909 zu, obwohl sie als Erscheinungsjahr „Leipzig 1908“ angibt. Dies hat in der Literatur zu falschen Schlüssen geführt, vgl. Andrea Bieler, Konstruktionen des Weiblichen. Die Theologin Anna Paulsen im Spannungsfeld bürgerlicher Frauenbewegungen der Weimarer Republik und nationalsozialistischer Weiblichkeitsmythen, Gütersloh 1994, S. 117.
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3. Kirchenrechtliche Entscheidungen und theologische Auseinandersetzungen Noch bevor die theologischen Debatten um das Frauenamt in der Kirche richtig entflammt waren, erließen einzelne Landeskirchen auf juristischem Wege Gesetze zur Regelung des Einsatzes von theologisch gebildeten Frauen. Richtungweisend für viele rechtliche Regelungen wurde das „Kirchengesetz betreffend Vorbildung und Anstellung der Vikarinnen“ der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union, das im Oktober 1928 in Kraft trat. Es erlaubte die Einsegnung – nicht Ordination – zum Dienst an Frauen, Mädchen und Kindern, verwehrte aber den Vikarinnen, Gemeindegottesdienste und Amtshandlungen durchzuführen, schrieb den Titel „Vikarin“ fest und bestimmte, dass Theologinnen, außer in Ausnahmefällen, bei Verheiratung aus dem Kirchendienst auszuscheiden hatten.17 Das Zölibatsgebot betraf allerdings nicht nur die Theologinnen, sondern auch andere akademisch gebildete Frauen, beispielsweise Gymnasiallehrerinnen, und orientierte sich am staatlichen Beamtinnengesetz.18 In der badischen Landeskirche waren die frühen Theologinnen nach dem Zweiten Examen beispielsweise als Pfarrgehilfin, Gemeindehelferin, Pfarrkandidatin, Diakonisse, Gehilfin, Lehrerin und erst ab 1943 überwiegend als Vikarin oder Pfarrkandidatin angestellt.19 Einer der Meilensteine auf dem Weg zur gleichberechtigten und gleichwertigen Teilhabe von Frauen an Bildung, Arbeit, Ressourcen und zur Gleichstellung von Frauen und Männern im geistlichen Amt war die Überwindung der jahrhundertelang gepredigten, gelehrten und internalisierten Minderwertigkeit und Unterordnung der Frauen.20 Eine lange Reihe Theologengenerationen an den Universitäten und im Pfarramt interpretierten die biblischen Schriften aus patriarchaler Sicht. Dazu zählten beispielsweise die scheinbar 17 Vgl. Heike Köhler, Kirchenpolitische Notwendigkeiten zur Einrichtung eines Theologinnenamtes, in: Frauenforschungsprojekt (Hg.), Darum wagt es, S. 55–68; Dies., Die Entwicklung der Theologinnengesetzgebung bis 1932, in: ebd., S. 109–128; Ilse Härter, Die Kölner „konzertierte Aktion“ von 1928/29 zur Abänderung des Vikarinnengesetzes vom 9.5.1927, in: Frauenforschungsprojekt (Hg.), Querdenken, S. 247–259; Dietlinde Cunow, „Im Falle einer Eheschließung endet das Dienstverhältnis“. Rückblick auf die Zölibatsklausel bei Pastorinnen, in: ebd., S. 307–309. 18 Vgl. Annebelle Pithan, Einleitung, in: Dies., Religionspädagoginnen, S. 9–19. 19 Vgl. Ehmann, Theologinnen, in: Ruth-Klumbies/Schneider-Harpprecht, Erinnerungen und Perspektiven, S. 63. 20 Zum Folgenden vgl. Härle, Von Christus, S. 39–74; Cornelia Schlarb, Theologische Grundlegungen und Langzeitwirkungen reformatorischer Impulse, in: Alexander Hanisch-Wolfram (Hg.), Die Hälfte des Himmels. Protestantische Impulse für die Gleichberechtigung der Frauen. Katalog zur Sonderausstellung im Evangelischen Kulturzentrum Fresach, 26. April bis 31. Oktober 2014, Klagenfurt 2014, S. 23–35; Dagmar Herbrecht, Emanzipation oder Anpassung. Argumentationswege der Theologinnen im Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche, Neukirchen-Vluyn 2000, S. 75–142; Christine Globig, Frauenordination im Kontext lutherischer Ekklesiologie. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, Göttingen 1994, S. 23–102, S. 142–182.
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schöpfungstheologisch festgeschriebene Unterordnungsforderung „hypotagē“ der Frau und die auf Genesis 2 und 3 gestützte sogenannte „Wesensbestimmung“ der Frau als Gehilfin und Dienerin des Mannes. Dieses Unterordnungsverhältnis propagierte und zementierte man beispielsweise durch Trauformulare und Traupredigten, in denen die neutestamentliche Haustafelethik des Kolosser- oder Epheserbriefes (Kol 3,18–4, 1; Eph 5,22–6,9) zitiert und ausgelegt wurde, anstelle von Gleichstellungstexten, wie sie in Galater 3,28 zu finden sind.21 Auch Martin Luthers Kleiner Katechismus, den die Kinder in den Schulen und im Konfirmandenunterricht auswendig lernten, ermahnt die „Eheweiber“, ihren Männern untertan zu sein.22 Daher verwundert es nicht, dass die seit Mitte der 1920er-Jahre geführten theologischen Diskussionen um das geistliche Amt und die Ordination von Frauen sowohl unter den Theologen als auch den Theologinnen um das so genannte ‚Wesen‘ der Frau und das Unterordnungsparadigma kreisten. Für einen Großteil der frühen evangelischen Theologinnen lautete daher die vorrangige Frage nur, wie das Pfarramt entlastet werden könne, d. h. wie theologisch gebildete Frauen das männlich definierte Pfarramt unterstützen und ergänzen könnten.23 Dementsprechend haben sich die seit 1925 im Verband evangelischer Theologinnen Deutschlands organisierten Frauen in ihrer Mehrheit für ein dem Pfarramt untergeordnetes, spezielles Frauenamt, ein Amt ‚sui generis‘, eingesetzt. Nur eine kleine Minderheit um Carola Barth, Ina Gschlössl (1898–1989),24 Annemarie Rübens 21 Vgl. beispielhaft den Kolosser- und Galatertext in der Lutherübersetzung von 2017 Kol 3,18: „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter, wie sich’s gebührt in dem Herrn. 19 Ihr Männer, liebt eure Frauen und seid nicht bitter gegen sie. 20 Ihr Kinder, seid gehorsam den Eltern in allen Dingen; denn das ist wohlgefällig in dem Herrn. 21 Ihr Väter, kränkt eure Kinder nicht, auf dass sie nicht verzagen. 22 Ihr Sklaven, seid gehorsam in allen Dingen euren irdischen Herren; dient nicht allein vor ihren Augen, um den Menschen zu gefallen, sondern in Einfalt des Herzens und in der Furcht des Herrn. 23 Alles, was ihr tut, das tut von Herzen als dem Herrn und nicht den Menschen, 24 Denn ihr wisst, dass ihr von dem Herrn als Lohn das Erbe empfangen werdet. Dient dem Herrn Christus! 25 Denn wer unrecht tut, der wird empfangen, was er unrecht getan hat; und es gilt kein Ansehen der Person. 4,1 Ihr Herren, was recht und billig ist, das gewährt den Sklaven und bedenkt, dass auch ihr einen Herrn im Himmel habt.“; Gal 3,28: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“; zitiert aus: URL: https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-2017/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/58/30001/39999/ (Stand 27.3.2019). 22 Vgl. Der Kleine Katechismus 1529, in: Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 6: Kirche und Gemeinde, Göttingen 31983, S. 138–159, besonders S. 157; siehe auch: Der Kleine Katechismus Dr. Martin Luther’s für die Evangelischen Schulen Bessarabiens, Tarutino 1928, S. 27 (Nachdruck 1988). 23 Vgl. Petra Kurtz, Der „Verband evangelischer Theologinnen Deutschlands“ im Spiegel seiner „Mitteilungen“ in der Zeit der Weimarer Republik, in: Frauenforschungsprojekt (Hg.), Darum wagt es, S. 175–190; Dies., Der „Verband evangelischer Theologinnen Deutschlands“ im Spiegel seiner „Mitteilungen“ in der Zeit des Nationalsozialismus, in: ebd., S. 271–281. 24 Vgl. Ilse Härter, Vor politischen und kirchlichen Oberen schreckte sie nicht zurück. Ina Gschlössl wird 90 Jahre, in: Junge Kirche 49 (1988), S. 606–609; Dagmar Henze, Ina Gschlössl, in: Henze/Köhler (Bearb.) u. a., Dem Himmel, S. 47–51; Stefanie Theis, Ina Gschlössl (1898–1989), in: Forschungsprojekt Erste Theo-
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Abb. 18: Mitglieder der Vereinigung evangelischer Theologinnen, von rechts nach links: Annemarie Rübens, Ina Gschlössl, Elisabeth von Aschoff, verheiratete Bizer und Aenne Schümer, Fotografie von 1930
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(1900–1991),25 Elisabeth von Aschoff (1904–2004),26 Aenne Schümer (1904–1982),27 Ulrike Türck und Verena Stadler (1904–1999),28 die sich 1930 als Vereinigung evangelischer Theologinnen abspaltete, forderte aus ekklesiologischen und amtstheologischen Gründen von Anfang an die volle Gleichstellung der Frau im geistlichen Amt.29 Ina Gschlössl und Annemarie Rübens argumentierten beispielsweise 1930 in der Zeitschrift „Die Christliche Welt“: „Von dem ‚Amt der Vikarin‘, das die Kirchenbehörde festgelegt zu haben glaubt, bleibt bei näherer Betrachtung nichts übrig als gelegentliche Vertretung und dauernde Kleinarbeit und Gehilfentätigkeit unter Leitung des verantwortlichen Theologen … Um zu dieser Arbeit zu gelangen, haben wir nicht Theologie studiert! Es ist doch ein hinlänglich bekanntes Gesetz allen geistlichen Lebens, dass Geistiges sich nur in Freiheit, das heißt für den Theologen nach Ermessen des in Gott gebundenen Gewissens gestalten lässt.“30 Die fatale Wirkungs- und Auslegungsgeschichte der Bibelstellen, die Frauen angeblich nur eine untergeordnete Position und Funktion zugestehen und falsch verstandene Aussagen der eigenen kirchlichen Tradition reichen bis in die Gegenwart, sonst könnten protestantische Kirchen wie in Lettland nicht nach 40 Jahren die Ordination von Frauen kirchenrechtlich verbieten.31
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loginnen in Marburg, S. 37–39; Klaus Schmidt/Anselm Weyer, Klar und konsequent. Die Kölner Vikarin und religiöse Sozialistin Ina Gschlössl, in: Manfred Gailus/Clemens Vollnhals (Hg.), Mit Herz und Verstand – Protestantische Frauen im Widerstand gegen die NS-Rassenpolitik, Göttingen 2013, S. 253–268. Vgl. Dagmar Henze/Heike Köhler, Annemarie Rübens, in: Henze/Köhler u. a. (Beab.), Dem Himmel, S. 117–121; Annemarie Rübens (1900–1991), in: Forschungsprojekt Erste Theologinnen in Marburg, S. 59–65. Vgl. Ilse Härter, Elisabeth Bizer geb. von Aschoff 1904, in: Erhart (Hg.), Lexikon, S. 36. Laut Information von Hanna Dallmeier vom 3.6.2009 verstarb Elisabeth Bizer am 28.5.2004 in Bonn. Vgl. Aenne Schümer, verh. Traub (1904–1982), in: Forschungsprojekt Erste Theologinnen in Marburg, S. 67 f.; Ilse Härter, Änne Traub geb. Schümer 1904–1982, in: Erhart (Hg.), Lexikon, S. 405. Vgl. Doris Brodbeck, Verena Pfenninger-Stadler. Im Pfarramt als verheiratete Frau und Intellektuelle, URL: http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=55 (Stand 27.3.2019). Vgl. Dagmar Henze, Der Konflikt zwischen dem „Verband evangelischer Theologinnen Deutschlands“ und der „Vereinigung evangelischer Theologinnen“ um die Frage des vollen Pfarramtes für die Frau, in: Frauenforschungsprojekt (Hg.), Darum wagt es, S. 129–150; Ina Gschlössl/Annemarie Rübens, Ein notwendiges Wort in Sachen der Theologinnen. An Herrn Generalsuperintendenten D. Schian, in: Die Christliche Welt 44 (1930), Sp. 216–220; Zeiss-Horbach, Evangelische Kirche, S. 56–65. Gschlössl/Rübens, Ein notwendiges Wort, Sp. 218. Vgl. Cornelia Schlarb, Frauenordination weltweit. Zur Gleichstellung der Frau im geistlichen Amt, in: Deutsches Pfarrerblatt 117 (2017), Heft 2, S. 64–69; Härle, Von Christus, S. 39–165; Globig, Frauenordination, S. 23–102, S. 143–182.
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4. Identitätswandel und Überwindung restaurativer Tendenzen In der Kriegszeit etwa ab 1942 galten vielerorts Ausnahmeregelungen, nach denen sich die Tätigkeiten und Funktionsbereiche für die Theologinnen erweiterten. Vikarinnen und theologisch gebildete Pfarrfrauen bekamen verwaiste Gemeinden übertragen, predigten, teilten Abendmahl aus, tauften, hielten Katechumenen- und Konfirmandenunterricht, konfirmierten teilweise in Katakomben, trauten, schulten Mitarbeitende und beerdigten noch unter Tieffliegerangriffen. Bei Kriegsende waren diese Theologinnen oft die einzigen Amtspersonen in den Ortschaften, die mit den Alliierten verhandeln konnten und die Dienste auch unter erschwerten Bedingungen weiterführten. Bei vielen war dadurch ein neues Selbstbewusstsein gewachsen. Das berufliche und theologische Selbstbild begann sich zu wandeln.32 Der gesamtgesellschaftliche Wandel in den 1950er- und 1960er-Jahren, das sich ändernde Rollenbild und die politische Gleichstellungsentwicklung seit 1958 blieben auch im kirchlichen Raum nicht ohne fermentierende Wirkung. Nicht zuletzt förderte der Pfarrermangel im geteilten Nachkriegsdeutschland ein Umdenken zugunsten der Gleichstellung von Frauen im geistlichen Amt.33 Doch zunächst suchten die Kirchenleitungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die rechtliche Regelung des Dienstverhältnisses auf dem Stand der alten „Vikarinnengesetze“ einzufrieren. Das 1942 von der Hamburger Synode der Bekennenden Kirche der Altpreußischen Union verfasste „Vikarinnengesetz“34 blieb insbesondere für die ehemaligen Kirchen der Altpreußischen Union 32 Vgl. Erika Kreutler, Die ersten Theologinnen in Westfalen 1919–1974, Bielefeld 2007, S. 132–138 (= Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte 32); Friedrich Winter, Weiß ich den Weg auch nicht … Das Leben der Vikarin Annemarie Winter (1912–1945), Leipzig 2005. Annemarie Winter blieb bei ihrer Gemeinde in Hinterpommern, als die Rote Armee das Gebiet besetzte, wurde nach Sibirien verschleppt und verstarb dort 1945. Katharina Staritz, Mitarbeiterin im Büro von Pfarrer Grüber, wurde am 4. März 1942 von der Gestapo verhaftet und kam erst im Mai 1943 frei, vgl. Hannelore Erhart/Ilse Meseberg-Haubold u. a. (Hg.), Katharina Staritz 1903–1953. Dokumentation, Bd. 1: 1903–1942, Neukirchen-Vluyn 1999, S. 420. Corinna Raupach, Katharina Staritz, in: Henze/Köhler u. a. (Bearb.), Dem Himmel, S. 135–137. 33 Vgl. Cornelia Schlarb, Auf dem Weg zur Gleichstellung – Frauen im geistlichen Amt im Bereich der EKD, in: Themenheft: 50 Jahre Frauenordination. Pfälzisches Pfarrerblatt 98 (2008), S. 392–396; Anja Funke, „Kanzelstürmerinnen“. Die Geschichte der Frauenordination in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens von 1945 bis 1970, Leipzig/Berlin 2011, S. 132–151 (= Leipziger Theologische Beiträge 5); Zeiss-Horbach, Evangelische Kirche, S. 275–417; Kerstin Söderblom, Herta Leistner. Pionierin auf dem Weg der Emanzipation lesbischer Frauen in den christlichen Kirchen Deutschlands, in: Feld/Henze u. a. (Hg.), Wie wir wurden, S. 44–51. 34 Beschluss IV der 11. Bekenntnissynode der BK-APU: Der Dienst der Vikarin vom 10. November 1942, in: Dagmar Herbrecht/Ilse Härter u. a. (Hg.), Der Streit um die Frauenordination in der Bekennenden Kirche. Quellentexte zu ihrer Geschichte im Zweiten Weltkrieg, Neukirchen-Vluyn 1997, Dok. 83, S. 339 f.; siehe auch Herbrecht, Einleitung, in: ebd., S. 303–326; Herbrecht, Emanzipation, S. 43–73; Ilse Härter, Mein Weg als Theologin – Die Anfangsjahre bis 1945, in: Herbrecht/Köhler u. a. (Hg.), Sechs Jahrzehnte, S. 45–82, sowie den Brief von Hannelotte Reiffen vom 19. Oktober 1942, in dem sie desillusioniert zu
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(Berlin-Brandenburg, Kirchenprovinz Sachsen, Pommern, Rheinland, Westfalen, östlichere Teile aufgelöst) wegweisend. Es bedeutete die Festlegung auf ein besonderes Frauenamt mit Sonderaufgaben an Frauen und Kindern, Einsegnung statt Ordination, unterordnende Titulatur, Zölibatsverpflichtung, niedrigeres Gehalt (ca. 80 % des Pfarrergehalts) sowie Einzelfallentscheidungen über eine Weiterbeschäftigung nach der Heirat oder eine Berufung ins Gemeindepfarramt, jedoch ohne eigene, alleinige Gemeindeleitung. Noch immer konnten sich die meisten Männer und viele Frauen nicht vorstellen, dass Theologinnen auch Männern in der Gemeinde etwas von der Kanzel aus zu sagen haben und Beruf und Familie vereinbar sein könnten. In einigen östlichen Landeskirchen konnten Theologinnen seit Anfang der 1950er-Jahre ordiniert und zum Pfarramt zugelassen werden. Das Pfarrvikarinnengesetz der Evangelischen Kirche der Union von 1952 ermöglichte den Gliedkirchen, ordinierte Pfarrvikarinnen mit vollem Auftrag in den Landgemeinden einzusetzen. Zehn Jahre später leitete die Pastorinnenverordnung von 1962 die finanzielle Gleichstellung ein, und 1972 entfiel die Zölibatsklausel. In allen Kirchen des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR galt ab 1982 das Pfarrerdienstgesetz, das Männer und Frauen gleich behandelte.35 In den Gliedkirchen der EKD vollzog sich die Aufhebung aller Einschränkungen für Frauen im geistlichen Amt unterschiedlich schnell. Im landeskirchlichen Vergleich traten große Ungleichzeitigkeiten im Blick auf Fragen der Ausbildung, Ordination, Titulatur, Amtstracht, Entlohnung und Abschaffung der Zölibatsklausel auf.36 Die Hannoversche Landeskirche, die Berlin-Brandenburgische, die rheinische und westfälische Kirche unterhielten Anfang der 1950er-Jahre Vikarinnenseminare, um das Frauenspezifische im Ausbildungsgang zu bewahren. Zuvor blieben die Theologinnen ohne Seminarausbildung. Andere Kirchen wie die pfälzische, württembergische und hessen-nassauische diesem „Gesetzentwurf“ Stellung bezieht: „Wir stehen also vor der Tatsache, daß unser Vikarinnenamt liquidiert ist. An seine Stelle tritt ein neues Frauenamt, das dem altkirchlichen Amt der lehrenden Diakonisse entspricht. Da wir uns doch wohl darin einig waren, daß wir uns zum Dienst der vollen Wortverkündigung in Predigt und Sakramentsverwaltung berufen wissen und daß wir darum Theologie studiert und die theologischen Examina abgelegt haben …“, in: Herbrecht/Härter u. a. (Hg.), Der Streit, Dok. 81, S. 337. 35 Vgl. Konferenz der Frauenreferate (Hg.), Gleichstellung im geistlichen Amt, S. 22–24; Fragebogenaktion des Konvents evangelischer Theologinnen in der BRD e. V. 2007–2008; Funke, „Kanzelstürmerinnen“, S. 150 f. 36 Vgl. Konferenz der Frauenreferate (Hg.), Gleichstellung im geistlichen Amt, S. 8–26; URL: http://www. frauenordination-weltweit.org (Stand 27.3.2019). Während in der Bayerischen Landeskirche die volle Gleichstellung mit Abschaffung des Veto-Paragraphen erst 1996 erreicht war, genossen die Pfarrerinnen in der Anhaltischen Evangelischen Landeskirche seit 1963 die volle Gleichstellung im geistlichen Amt; vgl. auch Anette Reuter, Frauenordination in der Anhaltischen Landeskirche, in: Herbrecht/Köhler u. a. (Hg.), Sechs Jahrzehnte, S. 150–152; Gudrun Diestel, Eine kleine persönliche Geschichte, in: Johanna Beyer (Hg.), 40 Jahre Frauenordination. Über den Weg der Theologinnen ins Pfarramt in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, München 2015, S. 33–37; Helga Kern, Mein Weg als Theologin, in: ebd., S. 42–45.
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Kirche bildeten die Vikarinnen schon in den 1950er-Jahren gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen in den Predigerseminaren aus.37 1958 verabschiedeten die Evangelische Kirche der Pfalz, die damalige lutherische Kirche in Lübeck und die unierte Anhaltische Kirche Gesetze zur eingeschränkten Gleichstellung von Frauen im geistlichen Amt. Mit dieser Gesetzgebung gehörten die drei Kirchen zu den ersten, die in der Nachkriegszeit Schritte zur Gleichstellung der Theologinnen unternahmen.38 Das „Pfarrergesetz“ der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), das den lutherisch geprägten Kirchen zur Richtschnur wurde, formulierte 1978 in § 5: „In das Dienstverhältnis als Pfarrer können Männer und Frauen berufen werden, die die Anstellungsfähigkeit erworben haben und ordiniert sind.“39 Mit der Übernahme dieser Gesetzgebung stellten die Hannoversche und Nordelbische Kirche ihre männlichen und weiblichen Geistlichen gleich.40 In den Reformierten Kirchen in Deutschland waren Ordination und Gemeindepfarramt seit 1969 durch das Kirchengesetz zur Rechtsstellung weiblicher Pfarrer möglich. Die erste Ordination zur Gemeindepastorin fand 1970 statt.41
37 Vgl. Heike Lipski-Melchior, Christine Bourbeck – ein Porträt. Leben, Wirken und Denken einer Lehrerin und Theologin, Leipzig 2002, S. 118–167; Christine Bourbeck, Die Zurüstung der Theologin für das praktische Amt, in: Anna Paulsen (Hg.), Die Vikarin. Der Dienst der Frau in den Ämtern der Kirche, Gelnhausen/Berlin u. a. 1956, S. 77–84; Hans-Martin Linnemann (Hg.), Theologinnen in der Evangelischen Kirche von Westfalen. Drei Erfahrungsberichte, Bielefeld 1990; Hildegard Juhle, „Na ja, hat ja ganz schön gegangen!“ Vikarin zur Hilfeleistung, in: Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers (Hg.), Angekommen! Der lange Weg der Frauen ins Pfarramt. Buch zur Ausstellung, Hannover 2014, S. 68–73. 38 Zum Folgenden vgl. Konferenz der Frauenreferate, Gleichstellung im geistlichen Amt, S. 8–26; Zeiss-Horbach, Evangelische Kirche, S. 275–288; Hering, Frauen, S. 105–153; Friedhelm Hans, Der lange Weg der Frauen zum Verkündigungsamt, in: Themenheft: 50 Jahre Frauenordination. Pfälzisches Pfarrerblatt 98 (2008), S. 386–392; Klaus Blümlein, Pfälzische Frauenordination und Schriftauslegung. Im Gedenken an meine Schwiegermutter Käthe Jacob geb. Sehnert *1.11.1908, in: ebd., S. 381–386; Stephanie Meins (Hg.), Zusammen wachsen. Wege zur Frauenordination auf dem Gebiet der heutigen Nordkirche, Itzehoe 2016, S. 59–67. 39 Zitiert nach Hering, Frauen, S. 142. 40 Vgl. Meins, Zusammen wachsen, S. 32–85; Uta Schäfer-Richter, Der lange Weg der Frauen ins Pfarramt – Dokumentation zur Geschichte der Pastorinnen in der hannoverschen Landeskirche, in: Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers (Hg.), Angekommen, S. 8–56. 41 Vgl. Konferenz der Frauenreferate (Hg.), Gleichstellung im geistlichen Amt, S. 23.
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5. Neue Chancen und Herausforderungen Die Aufhebung der Zölibatsklausel schuf auch die Voraussetzung, dass Pfarrehepaare gemeinsam Dienst tun konnten. Praxiserfahrungen sammelte man in den letzten 30 Jahren. Die rechtlichen Regelungen variierten teilweise von Landeskirche zu Landeskirche oder sogar von Fall zu Fall. In diesem Zusammenhang diskutierte man Stellenteilungen, Teilzeitstellen, Ordination ins Ehrenamt, Angestelltenverhältnisse etc.42 Die gleichberechtigte Zulassung zum geistlichen Amt schloss natürlich die Möglichkeit ein, Frauen in kirchenleitende Ämter zu berufen. Ab Mitte der 1960er-Jahre erfolgten die ersten Berufungen ins Amt einer Oberkirchenrätin. Seit den 1980er-Jahren berief oder wählte man vermehrt Theologinnen als Dekanin, Superintendentin, Pröpstin, Regionalbischöfin oder Prälatin. Auch hier machte die ehemalige Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg den Anfang mit Ingrid Laudien (1934–2009), die 1976 als Superintendentin und 1994 als erste Generalsuperintendentin tätig war. In einer der westlichen Landeskirchen übernahm Helga Trösken als erste Pröpstin 1987 bischöfliche Leitungsdienste in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Als Maria Jepsen (1945–) 1992 weltweit als erste lutherische Bischöfin für den Sprengel Hamburg der Nordelbischen Kirche gewählt wurde, hatte die Evangelisch-Lutherische Kirche in Schaumburg-Lippe gerade seit einem Jahr die Ordination von Frauen eingeführt. Dr. Margot Käßmann (1958–) stand von 2009 bis 2010 als Bischöfin der Hannoverschen Landeskirche als erste Frau an der Spitze der EKD.43 42 Vgl. Brigitte Enzner-Probst, Pfarrerin. Als Frau in einem Männerberuf, Stuttgart/Berlin u. a. 1995; Kristina Kühnbaum-Schmidt, „… aber mit Fantasie und Tatkraft wird man da vieles neu erobern können“. Der lange Weg zur Frauenordination in der Braunschweigischen Landeskirche, in: Ulrike Block-von Schwartz (Hg.), Mit Phantasie und Tatkraft. 30 Jahre Frauenordination in der Ev.-Luth. Landeskirche in Braunschweig, Braunschweig 1998, S. 9–61; Sabine Behrens, „Es war ungewohnt und bringt das Pfarrerbild durcheinander“. Erfahrungen von Theologinnen in der Kirche bzw. im Pfarramt, in: ebd., S. 62–91; Wiltrud Becker, Zwischen-Bild. Theologinnen im Pfarramt – zwischen formaler Gleichstellung und vollständiger Teilhabe. Analyse und Perspektiven, in: ebd., S. 126–143; Berthild Boueke-von Waldthausen, Frauenordination. Geschichte und Geschichten, in: Röckemann/Grüter u. a. (Hg.), Mein Gott, S. 76–81; Heidemarie Wünsch, „Das wird sich finden“ – eine „fast“ glatte Theologinnenbiografie, in: ebd., S. 82–89; Dietlinde Cunow, „Das verheiratete Weib schweigt nicht mehr“, in: Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers (Hg.), Angekommen, S. 74 f.; Beate Stierle, Meine Erfahrungen als Pastorin in Hannover, in: ebd., S. 76–78; Ulrike Denecke, Aufbruch der Frauen, in: ebd., S. 79–81; Oda-Gebbine Holze-Stäblein, „Ich würde von Herzen gern wieder Pastorin werden“, in: ebd., S. 82 f.; Dorothea Biermann, Auf dem Weg ins Pfarramt und ins Landeskirchenamt, in: ebd., S. 84–87; Gisela Fähndrich, „… für eine Frau nicht gottwohlgefällig.“, in: ebd., S. 88–90; Renate Breit, Frau gibt nicht auf, in: Beyer (Hg.), 40 Jahre Frauenordination, S. 38–41. Zu Helga Trösken vgl. URL: https://www.ekhn.de/ueber-uns/geschichte/frauenbewegung-in-der-ekhn/frauen-der-bewegung/helga-troesken.html (Stand 27.3.2019). 43 Vgl. Elfriede Knotte, Gemeinde gesucht! – Sonst alles vorhanden, in: Block-von Schwartz (Hg.), Mit Phantasie, S. 120–122; Ingrid Spieckermann, „Lust zum Leiten“ – 25 Jahre Leitung in der Kirche, in: Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers (Hg.), Angekommen, S. 93–95; Maria Jepsen, 15 Jahre als
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6. Resümee Der Prozess der Zulassung und schließlich Gleichstellung von Frauen im geistlichen Amt begann vor einem Jahrhundert und ist bis heute selbst in den evangelischen Kirchen nicht abgeschlossen. Die gesellschaftliche Gleichstellung und der Wandel des Rollenverständnisses von Frauen und Männern nach dem Zweiten Weltkrieg haben als Motivationsschub auch im kirchlichen Bereich gewirkt. Eine große Herausforderung für die theologisch gebildeten Frauen bedeutete die jahrhundertelang gelehrte und internalisierte Unterordnung. Erst die Überwindung dieser Selbstbeschränkung setzte genügend Energien frei, um das volle gleichberechtigte Pfarramt zu fordern. Das dem männlichen Pfarramt untergeordnete besondere Frauenamt, das Amt ‚sui generis‘, musste aus biblisch-theologischen und ekklesiologischen Gründen überwunden werden. Aber bis heute fällt es nicht nur Männern und Pfarrern schwer, das religiös untermauerte patriarchale Geschlechterrollenverständnis zu überwinden, Frauen auf den Kanzeln und in kirchenleitender Funktion zu akzeptieren. Die rechtliche Gleichstellung in den Gliedkirchen der EKD darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich mancherorts bis heute Bestrebungen erhalten haben, die das Rad der Geschichte zurückdrehen möchten. In der Evangelisch-Lutherischen Kirche Lettlands (Inlandskirche) wurde dies im Juni 2016 zur Realität, als die Synode in ihrer Kirchenordnung festschrieb, dass nur getaufte Männer zum Pfarramt zugelassen werden, nachdem in Lettland bereits 1975 die ersten Ordinationen von Frauen stattgefunden hatten. Es gilt daher weiterhin wachsam zu bleiben, sich in allen Kirchen für die Gleichstellung von Frauen im geistlichen Amt einzusetzen und die Theologinnen zu stärken, die sich im Streit um das geistliche Amt von Frauen beharrlich engagieren und manches Mal ihre eigene berufliche Existenz riskieren.
Bischöfin im Amt, in: Theologinnen. Berichte aus der Arbeit des Konventes Evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland 20 (2007), S. 64–66; Margot Käßmann, „Gibt es Pfarrerinnen, gibt es Bischöfinnen“, in: ebd., S. 96–101.
Kerstin Söderblom
Geschlechtsidentitäten und Lebensformen. Evangelische Kontroversen
1. Einführung: Evangelische Kontroversen und ihre Kontexte Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts werden die Kontroversen um verschiedene sexuelle Orientierungen und pluralisierte Lebensentwürfe in evangelisch-kirchlichen Kreisen mehr oder weniger offen ausgetragen. In den 1970er- und 80er-Jahren war die Mehrheit der offiziellen Positionen dazu verhalten bis ablehnend. Seit den 90er-Jahren hat sich die Stimmung verändert. Schritt für Schritt haben sich die meisten Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gegenüber den Anliegen lesbischer, schwuler und bisexueller Gemeindeglieder und kirchlicher Mitarbeitender geöffnet und ihre theologischen Positionen überarbeitet.1 Dafür gab es mindestens drei Gründe: Zum einen veröffentlichten engagierte Bibelwissenschaftler und Bibelexegetinnen hermeneutisch solide Bibelauslegungen zu den umstrittenen Textstellen.2 Sie arbeiteten die Zeit- und Kontextgebundenheit biblischer Texte zum Thema Homosexualität heraus und betonten, dass es nicht möglich sei, theologische Positionen und moralische Handlungsanweisungen zum Thema Homosexualität direkt aus der Bibel abzuleiten.3 Zum anderen haben Mitglieder verschiedener christlicher Lesben- und Schwulennetzwerke die Veränderung auf allen kirchlichen Ebenen selbst mit vorangetrieben.4 Über Jahrzehnte hinweg waren sie in zahlreichen theologischen und kirchenpolitischen Debatten und Gesprächen in Kirchengemeinden, Dekanats-, Kirchenkreis- und Landessynoden, auf unzähligen Kirchentagsveranstaltungen und auf den Sy 1 Vgl. den Überblick zu den kirchlichen Stellungnahmen aus der Zeit von Herbert Engel, Kirchliche Stellungnahmen von 1968–1992, in: Barbara Kittelberger/Wolfgang Schürger u. a. (Hg.), Was auf dem Spiel steht. Diskussionsbeiträge zu Homosexualität und Kirche, München 1993, S. 84–128. 2 Es handelt sich um: Leviticus 18.12; Leviticus 20.13; Römer 1, 26 f.; 1. Korinther 9–10; 1. Timotheus 1,10. Siehe dazu insgesamt Uwe-Karsten Plisch, Liebe deine*n Nächste*n – Gleichgeschlechtliche Liebe und die Bibel, in: Eva Harasta (Hg.), Traut euch. Schwule und lesbische Ehe in der Kirche, Berlin 2016, S. 20–35. 3 So zum Beispiel Jürgen Ebach, Bibelauslegung. Homosexualität – ein Gräuel?, URL: https://www.evangelisch.de/inhalte/91368/02-02-2011/bibelauslegung-homosexualitaet-ein-graeuel (Stand 27.3.2019). 4 Vgl. zu dieser Arbeit Michael Brinkschröder/Herbert Horatz u. a. (Hg.), Aufgehende Saat. 40 Jahre Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche, Stuttgart 2017.
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noden der EKD anwesend und haben den Kontroversen konkrete Gesichter gegeben. Mancherorts wurden zudem theologische Ausschüsse beauftragt, sich mit den kontroversen Themen zu beschäftigen und Gutachten dazu zu formulieren.5 Die dazugehörigen Debatten wurden ebenfalls zunehmend mit den Betroffenen geführt und nicht mehr nur über sie. Das veränderte Perspektiven und ermöglichte theologische Lern- und Entwicklungsschritte bei allen Beteiligten. Zum dritten hat sich die Gesetzeslage in Deutschland einschneidend verändert. Im Juni 1994 wurde § 175 abgeschafft, der homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt und schwule Männer jahrzehntelang kriminalisiert hatte. Am 1. Januar 2001 trat das Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft von gleichgeschlechtlichen Paaren in Kraft. Das Gesetz wurde am 1. Januar 2005 novelliert. Damit erfolgten rechtliche Angleichungen der eingetragenen Lebenspartnerschaft mit der Ehe im Unterhaltsrecht, im Zugewinn- und Versorgungsausgleich und bei der Rentenversicherung. Schließlich wurde das Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts am 20. Juli 2017 in Deutschland eingeführt. Es war im Juni 2017 mit deutlicher Mehrheit im Bundestag beschlossen worden. Diese rechtlichen Veränderungen nahmen die evangelischen Gliedkirchen und die EKD zum Anlass, um ihre Positionen zu Partnerschaft, Ehe- und Familienformen neu zu überdenken. Trotz aller Errungenschaften und Veränderungen sind die Kontroversen innerhalb der evangelischen Gliedkirchen und Gemeinden allerdings noch immer nicht vom Tisch. Die Streitpunkte bewegen sich im Spannungsfeld zwischen theologischen, sozialethischen und juristischen Grundsatzfragen und der Einordnung der aktuellen Erkenntnisse aus den Geistes- und Sozialwissenschaften. Folgende Streitpunkte aus diesem Spannungsfeld werden in diesem Beitrag näher skizziert: Schriftauslegung, Segnung bzw. Trauung gleichgeschlechtlicher Paare, gleichgeschlechtliche Pfarrerinnen und Pfarrer im Pfarramt, Regenbogenfamilien im Pfarramt, transidente Pfarrerinnen und Pfarrer und die Partnerschaftsarbeit mit afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Gemeinden mit homo- und transfeindlichen Positionen.
5 Vgl. Wolfgang Vögele, Homosexualität und Theologie. Ein Gutachten zur Homosexualität, zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und zum Leben gleichgeschlechtlicher Paare im Pfarrhaus (April 2014), URL: http://www.academia.edu/22035540/Homosexualit%C3%A4t_und_Theologie._Ein_Gutachten_zu_Homosexualit%C3%A4t_zur_Segnung_gleichgeschlechtlicher_Paare_und_zum_Leben_gleichgeschlechtlicher_Paare_im_Pfarrhaus (Stand 27.3.2019).
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2. Schriftauslegung Das Schriftprinzip wird in der Frage nach der theologischen Einschätzung von Homosexualität von vielen Beteiligten zum zentralen Deutungsschlüssel erhoben. Schwierig ist allerdings, dass die Auslegung biblischer Texte zum Thema keine Klärung der Debatte bringt, sondern die Kontroverse noch verschärft. Von GegnerInnen und KritikerInnen von Homosexualität wird darauf hingewiesen, dass die Bibelstellen zur Homosexualität ausschließlich negativ konnotiert seien. Für diesen Befund wird ein buchstabengetreues Bibelverständnis zugrunde gelegt. Biblische Verse werden wörtlich und ohne Berücksichtigung des historischen, kulturellen oder sozialgeschichtlichen Kontexts aus dem Zusammenhang gerissen und zitiert.6 Die Erkenntnisse der historisch-kritischen Bibelauslegung werden damit bewusst außer Acht gelassen, obwohl ihre hermeneutischen Errungenschaften hinsichtlich anderer exegetischer Fragen selbstverständlich genutzt werden, beispielsweise, wenn es um Reinheits-, Kleidungs- und Essensvorschriften geht, um das Verhältnis zur Sklaverei, zur Todesstrafe oder zu der in vielen alttestamentlichen Schriften vorausgesetzten polygamen Lebensweise von Männern. Während bei diesen Themen ganz selbstverständlich auf die Zeitgebundenheit der Texte hingewiesen wird, wendet man beim Thema Homosexualität dieses Prinzip nicht an.7 Wie problematisch dieser Umgang mit der Bibel ist, haben der Alttestamentler Jürgen Ebach und andere eindrücklich gezeigt.8 Die meisten BibelwissenschaftlerInnen und BibelexegetInnen sind sich hingegen darüber einig, dass die biblischen Texte zur Homosexualität nichts zum Thema von gleichgeschlechtlichen Lebensformen im 21. Jahrhundert aussagen. Kaum bestritten ist auch, dass keine der Bibelstellen von konkreten Personen handelt, die Menschen des gleichen Geschlechts lieben. Vielmehr geht es um sogenannte ‚homosexuelle Praktiken‘, die im Kontext von Kulthandlungen, Kultprostitution oder antiker Knabenliebe beschrieben werden und sowohl im Alten als auch im Neuen Testament als Beispiele von Unreinheit, Sünde oder Aberglauben der Andersgläubigen der jeweiligen Zeit angeführt werden, um sich von ihnen abzugrenzen. Zwar lehnen die Texte homosexuelle Praktiken eindeutig ab und verurteilen sie. Aber, so der Konsens der Forschung, sie sind nicht aussagekräftig für eine Diskussion über lesbische und schwule Partnerschaften im 21. Jahrhundert, in denen es nicht um Kultprostitution oder um ‚homosexuelle Praktiken‘ geht, sondern um Fragen der Identität, Partnerschaft und des Zusammenlebens in der gesamten Lebensgeschichte. 6 Vgl. zu diesem Thema Plisch, Liebe deine*n Nächste*n, S. 20–23. 7 Vgl. zur hermeneutischen Frage Isolde Karle, Liebe in der Moderne. Körperlichkeit, Sexualität und Ehe, Gütersloh 2014, S. 130 f. 8 Vgl. Ebach, Bibelauslegung.
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Orientierung kann folglich keine wörtliche Bibelauslegung geben, sondern nur die biblische Gesamtbotschaft. Sie misst sich an der Mitte der Schrift. Kriterium dafür ist nach Martin Luther das, ‚was Christum treibet‘, also was der Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus dient. Hier kommt dem von Jesus selbst genannten höchsten Gebot besondere Bedeutung zu. Es handelt sich um das Doppelgebot der Liebe (Markus 12,28– 31; Matthäus 22,30–35; Lukas 10,25–28). Es verpflichtet jeden und jede Einzelne zur Gottesliebe genauso wie zum Respekt gegenüber sich selbst und gegenüber anderen Menschen – auch und gerade gegenüber denjenigen, die als anders und fremd gelten. Die Gebote der Nächstenliebe und der Feindesliebe verbieten es zudem, Mitmenschen abzuwerten oder auszugrenzen, auch wenn deren Lebensweisen als provokant erscheinen. Gerade Jesu Worte und Taten haben ausdrücklich die Außenseiter und Unterdrückten der damaligen Gesellschaft in die Mitte seiner theologischen Botschaft gestellt. Die paulinische Leib-Christi-Theologie (1. Korinther 12; Römer 12) unterstreicht ebenfalls, dass die Menschen in den Gemeinden mit ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Gaben nur gemeinsam den einen Leib Christi formen können und kein Glied ohne Schaden für das Ganze ausgegrenzt werden darf. Auch der erste Schöpfungsbericht in 1. Mose 1, 27 f. macht keine Einschränkung im Hinblick auf die Gottesebenbildlichkeit. Alle Menschen werden von Gott gesegnet und als seine Ebenbilder bezeichnet. In ihrer Vielfalt von Herkunft, Hautfarbe, Geschlechtsidentität, Alter, Gesundheitszustand, Sprache, Kultur und Lebensform bilden sie Gottes Ebenbild in unterschiedlicher, aber gleichberechtigter Weise ab, ohne dafür Vorbedingungen erfüllen zu müssen. Gleichzeitig tragen Menschen die Verantwortung für ein respektvolles und friedliches Miteinander und für ein umsichtiges Zusammenleben mit anderen Menschen, mit allen Tieren und lebendigen Organismen und mit der gesamten Schöpfung. Dazu gehört auch der Fortpflanzungsauftrag Gottes. Allerdings steht nirgends geschrieben, dass sich jeder Mensch fortpflanzen muss, um Gottesebenbildlichkeit zu erlangen. Sonst würden auch Ehepaare ohne Kinder, Alleinlebende und Paare, die zwar Kinder haben wollen, aber aus welchen Gründen auch immer keine bekommen können, aus der Gottesebenbildlichkeit herausfallen. Das widerspricht der Aussage der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass gleichgeschlechtliche Lebensweisen im biblischen Kontext nicht vorkommen. Die alttestamentliche Ablehnung homosexueller Praktiken diente vor allem der religiösen Selbstvergewisserung und Abgrenzung Israels von anderen Religionen. Im neutestamentlichen Kontext der Paulusbriefe ging es vor allem um die Abgrenzung von kulturellen Praktiken der hellenistischen Spätantike, während die Thematik in den Evangelien überhaupt nicht vorkommt. Aus der Gesamtbotschaft der Schrift lässt sich stattdessen eine klare Aufforderung zu Respekt und Achtung allen Menschen gegenüber festhalten. Das schließt die mit ein, die als fremd und anders wahrgenommen werden.
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3. Segnung oder Trauung gleichgeschlechtlicher Paare Erst im Juni 1994 wurde § 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Der Paragraph hatte homosexuelle Handlungen in Deutschland unter Strafe gestellt. Ab dem Jahr 2001 war es gleichgeschlechtlichen Paaren möglich, ihre Partnerschaft auf dem Standesamt eintragen zu lassen und dadurch eine gewisse rechtliche Absicherung zu erhalten. Am 30. Juni 2017 ist das vom Deutschen Bundesrat eingebrachte Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (‚Ehe für alle‘) vom Deutschen Bundestag beschlossen worden.9 Seitdem gibt es eine rechtliche Gleichordnung von heteround homosexuellen Partnerschaften in der Ehe. Dieser gesellschaftliche und juristische Wandel bildete sich auch innerhalb der evangelischen Gliedkirchen ab. Viele von ihnen reagierten nach den Beschlüssen zur Partnerschaftsregistrierung im Jahr 2001 und haben nach entsprechenden synodalen Entscheidungsprozessen sogenannte ‚Segnungsgottesdienste‘ für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt.10 Zumeist sind sie nur dann möglich, wenn die angefragte Kirchengemeinde dem Segnungsgottesdienst zustimmt. Ein Pfarrer oder eine Pfarrerin können nicht zu einem solchen Gottesdienst verpflichtet werden. Der Gewissensvorbehalt kann hier geltend gemacht werden.11 Nach der parlamentarischen Entscheidung für die ‚Ehe für alle‘ im Sommer 2017 ist in einigen evangelischen Gliedkirchen auch die Möglichkeit der kirchlichen Trauung für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt worden.12 Dabei war die Einsicht entscheidend, dass in einem Gottesdienst anlässlich einer Eheschließung eines gleichgeschlechtlichen Paares theologisch und liturgisch nichts anderes geschieht, als bei der Segnung eines heterosexuellen Paares in einem Traugottesdienst. Insofern wurden die Unterschiede sprachlich und liturgisch aufgehoben.13 Auf dem Weg zu diesen Entscheidungen spielte die Orientierungshilfe der EKD „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ zu Ehe und Familie als verlässliche Gemein 9 Bundesrat, Drucksache 539/17 (30.06.2018), Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts, URL: https://www.bundesrat.de/SharedDocs/drucksachen/2017/0501-0600/539-17.pdf ?__blob=publicationFile&v=5 (Stand 27.3.2019). 10 Vgl. Roger Mielke, Ehe und homosexuelle Partnerschaften. Einige Anmerkungen zur gegenwärtigen Gesprächslage innerhalb der EKD, in: Harasta (Hg.), Traut euch, S. 118–128, hier: S. 122 f. 11 Vgl. zum Stand der Diskussion in den Gliedkirchen ebd., S. 124 f. 12 So entschieden sich bisher die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), die Evangelische Landeskirche in Baden (ELKB), die Evangelische Kirche in Berlin, Brandenburg und Schlesische Oberlausitz (EKBO) und die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR). Die meisten anderen Landeskirchen sehen Segnungsgottesdienste für gleichgeschlechtliche Paare vor. Ausnahmen sind die Evangelisch- Lutherischen Kirchen in Württemberg, Schaumburg-Lippe und in Sachsen, die Segnungsgottesdienste immer noch ablehnen; vgl. Mielke, Ehe. 13 Vgl. dazu den Überblick von Markus Bechthold/Anne Kampf u. a., Segnung Homosexueller: Bunt wie ein Regenbogen. Wie gehen die Landeskirchen mit der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare um?, URL: https://www.evangelisch.de/inhalte/111225/20-11-2014/segnung-homosexueller-bunt-wie-ein-regenbogen (Stand 27.3.2019).
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schaften eine gewisse Rolle. Sie war von einer ad-hoc-Kommission des Rats der EKD 2013 erarbeitet worden und führte zu einer breiten und kontroversen Diskussion um Ehe und Familie aus evangelischer Sicht. In dieser Orientierungshilfe werden gleichgeschlechtliche Paare und Regenbogenfamilien als Formen verschiedener Partnerschaftsund Familienmodelle akzeptiert, auch wenn an der Leitidee der heterosexuellen Ehe und Familie weiterhin festgehalten wird. Die Orientierungshilfe stellt alle Formen des Zusammenlebens und alle Familienformen unter klare sozialethische Kriterien: gegenseitige Achtung, Treue, Gleichberechtigung, gegenseitige Fürsorge und Gewaltfreiheit. Sie stellt zudem klar, dass es in diesen Fragen nur um ein gemeinsames Ringen um gelingende Beziehungsformen gehen kann. Jedes Individuum, jedes Paar und jede Familie – ob homo- oder heterosexuell – sei hier in die Verantwortung gerufen. Eine Garantie auf Erfolg und Glück habe keine Beziehung, wie die Scheidungsstatistiken jedes Jahr neu belegten. Deshalb sei es aufgrund der Begrenztheit und Fehlbarkeit menschlichen Tuns und der letztendlichen Unverfügbarkeit von Beziehungsgeschehen ganz wichtig, dass Paare – ob homo oder hetero – Gottes Segen für ihre Beziehung und Partnerschaft, für ihre Kinder, Familien und Freunde in einem Gottesdienst erbitten könnten. Selbstverständlich sollte dafür in Seelsorgegesprächen – ebenso wie bei heterosexuellen Paaren auch – die Motivation des Paares geklärt und über Fragen von Beziehung und Partnerschaft aus christlicher Sicht gesprochen werden.14 Es ging in der Orientierungshilfe also nicht um Beliebigkeit, sondern um eine ethische Orientierung. Gegenseitige Anerkennung, Treue und Vertrauen sind für alle Paare die christliche Grundlage einer gelingenden Beziehung. Gleichwohl wurde den Verfasserinnen und Verfassern der Orientierungshilfe vorgeworfen, die faktische gesellschaftliche Entwicklung als normativ gesetzt zu haben. Sie hätten die biblischen Grundlagen zu oberflächlich geprüft, um auf dieser Grundlage theologisch verantwortbare Empfehlungen geben zu können. Die Diskussionen um den Text der Orientierungshilfe waren entsprechend emotional aufgeladen und strittig. Sie wurden schließlich in einer eigenen Broschüre dokumentiert und veröffentlicht.15 GegnerInnen und KritikerInnen der Segnungs- und Traugottesdienste sind vor allem in den Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Württemberg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und in Sachsen vertreten. Auf der Landessynode der Württembergischen Kirche im November 2017 wurde ein Kompromissantrag des Landesbischofs knapp abgelehnt. Zwei Stimmen fehlten zur erforderlichen Zweidrittelmehrheit, um kirchliche 14 Vgl. dazu auch Andrea Bieler/Kerstin Söderblom, Segnungsgottesdienste für gleichgeschlechtliche Paare, in: Siegfried Keil/Michael Haspel (Hg.), Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in sozialethischer Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2000, S. 83–98. 15 Vgl. Rat der EKD (Hg.), „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ – Eine Orientierungshilfe der EKD in der Kontroverse, Hannover 2013.
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Segnungsgottesdienste für gleichgeschlechtliche Paare zu ermöglichen.16 Bereits im Jahr 2016 hat sich aus Protest gegen die Ablehnung von Segnungsgottesdiensten in Württemberg die ‚Initiative Regenbogen‘ gegründet.17 In ihr sind 70 Gemeinden vertreten (Stand Juli 2018), die für einen Segnungsgottesdienst für gleichgeschlechtliche Paare in Württemberg eintreten. Das Konfliktpotenzial im Hinblick auf Segnungs- und Traugottesdienste gleichgeschlechtlicher Paare ist also nach wie vor enorm hoch. Es geht um die Frage nach dem Leitbildcharakter von heterosexueller Ehe und Kleinfamilie, um die Frage der Generativität und um die auf Dauer angelegte personale Lebens- und Liebesgemeinschaft von zwei Menschen. Viele Gliedkirchen der EKD befürworten mittlerweile eine Öffnung hin zur Segnung oder Trauung gleichgeschlechtlicher Paare. Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) hat bereits im Jahr 2013 nach längerer Beratung die Segnung und Trauung gleichgeschlechtlicher Paare in ihrer überarbeiteten „Lebensordnung“ weitgehend gleichgestellt. Dabei hat die Schrift „Ordnung des kirchlichen Lebens“ unterschiedliche Meinungen zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften innerhalb der Kirche eingeräumt. Die Autoren und Autorinnen betonen, dass der Mensch biblisch gesehen zur Beziehung mit Gott und mit anderen Menschen angelegt sei. Liebesbeziehungen seien dabei gleichermaßen Geschenk, Zeichen und Geheimnis von Gottes Liebe.18 Es existiert aber auch noch immer erbitterter Widerstand vor allem in konservativen Gruppierungen und bei evangelikalen Christinnen und Christen. Für sie bleibt die Bewahrung der Ehe von Mann und Frau als christliches Leitbild von höchster Bedeutung für Kirche und Gesellschaft.19 Es bleibt die Herausforderung, sich gegenseitig zuzuhören, ideologisch abzurüsten und sachlich zu argumentieren. Wenn ein solcher Austausch konstruktiv gelingt, dann können sich auch festgefahrene Positionen und Vorurteile verändern. Kirche und Theologie sind insofern selbst ein Teil von Prozessen des sozialen Wandels. Sie müssen sie mit gestalten, begleiten und deuten, statt zu verurteilen und auszugrenzen. Dazu gehört auch, die Vielzahl von Ambivalenzen und Kontroversen auf diesem Gebiet auszuhalten und immer wieder respektvolle Begegnungs- und Lernorte zu ermöglichen.
16 Vgl. Markus Mockler, Keine Segnungsgottesdienste gleichgeschlechtlich Liebender in Württemberg, URL: https://www.evangelisch.de/inhalte/147218/29-11-2017/wuerttemberg-keine-homo-segnung- gottesdiensten (Stand 27.3.2019). 17 Vgl. die Webseite des Bündnisses Homosexualität und Kirche der Evangelischen Landeskirche Württemberg, Initiative Regenbogen, URL: https://www.huk.org/ (Stand 27.3.2019). 18 Vgl. Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (Hg.), Ordnung des kirchlichen Lebens (Lebensordnung), Darmstadt 2013, Abschnitt V: Die Trauung und die Segnung einer eingetragenen Lebenspartnerschaft, S. 52–55. 19 Vgl. dazu Mielke, Ehe, S. 118–128.
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4. Lesbische Pfarrerinnen und schwule Pfarrer im Pfarrhaus Offen lesbisch und schwul lebende Pfarrerinnen und Pfarrer haben das gängige Pfarrbild und Vorstellungen vom evangelischen Pfarrhaus seit den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts vervielfältigt.20 Die Positionen sind dennoch bis heute umstritten. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es deswegen in verschiedenen evangelischen Gliedkirchen hitzige Debatten, theologische Auseinandersetzungen und Streitgespräche zum Thema, die bis heute anhalten.21 Auch die Debatten um die Novellierung des Pfarrdienstrechts der EKD in den Jahren 2012 bis 2013 haben dazu beigetragen.22 Im § 39 des Pfarrdienstrechts der EKD wird festgehalten, dass Pfarrerinnen und Pfarrer im Hinblick auf ihre Lebensführung verpflichtet sind, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und gegenseitige Verantwortung in der Ehe und im Zusammenleben vorzuleben. Der Begriff Ehe wird in dem Paragraphen benutzt, ohne ihn auf eine heterosexuelle Ehe zu begrenzen.23 Gestritten wurde vor allem um die Frage, ob lesbische und schwule Paare, die im Pfarrhaus leben, ihre Vorbildfunktion angemessen ausfüllen könnten. Geklärt werden sollte, ob Pfarrerinnen und Pfarrer das Leitbild der heterosexuellen Ehe und Kleinfamilie in ihrem Privatleben selbst verkörpern müssen. Die traditionellen Vorstellungen von der heterosexuellen Pfarrfamilie bis hin zur heteronormativen Institution des evangelischen Pfarrhauses standen für viele auf dem Spiel. Die Konfliktthemen reichten entsprechend von den biblisch hermeneutischen Fragen zum Thema Homosexualität bis hin zu Fragen zur Amtsführung und zur engen Verknüpfung von Person und Amt von Geistlichen im Pfarrhaus. Als Ergebnis dieser Debatten haben sich die meisten Gliedkirchen der EKD entschieden, lesbische und schwule Geistliche unabhängig von ihrer Lebensform zu ordinieren und gleichgeschlechtliche Partnerschaften im Pfarrhaus zuzulassen. Diese Möglichkeit muss allerdings in den meisten Gliedkirchen mit der Kirchengemeinde vor Ort geklärt und ausgehandelt werden und kann nicht von der Kirchenleitung verordnet werden. Diese Entwicklung hat viele Kirchengemeinden bunter gemacht und das Gemeindeleben bereichert. Die Entwicklung ist aber nicht als mutiges Vorangehen kirchlicher Entscheidungsträger im Hinblick auf Gleichberechtigung und Respekt gegenüber Lesben und Schwulen zu
20 Dieses Kapitel ist ein überarbeiteter Ausschnitt aus Kerstin Söderblom, Lebensformen im Pfarrhaus, in: Simone Mantei/Regina Sommer u. a. (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Pfarrberuf im Wandel. Irritationen, Analysen und Forschungsperspektiven, Stuttgart 2013, S. 140–142 (= Praktische Theologie heute 128). 21 Vgl. dazu Isolde Karle, „Da ist nicht mehr Mann noch Frau …“. Theologie jenseits der Geschlechterdifferenz, Gütersloh 2006, S. 237–253. 22 Vgl. Anne Kampf, Leben im Pfarrhaus – „verbindlich und verlässlich“, URL: https://www.evangelisch.de/ inhalte/8256/21-10-2013/leben-im-pfarrhaus-verbindlich-und-verlaesslich (Stand 27.3.2019). 23 Pfarrdienstgesetz der EKD – PfDG.EKD vom 10.11.2010 (zuletzt geändert am 8.11.2016), § 39 Ehe und Familie, URL: https://kirchenrecht-uek.de/document/22053 (Stand 27.3.2019).
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deuten. Stattdessen ist es eher ein mühsamer und konflikthafter Nachvollzug wissenschaftlicher Erkenntnisse und gesellschaftspolitischer Veränderungen. Im Pfarrhaus leben mittlerweile lesbische oder schwule Paare mit und ohne Kinder. Diese ausdifferenzierten Lebenswirklichkeiten vervielfältigen die Bilder vom Pfarrhaus, von den Pfarrpersonen und ihren Rollen. Die Vorstellungen haben sich verflüssigt und sind offener für gesellschaftliche Vielfalt geworden, auch im Pfarrhaus. Zugleich ziehen diese Entwicklungen starke Ablehnungs- und Beharrungskräfte im Hinblick auf traditionelle Pfarrbilder nach sich. Ehe und Kleinfamilie werden als gottgewollte Leitbilder beschworen. Die angebliche qualitative Höherwertigkeit der heterosexuellen Ehe im Vergleich zur gleichgeschlechtlichen Partnerschaft wird herausgestellt. Idealbilder von der heterosexuellen Kleinfamilie und dem evangelischen Pfarrhaus werden neu aktiviert, biblisch unterfüttert und theologisch legitimiert. Diese Gleichzeitigkeit führt bis heute zu vielen Problemen und Konflikten in den Gemeinden und im gesamten kirchlichen Leben. Für Lesben und Schwule im Pfarrhaus bleibt es insofern ein anstrengender Balanceakt. Viele berichten davon, dass sie hundertfünfzigprozentig ihre Arbeit im Pfarramt tun, damit sie nicht aufgrund ihrer Lebensform angreifbar werden. Theologische und menschliche Anfeindungen bleiben dennoch nicht aus. Einige kommen damit an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Sie fürchten, dass Probleme in der Gemeinde unsachgemäß auf ihre Lebensform zurückgeführt werden. Und sie sind sich nicht sicher, ob die Gemeinde im Konfliktfall tatsächlich zu ihnen stehen würde. Andere erzählen aber auch von gelungenen Begegnungen und Lernerfahrungen, die jenseits von Vorurteilen und Klischees echte Freundschaften ermöglicht und in den Gemeinden Lernorte für den Umgang mit Verschiedenheit eröffnet haben. Am Lernort Gemeinde wird weiterhin täglich ausgehandelt und erprobt, wie Zusammenleben in verschiedenen Formen gelingen kann und wie Menschen voneinander lernen können. Dieser Prozess ist noch nicht beendet und auch nicht einfach. Aber da, wo sich Menschen auf den Weg machen miteinander zu lernen, sind die Erfahrungen oft ermutigend.
5. Regenbogenfamilien im Pfarrhaus Seit einigen Jahren ist eine weitere gesellschaftliche Herausforderung in die evangelischen Pfarrhäuser eingezogen. Schwule Pfarrer und lesbische Pfarrerinnen in Partnerschaften bekommen Kinder oder haben Kinder aus erster Ehe und leben in sogenannten Regenbogenfamilien im Pfarrhaus.24 Die Orientierungshilfe vom Rat der EKD „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ aus dem Jahr 2013 hat sich diesbezüglich klar positio24 Dieses Kapitel ist ein überarbeiteter Ausschnitt aus Söderblom, Lebensformen, S. 142 f.
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niert: Lesbische und schwule Partnerschaften und Familien seien Teil pluraler Familienbilder, solange sie sich an die Werte wechselseitige Anerkennung, Loyalität, Fürsorge und Gewaltfreiheit hielten.25 Viele Gemeindeglieder, die sich an die Gegenwart von lesbischen Pfarrerinnen und schwulen Pfarrern gewöhnt hatten, haben mit dieser neuen Entwicklung allerdings noch Probleme. Im Raum steht zum einen die Frage, wie diese Kinder gezeugt wurden. Sind es Kinder aus vorherigen Ehen? Wurden künstliche Reproduktionstechnologien genutzt? Wurden Kinder adoptiert? Diese Fragen ziehen ethische Kontroversen nach sich, die theologisch und alltagspraktisch nicht so einfach zu klären sind. Zum anderen fragen sich viele Menschen, ob die Erziehung von Kindern in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft angemessen gelingen kann. Dem liegen normative Vorstellungen von gelingender Kindererziehung als gemeinsamer Aufgabe von Mann und Frau zugrunde, auch wenn das selbst im Alltag vieler heterosexueller Ehepaare häufig nur ein Idealbild darstellt. Zum dritten lehnen viele auch Regenbogenfamilien als falsche Vorbilder für Kinder und Jugendliche in den Gemeinden ab, weil sie die Verführbarkeit von Jugendlichen fürchten. So erstaunt nicht, dass Regenbogenfamilien vielerorts noch nicht als ‚normal‘ angesehen werden, genauso wenig wie lesbische oder schwule Eltern. In den Augen von vielen ist es zudem nicht Aufgabe von Kirche und Gesellschaft solche Bedingungen zu schaffen, unter denen Kinder aus Regenbogenfamilien ohne Ausgrenzungserfahrungen und Diskriminierungen aufwachsen können. Sie sehen es vielmehr als die Aufgabe der lesbischen oder schwulen Eltern an zu beweisen, dass sie gute Eltern sein können, sozusagen trotz ihrer Lebensform. Das heteronormative Bild von zweigeschlechtlicher Ehe und Kleinfamilie dient somit weiterhin als Maßstab, an dem sich jede Abweichung messen lassen muss. Wenn eine solche Abweichung in Form einer Regenbogenfamilie nun selbst im Pfarrhaus Raum einnimmt und sichtbar wird, gilt diese Regel zunächst einmal umso stärker. Die skeptischen Abwehrkräfte gegen die Verflüssigung von Normalitätskonstruktionen sind in Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen nach wie vor hoch. Lesbische Pfarrerinnen, die in Regenbogenfamilien im Pfarrhaus leben, berichten von vier Herausforderungen: (1.) Die soziale Kontrolle im Hinblick auf alles, was im Pfarrhaus geschieht, sei bei Regenbogenfamilien noch stärker als sie im Pfarrhaus sowieso schon ist. (2.) Es herrsche bei vielen die Überzeugung vor, dass eine Regenbogenfamilie nicht das evangelische Pfarrhaus repräsentiere und außerdem ‚unbiblisch‘ sei. (3.) Die Frage der Herkunft der Kinder spiele untergründig eine starke Rolle und verunsichere viele Gemeindeglieder. (4.) Die Sorge, dass die Kinder von Regenbogenfamilien in den Gemeinden aus-
25 Vgl. Rat der EKD (Hg.), Autonomie, S. 67–71.
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gegrenzt und gehänselt werden könnten, setzt vielen lesbischen und schwulen Eltern zu und macht sie verletzbar.26 Aber es sind auch positive Beispiele bekannt, wie der Umgang mit Regenbogenfamilien im Pfarrhaus unaufgeregt gelingen kann. Solche Erfahrungen sind allerdings noch eher vereinzelt. Insofern ist noch viel Aufklärungs- und Informationsarbeit zu leisten. Nach bisheriger Erfahrung gibt es dafür keine Alternative zu Gesprächen auf Augenhöhe, die sachlich und respektvoll in geschützten Räumen stattfinden. Kirchengemeinden und kirchliche Einrichtungen könnten solche geschützten Räume anbieten. Dadurch könnten sich Menschen, die in ganz unterschiedlichen Lebensformen leben, besser kennenlernen und sich gegenseitig ihre Lebensentwürfe erzählen. Damit würden die Beteiligten ermutigt und ermächtigt, Vorurteile und Klischees abzulegen und miteinander auf Entdeckungsreisen zu gehen. Wenn eine lesbische Pfarrerin oder ein schwuler Pfarrer bereits im Pfarrhaus lebt, fällt dieses Gespräch in der entsprechenden Gemeinde in der Regel leichter. Denn durch die Sichtbarkeit des Themas liegt der Gesprächsbedarf zumeist von selbst nahe. Außerdem zeigt die Erfahrung: Wenn Vorurteile Gesichter bekommen, fallen sie nicht selten in sich zusammen.
6. Transidente Pfarrer und Pfarrerinnen Das Thema Transsexualität27 und Kirche ist bisher in den evangelischen Gliedkirchen in Deutschland kaum beleuchtet worden, trotz einiger Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich aufgrund eigener Erfahrungen mit mehr oder weniger medialer Aufmerksamkeit dazu geäußert haben.28 Bei Transsexualität und Transidentität29 steht zum einen die Annahme der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen im Zentrum. Sie wird als scheinbar gottgegeben und damit als lebensbestimmend für das christliche Menschenbild festgelegt. Zum anderen geht es um die Frage, ob die Gottesebenbildlichkeit eines Menschen an ein bestimmtes Geschlecht geknüpft ist. Folgefragen sind, ob die Gottesebenbildlichkeit bestehen bleibt und die Taufe eines Menschen gültig bleibt, wenn dieser ein anderes Geschlecht und einen neuen Namen annimmt. Weiterhin stellt sich die Frage, ob für transidente Menschen „Transitions-Rituale“ (Übergangsrituale z. B. zur Namensänderung) in Kirchen 26 Ich beziehe mich hier auf mehrere Gespräche mit Betroffenen, die ich im Rahmen meiner seelsorgerlichen Arbeit kennen gelernt habe. Die handschriftlichen Gesprächsnotizen liegen mir vor. 27 Diskrepanz zwischen geschlechtlicher Selbstverortung eines Menschen und seiner ihm körperlich zugewiesenen Geschlechtsidentität. 28 Vgl. unter anderem Julia Huber, Transidentität. Wie aus Pfarrerin Silke Pfarrer Finn wurde, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.12.2017. 29 Transidentität betont das Thema der Geschlechtsidentität. Denn es geht hierbei nicht um Sexualität, sondern um Fragen der Identität.
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gefeiert werden können. Darüber hinaus ist die Zuspitzung des Themas auf transidente Pfarrer und Pfarrerinnen bedeutsam, denn von ordinierten Geistlichen wird seit jeher eine besonders vorbildliche Lebensführung erwartet. Person und Amt werden bei ordinierten Geistlichen in herausgehobener Weise miteinander verknüpft, was die Thematik der Transidentität von Pfarrern und Pfarrerinnen in Kirchen und Gemeinden nicht einfacher macht. Hinzu kommen zahlreiche rechtliche Fragen hinsichtlich der Vornamensund Personenstandsänderung, die im „Gesetz über die Änderung von Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen“ (Transsexuellengesetz) geregelt werden. Das Gesetz wurde im Juli 2017 überarbeitet und revidiert.30 Herausforderungen ergeben sich durch mögliche psychische und physische Belastungen beim Comingout. Auch Hormontherapien und weitere medizinische Maßnahmen können zu Belastungen der gesamten Person führen und Verunsicherungen, Überforderungen und Irritationen der Betroffenen und des familiären und sozialen Umfelds nach sich ziehen. Sie machen den Umgang mit dem Thema noch schwieriger.31 Zu allgemeinen Fragen der Transsexualität und Kirche liegt seit März 2018 eine Handreichung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) vor. Sie beschäftigt sich mit der Lebenswirklichkeit von transidenten Menschen und setzt sich mit den Herausforderungen für kirchliches und kirchenleitendes Handeln auseinander.32 Bereits im Geleitwort des Kirchenpräsidenten Volker Jung wird deutlich, was die Handreichung erreichen will: Sie lädt dazu ein, geschlechtliche Vielfalt im Alltag und auch im Gemeindeleben erst einmal ohne Bewertung wahrzunehmen. Mit Hilfe von sachlichen Informationen, lebensgeschichtlichen Zeugnissen, theologischen Perspektiven und medizinischen Interventionsmöglichkeiten soll Wissen über verschiedene Geschlechtsidentitäten vermittelt werden. Darüber hinaus wird dazu eingeladen, eigene Denkmuster und Vorurteile zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern.33 Mittels handschriftlich aufbereiteter Zitate, gefälliger Grafiken und Informationskästen wird das Thema griffig aufbereitet und aus verschiedenen Perspektiven verständlich erklärt. Abschließend werden auch Handlungsimpulse für die Gestaltung einer inklusiven und geschlechtergerechten Kirche für alle vorgeschlagen. Die Handreichung positioniert sich damit im Sinne einer einfühlsamen Begleitung von Trans-Personen und einer Kirche, die offen ist für alle Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. 30 Vgl. Gesetz über die Änderung von Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz) vom 10.09.1980, revidiert am 20.7.2017, URL: https://www. gesetze-im-internet.de/tsg/BJNR016540980.html (Stand 27.3.2019). 31 Vgl. Klaus-Peter Lüdke, Jesus liebt Trans. Transidentität in Familie und Kirchgemeinde, Göppingen 2018. 32 Vgl. Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (Hg.), Zum Bilde Gottes geschaffen. Transsexualität in der Kirche, Darmstadt 2018, S. 29 f. 33 Volker Jung, Geleitwort des Kirchenpräsidenten, in: ebd., S. 4 f.
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In der Handreichung werden zunächst drei Interviews mit Betroffenen geführt. Diese erzählen von ihren unterschiedlichen Lebenswegen, bis sie sich selbst als Trans-Menschen bezeichnet und sich von alten Rollenbildern und Erwartungen freigemacht haben. Die drei interviewten Personen haben sowohl unterstützende als auch ausgrenzende und schmerzhafte Erfahrungen gemacht, als sie sich im Kontext von kirchlichen Gemeinden, Kirchenchören oder anderen kirchlichen Orten geoutet haben. Alle drei betonen, dass Offenheit, Respekt und ein selbstverständlicher Umgang mit Trans-Personen im christlichen Umfeld unterstützend und hilfreich sind. Im Hinblick auf die theologischen Perspektiven steht auch bei diesem Thema der erste Schöpfungsbericht in 1. Mose 1,27 zur Diskussion. Der Bibelvers wurde lange Zeit als normativ einschränkende Festlegung auf die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen ausgelegt. Sein Aussagegehalt werde dadurch aber reduziert, wie die Autorinnen und Autoren der Handreichung betonen34, denn die Bestimmung jedes Menschen zu Gottes Ebenbild gelte allen Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Herkunft, Hautfarbe oder ihrem Alter. Erst in einem zweiten Schritt sei die Erklärung damit verbunden, dass der Mensch männlich und weiblich sei. Auch im Sinne einer christologischen Aufhebung von menschlichen Kategorien, wie z. B. im Galaterbrief 3,28, sind diese Unterscheidungen keine Voraussetzung für Gottesebenbildlichkeit. Darüber hinaus kommen in der Bibel sowohl im Alten als auch im Neuen Testament sogenannte Eunuchen (kastrierte Männer) vor und geben damit ein biblisches Beispiel für geschlechtliche Vielfalt. Im Neuen Testament spricht Jesus anerkennend von Eunuchen. Sie seien entweder aus dem Mutterleib so geboren und von Menschen abgewertet worden, oder sie hätten sich aufgrund ihrer Nähe zu Gott selbst zu Eunuchen gemacht (vgl. Matthäus 19,12). Ermutigend ist auch die Geschichte vom Eunuchen und dem äthiopischen Kämmerer, der vom Apostel Philippus auf sein Bitten hin trotz seiner dunklen Hautfarbe und seiner erkennbar anderen Erscheinung getauft wurde (Apostelgeschichte 8)35 (vgl. Tafel 15). Die urchristliche Gemeinde hat Verschiedenheit in Sprache, Hautfarbe, sozialer Herkunft und Geschlecht also durchaus willkommen geheißen.36 Für den gemeindlichen Alltag bedeutet dieser Befund, dass Seelsorgerinnen, Seelsorger und kirchliche Mitarbeitende Kenntnis über den rechtlichen Rahmen und die Selbstwahrnehmung von Trans-Personen haben müssen, damit sie sie unvoreingenommen auf
34 Vgl. ebd., S. 16 f. 35 Vgl. Kerstin Söderblom, Que(e)r gelesen. Der Eunuch aus Äthiopien, in: evangelisch.de, URL: https:// www.evangelisch.de/blogs/kreuz-queer/146150/04-10-2017 (Stand 27.3.2019). 36 Vgl. zum biblischen Befund Anne Kampf, Kommen Transsexuelle in der Bibel vor?, URL: https://www. evangelisch.de/inhalte/131574/11-02-2016/kommen-transsexuelle-der-bibel-vor (Stand 27.3.2019).
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ihrem Weg begleiten können.37 Im Gottesdienst sollte die Vielfalt von geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen anhand von konkreten Beispielen in der Predigt und einer sensiblen Sprache in der Liturgie zum Ausdruck kommen. Die oben genannte Handreichung bietet dafür hilfreiche Beispiele.38 Überhaupt liefert sie einen guten Überblick, um in die komplexe Thematik Transsexualität und Kirche einzuführen. Am wichtigsten dürfte es aber sein, mit Trans-Personen selbst zu sprechen und sie als Expertinnen und Experten ihrer Lebensgeschichten und ihrer Wünsche und Bedürfnisse zu hören und ernst zu nehmen.39 Bei solchen Gesprächsterminen kann die Broschüre begleitend hilfreich sein. Sie lädt dazu ein, dass sich auch weitere evangelische Gliedkirchen mit dem Thema intensiv auseinandersetzen.
7. Partnerschaftsarbeit mit afrikanischen und asiatischen Kirchen Viele Gemeinden, Kirchenkreise und ganze Gliedkirchen der EKD pflegen Partnerschaften zu Gemeinden und Kirchen in der ganzen Welt, insbesondere in Nord-, Süd- und Mittelamerika, in Asien und in Afrika. Viele dieser Partnerschaften gehen auf erste Missionsgemeinden der verschiedenen konfessionellen Missionswerke in den Regionen zurück. Diese missionarischen Gemeindegründungen waren zumeist verknüpft mit Prozessen der Kolonialisierung, die nicht selten mit Zwang und Gewalt durchgeführt worden sind. Insofern braucht es Sensibilität und ein fundiertes Wissen um die historischen Zusammenhänge, um diese Partnerschaften heutzutage auf Augenhöre und mit Respekt begehen zu können.40 Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach dem Umgang mit Homosexualität ein kritischer Gradmesser für die partnerschaftliche Zusammenarbeit geworden. Denn viele insbesondere afrikanische und asiatische Kirchen haben sich gegen die Ordination lesbischer oder schwuler Geistlicher gestellt. Ebenso haben sie sich gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften und gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaftssegnungen ausgesprochen. So hat es zum Beispiel die Evangelical Lutheran Church of Tanzania (ELCT) in ihrem „Dodoma Statement“ im Dezember 2010 getan.41 Diese Stellungnahme hat manche Gliedkirchen der EKD in Bedrängnis gebracht. Soll man in der Partnerschaftsarbeit das Thema Homosexualität ausklammern? Soll man das Thema ansprechen? Und wenn ja, wie kann 37 Vgl. dazu auch Lüdke, Jesus liebt Trans; Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e. V. (Hg.), Reformation für Alle*. Transidentität/Transsexualität und Kirche, Berlin 2017. 38 Vgl. Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (Hg.), Zum Bilde Gottes, S. 31 f. 39 Vgl. dazu Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e. V. (Hg.), Reformation für Alle*. 40 Vgl. Kerstin Söderblom, Respekt statt Hass, in: Habari (2011), Heft 2, S. 60–68. 41 Vgl. das Statement auf der Webseite der Evangelical Lutheran Church of Tanzania (ELCT), The Dodoma Statement, URL: http://www.elct.org/news/2010.04.004.html (Stand 27.3.2019).
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das gelingen, ohne erneut besserwisserisch und vereinnahmend aufzutreten, wie es bereits in der Kolonialzeit und zurzeit der christlichen Mission üblich war? Das sind brisante Fragen, über die sich die jeweils Verantwortlichen der Partnerschaftsarbeit in der EKD und in den Gliedkirchen Gedanken machen müssen.42 Die unterschiedlichen theologischen Positionen zu diesen Themen haben bereits vielerorts für Irritationen und Verstimmungen gesorgt.43 Damit steht das Thema kirchenintern als kritische Prüffrage, wie christliche Kirchen im 21. Jahrhundert mit Minderheiten umgehen, wie und ob elementare Menschenrechte in den Kirchen eingehalten werden und mit welcher Gestalt und Ausrichtung von Kirche sie in Zukunft leben wollen. Es geht aber auch um das Verhältnis zwischen den westeuropäischen und nordamerikanischen Kirchen einerseits und den afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Partnerkirchen andererseits. Im Hinblick auf die Frage der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften hat sich beispielsweise die Evangelical Lutheran Church of Tanzania jede Einmischung und Bevormundung von ihren westeuropäischen oder nordamerikanischen Partnerkirchen verbeten. Die historisch begründeten und zum Teil immer noch virulenten Strukturen von Kolonialismus, Rassismus und Mission durch weiße westliche Gesellschaften und Kirchen in Afrika, Asien und Lateinamerika stehen damit nicht nur indirekt zur Debatte.44 Andererseits melden sich auch zunehmend betroffene lesbische, schwule, bi-, transsexuelle, transidente, intersexuelle und queere Gemeindeglieder im globalen Süden zu Wort. Sie kritisieren die homo- und transfeindlichen Positionen in ihren Kirchen. Denn sie sind oftmals Opfer von Ausgrenzungen und gewaltsamen Übergriffen. Gleichzeitig kritisieren sie westliche Positionen der Partnerkirchen, die sich in diese internen Debatten vorschnell einmischen und ohne Kenntnis der entsprechenden Diskussionen vorschnell Ratschläge erteilen oder mit dem Einbehalt von Spendengeldern drohen. Das sei für ihren Kampf wenig hilfreich, da es die Betroffenen in doppelter Weise unter Druck setze. Auch Kim (Pseudonym), eine lesbische Frau aus Nigeria, unterstrich diese Sichtweise. Ich traf sie am Rande der Friedenskonvokation des Ökumenischen Rats der Kirchen in Kingston/Jamaika im Mai 2011.45 Kim ist vor vielen Jahren aus Nigeria geflohen, weil 42 Vgl. zu diesem Thema insgesamt die Broschüre Habari (2/2011), Tanzania – Network.de zum Thema Homosexualität. 43 Vgl. Volker Schauer, Die Dodoma Erklärung der ELCT, in: Habari (2011), Heft 2, Tanzania, S. 19–21. 44 Vgl. Marc Epprecht, Sexual and Social Justice in Africa. Rethinking Homophobia and Forging Resis tance, London 2013. 45 Ich traf sie mit drei anderen internationalen Teamerinnen und Teamern vom Europäischen Forum christlicher Lesben-, Schwulen-, Bi- und Trans-Gruppen im Rahmen einer Begegnung mit mehreren lesbischen Frauen aus Jamaika. Das Treffen fand in einem Club in Kingston statt, der sich an einem geheimen Ort befindet und von privat organisierter Security bewacht werden muss. Jamaika steht in der Kritik, eines der gewalttätigsten und homofeindlichsten Länder der Welt zu sein. Das Gespräch habe ich anschließend aus dem Gedächtnis notiert und ins Deutsche übersetzt.
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sie es als lesbische Frau in Nigeria nicht mehr ausgehalten hat. Sie wurde von Familienmitgliedern bedroht und von ihren Eltern verstoßen. Sie verlor ihr soziales Ansehen und war mehrfach gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Heute lebt sie in den USA und setzt sich dort insbesondere für die Rechte von schwarzen LSBTTIQ46 ein. Trotz ihrer persönlichen Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen erklärte sie mir gegenüber: „Weiße westliche Gesellschaften und Kirchen werfen afrikanischen Kirchen und Gesellschaften homophobe Predigten und die Unterstützung homophober Gewalttaten vor. Diese Vorwürfe sind einerseits berechtigt und richtig. Andererseits haben sie nicht selten rassistische Untertöne. Es besteht die Gefahr, dass westliche Kirchen auch im 21. Jahrhundert den afrikanischen Kirchen noch vorschreiben wollen, was diese zu tun oder zu lassen haben. Dabei waren es doch die Weißen, die mit ihren teilweise gewaltsamen Missionierungen und mit den damals auch in Europa noch sehr engen christlichen Moralvorstellungen diese Werte und Normen überhaupt erst nach Afrika gebracht haben. Auch die Kriminalisierung von Homosexualität kam erst mit den aus Europa importierten Gesetzeskodexen nach Afrika. Das müsst ihr heute wissen und im Blick haben, wenn ihr mit Afrikanern über das Thema redet. Es gibt hier keine einfachen Rezepte. Die afrikanischen Kirchen müssen ihre Antworten selbst finden. Die europäischen Kirchen sollten diese strittigen Themen lieber in ihren eigenen Reihen klären!“47 Kims Sätze, die auch von anderen anwesenden lesbischen Frauen unterstützt wurden, haben mich sehr nachdenklich gemacht. Ihre Position wird auch von Marc Epprecht bekräftigt. Er hat ein Buch zum Thema Homosexualität und Homophobie in Afrika veröffentlicht48 und weist darauf hin, dass alle Fragen von Sexualität, Geschlechtergerechtigkeit und Homofeindlichkeit riesige Herausforderungen in Afrika darstellen. Zugleich zeigt er auf, dass in traditionellen afrikanischen Gesellschaften vor der Kolonialisierung Homosexualität durchaus integrierbar war. Die afrikanische Lebensphilosophie von ‚Ubuntutu‘ umfasst Mitmenschlichkeit, Gemeinsinn, Verantwortungsgefühl und Respekt. Dieses anti-koloniale und anti-rassistische afrikanische Konzept sei eine wichtige Grundlage, um den aktuellen homofeindlichen Positionen etwas ‚inner-afrikanisches‘ entgegenzusetzen. Epprecht weist darauf hin, dass die Geschichte der Homofeindlichkeit in Afrika ganz eng verknüpft sei mit seinem kolonialen und rassistischen Erbe. Es seien vor allem westliche Missionare und aktuell vor allem evangelikale und fundamentalistische Hassprediger und Sekten aus den USA, die sich in ihren Heimatländern nicht durchsetzen können und daher ihr Missionsgebiet auf Afrika verlegten, die ihre menschenfeindliche
46 Lesben, Schwule, Bi-, Transsexuelle, Transidente, Intersexuelle und Queer-Personen. 47 Aus den unveröffentlichten Gesprächsnotizen mit Kim. Sie liegen mir schriftlich vor. 48 Vgl. Epprecht, Sexual and Social Justice.
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Ideologie verbreiteten und sie mit pseudo-christlichen, rechtsnationalen und familienideologischen Versatzstücken spickten.49 Bei aller Kritik am westlichen Kolonialismus formulierten auch die lesbischen Frauen aus dem globalen Süden klar, was sie von europäischen und nordamerikanischen Kirchen erwarten würden. Sie betonten, dass die afrikanischen Partnerkirchen mit ihrer Homofeindlichkeit konfrontiert werden müssten. Homo- und transfeindliche Gewalt sei nicht akzeptabel und müsse verurteilt und beendet werden, insbesondere, wenn sie mit der Bibel in der Hand begründet und legitimiert werde. Ihnen war es aber fast noch wichtiger, dass gegenüber den afrikanischen Kirchenvertretern darauf hingewiesen werde, dass es in Afrika, in Mittel- und Lateinamerika und auch in Asien Lesben und Schwule, Bi-, Trans- und Intersexuelle und Queers gibt und dass sie aktive Mitglieder in ihren Kirchen sind. Sie sind schwarz, weiß, dunkel oder hell und leben ihre Sexualität und Geschlechtsidentität in ganz unterschiedlichen Facetten. Sie sind in ihren Heimatländern geboren, und trotzdem werden sie ausgegrenzt, angegriffen und oft sogar ermordet. Ihnen wird ein westlich dekadentes Leben vorgeworfen, das nicht typisch afrikanisch, lateinamerikanisch oder asiatisch sei. Aber das sei absurd, denn sie seien gleichberechtigte Mitglieder ihres jeweiligen Heimatlandes mit allen Rechten und Pflichten. Sie müssten daher vor Gewalt genauso geschützt werden wie alle anderen afrikanischen Bürger und Bürgerinnen auch. Dafür hielten sie Informations-, Aufklärungsveranstaltungen und eine gute Öffentlichkeitsarbeit für unerlässlich. Solche Arbeit müssten die Kirchen in Europa und Nordamerika unterstützen, inhaltlich, finanziell und personell. Außerdem brauchten LSBTTIQ in afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Ländern westliche Solidarität; nicht nur von Amnesty International, Human Rights Watch und ILGA World50, sondern gerade auch von den Kirchen, die doch die Nächstenliebe predigten. Solidarität bedeute in diesem Zusammenhang vor allem, zuzuhören und den Betroffenen eine Stimme zu geben. Denn nur, wenn die Lebensgeschichten von christlichen LSBTTIQ aus dem globalen Süden ernst genommen würden, könnten sie geschützt und als gleichberechtigte Gemeindeglieder akzeptiert werden. Angesichts dieser Forderungen sind die Herausforderungen für christliche Partnerschaftsarbeit weiterhin groß. Und der Grat zwischen Solidaritätsarbeit einerseits und übergriffiger Vereinnahmung andererseits ist für westeuropäische und nordamerikanische Kirchen schmal. Hier braucht es Aufklärung, sachkundige Informationen und die Lebenszeugnisse von betroffenen LSBTTIQ, die im Mittelpunkt der Gespräche stehen sollten. 49 Vgl. dazu Klaus Jetz, Homosexualität und Homophobie in Afrika. 2014, in: Respekt! Blog des LSVD, URL: http://www.lsvd-blog.de/?p=8378 (Stand 27.3.2019). 50 International Lesbian, Gay, Bisexual, Transsexual and Intersexual Association.
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Außerdem geht es darum, im Hinblick auf diese Themen im Gespräch mit afrikanischen (lateinamerikanischen und asiatischen) Kirchen und christlichen Gemeinschaften die Fragen von Rassismus, Kolonialismus und die Folgen von westlicher Mission nicht aus dem Blick zu verlieren.
8. Ausblick Homo- und transfeindliche Positionen und deren theologische Legitimationen werden in kirchlichen Kreisen immer wieder neu miteinander verknüpft und kontextspezifisch aktualisiert. Sie ergeben eine komplexe und emotional aufgeladene Matrix, die schwer aufzulösen ist. Diese komplexe Gemengelage gilt es, erst einmal anzuerkennen und zu verstehen. Erst danach kann damit begonnen werden, Schicht um Schicht dieser Diskurse abzudecken und zu bearbeiten. Dafür ist Geduld und Zeit notwendig. Vor allem aber die Bereitschaft, einander auch in der Kontroverse zuzuhören, sich gegenseitig Respekt zu zeigen und auf Augenhöhe miteinander zu reden. Genau diesen Grundlagen für eine sachliche und faire Gesprächsführung fehlt es noch an vielen Voraussetzungen. Die eigene Position wird zu häufig absolut gesetzt, durch pseudochristliche Sprachspiele legitimiert und Anderslebende damit herabgesetzt, oftmals ohne jedes Gespür dafür, welche psychische und physische Gewalt den Betroffenen dadurch angetan wird. Daher ist nach wie vor gerade in kirchennahen Kreisen das notwendig, was im Christentum von jeher als hohes Gut angesehen wurde: geschützte Orte zu schaffen, in denen die Menschen ihre Lebensgeschichten erzählen und voreinander und vor Gott ihre Erfahrungen austauschen können. Im Horizont der befreienden Botschaft des Evangeliums besteht die Chance, dass dabei menschliche Grenzen und Dogmen transzendiert werden können und christliche Nächstenliebe konkret erfahrbar wird. Durch den persönlichen Gehalt der Gespräche entsteht die Möglichkeit, über ideologische und biblizistische Phrasen hinaus zum Eigentlichen zu kommen, nämlich zu der Frage, wie Menschen ihre Geschlechtsidentität, ihre Partnerschaftswünsche und Sexualität achtsam und respektvoll miteinander leben können, ohne sich selbst oder den Anderen abhängig zu machen, zu unterwerfen, physisch oder psychisch zu beschädigen. Diese Frage ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Herausforderung. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Einhaltung grundlegender Menschenrechte und um die Achtung der Würde jedes Einzelnen. Der Rat der EKD hat mit seiner Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ dafür schon vor einigen Jahren positive Signale gesetzt. Die Debatte ist in vollem Gang, zahlreiche gesellschaftliche und kirchliche Diskussionsorte gibt es schon. Aber nicht alle sind sicher und fair. Vor allem die anonyme Hetze, die in vielen Onlineportalen und Webseiten unverhohlen gegen LSBTTIQ und ihre UnterstützerInnen und
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FreundInnen ausgeschüttet wird, ist alarmierend und zeigt, wie viel auf diesem Gebiet noch zu tun ist. Ausgrenzung, Beleidigung, physische oder psychische Übergriffe gegenüber LSBTTIQ in christlichen Kirchen und darüber hinaus sind nicht akzeptabel. Sie widersprechen der christlichen Gesamtbotschaft, die von der Menschenwürde und der menschlichen Integrität aller Menschen ausgeht und die – theologisch gesprochen – in der Gottesebenbildlichkeit der Menschen begründet liegt. Insofern geht es in allen christlichen Kirchen weltweit darum, die strittigen theologischen Punkte rund um die Themen Geschlechtsidentität und gleichgeschlechtliche Lebensformen in sachlichen Debatten zu klären. Sie müssen von besonnenen Informations- und Aufklärungsveranstaltungen vorbereitet und mit Hilfe von Streitgesprächen unter aktiver Beteiligung von LSBTTIQ durchgeführt werden. Klare Gesprächsregeln sind dafür nötig, um Beleidigungen, Stigmatisierungen und verbalen Übergriffen keine Plattform zu bieten. Dafür sind entsprechende Schulungen und Weiterbildungen in kirchlichen und außerkirchlichen Bildungseinrichtungen nötig. Eine solche Arbeit kann durch eine prozessorientierte „Theologie der Vielfalt“ begleitet werden.51 Denn die Bibel selbst ist ein vielstimmiges Buch, in dem über Jahrhunderte hinweg Menschen ihre Erfahrungen und Lebensgeschichten mit Gott und anderen Menschen aufgeschrieben haben. Sie sind weder historisch verbrieft noch inhaltlich konsistent aufeinander aufgebaut. Zum Teil widersprechen sich Texte, zum Teil wiederholen sie sich mit veränderten Schwerpunkten und Fokussierungen. Diese Vielfalt der Texte zeigt sich auch in der Verschiedenheit der Auslegungstraditionen und der unterschiedlichen theologischen Positionen. Diese wiederum führen zu verschiedenen Bekenntnissen, unterschiedlichen konfessionellen Ausprägungen und zu diversen Frömmigkeitsstilen. Das ist kein Makel, sondern bildet den faszinierenden Reichtum christlicher Traditionen und Konfessionen ab. Christliche Kirchen und Gemeinden tun gut daran, diese Vielfalt zu stärken und konstruktiv zu gestalten, denn in den letzten Jahrzehnten ist die Gefahr der Milieuverengung größer geworden.52 Sie sollte nicht dadurch verstärkt werden, dass man verschiedene Gruppen von Menschen nur aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihrer Geschlechtsidentität oder ihrer Lebensform ausgrenzt oder sie als minderwertig ansieht. Es gilt, Binnenperspektiven beherzt zu öffnen, statt sich nach innen abzuschirmen. Offene, gastfreundliche und inklusive Kirchengemeinden sind attraktiver, lebendiger und nach meiner Ansicht auch christlicher. Denn die biblischen Geschichten erzählen von Gemeinschaften der Unterschiedlichen, die gemeinsam den Leib Christi bilden, und nicht von 51 Vgl. Kerstin Söderblom, Aspekte einer Theologie der Vielfalt, in: Deutscher Evangelischer Kirchentag Dresden 2011. Dokumente, Gütersloh 2012, S. 318–325. 52 Vgl. Claudia Schulz/Eberhard Hauschild u. a. (Hg.), Milieus praktisch. Analyse und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde, Göttingen 2008.
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Kerstin Söderblom
Ausgrenzung und Hass. Schließlich hat Jesus sein Leben beispielhaft mit am Rande stehenden und ausgegrenzten Menschen geteilt und sie ins Zentrum seines Wirkens gestellt, ja ist selbst ausgegrenzt worden. Mit seinem Leben und seinen Lehren steht Jesus für einen kritischen Perspektivwechsel im Hinblick auf Zentrum und Peripherie. Das sollte ein wichtiger Impuls für Gespräche um die angemessene Gestalt von Kirche und Gemeinden sein.
Margit Eckholt
Ämter für Frauen in der katholischen Kirche? Gender-Diskurse aus der Perspektive der systematischen Theologie
1. Genderperspektiven und Ämterfrage in der katholischen Kirche – eine ökumenische Herausforderung Das von einer internationalen lutherisch/römisch-katholischen Kommission für die Einheit der Christen im Jahr 2013 zur Vorbereitung auf das Gedenken der Reformation (1517–2017) veröffentlichte Dokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“1 macht darauf aufmerksam, dass das Gedenken der Reformation in einer globalisierten Welt und in Zeiten der Ökumene erfolgt und dass es zum ersten Mal zu einer gemeinsamen Sichtweise auf dieses Geschehen kommt. Von dieser gemeinsamen Perspektive geprägt ist auch das von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) und der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im September 2016 herausgegebene Dokument „Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen“.2 Nicht das Trennende soll bei dieser lebendigen Erinnerung in das Zentrum gestellt werden, sondern vielmehr das Gemeinsame: Jesus Christus zu bezeugen, das heißt als Christen und Christinnen gemeinsam für ein Miteinander einzustehen, das von den Werten geschwisterlicher Liebe, von Solidarität und Hoffnung für eine Welt in Gerechtigkeit und Frieden geprägt ist. Die Impulse der Reformation aufzunehmen und wechselseitig voneinander zu lernen, ist auch das zentrale Anliegen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK), die als Stimme der multilateralen Ökumene in Deutschland wirksam ist. In ihrem Wort zu 500 Jahren Reformation unter dem Titel „Versöhnt miteinander“ werden die unterschiedlichen Zugänge zum Reformationsgedenken aus den verschiedenen Tra-
1 Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Bericht der Lutherisch/Römisch-katholischen Kommission für die Einheit, Leipzig/Paderborn 22013; vgl. auch Dorothea Sattler/Volker Leppin (Hg.), Reformation 1517–2017. Ökumenische Perspektiven. Für den Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Freiburg i. Br./Göttingen 2014. 2 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz/Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen. Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017, 16.09.2016, Hannover/Bonn 2016 (= Gemeinsame Texte 24).
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ditionen benannt und ernst genommen.3 Gleichzeitig weisen die kirchlichen Dokumente aber auch darauf hin, „dass bei allen ökumenischen Annäherungen bis heute grundlegende Fragen des Kirchen- und des Amtsverständnisses nicht gemeinsam beantwortet sind“.4 Darum war es auch nicht möglich – was viele betroffen gemacht hat –, „das Abendmahl bzw. die Eucharistie … gemeinsam [zu, M. E.] feiern“.5 Die differierenden Ämtertheologien sind in der ökumenischen Theologie eine kritische Instanz bei der Frage, ob die „sichtbare Einheit“ der Kirche[n] die Zielsetzung der ökumenischen Bewegung ist. Wird aber auf der institutionellen Ebene nicht mehr nach einem Ausgleich der ämtertheologischen Positionen gesucht, wird auch die Suche nach der „sichtbaren Einheit“ der Kirchen aufgegeben. Die Herausforderung wird dabei noch komplexer, wenn die Frage nach Frauen in kirchlichen Ämtern gestellt wird. In der anglikanischen Kirche und in den Kirchen der Reformation ist die Ordination von Frauen möglich, auch wenn der Weg dahin ein schwieriger war und in Ländern wie Lettland und Polen die Frauenordination wieder zurückgenommen wurde. In der katholischen Kirche hat die lehramtliche Position, wie sie Johannes Paul II. (1920–2005) 1994 – unter Rückbezug auf Paul VI. (1897–1978) – in seinem apostolischen Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“ formuliert hat, dass die Kirche nicht die Vollmacht habe, Frauen zu weihen, hohe Verbindlichkeit.6 Allein der Mann könne durch die Weihe in der Nachfolge der von Jesus Christus beauftragten Apostel stehen und Jesus Christus repräsentieren. Die exklusive geschlechtsspezifische Repräsentationsvorstellung brüskiert die Kirchen der Reformation, in denen Frauen in allen Dienstbereichen wirken und im Segen handeln; sie haben die neueren exegetischen und historischen Arbeiten rezipiert, die die verantwortliche Mitarbeit von Frauen in den frühchristlichen Gemeinden und ihre charismatische Gleichberechtigung durch die Gaben des Heiligen Geistes herausgearbeitet haben.7 In den folgenden Überlegungen soll der Blick auf die befreienden Perspektiven des Zweiten Vatikanischen Konzils deutlich machen, dass in den Konzilstexten neue ekklesiologische und amtstheologische Wege gründen und von ihnen eine Brücke in die Gender-Diskurse der Gegenwart zu schlagen ist. Im katholischen Kontext konzen 3 Vgl. URL: http://www.oekumene-ack.de/fileadmin/user_upload/Mitgliederversammlung/Herbst_2016/ Versoehnt_miteinander_Wort_der_ACK_zu_500_Jahre_Reformation.pdf (Stand 27.3.2019) 4 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz/Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.), Erinnerung heilen, S. 63. 5 Ebd. 6 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Apostolisches Schreiben von Papst Johannes Paul II. über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe, 22. Mai 1994, Bonn 1994, S. 9–29 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 117). 7 Vgl. z. B. Michael Theobald, Die Zukunft des kirchlichen Amtes. Neutestamentliche Perspektiven angesichts gegenwärtiger Blockaden, in: Stimmen der Zeit 216 (1998), Heft 3, S. 195–208.
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trieren sich diese Gender-Diskurse einerseits auf Auseinandersetzungen mit Fragen von Sexualität, Ehe und Familie, andererseits auf die Amtsfrage. Sie bedeuten eine notwendige „reformatio“ der katholischen Kirche, der sich aber der größte Teil der Kurie und der Bischöfe sowie weite theologische Kreise verweigern angesichts des „Widerlagers“ der lehramtlichen Positionen in der katholischen Kirche, wie sie seit den päpstlichen Dokumenten „Inter insigniores“ (1976, Paul VI.) und „Ordinatio sacerdotalis“ (1994, Johannes Paul II.) vorliegen: Eine Weihe von Frauen ist diesen Dokumenten zufolge nicht erlaubt, oder wie es im katholischen Kirchenrecht can. 1024 des Codex Iuris Canonici von 1983 heißt: „Die Heilige Weihe empfängt gültig nur der getaufte Mann.“8 Auch Papst Franziskus hat sich in seiner kurzen Stellungnahme im Interview am 1. November 2016 auf dem Rückflug von der ökumenischen Begegnung in Lund dieser Position angeschlossen – bei aller Anerkennung der Charismen von Frauen und ihrer Verdienste auf den verschiedenen Feldern pastoraler Arbeit.9 Gleichzeitig hat er im August 2016 eine Kommission einberufen, die sich mit dem Frauendiakonat in der Geschichte der Kirche auseinandersetzt und so – seinen geistlichen und missionarischen Impulsen entsprechend, wie er sie im apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ (2013) und anderen Texten vorgelegt hat – Bewegung in die Amtsfrage gebracht. Über 50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil bricht heute eine Frage wieder neu auf, die bereits zu Konzilszeiten von Frauen formuliert worden ist, auf die zu antworten die Zeit damals, um an die Position der Osnabrücker Theologin und Dogmengeschichtlerin Elisabeth Gössmann anzuknüpfen, noch nicht „reif“ war. In ihren Erinnerungen notierte Elisabeth Gössmann: „Erst wenn Frauen in kirchlichen Berufen mehr Gelegenheit gehabt haben würden, sich als Seelsorgerinnen zu bewähren und auf diese Weise sich die Gemeinden von weiblichen Fähigkeiten überzeugt und an Frauen im Altarraum gewöhnt haben würden, so glaubte ich damals, wäre eine konkrete Gelegenheit für das weibliche Priestertum gegeben …“.10 In diesem Sinne ist die gegenwärtige Zeit mehr als „reif“ für eine Auseinandersetzung mit der Amtsfrage, das zeigen die Initiativen des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB), der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd), des Netzwerkes Diakonat der Frau und des Zentral 8 Vgl. dazu die Diskussionen in: Walter Groß (Hg.), Frauenordination. Stand der Diskussion in der katholischen Kirche, München 1996; Sabine Demel, Frauen und kirchliches Amt. Vom Ende eines Tabus in der katholischen Kirche, Freiburg i. Br./Basel u. a. 2004. 9 Vgl. URL: http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/papst-erteilt-frauenpriestertum-erneut-absage (Stand 27.3.2019): „Papst Franziskus hat einer Priesterweihe für Frauen in der katholischen Kirche erneut eine Absage erteilt. Zum Thema Frauenordination sei das letzte Wort von seinem Vorgänger Johannes Paul II. klar gesprochen worden, sagte Franziskus am Dienstag auf dem Rückflug von seiner zweitägigen Schweden-Reise: ‚Und dabei bleibt es‘.“ 10 Elisabeth Gössmann, Geburtsfehler: weiblich. Lebenserinnerungen einer katholischen Theologin, München 2003, S. 276.
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komitees der deutschen Katholiken (ZdK) im Blick auf den Frauendiakonat. Das zeigen aber auch der Dialogprozess in der katholischen Kirche in Deutschland der letzten Jahre und die lebendige Erinnerung an den geistbewegten Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils, für den Papst Franziskus einsteht. So sind heute Gespräche zwischen bischöflichem Lehramt und theologischer Wissenschaft zur Frage nach Diensten und Ämtern von Frauen und zur Auseinandersetzung mit dem Gender-Begriff möglich, zu dem der ökumenische Kongress „Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene“ beigetragen hat, der vom 6. bis 9. Dezember 2017 an der Universität Osnabrück stattgefunden hat. Der gemeinsame Blick auf die Frage nach Ämtern für Frauen kann katholischer wissenschaftlicher Reflexion Mut machen, dass Veränderungen möglich und notwendig sind. Die folgenden Überlegungen stehen im Zusammenhang der Durchführung dieses Kongresses.11 In einem ersten Schritt wird der theologisch-ekklesiologische Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils kurz beleuchtet, weil er die Chance in sich birgt, die Beziehung von Frauen und Kirche auf neue, befreite und befreiende Wege zu führen, gerade auch in dogmatisch-theologischer Hinsicht im Blick auf die Amtsfrage und die Auseinandersetzung mit der Verbindlichkeit von kirchlichen Dokumenten wie mit dem päpstlichen Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“. Das Konzil ist ein „Ereignis des Geistes“ gewesen, und das „geistliche“ Potenzial der Konzilstexte, die einen Verfassungscharakter haben12, ist noch lange nicht ausgeschöpft. Der Blick auf die Konzilstexte wird durch eine gender-theoretische Perspektive ergänzt; eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Gender-Begriff ist notwendig, will katholische Theologie sich nicht ins Abseits seriöser wissenschaftlicher Arbeit stellen.13 Lässt sie sich auf diese Auseinandersetzung ein, stellt sich die Amtsfrage auf neue Weise – im Horizont der Revision der anthropologisch-theologischen Grundlagen christlichen Glaubens, die an die in der Gottebenbildlichkeit liegende gleiche Würde von Mann und Frau erinnert, den Finger in die durch vielfältige Exklusionsprozesse geschlagenen Wunden legt und im Dienst der Anerkennung der Charismen und der theologischen Kompetenzen von
11 Der Kongress wurde veranstaltet von Margit Eckholt, Dorothea Sattler (katholisch-theologische Fakultät der Universität Münster), Ulrike Link-Wieczorek und Andrea Strübind (Universität Oldenburg). Die Publikation der Beiträge des Kongresses ist im Herbst 2018 erschienen, vgl. Margit Eckholt/Dorothea Sattler u. a. (Hg.), Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene, Freiburg i. Br./ Göttingen 2018. 12 Vgl. dazu: Peter Hünermann, Der Text. Werden – Gestalt – Bedeutung. Eine hermeneutische Reflexion, in: Ders./Bernd Jochen Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Bd. 5, Freiburg i. Br./Basel u. a. 2006, S. 5–101, hier: S. 14. 13 Vgl. zu den Debatten um den Gender-Begriff: Margit Eckholt (Hg.), Gender studieren. Lernprozess für Theologie und Kirche, Ostfildern 2017.
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Frauen in Geschichte und Gegenwart steht.14 Die Überlegungen schließen mit einer ökumenischen Perspektive und der über die Amtsfrage hinausgehenden Frage, welcher Beitrag der katholischen systematischen Theologie in den aktuellen gesellschaftlichen Geschlechter-Debatten zukommt.
2. Das frauenbefreiende Potenzial der Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils und eine neue Bewegung in der Ämterfrage 2.1 Befreiende Perspektiven der Konzilstexte – ekklesiologische Aufbrüche
Die „Frauenfrage“ war auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil präsent: Der Melchitische Erzbischof Georges Hakim von Galiläa hat am 24. Oktober 1964 sehr deutlich angemahnt, dass „there is no mention at all of women in the Schema on the Church. Do we not often make declarations as if women did not exist at all in the world? … I propose that the Council should declare what a distinguished place is hers among the people of God, in the lay apostolate and in all Church activities.“15 „Die Kirche muß ihren Komplex männlicher Überlegenheit ablegen, welche die geistige Potenz der Frauen mißachtet. Wir müssen lernen, die Frau in ihrer wahren Würde zu schätzen und ihren Anteil am Plane Gottes anzuerkennen“, so Kardinal Suenens in einem Interview am 24. Oktober 1964.16 Die von Paul VI. für die dritte und vierte Generalversammlung des Konzils berufenen Auditorinnen – Frauen aus den verschiedenen Weltkontexten und unterschiedlichen katholischen Verbänden und Ordensgemeinschaften17 – haben ihre Stimme vor allem bei den Beratungen zum Dekret über das Laienapostolat und die Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ (GS) einbringen können.
14 Vgl. den Beitrag von Hildegard König, Gender, Kirche, Gesellschaft. Strategien der Marginalisierung und Exklusion von Frauen in der Darstellung und Deutung kirchlicher Zeitgeschichte, in: Eckholt (Hg.), Gender studieren, S. 73–103. 15 Eva Jung-Inglessis, Women at the Council. Spectators or Collaborators, in: The Catholic World 200 (1965), S. 277–284, hier: S. 280. 16 Interview für den NCWC News Service, Washington, zitiert in: Gertrud Heinzelmann, Die getrennten Schwestern. Frauen nach dem Konzil, Zürich 1967, S. 85. 17 Vgl. Rosemary Goldie, From a Roman Window. Five Decades: the World, the Church and the Catholic Laity, Blackburn/Australia 1998; Adriana Valerio, Madri del Concilio. Ventitré Donne al Vaticano II, Rom 2012.
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Abb. 19: Dr. Gertrud Ehrle und Schwester Juliana Thomas vor dem Petersdom in Rom anlässlich des II. Vatikanischen Konzils 1965
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Abb. 20: Die Tribüne der Auditorinnen im Petersdom beim II. Vatikanischen Konzil in Rom 1965
Abb. 21: Dr. Gertrud Ehrle (zweite von rechts) im Gespräch, II. Vatikanisches Konzil 1965
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„Die Frauen beanspruchen für sich, wo sie diese noch nicht erlangt haben, die rechtliche und faktische Gleichstellung mit den Männern“ (GS 9,4), so wird zu Beginn der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ in direktem Anschluss an die Sozialverkündigung des Papstes in „Pacem in Terris“ (1963) formuliert. Jede „Art von sowohl gesellschaftlicher als auch kultureller Diskriminierung in den grundlegenden Rechten der Person, sei es wegen des Geschlechts, der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion“ (GS 29,2), wird zurückgewiesen. Dass die gesellschaftlichen Veränderungen dabei auch Auswirkungen auf die Rolle der Frau in der Kirche haben, wird von den Konzilsvätern im Dekret über das Apostolat der Laien „Apostolicam Actuositatem“ (AA) zum Ausdruck gebracht: „Da aber in unseren Tagen die Frauen mehr und mehr eine aktive Rolle im ganzen Leben der Gesellschaft spielen, ist ihre umfassendere Teilnahme auch auf den vielfältigen Feldern des Apostolats der Kirche von großer Bedeutung“ (AA 9). Über die einzelnen Texte hinaus sind die ekklesiologischen Grundlagen des Konzils, die Zusammenschau der Volk-Gottes-Ekklesiologie in der Kirchenkonstitution „Lumen Gentium“ (LG) mit der Welt-Kirche- und Menschenrechtsperspektive in der Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ als die Verfassungsgrundlage für die Frauenfrage aus kirchlicher Perspektive zu sehen. Das Zitat von Gal 3,28: „nicht mehr Jude und Grieche, nicht mehr Sklave und Freier, nicht mehr Mann und Frau“ stellt, so Peter Hünermann, „eine Grundaussage der Kirche im II. Vatikanum dar“.18 Die „Gleichheit und Würde aller Glieder der Kirche stellt zugleich die grundlegende Norm im Verhalten der einzelnen Christen zueinander dar“.19 Frauen sind gleichberechtigte Mitglieder des Volkes Gottes, von dort her kommt ihnen die „volle Würde eines Christenmenschen“ zu, sie gehören zum „königlichen Priestertum“ (LG 10,2) und zum „auserwählten Volk“. Auch ihr „Glaubenssinn“ (LG 12,1) prägt das prophetische Amt Jesu Christi aus (vgl. LG 33–35). Und auch im Kapitel zur „allgemeinen Berufung zur Heiligkeit in der Kirche“ (LG 39–42) sind wichtige Grundlagen für die fundamentale Gleichheit aller Christgläubigen im Blick auf ihre Berufung durch Gott und die spirituelle Kompetenz jedes und jeder Einzelnen gelegt. Für die amtstheologischen Debatten entscheidend ist die Erarbeitung einer neuen ekklesiologischen Grundgestalt: Die Konzilsväter legen eine „sakramentale“ Ekklesiologie vor, die zu einer Erneuerung des Sakramentenverständnisses und damit auch dessen führt, was „Weihe“, was „Amt“ und „Dienst“ bedeuten: Das Konzil erinnert die Kirche zuallererst daran, in welchem Dienst sie steht und dass diese Aufgabe der Evangelisierung der erste und entscheidende Schritt aller Wege in die Zukunft und der Erneuerung ist. Hier sind alle gefragt: Alle, die über das Sakrament der Taufe Glied der Kirche werden, 18 Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen Gentium, in: Ders./Bernd Jochen Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar, Bd. 2, Freiburg i. Br./ Basel u. a. 2004, S. 263–582, hier: S. 467. 19 Ebd., S. 330.
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gehören zum Volk Gottes und haben Anteil an den „Ämtern“ Jesu Christi, dem königlichen, priesterlichen und prophetischen. Alle Getauften stehen in der Verantwortung, das Ihre beizutragen, sodass die Gemeinschaft des Volkes Gottes genau diesem Anspruch, das Evangelium zu verkündigen und die Gemeinschaft mit Gott und untereinander wachsen zu lassen, gerecht werden kann. Alle Ämter der Kirche sind in ihrem Dienst darauf bezogen, dass im Volk Gottes die „civitas Dei“ in der Geschichte wächst und Christen und Christinnen wirklich „Salz der Erde“ sind – in der Bezeugung des Evangeliums, der heilenden und befreienden Ansage der Nähe Gottes. Die Konzilstexte beinhalten die theologisch-ekklesiologischen Grundlagen für den geistlichen Prozess der kirchlichen Strukturreformen und der Umkehr der Kirche zum Evangelium, und von diesem ausgehend sind auch die Fragen der Verbindlichkeit des Dogmas und kirchlicher Entscheidungsprozesse im Blick auf die Frage von Ämtern und Frauen zu klären. Mit dem Weg des „ressourcement“ des Konzils wird an die in der Tiefe des Evangeliums und der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu gründende, je erneute Umkehr zum Evangelium bedeutende Glaubensdynamik erinnert, die das Volk Gottes auf seinem Weg durch die Zeit werden lässt, ein Weg, der eingebettet ist in das, was Mensch und Welt bewegt. Das Konzil spricht hier von den „Zeichen der Zeit“, und das bedeutet, Kirche zu werden im Dienst des Lebens, an der Seite der Armen, Hungernden, Trauernden, Gefangenen, Ausgeschlossenen, und im Blick auf diesen Dienst den Umkehrprozess zum Evangelium auch auf die eigenen Strukturen zu beziehen (vgl. LG 8). Die Verbindlichkeit der Aussagen zur Frauenordination ist an dieser Dynamik zu messen, die Frauenfrage ist von Johannes XXIII. (1861–1963) als „Zeichen der Zeit“ benannt worden.20 2.2 Ein Amt für Frauen? Eine „lebendige Leerstelle” des Konzils
Auch wenn die Konzilstexte die theologischen und geistlichen Grundlagen für Reformprozesse bedeuten und die „Frauenfrage“ auf dem Konzil präsent war, so blieb die Frage nach Frauen und Amt eine „lebendige Leerstelle“. In mehreren Konzilseingaben von Frauen im Zuge der Vorbereitung auf das Konzil war die Frage nach einem Amt für Frauen präsent: Während die Schweizer Juristin Gertrud Heinzelmann und die Kirchenrechtlerinnen Ida Raming und Iris Müller in ihrer Konzilseingabe eine philosophische und kirchenrechtliche Argumentationslinie im Blick auf die Weihe von Frauen einschlugen, bezog sich die Ravensburger Religionslehrerin Josefa Theresia Münch auf den „pastoralen Notstand“, den Priestermangel, und wandte sich aus der tiefen inneren Überzeugung 20 Margit Eckholt, „Ohne die Frauen ist keine Kirche zu machen!“ Ein Zeichen der Zeit endlich wahrnehmen, in: Peter Hünermann (Hg.), Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit heute, Freiburg i. Br. 2006, S. 103–115; Dies., Ohne die Frauen ist keine Kirche zu machen. Der Aufbruch des Konzils und die Zeichen der Zeit, Ostfildern 2012, S. 62–80.
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einer eigenen Berufung zur Priesterin an das Konzil.21 Diese Eingaben von Frauen an das Konzil haben in der offiziellen Konzilsgeschichte bislang keinen Ort gefunden. Die deutschen katholischen Frauenverbände haben das Thema des Amtes „ausgespart“, auch wenn in den von den Verbänden gesammelten „Wünschen“ von Frauen an das Konzil der Frauendiakonat benannt worden ist.22 Im Blick auf die Diskussion um Fragen des Amtes für Frauen formulierte Marianne Dirks, die damalige Vorsitzende der Katholischen Frauengemeinschaft, die Position ihres Verbandes: „Wir meinen, dass wir uns auf Vorschläge beschränken wollten, die zur Erneuerung des christlichen Lebens unserer Familien beitragen können … Es scheinen uns dafür vor allem Fragen der Feier des Gottesdienstes und der Gestaltung des christlichen Lebens in Frage zu kommen; es ist sicher richtiger, die Fragen der kirchlichen Lehre den Theologen zu überlassen.“23 Das hat sich fünfzig Jahre nach dem Konzil geändert. Angesichts der Debatten um die Einführung eines ständigen Diakonats für Männer war der Diakonat für Frauen ein Thema unter aufgeschlossenen Konzilsvätern,24 die eine ähnliche Position vertraten wie Erzbischof Paul J. Hallinan von Atlanta (USA), der in seiner schriftlichen Konzilsintervention von Anfang Oktober 1965 schrieb: „Die Frauen, welche ein entsprechendes Studium absolviert und eine entsprechende Ausbildung genossen haben, sollten in den Stand des Diakonats aufgenommen werden, damit sie das Wort Gottes verkünden und die Sakramente, welche diesem Amte entsprechen, vor allem die feierliche Taufe und die hl. Eucharistie verwalten … Den Frauen – den Ordensfrauen wie den Laien – sollte jede Gelegenheit geboten werden, ihre Fähigkeiten in den Dienst der Kirche zu stellen.“25
21 Vgl. Ida Raming, Priesteramt der Frau. Geschenk Gottes für eine erneuerte Kirche, erw. Neuaufl. von „Der Ausschluß der Frau vom priesterlichen Amt“ (1973) mit ausführlicher Bibliographie (1974–2001), Münster 2002; vgl. auch den Text der Religionspädagogin Fanny Werfer (1906–1985), Die Stellung der Frau zum Amt in der Kirche, in: Die christliche Frau 53 (1964), S. 161–168: Sie geht unter anderem auch auf die Theologin Josefa Theresia Münch ein, die eine Konzilseingabe gemacht hat mit der Forderung, dass es im Kirchenrecht nicht mehr heißen dürfe: „Nur der getaufte Mann kann die Priesterweihe gültig empfangen“, sondern „nur die getaufte Person“. 22 Vgl. Dorothea Reininger, Diakonat der Frau in der einen Kirche. Diskussionen, Entscheidungen und pastoral-praktische Erfahrungen in der christlichen Ökumene und ihr Beitrag zur römisch-katholischen Diskussion, Ostfildern 1999, S. 46; vgl. Heinzelmann, Die getrennten Schwestern. 23 Zitiert in: Marianne Dirks/Anneliese Lissner, Wünsche katholischer Frauen, Mütter und Ehepaare an das Ökumenische Konzil, in: Viktor Schurr/Marianne Dirks u. a. (Hg.), Konkrete Wünsche an das Konzil, Kevelaer 1961, S. 59–93, hier: S. 92. 24 Reininger, Diakonat der Frau in der einen Kirche, S. 46; das hat auch der Initiator des Ständigen Diakonats, Hannes Kramer, formuliert: vgl. Dorothea Reininger, Diakonat der Frau. Gegenwärtige Realitäten und zukunftsweisende Visionen, in: Diakonia 33 (2002), S. 227–286, hier: S. 284. 25 Vgl. Heinzelmann, Die getrennten Schwestern, S. 79.
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Mit dem Konzil ist durch die Einrichtung des ständigen Diakonats als eigenständiges sakramentales Amt mit einer Weihe „zum Dienst“26, das heißt der Weihe auch von verheirateten Männern, die sich nicht auf das Priesteramt vorbereiten, sondern in ihrem Dienst in Wort und Tat den „diakonischen Christus“ repräsentieren, Bewegung in die Ämterfrage gekommen. Es ist ein neues Amt eingerichtet worden, das die diakonische Grunddimension der Kirche bestärkt und in den sakramentalen Ordo hineinholt. In den katholischen Frauenverbänden in Deutschland wurde der Frauendiakonat zu Konzilszeiten diskutiert, auch wenn keine solche Eingabe an das Konzil gesandt wurde. Die Debatte um den Frauendiakonat begleitet die Rezeption des Konzils in der deutschen Ortskirche. Im Beschluss über die pastoralen Dienste in der Gemeinde nimmt die Würzburger Synode (1972–1975) zum Diakonat in folgender Weise Stellung: „Viele Frauen üben in vielen Kirchenprovinzen, nicht nur in Missionsgebieten, eine Fülle von Tätigkeiten aus, die an sich dem Diakonenamt zukommen. Der Ausschluß dieser Frauen von der Weihe bedeutet eine theologische und pastoral nicht zu rechtfertigende Trennung von Funktion und sakramental vermittelter Heilsvollmacht.“27 Hier wird eine Argumentation vorgelegt, die heute noch genauso zutrifft; auch die weitere Entfaltung der Argumentation ist angesichts der Entwicklung der „Frauenfrage“ in Kirche und Gesellschaft und eines gewachsenen Gender-Bewusstseins heute nicht klarer auf den Punkt zu bringen. „Ein weiterer Grund liegt darin“, so die Synode, „daß die Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft es heute unverantwortlich erscheinen läßt, sie von theologisch möglichen und pastoral wünschenswerten amtlichen Funktionen in der Kirche auszuschließen. Schließlich läßt die Hineinnahme der Frau in den sakramentalen Diakonat in vielfacher Hinsicht eine Bereicherung erwarten, und zwar für das Amt insgesamt und für die in Gang befindliche Entfaltung des Diakonats im besonderen.“ Darum kommt die Synode zum Schluss, dass der „Diakonat … eine eigenständige Ausprägung des Weihesakraments [ist, M. E.], die sich theologisch und funktional vom priesterlichen Dienst abhebt. Der geschichtliche Befund bezüglich des Diakonats der Frau und bezüglich des Priestertums der Frau liegt jeweils anders. Daher ist die Frage der Zulassung der Frau zum sakramentalen Diakonat verschieden von der Frage des Priestertums der Frau.“ Und so formulierte die Synode dann: „Die Zulassungsbedingungen zum Diakonat sollen daher für Männer und Frauen soweit als möglich angeglichen werden. Das betrifft insbesondere die Bewährung in der Gemeinde, in Beruf und ggf. in der Familie sowie
26 Vgl. dazu Lumen Gentium (LG) 29. 27 Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Die pastoralen Dienste in der Gemeinde (Beschluß), in: Ludwig Bertsch/Philipp Boonen u. a. (Hg.), Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung, Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg i. Br./Basel u. a. 51976, S. 597–636, hier: S. 617 (Kapitel 4.2.2.).
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das Mindestalter.“28 Auf das nach Rom gesandte Votum hat die deutsche Ortskirche bis heute keine Antwort erhalten: Die „Synode bittet den Papst, die Frage des Diakonats der Frau entsprechend den heutigen theologischen Erkenntnissen zu prüfen und angesichts der gegenwärtigen pastoralen Situation womöglich Frauen zur Diakonatsweihe zuzulassen.“29 Die Synode hatte ihr Votum vor dem Hintergrund von Gutachten zum Diakonat der Frau formuliert, die von den Dogmatikern Yves Congar, Herbert Vorgrimler und Peter Hünermann erstellt wurden; alle drei hatten sich auf neue biblische, historische und liturgiewissenschaftliche Studien zum Diakonat der Frau bezogen.30 Mit dem ZweitenVatikanischen Konzil ist so eine Tür geöffnet worden, auch die Frage nach neuen Diensten und Ämtern für Frauen zu stellen. In den Generalversammlungen des Konzils und den Konzilsdokumenten ist die Frage nach Diensten und Ämtern für Frauen über vereinzelte Anmerkungen hinaus kein Thema gewesen; das „Ereignis des Konzils“ hat aber etwas in Bewegung gebracht, was sich niedergeschlagen hat in der spannungsreichen Geschichte der feministischen Theologie, im Weg der katholischen Frauenverbände in Deutschland, der Entwicklung der Frauenseelsorge, in den Biographien von Frauen, die aus dem Geist des Evangeliums neue Wege wagten und angesichts der geltenden kirchlichen Normen auf Widerstand stießen, mit der Konsequenz vielfältigster „Verwundungen“. Diese „Verwundungen“ haben bis heute zu tun mit einer fehlenden grundständigen theologischen und kirchlichen Auseinandersetzung mit dem Gender-Konzept.
3. Das Ringen um die Kategorie Gender und ihre Bedeutung für eine Revision der theologischen Anthropologie in amtstheologischer Perspektive Der Gender-Begriff, der vor allem seit der vierten Weltfrauenkonferenz in Beijing (1995) in Politik und Wissenschaft breit rezipiert wird, ist von Anfang an mit Fragen der Geschlechtergerechtigkeit verknüpft. Gender-Studien sind aus feministisch-kritischen und befreiungstheologischen Ansätzen erwachsen. Gerade weil sie Männer und Frauen in 28 Ebd. 29 Beschluss: Die pastoralen Dienste in der Gemeinde, 7.1 Voten, S. 634. 30 Vgl. z. B. Peter Hünermann, Gutachten zum Diakonat der Frau, in: Synode (1973), Heft 7, S. 42–47. – Vgl. dazu: Ders./Albert Biesinger u. a. (Hg.), Diakonat. Ein Amt für Frauen in der Kirche – Ein frauengerechtes Amt? Stuttgart 1997; Phyllis Zagano, Holy Saturday. An Argument for the Restoration of the Female Diaconate in the Catholic Church, New York 2000; Margit Eckholt, Den Frauendiakonat weiter in die Diskussion bringen! Anmerkungen anlässlich der Relektüre von zwei Aufsätzen des italienischen Camadulenser Paters Cipriano Vagaggini, in: ET Studies 6 (2015), Heft 2, S. 335–344; Dies., Frauendiakonat – neue Bewegung?, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 165 (2017), Heft 3, S. 266–275.
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gleicher Weise in den Blick nimmt und so ein umfassendes analytisches Instrumentarium ist, setzt die Kategorie Geschlecht tiefer an als kritische feministische Ansätze; sie weist hin auf unsichtbare Machtbeziehungen und Identitätskonstruktionen, die die gesellschaftliche Realität bestimmen. Und sie ist gerade darum eine „gefährliche Kategorie“31, so die Tübinger Moraltheologin Regina Ammicht Quinn, weil sie Ideologie-Bildungen im Blick auf Geschlechterzuschreibungen aufdeckt und damit Bewegung in die über Jahrhunderte festgefügte Geschlechterdifferenz bringt. In der theologischen Anthropologie von der Würde des Menschen zu sprechen, von seiner Einzigartigkeit und besonderen Stellung in der Schöpfung ist nicht möglich, das macht die Kategorie Geschlecht deutlich, ohne auf die Geschlechterdifferenz einzugehen. Das bedeutet dann aber auch, in den Blick zu nehmen, wie in langen Jahrhunderten der Geschichte christlichen Glaubens ein spezifischer, die Subordination der Frau festigender philosophisch-anthropologischer Traditionsstrang in einer solchen Weise in Tiefenschichten christlichen Bewusstseins eingedrungen ist, dass er das Bewusstsein in der Kirche geprägt hat und bis heute prägt – und mehr als dies: dass er über die Rezeption dieser philosophischen Grundlagen in der Interpretation offenbarungstheologischer Aussagen in diesem Sinne auch dogmatische Festlegungen prägt, was sich vor allem in der Debatte um das Amt von Frauen in der Kirche niederschlägt.32 In der Schöpfung – so diese theologische und lehramtliche Traditionslinie – ist eine Geschlechterpolarität grundgelegt, die spezifische Eigenschaften des Männlichen und Weiblichen an ein feststehendes „Wesen“ Mann bzw. Frau so bindet, dass darin die Unterordnung der Frau fixiert wurde. Biblische Texte wie Eph 5,22–24 („der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist“), 1 Kor 11,7 („die Frau aber ist der Abglanz des Mannes“) oder Kol 3,18 („Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter“) wurden dabei zur Untermauerung dieser theologisch-dogmatischen Fixierungen herangezogen. Die Rezeption der Kategorie Geschlecht in der Theologie wird es ermöglichen, diese Modelle und damit essentialistische anthropologische Aussagen im Blick auf das Mann- und Frau-Sein im Sinne einer in der Schöpfungsordnung fixierten Geschlechterdifferenz aufzubrechen. Die Vorarbeiten für diese gendersensiblen Theologien wurden bereits zu Konzilszeiten auf den Weg gebracht. Eine Theologin wie die in Osnabrück geborene Elisabeth
31 Vgl. Regina Ammicht Quinn, Gefährliches Denken. Gender und Theologie, in: Concilium 48 (2012), Heft 4, S. 362–373, hier: S. 367. 32 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Apostolisches Schreiben von Papst Johannes Paul II. über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe; ebenso: Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Frage der Zulassung der Frauen zum Priesteramt. 15. Oktober 1976, Bonn o. J. (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 117).
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össmann33, die den Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils durch verschiedene G Publikationen begleitet und sich mit „Bild und Rolle der Frau“ in diesen Jahren auseinandergesetzt hat34, war eine Vorläuferin einer gender-sensiblen Theologie: Sie hat die einlinigen, Frauen herabmindernden und ausschließenden Interpretationen der Gottebenbildlichkeit in der theologischen Traditionsbildung kritisiert und auf die Männern und Frauen gemeinsame Gottbildlichkeit hingewiesen. „Zu einem revidierten christlichen Bild von der Frau gehört eine philosophische Grundeinsicht, die schwerwiegende Konsequenzen nach sich zieht. Es ist die Unableitbarkeit des Frauseins vom Mannsein, oder mit anderen Worten: die gleiche Unmittelbarkeit des Menschseins im Mann wie in der Frau. Denn da der Mensch konkret immer nur als Mann oder Frau existiert, ist es offenkundig, daß beide mit ihrem Menschsein in sich stehen und nur deshalb einander beistehen und ergänzen können. Diese an sich so selbstverständliche Einsicht muß nachdrücklich betont werden, weil sie jahrhundertelang verschüttet war. Die Frau verstand sich weitgehend vom Mann her, und der Mann bezog ihren ganzen Daseinssinn auf sich hin.“35 In den Dokumenten „Lumen Gentium“ und „Gaudium et Spes“ ist demgegenüber von dem gemeinsamen Schöpfungsauftrag von Mann und Frau und der gemeinsamen „Gottbildlichkeit“ die Rede; das Konzil leite, so Elisabeth Gössmann in ihren in den 1960er-Jahren entstandenen Beiträgen, damit eine „Entpatriarchalisierung“ ein.36 Ihre späteren Forschungen sollten das Frauenbild des Neothomismus revidieren und auf die frauenfeindlichen und Frauen ausschließenden Fehlentwicklungen in der Interpretation der ersten drei Genesis- Kapitel in der christlichen Tradition hinweisen. Eine Geschlechterhierarchie ist nicht in den Ursprungserzählungen angelegt, und Positionen theologischer Anthropologie, wie sie von Thomas von Aquin (1225–1274) vorgelegt und in der Geschichte von Theologie und Kirche bis in die jüngste Vergangenheit aufgegriffen wurden bzw. – was lehramtliche Positionen angeht – bis in die Gegenwart aufgegriffen werden, hat Elisabeth Gössmann in ihrer Kulturbedingtheit und damit verbundenen Frauenfeindlichkeit entlarvt. 33 Vgl. Margit Eckholt, Theologische Frauenforschung in „bewegter stabilitas“. Der Beitrag der Osnabrücker Theologin Elisabeth Gössmann zur Erneuerung der katholischen Theologie im 20. Jahrhundert, in: Dies./ Farina Dierker (Hg.), Theologische Frauenforschung in „bewegter stabilitas“. Für Elisabeth Gössmann anlässlich ihrer Ehrenpromotion an der Universität Osnabrück, München 2017, S. 65–91. 34 Elisabeth Gössmann, Das Bild der Frau heute, Düsseldorf 1962 (21967); Dies., Mann und Frau in Familie und Öffentlichkeit, München 1964. 35 Gössmann, Das Bild der Frau heute, S. 22. 36 Elisabeth Gössmann, I. Teil, in: Dies./Else Pelke, Die Frauenfrage in der Kirche, Donauwörth 1968, S. 9–38, hier: S. 18: „Das katholische Verständnis von Hierarchie und Klerikerstand bedeutet keineswegs eine Festlegung auf überlebte patriarchalische Verhältnisse, weshalb man mit gutem Recht im Sinne des Konzils eine ‚Entpatriarchalisierung‘ in den innerkirchlichen Lebensformen und Umgangsformen fordern darf.“ Vgl. auch: Dies., Die Frauenfrage in der Kirche, S. 19: „… Die Konzilstexte sind durchweg in ihrem Wortgebrauch sehr exakt, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen und keinem neuen Patriarchalismus Vorschub zu leisten. Dies kann man gar nicht genug betonen.“
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Die Studien zur theologischen Frauenforschung und gerade die Auseinandersetzung mit der Rezeptionsgeschichte der Päpstin Johanna und die Analyse der darin tradierten und sich immer wieder neu zuspitzenden frauenfeindlichen Traditionen lässt Elisabeth Gössmann zu einer anderen Position in der Debatte um ein Amt für Frauen finden. „Es ist also die Beschränkung des weiblichen Geschlechts auf die patriarchalisch zugestandenen Funktionen, was uns anläßlich der Päpstin in den Diskussionen um die Unfähigkeit der Frau zum Empfang des Weihesakramentes begegnet, und nicht etwa eine besonders negative Seite des christlichen Frauenbildes, die anderswo ausgeglichen würde. Was in der Päpstin getötet wird, ist der weibliche Versuch, auch nur im niedersten kirchlichen Amt akzeptiert zu werden. Daher finden sich im Kontext der Päpstin die Verbote an Äbtissinnen, sich priesterliche Dienste gegenüber ihren Nonnen herauszunehmen oder diese auch nur zu segnen, was sich ja im kirchenrechtsgeschichtlich greifbaren Rückgang der Funktionen weiblicher Ordensoberer bestätigt.“37 Elisabeth Gössmann hat präzise Interpretationen der anthropologischen Grundlagen bei Thomas von Aquin vorgelegt und aufgezeigt, dass es gerade bei ihm zu einer „maximalen Reduzierung der weiblichen Gottebenbildlichkeit“38 gekommen ist, dass er in der Folge der Aristoteles-Rezeption eine „naturhafte und unaufhebbare Überordnung des Mannes“ vertritt, dass die Frau bei Thomas von Aquin und ihm zufolge in einer jahrhundertelangen Tradition als nichts anderes als ein „verminderter Mann“39 verstanden wurde.40 Dabei hilft ihr an den unterschiedlichen Schulen scholastischen Denkens geschulter Blick, die Pluralität und das Spannungspotenzial dieser Traditionen und wie bei kaum einer anderen Frage christlichen Glaubens die „Gewordenheit“ und „Interpretationsbedürftigkeit“ des Dogmas aufzuzeigen. Im Entdeckungsprozess der Texte von schreibenden Frauen wie Hildegard von Bingen (1098–1179)41 oder Christine de Pizan 37 Elisabeth Gössmann, Mulier Papa. Der Skandal eines weiblichen Papstes. Zur Rezeptionsgeschichte der Gestalt der Päpstin Johanna, München 1994, S. 334. 38 Elisabeth Gössmann, „Naturaliter femina est subiecta viro“. Die Frau – ein verminderter Mann? Thomas von Aquin, in: Renate Jost/Ursula Kubera (Hg.), Wie Theologen Frauen sehen – von der Macht der Bilder, Freiburg i. Br./Basel u. a. 1993, S. 37–56, hier: S. 52. 39 Gössmann, „Naturaliter femina est subiecta viro“, S. 53; vgl. auch Dies., Theologiegeschichtliche Frauenforschung als Veränderungspotential theologischer Ethik?, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 24 (1993), S. 190–213, hier: S. 193. 40 Elisabeth Gössmann, Äußerungen zum Frauenpriestertum in der christlichen Tradition, in: Dietmar Bader (Hg.), Freiburger Akademiearbeiten 1979–1989, München/Zürich 1989, S. 304–321, hier: S. 313. 41 Vgl. dazu: Gössmann, Äußerungen zum Frauenpriestertum, S. 315: „Wichtig ist jedoch für die theologischen Voraussetzungen der Ordinierbarkeit von Frauen, daß sowohl Hildegard wie viele andere mittelalterliche Mystikerinnen nicht nur eine weibliche imago-Dei-Spiritualität entfalteten, sondern auch ein analogiebewußtes Gottesbild. Wenn sich die iustitia Dei im Menschen spiegelt, so ist das für Hildegard gleichsam etwas Männliches, und wenn sich die misericordia Dei im Menschen spiegelt, so ist das für sie gleichsam etwas Weibliches. Was in Gott zusammenfällt, kann sich in der menschlichen imago Dei in den für die Geschlechter symbolischen Eigenschaften polar entfalten.“
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(1364–1430) ist es Elisabeth Gössmann deutlich geworden, dass die Einrichtung eines Amtes für Frauen nicht eine „neue Klerikalisierung und Hierarchisierung, an der progressiven Kräften in der Kirche nicht gelegen ist“, bedeuten muss, „wohl aber bedeutet es die Zurücknahme unberechtigter Ungleichheit in einer geschwisterlichen Kirche“.42 Und hier verankert sie sich fest im theologisch-ekklesiologischen Grund des Konzils.
4. Ein theologischer Zugang zur Gender-Kategorie – ein zentraler Beitrag im Kontext kulturwissenschaftlicher Debatten Gender-Forschungsstellen im wissenschaftlichen Kontext bringen es angesichts der intersektionellen Vernetzung des Geschlechter-Begriffs mit sich, dass auch die Zusammenarbeit mit Theologen und Theologinnen auf eine neue Weise gefragt ist. Das bedeutet eine Sichtbarkeit der theologischen Arbeit von Frauen im interdisziplinären Diskurs und die Möglichkeit, die Ergebnisse theologischer Frauenforschung und feministischer Theologie über eine fundierte Auseinandersetzung mit geschlechter-theoretischen Ansätzen in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen. Theologinnen kommt dabei die wichtige Aufgabe zu, sich in die Debatten um geschlechter-theoretisch angelegte anthropologische Ansätze einzumischen: auf der einen Seite, wie die an der Universität zu Köln tätige Theologin und Religionsphilosophin Saskia Wendel es formuliert hat, eine fundierte Kritik an radikal-konstruktivistischen Gender-Ansätzen zu üben, auf der anderen Seite den Wert differenzierter geschlechter-orientierter Ansätze in der philosophischen und theologischen Anthropologie aufzuzeigen, sich in die offenen Debatten um die Bestimmung der Geschlechterdifferenz einzumischen und damit Klärungsprozesse anzustoßen.43 Die Kategorie Geschlecht ist gerade dann hilfreich, wenn es darum geht, kulturell geprägte und mit Macht besetzte geschlechtliche Rollenzuschreibungen kritisch zu hinterfragen und aufzuzeigen, wie die mit biographischen Entwicklungen, sozialen, ökonomischen, kulturellen, ethnischen und religiösen Mustern verbundenen „Konstruktionen“ des „gender“ auf die biologische Geschlechtlichkeit rückwirken und diese von Beginn an davon geprägt ist. 42 Elisabeth Gössmann, Was hat die heutige Frau in der Kirche mit der „Päpstin Johanna“ zu tun?, in: Anne Jensen/Michaela Sohn-Kronthaler (Hg.), Formen weiblicher Autorität. Erträge historisch-theologischer Frauenforschung, Wien 2005, S. 53–84, hier: S. 82. 43 Saskia Wendel, Kritische Würdigung der Gender-Debatte, in: Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der DBK (Hg.), Geschlechtergerechtigkeit in Beruf und Familie für Frauen in verantwortlichen Positionen in der Kirche. Dokumentation der Fachtagung am 17./18. März 2005, veranstaltet von der Unterkommission „Frauen in Kirche und Gesellschaft“ im Auftrag der Pastoralkommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2005, S. 16–25. Zum Folgenden vgl. auch: Margit Eckholt, „Die Freiheit der „imago Dei“. Anmerkungen zur Gender-Diskussion in theologisch-anthropologischer Perspektive“, in: Dies. (Hg.), Gender studieren, S. 189–227.
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Aus systematisch-theologischer Perspektive kann die Differenzierung von „sex“ und „gender“ als Ermöglichungshorizont für die geschichtliche Realisierung der von Gott geschenkten Freiheit des Menschen verstanden werden und dass durch diese – entgegen essenzialistischen Wesenszuschreibungen – die „Undefinierbarkeit“ (Karl Rahner) und grundsätzliche Fraglichkeit des Menschen in das Zentrum theologischer Anthropologie gestellt werden. In der Erschaffung des Menschen – „männlich und weiblich schuf er sie“, so die Arbeitsübersetzung des Genesis-Textes durch den Alttestamentler Christoph Dohmen44 – wird der Mensch immer konkret, „im Plural“, in der Aufeinanderbezogenheit auf den anderen bzw. die andere, das heißt in lebendiger und lebenstiftender Gemeinschaft und damit immer in Bewegung und sich je neu fügenden Ordnungen, verstanden. Die Realisation seiner Qualität als „imago Dei“ – und das heißt seine Verwirklichung in der von Gott geschenkten Freiheit – hat immer mit seinem Verhalten zum Leib bzw. Körper und damit zur eigenen Geschlechtlichkeit und der der anderen zu tun, um auf diesem Weg – in der Bewegung, den je neuen „Verflüssigungen“45 und der „Unordnung“ des Miteinanders – zur Fülle und zu neuen Ordnungen zu kommen. Die Freiheit der „imago Dei“ ist nur als Prozess zu verstehen, als ein Hineinwachsen in diese Freiheit unter den konkreten, kontingenten, geschichtlichen und kulturellen Bedingungen ihrer leibhaftigen und lebendigen Existenz. Diese Freiheit der „imago Dei“ verwirklicht sich in diesem Sinn als je einmalige „Biographie“, als je eigenes Schreiben des Lebens in einem kontinuierlichen Erzählen und der Verwicklung in die Geschichten der vielen anderen. Die Freiheit der „imago Dei“ zeigt sich dann auch darin, wie der Mensch der in ihm angelegten weiblichen oder männlichen Geschlechtlichkeit („sex“) auf seinem je eigenen Weg des Mensch-Seins, der immer durch kulturelle und soziale, durch ökonomische und religiöse Bedingtheiten geprägt ist, eine Gestalt gibt. Die Geschlechter-Perspektive macht gerade die Wahrnehmung dieser seiner Freiheit möglich und lässt die mit jeder Biographie verbundene je eigene, sicher immer auch gebrochene, verwundbare und fragile Gestalt der Geschlechtlichkeit zum Vorschein treten. Aus theologischer Perspektive drückt sich gerade darin die Fraglichkeit des Menschen bis hin zu seiner Vollendung aus; das ist, in dieser eschatologischen Perspektive, die „Undefinierbarkeit“ des Menschen, die auf dem Weg des Lebens zu einer erzählten Geschichte wird. Und diese erzählte Geschichte, die jeder Mensch ist, hat immer eine einzigartige Handschrift, sie hat mit der Dynamik der Realisierung seines Menschseins
44 Christoph Dohmen, Zwischen Gott und Welt. Biblische Grundlagen der Anthropologie, in: Erwin Dirscherl/Ders. u. a. (Hg.), In Beziehung leben. Theologische Anthropologie, Freiburg i. Br./Basel u. a. 2008, S. 7–45, hier: S. 26 (= Theologische Module 6). 45 Dieser Begriff wird in aktuellen kulturwissenschaftlichen Studien verwendet: vgl. Kassandra Nakas (Hg.), Verflüssigungen. Ästhetische und semantische Dimensionen eines Topos, Paderborn 2015.
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in seiner Leibhaftigkeit und darin mit seiner Geschlechtlichkeit im Sinne von „sex“ und „gender“ zu tun. Eine solche philosophisch-theologische These in die aktuellen Gender-Diskurse einzubringen und so auf die Verwobenheit anthropologischer und sozialphilosophischer Fragen hinzuweisen, ist ein zentraler Beitrag (katholischer) systematischer Theologie, die in den Gender-Debatten implizierte ethische Dimension im interdisziplinären Diskurs zu erschließen: Glaube und Geschlecht gehören zusammen und stehen für die kontinuierliche „reformatio“ sozialer Beziehungen und Machtverhältnisse. An der Ämterfrage in der katholischen Kirche wird dies in einer ganz besonderen Weise virulent.
5. Ein ökumenischer Ausblick Diese Überlegungen begleiteten das ökumenische Arbeiten auf dem Kongress „Frauen in kirchlichen Ämtern“, der vom 6. bis 9. Dezember 2017 an der Universität Osnabrück stattfand, und genau diese Gender-Perspektive wird es ermöglichen, die Frauenordination als Motor und nicht als Hindernis für die „sichtbare Einheit“ der christlichen Kirchen zu sehen. Die Zeit ist reif, so wurde es in den verschiedenen Beiträgen auf dem Kongress deutlich, weitergehende Reformbewegungen in allen christlichen Kirchen anzustoßen im Blick auf eine stärkere Sichtbarkeit von Frauen in Führungspositionen der Kirchen und kirchlichen Ämtern. Aus gemeinsamen Erfahrungen – von Ausgrenzungen, Missverständnissen, theologischen Fehlinterpretationen, in der Geschichte und der Gegenwart, aber auch von einer immer stärkeren Präsenz von Frauen auf unterschiedlichen Ebenen kirchlicher Praxis – konnten die Fragen in den Blick genommen werden, die bislang nicht gemeinsam beantwortet sind. So kann, so die Hoffnung, Bewegung in eine seit langem stagnierte Debatte um Ämter und Dienste in der Kirche kommen. Deutlich wurde, dass auch in den Kirchen der Reformation die Amtsfrage in gender theoretischer Perspektive keineswegs geklärt ist,46 das machen die aktuellen Auseinandersetzungen um Frauen im kirchlichen Amt in den Kirchen in Lettland und in Polen deutlich. Hier spielen nicht Fragen der Amtstheologie oder Ekklesiologie eine Rolle, sondern Vorstellungen von anthropologischen Geschlechterordnungen. Andererseits sind diese Fragen von Relevanz im ökumenischen Gespräch. Die Grunddimension des Amtes, im 46 Vgl. z. B. Christine Globig, Frauenordination im Kontext lutherischer Ekklesiologie. Ein Beitrag zum ökumenischen Gespräch, Göttingen 1994; Simone Mantei/Regina Sommer u. a., Geschlechterverhältnisse und Pfarrberuf im Wandel. Irritationen, Analysen und Forschungsperspektiven, Stuttgart 2013 (= Praktische Theologie heute 128); Auguste Zeiß-Horbach, Evangelische Kirche und Frauenordination. Der Beitrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zur deutschlandweiten Diskussion im 20. Jahrhundert, Leipzig 2017 (= Historisch-theologische Genderforschung 8).
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Dienste Jesu Christi zu stehen, den Verkündigungsdienst auszuüben, in diesem Sinn – wie es die Tradition formuliert hat – das Amt mit der „repraesentatio Christi“ zu verbinden und damit auch mit einer sakramentalen Grundbestimmung, ist eine Herausforderung, die auch der protestantischen Theologie im Jahr des Gedenkens der Reformation und darüber hinaus aufgegeben ist. Zudem war und ist eine Auseinandersetzung um die Schrifthermeneutik mit dieser Thematik verbunden, die nach der normativen Autorität der biblischen Überlieferung fragt. Wenn Frauen vom Amt ausgeschlossen werden, so ist dies nicht allein dem Gender-Faktor geschuldet, sondern es ist eine Frage, die tiefer geht und auch in den protestantischen Kirchen grundsätzlich die theologische Bestimmung von Ämtern und Diensten in der Kirche betrifft. Darum wird es in zukünftigen ökumenischen Gesprächen zu dieser Frage verstärkt darum gehen, theologische Perspektiven der orthodoxen Tradition einzubeziehen.47 Die Frage der Sakramentalität ist ein entscheidender ökumenischer Kontroverspunkt in der gesamten Christenheit bei der Suche nach Antworten auf die bislang unbeantworteten Fragen des Kirchen- und Amtsverständnisses. In der orthodoxen Theologie werden Traditionslinien der alten Kirche weiter entfaltet, die sowohl für die katholisch-theologischen als auch die protestantisch-theologischen Positionen ein wichtiges Korrektiv darstellen können. Ebenso erinnert die orthodoxe theologische Tradition in besonderer Weise an die grundlegende diakonische Dimension der Kirche. Wenn die christlichen Kirchen in einer sich weiter säkularisierenden und gleichzeitig religionspluralen Gesellschaft gesellschaftliche Akzeptanz und Relevanz haben, so gelingt ihnen dies über die vielfältigen diakonischen und karitativen Felder und ihren Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, für eine nicht Grenzen setzende, sondern öffnende Gesellschaft. Jede Debatte um kirchliche Ämter und Ämter für Frauen in den christlichen Kirchen macht nur dann Sinn, wenn diese Dynamik der Öffnung, der Anerkennung der anderen, auch die innerkirchlichen und theologischen Debatten um das Amt prägt.48 In genau diesem Sinn wurden auf dem Ökumenischen Kongress in Osnabrück sieben Thesen verabschiedet mit der Zielsetzung, „die theologischen Gespräche über die Präsenz von Frauen in allen kirchlichen Ämtern mit der Zielsetzung einer Verständigung in
47 Zum Frauendiakonat in der orthodoxen Tradition vgl. z. B. die Arbeiten von Evangelos Theodorou, Athen. Das Amt der Diakoninnen in der kirchlichen Tradition. Ein orthodoxer Beitrag zum Problem der Frauenordination, in: Una Sancta 33 (1978), Heft 2, S. 162–172; Mircea Basarab, Amtsverständnis und die Apostolische Sukzession als Kontext für die Stellung der Frau in der Orthodoxen Kirche, in: Catholica 50 (1996), Heft 3, S. 261–285. 48 Vgl. hier auch: Marianne Heimbach-Steins, „nicht mehr Mann und Frau“ (Gal 3,28). Sozialethische Studien zu Geschlechterverhältnis und Geschlechtergerechtigkeit, Regensburg 2009; Denise Buser/Adrian Loretan (Hg.), Gleichstellung der Geschlechter und die Kirchen. Ein Beitrag zur menschenrechtlichen und ökumenischen Diskussion, Freiburg i. Br. 1999 (= Freiburger Veröffentlichungen zum Religionsrecht 3).
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den verbleibenden Kontroversen fort[zu]setzen“49. Es geht darum, „die Geschlechtergerechtigkeit bei der Übernahme und der Ausübung kirchlicher Ämter zum Prüfstein der Glaubwürdigkeit der Verkündigung des Evangeliums [zu, M. E.] machen. Das ist unverzichtbar für die apostolische Sendung der Kirchen.“ „Wir werden uns im Bereich unserer Verantwortung für eine zunehmende Beteiligung von Frauen in leitenden Funktionen und Ämtern einsetzen. Wir streben eine Kultur der Partnerschaft in allen Kirchen an“.50 Ämter- und Genderfragen sind in der katholischen Kirche und Theologie eng miteinander verzahnt. Eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Geschlechter-Ansatz und der Einbindung der Kategorie Geschlecht ist notwendig, will sich katholische Theologie nicht ins Abseits seriöser wissenschaftlicher Arbeit stellen. Dann stellt sich die Amtsfrage auf eine neue Weise: im Horizont der Revision der anthropologisch-theologischen Grundlagen christlichen Glaubens, die an die in der Gottebenbildlichkeit liegende gleiche Würde von Mann und Frau erinnert. Die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils stellen dabei die ekklesiologischen Grundlagen für den in der Amtsfrage implizierten Reformprozess dar.
49 Vgl. Osnabrücker Thesen. Ökumenischer Kongress, 6.–9. Dezember 2017 in Osnabrück, FRAUEN IN KIRCHLICHEN ÄMTERN. Reformbewegungen in der Ökumene, URL: http://www.kath-theologie. uni-osnabrueck.de/aktuelles/news.html (Stand 28.3.2019). 50 Ebd.
Birgit Heller
Weltreligionen und Geschlecht. Rollen, Bilder und Ordnungen der Geschlechter in vergleichend-systematischer Perspektive
1. Männerreligionen: Religionen und Patriarchat Der Religionshistoriker Friedrich Heiler hat bereits in den 1950er-Jahren – als die Frage nach Geschlecht/Gender1 für die Forschung noch irrelevant gewesen ist –, die großen Religionen der Gegenwart als „Männerreligionen“ bezeichnet.2 Damit hat er nicht gemeint, dass Frauen in diesen Religionen keine Rolle spielen würden. Ohne die Schar der weiblichen Gläubigen und ihre Dienste wären die meisten Religionen nicht überlebensfähig. Männer würden jedoch die entscheidende Initiative, Schöpferkraft und Leitung der religiösen Organisationen für sich beanspruchen. Und mehr als das: Heiler schreibt den sogenannten „Hochreligionen“ eine Unterdrückung und Geringschätzung der Frau zu, die teilweise geradezu in Frauenfeindlichkeit ausarte. Diese Feststellungen sind lange Zeit ohne Resonanz geblieben. Erst in den letzten Jahrzehnten ist langsam die Erkenntnis gewachsen, dass die großen Religionen der Gegenwart weitgehend androzentrisch geprägt sind und darüber hinaus die männliche Dominanz in der Gesellschaft religiös legitimiert haben.3 Die traditionellen Auffassungen über Rechte und Pflichten der Geschlechter basieren dabei weitgehend auf dem Modell der polaren Geschlechterrollen von Mann und Frau in einer heterosexuell orientierten Gesellschaftsordnung. Diese Religionen sind allesamt im Kontext patriarchal organisierter Gesellschaften entstanden und haben die männlich dominierten Sozialstrukturen ideologisch untermauert. 1 Der deutsche Begriff umfasst die Dimensionen „sex“ und „gender“ – das biologische und das soziale Geschlecht –, die in vielfältigen Wechselbeziehungen zueinander stehen. 2 Vgl. Anne Marie Heiler/Friedrich Heiler (Hg.), Die Frau in den Religionen der Menschheit, Berlin 1977, S. 47. 3 Vgl. Rita Gross, Androcentrism and Androgyny in the Methodology of History of Religions, in: Dies. (Hg.), Beyond Androcentrism, Missoula/Montana 1977, S. 7–19; Birgit Heller, Gender und Religion, in: Johann Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft, Innsbruck 2003, S. 758–769, hier: S. 760–763; Ursula King, Gender and Religion, An Overview, in: Lindsay Jones (Hg.), Encyclopedia of Religion, Vol. 5, Detroit 22005, S. 3296–3310, hier: S. 3298 f.; Edith Franke/Verena Maske, Religionen, Religionswissenschaft und die Kategorie Geschlecht/Gender, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin/ Boston 2012, S. 125–149, hier: S. 130 f.
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Insbesondere die wichtige Rolle der Mutter für die Bewahrung der Patrilinie führt zu starker männlicher Kontrolle der Frau, die religiös legitimiert wird. Frauen werden zur Treue und zum Gehorsam gegenüber dem Ehemann angehalten. Der Ehemann kann in diesem Zusammenhang göttlichen Status erhalten – so soll die Hindu-Frau den Dienst an ihrem Gatten als ihren persönlichen Gottesdienst betrachten. Judentum, Christentum und Islam untermauern die männliche Vormacht und Verfügungsgewalt über die weibliche Sexualität mit verschiedenen Mitteln wie dem Mythologem von der Erst-Erschaffung des Mannes oder der angeblich stärkeren weiblichen Triebhaftigkeit. Durch die strikte Kontrolle der Frau in jeder Lebensphase durch Vater, Ehemann, Sohn oder Bruder wird die Reinheit der Abstammungslinie gewährleistet. In diesem Zusammenhang stehen auch zahlreiche Sonderregeln für Frauen in der Form spezieller Kleidungsvorschriften oder der gezielten Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Religionen und Geschlecht sind eng miteinander verflochten. Die Traditionen, Symbole, Anschauungen und Praktiken gerade jener Religionen, die universale Gültigkeit beanspruchen und sich für das Heil des Menschen zuständig machen, sind alles andere als geschlechtsneutral. Meist wird der Mann als Maßstab des Menschen betrachtet. Wenn die Fragen gestellt werden, warum Gott im Judentum, Christentum und Islam – trotz behaupteter Geschlechtstranszendenz – in der männlichen Form angesprochen wird, warum Frauen im brahmanischen Hinduismus (Brahmanen bilden die oberste Gesellschaftsschicht, zu ihnen zählen die religiösen Gelehrten und Ritualexperten) die heiligen Schriften nicht studieren,4 warum Männer laut dem Koran über den Frauen stehen (Sure 4, 34), warum sich selbst die spirituell höchststehende buddhistische Nonne dem geringsten Mönch unterordnen muss5 oder warum Frauen in den meisten Religionen der Gegenwart vom Priestertum bzw. von religiösen Leitungsfunktionen ausgeschlossen sind, wird deutlich, wie stark die Religionen zwischen den Geschlechtern differenzieren und dabei meistens eine Diskriminierung, Marginalisierung oder Unterordnung von Frauen begründen.
4 Frauen sind (wie die Männer der untersten Gesellschaftsschicht) vom Veda-Studium ausgeschlossen, daher sind Riten für Frauen auch ohne die heiligen vedischen Verse zu vollziehen; vgl. dazu Birgit Heller, Wissen, Weisheit und Geschlecht. Ambivalente Geschlechtskonstruktionen in Hindu-Traditionen, in: Anna-Katharina Höpflinger/Ann Jeffers u. a. (Hg.), Handbuch Gender und Religion, Göttingen 2008, S. 111–124, hier: S. 113–116. 5 In den traditionellen acht Hauptregeln (garudhammā) des buddhistischen Nonnenordens ist die strenge Unterordnung der Nonnen unter die Mönche festgelegt, vgl. dazu: Isaline B. Horner (Hg.), The Book of the Discipline (Vinaya-Pitaka), Vol. V (Cullavagga), Oxford 61997, S. 354 f. (= Sacred Books of the Budd˙ hists, Vol. XX); Ute Hüsken, Die Vorschriften für die buddhistische Nonnengemeinde im Vīnaya-Pitaka ˙ der Theravādin, Berlin 1997, zu den garudhammā insbesondere S. 345–360 (= Monographien zur indischen Archäologie, Kunst und Philologie 11).
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Darüber hinaus werden auch weitere Geschlechter an der männlichen Norm gemessen. Die wissenschaftliche Problematisierung der binären Geschlechterperspektive ist eine relativ junge Entwicklung in den Gender Studies. Obwohl seit alten Zeiten viele Kulturen existieren, die mehr als zwei Geschlechter unterscheiden, wurde dem Phänomen eines sogenannten dritten Geschlechts oder multipler Geschlechter bis vor kurzem keine Aufmerksamkeit geschenkt.6 Bei aller religiös-kulturellen Unterschiedlichkeit in der Bewertung und im Umgang mit Transgender-Menschen7 fällt auf, dass auch für sie die Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit den fundamentalen Bezugsrahmen für die Beschreibungen und Definitionen bilden. Meistens wird der Mann als die Norm betrachtet, von der alle anderen abweichen (etwa als sogenannter „weibischer Mann“), wofür sie oft genug verachtet und marginalisiert werden.
2. Rollen und Status von Männern, Frauen und anderen Geschlechtern in den Religionen Herkömmliche Religionsforschung hat ausführliche Daten über prominente männliche Stifter, Reformatoren, Lehrer, Theologen und Heilige erhoben und analysiert. In zahlreichen ethnischen Religionen, in den Religionen des Alten Orients und anderen Religionen der Vergangenheit (wie der griechischen, römischen, keltischen oder germanischen Religion) können auch Frauen vielfältige Rollen religiöser Autorität einnehmen. Sie fungieren als Schamaninnen, Priesterinnen, Seherinnen, Prophetinnen oder Heilerinnen. Häufig finden sich in diesen Positionen auch Angehörige eines dritten Geschlechts, die teilweise sogar in den großen Religionen der Gegenwart bis heute eine gewisse, wenn auch ambivalente Rolle einnehmen, wie etwa die hinduistischen und muslimischen Hijras.8 Hijras sind anatomisch gesehen Männer, die sich im Aussehen und Verhalten an den kulturellen Normen des weiblichen Genders orientieren. Sie sind die modernen Nach6 Einen Eindruck über die Vielfalt der Phänomene in verschiedenen Kulturen geben: Sabrina Petra Ramet (Hg.), Gender Reversals and Gender Cultures. Anthropological and Historical Perspectives, London/New York 1996; Charlotte Suthrell, Unzipping Gender. Sex, Cross-Dressing and Culture, Oxford/New York 2004. 7 Für die Geschlechtervariationen existiert eine Vielfalt von kulturspezifischen Bezeichnungen und Fachbegriffen wie Intergender, Fluid Gender, Cisgender, Third/Multiple Gender, Queer usw. Der Begriff Transgender eignet sich insofern als Dachbegriff, als damit zum Ausdruck kommt, dass jedenfalls ein bestimmtes Ausgangsgeschlecht überschritten wird. Der Begriff lässt offen, ob ein Geschlechtswechsel vollzogen wird, ob männliches und weibliches Geschlecht kombiniert werden oder ob die Geschlechterdualität im Sinn fixer Kategorien transzendiert wird. 8 Speziell zu den Hijras gibt es etliche Studien, z. B. Serena Nanda, Neither Man Nor Woman. The Hijras of India, Belmont/California 1991; Gayatri Reddy, With Respect to Sex. Negotiating Hijra Identity in South India, Chicago/London 2005.
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folger jener Menschengruppe,9 die in der alten indischen Tradition unter der Kategorie des „dritten Geschlechts“ zusammengefasst wurde. Hijras versuchen ihr Existenzrecht und ihre spezifischen Funktionen durch entsprechende religiös-mythische Traditionen zu rechtfertigen.10 Sie werden zu Hochzeiten eingeladen, um Segen und Fruchtbarkeit zu spenden, fristen aber sonst ein Leben am Rand der Gesellschaft. Heute zählt Indien, wie seit kurzem auch Deutschland, zu jenen wenigen Ländern, die juristisch ein drittes Geschlecht akzeptieren. Seit 2009 können Personen, die sich weder als Mann noch als Frau definieren, in offiziellen Formularen und Dokumenten die Kategorie „other“ ankreuzen. Diese Entwicklung wurzelt in der alten indischen Tradition eines dritten Geschlechts, ist aber durchaus nicht gleichbedeutend mit der vorurteilsfreien Akzeptanz und dem sozialen Respekt für jene, die nicht den normativen Geschlechterrollen von Mann und Frau entsprechen. Hinsichtlich der Stellung und der Rollen von Frauen weisen die großen religiösen Traditionen viele Ähnlichkeiten auf. In der Entstehungsphase waren Frauen aktiv beteiligt und konnten verschiedene Rollen einnehmen. So etwa folgten viele Frauen dem Ruf Buddhas oder unterstützten ihn tatkräftig. Eine berühmte und oft zitierte Erzählung präsentiert eine Frau namens Kisā Gotamī als Modell für den typischen Weg eines Menschen, den die Erfahrung des Todes (in diesem Fall des Kindes) in die Nachfolge Buddhas führt. Die bewegende Geschichte ist in verschiedenen Versionen überliefert, unter anderem auch in den sogenannten Therīgāthās, den Liedern der erleuchteten Nonnen (Therīgāthā 213– 223).11 Diese Texte stammen aus der Frühzeit des Buddhismus und zählen zu den ältesten schriftlichen Frauenzeugnissen der Religionsgeschichte. Zum Jüngerkreis von Jesus Christus gehörten zwar keine Frauen, sie bildeten jedoch einen wesentlichen Teil seiner Gefolgschaft; Frauen waren die ersten Zeuginnen der Auferstehung, und in frühchristlicher Zeit konnten sie sowohl religiöse Ämter ausüben (wie etwa die Apostelin Thekla) oder auch durch das Martyrium zu hohen Ehren gelangen. Die Frauen Mohammeds übten nicht nur großen Einfluss auf ihn aus, sondern spielten darüber hinaus eine wichtige Rolle in der Überlieferung. Auch im Alten Israel spielten nicht nur die Erzväter, sondern auch die Erzmütter eine bedeutende Rolle; es gab Richterinnen, Prophetinnen und Heldinnen. Genauso sind in der altindischen Überlieferung Seherinnen bekannt, die die göttliche Offenbarung schauten, vereinzelt werden auch 9 Hijra wird häufig als Dachbegriff für die heutigen Transgender-Gemeinschaften in Südasien, Pakistan und Bangladesh benutzt, vgl. Jeff Roy, Unveiling Koovagam, in: World Policy Journal 31 (2014), Heft 2, S. 91–99, hier: S. 92. 10 Vgl. dazu Birgit Heller, Symbols of Emancipation? Images of God/dess, Devotees and Trans-sex/gender in Hindu Traditions, in: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation 5 (2017), S. 235–257, hier: S. 151 (URL: https://www.vr-elibrary.de/doi/pdf/10.14220/jrat.2017.3.2.235, Stand 9.4.2019). 11 Vgl. Kenneth R. Norman (Hg.), Elders’ Verses II. Therīgāthā. Translated with an introduction and notes, Lancaster 22007 (Nachdruck Bristol 2015), S. 26 f.
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Asketinnen und Lehrerinnen erwähnt. Allerdings sollte nicht die Illusion eines perfekten goldenen Zeitalters in der Anfangszeit der Religionen entstehen. Die Vorstellung einer ursprünglichen Gleichstellung der Geschlechter ist eine moderne Projektion auf die Vergangenheit. Nach der Gründungsphase wurden Frauen in all den genannten Religionen deutlich in untergeordnete Rollen zurückgedrängt. Die wichtigen Ämter und generell die Leitungsfunktionen wurden und werden traditionellerweise überwiegend von den männlichen Anhängern beansprucht. In der Vergangenheit wurde der Ausschluss von Frauen von religiösen Rollen und Ämtern häufig mit den „unreinen“ biologischen Funktionen der Menstruation und Geburt begründet und/oder der spezifisch weiblichen Natur, vor allem gleichgesetzt mit Schwäche, Triebhaftigkeit und geringer Vernunft; in der Gegenwart wird mit der Tradition argumentiert. Die religiöse Bedeutung der Frau basiert zu einem großen Teil auf ihrer Rolle als Mutter. Als Mutter von Söhnen wird die Frau meist überschwänglich verehrt, sowohl nach hinduistischer als auch nach muslimischer Überlieferung übertrifft die Verehrung der Mutter die des Vaters um ein Vielfaches. Auch innerhalb von Judentum und Christentum wird der Frau als Mutter Respekt erwiesen. Mit Ausnahme des Buddhismus, der der Frau als Mutter keinen besonderen Stellenwert beimisst, weil die Geburt als solche ein Symbol für die Verhaftung im Geburtenkreislauf darstellt,12 wird in all diesen Traditionen die Mutterrolle zu einem idealen Frauenbild stilisiert. Die verschiedenen religiösen Traditionen weisen starke Ähnlichkeiten, aber auch Besonderheiten hinsichtlich der Beurteilung und Stellung von Frauen auf. Auch innerhalb einer Religion können sich durchaus unterschiedliche Sichtweisen und Praktiken durchsetzen. Obwohl beispielsweise die Schriften des Buddhismus von vielen erleuchteten Frauen berichten, spiegelt die Struktur der religiösen Organisation von Anfang an die soziale Nachrangigkeit von Frauen. Nach traditioneller Überlieferung entstand der buddhistische Nonnenorden erst nach dem anfänglichen Widerstand Buddhas. Mit der Einrichtung des Nonnenordens soll für ihn der beschleunigte Verfall der buddhistischen Lehre besiegelt gewesen sein. In der Zeit der muslimischen Eroberungen und der Zerstörung der buddhistischen Klöster in Indien ist die Sukzessionslinie der Nonnenorden, die traditionelle Kette der Nachfolge, abgerissen. Daher akzeptierten die männlichen Autoritäten des Theravāda-Buddhismus (das ist jene Richtung, die sich selbst als ursprüngliche Form des Buddhismus versteht) die vollgültige Ordination buddhistischer Nonnen nicht mehr. Obwohl buddhistische Nonnen seit vielen Jahren um ihren Status ringen, gibt es noch immer keine einheitliche Haltung in den entscheidenden Institutionen. In Thailand 12 Aus der Einsicht in die Vergänglichkeit und Leidverstrickung menschlicher Existenz resultiert eine monastische oder zumindest sexuell enthaltsame Lebensweise. Fortpflanzung kann lediglich als Dienst an Lebewesen, die die befreiende Einsicht noch nicht erlangt haben, positiv erscheinen.
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beispielsweise verweigert der Höchste Buddhistische Rat noch immer die Anerkennung der Nonnen-Ordination, obwohl Bhikkuni Dhammananda, vormals Chatsurman Kabilsingh, als erste vollgültig geweihte Nonne der Theravāda-Tradition seit 2003 das bislang einzige Frauenkloster in Bangkok leitet.13 In der Richtung des Mahāyāna-Buddhismus existieren hingegen bis heute anerkannte Nonnenorden. Da die Grundlage der empirischen Wirklichkeit als „leer“ betrachtet wird, müssen auch Geschlechtsunterschiede als unwesentlich betrachtet werden. Dennoch zählt das männliche Geschlecht traditionell zu den Kennzeichen des religiös vollendeten Menschen.14 In etlichen einflussreichen Texten wurden die Auffassungen vertreten, dass Frauen die letzten Stufen der spirituellen Vollendung überhaupt nicht oder nur durch die Geschlechtsumwandlung erreichen könnten.15 Erleuchtung ist nach diesen Standpunkten an das männliche Geschlecht gebunden. Für eine spirituell hoch entwickelte Frau bedeutet das, dass sie – um die Erleuchtung zu erlangen – noch einmal als Mann wiedergeboren werden muss oder unter Umständen bereits im aktuellen Leben eine spontane Geschlechtsumwandlung erfährt. Erst unter dem Einfluss der Moderne und den gesellschaftlich veränderten Geschlechterrollen haben Reformbewegungen in den traditionell patriarchalen Religionen unter Anknüpfung an geschlechtsegalitäre Elemente der jeweiligen Tradition mehr oder weniger erfolgreiche Veränderungen im Status von Frauen in Gang gesetzt. Mit Feministischen Theologien und religiösen Reflexionsprozessen fundiert, haben sich Frauen mittlerweile den Zugang zu religiösen Rollen erkämpft, die mit Autorität und Interpretationsmacht ausgestattet sind. Das sind Rollen wie die der Theologin, Lehrerin oder Rabbinerin und sogar des Mahājagadguru, des „großen Weltenlehrers“ – so bezeichnet eine hinduistische Reformbewegung, die an eine 800 Jahre alte Tradition anknüpft, ihr erstes weibliches Oberhaupt (vgl. Tafel 16), wobei der Titel als Äquivalent zu „Päpstin“ betrachtet wird.16 Abgeschlossen sind diese Transformationen noch lange nicht.
13 Bhikkuni Dhammananda empfing die Weihe von einem Theravāda-Mönch in Sri Lanka, vgl. URL: https:// www.deutschlandfunk.de/buddhismus-die-erste-nonne-der-theravada-tradition-in.886.de.html?dram: article_id=347794 (Stand 8.4.2019) und URL: http://present.bhikkhuni.net/dhammananda-bhikkhuni/ (Stand 28.3.2019). 14 Vgl. Nancy Schuster, Changing the Female Body. Wise Women and the Bodhisattva Career in Some Mahāratnakūtasūtras, in: The Journal of the International Association of Buddhist Studies 4 (1981), Heft 1, ˙ S. 24–69, hier: S. 27. 15 Vgl. Diana Y. Paul, Women in Buddhism. Images of the Feminine in Mahāyāna Tradition, Berkeley/ California 1979, S. 166–181. 16 Zu den biographischen Eckdaten von „Her Holiness Mahājagadguru Māte Mahādēvi“ vgl. Birgit Heller, Heilige Mutter und Gottesbraut. Frauenemanzipation im modernen Hinduismus, Wien 1999, S. 219–224 (= Frauenforschung 39).
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3. Geschlechtsspezifische Stereotype und Ideale Wichtige Einsichten in die symbolische und normative Konstruktion der Geschlechter ergeben sich aus der Untersuchung von geschlechtsspezifischen Bildern: Dabei handelt es sich um kulturelle Stereotype, Ideale und daraus abgeleitete Normen. In vielen klassischen Studien bis hin zur Szene der modernen Männerspiritualität17 gelten wild-aggressive Aspekte in der Gestalt von Jäger, Krieger und Held als fundamentale religiöse Männerbilder. Bedeutsam sind auch Priester und Asket. Zum Bereich idealisierter männlicher Tätigkeit zählen Schöpfung, Gründung der Lebensordnung, Stiftung der kulturellen Errungenschaften und insbesondere auch Opferrituale. Typische Symbole männlicher Sakralität sind Himmel, Berge, Donner, Regen oder gehörnte Tiere. Ordnung, Stabilität, Größe, Härte, Transzendenz und Licht werden als männliche sakrale Werte und Eigenschaften verstanden. Dass es sich hier weitgehend um Konstrukte und Stereotype handelt, wird im Rahmen der Männlichkeits- und Gender-Forschung sehr deutlich. Als typische Symbole weiblicher Sakralität werden Erde, Wasser, Brunnen, Höhlen sowie die Eigenschaften Chaos, Passivität, Weichheit und Dunkel betrachtet. Die komplexe Symbolik einer weiblich personifizierten Schöpfungs-, Transformations- und Todesmacht spielt zwar in verschiedenen frühen Religionen eine bedeutende Rolle, verschwindet aber in den großen Religionen der Gegenwart weitgehend in den Hintergrund. Die wichtigsten weiblichen Idealbilder sind gehorsame Tochter bzw. reine Jungfrau, ergebene Ehefrau und Mutter; ihre Bezugspole sind jeweils männlich. Die Bedeutung der weiblichen Ideale liegt in ihrer Funktionalität für männliche Existenzformen, von denen sie jeweils abhängig sind. Auf der Ebene der religiösen Symbolik werden der Jungfrau teilweise besondere Kräfte und eine gewisse Autonomie zugeschrieben, und die Mutter kann als göttlich glorifiziert werden. Nachhaltig wirksam für religiös-kulturelle Einstellungen gegenüber Frauen sind zwei Stereotype geworden, die im Folgenden kurz skizziert werden. 3.1 Das Stereotyp von der weiblichen Triebhaftigkeit und der Frau als Verführerin
Die Frau gilt in vielen religiösen Traditionen als Verkörperung der Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit und wird besonders (aber nicht nur) im asketischen Milieu verschiedener Religionen negativ bewertet. In einer Mahnschrift fordert etwa der christliche Kirchenvater Tertullian (nach 150–nach 220) die Frauen auf, sich bescheiden und sittsam zu kleiden.18 17 Vgl. z. B. Walter Burkert, Homo necans. Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen, Berlin/ Boston u. a. 21997; Patrick M. Arnold, Männliche Spiritualität. Der Weg zur Stärke, München 1994. 18 Vgl. Tertullian, Über den weiblichen Putz. Zitiert nach: Anne Jensen, Frauen im frühen Christentum, Bern/Berlin u. a. 2002, S. 211.
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Jede Frau sei eine Eva, die Sünde und Tod in die Welt bringe. Für Tertullian ist die Frau deshalb ‚der Eingang des Teufels‘. Von dieser Aussage lässt sich eine gerade Linie zum Malleus Malleficarum (Der Hexenhammer, Erstdruck 1487)19, dem bedeutendsten Handbuch der Kirche für Hexenjäger, ziehen. Der lateinische Titel macht bereits deutlich, dass die Zielrichtung des Buches auf Frauen zugespitzt ist, die – so wird argumentiert – durch ihre physischen und psychischen Defekte anfällig für die Versuchung des Teufels seien. Eine Schlüsselrolle nimmt die der Frau angelastete unersättliche sexuelle Begierde ein, die sich besonders im Liebeszauber manifestiert. Das Stereotyp der Frau als Verführerin ist nicht auf das Christentum beschränkt, sondern quer durch die Religionen verbreitet. In der jüdischen Überlieferung ranken sich zahlreiche Legenden um den weiblichen Dämon Lilith.20 So erscheint Lilith als die erste, ungehorsame Frau Adams, die sich magischer Praktiken bedient, als ein Schreckgespenst weiblicher Verführungskraft und als Kindermörderin. Laut Koran sind Adam und Eva zwar gemeinsam für den Sündenfall verantwortlich, diese Sicht ändert sich aber in der Tradition, die der Frau moralische Schwäche und Triebhaftigkeit anlastet. In dem bedeutendsten hinduistischen Werk über die Lebensordnung und die Verhaltensnormen wird gewarnt: „Die Natur der Frauen ist hier auf Erden das Verderben der Männer; deshalb sind die Umsichtigen in Gegenwart ausgelassener Frauen nicht arglos. Denn eine übermütige Frau kann in dieser Welt nicht nur einen Unwissenden, sondern sogar einen Wissenden vom rechten Weg abbringen und ihn zum Sklaven von Lust und Wut machen.“ (Manusmrti 2, 213 f.).21 (vgl. Tafel 17) Und in einem bekannten buddhistischen Text heißt ˙ es, dass Frauen wie Fischer sind, die die Männer mit ihrem Netz fangen – das Messer der Frauen sei daher mehr zu fürchten als das der Mörder.22 Es ist offenkundig, dass Äußerungen dieser Art mehr Licht auf die Ängste und Triebgebundenheit ihrer männlichen Verfasser werfen als auf die weibliche Natur. Teilweise wird die männliche Begierde durchaus als Fehler wahrgenommen, aber durch die Vermeidung, den Ausschluss von Frauen, gelöst. Anders als Männer werden Frauen als wesenhaft schlecht, als Verkörperung animalischer Sinnlichkeit betrachtet. Das einseitige Frauenbild, das sich in all diesen Texten zeigt, spiegelt keinesfalls die einzige und zwangsläufig vorherrschende Sicht auf Frauen. Es ist in seinen Auswirkungen aber zumindest dem Akt des Mobbings vergleichbar und hat Vorurteile genährt und verbreitet. Häufig 19 Wolfgang Behringer/Günter Jerouschek (Hg.), Heinrich Kramer (Institoris), Der Hexenhammer. Malleus Maleficarum. Kommentierte Neuübersetzung, München 2000. 20 Vgl. Gershom Sholem/Susannah Heschel, Lilith, in: Michael Berenbaum/Fred Skolnik (Hg.), Encyclopaedia Judaica, Bd. 13, Detroit 22007, S. 17–20. 21 Zitiert nach: Axel Michaels (Übers. u. Hg.), Manusmr ti. Manus Gesetzbuch, Berlin 2010, S. 42; vgl. auch ˙ Manusmr ti 9, 15, S. 193: Frauen sind ihrem Wesen nach mannstoll, unstet und lieblos. ˙ 22 Vgl. dazu Paul, Women in Buddhism, S. 43.
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genug hat es auch als ideologische Basis für Diskriminierungen und Gewaltanwendung gegenüber Frauen gedient. 3.2 Das Stereotyp von der unwissenden Frau
Frauenfeindliche Stereotype, die die Frau als triebhaftes Wesen mit den dazugehörenden charakterlichen Defiziten wie Wankelmütigkeit, Leichtsinn, Untreue oder Genusssucht darstellen, rechtfertigen den Ausschluss von Frauen vom religiösen Wissen. Quer durch die großen religiösen Traditionen werden weibliche Sexualität und weiblicher Körper der Welt des Geistes diametral entgegengesetzt. Da die Frau mit ihren Körperfunktionen identifiziert wird, gelten Geburt, Kinder und Küche als ihre Domäne. Um sie nicht von den Aufgaben in diesen weiblich definierten Tätigkeitsfeldern „abzuhalten“, sind sie vom aufwendigen Erwerb religiösen Wissens in den patriarchalen religiösen Traditionen ausgeschlossen oder zumindest darin eingeschränkt. Buddhismus und Christentum ermöglichen Frauen, die sich für eine monastische Lebensweise entscheiden, einen gewissen Zugang zu Bildung, allerdings begrenzt, ohne Lehrerlaubnis und mit geringem Respekt. Im Islam dominiert eine männliche Gelehrtentradition. Explizit vom religiösen Wissen ausgeschlossen werden Frauen im Judentum und im klassisch-brahmanischen Hinduismus.23 So wurden jüdische Frauen vom Studium der Tora „befreit“, obwohl dieses nach der Zerstörung des Tempels ins Zentrum jüdischen Lebens rückte und als das wichtigste aller Gebote eingestuft wurde. Zunächst waren Frauen von bestimmten religiösen Verpflichtungen entbunden, um ihre spezifischen häuslichen Pflichten erfüllen zu können. Bald setzte sich das faktische Verbot des Frauenstudiums durch, das in weiterer Folge die kultische Vollberechtigung von Frauen verhinderte. Frauen zählen beispielsweise grundsätzlich nicht zum Minjan, der Mindestzahl von zehn Betern, die notwendig ist, um einen Gemeindegottesdienst in der Synagoge abhalten zu können. Auch für Hindu-Frauen stellt das Studium der Heiligen Schriften nach der klassisch-brahmanischen Tradition kein religiöses Verdienst dar, weil ihre Religion im Dienst am Ehemann besteht. Obwohl in den vedischen Schriften, den ältesten religiösen Quellen der späteren hinduistischen Traditionen, vereinzelt von gebildeten religiösen Frauen die Rede ist, hat sich das explizite Verbot des Veda-Studiums für Frauen im klassisch- brahmanischen Hinduismus durchgesetzt. An die Stelle der Initiation, die zum Schriftstudium berechtigt und als zweite, wahrhafte Geburt erachtet wird, tritt für Frauen das Hochzeitsritual. Frauen sind daher keine vollwertigen Mitglieder der Hindu-Gesell23 Vgl. dazu Birgit Heller, „Der Frauen Weisheit ist nur bei der Spindel“. Zur Geschichte weiblicher Interpretationskompetenz im Hinduismus und Judentum, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51 (1999), Heft 4, S. 289–300.
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schaft, und ihre Unwissenheit macht sie nicht nur rituell inkompetent, sondern dient als Begründung dafür, dass religiöse Riten für Frauen ohne die heiligen vedischen Verse abzuhalten sind. Das männliche Monopol auf Wissen hat in vielen Religionen zu einem geringen religiösen Status von Frauen geführt. Aus dem faktischen Bildungsverbot resultierte ein geringer Bildungsstand, der Frauen den Makel der Unwissenheit und Minderwertigkeit eintrug. Unwissenheit wurde letztendlich als eine weibliche Charakterschwäche festgeschrieben, die wiederum den Ausschluss vom religiösen Wissen und andere Diskriminierungen rechtfertigte. Rollen mit religiöser Autorität und Leitungsfunktionen, aber auch die Vollberechtigung im Kult waren damit automatisch Männern vorbehalten. Verbote oder Einschränkungen für den Erwerb religiösen Wissens haben die Stimmen der Frauen zum Schweigen gebracht und wesentlich zu ihrer Marginalisierung beigetragen. Das Stereotyp von der unwissenden Frau steht allerdings merkwürdig unvermittelt neben den zahlreichen weiblich personifizierten göttlichen Gestalten des Wissens und der Weisheit. Beispielsweise wird die hinduistische Göttin Sarasvatī als „Kraft des Wissens“ bezeichnet. Sie ist die Quelle und Beschützerin der Künste und Wissenschaften, vermittelt aber auch die spirituelle Weisheit, die aus der Welt der Unwissenheit befreit. Auch im tibetischen Buddhismus zeigt sich die Weisheit in weiblichen göttlichen Symbolgestalten. Die jüdisch-christliche Tradition preist „Frau Weisheit“ als Schwester, Freundin, Braut und geliebtes Kind Gottes. Im Mittelalter knüpfen mystische Traditionen im Judentum und im Christentum an diese Vorstellung an und betrachten sie als weibliches göttliches Prinzip, das integraler Bestandteil des Gottesbildes ist. Dieser Widerspruch zeigt sehr deutlich, dass die Wertschätzung des weiblichen Geschlechts auf der religiösen Symbolebene in einem konträren Gegensatz zur Einstellung und zum Status von Frauen in der sozialen Wirklichkeit stehen kann. 3.3 Das Stereotyp vom weibischen Mann
Unter den bekannten Transgender-Phänomenen überwiegen Transformationen eines anatomisch männlichen Menschen in Richtung des weiblich definierten Geschlechts, betreffend Körpermerkmale, äußere Erscheinung und soziale Rolle.24 Diese sogenannten M-T-Fs (male to females) sind religiös bedeutsam, weil ihnen besondere Kräfte zugesprochen werden, allerdings sind sie gleichzeitig oft gefürchtet und sozial verachtet. Der „weibische Mann“ bedroht das Bild patriarchaler Männlichkeit, weil er sich in der 24 Es ist unklar, ob das Übergewicht des Geschlechtswechsels von „männlich“ zu „weiblich“ eine Frage verzerrter Wahrnehmung ist, weil die umgekehrte Bewegung bislang eine geringere Aufmerksamkeit erfahren hat (wofür einiges spricht), oder ob dieses Ungleichgewicht der gelebten Wirklichkeit entspricht.
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Geschlechterhierarchie nach unten begibt und sich selbst erniedrigt. Vermutlich ist das auch einer der maßgeblichen Gründe, warum im Kontext homosexueller Beziehungen jener Partner, der die passive, stereotypisch weibliche Rolle einnimmt, mehr verachtet wird bzw. warum Homosexualität zwischen Männern in den patriarchal geprägten abrahamitischen Religionen weitaus drastischer sanktioniert wird. Abweichungen von der normativen Männlichkeit – und in geringerem Ausmaß auch von der normativen Weiblichkeit – werden entweder generell abgelehnt und bestraft oder begrifflich gefasst und als Abweichungen so gut wie möglich in das bestehende Geschlechterschema eingeordnet. In den jüdisch-rabbinischen Quellen finden sich ausführliche Beschreibungen und Vorschriften für Menschen mit Geschlechtsabweichungen25, und auch in den hinduistischen und buddhistischen Traditionen sind seit früher Zeit verschiedene Bezeichnungen und Richtlinien dafür bekannt. In Indien existieren bereits seit 3000 Jahren Begriffe, die die Abweichung von der normativen männlichen Rolle in verschiedener Hinsicht definieren: als Abweichung von der jeweils normativ männlichen Anatomie oder mentaler Verfassung, sexueller Orientierung oder des sozialen Verhaltens.26 In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung wurde das Konzept des trtīyā prakrti entwickelt, eines ˙ ˙ „dritten Geschlechts“, das neben dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht existiert. Dazu zählten überwiegend männliche Menschen, die weibliche Kleidung, Schmuck und Frisur trugen, feminines Verhalten imitierten, nicht heirateten und keine Nachkommen zeugten.27 Sie wurden durch die indische Geschichte hindurch als feige, weibisch und schwach betrachtet und als defekte Männer verachtet – bei Aufzählungen werden sie häufig zusammen mit körperlich und geistig Behinderten genannt.28 Es existieren verschiedene Bezeichnungen für Angehörige des sogenannten dritten Geschlechts. Besonders aussagekräftig ist der Sanskrit-Terminus klība, zusammengehörig mit klaibya, Schwäche, die als angeborene Eigenschaft des weiblichen Geschlechts gilt. Der Begriff klība bezeichnet einen unmännlichen, also weibischen Schwächling und inkludiert die damit verbundenen Zuschreibungen von Feigheit und Dummheit. Für die Existenz dieser Menschen werden in der altindischen Literatur verschiedene Gründe angegeben, 25 Als Begriffe werden erwähnt: Androgynos, Tumtum, Saris, Ajlonit (nur in diesem Fall wird ein explizit weibliches Ausgangsgeschlecht angenommen), vgl. dazu Alfred Cohen, Tumtum and Androgynous, in: Journal of Halacha & Contemporary Society XXXVIII (1999) (URL: http://www.daat.ac.il/daat/english/ journal/cohen-1.htm, Stand 28.3.2019); Sarra Lev, How the Aylonit Got Her Sex, in: AJS Review. The Journal of the Association for Jewish Studies 31 (2007), Heft 2, S. 297–316. Diese Hinweise verdanke ich Gerhard Langer, Institut für Judaistik, Universität Wien. 26 Vgl. Renate Syed, Tr tīyā prakr ti. Das „Dritte Geschlecht” im Alten Indien, in: Asiatische Studien – Étu˙ ˙ des Asiatiques: Zeitschrift der Schweizerischen Asiengesellschaft – Revue de la Société Suisse-Asie 57 (2003), Heft 1, S. 63–120, hier: S. 72. 27 Vgl. ebd., S. 63. 28 Vgl. ebd., S. 85–92.
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darunter die Ansicht, dass sexuelle Vergehen oder Gewaltanwendung im vergangenen Leben mit dem Verlust der Männlichkeit und damit der Nachkommenschaft im nächsten Leben bestraft werden.29 Auch heute noch sehen sich die Nachfahren der Angehörigen des dritten Geschlechts, die Hijras, mit ähnlichen Stereotypen und Vorurteilen wie in altindischer Zeit konfrontiert.
4. Geschlechterordnungen: Hierarchie und Würde Die hierarchische Geschlechterordnung basiert auf der Betonung der essenzialistischen Geschlechterdifferenz, im Sinn der Unterscheidung zwischen einer biologisch festgelegten männlichen und weiblichen Natur, und ist eng verflochten mit Würde-Diskursen. Der Bodensatz des Androzentrismus durchzieht die religiösen und – bis in die junge Vergangenheit – auch die säkularen Würde-Konzepte30 und macht es schwer, alle Menschen als gleich an Würde zu achten. Begriffe wie Gottebenbildlichkeit, khalīfa (Stellvertreter) Gottes, ātman (das rein geistige, absolute Prinzip der Wirklichkeit als wahres Wesen jedes einzelnen Menschen) und selbst buddha (im Sinn des universalen menschlichen Erleuchtungspotenzials) wurden in der Geschichte der Religionen als dominant männliche Prärogative aufgefasst. Daraus wurde oft die geringere Würde von Frauen abgeleitet.31 Die Positionen der maßgeblichen jüdischen Gelehrten in der Zeit des Talmud sind zwar nicht einheitlich, in manchen Texten wird jedoch ausdrücklich festgehalten, dass die Gottebenbildlichkeit unmittelbar nur Adam zukommt.32 Als gewichtiges Argument wird der biblische Schöpfungsbericht angeführt, demnach Gott die Frau aus der Rippe Adams schuf. Während der Mann-Mensch als Gottes Ebenbild erschaffen wurde, so die Schlussfolgerung im Talmud-Traktat Kethuboth (bKethuboth 8a), ist die Frau ein Bauwerk, das aus dem Mann entnommen wurde.33 Ebenbild Gottes ist die Frau daher nur insofern, als sie vom Ebenbild Gottes, dem Mann, stammt. Dieses Muster ist noch deutlicher in der 29 Vgl. ebd., S. 95 f. 30 Ideengeschichtlich kann eine Linie gezogen werden von der Stoa bis zu den modernen Menschenrechten. Die Idee der Gleichheit aller Menschen wird in der Stoa, aber auch viel später in der Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution (Déclaration des droits de l’homme et du citoyen) und selbst noch in der Menschenrechtsdeklaration aus dem Jahr 1948 als Brüderlichkeit bezeichnet. 31 Vgl. zum Folgenden Birgit Heller, Autonomie versus heteronome Humanität? Moderner Würde-Diskurs und interreligiöse Perspektiven, in: Clemens Sedmak (Hg.), Menschenwürde. Vom Selbstwert des Menschen, Darmstadt 2017, S. 219–236, hier: S. 232–235 (= Grundwerte Europas 7). 32 Vgl. Johann Maier, Bild Gottes III. Talmudisches und nachtalmudisches Judentum, in: Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie 6 (1980), S. 502–506, hier: S. 505. 33 Vgl. Lazarus Goldschmidt (Hg.), Der Babylonische Talmud, Bd. 5: Kethuboth; Nedarim; Nazir, nach der 1. zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgabe und handschriftlichen Materials neu übertragen, Nachdruck der 2. Aufl., Darmstadt 1996, S. 18.
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christlichen Theologie erkennbar: Abbild Gottes ist in erster Linie der Mann, die Frau ist Abglanz des Mannes (vgl. 1 Kor 11,7). Diese Argumentationslinie wird durch den einflussreichen Kirchenvater Augustinus (354–430) zur dominanten Auffassung der christlichen Kirchengeschichte: Der Mann ist Bild Gottes im Vollsinn, die Frau ist es nur mit dem Mann gemeinsam.34 Die vollkommene Gottebenbildlichkeit bleibt demnach dem Mann vorbehalten. Auch nach dem Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225–1274), der die christliche Theologie vom Mittelalter bis weit in die Neuzeit maßgeblich geprägt hat, stellt der Mann das vollkommene Ebenbild Gottes dar, die Frau hingegen steht dem Mann an Vernunft, Kraft und daher auch an Würde nach.35 Der Mensch sei Bild Gottes gemäß seiner Vernunftnatur, die sich im Mann wie in der Frau finde, in voller Tragweite aber nur für den Mann gelte, da dieser Ausgangspunkt und Ziel der Frau sei. Was den Islam betrifft, so machen viele traditionelle Aussagen deutlich, dass die Frauen in der Regel der Rechtleitung durch ihre Männer bedürfen. Insofern Frauen der männlichen Autorität unterworfen sind, sind sie naturgemäß weniger zur Stellvertretung Gottes geeignet. Wenn nach Sure 4, 34 die Männer den Frauen vorstehen, weil Gott sie bevorzugt hat, und sie zudem die ökonomische Sorge für die Frauen tragen, ist es einfach nachzuvollziehen, warum Frauen in der islamischen Geschichte nicht in derselben Weise wie Männer an diesem Kalifat Anteil hatten. Die Befreiung von bestimmten Verpflichtungen wie dem Freitagsgebet, die größere körperliche Unreinheit, die rechtliche Minderbewertung, die ökonomische Unselbstständigkeit und die eingeschränkte Bewegungsfreiheit reduzierten die Möglichkeiten von Frauen, ihre Rolle als Stellvertreterinnen Gottes tatsächlich auszuschöpfen. Nach klassisch-brahmanischer Auffassung sind Frauen – genauso wie die Männer der untersten Gesellschaftsschicht – vom Weg der Erkenntnis und Realisierung des ātman ausgeschlossen und besitzen daher streng genommen keine dem Mann vergleichbare Würde. Die Würde der Frau besteht im Dienst an ihrem Ehemann. Der Weg zur Befreiung aus dem weiblichen Geburtenkreislauf führt über Selbstaufgabe und Unterordnung unter den Ehemann irgendwann zum Privileg einer männlichen Wiedergeburt und erst von dort weiter zum Ziel. Da Vernunft und Erkenntnis in der hinduistischen Bhakti-Religiosität nicht im Vordergrund stehen, gilt der Mensch unabhängig von gesellschaftlicher Klasse und Geschlecht als Teilhaber/in an Gott, der mit liebender Hingabe verehrt wird. Allerdings werden daraus ganz selten Konsequenzen abgeleitet, die über den religiösen 34 Vgl. dazu Anne Jensen, Frauen im frühen Christentum, Bern/Berlin u. a. 2002, S. 229–240, mit einer Zusammenstellung von Quellentexten. 35 Vgl. Monika Leisch-Kiesl, Eva als Andere. Eine exemplarische Untersuchung zu Frühchristentum und Mittelalter, Köln/Weimar u. a. 1992, S. 136–144.
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Bereich hinaus auf die soziopolitische Gleichstellung der Geschlechter abzielen.36 Auch im Buddhismus ist das Geschlecht keineswegs irrelevant, obwohl die Geschlechtsmerkmale als prinzipiell unwesentlich und leer betrachtet werden. Im frühbuddhistischen Pali-Kanon sind zwar die Lieder der erleuchteten Nonnen erhalten, dennoch ist die Frage, ob Frauen überhaupt die Erleuchtung erlangen – also Buddha werden – können, in den diversen buddhistischen Traditionen umstritten. Die politisch-rechtliche Gleichstellung der Geschlechter, die Gleichheit an Würde und Rechten, müssen weithin als moderne Errungenschaften gelten. Religionen haben diesbezüglich erst zeitverzögert auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen reagiert. Impulse zur Gleichstellung reduzieren sich traditionellerweise meist nur auf den engen religiösen Bereich, vor allem im Sinn der Zuerkennung der gleichen Heilsfähigkeit. Beschränkt auf den Bereich der religiösen Heilslehre kann die vorherrschende hierarchische Geschlechterordnung auch außer Kraft gesetzt werden. Anstöße dafür geben das hinduistische Axiom von der Geschlechtslosigkeit des spirituellen Grundprinzips ātman im einzelnen Menschen ebenso wie die buddhistische Vorstellung von der grundsätzlichen Leerheit/Sub stanzlosigkeit der Geschlechtlichkeit und die Einheit von Frauen und Männern „in Christus“ bzw. die grundsätzlich gleiche Heilsfähigkeit von Männern und Frauen im Judentum, Christentum und Islam. Allerdings wird die angedachte Gleichheit der Geschlechter in den allermeisten Fällen nur auf die Gleichheit vor/in Gott bezogen. Bis auf wenige historische Ausnahmen haben diese Vorstellungen kein nachhaltiges sozial-emanzipatorisches Potenzial entfaltet und nicht zu einer politisch-rechtlichen Gleichstellung der Geschlechter beigetragen. Zur Forderung nach Gleichstellung/Gleichberechtigung von Frauen sind nach wie vor in allen religiösen Traditionen ambivalente Haltungen zu beobachten. Moderne Stellungnahmen argumentieren häufig mit der Gleichwertigkeit, aber Andersartigkeit der Frau – es wird zwar betont, dass Frauen prinzipiell dieselbe Würde wie Männern zukommt, aber eben im Rahmen ihrer spezifischen Fähigkeiten und gesellschaftlichen Rollen.37 In diesem Zusammenhang werden traditionell weiblich konnotierte Eigenschaften wie Opferbereitschaft, Selbsthingabe, Hilfs- und Dienstbereitschaft, Fürsorglichkeit und die Bedeutung der Mutterrolle hervorgehoben. Vielfach bleibt es daher bei konserva36 Eine interessante Ausnahme stellt die Tradition der Lin˙gāyats dar, die aus dem 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung stammt und die Gleichheit aller Menschen sowohl hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft, aber auch hinsichtlich des Geschlechts betont. Vgl. Heller, Heilige Mutter und Gottesbraut, S. 227–239. 37 Vgl. etwa das komplementäre Rollenverständnis von Mann und Frau im Apostolischen Schreiben von Papst Johannes Paul II. über die Würde und Berufung der Frau (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Johannes Paul II., Mulieris dignitatem. Über die Würde und Berufung der Frau anlässlich des Marianischen Jahres, Bonn 1988 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 86)) oder in den Schriften der modernen hinduistischen Rāmakrishna-Bewegung (dazu Heller, Heilige Mutter und Gottesbraut, S. 146 f.).
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tiven Harmonisierungsversuchen mit mehr oder weniger großen Zugeständnissen an moderne Entwicklungen. Auch mit der bedingungslosen Anerkennung und Würdigung eines Geschlechtswechsels sowie der Geschlechtervielfalt haben die meisten Religionen Probleme, nicht zuletzt deshalb, weil davon die Norm der heterosexuellen Geschlechterbeziehung tangiert ist. In den großen Religionen der Gegenwart wurde Homosexualität überwiegend negativ beurteilt und teilweise grausam verfolgt. Erst in jüngster Zeit haben sich die grundsätzlich restriktiven Einstellungen in einzelnen Richtungen – wie beispielsweise dem Reformjudentum oder dem Protestantismus – gewandelt.38 Wobei der Geschlechtswechsel die normativen Geschlechtskategorien selbst gar nicht in Frage stellt, solange er mit geschlechtlicher Vereindeutigung verbunden ist. Phänomene der Transsexualität oder des Transgender bestätigen ja häufig die kulturellen Geschlechterstereotype, indem Menschen die typischen männlichen bzw. weiblichen Eigenschaften des jeweils erstrebten Geschlechts für sich reklamieren. Was die Geschlechterordnung de facto am meisten bedroht, ist daher nicht der nach neuer Eindeutigkeit suchende Geschlechtswechsel, sondern der geschlechtliche Schwebezustand des „sowohl-als-auch“ bzw. des „weder-noch“. Wenn die Geschlechterkategorien im Spiel mit scheinbar fixen Realitäten durcheinandergeraten, beginnen sich die starren Vorstellungen einer ewigen stabilen Ordnung aufzulösen. Das ist der tiefere Grund, warum religiöse Symbole wie der androgyne Śiva Ardhanārīśvara (der „Herr, der zur Hälfte Frau ist“) aus dem hinduistischen Kontext oder die bärtige christliche Heilige Wilgefortis (auch als Heilige Kümmernis bekannt) heute viele Menschen faszinieren, überboten von zeitgenössischen Ikonen wie Conchita Wurst, die weit über den religiösen Rahmen hinausführen.
38 Vgl. etwa Barbara Kittelberger (Hg.), Was auf dem Spiel steht. Diskussionsbeiträge zu Homosexualität und Kirche, München 1993; Ruth Westheimer/Jonathan Mark, Heavenly Sex. Sexuality in the Jewish Tradition, New York 1995.
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„Gott hat uns ja so geschaffen”. Gender und Sexualität bei Musliminnen und Muslimen in Deutschland
Vorbemerkung Sexualität und Islam – das ist ein Begriffspaar, das die öffentlichen Debatten in Deutschland elektrisiert. Nicht erst seit den Übergriffen in der Silvesternacht in Köln wird gefragt: Was trägt der Islam zu problematischen Geschlechterrollen bei? Wie sehen die Geschlechterrollen und die Sexualerziehung in muslimischen Familien aus? Gibt man bei Amazon den Begriff Islam ein, werden ca. 25.000 Buchtitel angezeigt.1 Die Bandbreite der Veröffentlichungen ist zwar vielfältig, aber vor allem Bücher, die die patriarchal organisierten Geschlechterrollen in der Familie, Ehrverhalten, Kopftuchzwang, Zwangsheirat, arrangierte Ehen, Gewaltanwendung, Unterdrückung der Frau oder Homophobie thematisieren, stoßen auf das Interesse eines breiten Publikums. Trotz der intensiven und emotionalisierten öffentlichen Debatten in den zurückliegenden zehn Jahren ist das Wissen über muslimische Familien und deren Strukturen in Deutschland eher gering und häufig von stereotypen kulturalistischen Vorurteilen geprägt. Das ist umso erstaunlicher, als muslimische Familien und damit der Islam seit über 50 Jahren zumindest in den alten Bundesländern fester Bestandteil der bundesdeutschen Gesellschaft sind. In Deutschland leben mittlerweile ca. vier Millionen Menschen, die dem islamischen Glauben zugerechnet werden. Mit 2,5 Millionen Personen ist die Gruppe am größten, deren Migrationsgeschichte mit der Türkei verbunden ist. Die zweitgrößte Gruppe sind die 400.000 Menschen, die aus dem Nahen Osten, beispielsweise aus Syrien, Irak und dem Libanon kommen. In dieser Zahl sind noch nicht die Hunderttausende von muslimischen Flüchtlingen enthalten, die 2015 und 2016 aus dieser Region geflüchtet sind. Rund 74,1 Prozent der Musliminnen und Muslime in Deutschland sind sunnitisch, 12,7 Prozent alevitisch und 7,1 Prozent schiitisch.2 1 Vgl. URL: https://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_noss?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C 3%95%C3%91&url=search-alias%3Dstripbooks&field-keywords=islam&rh=n%3A186606%2Ck%3Aislam (Stand 18.7.2018). 2 Vgl. URL: http://www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/EN/Magazin/Lebenswelten/ZahlenDatenFakten/ZahlMLD/zahl-mld-node.html (Stand 28.3.2019).
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Die muslimische Bevölkerung in Deutschland ist also alles andere als eine homogene Gruppe. Sie unterscheidet sich nach Glaubensrichtungen, nach regionaler und sozialer Herkunft und nach weltanschaulicher Verankerung. Neben konservativ-autoritären stehen religiöse Familien ebenso wie säkulare und moderne Familien. Entsprechend unterschiedlich sind die Sozialisationsbedingungen für die Kinder und Jugendlichen. An diesem Punkt unterscheiden sich muslimische Familien übrigens gar nicht so sehr von Familien der Mehrheitsgesellschaft. Auch da macht es einen großen Unterschied, ob Kinder in einer katholisch-fundamentalen Familie in Altötting, einer evangelikal-homophoben Familie in Baden-Württemberg oder einer mehr oder minder säkularen Familie in Düsseldorf aufwachsen, in der die konfessionelle Bindung nicht viel mehr als ein schwaches kulturelles Erbe ist. Bevor im Folgenden die muslimischen Familien thematisiert werden, sei an dieser Stelle nur kurz darauf verwiesen, dass sexuelle Selbstbestimmung, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die rechtliche Gleichstellung zwischen Mann und Frau auch in Deutschland relativ junge gesellschaftliche Fortschritte sind. Das Verbot von Homosexualität wurde in der Bundesrepublik z. B. erst 1994 vollständig abgeschafft3, die Vergewaltigung in der Ehe ist gar erst seit 1998 strafbar4, und das Züchtigungsrecht der Eltern wurde ebenfalls erst 1998 im Zuge der Reform des Kindschaftsrechts5 für unzulässig erklärt. Um bei der Betrachtung der Geschlechterrollen und Sexualerziehung in muslimischen Familien den notwendig differenzierteren Zugang sicherzustellen, wird zunächst kurz der methodische Zugang der Studie erläutert, der diesem Text zugrunde liegt. Anschließend wird das Konzept der Ehre vorgestellt, da es für das Verständnis der Sexualmoral und Geschlechterrollen relevant ist. Der Schwerpunkt des Beitrags wird sich im Weiteren den Erziehungsstilen und den Erziehungszielen von zwei Familientypen zuwenden – zum einen der konservativ-autoritären Familie, zum anderen der religiösen Familie. Anschließend wird in beiden Familientypen der Umgang mit Sexualität näher betrachtet. Basierend auf diesen Erkenntnissen werden im letzten Teil des Textes pädagogische Schlussfolgerungen für die Praxis formuliert.
3 Vgl. URL: http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/180263/24-jahre-homosexualitaet-straffrei (Stand 28.3.2019). 4 Vgl. URL: https://www.zeit.de/1997/21/ehe.txt.19970516.xml/komplettansicht (Stand 28.3.2019). 5 Vgl. Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (Hg.), Das Kindschaftsrecht. Fragen und Antworten zum Abstammungsrecht, zum Recht der elterlichen Sorge, zum Umgangsrecht, zum Namensrecht, zum Kindesunterhaltsrecht und zum gerichtlichen Verfahren, Berlin 2017.
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1. Der methodische Zugang Um Daten und Informationen über muslimische Familien zu erheben, wurden zwei unterschiedliche Zugangsformen gewählt. Zunächst wurden Untersuchungen über muslimische Familien ausgewertet und dabei Publikationen aus Deutschland und anderen Ländern (vor allem aus der Türkei) berücksichtigt. Darüber hinaus sollten Menschen mit muslimischem Glauben selbst zu Wort kommen. Dabei sollten vor allem die Innensichten in Deutschland lebender Menschen mit muslimischem Glauben auf das eigene Familienleben rekonstruiert werden. Bei den 28 geführten Interviews mit 22 Familien und insgesamt 61 Befragten im Alter von 14 bis 69 Jahren stellte sich heraus, dass die Befragten sehr unterschiedliche Wertvorstellungen, Erziehungsmuster sowie politische und religiöse Werte vertreten. Daher bot es sich an, Familien mit ähnlichen Mustern und Strukturen in Gruppen zusammenzufassen. Dabei ist zu beachten, dass diese Familientypen nicht statisch sind und viele Überschneidungen existieren. Es gibt auch Familien, die keinem der Typen zugeordnet werden können.6 Letztlich haben sich die vier Familientypen: konservativ-autoritäre Familien, religiöse Familien, leistungsorientierte Familien und moderne Familien rekonstruieren lassen. Um den Rahmen nicht zu sprengen, lassen wir im Nachfolgenden die leistungsorientierten und modernen Familien außer Acht und konzentrieren uns auf die Erziehungsmuster, den Erziehungsstil und die Geschlechterrollen in konservativ-autoritären Familien sowie auf Aspekte religiöser Erziehung und Sozialisation in religiösen Familien, um dieser Frage und den Wechselbeziehungen zwischen Glaube und Geschlecht möglichst direkt nachgehen zu können. In beiden Familientypen betrachten wir hierzu Aspekte der Sexualerziehung. Die Konzentration auf die konservativ-autoritäre und die religiöse Familie basiert dabei auf der Annahme, dass diese aufgrund ihrer konservativen Haltung hinsichtlich Erziehung und Geschlechterrollen eine für die Fragestellung des Beitrages sowie für die pädagogische Praxis besonders relevante Gruppierung darstellen.
6 Die Daten stammen aus der Studie von Ahmed Toprak, Unsere Ehre ist uns heilig. Muslimische Familien in Deutschland, Freiburg i. Br./Basel u. a. 2012. Die Studie befasste sich mit viel diskutierten Themen wie Zwangsheirat, Ehrenmorde, Geschlechterrollen und Ausgrenzung homosexueller Menschen im Zusammenhang mit dem islamischen Glauben und der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Hauptziel der Studie war, die subjektiven Erfahrungswerte der Befragten zu erfassen und die kulturelle Vielfalt wie auch die unterschiedlichen Erziehungsstile, Wertorientierungen und Rollenbilder aufzuzeigen, um gängigen Vorurteilen und Stereotypen über muslimische Familien entgegenzuwirken.
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2. Der Begriff der Ehre Einige wichtige Begrifflichkeiten, die das familiäre Zusammenleben, die Geschlechterrollen, Erziehung und Sexualmoral vor allem in konservativen und religiösen Familien auf unterschiedliche Art und Weise prägen und auch in der Praxis von zentraler Bedeutung sind, sollen hier erläutert werden. Ehre beinhaltet vier voneinander untrennbare Werte. Die vier Bestandteile – şeref (Ansehen), namus (Ehre), saygı (Respekt, Achtung) und onur (Würde) – werden definiert und erläutert. Im Vergleich zu namus (Ehre) ist şeref (Ansehen) ein Wert, der variabel ist. Er wird als ein Rang für Dienste an der Gesellschaft verwendet. Um in der Gesellschaft eine anerkannte Stellung zu erhalten, muss man Reife, Erfolge und gute Taten vorweisen können. Positive Verhaltensweisen in der Gesellschaft, wie Hilfsbereitschaft, Integrität oder Ehrlichkeit, erhöhen das Ansehen eines Individuums, während negative Eigenschaften, wie Lügen oder Stehlen, das Ansehen des Individuums vermindern. Şeref muss mühsam durch gute Taten und eine positive Lebensweise erarbeitet werden. Ob Männer und Frauen gleichermaßen şeref besitzen, ist umstritten. Laut İlhan Kızılhan7 besitzen fast ausschließlich Männer şeref, da dieser Wert nur in den öffentlichen und politischen Beziehungen, welche die Männer unterhalten, eine Rolle spiele. In einer anderen Auslegung8 wird şeref als ein positiver und universeller Wertebegriff für beide Geschlechter definiert. Während şeref erst im Erwachsenenalter erreicht werden kann, ist namus (Ehre) ein Wert, den alle besitzen und der auch nicht durch Eigeninitiative vermindert oder gesteigert werden kann. Namus kann man hingegen durch Angriffe von außen verlieren, etwa wenn beispielsweise ein Außenstehender einen Angehörigen der Familie, in den meisten Fällen eine Frau, belästigt oder angreift. Ein Mann gilt als ehrlos, wenn er dann nicht bedingungslos und entschieden seine Angehörigen verteidigt. Der zweite und zentrale Teil von namus betrifft die Sexualität. Namus regelt nicht nur die Beziehung nach innen und außen, sondern bestimmt auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Namus bedeutet für Mann und Frau Unterschiedliches: Für die Frau, dass sie bis zur Ehe ihre Jungfräulichkeit bewahrt und auch während der Ehe treu bleibt. Die namus eines Mannes hängt vor allem vom Verhalten seiner Frau ab: Männer müssen die Sexualität ihrer Frauen (Ehefrauen, Töchter und Schwestern) kontrollieren und besitzen Ehre, wenn ihre Kontrolle sozial anerkannt ist.9 Ein anderer wichtiger Begriff für die Ehre ist saygı (Achtung, Respekt). In der Familienhierarchie werden ältere Brüder mit abi (großer Bruder) und ältere Schwestern 7 Vgl. İlhan Kızılhan, Ehrenmorde. Der unmögliche Versuch einer Erklärung, Berlin 2006, S. 84 ff. 8 Vgl. Ahmet Toprak, Integrationsunwillige Muslime? Ein Milieubericht, Freiburg i. Br. 2010, S. 37 ff. 9 Werner Schiffauer, Die Gewalt der Ehre. Erklärungen zu einem türkisch-deutschen Sexualkonflikt, Frankfurt a. M. 2002, S. 69 ff.
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mit abla (große Schwester) angesprochen. Verwandte dürfen nicht einfach beim Vornamen genannt werden, sondern mit dem Zusatz Onkel, Tante oder großer Bruder etc. Diese Anreden werden in der Regel auch für ältere Fremde, also nicht der Familie angehörende Personen verwendet. Auch die durchgeführten Interviews zeigen, dass unabhängig von Bildungsgrad, Geschlecht und Generation die Werte Respekt und Achtung als unantastbare Säulen der konservativ-autoritären Familien akzeptiert und adaptiert werden. Im Vergleich zu den ersten drei Begriffen ist onur (Würde) abstrakter und auch schwer messbar. Onur ist eine innere Haltung des Individuums, die nicht nach außen, sondern nach innen gerichtet ist. Lale Yalçın-Heckmann beschreibt diesen Begriff wie folgt: „Spricht man von der Würde (onur) einer Person, so versteht man darunter den inneren Respekt und Werte, zu denen sich ein Individuum anders als im Fall des Ehrbegriffes şeref selbst bekennt und mit denen es sich im Notfall gegen eine Verurteilung durch die Gesellschaft oder gegen Interventionen des Staates verteidigen kann.“10 Der Begriff onur hat also im Unterschied zu den ersten drei Begriffen eine individuelle Bedeutung. Denn bei şeref, namus und saygı ist die Bewertung und Anerkennung der Gemeinde, von Bekannten oder Freunden ausschlaggebend.
3. Erziehung und Geschlechterrollen in konservativ-autoritären Familien11 Im Folgenden werden Muster geschlechtsspezifischer Erziehung sowie der Aufteilung in Geschlechterrollen innerhalb konservativ-autoritärer Familien nachgezeichnet. Um den Erziehungsstil und die geschlechtsspezifische Rollenaufteilung in diesen Familien darzustellen, wird exemplarisch eine Familie vorgestellt. Familie Bin Al-Saud im Profil
Die Familie stammt ursprünglich aus dem Landkreis von Aleppo, einer der größten Städte Syriens. Die Mutter der Familie (Ulima) kommt im Rahmen der Familienzusammenführung als Zwölfjährige 1975 nach Deutschland; ihre Eltern leben seit 1968 hier. Unmittelbar nach der Einreise besucht Ulima eine Hauptschule in Berlin, beendet diese jedoch nicht. Sie verfügt über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Ulima arbeitet in einem arabischen Supermarkt in Berlin als Aushilfe und verdient 400 Euro. Als sie 19 Jahre alt ist, heiratet sie 1982 den Nachbarssohn Fadi, der aus derselben Gegend 10 Lale Yalçın-Heckmann, Einige Gedanken zu den drei türkischen Ehrbegriffen namus, şeref und onur, in: Türkei-Programm der Körber Stiftung (Hg.), Ehre und Würde, Hamburg 2000, S. 143–154, hier: S. 149 f. 11 Alle vorgestellten Interviewauszüge in diesem und in den darauffolgenden Kapiteln stammen aus Toprak, Unsere Ehre ist uns heilig.
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Syriens stammt wie sie. Fadi ist 1960 geboren und kommt 1973 mit seinen Eltern nach Berlin. Auch er besucht eine Hauptschule, die er aber erfolgreich abschließt. Da sich seine Eltern gegen eine Lehre aussprechen, entscheidet sich Fadi dazu, eine Anstellung bei einer Baufirma anzunehmen, in der er bis heute als Dachdecker arbeitet. Ulima und Fadi haben drei gemeinsame Kinder. Das älteste Kind kommt 1988 zur Welt, der Sohn Khalid. Er besucht nach der Grundschule eine Realschule, in der er überfordert ist. Daraufhin wird er in die Hauptschule zurückgestuft, beendet sie erfolgreich und macht eine Ausbildung zum Maurer. 1992 kommt das zweite Kind der Familie Bin Al-Saud zur Welt: Donia, die nach der Grundschule eine Realschule besucht und auch erfolgreich abschließt. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Donia im dritten Ausbildungsjahr zur Zahnarzthelferin. Das jüngste Kind, Hira, ebenfalls ein Mädchen, wird 1999 geboren und besucht zum Zeitpunkt des Interviews die fünfte Klasse einer Schule in Berlin-Wedding. Beim Interview mit der Familie fällt auf, dass bestimmte Grenzüberschreitungen, die von den Kindern begangen werden, mit Strafen, Härte und gegebenenfalls mit Gewalt wie beispielsweise Ohrfeigen oder Schlägen geahndet werden. Da Respekt, Gehorsam und Unterordnung gegenüber den Eltern von Familien des konservativ-autoritären Typus im Mittelpunkt der Erziehung stehen, wird eine solche Bestrafung durch die Eltern von den Kindern akzeptiert. Dies spiegelt sich in einem ausführlichen Auszug aus dem Interview mit Ulima: „Also, ich denke, dass eine anständige Erziehung der Kinder sehr, sehr wichtig ist. Die Kinder müssen viele Dinge lernen, die ich für wichtig halte. Sie müssen sich z. B. anständig verhalten, wenn Eltern da sind. Sie müssen vor Eltern und anderen älteren Verwandten Respekt haben. Sie sollen nicht laut sein, wenn der Vater spricht. Die Mädchen müssen sich draußen anständig verhalten, nicht auffallen und pünktlich zu Hause sein … Ich denke schon, dass Jungen und Mädchen anders sind. Gott hat uns ja so geschaffen. Wir müssen sehen, dass die Mädchen und Jungen anders sind, die haben von der Natur unterschiedliche Aufgaben bekommen. Deshalb müssen wir auch Mädchen und Jungen anders erziehen und behandeln und bestrafen, damit sie ihre Aufgaben machen können. Wie die Mädchen und Jungen werden, liegt in der Erziehung der Eltern. Wenn die Eltern nicht anständig sind, dann werden die Kinder auch nicht anständig … Wenn bestimmte Sachen nicht klappen, wenn die Kinder nicht auf die Mutter oder auf den Vater hören, dann finde ich es nicht schlimm, wenn du dem Kind eine Ohrfeige gibst. Ich habe ab und zu mal eine Ohrfeige bekommen, das hat mir auch nicht geschadet … Wenn Eltern ihre Kinder bestrafen, wollen sie doch was Gutes. Wenn ich meine Kinder nicht bestrafe, dann denken sie, es ist mir alles egal, es ist mir aber nicht egal“.12 (Ulima)
12 Toprak, Unsere Ehre ist uns heilig, S. 61 f.
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Erziehungsstil und Erziehungsziele
Wie eingangs betont, migrierten viele Zugewanderte aus der Türkei und den arabischen Ländern aus wirtschaftlich schwachen Regionen ihrer Herkunftsländer bzw. aus Krisenregionen. Massenarbeitslosigkeit, Armut, Analphabetismus und eine wenig entwickelte Infrastruktur bestimmen das Leben dort auch heute noch. Die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern ist in derartigen Milieus häufig geprägt durch Aspekte wie Autorität und Respekt. Offene Zornesäußerungen werden weder gegenüber Eltern noch gegenüber anderen Autoritätspersonen, wie z. B. Lehrkräften, toleriert. Das Kind hat gehorsam zu sein und die von den Eltern übertragenen Aufgaben sorgfältig zu erfüllen, ohne große Erläuterungen und Gegenfragen. Die Eltern haben hier Anspruch auf Achtung, die die Beziehungen zwischen den Personen nach Alter und Geschlecht regelt. Wenn die Älteren – in unserem Kontext die Eltern – keine Achtung von den Kindern erfahren, haben die Jüngeren – die Kinder – kein Recht auf Liebe. Diese beiden Begriffe sind in diesem Typus nicht voneinander zu trennen. Wichtige Entscheidungen in Bezug auf die Kinder werden von den Eltern getroffen, da angenommen wird, dass die Kinder dazu nicht in der Lage sind. Das gilt auch im höheren Alter, wenn es z. B. um die Eheschließung geht. Die Eltern haben, soweit sie Kenntnisse darüber haben, Einfluss auf die Schul- und Berufsausbildung. Ein anderes Indiz für die Dominanz der Eltern ist, dass sie an Entscheidungen festhalten, auch wenn sie innerlich nicht hundertprozentig davon überzeugt sind. Wenn sie von einer getroffenen Entscheidung abrücken würden, würde dies – zumindest von ihnen selbst – als Schwäche gewertet. Häufig geht dieser Erziehungsstil mit einem geringen Bildungsniveau der Eltern einher, oft hat der Vater nur eine einfache Schule wie z. B. die Hauptschule besucht, manchmal ohne Abschluss. Unter den Müttern gibt es viele, die keine weiterführende Schule besucht oder abgeschlossen haben. Auch Analphabetismus kommt im Setting vor. Die Erziehung zu Respekt, Gehorsam, Höflichkeit, Ordnung und gutem Benehmen hat für die in Deutschland lebenden Menschen mit muslimischem Glauben, die den konservativ-autoritären Familien zugeordnet werden, immer noch einen hohen Stellenwert. Die Kinder werden von klein auf nach diesen traditionellen Wertvorstellungen und zu einer entsprechenden Haltung gegenüber ihren Eltern, älteren Geschwistern und anderen Verwandten sowie außerhalb der Familie gegenüber pädagogisch Tätigen und religiösen Geistlichen erzogen. Kinder dürfen ihre Eltern, ältere Geschwister, Onkel und Tanten nicht mit dem Vornamen ansprechen, sie sollen in Gegenwart der Eltern schweigsam sein, den Höherstehenden – vor allem in der Öffentlichkeit – nicht widersprechen.13 Auch erwachsene Söhne und Töchter dürfen in Anwesenheit der Eltern nicht rauchen und 13 Vgl. Toprak, Integrationsunwillige Muslime, S. 40.
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keinen Alkohol konsumieren. Respekt bedeutet in diesem Kontext, sich gegenüber den Autoritäten loyal, gehorsam und unterordnend zu verhalten. Nach Çiğdem Kağıtçıbaşı14 ist es das Ziel dieser Erziehung, die familiären Bindungen zu festigen und einen auf das Funktionieren der Familie gerichteten Orientierungssinn für das gesellschaftliche Leben zu entwickeln, der sich viel mehr aus der Tradition ergibt und nicht religiös begründet ist. Das Erziehungsziel Ehrenhaftigkeit spielt im Erziehungsalltag der konservativ-autoritären Familien neben der Erziehung zu ‚Respekt vor Autoritäten‘ eine zentrale Rolle. Vereinfacht dargestellt, geht es hierbei um die Beachtung der Grenze zwischen Innenund Außenwelt und die geschlechtsspezifische Ausrichtung der Ehre. Traditionell gibt es eine klare Grenze zwischen dem Bereich der Familie, ‚Innen‘, und der Außenwelt. Auch in Deutschland wird von konservativ-autoritären Familien sehr darauf geachtet, diese Grenze nicht zu überschreiten. Vor allem den männlichen Kindern wird sehr früh vermittelt, auf etwaige Grenzüberschreitungen sofort und entschieden zu reagieren, z. B. ihre (jüngeren) Geschwister zu verteidigen, um nach außen ein geschlossenes Bild abzugeben. Da in Deutschland das vertraute soziale Umfeld nicht in dem Maße existiert wie in den Herkunftsländern und der Schutz der einzelnen Familienmitglieder das oberste Prinzip ist, gewinnt dieses Erziehungsziel noch an Bedeutung.15 Auch ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit wird von Eltern an Kinder weitervermittelt. Wie schon bei der Ehrenhaftigkeit deutlich wurde, ist das Zusammenhalten der Familie in der Migration von zentraler Bedeutung, weil die in den Herkunftsländern üblichen sozialen Netzwerke in Deutschland fehlen. Somit ist dieses Erziehungsziel im Zuge der Migration entstanden, weil Eltern dadurch die innerfamiliäre Bindung, die sie in der Migration gefährdet sehen, festigen wollen. Die in der deutschen akademisch orientierten Mittelschicht verbreiteten Erziehungsziele (Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein, Kritikfähigkeit, Toleranz, Selbstbestimmung etc.), die auch bei leistungsorientierten und modernen Familien zentral sind, spielen hier kaum eine Rolle.16
14 Vgl. Çiğdem Kağıtçıbaşı/Diane Sunar, Familie und Sozialisation in der Türkei, in: Bernhard Nauck/Ute Schönpflug (Hg.), Familien in verschiedenen Kulturen, Stuttgart 1997, S. 145–161, hier: S. 151 ff. (= Der Mensch als soziales und personales Wesen 13). 15 Vgl. Aladin El-Mafaalani/Ahmet Toprak, Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland. Lebenswelten, Denkmuster, Herausforderungen, Sankt Augustin/Berlin 2011, S. 48 ff. 16 Vgl. ebd.
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4. Geschlechtsspezifische Erziehung, oder: Erziehung zur Männlichkeit und Weiblichkeit In konservativ-autoritären Familien beginnt die Sozialisation in die Geschlechterrollen bereits vor der Geburt eines Kindes. Für die Geschlechter gelten jeweils unterschiedliche Werte und Erwartungen. Ulima beschreibt diese Vorphase: „Wir haben ja sechs Jahre auf unser erstes Kind gewartet. Der Arzt konnte nicht genau sagen, aber er meinte, es wird ein Junge. Wir haben uns sehr gefreut … Mein Mann hat sich mehr gefreut. Er wollte unbedingt einen Sohn haben. Wir haben dann für ihn alles gekauft: Autos, Bagger, Hosen und so weiter. Dann hat mein Mann gesagt, er wird unsere Familie und den Familiennamen weiterführen. Es war alles geplant.“17 Das Kind wird in einen Kontext vorgeformter Werte und geschlechtsspezifischer Erwartungen hineingeboren. Es unterliegt schon bald einem teils unterschwelligen, teils offensichtlichen Druck, sich in seine durch die Gesellschaft und die Eltern definierte geschlechtsspezifische Rolle zu fügen. Die Eltern konservativ-autoritärer Familien gewähren ihren Söhnen mehr Freiheit und erlauben ihnen mehr Aggressivität, während sie von den Töchtern Abhängigkeit und Ergebenheit erwarten. Für beide Geschlechter gilt, dass sie nicht zur Unabhängigkeit ermutigt werden. Die Praxis der geschlechtsspezifischen Erziehung wird im Folgenden weiter anhand des Beispiels von Khalid und Donia beschrieben. Khalid und seine Erziehung
Da sich Khalid zunächst (von der Geburt bis zum Grundschulalter) in der häuslichen Umgebung aufhält, sind seine wichtigsten Bezugspersonen die Mutter und die Großmutter. Bereits mit dem fünften bzw. sechsten Lebensjahr ist sein Verhältnis zur Mutter bzw. zur Großmutter zwiespältig: „Bei Khalid war es schon schwer. Wir haben sechs Jahre gewartet, dann war es auch ein Junge. Am Anfang hatte ich ihn viel bei mir. Oder die Oma hatte ihn. Aber irgendwann muss man den Jungen auch loslassen. Es ist nicht immer einfach. Loslassen und man möchte ihn wieder umarmen. Das ist ganz schön schwer. Du darfst den Jungen auch nicht zwingen. Wenn er das macht, ist es gut. Wenn nicht, dann ist das bei Jungen nicht so schlimm. Das kann er später lernen.“18 (Ulima) Die Beziehung ist einerseits noch von körperlicher Zärtlichkeit geprägt, andererseits wird von beiden Seiten diese Körperlichkeit abgelehnt. Kleinere Aufforderungen, wenn er z. B. die Mutter zum Einkaufen begleiten soll, appellieren an seinen freien Willen. Er soll ihnen zwar nachkommen, aber außer einem Tadel geschieht ihm nichts, wenn er sich verweigert. Auch wenn die Mutter und die Großmutter noch die Hauptbezugspersonen 17 Toprak, Unsere Ehre ist uns heilig, S. 66. 18 Ebd., S. 67.
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des Jungen sind, wird die Zuordnung zum Vater forciert: „Irgendwann muss der Junge ja lernen, was es ist, ein Mann zu sein. Deshalb muss er mit dem Vater rausgehen. Er muss schauen, was draußen los ist. Er muss alles kennen. Auch andere Stadtteile und so weiter.“19 (Fadi) Im Grundschulalter verfestigt sich Khalids geschlechtsspezifische Erziehung, und weitere Differenzierungen der Rollenmuster werden erlernt. „Also, ich meine, irgendwann muss sich der Junge endlich von Frauen lösen. Er muss sich Sachen bei seinem Vater und anderen Männern angucken. Irgendwann ist ein Junge mit zwölf oder dreizehn in Frauengruppen nicht mehr akzeptiert … Natürlich bin ich für meinen Sohn da. Aber draußen ist mein Mann für ihn zuständig, drinnen aber ich. Ich koche, mache Wäsche und schaue, ob er sauber ist.“20 (Ulima) Die Orientierung des Jungen am männlichen Geschlecht wird von Ulima forciert, die Hauptkontaktperson des Jungen wird der Vater. Die Mutter tritt nur im Haus als Erziehungsperson in Erscheinung. Im Gegensatz zur Autorität des Vaters ist die der Mutter angreifbar, da sie nach diesem Konzept kein männliches Geschlechtsbild vermitteln kann. Donia und ihre Erziehung
In der Vorschulphase hält sich Donia genau wie ihr Bruder in der unmittelbaren Nähe der Mutter und der Großmutter auf, die aber auch danach die Hauptbezugspersonen des Mädchens bleiben. Der Aufenthaltsort von Donia ändert sich nicht, der räumliche Bezug bleiben das Haus und die nähere Umgebung. „Bei Mädchen muss man besser aufpassen. Sie muss immer zu Hause bleiben. Also, ich meine, das Mädchen soll nur rausgehen, wenn das nicht anders geht. Kleine Mädchen dürfen sowieso nicht alleine rausgehen. Wenn ich oder meine Mutter andere Familien besuchen, ja, dann nehmen wir sie mit. Dann kann sie wissen, wer die Leute oder Verwandte sind.“21 (Ulima) Donia kommt nur sehr eingeschränkt mit der Außenwelt in Kontakt: sie begleitet die Mutter zu Besuchen bei Verwandten oder Nachbarn. Im Gegensatz zu Khalid werden Donias Kontakte über die Mutter vermittelt und berühren in erster Linie die Nachbarschaft, Bekannte und die Verwandtschaft. Während die Mutter Khalid bei der Neuorientierung am männlichen Geschlecht ohne Strenge positiv unterstützt, wird die Festigung der weiblichen Geschlechterrolle bei Donia mit mütterlicher Strenge überwacht und begleitet: Hier bleibt die Autorität der Mutter unangreifbar, und Ungehorsam wird bestraft. In dieser Phase wird die Tochter gelegentlich zu kleinen Arbeiten im Haushalt herangezogen, z. B. zum Aufräumen. Auch soll sie lernen, sich in Anwesenheit 19 Ebd., S. 68. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 69.
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anderer ruhig zu verhalten und nicht zu sprechen, außer es wird etwas gefragt. Zudem wird jedem Mädchen prinzipiell die Aufgabe der Fürsorge für jüngere Geschwister übertragen; diese Verantwortung wird dem Jungen in der Regel nicht gegeben. In den Interviews wird deutlich, dass sich bei Konflikten zwischen Ulima und Donia der Vater einschaltet, indem er sie durch ein Machtwort beendet. In vielen Fällen droht Ulima ihrer Tochter mit dem Vater, führt aber die Disziplinierungsmaßnahmen selbst durch. Während die Ehre bei Khalid kämpferische Eigenschaften verlangt, so erfordert sie bei Donia Schamhaftigkeit und Körperbeherrschung. Da der Vater sich aus der geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung von Donia weitgehend heraushält, ist die VaterTochter-Beziehung freundlich. Zur dargestellten geschlechtsspezifischen Erziehung muss Folgendes hervorgehoben werden: Die Lebensgewohnheiten, Traditionen und Denkmuster ländlich-provinzieller Herkunftsorte geraten in der Migration immer wieder auch in Konflikt mit den in Deutschland erlebten Orientierungsmustern und Normen. Dies wiederum führt oftmals dazu, dass umso stärker an jenen Werten und Traditionen festgehalten wird, die als weniger fremd bzw. als ‚eigene‘ erlebt bzw. gedeutet werden und gleichsam realisierbar erscheinen. Beispielsweise kann die Erziehung in die Geschlechterrollen in der traditionellen Form in der deutschen Gesellschaft nicht eins zu eins umgesetzt werden. So modifizieren die Jugendlichen oftmals diese traditionellen Formen und entwickeln gewissermaßen ‚neue‘, aber aus den alten abgeleitete Denkmuster und Orientierungen.22
5. Sozialisation und Erziehung in religiösen Familien Als primäre Sozialisationsinstanz trägt die Familie maßgeblich zur kulturell-religiösen Identifikation ihrer Kinder bei. Sie ist genuiner Ort der religiösen Erziehung, in der erste transzendentale Bezugspunkte geschaffen werden, welche die religiöse Identität festigen und damit junge Menschen über Jahre prägen. Besonders im Kontext einer Migrationssituation ist die (religiöse) Identität ein zentrales Thema, auf das sich junge Menschen in verschiedenen Alltagssituationen beziehen. Dies zeigt sich vor allem bei muslimischen Jugendlichen, für die laut der Shell-Jugendstudie von 2015 der Glaube an Gott eine wichtige Wertorientierung darstellt, welche sich ebenso in der Erziehungshaltung ihrer Eltern widerspiegelt.23 Für einen Großteil muslimischer Familien geht die Erziehungsfrage stark mit der Vermittlung religiöser Werte, Normen und Rituale einher. Es gibt 22 Vgl. El-Mafaalani/Toprak, Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland, S. 48 ff. 23 Vgl. Thomas Gensicke, Die Wertorientierungen der Jugend (2002–2015), in: Shell Deutschland Holding (Hg.), Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch, Frankfurt a. M. 2015, S. 237–272, hier: S. 255.
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zahlreiche Untersuchungen, die die Bedeutung der religiös-traditionellen Erziehung und der religiösen Zugehörigkeit für muslimische Familien hervorheben. Eine dieser Untersuchungen ist die im Jahr 2011 veröffentlichte Studie „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“. Die Mehrgenerationenbefragung von Personen aus der ersten bis dritten Generation türkischstämmiger Musliminnen und Muslime kam zu dem Ergebnis, dass generationenübergreifend bei allen Befragten ein deutlicher Bezug zur muslimischen Identität existiert. Die Bedeutung der religiösen Zugehörigkeit lässt sich laut Studie daran ablesen, „dass die muslimische Zugehörigkeit im täglichen Leben sowie in Einstellungen und Wahrnehmungen präsent ist.“24 Dabei spielt weder die tatsächliche Ausübung der Religion, noch die Stärke der Religiosität eine Rolle. Die Probandinnen und Probanden definieren das Muslim-Sein als wichtigen Teil ihrer Person. Einer der Befragten der zweiten Generation gibt zudem an, dass der Islam für ihn eine wichtige Wertorientierung ist. Er beschreibt dies wie folgt: „… Die Religion beinhaltet Ratschläge, und diese Ratschläge kannst du kaum von solchen unterscheiden, die man in der Familie bekommt. Ich meine, die Religion ist Moral, die Religion, so wie wir sie sehen, nicht wie sie Außenstehende sehen, ist ein Auftrag, ist das Prinzip des Lebens und des täglichen Verhaltens. Wir werden in der Religion erzogen und sie bedeutet soziale Regeln. Wir haben keine 10 Gebote, unser Leben besteht aus Geboten. Alles ist mit der Religion verbunden …“.25 Auch Ahmet Toprak kommt in seiner im Jahr 2012 erschienenen Studie „Unsere Ehre ist uns heilig. Muslimische Familien in Deutschland“, zu ähnlichen Ergebnissen. Toprak führte Interviews mit mehreren muslimischen Familien durch und fand ebenfalls heraus, dass sowohl die religiöse Identität wie auch die religiöse Erziehung und Sozialisation sehr bedeutend für muslimische Familien sind. Eine von ihnen ist die Familie Karatepe, deren Familienvater die Bedeutung der religiösen Erziehung wie folgt beschreibt: „Ich bin schon über siebzig Jahre alt, und ich lebe schon vierzig Jahre in Deutschland. Ich bin immer religiös gewesen. Da, wo wir herstammen, ist Religion sehr wichtig. Ich würde schon sagen, dass ich für die Religion lebe. Die Sache mit der Religion ist noch intensiver geworden, nachdem ich mit der Arbeit aufgehört habe. Meine Kinder habe ich anständig, also nach den Regeln unserer Religion, erzogen. Meine Kinder erziehen ihre Kinder nach denselben Vorgaben … Religiöse Erziehung bedeutet, dass die Kinder die Pflichten eines Moslems kennen und umsetzen. Diese Pflichten sind z. B. Beten, Fasten, Almosen geben und natürlich die muslimischen Feste … Das ist in Deutschland nicht immer gut möglich. Aber es geht trotzdem ganz gut.“26 24 Wolfgang Frindte/Klaus Boehnke u. a. (Hg.), Lebenswelten junger Muslime in Deutschland. Ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland, Berlin 2011. 25 Ebd., S. 85 f. 26 Ebd., S. 77.
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Für den Familienvater der Familie Karatepe ist Religion nicht nur persönlich sehr bedeutend und richtungsweisend, sondern auch ein sehr zentrales Thema in der Erziehung. Religiöse Erziehung im Islam bedeutet für ihn vor allem die Vermittlung der fünf Säulen, die beiden Geschlechtern gleichermaßen vermittelt werden: „Sahada (die Annahme des Islam als Religion), salat (das täglich fünfmal zu verrichtende Ritualgebet), zakat (Almosensteuer), saum (das Fasten im Monat Ramadan) sowie die Wallfahrt nach Mekka. Außerdem gehören zur religiösen Erziehung der Familie das Feiern der islamischen Feiertage, des Opfer- und Zuckerfests.“27 Eine weitere Studie, die die Bedeutung der religiösen Identifikation und Zugehörigkeit aufzeigt, ist die TIES-Teilstudie aus dem Jahr 2015. Die Ergebnisse der Studie bestätigen die Erkenntnisse von Frindte, Boehnke u. a. (2011) und Toprak (2012). Die Untersuchung zeigt, dass mehr als 90 Prozent der Türkischstämmigen der zweiten Generation sich als Musliminnen und Muslime identifizieren. Ferner geben neun von zehn Befragten an, dass sie muslimisch erzogen wurden.28 Die Priorität der religiösen Zugehörigkeit und Identifikation zeigt sich laut Studie auch daran, dass der Islam für die türkischstämmigen Befragten mehr Identifikationspotenzial bietet als das Christentum für die Vergleichsund Kontrollgruppe: „… Islam offers much more identification potential for the respondents of Turkish descent than Christianity does for the respondents with a Yugoslavian background or those from the control group.“29 Warum der Islam oder das Muslimsein ein wichtiges Identifikationspotenzial hat, könnte das Leben in der Diaspora begründen. Laut Waldmann sind in der Diaspora die meisten Menschen einem „inhärenten Dualismus“ ausgesetzt, der sich in einer Identitäts- sowie Zugehörigkeitsproblematik äußert. Während die einen dies als Chance nutzen, verschiedene Ansichten, Lebensweisen und Wertestrukturen, denen sie im Alltag begegnen, miteinander zu kombinieren, empfinden andere dies als fortdauernde Last und Strapaze.30 Letztere klammern sich aus diesem Grund umso mehr an einen festen Identifikationspunkt oder eine absolute Wahrheit, um eine klare Vorstellung zu haben, wohin sie gehören. Unterstützung finden sie dabei in ihren religiösen und/oder kulturellen Gemeinschaften. Wie bedeutend in diesem Zusammenhang die Moscheevereine sind, macht der Familienvater der Familie Karatepe wie folgt deutlich: „Was in Deutschland nicht gut ist, 27 Ebd., S. 78. 28 Inken Sürig/Maren Wilmes, The Integration of the Second Generation in Germany. Results of the TIES Survey on the Descendants of Turkish and Yugoslavian Immigrants, Amsterdam 2015, S. 142 f. 29 Ebd. 30 Vgl. Peter K. Waldmann, Entfremdet und gewaltbereit. Wie sich Muslime in der Diaspora radikalisieren, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014, S. 333–355.
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es gibt keine richtigen Schulen, um die Sachen richtig zu lernen. Es gibt hier einige Vereine oder Moscheen, die machen das schon. Aber da sind nicht immer die richtigen Lehrer, die das machen. Aber trotzdem haben früher meine Kinder diese Moscheen besucht, und jetzt besuchen meine Enkelkinder diese Einrichtungen. In der Türkei ist das schon besser. Da wissen die Lehrer auch besser Bescheid … Man kann hier in Deutschland auch sehr gut zu Hause beten. Aber es ist trotzdem besser, wenn man eine Gemeinde hat, wo man sich mit Gläubigen austauschen kann. Natürlich ist es auch besser, wenn die Kinder nicht nur zu Hause religiös erzogen werden, sondern auch in der Moschee … Ich finde mittlerweile in Deutschland gut, dass viele Moscheen gebaut werden können. Früher haben wir uns in Häusern gesammelt. Jetzt können wir uns auch richtig in der Moschee treffen. Das ist natürlich gut für uns Alte, aber auch gut für unsere Kinder und Enkelkinder.”31 Durch das regelmäßige Aufsuchen kulturell-religiöser Zentren, wie den Moscheevereinen, sollen Kinder und Jugendliche mehr über die Inhalte ihrer Religion sowie über ihre Pflichten als Muslimin und Muslim kennenlernen, weshalb die familiäre Anbindung an eine religiöse Gemeinde ein ebenso wichtiger Akt der religiösen Sozialisation ist. Laut Ceylan erfüllen Moscheegemeinden als multifunktionale Zentren neben alltäglichen Gottesdiensten und soziokulturellen Funktionen verschiedene profane und sakrale Aufgaben.32 Hier treffen Familien nicht nur auf Gleichgesinnte, sondern werden in ihrer Erziehungshaltung und Werteorientierung institutionell bestärkt. Durch verschiedene Angebote, wie z. B. den Wochenendunterricht, werden religiöse Werte und religiöses Grundlagenwissen institutionell vertieft sowie der religiöse Sozialisationsprozess der Kinder und Jugendlichen, die sich immer mehr mit den vermittelten religiös-kulturellen Werten identifizieren sollen, verstärkt.33 Eine gelungene Erziehung wird demnach daran gemessen, wie sehr die nachfolgende Generation die religiösen Werte internalisiert hat, den Glauben selbstständig praktizieren kann und ihn an die nächste Generation weitergibt.34 Ebenso bedeutend wie die Vermittlung der fünf Säulen sind die religiösen Feste, welche ähnlich wie bei den christlichen Feiertagen wie Weihnachten, Ostern etc. kulturellen Charakter haben und auch teils von solchen mitgefeiert werden, die sich als nicht-religiös definieren. Dennoch sind die muslimischen Feste trotz ihres kulturellen Charakters sehr stark mit den religiösen Pflichten verknüpft. Beispielsweise wird durch das Ramadanfest (auch Zuckerfest genannt) die Fastenzeit beendet, während das Opferfest den Abschluss 31 Toprak, Unsere Ehre ist uns heilig, S. 77. 32 Rauf Ceylan, Cultural Time Lag. Moscheekatechese und islamischer Religionsunterricht im Kontext von Säkularisierung, Wiesbaden 2014, S. 163. 33 Vgl. El-Mafaalani/Toprak, Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland, S. 58 f. 34 Vgl. Hacı-Halil Uslucan, Islamische Erziehung in Familien mit Zuwanderungsgeschichte, in: Peter Antes/ Rauf Ceylan (Hg.), Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen, Wiesbaden 2017, S. 209–225.
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der Pilgerfahrt bedeutet. Sowohl das Zuckerfest, als auch das Opferfest sind die beiden bedeutendsten religiösen Feste im Islam, wie auch bedeutende soziale Ereignisse. Der Vater der Familie Karatepe beschreibt dies wie folgt: „Während der Feiertage verbringt man viel Zeit mit der Familie, die Jüngeren besuchen die Älteren. Die ganze Familie geht in die Moschee und betet. Wenn man mit jemandem Streit hat oder es Ärger gab, ist das Fest ein guter Anlass, sich wieder zu versöhnen … Es ist wichtig, diese Tradition an unsere Kinder und Enkelkinder weiterzugeben.“35 Die Feiertage bieten dem Familienvater zufolge wichtige Gelegenheiten, um familiäre und soziale Kontakte zu pflegen, zusammenzukommen, gemeinsam zu beten und Streitigkeiten und Konflikte beizulegen. Dies sieht die älteste Tochter der Familie Karatepe ähnlich und hebt die Bedeutung dieser Feste in der Erziehung ihrer Kinder hervor: „Hier in Deutschland haben die Eltern eine große Aufgabe. Sie müssen das Fest ihren Kindern sehr gut erklären und auch feiern. Sonst vergessen die Kinder sehr schnell, welche Bedeutung solche Feste haben. Meine drei Kinder wissen gut Bescheid, weil mein Mann und ich dahinterstehen.“36 Die Vermittlung klarer religiöser Regeln, Werte und Normen erfüllt demnach eine identitäts- und sinnstiftende Funktion. Uslucan ist ferner der Ansicht, dass die Vermittlung dieser Werte und Normen auch eine politische sowie sozialpsychologische Funktion erfüllt, indem sie ihm zufolge Orientierungsrahmen und Ausdruck des Selbstbewusstseins einer Gruppe sind, innerhalb derer Anomie überwunden und erfahrene Zurückweisung kompensiert wird.37
6. Sexualität und Sexualerziehung in konservativ-autoritären und religiösen Familien38 Bei der Sexualmoral ist der Großteil der muslimischen Eltern relativ konservativ eingestellt. Der Begriff der sexuellen Aufklärung wird auf den Geschlechtsverkehr reduziert, die körperliche und sexuelle Entwicklung eines Menschen oder Geschlechtskrankheiten werden weniger beachtet. Sie sind der Ansicht, dass die Aufklärung über eine gute Freundin/einen guten Freund oder die große Schwester/den großen Bruder laufen soll. Diejenige Art der sexuellen Aufklärung, bei der nur das gesagt wird, was sich nicht vermeiden lässt, ist in Milieus mit strenger Sexualmoral üblich. Die Aufgabe wird aufgrund 35 36 37 38
Toprak, Unsere Ehre ist uns heilig, S. 77. Ebd., S. 78. Vgl. Uslucan, Islamische Erziehung in Familien mit Zuwanderungsgeschichte, S. 211. Dieses Kapitel beruht auf der Veröffentlichung von Ahmet Toprak, Türkeistämmige Mädchen in Deutschland. Erziehung, Geschlechterrollen, Sexualität, Freiburg i. Br. 2014.
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von Scham und Respekt an ältere Geschwister oder Freunde delegiert. Die Aufklärung ist eine reine Informationsweitergabe, wobei mögliche Fragen der Kinder beantwortet werden sollen. Bei den Jungen wird die sexuelle Aufklärung auf den Geschlechtsakt in der Hochzeitsnacht reduziert. Da es bei den Jungen keine Menstruation gibt, wird auf eine frühe Thematisierung verzichtet. Die Eltern gehen davon aus, dass die Kinder sich im digitalen Zeitalter über das Internet oder die Medien informieren, was begrüßt wird. Dadurch müssen die Eltern tabuisierte und schambesetzte Themen nicht ansprechen. In Bezug auf voreheliche Sexualität sind die Eltern streng konservativ, was das weibliche Geschlecht betrifft. Bei den Jungen sind sie nicht einheitlich gegen voreheliche sexuelle Erfahrungen. Als Grund für die strenge Auslegung wird immer wieder das Ansehen des Mädchens in Verbindung mit weiblicher Ehre angeführt. Voreheliche sexuelle Erfahrungen werden bei den Mädchen vehement abgelehnt, weil das Ehrkonzept von ihnen erwartet, dass sie als Jungfrau in die Ehe eingehen. Dies muss in bestimmten Milieus sogar anhand der Bettlaken nachgewiesen werden. Da bei den Jungen ein solches Ritual nicht existiert und sexuelle Erfahrungen biologisch schwer nachweisbar wären, werden diese bei ihnen geduldet. Die konservativen Milieus haben diese Einstellung internalisiert, sie wollen, dass die Töchter sich entsprechend verhalten und befürworten eine soziale Kontrolle durch die Familie und das soziale Umfeld. Konservative und religiöse Eltern sind der Meinung, dass beide Geschlechter vor der Eheschließung zurückhaltend sein sollten. Die Mädchen werden in dieser Frage benachteiligt, oder umgekehrt formuliert: Den Jungen werden aufgrund des strengen Ehrkonzepts mehr Freiheiten eingeräumt. Bei konservativen Mädchen und jungen Frauen ist Sexualität ein tabuisiertes Thema, das nur mit sehr engen Freundinnen, denen sie uneingeschränkt trauen, besprochen werden kann. Denn Sexualität ist eine intime Angelegenheit zwischen zwei Personen, ist mit Scham und Respekt konnotiert und kann deshalb nicht in Anwesenheit von Autoritätspersonen (Eltern etc.) öffentlich thematisiert werden. Die innerfamiliäre Erziehung trägt dazu bei, dass die konservativen Mädchen und Frauen nicht lernen, angemessen über dieses Thema zu reden. Nach Auswertung der einschlägigen Literatur39 kristallisieren sich drei zentrale Gründe heraus, warum Eltern das Thema Sexualität vermeiden und dies an ihre Kinder weitergeben. 1. In konservativen Familien wird traditionell nicht über Sexualität geredet. Die Eltern geben im Grunde diese Tradition an ihre Kinder weiter, weil sie selbst nicht gelernt haben, angemessen darüber zu reden. Diese elterliche Unsicherheit zeigt sich auch daran, dass die Sexualerziehung auf den Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau reduziert wird. Vor allem im Biologieunterricht in der Schule erfahren die Kinder, dass 39 Vgl. Menekşe Çağlıyan, Sexuelle Normvorstellungen und Erziehungspraxis von türkischen Eltern der ersten und zweiten Generation in der Türkei und in Deutschland, Berlin/Münster u. a. 2006.
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Sexualerziehung nicht darin besteht zu vermitteln, wie Mädchen bzw. Jungen sich beim Geschlechtsakt zu verhalten haben, was in konservativen Milieus immer wieder fälschlicherweise angenommen wird. 2. Die elterliche Unsicherheit zeigt, dass Scham eine zentrale Rolle im Kontext von Sexualität und sexueller Aufklärung spielt. Die Eltern haben selbst nicht gelernt, in geeigneter und angemessener Art und Weise darüber zu sprechen. Wenn Sexualität ein Thema ist, dann ist es peinlich, weil diese in der Alltagssprache der Familie nicht bzw. selten vorkommt. Es wird als respektlos empfunden, wenn intime Anliegen in Anwesenheit von Autoritätspersonen thematisiert werden. Wie bereits oben betont, hat die Erziehung zu Respekt, Gehorsam, Höflichkeit, Ordnung und gutem Benehmen für die in Deutschland lebenden konservativen Familien immer noch einen hohen Stellenwert. Thematisieren die Kinder in Anwesenheit der Eltern als intim geltende Bereiche, z. B. Sexualität, untergraben sie die Autorität des Vaters bzw. der Mutter. Sexualität wird auf den Geschlechtsverkehr und auf die Genitalien reduziert. 3. Ein weiterer Grund für die Tabuisierung der Sexualität innerhalb der Familie ist, dass die Eltern befürchten, die Neugierde und das Interesse ihrer Kinder, vor allem die der Töchter, zu wecken. Dem widersprechen Erkenntnisse aus der Pädagogik und Psychologie, denen zufolge Reglementierungen oder Verbote erst recht das Interesse der Kinder oder Heranwachsenden wecken. Vor allem wird die Rolle der Medien und Peers von den Eltern unterschätzt, wenn sie glauben, dass ihre Töchter durch Tabuisierung oder Reglementierung unwissend bleiben und sich somit für Sexualität nicht interessieren.40 Mädchen und Jungen informieren sich aufgrund des veränderten medialen Zugangs früh und umfassend, was bei der ersten und zweiten Generation in dieser Form nicht möglich war. Aber die Kinder verheimlichen in der Regel dieses Wissen, um ihre Eltern nicht zu verunsichern.
7. Pädagogische Konsequenzen Einschlägige Untersuchungen zeigen, dass die Bedingungen des Heranwachsens bei Jugendlichen, die eine familiäre Migrationsgeschichte mit türkischem oder arabischem Hintergrund aufweisen, in vielen Fällen ungünstiger sind, als die von Jugendlichen ohne eine derartige Migrationserfahrung.41 Es sind vor allem die sozialen Rahmenbedingungen, 40 Vgl. Toprak, Türkeistämmige Mädchen in Deutschland, S. 57. 41 Vgl. El-Mafaalani/Toprak, Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland, S. 6.
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die zusammen mit ungünstigeren schulischen und beruflichen Chancen dieser Migrantenkinder, die überwiegend in Kontexten aufwachsen, in denen der Islam eine mehr oder weniger bedeutsame Rolle spielt, eine besonders große Bedeutung für das Auftreten von abweichendem Verhalten haben. In diesem Zusammenhang ist eindeutig festzustellen, dass in der öffentlichen Wahrnehmung von Muslimen und Musliminnen die Jungen eher wahrgenommen werden als die Mädchen. Mit Blick auf die hier zugrunde liegende Studie lässt sich feststellen: Da die Mädchen im Kontext der dargestellten Familien in Bezug auf ihre Freizeit in der Regel stärker reglementiert werden, orientieren sie sich tendenziell nach innen. D. h. ihre Hauptbezugspersonen sind überwiegend Familienmitglieder, Verwandte und einige den Eltern bekannte Freundinnen. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass sie ‚angepasster‘ und unauffälliger erscheinen, weil sie diese eingeschränkten Bedingungen für sich ins Positive ummünzen: In der Schule sind sie beispielsweise erfolgreicher und erwerben öfter das Abitur als Jungen. Da Jungen in der Tendenz intensiver als Mädchen nach außen orientiert sind, fallen sie stärker – nicht nur mit ihren Stärken, sondern auch mit ihren Problemen – auf. In der Studie, die auf die Heterogenität von Sozialisationsprozessen in muslimischen Familien verweist und diese mit dem Fokus auf pädagogische Implikationen reflektiert, erscheint die Berücksichtigung folgender zentraler Punkte bedeutungsvoll: a) Elternkooperation: Das Hauptaugenmerk ist auf die Elternarbeit zu richten. Ohne die konkrete Unterstützung der Eltern kann wenig erreicht werden, weil konservative und religiöse Migrantenfamilien anders organisiert sind als leistungsorientierte und moderne Familien. Beispielsweise sind Berufs- bzw. Schulentscheidungen keine individuellen Belange der Kinder, sondern werden in erster Linie von den Eltern vorgegeben. Hier ist es außerdem von großer Bedeutung, die Eltern als Kooperationspartner zu gewinnen, ohne ihnen das Bild zu vermitteln, in Erziehungsfragen versagt zu haben. b) Ressourcenorientierte Arbeit: In der konkreten Arbeit mit dieser Zielgruppe ist es zu empfehlen, ressourcenorientiert zu arbeiten, das heißt, nicht die Schwächen der Zielgruppe in den Vordergrund zu stellen, sondern ihre Stärken. Insbesondere durchaus positive Werte wie Solidarität und Loyalität können einen Ansatzpunkt bieten, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Ferner erscheint es sinnvoll, mit ausgewählten Vorbildern aus der eigenen Community zu arbeiten. c) Interkulturelle Kompetenz: Um die Jugendlichen und deren Eltern bei gezielten Erziehungsfragen adäquat beraten zu können, sollte hinsichtlich Fragen der interreligiösen und interkulturellen Kompetenz umfassend und gezielt geschult werden. Die zentralen Ziele sollten sein: vorurteilsfrei und wertbewusst mit Familien auf Augenhöhe zu kommunizieren, wertschätzend in Bezug auf die Religion und/oder Kultur zu agieren.
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d) Ausbau der Angebote – Ganztagsschulen: Die pädagogischen Institutionen sind gerade deshalb von besonderer Bedeutung, weil ‚benachteiligte‘ Migrantenfamilien ihren Kindern beim schulischen Lernen und bei der sozialen Etablierung nur wenig helfen können. Sie kennen sich nur schlecht mit dem Schul- und Ausbildungssystem aus, verstehen häufig nicht die pädagogischen Ziele und überschätzen die Funktion der Schule in Deutschland. Das führt dazu, dass die Eltern pädagogische Verantwortung umfassend an Schulen, Lehrkräfte und andere Pädagoginnen oder Pädagogen abtreten, was die Fachkräfte ihrerseits dann häufig als Desinteresse deuten. Das deutsche Schulsystem ist kaum in der Lage, adäquat auf die Lebensumstände der Kinder einzugehen, da es zu stark von einer historisch gewachsenen Normalitätsannahme (deutsche Mittelschichtfamilie) ausgeht.42 Entsprechend machen Migrantenjugendliche seltener als ihre Altersgenossen höhere Schulabschlüsse, verlassen das Schulsystem deutlich häufiger ohne Abschluss und haben entsprechend auch größere Probleme beim Übergang von der Schule in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Ohne systematische Kommunikation und Kooperation zwischen Institutionen und Eltern und ohne den Ausbau echter Ganztagsschulen, von denen bildungsbenachteiligte Milieus erwiesenermaßen profitieren, wird dieser ‚Teufelskreis‘ vermutlich nicht durchbrochen. e) Etablierung und Ausbau von Integrationskursen: Auch wenn die Kosten dafür als zu hoch angesehen werden können, empfiehlt es sich, die Etablierung der Integrationskurse von Deutschkursen zu trennen. Einerseits würde diese Trennung den Stellenwert der Integration erhöhen. Andererseits werden Integrationsmaßnahmen besser verstanden, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bereits Deutsch gelernt haben, denn der Integrationskurs soll erst nach dem Besuch des Sprachkurses erfolgen. Neben den gängigen Inhalten – die deutsche Gesellschaftsordnung, Demokratieverständnis etc. – sollen folgende Themen in den Integrationskursen behandelt werden: Zum einen Geschlechterrollen und Sexualität: In konservativen und bildungsbenachteiligten Familien unter den Geflüchteten ist Sexualität ein absolutes Tabuthema. Die Eltern sind unsicher, wie sie mit ihren Kindern angemessen darüber reden sollen. Die elterliche Unsicherheit zeigt, dass im Kontext von Sexualität Scham eine zentrale Rolle spielt. Wenn Sexualität ein Thema ist, dann ist es peinlich, weil diese in der Alltagssprache der Familie nicht bzw. selten vorkommt. Die Tabuisierung trägt dazu bei, dass sich in erster Linie bei Männern – aber auch bei Frauen – eine verfälschte und überholte Einstellung zur Sexualität und zu den Geschlechterrollen verfestigt, wie z. B. in der Silvesternacht in Köln und anderen großen deutschen Städten in extremer Form sichtbar wurde. Die Teilnahme 42 Vgl. Annelie Knapp-Potthoff, Interkulturelle Kommunikationsfähigkeit als Lernziel, in: Dies./Martina Liedke (Hg.), Aspekte interkultureller Kommunikationsfähigkeit, München 1997, S. 181–205, hier: S. 181 ff. (= Reihe interkulturelle Kommunikation 3).
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an Sport-, Sexual- und Schwimmunterricht hat mit der Besonderheit einer bestimmten Kultur oder Religion nichts zu tun, wie die Studie von Haug aus dem Jahre 200943 feststellt. Demnach erlaubt der Großteil der etablierten muslimischen Eltern ihren Kindern die Teilnahme am Schwimm-, Sexual- und Sportunterricht, obwohl sie gläubige Musliminnen und Muslime sind. Deshalb ist davon auszugehen, dass das Interesse an Sexualität und der Reflexion der Geschlechterrollen auch bei jungen Geflüchteten vorhanden ist, wenn die angemessene Methode angewendet wird. Zum anderen Stärkung der sozialen Kompetenzen: Bei gewalttätigen und gewaltbereiten jungen Menschen – analog zu den Ereignissen in Köln – fehlen in erster Linie die sogenannten Grundkompetenzen, wie z. B. die sozialen, kommunikativen, kooperativen und konfrontativen Kompetenzen. Um diese Kompetenzen zu stärken und andere Konfliktlösungsstrategien kennenzulernen, muss mit dieser Zielgruppe ein Soziale-Kompetenz-Training durchgeführt werden. In einem solchen Training wird beispielsweise mit Rollenspielen gearbeitet, um gewünschtes Verhalten modellhaft aufzuzeigen und prosoziales Verhalten zu verstärken. Empathisches Verstehen wird z. B. durch die Konfrontation mit der Opferperspektive versucht zu fördern. Schließlich Reflexion der traditionellen Werte: Wie die Praxis und wissenschaftliche Untersuchungen belegen, operieren viele etablierte Jugendliche und junge Geflüchtete sehr stark mit traditionellen Männlichkeitsbildern z. B. zu Freundschaft oder Ehre. Wenn die Jungen und jungen Männer danach gefragt werden, welche Bedeutung diese Werte haben, können viele dazu keine Stellung beziehen. Die Begriffe werden unreflektiert übernommen, ohne sich z. B. mit dem tiefen Sinn der Ehre auseinandergesetzt zu haben. Damit die Jugendlichen diese Werte reflektieren und hinterfragen lernen, muss eingangs in den Integrationskursen und im Anschluss in der Schule, in Bildungseinrichtungen oder in der Jugendarbeit dieses Thema auf die Tagesordnung kommen. Dadurch können Pädagoginnen und Pädagogen und Jugendliche voneinander lernen und ihre Vorurteile reflektieren, revidieren oder in Frage stellen.
43 Vgl. Sonja Haug/Stephanie Müssig u. a., Muslimisches Leben in Deutschland. Im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz, Nürnberg 2009 (= Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Forschungsbericht 6).
ANHANG
Abkürzungsverzeichnis ADB Allgemeine Deutsche Biographie APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte ARG Archiv für Reformationsgeschichte Aufl. Auflage/n Bd./Bde. Band/Bände bearb./Bearb. bearbeitet/Bearbeiter/in BK APU Bekennende Kirche der Altpreußischen Union bpk Bildagentur Preußischer Kulturbesitz bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise c./ca. circa DBK Deutsche Bischofskonferenz EKD Evangelische Kirche Deutschlands erw. erweitert/e/er/es Ev.-Luth. Evangelisch-Lutherisch/e/er/es HAB Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte LASA Landesarchiv Sachsen-Anhalt LSBTTIQ Sammelbegriff für Menschen, die sich als lesbisch, schwul, bisexell, transsexuell, transgender, intersexuell oder queer verorten NDB Neue Deutsche Biographie o. D. ohne Datum o. J. ohne Jahr o. O. ohne Ort r recto (Vorderseite eines Quellentextes) SLUB Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek u. a. und andere v verso (Rückseite eines Quellentextes) WA D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), 120 Bde., Weimar 1883–2009
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WA BR D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Briefe WA TR D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Tischreden ZHF Zeitschrift für historische Forschung zus. zusammen
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Bildnachweise Umschlagabbildung: bpk, Bild-Nr. 00008956 Abb. 1: Kunstsammlung Veste Coburg, Inventarnummer I,6,42 Abb. 2: HAB Wolfenbüttel, Signatur Li 5530 Sammlung Hardt (39, 675,1) Abb. 3: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Graphische Sammlung, Inventarnummer HB 24563, Kapsel-Nr. 1238 Abb. 4: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Lutherhaus Wittenberg, Signatur grfl IId 583 Abb. 5: Jost Amman, Das Ständebuch. Sammlung von Holzschnitten, Frankfurt am Main 1568 (Nachdruck, Leipzig 1938), S. 27 Abb. 6: SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, Fotograf Adolf Loos, Original im Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Inventarnummer A 1918–297 Abb. 7: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Signatur Kirch. G. qt. 894, Bl. [A]r Abb. 8: Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur Gh 788.4, Bl. [A]r Abb. 9: Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur 4 Asc. 965 h, Bl. [A]r, urn: nbn:de:bvb:12-bsb10982504–9 Abb. 10: Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Signatur 4 ° Bud. Hist. eccl. 276 b (17a), Bl. [A]r Abb. 11: Evangélikus Országos Levéltár/Zentralarchiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn, Archivum Generalis Ecclesiae, Signatur EOL AGE, I a 1; 10, mit freundlicher Genehmigung Abb. 12: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Signatur Theol. qt. K. 542 Abb. 13: Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Bildarchiv und Grafiksammlung, Porträtsammlung, Inventarnummer PORT_00130167_02, URL: http://data.onb.ac.at/ rec/baa8372178 (Stand 26.3.2019) Abb. 14: Thieleman Jansz van Braght (Hg.), Het bloedig toneel, of Martelaersspiegel der Doops-Gesinde of Weerloose Christenen …, Teil 2, Amsterdam 21685, S. 143 Abb. 15: Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung Abb. 16: Evangelisches Zentralarchiv, Berlin, Bestand 246 (Konvent evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland e. V.) EZA_500_246_34978 Abb. 17: Evangelisches Zentralarchiv, Berlin, Bestand 246 (Konvent evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland e. V.) EZA_500_246_34976 Carola Barth Abb. 18: Evangelisches Zentralarchiv, Berlin, Bestand 246 (Konvent evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland e. V.) EZA_500_246_34693 Abb. 19: Archiv des Katholischen Deutschen Frauenbundes e. V. (KDFB), Köln, Bild K-F1/00301
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ANHANG
Abb. 20: Archiv des Katholischen Deutschen Frauenbundes e. V. (KDFB), Köln Abb. 21: Archiv des Katholischen Deutschen Frauenbundes e. V. (KDFB), Köln Tafel 1: The State Hermitage Museum, St. Petersburg, Inventarnummer ГЭ-742, © The State Hermitage Museum, Fotograf Vladimir Terebenin Tafel 2: Kulturstiftung Dessau-Wörlitz, Bildarchiv, Originalausstattung Schloss Mosikgau [Mos-10], Fotograf Heinz Fräßdorf Tafel 3: Privatbesitz, mit freundlicher Genehmigung von Hildegard Kiel, Fotograf Henning Kramer Tafel 4: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg, Graphische Sammlung, Inventarnummer MP 15845 Tafel 5: Stadtgeschichtliches Museum, Leipzig, Inventarnummer Kirchliche Kunst Nr. 24, Fotograf Christoph Sandig Tafel 6: bpk/Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Inventarnummer 628A, Fotograf Jörg P. Anders Tafel 7: bpk/Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Inventarnummer 628B, Fotograf Jörg P. Anders Tafel 8: Städel Museum Frankfurt am Main, Bildnummer 20285, © Städel Museum – ARTOTHEK Tafel 9: Staatsbibliothek Bamberg, Signatur VI G 155 Tafel 10: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Lutherhaus Wittenberg Tafel 11: Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, Lutherhaus Wittenberg Tafel 12: Museum Weißenfels, Schloss Neu-Augustusburg, mit freundlicher Genehmigung Tafel 13: Digitalisat der Universitäts- und Landesbibliothek Halle, URL: http://digitale. bibliothek.uni-halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:1–202632 (Stand 26.3.2019) Tafel 14: Sammlung S. D. des Fürsten zu Stolberg-Wernigerode, Hirzenhain, Inventarnummer B I 147, Fotograf Henning Groll, Büdingen Tafel 15: Museum Catharijneconvent, Utrecht, Inventarnummer Sch. 380, Fotograf Ruben de Heer Tafel 16: Privatbesitz, Fotografin Birgit Heller Tafel 17: Privatbesitz, Fotografin Dorina Heller
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Auswahlbibliographie Akkuş, Umut, Prävention gegen religiös motivierte Radikalisierung in Schule und Jugendhilfe, in: Heidi Al brecht/Matthias Dargel u. a. (Hg.), #religionsundkultursensibel. Perspektiven für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in evangelischen Kontexten, Leipzig 2018, S. 407–412 Albrecht, Christian/Hauschild, Eberhard (Hg.), Pfarrhausbilder. Literarische Reflexe auf eine evangelische Lebensform, Tübingen 2017 (= Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 22) Amir-Moazami, Schirin, Dialogue as a Governmental Technique. Managing Gendered Islam in Germany, in: Feminist Review 98 (2011), S. 9–27 Amir-Moazami, Schirin, Islam and Gender in Europe. Subjectivities, Politics and Piety, in: Feminist Review 98 (2011), S. 1–8 Amir-Moazami, Schirin, Islam und Geschlecht unter liberal-säkularer Regierungsführung – Die Deutsche Islam Konferenz, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 37 (2009), S. 185–205 Amir-Moazami, Schirin, Reaffirming and Shifting Boundaries. Muslim Perspectives on Gender and Citizen ship, in: Yearbook of Sociology of Islam 6 (2006), S. 209–233 Amirpur, Katajun, Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, München 2013 Amirpur, Katajun, Scharia und Gender – Geschlechtergerechtigkeit und islamischer Feminismus, in: Gabriele Münnix (Hg), Wertekonflikte und Wertetraditionen. Ethik in Zeiten der Globalisierung, Nordhausen 2013, S. 101–118 (= Studien zur interkulturellen Philosophie 21) Angenendt, Arnold, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 22000 Arnold, Patrick M., Männliche Spiritualität. Der Weg zur Stärke, München 1994 Asendorf, Ulrich, Lectura in Biblia. Luthers Genesisvorlesung (1535–1545), Göttingen 1998 (= Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 87) Bainton, Roland H., Frauen der Reformation. Von Katharina von Bora bis Anna Zwingli. 10 Porträts, Gütersloh 1995 Beyer, Michael, Luthers Ehelehre bis 1525, in: Martin Treu (Hg.), Katharina von Bora, die Lutherin. Aufsätze anläßlich ihres 500. Geburtstages, Wittenberg 1999, S. 59–82 Bieler, Andrea, Konstruktionen des Weiblichen. Die Theologin Anna Paulsen im Spannungsfeld bürgerlicher Frauenbewegungen der Weimarer Republik und nationalsozialistischer Weiblichkeitsmythen, Gütersloh 1994 Bieler, Andrea/Söderblom, Kerstin, Segnungsgottesdienste für gleichgeschlechtliche Paare, in: Siegfried Keil/ Michael Haspel (Hg.), Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in sozialethischer Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2000, S. 83–98 Böhnert, Silvia, Multikonfessionalität als dynastisches Problem im Haus Nassau um 1600. Die konfessionsverschiedene Ehe zwischen Johann Ludwig von Nassau-Wiesbaden-Idstein und Maria von Nassau-Katzenelnbogen, in: Heide Wunder/Alexander Jendorff u. a. (Hg.), Reformation – Konfession – Konversion. Adel und Religion zwischen Rheingau und Siegerland im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2017, S. 245–276 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 88) Braght, Thieleman Jansz van, Het Bloedig Tooneel, of Martelaars-Spiegel der Doops-Gesinde of Weereloose Christenen, Dordrecht 1660 (Amsterdam 21685) Bräuer, Siegfried, Katharina – evangelische Landesherrin in Sachsen (1487–1561), in: Yves Hoffmann/Uwe Richter (Hg.), Herzog Heinrich der Fromme (1473–1541), Beucha 2007, S. 107–130 Breul, Wolfgang, Ehe und Sexualität im Radikalpietismus, in: Ders./Lothar Vogel u. a. (Hg.), Der radikale Pietismus. Zwischenbilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2010, S. 403–418 (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 55)
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ANHANG
Eckholt, Margit, Ökumenische Herausforderung. Frauen in kirchlichen Ämtern in der römisch-katholischen Kirche, in: Ökumenische Rundschau 66 (2017), S. 477–489 Eckholt, Margit/Wendel, Saskia (Hg.), Aggiornamento heute. Diversität als Horizont einer Theologie der Welt, Ostfildern 2012 El-Mafaalani, Aladin/Toprak, Ahmet, Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland. Lebenswelten, Denkmuster, Herausforderungen, Sankt Augustin/Berlin 2011 Emich, Birgit/Wieland, Christian (Hg.), Kulturgeschichte des Papsttums in der Frühen Neuzeit, Berlin 2013 Epprecht, Marc, Sexual and Social Justice in Africa. Rethinking Homophobia and Forging Resistance, London 2013 Erhart, Hannelore (Hg.), Lexikon früher evangelischer Theologinnen, Neukirchen-Vluyn 2005 Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (Hg.), Zum Bilde Gottes geschaffen. Transsexualität in der Kirche, Darmstadt 2018 Exum, Cheryl, Fragmented Women. Feminist (sub)versions of biblical narratives, Sheffield 2015 Fabiny, Tibor, Martin Luthers letzter Wille. Das Testament des Reformators und seine Geschichte, Berlin 1983 (Budapest 32017) Fingerhut-Säck, Mareike, Das Gottesreich auf Erden erweitern. Einführung und Festigung des Pietismus durch das Grafenpaar Sophie Charlotte und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode in seiner Grafschaft (1710–1771), Halle 2019 Fingerhut-Säck, Mareike, Stolberg-Wernigerode, Sophie-Charlotte zu (1695–1762), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar u. a. 2016, S. 352–356 Förstemann, Karl Eduard, D. Martin Luther’s Testamente aus den Jahren 1537 und 1542, nebst urkundlichen Nachrichten über des letzteren Vollstreckung im Jahr 1546 und über Luther’s Wittwe und Kinder. Zur dritten Säcularfeier des Todes Luther’s …, Nordhausen 1846 Franke, Edith/Maske, Verena, Religionen, Religionswissenschaft und die Kategorie Geschlecht/Gender, in: Michael Stausberg (Hg.), Religionswissenschaft, Berlin/Boston 2012, S. 125–149 Frassek, Ralf, Eherecht und Ehegerichtsbarkeit in der Reformationszeit. Der Aufbau neuer Rechtsstrukturen im sächsischen Raum unter besonderer Berücksichtigung der Wirkungsgeschichte des Wittenberger Konsistoriums, Tübingen 2005 (= Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und Staatskirchenrecht 78) Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen (Hg.), „Darum wagt es, Schwestern …“. Zur Geschichte evangelischer Theologinnen in Deutschland mit Beiträgen von Andrea Bieler, Hannelore Erhart u. a., Neukirchen-Vluyn 1994 (= Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert 7) Frauenforschungsprojekt zur Geschichte der Theologinnen, Göttingen (Hg.), Querdenken. Beiträge zur feministisch-befreiungstheologischen Diskussion. Festschrift für Hannelore Erhart zum 65. Geburtstag, Pfaffenweiler 21993 (= Theologische Frauenforschung – Erträge und Perspektiven 1) Freist, Dagmar, Glaube – Liebe – Zwietracht. Religiös-konfessionell gemischte Ehen in der Frühen Neuzeit, Berlin/Boston 2017 (= bibliothek altes Reich 14) Frindte, Wolfgang/Boehnke, Klaus u. a. (Hg.), Lebenswelten junger Muslime in Deutschland. Ein sozial- und medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland, Berlin 2011 Funke, Anja, „Kanzelstürmerinnen“. Die Geschichte der Frauenordination in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens von 1945 bis 1970, Leipzig/Berlin 2011 (= Leipziger Theologische Beiträge 5) Gäde, Katrin, Anhalt-Zerbst, Margareta (Margarethe) von (1473–1530), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar u. a. 2016, S. 87 f. Gause, Ute, Dekonstruktion der Reformation?, in: Evangelische Theologie 74 (2014), Heft 2, S. 87–95
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Uslucan, Hacı-Halil, Islamische Erziehung in Familien mit Zuwanderungsgeschichte, in: Peter Antes/Rauf Ceylan (Hg.), Muslime in Deutschland. Historische Bestandsaufnahme, aktuelle Entwicklungen und zukünftige Forschungsfragen, Wiesbaden 2017, S. 209–225 Valerio, Adriana, Madri del Concilio. Ventitré Donne al Vaticano II, Rom 2012 Veltmann, Claus/Ruhland, Thomas (Hg.), „Mit göttlicher Güte geadelt“. Adel und Hallescher Pietismus im Spiegel der Fürstlichen Sammlungen Stolberg-Wernigerode, Halle 2014 (= Kataloge der Franckeschen Stiftungen 31) Vögele, Wolfgang, Theologie und Homosexualität. Ein Gutachten zu Homosexualität, zur Segnung gleichgeschlechtlicher Paare und zum Leben gleichgeschlechtlicher Paare im Pfarrhaus, URL: https://wolfgangvoegele.files.wordpress.com/2016/02/homosexualitc3a4t-endgc3bcltig-april-2014.pdf (Stand 26.3.2019) Waldmann, Peter K., Entfremdet und gewaltbereit. Wie sich Muslime in der Diaspora radikalisieren, in: Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamischfundamentalistischen Bewegung, Bielefeld 2014, S. 333–355 Wallmann, Johannes, Der Pietismus, Göttingen 2005 Walter, Tilmann, Unkeuschheit und Werk der Liebe. Diskurse über Sexualität am Beginn der Neuzeit in Deutschland, Berlin/New York 1998 (= Studia Linguistica Germanica 48) Weaver-Zercher, David L., Martyrs Mirror. A Social History, Baltimore 2016 Wendebourg, Dorothea, Die alttestamentlichen Reinheitsgesetze in der frühen Kirche, in: Dies., Die eine Christenheit auf Erden. Aufsätze zur Kirchen- und Ökumenegeschichte, Tübingen 2000, S. 1–22 Westphal, Siegrid, Frau und lutherische Konfessionalisierung. Eine Untersuchung zum Fürstentum Pfalz- Neuburg 1542–1614, Frankfurt a. M./Bern u. a. 1994 Wiesner-Hanks, Merry E., Der lüsterne Luther. Männliche Libido in den Schriften des Reformators, in: Jens Flemming/Pauline Puppel u. a. (Hg.), Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, S. 179–195 (= Kasseler Semesterbücher 14) Wiesner-Hanks, Merry E., Women and the Reformation. Reflections on Recent Research, in: History Compass 2 (2004), S. 1–27 Williams, George H., The Radical Reformation, Kirksville/Missouri 31992 Witt, Christian Volkmar, Luthers Reformation der Ehe als kulturgeschichtliche Zäsur, in: Klaus Fitschen/ Marianne Schröter u. a. (Hg.), Kulturelle Wirkungen der Reformation – Cultural Impact of the Reformation. Kongressdokumentation Lutherstadt Wittenberg August 2017, Bd. 2, Leipzig 2019, S. 163–171 (= Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 37) Witt, Christian Volkmar, Martin Luthers Reformation der Ehe. Sein theologisches Eheverständnis vor dessen augustinisch-mittelalterlichem Hintergrund, Tübingen 2017 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 95) Witt, Christian Volkmar, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Luthers theologisches Eheverständnis und die Orientierungshilfe des Rates der EKD, in: Catholica. Vierteljahresschrift für ökumenische Theologie 68/3 (2014), S. 194–208 Witt, Ulrike, Bildung, Bekehrung und Biographie. Frauen im Umkreis des halleschen Pietismus, Tübingen 1996 (= Hallesche Forschungen 2) Witte, John, Law and Protestantism. The Legal Teachings of the Lutheran Reformation, Cambridge 2002 Wunder, Heide, „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992 Wunder, Heide, Frauen in der Reformation. Rezeptions- und historiographiegeschichtliche Überlegungen, in: ARG 92 (2001), S. 303–320
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Wunder, Heide, Fürstinnen und Konfession im 16. Jahrhundert, in: Daniel Gehrt/Vera von der Osten-Sacken (Hg.), Fürstinnen und Konfession. Beiträge hochadeliger Frauen zu Religionspolitik und Bekenntnisbildung, Göttingen 2015, S. 15–34 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Beiheft 104) Wunder, Heide, „iusticia, Teutonice fromkeyt“. Theologische Rechtfertigung und bürgerliche Rechtschaffenheit. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte eines theologischen Konzepts, in: Bernd Moeller/Stephen E. Buckwalter (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, S. 307–332 (= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199) Wunder, Heide/Jendorff, Alexander u. a. (Hg.), Reformation – Konfession – Konversion. Adel und Religion zwischen Rheingau und Siegerland im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2017 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Nassau 88) Wunder, Heide/Vanja, Christina (Hg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit, Frankfurt a. M./New York 1991 Wunn, Ina/Selçuk, Mualla (Hg.), Islam, Frauen und Europa. Islamischer Feminismus und Gender Jihad – neue Wege für Musliminnen in Europa, Stuttgart 2013 Yalçın-Heckmann, Lale, Einige Gedanken zu den drei türkischen Ehrbegriffen namus, seref und onur, in: Türkei-Programm der Körber Stiftung (Hg.), Ehre und Würde, Hamburg 2000, S. 143–154 Zeiß-Horbach, Auguste, Evangelische Kirche und Frauenordination. Der Beitrag der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zur deutschlandweiten Diskussion im 20. Jahrhundert, Leipzig 2017 (= Historisch-theologische Genderforschung 8) Zinsmeyer, Sabine, Fliehen oder bleiben? Nonnen in der Reformationszeit, in: Martina Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement, Leipzig 2016, S. 287–302 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 55) Zinsmeyer, Sabine, Frauenklöster in der Reformationszeit. Lebensformen von Nonnen in Sachsen zwischen Reform und landesherrlicher Aufhebung, Leipzig 2016 (= Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 41)
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Zu den Autorinnen und Autoren Umut Akkus ¸, Diplom-Soziologe, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhoch-
schule Dortmund im Fachbereich Angewandte Sozialwissenschaften und Doktorand an der Fakultät für Erziehungswissenschaften der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Ursachen und Faktoren religiöser/politischer Radikalisierung, gesellschaftliche Auswirkungen und Verantwortung sowie Jugendkultur- und Gender aspekte in Radikalisierungsprozessen. Publikationen: Prävention gegen religiös motivierte Radikalisierung in Schule und Jugendhilfe, in: Heidi Albrecht/Matthias Dargel u. a. (Hg.), #religionsundkultursensibel. Perspektiven für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in evangelischen Kontexten, Leipzig 2018, S. 407–412. Anne Conrad, Prof. (apl.) Dr. phil., katholische Theologin und Historikerin, ist Akade-
mische Direktorin und außerplanmäßige Professorin am Institut für Katholische Theologie der Philosophischen Fakultät der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Forschungsschwerpunkte: historisch-theologische Geschlechterforschung, besonders zur Frühen Neuzeit (Reformation, Konfessionalisierung, Aufklärung), Ordensgeschichte, historische Bildungsforschung. Publikationen: Zwischen Kloster und Welt. Ursulinen und Jesuitinnen in der katholischen Reformbewegung des 16./17. Jahrhunderts, Mainz 1991; Rationalismus und Schwärmerei. Studien zur Religiosität und Sinndeutung in der Spätaufklärung, Hamburg 2008; Vernünftiger Glaube und Unsterblichkeit der Seele. Zum Zusammenspiel von Aufklärung und Esoterik bei Elisa von der Recke, in: Valérie Leyh/Adelheid Müller u. a. (Hg.), Elisa von der Recke. Aufklärerische Kontexte und lebensweltliche Perspektiven, Heidelberg 2018, S. 111–129; (Hg.), „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Zeit der Reformation und der katholischen Reform, Münster 1999 (= Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 59); (Hg.), Welt-geistliche Frauen in der Frühen Neuzeit. Studien zum weiblichen Semireligiosentum, Münster 2013; (Hg.) zus. mit Kaspar von Greyerz, Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum, Bd. 4: 1650–1750, Paderborn/München u. a. 2012; (Hg). zus. mit Johanna E. Blume u. a., Frauen – Männer – Queer. Ansätze und Perspektiven aus der Historischen Genderforschung, Sankt Ingbert 2015; (Hg.) zus. mit Alexander Maier, Erziehung als ‚Entfehlerung‘. Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit, Bad Heilbrunn 2017. Margit Eckholt, Prof. Dr. theol., habilitierte an der katholisch-theologischen Fakultät der
Universität Tübingen und ist Professorin für Dogmatik mit Fundamentaltheologie am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück, Vorsitzende von AGENDA –
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Forum katholischer Theologinnen e. V. sowie Vorsitzende des Stipendienwerkes Lateinamerika-Deutschland e. V. Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Theologie, Zweites Vatikanisches Konzil und ekklesiologische Perspektiven, lateinamerikanische Befreiungstheologien, Kirche und Frauen-/Gender-Fragen, Theologie und Spiritualität, Schöpfungs- und Gnadentheologie. Publikationen: Ohne die Frauen ist keine Kirche zu machen. Der Aufbruch des Konzils und die Zeichen der Zeit, Ostfildern 2012; Frauendiakonat – neue Bewegung?, in: Theologisch-praktische Quartalschrift 165 (2017), S. 266–275; Notwendige Klärungsprozesse. Anmerkungen zur Gender-Debatte in der katholischen Kirche und Theologie, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 29 (2018), S. 133–139; (Hg.), Gender studieren. Lernprozess für Theologie und Kirche, Ostfildern 2017; (Hg.) zus. mit Ulrike Link-Wieczorek u. a., Frauen in kirchlichen Ämtern. Reformbewegungen in der Ökumene, Freiburg i. Br./Göttingen 2018; (Hg.) zus. mit Virginia Azcuy, Friedens-Räume. Interkulturelle Friedenstheologie in feministisch-befreiungstheologischen Perspektiven, Ostfildern 2018; (Hg.) zus. mit Farina Dierker, Theologische Frauenforschung in „bewegter stabilitas“. Für Elisabeth Gössmann anlässlich ihrer Ehrenpromotion an der Universität Osnabrück, München 2017. Mareike Fingerhut-Säck, Dr. phil., Historikerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Lehrstuhl Geschichte der Neuzeit (16.–19. Jahrhundert) mit dem Schwerpunkt der Geschlechterforschung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Fakultät für Humanwissenschaften, Institut II: Gesellschaftswissenschaften, Bereich Geschichte. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Neuzeit (17.–19. Jahrhundert), Religions- und Frömmigkeitsgeschichte, speziell Pietismusforschung, Sepulkralgeschichte, besonders Leichenpredigten- und Konsistorialforschung, Geschlechtergeschichte. Publikationen: Das Gottesreich auf Erden erweitern. Einführung und Festigung des Pietismus durch das Grafenpaar Sophie Charlotte und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode in seiner Grafschaft (1710–1771), Halle 2019; „… daß die Glückseligkeit vieler andern Menschen zu befördern die besondere Bestimmung und Absicht Ihres Standes ist“. Sophie Charlotte und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode als Begründer des Pietismus in ihrer Grafschaft, in: Andreas Pečar/Holger Zaunstöck u. a. (Hg.), Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus und Reichsadel im 18. Jahrhundert, Halle 2016, S. 29–47; Stolberg-Wernigerode, Sophie Charlotte zu (1695–1762), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar u. a. 2016, S. 352–356; Stolberg-Stolberg, Sophie Eleonore zu (1669–1745), in: Eva Labouvie (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert, Köln/Weimar u. a. 2016, S. 345–346.
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Ute Gause, Prof. Dr. theol., Kirchenhistorikerin, ist seit 2007 Professorin für Kirchen-
geschichte (Reformation und Neueste Zeit) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Paracelsus, (radikale) Reformation, historisch-theologische Genderforschung, speziell im Bereich der Diakonie (Monographie über die Schwestern der Diakonissenanstalt Sarepta/Bethel). Publikationen: Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive, Tübingen 2006; Dienst und Demut. Diakoniegeschichte als Geschichte christlicher Frauenbilder, in: Siri Fuhrmann/Irmgard Pahl u. a. (Hg.), Soziale Rollen von Frauen in Religionsgemeinschaften. Ein Forschungsbericht, Münster/Berlin u. a. 2003, S. 65–88 (= Theologische Frauenforschung in Europa 12); Durchsetzung neuer Männlichkeit? Ehe und Reformation, in: Evangelische Theologie 73 (2013), Heft 5, S. 326– 338; Dekonstruktion der Reformation?, in: Evangelische Theologie 74 (2014), Heft 2, S. 87–95; Reformation und Genderforschung. Schritte der Neukonzeptionierung, in: Martina Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement, Leipzig 2016, S. 21–37 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 55); (Hg.) zus. mit Stephanie Scholz, Ehe und Familie im Geist des Luthertums. Die Oeconomia Christiana (1529) des Justus Menius, Leipzig 2012 (= Historisch-theologische Genderforschung 6); (Hg.) zus. mit Beate Ego u. a., Theodicy and Protest. Jewish and Christian Perspectives, Leipzig 2018 (= Studien zu Kirche und Israel, Neue Folge 13); (Hg.) zus. mit Isolde Karle u. a., Gottes Wort in der Geschichte. Reformation und Reform in der Kirche, Freiburg i. Br./Basel u. a. 2015. Nicole Grochowina, Dr. phil. habil, Historikerin, ist wissenschaftliche Assistentin
am Lehrstuhl Neuere Kirchengeschichte II und Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen/Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Konfessionsgeschichte/konfessionelle Ambiguität, Rechtsgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Erinnerungskultur in religiösen Gemeinschaften, Ordenstheologie. Publikationen: „Het Offer des Herren“. Das Martyrium als Heiligenideal niederdeutscher Täufer um 1570, in: Jürgen Beyer/Albrecht Burkhardt u. a. (Hg.), Confessional Sanctity (c. 1500–c. 1800), Mainz 2004, S. 65–81 (= Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Beiheft 51); Die Opfer des Herren. Das Ringen um Männlichkeiten in den täuferischen Martyrologien des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Martin Dinges (Hg.), Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 69–85 (= Geschichte und Geschlechter 49); Images of Women in the Anabaptists’ Martyrology, in: Mirjam van Veen/Piet
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Visser u. a. (Hg.), Sisters. Myth and Reality of Anbaptist, Mennonite, and Doopsgezind Women ca. 1525–1900, Leiden/Boston 2014, S. 105–121 (= Brill’s Series in Church History and Religious Culture 65); (Hg.) zus. mit Rainer O echslen, Streit der Religionen. Konflikte und Toleranz, Erlangen 2013. Birgit Heller, Mag. Dr. theol., Prof. Dr. phil., ist Professorin am Institut für Religions-
wissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Themen der systematisch-vergleichenden Religionswissenschaft (Anthropologie, Sterben, Tod und Trauer, Jenseitsvorstellungen, Religionen und Medizinethik), Geschlechterforschung, moderne Hindu-Religionen, praxisorientierte Religionswissenschaft (interreligiöse und spirituelle Dimensionen von Palliative Care). Publikationen: Heilige Mutter und Gottesbraut. Frauenemanzipation im modernen Hinduismus, Wien 1999; Gender und Religion, in: Johann Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft, Innsbruck 2003, S. 758–769; Revision des homo religiosus. Religion und Geschlecht, in: Ruth Becker/Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch der Frauenund Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, 2. erw. und aktualisierte Aufl., Wiesbaden 2008, S. 705–710; Zwischen Diskriminierung und Geschlechtergleichheit. Frauen und Religionen, in: APuZ 24 (2013), S. 35–39; Geschlechtergerechtigkeit in den Religionen? Systematisch-religionswissenschaftliche Perspektiven, in: Christoph Elsas/ Edith Franke u. a. (Hg.), Geschlechtergerechtigkeit. Herausforderung der Religionen, Göttingen 2014, S. 29–44; „Beste Freunde“? Religionen, Politik und Geschlechterordnung, in: Doron Kiesel/Ronald Lutz (Hg.), Religion und Politik. Analysen, Kontroversen, Fragen, Frankfurt a. M./New York 2015, S. 303–316; Symbols of Emancipation? Images of God/ dess, Devotees and Transsex/gender in Hindu Traditions, in: Interdisciplinary Journal of Religion and Transformation 5 (2017), S. 235–257. Maria Jepsen ist Bischöfin im Ruhestand der Nordelbischen Evangelisch-Luthe rischen Kirche (Sprengel Hamburg-Lübeck). 1991 bis 2008 war sie Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands, 1992 bis 2010 Vorsitzende des Evangelischen Missionswerkes und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland und von 2003 bis 2010 Mitglied im Rat des Lutherischen Weltbundes. Publikationen: Ordinierte Frauen – ein Erfahrungsbericht, in: Theologische Quartal schrift 173 (1993), S. 163–172; Biblische Frauengestalten und moderne Gesellschaft, in: Michael Langer (Hg.), Weil Gott nicht nur zu Mose sprach … Frauen nehmen Stellung, Innsbruck 1996, S. 209–219; Frauen in der pastoralen Arbeit, in: Anne Jensen/Maximilian Liebmann (Hg.), Was verändert feministische Theologie? Interdisziplinäres Symposion zur Frauenforschung (Graz, Dezember 1999), Münster/Hamburg u. a. 2000, S. 147–159 (= Theologische Frauenforschung in Europa 2).
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Dorothee Kommer, Dr. theol., Theologin, ist seit 2014 Pfarrerin in Haigerloch. Nach
dem Studium begann sie am Graduiertenkolleg in Tübingen die Arbeit an ihrer Promotion zu Frauen als Flugschriftenautorinnen der Reformationszeit, die sie 2012 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen abschloss. Publikationen: Reformatorische Flugschriften von Frauen. Flugschriftenautorinnen der frühen Reformationszeit und ihre Sicht von Geistlichkeit, Leipzig 2013 (= Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte 40); Oberweimar, Florentina von, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 23, Nordhausen 2004, S. 1031–1033; Frauen melden sich zu Wort. Reformatorische Flugschriftenautorinnen in der frühen Reformationszeit, in: Martina Schattkowsky (Hg.), Frauen und Reformation. Handlungsfelder – Rollenmuster – Engagement, Leipzig 2016, S. 197–208 (= Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 55); Klartext: Flugschriften für die neue Lehre. Ursula Weyda, geborene von Zschöpperitz (1504–nach 1565), in: Eva-Maria Bachteler/Petra Ziegler (Hg.), Auf zur Reformation. Selbstbewusst, mutig, fromm – Frauen gestalten Veränderung, Stuttgart 2016, S. 54–62; Florentina von Oberweimar. Das Kloster als Gefängnis, in: Evangelische Frauen in Deutschland (EFiD) (Hg.), Frauen und Reformation, URL: http://frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=58 (Stand 26.3.2019); Margareta von Treskow – Ländlicher Widerstand gegen altgläubige Religionspolitik, in: Evange lische Frauen in Deutschland (EFiD) (Hg.), Frauen und Reformation, URL: http://www. frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=67 (Stand 26.3.2019). Eva Labouvie, Prof. Dr. phil., Historikerin, ist Professorin für Geschichte der Neuzeit mit
dem Schwerpunkt der Geschlechterforschung an der Fakultät für Humanwissenschaften, Institut II: Gesellschaftswissenschaften, Bereich Geschichte der Otto-von-GuerickeUniversität Magdeburg. Sie war lange im Vorstand und Vorsitzende des bundesweiten Arbeitskreises für Historische Frauen- und Geschlechterforschung (AKHFG) und ist Mitherausgeberin der Reihe „Studien zur Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands“. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Sozialgeschichte des 16. bis 19. Jahrhunderts, Historische Anthropologie, Frauen- und Geschlechterforschung, Religions-, Kriminalitäts-, Wahrnehmungs- und Körpergeschichte, Umweltgeschichte, Stadt- und Adelsforschung. Publikationen: Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1991, 21993; Verbotene Künste. Volksmagie und ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16.–19. Jahrhundert), St. Ingbert 1992 (= Saarland Bibliothek 4); Geistliche Konkubinate auf dem Land. Zum Wandel von Ökonomie, Spiritualität und geistlicher Vermittlung, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), Heft 1, S. 105–127; (Hg.), Schwestern und Freundinnen. Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation, Köln/Weimar u. a. 2009; (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert,
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Köln/Weimar u. a. 2016; (Hg.), Frauen in Sachsen-Anhalt 2. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon vom 19. Jahrhundert bis 1945, Köln/Weimar u. a. 2019; (Hg.) zus. mit Ramona Myrrhe, Familienbande – Familienschande. Geschlechterverhältnisse in Familie und Verwandtschaft, Köln/Weimar u. a. 2007. Heiner Lück, Prof. Dr. iur., ist Universitäts-Professor für Bürgerliches Recht, Europäische,
Deutsche und Sächsische Rechtsgeschichte an der Juristischen und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Rezeption des Sachsenspiegels und des Magdeburger Stadtrechts in Europa, Gerichtsverfassung im Mittelalter, Rechtsarchäologie, Rechtsikonographie, Geschichte der Universität Wittenberg, Einflüsse der Reformation auf das Recht. Publikationen: Lehnrecht und Ehebruch. Das Beispiel Tristan, in: wagnerspectrum 1 (2005), S. 80–97; Von Jungfrauen, Bräuten und Steinen. Der „Brautstein“ als Element archaischer Eheschließungsrituale, in: Sybille Hofer/Diethelm Klippel u. a. (Hg.), Per spektiven des Familienrechts. Festschrift für Dieter Schwab zum 70. Geburtstag, Bielefeld 2005, S. 205–226; Zwischen Rechtsgebot und Begierde. Mätressen geistlicher Amtsträger als Rechtsproblem des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, in: Andreas Tacke (Hg.), „… wir wollen der Liebe Raum geben“. Konkubinate geistlicher und weltlicher Fürsten um 1500, Göttingen 2006, S. 93–110; Armen- und Fürsorgeordnungen der Reformationszeit – Anfänge eines neuen Sozialrechts?, in: Stefan Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit, Leipzig 2007, S. 197–212 (= Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt 6); Ehe und Familie in den Kirchenordnungen des Johannes Bugenhagen (1485–1558). Ein Beitrag zur Etablierung des evangelischen Kirchenrechts im Ostseeraum, in: Danuta Janicka (Hg.), Judiciary and Society Between Privacy and Publicity. 8 th Conference on Legal History in the Baltic Sea Area, Toruń 2016, S. 303–327. Claudia Opitz-Belakhal, Prof. Dr. phil., Historikerin, war von 1991 bis 1994 Professorin
für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hamburg. Seit 1994 ist sie Ordentliche Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Basel/Schweiz. Sie ist seit 2011 Redaktionsmitglied von „L’Homme – Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft“. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Geschlechterbeziehungen, Politische Theorie der frühen Neuzeit, Bildungs- und Wissensgeschichte, Emotionengeschichte, Geschichte der Aufklärung und der Französischen Revolution, Theorie und Methodologie der Geschlechtergeschichte.
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Publikationen: Einführung in die Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M. 2010, 2. erw. Aufl. 2018; Böse Weiber. Wissen und Geschlecht in der Dämonologie der Frühen Neuzeit, Sulzbach/Taunus 2017; (Hg.) zus. mit Elke Kleinau, Geschichte der Mädchenund Frauenbildung, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1996; (Hg.) zus. mit Martina Wehrli-Johns, Fromme Frauen oder Ketzerinnen? Leben und Verfolgung der Beginen im Mittelalter, Freiburg i. Br./Basel u. a. 1998 (= Herder-Spektrum 4692); (Hg.) zus. mit Monika Mommertz, Das Geschlecht des Glaubens. Religiöse Kulturen in Europa zwischen Mittelalter und Moderne, Frankfurt a. M./New York 2008. Cornelia Schlarb, Dr. theol., ist Theologin und Kirchenhistorikerin sowie Koordinatorin
des Masterstudiengangs „Intercultural Theology“ an der Georg-August-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Kirchengeschichte Südosteuropas, Frauen und Ämter in der Alten Kirche, Frauen in der Reformationszeit, Geschichte der Ordination von Frauen. Publikationen: Die (un)gebändigte Witwe. Exegetische Überlegungen zur Entwicklung eines Frauenamtes in der Syrischen Didaskalia, in: Martin Tamcke/Wolfgang Schwaigert u. a. (Hg.), Syrisches Christentum weltweit. Studien zur syrischen Kirchengeschichte. Festschrift Prof. Hage, Münster 1995, S. 36–75 (= Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 1); Der Konvent Evangelischer Theologinnen in der Bundesrepublik Deutschland e. V., in: Gisela Matthiae/Renate Jost u. a. (Hg.), Feministische Theologie. Initiativen, Kirchen, Universitäten – eine Erfolgsgeschichte, Gütersloh 2008, S. 193–196; Weibliche Mission in der Alten Kirche, in: Jobst Reller (Hg.), Frauen und Zeiten. Frauen in der Hermannsburger Mission und ihren Partnerkirchen im 20. Jahrhundert, Münster/Berlin 2014, S. 27–42 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission und des Ev.-Luth. Missionswerkes in Niedersachsen 23); Frauen bewegen Geschichte – Reformatorinnen – Reformatorenfrauen – reformatorisch wirksame Frauen, in: Bernd Harbeck-Pingel/Wilhelm Schwendemann (Hg.), Immer reformieren. Über-Setzungen und Neues, Göttingen 2017, S. 189–212; Frauenordination weltweit. Zur Gleichstellung der Frau im geistlichen Amt, in: Deutsches Pfarrerblatt 117 (2017), S. 64–69; (Hg.) zus. mit Hannelore Baier, Frauen in Rumänien. Lebensberichte zur Lage der Frauen in Beruf – Familie – Gesellschaft – Kirche, Sibiu (Hermannstadt) 2000. Julia A. Schmidt-Funke, PD Dr. phil., Historikerin, ist wissenschaftliche Koordinatorin
des Sammlungs- und Forschungsverbunds Gotha und Privatdozentin an der Friedrich- Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit und der Sattelzeit, Forschungen zur materiellen Kultur, zur Konsum-, Wissens- und Geschlechtergeschichte, Stadtgeschichte, Presse- und Buchgeschichte.
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Publikationen: Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar u. a. 2019; Reformation und Geschlechterordnung. Neue Perspektiven auf eine alte Debatte, in: Werner Greiling/Armin Kohnle u. a. (Hg.), Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620, Köln/Weimar u. a. 2015, S. 29–54 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation 4); Erweckte Interieurs. Lebensentwürfe und Lebensräume in den protestantischen Frömmigkeitsbewegungen um 1700, in: Historische Anthropologie 26 (2018), Heft 3, S. 329–349; Appetitus ad mulierem est creatio Dei. Zum Problem der Keuschheit im Protestantismus, in: Klaus Fitschen/Marianne Schröter u. a. (Hg.), Kulturelle Wirkungen der Reformation – Cultural Impact of the Reformation. Kongressdokumentation Lutherstadt Wittenberg August 2017, Bd. 2, Leipzig 2019, S. 183–193 (= Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 37). Kerstin Söderblom, Dr. phil, ist evangelische Theologin, systemische Beraterin, Super-
visorin und Coach, Pfarrerin und Studienleiterin im Evangelischen Studienwerk e. V. in Villigst. Forschungsschwerpunkte: Systemische und interkulturelle Beratung und Seelsorge, Theologie der Vielfalt, queere Theologie. Publikationen: Religionspädagogik der Vielfalt. Herausforderungen jenseits der Heteronormativität, in: Silvia Arzt/Monika Jakobs u. a. (Hg.), Gender Religion Bildung. Beiträge zu einer Religionspädagogik der Vielfalt, Gütersloh 2009, S. 371–386; Zwischen Grenzen und Momenten von Transzendenz – Eine Fallstudie über die Wahrnehmung des Anderen in der Flüchtlingsunterkunft am Internationalen Flughafen in Frankfurt, in: Günter Heimbrock/Trygve Wyller (Hg.), Den Anderen Wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln, Göttingen 2010, S. 128–153; Zwischen den Welten. Flughafenseelsorge, in: Kristin Merle (Hg.), Kulturwelten. Zum Problem des Fremdverstehens in der Seelsorge, Berlin/Münster 2013, S. 205–224; Homophobie und gruppenbezogener Menschenhass, in: Sonja Angelika Strube (Hg.), Rechtsextremismus als Herausforderung für die Theologie, Freiburg i. Br./Basel u. a. 2015, S. 223 f.; Schulseelsorge für lesbische Mädchen und schwule Jungs als Beitrag für eine Pastoraltheologie der Vielfalt, in: Michaela Breckenfelder (Hg.), Homosexualität und Schule. Handlungsfelder – Zugänge – Perspektiven, Opladen/Berlin u. a. 2015, S. 259–269; Konfliktberatung in Organisationen, in: Deutsche Gesellschaft für Coaching (DGFC) (Hg.), Beratungspraxis an der Schnittstelle von Coaching und Organisationsentwicklung, Dresden 2016, S. 68–83.
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ANHANG
Ahmet Toprak, Prof. Dr. phil., ist Professor für Erziehungswissenschaften an der Fach-
hochschule Dortmund und Dekan des Fachbereichs Angewandte Sozialwissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Migration und Integration, Geschlechterforschung im Kontext der Migration, Männlichkeitsnormen, Gewalt bei Jugendlichen, religiöse Radikalisierung. Publikationen: Das schwache Geschlecht – die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre, Freiburg i. Br. 2007; Muslimische Jungen – Prinzen, Machos oder Verlierer? Ein Methodenhandbuch, Freiburg i. Br. 2012; „Unsere Ehre ist uns heilig“. Muslimische Familien in Deutschland, Freiburg i. Br. 2012; Türkeistämmige Mädchen in Deutschland. Erziehung – Geschlechterrollen – Sexualität, Freiburg i. Br. 2014; Jungen und Gewalt. Die Anwendung der Konfrontativen Pädagogik mit türkeistämmigen Jungen, Wiesbaden 2015; Gender und Islam in Deutschland, Berlin 2016; (Hg.) zus. mit Aladin El-Mafaalani, Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland. Lebenswelten, Denkmuster, Herausforderungen, St. Augustin/Berlin 2011; (Hg.) zus. mit Michael Meuser u. a., Jungen und ihre Lebenswelten – Vielfalt als Chance und Herausforderung, Berlin/Toronto 2013; (Hg.) zus. mit Gerrit Weitzel, Salafismus in Deutschland. Jugendkulturelle Aspekte, pädagogische Perspektiven, Wiesbaden 2016. Christian Volkmar Witt, PD Dr. theol., ist Heisenberg-Stipendiat am Leibniz-Institut
für Europäische Geschichte Mainz und Privatdozent im Fach Kirchengeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Forschungsschwerpunkte: Kirchenrechts- und Theologiegeschichte der Ehe, Geschichte der christlich-theologischen Deutung von Sexualität, theologische Begriffsgeschichte, historisch-theologische Wahrnehmungsforschung. Publikationen: Martin Luthers Reformation der Ehe. Sein theologisches Eheverständnis vor dessen augustinisch-mittelalterlichem Hintergrund, Tübingen 2017 (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 95); Zwischen Kontinuität und Diskontinuität. Luthers theologisches Eheverständnis und die Orientierungshilfe des Rates der EKD, in: Catholica. Vierteljahresschrift für ökumenische Theologie 68/3 (2014), S. 194–208; Schöpfungstheologische Verankerung, rechtfertigungstheologische Aufladung, praktisch-theologische Operationalisierung. Martin Luthers Verständnis von Ehe und Familie, in: Armin Kohnle/ Wolfgang Ratzmann u. a. (Hg.), Martin Luther als Praktischer Theologe, Leipzig 2017, S. 303–322 (= Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 50); Luthers Reformation der Ehe als kulturgeschichtliche Zäsur, in: Klaus Fitschen/Marianne Schröter u. a. (Hg.), Kulturelle Wirkungen der Reformation – Cultural Impact of the Reformation. Kongressdokumentation Lutherstadt Wittenberg August 2017, Bd. 2, Leipzig 2019, S. 163–171 (= Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 37).
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Heide Wunder, Prof. Dr. phil. em., war Professorin für Sozial- und Verfassungsgeschichte
der Frühen Neuzeit an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der ländlichen Gesellschaft sowie der Frauen- und Geschlechtergeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Publikationen: Geschichte der bäuerlichen Gemeinde, Göttingen 1986; „Er ist die Sonn’, sie ist der Mond“. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992; ,Gewirkte Geschichte‘. Gedenken und ‚Handarbeit‘. Überlegungen zum Tradieren von Geschichte im Mittelalter und zu seinem Wandel am Beginn der Neuzeit, in: Joachim Heinzle (Hg.), Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, Frankfurt a. M. 1994, S. 324–354; Das Selbstverständliche denken. Ein Vorschlag zur vergleichenden Analyse ländlicher Gesellschaften in der Frühen Neuzeit, ausgehend vom „Modell ostelbische Gutsherrschaft“, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, S. 23–49 (= Historisches Zeitschrift, Beiheft 18); Einleitung: Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht., in: Dies. (Hg.), Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht, Berlin 2002, S. 9–27 (= Beiheft der ZHF 28); Marriage in the Holy Roman Empire of the German Nation from the Fifteenth to the Eighteenth Century. Moral, Legal and Political Order, in: Silvana Seidel Menchi (Hg.) with the Collaboration of Emlyn Eisenach, Marriage in Europe. 1400–1800, Toronto/Buffalo u. a. 2016, S. 61–93; zus. mit Dieter Wunder, Herrendienst, Konfession und im Stande bleiben. Die österreichischen Freiherren von Hohenfeld im Reich und im vatterland, in: Nassauische Annalen 123 (2012), S. 305–348.