Reproduziertes Leben: Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik [1. Aufl.] 9783839418116

Wie kaum ein anderes Verfahren moderner Reproduktionstechniken ist die Präimplantationsdiagnostik zum Gegenstand allgeme

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Table of contents :
Inhalt
ERSTER TEIL: DER DISKURS DER REPRODUKTION
1. Kapitel: Einleitung – Wahrheit und Methode
(1) Wissen schafft Macht
(2) Wissen macht Leben
(3) Norm als Organisationsprinzip
(4) Bio macht Politik
(5) Wahrheitsspiel und Methode
(6) Übersicht
2. Kapitel: Sexualität und Reproduktion im Zeitalter ihrer technischen Separierbarkeit
(1) Sexualität und Fortpflanzung – eine Trennungsgeschichte
(2) Let’s talk about sex?
3. Kapitel: Auf der Suche nach einem gesunden Kind
(1) Zeugung auf Probe
(2) Spätabtreibung
(3) Selbst ist das Risiko
4. Kapitel: Die Geburt der Bioethik
(1) Übersicht
(2) Wissenschaft und Öffentlichkeit
(3) Reproduktion als bioethischer Diskurs
(4) Die Entstehung einer Disziplin
(5) Bio macht Ethik?
5. Kapitel: Der Weg nach Europa? – Zur Homogenisierung heterogener Deutungen
(1) Ein universalistischer Umgang mit dem Leben?
(2) Kulturelle Pluralität, Homogenisierung und Hegemonieanspruch
(3) Praktischer Umgang mit rechtlicher Divergenz
(4) Homogenisierung = Harmonisierung?
(5) Notwendigkeit eines Konsenses?
6. Kapitel: Das Material
(1) Untersuchungszeitraum
(2) Ein nicht-historisches Verfahren?
(3) Auswahl der Medien
(4) Auswahl der Artikel
(5) Zeit und Spiegel
(6) Le Nouvel Observateur und L’Express
7. Kapitel: Ausblick – Verrechtlichung der Reproduktion
(1) Eine Frage der Ordnung
(2) Drei Szenarien
(3) Reproduktion und Rechtsansprüche
(4) Vom Gesetz zum Recht
(5) Recht und Macht
(6) Das Recht als Dispositiv
ZWEITER TEIL: ALLES, WAS RECHT IST – SZENARIEN DER REPRODUKTION
8. Kapitel: Erstes Szenario – Gesetze in Konflikt
(1) PID Reloaded
(2) Übersicht
(3) Konflikte einer Zulassung
(4) Rechte in Konflikt
(5) Vorgefunden oder erzeugt?
(6) Normenverschiebung
(7) Primat der Lebensqualität
9. Kapitel: Konstellationen französischer Rechtsaushandlungen – Spiegelung I
(1) Einleitung
(2) Aushandlung der Bioethikgesetze
(3) Zugang zur PID
(4) Schwangerschaftsabbruch im Kontext von PID und PND
(5) Ausblick
10. Kapitel: Zweites Szenario – Der Schutz des Lebens
(1) Recht zwischen Menschenwürde und Eugenik
(2) Gliederung des Kapitels
(3) Zellhaufen oder »ungeborener Knirps«
(4) Die Anthropomorphisierung des Embryos
(5) Mensch mit Rechten?
(6) Der Embryo als Opfer
(7) Ausblick
11. Kapitel: Eugenik für die Zukunft – Spiegelung II
(1) Einleitung
(2) Vergangenheit und Gegenwart – Spielarten der Eugenik
(3) Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Verbrechen gegen die Gattung Mensch?
(4) Zur Statusfrage
(5) Zusammenführung: Die Politik des Performativen
12. Kapitel: Drittes Szenario – Das Recht auf ein Kind
(1) Einleitung
(2) Das Recht auf ein Kind
(3) Das Recht gegen ein Kind
(4) Das Recht auf ein gesundes Kind
13. Kapitel: Konstellationen der galité – Spiegelung III
(1) Einleitung
(2) Reproduktionsautonomie: Das Recht gegen ein Kind
(3) Das Recht auf ein Kind I: Homosexuelle Elternschaft
(4) Das Recht auf ein Kind II: Leihmütter
(5) Das Recht auf ein gesundes Kind (I)
(6) Das Recht auf ein gesundes Kind (II)
(5) Zusammenführung
14. Kapitel: Alles, was Recht ist
(1) Pluralität der Rechte
(2) Andere Länder, andere Rechte?
(3) Einigung und Konsens? – Das Projekt Europa
Literatur
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Reproduziertes Leben: Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik [1. Aufl.]
 9783839418116

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Julia Diekämper Reproduziertes Leben

KörperKulturen

Julia Diekämper (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht der Berlin Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Reproduktionstechnologien, Biomacht, Bioethik, Diskurstheorie und Gender.

Julia Diekämper

Reproduziertes Leben Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik

Die Publikation wurde mit Mitteln der Hans-Böckler-Stiftung gefördert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Archiv transcript Lektorat & Satz: Julia Diekämper Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1811-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

ERSTER TEIL: DER DISKURS DER REPRODUKTION 1. Kapitel: Einleitung – Wahrheit und Methode | 11 (1) Wissen schafft Macht | 14 (2) Wissen macht Leben | 16 (3) Norm als Organisationsprinzip | 22 (4) Bio macht Politik | 24 (5) Wahrheitsspiel und Methode | 39 (6) Übersicht | 44 2. Kapitel: Sexualität und Reproduktion im Zeitalter ihrer technischen Separierbarkeit | 47 |

(1) Sexualität und Fortpflanzung – eine Trennungsgeschichte | 47 (2) Let’s talk about sex? | 48 3. Kapitel: Auf der Suche nach einem gesunden Kind | 67

(1) Zeugung auf Probe | 67 (2) Spätabtreibung | 78 (3) Selbst ist das Risiko | 82 4. Kapitel: Auf der »richtigen« Seite? – Die Geburt der Bioethik | 83 (1) Übersicht | 83 (2) Wissenschaft und Öffentlichkeit | 84 (3) Reproduktion als bioethischer Diskurs | 87 (4) Die Entstehung einer Disziplin | 91 (5) Bio macht Ethik? | 104 5. Kapitel: Der Weg nach Europa? – Zur Homogenisierung heterogener Deutungen | 107

(1) Ein universalistischer Umgang mit dem Leben? | 107 (2) Kulturelle Pluralität, Homogenisierung und Hegemonieanspruch | 109 (3) Praktischer Umgang mit rechtlicher Divergenz | 112 (4) Homogenisierung = Harmonisierung? | 113 (5) Notwendigkeit eines Konsenses? | 115

6. Kapitel: Das Material | 125  (1) Untersuchungszeitraum | 125

(2) Ein nicht-historisches Verfahren? | 127 (3) Auswahl der Medien | 130 (4) Auswahl der Artikel | 132 (5) Zeit und Spiegel | 133 (6) Le Nouvel Observateur und L’Express | 138 7. Kapitel: Ausblick – Verrechtlichung der Reproduktion | 143  (1) Eine Frage der Ordnung | 143 (2) Drei Szenarien | 144 (3) Reproduktion und Rechtsansprüche | 148 (4) Vom Gesetz zum Recht | 149 (5) Recht und Macht | 155 (6) Das Recht als Dispositiv | 157

ZWEITER TEIL : ALLES , WAS RECHT IST – SZENARIEN DER REPRODUKTION 8. Kapitel: Erstes Szenario – Gesetze in Konflikt | 163  (1) PID Reloaded | 163 (2) Übersicht | 172 (3) Konflikte einer Zulassung | 173

(4) Rechte in Konflikt | 182 (5) Vorgefunden oder erzeugt? | 187 (6) Normenverschiebung | 195 (7) Primat der Lebensqualität | 206 9. Kapitel: Konstellationen französischer  Rechtsaushandlungen – Spiegelung I | 211 (1) Einleitung | 211 (2) Aushandlung der Bioethikgesetze | 212 (3) Zugang zur PID | 226

(4) Schwangerschaftsabbruch im Kontext von PID und PND | 232 (5) Ausblick | 235 10. Kapitel: Zweites Szenario – Der Schutz des Lebens | 237  (1) Recht zwischen Menschenwürde und Eugenik | 237 (2) Gliederung des Kapitels | 239

(3) Zellhaufen oder »ungeborener Knirps« | 241 (4) Die Anthropomorphisierung des Embryos | 243 (5) Mensch mit Rechten? | 245 (6) Der Embryo als Opfer | 252 (7) Ausblick | 264 11. Kapitel: Eugenik für die Zukunft – Spiegelung II | 267 (1) Einleitung | 267 (2) Vergangenheit und Gegenwart – Spielarten der Eugenik | 268 (3) Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Verbrechen gegen die Gattung Mensch? | 274 (4) Zur Statusfrage | 280 (5) Zusammenführung: Die Politik des Performativen | 285 12. Kapitel: Drittes Szenario – Das Recht auf ein Kind | 287  (1) Einleitung | 287 (2) Das Recht auf ein Kind | 289 (3) Das Recht gegen ein Kind | 321 (4) Das Recht auf ein gesundes Kind | 326 13. Kapitel: Konstellationen der Égalité – Spiegelung III | 333 (1) Einleitung | 333 (2) Reproduktionsautonomie: Das Recht gegen ein Kind | 334 (3) Das Recht auf ein Kind I: Homosexuelle Elternschaft | 338 (4) Das Recht auf ein Kind II: Leihmütter | 345 (5) Das Recht auf ein gesundes Kind (I) | 352 (6) Das Recht auf ein gesundes Kind (II) | 356 (5) Zusammenführung | 362 14. Kapitel: Alles, was Recht ist | 365 (1) Pluralität der Rechte | 372 (2) Andere Länder, andere Rechte? | 377

(3) Einigung und Konsens? – Das Projekt Europa | 381 Literatur | 383



Erster Teil: Der Diskurs der Reproduktion

1. Kapitel Einleitung – Wahrheit und Methode

A WORD is dead When it is said, Some say. I say it just Begins to live That day.1

Ende 2008 richtete sich ein Flugblatt in gynäkologischen Praxen warnend an Frauen um die 30 Jahre: Sie sollten sich bloß nicht zu sicher fühlen. Sie sollten das Kinderkriegen nicht auf die lange Bank schieben, schließlich könne es irgendwann zu spät sein. Und ›irgendwann‹ bedeute in ihrem konkreten Fall: bald. Dann nämlich sei die biologische Sanduhr, die den Flyer illustrierte, abgelaufen.2 Dieser Appell ging Hand in Hand mit dem Angebot, sich einem »FertiCheck« zu unterziehen, mit dessen Hilfe, auch jenseits situativer Notwendigkeit, eine »Momentaufnahme des Fruchtbarkeitsstatus« ablesbar sei. Ein solches präventives Vorsorgesystem führt die medizinische Praxis ad absurdum, da die Erforschung und (gegebenenfalls) Erkennung etwa von Infertilität oder Sterilität vor einem subjektiven Verdacht der Betroffenen liegt.3 Stattdessen, so suggeriert ein solcher Test, braucht es im Gegenteil vielmehr einen

1

Dickinson, Emily: Part I: Life, LXXXIX, Complete Poems. 1924.

2

Siehe hierzu: Art.: »Die biologische Uhr tickt«, in: Süddeutsche Zeitung; 19.12.2008.

3

Ein solches Prophylaxesystem unterscheidet sich von anderen Früherkennungen wie etwa der Mammographie dahingehend, dass bei ausbleibender Diagnose die betroffene Frau unter Umständen nie von dem Befund erfährt.

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Beweis des Gesundheitsstatus, damit am Ende nicht eintritt, was nicht eintreten darf: ungewollte Kinderlosigkeit. Dass Frauen in Deutschland tendenziell immer älter werden, bevor sie sich eventuell zu einem Kind entschließen4, lässt sich als demographische Grundlage für solche Tests nicht von der Hand weisen. Neben unzähligen Gründen für eine solche Verschiebung der Altersgrenze im Vergleich etwa zu den 1960er Jahren bewirkt die seit den 1970ern voranschreitende Etablierung der Reproduktionsmedizin5, zumindest einer solchen Wahrnehmung folgend, einen Timeout der biologischen Uhr. Zu recht weist Luc Boltanski darauf hin, dass die Verschiebung, die sich in den »gemeinhin als Lebensbereich bezeichneten Sphären«6 ablesen lässt, zu den wichtigsten Veränderungen des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts zählt. Zu denen rechnet er vor allem die Bedingungen der Fortpflanzung, der Schwangerschaft und der Geburt. Eine solche Einschätzung hängt mit den sie betreffenden Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten zusammen, die sich spätestens seit den 1970er Jahren aus einer Verbindung von Reproduktionstechnologien und Genetik ergeben und die folgenreich auf das Leben bezogenes Wissen und damit Handlungsmöglichkeiten produzieren. Was aber bedeutet genau ›Leben‹, wenn sowohl dessen ontologische als auch normative Parameter zur Disposition zu stehen scheinen?7

4

Zu entsprechenden Zahlen siehe: Statistisches Bundesamt http://www.destatis.de/ jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/Gebu rtenSterbefaelle/Tabellen/Content75/GeburtenMutteralter,templateId=renderPrint. psml [26.04.2011].

5

Zu diesen zähle ich an dieser Stelle allgemein sowohl die Verfahren, die dazu dienen, eine Schwangerschaft herzustellen, als auch jene, diese zu betreuen. Bezogen auf das Beispiel habe ich hier erstere im Blick, wenngleich beide Verfahren sich bedingen. 39590 in Deutschland erfolgreich durchgeführte »Unfruchtbarkeitsbehandlungen« im Jahr 2007 belegen etwa eindrucksvoll, dass Methoden wie die sogenannte künstliche Befruchtung inzwischen zum Routinegeschäft unzähliger Kliniken und Praxen geworden ist. http://www.deutsches-ivf-register.de/ [22.01.2009].

6

Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung, 2007:13.

7

Eine Verschiebung in Bezug auf den Lebensbegriff ist keine genuin neue Errungenschaft der Biowissenschaften. Der französische Molekularbiologe François Jacob wies ein sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelndes Interesse an der empirischen Erforschung der Natur nach, das zu einer zunehmenden Interdependenz empirischer und theoretischer Zugriffe in den Wissenschaften führt. »Das Leben ist es, das als übergreifender Bezugspunkt dient, um dem Bewusstsein zu ermöglichen, Vorstellungen

E INLEITUNG | 13

Das, was ich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zeigen möchte, ist, dass das ›Sein‹ dieses unbestimmten ›Lebens‹ sich ganz bestimmten Vorentscheidungen verdankt. Das macht es notwendig, die Operationen der Macht, die das Leben hervorbringen, in den Blick zu nehmen.8 Eben weil der ›Lebensbegriff‹ in enger, aber unklarer Beziehung zum Begriff des Menschen steht, sind die ihm zugrunde liegenden Konditionen auch deshalb zentral, weil sich hiervon ausgehend Anerkennungsverhältnisse ableiten. Dass alle Menschen Lebewesen sind, scheint dabei wenig umstritten. Wann aber wird ›Leben‹ im Zeitalter von Pluriund Totipotenz9 folgenreich zum Menschen?10 Wie gestalten sich die Grenzen zwischen Menschen und Nichtmenschen11, zwischen Lebendigem und Unbelebtem? Die Fragen des Lebens sind längst im Kontext politischer Topoi zu lesen. Die Politisierung von ›Leben‹ und Lebensführung geht somit Hand in Hand mit der Etablierung von Reproduktionstechnologien, weil Leben selbst zum Gegenstand von Handlungsoptionen und Machtinteressen wird.

nicht nur von verschiedenen Lebewesen, sondern verschiedener Elemente ein und desselben Lebewesens zu verbinden und zwischen ihnen Beziehungen aufzustellen.« François Jacob: Die Logik des Lebenden, 1972:100. 8

Butler, Judith: Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern, 2010:9.

9

Unter ersterem versteht man das Vermögen der betreffenden Entität, sich miotisch zu teilen und sich letztlich zu einem vollständigen, geborenen, lebenden Menschen zu entwickeln. Die Pluripotenz schließt die Entwicklung zu einem vollständigen Menschen aus. Bezeichnet wird allein das Vermögen von Blastomeren, sich zu beliebigen Gewebezellen zu entwickeln. Die Entscheidung, ab welchem Stadium eine Pluri- bzw. Totipotenz vorliegt, ist unter Forschern umstritten. Hierzu: Schmidt, Harald: Präimplantationsdiagnostik. Jenseits des Rubikons?, 2003:30.

10 Von welchem Punkt der Entwicklung an also sind die Zellverbände als Menschen und nicht als organische Entitäten jenseits des Menschlichen zu bestimmen? Hierzu: Ahrens, Jörn: Frühembryonale Menschen? 2008:67f. 11 Eine solche Frage ist immanenter Bestandteil einer Auseinandersetzung in den Lebenswissenschaften. Bruno Latour verwendet etwa den Begriff »nicht-menschliche Wesen«, um damit Laborexperimente zu kennzeichnen, die an Stelle der bloßen menschlichen Betrachtungsweisen treten. Ders.: Wir sind nie modern geworden, 1998. Giorgio Agamben spricht von Lebens-Form und meint damit ein Leben, das niemals von seiner Form getrennt werden kann. Ein »Leben, in dem es niemals möglich ist, so etwas wie ein bloßes Leben zu isolieren.« Ders.: Mittel ohne Zweck, 2001:13.

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Der Bruch12, der sich mit diesen Entwicklungen innerhalb der Wissenschaften vom Menschen ergibt, erweist sich auch deshalb als radikal, weil hier vorhergehende Annahmen aus dem wissenschaftlichen Denken verschwinden bzw. aus ihm ausgeschlossen werden. Betrachtet man wissenschaftshistorisch die Entwicklung etwa der Molekulargenetik13, dann fällt auf, dass sich hier kurzfristig neue Objekte bilden, die anschließend zu neuen Wissenschaften überleiten oder zu tiefgreifenden Umorientierungen in bestehenden Wissenschaftsdisziplinen führen.14 Anstatt einer auf die Entwicklungen innerhalb der Wissenschaft fokussierten Analyse beschäftige ich mich jedoch mit Wissen, und nur in dessen Relationalität mit Wissenschaft. Das bedeutet, ich nehme die Produktivität von durch Wissenschaften ausgelösten Aushandlungsprozessen in den Blick und widme mich nicht wissenschaftshistorisch etwa bestimmten Disziplinen (wie der Genetik) oder Phänomenen (wie der Vererbung). Das bedeutet, dass es in einem ersten Schritt zwei Sphären zu unterscheiden gilt: Wissen und Wissenschaft.

(1) W ISSEN

SCHAFFT

M ACHT

Der Zusammenhang von hochkomplexer Wissenschaft und deren Einsickern in die Lebenswelten der Bürgerinnen und Bürger durch die Medien und natürlich die in Anspruch genommenen Technologien legt nahe, dass die Biowissenschaften Teil politischer und sozialer Rationalitäten sind, innerhalb derer sie erst Bedeutung gewinnen. Ohne Frage war auch der Körper vor der Moderne in die politische Dynamik einbezogen. Doch mit der Reproduktionsmedizin wird die Fortpflanzung beeinflussbar durch direktes menschliches Handeln und die Bevölkerung wird damit hinsichtlich ihrer Quantität (Demographie) und Qualität (Gesundheit) modellierbar. Wissen stellt dabei zwar eine unverzichtbare Vorbedingung von Wissenschaft dar, beide sind aber keinesfalls identisch. Wissen stellt »keine Summe von

12 Mit dem Begriff »Bruch« verbinde ich im diskursanalytischen Sinn die Annahme, dass Wissenschaft sich nicht kontinuierlich entwickelt. Stattdessen lassen sich etwa anhand der Terminologie »Brüche« ausmachen, durch die Objekte oder Theorien über Objekte entstehen. Michel Foucault beschränkt den Typus des Bruchs auf Beobachtungstatsachen. Der Bruch charakterisiert ein stark verändertes Verhältnis zu den Dingen. 13 Siehe hierzu etwa: Rheinberger, Hans-Jörg; Müller-Wille, Staffan: Vererbung, 2009. 14 Dies wird mit der Dechiffrierung des menschlichen Gens besonders anschaulich.

E INLEITUNG | 15

Erkenntnis«15 dar, sondern eine Gesamtheit von Elementen (Gegenständen, Formulierungstypen, Begriffen und theoretischen Entscheidungen), die aus ein und derselben Positivität heraus im Feld einer einheitlichen diskursiven Formation gebildet sind.16 Wissen lässt sich nicht nur als »wahre und begründete Überzeugung« definieren, sondern besteht aus den Regeln einer diskursiven Praxis, die Elemente ausbilden und möglicherweise zu einem wissenschaftlichen Diskurs führen, der einen bestimmten Bereich absteckt. Dieser Bereich kann unterschiedliche Formen annehmen. Ohne eine definierte diskursive Praxis existiert kein Wissen. Dabei gilt die Annahme, dass, wenngleich die Praxis das Wissen formiert, es umgekehrt auf die Praxis zurückwirken kann. Das gilt für die diskursive Praxis ebenso wie für die nicht-diskursive. In diesem Punkt stimme ich Alexander Bogner zu, der durch eine bestimmte diskursive Praxis Rückschlüsse auf eine Strukturierung von Handlungsoptionen annimmt.17 Im Folgenden untersuche ich Wissen in Beiträgen aus Zeitungen und Zeitschriften, die zwischen 1995 und 2010 erschienen sind, und deren Gegenstand (im weiteren Sinne) die Reproduktionstechnologien darstellen. Damit verbindet sich eine Grundannahme der Arbeit, und zwar die, dass es keine klare Trennlinie gibt zwischen einer ›reinen‹ Wissenschaft und der in den Printmedien auftauchenden vermeintlichen Populärwissenschaft. Beide Ausdrucksformen des Wissens gehören zu einem Feld, in dem sie sich als zwei Ordnungen begegnen, die sich als koexistierende Diskursformen produktiv zueinander verhalten.18 Das speziali-

15 Foucault, Michel: Über die Archäologie der Wissenschaften, in: Dits et Ecrits, Bd. I, 2001:921. 16 Das ist ein Verständnis von Wissen. Insbesondere in wissenschaftshistorischen Untersuchungen finden sich zudem die Unterscheidungen zwischen explizierbarem und implizitem Wissen (Michael Polany) oder die zwischen starkem und schwachem Wissen (Norman Malcolm). Hierzu: Anacker, Michael: Wissen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 2004:896ff. 17 Bogner, Alexander: Kritik der Life-Politcs – Zum Grenzziehungsdiskurs der Humangenetik, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 3/2004, hier: 49. Bogner indes legt für seine Untersuchung nicht nur Interviews zugrunde, er beschäftigt sich auch thematisch mit einer anderen Situation, indem er auf die Grenzziehungen zwischen Humangenetik und Eugenik rekurriert, um Handlungsnormen und Orientierungsmuster zu destillieren. 18 Das hat Philipp Sarasin anhand der Bakteriologie gezeigt (Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, 2006), das zeigt aber auch Hans-Jörg

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sierte Wissen der Biomedizin integriert sich auf diese Weise nicht nur in den kulturellen Wissensbestand, und wird nicht nur aus diesem gespeist, sondern durch eine so entstehende Interdependenz entfaltet sich eine eigene Produktivität.19

(2) W ISSEN

MACHT

L EBEN

Durch die an diese Wissenschaften gebundenen Redeweisen treten neue Gegenstände hervor. Zu diesen zählen neben stofflichen Entdeckungen, wie extrakorporalen Ei- und Samenzellen, das ›Leben‹, bzw. die eigens definierten Lebensphasen.20 Die Metapher des ›Lebens als Information‹ wird qua Genomik damit zur materiellen Wirklichkeit.21 Die Frage nach der Dichotomie von Krankheit und Vererbung, das deutete der eingangs erwähnte »FertiCheck« bereits an, ist aufgrund dieser Entwicklung keine rein sprachliche Bedeutungsverschiebung, sondern sie erhält einen forschungs- und gesellschaftspolitischen Charakter. Denn durch die Untersuchung von Organen, von Genen und Zellen ergeben sich auf der einen Seite messbare Werte, die interpretiert und auf deren Grundlage generationsübergreifende Entscheidungen getroffen werden. Mit der Genetik und der Reproduktionstechnologie entsteht auf der anderen Seite aber nicht nur ein völlig neues Wissensgebiet. Es geht auch darum, wie in der Folge über die hier hervorgebrachten Dinge gesprochen wird.

Rheinberger und Steffan Müller-Wille anhand der Vererbung. Dies.: Vererbung, 2009. Christina Brandt stellt die Verbindung zwischen Science-Fiction und Genetik her. Dies.: Wissenschaft – Literatur – Öffentlichkeit. Die Bedeutung des Science-Fiction in den 1970er Jahren für die öffentliche Debatte zum Klonen, in: Nikolow, Sybilla; Schirrmacher, Arne (Hg.): Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressource füreinander, 2007:137ff. 19 Ein solches Verhältnis zeichnet Eva Illouz in ihrem Buch »Die Errettung der modernen Seele« nach, indem sie den therapeutischen Diskurs zugleich als einen formalen und einen spezialisierten Wissenskorpus betrachtet. Sie zeigt so, inwiefern die Grenze zwischen psychologischem Spezialwissen und Populärwissenschaft durchlässig ist. Sie ist es deshalb, weil »sowohl die Sprache der professionellen Psychologie als auch deren populäre Version auf das Selbst zielen und dabei ähnliche Metaphern und Erzählungen benutzen.« Dies.: 2009:29. 20 Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:34. 21 Rheinberger, Hans-Jörg; Müller-Wille, Staffan: Vererbung, 2009:248.

E INLEITUNG | 17

Eine an die Biowissenschaften gebundene Auseinandersetzung avanciert dabei zum allgemeinen Interessensgegenstand, der sowohl den wissenschaftsinternen naturwissenschaftlichen Kreis überschreitet, als auch jene Gruppe, für die das reproduktionstechnologisch gestützte Kinderkriegen zur persönlichen Lebenswirklichkeit gehört. Ein solches Wissen ist vor allem deshalb legitimierungsbedürftig, weil dessen Gegenstand – das ›Leben‹ – allen Menschen gleichermaßen nahe ist.22 Das zumindest erklärt in einem ersten Schritt das fortwährende Interesse, das sich an Fragen des Lebensbeginns, des Lebensschutzes und der Lebensqualität entzündet. Denn die vordergründig am Einzelfall orientierten Abwägungen bewegen sich vor der Matrix der Frage nach dem Fortbestehen unserer Art – oder, wie Jürgen Habermas die Dringlichkeit begründet: innerhalb der Gattungsfrage.23 Das bedeutet, dass das, was in Folge von medizinischen Möglichkeiten diskutabel wird, nicht nur individuelle Entscheidungen der Nutzung oder Ablehnung von Technologien betrifft. In einem konsequentialistischen Sinne ebenso wie aus einer deontologischen Perspektive24 bieten sich vielmehr auch Erklärungsmuster für diejenige Welt an, in der wir leben (wollen). Fortpflanzung stellt hierbei aus nachvollziehbaren Gründen ein zentrales Scharnier zwischen subjektivem Begehren und gesellschaftlichem (gesellschaftspolitischem) Interesse dar. Eine auf dieser Basis stattfindende Kontroverse dient demnach dazu, sich über gesamtgesellschaftliche Ansprüche zu verständigen. Solche handeln etwa aus, was genau mit welchen Konsequenzen unter dem neuen, vielschichtigen

22 Waldschmidt, Anne; Klein, Anne; Korte, Miguel Tamayo: Das Wissen der Leute, 2009:19. 23 Innerhalb der Auseinandersetzung sowohl mit Genetik als auch mit Reproduktionstechnologien kommt dem Begriff der Gattung eine entscheidende Position zu. In seinem Buch »Das Prinzip Verantwortung« (1979) spricht Hans Jonas nicht von einer Ethik der Subjekte, sondern einer Ethik, die den Erhalt der Gattung thematisiert. Er begründet den Erhalt der Gattung auf Grundlage einer Ontologisierung des Werdens als ethisch zwingend. Dieser wird, auch das werde ich an späterer Stelle diskutieren, allgemein gesprochen entweder essentialisiert (Habermas) oder dekonstruiert (Agamben, Sloterdijk). 24 Damit sind zwei entscheidende Richtungen der (Bio-)Ethik benannt. Während die Deontologie Handlungen die Fähigkeit zuschreibt, unabhängig von ihrer Konsequenz intrinsisch gut oder schlecht zu sein (in diesem Sinne kommt dem Argument der Menschenwürde eine zentrale Bedeutung zu), erachtet ein konsequentialistischer Ansatz ausschließlich die Konsequenzen einer Handlung als moralisch relevant.

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›Leben‹ zu verstehen ist, wann beispielsweise etwas normativ folgenreich zum Menschen wird. Die Biotechnologien sind längst im Lebensalltag angekommen. Es macht aber offensichtlich einen Unterschied im Hinblick auf ihre Beurteilung, ob ich selbst in einen direkten Kontakt mit den Technologien gerate oder nicht, ob sie direkt an meinem Körper wirksam werden oder nicht, ob sie mir nutzen oder schaden, kurz: ob bzw. welche Erfahrungen ich mit ihnen mache.25 Auch wenn die Reproduktionsmedizin die Gruppe der an Fortpflanzungsprozessen Partizipierenden prinzipiell erweitert, so kommen doch bei weitem nicht alle Menschen mit den entsprechenden Technologien in Kontakt. Neben einer (bewussten) Entscheidung gegen ein Kind26 und/oder gegen entsprechende Diagnostik (wobei das zumindest eine Auseinandersetzung im Zusammenhang mit der gängigen Beratungspraxis sehr wahrscheinlich macht) ist eine Fruchtbarkeitsbehandlung (zumindest nach aktuell geltender Rechtslage) etwa nach der Menopause in Deutschland illegal.27 Neben persönlicher Entscheidung sorgen sowohl Lebensumstände (wie etwa Alter oder Singlesein) als auch körperliche Veranlagung oder sexuelle Orientierung dafür, dass das Kinderkriegen praktisch für viele kein zentrales Thema der individuellen Lebensplanung darstellt. Die Auseinandersetzung mit Reproduktionstechnologien verspricht aber weit mehr, als Auskünfte über individuelle Lebensführung zu offenbaren. Denn hier geht es auch darum, wer Zugang zu unserer Gesellschaft hat und wer nicht. Daher beziehe ich mich nicht auf Interviews oder auf andere die individuelle Erfahrung fokussierenden Quellen. Stattdessen untersuche ich vor dem Hintergrund von Technologien, die einen Zugriff auf die Entstehung von menschlichem Leben erlauben, sie bedingende, begünstigende und begrenzende Aussagen, die sich in einem bestimmten Zeitraum in der Öffentlichkeit profilieren konnten. Dabei geht es um das Sprechen über eine Praxis, die durch Ein- und Zugriffe auf potentielle Mütter und das Ungeborene eine gänzlich neue Einord-

25 Insbesondere ethnographisch orientierte Arbeiten greifen den Aspekt der Erfahrung dezidiert auf. Besonders Ryna Rapp ist hier zu nennen, die mit ihrer Arbeit zur Amniozentese »Testing the women, testing the fetus« (1999) die subjektive Dimension des Technologieeinsatzes sichtbar macht. Ebenso auch Franklin, Sarah; Roberts, Cecilia: »Born and made. An ethnography of preimplantation genetic diagnosis«, 2006. 26 Zu diesem Thema: Correll, Lena: Anrufung zum Muttersein, Münster 2010. 27 Dies schließt die Auflagen, unter denen die IVF angewendet wird, aus. Dass nichtsdestotrotz auch in Deutschland Frauen im Rentenalter gebären, ist kein Widerspruch, sondern Resultat einer fortpflanzungstouristischen Unternehmung.

E INLEITUNG | 19

nung dessen erlaubt, was ›gesund‹ und was ›krank‹ bedeutet. Der Untersuchung liegt folglich die These zugrunde, dass nicht die Biowissenschaften an sich den Blick auf die Menschen verändern. Stattdessen sind es die öffentlichen Aushandlungen, die Normen bestimmen, sie wiederholen und verändern und so aktuelle Anerkennungsverhältnisse neu ordnen. Indem ich ein solches Anliegen mit einer Medienanalyse verbinde, konzentriere ich mich auf ein anderes Feld als jenes, auf dem per definitionem die Folgen der Biomedizin verhandelt werden: das der (Bio-)Ethik. Diese Entscheidung nimmt bewusst ein Scharnier zur Alltagswirklichkeit in den Blick.28 Die Medien bieten unabhängig vom Begriff der Erfahrung einen Zugang für eine Vielzahl von unterschiedlichen Menschen. Mithilfe dieser fraktionierten Räume der medialen Öffentlichkeit basteln sich viele Mitglieder der modernen Gesellschaft in unterschiedlich intensiver und unterschiedlich kompetenter Weise zugleich ihr Bild von der Welt. Insofern ist es nicht abwegig zu behaupten, dass – weil die individuellen Erfahrungen ja nicht im luftleeren Raum gemacht werden – der mediale Diskurs selbst an der Produktion der individuellen Erfahrung mitwirkt. Dabei stellt die Öffentlichkeit die Voraussetzung dafür dar, »dass wissenschaftliche Weltbilder entstehen können – und sie schafft erst die Bedingung dafür, dass Wissenschaft verstehen auch bedeuten kann, sie zu kritisieren.«29 Mit der Entscheidung, Printmedien als zentrale Quelle dieser Arbeit zu analysieren30, fokussiere ich zudem einen Darstellungsraum, der sich selbst aus he-

28 Wenn Philipp Sarasin konstatiert, was »Professoren der Geschichtswissenschaft von der Genetik wissen – und Genetikerinnen von der Geschichte«, das »erfahren sie wohl meistens aus dem Fernsehen und der Tageszeitung«, dann steht ein solcher Zugang stellvertretend für die meisten Rezipienten. Ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, 2003:256. 29 Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, 2003:257. 30 Ebenfalls aus einer diskursanalytischen Perspektive beschäftigen sich mit den Aushandlungen über Biomedizin: Jäger, Magret; Jäger, Siegrid; Ruth, Ina; SchulteHoltey, Ernst; Wichert, Frank: Biomacht und Medien, 2004. Bettina Bock von Wülfingen beschäftigt sich in ihrem Buch: Die Genetisierung der Zeugung (2006) ebenfalls mit Printmedien. Sowohl im Erkenntnisinteresse als auch in der Feinbestimmung eines methodischen Zugriffs unterscheiden sich allerdings beide Arbeiten von meinen Überlegungen. Während erstere ein weites Spektrum dessen in den Blick nehmen, was unter dem Label ›Biomedizin‹ verhandelt wird, konzentriert sich Bettina Bock von Wülfingen zwar, ebenso wie ich es in einem ersten Schritt tue, auf diejenigen Verfah-

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terogenen Quellen speist. Diese spannen ein Feld aus Koordinaten auf, in dem es etwa möglich ist, über Reproduktionsentscheidungen im Sinne eines zwischen den Generationen weitergegebenen biologischen Gutes nachzudenken. Das ist auch deshalb bedeutsam, weil die Biotechnologien unter besonderem Legitimationsdruck stehen, dem nur öffentlich entsprochen werden kann. Keines der Verfahren, um die es hier geht, wird zudem direktiv angewendet, d.h. verbindlich verordnet. Demnach muss ein gesellschaftliches Klima derart beschaffen sein, dass Untersuchungen und/oder Diagnostiken nachgefragt werden, oder dass deren Anwendung verworfen wird.31 Ohne solche Denkbarkeiten32, die nur öffentlich entstehen, entfalten sich auch nicht die gesellschaftspolitischen Einschätzungen, die als Grundlage für die Befürwortung oder Verwerfung von Technologien dienen. Damit unterstelle ich nicht, dass es einen genuinen Ort gäbe, an dem die Folgefragen der Biotechnologien verhandelt werden.33 Stattdessen geht es hier um das Ausfechten von (nicht automatisch am Konsens orientierten) Deutungshoheiten. Es geht eben nicht nur um die Wahrheit. Doch auch das, was innerhalb der Medien (normativ) verhandelt wird, verdient das Adjektiv ›ethisch‹. Mit einer solchen Zuschreibung komme ich zu der Annahme, dass das (normative) Sprechen über Biotechnologien dahingehend folgenreich ist, als das hier entstehende Wissen Effekte zeitigt, die weit mehr bedeuten als die Verbreitung von Informationen oder auf irgendeinen Service bezogenes Orientierungswissen. Die Aushandlung selbst bringt Normen hervor. Es geht also darum, ganz vom Material auszugehen und nicht das Material in die vorgegebenen Raster der philosophischen Bioethik oder der Rechtswissenschaft hineinzuzwängen. Umgekehrt sind Bioethik und rechtliche Erwägungen immer schon Teil des deutlich weiter ausgreifenden Materials.

ren, die die menschliche Fortpflanzung betreffen. Methodisch geht ihr Diskursbegriff allerdings über meinen hinaus. 31 Inwiefern hier unterschiedliche Begründungszusammenhänge konkurrieren, werde ich in meiner Analyse exemplarisch vorführen. Dazu zählt neben divergierenden (disziplinenbezogenen) Argumenten eine grundlegende Unterscheidung, ob die jeweiligen Verfahren am Einzelfall diskutiert oder im konsequentialistischen Sinne beurteilt werden. 32 An dieser Stelle teile ich die Ansicht von Bettina Bock von Wülfingen, die mit Philipp Ariès argumentiert, dass die Etablierung von (beispielsweise) Reproduktionstechnologien nur dann funktioniert, wenn alte und neue Diskursstränge sich miteinander verbinden. Bock von Wülfingen, Bettina: Die Genetisierung der Zeugung, 2006. 33 Das werde ich im Kapitel »Die Geburt der Bioethik« ausführen.

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Somit fungieren die Medien als Wahrheit produzierender »Hybridraum«34. Slavoy Zizek pointiert: »Wer [...] etwas für (un)wahr hält, sollte zugleich nach den Kriterien fragen, nach denen wir ›etwas für wahr halten‹, nach Kriterien, die niemals abstrakt und ahistorisch, sondern immer Teil eines konkreten Kontextes sind, in den wir geworfen sind.«35

In diesem dynamischen Prozess geht es um Deutungshoheit, d.h. es geht um den Anspruch, die Wahrheit in und über einen Diskurs für sich beanspruchen zu können. Foucault hat dafür den treffenden Begriff »Wahrheitsspiele« geprägt: »Die Wahrheit ist von dieser Welt, in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ›allgemeine‹ Politik der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt, es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.« 36

Damit ist das hohe Gut ›Wahrheit‹ als ein zutiefst weltliches ausgewiesen, das kontextabhängig produktiv wirkt, weil von ihm Macht ausgeht. Wahrheit ist bei Foucault eine mögliche, nicht aber eine notwendige Eigenschaft von Aussagen. Sie ist ein Effekt des Diskurses. Wissenschaftliche und öffentliche Wahrheiten können dementsprechend als »Wahrheitseffekte« verschiedener, sich überschneidender, ergänzender, weiterentwickelnder oder kritisierender Diskurse, d.h. als Resultat diskursiver Praktiken verstanden werden, die auch von einem »Willen zur Wahrheit« angetrieben werden. Indem ich davon ausgehe, dass im Reproduktionsdiskurs Wahrheiten (und an sie gebundene Normen) ausgehandelt, erstritten und wiederholt werden und dies nicht im luftleeren Raum stattfindet, nehme ich ferner an, dass durch eben diesen Mechanismus Kräfteverhältnisse wirksam werden, die ich Macht nenne. Entlang der Phalanx zwischen Wissen, Körper und Macht kommt dabei den Medien als Reflektions- und Initiationsorgan eine markante Schlüsselposition zu. Insbesondere anhand des Knotenpunkts

34 Felt, Ulrike ; Nowotny, Helga; Taschwer, Klaus: Wissenschaftsforschung, 1995. 35 Zizek, Slavoy: Die politische Suspension des Ethischen, 2005:17. 36 Foucault, Michel: Dispositive der Macht, 1978:51.

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Macht lässt sich aber dieses Verhältnis besonders konkret rekonstruieren. Macht verstehe ich dabei als Name, »den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt.«37 Je heterogener diese Kräfte sind, desto besser lässt sich das zeigen. Daher ist das Sprechen über Reproduktion ein besonders gutes Beispiel für einen von Kräfteverhältnissen geprägten Diskurs. In zwei Schritten nähere ich mich den so entstehenden diskursiven Konstellationen: Während ich mich in einer ersten empirischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Narrationssträngen innerhalb ausgewählter printmedialer Beiträge aus Deutschland, aus den wöchentlich erscheinenden Zeitschriften Spiegel und Zeit, auseinandersetze, spiegle ich die so gewonnenen Ergebnisse in einem zweiten Schritt mit Analysen printmedialer Beiträge aus Frankreich; ich konfrontiere also die Beiträge aus Spiegel und Zeit mit denen aus Le Nouvel Observateur und L’Express. Diesem Verfahren liegt wiederum die These zugrunde, dass in der Beziehung von Wissen und Wissenschaft auch nationalstaatlich geprägte Deutungsmuster im Verhältnis von Diskursivem und Nicht-Diskursivem erkennbar werden. Andernfalls müssten sich Sagbarkeiten an beiden Orten nach ähnlichen Formationsregeln bestimmen lassen. Ein solcher Vergleich ist besonders vor dem Hintergrund europäischer Einigungsbestrebungen, etwa durch eine gemeinsame Bioethik-Konvention, auf schlussreich. In der Forderung nach ethischer Einigkeit mischen sich dabei in der Aushandlung von Deutungshoheit dennoch divergierende (kulturelle) Deutungsmuster. Allem Anschein nach widerlegt dies jede Forderung nach einer universalistischen Perspektive auf das Leben.

(3) N ORM

ALS

O RGANISATIONSPRINZIP

Der Kampf um Deutungshoheit im Bezug auf Wissen organisiert sich um einen Begriff der Norm. Diesen gilt es im Folgenden zu unterscheiden von dem der Normalisierung und der Normativität. Jürgen Link fasst unter dem Schlagwort Normalismus38 den sich auf allen Ebenen auswirkenden Diskurs39 der Normalität als ein typisch modernes Dispositiv auf. Link unterscheidet dabei den Norma-

37 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, 1983:114. 38 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus, 2006. 39 Link unterscheidet zwischen einem Spezial-, einem Laien- und einem Interdiskurs. Aus oben genannten Gründen in Bezug auf das Verhältnis von Wissen und Wissenschaft teile ich eine solche Unterscheidung nicht.

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lismus von der Normativität dahingehend, dass Normalität Ergebnis von Statistik, Messungen und sich aus ihnen ergebenden Durchschnittswerten sei, wohingegen sich Normativität durch Werte und Normen präskriptiv konstituiere.40 Anhand des Umgangs mit embryonalen Stammzellen wägt Link die Normativität gegen die Normalität ab. Beide stellen für ihn zwei unterschiedliche Positionierungen in Bezug auf die Fragen um das Leben dar. Während die Normativität dabei einzelfallbezogen argumentiere, nehme die Normalität eine massenfeldbezogene Perspektive ein. Die Einmaligkeit und die Unvergleichbarkeit des individuellen Falles stünden der Positionierung des Individuums im homogenen Massenfeld gegenüber.41 Für meine Untersuchung schlage ich eine Lesart vor, die Normativität und Normalität nicht als zwei sich ergänzende Aspekte des diskursiven Geschehens versteht. Demgegenüber begreife ich die Norm als diejenige Instanz, die die soziale Intelligibilität regiert. Sie ermöglicht, dass bestimmte Praktiken und Handlungen als solche erkannt werden können und dass sie sich als wiederholt herbeigeführte Effekte jener Praktiken etablieren können. Normen wirken innerhalb sozialer Praktiken dabei als implizierter Standard der Normalisierung. Der Umgang etwa mit der Pränataldiagnostik nach der Jahrtausendwende illustriert eine solche Praxis. Normativität wird durch Normen bestimmt, die erst den Begriff des Lebens und dann den des Menschen hervorbringen, die überhaupt der Aner-

40 Link unterscheidet zudem für den Normalismus zwischen Protonormalismus und flexiblem Normalismus. Während ersterer sich in vielerlei Hinsicht an Normativität anlehnt und um eine Einengung des Normalitätsfeldes bemüht ist, dominiert in der Jetztzeit der flexible Normalismus, der Normalitätsgrenzen dezentriert und zur Inklusion einer Vielfalt von Phänomenen in den Bereich des Normalen tendiert. 41 Mit einer solchen Gegenüberstellung möchte Link die den Diskurs charakterisierende »binäre Versimplung« explizieren, um zu argumentieren, beide Positionen stünden auf einem Fundament (»Komplex des Normalismus«). Ders.: Normativität versus Normalität: Kulturelle Aspekte des guten Gewissens im Streit um die Gentechnik, in: Stingelin, Martin (Hg.): Biopolitik und Rassismus, 2003:184ff. Im Kontext seiner Thesen zur flexiblen Normalisierung stellt Jürgen Link fest, dass mit der zunehmenden Flexibilisierung von Normalitätsgrenzen die Entwicklung einer »Therapiekultur« verbunden sei, die subjektive Selbstnormalisierungsverfahren trainiere. Link, Jürgen: Diskursive Ereignisse, Diskurse, Interdiskurse: Sieben Thesen zur Operativität der Diskursanalyse am Beispiel des Normalismus, in: Bublitz, Hannelore; Bührmann, Andrea D.; Hanke, Christine; Seier, Andrea (Hg.): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, 1999, hier: 153f.

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kennung und Repräsentation wert sind. Das ›Leben‹ in diesem Sinn wird also durch Normen hervorgebracht, die es als ›Leben‹ oder – insbesondere in Folge medizinischer Einblicke – als Teil vom ›Leben‹ qualifizieren. Damit ergibt sich auf einer normativen Formulierungsgrundlage das Problem der Wahrnehmung von ›Leben‹. In diesem Sinne dienen die Normen der Anerkennung der Produktion und Reproduktion der Vorstellung vom Menschen. Dies führt insofern zur Frage der Anerkennung, weil es zu entscheiden gilt, wessen ›Leben‹ schützenswert ist und wessen nicht.42 Die (Sprach-)Bilder von Ungeborenen (etwa durch Anthropomorphisierungen) verdeutlichen dies besonders eindringlich. In keinem Fall führe ich damit aber einen deterministischen Normenbegriff ins Feld. Vielmehr unterbrechen und verschieben sich fortwährend normative Schemata. Gerade weil Normen hier in einem »offenen« Prozess aus dem Material gewonnen werden, kann dies deutlich werden. Normen wandeln sich, und, indem sie das tun, verwandelt sich auch das, was als erkennbar menschlich gilt und was nicht. Das so sichtbar werdende Machtdifferential unterscheidet auch durch institutionalisierte Regulierungen zwischen anerkennungsfähigen Subjekten und nicht-anerkennungsfähigen Objekten. Gesetze, Regeln, Praktiken konstituieren dabei rechtliche Instrumente, wie etwa die Zulassungsbedingungen zu bestimmten Verfahren. Indem ich also davon ausgehe, dass im öffentlichen Sprechen über Biowissenschaften Normen ausgehandelt werden und sich aufgrund dessen Anerkennungsverhältnisse ergeben, gehe ich gleichfalls davon aus, dass durch diesen Prozess wesentlich in die Lebenswelt eingreifende Effekte hervorgerufen werden.

(4) B IO

MACHT

P OLITIK

Als Effekt der durch den Diskurs generierten Dynamik entsteht Macht. Diese auf das Leben bezogene Macht heißt genauer: Biomacht. Was als Ergebnis einer Additionsrechnung von Begriffen wie ›Wissen‹ und ›Leben‹ erscheint – Biomacht oder auch Biopolitik –, erweist sich mit einer immensen Popularität als frei flottierender Begriff. Sucht man im Internet nach »Biomacht«, dann bieten sich (innerhalb von 0,21 Sekunden) ungefähr 77 800 Einträge, und 599 000 Einträge erhält, wer »biopower« sucht, als Hinweis auf dessen massenhafte Ver-

42 Dieser Frage geht, bezogen auf andere Beispiele, Judith Butler nach in: Dies.: Raster des Krieges, 2010.

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wendbarkeit.43 Die immense Verbreitung und Verwendung stellt auf einer Rezeptionsebene selbst eine Zielscheibe für Kritik dar. Diese kritisiert mangelnde Genauigkeit, Gültigkeit, Gradlinigkeit. Einen der bildmächtigsten Vorwürfe erhebt dabei Eva Illouz, indem sie anmahnt, es handle sich um einen – und hier macht sie eine Schöpfung Philippe Corcuffs fruchtbar – »Bulldozer-Begriff«44, dessen Allumfassendheit in der Praxis dafür sorge, dass er die »Komplexität des Sozialen einebne«45. Indem ich (nichtsdestotrotz) das, was innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzung verhandelt wird, als Indiz der Biomacht lese, verlangt eine solche Verwendung zweifelsohne nach Klärung. Wenn ich den Begriff ›Biomacht‹ verwende, beziehe mich auf Michel Foucaults Konzept46, lasse aber auch hier das Material, das diesen Begriff gebraucht, sprechen. Warum, so lässt sich mit Petra Gehring47 fragen, lohnt es sich, mit einer nicht mehr jungen Begrifflichkeit zu operieren, die zudem dem Vorwurf ausgesetzt ist, dass Foucault die Folgen dessen, was die Reproduktionstechnologien bzw. deren Etablierung bewirken könnten, an der Vorstellung dessen, was der Mensch ist, auch dann nicht absehen konnte, als er bereits Anfang der 1980er Jahre die Genetik als das »Neue Testament der Biologie«48 bezeichnete? Bernard Stiegler befindet sogar, es sei fahrlässig, Foucaults Vokabular auf heutige Zustände zu übertragen, denn damit »laufen wir Gefahr, den besonderen Charakter unserer Situation zu verschleiern.«49 Er habe den Eindruck, dass »die Biomacht, die Foucault historisch und geographisch, das heißt in erster Linie im Hinblick auf Europa, so überzeugend beschrieben hat, nicht dieselbe Macht ist, die unsere Epoche gegenwärtig prägt.«50 Neben der Ungenauigkeit (Illouz), der Unzeitgemäßheit (Gehring) und der Unzutreffendheit (Stiegler) besteht hinsichtlich der Verwendung aber noch eine vierte Schwierigkeit: Die Begriffe ›Biomacht‹, bzw.

43 http://www.google.de [03.01.10]. Für den Begriff »Biopolitik« wurden 67 700 Begriffe gefunden. 44 Illouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele, 2009:14. 45 Ebd. 46 Der Begriff ist jedoch keine Wortneuschöpfung Foucaults. Rudolf Kjellén, ein schwedischer Politikwissenschaftler, zählte zu den ersten, die den Begriff verwendeten. Für ihn sind Staaten überindividuelle Lebewesen. Auch der Nationalsozialismus nimmt den Begriff auf. Zur Begriffsgeschichte siehe Lemke, Thomas: Biopolitik, 2007. 47 Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006. 48 Foucault, Michel: Dits et Ecrits, Bd. II., 2002:126. 49 Stiegler, Bernard: Von der Biopolitik zur Psychomacht, 2009:28. 50 Ebd.:49.

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›Biopolitik‹, die ich verwende, um die durch diskursive Strategien hervorgehende Macht zu kennzeichnen, sind selber Bestandteil der Sprachpraxis der von mir ausgewählten Zeitschriften. Aus diesen Gründen werde ich in einem ersten Schritt nachvollziehen, auf welche Weise ›Biomacht‹ und ›Biopolitik‹ innerhalb der von mir untersuchten Medien Zeit und Spiegel Verwendung findet (4.1). Davon abgrenzend werde ich in einem zweiten Schritt auf Grundlage einer Auseinandersetzung mit Foucaults Modell und dessen Rezeption eine Festlegung anstreben (4.2). (4.1) Mediale Sagbarkeit: Biopolitik Unter dem Titel »Schwarz, gelb, frei?« prophezeite die Zeit, dass es nach der Bundestagswahl im Herbst 2009 unter »der neuen Regierung [...] keine biopolitische Wende«51 geben werde. Denn, wenngleich manch einer eben diese »von den Liberalen [erwartet habe, J.D.] – gegen den Widerstand der Union, die sich als Hüterin einer christlich inspirierten Menschenwürde sieht«, sei eine Veränderung keinesfalls durchsetzbar. Offensichtlich wird hier ›Biopolitik‹ bzw. ›biopolitisch‹ synonym verwandt mit denjenigen politischen Entscheidungen, die angesichts von medizinischen Möglichkeiten gesellschaftlich diskutabel sind. Indem das Bild einer forschungspolitisch im Vergleich zum christlichen Bekenntnis progressiv aufgestellten FDP gezeichnet wird, erscheint Biopolitik als Sujet des Regierens. Biopolitik steht damit gleichbedeutend neben anderen Ressorts, wie etwa der Energie- oder Finanzpolitik, die dieser Logik folgend Anrecht auf einen Ministerposten hätte. Nur so erklärt sich, warum nach Ansicht des Spiegels Maria Böhmer in der Unionsfraktion »zuständig für die Biopolitik«52 ist. Biopolitik gilt hier offensichtlich als Ressort. Es handelt sich aber nicht nur um einen Zuständigkeitsbereich, sondern auch um eine Positionierung zum Gegenstand der Biomedizin. Mit einem solchen Verständnis können »konservative Biopolitiker«53 Seite an Seite mit »katholische[n] Bischöfe[n]« gegen biomedizinische Forschung Stellung beziehen, und es wird ersichtlich, warum ein »spektakuläres Stammzellexperiment [...] hiesigen Forschern Munition für den Kampf gegen die strenge Biopolitik in Deutschland«54 bietet.

51 Art. »Schwarz, gelb, frei?«, in: Die Zeit 41/2009. 52 Art. »Fortschrittsglaube gegen Moral«, in: Der Spiegel 34/2005. 53 Art. »Rohstoff der Menschenwürde«, in: Der Spiegel 7/2008. 54 Art. »Weckruf aus Fernost«, in: Der Spiegel 21/2005.

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Anhand solcher Beispiele deutet sich ein Verständnis von Biopolitik an, das sich mit Folgen der Biotechnologien als Sammelbegriff für unterschiedliche Dimensionen auseinandersetzt. Zu diesen zählen nicht nur die im direkten Dunstkreis des Parlamentes getroffenen Entscheidungen. So sitzt in Dresden »erstmals ein Gremium aus Laien über die Biopolitik zu Gericht«55. Eine solche Einordnung verortet die Biopolitik auf einer bürgernahen partizipatorischen Ebene; als Thema eines von ausgewiesenen Nicht-Experten56 diskutieren Gegenstands. Von einem solchen unterschieden ist die »Selbstfindung für Diven«57, die der Deutsche Ethikrat betreibe, indem es dort mehr um Selbstdarstellung als um Sachfragen gehe. In einem doppelten Sinn wird hier Privatismus und Exklusivität aneinander gebunden, was schlussendlich dazu führe, dass der »neue Deutsche Ethikrat [...] seinen Aufgaben nicht gerecht« werde. Statt für »Durchblick in der Biopolitik« zu sorgen, diene er als »Beschäftigungstherapie«. Im Versäumnis, klärend zu intervenieren, steckt zumindest ein Hinweis auf die Komplexität dieses Feldes der Biopolitik, die niemals privat (im therapeutischen Diskurs beheimatet – wie die Begriffe »Selbstfindung« und »Beschäftigungstherapie« belegen) zu verstehen sei. Notwendige Voraussetzung für Biopolitik bildet vielmehr deren Öffentlichkeit. Als Ressort unter Bedingungen der Öffentlichkeit ist sie natürlich auch Gegenstand der Überzeugungen von Bürgerinnen und Bürgern. In dem Beitrag »Unverbindlich verboten«58 heißt es in diesem Sinne: zwar sei in Bezug auf das Klonen die Rechtslage in Deutschland eindeutig, denn das Embryonenschutzgesetz verbiete dies in jeder Form. »Doch weder das Verfassungsrecht noch die politische Großwetterlage noch die Meinung der Wahlbürger machen die Vorstellung plausibel, die derzeit gültigen Normen seien das letzte Wort. Die meisten Deutschen sind, Umfragen zufolge, biopolitisch indifferent.«59

Der Unterschied zwischen Bio- und Finanzpolitik tritt hier offensichtlich zu Tage, besteht dieser doch in nicht weniger als im Bezug der Biopolitik auf das Le-

55 Art. »Das Volk hat gesprochen«, in: Die Zeit 49/2001. 56 Auf die Zuschreibung eines Experten- bzw. Laienstatus komme ich noch ausführlich zurück. 57 Art. »Selbstfindung für Diven«, in: Der Spiegel 46/2009. Die folgenden Zitate: ebd. 58 Art. »Unverbindlich verboten. Die Suche der UN nach einem Klonkonsens ist gescheitert«, in: Die Zeit 9/2005. 59 Ebd.

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ben. Dadurch seien die Bürgerinnen und Bürger involvierter als das bei anderen Politikfeldern der Fall sein mag.60 Interessanterweise führt die Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern hier zu etwas, das kennzeichnend für das Reden über (die Folgen von) Biomedizin ist: Die Nähe des Gegenstandes (Leben) unterstellt vordergründig eine mögliche Entschiedenheit, die aber bei genauerer Betrachtung nahezu nirgends herstellbar ist. An dieser Stelle kann »biopolitisch indifferent« nicht mehr meinen als: in Fragen der Biomedizin unentschieden. Die Summe der (durch Umfragen ermittelten) Meinungen mündet hier in ein Verständnis von Biomedizin als Biopolitik. Zur Interessenskollision kann es dann kommen, wenn nicht ausschließlich einzelne Individuen eine Haltung zur (Nutzung von) Biomedizin vertreten, sondern wenn die Biopolitik (als Politik des Regierens) diesen individuellen Haltungen gegenübersteht. »Das gilt übrigens auch für die Bevölkerung der Vereinigten Staaten; die Biopolitik der Regierung Bush kann sich nicht auf eine Mehrheit, ja nicht einmal auf eine große Bevölkerungsgruppe stützen. Die Indifferenz herrscht sogar weltweit vor – insofern passt die Resolution zur Lage.«61

Die Unsicherheit im Hinblick auf ein Urteil bezieht sich aber wohl kaum konkret auf die biomedizinische Forschung: Die wenigsten werden dazu in der Lage sein. Stattdessen geht es hier um die gesellschaftlichen Konsequenzen einer (individuellen) Anwendung eines medizinischen Angebots. Indem die Haltung gegenüber der Biomedizin als Biopolitik verstanden wird, zeigt sich, dass über das medizinische Wissen hinausgehende Fragen verhandelt werden, für die eine herzustellende Einigung unterstellt wird. Dass Einigung hier etwas anderes meint als Konsens, ergibt sich aus der Logik des politischen Handelns, das auf Einigung, nicht aber auf Wahrheit oder Konsens ausgerichtet ist. Einer solchen medialen Verwendung des Begriffs ›Biopolitik‹62 – hinter den der Begriff ›Biomacht‹ quantitativ weit zurückfällt63 – haftet eine direkte Ziel-

60 Jürgen Habermas diagnostiziert in diesem Sinne ein »Interesse der Staatsbürger«, weil hier Fragen erörtert werden, deren »moralisches Gewicht weit über die Substanz der üblichen politischen Streitgegenstände« hinausgehe. Ders., Die Zukunft der menschlichen Natur, 2001:35. 61 Ebd. 62 Eine solche Verwendung beschränkt sich nicht nur auf die Medien, sondern spiegelt sich etwa auch in Publikationen wie der von Manfred Spieker: Biopolitik. Probleme des Lebens, 2009.

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richtung an: von oben nach unten. Eine solche Souveränität wird in diesem Bild flankiert durch eine ihr zugeschriebene inhärente Willkür und Schicksalhaftigkeit. In diesem Sinn erscheint »Biopolitik als Glücksspiel«64. Sie gilt als etwas, das nach undurchsichtigen Regeln an einem öffentlichen Ort ausgewürfelt wird. Inwiefern hier mehr Angebot und Nachfrage als gute Gründe regulierend wirksam werden, das verdeutlicht die topologische Metapher »Basar der Biopolitik«65. Eine solche undurchsichtige Regelung führe dazu, dass die »Embryonenforschung [...] in Europa sehr uneinheitlich geregelt«66 sei, dass einige »Staaten [...] noch nicht über Gesetze [sic!]«67 verfügen. Zweifelsohne verweist Biopolitik, indem sie einen spezifischen Bereich der Politik kennzeichnet, auf eine nationalstaatlich geprägte Gangart. Diese deutet sich an, wenn die Zeit titelt: »Die Briten sind im Umgang mit Genforschung und

63 Für den Spiegel konnte ich den Begriff an keiner Stelle nachweisen. In der Zeit findet er sich in einer Auseinandersetzung mit André Glucksmanns Buch »Der Stachel der Liebe«, in dem er sich mit Ethik im Zeitalter von Aids beschäftig. In der Rezension heißt es: »Die allgegenwärtige ›Biomacht‹ der Medizinindustrie habe den Mythos von der totalen Immunität, der restlos desinfizierten Gesellschaft und einer herstellbaren vollkommenen Gesundheit verbreitet« (Art. »Sieg der Fäulnis«, in: Die Zeit 14/1995). Indem diese Biomacht von einem Versucher (Medizinindustrie) ausgeübt wird, liegt einer solchen Verwendung ein souveräner Machtbegriff zugrunde. In einem Interview, das die Zeit mit Bruno Latour im Jahr 2000 führte, nimmt dieser explizit Bezug auf Foucaults Prägung des Begriffs. Hier heißt es: »Wenn ein Genetiker vom Gen spricht, will ich wissen, wie seine Tatsachen zustande kamen. Wer die Umstände des Forschens nicht hinzufügt, nimmt durch die Behauptung von Eindeutigkeit und Einheitlichkeit eine reine Position der Macht ein. Nimmt man dem Genetiker sein Labor weg, bleibt von den Genen nichts übrig. Nimmt man den Ökonomen ihre Rechenmaschinen weg, ergeht es ihnen nicht anders. Die Frage nach der Realität des Erforschten finde ich nicht so wichtig wie die andere, ob es demokratisch sozialisiert wird. Mich interessiert, wie sich in der Forschung soziale, ethische, ästhetische, politische, instrumentelle Aspekte durchdringen. Das ergibt eine offene Landkarte vielfältiger Handlungen und Verwicklungen. Das Thema der Biomacht, das Foucault aufgeworfen hat, ist Teil einer verästelten politischen Kultur« (Art. »Die Kühe haben das Wort«, in: Die Zeit 49/2000). 64 Art. »Biopolitik als Glücksspiel«, in: Die Zeit 34/2001. 65 Art. »Im Basar der Biopolitik«, in: Die Zeit 5/2002. 66 Ebd. 67 Ebd.

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Reproduktionsmedizin das liberalste Volk Europas. Ihr Antrieb ist pragmatische Neugier.«68 Der folgende Text führt hierzu näher aus: »Mittlerweile 17 Jahre alt ist das Gesetz, auf dessen Grundlage die HFEA69 ihre Entscheidungen trifft. Die meisten biomedizinischen Techniken existierten noch nicht, als es damals vom Parlament beschlossen wurde. Kritiker verlangen deshalb schon lange, die Politik müsse die Regeln der Biopolitik aktualisieren.«70

Unter das Label ›Biopolitik‹ fällt hier der legislative Regelungsbedarf all jener Problemlagen, die durch die Biomedizin entstanden sind. Wenngleich diesem Verständnis nach legislativ verankerte Biopolitik nationalstaatlich geprägt ist, besitzt sie hieraus resultierend eine internationale Dimension, so dass die Wiedervorlage des weltweiten Klonverbots 2002 – als offensichtliches Sujet der Biopolitik – an den USA scheiterte. Daraus folgt: »Jetzt kann man die US-Regierung auch in Sachen internationaler Biopolitik der Quertreiberei bezichtigen. Das Ergebnis aber ist offenkundig. Der Entwurf eines weltweiten Klonverbots geht zähen Verhandlungen entgegen. Im UN-Rechtsausschuss, der das Verbot auf den Weg bringen sollte, herrscht Verärgerung, vor allem bei Deutschen und Franzosen.«71

Eine semantische Verschiebung zeichnet sich mit der Suche nach einem »dritte[n] Weg in der Biopolitik«72 ab. Auf diesem wird nach Ansicht der Zeit der »Deutsche Bundestag [...] über letzte Dinge sprechen: Leben, Sterben, Menschenwürde. Kann er das?«73 Die hier artikulierten Kompetenzprobleme durch das Ineinanderverschränktsein von Regulierung (nationales und internationales Recht) und Normativität (moralisch universalistische Deutungen des menschlichen Lebens) erweisen sich dann als besonders illustrativ, wenn nach den Gründen für die entstandene Unstimmigkeit gefragt wird. »Wer Ende Januar Johannes

68 Art. »Der große Unterschied«, in: Die Zeit 23/2008. 69 HFEA steht für Human Fertilisation and Embryology Authority. Unter diesem Titel arbeiten die Institution nach eigenen Angaben als »independent regulator overseeing the use of gametes and embryos in fertility treatment and research.«; http://www. hfea.gov.uk/ [27.11.2009]. 70 Art. »Der große Unterschied«, in: Die Zeit 23/2008. 71 Art. »Wiedervorlage«, in: Die Zeit 47/2002. 72 Art. »Gesucht: Der dritte Weg in der Biopolitik«, in: Die Zeit 9/2001. 73 Ebd.

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Raus Rede zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus gehört hat, mag sich die Gründe ausmalen, die den Kanzler biopolitisch die Nähe des Präsidenten meiden lassen.« Rau erinnerte deutlich und mit unverkennbarem Gegenwartsbezug an die Schuldgeschichte deutscher Forscher und Ärzte in der NSZeit, an »Wissenschaftler ohne jede Selbstbeschränkung«, für die »der Zivilisationsbruch das Tor zu neuen Möglichkeiten«74 war. Dass Schröder Rau biopolitisch mied, drückt mehr als eine unterschiedliche Haltung in Fragen der Folgen von Biomedizin aus. Vielmehr markiert die Verquickung zweier Diskursebenen – Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus und biomedizinische Forschung – die belastete und unvereinbare Dimension im Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart.75 Allgemein gesprochen ist der in den von mir untersuchten Medien enthaltene Biopolitik-Begriff durch Ehrfurcht und Mahnung gekennzeichnet. Der Biopolitik nachzugehen (womit sie eben zu einem Ressort wird) haftet der Verdacht an, Lobbyarbeit für die Bioindustrie zu betreiben. Petra Gehring geht in diesem Sinn davon aus, dass Biopolitik nicht lediglich als Bezeichnung eines Politikfeldes fungiert, sondern, dass hier ein kritischer Beiklang mitschwingt, einer sich des Lebens bemächtigenden Politik.76 Eine ähnliche Funktion lässt sich in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in Bezug auf den Begriff der Life Politics beobachten. Anthony Giddens, der den Begriff prägte, geht davon aus, dass in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Menschheit in ein neues Stadium eingetreten sei. Die sich für ihn daraus ergebene Weiterentwicklung und Radikalisierung der Moderne macht den Begriff der Reflexivität zentral. In der Spätmoderne, so Giddens, trete an die Stelle vorgegebener Lebensentwürfe eine Kultur des Aushandelns, womit Lebensstile frei gestaltbar werden. Gleichzeitig taucht auch eine neue Form der Politik auf: Die Lebenspolitik. Unter dieser versteht er »Formen radikalen Engagements, die bestrebt sind, die Möglichkeiten eines erfüllenden Lebens für alle zu fördern.«77 In diesem Sinn hört die Natur auf, unser Schicksal zu sein. Fortan sind wir mit Entscheidungszwängen etc. konfrontiert. Diese charakterisieren die Politik des Lebens.

74 Ebd. 75 Hierzu: Diekämper, Julia; Robel, Yvonne: The hidden history. kultuRRevolution Nr. 55/56 2009. 76 Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:8. 77 Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne, 1995:193.

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Inwiefern der Begriff der Life Politics oftmals sogar synonym mit dem der Biopolitik verwendet wird, das belegen etwa die Ausführungen Alexander Bogners, wenn er schreibt, seine Kritik ziele auf die »falsche Gewissheit, dass eine solche Entstaatlichung und Individualisierung der Biopolitik (›Life-Politics‹) gleichbedeutend sei mit einer reflexiven Praxis.«78 Wenn er weiterhin in der individuellen Ausrichtung an einem Risikodiskurs einen Wandel der Biomacht von einer disziplinierenden hin zu einer »Selbstsorge« konstatiert, dann liegt dieser Einschätzung dennoch eine andere Annahme von Biopolitik zugrunde als der Foucaults. Im Gegensatz zu Foucault, so Bogner weiter, betrachte Giddens den Körper vielmehr als »einen Ort, an dem moralische Grundfragen aufbrechen.«79 Seines Erachtens sei die biomedizinische Wende durch eine zunehmende, alle Lebensbereiche durchdringende Individualisierung gekennzeichnet. Gleichzeitig mit einer Aufwertung der Laien ereigne sich ein Autoritätsverlust der Experten. Die Rolle des Staates als biopolitischer Akteur sei dahingehend zu vernachlässigen. »In diesem Sinne könnte man von einem Übergang von einem Zeitalter staatlicher oder expertokratischer Biopolitik in die Ära der Life-Politics sprechen, in der v.a. die liberalen Leitwerte von Autonomie und Entscheidungsfreiheit maßgeblich«80 seien. Der Begriff der Life Politics findet jedoch innerhalb der medialen Auseinandersetzung keine Verwendung. Was jedoch Eingang erhält, und das ist in der Abgrenzung Biomacht und Biopolitik bemerkenswert, ist der Begriff der Lebenswissenschaften (oder: Life Science). So mahnt etwa der Spiegel in Bezug auf den Nationalen Ethikrat an: »Gewiss, er [der Nationale Ethikrat, J.D.] wurde als Forum für die ethischen Fragen der Lebenswissenschaften gegründet, und wenn die Lebenswissenschaften naturalistisch hinreichend verkürzt werden, kommen nur Stammzellen und Embryonen in ihren Blick!«81 Ohne Frage wird hier Lebenswissenschaft synonym mit dem forschungsbezogenen Teil der

78 Bogner, Alexander: Kritik der Life-Politcs – Zum Grenzziehungsdiskurs der Humangenetik, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 3/2004, hier: 49. An späterer Stelle führt er aus, hierbei handle es sich um zwei »Großtheorien«, die auf unterschiedliche Weise (er bindet nun die Konzepte jeweils an Foucault und an Giddens zurück) das Spannungsverhältnis von Wissenszuwachs und institutionellem Wandel in den Blick nähmen. 79 Ebd. 80 Bogner, Alexander: Kritik der Life-Politcs – Zum Grenzziehungsdiskurs der Humangenetik, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 3/2004, hier: 64. 81 Art. »An der Grenze des Rechts«, in: Der Spiegel 3/2005.

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benswissenschaft synonym mit dem forschungsbezogenen Teil der Biomedizin verwandt.82 (4.2) Das Foucault’sche Pendel: Biopolitik – Biomacht Gerade weil die Medienbeispiele den Begriff der Biopolitik primär im Sinne eines Ressorts verwenden, werde ich im Folgenden skizzieren, warum eine vom Material ausgehende Kategorie der Biopolitik mit Foucaults Konzept unterfüttert werden muss, um die in den Diskurs eingeschriebenen Machteffekte zu verstehen. Dafür ist es notwendig, in aller Kürze zusammenzufassen, wie Foucault mit den Begrifflichkeiten operiert und in welchem Kontext sie entstanden sind.83 Denn nur so wird deutlich, warum mir der wirklichkeitsorganisierende Begriff der Biomacht als Analyseinstrument zur Untersuchung von Machtprozessen dient und warum er als »beschreibende Kategorie«84 fungiert. Eine Konkretion ist zudem auch deshalb notwendig, weil das, was Foucault mit seinem Konzept im Sinn hatte, weitgehend an einen integralen Körper gebunden war, wohingegen die aktuelle Reproduktionsmedizin eine Zerlegung und Rekombination des Körpers im Auge hat, als deren Folge ein »Interventionsniveau unterhalb der klassischen biopolitischen Pole Individuum und Bevölkerung«85 entsteht. Foucault verwendet den heuristischen Begriff ›Biomacht‹ (biopouvoir) als Abgrenzung gegenüber einer die Moderne kennzeichnenden souveränen Macht.

82 Einen ähnlichen Verwendungszusammenhang wählt Hubert Markel, wenn er schreibt: »Auch auf der anderen Seite der zweigeteilten Bildungswelt ist die Landschaft nicht weniger vielgestaltig: Lebenswissenschaften, Physik, Chemie, Astronomie und Geooder Ingenieurwissenschaften sind zwar alle durch gemeinsame Naturerkenntniswurzeln verbunden und – aus Gründen, die immer noch eher mit Staunen als mit Einsicht zur Kenntnis zu nehmen sind – allesamt durch die reine Geisteswelt der Mathematik eingehüllt.« Art. »Schnee von gestern«, in: Der Spiegel 32/2002. 83 Zur Rezeptionsgeschichte der Biomacht: Lemke, Thomas: Biopolitik, 2007. Lemke zeichnet die unterschiedlichen (politischen) Kontexte nach, für die der Begriff ›Biopolitik‹ Bedeutung erzielte. Siehe auch: Muhle, Maria: Genealogie der Biomacht, 2008. Ausgehend von Foucaults Begriff des Lebens leuchtet Muhle hierbei die unterschiedlichen Spielarten zwischen ›Leben‹ und Normen aus. Dabei bindet sie Foucaults Ausführungen konsequent an die Überlegungen Canguilhems zurück und konfrontiert die so gewonnenen Ergebnisse mit der Neuauslegung des Terminus bei Agamben. 84 Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:11. 85 Lemke, Thomas: Biopolitik, 2007:144.

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Beide Machtformen beziehen sich auf die zentralen menschlichen Größen ›Leben‹ und ›Tod‹. Diese neue Macht, die ab dem 18. Jahrhundert entsteht, konzentriert sich auf das Leben86, bzw. auf dessen Steigerung; auf die konkrete Möglichkeit also, auf das Leben Einfluss auszuüben. Die (Be-)Förderung von ›Leben‹ setzt dabei Kenntnisse über den menschlichen Körper ebenso voraus, wie ihn begünstigende oder verhindernde gesellschaftliche Voraussetzungen. Mit diesen Kenntnissen lassen sich das Leben betreffende Prozesse regulieren. Das funktioniert nur, wenn die biologischen Grundlagen des Menschen, d.h. des Menschen als Lebewesen, für geschichtliche, politische Prozesse zugänglich werden, dass also seine körperlichen Funktionen zu den bevorzugten Zielscheiben der Macht werden. Im Gegensatz zur disziplinären Macht, die den individuellen Körper betrifft, steht im Mittelpunkt der Biomacht ein multipler Körper. Diese Machtform tritt im Zusammenhang mit der Entstehung des Bevölkerungskonzepts als sowohl politisches, wissenschaftliches und ökonomisches zu gestaltendes Objekt in Erscheinung.87 Die Entdeckung der Gesellschaft steht für das moderne Verständnis, dass ein Staat ohne Erkenntnisse über die Bevölkerung nicht regierbar sei. Dabei wird dieser multiple Körper als Masse seiner Individuen im Fortbestehen der Zeit betrachtet. Die sich durch etablierende Wissenschaften mögliche Verschränkung der Machtsphären von Bevölkerung und Individuum thematisiert Foucault anhand der Kontrolle der Sexualität. Besonders in Beziehung auf den Körper wird eine neue Wissenschaft erkennbar. Als ihre Instrumente dienen Geburtenraten, Daten zur Sterblichkeit und zur Lebensdauer. Diese Größen werden mit den ökonomischen und politischen Kämpfen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbunden. Ziel ist es, Macht über das Leben zu gewinnen – bei einer gleichzeitigen Tabuisierung des Todes. Durch die auf dieser Grundlage entstehende neue Verantwortung verschafft sich die Staatsmacht Zugang zum Körper.88 Krankheit wird als Bevölkerungsphänomen verstanden und zur Aufgabe der öffentlichen Hygiene. Dazu bedarf es einer Zentralisierung der Informationen, die eine Normalisierung des Wissens ermöglicht.89 Das heißt ferner, dass ein solches Macht-

86 Maria Muhle stellt fest, dass das Leben nicht nur zentraler Gegenstand der Biomacht sei, sondern dass es auch gleichzeitig das funktionale Modell sei (Gegenstand und Funktionsmodell). Muhle, Maria: Eine Genealogie der Biopolitik, 2008:11. 87 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, 2001:389. 88 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit I, 1983:170. 89 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, 2001:388.

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modell auch deshalb keinen (personalen) Machthaber kennt, weil Macht nicht eigens und als solche ausgeübt wird. In der wissenschaftlichen Rezeption des Biomacht-Models lassen sich, allgemein gesprochen, zwei unterschiedliche Linien ausmachen.90 Prominenteste Beispiele innerhalb der Debatte stellen Giorgio Agamben91 auf der einen, Michael Hardt und Antonio Negri auf der anderen Seite dar. Dabei geht es um die Fragen nach dem Modus des Politischen. Das meint genauer: nach den Funktionsweisen der Biomacht ebenso zu fragen wie nach den Gegenkräften, die sie mobilisiert. (a) Im Gegensatz zu Foucault besteht Agamben auf einer logischen Verbindung zwischen Souveränitätsmacht und Biopolitik: In seiner Interpretation bildet – also ganz anders als bei Foucault – die Biopolitik den Kern souveräner Machtausübung. Es handelt sich demnach um eine Radikalisierung und Generalisierung, die auf ein impliziertes Festhalten an einem juridischen Machtbegriff und eine Fixierung auf den Staat hin deuten. In Homo Sacer92 entwickelt Agamben die Argumentation, es handle sich bei der Unterscheidung, die die politische Tradition seit der griechischen Antike prägt, nicht um die Leitdifferenz zwischen Freund und Feind, sondern um die Trennung zwischen dem nackten Leben (zoé) und der politischen Existenz (bios); dem natürlichen Dasein und dem rechtlichen Sein eines Menschen. Bezogen auf die Gegenwart zählen für ihn zu diesem nackten Leben Hirntote ebenso wie Staatenlose und Flüchtlinge, weil sie alle vom Schutz des Gesetzes ausgeschlossen seien. Sie sind entweder auf Hilfe angewiesen, ohne aber einen Anspruch geltend machen zu können, oder sie werden auf »Biomasse« reduziert. Wenngleich ich Agamben in der exklusiven Bedeutung des Rechts insbesondere in Bezug auf die Anerkennung von Subjekten folge, braucht es, um die Dynamik eines solchen Machtkomplexes begreifen zu können, doch ein weniger souverän orientiertes Machtverständnis. Indem Agamben hier einen souverän-repressiven Begriff zur Geltung bringt, bzw. indem er versucht, Biomacht und Souveränität miteinander zu versöhnen, lässt sich eine solche Blickrichtung für meine Untersuchung besonders dann nicht aufrechterhalten, wenn ich von einer in den Ressortbegriff der Biomacht – die

90 Hierzu: Lemke, Thomas: Biopolitik, 2007. 91 Maria Muhle etwa nimmt die Differenz der Neuinterpretation zum Anlass einer Auseinandersetzung und geht der unterschiedlichen Verwendungsweise von Agamben und Foucault nach. Dies.: Eine Geneaologie der Biopolitik, 2008. 92 Agamben, Giogio: Homo sacer, 2002.

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mit dem Verständnis von Agamben kombinierbar wäre – viel stärker eingewobenen Machtkomponente des Diskurses ausgehe. (b) Für Hardt und Negri steht die Biopolitik für eine neue Etappe kapitalistischer Vergesellschaftung, die durch die Auflösung der Grenzen zwischen Ökonomie und Politik, Reproduktion und Produktion gekennzeichnet ist. »Biomacht ist eine Form, die das soziale Leben von innen heraus Regeln unterwirft, es verfolgt, interpretiert, absorbiert und schließlich neu artikuliert. Die Macht über das Leben der Bevölkerung kann sich in dem Maße etablieren, wie sie ein integraler und vitaler Bestandteil eines jeden individuellen Lebens wird, den die Individuen bereitwillig aufgreifen und mit ihrem Einverständnis versehen weitergeben.«93

Hardt und Negri unterscheiden Biomacht terminologisch folgendermaßen vom Begriff der Biopolitik: »Die Biomacht steht über der Gesellschaft, transzendent, als souveräne Gewalt und zwingt ihr ihre Ordnung auf. Biopolitische Produktion hingegen ist der Gesellschaft immanent und schafft durch kooperative Formen der Arbeit selbst gesellschaftliche Beziehungen und Formen.«94

Aus dieser allumfassenden Perspektive lässt sich jedoch für die hier vorgeschlagene Analyse kein »Kapital« schlagen, denn der von Hardt und Negri gebrauchte Begriff der Biopolitik ist zu unspezifisch, um die konkreten Machteffekte im Reproduktionsdiskurs zu entfalten. Um Foucaults Konzept auf gegenwärtige Zustände anwendbar zu machen, nutzt Bernard Stiegler den Terminus der Psychomacht/Psychopolitik. Stiegler geht davon aus, dass die Konstellationen der Biomacht »nicht länger von Nationalstaaten (und ihren Programminstitutionen) abhängig [ist, J.D.], sondern vielmehr von deterritorialisierten ökonomischen Kräften, die neue diskursive und nicht-diskursive Verbindungen oder kurz: neue Dispositive ausbilden.«95 Insbesondere durch den asymmetrischen Vergleich des deutschen und französischen Reproduktionsdiskurses soll in meiner Untersuchung eine solche Einschätzung

93 Hardt, Michael; Negri, Antonio: Empire, 2002:400. 94 Dies.: Multitude, 2004:113. 95 Stiegler, Bernard: Von der Biopolitik zur Psychomacht, 2009:49.

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auf Grundlage von realen, aus dem Material gewonnenen Sagbarkeiten widerlegt werden. (4.3) Biomacht reloaded Ich nähere mich dem Biomachtbegriff und damit der Biopolitik auf drei unterschiedlichen Ebenen: Auf einer ersten Ebene bietet sich das Konzept im Kontext von Reproduktionstechnologien an, weil hier Perspektiven auf das Ungeborene gewonnen werden, die dieses anhand von (genetischen) Maßgaben beurteilbar machen. Das hier (im wahrsten Sinne des Wortes durch Techniken wie der Ultraschalldiagnostik) sichtbar werdende Wissen bezieht sich in mehrfacher Hinsicht auf das Leben: Denn entsprechende Befunde locken nicht nur mit Auskünften über die zu erwartende Lebensqualität, sondern anhand dieser Ergebnisse wird oftmals eine Entscheidung über Leben getroffen, und zwar in dem Sinn, dass einem sogenannten positiven Befund nach einer Pränataldiagnostik oftmals ein Schwangerschaftsabbruch folgt. Im Kontext der Reproduktionsmedizin geht es nicht nur um die Entscheidung, »was leben soll und was sterben muss«96, sondern auch darum, Leben zu machen und leben zu lassen. In diesem Sinne ist Macht im allerelementarsten Sinne in Biomacht anwesend als Verfügbarkeit von Verfahren, die diese Entscheidung anhand von auf Bevölkerung hin erhobene Daten möglich machen, unabhängig davon, wer die Entscheidung trifft, oder ob diese Entscheidung gewissermaßen im Rücken der Akteure getroffen wird. Auf einer weiteren Ebene lassen sich mit dem Begriff der »genetischen Gouvernementalität«97 die Schnittstellen zwischen Fremd- und Selbstführung als nicht aufeinander reduzierbar verstehen. Sie treten auch nicht als Gegensatzpaar in Erscheinung, sondern werden als Elemente eines Kontinuums verstanden. Der Begriff der Biomacht verweist damit auf unterschiedliche Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf Individuen und Kollektive zielen. Eine solche Perspektive nimmt die Frauen, an denen ja die Untersuchungen, die sich auf das Ungeborene beziehen, primär vollzogen werden, besonders in den Blick. Jedoch spielt der Aspekt der subjektiven Erfahrung der Betroffenen nur dahingehend eine Rolle, dass über sie in den Zeitungen und Zeitschriften gesprochen wird. Beide Ebenen zusammen gewähren Einblicke, wie bestimmte Sag- und Denkbarkeiten entstehen, die etwa die Klassifizierung von Leben zum Gegenstand haben. Denn spätestens dann wird drittens ersichtlich, dass es hier nicht

96 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, 1983:57. 97 Lemke, Thomas: Gouvernementalität und Biopolitik, 2007:130.

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nur um eine individuelle Konfliktlage geht; die Entscheidungen werden nicht an individuelle Akteure, z.B. Betroffene, Berater oder Ärzte gebunden, sondern hier werden auch gesellschaftliche Normen ausgehandelt, die die Bevölkerung betreffen. Anhand der strukturell unterschiedlichen Szenarien und insbesondere durch den angesprochenen Vergleich wird deutlich, dass die Probleme der Biomacht »nicht vom Rahmen politischer Rationalität zu trennen sind, innerhalb dessen sie aufgetreten und ihre Zuspitzung erfuhren.«98 In Foucaults Modell der Biomacht kommt insbesondere der Sexualität eine zentrale Bedeutung zu, die er unter dem Begriff Sexualitätsdispositiv zusammenfasst. Dieses funktioniert als Schnittstelle zwischen den individuellen Disziplinen des Körpers und biopolitischen (dann entsprechend auf Bevölkerung bezogenen) Techniken. Aus diesem Grund nehme ich die Frage in den Blick, inwiefern eine solche Positionierung Verwendung finden kann, wenn als eine Folge der Etablierung von Reproduktionstechnologien nun Bevölkerung auch jenseits von Sexualität beeinflussbar ist. Denn heute stellt die Steuerung von Sexualität nicht mehr das einzige Werkzeug der Sicherung des Bevölkerungswachstums, der Produktion der Arbeitskraft und der Tradition gesellschaftlicher Beziehungen dar. Stattdessen sind Auswirkungen medizinischer Maßnahmen »allgegenwärtig: in der Familie, in der Schule, in der Fabrik, in den Gerichten, ob es sich um die Sexualität, die Erziehung, die Arbeit, das Verbrechen handelt.«99 Aus diesem Grund ist die »Medizin [...] zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Funktion geworden, die das Recht durchdringt und in Gang hält.«100 Ohne Frage kommt der Sexualität eine entscheidende Position innerhalb des Diskurses um die Fortpflanzung zu. Jedoch – und hier entfaltet sich die besondere Wirkkraft der gegenwärtigen Biomacht – ist heute Fortpflanzung auch ohne Sexualität denkbar.101 Was heißt das genau, wenn Sexualität gar nicht mehr notwenig ist, um Bevölkerung zu regulieren? Was, wenn das Verhältnis von Sexualität und Fortpflanzung gekappt ist? Auf zwei unterschiedliche Weisen wird im Kontext der Reproduktionstechnologien der Zugriff auf die Körper kenntlich: Wenn Sexualität nicht mehr nötig ist, um Bevölkerung zu regulieren, dann erweitert sich zumindest potentiell der Kreis derjenigen, die Kinder bekommen können. Dass aber die finanzielle Unterstützung (durch die Krankenkassen) nur

98 Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, 2006:435. 99 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, 1976:84f. 100 Ebd. 101 Darauf werde ich im folgenden Kapitel vertiefend eingehen.

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einer bestimmten Personengruppe gewährt wird, ist ein Beleg dafür, wie Anreiz und Beschränkung konkurrieren. Inwiefern hier fortwährend um Deutungshoheiten gerungen wird, belegen zudem Beiträge, die etwa diskutieren, ob es Singles und/oder homosexuellen Personen/Paaren erlaubt sein soll, Kinder zu bekommen. Dabei wird nicht weniger verhandelt, als wem es zukünftig zusteht, (eigene, biologische, genetische) Kinder zu haben. In keinem Fall aber verschwindet mit einem solchen Prozess die Sexualität aus dem Diskurs der Reproduktion. Sie ist vielmehr aufgrund ihrer Unproduktivität Anlass, sich anderer (technischer) Maßnahmen zu bedienen. Das macht die Biomedizin oftmals zur »helping hand« der Natur.102 Dabei spielt es eine Rolle, warum es auf »natürlichem Wege« nicht klappen will. Die unterschiedlichen Möglichkeiten (Alter, biologische Veranlagung, Lebensumstände, sexuelle Orientierung) erscheinen innerhalb der ausgewählten Medien, das werde ich in den Analysekapiteln vertiefend zeigen, jeweils unterschiedlich legitimierungsbedürftig. Hier wird offensichtlich, inwiefern die entsprechenden Normen Ausdruck der Verbindung von Medizin und Sexualität sind und sich zwischen Disziplinierung und Regulierung bewegen. Auf der anderen Seite ermöglicht eine Fortpflanzung ohne Sexualität einen sehr frühen Blick auf den Embryo; nämlich bereits in der Petrischale. Weil sich Fortpflanzung in Laboren abspielt (abspielen kann), wachsen potentiell das Wissen und, infolge dessen, die Zugriffsmöglichkeiten auf das, was wir menschliches Leben nennen. Insbesondere der Aspekt der »Verbesserung des Lebens« gewinnt durch genetische Screenings eine neue Dimension. Nicht Krankheit wird hier ausgeschlossen, sondern Gesundheit gesteigert (entsprechende Debatten finden auch unter dem Schlagwort Enhancement103 statt).

(5) W AHRHEITSSPIEL

UND

M ETHODE

Heute gilt nahezu alles – jede »Debatte«, jede »Kontroverse« – als Diskurs. Ganz offensichtlich handelt es sich um einen aus der Wissenschaft in den Alltag freigesetzten und dort leer gewordenen Terminus, der gleichwohl eine diffuse szientistische Aura ausstrahlt.

102 Zum Begriff der Natur/Natürlichkeit siehe das erste Szenario. 103 Siehe hierzu: Schöne-Seifert, Bettina; Tabot, Davinia (Hgg.): Enhancement, 2009. In dem Buch widmen sich drei Beiträge explizit der Verbesserung des Nachwuchses.

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Neben einer seit den 1960er Jahren existierenden Verwendung in den Sprachwissenschaften lassen sich in Bezug auf ein methodisches Programm zwei Hauptrichtungen unterscheiden, die jeweils mit einem Namen verbunden sind: Mit dem von Jürgen Habermas und dem von Michel Foucault. Nach Habermas meint Diskurs »die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation [...], in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden.«104 Ein solcher Diskursbegriff – eine solche auf Rationalität beruhende Vorstellung – ist jedoch zu eng gefasst, weil er erstens die sprachlichen Praktiken auf Argumente und Gründe, also auf wahrheits- oder richtigkeitsbezogene Äußerungen reduziert und so zweitens die darüber hinausgehenden Diskursstrategien allenfalls als Verstellung oder Störung eines idealiter herrschaftsfreien, wahrheitsgenerierenden Diskurses versteht. Geht es aber darum, alle Züge im »Wahrheitsspiel« zur Verfügung zu haben, bedarf es eines umfassenderen Diskursbegriffs105 , einen wie ihn Michel Foucault entworfen hat. Seine Diskurse bilden die Voraussetzungen des Wissens, indem sie alle Bedingungen eines Denkens in der Sprache beinhalten. Und nicht zuletzt ist Foucaults Diskursbegriff mit einem nicht von vornherein auf Konsens getrimmten Begriff von Politik vereinbar, wie er auch in den Medien im Hinblick auf Biopolitik vertreten wird. In diesem Sinne ist der Diskurs niemals eine bloße Folge von Äußerungen, sondern er folgt bestimmten Regeln, die es als diskursive Formationen zu finden gilt. So verstehe ich unter Diskurs die sprachliche Seite einer Praxis, die sich nach impliziten Regeln realisiert und der zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Konstellation der Wissensproduktion zugrunde liegt. Ich nenne das Ensemble von seriösen Sprechakten einen Diskurs, wobei sich die Zuschreibung »seriös« nicht auf den jeweiligen Inhalt der Beiträge, sondern darauf bezieht, dass sie – im Rahmen von Medien – gesagt bzw. geschrieben werden konnten. Durch eine »archäologische« Beschreibung gilt es zu zeigen, dass ein bestimmter Diskurs zu einer bestimmten Zeit eine gewisse formale Struktur aufnimmt und sie anwendet.106 Bezogen auf meinen Untersuchungsgegenstand bedeutet dies: Ich untersuche, was zu einer bestimmten Zeit (1995 bis 2010) an einem bestimmten Ort (Printmedien) anlässlich von bestimmten Ereignissen (im weiteren Sinne: Reproduktionstechnologien) sagbar war.

104 Habermas, Jürgen: Wahrheitstheorien, 1994:214. 105 Foucault selber spricht nicht von Diskursanalyse, sondern von Aussagenanalyse, denn der Diskurs ist seines Erachtens nicht ein zu isolierender Gegenstand. 106 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, 1981:109.

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Idealtypisch werden im diskursanalytischen Verfahren die Dinge von außen betrachtet, d.h. auf Vorannahmen wird weitestgehend verzichtet. Zudem sind Diskurse eigentlich gekennzeichnet durch ihre historische Abgeschlossenheit107, die Möglichkeit eines positivistischen Zugriffs auf sie108 und ihre Neutralität gegenüber solchen den Diskurs selbst überschreitenden Vernunfts- und Wahrheitskriterien. Der immerwährende Kampf um die Deutungshoheit macht die produktive Dynamik von Diskursen kenntlich. Dass diese Deutungsmacht sich »meist verstetigt und institutionalisiert, so dass der Eindruck entstehen kann, sie sei naturwüchsig mit ›Wahrheit‹ verknüpft, ändert daran nichts.«109 Entscheidend sind die Bedingungen, unter denen eine Aussage als »wahr« gilt, weil sich so Rückschlüsse auf das jeweilige Denksystem ziehen lassen. Dabei besitzt jedes Denksystem die Macht des Wahrsprechens (Veridikation) mit seinen aktuellen Regeln, nach denen Aussagen gemacht werden. Unter Wahrheit ist demzufolge »eine Gesamtheit von geregelten Verfahren für die Produktion, das Gesetz, die Verteilung, das Zirkulierenlassen und das Funktionieren von Aussagen zu verstehen«110 . Auf unterschiedlichen Ebenen gilt es diese an ihnen sichtbar werdenden Beziehungen auszuloten: Zum einen bringen die Biowissenschaften Gegenstände in die Welt, die in Folge beschrieben werden (wie die Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Lebensstoffen); zum anderen entstehen (dadurch) Begriffe (wie ›Kinderwunsch‹), die in Bezug auf die Reproduktionstechnologien sowohl eine soziale als auch eine medizinische Ebene besitzen. Darüber hinaus sind für ein diskursanalytisches Verfahren die Äußerungsmodalitäten von Interesse, die Modi also, in denen gesprochen werde. Auf einer weiteren Ebene schließlich werden Strategien kenntlich, die sich ebenso befruchten wie begrenzen können. Es wäre aber zu kurz gegriffen, die sich artikulierenden Strategien allein auf die intentionalen Interessen der beteiligten Akteure zu reduzieren. Eine Strategie soll hier vielmehr als all das gelten, was »über Gegenstände, Rahmenbedingungen des Sichäußerns und Begriffe hinausgreifend die Themenwahl, die Gesamtpositionierung und Stoßrichtung eines Diskurses ausmacht: Ausgestaltung, Wiederbelebung oder Einbettung, strategische Wahl oder Ausgrenzung von The-

107 Darauf werde ich im Kapitel 6 zurückkommen. 108 Dies bringt Foucault mit dem Satz: »Es gibt keinen Text unterhalb« zum Ausdruck. Ders.: Archäologie des Wissens, 1981:174. 109 Sarasin, Philipp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, 2003:255. 110 Foucault, Michel: Dites et Ecrits Bd. III, 2003:212.

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men«111. Somit ist eine Strategie »nicht als einseitiges Aufzwingen von Macht zu verstehen, sondern eben als eine Machtoperation, die zugleich produktiv, diffus und vielgestaltig ist.«112 Durch diskursive Strategien wird Macht ausgeübt, durch die kulturelles Wissen kreiert wird. Zu einer solchen Untersuchung liefern Aussagen das Rohmaterial, weil sie die Möglichkeit einer systematischen Darstellung diskursiver Strategien bieten. Die Materialität von Redeweisen generiert spezielle kulturelle Sagbarkeiten, sie produziert aber gleichzeitig auch Nichtsagbarkeiten. Aus dem so entstehenden (mehr chronologischen als logischen) »Dazwischen« leiten sich zusätzlich Effekte des Diskurses ab. Das bedeutet, dass der Diskurs Leerstellen erzeugt. Vor deren Hintergrund gilt es zu bedenken, wann bestimmte Aussagen nicht (mehr) getroffen werden, etwa in dem Sinn, dass für eine gewisse Zeit bestimmte Verfahren zum Gegenstand des Diskurses werden und spezifische Aussagen produzieren oder dass immer nur indirekt über bestimmte Sachverhalte gesprochen wird. Das ist deshalb zentral, da »das ›Nicht-Gesagte‹ [und] das ›Unterdrückte‹ nicht dasselbe sind – weder in seiner Struktur noch in seiner Auswirkung.«113 In einem ersten Schritt können diese Leerstellen als solche ausgewiesen werden. In einer Gegenüberstellung der unterschiedlichen diskursiven Stränge können in einem zweiten Schritt Überlegungen zu deren Funktion angestellt werden. In Bezug auf Diskontinuitäten geht es dabei um die Bildungsregeln von Aussagen und deren Modifikationen, die zu einem Wissen oder einer Wissenschaft gehören. Dabei darf aber die Verwendung des Begriffs Diskontinuität nicht mit inhaltlichen Korrekturen, Brüchen oder Paradigmenwechseln gleichgesetzt werden.114 Der Ausgangspunkt für die Diagnose von Diskontinuitäten liegt vielmehr in den Diskursen selbst, die als Rede an einem bestimmten historischen Ort vorläufigen Wahrheitsregeln folgen. Denn die sie bildenden Aussagen durchlaufen fortwährende Modifikationen, die jedoch nicht ausschließlich einen stetigen Verlaufscharakter annehmen oder einer kontinuierlichen Entwicklung entsprechen müssen. Wenn Diskurse zwischen Dingen, Situationen, Prozessen und Worten vermitteln, dann besteht in der Diskontinuität die Möglichkeit, dass sich die Aussagen über nicht exakt rekonstruierbare Objekte in der Geschichte sprunghaft ändern können. Derartige Bedeutungsänderungen im Wissen oder in den

111 Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:48. 112 Butler, Judith: Noch einmal: Körper und Macht, in: Honneth, Axel; Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, 2003:53. 113 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, 1981:160. 114 Foucault, Michel: Dits et Ecrits Bd. III, 2003:951.

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Wissenschaften beziehen sich demnach auf sprachgenerierte Objekte und nicht auf die eigentlichen Symptomträger in einer historischen Formation. In diesem Sinne lässt sich innerhalb meines Untersuchungsgegenstands etwa eine Verschiebung dessen ausmachen, welche Reproduktionstechnologien als ›erlaubt‹ und als ›verboten‹ gelten. Unter Beteiligung sozialer Prozesse entstehen so immerzu neue Formationen, deren Analyse nicht darauf aus ist, Kontinuitäten herzustellen. Diskontinuitäten stellen einen Typen von Ereignissen dar, zu denen weiterhin Brüche und jene Ereignistypen zählen, die längere Zeitverläufe aufweisen. Während erstere durch ihr plötzliches Eintreten definiert sind, weisen alle anderen Ereignisse eine unterschiedlich lange Dauer auf.115 Mit einem Ereignis zu operieren setzt keine Logik des Sinns und keine Struktur im Verlauf voraus.116 »Ein Ereignis ist kein Zeitausschnitt, sondern im Grunde der Schnittpunkt zwischen zwei Beständigkeiten, zwei Geschwindigkeiten, zwei Entwicklungen, zwei geschichtlichen Linien.«117 Diese ergeben sich durch das Material selbst. Die dem Ereignis angemessene Analysemethode besteht ausgehend vom Quellenkorpus (in meinem Fall: Beiträge der Printmedien) idealtypisch in der reinen ergebnisoffenen Beschreibung. Entscheidend ist, dass sich mittels der Beschreibung Ebenen und Schichten von Ereignissen entwickeln lassen. Die so zu Tage tretenden Relationen fördern Schichten jener Ereignisse ans Licht, die nur indirekt erschließbar sein können, deren Analyse aber die Vorbedingung für das Aufdecken der Diskontinuitäten in der Geschichte darstellt. Als Arbeitsbegriff nutze ich den Terminus Reproduktionsdiskurs und meine damit all jene Beziehungen, die durch entsprechende Aussagen gestiftet werden. Dass hier Verbindungen zu nicht-diskursiven Praktiken einen elementaren Bestandteil darstellen, verliere ich derweil nicht aus dem Blick. Insbesondere durch den Begriff des Dispositivs, den ich im siebten Kapitel (»Ausblick auf die Verrechtlichung von Reproduktion«) herleite, findet eine solche Einbeziehung expliziten Ausdruck. Ich bleibe, auch wenn dem Dispositiv innerhalb meiner Ar-

115 So beschränkt sich etwa die Einführung eines bestimmten medizinischen Verfahrens auf eine bestimmte zeitliche Dauer. 116 In diesem Sinne heißt es bei Foucault: »Weder die Logik des Sinns noch die der Struktur gelten für diese Art von Forschung. Wir brauchen weder die Theorie und Logik des Sinns noch die Logik und Methode der Struktur. Wir brauchen etwas anderes.« Ders. Dits et Ecrits Bd. III, Nr.221, 2003:598. 117 Foucault, Michel: Dits et Ecrits Bd. III, 2003:730.

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beit eine entscheidende Position zukommt, nichtsdestotrotz bei der Diskursanalyse und erweitere diese nicht wie etwa Margret und Siegfried Jäger118 oder Andrea D. Bührmann und Werner Schneider119 zur Dispositivanalyse. Eine solche Entscheidung hängt in erster Linie mit der gewählten Blickrichtung zusammen. Obgleich ich Gesetze, parlamentarische Debatten oder andere als die von mir ausgewählten medialen Beiträge in meine Überlegungen mit einbeziehe, stellen die diskursiven Praktiken das Zentrum meiner Untersuchung dar. Wenn ich also primär die Summe aller Aussagen untersuche, die sich in den ausgewählten Medien im benannten Zeitraum auf den Gegenstand Reproduktionstechnologien beziehen, dann heißt das nicht, dass nicht an anderen Orten auch über Reproduktion gesprochen wird. Nicht nur berichten auch andere als die von mir ausgewählten Medien über Biomedizin, selbstverständlich findet etwa auch ein reger Austausch im Internet120 statt. Auch im Bundestag, vor Gericht etc. stellen die Folgen der Reproduktionsmedizin einen fortwährenden Aushandlungsgegenstand dar. Es handelt sich also bei meinem Korpus weder um alle effizienten Aussagen, die zu einer bestimmten Zeit geäußert wurden, noch liegt eine Totalität faktisch vorhandener, aber auch durch Archivzugang praktisch erreichbarer Aussagen vor. Dennoch handelt es sich um einen repräsentativen Ort der Aushandlung gesellschaftlich drängender Probleme.

(6) Ü BERSICHT Meine Untersuchung gliedert sich in zwei Teile, wobei ich in einem ersten Teil (Kapitel 2 bis 7) theoretische und methodische Fragen und an sie gebundene (Hypo-)Thesen erörtere. Hier werden für den Diskurs relevante Vorgeschichten entfaltet und die Bedingungen beschrieben, unter denen das printmediale Material in die Sphäre der Öffentlichkeit eintritt. Aufbauend auf der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Sexualität und Fortpflanzung in Zeiten ihrer tech-

118 Jäger, Margret; Jäger, Siegfried: Von der Diskurs- zur Dispositivanalyse. Überlegungen zur Weiterführung eines Stadtteilprojekts, 2000. 119 Bührmann, Andrea D.; Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, 2008. 120 Zur oftmals in Bezug auf dieses Medium geäußerten Hoffnung auf Revitalisierung deliberativer Elemente in der bürgerlichen Öffentlichkeit als eine Form der Partizipation durch eine Dialogform mit der Öffentlichkeit siehe: Waldschmidt, Anne; Klein, Anne; Korte, Miguel Tamayo (Hg.): Das Wissen der Leute, 2009.

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nischen Separierbarkeit (Kapitel 2) frage ich nach der Bedeutung von medialer Öffentlichkeit für die Durchsetzung der Technologien (Kapitel 3). Mit den gewonnenen Ergebnissen eröffnet sich die Dringlichkeit, den als Forderung ständig wiederholten Anspruch nach einer universalistischen Deutung in Bezug auf das Leben und die Lebewesen zu hinterfragen (Kapitel 4). Dies ist besonders angesichts von europäischen Einigungsbestrebungen erkennbar, vor deren Hintergrund nationalstaatliche Argumente in Begründungszusammenhänge einfließen (Kapitel 5). Diesen ersten Part schließe ich nach einer Einordnung meines Materials (Kapitel 6) mit der Entwicklung von drei unterschiedlichen Szenarien ab, deren gemeinsamer Bezugspunkt das Dispositiv Recht ist (Kapitel 7). Im zweiten Teil entwickelt das erste Szenario (Kapitel 8) einen vom positiven Recht am Beispiel des Embryonenschutzgesetzes und des Paragrafen 218 StGB ausgehenden erweiterten Rechtsbegriff und zeigt, welche Funktion der Verweis auf das Gesetz innerhalb der öffentlichen Aushandlung übernimmt und was der Bezug auf die Inkompatibilität der beiden Gesetze darüber hinaus auszulösen vermag. Bezogen auf meinen Untersuchungszeitraum lässt sich dabei zweifelsfrei eine Normenverschiebung von einer ›Heiligkeit des Lebens‹ hin zu einer ›Ethik des Heilens‹ nachvollziehen. Das zweite Szenario (Kapitel 10) nimmt die »stillen« Diskursteilnehmer in den Blick, denn hier befasse ich mich mit dem Recht auf Schutz des Ungeborenen und den hier zugrunde gelegten argumentativen Möglichkeiten. Diese lassen sich zuspitzen auf das Argument der Menschenwürde und jenes, das unter dem Schlagwort der Eugenik auf eine historisch begründete Verantwortung verweist. Das dritte Szenario (Kapitel 12) schließlich fragt in der Spannweite von staatlichem Paternalismus und Fortpflanzungsautonomie nach dem Recht auf ein (eigenes, biologisches, gesundes) Kind. Neben einem juristisch begründbaren Anspruch geht es mir hier aber auch und besonders um die sich durch die diskursive Praxis artikulierende immanente Annahme eines solchen Rechts. Indem ich die durch die Szenarien gewonnenen Ergebnisse jeweils mit Ergebnissen kontrastiere, die ich aus französischen Zeitschriften gewinne, nehme ich den Faden bezüglich der Homogenisierung innerhalb Europas in Bezug auf heterogene Deutungspraxen auf (Kapitel 9, 11 und 13), um schließlich die so gewonnenen Ergebnisse auf die Bedingung hin zu hinterfragen, ob und wie eine europäische Perspektive zu gewinnen ist.

2. Kapitel Sexualität und Reproduktion im Zeitalter ihrer technischen Separierbarkeit

(1) S EXUALITÄT UND F ORTPFLANZUNG – EINE T RENNUNGSGESCHICHTE Seit über 30 Jahren lassen sich Sexualität und Fortpflanzung durch medizinische (medikamentöse) Maßnahmen trennen1, und das in einem doppelten Sinne: Durch (hormonelle) Kontrazeptiva kann eine Schwangerschaft verhindert werden und durch In-Vitro-Fertilisation (IVF) lässt sie sich erzeugen. Sexualität und Fortpflanzung sind also Handlungen, die unabhängig voneinander stattfinden können. Mit dieser Entwicklung geht vielerorts ein andauerndes Interesse an den Folgen der doppelten Trennung einher, das über medizinische Fachkreise hinausgeht. Mit Medizin im eigentlichen Sinne hat diese Auseinandersetzung sogar erst einmal wenig zu tun, denn mit der Entdeckung von und dem Einblick in den menschlichen Körper und dem so entstehenden Wissen verändert sich ein grundlegendes, die Lebenswirklichkeit betreffendes Spannungsverhältnis. Was

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Ein solcher Befund unterstellt natürlich keinesfalls, dass Fortpflanzung nicht vor dieser Zeit unabhängig gedacht und praktiziert werden konnte (siehe hierzu etwa: Jütte, Robert: Last ohne Lust. Geschichte der Empfängnisverhütung, 2003). An dieser Stelle jedoch geht es mir konkret um eine auf den weiblichen Körper gerichtete medizinische Wissenspraxis, die – und das gilt für beide Techniken – inzwischen breitenwirksam propagiert wird.

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aber ist es genau, das diese Trennung so spannend macht, dass sie es immer wieder auf die Titelblätter der Zeitungen und Zeitschriften schafft?2 Die Thematisierung von Reproduktionsmedizin in den Medien unterspült das normalerweise geteilte Verständnis des Zusammenhangs von Sexualität und Fortpflanzung. Dort wird vorausgesetzt, dass »Zeugung« nicht notwendig Produkt eines gegengeschlechtlichen Aktes ist. Im Sprechen über Fortpflanzung werden die Folgen der Reproduktionsmedizin für die Öffentlichkeit augenscheinlich. Eine Entkopplung von Fortpflanzung und Sexualität hat dementsprechend nicht nur biologisch, sondern auch lebenspraktisch stattgefunden. Das mit der Entkopplung verbundene Autonomie-Versprechen – der »richtige Zeitpunkt« sei nun frei wählbar – erweist sich jedoch als zwiespältig, wenn sich zeigen lässt, dass die autonome Entscheidung für das Kind den Eintritt in die heteronompaternalistische Sphäre der Fortpflanzungstechnologien bedeutet. Die Freiheit zum Kind schlägt in die Abhängigkeit vom System der Reproduktionsmedizin um.

(2) L ET ’ S

TALK ABOUT SEX ?

Die öffentlichen Aushandlungen, die auf der einen Seite hormonelle Verhütungsmittel thematisieren und die sich auf der anderen Seite an der Loslösung der Fortpflanzung von der Sexualität orientieren, machen deutlich, dass Kontrazeption und Konzeption zwar mit dem Versprechen »Ein Kind, wenn/wann ich will« locken, dieser Anreiz jedoch weniger durch institutionelle Maßnahmen als durch bestimmte Redeweisen in einen Imperativ transformiert wird. Und dieser lautet: »Begehre! Begehre ein Kind!« Das ist auch angesichts von Demographieprognosen ein Instrument des dramaturgisch erzeugten Bedrohungszustands der jeweiligen Bevölkerung und somit Gegenstand politischen Interesses. Jede Selbstverpflichtung zur Regulierung kennt dabei zwei Zielrichtungen: die individuelle Lebensführung, u.a. motiviert durch die Sorge um sich selbst, und eine bevölkerungspolitische Ebene – die Sorge um die Alterspyramide.

2

Dies geschieht selbstredend mit unterschiedlicher Intensität. Der hierfür verantwortlichen Interdependenz zwischen unterschiedlichen Diskursen sei an dieser Stelle nur dahingehend Rechnung getragen, dass selbstverständlich in den jeweiligen »Anfangs-« und damit »Etablierungsjahren« eine höhere Dichte der Berichterstattung augenscheinlich ist. Jedoch besteht das Bemerkenswerte allgemein darin, dass die Faszination dieser Trennung in den vergangenen 30 Jahren ungebrochen ist.

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Weil die hier gemeinten Handlungsformen nicht unter dem Siegel der Verschwiegenheit erlernt und in Folge dessen praktiziert werden, gehe ich davon aus, dass unter der auf der ersten Ebene formulierten Aufforderung »Führe Dein Leben wie Du willst« nicht nur eingewoben ist »Begehre ein Kind!«, sondern, dass durch diesen Schritt Individuum und Gesellschaft an der Schnittstelle Reproduktion aufeinandertreffen und gesellschaftliche Regulierung als individuelles Interesse erscheint. Dies erweist sich genau dann (sowohl individuell als auch gesellschaftlich) umsetzbar, wenn statt des Zufalls die bewusste Entscheidung für oder gegen ein Kind darüber regiert, ob und wann Kinder auf die Welt kommen. »Besides, having children is in our times a matter of decision, not an accident – a circumstance that adds further to the anxiety.«3 Und die bewusste Entscheidung wiegt auch deshalb mehr, weil es hier um die Steigerung des Potentials geht, dadurch, dass alle Kraft auf die Realisierung und Optimierung sowohl des eigenen als auch des zukünftigen Körpers verwendet wird. Auf den ersten Blick kann so der Eindruck entstehen, dass, wo Kinderlosigkeit früher vorgegebenes Schicksal war, sie heute zur »selbstgewählten« Entscheidung wird.4 Inwiefern mit entsprechender Berichterstattung mehr ausgesagt ist als die Vermittlung von biologischen Kenntnissen, das verdeutlichen Medienzitate wie: »Bei den Männern scheint sich der Zusammenhang zwischen Sexualität und Schwangerschaft noch vergleichsweise wenig herumgesprochen zu haben: Achtzig Prozent der unerwartet zu Vaterehren gekommenen Männer war bekannt gewesen, daß ihre Bettpartnerinnen kein sicheres Verhütungsmittel verwendeten, und der ganze Rest hatte sich darüber schon gar nicht erst ins Bild gesetzt! So trifft eine Schwangerschaft die meisten Männer völlig unvorbereitet.«5

Die Empörung, die hier mitschwingt, klingt nach jener Zeit, da etwa die Zeitschrift Liebe und Ehe. Aktuelle Zeitschrift für Mann und Frau6 in den 1950er Jahren für Sexualaufklärung eintrat. Dass solche Äußerungen aber in der Zeit um

3

Baumann, Zygmunt: Liquid Love, 2003:43.

4

Beck, Ulrich; Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe,

5

Art. »Ein Kind? Kein Kind!«, in: Die Zeit 10/1995.

6

Diese Zeitschrift der 1950er Jahre, die ausweislich an Kinder nicht verkauft werden

2005:166.

durfte, führte Sonderreihen wie: Kalllwitz, C.: Das Sexualleben des Mannes. Nach den Ergebnissen des Kinsey-Report [Sonderreihe der Zeitschrift »Liebe und Ehe«, Heft 7].

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die Jahrtausendwende noch möglich waren, dass man sie – jenseits des Empörungspotentials – Mitte der neunziger Jahre öffentlich kundtun konnte, verweist paradoxerweise auf das Gegenteil des Ausgesagten: nämlich darauf, dass erstens in einer aufgeklärten Industriegesellschaft offenbar selbstverständlich von einer Trennung von Sexualität und Fortpflanzung ausgegangen werden kann (andernfalls müssten die Männer ja nicht überrascht sein), und dass sich zweitens, im Blick auf die Geschlechterverhältnisse, in Äußerungen (aus demselben Beitrag) wie »Roeder mußte feststellen, daß Kinderkriegen nach wie vor als reine Frauenangelegenheit gesehen wird. Männer sprechen lieber über Computer oder Fußball«7 diskursiv mehr ausspricht als ein feministischer Klageruf: dass nämlich Fortpflanzung durch ihre medizinische Regulierbarkeit tatsächlich in einem viel stärkeren Sinne Frauenangelegenheit geworden ist. Dies zu rekonstruieren ist die Perspektive, aus der sich die folgenden Überlegungen speisen. (2.1) Fortpflanzung ohne Sexualität und die Konstruktion der Unfruchtbarkeit als Krankheit Der reproduktionsmedizinische Einfluss, der auf die Fortpflanzung genommen werden kann, besteht in erster Linie in der extrakorporalen Befruchtung, die seit ihrer Erfindung mediales Interesse erzeugt. So nahm die Weltöffentlichkeit im Sommer 1978 deshalb Notiz von einem englischen Baby namens Louise Brown, weil es das erste war, das durch eine so genannte künstliche Befruchtung erzeugt worden war.8 Leslie Brown, Louises Mutter, waren nach einer Hormonstimulation9 mehrere Eizellen aus ihrem Eierstock entnommen worden, die die behandelnden Ärzte mit dem aufbereiteten Sperma ihres Mannes in der Petrischale befruchteten. Nach der ersten Zellteilung transferiert der Arzt/die Ärztin heute je

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Art. »Ein Kind? Kein Kind!«, in: Die Zeit 10/1995.

8

Zu diesem Anlass war eigenes eine Fernseh-Crew engagiert worden. Louises Eltern hatten einen Exklusivvertrag mit einem Londoner Boulevardblatt abgeschlossen, der sie um rund eine halbe Million Pfund reicher machte. Orland, Barbara: Werkstatt der Fortpflanzung. Zur Geschichte der Zeugungstechniken, 2003:129.

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Die Erzeugung der Eizellen setzt eine 12- bis 14-tägige Hormonstimulation mit dem Ziel der gleichzeitigen Reifung mehrerer Eizellen voraus. Wenn mehrere Eizellen (Folliken) eine geeignete Größe erreicht haben, wird die Ovulation ausgelöst. Durch chirurgischen Eingriff können dann in den folgenden zwei bis drei Tagen die gereiften Eizellen unter Kurznakose oder Lokalanästhesie entnommen werden. Zum Verfahren: Schmidt, Thomas Harald: Präimplantation. Jenseits des Rubikons? 2002:25.

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nach gesetzlicher Regelung unterschiedlich viele Embryonen in den Uterus ihrer Patientinnen. Dieser Vorgang, die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft zu erhöhen, birgt jedoch das Problem einer Mehrlingsschwangerschaft.10 Neun Monate später kam im Fall der Browns das erste »Retortenbaby« auf die Welt.11 Die IVF zählt seither ohne Frage zu den »Schlüsseltechnologien der modernen Reproduktionsmedizin«12, und zwar auch deshalb, weil andere Verfahren auf sie aufbauen.13 Mit einem solchen Verfahren wird die menschliche Fortpflanzung in viele kleine Schritte zergliedert; sie wird zur »Baukastenfortpflanzung«14 und verweist damit darauf, dass mit der Technisierung der (Er-)Zeugung der (willkürliche) gegengeschlechtliche Kontakt unnötig wird. Die Geschichte der medizinisch-technischen Entwicklung macht deutlich, dass die Suche nach der extrakorporalen Befruchtung weit mehr im Sinn hatte, als eine Fortpflanzungstechnik auf den Markt zu bringen. Vielmehr versprachen sich Wissenschaftler, Informationen über den hochkomplexen Prozess der Eireifung und deren Befruchtung zu gewinnen. Oftmals dienten ihnen dabei Tiere als erste »Patientinnen«. So war es 1959 bereits dem an der Worcester Foundation for Experimental Biology in Shrewsburry tätigen Min Chenh Chang gelungen, bei einem Kaninchen eine Schwangerschaft nach extrakorporaler Befruchtung zu erzielen. Erst seit den 1960er Jahren wurden Versuche zur extrakorporalen Befruchtung bei Menschen durchgeführt, was auch daran lag, dass die weiblichen Eizellen tief im Körper verborgen liegen und aufgrund dessen nur durch operative Entfernung gewonnen werden können. Zudem ist der exakte Zeitpunkt für die Entnahme entscheidend für die weitere Verwendung. Ende 1969 gelang es erst-

10 Im Jahr 2007 kamen nach einer Behandlung mit IVF/ICSI insgesamt in 18,54 Prozent der Fälle Zwillinge auf die Welt, http://www.deutsches-ivf-register.de/pdf-downloads/ dirjahrbuch2008.pdf [10.06.2010]. Um das sowohl für die Mutter als auch die Kinder bestehende Risiko durch eine Mehrlingsschwangerschaft zu reduzieren, begrenzt das Embryonenschutzgesetz den Transfer auf drei Embryonen gleichzeitig. 11 Am 16. April 1982 kam das erste deutsche Baby nach einer IVF in Erlangen auf die Welt. 12 Schreiber, Christine: Natürlich künstliche Befruchtung, 2007:10. Dies dokumentieren auch die Anwendungszahlen. Wurden nach Angaben des IVF-Registers 1996 33.993 Behandlungen durchgeführt, waren es 2007 64.578 Fälle. http://www.meb.uni-bonn. de/frauen/DIR_downloads/dirjahrbuch2007.pdf [10.11.2009]. 13 Zu diesen etwa zählt die Präimplantation, auf die ich später zurückkomme. 14 Orland, Barbara: Die menschliche Fortpflanzung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit seit den 1970er Jahren, in: Technikgeschichte 13/1999.

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malig, eine menschliche Eizelle im Reagenzglas zu befruchten; der so entstandene Embryo wurde 1971 in eine Gebärmutter eingepflanzt.15 Mittels einer medizinischen Methode wurde jenen Menschen damit ein Angebot gemacht, die auf »natürlichem«16 Weg keine Kinder bekommen konnten. Die weitrechenden Folgen beschreibt etwa die Soziologin Adele Clark, die die Geburt des ersten »Reagenzglasbabys« Louise Brown als Anfangspunkt einer postmodernen Reproduktion betrachtet, um zu unterstreichen, dass fortan grundsätzlich unerwünschte körperliche/biologische Zustände überwindbar sind.17 Der Behandlung IVF geht die medizinische Diagnose ›Unfruchtbarkeit‹ voraus, die inzwischen als Krankheit anerkannt ist.18 Aus einer solchen Anerkennung leitet sich dann die Leistungspflicht der Krankenkassen ab, wozu auch jene Therapien zählen, die »zur Herstellung der Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit [dienen, J.D.], wenn diese Fähigkeit nicht vorhanden war oder durch Krankheit oder wegen einer durch Krankheit erforderlichen Sterilisation verloren gegangen war.«19 Die Krankheit, der zufolge ein solcher indirekter Anspruch formuliert wird, ist vor der Hand aber weder eine, die sich konkret auf den weiblichen oder den männlichen Körper bezieht. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung avanciert ›Unfruchtbarkeit‹ zu einem »Paarproblem«20, und zwar als Konsequenz der

15 Zur Geschichte der »künstlichen« Befruchtung siehe: Schreiber, Christine: Natürlich künstliche Befruchtung?, 2007. 16 Sexualität verschwindet hinter dem »natürlichen« Weg. Auf die Konnotation von »Natur« innerhalb des Reproduktionsdiskurses werde ich in Kapitel 8 zurückkommen. 17 Clarke, Adele: Disciplining Reproduction, Modernity, American Life Science, and ›the Problem of Sex‹, 1998:10. Diese führt aus: »In vitro-fertilization and embrytransfer are the central postmodern reproduvtive technologies in both clinical and agricultural settings. [...] The test-tube baby moment can be seen as the beginning of postmodern reproduction.« Ebd. 18 Die WHO (World Health Organisation, Weltgesundheitsorganisation) spricht von ›Sterilität‹, auch ›Unfruchtbarkeit‹, wenn ein Paar ungewollt kinderlos bleibt, obwohl es 12 Monate lang regelmäßig ungeschützten Geschlechtsverkehr hat. Der hier zugrunde gelegte Zeitraum variiert jedoch. Unklar ist zudem, was genau »regelmäßig« bedeutet. 19 Sozialgesetzbuch § 27 Abs. 1 S. 4 SGB V. 20 Eine solche Feststellung bestreitet keinesfalls den wissenschaftshistorischen Befund Christine Schreibers, es sei nach Selbstaussagen die weibliche Unfruchtbarkeit gewesen, für die mittels der Technologien Abhilfe geschaffen wurde. Dies.: Natürlich

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Therapiemöglichkeit. Indem ein medizinisches Verfahren dieses Defizit zu regulieren anbietet, folgt die Anerkennung als Krankheit. Wie reglementiert ein solcher Zugang in der Praxis ist, lässt sich bereits anhand des Sozialgesetzbuches ablesen, das die Finanzierung der IVF dahingehend festlegt, als es diese nur für heterosexuelle verheiratete Paare, die eine bestimmte Altersgrenze21 nicht überschritten haben, für erstattungspflichtig hält. Hand in Hand mit der Anerkennung als Krankheit geht also die Begrenzung derjenigen Gruppe, die von dieser Krankheit finanziell unterstützt geheilt werden darf. Eine solche Verschiebung verdeutlicht die Umwertung eines Krankheitsbegriffs, die gerade darin besteht, für bestimmte Personenkreise ein Anreizsystem zu schaffen, während andere von der Inanspruchnahme ausgeschlossen bleiben. Sterilität und Infertilität mussten also zuerst gesellschaftlich als Krankheit inszeniert und anerkannt sein, um als therapiewürdig und damit forschungsrelevant eingeschätzt und behandelt werden zu dürfen. Barbara Orland verweist darauf, dass es von Anfang an eigentlich nur ein schlagendes Argument für die Inanspruchnahme der IVF gegeben hat: Nicht der medizinische Befund im engeren Sinne, sondern das Leiden der ungewollt Kinderlosen.22 Infolge dessen wird (zumindest für einen Teil der Bevölkerung) die Stigmatisierung einer folgenlosen Sexualität öffentlich thematisiert.23

künstliche Befruchtung? 2007. Mir geht es vielmehr darum, wie sich dieses »Problem« inszenieren lässt. 21 Die Frau darf dabei nicht älter als 40 Jahre, der Mann nicht älter als 50 Jahre sein. Diese Altersgrenze ist Gegenstand anhaltender Aushandlungen. Im Frühjahr 2009 hatte etwa das Bundessozialgericht (BSG) darüber zu entscheiden, ob die Bezuschussung der Behandlung auch jenseits der bis dato geltenden Altersgrenze zulässig sei. 22 Orland, Barbara: Die menschliche Fortpflanzung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit seit den 1970er Jahren, in: Technikgeschichte 13/1999. Neben einer solchen Empfängnisförderung – so Orlands weiterer Befund – sei jedoch gleichwohl auch die Empfängnisverhütung Ziel der Versuche der extrakorporalen Befruchtung gewesen. Beide Vorgänge setzen eine genaue Kenntnis der biologischen Prozesse voraus. 23 Für eine Modulationsfähigkeit des Verfahrens argumentiert indes Christine Schreiber, die so die Möglichkeit begründet sieht, dass Forschungspraktiken zwischen heterogenen Forschungskontexten transferieren. Die zur Durchsetzung notwendige Multifunktionalität gehe zur jeder Zeit über die Regulierung von Unfruchtbarkeit hinaus. Schreiber, Christine: Natürlich künstliche Befruchtung? 2007:17ff.

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Das Anliegen des in seiner Schöpfungskraft institutionell beschränkten Menschen, seinen Kinderwunsch durch medizinische Hilfe zu realisieren, lässt sich medial spektakulär inszenieren.24 In diesem Sinn heißt es beispielsweise in der Zeit: »Auch für gänzlich unfruchtbare Paare hält die Reproduktionsmedizin Auswege bereit: Eispende oder Embryonenspende, Leih- und Tragemütter.«25 Die Erfüllbarkeit des Kinderwunsches hat jedoch ihren Preis, der vorrangig in einer Medikalisierung insbesondere der Frauen durch die notwendige Hormonbehandlung besteht. Das Versprechen, den Kinderwunsch zu erfüllen, entkräftet dabei scheinbar zwei Argumente. Diese finden in zwei Richtungen Niederschlag: Zum einen in einer relativ bescheidenden Erfolgsrate26 des Verfahrens, die rein medizinisch-technisch der Realisierung im Wege steht, die aber als Gegengewicht selten angebracht wird, und stattdessen öffentlich hinter die Hoffnung zurücktritt, die an dieses Projekt geknüpft ist. Zum anderen spielen hier jene Gründe eine Rolle, die auf die menschliche Selbstüberschätzung Bezug nehmen, die darin besteht, je nach Glaubensbekenntnis, Gott oder der Natur ins Handwerk zu pfuschen. Wenn die Anthropologin Sarah Franklin die Marginalisierung ausbleibender Erfolgsraten damit erklärt, dass die IVF als helfende Hand der Natur verstanden wird27, dann löst sie in einer solchen Wahrnehmung anscheinend harmonisch die Trennung zwischen einer urgründigen (essentialistischen) Natur und der menschlichen Eingriffsfähigkeit in diese auf.

24 Gehring, Petra : Was ist Biomacht? 2006:96. Gehring geht jedoch davon aus, dass der Diskurs einen erbbiologischen Determinismus reaktiviere; er belebe das Muster der Weitergabe des Wesentlichen durch die Zeugung wieder. 25 Art. »Wann kommt der menschliche Nachwuchs nach Maß?«, in: Die Zeit 11/1997. Auf diesen Punkt werde ich vertiefend im Kapitel 12 zurückkommen. 26 Nach Angaben des IVF-Registers kam es im Jahr 2008 in 30 Prozent aller durchgeführten Embryonentransfers bei einer sogenannten konventionellen IVF zu der gewünschten Schwangerschaft. Beim Verfahren ICSI führte die Behandlung in 28,4 Prozent aller durchgeführten Behandlungszyklen mit Embryonentransfer zur Schwangerschaft. http://www.deutsches-ivf-register.de/pdf-downloads/dirjahrbuch2008.pdf [0 4.08.2010]. 27 Franklin, Sarah: embodied progress, 1997:200.

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(2.2) Sexualität ohne Folgen Doch auch der Einfluss der Trennung der Sexualität von der Fortpflanzung hat systematisch Gewicht. Der Legende nach28 veranstaltete die damals 81-jährige Margaret Sanger29 1951 eine Dinnerparty in New York, an der u.a. der Fortpflanzungsbiologe Dr. Gregory Pincus teilnahm. In diesem Kreis sei dann nicht nur über die Entwicklung eines Verhütungsmittels gesprochen worden, dass man (bzw. Frau) schlucken könne; auch die notwendigen über zwei Millionen Dollar für die Forschung an einer solchen Pille wurden auf Initiative dieses Kreises zusammengetragen. Für die Realisierung eines solchen Präparats war natürlich mehr als die finanzielle Aufwendung notwendig. Einfluss nahm etwa das Zusammentreffen zwischen Pincus und dem Gynäkologen John Rock, der klinische Versuche mit dem weiblichen Geschlechtshormon Progesteron durchführte, um unfruchtbare Frauen zu behandeln. Zudem kam Pincus mit zwei Wissenschaftlern zusammen, Frank Colton und Carl Djerassi, die unabhängig voneinander Abkömmlinge des Progesterons entwickelten. Die ersten klinischen Studien unter dem Codenamen »PPP« (Pincus Progesteron Project) fanden im Jahr 1954 statt. Eines der dort entstehenden Präparate wurde auf einer Konferenz in Tokio wegen der Fragwürdigkeit des unterbleibenden Eisprungs stark kritisiert. Vielleicht wurde auch deshalb das Ergebnis nicht in einem Fachjournal, sondern in einer Frauenzeitschrift publiziert.30 Pincus ließ in Folge auf Puerto Rico und Haiti Versuche unter dem Titel »Untersuchungen über die psychologische Wirkung von Progesteron bei Frauen« mit den neuen Kontrazeptiva durchführen (dieses Mal mit geringem Östrogenanteil). Die Durchsetzung des Medikaments im Anschluss war in den USA deshalb schwierig, weil viele Bundesstaaten Empfängnisverhütung unter Strafe stellten. Doch am 11. Mai 1960 gab die US-Arzneimittelbehörde die »Pille« als Verhü-

28 Nachzulesen etwa bei Bernard Asbell: Die Pille, 1996. 29 Die Krankenschwester und Frauenrechtlerin Magaret Sanger (1879-1966) war Aktivistin der Bewegung für Geburtenkontrolle und begründete 1921 die Amercian Birth Control League, aus der 1942 die Organisation Planned Parenthood und später auch Pro Familia hervorgingen. Zu Sanger: Taft Douglas, Emily: Margret Sanger: pioneer of the future, 1970. 30 In: Ladies’ Home Journal. Hierzu: Jütte, Robert: Last ohne Lust. Geschichte der Empfängnisverhütung, 2003:313.

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tungsmittel frei.31 Ein Jahr später, am 1. Juni 1961, kam die erste europäische Pille mit dem Namen Anovlar, von Schering produziert, in Deutschland auf den Markt.32 Auch hier bezeichnet der Beipackzettel die empfängnisverhütende Wirkung lediglich als »Nebenwirkung«.33 Kurz nach der Einführung der Pille titelte jedoch der Stern bereits mit: »Eine Pille reguliert die Fruchtbarkeit«.34 Die diskursiven Nebenwirkungen der Pille wirkten sogar bis in die Unterhaltungsindustrie hinein: die Country-Sängerin Loretta Lynn sang in den 1960er Jahren etwa: »All these years I've stayed at home/ While you had all your fun/ And every year thats gone by/ Another baby come/ There's a gonna be some changes made/ Right here on nursery hill/ You've set this chicken your last time/'Cause now I've got the pill«.

31 Das US-Pharmaunternehmen Searle brachte 1960 mit »Enovid« das erste orale Kontrazeptiva auf den Markt. 32 Zur Entwicklung der Pille siehe: Unger, Renate; Lachnit-Fixson, Ursula: Historische Entwicklung der »Pille« unter besonderer Berücksichtigung der Schering-Innovation, 1989 und Deutsches Hygiene-Museum (Hg.): Die Pille – Von der Lust und von der Liebe, 1996. Die Ausstellung »Pillen und Pipetten« im Deutschen Technikmuseum (Kooperationsprojekt mit der Schering Stiftung) behandelt 2010 historische und aktuelle Themen der chemischen und pharmazeutischen Industrie. 33 Einen Beipackzettel im heutigen Sinn gab es damals nicht. In den Scheringblätter Heften heißt es jedoch: »Zu den jüngeren Kindern der Schering-Hormonfamilie gehört ein Wirkstoff, mit dem durch Einnahme von Tabletten, also ohne Spritze, eine Wirkung erzielt wird, die der des Gelbkörperhormons, eines der beiden weiblichen Sexualhormone, gleichkommt. Bereits früher war in unseren Laboratorien auch für das Follikelhormon eine Form entwickelt worden, die eine Behandlung auf oralem Wege (d.h. durch Einnahme) erlaubt. Die Kombination beider Wirkstoffe und die Variation ihrer Dosierungsverhältnisse führte zu Präparaten, mit denen bestimmte hormonale Störungen angegangen werden können. Nach den Primositston-Tabletten und den Duogynon-Dragées brachten wir in dem ANOVLAR zum 1. Juni 1961 eine weitere derartige Kombination in den Handel, die zur Herbeiführung einer ›Ovulationsruhe‹ geeignet ist. Darunter versteht man das vorübergehende Aussetzen der Eireifung, wie es auch während der Schwangerschaft durch die dann vermehrt gebildeten körpereigenen Hormone eintritt. Das erlaubt z.B. eine bessere und wirkungsvollere Behandlung abnorm starker Menstruationsbeschwerden oder bestimmter Fälle weiblicher Unfruchtbarkeit; allerdings kann es während der Therapie mit ANOVLAR nicht zu einer Empfängnis kommen.« (Heft 5, 1961:83). 34 Jütte, Robert: Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung, 2003:312ff.

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(2.3) Trennungsgespräche Warum Fortpflanzung in einem folgenreichen Sinn »Frauenangelegenheit«35 ist, lässt sich erst entfalten, wenn man diese Entkopplung von Sexualität und Fortpflanzung als diskursive rekonstruiert. Die Folgen, die als Konsequenz dieser Trennung durch hormonelle Kontrazeptiva öffentlich verhandelt werden, sind auf zwei Ebenen ablesbar: Zum einen findet hier Eingang, was die Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva für die Frauen bedeutet. Darüber hinaus ruht das Interesse darauf, welche Veränderungen die Beziehung (heterosexueller) Paare betreffen. Allgemein wird die Pille nach ihrer Einführung innerhalb der Spannbreite zwischen Selbstbestimmung und Selbstzwang diskutiert. So heißt es etwa, die »Pille hat die Frauen vom Joch der ungewollten Schwangerschaft befreit, aber sie ist auch Anlass neuer Beschwerden. Zwei Jahrzehnte nach der Einführung der oralen Empfängnisverhütung klagen viele Frauen über Beeinträchtigung ihres Wohlbefindens – und setzen die Pille wieder ab. Der Widerwille freilich, der nicht länger als bloße Einbildung abzutun ist, geht selten auf körperliche Ursachen zurück, sondern erwächst aus psychischen, ja mythischen Tiefengeschichten: Darf man der Natur zuwider, die Fortpflanzung von der Sex-Lust trennen?«36 1977 erklärt der Spiegel so »die zunehmende sexuelle Freizügigkeit, die Ehe und die Frauenemanzipation« ebenso zu einer der »Folgen der folgenlosen Liebe« wie den demographischen »Pillenknick«. Die Wahrnehmung und die Einschätzung der Pille seien eben gebunden an »urgründige Mythen und Phantasien von Sexualität und Fruchtbarkeit«, welche die Angst schürten, dass »eine Frau, die sich unfruchtbar macht, keine Frau mehr sei, sondern ein Freudenmädchen.« Das mag heute antiquiert klingen, bemerkenswert ist jedoch, dass im Augenblick des sogar von den Gegnern der Pille zugestandenen Zugewinns von Autonomie der Frauen eine »urgründige« Verbindung von Sexualität und Fortpflanzung beschworen wird, nicht um der glücklichen Geburt willen, nicht um des Erfahrungswerts der Schwangerschaft für Frauen, sondern um der Bevölkerung willen, um den »Pillenknick« zu vermeiden.37 Subkutan deutet sich hier al-

35 Art. »Ein Kind? Kein Kind!«, in: Die Zeit 10/1995. 36 Art. »Das Unbehagen an der Pille«, in: Der Spiegel 06/1977. Die folgenden Zitate: ebd. 37 In wie weit diese Argumentation auch für andere Argumentationszusammenhänge gilt, deutet folgendes Beispiel an: »Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt: Ohne Zuwanderung würde die Einwohnerzahl in Deutschland bereits jetzt sinken, weil zu wenig Kinder geboren werden. Die Geburtenrate liegt seit dem ›Pillenknick‹ um 1970

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so zur individuellen auch eine weitere Ebene an: Die Folge der PillenEtablierung betrifft weit weniger die individuelle Lebensplanung, sondern sie erzeugt ein gesellschaftliches Bedrohungs-Szenario. Im Gegensatz zur Frage »Möchte ich (jetzt) ein Kind?« geht es dann (zumindest potentiell) nicht um Individuen, sondern um alle Mitglieder der Gesellschaft. Ein solcher Aushandlungsprozess um das Für und Wider von Empfängnisverhütung wird damit gleichsam unter der Hand zu einem Schauplatz der Biopolitik. Dabei ist der Dreischritt bemerkenswert: Die Pille steigert erstens die weibliche Autonomie. Damit steht sie repräsentativ für jenes moderne Freiheitsbewusstsein, in dem die normgebende Verantwortung des Menschen als unhintergehbare Voraussetzung normativer Verbindlichkeiten systematisch zur Geltung kommt. Dieser (vermeintlichen) Autonomie folgt aber zweitens die Verfestigung in dem Lebensweltmodell, in dem Sexualität ohne Fortpflanzung gedacht wird. Dies führt schließlich drittens dazu, dass dem autonom gewordenen Menschen aus demographischen Gründen die Bestimmung und die Berechtigung über die Fortpflanzung entzogen wird. Die Klaviatur, auf der in dem hier beleuchteten Diskursstrang gespielt wird, ist die der Paarbeziehung, welche zunehmend entlang des Begriffs der »Disziplin« organisiert wird. Die Disziplinierung der Sexualität in der Paarbeziehung vollzieht sich dabei in zwei Schritten: (a) Disziplinierung – Erziehung zum Menschengeschlecht: Die einseitige Trennung von Sexualität und Fortpflanzung – so wird schon früh im medialen Diskurs deutlich – führe nicht nur zur höheren weiblichen sexuellen Aktivität, sondern auch aufgrund dessen zur Beförderung der (ehelichen) Untreue, wohlgemerkt: der weiblichen Untreue. Der durch die Pille befürchteten Freizügigkeit Einhalt zu gebieten, sei fortan Sache des Arztes, erklärt ein Mediziner der Frau-

bei durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau, aber 2,1 wären nötig, um die Einwohnerzahl stabil zu halten. Deshalb wird die Bevölkerung bis 2050 von jetzt 82 Millionen auf unter 70 Millionen schrumpfen.« In: Der Spiegel »Alles war Unsinn«, 18/2003. Die Sorge um die Bevölkerung betrifft dabei hauptsächlich zwei Richtungen: Sie dient zur Sorge, wie das erzeugte »Defizit« zu stopfen sei (beispielsweise ob ausländische Menschen durch Anreize nach Deutschland gelockt werden können). »Schon seit fünf Jahren sterben in der Bundesrepublik mehr Menschen, als Menschen geboren werden. Die Ursache für den beängstigenden Rückgang der Geburtenrate, den oft beschworenen Pillenknick, liegt nicht allein in der Emanzipation der Frau, sondern sicherlich auch auf finanziellem Gebiet«, so heißt es in: Die Zeit 26/1977.

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enklinik Göttingen 1964 im Interview mit dem Spiegel.38 Er habe daher Bedenken, die Pille Unverheirateten zu verschreiben, denn diese »unreifen Menschenkinder nehmen doch das Geschlechtsleben wie eine Alltäglichkeit hin.«39 Aus diesem Grund empfehle sich eine solch regulierende Medikation an »geprüfte«40 bzw. »vertrauenswürdige«41 Frauen. Den Beweis der Sittlichkeit, an die Sexualität hier gebunden ist, liefert in dieser Schlussfolgerung nur der Ehestand. Anders lässt sich die Frage »Anti-Baby-Pille nur für Ehefrauen?«42 schwer einordnen. Mit dem öffentlichen wie institutionellen Liebesversprechen erscheint die potentielle Freizügigkeit regulierbar. Dabei spielt insbesondere ein (romantisches) Liebesideal eine Rolle, weil es als Versuch gilt, sexuelle Bindungen durch Begrenzung auf zwei sich Liebende einerseits zu fixieren und ihr andererseits durch die Bestätigung in der Zeit Legitimität zu verschaffen. Diese Legitimität wird durch eine Semantik gestützt, die die Ehe zu demjenigen Ort stilisiert, an dem die Liebe zu sich selbst komme.43 Eine solche Engführung von weiblichem Begehren und der Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft führt zu der Annahme, Frauen lebten nur dann monogam, wenn sie eine Schwangerschaft befürchteten. Daraus folgen Fragen wie: »Verführt die Pille zum Partnerwechsel?«44 Kenntlich wird hier die Unsicherheit in Bezug auf Beziehung und Lebensführung, auch wenn die in diesem kurzen Beitrag zitierte Studie, die sich mit dem Sexualverhalten von »jungen Mädchen« beschäftigte, den Polygamieverdacht nicht belegen kann. Der unterstellte Betrug verweist auf eine triebhafte Anlage, die das traditionelle Konzept der Paarbeziehung nach dieser Auffassung untergräbt und damit Misstrauen sowie Unsicherheit produziert. Nimmt man beide Impulse ernst, dann führt die steigende Emanzipation von Frauen (auf Grundlage der gewonne-

38 Mediziner sind hier nicht als Akteure zu denken, die intentional Macht ausüben, sondern durch sie greift Macht ebenso hindurch wie durch die betroffenen Paare. Während letzte jedoch als Objekte beschrieben werden müssen, sind im Machtmodell der Reproduktion die Mediziner so etwas wie die biopolitische Exekutive. 39 Art. »Anti-Baby-Pille nur für Ehefrauen?« In: Der Spiegel 9/1964. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Art. »Anti-Baby-Pille nur für Ehefrauen?«, in: Der Spiegel 9/1964. 43 In dieser Weise interpretiert Sven Lewanski Zygmunt Baumans Konzeption der romantischen Liebe. In: Lewandowski, Sven: Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung, 2004:60. 44 Art. »Verführt die Pille zum Partnerwechsel?« in Der Spiegel 06/1979.

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nen Autonomie) in Bezug auf die Verhütung von Schwangerschaften zu elementaren Erschütterungen von Beziehungen nach innen und nach außen. Von diesen betroffen ist damit nicht nur die eng(st)e zwischenmenschliche Beziehung, sondern (im gewissen Sinne als deren Multiplikator) auch gesamtgesellschaftliche Strukturen. (b) Selbstdisziplinierung: Besonders in der Anfangszeit – so der Tenor der Berichterstattung – klagten Konsumentinnen der Pille über deren Nebenwirkungen. Dies sei jedoch vorrangig durch die psychische Disposition der Frauen erklärbar »Oder: wie es Asterix ausdrücken würde: Spinnen die Frauen?«45 Die Unsicherheit zum Anlass nehmend, fragte der Spiegel Professor Dr. Jürgen Hammerstein vom Klinikum Steglitz zu den Kampagnen deutscher Boulevard-Zeitungen gegen die Pille »mit Leserinnen- Zuschriften und Schlagzeilen wie: ›Nur die Pille ist an allem schuld.‹, ›Die Pille tötet die schönen Gefühle‹, ›Seit der Pille habe ich Migräne‹, ›...kann nachts nicht schlafen‹; ›...habe ich die Liebe verlernt‹ und so immer weiter. Wie gefährlich ist die Pille wirklich?«46 Der Mediziner beschwichtigt, diese Klagen sollten nicht »überbewertet« werden. Vielmehr habe man es mit »seelischen Einflüssen« bzw. »Autosuggestion« zu tun. Trotzdem bleiben Vorbehalte gegenüber der Pille lange Zeit Bestandteile der öffentlichen Auseinandersetzung.47 Unter Manipulationsverdacht gestellt und damit als Opponent der Natur inszeniert, lautet die Sorge: »Pille dämpft die Lust am Sex«48. Hiermit dreht sich der Vorwurf in sein Gegenteil um. Unterstellte ersterer ein enges Verhältnis zwischen weiblicher Sexualität, triebhaftem Handeln und der durch die Pille gebannten Angst vor einer Schwangerschaft, konstatiert eine solche Aussage, auch die Lust lasse sich medikamentös regulieren, bzw. minimieren. Freudloser Ehe-Sex könnte die Folge sein. Die Vorstellung, Sicherheit um den Preis der Lust zu gewinnen, gehört dennoch in die Sphäre der Medikalisierung der »Pillen-Folgen«. Der disziplinierte Sex führe dann zur Einschränkung der weiblichen Libido, wenn er als medizinisch-technisches Interventionsprogramm begriffen wird. So versucht diese Diskursstrategie, der gesteigerten Autonomie ihr Telos, die Steigerung der Lust, zu entziehen. Sexualität erscheint so domestiziert

45 Art. »Das Unbehagen an der Pille«, in: Der Spiegel 06/1977. 46 Art. »Bilanz: Nach wie vor zugunsten der Pille«, in: Der Spiegel 12/1970. Die folgenden Zitate: Ebd. 47 Im Sommer 2009 stand die Einahme der Pille unter Verdach t, verantwortlich für einige Todesfälle in der Schweiz zu sein. 48 Art. »Pille dämpft die Lust am Sex« in Der Spiegel 02/1979.

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und emanzipiert zugleich. Durch die hormonelle Unterbindung einer Schwangerschaft, durch die medikamentöse Einflussnahme, kann Sexualität einerseits zu dem werden, als was sie eigentlich gilt: unberechenbar und triebhaft. Sie kann dies andererseits aber nur um den Preis der Disziplin der kontinuierlichen Einnahme der Pille. Die Reizsteigerung im Hedonismus fordert von der mündigen Bürgerin das Tribut der regelmäßigen Einnahme. Insbesondere die Diskussion um »Langzeitverhütung«49 fördert nach der Etablierung der hormonellen Kontrazeptiva dabei seit Ende des letzten Jahrhunderts einen weiteren vermeintlich emanzipatorischen Aspekt zutage. Diese gewährleiste »[s]orgenfreie und sichere Empfängnisverhütung ohne tägliches Pille-schlucken«50 und dies sei schließlich »ein Wunsch vieler Frauen.« Nicht nur »[s]orgenfrei und sicher« lasse sich Verhütung gestalten, sondern sie sorge auch dafür, dass nichts mehr »verschlampt oder vergessen werden« könne. Schließlich empfänden besonders junge Frauen das Einnehmen der Anti-Baby-Pille als »mühsam«. Ein nächster Schritt der Befreiung entbindet diesem Versprechen zufolge von der Verpflichtung zur Zuverlässigkeit und Anstrengung. Der im selben Beitrag zitierte österreichische Bundesfachgruppenobmann für Frauenheilkunde Gerhard Hochmaier kommt abschließend hinsichtlich der möglichen Folgen für die (Sexual-)Partner zu folgender Einschätzung: »Mit einem sanften Streicheln des Oberarms beim ersten Kennenlernen wird unauffällig die potenzielle Partnerin abgetastet. ›Spürt der Mann das Stäbchen, gibt es kein Problem mit der Verhütung.‹« Er braucht seiner Partnerin nicht mehr zu glauben, dass sie die Pille schluckt; der »Beweis« liegt auf der Hand bzw. unter der Haut. Mit einer solchen Aussage wird unterstellt, eine Schwangerschaft sei das von Frauen intendierte Ziel, um das zu erreichen sie die Männer hintergehen. Deren Aktivität (Prüfung) ersetzt dabei fehlendes Vertrauen. Dies geschieht unabhängig von der Möglichkeit männlicher Verhütung. So wird die biopolitische Kontrolle über die Fortpflanzung immunisiert gegen ›irrationale‹ weibliche Intentionen/Interessen. Indem sie das wird, offenbart sich ein essenzialisierter Grundkonflikt zwischen den Geschlechtern, der den Diskurs auf eine gesellschaftliche Ebene hebt.

49 Vertiefend zur Langzeitverhütung: Bock von Wülfingen, Bettina: VerhütenÜberflüssig. Medizin und Fortpflanzungskontrolle am Beispiel Nordplant, 2001. 50 Art. »Sex mit Stäbchen«, in: Die Zeit 18/2000. Alle folgenden Zitate: ebd.

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(2.4) Fit for fun? Betrachtet man die Redeweisen über das Verhältnis von Fortpflanzung und Sexualität an der Stelle, an der beide sich jeweils vom anderen lossagen, also hormonelle Verhütung und »künstliche« Befruchtung, dann fällt auf, dass beide gänzlich getrennt voneinander inszenierbar erscheinen. Dies setzt voraus, dass »Zeugung« nicht notwendig Produkt eines gegengeschlechtlichen Aktes ist. Das Bemühen um eine »geglückte« Sexualität ist vielmehr legitimer Anspruch; Zeugung ist dann eine Möglichkeit, die man zur Verfügung haben muss, wenn man sie wünscht.51 Die Konsequenz ist, dass die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung zwei unterschiedliche Modelle für die (in erster Instanz: gegengeschlechtliche) Beziehung nach sich zieht. Als Rollenangebote werden fortan eine hedonistische und eine rationale Lebenswirklichkeit diskursiv vermarktet: Die des homo ludens (Sexualität ohne Fortpflanzung) und die des homo faber (Fortpflanzung ohne Sexualität). Homo ludens und homo faber sind intentionale Wesen. Sie streben der Erfüllung eines Ziels entgegen, begleitet von der ständigen Angst, dieses zu verfehlen und es zu erreichen.52 Im Anschluss an Zygmunt Baumans Rede von »Gesundheit« und »Fitness«53 für die Unterscheidung Moderne/Postmoderne lässt sich die Unterscheidung von homo ludens und homo faber explizieren: Gesundheit und Fitness fungieren als Bedingung der Möglichkeit, homo ludens und homo faber zu sein. Sowohl Gesundheit als auch »Fitness« beziehen sich auf die Sorge um den eigenen Körper, um die Standards, die es gemessen an ihm (im Sinne eines allgemeinen Körpers) und durch ihn (im Sinne eines individuellen Körpers als Mittel) zu erreichen gilt. Wenn etwa ein Ratgeber aus dem Jahr 1969 Frauen rät, »nur dann an eine Empfängnis zu denken, wenn sie in einem erstklassigen

51 Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung, 2007:169. Boltanski führt weiterhin aus, dass die Trennung von Sexualität und Zeugung auf der »technologischen« Ebene gesichert sei durch empfängnisverhütende Mittel. Rechtlich sei dies eine Frage der Gerechtigkeitsverteilung. Bleibt zu ergänzen, dass sich hier die empfängnisfördernden Verfahren ebenso anschließen. 52 Diese Ängste heißen genauer Protophobie und Fixeophobie: Von der Furcht, den Gipfel nie zu erreichen und der Angst, ihn zu erreichen. Bauman, Zygmunt: Flaneure, Spieler und Touristen, 1997:194. 53 Mit diesen arbeitet er u.a. in Flaneure, Spieler und Touristen, 1997 und in: Flüchtige Moderne, 2003.

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Gesundheitszustand«54 seien, dann ist hier nicht nur »Denken« mit »vorausschauendem Handeln« gleichgesetzt, sondern auch die Herstellung einer Schwangerschaft wird durch eine Relation zur Kategorie Gesundheit vermeintlich rational handhabbar. Sie ist zumindest eindeutig intentional und an einen gesunden weiblichen Körper gebunden. Gesundheit stellt damit die Bedingung für geplante Reproduktion. Im Umkehrschluss meint dies, einen Körper, der zur Fortpflanzung nicht fähig ist, als krank zu beurteilen. Ein Zustand, dessen Veränderung nicht nur möglich, sondern auch dringend geboten ist. Ecce homo faber! ›Fit zu sein‹, und damit empfänglich für Reize, heißt prophylaktisch, ›gesund zu bleiben‹. Inwieweit dabei auch die vermeintlich hedonistische Welt des homo ludens von Anstrengungen und Mühen (um sich) geprägt ist, verdeutlicht nicht nur die Sportstudiodichte, sondern auch die Werbung oder das Ratgeberwesen. Bei der Produktion von Fitness im Studio dient das Heben und Stemmen von Gewichten nicht dazu, Dinge zu bewegen, sondern Körper zu modellieren. Als Ziel einer auf sich selbst verwiesenen Sexualität, deren Telos also nicht mehr die Fortpflanzung ist, erscheint nun die beständige Steigerung von Lust. Fitness wird zur Bedingung der Möglichkeit einer dieses Ziel erfüllenden Sexualität. Ecce homo ludens! Nach Bauman steht für den postmodernen Menschen Fitness im Vordergrund, hinter die die Gesundheit zurücktritt. Für die postraditionalen Lebensformen des in diesem Spiel zumindest optional vorausgesetzten Paares ist die Lebensform des homo ludens offenbar eine Erscheinung an der gesellschaftlichen Oberfläche. Damit aber ist die biopolitische Rechnung ohne die Reproduktion gemacht. Wenn Gesundheit die Bedingung dafür ist, homo faber zu sein, homo faber zu sein begrifflich mit fruchtbar-sein verkoppelt ist, dann ist nichtfruchtbar-sein nicht mit dem Dasein als homo faber zu vereinbaren: Hier vollzieht sich jenseits der bereits geschilderten reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten die Konstruktion von Unfruchtbarkeit als Krankheit, die dadurch in die Lebenswelt des homo faber zu integrieren ist, als dass sie ihm eine Bezeichnung (Krankheit) und eine Lösung (z. B. IVF) anbietet. Sowohl hinsichtlich der Fortpflanzung als auch der Sexualität verfügen beide Modelle – homo faber und homo ludens – über einen formbaren und einen leistungsfähigen Körper. Nimmt man sie zusammen, steigern sie sich zur Flexibili-

54 Gräfin Schönfeldt, Sybil: Das Buch vom Baby. Schwangerschaft und Geburt und ersten beiden Lebensjahre, 1969:8; zitiert nach Beck, Ulrich; Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe, 2005:148.

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tät, Aufnahmefähigkeit und Produktivität. Angesichts der prinzipiellen Herstellbarkeit bzw. Steigerung von Autonomie in Bezug auf Sexualität und Fortpflanzung vollzieht sich durch soziale Praktiken und implizite Standards eine prinzipielle Abwertung des einstmals zentralen Begriffs der Normalität, weil nunmehr unterschiedliche Spielarten gleichzeitig existieren, von denen keine als »normal« gilt. Dabei fallen Sexualität und Fortpflanzung jedoch nur optional zusammen. Und dies hat Folgen, wie Baumann unter Hinweis auf Ulrich Beck betont: »[...] the widely noted seperation of sex from reproduction is power-assisted. It is a joint product of the liquid modern life setting and of consumerism as the chosen and sole available strategy of ›seeking biographical solutions to socially produced problems‹ (Ulrich Beck).«55

In den Ausführungen zu seiner zentralen Figur der flüchtigen Moderne gibt Bauman einen entscheidenden Hinweis auf die Diagnose, wonach Fortpflanzung nach der Trennung von Sexualität in essentieller Weise Frauenangelegenheit geworden ist: An ihren Körpern vollziehen sich über Gesundheit und Fitness die neuen Lebensmöglichkeiten so, dass Reproduktion allein in weiblicher Hand liegt. Tatsächlich sind diese »Möglichkeiten« nicht autonom, sondern heteronom. Sie sind Selbsttechnologien. Mit Foucault gehe ich an dieser Stelle davon aus, dass Selbsttechnologien zu jenen Strategien gehören, in denen sich Individuen ihrer eigenen Souveränität versichern. Diese ermöglichen es dem Einzelnen, durch sich selbst oder durch Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper vorzunehmen. Ziel ist es, sich so zu verändern, dass ein Zustand des Glücks erlangt werden kann.56 Wenn Gesundheit und Fitness also Kategorien der Selbsttechnologien sind und Strategien der Selbsttechnologien immer auch heteronome Disziplinen sind, dann lassen sich über die Kategorien von Gesundheit und Fitness, die auf das Individuum wirken, Machtstrategien identifizieren. In diesem Sinne gelten Gesundheit und Fitness als gesellschaftlich ausgehandelte Zielgrößen des Individuums. Inwiefern pro-natalistische Strategien dabei zu scheinbar individuellen Lösungen führen, offenbart auch, bezogen auf die Reproduktionstechnologie, dass zur »Therapie« ungewollter Kinderlosigkeit der Ehestand notwendig ist (es sei denn, es handelt sich um Selbstzahler), weil

55 Bauman, Zygmunt: Liquid Love, 2003:44. 56 Siehe hierzu: Foucault, Michel: Dits et Ecrits Bd. IV, 2005:968.

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nur er eine Finanzierung der Behandlung rechtfertigt.57 Auch stellt für beide Lebensmöglichkeiten des homo ludens und des homo faber der Ehestand ein entscheidendes Argument dar, um die Inanspruchnahme der medizinischen Angebote zu rechtfertigen. Selbstverständlich besteht der Unterschied von Pille und IVF darin, dass im Fall der IVF dies Niederschlag im Sozialgesetzbuch findet und sich auf die Finanzierung der Behandlung auswirkt, wohingegen die anfängliche Forderung, die Pille ausschließlich an Verheiratete abzugeben, keinerlei (rechtliche und/oder ökonomische) Folgen nach sich zieht.58 Indem sich aber solche Redeweisen in der Öffentlichkeit profilieren, priveligiert dies die Ehe, weil diese (zeitgleich mit einer steigenden Scheidungsrate) Sicherheit suggeriert. Diese Sicherheit gründet sich auf Anerkennung. »But more than that, marriage compels, at least logically, universal recognition: everyone must let you in the door of the hospital, everyone must honour your claim to grief; everyone will assume your natural rights to a child; everyone will regard your relationship as elevated into eternity.«59 Mit der so gestifteten Sicherheit im Rücken darf Sexualität dann so produktiv wie diszipliniert sein. Anti-Baby-Pille und IVF sind Beispiele dafür, wie durch eine an sie gebundene Wissensordnung neue Sprachregelungen hervorgebracht werden. Quasi als Nebenprodukt des gesunden und disziplinierten Körpers taucht ein sexueller und ein sexuell-disziplinierter Körper auf, wobei die durch die doppelte Trennung von Sexualität und Fortpflanzung praktisch losgelösten Lebensbereiche des homo ludens und des homo faber fortan miteinander um ihre jeweilige Bestimmung konkurrieren. Inszenieren lässt sich diese vermeintlich konfliktive Beziehung vor dem Hintergrund einer bereits existierenden »Lösung«. Es geht auf der einen

57 Das Urteil des BVG vom 28.02.2007 formuliert noch einmal explizit, dass kein Rechtsanspruch auf eine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung für unverheiratete Personen besteht. Für diese Versicherten ist nunmehr klargestellt, dass unverheiratete Personen keinen gesetzlich abgesicherten Anspruch auf Maßnahmen der künstlichen Befruchtung haben. 58 Hinzu kommt selbstredend, dass die Forderungen, die Pille nur an verheiratete Frauen abzugeben, in erster Linie aus den 1960er Jahren stammen. Insbesondere nach der Profilierung der zwei unterschiedlichen Lebenswelten von homo ludens und homo faber tauchen solche Aussagen ab den 1980er Jahren nicht mehr auf. Für mich ist jedoch zentral, inwiefern überhaupt der Ehestand zur Bedingung der Inanspruchnahme der Maßnahmen gemacht wird, machen sich hieran doch auch Ein- und Ausschlussmechanismen kenntlich. 59 Butler, Judith: Undoing Gender, 2004:111.

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Seite darum, den ungezügelten homo ludens zu disziplinieren, weil er als Agent einer möglichen Überbevölkerung gehandelt wird. Ihm dient die Pille dazu, gleichzeitig seinen (sexuellen) Interessen nachzugehen und dabei keinen demographischen Schaden anzurichten.60 Der Einsatz der Pille fungiert somit als Regulation des homo ludens seit einer Zeit, in der erstmals globale Überbevölkerungsszenarien öffentlich wirksam geworden sind (vgl. etwa Club of Rome). Um Stimulation der Fertilität indes geht es auf der anderen Seite, wenn durch medizinische Möglichkeiten ein kinderreiches Heilsversprechen (im Sinne der »Heilung« von Krankheit) popularisiert wird, wenn die düsteren Wolken einer alternden Gesellschaft aufziehen. Die Vorstellung davon, was Körper tun können bzw. sollen, konstituiert also einen widersprüchlichen, einen vielseitigen Körper. Dessen Befähigung besteht darin, sein Potential unter Ausschluss des Zufalls nie gleichzeitig zu entfalten.

60 Ein Diskursstrang, der seit den 1980er Jahren vor dem Angst-Szenario der HIV-Infektion an Gültigkeit eingebüßt hat. Verschwunden ist er jedoch keineswegs.

3. Kapitel Auf der Suche nach einem gesunden Kind

(1) Z EUGUNG

AUF

P ROBE

Das Sprechen über die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung folgt den Regeln einer diskursiven Praxis, die einen Bereich konstituiert, in dem über Verhaltensweisen und Normabweichungen im Bezug auf ›Leben‹ verhandelt werden kann. Die Konsequenzen eines solchen Macht-Wissens-Komplexes werden insbesondere dann sichtbar und wirksam, wenn eine Schwangerschaft bereits besteht. Mit Blick auf die Reproduktionstechnologien fallen die hier zu treffenden Entscheidungen in die Sphäre des homo faber. Die Produktivität des Diskurses deutete sich ja bereits an, als anlässlich der Trennung der Fortpflanzung von der Sexualität Unfruchtbarkeit zur therapiewürdigen Krankheit wurde. Im Kontext der Technologisierung der Fortpflanzung tritt zudem aber auch ein neuer Patient auf: Das Ungeborene. Wird hier Kontrolle – im Sinne von Verantwortung – als (medizinische) Handreichung natürlich angeboten, bezieht sich diese zwar auf den Embryo bzw. den Fötus. In Folge dessen Sprachlosigkeit und seiner unzureichenden Präsenz sind es die Eltern (und hier in erster Linie die Frauen), die sich der Kontrolle unterziehen, und daher ihre Körper mit denen des zukünftigen Kindes in Relation bringen. Geht es hier um das hohe Gut Gesundheit, mit dessen Versprechen gelockt wird, befinden wir uns zwangsläufig auf einer gesellschaftspolitischen Ebene. Hier beginnt sich eine neue Praxis herauszubilden, – diejenige, die sich mit den Eigenschaften der Ungeborenen beschäftigt. Während der Weihnachtsfeiertage 2002 lancierte etwa die Sekte der Raelianer die Meldung, ihr sei ein KlonKind geboren. Und auch wenn ein Beweis dafür bis heute aussteht, sorgte die

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Meldung für weitreichende Aufmerksamkeit.1 Auch Ende 2008 provozierte ein Baby öffentliche Erregung. Diese Aufregung bestand darin, dass das Kind noch nicht einmal auf der Welt war. In England wurde ein Kind erwartet, das – nach heutigem Wissen – genetisch gesund ist. Seine Eltern hatten sich entschieden, die durch IVF entstandenen Embryonen auf Brustkrebs testen zu lassen, um auszuschließen, ihrem Kind jene Krankheit zu vererben, an der seit drei Generationen die Frauen in der Familie des Mannes erkrankten. Aus diesem Grund unterzogen Mediziner auf Wunsch der Eltern die durch künstliche Befruchtung erzeugten Embryonen einem Test: der sogenannten Präimplantationsdiagnostik (PID2). Hierbei handelt es sich um ein Verfahren, das erstmalig 1990 in Großbritannien durchgeführt wurde und welches aus einer Kombination von In-VitroFertilisation und genetischer Diagnostik besteht. Dabei werden jene Embryonen, die durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle außerhalb des Körpers in der Petrischale befruchtet wurden, auf bestimmte Eigenschaften hin getestet. In einer Verbindung von Kinderwunschbehandlung und Risikoabwägung wird nach Chromosomenanomalien und Mutationen gesucht; und nur wenn diese nicht vorliegen, wird der Embryo in die Gebärmutter eingepflanzt.3 Ein Untersuchungsergebnis liegt ca. drei bis acht Stunden nach der Entnahme vor. Vorausgesetzt ist jedoch, dass die Eizellen in einem für die Frauen physisch wie psychisch sehr belastenden Hyperstimulationsverfahren gewonnen werden und zudem potentiell die Gefahr einer Mehrlingsschwangerschaft besteht.4

1

Die Süddeutsche Zeitung titelte »Baby Dolly. Raelianer-Sekte meldet Geburt eines geklonten Kindes« (SZ, 28./29.12.2002); die Frankfurter Allgemeine Zeitung »So ihr nicht werdet wie die Klonkinder« (FAZ, 29.12.2003).

2

Im internationalen Kontext wird die Präimplantationsdiagnostik mit PGD für preimplantation genetic diagnosis abgekürzt, da PID bereits durch pelvic inflammatory disease besetzt ist. Ich bleibe jedoch bei der Abkürzung PID, da sie es ist, die primär in dem von mir untersuchten Material Verwendung findet.

3

Kollek, Regine: Präimplantationsdiagnostik. Embryonenselektion, weibliche Auto-

4

Damit stellt die PID eine von drei verschiedenen Möglichkeiten dar, Embryonen ge-

nomie und Recht, 2002. netisch zu überprüfen, die sich in erster Linie durch rechtliche und ethische Implikationen unterscheiden. So nimmt die Polkörperuntersuchung Tests an der Eizelle der zukünftigen genetischen Mutter vor; während ein anderes Verfahren die Spermienqualität des zukünftigen genetischen Vaters untersucht. Während diese Verfahren präkonzeptionsdiagnostisch zum Einsatz kommen – und aufgrund dessen allgemein als ethisch unbedenklich gelten – gründen sich die Bedenken gegen die PID vorrangig

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Die PID etabliert dabei die Rede von einem potenziellen Kind, da es erst dann zum wirklichen Kind wird, wenn keine Auffälligkeiten entdeckt wurden.5 Denn tatsächlich wird nicht die Krankheit/Behinderung6 eines Kindes abgewendet oder therapiert, sondern der betroffene Embryo wird bei einem »positiven« Befund »verworfen«, d.h. nicht eingepflanzt. Anhand der elterlichen Entscheidung zur Untersuchung im Reagenzglas wird deutlich, dass der Körper vermeintlich sogar generationenübergreifend – nämlich (am Beispiel aus England) zwischen den Ahnen väterlicherseits und dem zukünftigen Kind – ein Risiko darstellt, das, anders als ökonomische oder soziale Risiken, durch Tests, nämlich durch die PID, ermittelt und (durch entsprechende Entscheidungen) verhindert werden kann. Die ersten Überlegungen Anfang der 1990er Jahre bezüglich der Anwendung von PID sahen eine Behandlung von Paaren vor, die ein bekanntes genetisches Risiko für die Vererbung von genetisch (mit-)bedingten Erkrankungen oder Behinderungen trugen. Einem kürzlich veröffentlichten Bericht über den Umgang mit der PID in Ländern Europas ist jedoch zu entnehmen, dass 46,3 Prozent aller Untersuchungen aufgrund eines vorher bekannten genetischen Risikos und 49,7 Prozent einfach zusätzlich zur IVF durchgeführt werden.7 Dies ist ein klares Zeichen für die Verselbständigung eines solchen Verfahrens. Indem mittels genetischer Diagnostik Wissen entsteht, führt dies dazu, dass für Paare mit einem Kinderwunsch und bekannter Disposition unterschiedliche Handlungsoptionen bestehen: Sie können auf biologische/genetische Kinder verzichten (und stattdessen u.U. ein Kind adoptieren), sie können sich für die Inan-

darauf, dass der Embryo entwicklungsfähig ist. Schmidt, Thomas Harald: Präimplantationsdiagnostik. Jenseits des Rubikons?, 2003:22. 5

Nickels, Christa: Menschenwürde und Fortpflanzungsmedizin, in: Jahrbuch Men-

6

Die begriffliche Unterscheidung von Krankheit und Behinderung, wie ich sie allge-

schenrechte, 2003:145. mein wähle, besteht u.a. in der zeitlichen Dauer einer für die betroffene Person wahrnehmbaren Beeinträchtigung: Krankheit ist eher kurzfristig und vorübergehend, Behinderung dagegen langfristig. Uneinigkeit besteht jedoch hinsichtlich des normativen bzw. deskriptiven Gehalts des Konzepts. Dabei geht es mir jedoch vorrangig darum, wie diese Kategorien selbst innerhalb des Diskurses hervortreten. Inwiefern auch in diesem Kontext diskursive Strategien wirksam werden, das habe ich anhand der »Krankheit« ›Unfruchtbarkeit‹ bzw. ›ungewollter Kinderlosigkeit‹ gezeigt. 7

Krones, Tanja: Der Kinderwunsch – wie viel ist in den Augen der Öffentlichkeit zulässig?, in: Bockenheimer-Lucius, Giesela; Thron, Petra; Wendehorst, Christiane (Hg.): Umwege zum eigenen Kind, 2008:3.

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spruchnahme von vorgeburtlicher Diagnostik entscheiden und gegebenenfalls die Schwangerschaft beenden. Darüber hinaus ist es zumindest denk- und praktizierbar, soziale und biologische Elternschaft zu trennen (durch Samen- oder die in Deutschland verbotene Eizellenspende). Selbstverständlich können Betroffene optional keine dieser Möglichkeiten wählen und das Kind ohne besondere Inanspruchnahme von Diagnostik auf die Welt bringen. Eine Entscheidung verlangt indes auch diese Haltung. Denn auch ein Verzicht ist eine Handlung. 8 (1.1) Die Situation in Deutschland Bis 2010 war die PID in Deutschland (im Gegensatz zu vielen Ländern innerhalb Europas9) nach damaliger Rechtsauffassung verboten.10 Die Möglichkeit der Kombination der Befruchtung einer menschlichen Eizelle außerhalb des Körpers und der genetischen Untersuchung des auf diese Weise entstandenen Embryos löste aber insbesondere seit Beginn des Jahres 2000 auch hier Diskussionen aus, als der Vorschlag, die PID zuzulassen, weite Kreise zog. Das geschah auch deshalb, weil Befürworter des Verfahrens eine Ungleichbehandlung zu anderen – legalen – Maßnahmen anmahnten. Im Gegensatz zur PID waren die Verfahren der Pränataldiagostik (PND) in Deutschland zugelassen. Die PND beinhaltet in Anlehnung an die Definition der European Study Prenatal Diagnosis »alle diagnostischen Maßnahmen, durch die morphologische, strukturelle, funktionelle, chromosomale und molekulare Störungen vor der Geburt erkannt oder ausgeschlossen werden können«11. Diese Untersuchungen werden sowohl non-invasiv als auch invasiv (in den weiblichen Körper eindringend) während der Schwangerschaft eingesetzt, um Aussagen über den Embryo/den Fötus zu treffen. Zu diesen sich seit den 1970er Jahren ausweitenden Verfahren gehören bestimmte Ultraschalluntersuchungen, Nackenfaltenmessung, Erst-Trimester-Test, Fruchtwasseruntersuchung und Nabelschnurpunktion. Durch die Untersuchung von Organen, Genen und Zellen des Ungeborenen ergeben sich dabei messbare Werte, die als zum Normbereich gehörig oder von ihm abweichend interpretiert werden.

8

Kollek, Regine; Lemke, Thomas: Der medizinische Blick in die Zukunft, 2008.

9

Hierzu der Bericht von Nippert, Irmgard: Präimplantation: Ein Ländervergleich, 2006. http://library.fes.de/pdf-files/stabsabteilung/04250.pdf [08.04.2009].

10 Eine solche hob auf das Embryonenschutzgesetz ab. Inwieweit hier Deutungen miteinander ringen, werde ich genauer im Kapitel 8 ausführen. 11 European Study Group on Prenatal Diagnosis, 1993.

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Auch wenn keine Frau zu Untersuchungen explizit aufgefordert wird (werden soll), sind Ärzte und Ärztinnen gehalten, sich an den seit 1966 bestehenden Mutterschaftsrichtlinien12 zu orientieren und die werdende Mutter ab einem gewissen Alter auf die medizinischen Möglichkeiten der (invasiven) Diagnostik hinzuweisen.13 Dieses Dokument liegt seit 1968 in bundeseinheitlicher Form vor. Bereits 1979 wurden die Mutterschaftsrichtlinien um weitere Untersuchungen ergänzt, welche so terminiert wurden, dass mögliche Entwicklungsstörungen des Ungeborenen »rechtzeitig« erkannt werden konnten.14 Durch die 1985 vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen überarbeiteten Mutterschaftsrichtlinien und die sogennanten »Sonstige-Hilfe-Richtlinien« wurden die PND und die genetische Beratung als Maßnahmen in der Risikoschwangerschaft befürwortet und damit institutionell anerkannt. Als allgemeines Ziel der Mutterschaftsrichtlinien gilt der Schutz der Gesundheit und des Lebens von Mutter und Kind, was die Früherkennung möglicher gesundheitlicher Störungen des Ungeborenen während und nach der Schwangerschaft einschließt. Die Richtlinien verfolgen die Absicht, potentielle »Risikoschwangerschaften« und »Risikogeburten« möglichst frühzeitig zu erkennen.15 Der Mutterpass, der nach Mutterschaftsrichtlinien jeder Schwangeren in der zehnten Schwangerschaftswoche ausgestellt wird, formuliert explizit das Ziel, die Schwangere zur Teilnahme an der Schwangerschaftsvorsorge zu motivieren.16 Die hier benannten 52 Risiken17 ergeben sich aus der Lebens- und Krank-

12 Das sind genauer die ärztlichen Richtlinien über die Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung. 13 Als möglicher Grund für eine gezielte, insbesondere invasive pränatale Diagnostik gilt das erhöhte Alter der Schwangeren. Hierzu: Deutsches Ärzteblatt 95, Heft 50, 11. Dezember 67/1998. 14 Waldschmidt, Anne: Das Subjekt in der Humangenetik. Expertendiskurse zur Programmatik und Konzeption der genetischen Beratung 1945-1990, 1996:203. 15 Beermann, Astrid: Schwangerschaft im Fadenkreuz: am Beispiel der Pränataldiagnostik und »Erlanger Fall«, 1997:30. 16 So war den frühen Mutterpässen eine heraustrennbare Bescheinigung beigelegt, die die Schwangere nach der Geburt ihrer Krankenkasse zur Auszahlung eines Pauschalbetrags von 100 DM dann einreichen konnte, wenn ihr von Seiten des Gynäkologen bestätigt wurde, dass sie die vorgesehenen Untersuchungen vor und nach der Geburt wahrgenommen hatte. Der gegenwärtige Verzicht auf die symbolische Auszahlung kann als Indiz dafür gewertet werden, dass dergleichen Anreize nicht (mehr) notwendig sind, um Frauen für die Untersuchungen zu motivieren. Ablesen lässt sich daran

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heitsgeschichte der Schwangeren (Alter, Geburtserfahrung, Unklarheit bezüglich des Entbindungstermins, psychische Erkrankungen, soziale Probleme). Ein mögliches Schwangerschaftsrisiko kann durch das Ankreuzen des Arztes kenntlich gemacht werden. 1986 wurde ein neuer Mutterpass herausgegeben, in welchem individuelle Daten des Fötus und der Schwangeren festgehalten sind. Ein Teil der dortigen Angaben wird in Deutschland zentral gesammelt, um Auskunft über die Inanspruchnahme der Untersuchungen, über die Verteilung von so genannten Risikoschwangerschaften und über medizinische Möglichkeiten zu erhalten.18 (1.2) Vom Reden übers Risiko Zielgruppe pränataler Untersuchung sind also vornehmlich sogenannte »Risikoschwangere«. Zu dieser Gruppe werden nach den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen jene Frauen gezählt, »bei denen aufgrund der Vorgeschichte oder erhobener Befunde mit einem erhöhten Risiko für Leben und Gesundheit von Mutter oder Kind zu rechnen ist«19. Risikoträgerin ist durch eine entsprechende Krankheitsgeschichte oder empirisch fassbare Daten die schwangere Frau; das Risiko indes kann sich ebenso auf die Gefährdung ihres physischen Zustands beziehen wie auf den des Ungeborenen. Neben familiär belasteten Frauen werden als Risikoschwangere gleichfalls diejenigen bezeichnet, die eine (in verschiedenen Ländern unterschiedlich definierte20) Altersgrenze überschritten haben. Bis Mitte der 1980er Jahre wurden 80 Prozent aller pränatalen Untersuchungen aufgrund des Alters der Mutter durchgeführt. Seither steigt insgesamt die Zahl der Inanspruchnahme kontinuierlich an.21 Die steigende Anzahl von Indikationen wird oftmals durch ein ansteigendes Alter Erstgebärender erklärt. Lag das Durchschnittsalter Erstgebärender im Jahr 1970 bei 24,3 Jahren,

ein hohes Maß an Routine, welches der PND in den vergangenen Jahren zugekommen ist. 17 Die Liste, die ein Risiko ausweist, wird seit den 1960er Jahren stetig ergänzt. Beermann, Astrid: Schwangerschaft im Fadenkreuz: am Beispiel der Pränataldiagnostik und »Erlanger Fall«, 1997:30f. 18 Degener, Theresia; Köbsell, Swantje: »Hauptsache, es ist gesund«? Weibliche Selbstbestimmung unter humangenetischer Kontrolle. Hamburg, 1992:28. 19 Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen 2003. 20 Rapp, Rayna: Testing the women, testing the fetus, 1999. 21 In den Jahren 1991 bis 2003 verdoppelte sich beispielsweise die Anzahl der Fruchtwasserentnahmen. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2006.

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stieg es bis zur Jahrtausendwende auf 29 Jahre.22 Einen ganz anderen, in diesem Zusammenhang jedoch aufschlussreichen Zusammenhang stellt Silja Samerski her, indem sie die Zuschreibung »Alter« mit der vorhandenen Laborkapazität korreliert. Dabei stellt sie fest, dass mit wachsender Zahl der Labore das festgelegte »Altersrisiko« in Deutschland von 38 Jahren auf 35 Jahre heruntergesetzt wurde.23 »Je mehr Schwangere von den pränatalen Diagnosemöglichkeiten Kenntnis erlangten und je mehr Frauenärzte überwiesen, desto mehr überstieg die Nachfrage nach pränataler Diagnostik die Laborkapazitäten fast aller Einrichtungen.«24 Den Rest regelt der Gesundheitsmarkt. Er tut dies jedoch nicht jenseits gesellschaftlicher (Sprach-)Praxis. Vielmehr impliziert die Verwendung des Risiko-Begriffs erlernbare Gegen-Strategien.25 Folgt man Nowotny und Testa, sind es primär drei unterschiedliche Narrationsmöglichkeiten, die die so entstehenden Lebensformen in die bestehende soziale Ordnung integrieren: Der Innovationsdiskurs, der Risikodiskurs, der Wertediskurs, wobei insbesondere der Risikodiskurs eine Beteiligung der Betroffenen verlangt.26 Betrachtet man die öffentliche Auseinandersetzung mit Reproduktionstechnologien, dann lässt sich ohne Frage schlussfolgern, dass dem Begriff des Risikos implizit wie explizit eine prominente Position zukommt. Das deutet die Klassifizierung als Risikoschwangere ja bereits an. Im Folgenden möchte ich unterschiedliche für mein Material zentrale Verwendungszusammenhänge differenzieren, die sich aus unterschiedlichen Umgangsweisen mit Risiken ergeben:27

22 Michelmann, Hans-Wilhelm: Reproduktionsmedizin im Jahr 2008: Probleme – Wünsche – Lösungsansätze, in: Bockenheimer-Lucius, Giesela; Thron, Petra; Wendehorst, Christiane (Hg): Umwege zum eigenen Kind, 2008:3. 23 Samerski, Silja: Die verrechnete Hoffnung – von der selbstbestimmten Entscheidung durch genetische Beratung, 2002:45. 24 Nippert, Irmgard zitiert nach Grotjohann, Susanne: Auswirkungen und Effektivität individueller humangenetischer Beratung vor geplanter Pränataldiagnostik, 2004:43. 25 Diese sorgen etwa dafür, dass eine schwangere Fraue »is expected to actively participate in gendered practices of risk detection and regulation, including scrutiny of family history with respect to genetically related risk factors.« Hannah-Moffat, Kelly; O’Mallesy, Pat: Gendered risks, 2007:3. 26 Nowotny, Helga; Testa, Guiseppe: Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter, 2009:61ff. 27 Dabei orientiere ich mich an Risiko-Definitionen, wie sie allgemein in der Ethik Anerkennung finden. Ich vernachlässige dabei jedoch einen der in diesen Zusammenhän-

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(a) Ein Risiko besteht in der Möglichkeit, dass ein Schaden eintreten wird, der sich dadurch auszeichnet, dass das erwartete Kind mit einer Behinderung zur Welt kommt. Die Wahrnehmung dieses Risikos stellt die Grundbedingung für die Etablierung einer pränatalen Diagnostik. Dieses Konzept dient dazu, präventiv und damit auf die Zukunft hin zu wirken. Das individuelle und gesellschaftliche Risiko bezeichnet also eigentlich die Gefahr, dass das erwartete Kind physisch oder mental beeinträchtigt sein könnte. Jedoch wird dies nicht explizit artikuliert. Stattdessen wird mit dem Begriff des Risikos operiert, wodurch die Verantwortung, mit diesem umzugehen, für die betroffenen Frauen wächst. Damit werden die Technologien zu einer Reihe von Strategien, in denen sich das Individuum seiner eigenen Souveränität versichert. Risiko kann (b) die Wahrscheinlichkeit eines unerwünschten Ausgangs bezeichnen, wobei Risiko hier unterschieden ist von Gewissheit und Unsicherheit. Durch pränatale Untersuchungen können jedoch in den meisten Fällen keine Informationen über den Grad der Behinderung gegeben werden. Zudem besteht in aller Regel nicht einmal die Möglichkeit, pränatal korrigierend einzugreifen. In Ausnahmefällen ist zwar inzwischen ein mikrochirurgischer Eingriff im Mutterleib möglich und weiterhin sind einige Behinderungen postnatal operabel, jedoch müssen solche Chancen im Ge-

gen genannten fünf Punkte, und zwar denjenigen, der sich auf die Risiko-NutzenAnalyse bezieht, weil eine solche Risikowahrnehmung meinem Diskurs nicht immanent ist. Zu Definitionen siehe etwa Düwell, Markus; Hübenthal, Christoph; Micha H, Werner: Handbuch Ethik, 2006; oder: Routlege Encylopedia of Philosophy, Version 1.0, 1998. Als Abgrenzung sowohl gegenüber dem Risikobegriff als auch gegenüber der Ungewissheit kommt dem Begriff des Nichtwissens Bedeutung zu. In den Blick geraten somit Situationen, in denen die Handlungs- und Entscheidungsfolgen weder objektiv noch subjektiv abschätzbar, sondern unbekannt sind. François Ewald hat gezeigt, wie sich der Begriff des Risikos und der des »Unfalls« komplementär zueinander herausgebildet haben. Konstitutiv für den Unfall sei dessen »plötzlicher« oder »augenblicklicher« Charakter und die an ihn gebundene unmittelbare Sicht- und Erfahrbarkeit. Seine Kritik zielt dahin, dass sich das heutige Risikoverständnis nach wie vor an diesem industriegesellschaftlichen Modell orientiert und sich auf Antizipation und Bewertung möglicher Entscheidungsfolgen in der Zukunft konzentriert. In diesen Auseinandersetzungen spielt die Frage, wie man überhaupt wissen kann, ob und wann ein Schadensfall eingetreten ist, eine besondere Rolle. Wehling, Peter: Im Schatten des Wissens?, 2006:87.

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samtkontext der PND als sehr gering eingeschätzt werden.28 Gerade die ersten beiden Risiko-Verwendungen markieren eine Unterscheidung eines »realen« Risikos und eines »hypothetischen« Risikos. Insbesondere bezüglich des Alters der Schwangeren kommt der quantitativen Risikoabschätzung Bedeutung zu (c). Hier geht es um die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines bestimmten Resultats. In einem solchen Zusammenhang wird regelmäßig mit einem Verweis auf das Alter der werdenden Mütter operiert. Anhand der Verschiebung der Grenzen, ab wann eine Frau als Risikoschwangere gilt, wird die Willkürlichkeit einer solchen Definitionsmacht offensichtlich. Die Grenze liegt in Deutschland, wie erwähnt, derzeit bei 35 Jahren. Die statistische Wahrscheinlichkeit, mit 35 Jahren ein Kind mit einer Chromosomenanomalie zu bekommen, liegt aber ebenso hoch wie die, durch eine Amniozentese eine Fehlgeburt einzuleiten. Diese beträgt auf alle Eingriffe gerechnet 0,5 Prozent. Bei einer 25-jährigen Schwangeren liegt etwa die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen bei 1:1351, bei einer Frau, die mit 35 Jahren schwanger wird, bei 1:384.29 Ein linearer Anstieg der Korrelation von Trisomie 21 und dem Alter der werdenden Mutter (und des werdenden Vaters – ein erst in der letzten Zeit in den Blick geratender Bezugspunkt) kann als statistisch auffälliger Wert jedoch erst ab einem Alter von über 41 Jahren verzeichnet werden.30 Das Risiko erhält (d) einen anderen Charakter, wenn es konkret um eine finanzielle Verlustwahrscheinlichkeit geht, die als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und monetärem Schadensfall besteht. Diese kommt insbesondere dann zum Ausdruck, wenn es um die in der Zahl zunehmenden Prozesse geht, die Eltern eines behinderten Kindes gegen Medizinerinnen und Mediziner wegen einer »übersehenen« Behinderung führen, und die bedingen, dass Ärztinnen und Ärzte oftmals sehr eindringlich auf ihre Patientinnen einwirken.31 Das »Risiko« besteht in diesem Fall darin, durch einen entsprechenden Urteilsspruch finanzielle Gegenleistungen zu erbringen, was sich nicht nur potentiell auf die Behand-

28 Wüstemann, Max: Neue Entwicklungen in der pränatalen Therapie, in: Wewetzer, Christa; Wernstedt, Thela (Hg.): Spätabbrüche der Schwangerschaft, 2008:47. 29 Grotjohann, Susanne: Auswirkungen und Effektivität individueller humangenetischer Beratung vor geplanter Pränataldiagnostik, 2004:9. 30 Beermann, Astrid: Schwangerschaft im Fadenkreuz: am Beispiel der Pränataldiagnostik und »Erlanger Fall«, 1997. 31 Zu den sogenannten wrongful-life und wrongful-birth- Prozessen siehe das 12. und 13. Kapitel.

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lung auswirkt, sondern sich auch konkret in der Tatsache spiegelt, dass Gynäkologinnen und Gynäkologen die höchstversichertsten unter den Medizinerinnen und Medizinern sind.32 Dabei bietet eine Versicherung zumindest die Möglichkeit, den (monetären) Schadensfall abzuwenden. Inzwischen ist das Risiko als Rechtsbegriff etabliert, wie etwa im Gentechnikgesetz 33. »Das zu staatlichen Maßnahmen berechtigende Risiko ist zwischen der abzuwehrenden Gefahr und dem rechtlich erlaubten, also hinzunehmenden Restrisiko angesiedelt.«34 Der Umgang mit Risiken beinhaltet sowohl zweckrationale als auch ethischnormative Aspekte. Während erstere auch Vorsorge und Reparaturkosten ebenso berücksichtigen wie subjektive »Kosten« (etwa Ängste), geht eine normativethische Perspektive davon aus, dass gewöhnlich diejenigen, die über das Eingehen von Risiken entscheiden, nicht die alleinigen Betroffenen dieser Entscheidung sind. Typischerweise halten utilitaristische Ethiker dabei den maximal erwarteten Nettonutzen (also die zweckorientierten Aspekte) für ein auch moralisch hinreichendes Kriterium. Im Gegensatz dazu operiert eine deontologische Ethik mit abgestuft prioritären Rechten, die die Verrechnung von als Rechtsverletzung anzusehenden Schäden eines Moralsubjekts mit dem Nutzen anderer Moralsubjekte nicht erlaubt.35

32 http://www.aerzte-versicherung-vergleich.de [12.09.2010]. 33 In diesem heißt es etwa unter § 6 »Allgemeine Sorgfalts- und Aufzeichnungspflichten, Gefahrenvorsorge: Wer gentechnische Anlagen errichtet oder betreibt, gentechnische Arbeiten durchführt, gentechnisch veränderte Organismen freisetzt oder Produkte, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen, als Betreiber in Verkehr bringt, hat die damit verbundenen Risiken für die in § 1 Nr. 1 genannten Rechtsgüter vorher umfassend zu bewerten (Risikobewertung) und diese Risikobewertung und die Sicherheitsmaßnahmen in regelmäßigen Abständen zu prüfen und, wenn es nach dem Prüfungsergebnis erforderlich ist, zu überarbeiten, jedoch unverzüglich, wenn 1. die angewandten Sicherheitsmaßnahmen nicht mehr angemessen sind oder die der gentechnischen Arbeit zugewiesene Sicherheitsstufe nicht mehr zutreffend ist oder 2. die begründete Annahme besteht, dass die Risikobewertung nicht mehr dem neuesten wissenschaftlichen und technischen Kenntnisstand entspricht.« 34 Kloepfer, Michael: Risiko, rechtlich, in: Korff, Wilhelm; Beck, Lutwin; Mikat, Paul (Hg.): Lexikon der Bioethik, 1998:211. 35 Aus deontologischer und vertragstheoretischer Perspektive ist es moralisch erstrebenswert, Personen selbst die sie betreffenden Risiken übernehmen oder ablehnen zu lassen – oder die Instanzen, die das entscheiden, mitzugestalten.

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Dass mit der Angst davor, eine Behinderung könne vorliegen, Politik gemacht wird, ist mittlerweile hinreichend bekannt und untersucht worden. Dabei kommt der öffentlichen Aushandlung bei der Einschätzung von Risiken eine besondere Bedeutung zu, weil hier nicht nur das Wissen um Risiken, sondern gleichfalls auch Präventionsstrategien ins gesellschaftliche Wissen einsickern. Dabei gilt, allgemein gesprochen, Untätigkeit als Fehler, wohingegen Regulierung als angemessene Antwort auf die Probleme erscheint. Damit wird ein Vorsorgeprinzip zum »Antikatastrophenprinzip«36, das individuelle und soziale/gesellschaftliche Entscheidungen unter den Bedingungen des Risikos und der Ungewissheit umfasst. Auf die Vagheit des Risikobegriffs macht Peter Wehling mit dem Verweis aufmerksam, dass »mit der generalisierenden Verwendung des Risikobegriffs wesentliche Unterschiede sowohl hinsichtlich des Wissens über mögliche negative Handlungs- und Entscheidungsfolgen als auch hinsichtlich ihrer Kontrollierbarkeit und Beherrschbarkeit verdeckt werden.«37 Vor der Folie von Worst-Case-Szenarien gewinnt eine Handlungsnotwendigkeit an Bedeutung: Weil entsprechende Bilder öffentlich präsent sind, dienen diese dazu, auf das eigene Leben übertragen zu werden. Eine solche Angst vor dem »worste case« entsteht jedoch nicht im sozialen Vakuum, sondern wird auch medial inszeniert, indem z.B. diese »schlimmsten« Fälle im wahrsten Sinne ein Gesicht erhalten. So sind es nicht die real eintretenden Katastrophen, die den Wandel der Verhältnisse und die moralischen Verantwortung erzwingen, sondern die antizipierten Katastrophen, anders gesagt: das kalkulierte Risiko. In der Folge ruft jedoch jede Bemühung, ein Risiko abzuwenden, selber ein Risiko hervor. Mit dem Wissen um genetische Risiken entstehen »ethische, soziale und psychische Risiken, die ohne dieses Wissen nicht existieren«38 würden. Ein ausgewiesenes Risiko wird von Schwangeren dabei oftmals nicht als statistische Wahrscheinlichkeit interpretiert, sondern als real existierende Gefahr.39 Der Etablierung eines Risikobewusstseins folgt eine Entscheidungsnotwendigkeit, die zum einen konkret die Auseinandersetzung mit den potentiellen Untersuchungen betrifft, und sich zum anderen auf die Folgen hieraus resultierender Ergebnisse bezieht. Dabei verspricht ein Vorsorgeprinzip unter den Bedingungen

36 Sunstein, Cass R.: Gesetze der Angst, 2007:15. 37 Wehling, Peter: Im Schatten des Wissens?, 2006:85. 38 Lemke, Thomas: Biopolitik zur Einführung, 2007:140. 39 Waldschmidt, Anne: Normalität, Genetik, Risiko: Pränataldiagnostik als »gouvernment by security«, in: Bergmann, Ulrike; Breger, Claudia; Nusser Tanja (Hg.): Techniken der Reproduktion, Königstein 2002:137.

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der Ungewissheit vorderhand Orientierung. Das Wissen über das Ungeborene entsteht durch Untersuchungen, deren Ergebnisse immer neue Entscheidungen verlangen, die wiederum einen Appell an ein (mütterliches) Verantwortungsbewusstsein implizieren. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Menschen dazu neigen, »erhebliche Unterschiede in der Wahrscheinlichkeit zu vernachlässigen, wenn der Ausgang ›affektbeladen‹ ist – wenn es also nicht einfach um einen erheblichen Verlust geht, sondern um einen Verlust, der starke Emotionen wie etwa Angst auslöst.«40 Die Angst bezieht sich auf den »Zustand« des Kindes, etwa die künftigen körperlichen Beeinträchtigungen und natürlich auf das Leben mit einem behinderten Kind. Dieser Furcht scheinbar entgegenzuwirken dienen entsprechende Technologien. Inwiefern ein solches Verhältnis aber einer rationalen Grundlage entbehrt, wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass von den zurzeit bekannten 4000 genetisch bedingten Krankheiten bislang nur 5 bis 10 Prozent durch pränatale Diagnostik erkannt werden. Insgesamt sind 4,5 Prozent aller Behinderungen angeboren. Nur etwa ein Prozent dieser Behinderungen ist genetisch bedingt; 0,5 Prozent der angeborenen Behinderungen sind über einen genetischen Test erkennbar.41

(2) S PÄTABTREIBUNG Ergeben die Tests einen »positiven« Befund, ist die schwangere Frau/das Paar vor die Entscheidung gestellt, sich für oder gegen das Austragen ihres prinzipiell erwünschten Kindes zu entscheiden. Die Frage nach dem Verhältnis von ›Krankheit‹ und ›Vererbung‹ erhält offensichtlich einen forschungs- und gesellschaftspolitischen Charakter, weil Frauen zu »moralischen Pionierinnen« dafür werden, wie die Anthropologin Rayna Rapp die Position bezeichnet, wer Zugang zu unserer Gesellschaft erhält.42 Obgleich sich die Biomacht auf den Menschen im Allgemeinen (auf die Bevölkerung) bezieht, wird sie auf besondere Weise über die Kontrolle und Disziplinierung des Frauenkörpers wirksam. Christine Hauskeller weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass besonders in Fragen

40 Sunstein, Cass R.: Gesetze der Angst, 2007:101. 41 Goerke, Kay; Junginger, Christa: Pflege konkret. Gynäkologie, Geburtshilfe, 2007: 222. 42 Rapp, Rayna: Testing the women, testing the fetus, 1999. Dass Frauen diese Entscheidungen nicht im luftleeren Raum treffen, ist Grundlage für die von mir vorgeschlagene Lesart des biopolitischen Reproduktionsdiskurses.

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der Reproduktion Dogmen und Machtkonstellationen oft unhinterfragt wirksam sind. Diese finden etwa Ausdruck in der Vorstellung von einer »verantwortlichen Mutterschaft«.43 Mit einem positiven Befund fällt oftmals die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch.44 Da die Ergebnisse der Untersuchungen zum Teil erst sehr spät vorliegen45, folgt u.U. ein Abbruch zu einem Zeitpunkt, an dem das Ungeborene bereits außerhalb des Mutterleibs lebensfähig wäre. Dieser Eingriff wird allgemein auch als »Spätabtreibung« bezeichnet. Eine einheitliche Definition, was darunter genau zu verstehen ist, gibt es jedoch nicht: Gefasst werden entweder all jene Abbrüche, die nach der 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden, weil diese nicht mehr in die rechtliche Dreimonatsregel des Paragrafen 218 StGB fallen, oder jene, die nach der 22. bzw. 24. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden, wenn von einer potentiellen Lebensfähigkeit des Kindes ausgegangen werden kann. Denn obgleich die »embryopathische Indikation« 1995 mit der Neuregelung des Paragrafen 218 StGB aus dem Strafgesetz gestrichen wurde und sich heutzutage eine medizinische oder kriminologische Indikation ausschließlich am Wohl der werdenden Mutter orientiert, kann man sagen, dass dies die Abbruchspraxis nicht verändert hat.46 Im Fall der Gefährdung der Gesundheit und des Lebens der Mutter und wenn Krankheiten und Behinderungen des Fötus zu seelischen Beeinträchtigungen der Mutter führen, ist dieser Eingriff unbegrenzt straffrei und rechtmäßig.47 Dies bedeutet, dass zwar keine Schwangerschaft aufgrund eines

43 Hauskeller, Christine: Subjekt, BioMacht und Widerstand – Butler und Foucault. Eine Skizze, in: Kollek, Regine; Kuhlmann, Ellen (Hg.): Konfiguration des Menschen. Biowissenschaften als Arena der Geschlechterpolitik, 2002:162. 44 Nach Schätzungen tragen in Deutschland 90 Prozent der Schwangeren nach der Diagnose Trisomie 21 das Kind nicht aus. Finke: Statement des Behindertenbeauftragten des Landes Niedersachsen im Rahmen der öffentlichen Anhörung Präimplantationsdiagnostik der Enquete-Kommission »Recht und Ethik in der modernen Medizin des Bundestages« am 13.11.2000, www.bundestag.de/ftp/ppf/medi_oe3.pdf, [31.03.2009]. 45 Die Fruchtwasseruntersuchung etwa wird zwischen der 14. und der 20. Schwangerschaftswoche durchgeführt; die Ergebnisse liegen nach zwei Wochen vor. 46 Duttge, Gunnar: Regelungskompetenz zur Spätabtreibung im europäischen Vergleich: Ansätze zur Lösung des Schwangerschaftskonflikts?, in: Wewetzer, Christa; Wernstedt, Thela (Hg.): Spätabbrüche der Schwangerschaft, Frankfurt a.M. 2008:96. 47 Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur Empfängnisregelung und zum Schwangerschaftsabbruch 2004:5f. Um eine Lebendgeburt bei einer

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»positiven« Befundes beendet werden darf, dies aber erlaubt ist, wenn das seelische Wohl der Mutter schwerwiegend gefährdet ist. Damit erweist sich die Streichung aus dem Gesetz praktisch als Etikettenschwindel, der dazu führt, dass nicht mehr der medizinische Befund Grundlage der schwierigen Entscheidung ist, sondern offiziell die physische oder psychische Disposition der Schwangeren. Als besonders konfliktreich erweist sich im Kontext der Spätabtreibung der Umstand, dass die in diesem Kontext durchgeführten Abbrüche prinzipiell gewollte Schwangerschaften betreffen.48 Die Frage, wie sich zukünftige potenzielle Eltern nach einem »positiven« Befund entscheiden, steht in Abhängigkeit zur Projektion, die sie mit der jeweiligen Behinderung verbinden. Wissen und Erfahrung spielen auch hier eine zentrale Rolle. So kann die Tatsache, dass drei Viertel der für eine Umfrage Interviewten nach der Diagnose ›Down Syndrom‹ die Schwangerschaft abbrechen würden, auch mit der Bekanntheit dieser Behinderung erklärt werden.49 Ohne Frage beeinflusst die zunehmende Verfügbarkeit prädikativer Tests die gesellschaftliche Einstellung gegenüber der Geburt von Kindern mit Behinderungen. Jedoch heißt das nicht zwangsläufig, dass, weil eine bestimmte Untersuchung verfügbar ist, sich automatisch gesellschaftliche, auf den menschlichen Körper gerichtete Normen ändern. Um Wirkungsmächtigkeit herzustellen, bedarf es komplexerer Aushandlungsprozesse, die den Kreis der direkt von den Technologien Betroffenen weit übersteigt.50

Spätabtreibung in jedem Fall auszuschließen, muss der Arzt dem Ungeborenen Kalium spritzen. Sollte es dennoch lebend zur Welt kommen, ist der Arzt gehalten, das Kind nicht mit medizinischen Maßnahmen zu betreuen, wenn dies von den Eltern nicht gewünscht wird. Jedoch ist eine aktive Tötung in diesem Fall verboten. Gesang, Bernward; Berndt, Christina 2004:2. 48 Braun geht in ihren Forderungen soweit, den »derzeit üblichen Automatismus«, der ihres Erachtens zur Abtreibung führe, dahingehend zu durchbrechen, dass »auf die Option eines Abbruchs weder hingewiesen noch dieser angeboten werde.« Art.: »Spätabbrüche nach Pränataldiagnostik«, in: Ärzteblatt 103(40)/2006. 49 Rapp, Rayna: Testing the women, testing the fetus, 1999. 50 Wolfgang van den Daele kommt zu dem Schluss, die Befürchtung, die Anwendung der PND werde die Rechte Behinderter in Frage stellen, sei durch seine empirischen Befunde nicht gestützt worden. Der.: Die Praxis vorgeburtlicher Selektion und die Anerkennung der Rechte von Menschen mit Behinderungen, in: Leonhardt, Annette (Hg.): Wie perfekt muss der Mensch sein? Behinderung, molekulare Medizin und Ethik, 2004.

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Insbesondere die Praxis der »Spätabtreibung« verweist darauf, dass der Soziologe Luc Boltanski nicht alle Aspekte in den Blick nimmt, wenn er konstatiert, die »Abtreibung« sei nach den gesetzlichen Graben- und Glaubenskämpfen der 1970er Jahre aus dem öffentlichen Diskurs mehr oder weniger verschwunden.51 Das mag für den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten (mehr oder weniger) gelten. Die »Spätabtreibung« bleibt jedoch ein Politikum. Wie aktuell die so aufgeworfene Konfliktstellung ist, lässt sich auch anhand der Diskussion um die gesetzliche Neuregelung des Spätabbruchs im Frühjahr 2009 ablesen, die in erster Linie eine Veränderung der Beratungspflicht vor dem Eingriff ins Auge fasste und eine Mindestbedenkzeit von drei Tagen zwischen der Beratung und dem Eingriff gesetzlich installieren wollte. Auch das Vorhaben, die Beratungspflicht der Ärztin/des Arztes festzuschreiben, zeigt, wie sehr durch einen vermeintlichen (legislativen) Regelungsbedarf auch weitergehender Gesprächsbedarf besteht. Vor dem Hintergrund einer hochsensiblen Kontroverse wurde erneut das Dilemma artikuliert, dass Föten in einem so fortgeschrittenen Stadium unter bestimmten Bedingungen abgetrieben werden dürfen, wohingegen Embryonen im Reagenzglas in Deutschland nach damaliger Rechtsauffassung nicht untersucht und im gegebenen Fall ›verworfen‹ werden durften.52

51 Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung, 2007. Inwiefern Schwangerschaftsabbrüche auch in Frankreich nach wie vor als problematisch wahrgenommen werden, das zeigt etwa das Dossier des Le Nouvel Obersvateur, in dem u.a. die Gynäkologin und Geburtshelferin Danielle Hassoun konstatiert, die Abtreibung bleibe nach wie vor ein Tabu (L’avortement reste un tabou). Trotz gesetzlicher Verbesserungen sei die Situation nach wie vor unzureichend, so dass nach wie vor Frauen für den Schwangerschaftsabbruch ins Ausland gehen müssten. Art.: »Les nouveaux combats de femmes«, in: LNO No. 2099, 27.1-4.02.2005. 52 Der Bundestag hat am 13. Mai 2009 mit klarer Mehrheit für die striktere Regelung bei Abtreibungen nach der zwölften Schwangerschaftswoche votiert. In der Abstimmung sprachen sich 326 von 560 Abgeordneten für einen fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf aus, demzufolge die Bedenkzeit für Schwangere vor einer solchen Abtreibung ohne Ausnahmen auf drei Tage festgelegt und ärztliche Verstöße gegen Beratungspflicht oder Bedenkzeit mit Bußgeldern geahndet werden sollen, http://dip21. bundestag.de/dip21/btp/16/16221.pdf, [31.03.2009].

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(3) S ELBST

IST DAS

R ISIKO

Wie weit die Vorstellung von Machbarkeit und Optimierung von Gesundheit bereits internalisiert worden ist, lässt sich anhand dessen mutmaßen, was Irmgard Nippert untersucht hat. Im Rahmen ihrer Befragung zur Akzeptanz von PND nahm sie die Frage auf, ob die werdenden Eltern im Falle der Diagnose einer genetischen Fettleibigkeit das Kind abtreiben würden. 20 Prozent antworteten mit »Ja«.53 Solche Denkweisen dokumentieren Effekte strategischer Macht-WissensPraktiken. Denn keinesfalls werden Frauen angewiesen, die Diagnoseangebote wahrzunehmen. Statt Objekte genetischen Wissens, sind sie wesentliche »Mitspielerinnen«, die diese Untersuchungen vehement nachfragen.54 Dies gilt überdies auch in einem allgemeinen Sinn: »We often participate willingly in these regimes of risk because they promise, and often deliver, greater safty and security.«55 Für viele Betroffene stellt die Technologie, trotz aller damit einhergehenden Belastungen, eine Möglichkeit des Sicherheitsmanagements dar, so dass eine Vielzahl der von Rapp interviewten Frauen die Entscheidung, sich der PND zu unterziehen, als für sie richtig empfand, denn: »It was better to know, then not to know.«56 Zu Recht weist Lemke darauf hin, dass der Rekurs auf Risiken die Grenzen zwischen disziplinärer Führung, die auf der Ebene des individuellen Körpers operiert, und Sicherheitsführungen, deren Gegenstand Bevölkerungsprozesse sind, durchbricht.57

53 Nippert, Irmgard: Die Anwendungsproblematik der vorgeburtlichen Diagnostik, 1996. 54 Singer, Mona: Wir sind immer mittendrin: Technik und Gesellschaft als Koproduktion, in: Graumann, Sigrid; Schneider, Inge (Hg.): Verkörperte Technik – entkörperte Frau. Biopolitik und Geschlecht, Frankfurt a.M. 2003:112ff. 55 Hannah-Moffat, Kelly; O’Mallesy, Pat: Gendered risks, 2007:1. 56 Rapp, Rayna: Testing the women, testing the fetus, 1999:116. 57 Lemke, Thomas. Biopolitik, 2007:146.

4. Kapitel Auf der »richtigen« Seite? – Die Geburt der Bioethik

»Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.«1

(1) Ü BERSICHT Das öffentliche Reden über Fortpflanzung stellt einen elementaren Bestandteil des durch politische und rechtliche Prozesse gesteuerten Etablierungsprozesses medizintechnischer Verfahren und Diagnostiken dar, indem sich durch dieses Reden auch neue begriffliche Verbindungen ergeben. Vor dem Hintergrund beispielsweise einer (invasiven) Diagnostik werden Begriffe wie ›Verantwortung‹ oder ›Gesundheit‹ neu verhandelt, sodass etwa mittels der Präimplantationsdiagnostik ›Gesundheit‹ nicht mehr auf den ganzen entwickelten Organismus bezogen ist, sondern auf (extrakorporales) zwei- bis achtzelliges embryonales Leben, für das wir (als Menschheit) Verantwortung tragen. Schon die Benennung als Diagnostik deutet dabei an, dass es Krankheiten sind, die erkannt werden sollen.

1

Dürrenmatt, Friedrich: Justiz, 1987.

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Jedoch auch in einem weiteren Sinne stehen bekannte Bezugsgrößen zur Disposition. So verändert beispielsweise die als Angebot an sogenannte »Spätgebärende« propagierte IVF das Verhältnis zur biologischen Zeit, weil sie das Versprechen einer späten Schwangerschaft in sich trägt. Die oft verwendete Metapher der »biologischen Uhr« büßt durch solche Angebote vordergründig einen Teil ihrer Bedrohung ein. Die folglich durch das Reden über Fortpflanzung gezündete »diskursive Explosion« in ihrer Komplexität und Wucht zu skizzieren, ist Ziel dieses Kapitels. Dabei werde ich in einem ersten Schritt das Reden über Reproduktionstechnologien in den Medien untersuchen (2) um dieses anschließend als bioethischen Diskurs zu kennzeichnen (3). Dem folgt eine Institutionalisierungs- und Institutionengeschichte der Bioethik als demjenigen Ort, an dem die durch medizinische Einflussmaßnahmen in Bewegung geratenen Veränderungen in den Blick genommen werden (4). Nachdem ich argumentiere, alles öffentliche Reden verdiene aufgrund seiner Normativität das Attribut »ethisch« und ich so den Bioethikbegriff erweitere, benenne ich Strategien dieser Bioethik (5).

(2) W ISSENSCHAFT

UND

Ö FFENTLICHKEIT

In der Einleitung habe ich bereits das Verhältnis zwischen Wissen und Wissenschaft skizziert. An dieser Stelle greife ich die Beziehung noch einmal auf, um sie um den Begriff der Öffentlichkeit zu erweitern. Die öffentliche Berichterstattung erfolgt unter den Bedingungen der »Ökonomie der Aufmerksamkeit«2. Diese macht sichtbar, dass ein allgemeines Interesse besteht, über Fortpflanzungsmöglichkeiten bzw. vorgeburtliche Diagnostiken und Genetik zu sprechen. Primär sind es die Medien, durch die die Allgemeinheit von den Technologien und den an sie gebundenen Folgedebatten erfährt. Dies geschieht, indem weit mehr verhandelt wird als nur individuelle Fortpflanzungsentscheidungen. Damit schreibe ich den Texten die Fähigkeit zu, »Regeln, Hinweise, Ratschläge für

2

Dabei erzeugt ein Nachrichtenwert etwa »politische und kulturelle Nähe, Überraschung, Bezug zu einem bereits eingeführten Thema, Prominenz, Personalisierung, Konflikt, Erfolg, und Schaden«. Peters, Hans Peter; Heinrichts, Harald; Jung, Arlena; Kallfass, Monika; Petersen, Imme: Medialisierung der Wissenschaft als Voraussetzung ihrer Legitimierung und politischen Relevanz, in: Mayntz, Renate; Neidhardt, Friedhelm; Weingart, Peter; Wengenroth, Ulrich (Hg.): Wissensproduktion und Wissenstransfer, 2008:272.

D IE G EBURT DER B IOETHIK

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richtiges Verhalten«3 zu geben, dabei sind sie aber selbst Objekt von Praktiken, da sie »gelesen, gelernt, durchdacht, verwendet, erprobt [...] werden und [...] Rüstzeug des täglichen Verhaltens bilden sollen.«4 Der gleiche Gegenstand verweist also zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Normen. Ein Beispiel, das nicht der Reproduktionsmedizin entstammt, sich jedoch auf einen ähnlichen Interessensgegenstand bezieht, ist die Forschung an embryonalen Stammzellen.5 Deren Stichtagsregelung stand im Jahr 2002 zur Entscheidung an und verursachte vehemente Gegenreaktionen. Es sei »ethisch verwerflich«, hieß es vielerorts, »menschliches Leben« durch Forschung zu instrumentalisieren. Sechs Jahre später, im Februar 2008, hatte der Deutsche Bundestag aufgrund eines interfraktionellen Antrags6 erneut über die Stichtagsregelung zu befinden. Wieder ging es um die Fristenregelung für die Lagerung eingefrorener Embryonen, die nunmehr vom Juli 2002 auf den 1. Mai 2007 umdatiert wurde. Am (naturwissenschaftlichen) Sachverhalt hatte sich in

3

Foucault, Michel: Der Gebrauch der Lüste, 2000:20. Damit ziehe ich keinen voreiligen Vergleich zwischen Foucaults Quellen und den von mir untersuchten printmedialen Beiträgen. Vergleichbar indes erscheint mir nichtsdestotrotz die Funktion und die Wirkungsweise, die er dem von ihm als »Operatoren« bezeichneten Materialien zuschreibt. Er charakterisiert diese Quellen als Texte, die es den Individuen erlauben soll(te), sich über ihr eigenes Verhalten zu befragen, darüber zu wachen, es zu formen und sich selbst als ethisches Subjekt zu gestalten. Ebd.

4

Ebd.:20.

5

Das Embryonenschutzgesetz verbietet, menschliche Embryonen (also auch Blastozysten, die als Quelle für embryonale Stammzellen dienen) zu Forschungszwecken herzustellen, sie zu klonen oder zu zerstören. Die Forschung an importierten embryonalen Stammzellen ist jedoch unter Auflagen möglich und wurde zunächst durch das Stammzellgesetz vom Juli 2002 geregelt. Das Gesetz sieht eine Stichtagsregelung vor, sodass nur embryonale Stammzellen nach Deutschland importiert werden durften, die zunächst vor dem 1. Januar 2002 gewonnen worden waren. Am 11. April 2008 beschloss der Deutsche Bundestag dann einen neuen Stichtag, so dass nun Stammzellen importiert werden dürfen, die vor dem 1. Mai 2007 gewonnen wurden.

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Dieser war von dem SPD-Parlamentarier René Röspel begründete worden. Schließlich stimmten 346 Abgeordnete für den Antrag; 228 waren dagegen, sechs enthielten sich der Stimme. Zwei weitere interfraktionelle Anträge waren zuvor abgelehnt worden. Der eine, den die FDP-Politikerin Ulrike Flach begründete, wollte die völlige Aufhebung des Stichtags; der andere, für den der CDU-Politiker Hubert Hüppe stand, sprach für das völlige Importverbot von Zelllinien.

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dieser Zeitspanne wenig verändert. Neu sind aber die Sprechweisen, die nun eine solche Verschiebung protegieren. Was ist passiert? Ist der damalige (ethische) Standard einem neuen gewichen? In einem dieses Ereignis kommentierenden Artikel in der Süddeutschen Zeitung lautet die Erklärung, die Politik sei in ihrem Umgang mit den Stammzellen schlicht »pragmatischer«7 geworden. Anhand dieses Beispiels deutet sich Folgendes an: trotz (mehr oder weniger) unveränderter (wissenschaftlicher) Ausgangslage variieren die Möglichkeiten des Sprechens und dies führt auch zur Formulierung neuer politischer Ziele.8 Um politischen Einfluss geltend machen zu können, liegt es im Interesse der Wissenschaft, Öffentlichkeit zu erzeugen. Wissenschaft bedarf durch die Medien erzeugter Zustimmung.9 Im Rahmen ihrer Berichterstattung bestimmen die unterschiedlichen Organe Kriterien der Selektion und der Bewertung. Petra Gehring argumentiert, dass angesichts der durch die Biomedizin aufgeworfenen Fragen lediglich eine Positionierung der Öffentlichkeit in pro und contra möglich sei.10 Weingart erkennt in diesem Zusammenhang auf der einen Seite eine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft und eine Vergesellschaftung der Wissenschaft auf der anderen Seite.11 Da moralische und ethische Gesetze nicht präexistent sind, kommt den Medien als Aushandlungsort eine entscheidende Rolle in der Herausbildung der gegenwärtigen Regeln einer Gemeinschaft zu, bilden sich hier doch heterogene Elemente des Sagbaren aus. »Medien lassen sich als ein ›Brennglas‹ fassen, das vorhandenes Wissen spezifisch ›bündelt‹ und dieses Wissen an ein Massenpublikum weitergibt.«12 Sie sorgen also dafür, dass und wie geredet wird. »Was technisch möglich ist, muss in einem breiten kommunikativen Rahmen in tech-

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Art. »Finanzierung genehmigt«, in Süddeutsche Zeitung vom 15.02.08.

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Explizit wurde beispielsweise auf den »Standort Deutschland« verwiesen. Siehe hierzu auch: Wink, Rüdiger: Wissenschaftspolitik als Standortpolitik? Stammzellpolitik als Beispiel der Steuerung kontroversen Wissens durch nationale Politik, in: Mayntz, Renate, Neidhardt, Friedhelm, Weingart, Peter; Wengenroth, Ulrich (Hg.): Wissensproduktion und Wissenstransfer. 2008, 125-144.

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Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit?, 2001:239.

10 Gering, Petra: Was ist Biomacht, 2006. 11 Weingart, Peter: Wissenschaftssoziologie, 2003. Zu diesem Verhältnis auch: Nowotny, Helga; Scott, Peter; Gibbons, Michael: Wissenschaft neu denken, 2004:9ff. Ähnlich auch Schulzee, Gerhard: Krisen – Ein Alarmdilemma, 2011. 12 Jäger, Margret; Jäger, Siegfried; Ruth, Ina; Schule-Holtey, Ernst; Wichert, Frank (Hg.): Biomacht und Medien, 1997:19.

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nisch Erwünschtes überführt werden, und das gelingt nun einmal am besten, wenn es mit bewährten Maßstäben beurteilt und mit tatsächlich vorhandenen Befindlichkeiten und Problemlagen in Übereinstimmung gebracht werden kann.«13 Dass diese Aushandlungsprozesse zwar notwendig, aber nicht hinreichend zur Beschreibung des Reproduktionsdiskurses sind, ergibt sich aus dem Material, das ich im zweiten Teil analysiere.

(3) R EPRODUKTION

ALS BIOETHISCHER

D ISKURS

Als vermeintliche Hauptzentrale, in der koordiniert, kommentiert und kontrolliert wird, was die Entwicklung der nunmehr seit über 30 Jahren voranschreitenden Forschung und Anwendung der Reproduktionsmedizin hervorbringt, gilt eine Disziplin, die eigens und beinahe zeitgleich mit dem Aufkommen der Biomedizin das Feld betrat: Die Bioethik. So populär diese recht junge (philosophische) Disziplin (oder: Interdisziplin, sie gilt allgemein als »Mischdisziplin«14) zu verstehen ist, was sich hinter ihr verbirgt, verschwimmt zumeist in einer weit weniger klaren Gemengelage. Statt Antworten zu geben, produziert sie zahlreiche Fragen: »Was ist Bioethik?«15 oder: »Ist Bioethik eine Disziplin, ein Diskurs, eine Debatte oder ein Thema?«16 Denn: »Für eine philosophische Disziplin fehlt der Bioethik eigentlich alles: ein-

13 Orland, Barbara: Spuren einer Entdeckung. (Re-) Konstruktion der Unfruchtbarkeit im Zeitalter der Fortpflanzungsmedizin, 2001:4. 14 Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:7. Warren T. Reich spricht von the »systematic study of the moral dimension – including moral vision, decision, conduct and policies – of the life sciences and health care, employing a variety of ethical methodologies in an interdisciplinary setting.« In: Encyclopedia of Bioethics, 1995. Und auch Philippe Descamps schließt sich an, wenn er resümiert, die Bioethik, sei weder Wissenschaft, noch Disziplin oder Reflexionsmodus (une telle tâche est par allieurs extrêmement complex. À la fois discours et pratique, la bioethique n’est ni une science, ni une discipline, ni seulement un mode de réflexion.) Ders: L’uterus, la technique et l’amour, 2008:82. 15 Schweidler, Walter: Normkultur versus Nutzenkultur: Worüber streitet die Bioethik? In: Hoffmann, Thomas S.; Schweidler, Walter (Hgg.): Normkultur vs. Nutzenkultur, 2006:3. 16 Waldschmidt, Anne; Klein, Anne; Korte, Miguel Tamayo: Das Wissen der Leute, 2009:22.

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heitliche Grundprinzipien, eindeutige Abgrenzungskriterien, gemeinsame Probleme und Diskussionen.«17 Ob es anhand dieser Kriterien überhaupt eine philosophische Disziplin geben kann, soll hier nicht diskutiert werden. Die Bioethik ist – soviel lässt sich allgemein feststellen – auf doppelte Weise mit den Biowissenschaften verbunden: Sie umfasst zum einen die ethische Dimension der Forschung und der Anwendung der Biowissenschaften und erwägt dabei zum anderen das moralisch richtige Handeln unter Berücksichtigung biologischen Wissens. Aussagekompetenz wird ihr allgemein in allen Fragen zugeschrieben, die sich relational zur Kategorie Leben in Folge einer stetig anwachsenden medizinischen Machbarkeit stellen. Das schließt neben der Entstehung von Leben und der hieran gebundenen Intervention durch die Reproduktionsmedizin und Genetik ebenfalls die Transplantationsmedizin, die Definition des Hirntods und die Möglichkeiten einer potentiellen Verfügbarkeit der eigenen Entscheidung durch Patientenverfügungen mit ein. Dem thematischen Bezug gibt Julian Nida-Rümelin gegen entsprechende Positionen den Vorzug, wenn er konstatiert: »Entgegen einem verbreiteten Vorurteil in der öffentlichen Diskussion ist die Bio-Ethik nicht durch eine spezifische theoretische Position, etwa die des Singerschen Utilitarismus, sondern durch ein Thema bestimmt: Es ist die Frage des richtigen Umgangs mit menschlichem und nicht-menschlichem Leben.«18

Immer sind es Grenzsituationen19 menschlichen Lebens, die Anlass zur Reflexion und/oder Konfrontation bieten; so werden beinahe ausschließlich Themen verhandelt, die umstritten sind und bei denen keine gemeinsamen Intuitionen vorliegen.20 Die Bioethik tut dies – folgt man zumindest der öffentlichen Wahrnehmung – stets im »Zeichen der Dringlichkeit«21 (etwa der rechtlichen Regulierung reproduktionstechnologischer Maßnahmen), und zwar immer als Folge ei-

17 Irrgang, Bernhard: Einführung in die Bioethik, 2005:9. 18 Nida-Rümelin, Julian: Ethische Essays, 2002:369. 19 Zum regelmäßig verwandten Begriff der Grenze führen Katharina Liebsch und Ulrike Manz aus: »Die Rede von der Grenze basiert darauf, dass eine erste Grenzüberschreitung immer schon vollzogen ist, nachfolgend geht es dann um deren ›ethische‹ Bewältigung.« Dies: »Jenseits der Expertenkultur«, 2007:75f. 20 Düwell, Marcus: ›Begründung‹ in der (Bio-)Ethik und der moralische Pluralismus, 2008:38. 21 Gehring, Petra: Was ist Biomacht? 2006:9; 121: 147.

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ner durch die Technologien aufgeworfenen Frage, etwa die nach Lebensanfang und Lebensende des Menschen. Nicht allein neue Erfindungen, neue Diagnosemöglichkeiten etc. sind es jedoch, die das Sprechen über Biomedizin bedingen. Auch das (positive) Recht bietet sich als Impulsgeber an. Dies gilt für Deutschland etwa dann, wenn über die gesetzlich zu fixierende Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch beraten oder wenn über die Zulassung neuer Verfahren (wie der Präimplantationsdiagnostik) oder über deren Bezahlung verhandelt wird. Angesichts der durch die Biomedizin ausgelösten Unklarheit wird der Bioethik allgemein innerhalb des Diskurses eine »Sprecher-Autorität« zugewiesen. Da hier das Reden und die Verfügung über das Leben und damit über die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Machtstrategien gemeint ist, die darauf zielen, Leben selbst als produktives Element zu kontrollieren, macht es keinen Sinn, das, was Bioethik meint, engzuführen auf die (philosophischen) Disziplinen. Daraus folgt, dass ich öffentliches Reden über Reproduktionstechnologien insgesamt ›Bioethik‹ nenne. Diese übt aufgrund ihrer normativen Stoßrichtung Macht aus. Diese Macht heißt genauer: Biomacht. Mit einer solchen Festlegung weise ich der Bioethik eine wesentlich produktivere Rolle zu, als es Ulrich Beck für die Ethik in der Wissenschaft tut. Denn diese funktioniert seines Erachtens wie eine »Fahrradbremse am Interkontinentalflugzeug«22. Ich unterscheide allgemein zwischen einer institutionellen Bioethik (den Räten, Kommissionen, den Plenardebatten); einer (selbst-)referentiellen Bioethik (all jene, die sich zu dieser Disziplin rechnen bzw. zu ihr gezählt werden) und schließlich nenne ich eben auch das normative Reden über Biomedizin ›Bioethik‹. Eine erste Überschneidung von Medien und der Bioethik besteht dabei darin, dass diesen ähnliche Kriterien zugeschrieben werden: Sie greifen die Themen auf, sie diskutieren sie, und (indem sich ihr Wahrheitsspiel entfaltet) bringen sie Wertungen und (explizite wie implizite) Empfehlungen ins Spiel. Den Medien gelten die Bioethiker zudem als Experten, gleichwohl ihre Position (und die hieran gebundenen (Legitimations-)Strategien) Bestandteil einer weitreichenden und anhaltenden (Ideologie-)Kritik sind.23

22 Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft, 2007:31. 23 Beispielsweise geht Petra Gehring von einer legitimierenden Wirkung der Bioethik aus. Dies.: Was ist Biomacht?, 2006. Eine solche Kritik ist nicht neu. Ina Praetorius warf der Bioethik bereits in den 1980er Jahren vor, eine systemstablilisierende »Hofethik« zu sein. Dies.: Ethik – die neue Hoffnung, in Roth, Claudia (Hg.): Genzeit,

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Ich begreife genauer Bioethik als eine Plattform, auf der über Biomedizin gesprochen und damit Macht ausgeübt wird, weil hier Normen aufgerufen, wiederholt, erstritten und verworfen werden. Damit schlage ich eine andere Lesart als die von Silke Schicktanz vor, die zwischen einer Bioethik als akademischer Disziplin, einer Bioethik als einem politischen, nationalen und internationalen Programm der Regulierung und einer Bioethik als Teil der öffentlichen Auseinandersetzung unterscheidet.24 Eine solche Unterscheidung funktioniert dann nicht, wenn beispielsweise die wissenschaftlichen Debatten der Disziplin in den Feuilletons ausgetragen werden, wenn hier etwa Politikerinnen und Politiker sich ein briefliches Rencontre liefern.25 Hier vermischen sich also die Sphären. Kennzeichnend für den »Ort« der Bioethik ist, dass ihre Aussagen nicht allein im Raum der Wissenschaft stattfinden, stattdessen richtet sie sich an eine »qualifizierte Öffentlichkeit«26, die über die scientific community hinausgeht. Nach Pierre-André Taguieff produzieren diese dabei zwei unterschiedliche Effekte: Sie operieren auf der einen Seite pädagogisch (aufklärend) und auf der anderen Seite agieren sie politisch (beeinflussend, überredend, überzeugend).27 Inwiefern sich dabei Disziplinen herausbilden, unterstreicht Ludger Honnefelder, indem er das Phänomen ›Bioethik‹ beschreibt als »Versuch von Ethik und Recht [...], auf die Herausforderung zu antworten [...], die mit der Erweiterung der Erkenntnis und Handlungsmöglichkeit der modernen Medizin verbunden ist.«28 Den hier anklingenden Bezug zum Recht macht auch Gehring stark, wenn

1987;153-161. Katrin Brauns Habitilationsschrift »Menschwürde und Biomedizin« (2000) wird beispielsweise vom Verlag als »Grundlagenwerk der Anti-Bioethik« beworben. 24 Schicktanz, Silke: Kulturelle Vielfalt in der Bioethik-Debatte, 2003:264. 25 So beispielsweise Gerhard Schröder und Michael Naumann in der Zeit im Jahr 2001 anlässlich Schröders Berufung des Nationalen Ethikrats. Siehe hierzu auch Kapitel 8. 26 Gehring, Petra: Was ist Biomacht? 2006:140f. Im Gegensatz zu Gehring erweitere ich aber den Kreis der Adressaten um jene, die nicht zwingend »vorinformiert« (ebd.) oder »lernwillig« (ebd.) sind. Vielmehr ist meines Erachtens der Adressatenkreis abhängig von der Themenwahl sehr variabel. Jedoch teile ich Gehrings Auffassung dahingehend, dass durch die Auswahl der Zeitschriften per se ein bestimmtes Klientel angesprochen wird. 27 Taguieff, Pierre-André: La bioéthique ou le juste milieu, 2007:31. 28 Honnefelder, Ludger: Der Menschenrechtsgedanke und seine Herausforderung durch die moderne Biomedizin, in: Hoffmann, Thomas S.; Schweidler, Walter (Hg.): Normkultur vs. Nutzenkultur2006:507.

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sie konstatiert, die Ethik stelle sich gar über geltendes Recht. Die Öffentlichkeit werde derweil zu einer Art potentiellen »Rechtsänderungsdebatte«29 eingeladen. Damit meint sie aber keinesfalls, dass die Bioethik die Kompetenzen des Rechts übernimmt, sondern vielmehr, dass sie sich einen Überlegenheitsgestus zu eigen macht, indem sie in den offensichtlichen Dilemmata stets auf der richtigen Seite steht. So steht die Bioethik im Verdacht, sich selbst als »Apologet der Wahrheit«30 zu inszenieren.

(4) D IE E NTSTEHUNG

EINER

D ISZIPLIN

In der Philosophie haben biomedizinische Fragen zur Renaissance der normativen Ethik und der praktischen Philosophie geführt, die bis in die 1960er Jahre hinein von Meta-Ethik und Sprachphilosophie dominiert wurden.31 Als die ersten Diskussionen zum Thema Organspende und Hirntod Ende der 1950er Jahre geführt wurden, wandten sich Ärzte hilfesuchend an den Papst, der die Frage seinerseits an die Naturwissenschaften weiterleitete.32 Das geschah jedoch (noch) nicht unter dem Label ›Bioethik‹. Dieses lässt sich zwar bis in die Weimarer Republik zurückverfolgen – 1927 tritt das Wort laut Potthast erstmalig für den deutschen Sprachraum auf, und zwar in einer populären und naturkundlichen Zeitschrift33, es verschwindet aber dann für lange Zeit aus dem öffentlichen Bewusstsein. In den 1930er Jahren existierten Begriffe wie »biologische Ethik«, bei denen es sich vorrangig um biologische Erklärungsversuche der menschlichen Moral handelte.34 Damit unterscheidet sich eine solche Blickrichtung

29 Gehring, Petra: Was ist Biomacht? 2006:144. 30 Krones, Tanja: Kontextsensitive Bioethik, 2008:10. Diese Einschätzung setzt Krones zu Folge voraus, dass Bioethik als Wissenschaft anerkannt ist und diese dann als »Kronzeugin der Wahrheit« zur Geltung gelangt. Ebd. 26. 31 Potthast, Thomas: Bioethik als inter- und transdisziplinäres Unternehmen, 2008:264. 32 Düwell, Marcus; Hübenthal, Christoph; Werner, Micha H.: Handbuch Bioethik, 2009:2486. 33 Potthast, Thomas: Bioethik als inter- und transdisziplinäres Unternehmen, 2008:265. Der in der Zeitschrift Kosmos gedruckte Aufsatz trug den Titel »Bio=Ethik – eine Umschau über die ethischen Beziehungen des Menschen zu Tier und Planze« von Fritz Jahr. 34 Unschwer vorstellbar sind diese während des Nationalsozialismus hochgradig ideologisch aufgeladen.

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grundlegend vom (Selbst-)Verständnis heutiger Bioethik, die sich ausgehend von den USA seit den 1970er Jahren ausgebreitet hat.35 Als erste offizielle Institution entstand 1969 das Hastings Center in New York als ein nicht-universitäres interdisziplinäres Ethikzentrum. Der Onkologe Van Rennsetaer hatte 1971 die Etablierung einer neuen Disziplin vorgeschlagen, deren Ziel auf eine Synthese aus Naturwissenschaft und Moralphilosophie abzielte. Im selben Jahr trat der Physiologe und Sozialmediziner André Hellegers in Washington am Kennedy Institut of Ethics in die Öffentlichkeit, wo es im Unterschied zu Van Rennsetaers Modell um konkrete Problemlösungen gehen sollte.36 Um einige Jahre im Vergleich zu den USA verzögert37, gehören seit den 1980er Jahren Ethik-Institutionen auch in Deutschland zu den Folgeerscheinungen der Biomedizin. Deren Auftauchen lässt sich drei unterschiedlichen Ebenen zuordnen: einer universitären Ebene, einer institutionellen Ebene (wie etwa Krankenhäuser38) und einer politischen Ebene.39 Dabei besteht die überwiegende Mehrheit der Ethikkommissionen in Deutschland in Fachkommissionen, die beratend und präventiv prüfend tätig sind.40 Im Jahr 1984 wurde beispielsweise

35 1970 wurde beispielsweise der erste Aufsatz mit dem Titel »Bioethics« publiziert. Düwell, Marcus; Hübenthal, Christoph; Werner, Micha H. (Hg.): Handbuch Bioethik, 2006:2486. 36 Ach, Johann S.; Runtenberg, Christa: Bioethik: Disziplin und Diskurs, 2002:13f. 37 Marcus Düwell und Josef Neumann erklären diese Verzögerung mit der »Erinnerungskultur« in Deutschland. Darauf werde ich im folgenden Kapitel näher eingehen. 38 1983 wurde beispielsweise der »Arbeitskreis medizinische Ethik – Kommission in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West)« gegründet. Hilper, Konrad: Institutionalisierung bioethischer Reflexion als Schnittstelle von wissenschaftlichen und öffentlichem Diskurs, 2006:359. Hilpert sieht nennenswerte Anstrengungen zu einer organisierten, strukturell verorteten Form eigentlich erst durch das Initiativpapier »Ethik-Komitees im Krankenhaus der Krankenhausverbände« der evangelischen und katholischen Kirche. Ebd. 360. 39 In ihrem Aufsatz »Die Sprache der Ethik und die Politik des richtigen Sprechens« bezeichnen Kathrin Braun, Svea Luise Herrmann, Sabine Könninger und Alfred Moore diese Institutionen als »Ethikregime«. In: Mayntz, Renate; Neidhardt, Friedhelm; Weingart, Peter; Wengenroth, Ulrich (Hg.): Wissensproduktion und Wissenstransfer, 2008:125-144. Die hiermit implizierte Wertung teile ich vor der Hand nicht. 40 Ach, Johann S.: Bioethtik eine Einführung, in. Martin, Hans-Joachim (Hg.): Am Ende (–) die Ethik? Begründung und Vermittlungsfragen zeitgemäßer Ethik, 2002. Hier: 105.

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durch den Bundesminister der Justiz und den Bundesminister für Forschung und Technologie eine »Arbeitsgruppe In-Vitro-Fertilisation, Genomanalyse und Gentherapie« eingesetzt, die den Namen ihres Vorsitzenden – Ernst Bender – trug. Etwa zeitgleich setzte der Deutsche Bundestag die Enquete-Kommission »Chancen und Risiken der Gentechnologie« ein.41 Beinahe parallel erfolgte eine Auseinandersetzung an den Universitäten. So entstand in Tübingen das größte Forschungsinstitut für angewandte Ethik unter dem Titel »Interfakultäres Zentrum für Ethik in den Wissenschaften« unter der (moralphilosophisch-theologischen) Leitung von Dietmar Mieth.42 Das Institut für Wissenschaft und Ethik e.V., als weitere entscheidende Einrichtung einer wissenschaftlich-universitären Auseinandersetzung wurde im Dezember 1993 auf Initiative der Universität Bonn, der Universität Essen, des Forschungszentrums Jülich (FZJ) und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) gegründet. Als Ziel gilt, zu einer ethischen Reflexion der Entwicklung von Medizin, Naturwissenschaft und Technik beizutragen und auf diese Weise einen verantwortungsvollen Umgang mit den in diesen Gebieten entstehenden neuen Handlungsmöglichkeiten zu fördern. Dies sei deshalb notwendig, da die modernen Wissenschaften einer fortwährend beschleunigten Entwicklung unterlägen und ihre technische Umsetzung in sämtliche Lebensbereiche vordringe, wobei die Grenze zwischen Grundlagenforschung und Anwendung in zunehmendem Maße durchlässig werde. Die Komplexität von Ergebnissen und Folgen wissenschaftlichen Erkennens und Handelns erfordere daher »eine begleitende ethische Urteilsbildung sowohl innerhalb der Scientific Community als auch in der Gesellschaft insgesamt. Aufgabe des Instituts ist es, diese Urteilsbildung durch interdisziplinäre Forschung zu begleiten und zu unterstützen.«43 Im März 2000 wurde auf Antrag von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und der FDP vom Deutschen Bundestag die Enquete-Kommission »Recht und Ethik der modernen Medizin« zur »Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutende Sachkomplexe«44 eingesetzt, deren Kompetenz über die des seit 1999 bereits existierenden »Ethikbeirats«45 des Bundesgesund-

41 Taupitz, Jochen: Ethikkommissionen in Deutschland, in: Forschung am Menschen. Ethische Grenzen medizinischer Machbarkeit, 2005:80. 42 Krones, Tanja: Kontextsensitive Bioethik, 2008:53. 43 http://www.iwe.uni-bonn.de/deutsch/index_mo14.html [12.03.2009]. 44 http://www.deutscherbundestag.org [04.06.2007]. 45 Im November 1999 wurde der Ethikbeirat als Expertengremium im Bundesgesundheitsministerium zur Beratung bioethischer Fragen eingesetzt. Dem Beirat gehören

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heitsministeriums hinausgeht. Alle seine Mitglieder gehören dem Bundestag an. Dem Antrag der Fraktionen, eine solche Kommission einzusetzen, war ein langes Ringen vorausgegangen.46 Bereits im Februar 1998 hatte Rita Süssmuth (CDU) vorgeschlagen, in der folgenden Legislaturperiode eine Enquete-Kommission zu bioethischen Fragen einzurichten. Nach der Wahl waren es vornehmlich Bündnis 90/Die Grünen, die sich für die Einsetzung einer solchen Institution stark machten, jedoch damit bei der SPD nicht auf geteilte Zustimmung stießen. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang die Sorge einer möglicherweise verspäteten Ratifizierung der Bioethik-Konvention des Europarats genannt. Dass es dann doch zur Gründung der Kommission kam, liegt vorrangig am zunehmenden Druck von außen, den primär Interessensverbände artikulierten. 47 Als Reaktion auf die Gründung der Enquete-Kommission rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im Mai 2001 aus Reihen von Nicht-Regierungsparteien 25 Mitglieder unterschiedlicher Disziplinen in einem dem Kanzleramt unterstehenden Nationalen Ethikrat zusammen. Dieser Rat nahm am 8. Juni 2001 als »nationales Forum des Dialogs über ethische Fragen in den Lebenswissenschaften« seine Arbeit auf, zu der das Verfassen von Stellungnahmen für die Bundesregierung und den Bundestag zählt. Bei diesen handelt es sich um Empfehlungen für politisches und gesetzgebendes Handeln. Seit Februar 2008 trägt der Rat den Namen Deutscher Ethikrat. Wissenschaftsministerin Annette Schavan plante zunächst für diesen ein bei der Bundesregierung angesiedeltes Gremium, bei dem die direkte Beteiligung von Bundestagsabgeordneten nicht vorgesehen war.48 Nach dem Gesetzentwurf des Bundeskabinetts vom 12. Juli 2006 sollten 24 Mitglieder teilnehmen, die zur Hälfte von Bundestag und Bundesregierung ausgewählt und vom Bundespräsidenten berufen werden sollten. Der neue Deutsche Ethikrat sollte bereits am 1. Juli 2007 die Arbeit aufnehmen.49 Das »Gesetz zur Einrichtung des Deutschen

Experten aus Medizin, Rechtswissenschaften, Psychologie, Theologie, Philosophie und Gesellschaftswissenschaften an. Die öffentliche Wahrnehmung dieses Beirats ist seit der Einsetzung des nationalen Ethikrates zurückgegangen. 46 Am 18. Februar 2003 wurde die Kommission schließlich auf Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen eingesetzt. 47 Altendorf, Ralf: Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, 2002: 152. 48 Jachertz, Norbert: Ethikräte. Tauziehen zwischen Parlament und Regierung, in: Deutsches Ärzteblatt, 103. Jg. H. 28 /29/ 2006. 49 http://www.bmbf.de/_media/press/pm20060712-124.pdf [09.09.2006].

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Ethikrats« trat aber tatsächlich erst am 1.August 2007 in Kraft; die Benennung der Mitglieder zog sich bis Februar 2008 hin.50 Aufgrund seines Umgangs mit der Präimplantationsdiagnostik geriet der Nationale Ethikrat besonders in den Blickpunkt öffentlichen Interesses, da seine Stellungnahme »Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft« als Votum für eine verantwortungsvolle, eng begrenzte Zulassung des Verfahrens interpretiert wurde. So heißt es dort: »Auf dem sich rasch fortentwickelnden Gebiet der Reproduktionsmedizin ist eine laufende Evaluation der Praxis auch mit Blick auf legislativen Novellierungsbedarf angezeigt.«51 Eine solche Einschätzung unterscheidet sich auffallend von der der Enquete-Kommission, die zeitgleich restriktive Maßgaben forderte. Die Diskrepanz, die zwischen beiden Stellungnahmen liegt, bot auch medial einen vielbesprochenen Gegenstand. In Deutschland hat zudem beinahe jedes Bundesland seine eigene BioethikKommission. So wurde etwa im Jahr 2000 die Enquete-Kommission »Wahrung der Würde des menschlichen Lebens in Grenzsituationen« des Landtags Thüringen eingesetzt.52 Neben den föderal organisierten agieren auf nationaler Ebene Kommissionen als Interessensvertretung, wie etwa die Bioethikkommission der Deutschen Bischofskonferenz.53 Dieser Form von Institutionalisierung von Bioethik wird oftmals kritisch begegnet. So fragt sich Taguieff, warum man eine Reflexion institutionalisieren wolle, die lediglich von den Gelehrten gewünscht werde, die es für nötig halten, dass Mediziner sich nach ihren Praktiken befragen und Philosophen über ihre Epoche räsonieren.54 Eine solche Tendenz wird durch die Frage pointiert: »Was haben Angela Merkel, Papst Benedikt XVI. und der Weltfußballverband (Fifa)

50 Waldschmidt, Anne; Klein, Anne; Korte, Miguel Tamayo: Das Wissen der Leute, 2009:15. 51 http://www.ethikrat.org/stellungnahmen/pdf/Stellungnahme_Genetische-Diagnostik. pdf [07.01.09]. 52 Taupitz, Jochen: Ethikkommissionen in Deutschland, in: Forschung am Menschen. Ethische Grenzen medizinischer Machbarkeit, 2005:82. 53 Weiterhin: Stellungnahme der Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands zu Fragen der Bioethik, Hannover 2001, oder: Sekretariat der katholischen Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Der Mensch sein eigner Schöpfer? Wort der deutschen Bischofskonferenz zu Fragen von Gentechnik und Biomedizin, Bonn 2001. 54 Taguieff, Pierre-André: La bioéthique ou le juste milieu, 2007:75.

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gemeinsam? Die richtige Antwort lautet: Sie haben allesamt eine Ethikkommission. Die Ethik boomt.«55 (4.1) Arbeitsweise der Bioethik Als Ausdrucksmittel insbesondere der institutionellen Bioethik gelten vorrangig Stellungnahmen, Expertisen und Gutachten. Diese wiederum dienen meist als Grundlage gesetzlicher und/oder parlamentarischer Entscheidungen. Das geschieht, wie gesagt, disziplinenübergreifend, was selbst wiederum Eingang in Reflexionsprozesse findet.56 Hier mischen sich nicht nur Fächer, sondern auch normative, evaluative und empirische Perspektiven und Praktiken. Auch dies verkompliziert die Frage nach gemeinsamen methodischen und theoretischen Fundamenten der Bioethik. Denn hier können »grundsätzlich alle ethischen Theorien Verwendung finden.«57 Im Fall der Fälle müsse daher auch theoriepluralistisch abgewogen werden.58 Dabei aber »praxisnah« und »lösungsorientiert« zu sein, lautet oftmals die an die (institutionelle) Bioethik gekoppelte Forderung. Zentral ist in der Herangehensweise das Einzel- bzw. Fallbeispiel von konkreten Problemen. Hille Haker betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit der Narration als »Medium der ethischen Erfahrung und der Selbstreflexion«.59 Dies gelte im doppelten Sinn sowohl für den Erzählenden als auch für den Zuhörer.60 Konkrete ebenso wie ausgedachte Fälle – Beispiele mit lebensweltli-

55 Bogner, Alexander; Menz, Wolfgang; Schumm, Willhelm: Ethikexpertise in Wertekonflikten. Zur Produktion und politischen Verwendung von Kommissionsethik in Deutschland und Österreich, in: Mayntz, Renate; Neidhardt, Friedhelm; Weingart, Peter; Wengenroth, Ulrich (Hg.): Wissensproduktion und Wissenstransfer, 2008. 243. 56 Potthast, Thomas: Bioethik als inter- und transdisziplinäres Unternehmen, 2008:255. 57 Rehmann-Sutter, Christoph: Bioethik, in: Handbuch Ethik, 2006:249. 58 Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht gegensätzliche Vorschläge vorgelegt werden. So führen die Autoren von »The Principles of Biomedical Ethic« beispielsweise vier moralische Prinzipien vor – Autonomie, Wohlwollen, Nichtschädigung, Gerechtigkeit – die sich jeweils auf verschiedene Handlungsbereiche und Situationen beziehen. Beauchamp, Tom; Childress, James: »Principles of Biomedical Ethics«, 2001. In konkreten Fällen lassen sich mit Hilfe der vier Prinzipien prima facie Pflichten begründen, die sich zuweil widersprechen können. 59 Haker, Hille: Narrative Bioethik, 2005:117. 60 Dies gilt auch dann, wenn, wie in den Medien, kein direkter dialogischer Charakter vorliegt.

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chem Bezug – werden ins Zentrum der Narrationen gerückt und veranschaulichen (auch) die Erfahrung und/oder das Einfühlungsvermögen des Sprechers. Von diesen ausgehend wird induktiv verallgemeinert. Auf diese Weise wird der Übergang vom Einzelfall zum Paradigma sichtbar. Dies verlangt, die Beschreibung der Fälle als Erzählung ebenso ernst zu nehmen wie die Zuordnung zu einem Thema und das Denken in Analogien.61 Für die Medienbeispiele muss man zwei unterschiedliche Verwendungen dieser Beispiele differenzieren: Zum einen flechten sich in die Redeweisen Verweise auf Einzelfallbeispiele ein, die nachträglich eine Handlung legitimieren helfen. In diesem Sinne argumentiert Humangenetiker Hughes, warum er den Eltern eines kranken Kindes geholfen hat, ein passendes »Spenderkind« zu erzeugen, durch die Schilderung des aufgebrachten Vaters, der ihn »angebrüllt« habe: »Während ihr am Mahagonitisch über Ethik debattiert, stirbt mein Kind.«62 Auf der anderen Seite dienen Fallbeispiele der subjektiven »Leidens«Illustration. Indem von den individuellen Lebensgeschichten ausgegangen wird, bekommen die vermeintlich abstrakten bioethischen Fragen ein Gesicht. Hier ein Paar, das auf »natürlichem Weg« trotz des sehnlichsten Wunschs kein Kind bekommen kann, dort eine Frau, die nach einem »positiven Befund« mit einer folgenreichen Entscheidung ringt und schließlich eine Familie, die mit einem Kind mit Behinderung lebt. Eine damit geleistete Übersetzbarkeit (in den Medien) lebt von der Kategorie der Empathie und des Mitleids und der an sie gebundenen Fähigkeit des Nachempfindens durch Emotionalisierung. Zugleich muss die Auswahl so ausfallen, dass durch sie Paradigmatisches sichtbar wird. Allgemein lässt sich sagen, dass Betroffenen-Erzählungen entweder als Legitimierungsgrund für Forschungen angeführt werden oder (seltener) Gegenstand von »Erlebnisberichten« werden. (4.2) Positionenstreit Die Heterogenität der Bioethik offenbart sich insbesondere inhaltlich. Das veranschaulichen etwa die verschiedenen Kriterien für den Lebensbeginn, die sich zwischen dem Kriterium der Kernverschmelzung oder dem Potenzialitätskriterium ebenso bewegen wie zwischen der Ausprägung der Primitivstreifen als Moment der Individuation oder aber der Bedingung der Ausbildung rudimentärer

61 Rehmann-Sutter, Christoph: Bioethik, in: Handbuch Ethik, 2006:249. 62 Art. »Verheißung oder Teufelswerk«, in: Der Spiegel 9/2000.

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mentaler Kapazität oder der Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs.63 Die Kakophonie der Bioethik führe ich anhand dreier konträrer Positionen zum Personenbegriff vor.64 Die sich zwischen ihnen ergebende Differenz, die ich jeweils anhand von Stellvertretern vorführe, illustriert dabei exemplarisch die Vermittlungsschwierigkeit dieser divergierenden Haltungen. (a) Naturalistisches Personenverständnis: Michael Tooley veröffentlichte 1972 einen Aufsatz mit dem Titel »Abtreibung und Kindstötung«65, in dem er eine Argumentation entwickelt, die Theda Rehbock zu Recht als »Naturalisierung des moralischen Personenbegriffs«66 bezeichnet. Tooley geht von der Frage der moralischen Beurteilung von Abtreibung und Kindstötung aus, die seiner Meinung nach mit der Frage nach dem Lebensrecht verbunden ist. Er verwendet dabei den Personenbegriff normativ. Person sei alles, was »ein (gewichtiges) moralisches Recht auf Leben hat«67. Grundlegend seien jedoch bestimmte empirische Eigenschaften. Insofern Tooley also den normativ aufgeladenen Personenbegriff an gestaltbare Eigenschaften zurückbindet, naturalisiert er ihn. Notwendige Bedingung für die Zuschreibung von Rechten sind dann nach Tooley das Bestehen von Wünschen bzw. die Fähigkeit, solche Wünsche zu haben. Ungeborene und Säuglinge seien daher Personen mit einem Recht auf Leben. Er geht beim Einzelsubjekt von Interessen und Rechten aus. Die interpersonale Konstitution des Personseins wird dabei völlig ausgeblendet. ›Mensch‹ meint bei ihm rein deskriptivbiologische und physiologische Merkmale der Spezies; eine ›Person‹ ist dagegen Subjekt des Lebensrechts, das auf rein physisch-mentalen Eigenschaften beruhen soll. Mensch und Person können demnach im gegebenen Fall auseinander treten. Tooley geht weiterhin davon aus, dass durch eine Abtreibung ein spezifisches Wesen, ein menschliches Wesen ausgestoßen wird. Soweit folgt er den Abbruchsgegnern. Aber er verwirft deren Vorstellung, dass jedes menschliche Wesen das Recht auf Leben hat, weil es zur Gattung Mensch gehört. Seines Erachtens besteht der Gegensatz zwischen menschlichen Wesen (Recht auf Leben ist

63 Friele, Minou B.: Rechtsethik der Embryonenforschung, Paderborn 2008:30ff. 64 Ich folge hier der Systematik von Theda Rehbock: Personen in Grenzsituationen, 2005. 65 Tooley, Michael: Abtreibung und Kindstötung, in: Leist, Anton (Hg): Um Leben und Tod, 1990. 66 Rehbock, Theda: Personen in Grenzsituationen, 2005:180. 67 Tooley, Michael: Abtreibung und Kindstötung, in: Leist, Anton (Hg.): Um Leben und Tod, 1990:182f.

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nicht gesichert) und Personen, die nicht unbedingt zur Gattung Mensch gehören müssen, bei denen aber legitimerweise ein Recht auf Leben gefordert wird. Dazu definiert er Eigenschaften, die ein Wesen als Person qualifizieren. Als solche versteht er die Fähigkeit, Lust und Schmerz zu empfinden und einen Bezug zu sich selbst als einem in der Zeit dauernden Wesen (dazu gehört die Fähigkeit, Pläne zu machen, Interessen und Wünsche zu äußern). Er bezieht sich hierbei auf die Daten der Physiologie und der experimentellen Psychologie, aus welchen er folgert: Der Fötus hat vor dem Alter von zwei Monaten keine der genannten Fähigkeiten. Er erwirbt aber zumindest die Empfindung von Schmerzen im dritten Schwangerschaftsmonat. Diese Kriterien reichen aber nicht aus, um ein Recht auf ›Leben‹ zu sichern. Nur wenn das auf die Probe gestellte Wesen dem Kriterium eines fortdauernden Selbst entspricht, lässt sich sagen, es handle sich um eine Person. D.h., es sind in erster Linie menschliche Wesen, die kognitive Eigenschaften besitzen. Föten und Neugeborene können das aber nicht, so dass weder Kindsmord noch Abtreibung ein moralisches, wohl aber z.B. ein soziales Problem darstellen.68 Die Liste von Vertreterinnen und Vertretern, die in eine solche Richtung argumentieren, ist lang.69 Stellvertretend erwähnt sei Peter Singer, der die von Tooley initiierte Naturalisierung des Personenbegriffs weiter fortführt und mit

68 Um dies zu begründen entwirft Tooley ein fiktives Szenario: Wenn ein Wissenschaftler einer Katze eine Droge injizieren könnte, die dazu führt, dass sie geistige Fähigkeiten entwickelt, dürfte er diese Katze dann ersäufen? Hat ein Gelehrter das Recht, der Katze diese Droge nicht zu verabreichen und sie zu ersäufen? Nach Tooleys Argumentation darf er es. Dieses Szenario überträgt er auf den Fötus und kommt zu dem Schluss, wenn es kein Übel sei, nichts zu tun, damit aus der Katze eine Person wird und man sie ersäuft, dann ist es auch kein Übel den Fötus zu vernichten, der eine Person würde. Tooley, Michael: Abtreibung und Kindstötung, in: Leist, Anton (Hg.): Um Leben und Tod, 1990:182f. 69 So geht beispielsweise John Harris davon aus, dass medizinische Praxis uns heute mit Situationen konfrontiert, in denen wir uns gezwungen sehen, verschiedene Formen von Leben unterschiedlich zu bewerten. Der Wert des Lebens sei dabei mit dem Personenbegriff verbunden. Mit einer Analyse des Wertbegriffs bringt er zusätzlich kantianische oder liberalistische Elemente der Autonomie in seinen Personenbegriff mit ein. Ob etwas einen Wert hat, hängt vom wertenden Subjekt ab. Für ihn heißt das dann, der Arzt habe auch dann die Entscheidung der Patienten zu respektieren, wenn er diese für falsch halte. Das unterstreicht die Bedeutung des Autonomie-Konzepts. Ders.: Der Wert des Lebens, 1995.

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seiner Forderung nach einer weitreichenden Liberalisierung der Abtreibung und der Euthanasie insbesondere bei seinen Deutschlandbesuchen heftige Kritik provozierte.70 Seine ursprüngliche Motivation entstammt dem Engagement für die Interessen von Tieren, wobei er sich gegen das von ihm gekennzeichnete metaphysische Vorurteil wendet, der Mensch sei aufgrund bestimmter Eigenschaften dem Tier überlegen. Nicht biologische Gattungsunterschiede seien relevant für moralische Rücksicht; ausschlaggebend seien vielmehr Empfindungsfähigkeit und Selbstbewusstsein. Und über diese können Tiere grundsätzlich ebenso verfügen wie Menschen. Wie Tooley betrachtet auch Singer die interpersonale Konstitution des Menschseins nicht.71 (b) Essentialistisches Personenverständnis: Für Robert Spaemann72 – als strikte (essentialistische) Gegenposition – sind hingegen alle Menschen auch Personen. Das ergibt sich für ihn aus einer Sinnanalyse des Personenbegriffs; denn Personsein sei keine empirische Eigenschaft, sondern die »Natur« bzw. das »Wesen« des Menschen. Die hierfür konstitutiven Qualitäten seien nicht rein biologischer Art. Es geht um die Zugehörigkeit zu einer Art, deren typische Exemplare über diese Merkmale verfügen. Er will das Personsein nicht auf bestimmte faktisch vorhandene Fähigkeiten eines Lebewesens reduzieren. Wir existieren als Personen, indem wir uns zu uns selbst d.h. zu unseren Fähigkeiten verhalten. Die Singularität ist dabei wesentliches Charakteristikum der Personalität. Spaemann versteht Personsein als modus existentiae, durch den Menschen sich als eine bestimmte Art von Lebewesen von allen anderen Lebewesen unterscheiden. Als Grundaspekte würden dabei Selbstdifferenz und Interpersonalität wechselseitiger

70 Seine Überlegungen, die Euthanasie von schwerbehinderten Neugeborenen für ethisch geboten zu halten, sorgte bei seinem Deutschlandbesuch 1989 und 1996 für viel Aufregung. Er konnte, wie es dazu in der Zeit hieß, den »Deutschen Ethikwall« nicht überwinden (Die Zeit 16/1996). Die Reise endete in einem faktischen Redeverbot, das Singer später in dem Artikel »On being silenced in Germany« in The New York Review of Books beschrieb. Dieser Beitrag erschien 1993 in dem mit Helga Kuhse gemeinsam verfassten Buch »Muß dieses Kind am Leben bleiben?« unter dem Titel »Zum Schweigen gebracht in Deutschland«. Siehe hierzu auch Krones, Tanja: Bioethische Diskussionen und lebensweltliche Ansichten, in: Spätabbruch der Schwangerschaft, 2008:145. 71 Singer, Peter: Praktische Ethik, 1994. Ders.: Wie sollen wir Leben? Ethik in einer egoistischen Zeit, 2004. 72 Spaemann, Robert: Grenzen: Zur ethischen Position des Handelns, 2001.

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Anerkennung gelten. Spaemann lehnt daher den Begriff der »potentiellen Person« ebenso ab wie einen graduellen Personenbegriff: Denn Menschen entwickelten sich nicht zur Person, sie seien immer schon Person. Föten seien etwa von Anfang an in die menschliche Gemeinschaft mit einer Vielzahl antizipierbarer Möglichkeiten der Entwicklung und der Realisierung (inter-)personaler Fähigkeiten einbezogen. Deshalb seien sie »wirkliche« Personen mit den entsprechenden fundamentalen moralischen Rechten. Zwar denkt Spaemann die interpersonelle Konstitution mit, hält aber den Personenbegriff frei davon. Der Status als Person ist für ihn kein Resultat der Anerkennung, sondern Anerkennung ist für ihn die Antwort einer Gemeinschaft auf den legitimen absoluten Anspruch einer Person. (c) Anerkennungstheoretisches Personenverständnis: Damit widerspricht Spaemanns Position auch der von Martin Seel, demzufolge der Begriff der Person seinen ursprünglichen Sitz aus der interpersonellen Anerkennung bezieht. Da Personen als Lebewesen sich zu ihrem Leben verhalten können, seien sie moralfähige Individuen. Mit der wechselseitigen Anerkennung korrespondieren seines Erachtens gegenseitige Rechte und Pflichten. »Moralische Rücksicht ist Respekt unter Personen gegenüber Personen und Nicht-Personen«.73 Er versteht Personen als verantwortungsfähige Subjekte der Moral, die sich gleichzeitig als Objekt und Adressat der Moral anerkennen. Personsein ist damit an Moralfähigkeit gebunden. Jedoch schließt er: Nicht konkrete Fähigkeiten seien ausschlaggebend, sondern die Beziehung zum moralischen Subjekt, womit er eine interpersonal konstituierte Ethik kennzeichnet. Es ist damit nicht der rein »körperlichbiologische« Anteil der Person gemeint.74 In Bezug auf die Zuschreibung von Rechten unterscheidet Seel eine Geltungs- von einer Anwendungsebene. Der Fötus als »potentielles soziales Gegenüber« ist teilweise auf soziale Interaktionen angewiesen, wie z.B. auf Aufmerksamkeit und Fürsorge. Seel spricht sich für die Grenzen zwischen Tier und Mensch aus und verbürgt sich damit für den Zusammenhang zwischen Menschsein und Personsein. (d) Jenseits des Personenbegriffs: Die Probleme, die sich mit dem extrem voraussetzungsreichen Personenbegriff auftun, wollen einige Bioethiker umgehen, indem sie ihn zu vermeiden suchen. Dieter Birnbacher etwa vertritt in »Das Di-

73 Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks, 1995:261 74 Ebd.:203

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lemma des Personenbegriffs«75 die These, dass der Personenbegriff aufgrund seiner semantischen Unbestimmtheit Missverständnisse und Konfusionen erzeuge. Aus der praktischen Ethik sei dieser Begriff deshalb besser zu verbannen. Er diskutiert die zwei Hauptpositionen, wobei die eine Mensch- und Personsein deckungsgleich sieht (Äquivalenz-Doktrin, die habe ich anhand von Spaemanns Position dargelegt) wohingegen die andere diese Deckungsgleichheit bestreitet (Nicht-Äquivalenz-Doktrin, vertreten etwa durch Tooley). Dabei versucht er nachzuweisen, wie wenig der Personenbegriff zur Klärung der ethischen Fragen auszurichten weiß. Dieser sei also aufgrund dessen durch eine Analyse und Begründung moralischer Rechte zu ersetzen.76 Die Frage, ob bzw. ab wann der Embryo Mensch bzw. Person ist, ab wann er zum Rechtssubjekt wird, stellt bzw. beantwortet sich jedoch nicht immer explizit. Vielmehr wird auf einer untergeordneten Ebene indirekt Antwort gegeben. Dann gelten etwa nicht konkrete Fähigkeiten, nicht Schmerz- oder Glücksempfinden als ausschlaggebende Messinstrumente für die sogenannte Statusfrage. Selbstbewusstsein, Rationalität oder Autonomie stehen dann genauso wenig isoliert zur Disposition wie empirisch erfassbare Daten. Stattdessen wird der »Körper« des Embryos durch Narrative als sozial existierend produziert. Diese Antropomorphisierung geschieht mit weitreichenden Folgen, wie ich in meiner Analyse später zeigen werde, denn auch ohne es explizit zu machen, dringen Forderungen nach der Unantastbarkeit menschlichen Lebens an die Oberfläche. Viele Facetten der Bioethik ließen sich ergänzen. Eine, die zu nennen unerlässlich ist, ist jene, die die Bioethik unter einer geschlechtszentrierten Wahrnehmung diskutiert. Susan M. Wolf moniert beispielsweise, dass die Bioethik die Kategorie des Geschlechts weitestgehend ignoriert habe, was insbesondere deswegen sehr fragwürdig sei, da die Anwendung von Biomedizin nun einmal auf gänzlich andere Weise die Körper betreffe.77 Das gilt selbstredend speziell für

75 Birnbacher, Dieter: Das Dilemma des Personenbegriffs, in: Strasser, Peter; Starz, Edgar (Hg.): Person sein aus bioethischer Sicht. Tagung der österrreichischen Sektion der IVR in Graz, 29. und 30. November 1996, 9-25. 76 Siehe auch: Birnbacher, Dieter: Bioethik zwischen Natur und Interesse, 2006. 77 So beispielsweise: Wolf, Susan M.: Introduction Gender & Feminsm, in: Feminism& Bioethics, 1996:3-45. In eine ähnliche Richtung argumentiert Hille Haker, wenn sie kritisiert, dass die Kategorie ›Geschlecht‹ (ebenso wie ›class‹ oder ›race‹) in der Etablierungsphase der Bioethik nicht präsent war. Haker, Hille: Gechlechter-Ethik der

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die Reproduktionsmedizin.78 Zudem macht dieser Verweis noch einmal Folgendes kenntlich: Die Bioethik ist eine interessensgerichtete Bindestrich-Ethik, die sich je nach Perspektive mal feministische79, mal theologische Bioethik80 nennt.81 Entgegen dieser Wahrnehmung (und Forderung Wolfs) nutze ich die Kategorie der Bioethik nicht als Schablone eines ausschließlich feministischen Forschungsinteresses. Mit Blick auf die Printmedien ist es umgekehrt mein Interesse, unterschiedliche Strategien als solche kenntlich zu machen, um dann in einem zweiten Schritt die hier wirksam werdenden Machtstrategien zu benennen. Dass die so entstehenden Effekte in erster Linie an Frauen wirksam werden, bleibt dabei jedoch stets im Blickpunkt. Zusammengefasst meint Bioethik also das gesamte (normative) Sprechen über Reproduktion, wozu die genannten inhaltlichen Positionen natürlich auch gehö-

Reproduktionsmedizinm in: Konnertz, Ursula, Haker, Hille, Mieth, Dietmar (Hg.): Ethik – Geschlecht – Wissenschaft, 2006:256. 78 Das kann dann unter Umständen zu Thesen wie der von Rosemarie Tong führen, die schreibt: »wenn traditionelle Bioethik feministische Verständnisse über die Gentherapie in ihren Themenbereich mit einbezieht, [sei, J.D] sie besser geeignet, in gleicher Weise, den ›besten Interessen‹ von Männern und Frauen zu dienen.« Tong, Rosemarie: Feministische bioethische Perspektive zur Gentherapie, in: Konnertz, Ursula, Haker, Hille, Mieth, Dietmar (Hg.): Ethik – Geschlecht – Wissenschaft, 2006:204. 79 Daniela Wolf untersucht in diesem Sinn bezogen auf die PID den Ansatz von Tom Beauchamp und James Childress im Vergleich zu der feministischen Perspektive von Susan Sherwin. Sie kommt zwar zu dem Schluss, dass beide einer Legalisierung des Verfahrens unter strengen Bedingungen zustimmen. Während jedoch die einen eine konkrete, fallbezogene Analyse lieferten, zeichnet sich die andere durch eine struktubezogene, gesellschaftskritische Analyse aus. Dies.: Wunschkinder. Präimplantationsdiagnostik aus der Perspektive der Prinzipienethik und der feministischen Ethik, 2011. 80 Etwa: Dabrock, Peter: Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, 2004. Hilpert, Konrad; Mieth, Dietmar: Kriterien biomedizinischer Ethik. Theologische Beiträge zum gesellschaftlichen Diskurs, 2006. Kostka, Ulrike: Gerechtigkeit im Gesundheitswesen und in der Transplantationsmedizin, 2008. 81 Als eine solche gilt gleichfalls die Care-Ethik, die, folgt man Hille Haker, als Konsequenz der Differenz zwischen einer weiblichen und einer männlichen moralischen Urteilsfindung entwickelt wurde. Haker, Hille: Gechlechter-Ethik der Reproduktionsmedizin, in: Konnertz, Ursula, Haker, Hille, Mieth, Dietmar (Hg.): Ethik – Geschlecht – Wissenschaft, 2006:260.

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ren. Prominente Ethikerinnen und Ethiker veröffentlichen zudem Texte in den Medien82 und machen durch ihre jeweilige Argumentation auch hier deutlich, dass innerhalb dieser Gruppe kein Konsens herrscht. Die Berührungspunkte zwischen deren öffentlichem Reden und anderen Institutionen oder Disziplinen sind unübersehbar und sprengen auch deshalb jede institutionelle, methodische oder inhaltliche Engführung des Begriffs der Bioethik.83

(5) B IO

MACHT

E THIK ?

Indem sich in den manifesten Sagbarkeiten (und Unsagbarkeiten) Normen ablesen lassen und diese weiterhin sowohl das Individuum als auch die Bevölkerung betreffen, verstehe ich aus zwei Gründen diese Form der Bioethik als Biomacht, als strategisches Machtmodell der Regulation. »Zu diesem Übergriff der Bio-Macht kommt es, wenn dem Menschen technisch und politisch die Möglichkeit gegeben ist, nicht allein das Leben zu meistern, sondern es zu vermehren, Lebendiges herzustellen und Monströses und – nicht zuletzt – unkontrollierbare und universell zerstörerische Viren zu fabrizieren.«84

Biomacht bedeutet hier einmal mehr, dass die biologischen Grundlagen des Menschen, d.h. des Menschen als ein Lebewesen, für geschichtliche, politische Prozesse zugänglich werden, dass also seine körperlichen Funktionen zu den bevorzugten Zielscheiben der Macht werden.85 Wenn Foucault zudem den Begriff der Biomacht verwendet, um die Disziplinierung des Leibes und des Bevölkerungskörpers durch sozial ausgeübte Macht zu kennzeichnen, dann wird das bei einer Thematik, deren Kern das Leben ist, besonders deutlich. Neben (wohlfahrtsstaatlicher) Fortpflanzungspolitik tritt hier die Fusion der Sexualität mit der

82 Wie etwa Robert Spemann: Art. »Gezeugt, nicht gemacht. Wann ist der Mensch ein Mensch?«, in: Die Zeit 4/2001 oder Reinhard Merkel: Art. »Rechte für Embryonen? Die Menschenwürde lässt sich nicht allein auf die biologische Zugehörigkeit zur Menschheit gründen«, in: Die Zeit 5/2001. 83 So wurde beispielsweise Andreas Kuhlmann am 13.12.2002 als Sachverständiger zum Nationalen Ethikrat geladen. Regine Kollek ist als Molekularbiologin zu diesem Zeitpunkt Vorsitzende des Nationalen Ethikrates. 84 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, 2001:300. 85 Magiros, Angelika: Kritik der Identität, 2004:93.

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Disziplinar- und Bevölkerungspolitik in Erscheinung und dokumentiert so im wahrsten Sinne des Wortes, dass und wie das Leben in die Geschichte(n) eintritt86 und insofern »den Körper und das Leben vereinnahmt«87. Und zwar in dem Sinne, als der Körper auf der einen und die Bevölkerung auf der anderen Seite besetzt werden. Zu Recht weist Lemke darauf hin, dass insbesondere der innerhalb des Diskurses gängige Rekurs auf Risiken der Biomedizin die Grenzen zwischen disziplinärer Führung (auf der Ebene des individuellen Körpers) und Sicherheitsführungen (Bevölkerungsprozesse) durchbricht.88 Der hierbei zentrale Begriff des Regierens markiert, dass es darum geht, das »Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren.«89 Auf diese Weise verknüpfen sich Techniken der Selbstführung mit solchen der Führung anderer und mit der Führung des Staates, welche als nicht aufeinander reduzierbar, aber auch nicht als Gegensatzpaar zu fassende Elemente eines Kontinuums zu begreifen sind. So deutet der Begriff des Regierens auf die unterschiedlichen Handlungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung und Leitung von Individuen und Kollektiven zwischen Macht und Subjektivität zielt.90 Es macht Sinn, die institutionelle Bioethik als »Ausdruck einer Problematisierung des Regierens«91 zu verstehen. In dem, was ich Bioethik nenne, geht es nicht um Wahrheit oder Richtigkeit im strengen Sinne, nicht um das Gute. Kathrin Braun betrachtet das hinsichtlich der institutionellen Bioethik wie folgt: »Ihrem eigenen Selbstverständnis nach ist die Aufgabe der ExpertInnen in diesen Kommissionen nicht mehr das ›speaking truth to power‹«.92 An die Stelle des (technokratischen) Modells der Politikberatung sei eine neue Politik des Sprechens getreten. Konsequenz ist auch die Höherbewertung von Haltungen im Vergleich zur Kompetenz (aufgrund von Profession). Indem es nie um »richtige« Prinzipien geht, besteht die Möglichkeit,

86 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, 1983:170. 87 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, 2003:283. 88 Lemke, Thomas: Gouvernementalität und Biopolitik, 2007:146. 89 Foucault, Michel: Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, 1994:255. 90 Thomas Lemke spricht in diesem Zusammenhang von einer »genetischen Gouvernementalität«, ders.: Gouvernementalität und Biopolitik, 2007:130. 91 Braun, Kathrin; Herrmann, Svea; Könninger, Sabine; Moore, Alfred: »Die Sprache der Ethik und die Politik des richtigen Sprechens.« Hier bezeichnen sie diese Institutionen als »Ethikregime«, in: Mayntz, Renate; Neidhardt, Friedhelm; Weingart, Peter; Wengenroth, Ulrich (Hg.): Wissensproduktion und Wissenstransfer, 2008:224. 92 Ebd.:231.

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sich nicht festlegen zu müssen. Auf der anderen Seite sichert eine solche Positionierung der Bioethik trotzdem den Überlegenheitsgestus. So sehr aber Wahrheit hier selbst zur Disposition gestellt wird, so wenig bedeute dies, sie als unbestimmtes Ziel aufzugeben. Es gehört allerdings zu den Grundzügen des Diskurses, konsequent auf dessen Bandbreite zu verweisen und eine klare Positionierung zu vermeiden. In gewisser Weise gilt dies für die Institutionen, wie auch für die Medien-Diskussionen. Die Untersuchung der Medien dokumentiert dabei, inwiefern die öffentliche Kommunikation über Biomedizin, die ich Bioethik nenne, nicht einseitig verläuft. Stattdessen nehmen sich auch Experten in meinem diffundierenden Modell der Öffentlichkeit an. Das beweist sowohl die oben genannte Gründung der Enquete-Kommission, als auch die zunächst erfolgte Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Präimplantationsdiagnostik.93 In den durch die Biomedizin erzeugten Entscheidungs-Dilemmata bietet die (institutionelle) Bioethik eine Lösung an, indem sie Widersprüche nicht aufhebt, aber eine Ebene etabliert, in der sich diese frei entfalten können. »Es geht nicht direkt um die Regierung der Wissenschaft, sondern um die Regierung der Art und Weise, in der über die Probleme des Regierens der Wissenschaft gesprochen wird, um ein Set von Technologien, die in Anschluss an Mitchell Dean als ›reflexive gouvernment‹ verstanden werden können, zu etablieren.94 Nach dieser Argumentation stellt »[Bio-] Ethik die maßgebliche Semantik für Gouvernance-Diskurse«95 dar.

93 Ebenso entstanden 2001 unterschiedliche Expertisen bezüglich des Antrags des Hirnforschers Oliver Brüstle, der mit embryonalen Stammzellen arbeiten wollte. In der Mehrheit sprach sich der Ethikrat für den Stammzellen-Import aus, wohingegen die Enquete-Kommission mehrheitlich dagegen stimmte. Letztendlich wurde einem Kompromissvorschlag zugestimmt, der den Import unter strengen Regeln erlaubte. 94 Braun, Kathrin; Herrmann, Svea; Könninger, Sabine; Moore, Alfred: Die Sprache der Ethik und die Politik des richtigen Sprechens.« bezeichnen, diese Institutionen als »Ethikregime«, in: Mayntz, Renate, Neidhardt, Friedhelm, Weingart, Peter; Wengenroth, Ulrich (Hg.): Wissensproduktion und Wissenstransfer. 2008:238 95 Bogner, Alexander; Menz, Wolfgang; Schumm, Wilhelm: Ethikexpertise in Wertekonflikten. Zur Produktion und politischen Verwendungen von Kommissionsethik in Deutschland und Österreich, in: Mayntz, Renate; Neidhardt, Friedhelm; Weingart, Peter; Wengenroth, Ulrich (Hg.): Wissensproduktion und Wissenstransfer, 2008:244.

5. Kapitel Der Weg nach Europa? – Zur Homogenisierung heterogener Deutungen

»Wer über Politik nachdenken will, sollte zuerst über Macht nachdenken.«1

(1) E IN

UNIVERSALISTISCHER

U MGANG

MIT DEM

L EBEN ?

Die Bioethik bezieht sich öffentlich auf das Leben. Dabei geht es hier in erster Linie um den Beginn des (menschlichen) Lebens, bzw. um dessen Herstellung. Eine solche Auseinandersetzung ist nicht zuletzt wegen der hier offensichtlichen Verschränkung von Ethik und Recht auf eine intersubjektive Selbstverständigung angewiesen, die oft das Ziel medialer Beiträge ist. Beim Umgang mit so etwas Elementarem wie ›Leben‹ unterstellen wir die universale Gültigkeit der in ihrem Kontext getroffenen normativen Aussagen. Zumindest unterliegt die prinzipielle Forderung nach gemeinsamen und allgemeingültigen Regelungen im Umgang mit Biomedizin und, davon abhängig, mit dem Leben dem Diskurs. Dies lässt sich in unterschiedlichen Begründungszusammenhängen, die etwa die Zulassung eines Verfahrens begrüßen oder ablehnen, nachzeichnen. Dennoch führt die Unterstellung der Allgemeingültigkeit in medialen Diskursen nicht automatisch zu Formen des Konsenses (im Sinne einer formalen Rationalität). Die Fragen der Reproduktionstechnologien und deren Nutzung verlangen indes eine politische Entscheidung. Auch daher gilt es

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Geuss, Raymond: Krise der politischen Philosophie, 2011:133.

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zwangsläufig, öffentlich Position zu beziehen. Die Herstellung eines Konsenses hinsichtlich einer gemeinsam geteilten Einigung ist dabei aber nicht das erste Ziel. Die unterschiedlichen Maßstäbe bieten vielmehr die Möglichkeit, Inklusions- und Exklusionsstrategien in Bezug auf das Menschsein im Sinne eines Identifikationsangebots aufzugreifen. Eine implizite universalistische Orientierung bei gleichzeitiger unterschiedlicher Ausformung der Diskurse, das Absehen vom Konsensmodell zudem, stiftet die diskursive Umgebung für die Frage: »Andere Länder – andere Bioethik?«2 Wenn das Reden über Reproduktionstechnologien insbesondere durch eine Verschränkung von Recht und Ethik bedingt ist, dann ist es möglich, dass kulturelle Aussagesysteme dafür verantwortlich sind, was sagbar und was unsagbar ist. In diesem Prozess erscheint die Forderung nach Kohärenz wichtig, weil erfahrungsgemäß eine beliebte Strategie der Selbstrechtfertigung darin besteht, die Situation, in der man sich befindet, aufgrund ihrer Besonderheit für nicht unter eine bestimmte Moral- oder Rechtsnorm subsumierbar zu halten, den eigenen Fall also als berechtigte Ausnahme von einer Norm hinzustellen, deren strikte Einhaltung man ansonsten befürwortet. Ohne Frage ist eine solche argumentative Strategie Bestandteil der medialen Berichterstattung. Dennoch hängt das Verständnis des öffentlichen Diskurses davon ab, wie man die implizite universalistische Orientierung auf das Leben versteht. Eine universalistische Unterstellung operiert mit einer in der Praxis nicht einzuhaltenden Prämisse: Dass nämlich die Frage nach dem menschlichen Leben3 allerorts und von allen Diskursteilnehmerinnen und -teilnehmern gleichlautend beantwortet werden könnte. Eine solche Position bezöge ihre Legitimität also aus einer geteilten »common morality«.4 Sie setzt voraus, dass die Argumente in ihrer

2

Schicktanz, Silke: Medizinische Möglichkeiten am Beginn des Lebens – eine Einführung in den deutsch-israelischen Dialog, in: Der Einfluss von Religion und Kultur auf die Biomedizin – ein Deutsch-Israelischer-Dialog, 2007:7.

3

Zu den »Fragen nach dem menschlichen Leben« zähle ich in erster Linie die für die Bioethik zentrale Frage, ab wann der Mensch ein Mensch im normativ folgenreichen Sinn ist. Daneben geht es hier elementar um die Entscheidung, was und zu wessen Nutzen mit menschlichem Leben getan werden darf und wem die Entscheidungsgewalt hierüber obliegt.

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Nach Stefan Beck, der diese Haltung vor dem Hintergrund der Bioethik diskutiert, beruht diese Annahme auf universellen moralischen Institutionen und der unproblematischen Geltung moralischer Paradigmen, Maximen und Prinzipien. Ders.: Globalisierte Reproduktionsregimes: Anmerkungen zur Emergenz biopolitischer Handlungsräume,

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Gültigkeit sich nicht auf bestimmte Personen, Traditionen oder Kulturen beschränken und sie in diesem Sinne auf allgemeingültiger Grundlage stehen. Die Orientierung am (Moral-)Prinzip macht – zumindest wenn man sich die Medien anschaut – offensichtlich, dass unter Realbedingungen hier Differenzen darüber bestehen, welche Wertigkeit konkurrierenden Ansprüchen, wie z.B. der Forschungsfreiheit im Verhältnis zum Lebensschutz, zukommen. Das Verhältnis von universalistischer Unterstellung und partikularistischer Wirklichkeit gilt es nun genauer in den Blick zu nehmen.

(2) K ULTURELLE P LURALITÄT , H OMOGENISIERUNG UND H EGEMONIEANSPRUCH In der Erweiterung des Bioethik-Begriffs wird kenntlich, dass hier unauflöslich widerstreitende Interessen in einem gemeinsamen Raum akkumulieren. Auch durch diesen Prozess wird die Universalität, die der letztverantwortlichen Ethik in Fragen des Lebens zugesprochen wird, ganz praktisch auf eine harte Probe gestellt. In der diskursiven Praxis findet mit anderen Worten etwas anderes statt als in der ethischen Theorie, in der es mitunter so scheint, als ließe sich durch hinreichend viel Explikations- und Argumentationsaufwand ein gemeinsames Grundverständnis etwa der Begriffe ›Leben‹ oder ›Mensch‹ herstellen. Und so könnte man dann auch die universalistische Unterstellung faktisch einlösen. Doch unter Bedingungen politischen Handelns werden solche Diskurse nicht geführt und sehr oft darf man unterstellen, dass begrifflich klar ist, was die »anderen« wollen, man selbst aber eben etwas anderes will. Die Logik des Politischen folgt nicht der Logik der ethischen Theorie.5 Wenn etwa Sachsen Anfang 2009 beschließt, die IVF unter bestimmten Konditionen (nämlich: Alter, Ehe, Wohnsitz in Sachsen, Behandlung in Sach-

in: Verwandtschaft machen. Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge, 42/2007, hier: 132f. 5

Sehr pointiert hat eine solche These bezogen auf die Moralisierung der politischen Theorie Raymond Geuss vertreten: »Zweitausend (oder mehr) Jahre moralischen Predigens haben es anscheinend nicht vermocht, den Beweis zu erbringen, dass salbungsvolles Reden eine wirkungsvolle Art ist, das menschliche Verhalten zu verbessern (...). Über Politik, die wir in unserer Welt kennen und die uns angeht, hat sie [die Moral, J.D.] uns wenig zu sagen.« Ders.: Krise der politischen Philosophie, 2011:137.

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sen) aus Steuergeldern zu bezuschussen6, dann deutet sich zumindest konkret auf ökonomischer Seite eine verheerende Diskrepanz der Ansprüche und der Behandlungs-Möglichkeiten an.7 Titel wie »Sachsen hilft bei Kinderwunsch«8 lassen ahnen, dass eine solche Unterstützung andernorts nicht gewährt wird, dass also der Wunsch mancher Paare in anderen (Bundes-)Ländern ungehört oder unfinanziert verklingt. Dass hier politisch weit mehr in den Blick genommen wird als die Finanzierung einer erwünschten Behandlung in einer strukturell schwachen Region, das wird in den entsprechenden Erklärungen, die konkret demographische Befürchtungen artikulieren, mehr als deutlich. So heißt es etwa seitens des Sozialministeriums Dresden: »Angesichts der immer älter werdenden Bevölkerung können wir uns das [die Nicht-Bezahlung, J.D.] nicht mehr leisten.«9 Hier herrscht kein Streit über die Grundbegriffe der Ethik, sondern einer über politische Ziele. Die Rahmenbedingungen, die in einer bestimmten Gegend zu einer bestimmten Zeit existieren, sorgen sowohl in dieser Region, als auch (u.U. als Abgrenzung) in der restlichen Republik für Gesprächsbedarf. Unterschiede bieten Impulse, die auch in der Suche nach gemeinsamen (rechtlichen) Standards bestehen können. Unterschiedliche Rahmenbedingungen – für dieses Beispiel: innerhalb der Bundesländer – stellen also sowohl die Grundlage, Behandlungen praktisch in Anspruch zu nehmen. Sie stellen aber gleichzeitig auch die Basis, um über die Behandlungen und die an sie gebundenen Implikationen öffentlich zu sprechen. Das so entstehende Bild besteht aus unterschiedlichen föderalen, nationalen und transnationalen Rahmenbedingungen. Nicht-diskursive Rahmenbedingungen wie Gesetze, Finanzierungen etc. bieten dadurch, dass sie in einer bestimmten Gegend gelten und in anderen nicht, Anlass, sich über diese Unterschiede zu verständigen. Die damalige niedersächsische Sozialministerin Mechthild RossLuttmann (CDU) sprach sich etwa offensiv für eine bundeseinheitliche Lösung in Bezug auf die Finanzierung der IVF aus. »Es sollte nicht zu einem Wettbe-

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Ein solcher Beschluss hebt in gewisser Weise eine Gesetzesänderungen von 2004 auf, durch die die Behandlungsquote erheblich eingebrochen war. Die rot-grüne Bundesregierung hatte beschlossen, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen nur noch 50 Prozent der Behandlungskosten übernehmen.

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Diese zu bekämpfen forderte Familienministerin von der Leyen. Die Welt titelte etwa:

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Art. »Sachsen hilft bei Kinderwunsch. Das Land zahlt Ehepaaren für künstliche Be-

»Von der Leyen will künstliche Befruchtung fördern«, in: Die Welt vom 15.02.2009. fruchtung einen Zuschuss«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.02.2009. 9

Ebd.

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werb der Bundesländer kommen, wer potentielle Eltern bei der künstlichen Befruchtung finanziell am besten unterstützt.«10 Indem sie den KonkurrenzGedanken ins Spiel bringt, veranschaulicht die Ministerin die über die reine Finanzierung hinausgehende Bedeutung des Angebots. Anhand solcher Sprachsysteme lässt sich der Zusammenhang zwischen Diskursivem und Nicht-Diskursivem aufzeigen. Mein Anliegen ist es an dieser Stelle, zu »klären und beschreiben, welche Beziehung zwischen diesen Ereignissen, diesen Diskurs-Ereignissen, und externen Ereignissen bestehen, die zum ökonomischen System, zum politischen Bereich und zu den Institutionen gehören. So gesehen ist der Diskurs nur ein Ereignis unter vielen, auch wenn Diskursereignisse im Vergleich zu anderen ihre eigene Funktion besitzen.«11 Um eine bestimmte moralische Haltung vertreten zu können, gilt es, unterschiedliche Positionen gegeneinander abzuwägen. Es reicht also nicht aus, die eigene Haltung argumentativ zu unterfüttern, sondern gleichzeitig muss das praktizierte Gegenteil mitgedacht werden. Um also ein Aussagesystem als solches näher bestimmen zu können, braucht es Grenzgänger. Die über diese getroffenen Aussagen gehören aber nichtsdestotrotz dem gleichen Formationssystem an. Das meint genauer: Wie wird beispielsweise die Zulassung von bestimmten Verfahren in anderen Ländern beurteilt, die in Deutschland nicht zulässig sind, weil sie (mehrheitlich) als ethisch problematisch eingeschätzt werden? Wo wird auf welche Weise Bezug auf andere (rechtliche, ethische, ökonomische) Systeme genommen und wozu dienen die Vergleiche hier (sind sie beispielsweise legitimierend eingesetzt)? Wenn ich hieraus ableitend Regeln für AussageModalitäten notiere, dann gilt es, diese in zweierlei Hinsicht zu überprüfen: Zum einen in Hinblick auf die Funktionalität anderer Aussagesysteme; zum anderen in Bezug auf die Einigungsbestrebungen etwa hinsichtlich einer transnationalen Homogenisierung. Im Folgenden erläutere ich den Zusammenhang zwischen Rahmenbedingungen und Sagbarkeiten (3 und 4), um anlässlich des Reproduktionstourismus ein konkretes Entscheidungsfeld zu eröffnen (5), das die Einigungsbestrebung auf transnationaler bioethischer Ebene durch institutionelle Versprechen zumindest befördert (6).

10 Ebd. 11 Foucault, Michel: Dits et Ecrits Bd.III, 2003:594.

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(3) P RAKTISCHER U MGANG

MIT RECHTLICHER

D IVERGENZ

Mit der Reproduktionsmedizin kommen Prozesse in Gang, die die bestehende (rechtliche) Ordnung, wo nicht erschüttern, so doch hinterfragen und vor neue Aufgaben stellen. Der Begriff »Biogesetz« findet zwar im deutschen Sprachraum kaum Verwendung12, dennoch weist Thomas Sören Hoffmann darauf hin, dass mit diesem die wohl wichtigste Problemdimension der aktuell aus der Biomedizin entstehenden Fragen bezeichnet ist, und zwar »die Dimension der tatsächlich ins Leben eingreifenden Ausgestaltung einer öffentlichen Ordnung widerstreitender Lebensansprüche gegeneinander.«13 Die Bioethik könne sich der Globalisierung eben nicht entziehen, konstatiert folgerichtig Nikola BillerAndorno.14 Dabei gibt es vermeintliche Begründungszusammenhänge und Argumente, denen der Anspruch zugeschrieben wird, ein kosmopolitisches und internationales Gesetz zu verkörpern, dessen Autorität sich nicht des demokratischen Willens eines bestimmten Staates versichert.15 Die Frage, die sich insbesondere vor dieser globalisierten Schablone stellt, ist jene, ob und wie angesichts von durchlässig werdenden Grenzen die Forderung nach einer Internationalisierung gemeinsamer Normen eine Ablösung vom kulturellen nationalstaatlichen Partikularismus hin zu einer kulturtranszendenten Geltung nach sich zieht.16 Wie steht der Prozess einer praktischen/pragmatischen

12 Eine Ausnahme ist dem Artikel »Die Ausweitung der Grauzone«, in: Die Zeit 30/2009 zu entnehmen, in dem es heißt: »Das Urteil, gegen das die Berliner Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hat, ist eine biorechtliche Situation.« 13 Hoffmann, Thomas Sören: Kultur – Ethik – Recht, in: Ders.; Schweidler, Walter (Hg.): Normkultur vs. Nutzenkultur, 2006:31. 14 Biller-Andorno, Nikola: Globale, kulturübergreifende oder universale Bioethik? 2008:45. 15 Zu solchen Ansprüchen universell ethischer Verpflichtungen in Rechtsformen siehe Benhabib, Seyla: Kosmopolitismus und Demokratie, 2008. Benhabib fragt sich hier u.a., ob es ein Recht gibt, das in der Lage wäre, die Macht souveräner Nationalstaaten einem allgemeinen Recht unterzuordnen. 16 So fragt stellvertretend für viele Bioethiker Roberto Andorno, ob es möglich sei, in einem so sensiblen Feld wie der Bioethik gültige Normen zu ermitteln (est-ce qu’il possible, dans un domaine aussi sensible que celui de la bioéthique, d’élaborer des normes à validité ? Autrement dit, peut-on en bioéthique concilier l’aspiration à l’universalité avec le respect de la diversité culturelle) ?, der.: Comment concilier une

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Diffundierung Aussagemöglichkeiten gegenüber, die die jeweiligen Bestimmungen (rechtlich) nicht nur durch Ethik/Moral begründen, sondern die Interpretation von medizinischen Verfahren nationalstaatlich ableiten? Sarah Franklin etwa konstatiert »each of these debates, in Germany, Australia, France, Denmark (to name but a few) and most recently in the United States, reveals a cultural specifity to contestation over juridical control of ›the facts of life‹.«17 Anhand solcher Aussagen wird deutlich, dass der Diskurs auf einer in ihn eingeschlossenen Metaebene durch Aussageformationen geprägt ist, in denen Nationalstaatlichkeit selbst als eine Begründung für den Umgang mit Reproduktionstechnologien gilt.

(4) H OMOGENISIERUNG = H ARMONISIERUNG ? Insbesondere bei rechtlichen Homogenisierungstendenzen selbst innerhalb Europas geht es auf einmal auch um die Übertragbarkeit von kulturellen Wertvorstellungen und ethischen Argumenten.18 Diese beziehen sich weniger auf das jeweilige medizinische Angebot, als vielmehr auf die entsprechende gesellschaftliche Wahrnehmung und die an sie gebundene Denktradition. Wenn im so entstehenden Vergleichsraum realpolitisch andere Maßnahmen praktiziert und andere Umgangsweisen gepflegt werden, dann stellt sich zwangsläufig die Frage nach den »feinen Unterschieden«, die jeweils zwischen den ihnen vorausgehenden Interpretationen liegen. Offensichtlich divergieren hier nicht nur rechtliche Praktiken, sondern auch die Modalitäten der Sagbarkeiten. Zugespitzt meint dies, dass ein Gesundheitssystem andere Leistungen anbietet bzw. finanziert als ein anderes und diese Praxis sich nicht nur mit den zur Verfügung stehenden Mitteln öffentlich begründet, sondern explizit mit einer bestimmten Auffassung von Ethik, Sittlichkeit und Moral.19 Weniger die Frage, ob (technisch) bestimmte Verfahren realisierbar sind, steht dann im Mittelpunkt der Aushandlungen, sondern nationalstaatlich geprägte Argumentationen und Strategien. In gemeinsamen Überlegungen, wie mit Ri-

bioéthique universelle et le respect de la diversité culturelle?, in: Byk, Christian (Hg.): Bioéthique et droit international, 2007:55. 17 Franklin, Sarah: embdodied progress, 1997:85. 18 Schicktanz, Silke: Kulturelle Vielfalt in der Bioethik-Debatte, 2003:270. Schicktanz führt an dieser Stelle die unterschiedlichen Vorstellungen zwischen westlicher und nicht-westlicher Welt an. 19 Dies gilt in erster Linie, wenn bestimmte Untersuchungen nicht angeboten werden.

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siken im Gefolge des Modernisierungs-Fortschritts umgangen wird und wie diese unter Kontrolle gehalten werden können, sind globalisierte Tendenzen erkennbar. Abhängig sind die in Folge entstehenden Kontroversen in besonderer Weise, das führt Anton Leist exemplarisch vor, von der Auseinandersetzung mit dem Personenbegriff. D.h., »dass Europäer verschiedene moralische Sprachen sprechen, wenn sie sich auf die Tugenden, auf eine Geistseele oder auf individuelle Rechte beziehen.«20 Der Europäische Gerichtshof scheint ihm dahingehend Recht zu geben, als dass er 2004 in seinem Urteil feststellte, dass es unmöglich sei, zu bestimmen, ob eine »Person« unter den Anwendungsbereich von Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonventionen falle. Und zwar deshalb, weil es in Europa in dieser Frage »weder einen wissenschaftlichen noch einen juristischen Konsens« 21 gäbe.22

20 Leist, Anton: Medizinethik und europäische Metaphysik der Person, in: BillerAndorno, Nikola; Schaber, Peter; Shulz-Baldes, Annette (Hg.): Gibt es eine universale Bioethik?, 2008:204. 21 Weber-Hassemer, Kristiane: Argumentationstypen in der bioethischen Diskussion, 2006:184. 22 Der Import embryonaler Stammzellen illustriert die Differenz zwischen Forschungspraxis und viel beschworener Ethik weiterhin auf besondere Weise. Denn embryonale Stammzellen dürfen – aus ethischen Gründen – in Deutschland nicht hergestellt werden; ihr Import aus dem Ausland ist aber unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Das Stammzellgesetz, im vollen Namen »Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen« vom Juni 2002 sieht vor, den Import zuzulassen, wenn dieser u.a. dazu dient, die »hochrangigen Forschungsziele für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Rahmen der Grundlagenforschung oder für die Erweiterung medizinischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfahren zur Anwendung bei Menschen« (StZG § 5, 1) zu befördern. In der Konsequenz führt nach Interpretation des Spiegels das strikte Verbot der Forschung an »jenen Zellknubbeln, aus denen später einmal ein Mensch entsteht« (Art. »Die Menschenfabrik«, in: Der Spiegel 34/2000) dazu, dass Forscher sich gezwungen sähen, »einen Teil [...] der Labore nach Amerika [zu., J.D.] verlagern.« Eine restriktive forschungspolitische Entscheidung gefährdet, nehmen wir diese Beobachtung ernst, nicht nur den ökonomischen Standort Deutschland, sondern hier wird zweifelsohne auch die Anschlussfähigkeit an eine aufstrebende (und innovative) Branche befürchtet.

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Die jeweiligen Praktiken »der anderen« werden dabei in aller Regel nur dann als ethisch bedenklich oder gar verwerflich eingeschätzt, wenn es um deren Übertragbarkeit auf den nationalen Kontext geht, wenn also ein Verfahren, das beispielsweise in Großbritannien zulässig ist, auch in Deutschland angewendet werden soll. Indem in der Begründung der Verbote argumentiert wird, diese seien nach ethischen Maßgaben abzulehnen, deutet sich insofern ein (in diesem Beispiel auch innereuropäisches) Dilemma an, weil mit der Kennzeichnung als »nicht ethisch« der Regelung im Ausland unterstellt wird, dort allgemein verwerflichen Praktiken nachzugeben. Die Inanspruchnahme von im Ausland erbrachten Verfahren (wie den Stammzellforschungen) macht dabei gleichzeitig die Doppelbödigkeit einer solchen Bewertung kenntlich. So tadelt die Deutsche Forschungsgemeinschaft nach Angaben der Zeit: »Die moralische ›Drecksarbeit‹ machen die anderen, die deutschen Hände bleiben rein.«23 In Kauf genommen wird zudem, dass die Bürgerinnen und Bürger sich in anderen Ländern Behandlungen unterziehen, die nach nationalem Recht nicht erlaubt sind. Lange Zeit dienten in diesem Sinne die Niederlande als das Land, in das Frauen gingen, um die im Vergleich zu Deutschland wesentlich liberalere Gesetzgebung für einen Schwangerschaftsabbruch zu nutzen.24 Mit einer Liberalisierung der deutschen Gesetzgebung sind diejenigen Fahrten, deren Ziel der Abbruch der Schwangerschaft war, seltener geworden. Mit fortschreitenden Realisierungsmöglichkeiten einer Schwangerschaft und deren gleichzeitiger gesetzlicher (Zugangs-)Begrenzung führen jedoch abermals Wege ins Ausland. Nicht um eine Schwangerschaft zu beenden, sondern um sie herzustellen.

(5) N OTWENDIGKEIT

EINES

K ONSENSES ?

Jenseits lokal existierender Regelungs- und Sprachsysteme werden Grenzen also praktisch überschritten.25 Das keine Grenzen kennende Internet unterläuft etwa

23 Art. »Warum Deutschland sich weigert, die Europäische Konvention zur Bioethik zu unterschreiben.«, in: Die Zeit 15/1997. 24 Guido Pennings weist jedoch darauf hin, dass die rückreisenden Frauen bei entsprechendem Verdacht gynäkologische Untersuchungen über sich ergehen lassen mussten. Mit einem solchen sanktionierenden Eingriff wird der Regelverstoß in mehrfacher Hinsicht kenntlich gemacht. Pennings, Guido: Legal harmonization and reproductive tourism in Europe, 2004:2691. 25 Hierzu: Diekämper, Julia; Plett, Konstanze: All inclusive – child included? 2009.

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jeglichen Regelungsbedarf. Nicht anders sind (deutschsprachige) Seiten zu verstehen, die sich unter Namen wie »http://www.kinderwunsch-tschechien.de«26 um die Gunst der Rezipienten mühen. Auf der Seite »http://www.eizellspende.de«27 erhalten deren Besucherinnen und Besucher Informationen und Angebote, die in Deutschland verbotene Eizellenspende wahlweise in einer russisch-finnischen, einer spanischen oder einer Klinik auf Nordzypern durchführen zu lassen. Oftmals stammen solche Angebote im Internet aus Osteuropa. Dies ist aber kein einheitlicher Trend. So wirbt die Seite »http://www.ivf-holiday.de«28 mit einer Auswahl an Kliniken zwischen Bregenz und »Karlsbad« (Karlovy Vary) und die Seite »http://www.barbardosivf.org«29 lockt mit Strandbildern für eine Kombination von medizinischen Behandlung und exklusivem Urlaubsangebot. In einer solchen Offerte erkennt Stefan Beck einen »neuartigen biopolitischen Raum«30. Ein solcher wurde insbesondere sichtbar, als 2005 die dänische Spermienbank Cryos verkündete, künftig künstliche Befruchtung mit Spermien aus anonymen Spenden auf sogenannten Fruchtbarkeitsschiffen anzubieten, die in den internationalen Gewässern außerhalb der Drei-Meilen-Zone vor der britischen Küste kreuzen sollten. Hintergrund dieser Geschäftsidee war die Änderung des britischen Gesetzes, die die anonyme Spende abschaffen wollte. Außerhalb der Drei-Meilen-Zone aber unterliegt das Schiff der Rechtssprechung des Landes, in dem es registriert ist. In diesem Fall also Dänemark, wo die anonyme Spende zu diesem Zeitpunkt legal war. Erste »reproduktionsmedizinische Pauschalangebote« bieten neben der medizinischen Behandlung, Organisation von An- und Abreise, Beschaffung von Visa und der Betreuung in der Landessprache auch ein kulturelles (Rahmen-) Programm.31 Das betrifft aber nicht nur die IVF oder Intrazytoplasmatische

26 http://www.kinderwunsch-tschechien.de [12.01.2009]. 27 http://www.eizellspende.de/ [12.02.2009]. 28 http://www.ivf-holiday.de [13.03.2009]. 29 http://www.barbardosivf.org [09.03.2009]. 30 Beck, Stefan: Globalisierte Reproduktionsregimes: Anmerkungen zur Emergenz biopolitischer Handlungsräume, in: Verwandtschaft machen. Berliner Blätter. Ethnograhische und ethnologische Beiträge, 42/2007, hier: 124. Er spricht von einem »Emergenzereignis« , in dem »qualitativ neuartige Komplexität entsteht«. 31 Knoll, Eva Maria: Soweit gehen für ein eigenes Kind: Reproduktionstourismus als grenzüberschreitender Umweg, in Bockenheimer-Lucius, Gisela; Thorn, Peter; Wendehorst, Christiane (Hg.): Umwege zum eigenen Kind. Ethische und rechtlichte Herausforderungen an die Reproduktionsmedizin 30 Jahre nach Louise Brown, 2008:67.

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Spermieninjektion (ICSI).32 Als die PID in Deutschland noch einhellig als verboten galt, hieß das keineswegs, dass hier nicht Kinder geboren wurden, die als Embryonen einer solchen Untersuchung unterzogen worden waren. Guido Pennings erklärt: »For preimplantation genetic diagnosis, half of the couples come from Germany and France [nach Belgien, J.D.] as a result of legal or practical restrictions in these countries. [...] From Germany, patients in need of oocyte donation or who want IVF with donar sperm are coming over. French patients cross the border because they want to increase their chances of success by avoiding the obligatory embryo freezing after oocyte donation or they do not accept the ›personalized anonymity‹ rule which precludes the use of a known oocyte donar.«33

In der Zeit hieß es hierzu vor dem BGH-Urteil vom Juli 2010 beispielhaft: »Schon jetzt allerdings nutzen manche Deutsche die liberalen Gesetze etwa in Belgien und unterziehen sich dort einer sogenannten Präimplantationsdiagnostik. Was bei uns noch verboten ist, erlaubt dort Ausschluß über mögliche Genfehler beim Embryo. Ist diese Suche nach Hilfe so verwerflich und mit dem Wort vom ›Medizintourismus‹ abzutun?«34

Das Versprechen auf ein (gesundes) Kind relativiert andere mögliche Deutungen und führt gleichzeitig durch das »noch« zumindest eine leise Hoffnung mit. Das Kinder-Kriegen bzw. Schwanger-Werden wird angesichts von entsprechenden Angeboten zu einer produktiven Freizeitaktivität zwischen Hotel und

32 Dabei handelt es sich um eine Methode, bei der das Spermium direkt in das Zytoplasma einer Eizelle eingespritzt wird. 33 Pennings, Guido: Legal harmonization and reproductive tourism in Europe, in: Human Reproduction Vol. 19, No.12, 2004:2690. 34 Art. »Embryonale Ethik«, in: Die Zeit 41/1996. Der Autor fügt – in diesem Sinne konsequent – hinzu: »Mit ihrer Unterschrift würde die Bundesregierung nur anerkennen, was längst europäische Realität ist. Moralisch mag das nicht jeden befriedigen, unmoralisch ist es deshalb noch lange nicht.« Inwiefern Belgien aufgrund sowohl seiner geographischen Lage als auch in Bezug auf seine gesetzlichen Bestimmung hinsichtlich der Reproduktionsmedizin für viele Frauen aus Deutschland (und auch Frankreich) Anziehungskraft ausübt, das mag ein Titel wie »Zeugung auf belgisch« ausdrücken. Art. »Zeugung auf belgisch«, in: Der Spiegel 12/2001.

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Hospital.35 Die Verschränkung, die sich zwischen medizinischer Behandlung und Urlaubsangebot ergibt, deutet dabei den Eingriff vorrangig am weiblichen Körper um. An die Stelle medizinischer Behandlung treten Bilder eines Wellness-Aufenthalts.36 Auch sie machen deutlich, dass, wenn Gesundheit die Bedingung dafür ist, Mutter und Vater zu werden, und das Elternsein begrifflich mit dem Fruchtbarsein verkoppelt ist, nicht-Fruchtbarsein mit dem Dasein als ungewollt kinderlos unvereinbar ist. Inwieweit es sich um ein Geschäft handelt, bei dem die Frauen bzw. Paare nicht mehr Patientinnen und Patienten, sondern Konsumentinnen und Konsumenten sind, das verdeutlicht zudem folgendes Zitat: »Dr. Rama bietet einen Service an, wie man ihn gewohnt ist von globalen Dienstleistern. Sie schickte den Betroffenen ein Photo der betreffenden Leihmütter, und sie notierte Sonderwünsche. Hindu-Paare fragen gern nach Hindu-Leihmüttern, ein Paar aus Dubai bestand auf einer muslimischen Eizelle, ein indisches Paar in Übersee verlangte eine Vegetarierin als Leihmutter, den Westlern ist es wichtig, dass die Frau weder raucht noch trinkt.«37

Ein japanisches Paar, das ihr Kind Mangi in Indien »in Auftrag« gab, trennte sich während der Schwangerschaft der Leihmutter. In Folge saß die Mutter des Mannes, also die Großmutter des Kindes, in Indien, mit einem Mädchen, das keine Papiere besaß38. »Dieses Kind ohne Heimat ist der Grund, warum Indien sich jetzt fragt, ob es wirklich ein Standort für outgesourcte Schwangerschaften sein will.«39 Besonders eindrücklich tritt die Verbindung von Recht und Ökonomie zu Tage. Dass etwa in Süddeutschland das Embryonenschutzgesetz praktisch immer wieder umgangen werde, erklärt ein Arzt in der Zeit mit der »Konkurrenz aus

35 Das führt dann zu Sätzen wie diesem: »Nach der Ei- und Spemienabgabe warten die Paare in den umliegenden Hotels auf die Reifung ihrer Embryonen«; Art. »Zeugung auf belgisch«, in: Der Spiegel 12/2001. 36 Eine solche Umdeutung lässt sich in erster Linie visuell nachvollziehen. An dieser Stelle ist mir eine Bildanalyse jedoch nicht möglich. Verwiesen sei aber auf die entsprechenden Seiten im Internet. 37 Art. »Die Fabrik des Lebens«, in: Der Spiegel 38/2008. 38 Die die Reproduktionsmedizin flankierenden Gesetze führen zu einer neuen Form von Staatenlosigkeit, die insbesondere seit 2005 Thema der Berichterstattung ist. Siehe hierzu etwa: Art. »Verbotene Kinder«, in: Die Zeit 17/2010. 39 Art. »Die Fabrik des Lebens«, in: Der Spiegel 38/2008.

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Österreich oder Tschechien, wo die Gesetze liberaler sind.«40 Die dortigen Angebote würden auch deshalb genutzt, weil die »Erfolgsquoten künstlicher Befruchtung in kaum einem europäischen Staat so niedrig [seien, J.D.] wie hierzulande. Nur rund ein Viertel der Versuche, ein Retortenbaby zu zeugen, klappe tatsächlich.« Der Österreicher Herbert Zech verspricht etwa doppelt so hohe Raten: 48 Prozent aller künstlichen Befruchtungen führten angeblich in seiner Klinik in Bregenz zur gewünschten Schwangerschaft. ›Wir werden regelrecht überschwemmt von Anfragen aus Deutschland‹, berichtet er. Jährlich kämen etwa 1500 deutsche Frauen zu ihm, fast zehn Prozent aller Patientinnen des Nachbarlandes. Zech leitet drei weitere Kliniken in Italien, Tschechien und der Schweiz und ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie.41 Interessanterweise führt dies nach Ansicht der Zeit weniger zu rechtlichen, denn zu ethischen Fragestellungen. So sei die »allgemeine«42 Ethik nicht in der Lage, mit den durch die Biomedizin gestellten Problemen umzugehen, weswegen es einer Bioethik bedürfe. »Sinn hat diese aber nur, wenn sie möglichst überall gilt. Bei einem größeren Gefälle zwischen den Staaten käme es schnell zum Patiententourismus.«43 In der Konsequenz führe dies zu einem »Standortnachteil für die ethisch strengeren Länder«44 und gleichzeitig zu einer »krassen Unmoral: Denn auch diese Länder profitieren schließlich von einer Forschung, mit der sich zu beschmutzen sie anderen überlassen hätten.«45 Diesen Fortpflanzungstourismus definiert Marcia Inborn als »travel in the persuit of assisted reproducive technologies [...], usually from one country to another, hypothetically, caused by religious prohibition, lack of experience and supplies, safety, discrimination against certain categories of individuals, shortages and waiting lists and costs.«46 Damit geht sie47 über Guido Pennings hinaus,

40 Art. »Die Ausweitung der Grauzone«, in: Die Zeit 30/2009. Die folgenden Zitate ebd. 41 Art. »Babysehnsucht«, in: Die Zeit 25/2004. 42 Art. »Freiheit oder Frevel?«, in: Die Zeit 10/1995. 43 Ebd. Gemeint ist hier in erster Linie Forschung an und mit embryonalen Stammzellen. 44 Art. »Freiheit oder Frevel?«, in: Die Zeit 10/1995. 45 Ebd. 46 Inborn, Marcia; Pounds, NFS New Research Anthropology News, 2007:30. Zitiert nach: Knoll, Eva Maria: Soweit gehen für ein eigenes Kind: Reproduktionstourismus als grenzüberschreitender Umweg, in Bockenheimer-Lucius, Gisela; Thorn, Peter; Wendehorst, Christiane (Hg.): Umwege zum eigenen Kind. Ethische und rechlichte

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der die Reisebewegung darin motiviert sieht, dass Untersuchungen im eigenen Land nicht zur Verfügung stünden.48 Durch eine solche Bewegung entsteht der Eindruck, Einzelne seien nicht mehr auf den Fürsorgestaat angewiesen. Mehr noch: Oftmals halten sie seine »Fürsorglichkeit« für eine illegitime Einmischung in autonome Entscheidungen über Lebensentwürfe und Familienplanung. Das Bild, das durch die Medien dabei gezeichnet wird, sieht vornehmlich die rechtlichen Statuten und ökonomischen Interessen als Gründe, die Menschen im Ausland Behandlungen in Anspruch nehmen lassen. Etwa indem auf die Regelung des Sozialgesetzbuches verwiesen wird, das für die IVF beispielsweise sowohl den Ehestand voraussetzt als auch eine Beschränkung der Finanzierung auf maximal drei Behandlungszyklen vorsieht. Was ebenfalls mit diesen produktiven Bewegungen gemeint sein kann, bzw. wie wenig der Fruchtbarkeitstourismus auf wirkliche körperliche Bewegung von potentiellen Eltern angewiesen ist, das offenbarte sich exemplarisch im Dezember 2004, als innerhalb der europäischen Öffentlichkeit von Geschäften zwischen Großbritannien und Rumänien zu hören war. Eine Bukarester Klinik mit dem Namen »Global Art« hatte auf »britische Bestellungen« hin einen lukrativen Handel mit Embryonen und Eizellen aufgebaut: Junge Rumäninnen ließen sich nach Medienberichten49 gegen einen vergleichsweise geringen Geldbetrag insgesamt ca. 3.000 Eizellen entnehmen, die dann mit tiefgefrorem aus Großbritannien importiertem Sperma künstlich befruchtet wurden. Die so erzeugten mehr als 1.000 Embryonen wurden dann wiederum tiefgefroren nach England geliefert.50 Dieser Skandal rief das Europäische Parlament auf den Plan, das am 10. März 2005 eine Entschließung verabschiedete, in der es jeglichen Handel mit menschlichen Körpern und Teilen davon verurteilte und daran erinnerte, dass die

Herausforderungen an die Reproduktionsmedizin 30 Jahre nach Louise Brown, 2008, hier: 79. 47 Ebenso wie Eva-Maria Knoll, die ebenfalls den Dualismus »erlaubt« versus »verboten« aufhebt. Ebd. 48 Pennings, Guido: Legal harmonization and reproductive tourism in Europe, in: Human Reproduction Vol. 19, No.12, 2004:2690. 49 Art. »Handel mit Eizellen aus Rumänien«, in: Berliner Zeitung, 11.03.2005; Art. »Rohstoff Mensch – Ressource Eizelle«, in: Die Tagespost, 05.07.2005; Art. »Eizellen, Rohstoff für das Mutterglück«, in: Die Zeit, 4/2007. 50 Poplutz, Christian: Eizellen: heiß begehrt, Lebensforum 75/2005. Siehe auch: Monfort, Élisabeth: Les enjeux de la révision 2009 des lois de bioéthique, in: Guide politique de bioéthique, 2008:55.

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Mitgliedstaaten gemäß Art. 12 Abs. 1 der EU-Gewebe-Richtlinie 2004/23/EG danach zu streben haben, »freiwillige und unentgeltliche Spenden von Geweben und Zellen sicherzustellen«51. Berichte – insbesondere über Eizellenspende und Leihmutterschaft – heben im Tenor der Entrüstung auf zwei unterschiedliche Aspekte ab: Zum einen unterstreichen die Artikel die Dringlichkeit eines eigenen biologischen Kinds, sie betonen aber auf der anderen Seite, dass die Realisierung dieses Wunsches mit der Vermarktung körperlicher Substanzen anderer Frauen einhergeht. Denn mit den angesprochenen Verfahren beteiligen sich stofflich gleich mehrere Körper. So sind in aller Regel zwei Frauen (eine Spenderin, eine Empfängerin) und ein Mann an der »Erzeugung« (stofflich) beteiligt, wobei es in der Auseinandersetzung primär die beiden Frauen sind, die hier die zentrale Rolle spielen.52 Über konkrete Angebote solcher Fortpflanzungs-Realisierungs-Reisen ließe sich einiges ergänzen. Denn Forschung und Anwendungspraxis sind anfällig für Missbrauch und Ausbeutung. Insbesondere die Frage, was etwa bei der Eizellenspende genau unter »Zustimmung« der Spenderin verstanden wird, ist auch angesichts von Viktimisierungstendenzen diskutabel. Dies jedoch ist nur insofern Gegenstand meiner Untersuchung, als mir die Beispiele als indirekter Beleg dafür dienen, dass neben einer offiziellen Aushandlung auf der Ebene der EU praktisch bereits Verbindungen zwischen verschiedenen (Mitglieds-)Staaten bestehen. Das ist für mich auch deshalb ausschlaggebend, da anhand dessen zwischen einer moralisch aufgeladenen Debatte und einer gesellschaftlichen Praxis unterschieden werden kann.

51 Richtlinie 2004/23/EG des europäischen Parlaments und des Rates. http://eur-lex. europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2004:102:0048:0058:de:PDF [12.09. 2010]. 52 Dabei divergieren insbesondere die Darstellungen der Spenderinnen, abhängig davon, aus welchem Land diese kommen. Allgemein und bewusst polemisch zugespitzt treten drei Gruppen zutage: Die erste (vorrangig aus den USA stammend) kennzeichnen sich durch Naivität. Es handelt sich um College-Mädchen, die unbedacht auf das Angebot eines lukrativen »Nebenjobs« eingehen und ihrer Freude über den in diesem Akt (vermeintlich) zum Ausdruck kommenden Altruismus Ausdruck verleihen. Dies unterscheidet sie zumindest der Darstellung nach von osteuropäischen Frauen, die die finanzielle Not zu einer solchen Handlung zwingt. Mit dem Klon-Skandal 2003 wurde überdies eine dritte Gruppe sichtbar, nämlich diejenigen Frauen, die mit ihrer Eizellspende der Wissenschaft bzw. dem Wissenschaftler dienen wollten.

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Tanja Krones differenziert an solche Überlegungen anknüpfend und unter Rekurs auf Jürgen Habermas zwischen einer von der »informellen von Privatleuten ohne Publikum«53 getragenen Öffentlichkeit und »formellen Meinungen der publizistisch wirksamen Institutionen« und diagnostiziert (für Deutschland), dass der Skeptizismus gegenüber der Anwendung reproduktionstechnologischer Verfahren vorrangig in letzterer erzeugt werde.54 Sie kommt zu dem Schluss, dass tendenziell »in der deutschen Bevölkerungsstichprobe mehr Befragte den Möglichkeiten zur Pränataldiagnostik und Schwangerschaftsabbruch« 55 im Vergleich zu den USA und Großbritannien zustimmen. Dennoch greife in Deutschland eine in diesem Vergleich wesentlich restriktivere Gesetzeslage. Allgemein führt sie das zu dem Schluss, dass »gesetzgebende Organe, die Medienöffentlichkeit und einige Expertengruppen«56 wesentlich skeptischer bezüglich des Umgangs mit den Technologien seien als die Bevölkerung. Die im Kontext von PID und Stammzellforschung analysierten Printmedien57, als Beispiel für diese restriktive Ebene, leiten sie zu dem folgerichtigen Ergebnis, dass hier insgesamt ein eher negatives Bild der Technologien gezeichnet werde. Eine solche Diagnose kann ich an dieser Stelle nicht widerlegen. Sie beruht auf der These, es gelte zu unterscheiden zwischen dem der Biomedizin skeptisch gegenüberstehenden status quo der Öffentlichkeit und den Interessen der Bevölkerung. Der hier eingeschriebene bzw. ad absurdum geführte Demokratiebegriff konstruierrt eine Allianz zwischen Forschenden und Betroffenen. Daraus folgt, dass eine Ablehnung nicht durch gute Gründe zustande kommt, sondern weil die Inanspruchnahme eine bestimmte Form der political correctness verletzt, die von der medialen Öffentlichkeit verwaltet und kontrolliert wird. Deutlich wird durch eine solche Perspektive zumindest, welchen Unterschied es macht, von einer individuellen oder einer gesellschaftlichen Ebene auszugehen. Verwendet man kasuistische Verfahren, dann, das zeigen auch die Beispiele der medialen

53 Krones, Tanja: Der Kinderwunsch – wie viel ist in den Augen der Öffentlichkeit zulässig?, in: Bockenheimer-Lucius, Gisela; Thorn, Petra; Wendehorst, Christiane (Hg.): Umwege zum eigenen Kind. 2008:10. 54 Ebd. 55 Ebd. 22. 56 Ebd. 27. 57 Sie verwendet indes andere Medien als ich. So bezieht sie die täglich erscheinenden FAZ, SZ, TAZ und Welt ebenso mit ein, wie die Oberhessische Presse. Überdies beobachtet Krones einen wesentlich kürzeren Zeitraum, nämlich zwischen 2000 und 2001.

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Befürwortung, ist der Liberalisierung wesentlich schneller das Wort gesprochen, als wenn es darum geht, gemeinsame und verbindliche Normen zu benennen. Es kommt also bei der Meinungsbildung weniger auf die Gruppe (die Bevölkerung) an, denn mehr auf die Art und Weise der Argumentation, und dabei geht es dann weniger um das Argument selbst, sondern um die für ein Argument verwendete Erzählung.

6. Kapitel Das Material

(1) U NTERSUCHUNGSZEITRAUM Für mein Vorhaben wähle ich den Zeitraum zwischen 1995 und 2010. Dabei verwende ich sowohl am Anfang als auch am Ende meines Untersuchungszeitraums kein festes Datum; denn der Verweis auf einen Ursprung möglicher Erzählungen erübrigt sich allein dann schon, wenn man der interdisziplinären Verbindung gewahr wird, die zur Durchsetzung bestimmter Redeweisen innerhalb der Medien notwendig waren und sind.1 Die Geschichte des Reproduktionsdiskurses zu erzählen, birgt »unzählige Anfänge«2. Ich habe mich entschieden, für die Geschichte, die ich erzählen will, mit den genannten Jahren eine grobe Eingrenzung zu setzen. Das hat u.a. mit den diskursiven Ereignissen in diesem Zeitrahmen zu tun. So wurde 1995 der Paragraph 218 StGB nach der rechtlichen Angleichung zwischen Ost- und Westdeutschland installiert. In Bezug auf die Reproduktionstechnologien stellte dabei insbesondere die sogenannte Spätabtreibung einen Interessensgegenstand dar. Im

1

In seiner Auseinandersetzung mit Darwin und Foucault zeigt Philipp Sarasin, welche Fragen zudem mit der Bestimmung von Ursprung und/oder Herkunft verbunden sind. Das wird besonders in Hinblick auf Foucaults Differenzierung zwischen Genealogie und Geschichte deutlich. Vorrangig zwei Aspekte seien es, die neben dem Problem des Ursprungs bzw. der Herkunft zum Tragen kämen: 1) Die Frage nach der Identität. 2) Zufall und die Diskontinuität. Sarasin stellt hier eine Verbindung her zwischen Foucaults Ablehnung der Ursprungssuche und Darwins Ablehnung des Schöpfungsglaubens. Sarasin, Philipp: Darwin und Foucault, 2009:227.

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Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, 1987:172.

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selben Jahr trat Klaus Diedrich erstmals von den Medien wahrgenommen mit dem Anliegen in die Öffentlichkeit, das Verfahren der PID zu legalisieren. Anhand solcher wiederholt verhandelten Forderungen, Abwägungen und Entscheidungen spinnen sich rote Fäden durch den Diskurs, wie etwa die anhaltenden Auseinandersetzungen mit dem Schwangerschaftsabbruch (vor allem mit den sogenannten Spätabbrüchen), die im Für und Wieder der Technologien nicht nur eine dramaturgisch relevante Rolle spielen, sondern als Nebenschauplätze gleichfalls als ein Gradmesser öffentlicher Empörbarkeit dienen. Noch schwieriger als einen Anfangspunkt zu benennen, ist es angesichts einer sich quasi im Blitzlichtgewitter ständig weiter entwickelnden Biomedizin, einen Endpunkt zu markieren. Ganz offensichtlich ist das Reden über die Technologisierung von Reproduktion unabgeschlossen. Die Ausdehnung meines Untersuchungszeitraums bis in das Jahr 2010 knüpft in gewisser Weise an den Anfangspunkt an; denn im Juli 2010 hatte der BGH über die Vereinbarkeit zwischen PID und ESchG zu entscheiden. Seither gilt die PID unter bestimmten Bedingungen als zugelassen.3 Damit spannt sich ein Bogen, der sich nicht an Verfahren orientiert, sondern sein Interesse auf Sprachregeln und Sprachkonventionen richtet. Dies wird insbesondere an dem letzten Beispiel deutlich, da die PID als diagnostisches Verfahren bereits 1995 bestand wie das ESchG. Anhand meiner Untersuchung lassen sich nicht nur Diskontinuitäten des Diskurses ablesen, besonders die Verbindung zwischen Diskursivem und Nicht-Diskursivem wird hier offensichtlich. Anhand unterschiedlicher Beispiele lässt sich dabei ablesen, inwiefern sich hier Normen verschieben. Zu den bereits erwähnten Ereignissen zählt die Geburt des Kindes der damals 63-jährigen Rosana Della Cortes (bereits 1994) ebenso wie die des Klonschafs Dolly (1998) und die Ankündigung eines Klonkindes durch die Sekte der Raelianer (2002) in Italien. Als Oliver Brüstle die Forschung an importierten Stammzellen bei der DFG beantragte, zog das nicht nur mehrere Anhörungen der DFG im Deutschen Bundestag mit der Bitte nach sich, Entscheidungen über entsprechende Gesetzesgrundlagen durch den Bundestag zum Import von Stammzellen auszusetzen. Auch die Frage, wie angesichts des Verzichts auf eigene Herstellung mit der Einfuhr von embryonalen Stammzellen aus dem Aus-

3

Das gilt vorerst auf den Einzelfall bezogen. Im Oktober 2010 kündigte die FDP ein sich mit dem Verfahren beschäftigendes Positionspapier an, das auf erwartbaren Widerstand beim Koalitionspartner CDU/CSU stößt. Hierzu etwa: Art. »FDP will Regeln für die künstliche Befruchtung lockern«, in: SZ 12.10.2010. Seit April 2011 stehen drei Gesetzesvorschläge im Bundestag zur Diskussion.

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land umzugehen sei, zündete über den Gegenstand hinausgehende medienwirksame wissenschaftsethische Debatten (2000). Im Jahr 2000 löste James D. Watson eine Debatte um die Embryonenforschung aus, indem er am 26.09.2000 in der FAZ dafür plädierte, »erbgeschädigte« Embryonen abzutreiben.4 Diese Äußerungen wurden publikumswirksam unter dem Label »Neue Eugenik« diskutiert. Publikumswirksam wurde zudem im Jahr 2002 der Fall eines gehörlosen, lesbischen Paares aus England inszeniert, das bewusst nach einem gehörlosen Samenspender gesucht hatte, um sicherzustellen, dass auch das erwartete Kind nicht würde hören können. Im selben Jahr gab Mark Hughes bekannt, er habe mit dem Verfahren der PID einen Gewebespender für ein krankes Kind erzeugt. Auch in Deutschland wurde die erste Mutter im Rentenalter aufmerksam wahrgenommen (2008). Diese Schlaglichter folgen jedoch keiner übergeordneten Systematik, sondern sie illustrieren, in welche Richtungen, angestoßen durch solche Ereignisse, Sprachregelungen dringen können.

(2) E IN

NICHT - HISTORISCHES

V ERFAHREN ?

Ganz offensichtlich handelt es sich damit um keinen abgeschlossenen historischen Untersuchungsgegenstand. In »Überwachen und Strafen« formuliert Foucault die Absicht, die Geschichte der Gegenwart zu schreiben.5 Diesem paradoxen Ziel schließe ich mich mit meiner Arbeit an. Paradox ist es deshalb, weil Gegenwart nie Geschichte sein kann. Wenn etwa Petra Gehring moniert: »Die Anwendung der Methode der Aussagenanalyse würde sich also schlicht deshalb verbieten, weil wir in unserer eigenen Gegenwart stecken und daher nicht in der theoretisch erforderlichen Weise als Historiker denken und arbeiten können«6, dann vermischt sie heuristische Grundbedingungen mit der Analysepraxis und

4

So beteiligte sich neben der Zeit etwa auch der Tagesspiegel intensiv an der Kontroverse, die in einem auffälligen Maß an Experten delegiert wurde. Hier veröffentlichte etwa Julian Nida-Rümelin den Beitrag »Wo die Menschenwürde beginnt« (03.01.2001), Wilhelm Vossenkuhl »Der Mensch ist des Menschen Zelle« (16.01.2001) oder Jürgen Mittelstraß: »Inflationäre Menschenwürde« (26.01.2001). In der FAZ erschien unter dem Titel »Wir dürfen unsere Evolution nicht dem Zufall überlassen« ein Artikel von Georg H. Fey und Carl Friedrich Gehtmann (30.01.2001) und von Andreas Kuhlmann »Die Gesundbeter« (31.01.2001).

5

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, 1995:43.

6

Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:153.

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kommt zu dem Schluss: »Foucaults Analyseverfahren sollte man in der Tat nicht als sozialwissenschaftliches Verfahren missverstehen.«7 Foucault scheint ihr dahingehend recht zu geben, wenn er in der Archäologie des Wissens formuliert, es sei »uns nicht möglich, unser eigenes Archiv zu beschreiben, da wir innerhalb seiner Regeln sprechen, da es dem, was wir sagen können – und sich selbst als dem Gegenstand unseres Diskurses – seine Erscheinungsweisen, seine Existenzund Koexistenzformen, sein System der Anhäufung, der Historizität und des Verschwindens gibt.«8 Mit anderen Worten: eine Geschichte der Gegenwart wäre deshalb nicht realisierbar, da nur derjenige, der außerhalb des Feldes steht, dessen Transformationsprozesse analysieren kann. Geschichte der Gegenwart zu schreiben kann jedoch methodisch so verstanden werden, dass man mit dem theoretischen Inventar, das Foucault etwa in der Archäologie des Wissens bereit stellt, Phänomene der Gegenwart beschreibt, ohne seine heuristischen Vorannahmen als Historiker im strengen Sinne zu teilen. Auch wenn Foucault konstatiert, seine Bücher seien »kleine Werkzeugkisten«, und wenn »die Leute sie öffnen und sich irgendeines Satzes, einer Idee oder einer Analyse wie eines Schraubenziehers oder einer Bolzenzange bedienen wollen, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu disqualifizieren oder zu zerschlagen, unter Umständen sogar diejenigen, aus denen meine Bücher hervorgegangen sind [...], umso besser!«9, dann ist es möglich, den Reproduktionsdiskurs diskursanalytisch darzustellen, ohne die wissenschaftstheoretischen Unterstellungen Foucaults zu teilen. Foucault geht nämlich für die Archäologie des Wissens von zwei Voraussetzungen aus: Erstens lassen sich Diskurse nur als abgeschlossene Geschehen identifizieren, ohne in die Falle zu geraten, dem Diskursgeschehen intern einen Sinn zu verleihen, indem man, wohl oder übel, Diskursstrategien inhaltlich bewertet, Stellung bezieht. Deshalb sei es zweitens nötig, eine Stellung außerhalb des Diskursgeschehens einzunehmen. Nur so könnte man im Sinne Foucaults ein »glücklicher Positivist« sein. Wären diese Grundannahmen zutreffend, ist in der Tat eine Analyse des Reproduktionsdiskurses unmöglich, weil (erstens) der Diskurs, wie gesagt, nicht abgeschlossen ist. Die Positivität des diskursanalytischen Zugriffs lässt sich jedoch meines Erachtens auch in historisch nicht abgeschlossenen Diskursen realisieren; etwa indem man sich in einer Medienanalyse auf verfügbares Material bezieht, auf Dinge, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorgebracht worden sind.

7

Ebd.

8

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, 1981:189.

9

Foucault, Michel: Dits et Ecrits Bd. II, 2002:523.

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»Eine diskursive Formation zu analysieren, heißt also, eine Menge von sprachlichen Performanzen auf der Ebene der Aussagen und der Form der Positivität, von der sie charakterisiert werden, zu behandeln; oder kürzer: es heißt den Typ von Positivität eines Diskurses zu definieren.«10

Foucault charakterisiert Positivität in diesem Zusammenhang durch zwei Gegenmodelle: Positivität bedeutet nicht die Entscheidung über eine Rationalität und »Durchlaufen einer Teleologie«. Den Sinn dieser Abwendung von Rationalität und Teleologie beschreibt Jürgen Habermas so: »Er [Foucault; J.D.] will mit der Privilegierung einer Gegenwart brechen, die unter dem Problemdruck der verantwortlich übernommenen Zukunft ausgezeichnet ist und auf die die Vergangenheit narzisstisch bezogen wird.«11 Nun besteht zwar sachlich der angesprochene Problemdruck, insofern es beim Reproduktionsdiskurs um die »Zukunft des Lebens« zu gehen scheint, methodisch jedoch kann man jede Teleologie vermeiden, insofern man erstens bei der Analyse unter Zuhilfenahme der unterschiedlichen Szenarien Narrationsmöglichkeiten gegenüberstellt und diese (vorderhand) nicht einer normativen Bewertung unterzieht, und sich zweitens schon deshalb der Bewertung von Strategien unter dem Kriterium der Rationalität enthält, als die Züge im Wahrheitsspiel, die hier analysiert werden, nicht nur Argumente und Gründe sind, sondern Strategien im allgemeinen, egal ob sie rational oder irrational sind. Das heißt im weiteren Sinne, dass durch eine Betrachtung sprachlichen Materials eine Analyse der Gegenwart geleistet wird. Indem das ausgewählte Material einer Feinanalyse unterzogen wird, soll durch eine Positivität unterschiedlichen Stimmen Raum geboten werden. Da die Ebene, der das Material entnommen wird, eine über die Jahre konstante ist, kann man die Entwicklung auch beschreiben. Eine solche Methode lässt sich (zweitens) auch dann durchhalten, wenn man keine Position außerhalb des Diskurses einnimmt. Selbst wenn es darum geht, eine Haltung zum Reproduktionsdiskurs einzunehmen, muss es möglich sein, diese Haltung auf der Grundlage einer Darstellung des Reproduktionsdiskurses zu bilden .12

10 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, 1981:182. 11 Habermas, Jürgen: Diskursethik, 1996:293. 12 In diesem Sinne steht die Untersuchung dem mit der Genealogie entworfenen Verfahren näher als der Archäologie, was jedoch nicht ausschließt, das Werkzeug der Archäologie zu verwenden.

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(3) A USWAHL

DER

M EDIEN

Ich habe zu diesem Zweck die wöchentlich erscheinenden deutschen Printmedien Spiegel und Zeit ausgewählt, denn diese eignen sich nicht nur durch ihre überregionale Reichweite, sie fungieren zudem als Leitmedien, die in der Lage sind, Debatten abzubilden, zu installieren und zu begleiten. In dieser Fähigkeit unterscheiden sie sich deutlich von anderen Medien, weshalb ich insbesondere die Printmedien anderen Medien vorziehe. Beide werden breitenwirksam rezipiert; so erreicht der Spiegel nach eigenen Angaben 6,11 Millionen Leserinnen und Leser, die sich mehrheitlich in der Altersspanne zwischen 20 und 49 Jahren befinden, womit das Themenfeld Reproduktion zumindest potentiell Teil der eigenen Lebensentscheidungen ist. Der Leserkreis ist zudem überdurchschnittlich gebildet: 45 Prozent besitzen Hochschulreife.13 Für die Zeit ergibt sich in Bezug auf die Rezipienten ein ähnliches Bild. Nach eigenen Angaben kennzeichne sich der »typische Leser«14 etwa durch einen »durchschnittlich hohen Bildungsgrad« (so haben etwa 1,22 Millionen von ihnen Abitur bzw. einen Hochschul- oder Universitätsabschluss), sei meistens in »leitenden Positionen« beschäftigt und verfüge über ein »überdurchschnittliches hohes Haushaltsnettoeinkommen«. Insgesamt erreiche die Zeit 2,05 Millionen Leserinnen und Leser.15 Aus zwei Gründen nehme ich die offensichtlichen Einschränkungen, die mit einer solchen Auswahl in Hinblick auf ihre Rezipientinnen und Rezipienten getroffen wird, in Kauf: Mir geht es primär darum, was an einem öffentlichen Ort im Kontext der Reproduktionsmedizin sagbar ist. Entsprechende Aussagen finden sich in den ausgewählten Medien rein quantitativ öfter als in anderen Medien. Im Zusammenhang von Wissen und Macht spielt zudem der Bezug zum Entscheidungsprozeß eine bedeutende Rolle. Eine Kontrastierung etwa mit der Boulevard-Presse wäre zwar denkbar und reizvoll, ist aber an dieser Stelle nicht leistbar und im Sinne der Fragestellung auch nicht notwendig. Aus naheliegenden Gründen habe ich für Frankreich Zeitschriften gewählt, die mit dem Spiegel und der Zeit in Bezug auf ihre Verbreitung, ihren Adressatenkreis und ihre politische Ausrichtung vergleichbar sind. Meine Wahl fiel zum

13 http://media.spiegel.de/internet/media.nsf/Navigation/DF5EC20A9A9BA551C125718 10045518A?OpenDocument [22.10.2009]. 14 http://marktplatz.zeit. de / angebote / uploads / mediadaten / Profil_der_Zeit.pdf [30.10. 2009] 15 Ebd.

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einen auf Le Nouvel Observateur als Wochenzeitung mit einer Auflage von mehr als 500 000 Exemplaren. Die Zeitung war 1964 vom französischen Philosophen und Journalisten André Gorz gemeinsam mit dem Journalisten Jean Daniel gegründet worden. Zum anderen untersuche ich Beiträge aus L’Express, das mit 556 000 Exemplaren das auflagenstärkste Magazin vor Le Nouvel Observateur darstellt.16 Damit beziehe ich eine seit 1953 bestehende Wochenzeitschrift als eines der ältesten und auflagenstärksten französischen Nachrichtenmagazine ein, das von dem Journalisten Jean-Jacques Servan-Schreiber gegründet wurde und für das Autoren wie Albert Camus, André Malraux, François Mauriac und JeanPaul Sartre als Mitarbeiter schrieben. Als die Auflage von 1962 bis 1964 von 200 000 auf 125 000 Exemplare absank, entschloss sich Jean-Jacques ServanSchreiber, die Zeitschrift in ein Nachrichtenmagazin nach dem Vorbild der amerikanischen TIME und des deutschen Spiegel umzuwandeln; Format und Layout wurden geändert, Seitenzahl und Werbefläche vergrößert.17 Der mit der Umstellung einhergehende Erfolg machte L'Express 1964 zu einem der bedeutendsten Informationsmagazine in Frankreich mit wachsender Verbreitung.18

16 D’ Almeida, Fabrice; Delporte, Christian: Histoire des médias en France, 2003:367. 17 Wenige Zeit später veränderte sich auch LNO in eine ähnliche Richtung. D’ Almeida, Fabrice; Delporte, Christian: Histoire des médias en France, 2003:365. 18 Ebd. 1970 wurde Jean-Jacques Servan-Schreiber Generalsekretär der Radikalsozialistischen Partei (Parti radical) und gab weitgehend seine Verpflichtungen bei L'Express auf. Sein Wunsch nach weiterer Unterstützung seiner politischen Ambitionen durch das Wochenmagazin beschwor eine Konfliktsituation herauf. 1977 trat er 45 Prozent des Kapitals von L'Express an den Finanzmann Jimmy Goldsmith ab, der die redaktionelle Ausrichtung des Blattes änderte. Aufeinanderfolgende Wechsel in der Redaktion hatten mittlerweile das Image des Magazins beschädigt; mehrfacher Wechsel der Eigentümer, verbunden mit wiederholten Versuchen, die redaktionelle Ausrichtung zu bestimmen, schufen eine konfliktträchtige und unübersichtliche Lage. Diese Konflikte gipfelten 1994 in der Entlassung des Chefredakteurs Yann de L’Écotais. 2004 kam Serge Dassault an die Spitze der Gruppe Socpress, zu der L'Express und L'Expansion gehören; hierdurch sollte die Unabhängigkeit der Redaktion nach dem ständigen Hin und Her der Vorjahre erhöht werden. Dennoch versuchte Dassault, Einfluss auf die politische Ausrichtung zu nehmen. Im Jahr 2006 kaufte die belgische Roularta Media Group den Express-Expension Verlag. Hierzu: Kübler, Claudia: Die Darstellung Deutschlands in der französischen Wochenpresse – 1982 bis 1990, 1997:57.

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(4) A USWAHL

DER

A RTIKEL

Als Materialgrundlage dienen alle im Untersuchungszeitraum erschienenen Beiträge, die sich mit Reproduktionstechnologien beschäftigen. Dabei sind aber auch hier die Nahtstellen entscheidend. Wenn etwa in der Auseinandersetzung mit der PID Begründungen abhängig vom Status des Embryos getroffen werden, dann ist es aufschlussreich, wie über Embryonen in anderen Kontexten – etwa der embryonalen Stammzellforschung – gesprochen wird. Auch beziehe ich Artikel ein, die insbesondere seit der Geburt des Klonschafs Dolly im Jahr 1997 die Möglichkeiten diskutieren, auch Menschen zukünftig zu klonen. Das heißt, auch (noch) spekulative Technologien finden hier deshalb Eingang, um als Folie für konkrete Auseinandersetzungen verwendet zu werden. (Gerade die Möglichkeit des Klonens bietet sich überdies auch deshalb an, weil Deutschland und Frankreich gemeinsam zu einer Erklärung gekommen sind.19) Ich beziehe zudem auch die durch die Reproduktionsmedizin entstehenden Möglichkeitswerdungen etwa von neuen Familienkonstellationen ein. Allgemein lassen sich vier Anlässe für das Auftauchen von Reproduktionstechnologien innerhalb der Printmedien unterscheiden: Die Abbildung einer naturwissenschaftlichen Neuigkeit; ein (etwa juristischer) Regelungsbedarf hervorgerufen durch die Möglichkeit der Technologien; eine eigens innerhalb der Medien ausgetragene Debatte; und schließlich die auf den ersten Blick unabhängig von bestimmten Ereignissen und Personen auftauchenden Aushandlungen.

19 Nach einer vierjähriger Debatte stimmten im Jahr 2005 84 Staaten für die Erklärung, die zu einem völligen Verbot des Klonens von Menschen aufruft. Unter den Unterzeichnern waren die USA, Deutschland und Frankreich. Zu den 34 Gegnern gehörten Großbritannien, Belgien, Südkorea und China. 37 Länder enthielten sich, darunter viele muslimische Staaten. Für das völlige Verbot hatten sich auch Gegner des Schwangerschaftsabbruchs und die römisch-katholische Kirche eingesetzt. Die Debatte war 2001 durch einen Verbotsvorschlag von Deutschland und Frankreich ausgelöst worden.

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(5) Z EIT

UND

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S PIEGEL

Insgesamt wurden im Spiegel 214 und in der Zeit 239 Artikel veröffentlicht, die ich ins Material aufgenommen habe.20 Die erhobenen Beiträge erschienen in aller Regel in drei (für beide deutschen Zeitschriften vergleichbaren) unterschiedlichen Ressorts: Deutschland/Politik, Wissen/Wissenschaft und Technik und schließlich Feuilleton/Kultur. Beim Spiegel erschienen drei der Artikel als Titelgeschichte. Die Serie »Die Geheimnisse des weiblichen Körpers«21 besteht aus exklusiv im Spiegel veröffentlichten Auszügen aus dem Buch der US-Autorin Natalie Angier. Hier wird u.a. geschildert, aus welchen Motiven sich Frauen für eine Eizellenspende entscheiden. Oftmals werden mehrere Beiträge zu einem, in sich komplexen Themenfeld zusammengefasst, etwa in der Serie »Die Welt im 21. Jahrhundert«, deren erster Teil den Titel trug »Die Medizin von morgen«22. Auch in der Zeit erscheinen Reproduktionsmedizin betreffende Artikel an prominenter Stelle. So finden sich Beiträge wie »Zukunftskinder«23 ebenso auf der ersten Seite wie der Artikel mit dem Titel: »Wir haben abgetrieben«24. Die Beiträge enthalten aufgrund ihrer Aktualität und Brisanz eine Vielzahl an Referenzen auf Autoritäten. Kaum ein Artikel, der sich nicht auf eine an anderem Ort kund getane Äußerung bezieht. So strukturieren Personen und Schlagwörter den Diskurs; direkte und indirekte Zitate stellen natürlich ein Charakteristikum der Berichterstattung dar, wobei die Grenzen zwischen der Perspektive des jeweiligen Autors/der jeweiligen Autorin und der Quelle oftmals durchlässig sind. Die Bezugsquellen werden dabei aus unterschiedlichen (dramaturgischen) Gründen herangezogen und erfüllen damit jeweils eine andere Funktion. »Experten [...] erfüllen in diesem Sinne eine wesentliche soziale und wissenschaftliche Rolle als Interpreten von Wissenschaft, indem sie ihre Autorität formulieren, konstruieren und reproduzieren.«25 Wer aber gilt innerhalb der Medien als Experte, als Expertin? Zunächst fällt auf, dass unterschiedliche Repräsentanten auf derselben Ebene sprachberechtigt

20 Aus Gründen der Übersichtlichkeit führe ich nur diejenigen Beiträge im Literaturverzeichnis auf, die ich für meine Analyse zitierend verwende. 21 Art. »Das Geheimnis des weiblichen Körpers«, in: Der Spiegel 30-33/2000. 22 Art. »Die Medizin von morgen«, in: Der Spiegel 15-17/2000. 23 Art. »Die Zukunftskinder«, in: Die Zeit 23/2008. 24 Art. »Wir haben abgetrieben«, in: Die Zeit 8/2009. 25 Bock von Wülfingen, Bettina: Genitisierung der Zeugung, 2006:101.

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sind. Inwieweit die Medien selbst eine Hierarchisierung von Akteursgruppen vornehmen, etwa durch Infokästen, Schaubilder, Häufigkeit des Vorkommens, ist Bestandteil der folgenden Untersuchung. Zentral für die Expertinnen und Experten erscheint eine Dreiteilung nach Profession, die neben der Politik ergänzt wird durch Forschung/Wissenschaft und Geisteswissenschaft (Ethik).26 Besonders auffällig wird diese Dreiteilung, wenn sowohl im Spiegel als auch in der Zeit externe Autoren in ihrer Funktion als Experten Beiträge verfassen. Das geschieht in aller Regel aufgrund einer bestimmten Profession, z.B. als Genetiker. Den Status erhalten die entsprechenden Personen also zum einen außerhalb der Medien. Er wird aber zum anderen durch die Medien untermauert und auch (neu) installiert. In diesem Sinne veröffentlichten etwa Robert Spaemann27, Reinhard Mer28 kel , Wolfgang van den Daele29 und Andreas Kuhlmann30 als (im weiteren Sinne) Geisteswissenschaftler Texte. Keiner dieser Texte erschien im Ressort »Wissenschaft«31. Inwiefern die Printmedien Dialoge initiieren, wird dadurch deutlich, dass unterschiedliche Experten aufeinander reagieren. So diskutierten Kardinal Lehmann, der in der Zeit32 argumentierte, Embryonenschutz sei keine Frage des Stichtages und der Mikrobiologe Alexander S. Kekulé, der stark machte, nicht Zellhaufen, sondern Menschen müssten geschützt werden.33 Medienwirksam gestaltete sich auch der Eklat zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem ehemaligen Kulturstaatsminister und Zeit-Herausgeber Michael Naumann, den diese nach Naumanns Rede auf dem Kirchentag in Frankfurt 2001 in

26 Die Einteilung ist jedoch auch deshalb ungenau, weil Grenzgängertum stark verbreitet ist. So wurde beispielsweise, wie bereits erwähnt, Andreas Kuhlmann am 13.12.2002 als Sachverständiger zum Nationalen Ethikrat geladen. Regine Kollek ist zu diesem Zeitpunkt Vorsitzende des Nationalen Ethikrates und Molekularbiologin. 27 Art. »Gezeugt, nicht gemacht«, in: Die Zeit 9/2002. 28 Art. »Rechte für den Embryo«, Die Zeit 5/2001. 29 Art. »Zweierlei Moral«, in: Die Zeit 19/2001; Art. »Zeugung auf Probe«, in: Die Zeit 41/2002. 30 Art. »Ethische Menschenversuche«, in: Die Zeit 29/1995. 31 Interessanterweise erschien aber nach dem BGH-Urteil im Juli 2010 der Essay »Das Ende einer Farce« des Humangenetikers Eberhard Schwinger im Kulturteil des Spiegels 28/2010. 32 Art. »Im Zweifel für das Leben«, in: Die Zeit 4/2008. 33 Art. »Würde ohne Zweifel«, in: Die Zeit 6/2008.

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der Zeit austrugen. Naumann hatte Schröder und dessen Idee der Gründung eines Nationalen Ethikrates kritisiert.34 Im Vergleich zu den Geisteswissenschaftlern und Geisteswissenschaftlerinnen unterrepräsentiert sind jene Texte, die von Politikerinnen und Politikern verfasst wurden. Eine Ausnahme stellt der Beitrag von Andrea Fischer und Margot von Renesse35 dar. Auch Maria Böhmer (CDU) klinkt sich in die oben genannte Stammzelldebatte ein, indem sie in der Zeit den Text »Die Logik zerbricht« veröffentlicht, in dem sie gegen eine Änderung des Stammzellgesetzes argumentiert.36 Auch Naturwissenschaftler wie Hubert Markl37 und Jens Reich38, die beide eine gegenüber der Genforschung liberale Haltung vertreten, positionieren sich in ihren Beiträgen gegen Keimbahntherapien und Klonierung, zu der sich in der ersten Ausgabe des Jahres 2000 auch der Genetiker (und Autor) Lee Silver mit dem Text »Eingriffe in die Keimbahn«39 im Spiegel verhält. Ebenfalls die Anwendungsfolgen im Blick hat Carl Djerassi, der sich etwa mit den Konsequenzen der künstlichen Befruchtung für die Geschlechter beschäftigt.40 Neben eigenen Texten stellen Expertinnen- und Experten-Interviews einen immanenten Bestandteil des Materials dar. Auch hier kommen medizinische Fachleute, wie der Heidelberger Humangenetiker Claus Bertam41 oder der Humangenetiker Carl Djerassi42 ebenso zu Wort wie der Biophysiker Gregory

34 Er warf ihm einen Mangel an festen ethischen Standpunkten vor und forderte eine christlich motivierte »Heiligkeit des Lebens«. Schröder konterte in seinem Beitrag »Post vom Kanzler ( in: Die Zeit 31/2001): Naumanns Argumentation sei historisch und intellektuell problematisch, da er christlichen Wertekonservatismus mit einer linksalternativen Technologiekritik verbinde. Auf dieses »Duell« wurde dann auch im Spiegel Bezug genommen (Art. »Unglückliche Freunde«, in: Der Spiegel 31/2001). 35 Art. »Was kann, was darf der Mensch?«, in: Die Zeit 14/2001. 36 Art. »Die Logik zerbricht«, in: Die Zeit 16/2008. 37 Gemeinsam mit dem Soziologen Wolf Lepenies schrieb der Biologe Hubert Markl 1994 im Wechsel alle zwei Wochen für die Zeit. 38 Art. »Erotik in der Cyberwelt«, in: Der Spiegel 38/2000. 39 Art. »Eingriffe in die Keimbahn«, in: Der Spiegel 1/2000. 40 Art. »Der entmachtete Mann«, in: Die Zeit 27/1999; Art. »Küss die Hand, gnädiges Ei«, in: Der Spiegel 48/2000. 41 Art. »Ein eindeutiges Ja«, in: Die Zeit 1/2001. 42 Art. »Laborbabys werden mehr geliebt«, in Der Spiegel 2/2002.

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Stock43. Der Präsident der Bundesärztekammer Jörg-Dietrich Hoppe spricht im Spiegel über Leihmütter, Embryonenadoptionen und die Motive der »Babymacher«.44 Interviews mit dem amerikanischen Genetik-»Pionier« John D. Gearhart45 oder dem französischen Gynäkologen René Frydman46 in der Zeit veranschaulichen zudem den international orientierten Blick, da sie genutzt werden, um die (Forschungs-)Situation im Ausland und Deutschland zu kontrastieren. In diesem Zusammenhang kommt Ian Wilmut47 als »Klonvater« von Dolly ebenso Aufmerksamkeit zu, wie dem Humangenetiker Severino Antinori, der ein »Menschenrecht für ein Kind« proklamiert48 oder Mark Hughes49, der mittels PID ein Geschwisterkind erschuf, damit es als Spender dienen konnte. Auch Interviews mit Ethikern zählen zum Material. Gespräche mit Jürgen Habermas50, dem normativ Stellung beziehenden Soziologen Ulrich Beck51 stehen hierfür stellvertretend. Besonders der Umgang mit Peter Singer52, der nicht zuletzt mit seinem 1984 erschienen Buch »Praktische Ethik« eine heftige Kontroverse über den Lebensschutz entfacht hatte, macht deutlich, dass und wie Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler sich immer wieder (medial) in die Debatte einschalten, bzw. gewisse Diskursstränge erst von ihnen hervorgebracht werden. Politikerinnen wie Angela Merkel53; Herta Däubler-Gmelin54 stehen ebenso Rede und Antwort zu Fragen der Biomedizin, wie Wolfgang Schäuble, der u.a. das Argument der »Heiligkeit des Lebens«55 stark machte. Daneben finden sich Portraits am Diskurs Beteiligter, wie etwa das der Parlamentarierin Margot von Renesse56, des Chirurgen und Mitglieds des Nationa-

43 Art. »Der Geist aus der Flasche«, in: Der Spiegel 15/2000. 44 Art. »Das ist ein Riesengeschäft«, in: Der Spiegel 26/2001. 45 Art. »Rohstoff Mensch«, in: Die Zeit 43/2000. 46 Art. »Nah am britischem Vorbild«, in: Die Zeit 22/2001. 47 Art. »Embryos bleiben tabu«, in: Die Zeit 11/2001. 48 Art. »Menschenrecht auf Kinder«, in: Der Spiegel 6/2001. 49 Art. »Wunderbare Kräfte«, in: Die Zeit 39/2000. 50 Art. »Auf schiefer Ebene«, in: Die Zeit 5/2002. 51 Art. »Zwischen Lebensplanung und Zukunftsangst«, in: Die Zeit 33/2003. 52 Art. »Nicht alles Leben ist heilig«, in: Der Spiegel 48/2001. 53 Art. »Schockiert«, in: Die Zeit 49/2000. 54 Art. »Selektion ist nicht akzeptabel«, in: Die Zeit 31/2001. 55 Art. »Ein gewisses Maß an Tragik«, in: Die Zeit 21/2001. 56 Art. »Was kann, was darf der Mensch?«, in: Die Zeit 14/2001.

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len Ethikrats Eckhard Nagel57 oder das von Hans Schöler, der als Stammzellenforscher aufgrund der deutschen Gesetzeslage in die USA ging.58 Weiterhin wird Wolfgang Schulze porträtiert, der »unfruchtbaren Menschen zu eigenem Nachwuchs verhilft«.59 Die Zeit veröffentlichte zudem ein Gespräch mit der an Parkinson erkrankten Gisela Stein und dem von Geburt an körperbehinderten Christian Judith, die in Hinblick auf ihre eigene Situation Hoffnung und Bürde der Biomedizin in einem »ungewöhnlichen Streitgespräch«60 verhandeln. Indes ist dies das einzige Beispiel, in dem »Betroffene« in dieser Form zu Wort kommen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie aus dem Diskurs ausgeschlossen sind. Allgemein lässt sich sagen, dass sie entweder als Legitimationsgrund für eine Forschung angeführt werden (Was Leid ist, können nur die Betroffenen entscheiden) oder (seltener) Gegenstand von »Erlebnisberichten« und Reportagen werden, wie die Geschichte »Ich will nicht Gott spielen«61 exemplarisch zeigt, in der die Entscheidungen zweier Frauen nach einem positiven Befund gegeneinander gestellt wird. Ein weiterer Expertinnen-Status lässt sich durch Verweise auf »weibliche Standpunkte« in Fragen der Reproduktionsmedizin und der Gentechnik ausmachen.62 Dabei wird unterstellt, Frauen hätten, wenngleich durchaus divergent im Zugang, eine (sie verbindende) Haltung zur Anwendung der Technologien, die sie von ihren männlichen Kollegen unterscheidet. Dies bringt die Kritik Regine Kolleks am Nationalen Ethikrat zum Ausdruck, indem sie beanstandet, dass Frauen, »an deren Körper die Techniken ja in erster Linie ansetzen«63, in diesem Gremium unterrepräsentiert seien. Gleiches gelte für Behindertenverbände, um die es ja auch indirekt gehe. Eine solche Darstellung vermittelt eine von der Kategorie ›Wissen‹ unabhängige Zugangsberechtigung zum Expertin-/ExpertenDasein. Die Akteure werden aufgrund ihrer körperlichen Disposition zu Fachleuten. Ihr durch die Folgen der Medizin bedrohter Körper stellt den Schauplatz von

57 Art. »Von der Ruhe der Seele«, in: Die Zeit 22/2003. 58 Art. »Zukunft ist anderswo«, in: Die Zeit 20/2003. 59 Art. »Vater per Skalpell«, in: Die Zeit 46/2003. 60 Art. »Hättest Du mich abgetrieben?«, in: Die Zeit 7/2001. 61 Art. »Ich will nicht Gott spielen«, in: Der Spiegel 1/2003. 62 Eine sich artikulierende ablehnende Haltung erklärt sich aber nicht allein mit dem Verweis »Feminismus«. Andrea Fischers Verneinung einer Zulassungssausweitung ist nach dem Verständnis der Zeit vielmehr ein Ausdruck ihrer Position als »Anwältin des behinderten Lebens«. Art. »Schwanger auf Bewährung«, in: Die Zeit 21/2001. 63 Art. »Schwanger auf Bewährung«, in: Die Zeit 21/2001.

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Autonomie und Diskriminierung dar. Die Gruppe der Frauen schließt dabei auch jene ein, die selbst eine Schwangerschaft oder einen Kinderwunsch nicht erlebt haben. Das unterscheidet sie von der anderen Expertengruppe der ›Behinderten‹, deren physischer/psychischer Zustand primär ausschlaggebend ist für ihre Autorität. Wenngleich die Haltungen von Frauen und von Menschen mit Behinderung divergieren (können), wird zumindest eine durch körperliche Materialität begründete »andere« Wahrnehmung vorausgesetzt. Diese ist – wenn die Kategorie Geschlecht in den Medien als Argument angeführt wird – in aller Regel eine die Technik ablehnende Haltung. Barbara Duden deutet dabei in der Zeit eine der zwei Richtungen dieser Zurückweisung an: die »Entkörperlichung« der Frau durch den Einfluss einer objektivierenden Medizin.64 Auf der anderen Seite wird eine Bevormundung und Machtausübung gegenüber Frauen befürchtet. Eine »Instrumentalisierung«65 sieht die Zeit in der genetischen Überprüfung des Embryos, die dazu diene, einen solchen zu finden, der den »Vorstellungen der Eltern genügt«66. Damit knüpft sich eine Verbindung zur feministischen Kritik der 1980er Jahre, die beinahe durchgängig, wenn auch mit anderen Argumenten, die Reproduktionstechnologien ablehnte. Die beispielsweise von Bettina Bock von Wülfingen erkannte starke Veränderung der feministischen Auseinandersetzung, die sich besonders an der Diskussion um die Einführung der PID entwickelt67, dokumentiert das Material hinsichtlich einer selbst formulierten Kritik jedoch nicht.

(6) L E N OUVEL O BSERVATEUR

UND

L’E XPRESS

Für den Untersuchungszeitraum wurden für Le Nouvel Observateur 202, für L’Express 198 Beiträge erhoben.68

64 Art. »Frauen ohne gute Hoffnung«, in: Die Zeit 31/2001. 65 Art. »Ohne Frau kein Embryo«, in: Die Zeit 21/2001. 66 Ebd. 67 Sie beschreibt die Konkretisierung der feministischen Auseinandersetzung in Bezug auf technische, körperliche und soziale Folgen und Risiken, die gleichfalls im Kontext der Internationalisierung diskutiert werden und weitergehend Foucaults Gouvernementalität als Interpretationsfolie wählen. Bock von Wülfingen, Bettina, 2007. 68 Aus Gründen der Übersicht führe ich im Literaturverzeichnis nur diejenigen auf, die ich als Quelle verwende.

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In Le Nouvel Observateur erscheinen die ausgewählten Beiträge mehrheitlich in der Rubrik Notre Epoque gefolgt vom Dossier. Vergleichsweise selten sind Artikeln den Rubriken Culture und France zugeordnet. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Beiträgen aus L’Express, wo ebenfalls selten Beiträge in den letztgenannten Rubriken platziert werden. Die Mehrzahl der Artikel ist hier den Bereichen La Semaine Société oder La Semaine Decouvertes zugeordnet. Daneben wird insbesondere im Teil Debat oder Essai Meinungsaustausch betrieben. Die Anlässe, die eine Berichterstattung motivieren, unterscheiden sich dabei von denjenigen, die ausschlaggebend für die Artikel in Zeit und Spiegel sind. Das bedeutet nicht, dass es hier keine Überschneidungen gäbe, wie etwa die Auseinandersetzungen mit der Möglichkeit des Klonens69, aber auch die Einigungsbestrebungen innerhalb der Europäischen Union verdeutlichen. Auch hinsichtlich der Folgenabschätzungen finden sich Ähnlichkeiten.70 Offensichtlich besteht aber eine starke Beziehung zu tagesaktuellen Auseinandersetzungen. Besonders anhand von heiklen Debatten werden dabei regelmäßig pro/contraDiskussionen gegenübergestellt. Als etwa die bereits erwähnte Sekte der Raelianer im Jahr 2002 das erste Klonbaby ankündigte, beantworteten in Le Nouvel Observateur Befürworter und Gegner die Frage, ob »wir« das Klonen verbieten

69 Neben den bereits genannten: Art. »Les mystère de la nouvelle Eve«, in: LNO No. 1991 [2.-8.1.2003]; Art. »Menance pour la recherche? Haro sur le clone«, in: LNO No.1995 [30.1-5.2.2003]. In eine andere Richtung geht der Beitrag »Le clonage thérapeutique est éthique«, in: LNO No. 2171 [15.-21-6-2006], in dem Bernard Debré die Furcht vor dem Klonen relativiert, indem er unterscheidet zwischen »therapeutischem« und »reproduktivem« Klonen. 70 Der Gynäkologe René Frydman spricht über die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung. Art. »Nous luttons contre la fatalité des gènes«, in: L’Express No. 2705 [08.-14.05.2003]. Dieses Interview ist eingebettet in eine Serie anlässlich des 50jährigen Bestehens von L’Express. Auch anlässlich des 25. Geburtstags von Amandine, dem ersten französischen »Retorten-Baby« wird ein Interview mit Frydman in L’Express veröffentlicht, das sich mit den Folgen der Trennung zwischen Sexualität und Fortpflanzung beschäftigt. Art. »Aujourd’hui, on veut des bébés à tout prix«, in: L’Express No. 2903 [22.-28.02.2007]. Auch andere Möglichkeitsoptionen sind Bestandteil der ausgewählten Printmedien. So druckt LNO etwa ein Interview mit der Justizministerin Elisabeth Guigou über homosexuelle Elternschaft. Art. »Ne confondons pas les faits et le droit«, in: LNO No. 1859 [22.-28.6.2000].

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müssen (Devons-nous interdire le clonage?).71 Jedoch tauchen auch speziell auf Frankreich bezogene Themen auf. Diese sind (unter anderem) rechtlicher Natur. Das zeigt insbesondere das Bioethikgesetz, dessen Novellierung etwa ein Gespräch mit dem damaligen Gesundheitsminister Jean-François Mattei begründete.72 Debattiert wird in meinem Untersuchungszeitraum zudem, ob die Frist für einen Schwangerschaftsabbruch von zehn auf zwölf Wochen verlängert werden soll. Anhand eines solchen Beispiels zeigt sich, wie Expertinnen und Experten aufgerufen werden, den Entscheidungsnotstand einzuschätzen. So wird etwa der eigentliche Beitrag73 ergänzt durch die Stellungnahmen von fünf am Diskurs maßgeblich partizipierenden Experten, die alle auf die Frage antworten, ob die Frist verlängert werden sollte (Fait-il allonger le délai légal de l’IVG?). Neben Israël Nisand, dem Leiter einer Entbindungsstation, der regelmäßig in den Medien auftaucht, sind es Paul Cesborn (Gynäkologe) und Jean-François Mattei (Genetiker und Politiker). Erst dann folgen Janine Mossuz-Lavau (Wissenschaftlerin) und Joël Jansé-Marec (Gynäkologin). Auch Gerichtsprozesse, wie derjenige von Nicolas Perruche, der, vertreten durch seine Eltern, den Versuch unternahm, das Recht auf die eigene Nichtexistenz einzuklagen, finden ein mediales Echo. Anlässlich dieses juristischen Verfahrens veröffentliche L’Express »Le manifeste des 17«74, zu dessen prominenten Unterzeichnern (es handelt sich ausschließlich um Männer) der Gynäkologe

71 Art. »Les Materintés une politique de revonversion«, in: LNO No.1989 [19.25.12.2002]. Für ein solches Verbot argumentiert der Reproduktionsmediziner René Frydman, indem er fünf Gründe anführt. So bestehe seines Erachtens kein Grund (außer bei sterilen Paaren, für die es aber genügend andere Möglichkeiten gebe), sich solch eine Technik zueigen zu machen. Zudem sei mit keinem wissenschaftlichen Fortschritt zu rechnen. Anhand der Tierklone hätte man gesehen, dass Klone niemals vollständig identisch mit ihrem Original sind. Die Technik stelle vielmehr eine Gefahr dar, das hätten die Experimente an Tieren gezeigt; das Klonen würde unsere essentiellen Werte verletzten. Die Gegenposition übernimmt die Philosophin Louise L. Lambrichs, die sich für eine (sehr restriktive) Zulassung für das reproduktive Klonen einsetzt, weil sie das für verantwortlich und humanitär hält. 72 Art. »Pour une loi exemplaire«, in: L’Express No. 2690 [23.-29.01.2003]. 73 Art. »La nouvelle bateille de l’IVG«, in: L’Express No. 2569 [28.09.2000-04.10. 2000]. 74 Art. »Le manifeste des 17«, in: L’Express No. 2647 [03.-09.01.2002].

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Israël Nisard, Didier Sicard (Leiter des nationale Ethikkommitee), sowie der Wissenschaftler Pierre-André Taguieff zählen. Eine hervorzuhebende Form stellt das Streitgespräch dar, das in der Rubrik Les débats de l’Obs erscheint. Hier etwa erscheint »Le cardinal et le biologiste« – Philippe Barbarin und Axel Kahn, die über Euthanasie, das Gesetz am Lebensende, den Status von Embryonen und den Schwangerschaftsabbruch diskutieren.75 In Le Nouvel Observateur dürfen zudem auch Externe publizieren. So wird etwa ein Auszug aus dem neuen Buch von Jean-Claude Guillebau veröffentlicht unter dem Titel »Ist die Wissenschaft wahnsinnig geworden?« (La science estelle devenue folle).76

75 Art. »Le cardinal et le biologiste«, in: LNO No. 2264 [27.3-2.4.2008]. 76 Art. »La science est-elle devenue folle?«, in : LNO No. 1921 [30.8-3.9.2001].

7. Kapitel Ausblick – Verrechtlichung der Reproduktion

(1) E INE F RAGE

DER

O RDNUNG

Angesichts der im Zeitraum von 1995 bis 2010 erschienenen Beiträge über Reproduktionstechnologien ergibt sich vor dem Hintergrund der hier diskutierten medizinischen Methoden – von der In-Vitro-Fertilisation (IVF) oder der Intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) über die Pränataldiagnostik (PND) bis hin zur Präimplantationsdiagnostik (PID) und der denkbaren Klonierung – eine Ordnung des Diskurses nicht von selbst. Allgemein stehen medizinische Verfahren nicht im Vordergrund einer Analyse des Verhältnisses von Körper, Wissen und Macht. Auch ist die Durchsetzung neuer Technologien nicht allein auf labortechnische Entwicklungen zurückzuführen, sondern fußt auf einer komplexen Verbindung von medizinischem Wissen mit öffentlichen, parlamentarischen und kulturellen Strategien. Wenn Foucault schreibt, Diskurse eröffnen Möglichkeiten, »bereits existierende Themen wiederzubeleben, entgegengesetzte Strategien hervorzurufen, unvereinbaren Interessen einen Platz einzuräumen, verschiedene Parteien mit einem Spiel determinierter Begriffe zu spielen zu erlauben«1, dann trifft diese Einschätzung auch auf das zu diskutierende Material zu. Um diesen komplexen Beziehungen Rechnung zu tragen, reicht es nicht, die Beiträge nach medizinischen Methoden oder zeitlichen Chronologien zu ordnen. Stattdessen lässt sich in einem ersten Zugang zum Material das Recht als Bezugspunkt des in meinem Sinne bioethischen Diskurses um Schwangerschaft, Mutterschaft, Autonomie und

1

Foucault, Michel: Die Archälogie des Wissens, 1981:56.

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Würde ausmachen. Ich fasse den hier zugrunde gelegten Rechtsbegriff sehr weit und fächere ihn vom positiven Recht bis hin zu Normativität und Normalität auf. Rechtsfragen werden vorderhand medial als Technikfolgen beschrieben, wodurch es beinahe so scheint, als sei das Recht immer schon da gewesen und die Reproduktionstechnologie trete nun als das Neue in den Diskurs ein. Ohne Frage kommt es durch die Technologisierung auch zu einer rechtlichen Neubewertung des menschlichen Körpers. Das Recht stellt für die mediale Auseinandersetzung nicht nur deshalb eine zentrale Größe dar, weil die Gerichte auf Gesetzgebung angewiesen sind und damit auf Politik2, sondern vielmehr wird durch eine Weiterfassung des Rechtsbegriffs ein Zusammenhang hergestellt zwischen Diskurs und Normativität. Dieser Zusammenhang ist aber nicht ein moralischer, demzufolge eine Beziehung zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit hergestellt werden müsste, sondern ich gehe von einer diskursiven Beziehung aus, in der einzelne Diskursstränge aufeinander einwirken. Das meint auch nicht, dass etwas, weil es Bestandteil der Medien ist, zu gewissen (legislativen) Entscheidungen führt. Betrachten wir den öffentlichen Diskurs stattdessen vielmehr als die Möglichkeitsbedingung von Sagbarkeiten, dann deutet sich auf diese Weise die Relationalität zwischen bestimmten Konditionen des Sagens und deren Beziehung zu einem gesellschaftlichen, zu einem politischen Bewusstsein an. Unterschiedliche Rechtssysteme (nicht nur) in Bezug auf Reproduktionsmedizin, wie sie im Vergleich von Deutschland und Frankreich vorliegen, machen kulturelle Differenzen kenntlich. »Gerade auch in Europa, das generell auch immer durch den Horizont des Geltungsraumes des römischen Rechts identifiziert werden kann und das insofern eine nicht geringe Homogenität im Rechtsbegriff kennt, verlaufen die ›intrakulturellen‹ Grenzen entlang der Bruchstellen einer »sinnautonom und instrumentell (heteronom) angesetzten Rechtsidee – mit allen darin liegenden Implikationen.«3

(2) D REI S ZENARIEN Im folgenden werde ich drei Szenarien anhand des Materials skizzieren, deren verbindendes Moment das Recht ist und die (1) Gesetze im Konflikt, (2) das

2

Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:51.

3

Hoffmann, Thomas Sören: Kultur – Ethik – Recht, in: Normkultur vs. Nutzenkultur, 2006:51.

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Recht auf Schutz sowie (3) staatlichen Paternalismus, reproduktive Freiheit und das Recht auf ein gesundes Kind thematisieren. Diese drei Szenarien spielen auf unterschiedlichen Diskursebenen: Während das erste Szenario die interne Logik des Rechts entfaltet, firmiert das zweite Szenario auf der Ebene gesellschaftlicher Wertaushandlungen, wohingegen das dritte Szenario sich mit individuellen Handlungsmöglichkeiten auseinandersetzt. Dies meint, dass auch die Aushandlungen über (geltendes) Recht im Diskurs ein heterogenes Ensemble von Aussagen hervorbringt, die u.a. abhängig sind von der Weltsicht und der Profession der Beteiligten. Trotz mannigfaltiger Positionen ist der Diskurs gekennzeichnet durch wenige Argumente, die monolithischen Charakter besitzen. Als ein solches gilt die Frage der Legalität/Illegalität von Diagnosemöglichkeiten, deren Beantwortung davon abhängt, ab wann dem Embryo Schutz und/oder Würde zukommt. Daneben tritt mit vergleichbarer Wirkkraft das Argument, mit der Einführung der PID realisieren sich eugenische Bestrebungen. Schon der Charakter bzw. die Zielrichtung dieser Argumentation ist vom Würde-Argument in dem Sinne unterscheidbar, als dass dieses ein direktes Argument ist, da es unmittelbar auf den Status des Embryo abzielt, wohingegen mir letzteres als indirektes Argument gilt, weil es indirekt auf gesellschaftliche Strukturen und insbesondere die Vergangenheit verweist. Diese unterschiedlichen Diskursstränge verfolgen unterschiedliche diskursive (narrative) Strategien. Nichtsdestotrotz profilieren sie sich zur selben Zeit am selben Ort. Sie treten in Erscheinung als drei unterschiedliche Rechtsgeschichten, die sich z.T. in einer Konkurrenzsituation zueinander befinden. Sie markieren damit nicht nur die Bandbreite des Diskurses, sondern sie illustrieren bereits auf dieser Ebene den Aushandlungscharakter, der insbesondere in den heiklen Fragen der gesellschaftlichen Folgeerscheinungen kenntlich wird und der darüber hinaus als Indiz für die Schwierigkeit eines oder einer Einigung dient. 1. Szenario: Gesetze im Konflikt. Insbesondere im Zeitraum von 2000 bis 2003 wird anhand einer möglichen Zulassung der PID deren (Un-)Vereinbarkeit mit dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) diskutiert und diese in einen argumentativen Zusammenhang mit dem Paragrafen 218 StGB gebracht. Anhand dessen lässt sich beobachten, dass die Frage der Zulassung der PID vordergründig eine Frage der internen Logik des Rechts ist. Und das in einem doppelten Sinne: Zum einen stellt sich die Frage, ob die Methode im Zusammenhang mit dem ESchG als legal oder illegal einzuschätzen ist und zum zweiten, ob unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz des Rechts eine Analogie zwischen dem Embryonenschutzgesetz und dem Paragrafen 218 StGB zu rechtfertigen ist, um konfligierende Rechtsnormen (den Embryo in vivo vs. den Embryo in-vitro betreffend) zu be-

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heben. Die legislative Analogie bezieht sich auf den Umgang mit und den Schutz von Embryonen unter der Fragestellung, wann wer Zugriff auf den Embryo zu welchem Zweck haben soll. Dem Embryo in der Petrischale wird in dieser Debatte derjenige, der sich im Uterus befindet, gegenübergestellt. In beiden Fällen geht es um die »Verwerfung« von Embryonen, wobei sich der Bezug auf den invivo-Embryo in erster Linie auf solche Embryonen (bzw. Föten) bezieht, die »älter« als drei Monate sind. Damit verweist der Diskurs direkt auf die sogenannte Spätabtreibung. Im Gegensatz zum Abbruch wird die PND nicht isoliert zur Disposition gestellt; sie wird nicht eigener Gegenstand des Diskurses. Die Schablone einer scheinbaren Objektivierung durch den Verhandlungsgegenstand Recht verdeutlicht vielmehr, wie weitgehend die Interpretation von Gesetzen abhängig ist von sprachlich-grammatischen, historischen, genetischen, teleologischen und systematischen Auslegungen. 2. Szenario: Menschenwürde und Eugenik. Korrespondierend mit den Fragen der juristischen Zulässigkeit bestimmter Methoden wird das Recht auf Schutz in Bezug auf das werdende Leben unter der Kategorie »Menschenwürde« verhandelt. Für viele am Diskurs Partizipierende entsteht auf dieser Grundlage eine Verbindung zu den Artikeln 1 und 2 des Grundgesetzes (GG). Dabei bleibt strittig, wen das im Art. 2 formulierte »Jeder«, das sich auf den in Art. 1 als mit unantastbarer Würde versehenen Menschen bezieht, einschließt. Bereits den Embryo? Und wenn ja: Welchen Embryo? Gibt es einen Unterschied zwischen in-vivo- und invitro-Embryonen? Die Verbindung zu der Frage nach der Menschwerdung ist hierbei zentral und steht in einem Zusammenhang mit theologischen, moralischen und philosophischen Weltanschauungen, was auch die in den Medienbeiträgen zitierten Autoritäten dokumentieren. In der Aushandlung über den Schutz von Embryonen (über das Recht auf Schutz) findet eine Überschneidung von Vergangenheit und Zukunft statt. So argumentieren die, die dem Embryo als Rechtssubjekt ein Höchstmaß an Schutz zukommen lassen wollen, vor dem Zukunftsszenario der drohenden Gefahr einer sich ausbreitenden (aus der Vergangenheit bekannten) Eugenik. Dem entgegen steht die Ansicht, es sei Zeit für eine Neuorientierung im Sinne nationaler ökonomischer Interessen, die sich auch im Hinblick auf die Forschungspraxis im (europäischen) Ausland rechtfertige. Über narrative Strategien wie etwa der Anthropomorphisierung wird der Embryo nicht nur zum Menschen, sondern nun kann er zumindest potentiell auch zum Opfer werden. 3. Szenario: Staatlicher Paternalismus und Autonomie der Fortpflanzung. Technisch bietet die Reproduktionsmedizin durch die Möglichkeit der Parzellierung

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des Körpers Fortpflanzung auch Personenkreisen an, die vormals von dieser aus unterschiedlichen Gründen ausgeschlossen waren. Drei Gruppen gilt es hier zu differenzieren: Zum einen richtet sich das (diagnostische) Angebot an jene potentiellen Eltern, die aufgrund von Voruntersuchungen wissen, dass das genetische Material zur potentiellen Behinderung/Krankheit des Kindes führen kann. Diese Gruppe wird ergänzt durch die Gruppe der »Spätgebärenden«, die aufgrund ihres Alters ebenfalls medizinisch potentiell gefährdet sind.4 Beiden Fällen geht die Annahme voraus, dass diejenigen Frauen/Paare von ihrem »Risiko« wissen und sich diesem entgegenwirkend verhalten. Als dritte Gruppe tauchen innerhalb des Diskurses immer wieder homosexuelle Paare und Singles auf, die aufgrund von Verfahren wie der PID ihren Kinderwunsch ohne die Trennung von genetischer/biologischer und sozialer Mutter-/Vaterschaft realisieren könn(t)en. Der Zugang von homosexuellen Paaren zur Reproduktion taucht partiell seitens humangenetischer Vertreter als Legitimierungsgrund der Biomedizin (ein Recht für jeden) auf. Auf der anderen Seite steht die Autonomie einer Frau in Bezug auf eine Schwangerschaft explizit dann zur Diskussion, wenn über eine mögliche Beendigung derselben verhandelt wird. Durch die im Paragrafen 218 StGB formulierte »Letztverantwortung«, sowie durch das Verschwinden »embryopathischer« Kategorien zugunsten von »sozialen und psychischen« Kategorien sehen am Diskurs Beteiligte die Selbstbestimmungsrechte verletzt. Die Verbindung von Medizin und Recht findet besonderen Ausdruck in den von Eltern angestrengten Prozessen gegen Mediziner, welche pränataldiagnostisch eine Behinderung übersehen haben oder diese den Eltern nicht mitgeteilt und sich somit über ihre Aufklärungs- und Beratungspflicht hinweggesetzt haben. Sogenannte wrongful-life/wronful-birth-Prozesse erzeugen Medieninteresse unter der Fragestellung, ob diese Prozesse zur weitergehenden Normalisierung der PND beitragen. Die in den meisten Fällen nach einem positiven Befund durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche setzen mittlerweile voraus, dass sich betreffende Mediziner auch gegen haftungsrechtliche Ansprüche absichern müssen. Zugleich haben die Urteile auch symbolische Wirkung, indem sie signalisieren können, dass die Geburt eines behinderten Kindes gesellschaftlich nicht tragbar sei. Dies könnte sich auch dadurch verselbständigen, da die Prozesse in den Medien unter dem Begriff »Kind als Schaden« diskutiert wurden und wer5 den, wenngleich der BGH diesen Begriff für eine unzulässige Verkürzung hält.

4

Innerhalb der Medien wird das Problem »Alter« ausschließlich in Bezug auf Frauen

5

Riedel, Ulrike: Kind als Schaden, 2003:14.

diskutiert.

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In allen drei Szenarien spielt das Recht eine entscheidende Rolle; allerdings führt eine solche Ordnung des Materials sehr unterschiedliche Vorstellungen von Recht vor. Daher bedarf es einer vorläufigen Klärung des Verhältnisses von Reproduktion, Medizin und Recht. In einer ersten Schicht nämlich gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen Reproduktion und Gesetzen. Dieser Bezug reicht jedoch nicht aus, um das Verhältnis von Medizin und Recht in den Medien zu klären; zumal dort Recht oft in einem weiteren, in einem normativen Sinn verwendet wird, auch etwa im Sinne der für das positive Recht problematischen Kategorie des »Rechtsempfindens«. Auch deshalb gilt es, Überlegungen zur Beziehung zwischen Recht im weiten Sinne und Macht anzustellen, da durch die explizite und meist verdeckte Aushandlung über Recht Strategien der Macht sichtbar werden.

(3) R EPRODUKTION

UND

R ECHTSANSPRÜCHE

Dem Wunsch nach einem Kind mit rechtlichen Mitteln – etwa durch die Frage, ob ein vom (deutschen) Grundgesetz geschütztes Recht auf Fortpflanzung bestehe – Nachdruck zu verleihen, mutet befremdlich an. Doch dem autonomen »Fortpflanzungsbürger« steht der rechtliche Regelungsbedarf des Staates gegenüber. Sowohl anhand des Materials als auch anhand entsprechender Gesetzestexte zeigt sich die Differenz von Recht und Reproduktion, die sich in Unmengen von Paragrafen niederschlägt und deren Rezeption in den Medien, die sich auf einige wenige Paragrafen beschränkt. Diese sind in erster Linie der Paragraf 218 StGB, das Grundgesetz (GG) und das Embryonenschutzgesetz (ESchG). Inwiefern hier nicht nur das geschriebene Wort, sondern insbesondere das Reden über dieses eine Rolle spielt, das verdeutlicht die Beziehung zwischen ESchG und PID, da sich das lange währende Verbot letzterer durch das ESchG begründete, ohne dass das Gesetz dies explizit macht. Lange Zeit galt das Rechtsverständnis, das ESchG schließe die PID aus. Dies aber wurde durch die Praxis einiger Mediziner praktisch, in Folge auch rechtlich und 2011 schließlich politisch hinterfragt. Unterscheidet man zwischen juristischen und nicht-juristischen Formen des Rechts, ergibt sich ein differenziertes Bild: Auf der einen Seite wird die Versachlichung des Diskurses ablesbar, auf der anderen Seite zeichnet sich die Fortschreibung der Emotionalisierung des Diskurses ab, weil normative Ansprüche wie das »Recht auf ein leibliches Kind« im Kleid der objektiven versachlichenden Kategorie des Rechts auftreten und so auf das juristische Recht zurückwirken, was etwa im Fall von wrongful-life- oder wrongful-birth-Prozessen zu einer

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Überschneidung von juristischem Recht und normativen Rechtsansprüchen führt. In diesem Sinne wird Recht als kontrafaktischer Erwartungszusammenhang verstanden, »der durch die Verwendung von Symbolen tradiert und codiert wird, in normativen Strukturen stabilisiert wird, durch die Organisation eines Sanktionsapparates Nachachtung einfordert und in Ritualen, Verfahren also, die Normgenerierung und Normanwendung bekräftigen, da sie die Macht des Rechts begründen.«6 Die Annahme, die Kategorie des Rechts sei ein fester Bestandteil des medialen Diskurses, rechtfertigt es jedoch nicht, von einem Rechtsdiskurs im Hinblick auf diskursive und nicht-diskursive Praktiken in einem streng juristischen Sinne in den Medien zu sprechen. Denn wenngleich die im Material expliziten Referenzen auf das Recht es in erster Linie einem nicht-diskursiven Diskurs-Außen (Paragrafen, Gerichtsurteile) zuweisen, können doch beispielsweise Anspruchshaltungen vom Material ausgehend als implizites Recht verstanden werden. In diesem Sinne stellt das Recht eines der Hauptmotive des Diskurses dar, wenngleich es an zahlreichen Stellen unsichtbar bleibt. Die diskursive Praxis ergibt sich nicht aus (rein) institutionalisierten sozialen Praktiken, die als nicht definierte diskursexterne Faktoren.7

(4) V OM G ESETZ

ZUM

R ECHT

Dass Fortpflanzung mit (juristischem) Recht in Beziehung steht, dokumentieren zivilrechtliche Regelungen ebenso wie die Verankerung von Begriffen wie Familie (Art. 6 Abs. 1,2. Alt. GG); Eltern (Art. 6 Abs. 2 GG), Mutter (Art. 6 Abs. 4 GG) und Ehe (Art. 6 Abs. 1,1. Alt GG) im Grundgesetz. Weiterhin werden an dieser Stelle Rechtssubjekten Persönlichkeitsrechte (allgemeine Handlungsfreiheit; Art 2 Abs. 1 GG) und das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) garantiert. Schutz und Freiheit, aber auch Strafe sind die Bezugsgrößen, die die Reproduktion betreffen und die sich auf unterschiedliche Rechtssubjekte beziehen. Die Spannbreite dessen, was gesetzlich geregelt ist, lässt sich zwischen dem Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung (Art. 2 Abs. 1 GG I.V, 1 GG) und dem prinzipiellen Verbot einer gespaltenen Mutterschaft (ESchG §1 Abs. 1 Nr. 1; Nr. 2) ermessen. Eigene spezielle Normen, die das Rechtsverhältnis zwischen Arzt

6

Gephart, Werner: Recht als Kultur, 2006:4.

7

Schauer, Christian: Aufforderung zum Spiel. Foucault und das Recht, 2006:93.

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und Patientin oder die Arzthaftung regeln, gibt es in Deutschland jedoch nicht. Es gelten hier die allgemeinen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches zum Vertrags- und Deliktsrecht.8 Dies spielt für die von Eltern angestrebten Prozesse eine entscheidende Rolle. Insbesondere der Paragraf 218 StGB, das Embryonenschutzgesetz und das Grundgesetz, auf die innerhalb des Diskurses kontinuierlich Bezug genommen wird, machen deutlich, dass sich Reproduktion und Recht auch medial auf eine sehr sichtbare Weise verschränken. Denn hier gehen die unterschiedlichen Diskurse der Legislative, der Justiz und der Medizin auf, welche sich innerhalb einer öffentlichen Aushandlung über Reproduktion gegenseitig bedingen und legitimieren, weil sie sich im weitesten Sinne, wie ich im Kapitel »Auf dem Weg nach Europa?« ausgeführt habe, auf die Kategorie ›menschliches Leben‹ beziehen. Ohne die medizinische Diagnosemöglichkeit stünde die Spätabtreibung juristisch nicht zur Disposition, die wiederum rechtlich auf dem Paragrafen 218 StGB fußt. Erstmals wurden nach jahrelangen Debatten am 24. April 2009 rechtliche Rahmenbedingungen für genetische Untersuchungen am Menschen ratifiziert. Das Gendiagnostikgesetz verbietet insbesondere vorgeburtliche genetische Untersuchungen auf Krankheiten, die erst im Erwachsenenalter auftreten können, und beschränkt diese Untersuchungen auf medizinische Zwecke, das heißt auf die Feststellung genetischer Eigenschaften, die die Gesundheit des Fötus oder Embryos vor oder nach der Geburt beeinträchtigen können. Sowohl die pränatale Diagnostik als auch die Präimplantationsdiagnostik etwa zur Auswahl von Geschlecht oder Haarfarbe anzuwenden, ist untersagt. Auf diese Weise entspinnen sich Beziehungen zwischen unterschiedlichen Diskursen und Disziplinen. Durch eine solche Überschneidung entstehen allerdings auch Leerstellen. Diese führen dazu, dass beispielsweise spezielle medizinische Untersuchungen medial nicht (mehr) thematisiert werden, bzw. nur dann einen Aufmerksamkeitswert erzielen, wenn sie im Kontext neuer »Bedrohungsszenarien« der Legitimierung bzw. Verwerfung von Diagnosemöglichkeiten dienen. Das Recht bietet sich insofern als strukturelles Merkmal für eine Analyse an, als nachvollzogen werden kann, wie das Sprechen über Recht das NichtSprechen z.B. über Medizin hervorbringt. Hier wird zum einen der gesellschaftliche Umgang mit den Technologien transparent und zum anderen zeigt sich, wie Strategien (etwa diejenigen der Natürlichkeit) innerhalb der Legislative und von der Öffentlichkeit zurück auf die Legislative wirken.

8

Riedel, Ulrike: Ein Kind als Schaden, 2003:23.

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Schon durch die Bindung der Gerichte an »Gesetz und Recht« bezieht sich das Recht in erster Linie auf die Rechtsprechung.9 Statt einer durchgehenden homogenen Bestimmung dessen, was Recht ist, lässt sich anhand des medialen Diskurses ein heterogenes Verständnis von Recht im Sprachbewusstsein nachvollziehen. Indem nämlich auf ein Recht verwiesen wird, manifestiert sich ein Anspruch an das Recht bzw. an die Legislative, der – auch dafür bietet sich das Material an – anderen Forderungen (etwa ökonomischer Natur) gegenübergestellt werden kann, um die Wirkungsmächtigkeit mancher Argumente beurteilen zu können. Trotz des komplexen juristischen Inventars, das die Fortpflanzung betrifft, bedeutet das für das Recht, dass es hier nicht ausschließlich in einem juristischen Kontext verstanden wird. So kennzeichnet die Aussage, eine Gruppe oder einer Person habe Rechte auf etwas, das Recht als Erheben eines normativen Anspruchs auf Regelungsbedarf. Adressat ist dann etwa die Legislative, die unterschiedlichen normativen Rechtsansprüchen- und erwartungen ausgesetzt ist. Zur Logik eines solchen Anspruchs gehört es, im Falle einer Verletzung des Anspruchs gesetzgebende oder moralische Hilfe zu erwarten. In diesem Sinne wird innerhalb des medialen Diskurses beispielsweise die Erfüllung eines Kinderwunsches bei (heterosexuellen) Paaren mit einer genetischen Disposition oftmals als berechtigter Anspruch diskutiert, der (durch die Möglichkeiten der Medizin) moralisch vertretbar und demnach auch realisierbar sein sollte. Vor diesem Hintergrund ändert sich durch die Gewohnheit auch die »Risikodramaturgie«, so dass sich gegebenenfalls subjektive Wünsche, gesellschaftliche Legitimierungsstrategien und juristisches Recht gegenüberstehen. In diesen Rechtsansprüchen drükken sich konfligierende Interessen aus, die an geltendes Recht herangetragen werden und eine Änderung der bestehenden Verhältnisse verlangen. Zu einem legitimen Rechtsanspruch gehören auf der anderen Seite Rechtspflichten, wenn beispielsweise der Staat für den Schutz von Personen eintritt (um deren Grundrechte zu wahren), was jedoch im Bezug auf den Embryo die Frage anschließt, ab wann ein menschliches Wesen eine rechtlich zu schützende Person ist. Dabei ist auch die Frage, auf wen sich das Recht richtet, eingeschlossen bzw. die Überlegung, ob sich geltendes Recht gegen eine Person richtet. Von Belang ist dies, wenn es zu Interessenskollisionen bzw. Konkurrenzen unter »Personen« kommt, wie sie im Paragrafen 218 StGB zwischen schwangerer Frau und Fötus zumindest für diejenigen formuliert sind, die dem Fötus personale Rechte zuschreiben. Korrespondierend mit der sogenannten »reproduktiven

9

Braun, Johann: Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006:360.

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Freiheit«, auf die ich insbesondere im dritten Szenario zu sprechen komme, ist diesem Aspekt anhand des Materials ein zentraler Stellenwert einzuräumen. Gesetz und normative Rechtsansprüche bleiben also aufeinander bezogen. Sie sind auf der Diskursoberfläche oft konkurrierende Instanzen gesellschaftlicher Aushandlungen, auf einer tieferen Ebene werden sie als Machtstrategien beschreibbar. Wenn juristisches Recht und normative Ansprüche innerhalb des Diskurses aufeinander bezogen sind und normative Ansprüche sich in nicht-diskursiven Praktiken ebenso ausdrücken wie in diskursiven Praktiken, dann besteht eine Möglichkeit darin, diesen Bezug unter Rekurs auf das Gewohnheitsrecht zu rekonstruieren. Dem folgend stünde einem durch den Staat geschaffenen legislativen positiven Recht so etwas wie ein ungeschriebener natürlicher Anspruch gegenüber, welcher sich aus geteilter menschlicher Überzeugung und geteilter Praxis ergibt. Grundlage für ein solches Gewohnheitsrecht ist also das gemeinsame Bewusstsein einer sich geschichtlich entwickelnden Gemeinschaft und der Bezug auf eine rechtsbildene Kraft eines gemeinsamen Rechtsbewusstseins.10 Im Streitfall kann dieses Rechtsbewusstsein nicht als ein inneres Faktum begriffen, sondern muss durch den Nachweis der praktizierten Gewohnheit bewiesen werden. Für den medialen Diskurs um Reproduktion ist die Kategorie des Gewohnheitsrechtes also nicht als juristisch enggeführtes Instrument im geltenden Recht zu verstehen, vielmehr fließt sie subkutan in Forderungen und Anspruchshaltungen ein, die an die Medizin und/oder den Staat gestellt werden. Wie jedoch die ausführliche Diskussion des ersten Szenarios zeigen wird, dokumentiert sich anhand der Gesetzgebung zur Abbruchpraxis ein gesellschaftlicher moralischer Impetus immer dann, wenn ein großes »Wir« stellvertretend für die Gesellschaft Praktiken für inhuman erklärt. Die Frage, wie diese mit dem Recht verschränkten Gewohnheiten und Überzeugungen entstehen, greift auf zweierlei Ressourcen zurück: Zum einen auf medizinische Kategorien, indem auf (vermeintlich) empirisch überprüfbare Werte rekurriert wird, zum anderen wirken hier kulturelle Kontexte. Sowohl die kulturellen Hintergrundüberzeugungen als auch die medizinisch produzierten Risiken und Normalisierungsgrößen zwingen dabei die Subjekte zur »Selbstadjustierung«, und dies kann sich in der Forderung ausdrücken, der Staat möge bestimmte Gesetze ermöglichen oder unterbinden. Eine weitere Möglichkeit, den Rechtsanspruch diskursiv zu fassen, besteht darin, ihn nicht aus Gewohnheiten, sondern aus der Natur des Menschen abzulei-

10 Braun, Johann: Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006:363.

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ten. Die mediale Verschränkung von Recht und Medizin lässt sich daher auf einer tieferen Schicht analysieren als der des offensichtlichen Bezugs zum positiven Recht. Dies geschieht, wenn mit der Opposition von Natürlichkeit und Künstlichkeit operiert wird. So hängt beispielsweise die Stoßrichtung der Argumentation für oder wider PID davon ab, was wir unter menschlich oder natürlich verstehen.11 Menschen sind einerseits Teil der Natur, andererseits deren Gestalter. Dies betrifft Eingriffe in die menschliche Fortpflanzung auf besondere Weise und dokumentiert die Multifunktionalität der Begriffe. Explizit wird diese Dichotomie im Umgang mit Embryonen angewandt, indem (auch rechtlich) zwischen dem Embryo in vivo (natürlich) und dem in vitro (künstlich) unterschieden wird. Die Naturwissenschaften erwecken in ihren medialen Äußerungen dabei den Anschein, einen wertfreien Naturbegriff zu verwenden. Christine Hauskeller weist allerdings zu Recht darauf hin, dass, solange wir davon ausgehen, dass die wissenschaftliche Sprache neutral sei, eine (ethische) Auseinandersetzung nur hinterherhinken kann. Sie argumentiert, dass es die öffentlichen Bilder von Embryonen/Föten sind, die die moralische Aufladung verantworten.12 Dies gilt für meine Untersuchung insbesondere für die Sprachbilder. In Bezug auf den Embryo erübrigt sich dabei ein wertfreier Naturbegriff schon durch die Definition von pluri- und totipotenten Zellen13, die zwar terminologischer Bestandteil des Diskurses ist, jedoch trotz der unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeit im Sinne einer Definition verwendet wird.14 Es erübrigt sich aber vor allem dann,

11 Taguieff, Pière-André: La bioéthique ou le juste milieu, 2007:24. 12 Hauskeller, Christine: Sprache und Diskursstruktur, 2002:103. 13 Diskutiert wird im Kontext der PID das Konzept von Toti- und Pluripotenz. Unter ersterem versteht man das Vermögen der betreffenden Entität, sich miotisch zu teilen und sich letztlich zu einem vollständigen, geborenen, lebenden Menschen zu entwikkeln. Die Pluripotenz schließt die Entwicklung zu einem vollständigen Menschen aus. Bezeichnet wird allein das Vermögen von Blastomeren, sich zu beliebigen Gewebezellen zu entwickeln. Die Entscheidung, ab welchem Stadium eine Pluri- bzw. Totipotenz vorliegt, ist unter Forschern umstritten. Hierzu: Schmidt, Harald: Präimplantationsdiagnostik. Jenseits des Rubikons?, 2003:30. 14 Christine Hauskeller verweist darauf, dass 1999/2000 die Forschung mit pluripotenten Stammzellen als ethisch und juristisch unbedenklich galt, wohingegen die Verwendung von totipotenten Stammzellen verboten war. Heute wird ihres Erachtens die Verwendung so nicht mehr genutzt. Stattdessen würde mit der binären Unterschei-

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wenn Natur und Rechtsanspruch ineinander verschränkt auftreten. Das Material selbst artikuliert diese Verbindung. Am deutlichsten äußert sich der Anschluss an ein nicht juridisch verstandenes Recht, dessen Basis die menschliche Natur darstellt, bezüglich des Kinderwunsches. Wenn der Humangenetiker Severino Antinori ein »Menschenrecht auf ein eigenes Kind«15 proklamiert, schließt eine solche Forderung die Annahme ein, Reproduktion sei ein Naturrecht des Menschen. Ein Naturrecht, nach dem der Mensch mit einer bestimmten Natur ausgestattet ist und aufgrund dessen das positive Recht auch so beschaffen sein sollte, dass es dieser Natur entspricht.16 Jedoch korrespondiert ein solches Naturrecht seinerseits mit dem jeweiligen Welt- und Menschenbild seiner Zeit, sodass sich mit dem Verständnis von Natur auch das Naturrecht ändert. Das wird augenscheinlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in der christlichen Philosophie Gott die ewige Natur war. Obgleich Teil der Natur, kommt dem Menschen hier als Gottes Ebenbild eine Sonderstellung zu. Das Naturrecht (auf Selbsterhaltung, Reproduktion) lässt sich aus dem göttlichen Gesetz, das dem Menschen durch die Heilige Schrift offenbart ist, ableiten. In vielen naturrechtlichen Argumentationszusammenhängen war die zugrunde gelegte »Natur des Menschen« letztlich dadurch bestimmt, dass der Mensch als Geschöpf Gottes gedacht wurde, das von Gott mit einer bestimmten Aufgabe bedacht worden war. Der »Natur« des Menschen hatte es folglich entsprochen, diesen göttlichen Auftrag zu erfüllen. Aufgrund dessen war es nicht möglich, die Vorstellung eines biblischen Gottes aus der Wissenschaft zu eliminieren.17 In der Neuzeit tritt an die Stelle Gottes die Vernunft als Quelle des Wissens. Das Recht gilt, weil es die Bedingungen der Gesellschaft und der menschlichen Natur so erfordern, womit aus dem empirischen Sein ein normatives Sollen wird. Für Robert Spaemann ist der anhaltende Konflikt um das »von Natur Rechte« ein Argument für das Naturrecht, denn, so argumentiert er, gäbe es kein von Natur Rechtes, könne man über Fragen der Gerechtigkeit gar nicht sinnvoll streiten. Das Naturrecht zerfalle in zwei Momente: einerseits in ein Freiheitsrecht als Gesamtheit der apriorischen Beziehungen gegenseitiger Anerkennung und ge-

dung zwischen embryonalen und adulten Stammzellen operiert. Dies.: Sprache und Diskursstruktur, 2002:110. 15 Art. »Babys auf Rezept«, in: Der Spiegel 4/2002. 16 Braun, Johann: Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006:17. 17 Braun, Johann: Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006:18. Vgl. Tine Stein: Himmlische Quellen und irdisches Recht, 2008.

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genseitiger Rechtfertigung handelnder Wesen, andererseits in Bedingungen des Handelns, die aller Konsensbildung vorausliegen und nur um den Preis der Selbstzerstörung verletzt werden können. Dahinter steht die Aufforderung, mit der Anerkennung des Rechtes der Natur eine neue Dimension des Rechtes zu entdecken. Damit wird der Mensch als Glied einer Biosphäre verortet, ein partnerschaftliches Verhältnis zur Natur sucht, weil nur so langfristig die Grundbedingungen menschlicher Handlungsfreiheit und die Basis für eine menschenwürdige Existenz zu sichern sind. In der Zeit argumentiert Spaemann, der Anfang jedes Menschen liege im Unvordenklichen. Daher sei es zu jedem Zeitpunkt geboten, das, was vom Menschen gezeugt wurde und sich autonom auf eine erwachsene Menschengestalt hin entwickelt, als »jemand« zu betrachten, der nicht als »etwas«, zum Beispiel als Organersatzteillager zugunsten anderer, und seien sie auch noch so leidend, ausgeschlachtet werden darf.18 Was Spaemann hier zur Begrenzung des medizintechnologischen Eingriffs in die natürliche Fortpflanzung mobilisiert, scheint zugleich bei Antinori durch die biomedizinische Entwertung der Natur die Legitimationsbasis für die Fortpflanzungstechnologie zu sein.

(5) R ECHT

UND

M ACHT

Foucault hat in seinen historischen Untersuchungen zunächst einen juridischen, an die absolute Souveränität eines Machthabers gebundenen Machtbegriff entfaltet. In der Ordnung des Diskurses löst er sich jedoch von diesem »traditionellen« Begriff als »seinem Wesen nach rechtlicher Mechanismus, als das, was das Gesetz sagt, als das, was verbietet, als das, was nein sagt«19. Ein solcher am Verbot und an der souveränen Durchsetzung per Gesetz orientierter Machtbegriff verdeckt nämlich auch dann die komplexen strategischen Verhältnisse in einer Gesellschaft, wenn diese sich als Volkssouveränität definiert. An die Stelle des juridischen tritt ein strategischer Machtbegriff. Zwei Machteffekte lassen sich allgemein gesprochen in der Überschneidung von Recht und Reproduktion in den Medien identifizieren: Zum einen sind in den Diskurs Normalitätsstrategien und zum anderen eine (Re-)Codierung von geschlechtlichen Kategorien eingewoben. Anhand von »Klärungsversuchen«, ob das Verfahren nun zulässig sein sollte, wird gleichzeitig implizit mitverhandelt,

18 Art. »Gezeugt, nicht gemacht«, in: Die Zeit 4/2001. 19 Foucault, Michel: Dits et Ecrits, Bd. III, 2003:299f.

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was denn etabliert und in einem allgemeinen Sinne ›normal‹ ist. Eine diskursive (Re-)Codierung geschlechtlicher Kategorien strukturiert zudem explizit wie implizit das Wissen. Entgegen der Feststellung, von naturwissenschaftlichmedizinischer Seite werde »der Geschlechterkörper bzw. Körperlichkeit als Begründung für eine erneute Festschreibung der ursprünglichen Natürlichkeit sozialer und gesamtgesellschaftlicher Phänomene herangezogen«20, lässt sich anhand der Auseinandersetzung um die Rechtsunsicherheit verdeutlichen, dass auf der Oberfläche dieser geschlechtliche Körper gar nicht erscheint. Nicht der Körper ist Ausgangspunkt der Rechtfertigung, sondern vielmehr die Kategorie der Natürlichkeit. Folgt man aber der implizit vollzogenen Gleichsetzung zwischen Natur und Körper, und der Annahme, dass diese Natur durch Technologien zu überwinden sei (falls sie sich als Bedrohung erweise), dann ist Natur, so scheint es, eine vordiskursive Entität, die aber durch ihren bedrohlichen Charakter zum Wohle der Betroffenen überwunden werden kann und muss. Sex/Körper/Natur sind innerhalb des Beispiels assoziiert mit »Risiko«, dem (auch gesetzlich) die psychische Disposition von Frauen entgegensteht. Diese werden zwar zu Expertinnen gemacht, indem ihnen beispielsweise die Letztverantwortung in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs zusteht, jedoch gilt dieses Expertentum nicht für ihren Körper im Allgemeinen, sondern ausschließlich für ihre Psyche. Leid und die Frage der Zumutbarkeit gewinnen somit einen ebenso hohen Stellenwert wie mütterliche Fürsorge und Sorgfaltspflicht. Auf diese Weise rekurriert der mediale Diskurs auf die heuristische Trennung von sex und gender. Anhand der Tatsache, wie Materialität des Körpers erzeugt wird und welchen Körpern Gewicht beigemessen wird, ergibt sich eine Übereinstimmung mit einem Naturbegriff, der kulturell entworfen wird und als Natur erscheint. Die Frage muss also lauten, wie es gelingt, auf Grundlage des Rechts den Eindruck zu erwecken, es handle sich beim Verhandlungsgegenstand Natur/Körper um eine biologische Voraussetzung. Durch unterschiedliche Kontexte, die in den Szenarien aufgegriffen werden, zeigt sich Geschlecht als fluktuierende, veränderbare Variable und macht damit deren Konstruktionsmodi sichtbar. Auf diese Weise zeigen sich (politische) Kämpfe als Schauplatz im Verhältnis von biologischen und sozialen Verhältnissen.

20 Schmitz, Sigrid; Wolfrum, Leone: Sex – Gender, Natur – Kultur. Chancen und Grenzen des interdisziplinären Dialogs zur Dekonstruktion von Dichotomien, in Konnerts, Ursula; Haker, Hille, Mieth, Dietmar (Hg.): Ethik – Geschlecht – Wissenschaft. Der »ethical turn« als Herausforderung für die interdisziplinären Geschlechterstudien. 2006:109.

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(6) D AS R ECHT

ALS

D ISPOSITIV

Ganz offensichtlich haben wir es im Kontext der Technologisierung von Fortpflanzung mit unterschiedlichen Ebenen des Diskursiven und Nicht-Diskursiven zu tun: Eine im weitesten Sinne administrative (regulatorische) Ebene steckt im stetigen Aushandlungsprozess den Rahmen (durch Beschlüsse, durch Gesetze) dessen ab, was möglich sein soll. Auf einer anderen Ebene stehen genau diese Dinge dann – diskursiv – zur Disposition und kämpfen um Deutungshoheit. Exemplarisch zeigt sich anhand der Medien dann etwa, was zu einer bestimmten Zeit sagbar ist. Auf einer dritten Ebene ist die Lebenswirklichkeit von Individuen betroffen, etwa im Kontext dessen, was als machbar erscheint in Bezug auf die eigene Reproduktionsentscheidung, aber auch hinsichtlich der Reproduktionsentscheidungen anderer. Genau diese Spannbreite kennzeichnet die Gesamtheit der Institutionen, Subjektivierungsprozesse und Regeln, in denen sich Machtverhältnisse konkretisieren. Um diesen Umstand theoretisch und methodisch zu fassen, nutze ich Foucaults Begriff des Dispositvs, mit dem er ein Konzept zur Beschreibung von Macht vorgelegt hat.21 Im Interview mit Alain Grosrichard bestimmt Foucault das Dispositiv erstens als »heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architektonische Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, umfasst, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes. Das Dispositiv selber ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.«22 Zum zweiten diene das Dispositiv dazu, die »Natur der Verbindungen« deutlich zu machen, die sich zwischen den heterogenen Elementen herstellt. Zwischen diesen besteht ein »Spiel von Positionswechseln und

21 In diesem spielen, das haben u.a. Gilles Deleuze und auch Giorgio Agamben diskutiert, Subjektivierungsprozesse eine entscheidende Rolle. Agamben etwa schreibt, dass »Dispositive immer einen Subjektivierungsprozeß ein[schließen, J.D.], da sie ihr Subjekt selbst hervorbringen müssen.« Agamben, Giogio: Was ist ein Dispositiv? 2008:24. Siehe auch: Deleuze, Gilles: Was ist ein Dispositiv, in: Ewald, François; Waldenfeld, Bernhard (Hg.): Spiele der Wahrheit, 1991:157. Aus Gründen, die ich bereits in der Einleitung in Bezug auf den Begriff der Erfahrung zur Disposition gestellt habe, vernachlässige ich auf der empirisch-analytischen Ebene die Selbstkonstitution. Sie aber dennoch als Produkt von Aushandlungen der Normen zu sehen, rechtfertigt, dem Dispositivbegriff dennoch Bedeutung zuzuschreiben. 22 Foucault, Michel: Dispositive der Macht, 1978:120.

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Funktionsveränderungen, die ihrerseits wiederum sehr unterschiedlich sein können.«23 Im Gespräch mit Jacques-Alain Miller ergänzt Foucault drittens, es handle sich beim Dispositiv um ein Gebilde, das die Funktion hat, auf einen aktuellen Notstand zu antworten.24 Das Dispositiv ist damit ein gesellschaftliches Beziehungsgeflecht eines einzigen Machttyps. Zwischen Rechtsregeln und Wahrheitswirkungen produziert das Dispositiv dabei selber den Gegenstand, auf den es sich bezieht und dessen Wahrheit es zu entdecken vorgibt. Es ist, da es aus einer Verschränkung von Macht- mit Wissensverhältnissen hervorgeht, immer in diese eingeschrieben. Um das zu behaupten, bedarf es nicht mehr als der schlichten Beobachtung einer Korrelationsbeziehung: Wenn rechtliche Regelungen im Kontext der Reproduktionstechnologien anstehen oder besser: sich ereignen, dann ereignen sich auch diskursive Äußerungen in den Medien. Als Ausgangshypothese reicht diese Korrelation bereits aus, um von einem Primat des Diskurs-Dispositiv-Komplexes gegenüber der Eigenlogik etwa eines möglichen Mediendispositivs auszugehen und diesen Komplex dann in seinen vielfältigen Wechselbeziehungen zu untersuchen. Sobald ich aber über das Feststellen der korrelativen Beziehungen zwischen Diskurs und Dispositiv hinausgehe und unterstelle, dass Medien auch öffentliche und rechtliche Aushandlungsprozesse in einem bestimmten Sinne repräsentieren, bin ich konfrontiert mit der radikalen These der Eigenlogik der Medien von Jean Baudrillard. Für ihn sind Medien Dispositive die »nicht mehr einer repräsentierten, sondern einer simulativen Dimension angehören. Sie zielen nicht mehr auf einen Referenten, sondern auf ein Modell.«25 Das, was ich Dispositiv des Rechts nenne, wird hier gewissermaßen von der Eigenlogik der Medien vollständig aufgesogen. Die mediale Simulation selbst wird zum einzigen, umfassenden Dispositiv. Diskurs und Dispositiv lassen sich dann weder trennen noch unterscheiden.26 Aus der Unterstellung – die ich teile –, dass es kein Außen des Diskurses gibt, das in ihm nur repräsentiert würde, schließt Baudrillard, dass es nur die si-

23 Ebd. 24 Foucault, Michel: Dits et Ecrits, Bd III, 2003:391ff. 25 Baudriallard, Jean: Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, 1978:40. 26 Dass war ja auch einer von Baudriallards Vorwürfen an Foucault: Warum der immer noch mit dem Dispositiv der Sexualität hantiere und es so im Feld des Realen und nicht der Simulation verorte. Foucault habe es versäumt, das Verschwinden der Sexualität im Mediensimulacron auszumachen.

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mulative Dimension der Medien gibt. Abgesehen von der Tatsache, dass wenn alles Simulation wäre, wir landläufig nicht zwischen Simulation und NichtSimulation unterscheiden könnten und der Begriff der Simulation dadurch leer oder zumindest unbrauchbar würde, ist das Hauptproblem dieser These der zu starke Begriff der Repräsentation. Dass die ›Wirklichkeit‹ des Dispositivs Recht im Diskurs repräsentiert wird, muss nicht heißen, dass hier ein nichtdiskursives Außen konstruiert wird, das dann einszueins abgebildet werden kann. Stattdessen lässt sich sagen – in einem schwachen Sinn von Repräsentation –, dass sich die Praktiken und Institutionen des Dispositivs im Diskurs zeigen. Sie sind nicht als Referenten eines Außen da, sondern verändern sich durch diskursive Strategien, werden etwa überformt von ganz anderen diskursiven Dimensionen, wie ich sie etwa anhand der nationalstaatlichen oder religiösen Diskursstränge entfalten werde. In diesem Sinne lassen sich – weil es hier keinen Sinn macht von Simulation zu sprechen – Diskurs und Dispositiv nicht trennen, wohl aber unterscheiden. Diese Untrennbarkeit von Diskurs und Dispositiv lässt sich aber nur durchhalten, wenn man auf der anderen Seite die strenge Eigenlogik des Dispositivs Recht bestreitet. Ich habe das Dispositiv Recht gewählt, um das Wechselspiel unterschiedlicher Rechtssetzungen, Rechtsanwendungen, Rechtsansprüche und Rechtsbegründungen zu kontrastieren. Denn das Recht hat ja stets die beiden Facetten: Es entsteht aus der Gesellschaft heraus, es wirkt aber auch auf die Gesellschaft zurück. Im Feld zwischen positivem Recht, Naturrecht und Gewohnheitsrecht wird Normalität und Normativität ausgehandelt. In Luhmanns früher Systemtheorie hingegen regelt das positive Recht sich selbst.27 Es ist ein autopoietisches, sich aus sich selbst heraus ständig neu erzeugendes System. Nur das positive Recht kann sagen, was Recht ist. Und nur das positive Recht kann entscheiden, wie es auf Irritationen von außen reagiert. Zugegeben: Prima facia regelt das positive Recht durch die erwähnten Gesetzesentwürfe sich selbst. Aber gerade durch die Einführung nichtpositiver Rechtsansprüche vollziehe ich im Folgenden die Wechselbedingungen zwischen Rechtsaushandlung, Rechtsverständnis und Rechtssetzung nach.

27 Das heißt, dass das positives Recht durch seine »Gesetztheit« charakterisiert. Es meint; dass es allein deshalb gilt, weil es durch einen Entscheidungsakt aus anderen Möglichkeiten ausgewählt und verbindlich gemacht wurde. Es ist inhaltlich beliebig, seine Änderung ist jederzeit möglich und ausdrücklich vorgesehen. Luhmann, Niklas: Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 1, 1970:175ff.

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Dasjenige Dispositiv, vor dessen Hintergrund ich meine Überlegungen stelle, ist also das Dispositiv Recht. Damit ist genau jener weit gefasste Rechtsbegriff angesprochen, den ich in diesem Kapitel entwickelt habe. Ich gehe also davon aus, dass sich unter dem Rechtsbegriff, den ich beispielhaft anhand der Szenarien vorführe, eben jene Komplexität verdichtet, die der Auseinandersetzung allgemein zugrunde liegt. Ich verwende den Dispositivbegriff also eher in einem theoretischen, denn in einem streng methodischen Sinn.28 Das ist deshalb für meine Untersuchung wichtig, weil nur in der hier skizzierten Interaktion Kräfteverhältnisse ihre Dynamik entfalten können. Entscheidend ist dabei, dass dabei jeder Anspruch auf einen begründungs- und/oder legitimationstheoretischen Universalismus negiert wird.

28 Auf entsprechende Arbeiten, wie die von Andrea D. Bührmann und Werner Schneider, habe ich bereits in der Einleitung hingewiesen. Dies.: Vom Diskurs zum Dispositiv, 2008. Deleuze schlägt für die Analyse von Dispositiven vor, man solle eine Karte anfertigen, kartographisieren und (so) unbekannte Länder ausmessen. »Man muß sich auf die Linien selbst einstellen, die sich nicht damit begnügen, ein Dispositiv zusammenzustellen, sondern die es – von Nord nach Süd, von Ost nach West oder diagonal – durchqueren und mit sich fortreißen.« Deleuze, Gilles: Was ist ein Dispositiv?, in: Ewald, François; Waldenfeld, Bernhard (Hg.): Spiele der Wahrheit, 1991:153.

Zweiter Teil: Alles, was Recht ist – Szenarien der Reproduktion

8. Kapitel Erstes Szenario – Gesetze in Konflikt

(1) PID R ELOADED Die Präimplantationsdiagnostik gehörte im Deutschland der Jahrtausendwende zu den am meisten öffentlich diskutierten Kernthemen der Biomedizin. Bei ihr handelt es sich um eine Anfang der 1990er Jahre in Großbritannien entwickelte Kombination von Reproduktionsmedizin und Genetik, bei der in der Petrischale künstlich erzeugte Embryonen auf ihre Eigenschaften hin getestet werden. Ihre Einsatzmöglichkeiten bestehen zum einen darin, so genannten Risikopatientinnen ein Angebot zu machen, trotz einer genetischen Disposition ein Kind, bzw. ein gesundes Kind zu bekommen. Zum anderen bietet die Methode die Möglichkeit, Embryonen so auszuwählen, dass die aus ihnen entstehenden Kinder etwa ihren Geschwistern Organe spenden könnten. Bis 2010 widersprach die Rechtsauslegung des ESchG in Deutschland einer Anwendung des Verfahrens. Mit BGH-Urteil vom Juli 2010 gilt die Anwendung der PID zunächst am Einzellfall gemessen als mit dem ESchG vereinbar.1

1

Embryonen jedoch nach den Interessen zukünftiger Geschwister auszusuchen, bleibt verboten. http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=52897&pos=0&anz=1 [23.08.2010]. Dass aber mit dem Urteil die PID nicht per se erlaubt ist, unterstreicht die Ankündigung eines Positionspapiers der FDP im Oktober 2010. In einer entsprechenden Verlautbarung heißt es auf der Homepage der Partei: »Die Liberalen wollen erbkranken Eltern künftig erlauben, im Reagenzglas erzeugte Embryonen auf Gendefekte untersuchen zu lassen. Der Bundesgerichtshof hatte ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik (PID) vor kurzem gekippt.« http:// www.liberale.de / Liberale-fordern-Praeimplantationsdiagnostik-unter-

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Durch juristische ebenso wie durch moralische Kontrolle wurde die PID lange Zeit normativ unverfügbar gemacht.2 Das medizinisch Mögliche stellte damit aufgrund spezifischer Deutungshoheiten bis 2010 eine juristische und dadurch eine praktische Unmöglichkeit dar. Das hängt auch damit zusammen, dass nach § 2 Abs. 1 ESchG bestraft wird, wer einen extrakorporalen Embryo zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck erzeugt (ESchG, 2.Abs, 1), bzw. derjenige, der es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft derjenigen Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt (ESchG, 1. Abs.1 Nr.2). Doch inwiefern das explizit auf die PID zutrifft, galt innerhalb des Diskurses lange Zeit als umstritten.3 Das war auch deshalb der Fall, weil das Gesetz zu einem Zeitpunkt, nämlich 1991, verabschie-

Auflagen/6199c10800i1p69/index.html [12.10.2010]. Ende des Jahres 2010/Anfang 2011 lagen drei unterschiedliche Gesetzesentwürfe vor, die von einem strikten Verbot bis zu einer eingeschränkten Zulassung des umstrittenen Verfahrens reichen. Die strikten Gegner der PID um die gesundheitspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Birgitt Bender, und den stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion, Johannes Singhammer (CSU), gewannen im April 2011 für ihren Gesetzentwurf (BT-Drs. 17/5450 – PDF) insgesamt 192 Unterzeichner aus allen Fraktionen. Eine weitere Abgeordnetengruppe um René Röspel (SPD) und Priska Hinz (Bündnis 90/Die Grünen) möchte das Verfahren »grundsätzlich« verbieten, in Ausnahmefällen aber wollen sie die PID »für nicht rechtswidrig« erklären. Ihren Gesetzentwurf (BTDrs. 17/5452 – PDF) unterzeichneten 36 Abgeordnete aller Fraktionen. Dem Entwurf der Abgeordnetengruppe um Ulrike Flach (FDP) und Peter Hintze (CDU) (BT-Drs. 17/5451) zufolge soll die PID nach verpflichtender Aufklärung und Beratung sowie dem positiven Votum einer Ethikkommission zulässig sein, sollte ein oder beide Elternteile die Veranlagung für »eine schwerwiegende Erbkrankheit in sich tragen oder mit einer Tot- oder Fehlgeburt zu rechnen ist«. Diesen Gesetzentwurf haben bislang mit 215 die meisten Abgeordneten aus allen Fraktionen unterzeichnet. 2

van den Daele, Wolfgang: Die Natürlichkeit des Menschen als Kriterium und Schranke technischer Innovation, in: WechselWirkung. Der künstliche Mensch, 2000:24. Vgl. auch Gutmann, Thomas: Rechtliche und rechtsphilosophische Fragen der Präimplantationsdiagnostik, in: Gethmann, Carl-Friedrich; Huster, Stefan (Hgg.): Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, 2010:63-102.

3

Das betrifft jedoch nicht eine mögliche Strafanwendung. Selbst Juristen sei unklar, »[o]b das Embryonenschutzgesetz [...] überhaupt ein eindeutiges Verbot der PID enthält. » Fest stünde lediglich, dass »Patienten [...] sich nach deutschem Recht nicht strafbar machen«. Art. »Wir sind besser als Gott«, in: Der Spiegel 20/2001.

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det wurde, als die Methode in Deutschland noch nicht zur Diskussion stand.4 Deshalb enthält es keinen expliziten Hinweis auf die PID.5 Es tritt insbesondere mit Beginn des 21. Jahrhunderts auch deshalb in der Öffentlichkeit als ein Instrument auf, das restriktive Interessen zu befrieden mag. Die Zeit weist es nach dem BGH-Urteil 2010 als eines »der strengsten [Gesetze, J.D.] der Welt«6 aus, das noch dazu »quasi aus dem Mittelalter der Reproduktionsmedizin«7 stamme. Die Zulassungsmöglichkeit der PID löste, seitdem sie 1995 erstmalig öffentlich gefordert wurde, Debatten aus, anhand derer sichtbar wird, wie unterschiedlich Verfahren wahrgenommen werden. Den divergierenden Perspektiven widme ich mich in diesem Kapitel. Ihr gemeinsamer Bezugspunkt besteht darin, dass der Schlagabtausch auf derselben Oberfläche ausgetragen wird: auf der des Rechts. Das wird nicht nur anhand der Diskrepanz der Einschätzungen, ob die Anwendung der PID nun rechtens sei oder nicht, augenscheinlich. Anhand der unterschiedlichen Bewertungen der PID lässt sich vielmehr auch zeigen, dass und wie auch medizinische Verfahren in ein Netz diskursiv konstituierter Denkund Wahrnehmungsweisen eingebunden sind. Für mich ist eine Untersuchung der sich auf die PID beziehenden Aussagen also deshalb besonders aufschlussreich, weil trotz unveränderter medizinischer Ausgangslage die Diagnostik heute unter bestimmten Konditionen zulässig ist. Wenn juristisches Recht und normative Ansprüche im Diskurs aufeinander bezogen sind und normative Ansprüche sich in nicht-diskursiven ebenso wie in diskursiven Praktiken ausdrücken, dann macht eine solche Auseinandersetzung

4

In dem 2010 ergangenen Urteil heißt es in diesem Sinn: »Vor diesem Hintergrund [dass das ESchG vor der PID zur Diskussion stand, J.D.] wird verständlich, dass sich obgleich im Gesetzgebungsverfahren ausgesprochen [...] eine ausdrückliche Ablehnung oder auch Billigung der so erfolgenden PID weder im Wortlaut des Gesetzes noch in den Gesetzesmaterialien niederschlägt.« http://juris.bundesgerichtshof.de/cgibin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=52897&pos=0&anz=1[2 3.08.2010].

5

Das gilt allerdings nicht nur für die PID. So stellt Andrea Fischer laut Spiegel etwa fest: »Als das Gesetz 1990 verabschiedet wurde, ist leider keiner auf die Idee gekommen, man könne Stammzellen aus den USA kaufen.« Art. »Teures Missverständnis«, in: Der Spiegel 12/2000. Durch den Verweis, Embryonen ließen sich käuflich erwerben, tritt ein weitere entscheidender Faktor ins Spiel: die Ökonomie mit ihren Gesetzen des Marktes. Siehe hierzu insbesondere Kapitel 10.

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Art. »Prüfung am Beginn des Lebens«, in: Die Zeit 28/2010.

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Ebd.

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kenntlich, was der Begriff des Dispositivs genau meint. Mit dessen Hilfe lassen sich (die Bedingungen solcher) Transformationsprozesse einordnen. Die Auseinandersetzung um eine mögliche Zulassung der PID, das veranschaulichen auch die sie betreffenden Medienbeiträge, kennzeichnete die Pflicht des Rechts, kulturelle Vorstellungen, sachliche Erwägungen und praktische Handlungsmöglichkeiten auf einen Nenner zu bringen, und zwar auf einen, der im Rahmen rechtlicher Ordnungsgrundsätze liegt. Insbesondere im Kontext von Rechtsfragen, die die Ethik berühren, stellt dies ganz offensichtlich eine besondere Herausforderung dar8; insbesondere dann, wenn man wie Niklas Luhmann etwa davon ausgeht, dass das Rechtssystem normativ geschlossen ist und sich »gegen die unbeständige Flut und Ebbe moralischer Kommunikationen [zu, J.D] differenzieren« habe.9 (1.1) Die Geschichte einer Forderung Besonders ins Gespräch geriet das Verfahren PID zu Beginn des Jahres 200010, als die Bundesärztekammer ihren »Diskussionsentwurf zu Richtlinien zur Prä-

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Hierzu: Atlan, Henri; Botbol-Baum, Mylène: Des embryons et des hommes, 2007. Dort heißt es, die juristische Antwort, die auf einer kantischen Deontologie gegründet sei, scheine unfähig, auf diese Entwicklung zu reagieren, wohingegen das durch den angelsächsischen Zugriff wesentlich leichter erscheine (La réponse juridique, fondée sur la déontologie kantienne dans nos démocraties, semble alors inadaptée à répondre à cette évolution, alors que le modèle anglo-saxon, basé sur la jurisprudence, accueille l'évolution des techniques de manière beaucoup très simple).« Ebd.: 53.

9

Luhmann, Niklas: Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, 1999:358f.

10 Mit dem Beitrag »Wir sind besser als Gott« veröffentlichte der Spiegel eine emnidUmfrage, nach der im Mai 2001 insgesamt 1000 Menschen u.a. nach ihrer Haltung zur PID befragt wurden. Die Frage, die den Männern und Frauen gestellt wurde, lautete: Bei der Präimplantationsdiagnostik werden Embryonen auf Gendefekte getestet. Nur die gesunden Embryonen werden der Mutter eingepflanzt, die kranken werden vernichtet. Befürworten Sie diese Technik?«10 Die Antwort fiel wie folgt aus: 48 sprachen sich dafür, 47 dagegen aus. 5 Prozent hatten keine Haltung. Aufgeschlüsselt nach den Geschlechtern, stimmen 46 Prozent der Frauen dem Verfahren zu, 49 lehnten es ab und 5 waren unentschieden. 50 Prozent der Männer stimmten zu, 43 lehnten ab, 6 enthielten sich. Art. »Wir sind besser als Gott«, in: Der Spiegel 20/2001.

G ESETZE IN K ONFLIKT

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implantation«11 medienbegleitet veröffentlichte. Ein enormer Anstieg der sich mit Reproduktionsmedizin befassenden Artikel zwischen 2000 und 2003 dokumentierte fortan die tagespolitische Dynamik dieser Zeit.12 In dem Diskussionsentwurf forderten die Mediziner nach Ansicht des Spiegels, »Gentests [sollen, J.D.] über das Schicksal der Retortenbabys entscheiden dürfen«13, um Eltern, »in deren Erbgut schwerwiegende Defekte schlummern«14, ein Angebot zu machen. Der Vorstoß der Mediziner führte zu einer offenen Konfrontation mit der damaligen Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer, die in einer möglichen Umsetzung der Forderung einen juristischen Verstoß sah, der mit Freiheitsstrafe zu sanktionieren sei.15 Der Verstoß bestand dieser Ansicht folgend in einer Unvereinbarkeit der PID mit dem ESchG. Im Jahr 2003 wurde im Bundestag die mögliche Zulassung der PID negativ beschieden. Spätestens seit 2006 stand die Methode aber wieder zur Diskussion, da ein Mediziner sich selbst bezichtigte, die PID bereits durchzuführen. Aus Unsicherheit, ob er mit der Anwendung rechtsbrüchig würde, hatte er zuvor eine, wie es im Urteil heißt, »spezialisierte Hochschullehrerin« mit einem Rechtsgutachten beauftragt, das zu dem Schluss kam, dass §§ 2 und 6 ESchG nicht verletzt seien. Sie wies den Mediziner jedoch auf die ungeklärte Strafrechtslage hin und riet ihm aufgrund dessen zur Selbstanzeige. 2005 führte er die PID durch und stellte im Januar 2006 schließlich gegen sich selbst Strafanzeige. Bereits Ende desselben Monats beendete die Staatsanwaltschaft das Verfahren jedoch »wegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums«. Im April desselben Jahres führte der Gynäkologe die PID bei einem Paar durch, bei dem eine Translokation festgestellt worden war. Das Verfahren wurde aber erst wieder aufgenommen, nach-

11 http://www.aerzteblatt/V4/archiv/artikel.asp2jd=22822 [9.11.2010]. 12 In beiden Zeitschriften bildet das Jahr 2003 einen quantitativen Veröffentlichungshöhepunkt. Im Vergleich zum Jahr 2000, in dem im Spiegel 23 Beiträge erschienen, wurden im Jahr 2001 36 Artikel gedruckt. In der Zeit ist das Verhältnis noch auffälliger: Erschienen im Jahr 2000 insgesamt 17 Beiträge, stieg die Zahl im Jahr 2001 auf 71 Artikel an. 13 Art. »Verheißung oder Teufelswerk?«, in: Der Spiegel 9/2000. 14 Ebd. 15 Zu beachten ist, dass die Strafbarkeit nicht die beteiligte Frau betrifft, sondern die behandelnde Person (§ 1 Abs. 3 ESchG). Jedoch bezweifelt der in der Zeit zitierte Arzt Thomas Katzorke, dass irgendein Mediziner vor Gericht landen werde. Denn: »Da müsste man fast alle hinter Gitter stecken.« Art. »Schwanger um jeden Preis«, in: Die Zeit 20/2002.

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dem er im Mai 2007 erneut eine PID durchführte. 2009 sprach das Landgericht Berlin ihn frei. Die Staatsanwaltschaft ging jedoch in Revision und am 6. Juli 2010 erklärte der BGH unter bestimmten Bedingungen die PID für zulässig.16 Mit einem solchem Urteilsspruch ist jedoch nicht automatisch eine Legalisierung der Anwendung verbunden. Spätestens seit Oktober 2010 steht die PID wieder auf der tagespolitischen Agenda. Dieses Mal forderte die FDP, unter strengen Konditionen »jungen Paaren [zu, J.D.] ermöglichen, ein gesundes Kind zu bekommen«17, was zu einem erwartbaren Koalitionszwist mit den Christdemokraten führte.18 Von denen sprechen sich jedoch nicht alle Mitglieder gegen eine Anwendung aus. Federführend fordert Peter Hintze (CDU), so der Spiegel, ein »Christ, der sich für ein Ja zum Leben einsetzt, muss die PID in diesen Grenzsi-

16 Entscheidungsgegenstand, so heißt es im Urteil, sei der Wille zur Durchführung der Untersuchung auf schwerwiegende genetische Schäden zur Verminderung der genannten gewichtigen Gefahren im Rahmen der PID, http://juris.bundesgerichtshof. de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&nr=52897&pos=0& anz=1, [26.08.2010]. 17 http://www.liberale.de/Liberale-fordern-Praeimplantationsdiagnostik-unter-Auflagen /6199c10800i1p69/index.html [12.10.2010]. Dass mit dieser Position ein nicht geringes Konfliktpotential für die Regierungskoalition CDU/FDP entsteht, nimmt der Spiegel bereits vorweg. Art. »Koalition streitet über Embryonenschutz«, in: Der Spiegel 28/2010. 18 Der Spiegel führt hierzu aus, seit dem BGH-Urteil seien die »konservativen Christen unter den deutschen Politikern in Aufruhr – vor allem in der Union.« Für besonderes Erstaunen sorgt dabei die restriktive Haltung der Bundeskanzlerin. »Ausgerechnet die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende Merkel, die als Naturwissenschaftlerin sonst zu rationalen Urteilen neigt, hat sich auf die Seite der PID-Gegner geschlagen – aus parteitaktischen Gründen.« Merkels Ablehnung der PID wird hier interpretiert als Widergutmachung, nachdem sie durch ihre Papst-Kritik die konservativen Katholiken 2009 verprellt habe. Dass aber eine christliche – eine katholische – Haltung die PID nicht zwangsläufig unterbindet, führt der Spiegel bereits unter der Überschrift aus: »Fast überall in Europa werden Erbguttests an Embryonen vorgenommen – gerade in katholischen Ländern. Nur Deutschland tut sich mit der PID-Methode schwer.« Art. »Schwere Schäden«, in: Der Spiegel 43/2010. Die folgenden Ziate: Ebd.

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tuationen befürworten«. Diese »Grenzsituationen« seien die, in denen »Paare mit einer schweren genetischen Vorbelastung« konfrontiert seien.19 (1.2) Mögliche Erklärungen für das Urteil von 2010 Die Einschätzung der PID hat sich ganz offensichtlich zwischen 1995 und 201020 verändert, und das nicht nur, weil sie in einem Fall als unzulässig, im anderen als zulässig eingeschätzt wurde. Auch das Sprechen über die PID unterliegt offensichtlich einem Wandel und liefert ein weiteres Indiz für die folgenschwere Beziehung zwischen Recht und Rede, zwischen Reproduktion und Rahmenbedingungen. Um einen solchen Wandel zu erklären, sind vier Begründungsmöglichkeiten denkbar: Erstens könnte ein Konsens erzielt worden sein. Vergegenwärtigt man sich die entsprechenden Positionen derer, die in dem Embryo bereits einen kleinen fertigen Menschen sehen und jenen, die ihn als biologischen Gegenstand betrachten, über den folgenreiche Aussagen möglich sind, dann ist ein Konsens unwahrscheinlich bzw. unmöglich. Denn Befürworter und Gegner der PID scheiden sich elementar bei der Beurteilung dessen, was (schützenswertes) ›Leben‹ ist. Hierbei handelt es sich um eine Grundsatzentscheidung, eine Einigung kann daher nur unter Verlust der eigenen Position erzielt werden. Zweitens könnte sich das Verfahren im europäischen Einigungsprozess durchsetzen. In Bezug auf viele Praktiken, darauf habe ich bereits verwiesen, gibt es Bestrebungen, rechtliche Rahmenbedingungen zu homogenisieren. Innerhalb der Europäischen Union gilt aber bei spezifisch ethischen Fragen das Subsidiaritätsprinzip. Zu diesen Fragen zählt die Anwendung der PID. Eine Homogenisierung unterschiedlicher Rechtsauffassungen ist damit nicht in Sicht. Es wäre drittens möglich, dass das Thema heute seinen Schrecken verloren hat und die Gemüter nicht mehr bewegt. Auf diese Weise könnte das Verfahren quasi unter der Hand durchgewunken werden, weil es auf breiter Front von der Öffentlichkeit akzeptiert worden ist. Dafür spricht zunächst, dass etwa die In-Vitro-Fertilisation, die

19 Deren Kinderwunsch ermöglicht ihm, im Fall von Embryonen nicht von Menschen, sondern von Zellen zu sprechen. Auf diesen Aspekt werde ich in Kapitel 10 zurückkommen. 20 Bzw. 2011. Das Gesetzgebungsverfahren bezüglich der PID macht dies deutlich. Meine Untersuchung schließt jedoch mit dem Jahresende 2010/2011. Die ablesbaren aktuellen Sagbarkeiten und Nicht-Sagbarkeiten lassen sich allerdings meines Erachtens vor der von mir entwickelten Argumentation lesen.

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der PID vorausgeht, heute im Gegensatz zu der Zeit, in der sie entwickelt und zuerst praktiziert worden ist, gar nicht mehr eigens in diesem Zusammenhang diskutiert wird. Erinnert man sich an die Unruhe, die sie Ende der 1970er Jahre auszulösen vermochte, dann müsste also folgen: Als ethisch-moralisch heikel eingeschätzte Technologien brauchen eine bestimmte Zeit, bis sie akzeptiert sind; bis sich die Gesellschaft an sie gewöhnt hat.21 Wie wenig ein solches Argument aber letztendlich allgemein tragfähig ist, das zeigte etwa im April und im November 2010 das Revival der Anti-AKW-Bewegung in Norddeutschland.22 Aber auch unabhängig verweist die Konfliktlage um die PID bei der ersten Lesung der Gesetzentwürfe im April 2011 nicht auf eine Beruhigung der Debatte. Ich möchte in diesem ersten Szenario einen vierten Punkt starkmachen. Ich gehe davon aus, dass sich der Wandel durch eine Normverschiebung erklären lässt. Normen, die innerhalb sozialer Praktiken als impliziter Standard der Normalisierung fungieren, bilden die Matrix, vor deren Hintergrund Handlungen intelligibel sind. Begreifen wir Sprache als Handlung, dann lässt sich diese Matrix anhand von Sagbarkeiten ermessen. An den möglichen Aussagehandlungen in Bezug auf die PID werden Normen kenntlich, die einen dynamischen Prozess markieren, bei dem es wiederum um Deutungshoheit geht. Es geht also um den

21 Eine solche Durchsetzung kennt auf einer darunter liegenden Ebene mehrere Begründungen. Wolfgang van den Daele spricht etwa von der Legitimität medizinischer Zwecke in liberalen Gesellschaften, gegen die andere Ansprüche (wie der Respekt vor der menschlichen Natur) zurückfallen. In diesem Sinne überwiegt der durch die PID zu erzielende Wert der Gesundheit im Vergleich zu ethischen Bedenken. Miriam Voss bezeichnet eine solche Haltung als »Erosionsthese«. Der Vorstellung einer graduellen Abnahme von Konflikthaftigkeiten widerspricht ihres Erachtens die These der Veränderung von Widerständen durch ihr Aufgreifen im Prozess der Technikintegration. In diesem Sinne kommt dem Wert Gesundheit nicht mehr der unhintergehbare Wert zu, weil er die Widerstände mit berücksichtigt.Voss, Miriam: Gesunde Gene, 2010:19. 22 Mit einem solchen Verweis analogisiere ich keinesfalls die Bedeutung der Technologien. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil die Nutzung von Atomkraft in ihren Anfängen weitaus weniger skeptisch gesehen wurde als dies in der Folge der Fall war. Insbesondere nach dem Atomunglück in Japan im März 2011 formiert sich eine auch politisch besonders einflussreiche Protestkultur. Beide Technologieanwendungen jedoch stellen im Bezug auf die Gattung Mensch in ihrer öffentlichen Wahrnehmung (zeitweise) eine Bedrohung dar. Dass diese sich nicht zwangsläufig relativiert, verdeutlicht eben auch der stetige Protest gegen Atomkraftwerke.

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Anspruch, die Wahrheit im und über einen Diskurs für sich beanspruchen zu können. Die Möglichkeitsbedingung der Zulassung der PID verdankt sich genauer einer auf das ›Leben‹ bezogenen Normverschiebung. Wie bereits erwähnt, stellt das Leben den Gegenstand der Biowissenschaften dar, weil hier mit neuen Einblicken genuin als ›Leben‹ definierte stoffliche Entitäten (wie Zellen, Gewebe, Chromosomen, Gene) auftreten, mit ihren jeweils bestimmten ›Lebensphasen‹.23 Biomedizinisches Wissen eröffnet damit sowohl den biopolitischen Raum, in dem es um die Verfügung über das Leben geht, als auch den Spielraum für weitere auf das Leben bezogene Sagbarkeiten. Konkret auf die PID bezogen meint dies: Einen Kinderwunsch zu haben oder einen Heilungswunsch. Diese Wünsche wären als potentiell realisierbare ohne die Biomedizin nicht denkbar – und das, obwohl sie nicht biologischer Natur sind. Anhand der 15-jährigen Auseinandersetzung um eine mögliche Zulassung der PID lässt sich eine auf das Leben bezogene Normenverschiebung ausmachen, die von einer ›Heiligkeit des Lebens‹ zu einer ›Ethik des Heilens‹ tendiert. Ich nenne beide Positionen Normen, wohl wissend, dass es sich um diskursiv komplexe Gebilde aus Argumenten, Bildern und Normen (im engeren Sinne) handelt. Ich gehe nicht davon aus, dass die eine Norm die andere schlicht abgelöst hat, hier ereignet sich kein »Paradigmenwechsel«24 im starken Sinne. Dennoch ist es plausibel, dass die sogenannte ›Ethik des Heilens‹ im aktuellen Kampf um die Deutungshoheit obsiegt. Die Rede von der ›Ethik des Heilens‹ ist dabei, anders als die bioethische Kennzeichnung ›Heiligkeit des Lebens‹, dem Diskurs selbst entnommen. Sie wurde z.B. im Jahr 2001 von dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder als rhetorisch wirksamer Appell verwendet25,

23 Hierzu: Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006. 24 Thomas S. Kuhn bezeichnet als einen solchen eine wissenschaftliche Revolution und meint damit, dass innerhalb einer Wissenschaft Abweichungen auftreten, die nicht mehr durch das allgemeinhin geltende Paradigma erklärt werden können. Dem daraus entstehenden Erklärungsnotstand folgt eine Krise. Die neuen Theorien, die ersonnen werden, erfüllen dabei mehrere Aufgaben: Sie sollen zum einen die Probleme lösen, die die Wissenschaft in die Krise geführt hat und sie sollen zum anderen Fragen beantworten, die das alte Paradigma bereits aufgeworfen hatte. Aus einem so entstehenden Prozess der Spekulation kristallisiert sich mit der Zeit ein neues Paradigma heraus. Ders.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolution, 2001. 25 Der Begriff wurde fortan zum festen Bestandteil einer bioethischen Öffentlichkeit. Eine Mitteilung der Bundesregierung vom 08.06.2001 trägt etwa den Titel »Die Ethik

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mit dem er die für ihn wissenschaftspolitisch und ökonomisch wichtige Freigabe der Erforschung embryonaler Stammzellen befördern wollte.26 Beide Normen begreife ich, bezogen auf die Rechte, die sie implizieren, als Konträrpositionen; denn das Leben, das sie vor Augen haben, ist nicht nur materiell unterschiedlich, es begrenzt sich sogar gegenseitig. Während die ›Heiligkeit des Lebens‹ das Leben des Ungeborenen meint, bezieht sich die ›Ethik des Heilens‹ in einem ersten Schritt auf bereits geborene Individuen. Zentral für meine Argumentation ist, dass die ›Heiligkeit des Lebens‹ kurioserweise nicht über einen moralisch aufgeladenen, sondern eigentlich einen biologistischen Lebensbegriff verfügt, der den Beginn des menschlichen Lebens definiert und von einem starken Personenbegriff getragen wird, wohingegen die ›Ethik des Heilens‹ einen hoch aufgeladenen Begriff des Lebens im Diskurs implementiert.

(2) Ü BERSICHT Ausgehend von der mittlerweile gestörten Rechtsordnung vollziehe ich in einem ersten Schritt die Bedeutung des Rechts innerhalb der Kontroverse um die PID nach. Diese erhält ihre Wirkkraft auf der Oberfläche durch die Fragen der Legalität (»Ist die Anwendung im Sinne des ESchG legal/illeagal?«) (3) und der Kompatibilität (»Wie verhält sich (dann) das ESchG zum Paragrafen 218

des Heilens mit dem Schutz des Lebens in Einklang bringen.« 2007 veröffentlichte der Deutsche Bundestag zudem in seinem Positionspapier »Stammzellforschung zwischen Grundrechtsgewährleistung und objektivem Schutzauftrag«. [http://www. bundestag.de/dokumente/analysen/2007/Stammzellforschung_zwischen_Grundrechtsgewaehrleistung.pdf; [23.08.2010] das Kapitel »Ethik des Heilens (Art. 2 Abs. 2 GG) – Schutzpflicht für Kranke«. 26 Anlässlich der konstituierenden Sitzung des Nationalen Ethikrates am 08. Juni 2001 in Berlin führte Schröder etwa aus: »Es geht [...] nicht um die Grenzziehung zwischen ethischem und unethischem Handeln, sondern darum, eine Ethik des Heilens und Helfens mit der Achtung vor der Schöpfung und dem Schutz des Lebens in Einklang zu bringen. Wahrscheinlich wird diese Entscheidung immer nur im Einzelfall zu treffen sein, und die Notwendigkeit der Abwägung wird sich in einer Vielzahl von Einzelfällen immer wieder stellen.« Auch anderen Politikern wird eine Verwendung des Begriffs zugeschrieben. Zu diesen zählt etwa Peter Hintze (CDU), der sich nach Angaben der Frankfurter Rundschau ebenfalls 2001 zu einer ›Ethik des Heilens‹ bekannte. Frankfurter Rundschau vom 27.12.2001.

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StGB?«) (4). Auf einer darunter liegenden Ebene eröffnen sich jedoch weitere Schauplätze, die etwa die alte, als konfliktreich inszenierte Beziehung zwischen Frau und Ungeborenem in den Blick nehmen. Hier zeigt sich exemplarisch, wie sich sehr unterschiedliche Diskursstränge verweben, wie sie umgedeutet und im Sinne von Wahrheitsspielen neu codiert werden. Die Frage von ›Natürlichkeit‹ und ›Künstlichkeit‹ buchstabiert die unterschiedlichen Sphären dezidiert aus, und zwar genau dann, wenn etwa zwischen in-vivo- und in-vitro-Embryonen genauso unterschieden wird, wie zwischen einer vorgefundenen und einer hergestellten Konfliktlage (5). Dieses Szenario zeigt also, wie sich anhand einer möglichen Zulassung der PID unterschiedliche Rechtsvorstellungen innerhalb des Diskurses profilieren. Dass diese nicht rein juristischer Natur sind, macht auch die Normverschiebung kenntlich (6). In einem nächsten Schritt sammle ich anschließend Indizien dafür, dass diese Normverschiebung diskursive Effekte zeitigt und ich deute eine Konsequenz der Normverschiebung an, die in einem Primat der Lebensqualität vor dem Lebensschutz besteht (7). Es geht mir also – immer bezogen auf das Recht – um die Verschiebung von Diskursstrategien, die auch unterschiedliche Äußerungsmodalitäten stiften. Genau solche Beziehungen sind es, die Sagbarkeiten und Unsagbarkeiten bedingen. Mit einer solchen Betrachtungsweise wird offensichtlich, inwiefern es sich bei der Frage der Zulassung eines bestimmten Verfahrens nicht um die vermeintliche Binarität zwischen Legalität und Illegalität handelt. Vielmehr wechselt die Kontroverse zwischen rechtlicher, politischer und ethisch-moralischer Stoßrichtung.

(3) K ONFLIKTE

EINER

Z ULASSUNG

Besonders die Jahre um die Jahrtausendwende sind gekennzeichnet durch einen ausgestellten Konflikt, der sich in erster Linie zwischen den auf Zulassung der PID drängenden Fortpflanzungsmedizinern und der dies verhindern wollenden Gesundheitsministerin Andrea Fischer zuspitzte. Harald Thomas Schmidt stellt fest, dass eine die mögliche Zulassung umkreisende mediale Auseinandersetzung einer »Kreuzzugsstimmung«27 glich. Auch in den Beiträgen von Spiegel und Zeit klang in Begriffen wie »Krieg«28, »Schlacht am Rubikon«29, »Bürgerkrieg«30

27 Schmidt, Harald Thomas: Die Schlacht am Rubikon, 2003:13. 28 Art. »Konflikt am Kabinettstisch«, in: Der Spiegel 10/2001. 29 Art. »Die Schlacht am Rubikon«, in: Die Zeit 22/2001.

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oder in Formulierungen wie »nun schweigen die großen Kanonen«31 eine solche Stimmung an. Da der Konflikt nach unterschwelligem Brodeln auszubrechen droht32, wird der Diskurs innerhalb meines Untersuchungszeitraums zeitweise metaphernreich hochgerüstet. Deutlich verhärten sich entsprechend die Fronten zwischen denjenigen, die mit Argumenten, die zum Normenkomplex der ›Ethik des Heilens‹ gehören, einer Zulassung zustimmen und denjenigen, die sich mit Argumenten aus dem Fundus der ›Heiligkeit des Lebens‹ explizit gegen die Legalität der Technologie aussprechen. An dieser Stelle wird bereits augenscheinlich, warum es im Bezug auf die Zulassung der PID keinen Sinn macht, von einem Konsens zu sprechen. Die Konfliktlage illustriert der Spiegel, wenn er schreibt, die Reproduktionsmediziner hätten Fischer zuvorkommen wollen. Statt des (zu diesem Zeitpunkt im Jahr 2000 schon »abgemilderten«) »Diskussionsentwurfs« hätten sie ursprünglich eine Richtlinie geplant, die an alle Bundesärztekammern der Bundesländer geleitet werden sollte. Darauf hätte eine »schnelle Stellungnahme«33 folgen und ein »ärztliches Standesrecht«34 entwickelt werden sollen.35 »Dann

30 Ebd. 31 Art. »Eine Debatte, noch keine Entscheidung?«, in: Die Zeit 23/2001. 32 Etwa: Art. »Konflikt am Kabinettstisch«, in: Der Spiegel 12/2001. So erzeugte Schreckensbilder können aber auch dazu dienen, eine solche Vorhersage als Fiktion und Übertreibung auszuweisen. So stellt Jens Reich in Frage, ob er »das als Katastrophe sehen will«, wenn »Zeugung im Sinne der Herstellung einer befruchteten menschlichen Eizelle« durchgeführt werde. Art. »Erotik in der Cyberwelt«, in: Der Spiegel 48/2000. 33 Art. »Verheißung oder Teufelswerk?«, in: Der Spiegel 9/2000. 34 Ebd. 35 Als Standesrecht wird das Recht eines Berufsstandes bezeichnet, dem von Seiten des Staates seine Selbstverwaltung in eigener Verantwortung übertragen wurde. Das ärztliche Standesrecht ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl unterschiedlicher Bestimmungen, die sowohl den Zugang zum ärztlichen Beruf, als auch seine konkrete Ausübung betreffen und bestimmen. Relevant sind hierbei sowohl bundesrechtliche als auch landesrechtliche Vorschriften. Die bundesrechtlichen Regelungen bestimmen dabei den Berufszugang, so z.B. die Bundesärzteordnung (BÄO), die Approbationsordnung (ÄAppO). Durch das Landesrecht wird hingegen im Wesentlichen die Art und Weise der Berufsausübung bestimmt. Für die tägliche Praxis sind die Heilberufsund Kammergesetze der Bundesländer und insbesondere die als Satzungen der Lan-

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fangen wir sofort an«36, kommentierte der Lübecker Gynäkologe Klaus Diedrich. Der Stein des Anstoßes besteht einer solchen Darstellung folgend (auch) in der Vorgehensweise der Mediziner: Während die Reproduktionsmediziner die Hintertür haben benutzen wollen, indem sie post factum die Diagnostik zur Disposition stellen, wahrte Fischer einen öffentlichen Weg und verfasste unter dem Titel »Eckpunktpapier für eine Gentechnikpolitik der Bundestagsfraktionen« Thesen zu den strittigen Fragen. Zumindest in Hinblick auf die Mediziner, die unter der Hand Forschungsinteressen rechtlich durchzusetzen suchen, ist eine solche Machtzuschreibung für den Diskurs charakteristisch. Ihr Versuch, Recht durch Praxis zu legitimieren, klingt etwa in der Zeit-Formulierung an, bei der PID handle es sich »um den jüngsten Kniff aus der Trickkiste der Fortpflanzungsmediziner.«37 Medizinern wird unterstellt, in ihren Händen läge nicht nur das ›Leben‹ an sich, sondern damit auch die Macht, dieses zu manipulieren. Inwiefern aber ein so aufgerufener Antagonismus zwischen Regelverletzern und Regelbrüchigen nicht statisch ist, belegt die neuerliche Positionierung ab etwa 2007, die eine nicht mehr dualistische Arena eröffnete. Die beschriebene konfrontative Ausgangslage stellt zunächst einmal einen Grund für das damalige mediale Interesse dar, das regelmäßig Experten aufforderte, den aktuellen Entscheidungsnotstand, als der die Zulassungsmöglichkeit der PID gehandelt wurde, einzuschätzen.38 Auf der Oberfläche erklären also die Anträge, Vorschläge und Debatten, die in diesen Jahren gestellt und ausgetragen wurden, das intensive öffentliche Interesse an einer potentiellen Zulassung – was Jürgen Habermas offenbar veranlasste zu glauben, die Auseinandersetzung bewege ein »Publikum der Staatsbürger«39, weil hier Fragen erörtert werden, deren

desärztekammern ergangenen Landesberufs-, Weiterbildungs- sowie die Berufsgerichtsordnungen relevant. 36 Art. »Verheißung oder Teufelswerk?«, in: Der Spiegel 9/2000. 37 Art. »Die Guten ins Töpfchen«, in: Die Zeit 38/1999. 38 Das unterscheidet das erste Szenario von den anderen beiden. Immer wieder beziehen sich Zeit und Spiegel hier auf die Einschätzungen von unterschiedlichen Fachleuten. Indem diese jedoch in den verschiedenen Zeitschriften zu Wort kommen, indem die Redaktionen entscheiden, welche Aussagen erscheinen, bilden jedoch selbstverständlich auch diese Statements eine Quelle von Sagbarkeiten innerhalb des Diskurses. 39 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer neuen Eugenik? 2001:35.

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»moralisches Gewicht weit über die Substanz der üblichen politischen Streitgegenstände«40 hinausgehe, da es um die Zukunft der Gattung gehe. Nachdem im Jahr 2003 der Antrag auf Zulassung negativ beschieden wurde41, nimmt nämlich die Aufmerksamkeit beider Publikationsorgane bezogen auf die PID ganz offensichtlich ab. Das ist in höchstem Maße erklärungsbedürftig. Denn dass dies nicht der schlichten Ereignislosigkeit geschuldet ist, verdeutlicht der eingangs skizzierte Umstand, dass das Verfahren ja bereits angewendet wird. Sogar das gerichtliche Verfahren mobilisierte erst einmal keine neuerliche oder gar vergleichbare Entrüstung.42 Ich deute den paradoxen Rückgang der Berichterstattung in dieser Zeit als Indiz für den schleichenden Übergang der Deutungshoheit auf die ›Ethik des Heilens‹. Dies zeigt sich unter anderem auch daran, dass im Mittelpunkt der Berichterstattung nach dem Urteil nicht mehr die konfligierenden Positionen stehen, sondern eine unzeitgemäß gewordene rechtliche Regelung. Der diskursive Prozess, der dazu geführt hat, transportiert also die durch die medizinische Praxis bestimmte Perspektive der Legalität/Illegalität in die Öffentlichkeit. So heißt es etwa in der Zeit von Anfang Mai 2010: »Jetzt liegt der Fall beim Bundesgerichtshof. Bestätigen die obersten Richter das Urteil, wird das Embryonenschutzgesetz endgültig zum juristischen Untoten.«43 Weder erlaube das Gesetz, Leben zu machen, noch sterben zu lassen. »Bevor das ge-

40 Ebd. 41 Dem vorangegangen war eine mehrheitlich positive Einschätzung des Nationalen Ethikrates im Januar 2003, die auf ein negatives Votum der Enquete-Kommission des Bundestages Recht und Ethik in der modernen Medizin im Mai 2002 folgte. 42 Direkt vor dem Urteilsspruch erschienen weder in der Zeit noch im Spiegel Beiträge. Beide Medien reagierten dann aber unmittelbar. Im Spiegel resümiert der Humangenetiker Eberhard Schwinger über »falschen Embryonenschutz« (Art. »Das Ende einer Farce«, in: Der Spiegel 28/2010), »während die Koalition über »Embryonenschutz« streitet (Art. »Koalition streitet über Embryonenschutz, in: Der Spiegel 28/2010). Am 08.07.2010 beschäftigte sich die Zeit mit der »Prüfung am Beginn des Lebens« (Die Zeit 28/2010). In ihrer Ausgabe 29/2010 fragt sie schließlich: »Sollen Gentests an Embryonen verboten werden?« (Die Zeit 29/2010). Seither kommt der PID innerhalb der Medien eine exponierte Stellung zu, wie sie sie jahrzehnte nicht kannte. Das ist auch durch die Stellungnahmen (wie etwa von acatech, Leopoldina und den Unionsakademien im Januar 2011 oder der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates im März 2011) und die vorliegenden Gesetzesvorhaben bzw. die diesbezüglichen parlamentarischen Debatte ab April 2011 erklärbar. 43 Art. »Wie ein Untoter«, in: Die Zeit 20/2010. Die folgenden Zitate: ebd.

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schieht«, heißt es weiter, »sollte die Politik den Mut fassen und die zwanzig Jahre alten Paragrafen der Realität anpassen.« Noch expliziter wird es im Oktober 2010: »Für uns ist es höchste Zeit, diesem Beispiel [dem des liberalen Auslands, J.D.] zu folgen und genetische Tests an im Labor gezeugten Embryonen – also die Präimplantationsdiagnostik (PID) – zu erlauben.«44 Der sprunghafte Anstieg der Berichterstattung nach dem BGH-Urteil, die die Aushandlungen in den Parteien betreffen, bekräftigen die These, weil nun über die Kategorie des Mitleids mit den potentiellen Kindern und Eltern die Perspektive der ›Ethik des Heilens‹ in den Mittelpunkt stellen. Dass dies im Interesse einer Logik des ›Heilens und Helfens‹ erfolgt, illustriert auch die Frage, ob ein »schwer krankes Paar« sich für seinen Kinderwunsch rechtfertigen müsse. »Hoffentlich nicht« heißt es in der Zeit. Schließlich gäbe es doch wohl kaum etwas daran auszusetzen, wenn sie diesem Wunsch mit der IVF entsprächen. Eine solche Ausgangslage eröffnet zwei Wege: Die Frau könnte sich »einen beliebigen Embryo einsetzen und den Fötus zur Not später straffrei abtreiben lassen«. Das Paar, um das es hier geht, entscheidet anders: »Sie lassen die Embryonen bereits vor der Einsetzung in die Gebärmutter testen. Was soll daran Unrecht sein?«45 Im Mittelpunkt der Überlegungen steht das Paar; um dessen Kinderwunsch zu realisieren sind, alle Mittel recht. Die anhand dessen sichtbar werdende Verschiebung funktioniert vor der Stärkung eines Autonomieversprechens. So sei folgender Umstand bisweilen in Vergessenheit geraten: »Die beiden sind Bürger, sie dürfen tun und lassen, was sie möchten, so lange es ihnen nicht mit guten Gründen verboten werden kann.« 46 Anhand einer solchen Positionierung derer, die für bzw. gegen die Zulassung der PID sprechen, lässt sich die These Chantal Mouffes überprüfen, dass agonistische Strukturen im Laufe der Zeit dem Konsens weichen.47 Für den Untersuchungszeitraum wird dabei offensichtlich, dass sich die agonistische Struktur nicht auflöst, oder zumindest lassen sich aus den genannten Gründen die Positionen nicht in eine Einigung oder gar einen Konsens im starken Sinne überführen. Bestimmte Redeweisen bewegen sich stattdessen in ein anderes Feld von

44 Art. »Guten Gewissens«, in: Die Zeit 43/2010. 45 Art. »Sollten Gentests verboten werden? Contra«, in: Die Zeit 29/2010. 46 Ebd. 47 Sie argumentiert bekanntermaßen für die Anerkennung der für das »Politische« konstitutiven antagonistischen Struktur. Begriffe von Konsens und Versöhnung im politischen Kontext anzuvisieren, beruht ihres Erachtens auf fehlerhaften Prämissen. Mouffe, Chantal: Über das Politische, 2005.

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Sagbarkeiten. Das hat aber nichts damit zu tun, dass das bessere Argument obsiegt hätte. Stattdessen erhalten wir so ein Indiz für die Normenverschiebung. Hier zeichnet sich ein Verschwinden des Politischen in der Dimension moralischer Gegnerschaft ab. Mouffe argumentiert überzeugend, dass das Politische vorrangig in moralischen Registern ausgetragen werde.48 Dies stimmt für das Beispiel PID insbesondere deshalb, weil auch die ›Ethik des Heilens‹ diesem Register verpflichtet ist. Indem es hier um Ethik (und nicht um politische Unterscheidung etwa von links und rechts) geht, stellt sich damit die Frage nach ›richtigem‹ und ›falschem‹, nach dem ›guten‹ und dem ›bösen‹ Verhalten, das unmittelbar ins Feld der Legalität/Illegalität übertragen wird. In der konfliktreichen Situation kommt dem Reden über Recht eine entscheidende Position zu: Hier vollzieht sich eine Versachlichung des Diskurses durch die diskursive Strategie, normative Konflikte in den Bereich des Rechts zu überführen49. Die so mit Nachdruck gestellte Frage nach dem Leben ist gebunden an spezifische politische Handlungsnotwendigkeiten, die zusätzliches Konfliktpotential liefern. So mahnt der Spiegel, spätestens wenn ein novelliertes Embryonenschutzgesetz im Bundestag eingebracht werde, müsse die Union »Farbe bekennen.«50 Schließlich hänge von ihr ab, was künftig an Embryonen durchgeführt werden dürfe und was nicht. »Denn nachdem die Grünen vergangene Woche einen Beschluss gegen die Zulassung der PID gefasst haben, ist klar, dass die Regierung ohne Stimmen der Union keine Mehrheit für eine entsprechende Gesetzesänderung bekommen dürfte.«51 Der Konflikt tritt auch nach der Urteilsfindung des BGH zu Tage, als der Spiegel Unstimmigkeiten zwischen Markus Söder (CSU) und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) aufgreift. Fordert der eine eine »Gesetzesänderung, um klarzustellen, dass die Präimplantationsdiagnostik (PID) nicht zur Selektion führt«52, will die andere es Frauenärzten unter Berufung auf ein Gerichtsurteil »ab sofort erlauben, die sogenannte PID anzu-

48 Ebd.:11. 49 In diesem Sinne stellt auch Hille Haker 2011 fest »Die Frage, ob und inwieweit bzw. unter welchen Bedingungen sich die unterstütztende Leistung der medizinischen Institutionen auf die Auswahl zwischen Embryonen erstrecken darf, ist weder von den Eltern noch von den Ärzten zu beantworten, sondern sie bedarf eines gesetzlichen Rahmens.« Dies.: Hauptsache gesund? Ethische Fragen der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik, 2011:253. 50 Art. »Ethischer Ernstfall«, in: Der Spiegel 21/2001. 51 Ebd. 52 Art. »Koalition streitet über Embryonenschutz«, in: Der Spiegel 28/2010.

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wenden.«53 Auch jenseits eines direkten Bezugs zu biomedizinischen Konsequenzen spielt die Haltung zu diesen eine entscheidende Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung. Deutlich wurde dies auch an der Kontroverse anlässlich der Diskussion Horst Dreier als möglichen Kandidaten für die Präsidentschaft des Bundesverfassungsgerichts. Dessen Position zur Menschenwürde brachte die Christdemokraten nach Angaben des Spiegels gegen ihn auf; ein Umstand, der Anlass bot, seine Befähigung zum Präsidenten auch medial zu reflektieren. Dreier, der Mitglied des Nationalen Ethikrates war, plädierte nämlich für eine Nutzung embryonaler Stammzellen sowie für die Anwendung der PID.54 Als es soweit war, störte die Zulassungsmöglichkeit der PID die vorhandene Ordnung in der öffentlichen Wahrnehmung dennoch in erster Linie als Rechtsunsicherheit.55 In diesem Sinne pointierte Fischers zuständige Abteilungsleiterin Ulrike Riedel: »Wir erwarten, dass die PID erst angewendet wird, wenn der Gesetzgeber das geregelt hat.«56 Dem Recht kommt somit zum einen eine elementare Ordnungsaufgabe zu, zum anderen unterstellt Riedel indirekt, eine Anwendung sei auch vor einer juristischen Regelung möglich. Der von Andrea Fischer diagnostizierte und kritisierte »Rechtsbruch«57 besteht in einer Verletzung des ESchG durch die Anwendung der PID. Eine Zulassung der PID sei demnach deshalb zu verhindern, weil sie gegen geltendes Recht verstoße. Auch für Herta Däubler-Gmelin »besteht und gilt«58 das Embryonenschutzgesetz. Daraus schlussfolgert der Spiegel: »Für sie muss die Selektion im

53 Ebd. 54 Art. »Schwierige Meinungsbildung«, in: Der Spiegel 5/2008. Der Beitrag führt jedoch weiter aus, die Personalie Dreier sei nichtsdestotrotz so gut wie sicher. Die Entscheidung fiel jedoch auf Andreas Voßkuhle. 55 Zudem wird im Untersuchungszeitraum eine weitere (vermeintliche) Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Stammzellenforschung diskutiert. Das ESchG ließe sich so interpretieren, dass die Forschung an nicht in Deutschland entstandenen Embryonen legal sei. Im Jahr 2000 stellte die DFG zur Klärung der Frage einen Antrag. http:// www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/download/empfehlu ngen_stammzellen_hintergrund_03_05_01.pdf, [23.05.2010]. 56 Art. »Verheißung oder Teufelswerk?«, in: Der Spiegel 9/2000. 57 Ebd. Ein »Rechtsbruch« geht weiter als eine »Rechtsunsicherheit«. Letztere markiert eine Unsicherheit ob der gesetzlichen Grenzen, während der Rechtsbruch diese bereits überschritten sieht. 58 Art. »Konflikt am Kabinettstisch«, in: Der Spiegel 10/2001.

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Reagenzglas strikt verboten bleiben.«59 Eine solche rechtspositivistische Argumentation teilten vor allem um die Jahrtausendwende viele der am Diskurs Beteiligten, jedoch bei weitem nicht alle. So sieht der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirates der Ärztekammer, Karl Friedrich Sewing, in dem Vorschlag der Mediziner den Rahmen des Gesetzes gewahrt60, ebenso die Bioethikkommission des Landes Rheinland-Pfalz.61 Unterscheidbar sind also zum einen jene Positionen, die dem ESchG eine Regelung entnehmen (Däubler-Gmelin), von denjenigen, für die die PID auf eine Rechtslücke verweist (Riedel). Zum anderen finden sich sowohl Stimmen, die, vorausgesetzt das ESchG regelt den Umgang mit der PID, diesen sowohl negativ (Fischer) als auch positiv entscheiden. Darüber hinaus melden sich Befürworter eines neuen Gesetzes (Fortpflanzungsmedizingesetz) ebenso zu Wort wie diejenigen, die das ESchG novellieren wollen. So fordert der Spiegel, es sei an der Zeit, das »Embryonenrecht«62 zu reformieren, schließlich sei dieses »überholungsbedürftig«63. In einer solchen Forderung steckt das Verständnis, das Recht müsse sich der durch Wissenschaft geprägten Wirklichkeit anpassen, oder andersherum: »Das Recht hinkt der Realität hinterher«64. Irgendwann geschehe dies ohnehin. So könnte man sich zwar vorerst damit trösten, dass der Antragsteller Klaus Diedrich noch keinen konkreten Antrag eingereicht habe, »[d]och das nötige Wissen ist schon vorhanden – und die Zukunft kommt oft schneller als gedacht.«65 Auch durch ein generelles Verbot sei die Entwicklung nicht gebannt, konstatiert auch Jürgen Habermas in der Zeit. Schließlich müssten wir »mit dem Wissen, wie wir über unsere eigene Natur verfügen können, [...] fortan leben«66. Das von Fischer geplante Fortpflan-

59 Art. »Konflikt am Kabinettstisch«, in: Der Spiegel 10/2001. 60 Art. »Verheißung oder Teufelswerk?«, in: Der Spiegel 9/2000. 61 Art. »Die Menschen-Fabrik«, in: Der Spiegel 34/2000. 62 Art. »Verheißung oder Teufelswerk?«, in: Der Spiegel 9/2000. 63 Ebd. .Bereits mit dem Antrag Klaus Dietrichs wird seitens medizinischer Experten die »Aufweichung« des ESchG gefordert. Etwa im Art. »Vom Geschöpf zum Schöpfer«, in: Die Zeit 27/1996. 64 Art. »Die Schlacht am Rubikon«, in: Die Zeit 22/2001. 65 Art. »Ethisches Ringelreihen«, in: Die Zeit 32/1995. 66 Art. »Auf schiefer Ebene«, in: Die Zeit 5/2002. Dennoch räumt Habermas ein, dieses Wissen müsse unser Selbstverständnis als moralisch handelnde Personen nicht zwangsläufig verändern.

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zungsgesetz67, in dem ein Verbot der PID explizit formuliert werden sollte68, galt als eine mögliche Lösung des Konflikts. Der Plan, ein weiteres Gesetz zu verabschieden, zeigt, welche Funktion dem Gesetz zugeschrieben wird: Es dient dazu, die Ordnung wiederherzustellen. Ein Gesetz müsse die Fragen der Fortpflanzung auch deshalb lösen, weil »die ethischen und sozialen Fragen [...] zu weitreichend [sind, J.D.], als dass sie allein im Zusammenhang mit persönlichen Fortpflanzungsentscheidungen beantwortet werden dürften«69, stellt Regine Kollek in der Zeit fest. Die Regelungskompetenz liege nicht bei den jeweils betroffenen Subjekten, sie bedürfe vielmehr einer allgemein verbindlichen Bestimmung.70 Die Regelungsnotwendigkeit erhält auch angesichts des bereits diskutierten Phänomens des Reproduktionstourismus besondere Dringlichkeit.71 Die uneinheitliche Regelung etwa innerhalb Europas erzeuge »Druck, die PID auch in Deutschland zuzulassen.«72 Dieser manifestiert sich etwa bei einer Anhörung des Gesundheitsausschusses, wenn ein Paar schildert, »wie die Frau wegen eines Erbgutdefektes zwei Kinder bereits während der Schwangerschaft verloren hatte. In ihrer Not hätten sie sich deshalb ›auf die freie Wildbahn‹ begeben.«73 Die »freie Wildbahn« erstreckt sich jenseits der deutschen Grenzen. Der Weg ins

67 Gemeinsam mit dem Robert-Koch-Institut hatte Fischer ein Symposium » Fortpflanzungsmedizin in Deutschland« organisiert, dessen Ergebnisse in das »Eckpunktpapier zum Fortpflanzungsmedizingesetz« (Dez. 2000) floss. Nach dem Wechsel der zuständigen Ministerin 2002 wurde die Arbeit am Fortpflanzungsmedizingesetz bis auf weiteres eingestellt. Am 23.01.2001 hatte die CDU eine Kleine Anfrage eingereicht, die unter anderem nach den Gründen für die Distanzierung von dem Fortpflanzungsgesetz fragt (Ein Großteil der Fragen bezog sich zudem auf die Einrichtung des Nationalen Ethikrats). http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/051/1405169.pdf, [02.07.2010]. 68 Art. »Verheißung oder Teufelswerk?«, in: Der Spiegel 9/2000. 69 Art. »Austragen statt töten«, in: Die Zeit 21/2001. 70 Eine solche Einschätzung widerspricht diametral dem oben ins Feld geführten Autonomie-Argument. 71 Sie macht zudem die Schwere einer Homogeniserung explizit. In einer Ausgabe des Spiegels im Oktober 2010 heißt es hierzu bezeichnend: »Immer wieder reisen Paare aus Brandenburg, Berlin oder Sachsen zur Präimplantationsdiagnostik nach Polen – während verzweifelte Polinnen umgekehrt nach Deutschland reisen, um hier einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen. Europa paradox«, Art. »Schwere Schäden«, in: Der Spiegel 43/2010. 72 Art. »Freie Wildbahn«, in: Der Spiegel 6/2002. 73 Ebd.

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Ausland stellt eine Lösungsstrategie dar. Sie gilt jedoch aus Gründen, die ich bereits in dem Kapitel »Auf dem Weg nach Europa« diskutiert habe, zumindest unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten innerhalb der medialen Beiträge maximal als eine Notlösung.74 Hier deutet sich an, warum die Antwort, die auf die Homogenisierung des europäischen Rechts zielt, keine hinreichende ist: Die Änderung des Rechts wird als eine Folge der diagnostizierten Normenverschiebung gedeutet. Dies spiegelt sich besonders, wenn etwa Riedel konstatiert, es dürfe nicht sein, dass »der jeweils schlimmste Finger in Europa«75 als ethischer Standard der deutschen Gesetzgebung gelte. Zum einen machen die Beispiele aus dem Ausland kenntlich, dass eine dortige Zulassung praktikabel ist. Sie unterstreichen aber zugleich, indem sie auf die »Not« derjenigen rekurrieren, die an dem Verfahren nicht teilhaben können, auf die Notwendigkeit der Inanspruchnahme der Diagnostik.

(4) R ECHTE

IN

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Neben der Frage der Legalität erweist sich jene nach der Kompatibilität von ESchG und Paragraf 218 StGB als virulent.76 Eine solche Verbindung wird ins-

74 Dass ein Zusammenhang von der Inanspruchnahme im Ausland und der tagespolitischen Agenda bestehen könnte, deutet Susanne Beck an: »Insbesondere seit sich in den letzten Jahren ein gewisser PID-Tourismus entwickelt hat – so kommen etwa die Hälfte der Frauen, die in Belgien eine PID durchführen lassen, extra für diese Behandlung aus Deutschland – scheint die Zulassung des Verfahrens wieder in den Bereich des Möglichen zu rücken.« Dies.: »PID – moralisch unverfügbar oder ›nur‹ regelungsbedürftig? Überprüfung einer strafrechtlichen Regulierung der PID«, in: Gethmann, Carl Friedrich; Huster, Stefan (Hgg.): Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, 2010:185. 75 Ebd. 76 Zur strafrechtlichen Situation siehe: Beck, Susanne: »PID – moralisch unverfügbar oder ›nur‹ regelungsbedürftig? Überprüfung einer strafrechtlichen Regulierung der PID«, in: Gethmann, Carl Friedrich; Huster, Stefan (Hgg.): Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, 2010:185. Ihres Erachtens ist es entscheidend, welches rechtliche Mittel man für die Regelung der PID wählt. Aktuell werden im Bereich der Biotechnologie meist strafrechtliche Gesetze erlassen, und auch die einzig als Verbot der PID interpretierbare Regelung, §§ 1 Abs.1 Nr. 2, 2 Abs.1 ESchG, ist eine strafrechtliche. Daraus schlussfolgert sie: »Dieses Mittel ist nicht nur nicht erforderlich, da

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besondere dann hergestellt, wenn die PID als mit dem ESchG vereinbar gilt. Im Zentrum einer solchen Blickrichtung stehen die in den Gesetzen unterschiedlich formulierten Schutzansprüche im Bezug auf Ungeborene. Die sich hieraus ableitende Schlussfolgerung lautet: Da das ESchG die PID nicht explizit ausschließt, und weil die im Strafgesetzbuch formulierten Standards nach Gesetzen der Logik die Unvereinbarkeit von ESchG und PID in Frage stellen, muss die PID legal sein. Die Argumentation gegen den Test, so der Spiegel, das sei auch Fischer klar, enthalte aufgrund dessen einen »logischen Defekt«77. Denn Kritiker wundern sich, »warum die Auslese belasteter Embryonen verboten sein soll, die Abtreibung eines behinderten Fötus während der Schwangerschaft hingegen legal ist.«78 Unverständnis über eine solche Praxis äußern die ausgewählten Medien kontinuierlich. So kommentiert etwa die Zeit: »Dass mit ihrer [Fischers, J.D.] Entscheidung das Kind im Reagenzglas besser geschützt ist als im Mutterleib, stört die Ministerin wenig.«79 Außerhalb des weiblichen Körpers genieße der Embryo durch das ESchG einen besonderen Schutz, was die Zeit mit der Formulierung »Angst bricht Logik«80 bewertet. Der Staatsrechtler und Politiker Horst Ehmke folgerte in seinem im Spiegel veröffentlichten Essay, das Beispiel PID mache deutlich, dass es »mit der Übertragung von Abstufung und Abwägung auf die Gentechnologie nicht getan wäre. Einer Frau, die sich ein befruchtetes Ei einsetzen lässt, kann zwar nicht verständlich gemacht werden, warum sie später einen erbkranken Fötus, nicht aber vorher ein erbkrankes befruchtetes Ei abtöten

der Gesetzgeber die möglichen Rechte des Embryos nicht derart weitgehend schützen muss. Im Gegenteil, das Mittel ist auch nicht verhältnismäßig und daher zumindest rechtspolitisch unzulässig, weil den nur geringen Vorteilen – einem kaum erhöhten Schutz des Embryos – eine Vielzahl von Nachteilen gegenüberstehen.« Für sie folgt daraus, es sei denkbar, eine verwaltungsrechtliche Regulierung in Verbindung mit einem Ausbau standesrechtlicher Normen und einer Selbstverpflichtung der beteiligten Forscher und Ärzte zu etablieren. Dies. 2010:204. 77 Art. »Das perfekte Kind«, in: Der Spiegel 21/2000. 78 Ebd. 79 Art. »Eltern, nicht Eugeniker fördern die Genmanipulation.«, in: Die Zeit 42/2000. Auch mutet hier die Tatsache, dass nach einer PND abgetrieben werden darf, widersprüchlich an, solange »dort [im Uterus; J.D.] [...] gestorben werden darf«. Art. »Die Bundesregierung will der Fortpflanzungsmedizin zu viel verbieten.«, in: Die Zeit 49/2000. 80 Art. »Leben mit der Tripelmoral«, in: Die Zeit 23/2000.

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lassen darf. Das befruchtete Ei im Reagenzglas kann ja nicht höher bewertet werden als der eventuell schon viele Monate alte Fötus.«81 Es geht also um das Verbot der PID angesichts der Tatsache, dass es »rechtswidrig, aber straffrei« bleibt, die Schwangerschaft mit einem weiterentwickelten in-vivo-Embryo/Fötus abzubrechen. »Wozu, so argumentieren die Verfechter dieser Methode, sollte man Frauen Keime82 implantieren, von denen sich im Voraus erkennen lässt, dass sie keine Überlebenschance hätten? Zudem verweisen sie auf einen aus ihrer Sicht willkommenen Nebeneffekt: Embryonen, die drei Kopien des Chromosoms 21 besitzen (Down-Syndrom), würden dann gar nicht erst in den Mutterleib eingesetzt. Genau hierin sehen die Kritiker eine Bedrohung: Sie brandmarken die massenhafte Reihenuntersuchung als neuartige Form von Eugenik in der Petrischale. Auf eben dieses Szenario laufe die Einführung der in Deutschland heftig umstrittenen Präimplantationsdiagnostik (PID) früher oder später hinaus.«83

Insbesondere der Vorwurf, mittels eines solchen Verfahrens Eugenik84 zu betreiben, darauf komme ich später zurück, gilt den Gegnern einer Zulassung als entscheidendes Argument. Die in beiden Gesetzen formulierten Rechtsansprüche beziehen sich aber auf unterschiedliche Rechtsträger. Während im Fall des Paragrafen 218 StGB vorrangig die psychische Konstitution der schwangeren Frau in den Blick genommen wird, weist das ESchG dem Embryo den Status eines Grundrechtsträgers zu. Die ehemals gültige embryophatische oder eugenische Indikation sei, so Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin im Interview, »bewusst abgeschafft«85, da es um »Gesundheit oder Leben der Mutter«86 gehe.87 Indem der

81 Art. »Flucht ins Grundsätzliche?«, in: Der Spiegel 27/2001. 82 Der Begriff »Keime« im Gegensatz zu »Embryo« kennzeichnet eine Objektivierung, die den freien Umgang moralisch erleichtert. Auf die subkutane Beantwortung der Statusfrage werde ich im kommenden Szenario dezidiert eingehen. 83 Art. »Babys auf Rezept«, in: Der Spiegel 4/2002. 84 Auf die Beziehungen, die Formulierungen wie die Rede von »massenhaften Reihenuntersuchungen« zum Nationalsozialismus herstellen, werde ich im zweiten Szenario ausführlich eingehen. An dieser Stelle eröffnet sich ein Feld, innerhalb dessen zwischen gesellschaftlichen und individuellen Interessen der Fall PID erörtert wird. 85 Art. »Selektion ist nicht akzeptabel«, in: Die Zeit 31/2001. 86 Ebd.

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Paragraf 218 StGB explizit die Disposition der Mutter berücksichtigt, bezieht er sich konkret auf die Situation der Schwangeren.88 Dadurch, dass die im Gesetz formulierte ›Letztverantwortung‹ bei der schwangeren Frau liegt, überlässt die Rechtsordnung die Entscheidung über die Handlung der Rechtsperson. Damit stellt der Abbruch eine normative Privatsache dar. Der an diese Regelung geknüpfte Appell an das Gewissen der Frauen stellt erneut – das drücken insbesondere die immer wieder erzählten medialen Fallgeschichten aus – die Frage der Unterscheidung zwischen »Legalität« und »Moralität«. Das Lebensrecht des Fötus über die Entscheidungsgewalt einer Schwangeren zu stellen, kritisiert Monika Knoche (Bündnis 90/Die Grünen), weil dies eine »Gebärpflicht«89 installiere bzw. stabilisiere. Knoche spricht sich indes gegen die PID aus, weil der hier vorliegende Konflikt Frauen »entleiblicht und entfremdet« und damit eben nicht im Kontext des erstrittenen »Selbstbestimmungsrechts der Frau« stehe, sondern vielmehr der »Unterwerfung unter die Logik der Medizin und den Gesundheitsperfektionismus in der Gesellschaft« geschuldet sei. Auch Ehmkes Augenmerk richtet sich auf die Position der schwangeren Frauen: »Die Behauptung, bei der Auswahl des einzusetzenden Eis stünden, anders als beim Schwangerschaftsabbruch, keine Rechte der Frau zur Abwägung, halte ich für sophistisch.

87 Seitdem die »embryopathische« Indikation 1995 gestrichen wurde, darf eine Schwangerschaft gegenwärtig dann theoretisch bis zur Geburt abgebrochen werden, wenn konkret das Leben der werdenden Mutter durch die Geburtsfolgen bedroht ist. Ein Abbruch ist weiterhin zulässig, um »eine schwerwiegende Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann« (§ 218 a Abs.2). ›Erlaubt‹ bedeutet aber konkret, der Eingriff ist »rechtswidrig, aber straffrei«. Der Gesetzgeber unterstellt durch diese Regelung nicht ein holistisches Ganzes, sondern ein System zweier Rechtsträger, deren Interessen im Konfliktfall abgewogen werden müssen. Nach dieser Auffassung liegt dem Schwangerschaftsabbruch ein interpersoneller Konflikt zugrunde. 88 Die Kategorie der »Lebensqualität« kann jedoch ebenso auch Paare bezogen Anwendung finden. Hierzu: Schmidt, Harald Thomas: Präimplantationsdiagnostik. Jenseits des Rubikons?, 2003:69. Dies geschieht zumindest in der von mir untersuchten Auseinandersetzung jedoch nicht. Der Begriff der ›Lebensqualität‹ erhält erst mit der Möglichkeit der Leid-Reduktion seine Bedeutung. 89 Art. »Gesucht: Der dritte Weg in der Biopolitik«, in: Die Zeit 9/2001. Die folgenden Zitate: ebd.

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Die den natürlichen Zeugungsvorgang zerreißende – rechtlich zulässige – Befruchtung in vitro stellt die Frau doch nicht rechtlos.«90

Die diskursive Strategie, die in der Öffentlichkeit scheinbar unlösbaren Konflikte um die PID in Rechtsdiskurse (Legalität/Illegalität) zu transformieren, scheitert an der im Recht selbst angelegten normativ aufgeladenen Aushandlung von Lebensschutz im ESchG (die man dem Normenbereich der ›Heiligkeit des Lebens‹ zuschlagen könnte) und Lebensqualitätsfragen im Paragrafen 218 (der hier im Kontext der ›Ethik des Heilens‹ zu lesen ist). In gewisser Weise sperren sich die normativen Ansprüche, die in die Inkompatibilität von ESchG und § 218 eingearbeitet sind, einer Versachlichungsstrategie. Nicht nur inhaltlich – abhängig vom Status des Embryos oder von der weiblichen »Konstitution« – wird ein Vergleich zwischen ESchG und dem Paragrafen 218 gezogen, sondern auch ganz praktisch. Margot von Renesse schlägt etwa vor, auch die PID könne, analog zum Schwangerschaftsabbruch, »rechtswidrig, aber straffrei«91 sein. In diesem Sinne gälte die PID zwar nicht als »offizielles« Angebot, würde jedoch in der Praxis zur Verfügung stehen. Die vom Spiegel diagnostizierte »dialektische Rechtslage« mache es schwierig, kategorische Grenzen des Erlaubten zu ziehen. Besonders offensichtlich wird das, wenn der CDU-Politiker Jürgen Rüttgers nach Ansicht des Magazins fragt: »Könnten nicht auch diese Techniken [die PID, J.D.] verboten, aber straffrei sein?92 Ebenfalls analog zur Regelung des Paragrafen 218 StGB war eine Verpflichtung zur Beratung im Gespräch. An diese war die Hoffnung geknüpft, die Inanspruchnahme der PID auf einen kleinen Kreis von Betroffenen zu beschränken. Allerdings verweist der »Testpapst« Verlinsky drauf, dass die PID inzwischen (im Ausland) in Situationen eingesetzt werde, die »niemals vorher als Grund für vorgeburtliche Diagnosen betrachtet wurden«93. Was möglich ist, wird (irgendwann) auch breitenwirksam angewendet: Recht und rechtliche Praxis weiten auf Grundlage einer gesetzlich erzielten Einigung die Modi der Inanspruchnahme

90 Art. »Flucht ins Grundsätzliche?«, in: Der Spiegel 27/2001. 91 Art. »Altmodisch fortschrittlich«, in: Die Zeit 23/2001. 92 Art. »Wir sind besser als Gott«, in: Der Spiegel 20/2001. 93 Art. »Check im Eikern«, in: Die Zeit 13/2001. Das Argument lässt sich jedoch auch umkehren. Im Oktober 2010 heißt es etwa in der Zeit: »Die Sorge, die PID werde, einmal zugelassen, rasch zu massenhaften Embryonentests führen, ist nach den Erfahrungen in vielen europäischen Staaten hinfällig.« Art. »Guten Gewissens«, in: Die Zeit 43/2010.

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aus; normative Ansprüche weichen im Reproduktionsdiskurs juristisches Recht auf. Der gesetzlichen Regelung steht nach dieser Ansicht so etwas wie ein flexibler natürlicher Anspruch entgegen, dessen Basis das gemeinschaftliche dynamische Bewusstsein einer allgemeinen Nützlichkeit darstellt. Beispielhaft habe sich in diesem Sinne gezeigt, dass vorhandene Angebote genutzt werden und Recht sich mit zunehmender Routinisierung aufweicht.94 Als eine erste Bilanz lässt sich feststellen, dass dem Recht innerhalb des Diskurses die Funktion zugeschrieben wird, die aus den Fugen geratende Ordnung wiederherzustellen; und zwar auch dann, wenn das Recht selbst Teil der Störung ist, wie die Konkurrenzsituation zwischen ESchG und Paragraf 218 StGB zeigt. Bei dem an sie geknüpften Anspruch, einen Ausgleich zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen zu schaffen, geht es jedoch nicht mehr ausschließlich um die Frage der Kompatibilität zweier Gesetze, sondern um einen Interessensausgleich. Anhand der Auseinandersetzung um eine mögliche Zulassung der PID sehe man, »was Recht zu leisten habe«95, schlussfolgert die Zeit.96

(5) V ORGEFUNDEN

ODER ERZEUGT ?

Hinter der Frage der Kompatibilität steckt nicht nur die Frage, ob das ESchG und der Paragraf 218 StGB vereinbar sind. Vor dem Hintergrund von Schutzansprüchen stehen zwei Verfahren zur Disposition: Die PID und die PND. Diese kennen jeweils unterschiedliche Patienten. Die Analogie zwischen ESchG und Paragraf 218 rekurriert damit auf die implizite Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Embryonen: Der ›natürliche‹ Embryo in-vivo steht dem ›künstlichen‹ in-vitro gegenüber. Beide unterscheiden sich durch den Umgang mit ihnen. Der Embryo in-vivo erscheint als Objekt, über das aufgrund der faktisch autonomen Entscheidung der Mutter verfügt wird, der Embryo in-vitro er-

94 Art. »Ohne Frau kein Embryo«, in: Die Zeit 21/2001. 95 Art. »Es schlägt ein Schwein in mir«, in: Die Zeit 46/2000. 96 Hier werde deutlich, dass die Gesetzgebung weniger den Schutz des Individuums leistet als den Schutz der Gesellschaft vor sich selbst (Art. »Es schlägt ein Schwein in mir«, in: Die Zeit 46/2000). Dabei bewege sich der Körper im Spannungsfeld zwischen Persönlichkeits- und Sachrecht. Das Recht schütze Selbstbestimmung, hinter welche der individuelle Körper zurücktrete (indem man z.B. Behandlungen verweigern kann).

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scheint dagegen als Rechtssubjekt. Die für die rechtliche Einordnung zentrale Frage nach dem normativen Status des ungeborenen menschlichen Lebens erscheint hier also nur in einem anderen (durch den Umgang bestimmten) Gewand. Mylène Botbol–Baum fragt demnach zu Recht nach einer fundamentalen philosophischen Differenz zwischen der Erzeugung von Embryonen für die Forschung und der Verwendung von überzähligen Embryonen nach einer künstlichen Befruchtung.97 Durch die unterschiedliche Behandlung des Embryos als Objekt oder Rechtssubjekt geraten natürlich diejenigen, die die PID verboten halten wollen und damit den Lebensschutz des Embryos als normativen Rahmen akzeptieren, in Erklärungsnotstand, wenn sie die aus dem Paragrafen 218 folgende geltende Rechtspraxis akzeptieren müssen. Passend zum Normenbereich der ›Heiligkeit des Lebens‹ bringen sie hier die Kategorie der ›Natürlichkeit‹ der Schwangerschaft als entscheidende Signifikanz für die Rechtmäßigkeit des Schwangerschaftsabbruchs und die Unrechtmäßigkeit der PID ins Spiel. Konkret meint das, dass es sich bei einem Spätabbruch um einen vorgefundenen Konflikt handelt, wohingegen die Zulassung der PID ein erzeugter sei. Ulrike Riedel konstatiert in diesem Sinne, dass der Wunsch nach einem eigenen genetischen Kind »keine Notlage«98 darstelle und diese Situation unvergleichbar sei mit jener, in der eine Frau ihre Schwangerschaft als »unzumutbare Belastung«99 empfinde. Den möglichen Umgang mit Embryonen in der Petrischale vor dem Hintergrund des Paragrafen 218 StGB mit denjenigen im Uterus zu vergleichen, empfindet auch Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin als zu »bequeme Parallele«100 , da es sich hier um jeweils »unterschiedliche Ausgangsprobleme« handle. Rechtfertige sich eine Spätabtreibung durch die »Kollision von Rechtsgütern«, lehnt sie die PID ab, da »hier nicht in einem bestehenden Konflikt geholfen, sondern eine Art künstlicher Schwangerschaft auf Probe erzeugt wird, die dann beendet wird, wenn der Embryo den genetischen Anforderungen nicht entspricht.« Kritiker der PID-Anwendung räumen oftmals der ›Natürlichkeit‹ gegenüber der ›Künstlichkeit‹ eine Präferenz ein, die Dieter Birnbachers These von der »tendenziellen Bevorzugung des Natürlichen vor dem Künstlichen«101 unter-

97 Atlan, Henri; Botbol-Baum, Mylène: Des embryons et des hommes, 2007:49. 98 Art. »Wir sind eine Wertepartei«, in: Die Zeit 17/2001. 99 Ebd. 100 Art. »Selektion ist nicht akzeptabel«, in: Die Zeit 31/2001. Die folgenden Zitate: ebd. 101 Birnbacher, Dieter: Natürlichkeit, 2006:144.

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stützt. Diese sieht den Wert der ›Natürlichkeit‹ insbesondere darin gegeben, dass: »[j]e höher der Anteil eigener Voraussicht, Planung und Steuerung an dem, was wir zum Geschenk erhalten, desto weniger das eigentlich Geschenkhafte daran und desto dürftiger die Freude des Beschenkten.«102 Dass die Gegner der PID auf die Kategorie der ›Natürlichkeit‹ gesetzt haben, erweist sich rückblickend als strategisch verhängnisvoll. Denn gerade im Hinblick auf die Ausräumung des in diesem Kontext bedrohlich wahrgenommenen Zufalls (mögliche genetische Defekte des Embryos) verliert die ›Künstlichkeit‹ – mithin das kontrollierte Vorgehen – innerhalb des Diskurses ihren Schrecken.103 Die in den Beiträgen, aber nicht nur dort, getroffene Unterscheidung von ›Künstlichem‹ und ›Natürlichem‹ – oder »dem Gezeugten und dem Hergestellten«104 – ist fester Qualifizierungsbestandteil des Diskurses um die Jahrtausendwende. So argumentiert etwa die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, es gäbe Grenzfälle, die eine Anwendung der PID rechtfertigten. Wenn Risikopaare auf »natürlichem Weg«105 ein Kind bekämen, würden sie dieses schließlich unter Umständen abtreiben.106 Mit wachsendem Wissen lässt sich eine Bedeutungsverschiebung im Verhältnis zwischen ›Natürlichkeit‹ und ›Künstlichkeit‹ ausmachen. ›Natürlichkeit‹ stellt dabei offensichtlich eine Bedrohung dar. Eine Bedrohung aber, der mit Gegenstrategien begegnet werden kann. Denn ein Risiko muss kein Risiko bleiben. Und selbst wenn ein Restrisiko bestehen bleibt, wirkt es sich durch unsere Kontrolle nicht zwingend auf die individuelle Lebensplanung aus. Wenngleich also die ›Natur‹ einen im physischen Sinne defizitären Menschen erschaffen hat, ist dies nicht irreversibel. Der offensichtlich ungerechten (zufälligen) Verteilung von guten und schlechten Anlagen kann abgeholfen werden. Durch Verfahren wie die Polkörperdiagnose107 sieht

102 Ebd: 145. 103 Dieser fand nicht nur in den anhaltenden Kontroversen über sogenannte »Retortenbabys« statt. Aufregungen, wie sie etwa die Neuigkeiten der von Craig Venter medienbeachtet publizierten synthetische Biologie 2010 offenbarten, spielen mit der Angst, durch Eingriffe in das (menschliche) ›Leben‹ der Gattung ihren Charakter zu nehmen. 104 Art. »Der künstliche Mensch«, in: Die Zeit 12/2001. 105 Art. »Schockiert«, in: Die Zeit 49/2000. 106 Ebd. 107 Die Polkörperdiagnostik ermöglicht im Rahmen einer IVF eine genetische Untersuchung der entnommenen Eizelle. Bei dieser Untersuchung handelt es sich um eine

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etwa die Zeit, in einer Reportage über eine Frau mit der Veranlagung für die Krankheit V717L, »das tödliche Roulette der Natur«108 besiegt. ›Natur‹ scheint also nichts zu sein, das begehrenswert ist, sondern etwas, das überwunden werden kann und soll. Damit wird sie zu einem »topos«, zu einem Gemeinplatz, »dem wir uns zuwenden, um unseren Diskurs zu ordnen.«109 Ein solcher Ort besteht allerdings ausschließlich rhetorisch. Für den Diskurs erweist er sich als notwendig zur Konstruktion des Neuen. Er entsteht durch die Konfrontation der Natur mit ihrem schicksalhaften Gegenspieler, der kalkulierten Intervention. Dass der positiv besetzte Naturbegriff strategisch umcodiert werden konnte, hängt damit zusammen, dass die Natur auch als Schablone dient, vor der sich Forschungsinteressen rechtfertigen. Auf die Frage der Zeit nach der Berechtigung seiner Experimente antwortete Mark Hughes, die Natur selber teile schließlich den Embryo bei der Entstehung von Zwillingen. »So gesehen nimmt die Natur einen halben Embryo, wir nehmen bloß eine einzelne Zelle.«110 Aus einer aus der Natur abgeleiteten Beobachtung heraus hält er die Anwendung der Biomedizin auch deshalb für legitim, weil die Forscher im Vergleich zur Natur bescheiden handelten. Die Natur sei zudem nun mal in der Verteilung von Vor- und Nachteilen willkürlich, so dass, wenn diese »Zufälligkeit der Natur«111 durch technische Mittel auszuschalten sei, sich die Frage stelle, wer an ihrer statt über einen Zugang zur biologischen Veranlagung entscheiden sollte, resümiert Lee Silver im Spiegel.112 Indem er postuliert, die Natur selbst sei nach ähnlichen Prinzipien organisiert wie die Arbeitsweisen der Humangenetik, unterstreicht er, diese Handlungsweisen seien, wenn auch kein Abbild, so doch Teil eines Naturplans. Man tue ja auch nichts anderes als die Natur; man übernehme quasi sogar deren Arbeitsweisen. »Denn schließlich war es die Evolution selbst, die uns Altmenschen das biotechnische Wissen zu seiner Weiterentwicklung an die Hand gegeben hat.«113 Was sich diskursiv hier ereignet hat, kann man nun genauer beschreiben. Dem bedrohlichen Zufall der Natur wird die kontrollierte

Präfertilisationsdiagnostik, die an der Eizelle vor Abschluss der Befruchtung, d.h. vor der Zygotenbildung erfolgt. 108 Art. »Check im Eikern«, in: Die Zeit 13/2002. 109 Haraway, Donna: Monströse Versprechen, 1995:13. 110 Art. »Wunderbare Kräfte«, in: Die Zeit 39/2000. 111 Art. »Eingriffe in die Keimbahn«, in: Der Spiegel 1/2000. 112 Ebd. 113 Art. » Der künstliche Mensch«, in: Die Zeit 12/2001.

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Technik entgegengesetzt, um in einem zweiten Schritt dann die Natur selbst zu »technisieren«, indem man ihr etwa einen »Bauplan« zugrunde legt. Auch Gerhard Schröder konstatiert 2001 im Briefwechsel mit Michael Naumann zur »bioethischen Debatte«, er könne nichts daran finden, »dass die Menschen seit Jahrtausenden ihre Intelligenz, ihr Wissen und ihren Forschergeist einsetzten, um ihr Leben zu erleichtern, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, um Naturgesetze bewusst anzuwenden und beherrschen zu können«114, führen doch solche Experimente zur »Selbstbestimmung des Lebens«.115 Ein solches »Produktionsparadigma«116, nach dem der Mensch alles, einschließlich seiner selbst, aus der Welt heraus schafft, zeichnet den Menschen als Maß aller Dinge aus. Die Gattung Mensch liest nicht nur die »innersten Seiten im Buch der Natur«117, die Menschheit sei vielmehr auch fähig, diese zu redigieren.118 Dass sich aus einer solchen Befähigung Pflichten ableiten, konstatiert Hubert Markl, indem er davon ausgeht, die Gentechnik sei auch deshalb »notwendig und sittlich geboten, um die Schöpfung vor Zerstörung zu retten.«119 Aus der Beziehung zur Natur lassen sich zudem verbalstrategische Haltungen ableiten. So nennt die Zeit die Haltung, mit der Margot von Renesse, zu diesem Zeitpunkt Vorsitzende der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin, Kritik an ihren Kommissionskollegen übt, »Naturvergötzung«120. Damit sind diese als aufklärungsfeindlich gebrandmarkt. Für Renesse verletze die Arbeit an oder mit Genen nicht zwangsläufig die Ehrfurcht vor dem Leben, denn das Leben sei mehr als das Material, aus dem es bestehe. Es konstituiere sich gleichfalls aus seelischen, geistigen und sozialen Komponenten. Dar-

114 Art. »Post vom Kanzler«, in: Die Zeit 31/2001. 115 Ebd. 116 Haraway, Donna: Monströse Versprechen, 1995:14. 117 Art. »Der künstliche Mensch«, in: Die Zeit 12/2001. 118 Insbesondere im Zusammenhang mit der synthetischen Biologie taucht die Formulierung des re-write auf und deutet damit auf den genuinen Schöpfungsakt hin. 119 Art. »Pflicht zur Widernatürlichkeit«, in: Der Spiegel 48/2001. Inwiefern eine solche argumentative Rekrutierung keinesfalls begrenzt auf die Auseinandersetzung in Spiegel und Zeit Verwendung findet, verdeutlicht auch etwa Jürgen Habermas‹ Problematisierung des Verschwimmens der Grenze »zwischen der Natur, die wir sind, und der aufklärerischen Haltung, die sich die Technologie zueigen macht119 und der Bewahrung einer organischen Ausstattung, die wir uns geben.« Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur, 2001:44 [Hervorhebung im Original]. 120 Art. »Gesucht: Der dritte Weg in der Biomedizin«, in: Die Zeit 9/2001.

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aus folgt für Renesse auch, dass der Mensch mehr sei als das, was die Medizin in ihm erkennt. »[W]er bei der wissenschaftlichen Vergegenständlichung immer gleich die Humanität in Gefahr wähnt, [ist, J.D.] der eigentliche Biologist.«121 Biologist in diesem Sinne ist, wer Natur als solche, als »bloße«, gewissermaßen ziellos sich vollziehende wertschätzt. Der aus der diskursiven Logik im Kampf um die Bewertung des Natürlichen folgende Zug gegen die Technisierung des Natürlichen besteht darin, diese selbst als »widernatürlich« – als Hybris des Menschen – zu kennzeichnen. In diesem Diskurs geschieht dies unter Rückgriff auf den Schöpfungsmythos insbesondere im Bereich der Reproduktionsmedizin. Thomas Goppel etwa formuliert im Hinblick auf die Erweiterung der Abbruchpraxis: »Wenn wir die Tatsache, dass Adam und Eva des Apfels wegen aus dem Paradies geflogen sind, zum Anlass nehmen, jede andere Sünde sofort zu entschuldigen, weil es ja nichts anderes ist als noch eine, dann tun wir uns ein bisschen einfach.«122

Damit referiert er direkt auf den biblischen Schöpfungsmythos. Eingriffe am Menschen seien als »Sünde« zu verstehen. Eine solche Sakralisierung des menschlichen Lebens verbietet sowohl, Einfluss auf die Natur auszuüben (durch Untersuchungen), als auch den Gang der Natur zu beeinflussen (durch Schwangerschaftsabbruch).123 Anknüpfend an den Begriff der Sünde befürchtet die Zeit, durch das Fortschreiten der Technologisierung könne »die Zeugung Behinderter [...] endgültig zur säkularen Sünde werden.«124 Die Irritation über den menschlichen Eingriff in die Schöpfung125 macht hier deutlich, dass diese nicht beliebig technisch verfügbar, kontrollierbar und manipulierbar sein darf. In der Zeit heißt es etwa: »Immer tiefer greift der Mensch in die Schöpfung ein. Dass Mann und Frau in der geschlechtlichen Vereinigung ein Kind zeugen und den Nachwuchs der Zufallslotterie der Natur überlassen – dieses Grundgesetz menschlicher Fortpflanzung ist nicht mehr die Regel. Reproduktionsmedizin, Stammzellforschung und Genetik sind dabei, jahrtausendealte

121 Ebd. 122 Art. »Union debattiert über Präimplantations-Diagnostik«, in: Die Zeit 22/2002. 123 Taguieff, Pierre-André: La bioéthique ou le juste milieu, 2007. 124 Art. »Erbgutcheck für Embryonen«, in: Die Zeit 10/2000. 125 Zu diesem Topos: Schummer, Joachim: Das Gotteshandwerk. Die künstliche Herstellung von Leben im Labor, 2011.

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Vorstellungen von Elternschaft und Familie zu verändern und die Schicksalhaftigkeit unserer genetischen Ausstattung zu überwinden.«126

Indem das doch eigentlich der Ewigkeit verpflichtete Grundgesetz torpediert wird, deuten sich die eklatanten gesellschaftlichen Folgen einer solchen Hybris an. Es verbinden sich alte Denkmuster (Sünde) mit modernen/ neuen (technologisierten) Denkbarkeiten. Auf den ersten Blick erscheint es wenig verwunderlich, dass sich die öffentliche Auseinandersetzung religiöser Bilder bedient. Und umgekehrt ist auch der Diskurs über Genetik in der christlichen Tradition selbst verhaftet und führt diese fort.127 Der Mensch als Menschenschöpfer und Ingenieur seiner selbst wird konfrontiert mit Huxleys Dystopie der verwalteten Welt mit ihren Praktiken der Eugenik. Neben das öffentliche Staunen über die Errungenschaften der Technik tritt also die öffentliche Aushandlung der Legitimation dieser Praktiken: Perfektionsphantasie trifft auf Fortschrittsskepsis. Das, was in den Medien verhandelt wird, kreist um die kognitive und moralische Sonderstellung des Menschen in der natürlichen Umwelt; um die Selbstermächtigung des Menschen; die Aneignung göttlicher Macht. Solche Diskursstränge erläutern, dass wir es eben keinesfalls mit einem Paradigmenwechsel zu tun haben: Argumente, die zum Normkomplex einer ›Heiligkeit des Lebens‹ gehören, finden sich nach wie vor innerhalb des Diskurses. (5.1) Exkurs: Diskursstrategien sind keine Argumente Die hier herausgearbeiteten diskursiven Züge folgen nicht – wie es einige (Bio-) Ethiker gerne hätten – der Logik argumentativen Austauschs. Die hier verwandten populären Chiffren scheinen nur auf den ersten Blick transparent zu sein. Die aufgerufenen Narrationen fungieren als verkürztes Argument. Damit unterscheiden sie sich erheblich von der normalen Argumentstruktur aus Thesen, Schlüssen und Begründungen. Verkürzte Argumente werden zur Chiffre von bereits Begründetem bzw. von etwas, das als Begründung zumindest akzeptabel erscheint. Ein gutes Beispiel aus einem anderen Kontext ist das berühmte »Nie

126 Art. »Die Zukunftskinder«, in: Die Zeit 23/2008. 127 Das gilt nicht allein bezogen auf die Reproduktionsmedizin. Insbesondere die junge Forschungsrichtung der synthetischen Biologie bedient sich in ihrer printmedialen Auseinandersetzung entsprechende Bilder: Art. »Projekt Genesis«, in: Die Zeit 08/ 2006 oder Art. »Konkurrenz für Gott«, in: Der Spiegel 1/2010.

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wieder!«, das als Wertungskern ausreicht, um ein Geschehen mit unserer Haltung zum Nationalsozialismus zu konfrontieren. Bei dem Rekurs auf den Schöpfungsmythos128 handelt es sich um verkürzte Argumente für die sogenannte ›Heiligkeit des Lebens‹, also: um die Zuschreibung absoluter Werte im Bezug auf das menschliche Leben. Eine solche Zuschreibung verbindet sich innerhalb der bioethischen Debatten, die der Biomedizin bekanntlich auf dem Fuße folgen, mit dem »Dammbruchargument«, wonach es keine trennscharfen Kriterien, sondern einen kaum kontrollierbaren Übergang zwischen moralisch möglicherweise vertretbaren Ausnahmefällen und mehr oder weniger gravierenden Fällen des Missbrauchs gibt, so dass man mit der Zulassung von Ausnahmefällen auf eine abschüssige Bahn gerate (die so genannte »slippery slope«). Die metaphysisch-konservative Position hat hier eine biologische Basis, die einem normativen Naturverständnis, für welches die Natur selbst, das Leben oder die Natur des biologischen Organismus einen Wert an sich darstellt. Insofern kann man hier tatsächlich von einem »Biologismus« sprechen. Die ›Heiligkeit des Lebens‹ beruht auf dem intrinsischen Wert der biologischen Natur des Menschen. Die Art und Weise, in der die Zukunft des Menschen beredet oder beschwiegen wird, lässt dabei nur einen Schluss zu: Der Abschied vom Menschen, wie wir ihn kannten, wird von den Diskurssträngen, die sich um das Panorama der ›Heiligkeit des Lebens‹ winden, bekämpft. Dies über verkürzte Argumente herzustellen, ist eine von mehreren möglichen diskursiven Strategien. Auch aufgrund dessen wird deutlich, dass die bioethische Frage subkutan zu

128 Inwiefern sich hier Geschichten überlagern, das zeigt die Spiegel-Titelgeschichte »Der Sündenfall«: Hitler, Einstein und Claudia Schiffer marschieren gefolgt von unzähligen Abbildern ihrer selbst am Klon-Schaf Dolly im Gleichschritt vorbei. Durch ihren Auftritt zeichnen sie ein düsteres Panorama dessen, was passieren könnte, würden statt Vier- auch Zweibeiner geklont. Wer gilt fortan als Original? Wer als Kopie? Was wäre die Folge? Eine uniformierte Gesellschaft der Extreme? Eine Welt voller Despoten? Genies? Schönheiten? Die Schöpfung zu manipulieren, das birgt – wie die Illustration keinen Zweifel lässt – die Gefahr eines Missbrauchs, den wir angesichts eines reflektierten Geschichtsbewusstseins nur ablehnen können. Die menschliche Hybris, vom Baum der biotechnologischen Erkenntnis zu essen, die Schöpfung in die Hand zu nehmen und die Konsequenzen, die eine solche Anmaßung zur Folge haben kann, all das deutet sich in diesem Arrangement an. Das Thema »Menschen-Machen« verbindet ganz offensichtlich hier gleich mehrere Erzählungen: Den Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies, den Rassenwahn der Nationalsozialisten.

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einer Antwort kommt. Dass es hier im weitesten Sinne christliche Narrationen sind, muss als Indiz für ihren Kollektivcharakter verstanden werden, denn ganz offensichtlich erweisen sie sich als zeitgemäße Speicher für weiterverwertbare Plots. Die hier verwendeten Erzählungen werden dabei innerhalb der gesellschaftlichen Kämpfe um Deutungsmacht über das menschliche Leben (Kämpfe, die sich durch ihren kollidierenden Charakter ergeben) in Stellung gebracht. Die Gesetze des Lebens im Kontext des »Lebenmachens« rücken zu einem zentralen Bestandteil des Macht-Wissens auf, in dem es nicht um Einzelne geht. Es geht um die Produktion von Leben und damit immer auch um Biomacht.

(6) N ORMENVERSCHIEBUNG Das, was sich für die ›Heiligkeit des Lebens‹ diskursiv vollzieht, ist nicht weniger als die Menschwerdung des Embryos mit den Mitteln der Sprache. Besonders bis 2001, darauf komme ich im zweiten Szenario zurück, mehren sich in diesem Sinne Anthropomorphisierungen in den Artikeln. Hier verbindet sich auf scheinbar harmonische Weise »künstlicher« Zeugungsakt und »menschliche Wirklichkeit«. Dem nun im normativ folgenreichen Sinne mit Rechten ausgestatteten Menschen-Embryo gegenüber steht innerhalb der ›Ethik des Heilens‹: Das Leben der Anderen, der Eltern nämlich und deren Seelenheil. Dadurch wird der Embryo zum Objekt. Deutlich wird dies, wenn es in der Zeit heißt: »Die Mutter eines Kindes, das an Muskelschwäche leidet, wird ein zweites Mal schwanger. Während das erste Kind im Alter von sechs Jahren stirbt, ergibt ein Gentest, dass auch der Fötus von der tödlichen Krankheit betroffen ist. Die seelisch tief verstörte Frau treibt ihr heranreifendes Kind ab. Wer kann es ihr verdenken, dass sie mithilfe der Präimplantationsdiagnostik (PID) endlich ein gesundes Kind zur Welt bringen will?«129

Im Gegensatz zur ›Heiligkeit des Lebens‹ und dem biopolitischen Kampf um die Entstehung des Rechtssubjekts ›Embryo‹ vollzieht sich hier die Ausweitung der Kampfzone hin auf die Qualität des Lebens. Im Dienste des guten – oder des besseren – Lebensvollzugs wird auch das stoffliche Leben verfügbar. Unter dem Titel »Geschäft mit der Hoffnung« heißt es im Jahr 2008 im Spiegel:

129 Art. »Erbgutcheck für Embryonen«, in: Die Zeit 10/2000.

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»Es ist sogar verboten, befruchtete Eizellen von zukünftigen Eltern zu untersuchen, wenn die Männer und Frauen Gene für unheilbare Krankheiten in sich tragen. Die sogenannte Präimplantationsdiagnostik könnte viel Leid ersparen, doch der herangezüchtete Embryo wird hierzulande in die Frau gesetzt, ohne dass er zuvor auf Risiken überprüft werden durfte.«130

Nachdem im Herbst 2010 die Auseinandersetzung eine jahrelang nicht gekannte Schärfe entwickelt, fragt die Zeit: »Wollen wir zulassen, dass Menschen dieses Trauma erspart bleibt? Oder sollen schwere, oft tödliche Erbdefekte ein hinzunehmendes Schicksal bleiben?«131 Quantität und Qualität gehen hier Hand in Hand. Die PID dient aus dieser Perspektive als Schutz der Eltern vor (erneutem) Leid; als Abhilfe gegen deren »Angst«132 vor dem »Albtraum«133 . Das Leid, das durch die Geburt eines potentiellen Spenders gemindert werden könnte, betrifft damit nicht ausschließlich und vorrangig das Geschwisterkind, sondern die Eltern, die mit diesem kranken Kind zukünftig leben (würden). Erfahrung mit Behinderung macht Eltern zu Experten, die dieser Meinung nach mehr Gewicht hat als die Expertise von Wissenschaftlern und Bioethikern. »Diese Eltern kennen solche Krankheiten besser als jeder Arzt, jeder Wissenschaftler oder Bioethiker.«134 Die postulierte »Logik des Heilens«, das macht die Aufwertung des Laienstandes deutlich, verschiebt dabei die Rollenkonstellation der Beteiligten. Folgt man Jürgen Habermas, flüchten die Befürworter aus der Perspektive des Teilnehmers am normativen Diskurs135 in die Beobachtungsperspektive.136 Er-

130 Art. »Geschäft mit der Hoffnung«, in: Der Spiegel 22/2008. 131 Art. »Guten Gewissens«, in: Die Zeit 43/2010. Diese Frage beantwortet die Wochenzeitung (auch) mit einem Beitrag im Wissens-Ressort, der den Titel trägt: »Um Leid zu verhindern«, in: Die Zeit 43/2010. 132 Art. »Wunderbare Kräfte«, in: Die Zeit 39/2000. 133 Ebd. 134 Art. »Wunderbare Kräfte«, in: Die Zeit 39/2000. 135 Bekanntermaßen verwendet Jürgen Habermas einen anderen Diskursbegriff als Foucault. Habermas erkennt in der Zurückweisung von Verantwortung den Ausschluss aufs dem (konsenszentrierten) Diskurs, wohingegen Foucault das Deligieren nicht unabhängig vom Partizipieren versteht. 136 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur, 2001:36.

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fahrung und Beobachtung stellen hier entscheidende Kriterien in Fragen der Rechtmäßigkeit dar.137 Beschriebene Risiko-Szenarien setzen dabei voraus, dass das betreffende Paar erstens um seine medizinisch risikohafte Disposition weiß und zweitens (deswegen) pränatale Untersuchungen durchführen lässt. Diese können drittens (bei entsprechendem Befund) zum Schwangerschaftsabbruch führen, da ihnen der sichere (der künstliche) Weg verwehrt wurde. Denn: »[S]o gut wie keine dieser Krankheiten ist ursächlich zu behandeln. Nur wenige sind therapierbar. Im Zweifelsfall fällt eine negative Entscheidung: Abtreibung ist der einzige Weg, ein erbkrankes Kind zu verhindern.«138 In diesem Sinne stellt die PID eine medizinische Schutzmaßnahme (einen »Baby-TÜV«139 laut Zeit) für Paare mit einem Kinderwunsch dar. Sie gilt in dieser Betrachtung durch »[d]ie lange Kultivierung der Embryonen im Reagenzglas«140 als Schonung der Frau141, die »auch ein ethisches Problem aus der Welt«142 schaffe.143 Das »ethische Problem« besteht darin, dass die Frau sich verantwortungsbewusst der PND unterzieht und

137 Im Interview sprach sich der Sozialdemokrat und Theologe Richard Schröder für eine eingeschränkte Zulassung der PID aus, weil er ein erblich belastetes Paar kannte, das eine »berechtigte Angst vor einer schlimmen Erbkrankheit und der schweren Behinderung ihres Kindes« plagte, Art. »Auch die Pille ist künstlich«, in: Der Spiegel 50/2001. Anlässlich eines von Andrea Fischer initiierten Symposiums zur Fortpflanzungsmedizin in Deutschland illustrierte ein vortragender Arzt seine Ausführungen mit dem Photo eines »todgeweihten« Kindes. Er plädierte dafür, dem Wunsch der Eltern stattzugeben, bei einem zukünftigen Kind ein solches »Drama« zu ersparen. Art. »Leben mit der Tripelmoral«, in: Die Zeit 23/2000. 138 Art. »Die Guten ins Töpfchen«, in: Die Zeit 38/1999. 139 Art. »Schwanger um jeden Preis«, in: Die Zeit 20/2002. 140 Art. »Mit anderen Worten: Nein«, in: Die Zeit 49/2000. 141 Mit der PID könne man Frauen »körperliche und finanzielle Belastung« ersparen, heißt es auch in der Zeit (Art. »Gentests am Embryo«, in: Die Zeit 20/2002). Bereits 1996 war in der Wochenzeitung zu lesen, die PID erspare Eltern die »Seelennot, ein behindertes Kind abzutreiben«. Art. »Tabu am Ende«, in: Die Zeit, 37/1996. 142 Art. »Mit anderen Worten: Nein«, in: Die Zeit 49/2000. 143 Bereits 1995 stellte die Zeit die (rhetorische) Frage, ob mit Klaus Dietrichs Vorstoß, die PID in Deutschland anzuwenden, die »Vision von Menschen nach Maß Realität« werde, oder ob die Methode »für eine Frau mit einem Kinderwunsch ethisch nicht viel annehmbarer [sei, J.D.] als eine eventuelle Abtreibung«. In: Die Zeit 32/1995. Auch hier also die Kollision zwischen individuellen und gesellschaftlichen

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dass die Frau sich verantwortungsbewusst der PND unterzieht und gegebenenfalls – das heißt, bei einem positiven Befund – die Schwangerschaft abbricht. Die belastende Erfahrung des Schwangerschaftsabbruchs tritt als entscheidendes Argument für eine Zulassung der neuen Methode auf. Damit ist implizit zweierlei gesagt: zum einen, dass die PID die Überwindung des Abbruchs darstellt. Das prophezeit aber im Hinblick auf die Spätabtreibung nach der PND auch, dass die PND und die mit ihr einhergehenden psychischen Belastungen für die Schwangeren vermieden werden könnten. Bemerkenswert bei Betrachtung der PND ist deren Marginalisierung auf der einen Seite, indem sie nämlich keiner Erklärung mehr bedarf und in den meisten Fällen nur vor der Angst-Folie ›Schwangerschaft auf Probe‹ bzw. ›Abtreibung‹ verschwindet. Sie erhält allerdings dann Geltung, wenn es festzustellen gilt, die Gesellschaft habe sich schließlich mit den Verfahren der PND abgefunden; warum also nicht auch die PID akzeptieren? Mit dem Auftauchen des neuen Verhandlungsgegenstands PID wird dieser nicht etwa an den Möglichkeiten vorhergehender Verfahren gemessen, sondern die PND verschwindet zusehends aus dem Bereich des Sagbaren. Dieses Verschwinden werte ich als Indiz für ihre Etablierung. (6.1) Indizien der diskursiv folgenreichen Normenverschiebung (a) Das Verschwinden der PND: Nach Ansicht des französischen Gynäkologen René Frydman besteht in der Beurteilung der PID eine Beziehung zur PND. Die qualitative Entscheidung über Embryonen sei kein neues Phänomen. Schließlich sei die »Schwangerschaftsdiagnostik längst akzeptiert«144 . Da die »Entscheidung zum Abort [...] immer unangenehm ist«145, eröffnen sich durch die PID neue Perspektiven zum Wohle der Frauen. Die PND dient im Kontext einer möglichen Zulassung der PID, das Leid schwangerer Frauen zu illustrieren. Dieses zu verhindern, so die direkte oder indirekte Schlussfolgerung, sei durch eine Legalisierung der PID möglich und damit geboten. Das heißt, mit Blick auf diejenigen, denen Leid geschieht, ist es dieser (mitunter utilitaristisch begründeten) Strategie nach zulässig, allgemeine Regeln abzuleiten. Mit Rekurs auf eine im weiteren Sinne zur Gewohnheit gewordene Maßnahme – hier die PND, bzw. die daran unter Umständen gebundene Spätabtreibung – postuliert sich eine Legitimierung

Interessen. Immerhin erspare die PID den Eltern »die Seelennot, ein krankes Kind abzutreiben«. Art. »Massaker?«, in: Die Zeit 32/1996. 144 Art. »Nah am britischen Vorbild«, in: Die Zeit, 22/2001. 145 Ebd.

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der neuen Mittel – hier die PID. Dies geschieht auf ethischen Grundlagen. Anhand dieses Beispiels verschränken sich demnach Gewohnheiten und Überzeugungen, auf deren Grundlage sich etwas wie ein Recht begründet. Ein solches Recht nenne ich vorerst ›Gewohnheitsrecht‹. In dessen Begründung wird auf zweierlei Ressourcen zurückgegriffen: Zum einen auf medizinische Kategorien, zum anderen wirken hier ebenso kulturelle Kontexte fort. Dies führt auf der Diskursoberfläche zu einer Gleichsetzung zwischen ›Gewohnheit‹ und ›Gewohnheitsrecht‹, wobei ›Gewohnheit‹ als Äquivalent zu »gängiger Praxis« verwendet wird. Damit ließe sich erklären, dass der Anspruch, die PID aufgrund der Etablierung der PND zuzulassen, die Geltung auf Allgemeingültigkeit und Erweiterung beansprucht. Der ungeschriebene natürliche Anspruch leitet sich aus geteilter menschlicher Überzeugung und Praxis ab, die dem positiven Recht (Verbot) gegenüber stünde. Grundlage für ein solches Gewohnheitsrecht ist also das gemeinsame Bewusstsein einer sich geschichtlich entwickelnden Gemeinschaft und der Bezug auf eine rechtsbildende Kraft eines gemeinsamen Rechtsbewusstseins.146 Das ist auch dann der Fall, wenn vordergründig nicht rechtliche Kategorien zur Geltung gebracht werden. Im Streitfall lässt sich dieses Rechtsbewusstsein auch nicht als ein inneres Faktum begreifen, sondern muss durch den Nachweis der praktizierten Gewohnheit bewiesen werden, was ja innerhalb des Diskurses im obigen Sinne fortwährend geschieht. Das Gewohnheitsrecht erhält also nicht als juristisch enggeführtes Instrument Eingang in geltendes Recht. Vielmehr findet es subkutan Ausdruck in Forderungen und Anspruchshaltungen, die an die Medizin und/oder den Staat gestellt werden und die innerhalb des Diskurses als Leerstellen auf der einen Seite (NichtThematisierung der medizinischen Bedeutung der PND) und als Erwartung durch Überwindung auf der anderen Seite (PID ist ethisch weniger heikel als PND) an die Oberfläche treten. Damit ist eine dramaturgische Funktion der PND benannt: Sie ist zum einen – oft unausgesprochen – Instrument, durch das schwangere Frauen Leid erfahren. So hält die »Bundesärztekammer die PID sogar für höchst hilfreich. Vielen Frauen könnten Fruchtwasseruntersuchungen, Gewissensprüfungen und Abtreibungen erspart bleiben.«147 Zum anderen provoziert die PND die Frage: Wenn wir uns an sie gewöhnt haben, warum nicht auch an die PID? Im Spiegel , darauf hatte ich bereits verwiesen, hieß es beispielsweise Anfang 2009: »In England haben Ärzte ein Baby ohne krankmachendes Brustkrebsgen geschaffen. Wirklich

146 Braun, Johann: Einführung in die Rechtsphilosophie, 2006:363. 147 Art. »Das perfekte Kind«, in: Der Spiegel 21/2000.

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ein Tabubruch? Vorgeburtliche Tests gibt es längst auch in Deutschland«148. Der Vergleich dient, wie gesagt, hier weniger dazu, die im Beitrag thematisierte und in England praktizierte PID zu bewerten, als vielmehr auf den (scheinbaren) Widerspruch hinzuweisen, dass in Deutschland die PID im Gegensatz zur PND nicht erlaubt ist. Die in dieser Perspektive angelegte Doppelbödigkeit führt aber im Umkehrschluss entweder zum Verbot der PND oder konsequenter Weise zur Zulassung der PID. Da man sich für die PND bereits entschieden habe, ist die Wahl dann eine rhetorische. Mark Hughes konstatiert in diesem Sinne konsequent, er fände es unverständlich, Forschungen an Embryonen abzulehnen, wenn die Abtreibung erlaubt sei. Inwieweit der Schwangerschaftsabbruch zum Synonym für die PND wird, verdeutlicht seine Ergänzung, die Gesellschaft akzeptiere schließlich die PND. »Also behaupte ich, PID ist ethisch unbedenklicher als die Fruchtwasseruntersuchung.«149 Das heißt, aufbauend auf dem status quo PND müsse die PID aufgrund eines gesellschaftlichen Konsens als (auch) ethisch unbedenklich eingeschätzt werden, zumal seiner Ansicht nach das Verfahren PID den Schwangerschaftsabbruch verhindern könne.150 Die Tatsache, dass der Test nicht in den weiblichen Körper eingreift, spielt zudem eine entscheidende Rolle. Diese besteht darin, dass die PID die Integrität des weiblichen Körpers wahre. Mehr noch: Die Autonomie wachse sogar an, weil die ›Natürlichkeit‹ des Körpers und dessen Grenzen gewahrt bleibe. Weil bei der vorgeburtlichen Untersuchung des in-vivo-Embryos dieser potentiell in einen Interessenskonflikt mit der Schwangeren gerät, der sich für die betroffene Frau (auch) an der Kategorie Leid misst, erscheint die Beziehung zwischen Frau und in-vitro-Embryo zumindest neutraler. Dieser »Waffenstillstand« findet aber

148 Art. »Schwangerschaft auf Probe«, in: Der Spiegel 1/2009. 149 Art. »Wunderbare Kräfte«, in: Die Zeit 39/2000. 150 Auffällig ist, dass Hughes hier die Formulierung »Schwangerschaft auf Probe« wählt, die besonders in den 1990er Jahren (zumeist von Feministinnen) gegen den Einsatz von PND vorgebracht wurde. Das Schlagwort »Schwangerschaft auf Probe« auf die PID anzuwenden ist bezogen auf die Präimplantationsdiagnostik deshalb inhaltlich nicht zielführend, weil es darauf abzielt, dass die erzeugten Embryonen eben nur unter bestimmten medizinischen Bedingungen zu einer Schwangerschaft führen. Nicht die Schwangerschaft steht also zur Disposition, sondern die Zeugung. Die so getroffene Unterscheidung zwischen ›Natürlichem‹ und ›Künstlichem‹ wird als Qualifizierung zum Entscheidungskriterium für die Implementierung bzw. Verwerfung, die eng verwoben ist mit ›vorgefundenen‹ oder ›erzeugten‹ Embryonen.

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nicht direkt Ausdruck, sondern gewinnt durch fehlende Thematisierung eines Konflikts an Bedeutung. Auch die der PID vorausgehende IVF wird nur dann primär zum Verhandlungsgegenstand, wenn ihre Risiken als durch die PID überwindbar gehandelt werden.151 Das ist insbesondere dann der Fall, wenn es vor einer durch sie potentiell entstehenden Mehrlingsschwangerschaft152 zu warnen gilt. Eine solche Warnung avanciert dann zu einem Argument für die Inanspruchnahme der PID. Schließlich treten ansonsten bei der Geburt »Untergewicht, Frühgeburt und neurologische Störung gehäuft auf.«153 Profiteure einer »Reduktion von Mehrlingen« seien aber nicht nur diejenigen, die das Verfahren damit direkt betrifft. Vielmehr sei es »auch im Sinne der Versichertengemeinschaft«154 , das Entstehen von Mehrlingen zu unterbinden. Dass Gesundheit auch einen ökonomischen Wert besitzt, machen solche Einschätzungen besonders augenscheinlich. Indem in diesem Diskursstrang unterstellt wird, dass sich die mögliche Etablierung der PID auf geteilte Praxis stützt (Gewohnheit) und daraus eine Form der Legitimation (Gewohnheitsrecht) gewinnt, legt er den Schritt zur rechtlichen Durchsetzung des Verfahrens (Legalität) nahe, der hier im Kontext der »Ethik des Heilens« seine diskursive öffentliche Wirkung entfalten soll und das positive Recht unter einen Anpassungsdruck setzt.

151 Jedoch weist die Zeit in dem Artikel »Ohne Frau kein Embryo«, in: Die Zeit 22/2001, auf die »typischen Belastungen des weiblichen Körpers« hin, indem sie auf die hormonelle Stimulation und das Risiko einer Mehrlingsschwangerschaft ebenso verweist, wie die Belastung durch die Wiederholung der Behandlung. 152 Das Phänomen der Mehrlingsgeburten erklärt sich dadurch, dass mehrere Embryonen gleichzeitig eingepflanzt werden, um die Erfolgsquote einer Schwangerschaft zu erhöhen. Durch die Anwendung der PID sei eine »Verdopplung der Einnistungsrate auf 23 Prozent gegenüber einer Vergleichsgruppe von Frauen, die drei ungetestete Embryonen erhalten hatten« leistbar. Art. »Babytests im Labor«, in: Die Zeit 32/ 2001. Nach geltendem Recht ist es in Deutschland (derzeit) nur erlaubt, bis zu drei Embryonen einzusetzen, überzählige dürfen aber (s.o.) nicht verworfen werden. Um die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft zu erhöhen, werden in Deutschland zumeist alle erzeugten Embryonen eingepflanzt. Die daraus entstehende Gefahr thematisieren im Spiegel zwei Mediziner als Plädoyer für die PID, indem sie die Frühchenproblematik schildern, welche Konsequenz der IVF sei und oft zu Mehrlingsschwangerschaften führe. Art. »Drei sind einer zu viel«, in: Der Spiegel 4/2002. 153 Art. »Babytest im Labor«, in: Die Zeit 22/2001. 154 Art. »Die Ausweitung der Grauzone«, in: Die Zeit 30/2009.

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(b) Das Leben (und Leiden) der Anderen: Das Pathos vergangener Tage ist einer Pragmatik gewichen. Möglich ist das nur mit Blick auf das Ergebnis einer solchen Diagnostik. Illustrativer als im Sommer 2010 könnte das nicht sein. Der Mediziner, der das Verfahren PID nach einer langen Zeit des Schweigens wieder ins Gespräch brachte, habe bei »drei Paaren, die schon mehrere Fehlgeburten erlebt hatten«155, Embryonen auf »genetische Fehler« gestestet. Seine anschließende Selbstanzeige und seinen Gang vor Gericht erklärte er nach Ansicht der Zeit damit, dass er »Klarheit darüber haben wollte, ob er tatsächlich ein Unrecht begangen hatte«156 – was ja bei einer Selbstanzeige aufgrund begangenen Unrechts eine unsinnige Frage ist, es sei denn, es gilt dadurch zu offenbaren, dass das ESchG der Logik der ›Heiligkeit des Lebens‹ folgt, die aber der diskursiven Praxis und ihren Sagbarkeiten nicht mehr entspricht. Nur vor diesem Hintergrund ist die Aufwertung der PID im Vergleich zu Maßnahmen der PND denkbar, die darin besteht, dass extrakorporal erzeugtes Leben einen Beitrag zum Wohl von Eltern und Geschwistern liefern kann. Die Berechtigung zur Inanspruchnahme leitet aus der »Minderung von Leid«157 und der »Befähigung zur Anteilnahme«158 praktische und moralische Gründe ab. Dies sei auch insofern der Fall, so der Humangenetiker Silver, weil der Kinderwunsch ein »den meisten Menschen innewohnender grundlegender Instinkt«159 sei. Eine solche Äußerung rekurriert abermals auf den Anspruch auf biologischen Nachwuchs, der sich aus der Natur ableite. Die Engführung von Leiden und Krankheit bezieht sich in diesen Beispielen vorrangig auf die potentiellen Eltern. So wünscht sich Alan Handyside, der die erste PID in England durchführte, laut Spiegel, »dass die deutschen Politiker auch etwas mehr Mitgefühl mit den Betroffenen haben.«160 Durch eine genetische Überprüfung und/oder eine Geschlechterauswahl am Embryo kann jedoch zudem ein krankes/behindertes Geschwisterkind profitieren. So bietet die PID die (in Deutschland auch nach dem BGH-Urteil von 2010 unzulässige) Möglichkeit, Embryonen nicht allein auf deren »eigenen« Gene hin zu testen, sondern

155 Art. »Wie ein Untoter«, in: Die Zeit 20/2010. 156 Ebd. 157 In diesem Sinne heißt es in der Zeit: »Am Ende könnte ein einziges Kriterium entscheiden: Die Last der Mutter«. Art. »Um Leid zu verhindern«, in: Die Zeit 43/2010. 158 Art. »Wie ein Untoter«, in: Die Zeit 20/2010. 159 Art. »Im Paradies der Gen-Reichen«, in: Die Zeit 11/1998. 160 Art. »Schwere Schäden«, in: Der Spiegel 43/2010.

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auch zu ermitteln, ob das potentiell entstehende Kind als Spender für ein Geschwisterkind geeignet wäre. Die Auswahl diskutiert der Spiegel am Beispiel des auf diese Weise geborenen Adam Nash.161 Dessen Erzeuger Hughes erklärt seine Bereitschaft, das medial vielbeachtete Verfahren (bei dem es eben nicht um eine genetische Grunderkrankung geht) anzuwenden, durch die Schilderung der Eltern.162 An solchen Stellen wird der Zusammenhang zwischen Leiden und Krankheit/Behinderung besonders offensichtlich: Auch ohne eigene körperliche Einschränkungen leiden die Eltern und rechtfertigen so die Inanspruchnahme der PID. Von einer britischen Familie, die zu Heilungszwecken ihres kranken Kindes ein weiteres durch die PID so entstehen ließ, dass es dem kranken als Spender dienen konnte, berichteten im Jahr 2002 die Medien mit besonderer Aufmerksamkeit. Dieses Handeln bezeichnet der Spiegel explizit als »Ethik des Heilens«163 oder allgemeiner als »ethisches Handeln am Patienten«. Auf diese Weise wird auch den zu diesem Zweck Erschaffenen nachträglich eine aktive Position zugeschrieben: Sie werden als »Retter erzeugt«. Das möglich zu machen setzt voraus, dass diejenigen Embryonen, die nicht in Frage kommen, verworfen werden. Mit einer solchen Einschätzung eröffnet sich für den Spiegel die Frage: »Selektion als ethische Pflicht?« Hier kollidieren ›Heiligkeit des Lebens‹ und ›Ethik des Heilens‹ besonders offensichtlich. Auch der Beitrag »Der Heiler aus der Retorte«164 , der die Geschichte eines Kindes erzählt, das durch IVF und PID als Organspender für seine kranke Schwester entstand, lädt die Einschätzung in eine solche Richtung auf. Den »Retter« habe nicht der Himmel geschickt, heißt es, sondern die moderne Reproduktionsmedizin.165 Da der auf diese Weise erzeugte Embryo den Anforderungen entsprach, »hat seine Mutter ihn nur ausgetragen und geboren: als ersehnten Sohn – und Spender.«166 Auf die kontinuierliche Bezugnahme auf die Bibel habe ich bereits hingewiesen. Die Biotechnologie tritt auch in diesem Zusammenhang an die Stelle Gottes. Diese Bildanleihe impliziert jedoch hier nicht die menschliche Anmaßung, an die Stelle eines Schöpfers zu treten, wie es sonst oft der Fall ist, sondern sie fokussiert eine Doppelseitigkeit: Das geborene Kind ist »Wunschkind« und »Pflichterfüller« zugleich. Folglich

161 Art. »Heiler aus der Retorte«, in: Der Spiegel 41/2000. 162 Art. »Wunderbare Kräfte«, in: Die Zeit 39/2000. 163 Art. »Das Wunschkind«, in: Der Spiegel 2/2002. Die folgenden Zitate: ebd. 164 Art. »Heiler aus der Retorte«, in: Der Spiegel 41/2000. 165 Ebd. 166 Art. »Wunderbare Kräfte«, in: Die Zeit 39/2000.

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widerspricht die Haltung dem Instrumentalisierungsverbot, weil das Kind nicht »bloß« Mittel, sondern von seinen Eltern (auch) um seiner selbst gewollt ist. »Unwürdig« sei es, einen Embryo nicht nach den eigenen, sondern den Bedürfnissen eines Anderen auszuwählen, konstatieren dagegen »deutsche Reproduktionsmediziner«167 . Auch für das »Selbstbewusstsein eines Menschen [ist es, J.D.] nicht gut, wenn er erfährt, dass er auf die Welt kam, um als Spender zu dienen«168 , befindet eine Biologin am Fertility Center Hamburg. Der Bioethiker Jeffrey Kahn glaubt, dass die Merkmale nicht für das zu gebärende Kind das Beste seien, sondern für eine andere Person.169 Auch Herta Däubler-Gmelin gibt zu bedenken, »dass Kinder bei einer solchen Methode der ausgewählten Qualitätssicherung nicht mehr ausreichend angenommen würden«170, wenn sie bestimmte Bedingungen nicht erfüllten. Ebenfalls um die Freiheit des Kindes besorgt befürchtet die Zeit, dass ein auf diese Weise entstandenes Kind nicht frei sein könne und spricht somit soziale und psychische Folgen der Technologie an, nämlich die Überlegung, ob das so entstehende Kind Planungssouverän seines eigenen Lebens sein kann. »Muss ein Heranwachsender seine von Dritten festgelegte ›Natur‹ nicht als Bürde empfinden – als ein Verhängnis, dem er nicht entrinnen, sondern dem er sich nur beugen kann?«171 Daraus leitet sich nach Meinung Volker Gerhards die Notwendigkeit eines Rechtes ab, welches das werdende Leben schützt, da das zur Selbstachtung fähige Individuum es nicht hinnehmen könne, dass mit dem, woraus es hervorgehe, verächtlich oder gleichgültig umgegangen werde.172 Neben jenen Informationen über die (genetische) Zukunft des Menschen, der sich aus dem untersuchten Embryo entwickeln soll, ermöglicht das Verfahren PID, denjenigen Embryo auszusuchen der beispielsweise seinem Geschwisterkind als Spender dienen kann. Beide Varianten beziehen sich auf einen intakten Körper; in einem Fall als Grundbedingung, im anderen als Reparaturmöglichkeit. Das ist nicht der Fall, wenn es darum geht, Embryonen nach einem bestimmten Geschlecht auszusuchen.173 Indem sich Eltern gezielt für einen Sohn

167 Ebd. 168 Art. »Heiler aus der Retorte«, in: Der Spiegel 41/2000. 169 Ebd. 170 Art. »Selektion ist nicht akzeptabel«, in: Die Zeit 31/2001. 171 Art. »Der künstliche Mensch«, in: Die Zeit 12/2001. 172 Art. »Unheimliche Vernunftsapostel«, in: Die Zeit 8/2002. 173 Nach § 3 ESchG verstößt die Geschlechts-Vorhersage gegen die Achtung vor dessen zukünftiger Menschenwürde. Mit dieser (gesetzlichen) Entscheidung wird der elter-

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oder eine Tochter entscheiden und diesen Wunsch mittels PID realisieren, trägt diese Entscheidung zur »Familienplanung« bei, zum sogenannten »family balancing«174. So hat ein Paar in Schottland, das vier Söhne hatte, sich mit dem Wunsch an die Ärzte gewandt, ihre verstorbene Tochter durch eine Embryonenauswahl zu ›ersetzen‹. Dies ist in Schottland ebenso wie in Deutschland verboten. Doch wenn die Möglichkeit besteht, dann lasse sich die Praxis nicht von Gesetzen reglementieren. So endet der Beitrag mit dem Zitat des Mediziners Paul Serhal: »Die Geschlechterselektion im Reagenzglas wird zur Routine.«175 Auch hier also der Verweis darauf, dass die Praxis (die Realität) dem Recht vorausgehe. Besonders die Geschlechterauswahl offenbart die semantische Verschiebung von Krankheit zu Leiden. Es geht nicht mehr allein darum, »Krankheiten zu heilen, sondern Leiden zu verhindern.«176 Das Verfahren mache offensichtlich, dass »Gesundheit alleine [...] jetzt nicht mehr«177 ausreicht. Mit gutem Gewissen wird der Diskurs umgedeutet, weil aus der karitativen Perspektive (anonymen) Kranken ein »gutes Leben« ermöglicht wird. Ein solcher Wechsel der Deutungshoheit konfrontiert Embryonen nicht mehr mit schwangeren Frauen. Der Kampf entbrennt nicht um die Frage: Lebensrecht oder Autonomie, sondern sie lautet nun: Lebensqualität oder Krankheit.178

lichen Verantwortung zwar eine speziell medizinische, aber keine umfassend soziale Legitimation erteilt. 174 Der in den USA das sogenannte sexing durchführende Joseph Schulmann begründet sein Engagement damit, dass schließlich eine gesunde Balance zwischen den Geschlechtern ein »fundamentales Bedürfnis einer Familie« sei. Art. »Geschlecht à la carte«, in: Die Zeit 7/1996. 175 Art. »Heiler aus der Retorte«, in: Der Spiegel 41/2000. 176 Art. »Samenwahl per Laserstrahl«, in: Die Zeit 40/2002. 177 Art. »Heiler aus der Retorte«, in: Der Spiegel 41/2000. 178 Überdies stünde mit der Realisierung einer solchen Forderung, die exemplarisch anhand der Forschung an embryonalen Stammzellen entbrennt, die Forderung nach einer »Ethik des Heilens« (Art. »Das Wunschkind«, in: Der Spiegel 2/2002). In diesem Sinne vertritt auch der im Spiegel zitierte Gynäkologe Naether ein »ethisches Handeln am Patienten«. Art. »Babys auf Rezept«, in: Der Spiegel 4/2002.

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Die entscheidende Frage formuliert der CDU-Abgeordnete Friedbert Pflüger wie folgt: »Dürfen wir unterlassen, was wir können?«179 Auch Thomas Assheuer und Jens Jessen verweisen im Gespräch mit Jürgen Habermas darauf, dass »das Ziel, schwere Krankheiten zu heilen, [...] ein moralisches [ist, J.D.]«.180 Zugespitzt folgt daraus, dass die »Aussicht darauf, Parkinson, Alzheimer oder Krebs zu besiegen ethisch wertvoller [ist, J.D.] als der Schutz von wenige Tage alten Embryonen«181 . Allem Anschein nach handelt es sich hier um einen Abwägungsprozess zwischen der ›Heiligkeit des Lebens‹ (Unantastbarkeit) und ›Lebensqualität‹ (Heilung).

(7) P RIMAT

DER

L EBENSQUALITÄT

Wenngleich die Argumente nicht neu sind, in dieser Dringlichkeit werden sie erst seit 2009 vorgebracht. In der spärlichen Berichterstattung vor dem BGHUrteil artikuliert sich dabei ein stetiger Klärungswille. Ein solcher unterstreicht, dass die Zulassungsmöglichkeit der PID das Recht vor eine bislang ungelöste Herausforderung gestellt habe. Legalität und Kompatibilität – zumindest offiziell gelten sie als ungewiss.182 Fünfzehn Jahre nachdem die PID erstmals öffentlich zur Disposition stand, verlangt nun die Praxis eine erneute Auseinandersetzung. »Weil Stifter183 endlich Klarheit wollte, ging er noch einen Schritt weiter und zeigte sich 2006 selbst an. Nach mehrjähriger komplizierter Rechtssuche – die Staatsanwaltschaft

179 Art. »Heilungschancen«, in: Der Spiegel 5/2002. Jedoch ergänzt Pflüger: »Gerade angesichts der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus müssen wir mit menschlichem Leben sehr vorsichtig sein.« 180 Art. »Auf schiefer Ebene«, in: Die Zeit 5/2002. 181 Art. »Die Menschen-Fabrik«, in: Der Spiegel 34/2000. 182 So heißt es etwa in der Zeit: »Was darf die Fortpflanzungsmedizin? Welche Grenzen darf sie nicht überschreiten? [...] Ist die genetische Auswahl im Reagenzglas gezeugter Embryonen – die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID) – erlaubt?« Art. »Prädikat wertvoll«, in: Die Zeit 22/2000. 183 Sein Name ist anonymisiert. In der Berichterstattung nach dem BGH-Urteil im Juli 2010 wird der Name des Arztes Matthias Bloechle in großen Teilen der Tagespresse nicht mehr anonymisiert.

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wollte die Anzeige erst nicht zur Verhandlung bringen – übernahm das Berliner Landesgericht den Fall und sprach Stifter im Mai diesen Jahres frei.«184

Die Selbstanzeige sei Indiz für eine weitreichende Praxis; so kommen die Recherchen der Zeit zu dem Ergebnis: »Auch in Deutschland werden seit Jahren Embryonen ausgewählt und einer Qualitätsprüfung unerzogen. In Dutzenden Fertilitätspraxen bleiben Embryonen übrig, werden zu späteren Verwendung auf Eis gelegt oder – in vielen Fällen – vernichtet. Dabei dürfte all dies nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz nicht geschehen. Das Gesetz ist das restriktivste der Welt. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle vollwertiges menschliches Leben beginnt.«

Verdeutlicht man sich die Tragweite solcher Rechercheergebnisse, taucht dies die langen erbitterten Kämpfe in ein bizarres Licht. Eine Neubewertung, Präzisierung des ESchG findet zunächst also nicht aufgrund einer parlamentarischen Beschlusslage statt, sondern hier dokumentiert sich, was es heißt, dass das Recht der Realität hinterherhinke. Mehrmals seien schon Versuche unternommen worden, das »Paragrafenwerk auf den neusten Stand der Heilkunst zu bringen.« Jetzt aber »könnte die Praxis in Fortpflanzungslaboren und Gerichtssälen die Abgeordneten dazu zwingen, sich erneut mit dem Embryonenschutz zu befassen. Sollte der Arzt weiterhin freigesprochen werden, dann wäre das Embryonenschutzgesetz hinfällig – von Realität und Rechtsprechung überholt.« Für die Zeit steht bereits jetzt fest: »Die Untätigkeit der Politik sollte ein Ende haben.« Abschließend heißt es: »Denn eine reine Moral, darauf weisen die Experten ehrlicherweise hin, kann es auf dem Feld der Fortpflanzungsmedizin ohnehin nicht mehr geben.« Nachdem das Urteil im Juli 2010 ergangen ist, reagieren Spiegel und Zeit unmittelbar. Der Spiegel veröffentlicht einen Essay des Humangenetikers Eberhard Schwinger, der bereits mit dem Titel »Ende einer Farce«185 die Verspätung der Entscheidung bemängelt. Seit 15 Jahren habe er auf das Urteil gewartet, führt der Mediziner aus.186 So lange sei es her, dass ihn ein Ehepaar um seine

184 Art. »Die Ausweitung der Grauzone«, in: Die Zeit 30/2009. Die folgenden Zitate: ebd. 185 Art. »Das Ende einer Farce«, in: Der Spiegel 28/2010. Die folgenden Zitate: ebd. 186 Dabei war er sich jedoch sicher, dass die PID mit dem ESchG kompatibel sei. Da das Gesetz also Klärungspotenzial enthalte, brauche es auch folglich kein Fortpflan-

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Hilfe gebeten habe, die er, aufgrund der gesetzlichen Regelung, verweigern musste. »Ich wusste, dass ich ihnen helfen konnte. Doch bald musste ich erkennen, dass ich das nicht durfte.« Dabei hatten die beiden »viel durchgemacht«. Was das genauer bedeutet, bleibt Schwinger nicht schuldig: »Ihr Kind röchelte und hustete. Zäher Schleim verstopfte seine Bronchen. Nächtelang verbrachten die Eltern an seinem Bett. Das Kind litt an Mukoviszidose, einer schweren, rezessiv vererbten Krankheit. Ein zweites Kind mit diesem Leiden – noch mehr Arztbesuche und noch mehr durchwachte Nächte –, das würden sie einfach nicht schaffen, davon waren beide überzeugt.«

Das Paar hatte es »darauf ankommen lassen«, wurde aber durch die Ergebnisse der PND immer wieder enttäuscht. Auch dieser Frau konnte nicht das »schwere Leid des Abbruchs« durch eine PID erspart bleiben (dies sei eine »große Enttäuschung, dann der Schmerz der Abtreibung. Jetzt konnte sie nicht mehr«). Die Zulassung der PID sei auch deshalb begrüßenswert, weil sie eben kein »Mittel zur Selektion« darstelle, sondern eine Chance biete, »Menschen zu helfen«. Was könne schließlich falsch daran sein, »ein gesundes Kind haben zu wollen?«187 In diesem Prozess findet auch eine am Lebensbegriff ausgerichtete Neubestimmung der Begriffe von Gesundheit und Krankheit statt. Dazu zählt das Verständnis, bei ungewollter Kinderlosigkeit handle es sich um eine Krankheit; eine Sicht, die die WHO teilt. Dazu zählt aber auch ein Verständnis, das zunehmend die psychische Disposition – insbesondere der betroffenen Frauen – nicht nur sagbar macht, sondern sie als entscheidendes Argument verwendet. Die Frage, wessen Leben betrauerungswürdig ist, um mit Judith Butler188 zu sprechen, ist hier klar beantwortet: Das von kinderlosen Paaren, das von verletzten Frauen und das von kranken Geschwistern. Eine solche Diskursposition ist flankiert von einem enormen Autonomieversprechen: »Am Ende seien es die Eltern, die über

zungsmedizingesetz. Das Gendiagnostikgesetz bestimme, dass nur Krankheiten gesucht werden dürften, die im Kindheitsalter ausbrechen. 187 Er verweist zwar auf die Argumente der Gegner (Eugenik, Dammbruch), räumt diese aber mit einem Verweis auf die aktuelle Integrationspolitik aus. 188 Diese Frage diskutiert Judith Butler u.a. in: »Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid betrauern«, 2010.

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die PID bestimmen sollten. Schließlich wissen die, was sie sich zumuten können.«189 Das funktioniert nur dann, wenn man den Lebensbegriff erweitert hin zu dem der Lebensqualität. Das wiederum, folgt man dem Diskurs, ist dann möglich, wenn man als ein erfülltes Leben eines mit Kindern versteht und voraussetzt, dass diese Kinder gesund sind. Verwaltung und Optimierung erhalten durch die auf die Günstlinge bezogene Perspektive Legitimation. Anhand von Fallgeschichten wird am Einzelschicksal Sag- und Machbares ausgelotet. Vordergründig verdrängt dies auf die Gattung bezogene Argumente. Der Eugenik-Verdacht scheint ausgeräumt, ganz so, wie Schröder es gefordert hatte, als er konstatierte, es sei an der Zeit, die ideologischen Scheuklappen zugunsten von technischen und ökonomischen Interessen abzulegen.190 Betrachtet man aber die von dieser Entwicklung ausgehenden Effekte, dann wird hier eine Steigerung auf einer quantitativen (nämlich auf einer demographischen) und einer qualitativen (nämlich einer gesundheitspolitischen) Ebene kenntlich.

189 Art. »Das Ende einer Farce«, in: Der Spiegel 28/2010. 190 Art. »Schlingerkurs in der Gentechnik-Politik«, in: FAZ, 25.01.2001.

9. Kapitel Konstellationen französischer Rechtsaushandlungen – Spiegelung I

(1) E INLEITUNG Durch das Verhältnis unterschiedlicher Gesetze zueinander erhält der Reproduktionsdiskurs in Deutschland eine besondere Dynamik. Insbesondere die Zeit um die Jahrtausendwende ist gekennzeichnet durch ein kontinuierliches Abwägen von Legalität/Illegalität und/oder von Kompatibilität/Inkompatibilität. Als fortwährend wiederholter Vorschlag wurde dabei die Möglichkeit gehandelt, ein neues Gesetz zu installieren (Fortpflanzungsmedizingesetz). In Frankreich besteht ein solcher Gesetzeskomplex. Es trägt den Titel »Les lois de la bioéthique« und regelt alle Belange, die sich aus den Folgen biomedizinischer Maßnahmen ergeben. Mit dieser strukturellen Verschiedenheit der (rechtlichen) Situation in Deutschland und der in Frankreich ist natürlich diskursiv eine andere Ausgangslage der Beiträge aus Spiegel und Zeit sowie aus Le Nouvel Observateur und L’Express verbunden. Dadurch, dass die Bioethikgesetze in Frankreich eine regelmäßige Novellierung vorsehen, stellt sich zumindest vordergründig die Frage nach dem Regelungsbedarf der Legislative nicht. Nicht die Frage, auf welches Gesetz man sich berufen soll, steht also primär im Vordergrund, sondern es geht hier vielmehr darum, ob dieses noch dem aktuellen Forschungsstand entspricht. Das ist die eine Seite. Anhand des bereits vorhandenen Gesetzes lässt sich andererseits strukturell ein weiteres, die PID betreffendes diskursives Feld ausloten, da die Zulassung der PID, die das erste Szenario ja in den Blick genommen hat, in Frank-

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reich wesentlich früher erfolgte. Bereits seit 1999 wird die Diagnostik hier unter strengen Konditionen praktiziert.1 Um diese beiden Linien zu verfolgen, werde ich vor allem Aushandlungsprozesse anlässlich der Bioethikgesetze mit besonderer Berücksichtigung der PID in den Blick nehmen (2). Dies führt dann zu der Frage des Zugangs zur PID (3). In auffälliger Weise im Vergleich zu Spiegel und Zeit sind die in diesem Kontext angestellten Überlegungen weit weniger durch einen Verweis auf die Spätabtreibung gekennzeichnet, die es mittels PID zu überwinden gelte. Die Möglichkeit, eine Schwangerschaft (nach einem entsprechenden Befund) abzubrechen, wird allerdings dann Gegenstand, wenn es um die Verlängerung der gesetzlichen Fristen von der zehnten auf die zwölfte Schwangerschaftswoche geht (4). Mir geht es also in diesem Kapitel darum, eine Übersicht über den französischen Diskurs zu gewinnen, um dann signifikante diskursive Züge der sich hier profilierenden Aussagen und Deutungsmuster vor dem Hintergrund der deutschen Aushandlungsprozesse zu bestimmen.

(2) A USHANDLUNG

DER

B IOETHIKGESETZE

Die diskursiven Aushandlungsprozesse der Bioethikgesetze in Frankreich folgen einer eigenen Logik. In einem ersten Schritt kann man von der Politisierung des Ethischen sprechen (a). Damit einher geht die Konstruktion der Embryonen als politisches Subjekt sowie eine Gegenstrategie der Verdinglichung (b). Aus diesem Aushandlungsprozess entsteht eine deutliche Frontstellung von Wissenschaft und Öffentlichkeit (c). Weil sich in jüngster Zeit die Diskussion der französischen Bioethikgesetze auf den Themenkomplex der Leihmutterschaft konzentriert, werde ich auf diese in einem kurzen Exkurs eingehen (d), um schließlich die PID als Konfliktstoff darzustellen (e). (a) Politisierung des Ethischen mit den Mitteln der Gesetzgebung: Mit der Einrichtung des Comité national d’Ethique pour les sciences de la vie et de la santé schuf Frankreich auf Erlass von François Mitterand 1983 weltweit die erste nationale Ethikkommission, deren Aufgabe darin besteht, Empfehlungen zu den Folgeproblemen der Biologie und der Genetik zu geben.2 Die legislative Ebene

1

Nippert, Irmgard: Präimplantationsdiagnostik – Ein Ländervergleich, 2006:35.

2

Mit über 70 Stellungnahmen seit der Zeit ihres Bestehens hat die Kommission besonderen Einfluss auf die Debatte in Frankreich genommen. Hierzu: Schütze, Hinner: Embryonale Humanstammzellen, 2007:89.

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blieb dabei zunächst unberücksichtigt. 1988 wies dann aber der Conseil d’Etat mit der Studie »Lebenswissenschaften, Ethik und Recht« (Science de la vie, de l’éthique au droit) auf die Notwendigkeit gesetzgeberischer Arbeiten hin. Im selben Jahr wurde das Gesetz Hurriet (loi Hurriet) verabschiedet, das das Aufgabenfeld und die Zuständigkeit der Ethikkommissionen regelt. Am 25.03.1992 schließlich legte die Regierung drei Gesetzentwürfe vor. Von diesen beschäftigten sich zwei schwerpunktmäßig mit der Frage der künstlichen Befruchtung. Der aus unterschiedlichen Gesetzen seit 1994 bestehende Gesamtkomplex wird unter dem Namen »Les Lois de Bioéthique« geführt. Auch aufgrund der Vereinigung verschiedener Themen ist es aber nach Ansicht von Tade Mathias Spranger zu ungenau, von dem französischen Bioethikgesetz zu sprechen.3 Die Bioethikgesetze umfassen zwei Gesetze unterschiedlichen Charakters, wobei das erste im Bürgerlichen Gesetzbuch (Code civil) verankerte Gesetz (Nr. 94-653) die Prinzipien festlegt (Respekt vor dem menschlichen Körper, Integrität des Erbguts). Zentrale Bestimmungen stellen das Verbot der Diskriminierung aufgrund genetischer Merkmale sowohl bei Arbeits- als auch bei Versicherungsverhältnissen dar. Die Bestimmungen des zweiten Gesetzes (Nr. 94-654) enthält das Gesundheitsgesetzbuch (Code de la santé publique). Hier ist die Spende und Nutzung von menschlichen Organen und Körperprodukten (Gewebe, Blut etc.) geregelt und der medizinische und soziale Rahmen der assistierten Reproduktion sowie der Pränataldiagnostik fixiert.4 Ab 1995 war die dem Gesundheitsministerium unterstehende Nationale Kommission der Medizin und Biologie der Reproduktion und der Biologie in der Reproduktion und Pränataldiagnostik (Commission National de Médicine et de Biologie de la Reproduction et du Diagnostic Prenatal – CNMBRD) damit betraut, Genehmigungen für die Durchführung von Verfahren der medizinisch assistierten Fortpflanzung zu erteilen sowie die Kliniken zu kontrollieren, an denen diese Verfahren durchgeführt wurden. 5 Alle fünf Jahre erfolgt eine Beurteilung der Gesetze durch das Büro für Wissenschafts- und Technikfolgenabschätzung (office parlamentaire d’évalution des choix scientifique et technologique), bevor sie dann dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden. Jedoch wurde der Zeitplan schon nach Ablauf der ersten fünf Jahre nicht eingehalten. Regierungschef Jospin hatte zwar bereits im

3

Spranger, Tade Mathias: Recht und Bioethik, 2010:305.

4

Hennen, Leonhard; Sauter, Arnold: Präimplantationsdiagnostik: Praxis und rechtliche Regelung in sieben ausgewählten Ländern, 2004:57.

5

Heinemann, Thomas: Klonierung beim Menschen, 2005:241.

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November 2000 einige Eckpunkte der Reform gegenüber der Presse verlautbart.6 Eine Novellierung wurde jedoch erst 2003 beschlossen. Diese mündete am 6. August 2004 in ein neues, moderat modifiziertes Gesetz.7 Anders als in Deutschland hinkt das Recht in Frankreich nicht der Realität hinterher, sondern ist ihr auf den Fersen. Nicht die Ethik der ›Heiligkeit des Lebens‹ bestimmt im katholischen Frankreich den Diskurs, sondern in erster Linie Gesundheits- und damit Bevölkerungspolitik. Der Embryo wird damit in viel weitreichender Weise zum Objekt des Politischen. In der medialen Öffentlichkeit vollzieht sich aber etwas anderes: Die Konstruktion des Embryos als politisches Subjekt. (b) Die Konstruktion des Embryos als politisches Subjekt und die Gegenstrategie der Verdinglichung des Embryos: Die Verspätung der Gesetzesnovellierung sieht LNO darin begründet, dass der Gesetzgeber Angst habe, die heikle Frage des Embryonenstatus erneut aufs Tableau zu bringen (1994 + 5 = 1999: la loi Bioéthique aurait dû être révisée l'an dernier. Or il n'est toujours pas prévu qu'elle le soit avant 2001. Le gouvernement a bien trop peur d'ouvrir cette boîte de Pandore: le statut de l'embryon est encore plus compliqué que celui de la Corse).8 Den Status von Embryonen mit jenem der Korsen zu vergleichen, wie es die Zeitschrift vorschlägt, unterstreicht auf der Diskursoberfläche einerseits die tagespolitische Brisanz, andererseits drückt sich hier auch eine Reaktion auf die gesundheitspolitische Aneignung des Embryos aus. Denn natürlich ist der Vergleich zwischen Embryonen und Korsen halsbrecherisch, aber dass er sagbar ist, folgt einer gewissen Folgerichtigkeit. Denn es geht offenbar um die Frage der Autonomie. Durch die französische Hegemonialpolitik seit den 1960er Jahren fühlen sich die Korsen vernachlässigt, ungerecht behandelt und ins politische Abseits gestellt. Die Folge sind Separationsbestrebungen und der Ruf nach politischer Autonomie. Dass Embryonen mit den Korsen analogisiert werden, bedeutet nicht nur, dass sie medial nicht als Objekt wahrgenommen werden, sondern auch als Subjekt mit politischen Rechten und – hier sehr ähnlich dem deutschen

6

Art. »Jospin dit oui aux recheres sur l’embryon«, in: Le Monde, 29.11.2000. Art. »Jospin s’engage«, in L’Express No. 4576 [6.-13.12.2000].

7

Nicolas Mathey weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass hier kein Konsens Grundlage sei. Weder handle es sich um ein kohärentes Gesetz, noch um eines, welches das einlöst, was es verspricht. Mathey, Nicolas: Les contradictions de la loi de bioéthique du 6 août 2004, in: Guide politique de bioéthique, 2008: 121.

8

Art. »Clonage humain. La la gêne éthique«, in: LNO No. 1869 [31.8-06.09.2000].

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Diskurs – als Opfer politischer Willkür. Die Büchse der Pandora, die mit einer neuerlichen Hinterfragung des Embryonenstatus geöffnet werde, bringe vorderhand Schlechtes in die Welt.9 Auch die Soziologin Dominique Mehl erklärt gegenüber L’Express, die Überprüfung der Gesetze provoziere deshalb kaum noch eine (politische) Debatte, weil die Verantwortlichen gelähmt seien von der Vorstellung, die Debatte über den Embryo fortzusetzen (tetanisés à l’idée d’une reprise du débat sur l’embryon).10 Offensichtlich gilt es also, die gesundheits- und bevölkerungspolitische Hoheit über den Embryo zu bewahren, indem er zum Objekt gemacht wird: Nur wenn »jemand« da ist, muss über seine politischen Rechte gestritten werden. Dem folgt die Strategie, sich primär damit zu beschäftigen, wie man mit diesen Objekten gesellschaftlich/ politisch umgehen soll. Hier konstituiert sich also folgenreich Biomacht. Bestimmungen für die Forschung an Embryonen fanden sich dennoch im novellierten Gesetz. Sie sind formuliert in der Partie Législative de Codes de la Santé publique, wohingegen die Partie Réglementaire des Codes de la Santé publique konkrete Durchführungsregelungen von Anwendungungen beinhaltet und Sanktionen im Code Pénal verzeichnet sind. Die gesetzliche Regelung ist damit weitestgehend aufgesplittet.11 Mit Inkrafttreten der revidierten Bioethikgesetze gründete sich die Agence de la Biomédicine12 im Jahr 2005, die die CNMBRD ablöste. Ihre Aufgabe besteht seither in der Kontrolle, Evaluation und Dokumentation der Ethikommission13 sowie in der Kontrolle von Genehmigungen im Bereich der Transplantationsmedizin, der Reproduktionsmedizin und der Humangenetik. L’Express kommentiert nicht ohne Ironie: Wenn das nichts sei (Voilà quelques-unes des missions de l'Agence de biomédecine, mise en place la semaine dernière par les pouvoirs publics. Excusez du peu)!14 Angesichts des umfangreichen Arbeitsgebietes, so L’Express weiter, müssten die 180 Beschäftigten

9

In dieser Weise findet die Anspielung auf die griechische Mythologie primär eine Anwendung. In der Büchse allerdings befand sich allerdings auch Hoffnung, die nach abermaligem Öffnen Pandoras in die Welt kam.

10 Art. »Bioéthique: Pas de loi en catimini«, in: L’Express No. 2538 [24.2-1.3.2000]. 11 Heinemann, Thomas: Klonieren am Menschen, 2005:407. 12 Diese untersteht, wie die CNMBRD auch, dem Gesundheitsministerium (Loi n 2004800, 6.August 2004, Art. L. 1418, Code de la Santé publique). 13 Nippert, Irmgard: Präimplantationsdiagnostik – Ein Ländervergleich, 2006:38. 14 Art. »Un cadre pour la médicine du futur«, in: L’Express No. 2828 [15.-21.05.2005].

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wohl kaum um ihren Arbeitsplatz fürchten (Vu l'ampleur de la tâche, les 180 personnes employées par l’Agence de biomédecine ne vont pas chômer).15 In Vorbereitung der neuerlichen Gesetzesrevision war am 4. Februar 2009 zudem die états généraux de la bioéthique durch Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot eingesetzt worden. Diese veranstalteten u.a. in verschiedenen französischen Städten (Marseille, Rennes, Straßburg) sogenannte forums citoyens, in deren Rahmen öffentliche Gesprächsrunden etwa zur Forschung an Stammzellen und Embryonen oder zur PND stattfanden.16 Unverkennbar drückt sich hier der Wille aus, Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit der Partizipation an Entscheidungsprozessen zu geben. So betont die entsprechende Homepage, die Notwendigkeit, gemeinsam zu überlegen (réfléchir ensamble), wie mit den Neuerungen der Biowissenschaften umzugehen sei. Dies sei insbesondere im Rahmen der Gesetzesrevision von Bedeutung (c’est dans le cadre de cette révision que sont organisés les états généraux de la bioéthique).17 Ein solches Angebot unterstreicht aber neben einer institutionellen Verschiebung im Vergleich zu Deutschland18 auch eine Bedeutungsverlagerung im Umgang mit offensichtlich als gesellschaftlich relevant eingeschätzten Themen.

15 Ebd. 16 Dies war am 9.06.2009 in Marseille der Fall. Am 11.06.2009 wurde in Rennes über IVF diskutiert, am 16.06.2009 in Straßburg über die Entnahme und die Übertragung von Organen, Gewebe und Zellen. http://www.etatsgenerauxdelabioethique.fr/lesforums-citoyens.html [05.10.2010]. Die Einrichtung stellt einen medial kontinuierlich begleiteten Gegenstand dar. Etwa: Art. »Les Etats géneraux de la bioéthique font leur bilan.«, in: L’Express No. 3025, [26.06.-03.07.2009], Art. »Le rapport sur les états généraux de la bioéthique a été remis à l’Elysee« oder in derselben Ausgabe: Art. »Bioéthique: vrai Etats géneraux ou belle operation de com«?, in: LNO No. [2028 02.09.07.2009]. 17 http://www.etatsgenerauxdelabioethique.fr/les-forums-citoyens.html [02.10.2010]. 18 Auch in Deutschland, darauf hatte ich bereits hingewiesen, fanden sogenannte Bürgerkonferenzen statt. Deren Wahrnehmung und Stellenwert entsprach jedoch bei weitem nicht dem in Frankreich. 2003/2004 hatte etwa die AG Bioethik und Wissenschaftskommunikation eine interinstitutionelle Kooperation zwischen dem MaxDelbrück-Centrum für molekulare Medizin, dem Forschungszentrum Jülich und der Programmgruppe Mensch, Umwelt, Technik initiiert. Thema der Bürgerkonferenz war der Umgang mit Stammzelltherapien.

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(c) Andere Konfliktlinien: Die Aushandlung über den Status des Embryos – »etwas« oder »jemand« – bildet also auch einen zentralen Diskursstrang in der französischen Öffentlichkeit, aber nicht vor dem Hintergrund konfligierender Gesetze, sondern als Kollision von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Schon die Bestimmung, das Gesetz alle fünf Jahre auf seine Gültigkeit und Aktualität hin zu überprüfen, macht die Bioethikgesetze zu einem fortwährenden diskursiven Ereignis. So erklärt etwa Gesundheitsminister Mattei im Gespräch mit L’Express die seines Erachtens bestehende legislative Regelungsnotwendigkeit (Il y a urgence à légiférer dans des domaines - greffes, recherche sur les cellules souches, clonage - où les risques de dérive sont permanents, comme l'explique JeanFrançois Mattei).19 In dem Moment der Revision sind die Aufmacher der Zeitungen von einem Blick über die Grenzen bestimmt: Aus Großbritannien etwa erfährt man von der Möglichkeit, Leben zu klonen (Au moment où la France se prépare à revoir ses lois sur la bioéthique, comme le prévoit le texte de 1994, le clonage humain se retrouve à la Une des journaux, en Grande- Bretagne et dans l'Hexagone).20 Ein Wissen über solche Experimente – so die selbstreflexive Einschätzung – komme durch ihre mediale Erscheinung zustande (Cette expérience, déjà annoncée dans la presse américaine en novembre 1998, avait suscité plus que des doutes dans la communauté scientifique). In einer solchen im Unterschied zu Deutschland stärker profilierten Kollision von Wissenschaft (als Motor der französischen Bioethikgesetze) und Öffentlichkeit ereignet sich zweierlei: Die zu novellierenden Gesetze sind mit Forschungsergebnissen und Regelungslösungen jenseits ihres nationalen Geltungsbereiches konfrontiert. Eine Berichterstattung über diese stellt daher auch die französischen Bioethikgesetze in ein neues, in ein besonders aktuelles Licht. Deutlich anders im Vergleich zu Großbritannien und den USA sei hier die Haltung beispielsweise zum Umgang mit Embryonen (En France, toute recherche sur l'embryon est aujourd'hui interdite dans le cadre des lois sur la bioéthique, votées en 1994, qui doivent être révisées par le Parlement d'ici à la fin de l'année). In den nun aufgrund der Novellierung anstehenden Debatten sei der Embryo der unfreiwillige Held (l'embryon sera le héros). Aufgrund dessen sei es das Ziel, einen Ausgleich zwischen ethischem Standard und potentiellem Nutzen zu finden (trouver le juste équilibre entre la si nécessaire éthique et les bienfaits potentiels de cette médecine du futur).

19 Art. »La bioéthique selon Mattei«, in: L’Express No.2741 [4.-11.12.2003]. 20 Art. »La course du clonage manipulé«, in : L’Express No. 2503 [24.-30.6.1999]. Die folgenden Zitate: ebd.

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Unter dem Titel »Der Embryo spaltet Europa« (L’embryon diverse l’Europe)21 nimmt L’Express konkreter die unterschiedlichen Gesetzeslagen innerhalb Europas in den Blick, indem rechtliche Bestimmungen (am Beispiel Italien vs. Skandinavien) polarisierend diskutiert werden. Auf Frankreich bezogen heißt es dann, hier fliehe man nicht davor, das Projekt ›Bioethikgesetze‹ zu verändern (n’enfuit pas d’amender son projet de la loi de bioéthique).22 Dieses sehe die Forschung an Embryonen für fünf Jahre unter Ausnahmebedingungen als erlaubt an (à titre exceptionnel). Das therapeutische Klonen indes werde mit sieben Jahren Gefängnis bestraft (punir de sept ans de prison).23 Der Vergleich mit anderen gesetzlichen Bestimmungen stellt demnach offensichtlich auch einen Bestandteil der französischen Presselandschaft dar. Anlässlich der Patentierung eines Genoms in Großbritannien 1999 stellt LNO fest, die Patentierung menschlichen Lebens sei aufgrund der aktuellen Ereignisse auch ein brisantes Thema der französischen Verhandlungen zur Erneuerung der Bioethikgesetze (En arrière-plan du débat sur la révision des lois bioéthiques de 1994, qui s’engage ces jours-ci à l’Assemblée nationale, la «brevetabilité» du vivant apparaît comme une question cruciale).24 Vergleichbar mit den diesbezüglichen Äußerungen in Spiegel und Zeit zeigt man sich froh über die eigenen hohen rechtlichen (und damit implizit: ethischen) Standards. Nicht aber allein eine ethische und/oder rechtliche Verortung ist Folge des Blickes auf den Nachbarn. So geht etwa Marc Peschanski (IStem, Association française contre les Myo pathies, Inserm) davon aus, dass eine ausbleibende Autorisierung der Forschung an Embryonen eine Verlagerung von Wirtschaftszweigen ins Ausland zur Konsequenz haben werde (Les investisseurs continueront de fuir la France et, pour commencer, la première «usine de peau» du monde sera construite... en Belgique).25 Damit ist eine ökonomische Dimension der Ungleichheit der gesetzlichen Regelungen benannt. Sofern die nationale Gesetzgebung (lukrative) Forschungszweige unterbindet, ist deren Abwanderung in diesbezüglich liberalere Länder die Folge. Besonders die Überlegungen zur Forschung an embryonalen Stammzellen hatten dieser Argumentation auch innerhalb von Zeit und Spiegel zur Durchsetzung verholfen. Die Novellierung des Bioethikgesetzes bietet im Januar 2003 für L’Express neben der Auseinandersetzung mit divergierenden juristischen Regelungen zu-

21 Art. »L’embryon diverse l’Europe«, in: L’Express No. 2753 [5.-11.4.2004]. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Art. »La vie est-elle une marchandise?«, in LNO No. 1835 [10.-17.01.2000]. 25 Art. »Produire de la peu de bébé«, in: LNO, No. 2351 [26.11-03.12.2009].

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dem Anlass für ein Gespräch mit Gesundheitsminister Mattei. Auf die Einstiegsfrage nach der Bedeutung der turnusgemäßen Erneuerung führte dieser aus, die Entwicklungen in der Biomedizin seien nicht vorhersehbar, was etwa der geglückte Klonversuch im Jahr 1997 eindrucksvoll belege (nous n'avions pas réalisé les effets pervers d'une telle disposition).26 Bereits nach diesem Ereignis hätte das Gesetz eigentlich geändert werden müssen. Das sei jedoch mit Verweis auf die anstehende planmäßige Novellierung 1999 unterlassen worden. Eine solche Verspätung aber habe dann eine juristische Leerstelle erzeugt (ce retard a engendré des vides juridiques).27 Seine Änderungsbestrebungen, die Mattei im weiteren Gespräch expliziert, betreffen daher zentral den Umgang mit dem Klonen (in der Differenzierung zwischen therapeutischer und reproduktiver Anwendung). Darauf, dass er diesbezüglich den Tatbestand »Verbrechen gegen die Würde einer menschlichen Person« (crime contre la dignité de la personne humaine) in die gesetzliche Regelung einführen möchte, komme ich im zweiten Szenario zurück. Mit dem Bericht der Commission d' information, die sich aus 32 Abgeordneten der Nationalversammlung zusammensetzt, wurden schließlich nach Anhörung von 108 sachverständigen Persönlichkeiten (u.a. Angehörige der Forschung, medizinischer Berufe, der Justiz, Philosophie, Soziologie, Psychiatrie, Psychoanalytik, Vertreter der Religionsgemeinschaften) mit 95 Änderungsvorschlägen die Verhandlungen über die Revision des Bioethikgesetzes von 2004 abgeschlossen. Auch die folgende Revision stellt ein diskursives Ereignis dar. Im Sinne eines solchen verkündete L’Express, 2009 sei das Jahr der Bioethik (2009, année bioéthique)28; weil die Novellierung der Gesetze anstünde. Das heißt auch: Indem über das Gesetz regelmäßig neu verhandelt wird, geraten zwangsläufig die entsprechenden Themen der Bioethik in den Blick der Öffentlichkeit. Darüber hinaus tun sich jedoch auch weitere Schauplätze auf. Der erwähnte Beitrag macht sowohl die Geschichte des Gesetzes als auch konkreter deren Bestandteile zum Thema. Er verweist aber auch auf eine besondere Gruppe von Diskursteilnehmenden: Die kirchlichen Vertreter (L’Eglise dans la bateille).29 Immer wieder fungieren die Kirchen – und hier primär die katholische – als Stichwortgeber einer auf Einschränkung bedachten Haltung. Die Frage etwa, was mit überzähligen Embryonen geschehen soll und ob diese zu Forschungszwecken verwendet

26 Art. »Pour une loi exemplaire«, in: L’Express No. 2690 [23.-29.1.2003]. 27 Ebd. 28 Art. »2009, année bioéthique«, in: L’Express, No. 3001 [08.01-14.01.2009]. 29 Ebd.

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werden dürfen, hatte bereits die Debatte von 1994 polarisiert. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich offensive rechte Katholiken (offensive terrible de la droite catholique)30 aus den Reihen von Christine Boutin zu Wort gemeldet, die sich als Partisanen der Embryonen (partisans de l’embryon)31 erwiesen hätten. In Begriffen wie Schlacht (bateille) oder Partisanen (partisans)32 entsteht ein Kriegsszenario, das den Konfrontationsgrad unterstreicht. Aufschlussreich ist hier wiederum die Kampfrhetorik, die sich nahtlos an die Konstruktion der Embryonen als politische Subjekte anschließen lässt. Denn Partisanen kämpfen ja im eigenen Staatsgebiet gegen eine politische Macht, die selbst wiederum Gewalt ausübt, sowie gegen Kollaborateure. Werden die Vertreter der Kirche als Partisanen der Embryonen bezeichnet, die zu dem mit den Korsen verglichen werden, dann ist das ein sehr deutliches Indiz dafür, dass in der französischen Öffentlichkeit trotz der auf den ersten Blick sehr viel eindeutigeren rechtlichen Regelung ein Kampf um Anerkennung der Embryonen als kollektives politisches Subjekt ausgetragen wird. Inwiefern die religiöse Überzeugung dabei innerhalb der bioethischen Entscheidungsprozesse eine Rolle spielt, veranschaulicht auch die Frage von L’Express an Mattei, ob er aufgrund seiner religiösen Zugehörigkeit (Mattei ist praktizierender Christ) nicht in Konflikte gerate. Der Gesundheitsminister erklärt daraufhin, als er die Bioethikgesetze erschaffen habe, hätte er alle religiösen Bewegungen besucht und er habe versucht, im Sinne aller zu handeln (quand j'ai construit les lois de bioéthique, en 1994, je suis allé voir tous les mouvements re33 ligieux et j'ai cherché à ce que nous légiférions dans l'intérêt de tous). Die Titelbildmontage einer Ausgabe von LNO im Jahr 1997 offenbart zudem eine besondere Krisensituation: Anlässlich des Besuches von Papst Johannes Paul II. in Frankreich blickt dieser auf den Bauch einer nackten schwangeren Frau. Der Schriftzug verdeutlicht, es gehe um das Spannungsverhältnis zwischen Gott, Wissenschaft und Leben (Dieu, la science et la vie).34 Dem durch die Bioethikgesetze konstituierten Machtkomplex Wissenschaft-Politik stehen der Partisanenführer und das Lebensrecht derer gegenüber, für die er kämpft. Einer der entsprechenden Beiträge im Magazin enthält eine Tabelle, in der die unterschiedlichen Weltreligionen im Bezug auf ihre Einstellung zu den neuen Technologien

30 Art.: »Bioéthique: Pas de loi en catimini«, in: L’Express No. 2538 [24.2-1.3.2000]. 31 Ebd. 32 Dadurch, dass die Embryonen Partisanen benötigen, die stellvertretend für sie kämpfen, werden sie dabei natürlich in einem weiteren Schritt verdinglicht. 33 Art. »La bioéthique selon Mattei«, in: L’Express No. 2735 [04.-11.12.2003]. 34 Art. »Dieu, la science et la vie«, in: LNO No. 1711 [21.-27.08.1997].

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gegenübergestellt werden (les religions face aux nouvelles techniques de procréation).35 Offensichtlich unterscheidet sich die katholische Haltung entscheidend von der des Protestantismus, des Judentums und des Islams. Keine der anderen Religionen hält so viele Verfahren für unzulässig (refusée). Einschränkungen bezüglich des Verbotes bestehen nur hinsichtlich von Forschung (si l’internvention présente im nénefice pour l’embryon concerné) und therapeutischer Intervention (admise sauf risques disproportionnés pour la mère ou l’embryon). In diesem Zusammenhang gibt auch René Frydman, der ein Buch mit dem Titel »Gott, die Medizin und der Embryo« (Dieu, la médicine et l’embryon) geschrieben hat, ein Interview. Frydman expliziert, protestantische Familien hätten im Vergleich zu katholischen in diesen Fragen einen wesentlich pragmatischeren Zugang (une approche plus pragmatique). Innerhalb dieses Diskursstrangs erweist sich die katholische Haltung zum Lebensrecht als die »progressivste«. Die Konfrontation, die sich zwischen deren Maximen und ihren Mitteln dabei ergibt, untermalt die Notwendigkeit zur Entscheidung, auf welcher Seite man steht. (d) Leihmutterschaft: Die Jahre 2009 und 2010 sind allgemein von einer hohen Sensibilität der Medien gegenüber den Bioethikgesetzen gekennzeichnet. Schließlich bildete der am 20.01.2010 vorgelegte Bericht der Mission d' information der Nationalversammlung den Abschluss des die Revision des Bioethikgesetzes vorbereitenden Meinungsbildungsprozesses. Vorangegangen waren eine Stellungnahme der CCNE, eine Bilanz der Agence de la biomédecine (Oktober 2008), ein das Gesetz von 2004 evaluierender Bericht des Office parlamentaire d’évaluation des choix scientifique et technologieques (OPECST) (Januar 2009), eine von Premierminister Francois Fillon angeforderte Studie des Conseil d' Etat (Mai 2009) sowie der Schlussbericht vom 01. Juli 2009 der von Staats36 präsident Nicolas Sarkozy veranlassten états généraux de la bioéthique. Am 1. April 2010 sprach sich zudem das CCNE dafür aus, auch im Rahmen der anstehenden Revision am Verbot der Leihmutterschaften weiterhin festzuhalten.37 Eine siebenköpfige Minderheit der 40 Mitglieder hatte dafür plädiert, in

35 Art. »L’embryon a-t-il une âme?«, in: LNO No. 1711 [21.-27.08.1997]. Die folgenden Zitate: ebd. 36 http://www.kooperation-international.de/countries/themes/info/detail/data/48448/? PHPSESSID=b1d5e8129093f270ae3600c6b252706d [03.08.2010]. 37 Hierzu etwa: Art. »Bioéthique et politique«, in: LNO No. 2322 [7.-13.05.2009].

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einigen eng begrenzten Fällen Ausnahmen zu erlassen.38 Sie konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Die Frage, ob die Praxis der Leihmutterschaft zukünftig zulässig sein solle, hatte bereits anlässlich der Vorbereitung der zweiten Revision des Bioethikgesetzes 2008/2009 die öffentliche Auseinandersetzung bestimmt.39 In der Stellungnahme des CCNE wird darauf hingewiesen, dass sich das internationale Umfeld seit der ersten Revision des Bioethikgesetzes grundlegend verändert habe. Während die Leihmutterschaft in Belgien, den Niederlanden und Dänemark toleriert werde, sei sie in Großbritannien, Griechenland, Indien, Kanada und mehreren amerikanischen Staaten (mittlerweile) sogar erlaubt. In Folge des Verbots begäben sich mehrere hundert französische Paare jährlich in eines dieser Länder. Eine solche Begründung taucht in verschiedensten Zusammenhängen auf – liberale Bestimmungen in anderen Ländern dienen dabei argumentativ, die restriktiven nationalen Regelungen zu verändern. Für den Diskurs, wie er sich innerhalb der deutschen Medien abzeichnet, gilt (bzw. ab Juli 2010 vorbehaltlich: galt) ein solcher Vergleich mit internationalen Regelungen aber (bislang) in erster Linie für Verfahren wie die PID. Leihmutterschaft, darauf komme ich im dritten Szenario zurück, stellt in Deutschland zwar ein besonders in den letzten Jahren diskutiertes Thema dar, jedoch dient der Verweis auf diese Praktik der Anderen eher dazu, über eigene ethische Standards zu räsonieren. Die von der Mehrheit der CCNE getragene Stellungnahme (Avis No 110) bezieht sich u.a. auf die Unsicherheit, die eine Leihmutterschaft für die Zukunft des Kindes bedeutet. Insbesondere, wenn die Kinder gewahr würden, dass sie Gegenstand eines Handels (enjeu de tracation) waren, könnte dies zu deren seeli-

38 Ihre Auffassung brachten die sieben Mitglieder einer der CCNE-Stellungnahmen beigefügten, knapp 1-seitigen »dissenting opinion« zum Ausdruck. Hierin machten sie geltend, dass die Beibehaltung des Verbots der Leihmutterschaft im Gegensatz zu den übergeordneten Interessen aller Kinder stehe, die dank einer ärztlich assistierten Kindeszeugung in Ländern, in denen das Verbot nicht bestehe, auch weiterhin geboren werden. Französische Paare, die über die finanziellen Mittel hierzu verfügten, würden sich – so das Minderheitenvotum – weiterhin in diese Länder begeben http://www. ccne-ethique.fr, [29.09.2010]. 39 So etwa: Art. »Mères porteuses vers la legislation?« in: L’Express No. 2971, 12.18.06.2008; Art. »C’est de l’aliénation«, in: L’Express No. 3020, [21.-27.05.2009]; Art. »Moi, C., mère porteuse«, in: LNO No. 2348 [02.-11.11.2009]. Und sie taten dies auch nicht im Rahmen der Beratung der Bioethikgesetze im Januar 2011. L’Express: »Bioéthique: comment les parlementairs veulent faire la loi« No. 3072 [8.16.02.2011].

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scher Verletzung führen. Statt die Leihmutterschaft zu befürworten, rät die CCNE, Investitionen in diejenige medizinische Forschung zu erhöhen, die sowohl die Ursachen der Unfruchtbarkeit von Frauen zum Gegenstand habe, als auch die Prävention vermeidbarer Ursachen weiblicher Unfruchtbarkeit. Hierbei ausschließlich auf die weibliche Unfruchtbarkeit zu rekurrieren, schreibt selbstverständlich einen sich durch den Reproduktionsdiskurs ziehenden Topos fort. Darüber hinaus sei es angezeigt, über das Bild von weiblicher Unfruchtbarkeit und Mutterschaft insgesamt nachzudenken. Innerhalb der Thematisierung in L’Express und LNO sind es vor allem der Gynäkologe René Frydman40 und die Philosophin Sylviane Agacinski41, die prominent Position gegen eine Legalisierung der Leihmutterschaft beziehen. Primär drei Aspekte sind es, die die mediale Auseinandersetzung über die Bioethikgesetze genauer in einen Zusammenhang mit den Beiträgen aus Spiegel und Zeit rücken. Auf zwei habe ich bereits verwiesen: Das Interesse an der Möglichkeit der Leihmutterschaft lässt sich auch den Artikeln aus Deutschland entnehmen. Ich werde die anlässlich solcher Verfahren bestehenden Überlegungen im dritten Szenario diskutieren, in dem es um das Recht auf ein eigenes Kind geht. Zum anderen verbindet Deutschland und Frankreich auf einer gesetzlichen Ebene die restriktive Haltung dem Klonen gegenüber, ein Umstand, der alle vier Printmedien zur Abbildung tagespolitischer Ereignisse veranlasst. Der von Gesundheitsminister Mattei eingebrachte Vorschlag, eine derartige Anwendung als Verbrechen gegen wahlweise die Würde der menschlichen Person oder der Gattung ›Mensch‹ zu lancieren, führt aus verständlichen Gründen zu einer Reflexion und einer Konfrontation mit dem Tatbestand »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Diesen Umstand nehme ich zum Anlass, die sich an der Wortwahl entzündende Kontroverse in meinem zweiten Szenario näher zu beleuchten. Denn zweifelsfrei verweist eine solche Benennung nicht nur auf die Vergangenheit – und schließt damit an den Eugenik-Diskursstrang (auch als Konkretisierung des Tatbestandes) an –; vielmehr impliziert eine solche Benennung einen folgenreichen Rekurs auf das Völkerrecht. Für das erste Szenario beschränke ich mich auf einen dritten Punkt: Ich vollziehe die (durch die Bioethikgesetze flankierte) französische Wahrnehmung der PID nach. Die im Vergleich zu den Beiträgen aus Spiegel und Zeit augenscheinliche Leerstelle Spätabtreibung dient mir als Anlass, die Aushandlungen über den Schwangerschaftsabbruch (und hier primär: den medizinisch induzierten Schwangerschaftsabbruch) in den Blick zu nehmen.

40 Art. »C’est de l’aliénation«, in: L’Express No. 3020 [21.-27.05.2009]. 41 Art. »Des enfants marchandieses«, in: L’Express No. 3028 [25.06.-01.07.2009].

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(e) PID als Konfliktstoff: Nach Ansicht von L’Express ist die Regelung der PID so kompliziert, dass vier Jahre zwischen dem 1994 verabschiedeten Bioethikgesetz und dem aktuellen Dekret No. 98-216, das die PID seit 1999 erlaubt, liegen. Das habe auch schon Simone Veil bei der Präsentation des Gesetzes am 5. April 1994 zum Ausdruck gebracht, indem sie die PID als schwierigste Frage ausweist, über die es sich zu streiten gelte (c’est la question la plus difficile dont nous avons à debattre).42 Sie sei es deshalb, weil diese Technik mit einem Mal den außerordentlichen Fortschritt im Bereich der künstlichen Befruchtung ebenso illustriere, wie sie Befürchtungen und Fantasien wecke (parce que cette technique illustre à la foi les extraordinaires progrès en matière de procreation medicalement assisté et les craintes réelles ou fantasmatiques, qui en découlent). Auf der Ebene der PID wiederholt sich konkret die diskursive Logik der öffentlichen Auseinandersetzung um die Bioethikgesetze. Auch hier waren es die Kirchenvertreter, die den Embryo als Subjekt gegen dessen implizite Verdinglichung verteidigten. So verweist L’Express rückblickend auf die Position der »ultracatholique« im Parlament, die in der Umsetzung entsprechender Verfahren den Mord von menschlichen Lebewesen sahen (assasinat d’être vivants). Aber auch innerhalb der medizinischen Gemeinschaft befürchtet Jaçques Testart, dass das Aussortieren von Embryonen einen ersten Schritt in Richtung Eugenik darstelle (un premier pas vers l’eugénisme).43 Beschwichtigend auf die Meldung aus Großbritannien, man habe ein für Krebs-Prädisposition verantwortliches Gen gefunden, heißt es allerdings auch, die PID werde in zahlreichen Ländern durchgeführt und bis heute gebe sie für die Überschreitung enger medizinischer Grenzen keinen Grund (n’a pas’ à ce jour, donné lieux aux déra pages prophétiqués par se detracteurs).44 Im Jahr 2001 brachte das CCNE eine Stellungnahme mit dem Titel »Überlegungen zur Ausweitung der Präimplantationsdiagnostik« (Réflexions sur l’extension du diagnostic préimplantatoire) heraus.45 Beispielhaft ging es hier um die HLA-Typisierung und den Ausschlusstest für Chorea Huntington für Eltern, die ihren Übertragungsstatus nicht kennen möchten. Diese Stellungnahme

42 Art. »Embryons sous haute surveillance«, in: L’Express No. 2446 [21.-27.5.1998]. Die folgenden Zitate: ebd. 43 Ebd. Vgl. dazu die Diskussion im 2. Szenario. 44 Art. »Embryons sous haute surveillance«, in: L’Express No. 2446 [21.-27.5.1998]. 45 Comité Consultatif National d’Ethique pour les Sciences de la Vie et de la Santé: N°72 juillet 2002. Réflexions sur l’extension du diagnostic préimplantatoire, http: //www.ccne-ethique.fr/francais/start.htm, [03.02.2010].

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ist im Vergleich zu den Jahren 1986 und 1990 gekennzeichnet durch eine liberalere Haltung der PID gegenüber. Dennoch wird die Erweiterung der PID prinzipiell abgelehnt.46 Im Jahr 2003 wurde mit der Novellierung der Bioethikgesetze das Indikationsspektrum allerdings erweitert. Fortan dürfen in Ausnahmefällen Gewebetypisierungen vorgenommen werden.47 2009 veröffentlichte L’Express einen sich speziell auf die PID beziehenden Beitrag.48 Diese werde in Anspruch genommen von Eltern, die an einer schweren erblichen Krankheit (maladie héreditaire grave)49 leiden, die sie nicht an ihre Kinder weitergeben wollten. Aus diesem Grund greifen sie auf das Verfahren zurück, das so delikat wie kontrovers sei. Wie weit dürfe man mit den Vorhersagen gehen? Nach Ansicht Frydmans stelle die PID nach wie vor ein ethisches Problem dar (pose déjà problèmes éthique). Das sei deshalb der Fall, weil mit der Begrenzung eines genetischen Risikos nichts über die Folgen ausgesagt ist, nichts über die Erscheinungsform und Schwere einer möglichen Krankheit (nous ne savons pas comment celui-ci va se traduire, quelle sera L’Expression de la maladie ou sa gravité). Auf den Einwand von L’Express, der Begriff der Krankheit (maladie) weite sich ständig aus, bis hin zur Geschlechtsauswahl, entgegnet der Gynäkologe, die Amniozentese böte theoretisch ebenfalls die Möglichkeit der Geschlechterauswahl, aber sie werde dazu nicht verwendet. Das aber sei in Indien etwa der Fall. Die Anwendungsmöglichkeit wird demnach durch Selbstverpflichtungen begrenzt. Warum solle man aber die Geschlechterselektionen eigentlich nicht betreiben? Wenn ein Paar beispielsweise bereits vier Töchter habe und sich einen Sohn wünsche (Prenez l’exemple d’un couple qui a déjà quatre fille et qui voudrait un garçon. La technique le permettrait la facilement. Pourquoi s’y opposer)?50 Einer solchen Auswahl liegt kein medizinischer Befund zugrunde. Stattdessen dient die PID zur Wunscherfüllung potentieller Eltern und deren vermeintlich gesteigerter Lebensqualität. Anders verhalte es sich, wenn Kinder für ihre Geschwister entstehen. Bei der unter bestimmten Konditionen erlaubten Geschwisterspende handle es sich um eine Selektion von Embryonen auf Grundlage der genetischen Kompatibilität zu ihren zukünftigen Geschwistern (il s'agit dans ce cas de sélectionner un embryon

46 Nippert, Irmgard: Präimplantationsdiagnostik – Ein Ländervergleich, 2006:48. 47 Hennen, Leonhard; Sauter, Arnold: Präimplantationsdiagnostik. Praxis und rechtliche Regelung in sieben ausgewählten Ländern, 2004:63. 48 Art. »Bébés sains à la carte«, in: L’Express No. 3027 [09.-15.07.2009]. 49 Ebd. 50 Art. »Nous luttons contre la fatalité des gènes«, in: L’Express No. 2705 [8-14.5.2003].

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au patrimoine génétique compatible avec celui d'un grand frère ou d'une grande soeur)51, die von einer schweren Krankheit (maladie grave) betroffen seien und denen nicht durch eine Therapie mit Stammzellen geholfen werden könne (ne peut être soigné que par une greffe de cellules souches).52 Auf einen durch die Reglementierung bestehenden Zwiespalt weist Frydman hin, indem er konstatiert, das französische Gesetz schließe die Erkennung des Krebsgens nicht aus (la loi française n'exclut pas le recours au DPI pour des gènes de prédisposition au cancer)53, erlaube aber (unter strengen Konditionen) die Geschwisterspende. Der Verweis auf (vermeintliche) praktische Inkompatibilitäten macht den polysemischen Charakter von ›Krankheit‹ besonders transparent.

(3) Z UGANG

ZUR

PID

Bereits 1986 hatte die CCNE anlässlich der PID zu einem Moratorium geraten. In diesem mahnte die Kommission das Verletzungspotential von Würde, Respekt und Freiheit des zukünftigen Menschen an.54 Die ersten breitenwirksamen Aushandlungen der Methode fallen also in eine Zeit, die außerhalb meines Untersuchungszeitraumes liegt. Leonhard Hennen und Arnold Sauter unterscheiden hinsichtlich der öffentlichen Wahrnehmung der PID zwei Phasen: Während die Jahre bis 1996 von starker Skepsis gegenüber der PID geprägt gewesen seien, sei mit dem Regierungswechsel von der konservativen hin zur sozialdemokratischen Partei 1997 sowohl die politische als auch die gesellschaftliche Akzeptanz gewachsen.55 Inwiefern die Diagnostik dabei im Einzelnen auf Zustimmung trifft, bleibt an dieser Stelle offen. Auffallend ist jedoch, bezogen auf den Zeitraum 1995 bis 2010, dass weit weniger Artikel in L’Express und LNO das Verfahren isoliert in den Blick nehmen als dies in Spiegel und Zeit der Fall ist.56 Ein solcher

51 Art. »La tentation de l’eugenisme!«, in: L’Express No. 2880 [14.-20.09.2006]. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Heinemann, Thomas: Klonieren am Menschen, 2005:407. 55 Hennen, Leonhard; Sauter, Arnold: Präimplantationsdiagnostik. Praxis und rechtliche Regelung in sieben ausgewählten Ländern, 2004:74. Ein Schluss, zu dem auch Irmgard Nippert in ihrer Untersuchung: Präimplantationsdiagnostik – Ein Ländervergleich (2006) gelangt. 56 L’Express nahm die PID innerhalb des Untersuchungszeitraums nur dann zentral in den Blick, wenn es die tagespolitische Agenda rechtfertigte. Das geschah etwa, als aus

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Umstand ist einerseits offensichtlich der Regelungskompetenz bzw. der Regelungsunsicherheit geschuldet. Andererseits lässt er sich durch die politische Aneignung des Lebens erklären, die ich im 2. Abschnitt als (unterdrückten) Kampf um Anerkennung skizziert habe. Ein zweiter Diskursstrang betrifft den innergesellschaftlichen Kampf um Gerechtigkeit, der in Deutschland erst beginnen kann, wenn die Rechtsunsicherheit um die Zulassung der PID endgültig geregelt ist.57 Die ausgewählten französischen Medien sind also mit dem Angebot und den Zugangsmöglichkeiten, präinseminativ Aussagen über den Embryo zu treffen, wesentlich früher konfrontiert; sie sind es innerhalb eines offensichtlich divergierenden Rahmens. Dieser führt nichtsdestotrotz angesichts von Möglichkeiten, etwa das Geschlecht eines zukünftigen Kindes zu bestimmen, zu brisanten ethischen Fragen, die insbesondere den Krankheitsbegriff zur Disposition stellen. Nur einige medizinische Teams in Frankreich mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten in ihren Diagnoseverfahren bieten die PID überhaupt an. Voraussetzung für diese Zentren ist, dass sie bereits für IVF/ICSI lizenziert sind und mit Molekulargenetikern und Zytogenetikern kooperieren. Alle Zentren unterliegen zudem einer jährlichen Berichtspflicht.58 Die Bioethikgesetze sehen weiterhin eine verpflichtende Beratung desjenigen Paares vor, das die Behandlung in Anspruch nimmt. In diesem Zusammenhang sollen beide Partner über die Möglichkeit der Adoption unterrichtet werden.59 Ein Zugang zur PID ist also weniger rechtlich, denn strukturell begrenzt. Auf der Basis des Gesetzes von 1994 wurden die konkreten Voraussetzungen für die praktische Anwendung der PID mit den entsprechenden Regierungsverordnungen im Mai 1997 und im März 1998 geschaffen. Die ersten beiden PID-

Großbritannien gemeldet wurde, dort werde ein Kind ohne das erbliche Brustkrebsrisiko geboren. Art. »La tentation de l’eugenisme«, in: L’Express No.2880 [14.20.09.2006]. Auch LNO beschäftigt sich mit dem Verfahren, wenn es – in erster Linie – aus dem Ausland kommende neue Möglichkeiten bzw. Praktiken offenbart. Im Jahr 2004 etwa hatte ein US-Amerikaner mittels PID das Geschlecht eines zukünftigen Kindes ausgewählt. Ein Umstand, den LNO mit der Feststellung »Babys aus dem Katalog« (Des bébés sur catalogue) überschrieb. LNO No. 2071 [19.-26.08.2004]. 57 Mit dem Urteil des BGH im Juli 2010 lag keine allgemeine Regelung der PID vor. Seit April 2011 werden drei Gesetzesvorschläge im Bundestag beraten. 58 Nippert, Irmgard: Präimplantationsdiagnostik – Ein Ländervergleich, 2006:37. 59 Allerdings spielt dies in der Praxis eine geringe Rolle, weil die Mitarbeiter des Teams davon ausgehen, dass PID und Adoption gleichzeitig nur schwer zu verfolgen sind.

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Zentren erhielten 1999 durch die Verwaltungsverordnung des Staatssekretariats für Gesundheit und Soziales in Übereinstimmung mit der Empfehlung der CNMBRDP ihre Zulassung.60 Inwiefern die so entstandene Interimszeit die PID in Frankreich in eine Grauzone verschoben hatte, unterstreicht 1997 der Gynäkologe Frydman in einem Interview mit LNO. Auf die Frage, ob die Untersuchung von Embryonen denn nun erlaubt sei oder nicht, antwortet er, Frankreich befinde sich in einer weder-noch-Situation. Weder sei die PID wirklich verboten noch sei sie erlaubt (dans un état de ni-ni. Ni interdiction ni permission).61 Das Gesetz sei beschlossen, aber der entsprechende Erlass sei bislang nicht publiziert (La loi a été votée, mais les décrets n’ont pas été publiés). Das sei seines Erachtens auch deshalb besonders nachholbedürftig, um den medizinischen Tourismus zu unterbinden (d’éviter le tourisme médical). Zudem sei es für einen französischen Forschenden schwer zu akzeptieren, dass Gruppen aus Belgien oder Italien die PID durchführen (difficile d’accepter que des équipes italiennes ou belges fassent du diagnostic génétique préimplantatoire). Die Argumente gegen die Inanspruchnahme der PID seien in der Angst begründet, mit ihr erfülle sich die Geschichte des Zauberlehrlings (qu’il peut permettre toutes les dérives d’apprentis sorciers). Die Rede vom Zauberlehrling ist ein der deutschen Diskussion vergleichbares Hybris-Argument, nur dass nach dem Gesagten die Hybris nicht nur das »Gott-Spielen«, sondern innerhalb des Machtkomplexes Wissenschaft-Politik auch das »absolutistische Souverän-Spielen« betrifft. Die Gegenargumente zur PID, so Frydman weiter, seien jedoch Begründungen, die bereits zwanzig Jahre zuvor im Bezug auf die Amniozentese und deren Möglichkeit, Trisomie 21 zu erkennen, geäußert wurden (à propos de l’amniocentèse et de la possibilité qu’elle offrait de repérer une trisomie 21). Die PND – hier am Beispiel Amniozentese – dient so zur Relativierung der an die Inanspruchnahme der PID geknüpften Befürchtungen. Eine solcher Verweis deutet die – zumindest langfristige – Beruhigung und Normalisierung im Umgang mit der PID an: Wenn die Bevölkerung sich mit der PND abgefunden habe, so werde dies, der Einschätzung Frydmans folgend auch mit der Zeit für die PID gelten. Demnach stellt die öffentliche Empörung ein temporäres Phänomen dar, das durch entsprechende Praxis in Akzeptanz münde. Befragt nach der sich verändernden Mentalität bezüglich der Reproduktionstechnologien konstatiert

60 Hennen, Leonhard; Sauter, Arnold: Präimplantationsdiagnostik. Praxis und rechtliche Regelung in sieben ausgewählten Ländern, 2004:62. 61 Art. »L’embryon at-il une âme?«, in: LNO, No. 1711 [21.-27.08.1997]. Die folgenden Zitate: ebd.

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Frydman zehn Jahre später, ebenfalls in L’Express, seit 2004 sei das Erzeugen von Geschwisterkindern schließlich erlaubt. Aufgrund der sich peu à peu ausweitenden Zulassung von Einsatzmöglichkeiten der Diagnostik erhoffe er sich von der Neuregelung der Bioethikgesetze eine Lösung des seines Erachtens bestehenden Eizell- und Spermaspende-Problems.62 Die Regeln der Anonymität ebenso wie die der Gratisspende hätten mittlerweile ihre Grenzen erreicht (trouve un peu ses limites)63, so dass auch deshalb eine gesetzliche Modifizierung angezeigt sei. Auch in Bezug auf die Regelung der Spende stiftet Frydman ein Verhältnis von technischen Möglichkeiten, gesetzlicher Regelung und gesellschaftlicher Befürwortung. Inwiefern Diskurse einer anderen Logik folgen (können), habe ich für den deutschen Diskurs anhand der Normenverschiebung von einer ›Ethik des Heilens‹ zu der ›Heiligkeit des Lebens‹ illustriert. Im Jahr 2000 geriet die PID aus zwei Gründen erneut in die Diskussion: Zum einen, weil Gesundheitsminister Hervé Gaymard gegen sie stimmte und sich weigerte, den Erlass zu unterzeichnen.64 Zum anderen durch eine Geburt: Im November 2000 kam das erste Kind nach einer PID zur Welt.65 Die Gynäkologin

62 Ein solches verweist hier auf eine Mangelsituation. Nicht alle, die spenden könnten, dürfen dies auch. 63 Art. »René Frydman: Aujourd’hui, on veut des bébés à tout prix«, in: L’Express No. 2903 [22.-28.2.2007]. Schließlich könnten mit einer solchen Regelung nicht alle spenden, die das eigentlich wollen (wie etwa Schwestern). Für die Gratisspende kann er sich vorstellen, eine Form der Anerkennung (reconnaissance) bzw. eine Entschädigung (indemnisation) zu installieren. 64 Art. »Bébes sains à la carte«, in: L’Express No. 3027 [09.-15.07.2009]. 65 Für die ersten 14 Monate ihrer Tätigkeit (November 1999 bis Dezember 2000) veröffentlichten die Zentren eine gemeinsame Bilanz ihrer PID-Aktivitäten. In diesem Zeitraum wurden insgesamt 260 Anträge auf Durchführung bearbeitet. Dabei stellte die Zystische Fibrose (Mukoviszidose) 48 Prozent der Anfragen in der Kategorie autosomal-rezessiver Krankheiten und die spinale Muskelatrophie 22 Prozent. Für autosomal-dominante Krankheiten beobachtete man ein Vorherrschen von Erkrankungen, die an eine Vervielfachung von Trinukleotiden gebunden sind (wie die Myotonische Dystrophie Steinert und Chorea Huntington). Für Chorea Huntington wussten lediglich die Hälfte der anfragenden Patienten über ihren genetischen Status als Träger Bescheid. Die andere Hälfte wollte diesen nicht erheben lassen und hatte deshalb keinen legalen Anspruch, die Diagnostik durchführen zu lassen. Bei den X-chromosomal gebundenen Krankheiten herrschten die Muskeldystrophie Duchenne und das Fragile X-

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Michelle Plachot bedauert gegenüber L’Express dessen »Verspätung«; schließlich sei Frankreich ein Pionier-Land gewesen, als es um die IVF ging (pays pionnier en matière de FIV).66 Inzwischen wird die PID jährlich etwa 100 Mal in Frankreich durchgeführt, was im Durchschnitt 10 bis 20 Geburten zur Folge hat. Im Jahr 2004 wurden sogar 24 Kinder geboren, die als Embryonen in der Petrischale getestet worden waren.67 War bis 2004 ein Zugang nur verheirateten Paaren erlaubt, so können seit der Novellierung der Bioethikgesetze auch solche Paare die Diagnostik in Anspruch nehmen, die mindestens zwei Jahre in stabiler Partnerschaft gelebt haben (d’apporter la preuve d’une vie commune d’au moins deux ans).68 Die Regeln, wer Kinder bekommen darf, bzw. wer Verfahren in Anspruch nehmen darf, finden sich zudem auch im Strafgesetzbuch. Nicht nur die konkrete Lebenssituation entscheidet aber über die Möglichkeit der Inanspruchnahme. Zusätzlich ist die Anwendung der PID beschränkt auf Paare mit einem hohen Risiko, Kinder mit einer genetischen Krankheit zu bekommen (réservé aux couples présentant des risques élevés de transmission à leurs enfants de maladies génétiques, mucoviscidose ou myopathie notamment).69 Die Zugangsbedingungen sind nach Einschätzung von L’Express damit streng umgrenzt (sévèrement encadrées).70 Für diejenigen, denen deshalb nicht geholfen werden kann, bleibe nur die Ei-

Syndrom vor. Chromosomen-Translokationen betrafen insgesamt etwa ein Drittel aller Fälle (CCNE 2002). 66 Art. »Embryons sous haute surveillance«, in: L’Express No. 2446 [21.-27.5.1998]. 67 Ebd.: 44. 68 L-2131-2. Eine solche Einschränkung gilt überdies für alle Verfahren der künstlichen Befruchtung. So hält der Artikel 152-2 des Code de la santé fest, dass ausschließlich verheirateten oder mindestens zwei Jahre zusammenlebenden Männern und Frauen (also ausschließlich heterosexuellen Paaren) im zeugungsfähigen Alter der Zugang erlaubt ist (L’homme et la femme formant le couple doivent être vivants, en âge de procréer, mariés ou en mesure d’apporter la preuve d’une vie commune d’au moins deux ans et consentants préalablement au transfert des embryons ou à l’insémination). Zu den hiermit verbundenen Ausschlusskriterien siehe Iacub, Marcela: Le crime était presque sexuel et autres essais de causuistique juridique, 2002:211. 69 Art. »Embryons sous haute surveillance«, in: L’Express No. 2446 [21.-27.5.1998]. 70 Art. »Bébes sains à la carte«, in : L’Express No. 3027 [09.-15.07.2009]. Erfüllen Paare die Auflagen, dann werden 100 Prozent der entstehenden Kosten (inklusive Fahrtkosten) von der Krankenversicherung erstattet. Hierzu: Nippert, Irmgard: Präimplantationsdiagnostik – Ein Ländervergleich, 2006:44.

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zellspende71, so die Zeitschrift weiter. Diese sehe allerdings einen langen Weg vor, der sich durch eine Inanspruchnahme im Ausland abkürzen lasse. Im Gegensatz zu den sich mit den Angeboten im Ausland befassenden Beiträgen aus Deutschland, erklärt sich deren Inanspruchnahme nicht, weil die erwünschte Untersuchung verboten ist, sondern weil die konkrete Regelung einen Zugang erschwert. Diejenigen Paare, denen eine Diagnostik versagt bliebe, hätten schreckliche Dramen erlebt (vivent souvent des drames terribles). Wenn man ein Kind im Alter von 12 oder 13 Jahren verloren habe, dann könne man schließlich nicht von der PID als einer Luxus-Medizin sprechen (quand on a déjà perdu un enfant de 12 ou 13 ans, après des années de maladie, on ne peut pas parler du DPI comme d'une médecine de confort).72 Für diese Gruppe stellt die PID nach Ansicht von Frydman einen medizinischen wie menschlichen Vorteil dar (une avancée considérable sur un plan médicale mais aussi humain).73 Von einem solchen Vorteil zu profitieren, sei auch deshalb wünschenswert, weil die Betroffenen sich andernfalls nur einer PND unterziehen könnten und dann im gegebenen Fall eine »therapeutische Abtreibung« (avortement thérapeutique) vornehmen ließen. Der Diskurs der ›Ethik des Heilens‹ hat hier auf das Abtreibungsthema übergegriffen. Die aber löse bei den von ihr betroffenen Frauen ein Trauma (traumatisme) aus. Ein solches sei mitunter dafür verantwortlich, dass Paare ganz von dem Kinderprojekt ablassen (un traumatisme tel que, souvent, les couples renconçaient définitvement à un projet d’enfant).74 Das kann aber nicht im Sinne einer Gesetzgebung sein, die über den Machtkomplex aus Wissenschaft und Politik den Bevölkerungskörper kontrolliert. Dabei erlaube die Methode, indem sie die risikohaften Embryonen eliminiere, den Schwangerschaftsabbruch zu verhindern (cette méthode, en éliminant les embryons à risque, permet d'éviter les interruptions volontaires de grossesse).75

71 Mit den 1994 erlassenen Bioethikgesetzen ist eine anonyme Eizellspende möglich, wenn Samen des Partners verwendet wird, d.h. keine Kombination von Samen- und Eizellspende. Embryospende ist zudem im Ausnahmefall (anonym, unentgeltlich) erlaubt, wenn eine Schwangerschaft nur mittels Keimzellenspende möglich wäre. Notwendig ist die schriftliche Zustimmung des »Erzeugerpaares« zur Embryospende vor Gericht; dieses prüft die Eignung des Empfängerpaares (L.1244-1ff). 72 Art. »La tentation de l’eugenisme!«, in: L’Express No. 2880 [14.-20.09.2006]. 73 Art. »Embryons sous haute surveillance«, in: L’Express No. 2446 [21.-27.5.1998]. 74 Ebd. 75 Art. »Bébes sains à la carte«, in: L’Express No. 3027 [09.-15.07.2009].

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Der Verweis auf die belastende Erfahrung des Schwangerschaftsabbruchs ist auch ein wichtiger argumentativer Bestandteil des deutschen Reproduktionsdiskurses. Während aber in den von mir untersuchten Beispielen aus Zeit und Spiegel der Hinweis auf den Abbruch die PID als Instrument zur Verhinderung dieser Erfahrung ins Spiel brachte, lautet innerhalb der ausgewählten französischen Medien die Alternative zur PID weniger PND und Abbruch, sondern vielmehr Verzicht76, eine Option, die angesichts von bevölkerungspolitischen Szenarien ihre Wirkkraft entfaltet.77

(4) S CHWANGERSCHAFTSABBRUCH VON PID UND PND

IM

K ONTEXT

Allgemein findet die Befürchtung, eine (Spät-)Abtreibung78 durch die Unterlassung der PID zu befördern, weit weniger Aufmerksamkeit in den Beiträgen von L’Express und LNO als in Spiegel und Zeit. Schwangerschaftsabbrüche stehen primär dann innerhalb des Untersuchungszeitraums im Zentrum des Interesses, wenn es um die Verlängerung der legalen Abbruchsmöglichkeit von zehn auf zwölf Wochen geht. Das war im Jahr 2000/2001 der Fall. Am 30. Mai 2001 ist in Frankreich eine Gesetzesrevision ergangen, die die Zwangsberatung vor einem Schwangerschaftsabbruch (ausgenommen für Minderjährige) abgeschafft

76 Einen Ausweg zeichnet der Mediziner Bernard Debré im Streitgespräch mit der Katholikin Christine Boutin in L’ Express mit dem Hinweis auf die marginale Inanspruchnahme der PID auf (le diagnostic préimplantatoire restera par définition marginal; 99% des femmes ne recourront pas à cette technique, qu'il n'est pas question de rendre obligatoire!). Betroffene Frauen hätten eben nicht nur die Wahl, die Schwangerschaft zu beenden oder zu erhalten, es bestünde zudem auch die Möglichkeit, das Baby bereits pränatal zu behandeln (non plus entre deux solutions - avorter ou garder l'enfant - mais trois. Le bébé pourra aussi être réparé in utero, grâce à l'injection d'un gène modifié. On saura lire dans le grand livre de la vie, repérer la faute d'orthographe et la corriger). Art. »Progrès ou danger?«, in L’Express No. 2846 [18.25.01.2006]. 77 Eine solche Befürchtung drückt sich aus in Titeln wie »Szenarien eines alternden Frankreichs« (Les scénarios d’une France ridée), in: L’Express No. 2374 [02.08.01.1997]. 78 Seit 1982 übernimmt die Sozialversicherung die Kosten eines Schwangerschaftsabbruchs.

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und die Frist von vorher 12 auf 14 Wochen nach der letzten Periode verlängert hat. Eine Liste, bei welchen Einschränkungen ein Abbruch zulässig ist und bei welchen nicht, formuliert das Gesetz bewusst nicht, weil eine solche Entscheidung zu normativ sei. Stattdessen ist es in Frankreich erlaubt, die Schwangerschaft wegen einer Missbildung (pour une malformation) abzubrechen, die mit einem ›normalen‹ Leben inkompatibel wäre (incompatible avec une vie normale).79 Eine Ausweitung der Fristen verändere nichts an der gängigen Praxis, so hatte im Vorfeld eine Gruppe der Kontrahenten argumentiert. Für andere öffnet eine solche Entscheidung das Tor zur Eugenik (ouvre la voie à la tentation eugéniste).80 Der von L’Express angeführte Experte erklärt dies damit, dass viele Frauen in der 11. Schwangerschaftswoche eine Ultraschalluntersuchung durchführen ließen, nach der sie dann unter bestimmten Bedingungen (Geschlecht, Behinderung) die Schwangerschaft abbrechen würden. Von der sechsten Woche an könne der Mediziner im Fall einer Gefährdung der Frau durch die Schwangerschaft, oder wenn der Fötus unheilbare Anomalien aufweise, einen medizinischen Abbruch durchführen (lorsqu’une grossesse risque d’être dangereuse pour la femme ou que le fœtus présente une anomalie d’une particulière gravité et incurable au moment du diagnostic « le médecin peut procéder à une interruption médicale de grossesse).81 Eine Regelungsnotwendigkeit ergebe sich, folge man der allgemeinen Einschätzung der Zeit, schon allein aus der Tatsache, dass das Gesetz Veil82 zu einem Zeitpunkt verabschiedet wurde, als die PND noch nicht existierte. Eine solche rechtliche Situation besteht in Deutschland, wie beschrieben, zwischen ESchG und der PID. Denjenigen, die sich in Frankreich für die Erweiterung der

79 Eine solche Regelung entspricht der bis 1995 gültigen »embryopathischen Indikation« in Deutschland. 80 Art.: »La nouvelle bateille de l’IVG«, in: L’Express No. 2569,[28.9.-4.10.2000]. 81 Ebd. 82 Das Gesetz zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs wurde am 17. Januar 1975 verabschiedet. Es ist nach der damaligen Gesundheitsministerin und Urheberin des Gesetzes Simone Veil (loi Veil) benannt. 30 Jahre später kommt man auf diese grundlegende Reform zurück, die das Recht der Frau einführte, frei über ihren Körper zu verfügen. Dieses Recht ist immer noch Gegenstand einer besonderen Aufmerksamkeit, nicht nur von Seiten der Zivilgesellschaft, sondern auch der öffentlichen Hand, wie die Einführung des medikamentösen Schwangerschaftsabbruchs durch praktische Ärzte 2004 bewies.

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Fristenregelung aussprechen, erteilt L’Express mit der Frage das Wort, wem es obliegen solle, über einen Abbruch zu befinden, den Frauen? Oder doch lieber den Medizinern (Saufront-ils bien accueillir les femmes? N’est il pas préferable de laisser choix aux medecins)?83 Als einer von fünf sich äußernden Experten argumentiert Paul Cesborn, die Abtreibung (avortement) sei kein gesundheitliches, sondern ein kulturelles Problem. Wenn Frauen die Schwangerschaft beenden wollten, dann sei das allein ihre Sache (c’est leur affair). Nicht die Mediziner, sondern die Frauen bzw. Paare sollten demzufolge das letzte Wort haben. Schließlich seien sie es, die mit einem solchen Kind fortan potentiell leben müssten (c’est n’est pas nous, médecins, qui aurons à vivre avec un enfant à qui il manque un bras).84 Die Vorschläge und Einschätzungen zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs sind vielfältig. Während Jean-François Mattei befürchtet, eine Verlängerung der Zeit, in der abgetrieben werden dürfe, öffne weiteren Ausweitungen der Abbruchpraxis Tür und Tor, plädiert Janine Mosuz-Lavau sogar für die Erweiterung bis zur 30. Schwangerschaftswoche, da in diesem Fall wenigere Frauen einen Abbruch im Ausland vornehmen lassen müssten. Sie verweist darauf, dass es aus ihrer Perspektive sinnlos sei, in diesem Zusammenhang das Argument der Eugenik stark zu machen, denn Frauen trieben nicht wegen des Geschlechts und/oder der Behinderung ab. Selbst wenn die eine oder andere dies täte, sei auch das kein Grund, ein Gesetz zu ändern (elle n’iront jamais avorter comme on va à la plage).85 Die Verlängerung der Frist, in der eine Schwangerschaft legal abgebrochen werden kann, antworte in erster Linie auf einen Notstand, titelt LNO (répondre d’abord à la détresse).86 Ein solcher bestehe in der Tatsache, dass jährlich 5000 Frauen gezwungen seien, für eine Behandlung ins Ausland zu gehen. Anlässlich der möglichen Fristenverlängerung druckte LNO im November 2000 eine Reportage aus einem Krankenhaus in Arras, in dem seit 20 Jahren Frauen ihre Schwangerschaft abbrechen können. 500 Abbrüche im Jahr werden hier durchgeführt, auf die niemand länger als 48 Stunden warten muss. Bereits der Titel verweist auf die Ausnahmesituation, die mit einer solchen Entscheidung verbunden ist: Der Schmerz der Abtreibung (Les déchirements de l’avorte-

83 Art.: »La nouvelle bateille de l’IVG«, in: L’Express No. 2569 [28.9.-4.10.2000]. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Art. »IVG. Repondre d’abord à la détresse«, in: LNO No. 1865 [03.-9.8.2000].

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ment).87 Der Beitrag wird ergänzt durch zwei Schaukästen. Dabei weist der eine Zahlen zum Abbruch (IVG) aus.88 Der andere beschäftigt sich mit denjenigen Frauen, die schwanger ins Ausland reisen (müssen), um ihre Schwangerschaft abzubrechen. Ziel solcher Reisen seien neben Belgien, Österreich und Großbritannien auch Deutschland. Eine Verlängerung der Fristenregelung, wie sie im Jahr 2000 erfolgte, ist nach Ansicht von L’Express Ergebnis eines Angleichungsprozesses Frankreichs an seine Nachbarn (ce qui alignerait la France sur ses voisins européen).89 Eine solche Entscheidung sei der Idee geschuldet, die Praxis des Abbruchstourismus (chaque années, 5000 femmes)90 durch eine Legalisierung um 80 Prozent zu senken. Frauen müssten fortan nicht mehr ins Ausland reisen, weil sie die Frist verpasst hätten (parce qu’elles ont dépassé le délai légal de dix semains)..91 Inwiefern eine solche Praxis bislang aber noch gängig sei, illustriert das Magazin durch ein Zitat einer Krankenschwester: morgens klinge es bei ihnen in der niederländischen Klinik wie auf dem Gare du Nord, weil 80 Prozent der Klientinnen Französinnen seien (le matin, ici, c’est comme à la Garde du Nord: 80 % de nos clients sont française).92

(5) A USBLICK Auf der Oberfläche unterscheidet sich das Sprechen über Reproduktionstechnologien im Bezug auf den im ersten Szenario entwickelten Rechtsbegriff in den französischen und deutschen Medien eben dadurch, dass das eine Land andere – nichtsdestotrotz im Sinne von Anerkennungs- und Gerechtigkeitsfragen umkämpfte – Bestimmungen kennt, die in dem einen Fall die PID unter bestimmten Konditionen zulassen, wohingegen sie im anderen Fall beinahe für den gesamten Untersuchungszeitraum verboten bleibt. Die Spiele der Wissenschaften finden

87 Art. »Les déchirements de l’avortement«, in: LNO No. 1882 [30.11-6.12.2000]. 88 Die interruption volontaire de grosses (freiwilliger Schwangerschaftsabbruch) hat jedoch primär keine medizinische Grundlage. Mit einer solchen Indikation sind vielmehr diejenigen Schwangerschaftsabbrüche bezeichnet, für die sich Frauen innerhalb der ersten zehn bzw. zwölf Schwangerschaftswochen entscheiden. 89 Art. »Femmes: IVG vers une loi assouplie?«, in: L’Express No. 2545 [13.-19.4.2000]. 90 Ebd. 91 Art. »La nouvelle bataille de l’IVG«, in: L’Express No. 2569 [28.9.-4.10.2000]. 92 Ebd.

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aber bekanntermaßen niemals auf neutralem Boden statt. Gerade am Beispiel Frankreichs zeigt sich, wie sehr die biomedizinische Forschung über die Gesetzgebung mit der Politik verschmolzen ist. Dass dies unter den Kategorien der ›Ethik des Heilens‹ – Lebensqualität, Gesundheit – zu wachsender Akzeptanz der PID führt, ist zwar eine erkennbare und hier beschriebene Wirkung; dass damit aber die öffentliche Aushandlung entschieden sei, ist nicht auszumachen. Zentral hierfür ist auch ein Widerspruch, der in die Bioethikgesetze eingearbeitet ist und der darin besteht, dass Artikel L. 152-8 unterstreicht, nur am Embryo durch-geführte Untersuchungen, die ihm nicht schaden, seien zugelassen (conception in vitro d’embryons humains à des fins d’étude, de recherche ou d’expérimentation est interdite). In der Praxis scheint die Formulierung zu bedeuten, dass eine Übertragung des untersuchten Embryos in den mütterlichen Uterus theoretisch auch nach der jeweiligen Untersuchung immer noch möglich sein sollte. Jedoch heißt es im Gesetz ausdrücklich, dass Embryonen, deren Testergebnis positiv ausfällt, nicht übertragen werden dürfen. Mit den skizzierten Verdinglichungsstrategien wird der Embryo zwar zum Objekt gemacht, aber durch das Verbot, ihm bei den Untersuchungen zu schaden, kehrt über die Potentialität der Mensch- und also Subjektwerdung trotz des eindeutigen Bezugs auf die ›Ethik des Heilens‹ ein Aspekt ›Heiligkeit des Lebens‹ zurück in den Diskurs, der sich dann in den Fragen der Selektion und der Eugenik erneut Geltung verschafft. Dies ist Gegenstand des zweiten Szenarios.

10. Kapitel Zweites Szenario – Der Schutz des Lebens

(1) R ECHT

ZWISCHEN

M ENSCHENWÜRDE

UND

E UGENIK

Durch die Biomedizin entsteht (auch) in der öffentlichen Wahrnehmung ein Gefühl der Bedrohung des menschlichen Lebens. Mit ihrem Charakter eines permanenten Ausnahmezustands betrifft sie dabei nicht den Einzelnen, sondern gesamtgesellschaftliche Strukturen; sie stiftet Handlungs- und Redebedarf. Das zeigt sich auch daran, dass die Verunsicherung Spielball eines printmedialen Schlagabtausches ist. Zu diesem gehört die Notwendig- und Dringlichkeit, aufgrund von bestimmten diskursiven Ereignissen Entscheidungen zu treffen – das hat das Beispiel PID deutlich gemacht. Durch eine solche Ausgangslage sehen sich Entscheidungsträger damit konfrontiert, sich auf Definitionen festlegen zu müssen, die nicht weniger beinhalten sollen als die Bestimmung des Menschen. Die (Wieder-) Herstellung einer Ordnung des Lebens ist nun aber keinesfalls auch das Ziel der an Aufmerksamkeit interessierten Medien. Es wäre zwar zu einfach, davon auszugehen, dass die Medien eigens Bedrohungsszenarien instrumentalisieren, aber sie transformieren doch auf unterschiedlichen Ebenen einen oftmals wissenschaftlich geführten Diskurs in einen der Öffentlichkeit, ohne jedoch ausschließlich auf eine bloße Popularisierung des Wissens zu setzen.1 Vor dem Hintergrund einer breitenwirksamen Aushandlung über die Konse-

1

Jürgen Link weist zurecht auf die »Komplexreduktion« und die »binäre Versimpelung« anlässlich der Berichterstattung hin. Dies ist als Oberflächenphänomen wahrzunehmen. Mir geht es vorrangig um die Strategien, die den Diskurs strukturieren und/oder das, was Link »kulturelles Fundament« nennt. Link, Jürgen: Normativität versus Normalität, in: Biopolitik und Rassismus, 2003:184f.

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quenzen medizinischer Verfahren im Bezug auf Praxen gesellschaftlicher Institutionalisierung kippt nicht nur die rigide Trennung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, sondern gleichfalls lässt sich hier die Veränderung von Akteursbildern beobachten, etwa die des Embryos, der einmal als Rechte tragendes Subjekt, dann wieder als verfügbares Objekt auftaucht.2 Ein Subjekt, so ließe sich mit Althusser sagen, ist das Ungeborene auch deshalb immer schon, »weil es in und durch die spezifisch familiale ideologische Konfiguration, in der es nach der Zeugung ›erwartet‹ wird, zum Subjekt bestimmt ist.«3 Jedoch gilt dies nicht nur für die familiäre Situation, sondern, so lässt sich im Hinblick auch auf die Artikel sagen, allgemein auf diskursiver Ebene. Bei der Fortpflanzung mittels Medizin handelt es sich allerdings um eine, deren Familienstrukturen insofern erweitert sind, dass nun Medizinerinnen und Mediziner Anteil an ihr nehmen. Auch diese üben Einfluss auf die kategoriale Bestimmung des Embryos oder Fötus aus. So zeigt Luc Boltanski, dass Ärzte bei der Ultraschalluntersuchung das Wort »Baby« nur dann verwenden, wenn die Entscheidung getroffen ist, dass das Ungeborene auf die Welt kommen soll. Die Bezeichnung »Embryo« wurde hingegen bei gegenteiliger Absicht benutzt.4 An solchen Bruchstellen werden die Konstruktionsbedingungen transparent. Sind aber solche Szenen vergleichbar mit der Aushandlung in den Medien? Allgemein stellt die Anthropomorphisierung auch in den Medien ein zentrales Element dar. Zu illustrieren und anzudeuten, dass diese Strategie nicht allein ein Phänomen der Printmedien ist, dient einer der populärsten Anti-Abtreibungsfilme, »Der stumme Schrei«5, in dem der Zuschauer ›sieht‹, wie ein Fötus sich gegen das ihn richtende Unheil ›verteidigt‹ und dabei ›schreit‹. Dem Ungeborenen wird also die Fähigkeit zugeschrieben, Schmerz zu empfinden, die immerhin von einigen Vertretern dazu verwandt wird, ein Wesen als eine Person zu

2

Schmitz, Sigrid; Schmieder, Christian: Popularisierung. Zwischen Naturwissenschaft, Popularisierung und Gesellschaft, in: Ebeling, Smilla; Schmitz, Sigrid (Hg): Geschlechterforschung und Naturwissenschaft. Einführung in ein komplexes Wechselspiel, 2006.

3

Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1977:144.

4

Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung, 2007:238. Ähnliches beschreibt auch Rayna Rapp in ihrer ethnographischen Studie. Rapp, Rayna: Testing the Women, tessting the fetus, 1999.

5

Der Film [im engl. Original: The silent scream, 1984] von dem Mediziner Nathanson, der Abtreibungen durchführte, zeigt mittels Ultraschalltechnik einen Fötus während der Abtreibung.

D ER S CHUTZ DES L EBENS

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qualifizieren.6 Im Bezug auf die Aushandlung des Status und vor dem Hintergrund dieses Filmes führt Slavoj Zizek aus: »[Y]et what we ›don’t see‹ in this very act of seeing is that we ›see‹ all this against the background of a discursively pre-constructed space.«7 Vor einer diskursiven (prä-existenten) Folie wird der Embryo zu einem menschlichen Gegenüber. Es ereignet sich nicht weniger als ein Akt der Anerkennung.

(2) G LIEDERUNG

DES

K APITELS

In diesem Szenario werde ich mich mit einer weiteren Form von Recht beschäftigen. Dieses bezieht sich auf das Ungeborene, genauer: auf Embryonen und Föten. Inwiefern diese biologisch gekennzeichneten Phasen dabei argumentativ ins Gewicht fallen, habe ich bereits im ersten Szenario angesichts des Konfliktes ob der Schutzwürdigkeit ausgehend vom ESchG und Paragraf 218 StBG gezeigt. Ich werde in diesem Kapitel der These nachgehen, dass sich in der Forderung nach Schutz für das Ungeborene im öffentlichen Diskurs primär zwei Argumente nutzbar machen lassen. Dabei besteht das eine in der (bereits bekannten) Warnung vor der drohenden Gefahr der Eugenik; das andere in der Verletzung der Menschenwürde. Beide werden von Gegnern des Eingriffs an Embryonen und Föten ins Spiel gebracht. Sie setzen aber auf zwei unterschiedlichen Ebenen an, die jeweils komplexe Verweissysteme beinhalten. Dieser Beobachtung gehe ich in diesem Szenario nach, indem ich zeige, dass der scheinbar omnipräsente Embryo ein jeweils unterschiedliches sprachliches Gewand erhält, abhängig davon, welcher ›Zweck‹ ihm zugedacht ist und welche Strategie, welche Stoßrichtung hier zugrunde liegt. Auf der einen Seite (re-)

6

In diesem Sinne argumentiert u.a. Michael Tooley, um als Person zu gelten, bedürfe es der Fähigkeit, Lust und Schmerz zu empfinden. Ein Überlebenswunsch sei nur dem Subjekt möglich, das über »Selbstbewusstsein« verfüge. Er ergänzt jedoch die Notwendigkeit, einen Bezug zu sich als einem in der Zeit dauernden Wesen zu besitzen. Auf Grundlage von Daten der Physiologie und der experimentellen Psychologie kommt er zu dem Schluss, diese Fähigkeiten seien bei einem Fötus ab dem dritten Schwangerschaftsmonat gegeben (Tooley, Michael: Abtreibung und Kindstötung, in: Leist, Anton (Hg.): Um Leben und Tod, 1990). Ob die daran gebundenen Lebensrechte wirklich abhängig sein können vom Vorhandensein bestimmter Wünsche und Fähigkeiten, kann hier nicht thematisiert werden.

7

Wright, Elizabeth; Wright, Edmond (Hg.):Zizek Slavoy: The Zizek-Reader, 1999:64.

240

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produziert der Diskurs immer wieder biologische oder auch juristische »Kennzeichen«, jedoch divergiert die Darstellung, abhängig vom jeweiligen diskursiven Ereignis und der entsprechenden Narrationsstrategie. Wie ich im Folgenden darlege, verändert sich das Sprechen über Ungeborene abhängig davon, ob sie zur Herstellung einer Schwangerschaft ›produziert‹ werden oder als deren ›Nebenprodukt‹ in Forschungszusammenhängen Verwendung finden. Ich vertrete die These, dass die die Bioethik umtreibende Frage nach dem Status Ungeborener durch ihre sprachliche (Re-)Präsentation subkutan beantwortet wird. Ein Akt der Anerkennung vollzieht sich nach Judith Butler in Abhängigkeit zum jeweils gegebenen kulturellen Rahmen. In die hiermit einhergehende Normativität des visuellen Feldes sind Machteffekte eingewoben.8 Durch die Bindung an die Norm stellt Anerkennung eine Seite der Macht und Teil der Produktion des Menschlichen dar. Schließlich geht es nicht um die Anerkennung des Embryos als Embryo, sondern um die Anerkennung als (zukünftiger, mit Rechten ausgestatteter) Mensch. Normen entscheiden dabei bereits im Voraus darüber, wer Subjekt wird und wer nicht. Was sind das aber für Normen? Und betreffen diese Normen sowohl die Geborenen als auch die Embryonen? Für den sich mittels der medialen Beiträge ereignenden Akt der Anerkennung ist die Sprachlosigkeit des Embryos zentral, weil diese ihn nie ein Begehren nach Anerkennung artikulieren lässt. Seine Anerkennung erfolgt einseitig, in den Aushandlungsprozess ist er nicht aktiv involviert. Der Anerkennungsakt, mit dem wir es hier zu tun haben, ereignet sich über die Sprache. Durch Narrative wird der ›Körper‹ des Embryos als sozial existierend produziert. Die (Sprach-)Bilder, die ich ›sehe‹, müssen übersetzt und in Relation gebracht werden. Wie wird also, anders gefragt, aus dem Realen eine Realität, wenn Bedeutungen kulturell verfügbar sind und nicht von einzelnen Interpreten aufgeworfen werden? Dieses Kapitel handelt von Beziehungen. Beziehungen, die, je nachdem, wie sie gestiftet werden, Konsequenzen haben. Dies meint vordergründig etwa die Frage, wie sich das Argument der Menschenwürde mit dem des EugenikVorwurfs ergänzt oder ausschließt. In der Aushandlung über den Schutz von Embryonen (über das Recht auf Schutz) findet zudem eine Überschneidung von Vergangenheit und Zukunft statt. So argumentieren die, die dem Embryo als Rechtssubjekt ein Höchstmaß an Schutz zukommen lassen wollen, vor dem Zukunftsszenario der drohenden Gefahr einer sich ausbreitenden und aus der Ver-

8

Butler, Judith: Antigones Verlangen, 2007:43.

D ER S CHUTZ DES L EBENS

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gangenheit bekannten Eugenik9, die oftmals gleichgesetzt wird mit der Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Dem entgegen steht die (pragmatische, wenn nicht gar utilitaristische) Ansicht, es sei Zeit für eine Neuorientierung im Sinne nationaler ökonomischer Interessen, die sich auch im Hinblick auf die Forschungspraxis im (europäischen) Ausland rechtfertigen ließe. Strategisch dient auch innerhalb dieses Szenarios das Reden über Recht vermeintlich der Ent-Emotionalisierung und Objektivierung der Debatte. Indem vordergründig über Ansprüche verhandelt wird, die an einem Maßstab ablesbar sind (etwa, ob der Embryo etwas kann oder nicht), gliedern sich die Positionen, die eine solche Skala erlaubt, antagonistisch. Dies betrifft in einem weiteren Schritt auch das kommentierende Verhältnis zwischen den zu treffenden Entscheidungen und dem Ist-Zustand. Das mittels der Medien entstehende Bild zeigt, wie die moderne Gesellschaft mit ihren rechtlichen, politischen und wissenschaftlichen Mitteln zur rationalen Bearbeitung der Probleme immer zu spät kommt, weil sie sich im Medium des Sich-Voraus-Seins reproduziert.10

(3) Z ELLHAUFEN

ODER

» UNGEBORENER K NIRPS «

Im Kapitel »Auf der richtigen Seite? Die Geburt der Bioethik« habe ich von einer theoretischen Perspektive ausgehend die Sprengkraft skizziert, die die Statusfrage innerhalb des Diskurses besitzt. In Bezug auf die Medienbeiträge gehe ich einen anderen Weg und zeige, dass in der sprachlichen Praxis bestimmte – von bioethischen Vertretern heiß umkämpfte – Grenzfragen bereits beantwortet sind. Zwischen der Zuschreibung von menschlichen Eigenschaften und der konkreten Bezugnahme auf die »Gattungszugehörigkeit« bzw. die »Statusfrage« liegt ein Unterschied. Im strategischen Sinne handelt es sich jedoch um relationale Beziehungen. Denn so sehr die Versprachlichung des Embryos als kleine agierende Menschen sich von der philosophischen Folgedebatte über Gattungs-

9

In diesem Sinne weist der Theologe Dietmar Mieth das »Eugenikargument« als »moralische Prüfinstanz« aus, das seine Wirkkraft durch die an die Eugenik gebundenen Implikationen erhalte. Gilt eine Handlung als »eugenisch«, dann sei sie in einem solchen Kontext als moralisch falsch zu bewerten. Ders.: Ethische Probleme der Humangenetik: eine Überprüfung üblicher Argumentationsformen, in: Engels, Eve-Marie (Hg.): Biologie und Ethik, 1999: 225.

10 Gamm, Gerhard: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt a.M. 2000:189.

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charakteristika unterscheidet, so sehr beziehen sie sich doch beide auf den Begriff des Menschen. Indem das ungeborene Leben als Mensch oder als Zellklumpen dargestellt wird, folgen, ohne es explizit machen zu müssen, Ansprüche. Es geht also nicht um die Konzeption eines ›Ungeborenen an sich‹ sondern um ein Verständnis eines historischen und sozialen Wesens. Dabei werden innerhalb der ausgewählten Beispiele verschiedene praktische Kategorien für den Embryo/Fötus aufgestellt, zwischen denen jeweils ein Abstand liegt. Eine so entstehende Differenzierung bedeutet in der an sie gebundenen Konsequenz eine nicht ausbuchstabierte Qualifizierung, welche sich wiederum in einem moralischen und juristischen Kontext ergibt, in dessen Mittelpunkt die Frage des Rechts steht.11 Innerhalb des Diskurses existieren also unterschiedliche Embryonen, für die jeweils bestimmte Rechte geltend gemacht werden oder nicht. Die mediale Auseinandersetzung mit Reproduktionsmedizin zeigt, dass deren zentraler Gegenstand – Embryonen und Föten – nicht nur abbildbar, sondern auch »verfügbar« sind. Sie werden bildlich, sprachlich und symbolisch handhabbar. Auf diese Weise wird ein Rahmen zur kulturellen Operationalisierung geschaffen.12 Allgemein lässt sich dabei feststellen: Der mediale Embryo/Fötus ist Produkt eines unauflösbaren Antagonismus. Entweder er ist ein Mensch oder er ist ein Forschungsobjekt; entweder er zeigt sich als kleiner, »fertiger« Mensch oder als Zellhaufen; entweder er dient zur »Erzeugung« einer Schwangerschaft oder er wird zu Forschungszwecken verwandt: Beides geht nicht zusammen. Angesichts einer solchen Ausgangslage gewinnt Foucaults Bemerkung an Bedeutung, es führe mitten in den Fehlschluss, wenn man »ein Wesen des Menschen zu definieren [versuche, J.D.], das sich selbst zum Ausdruck zu bringen vermag und zugleich die Grundlage aller möglichen Erkenntnisse wie auch aller möglichen Grenzen der Erkenntnis sein soll«.13

11 Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung, 2007:318. 12 Ahrens, Jörn: Frühembryonale Menschen? 2008:209. 13 Foucault, Michel: Dits et Ecrits, Bd. I, 2001:589.

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(4) D IE A NTHROPOMORPHISIERUNG

DES

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E MBRYOS

In der Zeit und im Spiegel finden sich zahlreiche Beispiele für die Anthropomorphisierung von Embryonen.14 Anlässlich der Veröffentlichung des Bildbandes »Wunder des Lebens. Wie ein Kind entsteht« des Fotografen Alexander Tsiaras wird dies besonders offensichtlich. Das Aufreißen des Mundes erscheint hier als Vorgang des Embryos, »wie um zu gähnen«15. Die Gegenstände der Betrachtung werden zu »stille[n] Geschöpfen«, »ungeborenen Knirpsen« und »wundersame Wesen«, »Bauchbewohner« oder »Keimling«. Die Bandbreite der Kennzeichnungen erstreckt sich von den »Kleinen« über die »Leibesfrucht« bis zu »Embryo«. Auffällig sind deren menschliche Tätigkeiten. So seien sie bereits im Mutterleib »erstaunlich aktiv«. Dieser so genannte »Sport« beinhaltet sowohl »räkeln« als auch »drehen […] [und, J.D.] dehnen«. Mit Zuschreibungen wie »gierig« oder »angeekelt« werden dem Ungeborenen bereits pränatal Attribute Geborener zugeschrieben, wobei Imagination, gemessen an der Kategorie des Fühlens und des Handelns, mit Begriffen der Empathie korrespondieren. Eine solche Konzeption ermöglicht, Ungeborene für Wissenspolitik einzusetzen.16

14 Ich nehme, um den roten Faden so gespannt wie möglich zu halten, die visuellen Präsentationen, die Bestandteil der Artikel sind, nicht in den Blick: Viele der printmedialen Beiträge werden illustriert, wobei allgemein zwischen drei unterschiedlichen Formen der visuellen Präsentation zu unterscheiden ist: Der Karikatur, die besonders im Zusammenhang mit den Streitigkeiten um den Paragrafen 218 StBG populär Verwendung findet; graphischen Darstellungen als »Schaubilder«, die medizinischbiologische Sachverhalte »veranschaulichen« sollen und drittens Photos. Letztere zeigen in aller Regel Personen, die sich zum Thema innerhalb des Artikels äußern (wie Mediziner; wie Politiker) oder es handelt sich um Bilder, die Eltern mit Kindern (z.B. nach geglückter IVF) oder Föten zeigen (besonderes Interesse kommt hier den Bildern des amerikanischen Photographen Lenard Nielson zu, dessen »nuckelnder Embryo« mehrfach sowohl in der Zeit als auch im Spiegel verwandt wird). Besonders die »nicht«-Fotos dokumentieren den hohen Abstraktionsgrad der Reproduktionsmedizin. Dieser oftmals distanziert-technischen Präsentation steht eine gegenläufige Versprachlichung entgegen. 15 Art. »Der gläserne Embryo«, in: Der Spiegel 8/2003. Die folgenden Zitate: ebd. 16 Ahrens, Jörn: Frühembryonale Menschen? 2008:230.

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Das Bild, das entsteht, zeigt mal menschliche Subjekte, mal menschliche Objekte, die im Grenzland zwischen Realität und Fiktion einen Platz finden.17 Inwieweit die Technologie diesbezüglich sprachliche Bedingungen ermöglicht, verdeutlichen Sätze wie: »Mehr als vier Jahre hatte Jennifer im zweizelligen Embryonalzustand auf eine Leihmutter warten müssen«18, wie es im Spiegel anlässlich einer Auftau-Aktion von Embryonen in britischen Befruchtungskliniken heißt. Dass Jennifer zu einer gewissen Handlung (»warten«) gezwungen werden konnte, setzt voraus, dass andere Handlungsoptionen wählbar bzw. denkbar wären. Mit dem hier veranschaulichten Konstruktivismus (der parallel mit der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs und der Realisierung der Visualisierung der Ungeborenen einherging) artikuliert sich gleichfalls die Vorstellung des Embryos/Fötus als eines Dinges an sich.19 Das heißt, noch bevor das Kind auf der Welt ist, ist es bereits (handelndes) Subjekt. Das ist die eine Seite. Für die andere konstatiert etwa die Chefin einer Nationalen Fruchtbarkeitsvereinigung im Spiegel: »Diese Embryonen sind keine Kinder«20. Sie sind es ihrer Meinung nach deshalb nicht, weil es sich bei ihnen lediglich um das Potential handle. Ein Indiz also für die Potentialitäts-, oder sogar für die Gradualitätsthese des Menschwerdungsprozesses. Im Sinne ersterer aber treten im vorgeburtlichen Stadium diskursiv Ungeborene als »Babys«, als »kleine Menschen« auf, ganz so, wie Leonardo da Vinci seinen »hockende[n] Knaben in der Gebärmutter« präsentierte. Sichtbar wird auf einmal etwas, das durch mittelalterliche Illustrationen oder auch durch Zeichnungen Galileis bereits bekannt ist: Hier veranschaulicht sich eine bis ins 21. Jahrhundert bekannte Vorstellung eines »fertigen winzigen Menschen im Uterus«, der nur zu wachsen braucht.21

17 Hierzu: Diekämper, Julia: Und deshalb haben wir Baby Paul im sogenannten Achtzellstadium eingefroren«, in: Czycholl, Claudia; Marszolek, Inge; Pohl, Peter: Zwischen Normativität und Normalität: Theorie und Praxis der Anerkennung in interdisziplinärer Perspektive, 2010. 18 Art. »Schlachtfest im Labor«, in: Der Spiegel 31/1996. 19 Wie bereits im ersten Szenario erwähnt, führte und führt diese Haltung beispielsweise zu der Annahme, der Embryo sei ein rein »historisches« oder »soziales Wesen«. Siehe hierzu Boltanski, Luc 2007:278ff. 20 Art. »Schlachtfest im Labor«, in: Der Spiegel 31/1996. 21 Zu solchen Vorstellungen siehe Duden, Barbara; Schlumbohm, Jürgen; Veit, Patrice (Hgg.): Geschichte des Ungeborenen, 2002.

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Der Embryo/Fötus wird auf zweierlei Arten in die soziale Gemeinschaft aufgenommen: durch die Mittel der Technologien ist er hörbar, sichtbar, darstellbar geworden. Handelte es sich hierbei aber um die Repräsentation »biologischer Tatsachen«, so könnte dies vorrangig für Medizin und Betroffene von Bedeutung sein. Über die Versprachlichung erfolgt überdies die Aufnahme in einen größeren Zusammenhang. Dabei dient die Anthropomorphisierung generell der Illustration, im Sinne einer Überwindung von Differenzen dessen, was wir sinnlich erfahren können – der neuen Formen der Darstellung oder Aufzeichnung – und dessen, was sich unserer sinnlichen Erfahrung entzieht – der Erscheinung des Fötus im Uterus. Diese Differenz besteht genauer zwischen ihnen und uns, zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Die hieran gebundene Frage der Vergemeinschaftung und der Gattung erhält hier besondere Bedeutung. Jürgen Habermas beispielsweise spricht von der Notwendigkeit einer »Gattungsethik«.22 Sein Vorschlag, die Reproduktionstechnologien aus gattungsanthropologischer Perspektive zu diskutieren, ist der Ansicht geschuldet, dass Identität als Mitglied der Gattung Mensch das ethische Zentrum sei, auf das wir uns beziehen soll(t)en. Eine solche Essentialisierung durch die Homogenisierung der Gattungskategorie ist genauso Bestandteil des Reproduktionsdiskurses wie seine Dekonstruktion, die etwa Peter Sloterdijk vorführt. In einer chiastischen Beziehung zwischen einer kulturalistischen und einer naturalistischen Wahrnehmung wird Natur dabei zum umkämpften Spielball.

(5) M ENSCH

MIT

R ECHTEN ?

Gerade die Kollision unterschiedlicher Antworten auf die Statusfrage und damit einhergehende unterschiedliche Wahrnehmungen von Rechten und Schutzansprüchen deuten die Schwierigkeit an, wem hierüber die Entscheidungsgewalt obliegt. Wer trägt die Verantwortung, Schutzansprüche zu gewähren? Dass dem Staat in Bezug auf die Beantwortung der Frage eine entscheidende Schutzposition zukommt, unterstreicht die schon damalige CDU-Vorsitzende Angela Merkel. Nach ihrem Verhältnis zur Bioethik befragt, konstatiert sie in der Zeit, der Staat müsse zum Schutz der Menschenwürde Grenzen setzen.23

22 Habermas, Jürgen: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer neuen Eugenik? 2001:26ff. 23 Art. »Schockiert.Gentechnik und Bioethik – was will die Opposition? Ein Gespräch mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel«, in: Die Zeit 49/2000.

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Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel gibt in seinem Beitrag in der Zeit zu bedenken: »Wohl lassen sich die Normen des Embryonenschutzes (ESchG) ändern, nicht aber Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes (GG).«24 Der in einer solchen Äußerung enthaltene Bezug auf den Begriff der Menschenwürde bezieht einen Großteil seiner Autorität innerhalb des Diskurses aus seiner verfassungsrechtlichen Tradition.25 Das ESchG sei schließlich Produkt der Biotechnologien – durch deren Existenz bestünde offensichtlich Regelungsbedarf. Das Grundgesetz hingegen erlange seine Autorität auch durch seine Allgemeingültigkeit. Schließt (Lebens-)Schutz alle Entwicklungsstufen gleichermaßen ein?26 Was Merkel hier konstatiert, ist besonders für die schnelllebige Biomedizin ein interessantes Phänomen: In der Absicht, einen Grundwert des Zusammenlebens auf Dauer zu sichern, untersagt Art. 79, Abs. 3 GG Veränderungen der in Art. 1 niedergelegten Grundsätze.27 Konfrontiert mit einem Wandel, der durch Innovation neue Problemlagen stiftet, eröffnet sich auch bezogen auf die Frage der Menschenwürde neuer Konfliktstoff, u.a. zwischen Forschungs- und Anwendungszielen. »Diese speziesbezogene Menschenwürde ist, anders als das kategorisch geltende subjektive Grundrecht, in der Kollision mit gewichtigen individuellen Interessen vielerlei Einschränkungen fähig und bedürftig. Sie schützt nicht den fundamentalen Status des Individuums, sondern ein normatives Bild der Menschheit von sich selbst.«28

Merkel differenziert hier also zwischen der Würde des Einzelnen und der Würde der menschlichen Gattung.

24 Art. »Die Abtreibungsfalle«, in: Die Zeit 25/2001. 25 Schmidt, Harald Thomas: Präimplantationsdiagnostik: Jenseits des Rubikons? 2003: 53. 26 Art. »Die Abtreibungsfalle«, in: Die Zeit 25/2001. 27 Hassemer, Winfried: Erscheinungsformen des modernen Rechts, 2006:4. Im Kontext der bioethischen Diskussion konstatiert Thomas Gutmann: »Die objektive Funktion des Menschenwürdearguments liegt deshalb nicht zuletzt darin, den betroffenen Gegenstand dem demokratischen Entscheidungsprozess zu entziehen. Hierin liegt der enorme Reiz dieses Arguments für seine Verwender.« Ders.: »Rechtliche und rechtsphilosophische Fragen der Präimplantationsdiagnostik«, in: Gethmann, Carl-Friedrich; Huster, Stefan (Hgg.): Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, 2010: 67. 28 Art. »Recht für Embryonen?«, in: Die Zeit 5/2001.

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Die Frage, ob der Embryo Grundrechtsträger sei oder nicht, deutet also semantisch auf den Menschen und legislativ auf das Grundgesetz.29 Der im Grundgesetz verwandte Begriff des Menschen ist jedoch ein absoluter Begriff, d.h. er lässt kein »mehr« oder »weniger« zu. Entweder die Menschenwürde gilt oder sie gilt nicht. Was aber bedeutet Würde angesichts der in ihrem Kontext ständig ausgewiesenen »Leerstelle«30? Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts ließen beispielsweise expressis verbis offen, ob menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entsteht, jedoch heißt es in der Begründung zur Änderung des Paragrafen 218 StGB: »[W]o menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.«31 Die Verleihung von Würde erfolgt im Diskurs als performativer Akt. Ihre Funktion besteht dabei jedoch nicht primär in einem juristischen Verweis. Auch Petra Gehring stellt fest, dass »[d]ie Allgemeinheit der ›Würde‹ [...] offenbar auch von den Gegnern der neuen Technologien eher um den rhetorischen als um den legislativen Effekt willen genutzt«32 werde. Konsens besteht darüber, dass Menschenwürde ebenso wie Menschenrechte »Menschen« zukommen. Durch

29 Inwieweit die »Würde« Eingang in den (legislativen) Aushandlungsprozess anlässlich der Reproduktionsmedizin hat, dokumentiert beispielhaft die im Jahr 2000 zur Abstimmung vorgelegte Volksinitiative für eine menschenwürdige Fortpflanzung. Diese sah vor, die IVF zu verbieten, da hierbei überzählige Embryonen hergestellt werden. Sie wurde vom Schweizer Volk nur knapp abgelehnt. Siehe hierzu: Baumann-Hölzle, Ruth; Arn, Christof: Nutzen oder Würde – zwei ethische Paradigmen im Widerstreit. Ethiktransfer in der Medizinethik am Beispiel der Schweiz, 2006. 30 Paul Tiedemann beschäftigt sich mit den Konsequenzen der von Theodor Heuss proklamierten »interpretierbaren These« . Tiedemann, Paul: Was ist Menschenwürde, 2003:29ff, vgl. Ders.: Menschenwürde als Rechtsbegriff, 2007. Für die Bioethik argumentiert in dieser Weise z.B Dieter Birnbacher, der den Verweis auf die Menschenwürde unter Metaphysik-Verdacht stellt. Ders.: Biomedizin und Menschenwürde, 2004. Norbert Hoerster versteht die Menschenwürde als »Sammelbegriff des sittlich Richtigen oder Geforderten«. Hoerster, Norbert: Ethik des Embryonenschutzes, 2002:22. Jörn Ahrens argumentiert in eine ähnliche Richtung, wenn er feststellt, indem man die Vielfalt menschlichen Lebens ernst nehme, eröffne sich eine Leerstelle im Begriff des Menschen. Er sieht in Folge die Tendenz zur Rückkehr zu religiös inspirierten Wertekatalogen oder in einer Ethisierung des Kontingenzbewusstseins. Ahrens, Jörn: Frühembryonale Menschen? 2008:203ff. 31 Bundesverfassungsgericht: Entscheidungen Band 39, 1975:41. 32 Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:85.

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den Einbruch der Biomedizin in gesellschaftliche Interessenszusammenhänge gilt es jedoch zu klären, ab wann bzw. unter welchen Voraussetzungen ein Mensch zum Menschen wird.33 Der Diskurs bestätigt Hartmut Böhmes These, menschliches Leben habe nicht einen, sondern viele Anfänge.34 Diese schließen sich gegenseitig aus und sie führen jeweils andere (politische, legislative, ideologische) Konsequenzen mit sich. Immer wieder stiften dabei Religionen Begründungszusammenhänge. Die Frage des Lebens- und des Schutzbeginns lässt sich jedoch auch ganz säkular beantworten: »Die Briten hatten die Menschwerdung zum Wohle der wissenschaftlichen Forschung 14 Tage nach hinten verlegt.«35 Die Franzosen indes, ein tendenziell »wissenschaftsfreundliche[s]«36 Volk, zeigten sich in der Kontroverse um die Novellierung der Bioethikgesetze verlegen, wenn es um »den Ursprung des menschlichen Lebens und um die Frage geh[e], was Wissenschaftlern und Ärzten im Namen des Patientenwohls erlaubt sei.«37 Wie weit das Dispositiv Recht auch nationalstaatlich geprägt ist, klingt anlässlich der britischen Entscheidung so: »Völlig undenkbar ist jedoch, dass die Fragen, die jetzt auf der Insel zur Entscheidung anstanden, demnächst im Berliner Reichstag debattiert werden«38. Oswald Bayer kommt in der Zeit zu dem Schluss: »Dieser Zellhaufen ist mit der Personenwürde umkleidet, beglänzt, umleuchtet.«39 In dieser Aussage kollidieren zwei Strategien: Durch die Zuschreibung von »Personenwürde« zählt der Embryo zum Kreis der Personen. Ist er eine Person, dann, so der logische

33 Die rein biologische Existenz als Entscheidungskriterium knüpft an die Frage nach der Unterscheidung beispielsweise zwischen Mensch und Tier in Bezug auf die Sonderstellung des Menschen (in eine solche Richtung argumentiert an prominenter Stelle beispielsweise Peter Singer) ebenso an wie auf der anderen Seite die Unterscheidung zwischen Mensch und Maschine. Hierzu: Macho, Thomas: Tiere, Menschen, Maschinen. Zur Kritik der anthropologischen Differenz, in: Ahrens, Jörn; Biermann, Mirjam; Toepfer, Georg: Die Diffusion des Humanen, 2007:17-31. 34 Böhme, Hartmut: Anthropologische Differenz. Über das Verhältnis von Natur und Kultur in der Debatte über das Humane und die menschliche Würde, in: Ahrens, Jörn; Biermann, Mirjam; Toepfer, Georg: Die Diffusion des Humanen, 2007:57. 35 Art. »Die Menschen-Fabrik«, in: Der Spiegel 34/2000. 36 Art. »Der Staat und die Heiligkeit des Lebens«, in: Die Zeit 26/2001. 37 Ebd. 38 Art. »Die Zukunftskinder«, in: Die Zeit 23/2008. 39 Art. »Nur ein Zellhaufen?«, in: Die Zeit 1/2000.

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Schluss, ist er auch ein Mensch. Ein Zusammenhang, den Bayer dadurch torpediert, dass er diesen Menschen-Embryo mit einem »Zellhaufen«40 kontrastiert, der allenfalls das Potential besitzen kann, Mensch zu werden. Solche Begriffe finden allgemein dann Verwendung, wenn Embryonen keine Menschenwürde zugeschrieben wird.41 In solchen Konstruktionen vereinen sich also These und Gegenthese. Offensichtlich braucht es den Verweis auf die Menschenwürde, um normative Standards einzuführen. Petra Gehring jedoch konstatiert: »Es wäre ein Leichtes und juristisch auf Anhieb plausibel, ganz ohne die Berufung auf die Würde der Substanz oder die Absolutheit des Art. 1 einfach festzustellen, dass in das Leben (das der Embryo seit 1975 nun einmal ist) nur in existentiell wichtigen Situationen eingegriffen werden darf. Und bloße Forschungsinteressen oder auch die vage Größe der Heilungschancen künftiger Generationen sind keine Situation dieser Art.«42

Für den französischen Gynäkologen René Frydman ist die Grenzziehung ab der 22. Schwangerschaftswoche auch deshalb realistisch, weil der Fötus ab diesem Zeitpunkt außerhalb des Uterus lebensfähig sei. Jedoch genieße seines Erachtens auch der Embryo als potentielle Person das »Recht auf Respekt«43, was z.B. seinen Verkauf ausschließe. Die deutsche Konfliktlage ergebe sich seiner Meinung nach daraus, dass der Embryo »überbewertet«44 sei, wohingegen man in Frankreich zur Überzeugung gelange, dass der »Embryo vor seiner Einnistung am siebten Tag anders zu bewerten«45 sei als danach. Auf die Frage, wann ein Embryo zur Person werde, antwortet Frydman, das künftige Leben existiere schon vor dem Embryo in Form von Spermien und Eizelle.46 »Der Embryo ist nur eine

40 Im engeren Kontext wird der Embryo dann als »Zellklumpen« bezeichnet, wenn das Verbot seiner »Nutzung« hinterfragt wird. So formulierte Der Spiegel: »Warum also die aufgeregte deutsche Diskussion um ein paar mikroskopisch kleine Zellklumpen?« Art. »Die Babygrenze«, in: Der Spiegel 46/2005. 41 Graumann, Sigrid: Die Rolle der Medien in der öffentlichen Debatte, 2003:232. 42 Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:84 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Damit knüpft er – ohne dies explizit zu machen – an die Präformationsthese an. Hierzu: Rheinberger, Hans-Jörg; Müller-Wille, Steffan: Vererbung, 2009:41.

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Weiterentwicklung, er ist eine potentielle Person«.47 Aus diesem Grund sei die Würde, die ihm zugeschrieben werde, eine progressive. Dies zeige sich auch daran, dass das Leben in verschiedenen Stadien unterschiedlich behandelt werde.48 Für Reinhard Merkel etwa ist der »Schutz des frühesten Embryos [...] nur als Schutz eines Potenzials plausibel«49. Er macht dies auch davon abhängig, dass der Embryo als Wesen nicht »subjektiv verletzbar«50 sein könne.51 Hier greife vielmehr der »Normenschutz« der humanen Gesellschaft.52 Mit dem Schutz des Embryos als Potential werde dieser Schutz zur »Solidaritätspflicht«53, die jedoch gegen andere Pflichten abzuwägen sei. »Ich habe wenig Zweifel, dass die therapeutischen Ziele der Stammzellenforschung und die Wünsche prospektiver Eltern, die Geburt eines schwer kranken Kindes zu vermeiden, moralisch gewichtiger sind als die Lebensschutzpflichten gegenüber frühesten Embryonen.«54 Angesichts einer bestimmten biologischen ›Tatsache‹ besteht demzufolge Handlungsbedarf, dem zuallererst ein Abwägungsprozess vorausgeht. Das Recht auf ein gesundes Kind, wie es Merkel hier indirekt stark macht, überwiegt seiner Meinung nach in diesem Abwägungsprozess. Zentral innerhalb der Auseinandersetzung ist: Es kann keine zwei Gewinner geben. Zur Dramaturgie der Biomedizin gehört es, keine win-win-Situation zu erzeugen. Auch die Abwägung zwischen Forschungsfreiheit und Schutzansprüchen unterstreicht dies. Das ESchG enthält zwar keinen entsprechenden Verweis auf die Menschwürde, das Stammzellgesetz (StZG) formuliert jedoch zu Beginn, es sei »staatliche Verpflichtung, die Menschenwürde und das Recht auf Leben zu ach-

47 Art. »Nah am britischen Vorbild«, in: Die Zeit 22/2001. 48 Ebd. 49 Art. »Bremser am Drücker«, in: Die Zeit 26/2001. 50 Ebd. 51 Mit dieser Argumentation begibt man sich auf heikles Terrain, denn sie eröffnet die Frage, wie mit all jenen umzugehen sei, die geboren, aber nicht empfindungsfähig sind. Es ließe sich an dieser Stelle auch noch einen Schritt weiter gehen, etwa indem Autonomie als entscheidendes Kriterium für Würde gehandelt wird. Ist dieses dann aber etwa einem Schlafendem situativ gegeben? Harald Thomas Schmidt unterscheidet hier zwischen einer dispositionalen und einer potenziellen Autonomie und kommt zu dem Schluss, dass ein Embryo allenfalls potentielle, zukünftige Autonomie besitzen kann. Ders.: Präimplantationsdiagnostik: Jenseits des Rubikons? 2003:100. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Art. »Die Abtreibungsfalle«, in: Die Zeit 25/2001.

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ten und zu schützen« wie die »Freiheit der Forschung zu gewährleisten« (StZG §1).55 Indem die »Freiheit der Forschung« der Würde als Rechtsgut gegenübergestellt wird, steht nicht die Würde vorgeburtlichen Lebens zur Disposition, sondern vielmehr die derjenigen, denen durch die Forschung ein »gutes«, ein »würdevolles« Leben ermöglicht würde56; durch die Forschung an und mit Embryonen könnte anderen (kranken) Menschen geholfen werden und aufgrund dessen die Würde dieser Menschen gewahrt werden. Die Menschenwürde stellt so einen weiteren Aspekt der im letzten Szenario entwickelten ›Ethik des Heilens‹ dar. Peter Hintze (CDU) schätzt etwa die »Heilungschancen schwerkranker Menschen [...] bedeutsamer [ein, J.D.], als eine biologisch abgeschaltete befruchtete Eizelle«57. Nach Ansicht von Manfred Kock (damals Ratsvorsitzender der evangelischen Kirche in Deutschland, EKD) allerdings heilige der Zweck nicht alle Mittel.58 Das Argument der Menschenwürde (das selbstredend nicht nur innerhalb der Medien Verwendung findet59) bringt sich im doppelten Sinne zur Geltung: Zum einen dokumentiert der Aushandlungsprozess, den es stiftet, die Schwierigkeit, Rechtliches und Moralisches zu verbinden, zum anderen avanciert es zum strategischen Moment innerhalb der Kontroverse, anhand der weit mehr ablesbar ist

55 Siehe hierzu auch Ahrens, Jörn: Frühembryonale Menschen, 2008:375. 56 Mehrheitlich vertritt die CDU ein hohes Maß an Lebensschutz. Ihr Abgeordneter Friedbert Pflüger plädiert jedoch für den Import embryonaler Stammzellen und begründet dies auf die Frage nach der Würde von Embryonen im Spiegel folgendermaßen: »Ein Embryo ist schützenwertes menschliches Leben – aber der unsichtbare, im Kühlschrank lagernde, bei einer künstlichen Befruchtung übrig gebliebene Embryo ist kein Mensch.« Art. »Heilungschancen...«, in: Der Spiegel 5/2002. Eine solche Einschätzung steht offensichtlich der christlichen Verschmelzungs-These entgegen. Pflüger selbst thematisiert die Differenzierung unter den Embryonen. Diejenigen, die die IVF ohnehin produziere, ließen sich als Ressource gegen Krankheit einsetzen. Einem solchen Gedanken liegt eine gewisse Pragmatik zugrunde: Nach Ansicht Pflügers sollten Embryonen keinesfalls eigens hergestellt werden. Seien sie aber in der Welt, dann sprächen Nützlichkeitserwägung dafür, sie auch zu nutzen. 57 Art. »Angst vor dem Dammbruch«, in: Der Spiegel 49/2001. 58 Art. »Konflikt am Kabinettstisch«, in: Der Spiegel 10/2001. 59 Dies gilt ebenso für die »externe« Debatte. So weist beispielsweise Dietmar Mieth auf die Bedeutung des Menschenwürde-Arguments im Rahmen einer theologischen Ethik hin. Mieth, Dietmar: Die ungeteilte Menschenwürde. Christliche Bioethik im gesellschaftlichen Diskurs, 2006:57.

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als die Frage, was hinter dem abstrakten wie pluralistischen Begriff ›Menschenwürde‹ steckt.60 Dass auf die Menschenwürde angespielt wird, ist also weniger erstaunlich; vielmehr, wie dies geschieht.61 Der Embryo erhält durch die symbolische Besetzung der Körper menschlicher Lebensformen mit den Attributen von Menschenwürde gewissermaßen Soziabilität. Die Menschwerdung durch die Zuerkennung von Menschenwürde dient dazu, die Statusfrage mittels der Insignien der Rechtsprechung nicht mehr zu stellen.

(6) D ER E MBRYO

ALS

O PFER

Verfolgt man diesen Diskursstrang der Anthropomorphisierung des Ungeborenen weiter, nimmt das so konstruierte Bild des Embryos ab einem gewissen Punkt eine andere Färbung an. Hat man ihn nämlich erst einmal über narrative Strategien der Verkörperlichung und der Vermenschlichung zum Rechtssubjekt gemacht, kann man ihn auch zum Opfer machen; denn zum Opfer werden kann in der modernen Welt nur, wer (zumindest moralische) Rechte besitzt.62 Die also durch die Vermenschlichung mögliche Opferwerdung ereignet sich auf zwei unterschiedliche Weisen: Zum einen wird der Embryo als Attackierter präsentiert; zum anderen wird das ihm genommene Recht, das ihn zum Mitglied der menschlichen Gattung macht, in den Vordergrund gestellt. Zu den (selbstredend: illegitim und willkürlich) genommenen Rechten zählt diesem Diskursstrang nach eben primär die Menschenwürde. Wenn diese in Gefahr ist, dann dreht sich das argumentative Karussell in eine andere Richtung. »Die personale Würde ist in Gefahr«63, heißt es dann, oder: »Das britische Parlament hat den Verbrauch von Embryonen erlaubt, und Kulturminister Julian Nida-Rümelin verteidigt diese Genehmigung. Sie ist aber ein Anschlag auf die Menschenwürde«64. »Anschlag« und »Gefahr« unterstreichen die Bedrohung, die sich nunmehr nicht gegen die

60 Interessant hier in diesem Zusammenhang das von Hubert Hüppe (CDU) initiierte parteiübergreifende »Bündnis Menschenwürde« gegen Präimplantationsdiagnostik (PID), Klonen und Embryonenforschung, über das wiederum auch medial berichtet wird: Art. »Flaschenpost aus Übersee«, in: Der Spiegel 27/2001. 61 Ahrens, Jörn: Frühembryonale Menschen, 2008:271. 62 Zur Konstruktion allgemeiner moralischer Rechte in der Naturrechtstradition vgl. Theo Kobusch: Die Entdeckung der Person, 1997. 63 Art. »Die personale Würde ist in Gefahr«, in: Die Zeit 1/2001. 64 Art. »Gezeugt, nicht gemacht«, in: Die Zeit 6/2001.

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Embryonen richtet, sondern gegen den zivilisatorischen Fortschritt der Menschheit.65 Die Brisanz eines scheinbaren Kriegszustandes kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn die Verletzung kein Akt ist, der nur den Einzelnen betrifft, sondern wenn in dem Angriff auf die Menschenwürde gleichfalls wir alle als Menschen bedroht sind.66 Indem also im Zusammenhang mit Ungeborenen die Menschenwürde ins Spiel gebracht wird, geschieht dreierlei: Den Embryonen werden in einem ersten Schritt Rechte zugesprochen, die dann durch die Ausnahmesituation bedroht sind, die durch einen illegitimen Eingriff in die Rechte gekennzeichnet ist; schließlich erklärt sich drittens unser Interventionsbedarf, weil wir durch unser Engagement für sie letztlich nur uns und die elementaren Menschenrechte schützen. (6.1) Frontstellung: Embryonen als »Kriegsteilnehmer«? Vor diesem Hintergrund zeichnet sich innerhalb der Medien eine Freund-FeindKonstellation ab. Anlässlich der Vernichtung von 4.000 tiefgefrorenen britischen Embryonen, die aufgrund gesetzlicher Bestimmung nur eine begrenzte Dauer in den Laboren aufbewahrt werden dürfen, spricht beispielsweise der Spiegel von einer »Vernichtungsaktion«67, einem »Schlachtfest«68, einem »Massaker«69 und einer »Massentötung«70. Es ist das Bild eines brutalen Ausnahmezustands, das vorrangig Embryonen, aber auch Föten als Be(nach)teiligte vorführt. Im Bezug auf eine potentielle Zulassung der Forschung an Embryonen sehen katholische Kirchenobere die Rückkehr der »Barbarei«71, denn hier werde von der »Tötung

65 Gegner der Übertragung der Menschenwürde, wie etwa Julian Nida-Rümelin, begründen dies mit dem Fehlen entscheidender Fähigkeiten des Ungeborenen. Anhand dessen deutet sich ausblicksartig die Kontroverse um die Kategorie der Menschenwürde an, die für die meisten Positionen mit der Unterscheidung zwischen Mensch und Person verbunden ist. Diese »bioethische« Diskussion greife ich an dieser Stelle bewusst nicht vertiefend auf, da mich im Bezug auf die »Menschwerdung« an dieser Stelle nur die diskursiven Konstruktionen interessieren. 66 Tiedemann, Paul: Was ist die Menschenwürde?, 2003:112. 67 Art. »Schlachtfest im Labor«, in: Der Spiegel 31/1996. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Art. »Schwarzes Loch«, in: Der Spiegel, 33/1996. 71 Art. »Wann ist der Mensch ein Mensch?«, in: Der Spiegel 5/2002.

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kleiner Menschen«72 profitiert. In Begriffen wie »Embryonenschlacht«73 deutet sich das – in erster Linie: ethische – Dilemma an: Nicht Embryonen ziehen hier gegen Embryonen als Kombattanten ins Feld, sondern ihnen wird als einer schutzlosen »Gruppe« Gewalt angetan. Sie sind – analog zu kriegerischen Auseinandersetzungen – Zivilisten, und wenn einer Gruppe (noch dazu vollkommen unschuldig) Gewalt angetan wird und die Folge dieser Gewalt darüber hinaus »den Tod« (denn als nichts anderes gilt die Vernichtung) für die Angegriffenen bedeutet, dann führt das erst einmal zur Emotionalisierung und zur Entrüstung. Dabei ist es zentral, dass die Gewalt, die ihnen angetan wird, im Akt des Auftauens und im Entzug von Wachstumsbedingungen besteht, der hier zur »Tötung« bzw. zur »Massentötung«74 wird. Das Reden über »Tötung« zieht jedoch nicht automatisch die Benennung als »Mord« nach sich. Hat dies damit zu tun, dass Mord und Tötung jeweils strafrechtlich anders zu bewertende und anders zu ahnende Tatbestände darstellen? So oder so wird in dieser Zuschreibung unterstellt, dass es sich hier um (schützenswertes) Leben handelt, dem das Lebensrecht entzogen worden ist. Indem Embryonen als »Opfer« konzeptualisiert werden, die alleingelassen in einen Krieg gerieten, den sie weder angezettelt noch verschuldet haben, dürfen sie auf Mitleid und Hilfe hoffen. So wird der Anspruch der konservativen Lebensschützer auf Rettung der »Opfer« zu einem progressiven Interventionsprogramm auf menschenrechtlicher Basis umgedeutet. Albert O. Hirschmann analysiert diesen Typus von Argumenten als Figuren einer »thèse de la mise en péril«75, die den Reaktionären eine Sprache des Progressiven erlaubt. Eine Position, die eigentlich eine konservativ essentialistische Position der ›Heiligkeit des Lebens‹ gegen die medizinisch-technische Entwicklung in Stellung bringt, wird hier als zivilisatorisch fortschrittlich umgedeutet, weil sie auf moderne völkerrechtliche Positionen Bezug nimmt; ganz so, als ginge es um einen nicht gerechtfertigten Krieg. Die Anerkennung als ›Opfer‹ setzt dabei indirekt die Anerkennung als Person voraus, weil ihnen Rechte genommen werden, die sie ohne diesen Status nicht besäßen. Wesentlich zur Kriegsmetaphorik gehört die Aggressor-Opfer-Struktur, wobei als Täter solcher Gewaltakte »Labore« bzw. die jeweilige »gesetzliche Regelung«, aber auch potentielle Eltern auftauchen. Deren »Angriff« richtet sich vor-

72 Ebd. 73 Art. »Schwarzes Loch«, in: Der Spiegel 33/1996. 74 Ebd. 75 Hirschman, Alfred O.: Deux siècles de rhétorique réactionnaire, 1992:140.

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rangig gegen jene Embryonen, die bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllen. Sie werden beispielsweise wegen ihrer genetischen Disposition zu Opfern. Wenn der Ausnahmezustand – im Sinne eines Krieges – so gedacht wird, geht es darum, die biopolitische Kontrolle über die Zukunft der menschlichen Gattung zu besitzen. Denn diese Embryonen, die ich hier im Blick habe, dienen nicht zur Gewinnung von Stammzellen zu Heilungszwecken. Sie sollen eigentlich als Kinder auf die Welt kommen, und sie werden erst in dem Moment zum Opfer, in dem sie mit Vorstellungen, wie ein Exemplar der menschlichen Gattung zukünftig auszusehen hat, nicht übereinstimmen. Damit ist die Kriegsmetaphorik eng mit Ideen der Zucht und der Eugenik, der sogenannten »guten Geburt«, verbunden.76 Die bezeichneten Katastrophen tauchen vor dem Hintergrund biomedizinischer Entwicklungen auf, ohne sich in ihrer ganzen Bedrohlichkeit bereits gezeigt zu haben. In diesem Sinne kommt dem Begriff Eugenik-Risiko oder potentielle Eugenik eine besondere Bedeutung zu. Die Rhetorik bedient sich in diesem Kontext sophistischer Argumente: Hier ist neben der »schiefen Ebene« die Rede von der »slippery slope« oder dem »Dammbruch«. Auf diese Weise wird markiert, dass mit der Überschreitung eines bestimmten Punktes die weitere Entwicklung unaufhaltsam und vor allen Dingen unkontrollierbar die Menschheit überlaufen werde. Anhand des Diskurses lässt sich zeigen, inwiefern Würde und Eugenik in solchen Zuschreibungen zusammenkommen, denn die Eugenik gilt als Indikator der »schiefen Ebene«. Eines der prominentesten Beispiele für eine solche Verbindung innerhalb meines Untersuchungszeitraums stellt die sogenannte Berliner Rede des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau dar, in der er 2001 formulierte: »Wer einmal anfängt, menschliches Leben zu instrumentalisieren, wer anfängt, zwischen lebenswert und lebensunwert zu unterscheiden, der ist auf einer Bahn ohne Halt.«77 Der Vorwurf der Eugenik ist eines der entscheidenden und öffentlich am häufigsten wiederholten Argumente gegen die Anwendung von Reproduktionsmedizin, wobei in erster Linie die selektiven Verfahren gemeint sind; nicht also die Erzeugung von Embryonen mittels der so genannten künstlichen Befruchtung, sondern deren Verwerfung nach der Diagnostik aufgrund bestimmter Ei-

76 Zu den Begriffen der Zucht und der Züchtung siehe Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006: 154ff. 77 Die Rede wurde in der FAZ vom 19. Mai 2001 unter dem Titel »Der Mensch ist jetzt Mitspieler der Evolution geworden« gedruckt.

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genschaften. In aller Regel wird jedoch auf die Nähe, nicht aber die Deckungsgleichheit mit eugenischen Ideen verwiesen.78 Pierre-André Taguieff konstatiert in diesem Zusammenhang, das Wort Eugenik funktioniere wie ein Brandbeschleuniger.79 In diesem Sinne stellt die Mahnung vor einer eugenischen Praxis – zumeist von Experten ausgesprochen – einen elementaren Bestandteil der Auseinandersetzung dar. So warnt Hubert Hüppe (CDU) im Spiegel beispielsweise vor einer »Eugenik in der Petrischale«80. Mit einer solchen Annäherung richtet sich der Fokus der Aufmerksamkeit zwar auf die Zukunft der menschlichen Gattung. Die Ausrichtung auf die Zukunft bleibt jedoch zutiefst mit der Vergangenheit verwoben. Das düster gefärbte Bild des Embryos als Opfer erhält in diesem Diskursstrang eine historische Patina. Denn wenn die Vernichtung als »Selektion« beschrieben wird, schlägt der Diskurs nach Ansicht des Philosophen Ernst Tugendhat eine bestimmte Richtung ein, wie er angesichts der Sloterdijk-Debatte81 im Herbst 1999 in der Zeit betonte.82 Dort heißt es: »Warum verwendet Sloterdijk das Wort ›Selektion‹? Wenn

78 Dass das gegenwärtige Verhalten die eugenischen Strategien der Nationalsozialisten übersteige, wird hingegen selten gesagt. Titel wie »Schamloser als die Nazis« (Der Spiegel 7/1983) deuten jedoch auch einen solchen Zusammenhang an. 79 Taguieff, Pierre-André: La bioéthique ou le juste milieu, 2007: 20. 80 Art. »Freie Wildbahn«, in: Der Spiegel 6/2002. 81 Diese ausgiebige Feuilletondebatte war bekanntlich durch den als »Elmauer Rede« berühmt gewordenen Vortrag Sloterdijks mit dem Titel »Regeln für den Menschenpark« ausgelöst worden. Der Vorwurf lautete einerseits, Sloterdijk sei zu assoziativ mit seinem Quellen – beispielsweise Platon, Nietzsche, Heidegger – umgegangen, andererseits, und dieser Punkt ist es, der mich hier interessiert, wurde ihm zur Last gelegt, einen Tabubruch begangen zu haben. Dieser bestand nach Ansicht seiner Kritiker vorrangig in der Verwendung des Zuchtbegriffs und dessen Anwendung auf Menschen. 82 Die Rede sollte in Folge nun die unterschiedlichsten Gemüter erhitzen, den Redner eingeschlossen. Dabei verlagert sich der Austragungsort weg von der feudalen Residenz, hin zu einer medial geführten Debatte, in der die Zeit und der Spiegel präsent vertreten waren. In den folgenden Wochen erschienen hier Rede und Gegen-Rede, offene Briefe und Stellungnahmen, die federführend von externen Autoren verfasst wurden. Wie kaum eine andere Debatte folgt diese selbst der juristischen Logik des Prozesses: Delikt, Anklage, Verteidigung, Gutachten. Die Öffentlichkeit nimmt dabei die Position des Richters ein. Ich werde mich auch in der Spiegelung mit den französischen Beispielen nicht explizit auf die französischen Reaktionen beziehen. Auffällig

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ich dieses Wort in diesem Kontext höre, denke ich unwillkürlich an die Selektion an der Rampe von Auschwitz. Ist das nur mein Problem?«83 Anscheinend nicht, denn auch der Philosoph Ludger Lütkehaus fragt sich im Spiegel: »Greift hier ein ehemaliger Linker auf NS-Phantasien von rassischer Veredelung zurück?«84 Aufschlussreich ist natürlich Tugendhats Verwendung des Wortes »unwillkürlich«, wird hier doch die semantische Übertragungsleistung deutlich, die diskursiven Strategien zugeschrieben wird. Nicht der Denker Tugendhat stiftet also die Verbindung, sondern er reagiert auf eine Verbindung, die seines Erachtens diskursiv bereits besteht. »Es war ja nicht nur die Rampe, ein guter Teil von Hitlers Programm war ein Programm der Selektion. Gewiss ist eine Selektion durch Züchtung ungleich humaner als eine Selektion durch Ausmerzung, aber die Kategorie des Humanen soll ja nach Sloterdijk nicht mehr verfügbar sein.«85

Zwei Aspekte vermischen sich in diesen Ausführungen: Zum einen scheint es so, als sehe Tugendhat die Gefahr darin, dass, indem Sloterdijk ein bestimmtes Vokabular verwendet, er zumindest das so benannte Handeln begünstigt. Von besonderer Brisanz sind aber zum anderen jene Aussagen, die eine direkte Beziehung zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik knüpfen. Die Verbindung zur Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus funktioniert als Steigerung des Selektions-Vorwurfs, indem konstatiert wird, dass es sich bei dem, was die Reproduktionsmedizin zur Verfügung stelle, um jene eugenischen Möglichkeiten handle, die von den Nationalsozialisten auf besondere Weise radikalisiert wurden.

ist, dass die (Feuilleton-)Debatte dort sehr wohl wahrgenommen wird. So titelt LNO : »Die Polemik, die Deutschland entflammt« (La polémique qui enflamme l’Allemange, in: LNO No. 1822. 7.-13.10.1999). In seinem Haus in Karlsruhe empfängt Sloterdijk den Journalisten des LNO um zu erklären, dass er weder Klonen noch Eugenik gut heiße. Bezeichnenderweise wird die Aufregung als eine für Deutschland charakteristische ausgewiesen: Es handle sich abermals um das spezifisch deutsche schlechte Gewissen (Il s’agit bien, une fois encore, de cette rupture avec la mauvais conscience de l’Allemagne qu’officialiserait l’avènement de la République der Berlin). 83 Art. »Es gibt keine Gene für die Moral«, in: Die Zeit 38/1999. 84 Art. »Der Denker fällt vom Hochseil«, in: Der Spiegel 38/1999. 85 Art. »Es gibt keine Gene für die Moral«, in: Die Zeit 38/1999.

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Diese semantische Beziehung wird dann oft verdichtet zu einem direkten Vergleich zwischen nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik und Reproduktionstechnologien. Ein solches (auch dramaturgisches) Mittel zeigt zudem, dass die gegenwärtige aufgeregte Debatte um die Forschungen an und mit Embryonen ohne die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus unverständlich bleibt.86 Mit Begriffen wie ›Selektion‹, ›Nie wieder!‹ oder ›schwärzestes Kapitel‹87 wendet sich die zukunftsorientierte Auseinandersetzung über Reproduktionsmedizin rückwärts. Es braucht hier kein ›Nie wieder Auschwitz!‹, um Rezipienten ins historische Bild zu setzen und implizit auf das Ereignis zu verweisen, auf das sich dies allgemein in erster Linie bezieht: auf die nationalsozialistischen Verbrechen und spezifischer: auf die Shoah. Der Diskurs knüpft nicht nur oberflächensemantisch an einen anderen an. Durch die Verschränkung verbinden sich bestimmte Sprachregeln und Sprachpraktiken miteinander, die für sich genommen bereits etabliert sind und auf die jeweils auch bestimmte diskursive Strategien folgen. Schaut man sich den Vergleich im Hinblick auf seine Funktion an, dann fällt weiterhin auf, dass er in erster Linie als Gegenargumentation zu einer liberalen Forschungspolitik dient, was in den Beiträgen durchaus reflexiv vergegenwärtigt wird. »Doch genau diese so erfolgreiche Selektion ist es, an der sich in Deutschland die Debatte um die Fortpflanzungsmedizin entzündet. Seit den Gräueln des Nationalsozialismus, den Menschenversuchen des Nazi-Arztes Josef Mengele im ›Dritten Reich‹ gibt es große Tabus, was die Einordnung von Leben in lebenswert und lebensunwert angeht.«88

Der Verweis auf die nationalsozialistischen Massenverbrechen geschieht aber auf unterschiedliche Weise. Ich unterscheide hierbei drei unterschiedliche Anknüpfungsmöglichkeiten: Ein direkter Bezug wird gestiftet, wenn Verfahren der Reproduktionstechnologien mit Methoden der nationalsozialistischen Rassenideologie in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht werden und dadurch eine diskursive Gleichsetzung erfolgt (1). Durch bestimmte (Signal-)Wörter entsteht zudem ein indirekter Bezug zwischen Reproduktionsmedizin und Nationalsozialismus (eine Nähe, keine Deckungsgleichheit) (2). Hierbei wird vom Nationalsozialismus geprägtes Vokabular so verwendet, dass reproduktionsmedizinische Verfahren etwa als ›Selektion‹ identifiziert werden. Slogans wie ›Nie wie-

86 Tanguieff, Pierre-André: La bioéthique ou le juste milieu, 2007:23. 87 Art. »Ein Wunsch, drei Sorgen«, in: Die Zeit 38/2002. 88 Art. »Die Babygrenze«, in: Der Spiegel 46/2005.

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der!‹ hingegen entstammen einem gedenkpolitischen Diskurs, der insbesondere die Shoah fokussiert (3). Ein solches Sprechen stellt einen direkten Bezug auf einen Metadiskurs her, der bereits eine Stellungnahme zu den benannten Taten beinhaltet. Es thematisiert etwas, was eigentlich nicht hätte stattfinden sollen und das, indem es dennoch geschieht, Reue erzeugt, wohingegen (1) und (2) primär auf Empörung zielen. Ein auf Moralisierung abzielender Effekt, wie er gedenkpolitischen Diskursen immanent ist, schreibt sich ganz offensichtlich auch in biopolitische Diskurse ein. Anhand von zwei Beispielen – der Bezugnahme auf Israel und dem Begriff des Fötozid – gehe ich im Folgenden diesen Beobachtungen weiter nach. (6.2) Zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Deutschland und Israel Die Thematisierung israelischer Forschungspolitik bezüglich der Reproduktionsmedizin offenbart, inwiefern hier mehr in den Blick genommen wird als eine divergierende rechtliche Regelung.89 Allgemein lassen sich zwei Hauptrichtungen identifizieren, die Diskrepanz hinsichtlich des Umgangs mit Embryonen zu erklären: Eine historische und eine religiöse. Dass beide nicht trennscharfe Unterscheidungen bieten, liegt in der Geschichte begründet. Die Zeit stellt etwa fest: »Tatsächlich lassen sich einige Unterschiede zwischen Israel und Deutschland aus der Religion erklären. So ist der Embryo nach gegenwärtigem christlichen Verständnis ab der Verschmelzung von Eizelle und Samen ein menschliches Wesen und steht unter gesetzlichem Schutz. Nach jüdischem Glauben vollzieht sich die Entwicklung des Fötus zum menschlichen Wesen in Stufen und ist erst mit der Geburt vollständig abgeschlossen.«90

Im Ergebnis führe eine unterschiedliche Forschungspolitik dabei zu vermehrten Nachkommen.

89 Dabei ist auffällig, dass Beiträge, die sich mit der Beziehung von Deutschland und Israel im Kontext der Reproduktionsmedizin beschäftigen, überhaupt erst ab der Jahrtausendwende vorliegen. Überdies thematisiere ich, indem ich dies aufgreife, nicht einen Hauptstrang des Diskurses. 90 Art. »Alles, was geht?«, in: Die Zeit 37/2007.

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»Orthodoxe Familien bekommen im Schnitt acht bis neun Kinder, nicht selten auch mehr. Miriam zum Beispiel. Sie war ein Vierteljahrhundert lang entweder schwanger oder stillte gerade eines ihrer 16 Kinder. [...] ›Es ist das Wesen einer Frau zu nähren‹, sagt sie in der Dokumentation ›Be fruitful and multiply‹ der israelischen Filmemacherin Shosh Shlam. ›Seid fruchtbar und mehret euch‹ – dieser Satz steht in der Genesis und gehört ebenso zur christlichen Bibel wie zur Thora, dem wichtigsten Teil der hebräischen Bibel. Für orthodoxe Gläubige ist er die erste Mitzwa: das höchste Gebot. Für Miriam kommt noch etwas hinzu: Ihre gesamte Familie litt im Holocaust, mehrere Onkel und Tanten hat sie verloren. Durch ihre Kinder will sie dazu beitragen, den Menschenverlust auszugleichen. Auch im säkularen Israel ist dieses Motiv häufig zu hören. Das Gefühl existenzieller Bedrohung befeuerte die Entstehung des Staates und wird durch seine geopolitische Lage wach gehalten. Israel ist umgeben von arabischen Staaten mit einer schnell wachsenden Bevölkerung. ›Der Uterus der arabischen Frau ist meine stärkste Waffe‹, soll Jassir Arafat, erster Präsident der autonomen Palästinensergebiete, einmal gesagt haben. Der israelische Kolumnist und Westjordanland-Siedler Yisrael Harel nennt das ›samtener Holocaust‹.« 91

Die Zeit titelt: »Das Land der Familie. Israel kennt keinen Geburtenrückgang – dank seiner jüdischen Tradition, des nationalen Selbstbehauptungswillens und moderner Reproduktionstechnologie«92. Der hohe Stellenwert des Kinderkriegens ergebe sich, »[w]eil man sich – historisch und gegenwärtig – bedroht fühlt«; deshalb sorge man für Nachwuchs. Hinter dieser Entscheidung stecke also letztlich das »Bestreben, den Menschenverlust im Holocaust wenigstens ein ganz kleines Bisschen auszugleichen.«93 Das ist die eine Seite. Eine andere macht ein weiterer Beitrag aus der Zeit offensichtlich, der mit der Feststellung beginnt, es sei »fast eine makabre Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet israelische Forscher Deutschlands Bioethik derzeit in Zugzwang bringen.94 Sind es nicht gerade die traumatischen Erfahrungen der deutschen Vergangenheit, die Züchtungsphantasien der Nazis und der Holocaust an sechs Millionen Juden, die den Deutschen eine besondere Last in der Ethikdebatte auferlegen? In jeder Warnung vor den Risiken der Biomedizin schwingt diese Erinnerung an den deutschen Sündenfall mit, die Furcht vor einer neuen Selektion von lebens(un-)wertem Leben mithilfe der modernen Human-

91 Ebd. 92 Art. »Das Land der Familie«, in: Die Zeit 18/2008. 93 Ebd. 94 Thema ist die Einfuhr embryonaler Stammzellen aus Israel nach Deutschland.

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genetik.«95 Durch seine geschichtliche Sonderrolle sei Deutschland in Bezug auf die Biomedizin deshalb handlungsunfähig. Die offenkundige Entrüstung über den Handel zwischen Israel und Deutschland kommentiert Jahre später die Zeit selber: »In den Medien – auch in der ZEIT – wurde damals die Tatsache diskutiert, dass ausgerechnet israelische Wissenschaftler Deutschlands Bioethiker in Zugzwang brächten. Diesen sei durch die Erfahrungen deutscher Verbrechen, die Züchtungsfantasien der Nazis und den Mord an sechs Millionen Juden eine besondere Last in der Ethikdebatte auferlegt. Und nun verursachten just jüdische Reproduktionsmediziner einen Tabubruch.«96

Mittels ökonomischer Beziehung entsteht eine Brücke zwischen einer (vordergründig rein) ethischen Frage und historischer Schuld bzw. der Gefahr vor der »neuen« Eugenik. Der weit entwickelte Standard in israelischen Reproduktionszentren hänge auch mit der »deutsch-jüdischen Vergangenheit zusammen«97, heißt es erklärend, da die »Gründerväter des Staates Israel [...] von Anfang an zielstrebig den Aufbau eines hoch effizienten Wissenschaftssystems gefördert«98 hätten.99 Den Deutschen sei durch die Vergangenheit ein ethisch legitimiertes Heraustreten aus dem Schatten der Geschichte schwierig geworden. Bedeutet dies im Umkehrschluss nicht: Hätten wir die Wahl, auch wir würden uns von den ethischen Bedenken befreien? Oder aber: Das, worum es hier geht, ist ethisch nicht verwerflich. Wir jedoch müssen aufgrund der Vergangenheit eine Grenze ziehen. Und diese Grenze heißt: Ethik, und das ihr entsprechende Argument: Dammbruchargument. »Die deutsche Bioethik ist geprägt von den Nürnberger Prozessen, als nationalsozialistische Ärzte sich vor Gericht für ihre Verbrechen an Juden und anderen Gruppen verantworten mussten. In der Bundesrepublik ist der Begriff ›Eugenik‹ hoch belastet. In Israel ist

95 Art. »Ohne Mutter keine Menschenwürde«, in: Die Zeit 24/2001. 96 Art. »Alles, was geht?«, in: Die Zeit 37/2007. 97 Art. »Ohne Mutter keine Menschenwürde«, in: Die Zeit 24/2001. 98 Ebd. 99 Zum Verhältnis zur Wissenschaft heißt es an anderem Ort :»›Ich komme aus einer zionistischen Familie‹, zitiert sie [die österreichische Politologin Barbara Prainsack; J.D.] eine Gesprächspartnerin aus Tel Aviv, ›wir verehrten Wissenschaft und Technik wie andere Gott.‹« (Art. »Alles, was geht?«, in: Die Zeit 37/2007).

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er es nicht. Auch in Israel bestimmt der Holocaust die Haltung zu vielen Fragen. Allerdings haben Juden ihn als Opfer erlitten, während Deutsche die Täter waren«.100

Nicht mehr die Frage, ob der Embryo nun ein Mensch oder eine Person ist oder nicht, noch wann menschliches Leben beginnt, wann ihm Würde oder Schutz zukommt, wird hier problematisiert, sondern die speziellen Schwierigkeiten im Bezug auf die Verantwortung sind es, die in den Blick genommen werden. Ein israelischer Arzt konstatiert in diesem Sinne: »Die Deutschen fürchten nach diesem Trauma, dass man sie anklagt. Aber es ist eine Überreaktion, wenn sie Verfahren beschränken, die von der medizinischen Gemeinschaft weltweit akzeptiert sind.« Das durch den Nationalsozialismus verursachte Trauma wendet sich in der Gegenwart mittels eines möglicherweise drohenden Ausschlusses aus der Wissensgemeinschaft gegen die Nachfolgegeneration der Täter, wodurch diese zu »Opfern« werden.101 Sie werden es in dieser Wahrnehmung deshalb, weil sie aufgrund von Kontinuitäten die Verantwortung tragen für die historische Katastrophe, die (aber) mit der heutigen Situation unvergleichbar sei. Der Verweis auf den Nationalsozialismus impliziert so die Einschätzung, dass Deutschland die Forschung nicht in selber Weise vorantreiben kann wie beispielsweise seine europäischen Nachbarn. (6.3) Fötozid Direkte und indirekte Bezüge auf den Nationalsozialismus werden zudem zum Weichensteller für Neologismen wie dem Fötozids.102 Auf lexikalischer Ebene

100 Art. »Alles, was geht?«, in: Die Zeit 37/2007. Die folgenden Zitate: ebd. 101 Das kann dann dazu führen, dass»[b]ehindertes Leben [...] in Deutschland glorifiziert« werde, meint Hashiloni-Dolev. Hingegen gelte es »in der säkularen Tel Aviver Gesellschaft als verrückt, ein behindertes Kind zur Welt zu bringen.« Das hänge auch mit der Religion zusammen: »Im Judentum soll man Leiden überwinden, es hat keine spirituelle Kraft, wir wissen nicht, wozu es Leiden gibt. Im Christentum ist das anders, die Hauptperson leidet, und Leiden spielt eine wichtige Rolle im religiösen Denken.« Ein weiterer Hinweis also, wie Religion und Geschichte miteinander diskursiv verwoben sind. Art. »Art. »Alles, was geht?«, in: Die Zeit 37/2007. 102 Als Phänomen ist es bemerkenswert, dass zwar innerhalb des Diskurses mehrheitlich der deutsche Begriff »Fötus« verwendet wird, aus welchem sich konsequenterweise »Fötozid« ableiten würde. Doch innerhalb der Medienbeitrage wird wesentlich öfter »Fetozid« verwendet.

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ist durch die Endung »zid« zunächst nur eine Nähe zu anderen auf dieses Suffix endenden Substantiven hergestellt: Es steckt in »Suizid« ebenso wie in »Pestizid« oder »Fungizid« und verweist etymologisch auf »Mord« bzw. »Tötung«. Naheliegenderweise wird aber eine mögliche ›neutrale‹ Verwendung103 durch den historischen Kontext und die gedenkpolitische Aufarbeitung dessen, was man Genozid nennt, normativ imprägniert. Anhand der Kontexte, in denen der Begriff hier auftaucht, gehört »Feto-/Fötozid« in den semantischen Hallraum des Begriffs des Genozids. Die ihn flankierenden Begriffe dienen dabei als eine Art Verstärker, indem sie ein bestimmtes Setting eröffnen, das dazu führt, dass der Verweis von Fötozid auf Genozid pars pro toto für die nationalsozialistischen Verbrechen steht.104 Folgt man der Übersetzung von Genozid als »Völkermord«, werden Embryonen bzw. Föten in einer noch weiter reichenden Weise kollektiviert als im Fall der Embryonen als Opfer. Sie werden als gemeinsame »Gruppe« wahrgenommen, denen in diesem Diskursstrang der Anspruch auf Recht verwehrt wird. In entindividualisierter Weise findet das Verfahren des »Verwerfens« im Leben selbst sein Ziel. Nicht die Interessen von Individuen stehen dabei im Vordergrund, hier erfolgt vielmehr eine gesellschaftliche Weichenstellung. Würden diese Stellvertreter also angegriffen/vernichtet, wie es das »-zid« kenntlich macht, dann bestünde doch konsequenterweise allgemeiner Interventionsbedarf. Wer also übernimmt im Feld der Biomedizin die Aufgaben der UN? Wer stellt die Blauhelme der Biopolitik? Insbesondere, wenn es um die Vernichtung überzähliger, aber bereits eingepflanzter Föten geht, wird der Begriff Fötozid verwendet. Dabei ist deren »Beschaffenheit« nicht zwingend »Ursache« für diesen Akt. So heißt es im Spiegel: »Der überreiche Kindersegen, der auch durch unkontrollierte, massive Hormonbehandlungen in privaten Gynäkologen-Praxen produziert wird, wuchs in vielen Fällen Eltern und Ärzten über den Kopf. So wurden Babymacher zu Engelmachern: Mit einer Injektion

103 Bei Wikipedia heißt es unter dem entsprechenden Eintrag: »Der Fetozid bezeichnet das Töten eines oder mehrerer Föten im Mutterleib. Dies kann zum einen bei einer Mehrlingsschwangerschaft aber auch bei festgestellten Genommutationen zur Schwangerschaftsbeendigung durchgeführt werden«, http://de.wikipedia.org/wiki/ Fetozid, [18.08.2009]. 104 Hierzu: Diekämper, Julia; Robel, Yvonne: The hidden history, in: kultuRRevolution Nr. 55/56 2009.

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ins Herz, umschrieben als ›Fetozid‹ [...], werden unerwünschte Mehrlinge schon im Frühstadium der Schwangerschaft umgebracht.«105

Fragt sich, wer als Aggressor den Ungeborenen gegenüber steht? In der Zeit heißt es dazu: »Von allen Frauen im ABC-Club, die eine Selektion durchführen ließen, kenne sie nur eine, die es danach nicht bereut habe, sagt Dorothea. Die Ausgabe der Mitgliederzeitung zum Thema Fetozid ist eine einzige Sammlung von Ärztekritik und Selbstanklagen, Reuegedanken und Nie-wieder-Ausrufen. Die meisten Frauen blieben nach dem Fetozid allein mit ihrer Seelennot. Eine psychologische Betreuung war nicht vorgesehen. Der Fetozid ist das schwärzeste Kapitel der Reproduktionsmedizin.«106

Der »Fetozid« geht in diesem Fall also nicht von einem konkreten Verursacher aus, sondern ist selber als Bedrohung in der Welt, unter der insbesondere Frauen zu leiden haben. Er aktualisiert in der Sphäre von Tätern und Opfern das universell Böse, wobei Ungeborene einem unspezifischen Aggressor gegenüberstehen. Indem der Fötozid in diesem Sinn als universelle Bedrohung in der Welt ist, gelten Ungeborene (aber auch Frauen) als deren Leidtragende. Nur die Konzeption des Fötozids als unspezifisches Unheil sorgt also dafür, dass an dieser Stelle keine »Opferkonkurrenz« entsteht.107 Sowohl der Slogan ›Nie wieder!‹ als auch die Beschreibung als »schwärzestes Kapitel« spielen dabei auf einer Klaviatur, die mit der menschlichen Fortpflanzung ursächlich wenig gemein hat.

(7) A USBLICK Während das Sprechen über den Embryo immer fragmentierter und auf eine bestimmte Weise auch immer »verminter« wird, je nachdem, welche Funktion, welche Rolle ihm zukommt,108 ist die Einigkeit im Diskurs groß, dass der Status des Ungeborenen die Schwierigkeit und Dringlichkeit der Entscheidung zeitgleich mit seiner materiellen Abwesenheit bestimmt. Das Recht des Embryos

105 Art. »Tun wir Frauen etwas Gutes?«, in: Der Spiegel 17/1992. 106 Art. »Ein Wunsch, drei Sorgen«, in: Die Zeit 38/2002. 107 Andernfalls könnten Frauen für den Akt verantwortlich gemacht werden. Dies zeigt sich exemplarisch anhand der Debatte um die Regelung des Paragrafen 218 StGB. 108 Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung, 2007: 279.

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wird aufgrund von Bedrohungsszenarien diskursiv konstruiert. Insbesondere die Anerkennung als Opfer unterstreicht hierbei das implizite Recht, welches im weitesten Sinne jenes ist, das Schutz- bzw. Lebensrechte beinhaltet. Es setzt die Anerkennung als Mensch und als Person bereits voraus. Die Normen, die den Rahmen der Anerkennung festlegen, sind Bezugspunkte für wesentliche (politische) Entscheidungen. Das der Artikulation von Schutzansprüchen vorausgehende Bedrohungsszenario führt dabei zu Folgendem: Es hat integrativen Charakter genau dann, wenn es um die Gattungszugehörigkeit geht. Innerhalb dieses Denkmusters dient die Aushandlung über ungeborenes Leben ferner dazu, gesamtgesellschaftlich Ansprüche zu formulieren. Recht ist hier identisch mit der Achtung der Menschenwürde im allgemeinen. Dabei ist der Dreischritt meines Erachtens bemerkenswert: 1. Indem Ungeborene als Menschen anerkannt werden, werden ihnen implizit Rechte zugewiesen. Wenn Embryonen 2. als Opfer konzipiert werden, handelt es sich des Weiteren um Wesen mit beraubten Rechten. Dies führt 3. dazu, dass sie »entrechtet« werden können. Anhand dessen lässt sich die Aufnahme in einen größeren Kontext erahnen: Hier erhalten biopolitische Mechanismen dann eine Bedeutung, wenn statt der jeweiligen Individuen die Bevölkerung im Mittelpunkt steht. Der »kleine Mensch« ist einer von vielen Embryonen. Und die Medien sind ein Ort unter vielen, an denen er auftaucht. Inwieweit diese unterschiedlichen Aspekte sich in einem stetigen Aushandlungsprozess befinden, lässt sich exemplarisch auch anhand des Beginns der Auseinandersetzung um das Embryonenschutzgesetz zeigen. Denn hier herrschte zu Beginn der 1990er Jahre vielerorts Konsens darüber, dass der Embryo unbedingt und in vollem Umfang schützenswertes menschliches Leben sei. Das Gesetz hat schließlich den abgestuften Lebensschutz plausibel gemacht. Als Folgeerscheinung einer solchen Einschätzung erscheinen dann auch neue Sprachregelungen an der Oberfläche.109 Hier wird einmal mehr deutlich, dass die Frage der Anerkennung dem Kampf um Deutungshoheit unterworfen ist. Die Anerkennung des Embryos als »kleiner bedrohter Mensch« wird also in unterschiedlichen Kontexten ständig wiederholt und dies in erster Linie nicht als argumentativer Aushandlungspro-

109 Etwa, wenn von »befruchteten Eizellen im Pronuleus-Stadium zur Tiefgefrierung« die Rede ist. Diese Strategie, die mit dem Bild des »Embryos als Retter« (vor sogenannten »schlimmen Krankheiten«) operiert, wird jedoch öffentlich wirkungsmächtig unterlaufen: und zwar von eben jenem »kleinen Menschen«.

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zess – beispielsweise mit Hinweis auf die Potentialität des Embryos –, sondern als Setzung, als Behauptung. Die Normalisierung des biologischen Menschseins der Embryonen in performativen Akten führt zu weitreichenden Schlüssen in divergierenden rechtlichen, ethischen und politischen Praxen. Auch daran lässt sich zeigen, inwiefern eine solche Aushandlung als »Wahrheitsspiel« funktioniert, in dem das performative erzeugte Wissen in politischen Handlungen gerinnt. Und in dieses Wahrheitsspiel sind eindeutig pro-natalistische Strategien eingewoben. Diese Form des »Leben machens«, von der Foucault spricht, verbietet – auch wenn dies im Raum der Worte geschieht – jede Form des »sterben lassens«.110

110 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, 1983:165.

11. Kapitel Eugenik für die Zukunft – Spiegelung II

(1) E INLEITUNG Besonders in der Konstruktion des Embryos als Opfer knüpft die Aushandlung über die Technologien an die Vergangenheit an. Gerade die Verbrechen der Nationalsozialisten sind es dabei primär, die Begründungszusammenhänge – insbesondere für eine restriktive Forschungspolitik – stiften. Dabei ist zweierlei auffällig: Zum einen wird die Bewegung der Eugenik als pars pro toto der nationalsozialistischen Biopolitik gehandelt. Zum anderen knüpft sich an die Kontinuitätsthese (die Mittel der Biomedizin stehen in einem Zusammenhang mit den Zielen der Nationalsozialisten) eine spezifisch deutsche Verantwortung. Wenn ich im Folgenden Beiträge aus LNO und L’Express in den Blick nehme, geht es mir in einem ersten Schritt darum, ob Verbindungen in Frankreich auf eine ähnliche Weise hergestellt werden wie in Deutschland. In einem weiteren Schritt gilt es zu überprüfen, wie dies geschieht (wird hier etwa eine europäische Identität beschworen?) (2). Diese Anknüpfungen werde ich anhand des Terminus ›Verbrechen gegen die Gattung Mensch‹ (crime contre l’espèce humain) konkretisieren (3). Die in diesem Zusammenhang stattfindende Kollektivierung Ungeborener bietet darüber hinaus eine Antwort auf die Frage nach dem Status des Embryos (4). Vor dem Hintergrund einer im französischen Diskurs erkennbaren Politik der Anerkennung werde ich schließlich die Ergebnisse des zweiten Szenarios und seiner Spiegelung zusammenführen (5).

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(2) V ERGANGENHEIT UND G EGENWART – S PIELARTEN DER E UGENIK Auch innerhalb der Beiträge von L’Express und LNO wird auf die durch technischen Fortschritt bestehende Gefahr der Eugenik hingewiesen (Des progrès de la génétique aux dangers de l'eugénisme).1 Ein entsprechender Beitrag beginnt mit einem Fallbeispiel, das aber weit weniger personalisiert verwendet wird, als es in aller Regel in Spiegel und Zeit der Fall ist. Hier heißt es lediglich, es handle sich um ein junges, glückliches Paar, welches das erste Kind erwarte, als plötzlich die Welt zusammenbricht: Der behandelnde Mediziner kündigt ihnen eine Fehlbildung an (Ils forment un jeune couple heureux. Ils attendent leur premier enfant. Et soudain le monde s’écroule: le médecin, penché sur l’écran de l’echographe, leur annonce que leur bébé a un bras en moins). Im Gegensatz zur Mehrheit der Ärzteschaft warnen Gesundheitsminister Hervé Gaymard und Abgeordneter Jean-François Mattei (hier: Monsieur Génetique) explizit vor Eugenik. Dieses Wort, so heißt es, sei heute angstbesetzt (le mot est laché). Dabei sei es einstmals mit Respekt gehandelt worden. Ein kurzer Ausblick auf Francis Galtons Ideen soll dies deutlich machen. Geht es darum, den Menschen unter bestimmten Konditionen zu erzeugen und das Augenmerk auf sein Potenzial zu richten, dann wird sehr schnell deutlich, dass hier elementar die Frage nach dem Menschen und seinem Körper verhandelt wird. Die Chronik mit dem Titel »Der unfertige Mensch« (L’homme infini)2 stellt sich etwa der Frage, was denn diesen Menschen genauer auszeichne. Huxley und die Vorstellung einer industriellen Produktion von Menschen stehen hierzu Pate.3 Die Folge einer (technischen) Einwirkung bestünde in der grundlegenden Veränderung der Gattung Mensch (modification de l’éspèce).4 Ein solcher Eingriff bedeute nichts anderes als: Eugenik (c’est-à-dire l’eugenisme). Diese Eugenik

1

Art. »La Tentation du bébé sans defaut«, in LNO Nr. 1670, [07.-13.11.1996]. Die folgenden Zitate: ebd.

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Art. »L’homme infini«, in LNO No. 1934 [29.11.-05.12.2001].

3

Sie illustrieren zudem auf besondere Weise Heiko Stoffs These, dass der Umgang mit dem Mensch bzw. dessen Körper als historische Variabel zu begreifen ist. Soff, Heiko: Ewige Jugend und Schönheit, 2004. Im Vergleich zu den Beiträgen aus Spiegel und Zeit wird zudem offensichtlich, dass hier auf ähnliche Bildwelten rekurriert wird. Auch hier nämlich stellt Huxleys Roman »Schöne neue Welt« eine stetige Referenzquelle dar.

4

Art. »L’homme infini«, in LNO No. 1934 [29.11.-05.12.2001].

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war, so die Einschätzung, anfangs aber keine gefürchtete Bewegung. Mit den Nazis sei hier eine Veränderung eingetreten; erst diese hätten die Eugenik barbarisch und unmenschlich gebraucht (le nazisme est passé par là, qui a fait de l’eugénisme une utilisation barbare et déshumaniste).5 Sie hätten den Begriff nachhaltig geprägt mit ihren monströsen Programmen der Rassenhygiene (avec leur monstrueux programmes d’hygiène raciale)6, die von der Mehrheit der deutsche Forscher betrieben worden sei (soutenus par la plupart des scientifiques allemands). Das dürfe allerdings nicht zu einem Forschungsstillstand führen: Man müsste Eugenik vielmehr weiter »versuchen« (essayons cependant). Zweierlei hängt an dem Verweis auf die Vergangenheit: Zum einen seien es nicht die eigenen Landsleute gewesen, die die Verbrechen begingen (normativ verwerfliche Eugenik wird hier anders als in Deutschland zu einem zeitlich und lokal begrenzten Phänomen). Zum anderen verpflichten jedoch die Verbrechen der Nationalsozialisten als das universale Böse die Menschheit an sich, von vergleichbaren Praktiken Abstand zu halten (dieses zeitlich und lokal begrenzte Phänomen hat normative Folgen für die Gegenwart). Für eine Autorin steht die Abbruchpraxis etwa in einer Assoziationskette mit den »jungen Deutschen, die die Juden in die Ghettos drängten« (elle me font penser à ces jeunes Allemands qui harcelaient les juifs dans les ghettos).7 Hier spielt es keine Rolle, ob es junge Deutsche oder junge Franzosen sind, die Unrecht begehen. Der Analogisierung von Föten und Juden im Bezug auf ihre Rolle als Opfer entspringt die Rechtfertigung für einen Interventionsbedarf. Und ein solcher ist – seit den Erfahrungen der Shoa – nicht mehr (ausschließlich) nationalstaatlich geregelt. Damit erhält der Reproduktionsdiskurs eine völkerrechtliche Imprägnierung, die qua Natur eine internationale Perspektive einschließt. Das heißt nichts anderes, als dass auch innerhalb des französischen Diskurses diejenigen Strategien, die in den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin Eugenik sehen, von denen zu unterscheiden sind, die Eugenik darauf aufbauend als pars pro toto des Nationalsozialismus verstehen. Eine Analogisierung von Biomedizin und nationalsozialistischer Biopolitik führt primär zur Warnung, die Biomedizin und deren Nutzung durch den Menschen stellten eine aktuelle Bedrohung dar, die (moralisch) zu bewerten die Vergangenheit helfe. Die Bilderwelten, die es braucht, um dem Plausibilität zu verleihen, müssen eindrücklich

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Ebd.

6

Art. »La Tentation du bébé sans defaut«, in: LNO Nr. 1670 [07.-13.11.1996]. Die fol-

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Art. »L’ île où avorter est un crime«, in: LNO Nr. 1632 [15.-21.02.1996].

genden Zitate: ebd.

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sein. Hier kommt etwas zum Tragen, das ich in der Auseinandersetzung mit Spiegel und Zeit ›verkürztes Argument‹ genannt habe. LNO etwa erkennt in der Konfrontation mit der Biomedizin die Tendenz, (frühzeitig und unbegründet) eine Gefahr8 auszurufen und die Phantome eines Mengele oder Doktor Jekyll abzuwehren (De crier au loup et d'agiter les fantômes de Mengele ou du docteur Jekyll).9 Der Diskurs bewegt sich damit zwischen Fiktion und Realität. Könnte die »Eugenik-Versuchung« (»tentation eugénique«)10, fragt LNO, nicht ein Schreckensbild der Konservativen sein (ne serait donc qu’un épouvantail agité par les conservateurs de la recherche scientifique)? Das sei zu einfach, schließlich sei die ganze Welt von den durch die Medizin entstehenden Vorteilen überzeugt (tout le monde en convient: certaines avancées de la médecine prénatale donnent le vertige). Neben einer Gleichsetzung von Eugenik und Biomedizin bzw. Eugenik und Nationalsozialismus profiliert sich eine Position, die die Praktiken der Reproduktionsmedizin einem solchen Deutungskreis entzieht. René Frydman gehört zu deren prominenten Vertretern. In LNO expliziert er, er gehe nicht davon aus, dass herauszufinden, ob der untersuchte Embryo Träger einer Krankheit (porteur d’une maladie) sei, zu den Eugenik-Versuchungen zähle (cela n’a rien à voir avec la tentation eugénique).11 Es handle sich schließlich nicht um ein von Barbaren geschaffenes Werkzeug (outils qui créent la barbarie). Vielmehr sei es die (nationalsozialistische) Ideologie, die diese Werkzeuge erzeugt habe. Nicht also die entsprechende Praktik macht die biomedizinischen Verfahren zu Instrumenten der Eugenik, sondern das sie begründende ideologische Fundament. Wichtig ist es seines Erachtens, zu begreifen, dass nicht alle Eugenik per se negativ sei. Müsste man ansonsten nicht Impfungen ebenso zurückweisen wie alle anderen Prophylaxemaßnahmen (va-t-on refuser la vaccination obligatoire ou des mesures de prophylaxie)? Der Blick richtet sich ganz klar statt auf die Vergangenheit auf die Zukunft. Das gelingt, indem die ›Ethik des Heilens‹ durch eine allgemeinere ›Ethik der Sorge‹ erweitert wird. Nicht mehr (nur) die ›gute Geburt‹ steht damit im Fokus, sondern das ›gute Leben‹. Mit einer sich so ereignenden Gleichsetzung zwischen ungeborenem und geborenem Leben erhält der Embryo/Fötus einen verantwor-

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Der Wolf (loup) bezeichnet dabei eine Gefahr, die (nicht existierend) solange be-

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Art. »La Tentation du bébé sans defaut«, in: LNO Nr. 1670 [07.-13.11.1996].

schrien wird, bis niemand mehr auf sie reagiert, als sie wirklich eintritt. 10 Ebd. 11 Art. »Génétique : les pièges du «risque zéro»«, in: LNO Nr. 1670 [07.-13.11.1996].

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tungsvoll zu behandelnden Körper. In dieser Logik kommt ein Argument zum Tragen, das bereits im Bezug auf die PID hervorgebracht wurde: Wenn ›wir‹ uns an bestimmte Praktiken gewöhnt haben (von denen wir heute widerspruchslos profitieren), dann ist es widersinnig, den neuen Möglichkeiten diese Akzeptanz zu verwehren. Die diskursive Strategie, den Eugenik-Begriff von seiner Patina zu befreien, ist eine, die im deutschen Diskurs so direkt auf den Eugenikbegriff bezogen nicht sagbar ist. Sie hat den entscheidenden Vorteil, ihn aufzufächern. Differenziert wird zwischen positiver und negativer Eugenik.12 Den beiden Erscheinungsformen wird dann eine dritte, eine medizinische, hinzugefügt (eugénisme medicale), die a priori nicht verdammungswürdig sei. Daniel Cohen, einer der führenden Genetiker Frankreichs, gibt in diesem Sinne zu bedenken, dass ja bereits eugenische Methoden, wie die therapeutische Abtreibung, in Frankreich Anwendung fänden. Eine solche Praxis führe zu einem »Flirt« mit den Grenzen des ethisch Zulässigen, jedoch auf eine bewusste und verantwortungsvolle Weise (nous flirtons déjà avec la limité, mais de façon consciente et responsable). Man solle anerkennen, dass diese Form der bereits praktizierten Eugenik dem guten Zweck diene (pour la bonne cause). Schließlich habe es auch Zeiten gegeben, in denen etwa die pränatalen Untersuchungen nicht unter Eugenik-Verdacht standen. Eine solche Feststellung findet sich in Spiegel und Zeit nicht. Dort besteht entweder eine Nähe medizinischer Praktiken zur grundsätzlich negativ konnotierten Eugenik oder sie besteht eben nicht. Das allein ist aber in den ausgewählten Beispielen keine zeitbezogene historische Frage. Eine solche Feststellung, wie sie in LNO getroffen wird, ist höchst aufschlussreich, was den Umgang mit den Verfahren betrifft. Denn nur vor diesem Hintergrund erhalte die Frage, warum heute diese Angst vor der Selektion von Föten bestehe, Sinn (pourquoi alors, aujourd'hui cette angoisse de la sélection des fœtus). Ein im Beitrag zu Wort kommender Arzt liefert eine Antwort, die deren Ursprung ideologisch und religiös begründet. Insbesondere die katholische Kirche trage dabei das ihre dazu bei (inspirées par ses convictions catholiques). Mehr denn je brauche man für die große Lotterie des Lebens (grande loterie de la vie) gute Chromosome, weswegen sich auch ganz praktisch eine Inanspruchnahme der Fortpflanzungstech-

12 Seltener gilt die Unterscheidung den Ebenen, auf denen Eugenik angesiedelt ist, bzw. von denen sie ausgeht. Eine solche Differenzierung findet primär in den sich mit den Entwicklungen der Technologien beschäftigenden Auseinandersetzungen Beachtung. Etwa; Missa, Jean-Noel; Susanne, Charles (Hg.): De l’eugénisme d’état à l’eugénisme privé, 1999.

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nologien rechtfertige, um am Spiel des Lebens (denn nichts anderes ist die Lotterie ja) teilzunehmen. Innerhalb der für den deutschsprachigen Raum erhobenen Beispiele findet eine Zuspitzung, wie sie sich in L’Express und LNO ereignet, nicht statt. Unvorstellbar die Frage etwa, ob die Möglichkeit, zu entscheiden, ob ein TrisomieKind gehalten werden soll oder nicht, auch ein Fortschritt sein könne (avoir la possibilité de décider si l'on veut ou non garder un enfant trisomique, n'est-ce pas un progrès).13 In Frankreich wird also durch die Enthistorisierung und Entideologisierung des Eugenikbegriffs genau jene Strategie entwickelt, die die im deutschen Diskurs vorherrschende Frontstellung von Bewahrung des Lebens und wissenschaftlich-technischem Fortschritt aushebelt, weil durch die normative Umwertung der Eugenikbegriff selbst ein humanes Antlitz erhält und so direkt in die ›Ethik des Heilens‹ bzw. die ›Ethik der Sorge‹ integriert wird. Insbesondere die auf die Zukunft ausgerichteten Verfahren untermalen zudem die Notwendigkeit der Frage, in welcher Welt wir leben wollen. Wie auch in Spiegel und Zeit finden solche Überlegungen Niederschlag in LNO und L’Express angesichts der Meldung aus Großbritannien, man habe ein Gen identifiziert, das verantwortlich für eine Brustkrebsdisposition sei. Unter dem hierzu erschienenen Artikel »Die eugenische Versuchung« (La tentation de l’eugenisme)14 stellt L’Express fest, die Entscheidung, die Tests zuzulassen, trete jenseits des Ärmelkanals eine komplexe wie delikate Polemik los. »Versuchung« indes markiert die Wegschneide. Während die eine Richtung Eugenik zum Ziel hat, bietet die andere ethisch bedenkenloses Handeln. Auch hier ist eine Strategie erkennbar, die Rede von Eugenik von ihrer Ideologie zu trennen, denn die Versuchung, die hier besteht, ist die, das Werkzeug der Eugenik zu missbrauchen. Bislang wurde das Verfahren nur im Zusammenhang mit schweren Pathologien wie Trisomie oder Mucoviszidose angewandt (pour des pathologies graves comme la trisomie, la mucoviscidose). Nun aber geht es um eine Krankheit (Brustkrebs), die erst im Erwachsenenalter ausbricht. Das führt zur Frage, wie weit man gehen kann (jusqu’où ira-t-on). Etwa bis zur Diagnostik von Fettleibigkeit oder Intelligenz? Jeremy Rifkin warnt in L’Express vor einer eugenischen Gesellschaft. Biotechnologien haben offensichtlich Ökonomie, Kultur und Soziales revolutioniert. Vorteile – etwa die Heilung von Krankheiten – liegen dabei auf der Hand. Aber zu welchem Preis geschehe dies? Dieser Frage geht Rifkin in seinem Buch »Das

13 Art. »Génétique: les pièges du «risque zéro»«, in: LNO Nr. 1670 [07.-13.11.1996]. 14 Art. »La tentation de l’eugénisme«, in: L’Express No. 2880 [14.-30.9.2006].

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biotechnische Zeitalter« (Le siècle biotech15) nach, das in LNO diskutiert wird. Wir stehen, so seine These, am Beginn einer neuen Schöpfungsgeschichte (la naissance d’une nature artificielle destinée à remplacer les mécanismes originels de l’évolutuion). Daraus schlussfolgert er, es bleibe wenig Zeit, zu reagieren (très peu de temps pour agir), wenngleich er nach Ansicht von LNO versäumt, konkrete Lösungen zu präsentieren (ne suggère que des solutions quelque peut angélique pour infléchir la cour de l’histoire).16 Dennoch knüpft eine solche Position an die Vorstellung an, mittels des Einsatzes bestimmter Technologien mache der Mensch sich die Welt Untertan. Dazu gehört ein positiv konnotierter Naturbegriff, der durch eine »künstliche« Natur bedroht ist. Das skizzierte Bedrohungsszenario erfordert im Zeichen höchster Dringlichkeit rasche Handlungsstrategien. Eugenik zu betreiben stellt in den meisten der Beiträge eine durch die Biomedizin geschaffene realistische Option dar. Deren Bewertung changiert aber offensichtlich je nachdem, wie die Aussicht, ›Krankheiten‹ zu heilen, eingeschätzt wird. Je differenzierter der Eugenik-Begriff aufgefächert wird, desto eher entfalten sich auch vor seinem Hintergrund ethisch kompatible Handlungsweisen. Andernfalls fungiert er als Gegenbegriff zu einer ethischen Betrachtungsweise. Das macht etwa die Auseinandersetzung zum Schwangerschaftsabbruch deutlich: Wer nicht ethisch handle, so heißt es etwa in L’Express, der handle eugenisch (qui n’est pas éthique est eugéniste).17 Wer keine Feministin sei, der sei frauenfeindlich (qui n’est pas féministe est misgyne).18 Während der Begriff Eugenik zumindest etymologisch auf die Geburt verweist, bedeutet Euthanasie in diesem Kontext deren Gegenteil. Pränatale Praktiken als Werkzeuge letzterer auszuweisen, verleiht dem Diskurs eine besonders wirkungsvolle Imprägnierung, die insbesondere im Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche nach einem positiven Befund zum Einsatz kommt. Anlässlich des Buches von Jacques Milliez »Die Euthanasie des Fötus« (L’euthanasie du fœtus) stellt LNO fest, alle wollten perfekte Babys (bébés parfaits). Was geschieht aber, wenn durch die Ultraschalluntersuchung eine Anomalie sichtbar wird?19 In diesem Buch konstatiere der Autor, so LNO weiter, dass eine

15 Im Original erschien das Buch 1998 unter dem Titel »The Bioetech Century«. 16 Art. »Gare aux biotechnocrates«, in: L’Express No. 2445 [14.-20.5.1998]. 17 Art. »La nouvelle bateille de l’IVG«, in: L’Express No. 2569 [28.9.-4.10.2000]. 18 Ebd. 19 Art. »Jacques Milliez : les dangers du «génétiquement correct»«, in: LNO Nr. 1802 [20.-26.05.1999].

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Schwangerschaft abzubrechen kein medizinischer Eingriff sei, sondern Euthanasie. Der appellativ formulierte Text nimmt nicht nur die Perspektive der Untersuchten in den Blick. So stellt Milliez in LNO fest, eine Person könne schließlich sehr gut mit einer Prothese leben, und direkter: wollen aber Sie, seine Eltern, mit so einem Kind leben (une personne peut très bien vivre avec une jambe de prothèse ou une main en pince de crabe, mais vos, ses parents, voulez-vous vivre avec cet enfant)?20

(3) V ERBRECHEN V ERBRECHEN

GEGEN DIE GEGEN DIE

M ENSCHLICHKEIT – G ATTUNG M ENSCH ?

In Bezug auf die Berichterstattung von Zeit und Spiegel habe ich die Möglichkeit des (reproduktiven) Klonens weitestgehend ausgeklammert. Die Entscheidung für eine solche Vernachlässigung ist in erster Linie dem bislang spekulativen Charakter des Verfahrens geschuldet.21 Wenn ich im Folgenden dennoch die Auseinandersetzung (in Frankreich) in meine Analyse einbeziehe, dann begründet sich dies durch drei unterschiedliche Aspekte: Zum einen, darauf habe ich bereits verwiesen, findet das Klonen Niederschlag in den Bioethikgesetzen. Die Auseinandersetzung darüber, den Terminus »Verbrechen gegen die Gattung Mensch« (crime contre l’espèce humaine) zu verwenden, löste zum anderen eine prominente Diskussion aus. Schließlich verbindet sich in der entsprechenden gesetzlichen Realisierung die (spekulative) Technik mit dem Begriff der Eugenik, der einen Unterpunkt der Verlautbarung darstellt. Dies ist auch deshalb bemerkenswert, weil bereits 1998 das Europäische Parlament hierzu Stellung bezog. Anhand der Überlegungen die Bioethikgesetze betreffend wird mittels eines solchen Terminus – das Klonen als Verbrechen zu brandmarken –, wie er mit einer Novellierung der französischen Regelungen Eingang ins Gesetz erhielt, augenscheinlich, dass hier mehr verhandelt wird als die konkrete Bestimmung, was erlaubt sein darf und was verboten bleiben soll. Die Unentschiedenheit, ob und in welcher Form das Klonen in den Gesetzen Berücksichtigung finden soll, drückt sich exemplarisch in dem Umstand aus, dass erst in ihrer Aktualisierung im Jahr 2004 die Bioethikgesetze das Verfahren des reproduktiven Klonens ken-

20 Ebd. 21 Dabei meint »spekulativ« die bislang nur angekündigte, nicht aber realisierte Möglichkeit, menschliche Wesen zu klonen. Inwiefern das Verfahren dennoch für Aufsehen sorgte, machte die Geburt des »Klonschafs« Dolly 1996 offensichtlich.

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nen. Bereits 1997 hatte Gesundheitsminister Mattei allerdings gegenüber La Croix die Leerstelle mit der rasanten Entwicklung der Technologien erklärt.22 Jedoch behandelte auch die folgende Novellierung das Klonen zunächst nicht. Mit der Ankündigung der Sekte der Raelianer sowie des koreanischen Forschers Hwang Woo-Suk zu Beginn des Jahrtausends, ein Klonkind zur Welt zu bringen, erhält die Auseinandersetzung mit dem Klonen allerdings eine Dringlichkeit. LNO verweist 2003 auf die breitenwirksamen Reaktionen, die die Ankündigung der Klonbabys zur Folge hatte: Ein öffentlicher Aufruf forderte, das Klonen als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Menschen« (crime contre l’humanité de l’homme) zu klassifizieren. Zu den Unterzeichnern gehörten Prominente wie Jacques Delors, Isabelle Huppert oder Axel Kahn.23 In einem Interview empfahl Mattei gegenüber L’Express, den Tatbestand »Verbrechen gegen die Würde der menschlichen Person« (crime contre la dignité de la personne humaine) ins Strafgesetzbuch aufzunehmen, um das Klonen prinzipiell zu verhindern. Diese markante Formulierung fand Niederschlag auf den Titelseiten überregionaler Zeitungen.24 Der Begriff, der für Aufmerksamkeit sorgte, und der schließlich als »Verbrechen gegen die menschliche Gattung« (crime contre l’espèce humaine) Gesetzeskraft erhielt 25, war aber natürlich nicht ex nihilo entstanden.26 Axel Kahn hatte angesichts der Möglichkeit des reproduktiven Klonens bereits von einem »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (crime contre l’humanité) gesprochen;

22 Art. »Il faut prévenir les manipulations aberrantes«, in: Le Croix, 3.03.1997. 23 Art. »Menance pour la recherche? Haro sur le clone«, in: LNO No. 1995 [30.15.2.2003]. 24 Hierzu etwa: Descamps, Philippe: Un crime contre l’espèce humaine? 2004:11. 25 Der Senator Jean-Louis Lorrain führt am 12.12.2002 während einer Anhörung hierzu aus: »Ein menschliches Wesen zu klonen wäre ein Verbrechen gegen die Natur, das die Gesellschaft nicht akzeptieren kann. Verschiedene Formulierungen seien hierzu im Gespräch: »Verbrechen gegen die menschliche Würde«, »Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Menschen«, aber die Formulierung »Verbrechen gegen die Gattung Mensch« scheint die am meisten zutreffende (Cloner un etre humain serait, en conséquence, un crime contre la nature, que notre société ne peut accepter. Différentes formulations ont été envisagées: crime contre la dignité humaine, crime contre l’humanité de l’homme, mais la notion de crime contre l’expèce humaine me semble la plus appropriée). 26 Für einen genealogischen Überblick siehe: Descamps, Philippe: Un crime contre l’espèce humaine? 2004:11.

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ebenso Jacques Testart. Israël Nisand überschrieb in Le Monde einen Artikel mit »Reproduktives Klonen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (le clonage reproductif, crime contre l’humanité).27 Auch die Ethikkommission von Casablanca schätzte zu diesem Zeitpunkt das reproduktive Klonen als ein großes Verbrechen ein, ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (une grave menace, voire un crime contre l’humanité). Claude Guillebaud, Herausgeber von LNO, platzierte einen Beitrag in La vie, in dem er fragt: »Muss man das Klonen verbieten« (Faut-il interdire le clonage)? Sein Plädoyer sah dabei den Straftatbestand »Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Menschen« (crime contre l’humanitè de l’homme) vor.28 Auch auf europäischer Ebene hatte eine Auseinandersetzung über das reproduktive Klonen bereits stattgefunden, wobei insbesondere Bezüge auf die Menschenrechte eine wichtige Stellung einnahmen. 1998 stellte etwa das europäische Parlament fest, es handle sich beim Klonen um eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte.29 Im Jahr 2000 konstatierte das Parlament in seinem Entschließungsantrag ergänzend, das »Klonen von Menschen, ob nun auf experimenteller Basis, im Rahmen von Fertilitätsbehandlungen, zur Präimplantationsdiagnose, zur Gewebetransplantation oder zu allen sonstigen Zwecken, [ist, J.D.] unethisch [...] und [widerspricht, J.D.] der Achtung der Person [und es stellt, J.D.] eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte dar, die unter keinen Umständen zu rechtfertigen oder zu akzeptieren ist.«30 Der Verweis auf die Menschenrechte im Zusammenhang mit dem Klonen ist auch deshalb bemerkenswert, weil diese davon ausgehen, dass alle Menschen aufgrund ihres Menschseins mit gleichen und unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind. Das Verfahren bedroht nach Ansicht des europäischen Parlaments diese Rechte mit Verweis auf diejenigen, die aus dem Klonen entstehen (könnten). Das (reproduktive) Klonen steht also sowohl auf der transnationalen, wie auch auf der nationalen Agenda. In erster Lesung der französischen Bioethikgesetze im Jahr 2002 hatte Mattei vorgeschlagen, den Terminus »Verbrechen gegen die Menschlichkeit des Menschen« (crime contre l’humanité d’homme) auf-

27 Art. »Le clonage reproductif, crime conte l’humanité«, in: Le Monde, 01.01.2003. 28 Art. »Faut-il interdire le clonage?«, in: La vie No. 2994, 16.01.2003. 29 Beim Klonen handelt es sich dieser Einschätzung folgend um einen »Verstoß gegen die Achtung der Person und eine schwere Verletzung der grundlegenden Menschenrechte [...], was unter keinen Umständen gerechtfertigt oder akzeptiert werden kann«, http://www.europarl.europa.eu, [12.10.2010]. 30 http://www.europarl.europa.eu [12.10.2010].

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zunehmen.31 Seit 2004 schließlich beinhalten die Bioethikgesetze den Tatbestand »Verbrechen gegen die menschliche Gattung« (crime contre l’espèce humaine). Das erste Kapitel nimmt dazu eugenische Verbrechen und reproduktives Klonen (des crimes d'eugénisme et de clonage reproductif) in den Blick.32 Personen zu selektieren, wie es hier heißt, wird mit Freiheitsentzug von 30 Jahren und einer Geldstrafe von 7.500.000 Euro geahndet (trente ans de réclusion criminelle et de 7 500 000 EUR d’amende).33 Offensichtlich handelt es sich dabei in erster Linie um eine symbolische Strafe. Bis zur Ratifizierung stand die Wortwahl zur Disposition. In einem von LNO initiierten Streitgespräch zwischen Axel Kahn und dem Neurobiologen Herve Chneiweiss gab letzterer etwa zu bedenken, für ihn sei der Ausdruck »Verbrechen« (crime) vollkommen ausreichend. Ein Verbrechen gegen die menschliche Würde (crime contre la dignité humaine) aufzunehmen, wie es zu diesem Zeitpunkt im Gespräch war, würde das Gesetz seines Erachtens mehr schwächen, als dass es dadurch gestärkt werde (l’invention d’un crime contre la dignité humaine affaiblit le texte de la loi plus qu’elle ne le renforce).34 Dies sei der Tatsache geschuldet, dass die Wahnvorstellung der Genetik überwertet wird (on survalorise le fantasme du double génétique).35 Er befürchtet, dass die Fokussierung auf die

31 http://www.assemblee-nationale.fr/11/cr-cspecbio/01-02/cr05.asp [22.10.2010]. In der Ablehnung hierzu heißt es am 9.02.2002 in der Nationalversammlung, die Prüfung habe ergeben, ein Verbot sei insbesondere auf internationalem Niveau (und hier beispielhaft die Initiative Frankreichs und Deutschlands) geboten. Des weiteren sei davon abzusehen, das Klonen bzw. die Klonierung mit demselben Tatbestand zu bezeichnen wie den Genozid (le Rapporteur a constaté que, quelle que soit la peine affichée, il ne sera pas possible de faire avancer l'efficacité de la condamnation au niveau international. Il convient plutôt de favoriser des initiatives internationales, telle que celle de la France et de l'Allemagne dans le cadre de l'ONU. En outre, il s'est déclaré peu favorable à ce que le clonage reproductif soit mis sur le même plan que le génocide). 32 http://www.prevensectes.com/bioethique.pdf [16.10.2010]. Damit ist jedoch nicht der Begriff der Eugenik neu unter Strafe gestellt. So heißt es im Artikel 16-4 des Code Civil: Alle eugenischen Praktiken zur Selektion von Menschen sind verboten (Toute pratique eugénique tendant à l’organisation de la selection des personne est interdite). 33 http://www.senat.fr/amendements/2001-2002/189/Amdt_127.html [04.10.2010]. 34 Art. »Clone est-il un crime?«, in: LNO No. 1994 [06.02.-13.02.2003]. 35 Ebd.

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DNA vergessen macht, dass nicht dort der Kernbereich liege, sondern in den Genen (que la focalisation sur l’ADN ne fasse oublier que l’essentiel n’est pas là, que si les gènes sont importants, ils ne résument pas tout).36 Die Tatstandsbezeichnung »Verbrechen gegen die menschliche Gattung« bzw. »Verbrechen gegen die menschliche Würde« orientiert sich offensichtlich an dem aus der Naturrechtstradition entwickelten Terminus »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Dieser fand erstmalig 1945/46 Anwendung bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Seither stellen »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« ein besonderes – per Völkerrecht zu ahnendes – Kriegsverbrechen dar, das seit 1974 durch den Europarat eine explizite Referenz auf den Begriff des Genozids enthält. Durch eine solche Nähe erhält der bioethische Diskurs also offensichtlich einen (weiteren) völkerrechtlichen Anstrich, der im Fall der »Verbrechen gegen die menschliche Gattung« jedoch einen nationalen Geltungsbereich betrifft. Das hier verhandelte Verbrechen (Genozid) macht aber die Schwierigkeiten der Analogisierung kenntlich. So führt LNO dazu aus: Es handelt sich schlicht angesichts des Anwendungsbereichs der Bioethikgesetze nicht um einen Genozid (il ne s'agit pourtant pas d'un génocide... ).37 Beide Straftatbestände beziehen sich offensichtlich auf die Würde der menschlichen Person bzw. der Gattung. Während aber im Fall »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« der Akt in dem Versuch besteht, ein Individuum aller Würde zu berauben, kennzeichnen sich die gegen die Gattung gerichteten Verbrechen dadurch, dass hier Individuen unter Einsatz einer bestimmten Technik auf die Welt kommen. Beurteilt man also mit derselben Kategorie – ›Würde‹ – das Herbeiführen des Todes und die Erschaffung von Leben?38 Seitens amerikanischer Forscher werde allerdings behauptet, führt LNO aus, durch deren Einsatz könne die menschliche Würde nicht verletzt werden, und zwar deshalb nicht, weil es sich nicht um menschliche Wesen handle, sondern um Zellleben (il ne s’agit pas de vie humaine, mais de vie cellulaire. Il y a une distinction fondermentale).39 Eine solche Bemerkung führt unweigerlich zu der Frage, wen es hier eigentlich zu schützen gilt? Wer verbirgt sich hinter dieser Gattung, die es nach einhel-

36 Ebd. 37 Art. »Plus morale que le clonage«, in: LNO No. 2250 [20.12.2007-02.01.2008]. 38 Descamps, Philippe: Un crime contre l’èspace humaine? 2004. 39 Art. »L’homme infini«, in LNO No. 1934 [29.11.-05.12.2001].

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liger Meinung zu bewahren gilt?40 Das kann wiederum niemand wirklich sagen. Das Gesetz zumindest sagt es nicht.41 Es braucht nur einen Blick zurück – man denke an Darwin oder an Linné –, um zu erkennen, dass das Konzept der Gattung ein nicht fest gefügtes Konzept ist. Wenn wir ›Menschen‹ nicht nur als Einheit verstehen, sondern bereits als Summe ihrer Zellen, dann gilt jede sie betreffende Manipulation und/oder Vernichtung als ein solches Verbrechen. Demzufolge müssten auch andere Zugriffe auf den menschlichen Körper geahndet werden. Und wer ist es genau, der diesen Verbrechen zum Opfer fällt? Die mittels einer solchen Technik entstehenden Kinder, natürlich, aber die sind es auch, die mit ihrer Anwesenheit überhaupt erst das Verbrechen möglich machen. Durch eine solche Festlegung könnten bestimmte Geburten (potentiell) zu einem Verbrechen werden.42 Im Gesetzestext verwirklichen sich essentialistische und reaktionäre Wurzeln bezüglich der menschlichen Gattung und dem, was Reproduktion sein sollte. Im Übergang von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu »Verbrechen gegen die menschliche Gattung« findet nichts anderes statt als zum einen eine weitere Biologisierung des Personenbegriffs, auf den der Begriff ›Menschlichkeit‹ abzielt, zum anderen eine mit dieser Biologisierung notwendig einhergehende Entindividualisierung durch den Begriff der Gattung. Wenn man bezüglich des Klonens Gesetze erlässt, so zeigt es, dass das bestehende Gesetz nicht nur absurd, sondern sogar gefährlich ist. Auf besondere Weise spiegelt die Biologisierung des Rechts eine Konfusion von biologischen Tatsachen und juristischem Status wieder.

40 Dass sie zu schützen ist, findet seit 1994 Niederschlag im Bürgerlichen Gesetzbuch, das die Verletzung der Integrität der menschlichen Gattung sanktioniert (Artikel 164). 41 Als aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang die von Jean-Lourrain vorgetragene Erklärung, die er anlässlich einer Anhörung Matteis am 12.12.2002 kund tat: Der biologische Zugang ist an sich kein geringeres Zugang. Wir befinden uns offensichtlich in einem Kontext, in dem die Gattung physisch beeinträchtigt ist. Daher erscheint uns dieses Vorgehen als das beste (L’approche biologique n’est pas, en soi, une approche intelectuellement inférieure à d’autres. Nous nous trouvons véritablement dans un contexte où l’espèce est physiquement atteinte. C’est la raison pour laquelle cette approche nous semnle la meilleure). Hierzu: Descamps, Philippe: Un crime contre l’èspace humaine? 2004:100. 42 Das reproduktive Klonen wird interpretiert als eine Ermordung, die sich hinter einer Geburt versteckt (un meutre qui se chache sous une naissance). Descamps, Philippe: Un crime contre l’èspace humaine? 2004:42.

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(4) Z UR S TATUSFRAGE Die Bioethikgesetze – und deren Passus der »Verbrechen gegen die menschliche Gattung« (crime contre l’espèce humain) – markieren einen weiteren Blick auf Ungeborene. Er macht deutlich, dass überall dort, wo Ungeborene Gegenstand von medizinischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Kontroversen sind, Klärungsbedarf besteht, wer sich genau hinter ihnen verbirgt. Bislang bleibe die menschliche Klonierung eine theoretische Möglichkeit. Ziel der Forschung sei aber nicht die Fabrikation von Menschen, sondern das therapeutische Klonen (etwa für Parkinson-Patienten). Die Europäische Kommission gab etwa bekannt, sie werde solche Forschungen nicht unterstützen. Axel Kahn konstatiert beschwichtigend, die Forschung sei bislang noch nicht bereit zur Anwendung des Klonens (prèt à prendre).43 Trat der Personenstatus in diesem Beispiel hinter den der Gattung als Summe ihrer Mitglieder zurück, erlangt eine ihn betreffende Kontroverse in anderen Zusammenhängen jedoch auch in LNO und L’Express an Bedeutung. So fragt letztere Zeitschrift etwa, ab wann man von einer Person sprechen kann (à partir de quand peut-on parler de personne)? 44 René Frydman unterscheidet diesbezüglich zwei Haltungen: Eine sehe bereits im Embryo eine Person. Das sei jedoch paradox. Denn in diesem Fall dürfte es auch keine IVF geben. Die andere gehe davon aus, dass die betroffene Frau selbst über ihre Schwangerschaft befinden solle. Seines Erachtens bestehe kein Grund, der Natur nicht zu helfen, falls die Medizin das kann (qu’il n’y a pas de raison de ne pas aider la nature si la médecine le peut)45; ein Einsatz, der, da er ihrer Erhaltung diene, durchaus geboten sei. Im Vergleich zu Rifkins Ausführungen erhält die Natur hier den Status eines einer Reparatur bedürftigen Gegenstandes. Zur Entscheidung des CCNE, von einem potentiellen Menschen (humaine potentielle) zu sprechen, führt Frydman weiter aus, eine potentielle Person sei keine Person, könne es aber werden. Aus seiner medizinischen Praxis könne er sagen, das, was den Embryo von einem Potential in die Realität befördert, sei der Kinderwunsch (va faire passer l’embryon de potentiel à la réalité, c’est la manifestation du désir d’enfant).46 Hier tritt eine bemerkenswerte diskursive Strategie

43 Art. »L’homme infini«, in: LNO No. 1934 [29.11-5.12.2001]. 44 Art. »René Frydman: Aujourd’hui, on veut des bébés à tout prix«, in: L’Express No. 2903 [22.-28.2.2007]. 45 Ebd. 46 Art. »L’embryon a-t-il une âme?«, in: LNO No. 1711 [21.-27.8.1997].

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zutage: Im selben Moment, in dem der Statusfrage Bedeutung beigemessen wird (andernfalls wäre die Unterscheidung zwischen potentiellen Personen und Personen hinfällig), gründet sich diese nicht auf (biologische) Fähigkeiten des Ungeborenen. Auch wird im engeren Sinne keine interpersonelle Lesart vorgeschlagen: Hier geht es nicht etwa um das Verhältnis von schwangerer Frau und Ungeborenem, bzw.: zwischen Lebenden. Stattdessen geraten diejenigen in den Blick, die das Projekt initiieren. Damit statten die potentiellen Eltern das Ungeborene mit Rechten aus, wenn sie entscheiden, es als Kind zu bekommen. Die diskursive Strategie besteht hier darin, den Embryo der (letztlich biologistisch aufgestellten) ›Heiligkeit des Lebens‹ zu entziehen, indem er die eigentliche ›Heiligkeit‹ an Anerkennungsverhältnisse (also ganz entgegen den Bewahrern des Lebens) an menschliche Praktiken bindet, die über den Status des Embryos entscheiden. Ein erwarteter Embryo (embryon espéré) sei demzufolge für das Paar, aber auch für ihn, Frydman, »heilig« (»sacré«); Blastozysten im Gegensatz dazu seien es nicht (blastomères dépourvus de désir parental ne le sont pas). Damit unterscheidet der Mediziner verschiedene Funktionen, die ein Embryo für eine Frau/ein Paar einnehmen kann. Alles hänge also von der Verwendung ab (tout dépend de l’usage).47 Das machen auch die fünf Schautafeln deutlich, die L’Express im Jahr 2000 anlässlich der aufgeworfenen Frage der Fristenverlängerung beim Schwangerschaftsabbruch veröffentlicht und in der sich unterschiedliche Expertenmeinungen gegenüberstehen. Dabei verweist etwa Israël Nisans auf die Potentialität des Embryos (Le statut de subjet se constitue progressivement au fil du temps).48 Bewerte man die Rechte des Fötus zu stark, so die Begründung, könnte dies Konflikte mit dessen Eltern nach sich ziehen. Ein solcher Hinweis impliziert eine auf die Verleihung von Rechten möglicherweise folgende Rechtskollision. Im Falle einer ungewollten Schwangerschaft werde der Fötus zum Produkt (La différence réside bel et bien dans une

47 Ebd. Axel Kahn geht davon aus, dass auch überzählige Embryonen zur Forschung dienen sollten, weil diese Embryonen nicht extra gezeugt werden, wie es beim therapeutischen Klonen der Fall sei, (car ces embryons n’ont pas été crées pour quelque chose, comme dans le cas du clonage thérapeutique).Mit ihnen verbinde sich vielmehr die Hoffnung für deren Profiteure (mais avec l’espoir de quelqu’un). Art. »Clonage humain, c’est parir«, in: L’Express No. 2486 [25.02.-3.3.1999]. Auch innerhalb der französischen Beiträge wird also abgewogen zwischen einer eugenischen Praxis und einer ›Ethik des Heilens‹. 48 Art. »La nouvelle bateille de l’IVG«, in: L’Express No. 2569 [28.9.-4.10.2000].

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certaine form de réification du fœtus).49 Als ein solches hat er folglich keine Rechte. Er hat sie auch deshalb nicht, weil er in einer Konfliktsituation unterlegen war. Auffallend ist dabei, dass es weitaus weniger nur Frauen sind, die angesichts des Einsatzes pränataler Maßnahmen und/oder IVF dem Ungeborenen gegenüberstehen. Stattdessen treten hier (in erster Linie: heterosexuelle) Paare geschlossen auf, ganz so, wie die Bioethikgesetze das elterliche Projekt (projet parental) beschreiben. Nach der IVF erhalten die Eltern einen Fragebogen, in dem sie eintragen sollen, ob sie weitere Elternprojekte haben (Avez-vous toujour un projet parental)? Wie soll man sich entscheiden, was mit den überzähligen Embryonen geschieht? Sollen sie im Müll landen (mettre à la poubelle ces embryons désirés, et obtenus après tant de galère)?50 Oder für weitere Projekte zur Verfügung stehen? (Ein (rechtliches) Problem entsteht besonders dann, wenn sich das Paar trennt.) Eine dritte Möglichkeit besteht in der Embryonen-Spende. Damit werden die Embryonen mit menschlichen Organen vergleichbar. Diese werden bekanntlich aufgrund einer Mangelsituation gespendet. Neben der Lebenserhaltung (etwa bei einer Herzspende) kann es dabei auch um Lebensqualität gehen (etwa bei einer Nierenspende). Eine Embryonenspende bezieht sich stattdessen auf die Lebensschaffung, aber auch auf die Lebensqualität der potentiellen Eltern. Inwiefern der Status kontextabhängig konstruiert wird, expliziert eine von L’Express wiedergegebene Geschichte: Ein Pränatalmediziner wendet sich an ein Paar mit der Feststellung, sie seien bei ihm, damit er herausfinde, was mit ihrem Baby sei (pour que j’évalués ce qu’a votre bébé).51 Die Eltern fragen nach, warum er denn vom Baby und nicht vom Fötus spreche (pourquoi vous dites bébé, et par fœtus)? Der Arzt erläutert: Weil es ein Baby sei (parce que c’est un bébé). Das Paar insistiert: Für sie sei es ein Fötus und kein Baby (C’est un fœtus, pas un bébé). Daraufhin expliziert der Arzt, für ihn sei es ein Baby mit einer Reihe sehr schwerer Behinderungen (pour moi, c’est un bébé, qui a un ensemble de malformations très graves). Besonders die Möglichkeit des medizinischen Schwangerschaftsabbruchs (IMG) spiegelt die durch PND aufgeworfene Konfliktsituation: Dieser sei Lohn und Lösegeld (rançon – et la récompense) der reproduktionsmedizinischen Entwicklungen. Die ambitionierte Entwicklung der PND habe 7.000 Abbrüche jähr-

49 Ebd. 50 Art. »La controverse de l’embryon«, in: LNO No. 2171 [15.-21.6.2006]. 51 Art. »IMG: La tentation d’enfant parfait«, in: L’Express No. 2598 [19.-25.4.2001]. Die folgenden Zitate: ebd.

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lich zur Folge, die meistens im fünften oder sechsten Monat durchgeführt werden. Der Ultraschall sei daher nach Einschätzung eines von L’Express zitierten Mediziners weniger Instrument als vielmehr eine Bombe (une bombe). Mit einem Abbruch, so ein anderer, wähle man die weniger schlimme Möglichkeit (on fait juste le mois pire). Manche Paare betrachten dabei (jedoch) aus religiösen Gründen ihr Baby unter allen Umständen als heilig (a l’inverse, pour des raisons religieuse, certains couples considèrent que leur bébé, même très mal formé, même s’il doit leur en couter, est sacré). Der Beitrag »Die Kontroverse über den Embryo« (La controverse de l’embryon)52 schildert zunächst die Situation eines Labors, in dem Embryonen lagern. Schließe man die Augen, heißt es hier, entfalte sich die Phantasie. Dann nämlich scheinen die Tränen der Ungeborenen (pleurs de nourrissons) die Stille zu zerreißen (semblement déchirer le silence). Eine im Labor tätige Frau erläutert, die Embryonen seien nicht zu erkennen. Sie sind also visuell nicht wahrnehmbar. LNO kommentiert: Keine Gefühlsduselei (Pas de sensiblerie...). Vermenschlicht werden die Embryonen dennoch, indem es etwa heißt, sie »schlafen« im Labor (13 000 embryons congelés dorment en France). Neben jenen, die eingepflanzt werden, warten dort auch manche ziellos, was zu Kontroversen juristischer und ethischer Art führt. Diese betreffen auch die schätzungsweise 35 000 unfruchtbaren Paare, die es in Frankreich gebe. Deren Weg zu einem Kind sei lang und schmerzhaft. Für manche sind die Embryonen potentielle Kinder, für andere Brotkrumen (miettes de pain). Das führ zu der Frage, wann das Leben beginnt (où commence la vie). Unterschiedliche Perspektiven auf das Ungeborene offenbart auch die Frage nach dem Zustand der Personalität. Zentral ist auch hier wieder die diskursive Strategie, den Status des Embryos an die Praxis der Anerkennung zu binden, etwa durch die Frage: Gibt es Daten zur Person in-utero (un état civil in utero)? Ein sich dieser Frage annehmender Beitrag in LNO beschäftigt sich mit dem Status von Embryonen und Föten, die tot auf die Welt kommen. Welches Recht haben ihre Eltern, die Erinnerung an sie »einzuschreiben«? Gehören sie etwa zum Stammbaum? Für einige seien sie Föten, für uns sind es unsere Kinder, erklärte einer der Betroffenen (pour certains, ce sont des fœtus; pour nous c’était nos filles notre chair).53 Mit der Anerkennung des toten Fötus entstehen Probleme mit dem Schwangerschaftsabbruch, denn wenn der Fötus anerkannt ist, dann kann

52 Art. »La controverse de l’embryon«, in: LNO No. 2171 [15.-21.6.2006]. Die folgenden Zitate: ebd. 53 Art. »Un état civil in utero?«, in: LNO No. 2287 [3.-10.9.2008].

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man ihn nicht abtreiben. Mit einer solchen Einschätzung fällt die Unterscheidung abhängig vom »Verwendungszweck« des Ungeborenen. Der Akt der Anerkennung wird hier gleichgesetzt mit der Verleihung von Rechten. Diese würden dem Embryo dann entzogen, wenn die Entscheidung gegen ihn fiele. Mit einem aus der Entscheidung folgenden Rechtsbruch machten sich diejenigen, die diesen zu verantworten haben, strafbar. Das Ungeborene gerate nicht nur in eine Konfliktsituation mit seinen potentiellen Eltern, sondern auch in eine mit den Medizinern. Nicht nur das Kind sei eine Person, sondern ebenso die Mutter, der Vater und natürlich auch der Mediziner. Aus dieser Erkenntnis ergebe sich ein fragiles Gleichgewicht (un equilibre fragile, sur des incertitudes compensées par beaucoup d’humanité). Besonders die Fälle, in denen pränatal übersehene Behinderungen Bestandteil von Gerichtsverfahren sind – ich werde darauf im dritten Szenario zurückkommen –, zeigen, dass es nur einen Hauch brauche, um die Welt schwanken zu lassen (il abandon d’un garde-fou, une crise de emagogie – pour que tout le monde vacille).54 Die Statusfrage ist eine, das haben auch die Beispiele aus Zeit und Spiegel gezeigt, die besonders in Konfliktsituationen virulent wird. Eine solche besteht in der öffentlichen Wahrnehmung insbesondere dann, wenn es sich um einen (medizinisch begründeten) Abbruch der Schwangerschaft handelt. Insbesondere diese Situationen sind es, die die Frage des Status durch die der Kompetenz ergänzen: Wer soll also über den Abbruch entscheiden dürfen? Die Mediziner? Die Frauen? Als Vorschlag kursiert in Frankreich etwa eine Schwellenregelung, der zufolge die Frauen bis zur Lebensfähigkeit bestimmen dürfen sollen. Die finale Entscheidung aber solle beim behandelnden Team liegen (mais les spécialistes du diagnostic prénatal présent tous que la décision finale doit être prose par l’équipe médicale). Dies sei aus vier Gründen geboten: Zunächst sind die Kriterien, auf deren Grundlage der Abbruch durchgeführt wird, medizinische. Zudem seien es schließlich Mediziner, die den Eingriff vornehmen. Darüber hinaus stelle die Entscheidung für die Eltern eine zu große Belastung dar. Und viertens schließlich obliege es den Medizinern, die Versuchung der Eugenik in Schach zu halten. Gegenüber L’Express führt Israël Nesand aus, die Menschen hätten das Recht, nach allem zu fragen, aber die Mediziner müssten nicht allem zustimmen (Les gens ont le droit de tout demander, mais les médecins n’ont pas le droit de tout accepter). Ein anderer Arzt widerspricht und sagt, er wolle diese Entschei-

54 Art. »IMG: La tentation d’enfant parfait«, in: L’Express No. 2598 [19.-25.4.2001]. Die folgenden Zitate: ebd.

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dung nicht treffen. Die Entscheidungssituation bringe nicht nur die Eltern gegen die Mediziner auf, sondern auch die Mitglieder der entsprechenden Entscheidungskommission.

(5) Z USAMMENFÜHRUNG : D IE P OLITIK DES P ERFORMATIVEN Die Beiträge aus LNO und L’Express machen deutlich, dass auch innerhalb der französischen Reproduktionsdiskurse, wie sie sich hier exemplarisch spiegeln, das Ungeborene unterschiedliche Gesichter besitzt. Ein solcher Befund ist angesichts seiner unterschiedlichen Bestimmungen zwischen Kinderwunsch und Heilungsquelle, das hat auch das zweite Szenario gezeigt, kaum verwunderlich. Insbesondere dann, wenn das Ungeborene das Ergebnis eines elterlichen Projektes darstellt, erhält es mit den Mitteln der Sprache durch deren Anerkennung ein menschliches Antlitz, das eine bestimmte Verantwortung und Sorgfaltspflicht ihm gegenüber begründet. Nur in diesem Sinne erscheint das Ungeborene als mit Rechten ausgestattet, was zu einer (moralischen, rechtlichen) Verpflichtung führt. Die Menschwerdung geht also mit der Verleihung von Rechten, die in erster Linie Schutzrechte sind, einher. Dennoch, das machen die Beispiele deutlich, handelt es sich um implizite Rechte, da sie unhinterfragt als solche Wirkkraft erhalten. Als »kleine Menschen«, die sie dann zweifelsfrei sind, sind Ungeborene Nutznießer universeller (Lebens-)Rechte. Um Rechte jedoch näher in den Blick zu nehmen, braucht es Ausnahmesituationen: Situationen, in denen diese Rechte, soweit vorhanden, zur Disposition stehen. Die Bioethik, auch darauf habe ich mehrfach verwiesen, operiert daher auf verschiedenen Ebenen mit Bedrohungsszenarien. Sie tut dies, betrachten wir die sie produzierenden Aussagen, jedoch nicht im Sinne einer Kausalität. Vielmehr verlangen die unterschiedlichen Situationen eine fortwährende normative und begriffliche Neujustierung. Diejenige, die ich dabei im Blick habe, ist primär eine, die sich an der Statusfrage orientiert. So lässt sich angesichts des hier entfalteten Materials feststellen, dass der Embryo/der Fötus bedroht ist. Eine Bedrohung, die – wie der Status – durch Sprache wirksam wird. Die ihn (potentiell) treffende Gefahr besteht in der Auslöschung seines Lebens. Dass dieses Leben bereits mit Rechten ausgestattet ist, macht die Empörung kenntlich. Unterscheidbar sind unterschiedliche Ebenen, auf denen die Gefahr wirksam wird: Handelt es sich um einen von Frauen/Paaren/Medizinern initiierten gewaltvollen Akt, könnte dies primär ein interpersonelles Problem sein. Es handelt sich jedoch um ein gesellschaftliches Pro-

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blem. Auf einer entindividualisierten Ebene schließen sich zwei Fragen an: Wie nehmen wir – als Mitglieder einer Gesellschaft – dieses Vergehen wahr (unabhängig davon, ob wir an ihm beteiligt sind)? Und: Welche Folgen ziehen wir daraus? Anhand des Eugenik-Begriffes offenbart sich, dass zum einen in L’Express und LNO zwar eine Verbindung von Eugenik und Nationalsozialismus hergestellt wird. Eine solche geht jedoch andererseits oft einher mit der Feststellung, dieser hätte die Eugenik missbraucht und ihr den eigentlichen Ursprung genommen. Indem unterschieden wird zwischen unterschiedlichen Zielen der Eugenik (›postiv‹, ›negativ‹, ›medizinisch‹), geben die Aussagen diskursstrategisch einer Entdramatisierung Raum. Wesentlich offensiver als es in Spiegel und Zeit der Fall war, entsteht so die Möglichkeit, PND und PID als eugenische Instrumente zu begreifen, die – aufgrund ihres Ergebnisses: des Heilens – nicht per se unter Verdacht stehen. Eine Engführung mit den Verbrechen der Shoa birgt dabei vordergründig einen Distanzierungsmarker (es waren die Deutschen, die das Unrecht begingen). Aus einer anderen Perspektive betrachtet muss die Konfrontation mit dem universal Bösen jedoch zweifelsfrei zur Intervention führen, die auch, aufgrund der Schwere der Tat, nicht nationalstaatlich begrenzt sein kann. Eine völkerrechtliche Wendung, die sich hieraus ableitet, schöpft ihre Wirkkraft nur noch auf den zweiten Blick aus der Vergangenheit. Die Interventionsnotwendigkeit, das zeigt die Aushandlung bezüglich der Bioethikgesetze par excellence, kennt vielmehr neben dem Ungeborenen ein weiteres Opfer, dessen (bedrohte) Rechte es zu schützen gilt: Die Gattung. Wenngleich wir es angesichts des Tatbestandes »Verbrechen gegen die menschliche Gattung« (crime contre l’espèce humaine) mit einer nationalstaatlichen Begrenzung des Anwendungsbereiches zu tun haben, drückt sich mit dem Rekurs auf die Gattung dennoch eine Grenzen überschreitende Handlungsnotwendigkeit aus. Die Bedingungen, unter denen Aussagen entstehen, unterscheiden sich offensichtlich bei den ausgewählten deutschen und französischen Printmedien. Wesentlich vehementer verweisen die französischen Beispiele auf einen – euphemistisch ausgedrückt – offensiveren Umgang mit der Inanspruchnahme der Technologien. Insbesondere angesichts des Fehlens einer abschließenden Wahrheit, kommt dem System des Bezeichneten dabei eine besondere Bedeutung zu, die immer instabil und vieldeutig ist. Bedeutungszuweisung kann demnach nicht anders verstanden werden als ein Sprach- und Wahrheitsspiel. Ein Sprachspiel allerdings, das den Embryo nicht vorbehaltlos anthropomorphisiert, sondern viel stärker als im deutschen Diskurs seine Menschwerdung an gesellschaftliche Anerkennungsverhältnisse bindet. Die hieraus entstehende Macht-WissensKonstellation profiliert sich in diesem Sinn als interpersonelle Machtstrategie.

12. Kapitel Drittes Szenario – Das Recht auf ein Kind

(1) E INLEITUNG Durch die Techniken der Reproduktionsmedizin und der Genetik sind die biologischen Grenzen der Fortpflanzung zumindest potentiell obsolet und die Zeitstrukturen der Generationenfolge1 auffallend porös geworden. Mit der Zeugung außerhalb des Körpers, mit der Entkopplung von Zeugung und Empfängnis, entwickeln sich dabei neue reproduktive Rollen und Denkbarkeiten. Die mit diesen einhergehenden Folgedebatten haben dabei in einem weiteren Diskursstrang nicht weniger zum Gegenstand als die (Neu-)Konzeption von Familie und Ver-

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Der Begriff der Generation wurde bis ins 18. Jahrhundert weitgehend synonym für Zeugung verwendet. Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm er die Bedeutung einer Gruppe von Individuen an, die ungefähr zur gleichen Zeit geboren wurden. Die hier zugrunde liegende These besagt, dass die Zugehörigen zu einer Generation mehr teilen als die Gleichzeitigkeit ihrer Existenz. Der Begriff bietet Raum, die Transformation von ganzen Gesellschaften bzw. Arten zu denken. Generationen waren die Einheiten, auf die das Erbe vorhergehender Generationen entfiel, die souverän davon Gebrauch machen konnten, um es dann im besten Falle angereichert an die nächste Generation weiterzugeben. Es gibt in diesem Bild also diachrone und synchrone Koordinaten. Darwin schließlich entwickelt über seine Theorie der Selektion einen Begriff von Generation jenseits des Individuums, indem er von den persönlichen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern abstrahiert. Indem er auf submikroskopische Entitäten, die in jeder Generation neu verteilt würden und im Raum zirkulieren, verweist, markiert er den Übergang zum modernen Vererbungsgedanken. Rheinberger, Hans-Jörg; Müller-Wille; Staffan: Vererbung, 2009:57ff.

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wandtschaft.2 Eine solche Verschiebung des begrifflichen Rahmens sozialer Beziehungen wirkt sich zwangsläufig auch auf die Wahrnehmung der Geschlechterverhältnisse aus. Die These, der ich in diesem Kapitel nachgehe, bezieht sich daher auf einen Deutungskampf, dessen Schauplatz nur auf den ersten Blick Altbekanntes offenbart: Anhand der ausgewählten Medienbeiträge lässt sich zeigen, inwiefern sich Biologisierungstendenzen in das Recht einschreiben und so überaus traditionelle Geschlechterrollen und Familienkonstellationen verfestigen. Den technischen Innovationen steht damit eine kulturelle Sedimentierung sozialer Konstellationen gegenüber.3 Die ersten beiden Szenarien haben anhand des Dispositivs ›Recht‹ zwei unterschiedliche Rechtsansprüche und die sie rechtfertigenden oder verwerfenden Strategien profiliert. Stellte zumindest vordergründig innerhalb des ersten Szenarios das positive Recht (ESchG und Paragraf 218 StGB) eine entscheidende argumentative Bezugsgröße im Kampf um Deutungshoheit um die Kategorie ›Leben‹ dar, und ging es im zweiten Szenario (auch) um die Frage, ob und wie die Menschenwürde gesetzlich mit welchen Folgen verankert ist, widme ich mich hier einer anderen Erzählung von Recht und Reproduktion, die sich von einer rechtspositivistischen Auslegung individueller Ansprüche löst und dennoch deren Struktur als berechtigte Forderungen offen legt. In diesem Szenario werde ich dreierlei rekonstruieren: Mit dem Auftauchen neuer Gegenstände und damit neuer Verfahren etablieren sich Redeweisen, die in der Umdeutung von bekannten Bezugsgrößen – Familie, Verwandtschaft, Generation – einen an die Technologien gebundenen Anspruch auf ein (eigenes, biologisches, genetisches) Kind konstatieren (2). Wie im zweiten Szenario bezieht sich das Recht dabei auf das werdende Kind. Jedoch wird in den ersten nun zu diskutierenden Beispielen dieses Recht als Ausdruck einer autonomen Reproduktionsentscheidung für diejenigen in Anschlag gebracht, die sich fortzupflanzen wünschen. Ein solcher Anspruch ist aber nur dann, bezogen auf das ihn stark machende Autonomieversprechen, zu rechtfertigen, wenn er flankiert wird durch das Recht gegen ein

2

Eine begriffliche Verschiebung ist natürlich nicht singulär auf den Einfluss der Biotechnologien zurückzuführen. Nennenswert sind hier die Veränderung von Lebensstilen und mit diesen im Wechselverhältnis Bildung, Mobilität und neue ökonomische Spielräume.

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In diesem Sinne argumentiert Petra Gehring: »Der populäre Diskurs reaktiviert einen erbbiologischen Determinismus. Er reaktiviert das Muster der Weitergabe des Wesentlichen durch die Zeugung.« Dies.: Bio-Vaterschaft: Die Wiederkehr der Zeugung als technogene Obsession, in: Was ist Biomacht?, 2006:97.

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Kind. Denn nur als wechselseitige Medaille kann die Biopolitik ihre Wirkung zwischen vermeintlicher Autonomie und Selbsttechnologien erlangen.4 Eingeschlossen sind damit sowohl die Entscheidung für (noch) kein Kind, als auch die Entscheidung gegen ein bestimmtes Kind aufgrund dessen genetischer oder chromosomaler Anlage (3). Zwischen dem Recht auf ein eigenes Kind und dem Recht auf ein gesundes Kind liegt in einem weiteren Schritt ohne Frage eine entscheidende Diskrepanz, die sich an dem Vorwurf der Eugenik im zweiten Szenario bereits kenntlich gemacht hat. Diese Aspekte diskutiere ich schließlich gemeinsam vor dem Hintergrund sogenannter wrongful-life- und wrongful-birthProzesse anhand des Rechts auf ein gesundes Kind (4). Bezug nehmend auf das Verhältnis von Begriffen wie Selbstverwirklichung, Autonomie und Liebe auf der einen und Verantwortung, Schuld und Belastung auf der anderen Seite werde ich mit diesem Szenario den polysemen Charakter des Rechts entfalten.

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Im Folgenden beschäftige ich mich ausgehend von Konzepten von Familie, Verwandtschaft und Vererbung erstens mit der Konkurrenzsituation zwischen Denkbarem, Machbarem und Erlaubtem. Das bedeutet zweitens zu betrachten, für wen (bspw. Menschen, Gruppen) Reproduktionsentscheidungen aus welchen Gründen zur autonomen Entscheidung zählen. Solche Entscheidungen sind immer intentional, sie versuchen den Zufall auszuschließen und erhalten auch aufgrund dessen ihre argumentative Potenz. Dabei widme ich mich drittens verstärkt der Frage nach der Legitimität der Reproduktionsentscheidungen. Diese kann etwa in dem Verhältnis derjenigen verankert sein, die gemeinsam das Kinderprojekt planen. Das meint viertens, genauer nach den Anforderungen und Grundbedingungen von Elternschaft zu fragen. Ein Kind deute ich abschließend als Zeichen von Anerkennung derjenigen, die es bekommen (dürfen).

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Das gilt in der Allgemeinheit für meinen Untersuchungszeitraum. Bettina Bock von Wülfingen vertritt die These, dass es erst ab Mitte der 1990er Jahre möglich war, pround antinatalistische Strategien zu vereinen (Dies.: Genetisierung der Zeugung, 2006). Mir geht es hier jedoch nicht um konkurrierende (Narrations-)Strategien, sondern um Denkmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund ordnet sich das Recht für und gegen ein Kind unter dieselbe Narrationsmodalität.

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(2.1) Familie und Verwandtschaft Hand in Hand mit den Innovationen aus den Laboren geht die Wiederbelebung von etwas, dessen Abgesang bereits mehrfach angestimmt wurde: Der Familie. Was aber genau ›Familie‹ im 21. Jahrhundert meint, dazu gibt es (auch) durch die Anwendbarkeit von Reproduktionstechnologien unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten. Die mit diesen Veränderungen zusammenhängenden Aushandlungen beziehen sich neben dem Begriff der Familie auffallend zentral auf den der Verwandtschaft5, wobei meistens Familie als der enger gefasste diejenigen Personen bezeichnet, die sich (biologisch) besonders nahe stehen. So weist Geneviève Delaisi de Parseval zu Recht darauf hin, dass die gesellschaftliche und rechtliche Wahrnehmung, bei welcher sozialen Konstellation es sich um eine legitime Familie handelt, das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse sei.6 Sie sei es deshalb, weil die Wahrheit der Abstammung, mit der Familie hier in einen Zusammenhang gebracht wird, Bedingungen der Konstruktion unterliege 7, vor allen Dingen dann, wenn mehr als zwei Personen an der Fortpflanzung beteiligt sind.8 Damit verbinden sich in dem, was Familie ist, auf der einen Seite eine bio-

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Zum doing kinship siehe Beck, Stefan (Hg.): Verwandtschaft machen. Berliner Blätter 42/2007.

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Diese These illustriert sie anhand der Geschichte zweier heterosexuelle Paare in Großbritannien, das eine weißer, das andere schwarzer Hautfarbe, die sich in derselben Klinik einer IVF unterzogen. Die Befruchtung glückt, nur erhielt die weiße Frau nach neun Monaten ein schwarzes Baby. Dieses offensichtliche Versehen zog einen langwierigen Rechtsstreit um die Elternschaft nach sich, von dem de Parseval ausgeht, er würde sowohl in muslimischen Ländern, als auch in Israel anders entschieden. Hier würde das Kind der genetischen Mutter zugesprochen. Dies.: Famille À Tout Prix, 2008:40.

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Marcela Iacub weist sowohl dem Recht als auch »ce fait passablement arbitraire« hier eine entscheidende Position zu. Dies.: L’Empire du ventre. Pour une autre histoire de la maternité, 2004:13. Ich teile diese Einschätzungen, wenngleich mein Augemerk in erster Linie auf dem (diskursiven) Verhältnis bzw. den Reibungspunkten dieser beiden Quellen liegt.

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Zum Einfluss von Reproduktionstechnologien auf Verwandtschaft vgl. Franklin, Sarah: Embodied progress. A cultural account of assisted conception, 1992; Martin, Emily: The Egg and the Sperm: How Science has constructed a Romance based in stereotypical male-female Roles, in: Journal of Women in Culture and Society; 3/1991.

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logische und eine soziale Komponente. Auf der anderen Seite verfestigt sich in der Aushandlung über die Reproduktionstechnologien dabei die Bedeutung von biogenetischer Verwandtschaft, die neue Formen von Verwandtschaftsverhältnissen hervorbringt, die selbst wiederum legitimierungsbedürftig sind.9 Biogenetische Verwandtschaftsverhältnisse finden so Eingang in soziale Konstruktionen, sie werden Teil der Legitimation sozialer Beziehungen. Offensichtlich tritt dabei die Konstruierbarkeit »leiblicher Verwandter«10 zutage, die deutlich macht, dass keineswegs die durch bestimmte Rechte und Pflichten gekennzeichneten Beziehungen der Abstammung oder Heirat die einzigen denkbaren Konzepte darstellen. Vielmehr tritt ein System multipler sozialer Kennzeichnungen an der diskursiven Oberfläche als hybrides Zusammentreffen von Natur und Kultur in Erscheinung. »Kinship knowledge is not the recognition of the facts of nature, but a tool to set us in relation, between divergent domains of life. It does not directly reflect the facts of nature, but relates what is ›given‹ and what is ›made‹ in social life.«11 Im Bezug auf die Voraussetzungen und die Effekte der genetisch gestützten Reproduktionsmedizin für die Genealogie ist eine biowissenschaftliche Betrachtungsweise auffällig, die sich derzeit immer mehr durchsetzt. Dabei tritt, das werde ich im Verlauf des Kapitels zeigen, innerhalb der medialen Erzählweisen ein Problembewusstsein im Hinblick auf einen ›Ursprung‹, eine ›Herkunft‹ auf12, das abermals die Konflikte um die vielumkämpfte Grenze zwischen Natur und Kultur befeuert. Denn hier geht es in der Forderung nach konsistenten Erzähl-

In dem Beitrag beschäftigt sie sich beispielsweise damit, wie Gameten und Hormonen soziale und geschlechtlich codierte Eigenschaften zugeschrieben werden. 9

Judith Butler verweist unter Rekurs auf Eric Fassin auf entsprechende Debatten in Frankreich, die geprägt waren von der Sorge einer »Amerikanisierung [gemeint ist die Flexibilisierung, J.D.] von Verwandtschaftsverhältnissen«. Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen, 2009:171.

10 Mense, Lisa: Neue Formen von Mutterschaft. Verwandtschaft im Kontext der Neuen Reproduktionstechnologien, in: Lenz, Ilse; Mense, Lisa; Ullrich, Charlotte (Hg.): Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion, 2004:162. 11 Bestad, Joan: Knowing and Relating: Kinship, Assisted Reproductive Technologies and new Genetics, in: Edwards, Jeanette; Salazar, Carles (Hg.): European Kinship in the Age of Biotechnology, 2009. 12 In diesem Sinne taucht immer wieder die Frage auf, was man später einmal den Kindern über ihren Anfang sagt. »Que va-t-on raconter aux enfants?«, in: LNO No. 2171 [15.-21.6.2006].

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weisen des eigenen Lebens um nicht weniger als die Frage nach der Identität Zukünftiger (»Wie erzähle ich von meinem Ursprung?«, bzw. »Wie berichte ich von deinem Ursprung?«13). Das meint genauer, dass die Erzeugung den Konnex zwischen ›Natur‹ und ›Gesellschaft‹ herstellt, auf dem basierend dann die Konstruktion und Konzeption von verwandtschaftlichen und genealogischen Beziehungen angenommen werden.14 Die (soziale) Konstruktion von Verwandtschaft gründet damit also auf einem biopolitischen Faktum. Das ist die eine Seite. Auf einer anderen zeigt sich, dass Gesellschaften – als Gegentendenz zu einer solchen (vermeintlichen) Flexibilisierung – dieser rechtlichen Neubewertung von Vererbung und Familie wenig Raum bieten.15 Hier offenbart sich eine undefinierte Gemengelage aus biologischer, sozialer und rechtlicher Deutungshoheit, bei der, ohne Frage, der Durchsetzung technologischer Angebote eine produktive Funktion zukommt. Die Aufladung von Begriffen durch das Reden über Genetik macht dies deutlich. Denn inwiefern sich die Trennung von ›natürlichem‹ und ›künstlichem‹ Zeugungsakt als symbolisch aufgeladen erweist, wird z.B. deutlich, wenn sowohl die »Eingetragene Lebenspartnerschaft« in Deutschland als auch die PACS16 in

13 Die biologische, auf den Zeugungsakt bezogene Unterscheidung von »künstlich« und »natürlich« kennt bzw. kannte ein (rechtliches, gesellschaftliches) Pendant, das zwischen der Geburt von »legitimen« und »illegitimen« Kindern unterschied. Verwiesen ist damit auf den Status, der davon abhängt, ob sie in eine Ehe hinein geboren werden oder nicht. 14 Caroline Arni weist an dieser Stelle darauf hin, dass die Interpretation dessen, was als facts of nature gilt, nie statistisch sei, sondern vielmehr von sich ändernden epistemologischen, politischen und sozialen Ordnungen abhängig sei. Dies.: Reproduktion und Genealogie: Zum Diskurs über die biologische Substanz, in: Pethes, Nicolas; Schicktanz, Silke (Hgg.): Sexualität als Experiment, 2008:293ff. 15 Arni deutet dies als (politisch intendierten) Unwillen, das aus dem biologischen und medizinischen Experimenten gewonnene Wissen in ein soziales Experiment münden zu lassen. Dies.: Reproduktion und Genealogie: Zum Diskurs über die biologische Substanz, in: Pethes, Nicolas; Schicktanz, Silke (Hg.): Sexualität als Experiment, 2008:306ff. Die Frage bleibt, welche Überführung dafür Sorge tragen könnte, mehr Gerechtigkeit zu implementieren, oder ob u.U. nicht vielmehr die vorgegebenen Bezugsgrößen zu hinterfragen sind. 16 Bei den PACS (Pacte civil de solidarité) handelt es sich um den französischen Vorschlag, zivilrechtliche Verbindungen als Alternative zur Ehe einzuführen, so die Ehe zu umgehen und zugleich legale Bindungen zu ermöglichen.

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Frankreich glauben machen, dass das Kind in den Debatten um die Legalisierung homosexueller Ehen als der verdichtete Ort für die Übertragung und Reproduktion von Kultur gilt.17 Mit anderen Worten: Mithilfe der Frage nach den Voraussetzungen und den Effekten der genetisch gestützten Reproduktionsmedizin für die Genealogie verschiebt sich die Debatte über die »Genetik hin zu genau jener Schwelle von Natur- und Kulturgesetzen, an der die Phänomene der Vererbung und das Wissen über sie immer schon angesiedelt sind.«18 Kennzeichnend für die Medienbeispiele in Bezug auf Reproduktionstechnologien sind Deutungskämpfe um die Legitimität dessen, was ›Familie‹ ist und wer mit wem heute ›verwandt‹ sein kann. Zum anderen zeigt sich, dass sich Familie durch Aufwendung von Mitteln erwerben oder herstellen lässt. Dies wird etwa deshalb nötig, weil eine Familie durch Kinder gesellschaftliche Anerkennung findet. Ihre Erzeugung stellt aber für unterschiedliche Menschen unterschiedliche Hürden dar. Dafür, dass viele Menschen heute an diesem, um im Bild zu bleiben, Lauf teilnehmen, sorgt die Etablierung der Reproduktionsmedizin. Die Anwendung von Reproduktionstechnologien ist verantwortlich dafür, dass »Frauen nach der Menopause, gleichgeschlechtliche Paare, Alleinstehende (meist Frauen) und sogar Verstorbene (ausschließlich Männer) [...] Beispiele für Individuen oder Kategorien [sind, J.D.], für die vor der Verfügbarkeit von ART die Zeugung von Nachkommenschaft einfach nicht zur Diskussion stand.«19 Viele dieser Möglichkeiten zeigen zudem, inwiefern Fortpflanzung zum Geschäft geworden ist, das zwischen unterschiedlichen Parteien abgeschlossen wird und dessen Produkt das eigene Kind als Garant der Familie ist.20 So berichtet der Spiegel über eine Fertilitätsklinik in Indien, die ein Geschäft mit Leihmüttern be-

17 Dabei führt »Kultur« implizite Normen rassischer Reinheit und Vorherrschaft mit sich. In der Diskussion in Frankreich haben Vertreterinnen wie Agacinski etwa die Heterosexualität dem von ihr bezeichneten Gespenst der homosexuellen Elternschaft gegenübergestellt und somit vor der gefährlichen künstliche Menschwerdung gewarnt. Hierzu: Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen, 2009:181. 18 Weigel, Sigrid: Inkorporation der Genealogie durch die Genetik, in: Dies. (Hg.): Genealogie und Genetik, 2002. 19 Nowotny, Helga; Testa, Guiseppe: Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter, 2009:22. 20 Welche Ausmaße dies Annehmen kann, habe ich in dem Kapitel »Auf dem Weg nach Europa« gezeigt, als ein Paar sich während der Schwangerschaft der indischen Leihmutter trennte und nicht bereit war, Sorge für das Kind zu tragen, das sie »in Auftrag« gegeben hatten.

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treibt und die mit dem Spruch wirbt: »Kommen Sie als Paar, gehen sie als Familie«21. (2.2) Die neue Unübersichtlichkeit: Familienverhältnisse Dass Familien sich nicht erst im Zeitalter der Biomedizin auf vielfältige Weise zusammensetzen, lässt nicht nur die immerfort artikulierte männlichen Sorge erkennen, ›wirklicher‹ Kindsvater zu sein.22 Wenngleich also die Möglichkeiten, biologische und soziale Elternschaft zu trennen, vor dem Einsatz reproduktionstechnologischer Verfahren bekannt sind, erhält eine solche Praxis durch die entsprechenden Methoden neue Werkzeuge des Arrangements. Die Nutzung von Reproduktionsmedizin überführt das genealogische Denken in eine neue Wirklichkeit.23 Das mit der Genetik und den Reproduktionstechnologien einhergehende Wissen macht es möglich, über Fortpflanzungsentscheidungen nicht länger im Sinne einer personalisierten Erzeugung durch die Eltern nachzudenken, sondern in Form eines technisch verwertbaren biologischen Gutes, das von Generation zu Generation weitergegeben wird.24 Die Forderung, Verwandtschaftsbeziehungen dabei nicht länger als präexistente Strukturen zu begreifen25, gelangt hier (zumindest potentiell) zu einer vorher nicht gekannten praktischen Realisierung. Diese lebt von der Trennung eines ›wirklichen‹ (biologischen) und eines sozialen Vaters. Offensichtlich existieren also Verwandtschaftsbeziehungen jenseits des Modells der Kernfamilie (Vater – Mutter – Kind), die sich sowohl auf biologische, genetische, als auch auf nicht-biologische sowie nicht-genetische Beziehungen stützen. Mit der Möglichkeit der Körper-Parzellierung steht Fortpflanzung nun auch Personenkreisen offen, die vormals von ihr (aus unterschiedlichen Gründen) ausgeschlossen waren. Zu der Erweiterung kommt es in erster Linie, weil

21 Art. »Die Fabrik des Lebens«, in: Der Spiegel 38/2008. Hier heißt es: »Sie kommen aus Europa, Asien und Amerika – Paare, die keine eigenen Kinder bekommen können, finden in Indien einen blühenden Markt für Leihmutterschaft. Doch was passiert, wenn ein Baby geboren wird, das plötzlich niemandem mehr gehört?« 22 Überdies sei hier auf die Möglichkeit der Adoption, der Mehrfachheirat und die sogenannten Patchwork-Familien verwiesen. 23 Weigel, Sigrid: Inkorporation der Genealogie durch die Genetik, in: Dies. (Hg.): Genealogie und Genetik, 2002:72. 24 Rheinberger, Hans-Jörg; Müller-Wille; Staffan: Vererbung, 2009:12. 25 Wie es etwa Judith Butler kontinuierlich fordert.

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die Fortpflanzung heutzutage, wie eingangs ausgeführt, von Sexualität abgekoppelt ist. Das setzt biologisch und lebenspraktisch neue Kombinationsmöglichkeiten frei. Als klärungsbedürftig erweist sich dabei weniger die Position des Kindes, als diejenige seiner Eltern. Allgemein lassen sich vier unterschiedliche Instanzen ausmachen, die Elternschaft legitimieren bzw. ihr Anerkennung zusprechen: Das ist zum einen das Gesetz26, das Elternschaft fixiert und die mit ihr verbundenen Verpflichtungen überwacht; das ist zum anderen das Blut27, durch das, mittels DNA-Test, ein verwandtschaftliches Verhältnis ›bewiesen‹ werden kann.28 Anerkennung kann drittens durch bereits bestehende Verhältnisse (wie eine Ehe) hergestellt werden, und zwar indem der soziale Vater das Kind (ob bewusst oder nicht29) für sein biologisches hält. Die vierte Anerkennungsform, die ich im Folgenden verstärkt in den Blick nehme, bezieht sich auf die anhand der medialen Beispiele ablesbaren (ihr vorausgehenden) gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse. Ohne Frage gehen die anderen Anerkennungsinstanzen elementar hierin auf und können auch deshalb keineswegs unberücksichtigt bleiben.

26 Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch Paragraf 1589 gelten folgende Menschen miteinander als verwandt: »Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von der selben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt. Der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten.« Einen interessanten Hinweis gibt Marcela Iacub, wenn sie schreibt: »Unserse Väter und unsere Mütter sind diejenigen, die das Recht als solche qualifiziert« (Notre père et notre mère, ce sont ceux que le droit a qualifies [Hervorhebung im Original, J.D.] comme tels). In: Dies: L’Empire du ventre. Pour une autre histoire de la maternité, 2004 :12. 27 Sarah Franklin betont etwa, Blut gelte innerhalb Europas als ein einzigartiges kulturelles Idiom von Zeugungsbeziehungen. Dadurch entsteht ein komplexes kulturelles Wissen von Ursprüngen, Deszendenz, Vererbung. Dieses Wissen bezieht seine Wirkmacht, indem es für unterschiedliche Ebenen Relevanz behauptet. Die Idee von Blutsverwandtschaft wird dabei auch mit biogenetischer Verwandtschaft gleichgesetzt. Dies.: Postmodern Procreation. Representing Reproductive Practice, in: Science as Culture 1993/3 (522-561). 28 Beide treten zusammen auf, wenn es etwa um den sogenannten »Vaterschaftstest« geht. 29 In dieser Setzung liegt zweierlei: Sie erklärt die Ehe (ethisch-moralisch) zu dem monogamen Ort, an dem es keine anderen Kombinationsmöglichkeiten gibt und sie stuft (rechtlich) den Vater in Relation zur Mutter ein.

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In den ausgewählten Medien werden neue Formen von Familie und Verwandtschaft anhand von Einzelbeispielen verhandelt, um ethische Konsequenzen abzuwägen, die aufgrund biologischer und sozialer Neuarrangements zur Disposition stehen. Denn neben das heterosexuelle Paar, das soziale und biologische Elternschaft vereint30, tritt die Möglichkeit, dass das Kind einen sozialen und einen (anderen) biologischen Vater (Samenspender) hat. Außerdem lassen sich auch soziale, biologische (austragende Mutter) und eine genetische Mutterschaft (Eizellenspenderin) unterscheiden. Das so entstehende Kind hat entweder einen biologischen Vater, der mit dem sozialen übereinstimmt, oder, den kombinatorischen Möglichkeiten entsprechend, zwei Väter. Weiterhin besteht die Möglichkeit, soziale, genetische und biologische Mutterschaft voneinander zu trennen. In diesem Fall spendet eine Frau die Eizellen (genetische Mutter), die einer anderen Frau eingepflanzt werden (biologische Mutter). Das auf diese Weise entstehende Kind wird dann von einer dritten Frau (soziale Mutter) aufgezogen. Wird die Eizellenspende kombiniert mit dem Zytoplasmatransfer31, dann erhält das Kind sogar die Erbinformationen dreier unterschiedlicher Menschen. In erster Linie entfaltet sich anhand der Medienbeispiele ein von Schwangerschaft und Gebären geprägter biologistischer Begriff vom Muttersein.32 Marcela Iacub konstatiert in diesem Sinne, es sei fast unmöglich zu sagen: Eine Mutter ist eine Mutter. Oder: mater semper certa est (es sei also unnötig, ihren Status zu definieren, weil sie – im Gegensatz zu den Vätern – doch ganz offensichtlich erkennbar ist).33 In der Begründung des Verbots der Eizellspende (im Gegensatz

30 Ich klammere hier bewusst den Aspekt der Adoption und Pflegschaft aus. Ich vernachlässige diese, weil es mir erstens um die Verschiebung von Begriffen im Bezug auf die Reproduktionstechnologien geht und zweitens in diesen Aushandlungen Adoption und Pflegschaft selten eine Rolle spielen. Insbesondere durch Verweise auf »Familienähnlichkeiten« wäre aber ein Vergleich interessant. Hierzu etwa: Marre, Diana; Bestad, Joan: The Family Body: Persons, Bodies and Resemblance, in: Edwards, Jeanette; Salazar, Carles (Hg.): European Kinship in the Age of Biotechnology, 2009. 31 Bei diesem Verfahren wird der die Chromosome enthaltende Zellkern einer Frau von einer gespendeten Eizelle entfernt und durch den der zu behandelnden Frau ersetzt. Anschließend werden die Chromosome des Mannes zugeführt. 32 Das wird insbesondere anhand der Spende-Situation offensichtlich: Nicht um die Weitergabe ihrer Gene kann es der Schwangeren gehen, sondern um das Erleben einer Schwangerschaft. Oder anders: Um das Austragen der Gene ihres Mannes. 33 Iacub, Marcela: L’Empire du ventre. Pour une autre histoire de la maternité, 2004:10. Iacub schließt eine historisch vergleichende Diskussion an, was Mutterschaft definiert.

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zur Samenspende) heißt es nach Angaben der Zeit im Positionspapier der Fortpflanzungsmediziner dann etwa auch, man wolle »keine Spaltung der Mutterschaft in eine biologische und eine genetische«34 ermöglichen, denn die »Mutterbeziehung [ist, J.D.] für die Identitätsbindung des Kindes35 ungleich wichtiger [...] als die Vaterbeziehung«36 und »die Eindeutigkeit der Mutter [ist, J.D.] rechtlich, historisch und kulturell ein wesentlich gesellschaftlicher Grundkonsens und als solcher unverzichtbar.«37 Eine solch essentialistische Einschätzung konnte sich zwar nicht durchsetzen38, dennoch bleibt – im Gegensatz zur Mutter39 – das Verständnis von Vaterschaft ein relationales, denn Vaterschaft bestimmt sich – rechtlich – in den meisten Fällen durch die Beziehung zur Mutter. Gesetzlicher Vater ist der, der mit der Mutter zum Zeitpunkt der Geburt verheiratet ist. Die Erzeugung eines Kindes mittels der Reproduktionstechnologien betont dabei den Herstellungscharakter von Verwandtschaft ganz offensichtlich. Denn hier handelt es sich um die geplante Erzeugung eines Embryos, der ohne diesen Akt nie zu einem Kind reifen könnte. Das Versprechen, dass hierbei die genuin eigenen Körperstoffe zum Tragen kommen, macht Verfahren wie die IVF zu einer vielgepriesenen Garantie für eindeutige Elternschaft.40 So kann mittels der Tatsache, dass das Kind im Labor erzeugt wurde, die narzisstische Kränkung der Männer, unter Umständen nicht biologischer Vater ihres Kindes zu sein, bereits bei der

Die Ehe? Das Gebären? Die Eizellen? Sie gibt zudem einen interessanten Hinweis darauf, dass in den Ländern, in denen die Leihmutterschaft erlaubt ist, diese begrifflich signifikante Veränderungen durchgemacht habe. Aus der Mutterschaft für andere (maternités pour auturi) wurde die Schwangerschaft für andere (gestation pour auturi). Dies: 258. 34 Art. »Mit anderen Worten: Nein«, in: Die Zeit 49/2000. 35 Ein erster Hinweis auf das immer wieder vorgetragene Argument der mit der »Ursprungserzählung« zusammenhängenden Identität. 36 Art. »Mit anderen Worten: Nein«, in: Die Zeit 49/2000. 37 Ebd. 38 Das meint, dass die Begründung keinen Bestand hatte. Das Verbot der Eizellenspende gilt indes nach wie vor. 39 Mit dem Kindschaftsreformgesetz definiert das BGB Mutterschaft: Mutter im Rechtssinn ist allein die gebärende Frau. Das ist auch in Frankreich der Fall. 40 Siehe hierzu den Aufsatz von Petra Gehring: Bio-Vaterschaft: Die Wiederkehr der Zeugung als technogene Obsession, in: Dies: Was ist Biomacht?, 2006:92ff. Sie argumentiert hier etwa, durch den Umbau der Familien hätten sich auch die Vaterbilder liberalisiert.

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Zeugung vermieden werden.41 Innerhalb der sozialen, rechtlichen und politischen Konstruktion der Familie wird angesichts der neuen Unübersichtlichkeiten die Biologie offenbar zum einzigen Rettungsanker, um gesicherte Familienkonstellationen herzustellen. Das findet aber im Kontext der Berichterstattung eher wenig Beachtung. Neben der prinzipiellen Sicherheit, die erst einmal traditionelle Lebensformen betrifft, eröffnen die technologischen Möglichkeiten neue Wirklichkeiten, indem beispielsweise homosexuelle Paare und/oder Einzelpersonen Zugang zur Fortpflanzung erhalten. Eine solche Möglichkeit findet aber innerhalb Deutschlands zumindest bislang keine rechtliche Unterstützung. So stellen die deutschen »Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion«42 der Bundesärztekammer in Punkt 3.2.3 zu den »Elterliche[n] Voraussetzungen« explizit fest: »Die Anwendung der Methode bei alleinstehenden Frauen und in gleichgeschlechtlichen Beziehungen« sei nicht zulässig. Ein solches Verbot gilt in den

41 Die Diskussion um die Anonymität der Samenspende führt allerdings mit dem Recht auf Kenntnis seiner Abstammung zurück auf tradierte Herkunftskriterien. Inwiefern sich dabei unterschiedliche Diskurse verbinden, wird deutlich, wenn etwa in LNO in der Auseinandersetzung mit den Geburten »sous x« die Fallgeschichte einer jungen Frau geschildert wird, die nach ihren Wurzeln sucht. Die Wichtigkeit dieses Anliegens sieht ihr Freund darin, dass die junge Frau für ihre mentale Gesundheit ihre Ursprünge kennen muss (pour sa santé mentale, Léa a besoin de connaître ses origins), in: LNO No. 1884 [14.-20.12.2001]. 42 Anfang der 1980er Jahre hat die Bundesärztekammer die »Richtlinien zur Durchführung von In-vitro-Fertilisation (IVF) und Embryotransfer (ET) als Behandlungsmethode der menschlichen Sterilität« erarbeitet. Diese sind mit Beschluss des 88. Deutschen Ärztetages 1985 Bestandteil der Berufsordnung geworden. Sie wurden nach Inkrafttreten des ESchG novelliert und vom Deutschen Ärztetag als »Richtlinien zur Durchführung des intratubaren Gametentransfers, der In-vitro-Fertilisation mit Embryotransfer und anderer verwandter Methoden« verabschiedet. Aufgrund von Modifikationen der Methoden und der Entwicklung neuer diagnostischer und therapeutischer Verfahren erfolgte 1998 eine zweite Novellierung dieser Richtlinien (»Richtlinien zur Durchführung der assistierten Reproduktion«). Es werden dort Leistungsvoraussetzungen, Methoden, medizinische Indikationen, der Umfang der Maßnahmen, aber auch die Beratung des Ehepaares formuliert sowie eine Auflistung der Qualifikationsanforderungen und Genehmigungsvorbehalte vorgelegt, die für die Methoden Voraussetzung sind.

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meisten Ländern Europas.43 In einer solchen Entscheidung offenbart sich die Notwendigkeit, Sexualität im Dienste reproduktiver Beziehungen zu organisieren und es gilt als ausgemacht, »dass die Ehe, die der Familie einen legalen Status verleiht oder vielmehr als das angesehen wird, was diese Institution absichern sollte, indem sie ihr diesen legalen Status verleiht, der Dreh- und Angelpunkt bleiben sollte, der dafür sorgt, dass sich beide Institutionen gegenseitig stabilisieren.«44 Verbote betreffen darüber hinaus auch die Vaterschaft bereits Verstorbener. Das ist etwa der Fall, wenn die Hinterbliebenen eines Toten dessen Samen mit den Eizellen einer anderen Frau zusammenbringen und den so entstehenden Embryo entweder von dieser austragen lassen oder eine Leihmutter beschäftigen, um das Kind auszutragen.45 Ganz offensichtlich ist ein Elternteil nicht einwilligungsfähig. Indem sogar männliche Tote ebenso wie KomaPatienten als Samen-Spender herangezogen werden können, diskutiert der Spiegel unter dem Titel »Jagt auf den Sperminator«46: »Irrweg oder […] Chance für die Reproduktionsmedizin«. Der Film von James Cameron, der hier Pate für den Titel stand, zeigt Arnold Schwarzenegger als Terminator und Cyborg, dessen Aufgabe als Herr über Leben und Tod es ist, Menschen auf Befehl zu töten. Befehle erteilt der »Spermiator« keine mehr und er tötet auch niemanden. Stattdessen wird sein Tod überdeckt durch die »sorgfältige Verwaltung des Körpers und die rechnerische Planung des Lebens.«47 Möglich wird ein solches Verfahren, da – im Gegensatz zum toten »Patienten« – sein Sperma »quicklebendig« sei. Aufgrund dessen könne auch aus dem Jenseits eine »finale Gabe« gereicht werden,

43 Eine Ausnahme stellt Dänemark da. Hier wurde im Mai 2006 durch das Parlament entschieden, staatliche Kliniken zu verpflichten, auch Alleinstehenden die IVF zu ermöglichen und deren Kosten durch die Krankenkassen zu übernehmen. Slowenien ist eines der wenigen Länder, in dem die Frage des Zugangs von alleinstehenden Frauen zur Reproduktionstechnologie in Form einer Volksabstimmung entschieden wurde. Dabei stimmten 75 Prozent der Wahlberechtigten gegen die Behandlungsoption alleinstehender Frauen. 44 Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen, 2009:167. 45 In Frankreich sorgte etwa 1993 der Fall Pirès für mediales Aufsehen. Der Mann starb bei einem Unfall, hinterließ aber seiner Frau zwei eingefrorene Embryonen, die die Beiden zuvor hatten einfrieren lassen. Die Ethikkommission wies das Begehren der Frau, diese einzupflanzen, mit dem Verweis darauf zurück, die Möglichkeit der IVF bezöge sich nach den Bioethikgesetzen auf ein lebendes Paar. 46 Art. »Jagd auf den Spermiator«, in: Der Spiegel 15/1999. 47 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, 1983:165.

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zum Wohle der Hinterblieben. Der rituelle Akt wird nicht am oder für den Verblichenen vollzogen, sondern für dessen Frau und Eltern. Wenn der Spiegel dies mit der Bemerkung quittiert, so könnten Tote und Komapatienten »ihr Scherflein zur Weltbevölkerung beitragen«, dann klingt das selbst an diesem Ort nicht ironiefrei. Dennoch: Der Verweis auf den Gegenstand der Biopolitik, die Bevölkerung, findet auch hier seinen Platz. Trotz einer rechtlichen Negierung entfalten auch oder gerade solche Familienkonstellationen mediales Interesse, das sich sowohl auf die individuelle Lebensplanung (Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung) als auch auf deren Deutungsmöglichkeiten bezieht. Damit stehen die Präferenzen von Lebensformen und Lebenszielen zur Diskussion. Diese eröffnen in einem nächsten Schritt die Frage, ob sich im Falle des Kinderkriegens unterscheiden lässt zwischen einer ›persönlichen‹, einer ›politischen‹ und einer ›moralischen‹ Ebene. (2.3) Vererbung und Verantwortung – Risikopatientinnen Das (diagnostische) Angebot insbesondere der PND und der PID richtet sich vorderhand an zwei unterschiedliche Gruppen heterosexueller Paare: Neben ›Spätgebärenden‹48 handelt es sich um jene potentiellen Eltern, die aufgrund von Voruntersuchungen wissen, dass das genetische Material zur potentiellen Behinderung/Krankheit des Kindes führen kann.49 Beiden Fällen geht die Annahme voraus, dass diejenigen Frauen/Paare von ihrem ›Risiko‹ wissen und sich diesem entsprechend verhalten. Das Wissen über Vererbung bzw. Vererbungsvorgänge rechtfertigt dabei moralisch die Inanspruchnahme von Technologien. Erst durch das Wissen um das bestehende Risiko wird eine Handlungsalternative (auch) sprachlich relevant. In diesem Sinne heißt es etwa: »Es sind Frauen, die an Gebärmutterkrebs leiden, denen von Geburt an oder nach einer Operation die Gebärmutter fehlt oder bei denen eine Schwangerschaft ein hohes Gesundheitsrisiko birgt, denen Dr. Rama die Option auf eine Leihmutterschaft anbietet. Aber

48 Innerhalb der Medien wird »das Problem Alter« ausschließlich im Bezug auf Frauen diskutiert. Zudem ist zu unterscheiden zwischen ›Spätgebärenden‹ und Frauen nach der Menopause. Für letztere ist eine Schwangerschaft biologisch nur durch fremde Eizellen möglich. 49 Die Bedeutung von Wahrscheinlichkeiten in diesem Kontext habe ich im Kapitel »Sexualität und Fortpflanzung im Zeitalter ihrer Separierbarkeit« ausgeführt.

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auch jenen Frauen hilft sie, die es schon mehrfach mit In-Vitro-Fertilisation probiert haben – ohne Erfolg.«50

Die Ärztin erklärt dies so: »Immer wenn die Frau sagt, sie könne keinen weiteren Stress mehr ertragen, ist Leihmutterschaft in Ordnung«51 Zwei unterschiedliche Einschränkungen treten in diesem Zugeständnis zutage: Zum einen bietet die Reproduktionstechnologie auch denjenigen die Möglichkeit, Kinder zu haben, die aus physischen Gründen ›eigentlich‹ keine bekommen können. Zum anderen gilt das Angebot auch für jene, deren Krankheit in ungewollter Kinderlosigkeit besteht. Indem die Ärztin »Stress« als legitimierenden Faktor ausweist, kennzeichnet sich zudem eine ungenaue Gemengelage von physischer und psychischer Disposition. Deutlich wird dadurch die Bedeutung einer medizinischen Diagnose. Gerade durch entsprechende Möglichkeiten geraten, das habe ich mehrfach gezeigt, umgekehrt aber auch Frauen in die Pflicht, ihr Verhalten anhand von allgemeinen biopolitischen Maßgaben zu überprüfen. Dabei geht es nicht allein um die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen, sondern um einen Lebensstil, etwa die Vermeidung von übermäßigem Stress. Das sei deshalb geboten, weil »auch beim Menschen [...] Fehlverhalten, Leichtfertigkeit und die Folge der Armut noch über mehrere Generationen nachwirken«52 können. Stärker können sich individuelle und bevölkerungspolitische Ebenen kaum verquikken. Inwiefern trotz bestimmten Verhaltens ein von Frauen unbeeinflussbares ›Restrisiko‹ bleibt, das drückt sich etwa wie folgt aus: »Mit 32 Jahren galt Birgit Feickert noch nicht als Spätgebärende, eine Fruchtwasseruntersuchung schien nicht notwendig zu sein. Den Wulst am Nacken – ein Hinweis auf das Downsyndrom – musste der Arzt im Ultraschall übersehen haben.«53 Auf die solchen ›Fehlern‹ zugrunde liegenden Prozesse werde ich im vierten Abschnitt zurückkommen. Inwiefern in einem solchen Zusammenhang die Frage nach dem Recht auftritt, wird deutlicht, als im Jahr 2009 das Verbot der PID zunehmend hinterfragt wurde. Da hieß es etwa in der Zeit, dass ein Paar, das im Rahmen einer Fertilitätsbehandlung in Deutschland das Verfahren bereits nutzte, seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen wollte, weil die Methode nach wie vor als verboten

50 Art. »Die Fabrik des Lebens«, in: Der Spiegel 38/2008. 51 Ebd. 52 Art. »Entscheidung im Mutterleib«, in: Der Spiegel 4/2000. 53 Art. »Die trotzdem Geborenen«, in: Die Zeit 12/2009. Ein Thema, das insbesondere im Kontext der Epigenetik Bedeutung erhält.

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gelte. Dass sie sie nichtsdestotrotz nutzten, hänge mit ihren Erfahrungen zusammen. »Dabei hatten sich die Rudniks nichts anderes gewünscht als ein zweites Kind. Allerdings hatten sie schon eine schwerbehinderte Tochter und wussten, dass ein zweites krankes Kind ihre Kräfte übersteigen würde.«54 Dass derlei Erfahrungen als Indiz für ethische Entscheidungen im Diskurs konstitutiv sind, habe ich immer wieder gezeigt. Interessant an dieser Stelle ist, dass die durch die Geburt der Tochter gesammelten Erfahrungen scheinbar in einem Zusammenhang stehen mit der Ansicht, die PID sei nicht etwa verboten, sondern sie gelte lediglich als verboten. Nun lässt sich nicht per se ein positives Votum für Verfahren, wie das der PID, innerhalb der Medien feststellen.55 Als Tendenz ist aber eine hohe Wertschätzung für individuell ethische Entscheidungen erkennbar. An diesen Beispielen wird ersichtlich, dass Vererbung insbesondere durch die Möglichkeiten der pränatalen bzw. präinsaminativen Untersuchung ein wichtiges Indiz für Verwandtschaft darstellt. In Deutschland hat der aus dem Rechtssystem des 17. Jahrhunderts stammende und in die Biologie eindringende Begriff der Vererbung seine juristische Bedeutung nie verloren.56 Im juristischen Sinn bezeichnet Vererbung die Weitergabe/Transmission von Besitz, der formell auf einen Erben übergeht. Der Begriff verdankt seine Bedeutung also der Übertragung eines juristischen Begriffs auf eine Entscheidung, die mit der Reproduktion von Organismen zu tun hat. In Folge erlangt der Begriff der Vererbung seine Bedeutung daher aus mehreren Disziplinen: Im juristischen Sinne bezieht sich Vererbung auf die Verteilung von Gütern in zeitlicher Folge, die bestimmten Regeln (Verwandtschaftsgraden) unterliegt. Fortpflanzung als Vererbung zu begreifen setzt voraus, bei der Zeugung von Organismen Mechanismen am Werk zu sehen, die über den reinen Zeugungsmoment hinausgehen.57 Das Phänomen der ›Weitergabe‹ wurde zunächst nur dort wahrgenommen, wo es um individuelle Eigenschaften und Abweichungen ging. In erster Linie trat es im Blick auf

54 Art. »Die Ausweitung der Grauzone«, in: Die Zeit 30/2009. 55 Ich habe ja insbesondere im ersten Szenario gezeigt, wie hier Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden und in Folge neue Deutungsmöglichkeiten erscheinen. 56 In diesem Sinne stellt sie eine entscheidende Kategorie im Gesundheitssystem, im Familien- und Aufenthaltsrecht und bei den Erbschaftsregeln dar. Hierzu: Knecht, Michi: Spätmoderne Genealogien: Praxen und Konzepte verwandtschaftlicher Bindung und Abstammung, in: Beck, Stefan; Hess, Sabine; Knecht, Michi: Verwandtschaft neu ordnen, in: Verwandtschaft machen, Berliner Blätter 42/2007. 57 Rheinberger, Hans-Jörg; Müller-Wille; Staffan: Vererbung, 2009:21f.

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Krankheiten und nicht ›normale‹ Eigenschaften auf.58 Aus medizinischer Sicht standen im Bezug auf Vererbung in erster Linie Erbkrankheiten im Fokus des Interesses. Dies betraf vor allem die sogenannten ›degenerativen‹ Krankheiten wie etwa Tuberkulose. Zudem verändert sich historisch betrachtet die Rolle des Arztes (als gesundheitlicher Berater) und die Institution ›Krankenhaus‹, in der seit dem 19. Jahrhundert Daten über Erbkrankheiten gesammelt wurden. Krankheiten fanden dann Erwähnung – das zeigt auch Foucault –, wenn nicht der Körper des Einzelnen, sondern der ›politische‹ Körper ganzer Populationen zur Disposition stand. Die Entwicklung der Genetik hat dafür gesorgt, dass Vererbung zum epistemischen Objekt wurde. Notwotny und Testa argumentieren, dass wir mit steigendem biologischen Wissen unfähig werden, dieses auf die Vererbung bezogene Wissen in ein kohärentes Ganzes mit Bezug auf die Lebenswelt einzupassen. Kohärenz würde ja bedeuten, dem biologischen Wissen eine angemessene Stellung innerhalb lebensweltlicher Wissenskomplexe zuzuweisen, und sie gerade nicht zum entscheidenden Kriterium zu machen, wenn es um die Legitimation neuer Familienverhältnisse geht. Die durch die Wissenschaft erzielten Ergebnisse und Erkenntnisse laufen deshalb Gefahr, eine essentialistische Gestalt anzunehmen.59 Ich folge an dieser Stelle Sigrid Weigel, die davon ausgeht, dass der Begriff der Erbschaft »an der Schwelle zwischen biologischer Vererbung, Gesetz und Tradition situiert [ist, J.D.], ebenso, wie die Familie zwischen der Idee einer leiblichen oder Blutsverwandtschaft und einem Vertragsverhältnis steht.«60 Das Gen bildet dabei das Zentrum des Diskursstranges, der auf vielerlei Weisen auf das soziale, kulturelle und politische Geschehen ausstrahlt. Aufgrund dieser Wirkkraft steckt in dem Begriff der Vererbung paradigmatisch ein biopolitisches Dispositiv, weil es eine der Grundlagen der Biomacht bildet, die auf Basis des Lebens, der Gattung, den Massenphänomenen der Bevölkerung ansetzt61 und sich auch deshalb aufs engste mit dem Dispositiv ›Recht‹ verbindet; eine Grundlage, die eben deshalb deutungsmächtig ist, weil sie interdisziplinär zwischen Diskursivem und Nicht-Diskursivem organisiert ist.

58 Ebd. 59 Nowotny, Helga; Testa, Guiseppe: Die gläsernen Gene. Die Erfindung des Individuums im molekularen Zeitalter, 2009:24. 60 Weigel, Sigrid: Inkorporation der Genealogie durch die Genetik, in: Dies. (Hg.): Genealogie und Genetik, 2002:73. 61 Rheinberger, Hans-Jörg; Müller-Wille; Staffan: Vererbung, 2009:29.

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Besonders deutlich wird dies, wenn man sich Foucaults Auseinandersetzung mit der Thematik des Blutes vergegenwärtigt (mit allen darin enthaltenen mythischen Verwandtschaftsverhältnissen), um den in den Sexualdispositiven wirksam werdenden Typ politischer Macht mit einer geschichtlichen Mächtigkeit zu unterlegen.62 Für ihn formiert sich an diesem Punkt der moderne, staatliche, biologisierende Rassismus. Funktion dieses Rassismus ist es, in diesen Bereich des Lebens, den die Macht in Beschlag genommen hat, eine Zäsur einzuführen: die Zäsur zwischen dem, was leben darf, und dem, was sterben muss.63 Die andere Funktion besteht Foucault zufolge darin, dieses Töten zu ermöglichen. Anhand ihrer Rekonstruktion des Vererbungsbegriffs weisen Rheinberger und MüllerWille allerdings die fehlende Beziehung zwischen der (durchaus gängigen) Metaphorik des Blutes und konkreten Vorstellungen von Zeugung nach. Ein solches Phänomen erklären sie dadurch, dass juristische und politische Auseinandersetzungen um Erbschaftsregelungen nur selten darauf abzielten, Verwandtschaftsbeziehungen allgemein Geltung zu verschaffen. Es ginge eher darum, bestimmte nahe Verwandte auszuschließen. Das Konzept des Blutes hatte noch im 14. Jahrhundert dagegen eine geographische Dimension.64 Welche Bedeutung das Konzept der ›Blutsverwandtschaft‹ hat, könnte nicht besser als durch die Nachfrage an reproduktiven Maßnahmen illustriert werden – wenngleich das Blut heutzutage den Genen gewichen ist.65 Was aber bleibt, sind spezifische Ein- und Ausschlussverfahren. Öffentlich vollzieht sich vor diesem Panorama ein Tausch, bei

62 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen, 1983:178. 63 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, 2001:295. 64 Rheinberger, Hans-Jörg; Müller-Wille; Staffan: Vererbung, 2009:75. 65 In ihrem Beitrag »Incest, Embodiment, Genes and Kinship« vergleichen Porqueres i Gené und Jérome Wilgaux die Verwendung von ›Blut‹ und ›Genen‹ in Erklärungen, warum Sexualkontakte zwischen bestimmten Kategorien von Verwandtschaft verboten ist. Sie zeigen, dass, während genetische Erklärungsmodelle als Grund für die Ablehnung von Inzest gelten, es erstaunliche Ähnlichkeiten gebe zwischen den gegenwärtigen ›Genen‹ und früherem ›Blut‹. Beide gelten/galten als Programmierer, die bestimmte Charakteristika übertragen. Inwiefern etwa ›Blut‹ aber nach wie vor präsent ist, zeigen sie, wenn Kinder den Leihmüttern zugesprochen werden. In diesem Sinne zitieren sie eine 60jährige Engländerin, die sagt: »It’s got that surrogate mother’s blood – the foetus feeds off the blood supply of the mother – off the person who is carrying the child – so that mother’s blood is still going through that surrogate baby’s veins.« Dies., in: Edwards, Jeanette; Salazar, Carles (Hg.): European Kinship in the Age of Biotechnology, 2009.

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dem das Recht auf ein Kind durch die Verantwortung im Kontext von Vererbung erworben werden kann. Dieses Recht erlangt über den Umweg der Pathologisierung via Medizin den Status eines lösbaren Problems der Allgemeinheit. »Babys auf Rezept«66 lautet dann der scheinbar logische Schluss, der aber im Falle all jener, die nicht aus medizinischen Gründen (Infertilität/Sterilität oder entsprechende Prädisposition) ungewollt kinderlos bleiben, ein ›Defizit‹ bedeutet. Die von Sexualität entkoppelte Zeugung tritt allgemein innerhalb der Medien jedoch nicht als privilegierte Form der Fortpflanzung auf. Sie ist lediglich ein notwendiger und daher konsequenter Weg zum eigenen Kind für die, denen andernfalls das Kinderkriegen versagt bliebe: eben »Risikopatientinnen«, homosexuellen Paaren oder »Spätgebärenden«67. (2.4) Kinder der Liebe In welcher Konstellation auch immer Paare oder Einzelpersonen Kinder bekommen, in der öffentlichen Aushandlung drückt sich anlässlich des Ausschlusses des Zufalls die Wertschätzung eines alten und in erster Linie auf das Paar bezogenen Ideals aus: Das der (romantischen) Liebe, die sich in einem Kind erfüllt, als »Verkörperung der Beziehung«68. Dabei lässt sich zusätzlich erkennen, dass zwischen innigem Kinderwunsch und asexueller Zeugung ein Zusammenhang besteht, der über die reine ›Produktion‹ hinausgeht. Denn innerhalb des Diskurses scheint es so, als habe eine solche Ausgangslage Einfluss auf die Erwartung und Vorstellung von ›Familie‹. Man könnte sich also fragen, ob die Debatten über Genetik im Bezug auf diejenigen, die sie nutzen dürfen, nicht einen alten platonischen Idealismus reproduzieren.69 Mit dem Ausschluss der ›notwendigen‹ (produktiven) Sexualität aus der Paarbeziehung und der hierdurch gewonnenen ›Planbarkeit‹ eines Kindes verändert sich schließlich dem Diskurs folgend auch der Blick auf das Begehrte. »Dabei verbindet die Liebe die Verantwortung der Eltern für das künftige Kind mit neuen Gen- und Reproduktionstechnologien [...]

66 Art. »Babys auf Rezept«, in: Der Spiegel 4/2002. 67 Sogenannte Spätgebärende werden gleichfalls als Risikopatientinnen gefasst. Bis in die Mitte der 1980er Jahre ergaben sich 80 Prozent aller pränatalen Untersuchungen aus der Altersindikation. 68 Mense, Lisa: Neue Formen von Mutterschaft. Verwandtschaft im Kontext der Neuen Reproduktionstechnologien, in: Lenz, Ilse; Mense, Lisa; Ullrich, Charlotte (Hg.): Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion, 2004:157. 69 Atlan, Henri; Botbol-Baum, Mylène: Des Embryos et des Hommes, 2007:93.

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und sie begründet den Anspruch auf Zugang zu diesen Technologien gegenüber der Gesellschaft.«70 So lautet dann die Einschätzung von Antinori: »Laborbabys werden mehr geliebt.«71 In diesem Sinne avanciert das Kind, das vielen Medienbeiträgen zufolge Produkt von Mühe, Arbeit und Anstrengung ist, zum ›Liebeszeichen‹. Das ist nur so zu verstehen, dass die Liebe derer, die all das auf sich nehmen, besonders belastbar ist. Denn selbstverständlich sind Mühe, Arbeit und Anstrengung keine Grundbedingungen für die Beziehung. So verweist auch Luc Boltanski auf die »beachtlichen Opfer«72, die beide Partner mit einem solchen Projekt auf sich nehmen. Der ›Wert‹ des so entstehenden Kindes steigert sich auch deshalb, weil in seine Realisierung die zentralen gesellschaftlichen Ressourcen Arbeit, Geld und Zeit fließen. Die Bezuschussung der Behandlungskosten einer IVF durch die Krankenkasse verweist jedoch auf das Ende der Tragkraft eines LiebesArguments. Denn: Wessen Behandlung ist erstattungswürdig? Besonders da hier solidargemeinschaftliche Gelder zum Einsatz kommen, ist das eine Frage, über die es im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit zu sprechen gilt. Inwiefern innerhalb der öffentlichen Kontroverse dabei Ressentiments zum Tragen kommen bzw. inwiefern ein Anspruch auf Behandlung sich auch auf den Grund der Indikation bezieht, machen Überlegungen aus dem Spiegel deutlich, wenn es darum geht, ob »die Solidargemeinschaft für alles aufkommen [soll, J.D.] – selbst für das menschheitsgeschichtlich widernatürliche Spätgebären der BabyboomerGeneration? Oder gibt es so etwas wie ein Menschenrecht auf ein eigenes Kind?«73 Das Kind als ›Liebeszeichen‹ wird überführt von der privaten Sphäre der Sorge/Mühe in die des Marktes und der Produktion, wo es sich Nützlichkeitserwägungen stellen muss. Denn im Gegensatz zur ›Arbeit‹ kann ›Mühe‹ in beiden Sphären zum Einsatz kommen. ›Arbeit‹ heißt Teilnahme am gesellschaftlichen Leistungsaustausch. Liebe wird hier zum Transmissionsriemen gesellschaftlicher Leistung, sofern sie als hierfür geeignet erklärt wird. Eine Grenze verläuft möglicherweise allerdings semantisch zwischen ›Arbeit‹ und ›Mühe‹. Dann gilt ›Mühe‹ als Indiz eines nachrangigen Verfahrens, als

70 Bock von Wülfingen, Bettina: Liebe und Gesundheit in der Genetisierung der Zeugung – Diskursanalyse als Untersuchung der Transformation von Denkräumen, in: Dölling, Irene; Dornhof, Dorothea; Esders, Karin et al (Hg.): Transformation von Wissen, Mensch und Geschlecht, 2007:116. 71 Art. »Laborbabys werden mehr geliebt«, in: Der Spiegel 4/2002. 72 Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung, 2007:256. 73 Art. »Geschäft mit der Hoffnung«, in: Der Spiegel 22/2008.

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Notlösung. Bereits aufgrund der ›Mühe‹ würden Eltern deshalb das Prinzip Sex nicht gegen die Reagenzglaszeugung tauschen, argumentieren insbesondere Humangenetiker. Jens Reich bemängelt beispielsweise, Verfahren wie die IVF brächten kein »Vergnügen«74. Aus einer solchen Feststellung schlussfolgert er: »Ohne Vergnügen in einer Gesellschaft, in der Kinderzeugung keine Notwendigkeit von Altersversorgung und Erbfolgenregelung darstellt? Das soll sich durchsetzen? Ich bin zu altmodisch, um mir das vorzustellen.«75 Von der ansonsten medial propagierten Trennung von homo ludens und homo faber keine Spur? Doch. Indem Reich Sexualität und Fortpflanzung altmodisch zusammen denken will, unterstellt er ja, dass dies längst getrennt voneinander verhandelt wird. (2.5) Erzeugung als Beruhigung Gründe, Sexualität und Fortpflanzung trotz medizinischer Möglichkeiten nicht zu trennen, verweisen neben Reichs Argument des ›Vergnügens‹ auf eine weitere Ebene. Zur Illustration von Machbarkeit wird in der Zeit auf die medizinischen Entdeckungen nach 1840 verwiesen: An der Chicago University regte Jacques Loeb unbefruchtete Eier von Seeigeln durch osmotischen Schock zur Zellteilung an. Bei diesem Vorgang habe es sich um den »Versuch einer künstlichen Jungfernzeugung« gehandelt.76 Das sei jedoch Sache von Einzellern. »Ungleich verbreiteter ist das Prinzip Sex. Sex garantiert genetische Vielfalt«.77 Der Unterschied zwischen der menschlichen Gattung und einer tierischen primitiven Lebensform dokumentiert sich ebenfalls durch die Art der Gattungserhaltung. Das heißt, Sexualität ist im Bezug auf Fortpflanzung dann von explizitem Interesse, wenn es um die Erhaltung/Verbesserung der Gattung durch die Verbindung unterschiedlicher Anlagen geht. Sexualität wird hier von einer (in diesem Falle) menschlichen Praxis zu einem biologischen ›Prinzip‹; zu einem aller subjektiven und intersubjektiven Aspekte entkleideten Mittel der Qualitätssicherung bzw.

74 Reich, Jens: Sexualität und Fortpflanzung als technisches Konstrukt, 2000:89. 75 Ebd. Einen Schritt weiter geht Jean-Paul Renard, dem es scheint, Kinder eingeschlechtlich zu erzeugen sei nicht ethisch (ne me semble pas éthique). Aber er ergänzt, vielleicht sei es das in der Zukunft (mais qu’en sera-t-il dans l’avenir). Art. »Une sicence à la mode, la «biologie-fiction»«, in: LNO No. 1969 [01.-07.8.2002]. 76 Art. »Wann kommt der menschliche Nachwuchs nach Maß?«, in: Die Zeit 11/1997. 77 Ebd.

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-steigerung.78 Erst mit diesem Verständnis im Hintergrund wird klar, was es heißt, Sexualität im Labor zu kontrollieren: Es geht um den Zugriff auf und die Kontrolle von Erbmaterial, es geht um die technologische Kontrolle der Gattung. Das ›Prinzip Sex‹ wird in ent-sexualisierte (technische) Sexualität transformiert. Im Sinne einer Normalisierung der Technologisierung von künstlicher Befruchtung wird nicht ohne Grund die sexuelle Zeugung diskursiv in den Dienst genommen, wenn das Verfahren IVF als Sex beschrieben wird. So titelte die Zeit zur Erzeugung menschlichen Lebens in der Petrischale: »Sex in der Retorte«.79 Wird hier etwas Technologisches renaturalisiert oder handelt es sich um eine Strategie, z.B. das biopolitisch grundierte technische Verfahren in den Mantel des Privaten zu hüllen? Neben die ›natürliche‹ Sexualität tritt die ›künstliche‹ Sexualität, hinter der eigentlich eine asexualisierte Fortpflanzung steckt. Während erstere im Zusammenhang mit Reproduktionstechnologien nicht explizit zum Gegenstand gemacht wird, spielt die asexuelle Fortpflanzung im Kontext von ›Unfruchtbarkeits-Therapien‹, wie IVF und ISCI, eine Rolle bei der Sicherung der genetischen Vielfalt. Sowohl die sexuelle als auch die asexuelle Fortpflanzung beruhen auf dem grundlegenden Konzept einer gegengeschlechtlichen Zeugung. Ein sich so erfüllender Kinderwunsch befördert in dieser Lesart gleichzeitig eine Stabilität der Paarbeziehung, in der ökonomisch überformte Liebe genauso vorkommt wie technisch überformte Sexualität. Anders als in Zeiten, in denen ungewollte Kinderlosigkeit dem Schicksal zugeschrieben wurde, ändern sich nun Mittel und Wege, diesen ungewollten Zustand zu ändern. So war es in früheren Kulturen oft gängige Praxis, dass Männer sich von ihren »unfruchtbaren« Frauen »befreien«80 konnten. Zumindest, das belegen die (auch innerhalb der Medien) immer wieder zitierten biblischen Beispiele, rechtfertigt weibliche Unfruchtbarkeit den Ehebruch. »Auch Abraham hatte es nicht leicht«81, heißt es etwa in der Zeit: »Mit Sarah wollte es partout

78 Dies ist kein neuer Gedanke. Ähnlich argumentierte beispielsweise bereits Ende des 19. Jahrhunderts der Zoologe August Weismann. Er begründete dies mit den evolutionär günstigen Auswirkungen einer regelmäßigen Vermischung unterschiedlicher individueller Keimplasmen. Siehe hierzu: Rheinberger, Hans-Jörg: Sexualität und Experiment, in: Angerer, Marie-Luise; König, Christiane (Hg.): Gender goes life. Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies, 2008:163ff. 79 Art. »Sex in der Retorte«, in: Die Zeit 11/1997. 80 Spar, Debora L.: The Baby Business, 2006:7. Sie weist darauf hin, dass es Männern unter diesen Bedingungen zustand, »to kill or to abandon them«. 81 Art. »Wann kommt der menschliche Nachwuchs nach Maß?«, in: Die Zeit 11/1997.

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nicht klappen. ›Geh doch zu meiner Magd‹, rief die Angetraute. Das führte, mit 86 Jahren, noch mal zu Vaterfreude – ein biblischer Fall von Ersatzmutterschaft. Der Genesis zufolge ruhte Segen darauf. ›Ich will deine Nachkommenschaft so mehren, daß sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können‹, sprach der Engel des Herrn. Bis ins 20. Jahrhundert hinein hatte das biblische Vorbild bestand: Bei Kinderlosigkeit half letztlich nur der Partnerwechsel.«82 Der Vergleich mit der Genesis geht davon aus, dass ein Partner (die Frau) unfruchtbar ist und dieses ›Dilemma‹ durch eine Ersatzmutter ausgeglichen wird. Der ›Partnerwechsel‹ bezieht sich ausschließlich auf den sexuellen Akt, denn folgt man der Geschichte, verließ Abraham Sarah ja ebenso wenig wie Jakob Rachel.83 Vielmehr stellt männliche Untreue die logische Folge von weiblicher Infertilität dar. Nach heutigem Stand der Medizin ist nicht einmal das mehr nötig: Dank Gott wurde Sarah Mutter; dank der Technologie werden heutige Frauen schwanger.84 Damit ›sichert‹ die Medizin eheliche Stabilität, indem sie deren produktives Zentrum auslagert, d.h. entkörperlicht.85 Der öffentliche Diskurs stiftet hingegen den Zusammenhang von Liebe, Sexualität und Fortpflanzung im Zeitalter ihrer Technologisierung. Männlicher Seitensprung und medizinische Behandlung scheinen bezüglich der Erfüllung des Kinderwunsches miteinander zu konkurrieren. Auch wenn Untreue dabei als ethisch vertretbar gehandelt wird, weil sie intentional und ›produktiv‹ ist (unterstellt wird im Gegensatz zu den untreuen Frauen, dass der sexuelle Kontakt rein zweckgebunden sei), so beseitigt die Fortpflanzungsmedizin vor der Hand doch den schalen Beigeschmack eines unerwünschten Dritten.86

82 Ebd. 83 Auch auf dieses Paar wird innerhalb der Medien Bezug genommen. So beispielsweise im Art. »Tun wir Frauen etwas Gutes?«, in: Der Spiegel 17/1992. 84 Vertiefend zu der Figur der Sarah: Atlan, Henri; Botbol-Baum, Mylène: Des embryos et des hommes, Paris 2007:91ff, die die Funktion dieses Vergleichs in der Möglichkeit des »dédramatisé« erkennen. 85 Mit dem Begriff schließe ich mich jedoch keineswegs Barbara Dudens gleichlautender Verwendung in ihrer Replik auf Judith Butler an. In keinem Fall gehe ich davon aus, dass Körper hier keine Rolle spielen – das wäre schon angesichts der »Produktion« von Ei-, aber auch Samenzellen eine unhaltbare Unterstellung. Jedoch geraten hier ausschließlich Körperstoffe in Berührung. 86 Inwiefern Blutsverwandtschaft nach wie vor zentrale ist, das verdeutlicht Lisa Mense in ihrem Text » Neue Formen von Mutterschaft. Verwandtschaft im Kontext der Neu-

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Eine solche Argumentation besagt, Untreue sei nur dann verwerflich, wenn sie um ihrer selbst willen stattfände. Wenn aber ein Seitensprung sich am Eisprung orientiere und der Erzeugung eines Kindes diene, dann wird dies zumindest gebilligt. Die Inanspruchnahme der Technologie bietet aber auch im Bezug auf das Paar neue Deutungsmöglichkeiten. Bereits zu einem Zeitpunkt, der vor meinem Erhebungszeitraum, nämlich 1981, liegt, heißt es etwa im Spiegel: »Damals sei sie Monat für Monat dorthin gegangen, bis sie sich ganz leer fühlte und es auch im Intimleben der Partner Schwierigkeiten gab, weil die Frau bei jeder Berührung durch ihren Mann an die Berührungen durch den Arzt erinnert wurde.«87 Dem Arzt wird hier die Position eines Liebhabers zugeschrieben, mit dem die Frau gemeinsam das Kind zeugt.88 Analog ließe sich der Ehemann in die Rolle dessen bringen, der das Kind ›entkörperlicht‹ herstellt. Wenngleich also das auf diese Weise entstehende Baby ›biologisch‹ dem Ehepaar angehört, korreliert die Erzählung der Frau die Exklusivität der Sexualität mit der Exklusivität der (Er-)Zeugung. Der Betrug besteht fortan im Akt der Fortpflanzung, nicht im Akt der Sexualität.89 Unter der Bedingung der Loslösung von der Sexualität wird die Fortpflanzung also erneut diskursiv sexualisiert, diesmal im Fortpflanzungsparadigma des Seitensprungs. Inwiefern einem solchen Verfahren dann auch konse-

en Reproduktionstechnologien«, in: Lenz, Ilse; Mense, Lisa; Ullrich, Charlotte (Hg.): Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion, 2004:149ff. 87 Art. »Mensch, da ist ein Baby drin«, in: Der Spiegel 25/1981. 88 Ein im Rahmen des Forschungsprojekts »Verwandtschaft als Repräsentation sozialer Ordnung und sozialer Praxis« geführtes Interview belegt, inwiefern der Arzt aber auch umgekehrt nicht als Eindringling, sondern als zusätzliches Familienmitglied begriffen werden kann: »Es existieren Fotos von mir im Krankenhaus nach der Narkose und auch zusammen mit dem Arzt, die werden wir im [Familien-] [Album haben. Es gibt keinen Grund, das zu tabuisieren«, in: Beck, Stefan; Hess, Sabine; Knecht, Michi: Verwandtschaft neu ordnen, in: Verwandtschaft machen, Berliner Blätter 42/2007. 89 Die an die Beteiligung Dritter gebundenen Sorgen finden sich seit der Anwendung entsprechender Verfahren. Als Gegenstrategie schlug etwa Joseph Gérad vor, den Arzt in dem Zeugungsakt als neutrale Person zu betrachten. Es sei zwar problematisch, so der französische Arzt 1888, wenn ein Dritter im Zeugungsakt interveniere; allein, der Mediziner sei in diesem Fall kein »Mensch, sondern ein gleichgültiges Instrument« (pas un homme, mais un intrument indiffèrent). Ders.: Nouvelles causes de dtérilité danls le deux sexes, 1888:408. Zitiert nach: Arni, Caroline: Reproduktion und Genealogie: Zum Diskurs über die biologische Substanz, in: Pethes, Nicolas; Schicktanz, Silke (Hg.): Sexualität als Experiment, 2008:299ff.

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quenterweise etwas Anrüchiges anhaftet, dokumentiert der Wunsch, das Kind möge nicht erfahren, auf welche Weise es zustande gekommen ist: »Ich möchte einfach nicht, daß mein Kind mit dem Stigma, irgendwie unnatürlich zu sein, durch die Welt geht.«90 Hier schließt sich zudem eine Begründung für ein erneutes Festhalten an der ›ursprünglichen Natürlichkeit‹ als soziales und gesamtgesellschaftliches Paradigma an, deren Kehrseite die unnatürliche Unmoral stellt. Denn durch den asexuellen Zeugungsakt mittels Spende besteht die Möglichkeit, dass weitere Menschen am Fortpflanzungsprozess beteiligt sind. Dieses Eindringen seitens der Spenderin/des Spenders spielt jedoch innerhalb der Medien eine weitaus geringere Rolle als die des (in den Beispielen nahezu ausschließlich männlichen) Mediziners.91 Besonders die Konsequenzen dieser Trennung für die Geschlechterbeziehung sind es, die mediales Echo erzeugen. So widmet sich Carl Djerassi, der »Vater der Pille«92, in einem in der Zeit gedruckten Essay mit dem Titel »Der entmachtete Mann«93 möglichen Folgen der asexuellen Zeugung. Darin schreibt er Männern eine »zwar unwesentliche Rolle bei der Fortpflanzung« zu, jedoch bestünde deren »reproduktive Macht« Frauen gegenüber darin, dass sie fortlaufend für Nachkommenschaft sorgen könnten, wohingegen Frauen während einer Schwangerschaft »blockiert« seien. Dieses Verhältnis habe sich durch die (oralen) Kontrazeptiva grundlegend verändert, da nun »die Frauen die Macht [besitzen, J.D.], allein und ohne [sein, J.D.] Wissen die Folgen sexueller Kontakte zu kontrollieren.« Noch entscheidender für das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern sei die reproduktionsmedizinische Offerte, »vormals unfruchtbare Frauen« zu therapieren. Damit verfestige sich eine Trennung zwischen »Sex und Befruchtung«: »Letztere verlagert sich weit weg vom Bett unter das Mikroskop«.

90 Art. »Mensch, da ist eine Baby drin«, in: Der Spiegel 25/1981. 91 Bemerkenswerterweise spielen Samenspender generell nur dann eine Rolle, wenn ihr »Wirkkreis« besonders groß ist, d.h., wenn sie besonders viele Kinder »haben«. Die Motivation, sofern überhaupt nach ihr gefragt wird, ist finanzieller Natur. In den Darstellungen von Eizellenspenderinnen findet sich hingegen konstant der Verweis auf altruistische Gründe, die oftmals mit dem Recht auf Muttersein verbunden werden. 92 Djerassi selbst bezeichnete sich im Titel seiner Autobiographie als »Mutter der Pille« (2001). 93 Art. »Der entmachtete Mann. Die Reproduktionsmedizin macht Frauen unabhängig vom starken Geschlecht«, in: Die Zeit 27/1999. Die folgenden Zitate: ebd.

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(2.6) Der »richtige« Zeitpunkt – Die Entschleunigung der Erzeugung Ist die Liebe erst einmal in den Fortpflanzungsprozess eingespannt, kann sie dann ihre wirkliche (romantische) Kraft entfalten, etwa in der Auseinandersetzung mit der Kryokonservierung94. Symptomatisch für die Liebeskonzeption heißt es dann etwa im Spiegel: »Eingefrorene Eizellen könnten die Lebensplanung von Single- und Karrierefrauen revolutionieren.«95 Anhand der Fallgeschichte zweier Frauen, die ihre Eizellen haben einfrieren lassen, um diese eines Tages mit den Spermien von »Mr. Right« befruchten zu lassen, illustriert sich die Einschreibung neuer zeitlicher Strukturen in den Diskurs.96 Denn nur durch die gewonnene Zeit, erklärt die eine der beiden, erhalte sie die »innere Ruhe, auf die wirkliche Liebe zu warten.«97 Die vorausschauend auf Fortpflanzung bedachten Frauen konservieren ihr biologisches Potential, um nicht aus (biologischer) Zeitnot einer unerwünschten Lösung98 nachzulaufen. So diene das Verfahren nach Einschätzung einer englischen Reproduktionsmedizinerin dazu, »vielen Frauen« ein Angebot zu machen, »denen ohne diese Technik die Chance auf

94 Dabei werden die nach hormoneller Stimulation gewonnenen Eizellen eingefroren. Dies ist rechtlich deshalb möglich, da, solange die Erbinformationen nicht verschmolzen sind, die Eizelle mit dem Spermium noch nicht als Embryo gilt und damit nicht als »werdendes Leben«. Die Eizellen können in späteren Zyklen aufgetaut und nach der Verschmelzung in die Gebärmutter übertragen werden. 95 Art. »Wunschkind aus der Kälte«, in: Der Spiegel 16/2006. 96 Inwiefern auch hier das Internet eine zentrale Vermittlungsposition für den Markt einnimmt, das führt Eva-Maria Knoll anhand der Plattform »Single Mothers by Choice«, http://www.singlemothersbychoice.com [12.12.2009] vor, die als Austausch- und Informationsnetzwerk für freiwillig alleinstehende Mütter dient. Die klassische Kleinfamilie werde hier nicht abgelehnt, so Knoll, sondern sie werde als innerhalb der reproduktionsfähigen Lebensjahre nicht realisierbar beschrieben. Dies.: Fortpflanzungsmedizin ohne Sexualität als gesellschaftliche Irritation: Diskurse über ›JungfrauenGeburten‹, in: Pethes, Nicolas; Schicktanz, Silke (Hg.): Sexualität als Experiment, 2008:333ff. 97 Art. »Wunschkind aus der Kälte«, in: Der Spiegel 16/2006. 98 Als solche gilt sowohl kein Kind zu bekommen, als auch es mit dem ›falschen‹ Mann zu bekommen. Auch hier werden Liebe und Autonomie, die dann gemeinsam Einfluss nehmen auf die Reproduktionsfreiheit, zusammengedacht.

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Mutterschaft verwehrt bliebe.«99 Vorrangig zwei Gründe sind es dabei, die für das dann mögliche Spätgebären verantwortlich gemacht werden: »Für Single- und Karrierefrauen, die auf ihr späteres Mutterglück nicht verzichten möchten, bieten sich damit ganz neue Möglichkeiten. Sie können im Alter zwischen 20 und 30 Jahren Eizellen einfrieren und diese später bei Bedarf wieder auftauen lassen – wenn sie den Wunschvater für ihr Kind gefunden haben oder ihnen der Job mehr Luft für die Familienplanung lässt.«100

Deutsche Ärzte hielten das aber für ein bewusst inszeniertes Spiel mit der Angst, kinderlos zu bleiben. Insbesondere in Hinblick auf die Singles offenbart sich eine an der Zeitachse gemessene Neuorientierung bei der Familienplanung: Das Kind bleibt nach wie vor gemeinsames Projekt zweier sich liebender Menschen, die Entscheidung und die notwendigen Umsetzungsschritte können aber beide Partner unter Umständen Jahre voneinander entfernt realisieren. Nach Djerassi entwickelt sich in diesem Sinn das Kinderkriegen durch die Reproduktionsmedizin vergleichbar mit einem Bankgeschäft: In jungen Jahren zahlt man vorausschauend Embryonen ein (das setzt im Gegensatz zum vorherigen Beispiel voraus, dass sich das Paar bereits gebildet hat und auf sein Fortbestehen in dieser Formation vertraut), und taut sie dann zum ›richtigen‹ Zeitpunkt wieder auf. »Wollen sie ein Kind haben, dann heben sie einfach bei ihrer Bank ab, was sie brauchen.«101 Die Einrichtung eines solchen Kontos führt seiner Meinung nach insofern zur Emanzipation beider Geschlechter, als »Sex [...] nur noch aus Lust und Liebe statt[finde], die Fortpflanzung unterm Mikroskop.« Im kalkulierten Umgang mit den eigenen Anlagen läge deshalb eine Befreiung, da Fortpflanzung vorausschauend und unemotionalisiert geplant werden könne. Mit dieser Form des ›souveränen‹ Handelns können Frauen wie Männer dem biologischen Schicksal vermeintlich trotzen. Doch tatsächlich ereignet sich etwas anderes: Mittels des Begriffs der romantischen Liebe vollzieht sich diskursiv ein biopolitischer Durchgriff auf die autonome Fortpflanzung. Das US-Blatt Newsweek wird vom Spiegel mit der Einschätzung zitiert: »Für Frauen, die sehen, dass sich ihre Fruchtbarkeit dem Verfallsdatum nähert, ist die

99 Art. »Wunschkind aus der Kälte«, in: Der Spiegel 16/2006. 100 Ebd. 101 Art. »Der entmachtete Mann. Die Reproduktionsmedizin macht Frauen unabhängig vom starken Geschlecht«, in: Die Zeit 27/1999.

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Kältekonservierung von Eizellen die größte Errungenschaft seit der Pille.«102 Die Kryotechnik diene auch hier als Mittel für Frauen, ihrer »biologischen Uhr [...] ein Schnippchen zu schlagen.«103 Denn »[g]erade bei älteren Frauen sind bereits so viele Eizellen genetisch geschädigt, dass eine erfolgreiche Schwangerschaft – sei es durch natürliche Zeugung oder per Embryo aus der Retorte – ohne vorgeburtliche Genprüfung unwahrscheinlich«104 sei. Das Alter (der Frau) sei eben »der Fruchtbarkeitskiller Nummer eins«105; und viele Frauen tappten in diese »Fruchtbarkeitsfalle«106, denn »parallel zum Alter der Frau wächst die Zahl der Eizellen mit Chromosomenschäden«107. »Je älter die Frau, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die gezeugten Embryonen Chromosomenschäden aufweisen, die eine Einnistung in die Gebärmutter verhindern oder zum Frühabort führen. Bei einer 40-jährigen ist bereits jeder zweite Embryo geschädigt.«108 Die Gesundheit, um die es hier fraglos geht, bezieht sich also nicht mehr nur auf die Herstellung einer Schwangerschaft, sondern nun richtet sich der sorgende Blick bereits auf das Ungeborene. Keineswegs gilt das technologische Angebot aber innerhalb der Medien als Freifahrtsschein, sich dem Kinderkriegen langfristig zu entziehen. Der Gynäkologe Klaus Diedrich wirft Frauen beispielsweise vor, das falsche Alter fürs erste Kind zu wählen. Schließlich sei es auch für die IVF ab einem bestimmten Alter (das allerdings nicht genannt wird) zu spät. Dieses Problem treffe in erster Linie Akademikerinnen, deren Karrierestreben sie erst im gestiegenen Alter mit der Kinderfrage konfrontiere. Auf diese Weise werde die Unfruchtbarkeitsbehandlung zu einer »medizinische[n] Lösung für [ein, J.D.] soziales Dilemma.«109 Ein soziales Dilemma, das nach Ansicht von Mitarbeitern des Fertility-Centers Hamburg aus »eine[m] Egoismus der potentiellen Mütter«110 resultiere. Dies liest sich gleichsam als Aufforderung, dem selbstverschuldeten ›sozialen‹ Dilemma entgegenzutreten: Mit Selbsttechnologien.

102 Art. »Wunschkind aus der Kälte«, in: Der Spiegel 16/2006. 103 Ebd. 104 Art. »Schwanger um jeden Preis«, in: Die Zeit 29/2002. 105 Art. »Mutterglück im Rentenalter«, in: Die Zeit 5/2003. 106 Ebd. 107 Ebd. 108 Art. »Babytest im Labor«, in: Die Zeit 31/2001. 109 Art. »Babys auf Rezept«, in: Der Spiegel 4/2002. 110 Art. »Nachwuchs in der Warteschleife«, in: Der Spiegel 29/2001.

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Die medialen Erklärungsversuche für diese allgemein als unerwünscht gebrandmarkte Situation sind jedoch noch vielfältiger. So findet der Genetiker Mark Hughes die Erklärung dafür, dass Frauen heute im Vergleich zu vergangenen Jahrzehnten später gebären, wesentlich allgemeiner in den Folgen der Zivilisation. Als Lösung für einen solchen Trend könne aber seines Erachtens die Medizin durchaus dienen.111 Die IVF gilt aber nicht allgemein als Optimierung. Sie ermöglicht vielmehr überhaupt, dem Kinderwunsch – und damit der Liebe des Paares – Ausdruck zu verleihen.112 (2.7) Kinder als Zeichen der Anerkennung Die strategische Einbindung der Liebe in den Reproduktionsdiskurs stellt eine diskursive Bedingung für einen Anspruch auf ein Kind dar. Sie legitimiert als notwendige Beziehung das gemeinsame Projekt. Inwiefern sie aber isoliert betrachtet nur eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung ist, wird offensichtlich, wenn es um die Erweiterung der Kreise des heterosexuellen, verheirateten Paares geht. Insbesondere im Bezug auf homosexuelle Menschen offenbart sich ein Konflikt zwischen strukturellem Ausschluss und medizinischem Einschluss. Nichtsdestotrotz gelangt durch eine entsprechende Auseinandersetzung die vermeintlich gebannte Sexualität zurück in den Diskurs. Immer wieder wird die Reproduktionsmedizin so als Möglichkeit gehandelt, auch homosexuellen Paaren den Kinderwunsch zu erfüllen.113 Dennoch haben in den meisten europäischen Ländern homosexuelle Menschen keinen gesetzlichen

111 Art. »Wunderbare Kräfte«, in: Die Zeit 39/2000. 112 Damit verbunden ist notwendig eine Umdeutung von Mutterschaft. Wie sich dies medial vollziehen kann, das deutet sich in dem Spiegel-Titel: »Der neue Mutterstolz. Kinder statt Karriere« an. Dazu gehört der Beitrag »Immer mehr Frauen entdecken die Mutterrolle«, in: Der Spiegel 29/2001. 113 Bettina Bock von Wülfingen zeigt anhand des Romans Batu, dass noch in den 1980er Jahren die Parthogenese die einzige mögliche Fortpflanzungsform für lesbische Frauen war. Dies.: Homogene Zeugung – Beschreibung eines Paradigmenwechsels in der Repromedizin., in: Dölling, Irene (Hg.): Transformation von Wissen, Mensch und Geschlecht, 2006. Der Argumentation, die Bock von Wülfingen an dieser Stelle aufmacht, indem sie die erste Variante als Widerstandsform klassifiziert, folge ich in Bezug auf das von mir untersuchte Material nicht.

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Anspruch auf eine entsprechende Behandlung.114 Nicht nur der technische Fortschritt, auch die jüngeren gesellschaftlichen Entwicklungen erhöhen aber den Druck auf den Gesetzgeber, Arbeiten zu einem Gesetz voranzutreiben, die die Möglichkeit der künstlichen Befruchtung auch für homosexuelle Paare in ihre Überlegungen mit einschließen. Der bisherigen sowohl politischen als auch rechtlichen Zurückhaltung steht ein stetig wachsendes mediales Interesse gegenüber. So berichtete etwa die Zeit im Jahr 2001 von dem Mediziner Jan Tesarik, der mit einem Kollegen die ersten menschlichen Embryonen aus normalen Körperzellen geschaffen habe, indem sie das Erbgut einer Körperzelle in eine fremde Eizelle spritzten. Dieses Verfahren eigne sich ebenfalls auch dazu, so der Mediziner in der Wochenzeitung, Frauen unabhängig von deren Alter ein genetisches Kind ebenso anbieten zu können, wie »zwei homosexuelle[n] Männern«.115 Als Konsequenz solcher Fortpflanzungsszenarien fordert Jens Reich im Spiegel unter dem Titel »Erotik in der Cyberwelt«116 die Auflösung der zweigeschlechtlichen Reproduktion; unter der Voraussetzung, dass diese dann in-vitro stattfindet. »Kinder jedes gewünschten Geschlechts werden sich aus jeder Kombination von Partnern herstellen lassen, lediglich ein Lesbenpaar wird Schwierigkeiten bekommen, wenn es sich (was nicht sehr häufig vorkommen wird) auf einen Jungen als Nachkommen kapriziert hat. Die beiden Partnerinnen müssten sich irgendwo das fehlende Y-Chromosom besorgen.«117 Einer Erweiterung der biologischen Kombinationsmöglichkeiten steht, wie gesagt, eine Engführung der Produktion sowohl auf einer gesellschaftlichen, als auch auf einer rechtlichen Ebene gegenüber. Eine solche Beschränkung neuer Konzepte lässt sich als Verweigerung von symbolischer Anerkennung durch den Staat lesen, denn dieser verfügt etwa mittels des Sozialgesetzbuchs über normalisierende Kräfte. Er kann bestimmte Beziehungen legitimieren und andere delegitimieren. Die so ausgeübte hegemoniale Kontrolle über Anerkennung ist monopolisiert und erfolgt u.a. durch das Gesetz und seine Ausführungsbestimmungen. So bildet Recht eine Form, die soziale Anerkennung präformieren kann. Das ist vor allem deshalb der Fall, weil es Impulse für gesellschaftliche Deutungskämpfe stiftet. Der Ehestand ist hierfür ein gutes Beispiel. So unken Kritiker aus dem konservativen Lager nach Angaben des Spiegels etwa, »nach der

114 Das gilt in gewissem Maße auch für das Recht auf Adoption. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass es keine homosexuelle Elternschaft gibt. 115 Art. »Eine Haarbreite bis zum Klon«, in: Die Zeit 26/2001. 116 Art. »Zwei Männer und ein Baby«, in Der Spiegel 4/2007. 117 Ebd.

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Legalisierung der Schwulenehe könne der Staat auch gleich die Mehrehe erlauben oder die Ehe zwischen Mensch und Tier«118. Eine mit solchen Feststellungen einhergehende Kodifizierung des legitimen Bereichs führt zum Problem des Ausschlusses der Homosexuellen aus dem Gegenstandsbereich der Fortpflanzungspolitik.119 Anerkennung findet also nicht nur in zwischenmenschlichen Beziehungen statt, sondern auch auf einer gesellschaftlichen und einer staatlichen Ebene, indem nur bestimmte Beziehungen rechtlich anerkannt werden. Jenseits der Motive (Liebe) bildet die Anerkennung durch den Staat ein zentrales Moment im Prozess des Kinderkriegens. Eine soziale Anerkennung, die, primär als Recht gedacht, der Liebe zur Seite gestellt und mit ihr verknüpft wird, verweist darauf, dass die Betroffenen, um autonom handeln zu können, darauf angewiesen sind, sich einer rechtlichen Prozedur zu unterwerfen. Indem sie nach Anerkennung streben, gehen sie zwangsläufig auf die vorgegebenen Bedingungen und Spielregeln ein. In der Unterwerfung unter diesen Diskurs werden Betroffene daher unter Umständen pathologisiert und reguliert, um Handlungsmacht zu erlangen.120 Spürbar tut sich so ein Widerspruch zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Autonomie der Fortpflanzung und biopolitischer Unterwerfung auf. Die mediale Auseinandersetzung mit dem Recht homosexueller Paare auf ein Kind findet in erster Linie vor dem Hintergrund der Frage nach der Qualität von deren Elternschaft statt. Das heißt, hier wird vorrangig verhandelt, ob die Erziehung durch zwei Frauen oder durch zwei Männer der Entwicklung des Kindes schadet. Das führt zu der Frage, was Elternschaft ausmacht. »[D]ie Biologie oder das alltägliche Kümmern ums Kind?«121 Wissenschaftler erkennen nach Ansicht des Spiegels keine Hinweise darauf, dass das Leben bei »Homoeltern« schlecht

118 Ebd. 119 Im Zweifelsfall produziert nach Butler die Entscheidung zwischen legitim und illegitim im Bezug auf die Homo-Ehe erneut einen Ausschluss. Die Institution der Ehe, wie der Familie, ist von den Strukturen der Heterosexualität durchdrungen. Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen, 2009:105ff. 120 In der deutschen feministischen Debatte sei ein moralisierender bioethischer Diskurs vorherrschend, so Sabine Hess, der die Autonomiemöglichkeiten verkenne. Dies.: Flexible reproduktive Biografieforschung, in: Verwandtschaft machen, Berliner Blätter 42/2007. 121 Art. »Zwei Männer und ein Baby«, in: Der Spiegel 4/2007. Die aus der Trennung von sozialer und biologischer Elternschaft bekannte Frage gewinnt hier vordergründig ein neues Gewand.

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für die Kinder sei. Das sei auch deshalb so, da – hier lässt sich der Diskursstrang des Liebeskindes entdecken – »Schwule und Lesben sich sehr bewusst für die Elternschaft entscheiden und große psychische wie finanzielle Belastungen [sic!] auf sich nehmen, um Kinder in ihr Leben zu holen« und »sich häufig sogar für die besseren Eltern«122 halten. Wohlgemerkt: Sie sind es nicht, sie halten sich für die besseren Eltern. Eine solche Nuance lässt an der Wahrhaftigkeit des Parentalitätsprojekts Zweifel erkennen. Ein Unbehagen, das sich aber nicht auf den Umstand bezieht, dass vermehrt auch homosexuelle Menschen Kinder zu ihrer Selbstverwirklichung zählen. Auch »[h]omosexuelle Paare wünschen sich immer häufiger ein Kind. Aber der Wunsch ist schwer zu erfüllen: Wie kommen Lesben zu einem Samenspender? Und Schwule zu einer Mutter? Noch dazu, wenn die Gesetze sie benachteiligen und sie sich selber fragen, ob ihre Kinder mit den neuen Lebensentwürfen zurechtkommen.«123 Die strukturelle Benachteiligung artikuliert einen Zweifel an der Realisierbarkeit, die Sorge um das Kind einen anderen. Beide Zweifel und ihre Gründe zusammengenommen verbinden die individuelle Ebene und die biopolitische Ebene. Es ist also das Interesse des Kindes, der gesellschaftliche Auftrag, sich unabhängig von der eigenen Familie um kommende Generationen zu sorgen, der fragen lässt: »Sind Schwule und Lesben als Eltern so gut wie Heteros? Mindestens.«124 Oder: »Schwuler Papa, guter Papa. Homosexuelle Männer und Frauen sind vorbildliche Eltern. Heteros können von ihnen lernen.«125 Beide Titel inszenieren eine Konkurrenzsituation zwischen unterschiedlichen Formen der Elternschaft; in beiden Fällen gehen die homosexuellen Eltern als ›Gewinner‹ aus die-

122 Ebd. 123 Art. »Wenn die Eltern schwul sind«, in: Die Zeit 2/2004. Dass eine solche Frage immer wieder gestellt wird, stiftet einen Zusammenhang 1. zur Notwendigkeit eines weiblichen und eines männlichen Elternteils. 2. impliziert sie die Gefahr, die in einer Elternschaft zweier Gleichgeschlechtlicher liegen könnte. Dass viele Kinder von Alleinerziehenden – und damit auch: eingeschlechtlich – aufgezogen werden, gilt hier nicht als Gegenargument. Stattdessen schwingt die Sorge mit, ein so aufwachsendes Kind teile durch die Sexualität seiner Bezugspersonen deren Begehren und wäre (aufgrund dessen) gesellschaftlich weniger erwünscht. Hierzu: Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen, 2009. 124 Art. »Papa ist der beste Freund«, in Die Zeit 52/2001. 125 Art. »Schwuler Papa, guter Papa«, in: Die Zeit 32/2000.

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sem Wettkampf hervor.126 Erklärungen, die diesen Sieg rechtfertigen, lauten dann wie folgt: »Soll noch einer sagen, Lesben würden ihre Söhne nicht zu richtigen Kerlen erziehen.«127 Die sich hier artikulierende Sorge macht die Befürchtung kenntlich, die von homosexuellen Eltern groß gezogenen Kinder würden sich nicht in das gesellschaftlich vorgesehene Rollenmodel fügen; Jungen würden stattdessen verweichlicht, Mädchen verhärmt. Mit einer solchen Beruhigung durch die Recodierung geschlechtlicher Kategorien vollziehen sich die Normalisierung und die Aufnahme homosexueller Paare in einen größeren Diskurs: Eine homosexuelle Elternschaft ist dann legitim, wenn sie sich an konventionellen Rollenbildern orientiert und somit garantiert, die gesellschaftliche Ordnung nicht zu gefährden. Die in den Medien zu Wort kommenden Männer und Frauen bezeichnen ihre Lebensform dann als ›Familie‹, wobei sie diesen Begriff bewusst absetzen von anderen Familienkonzepten. Das wird deutlich, wenn berichtet wird, wie der Bostoner Zoo einen Besuchstag für nicht-heterosexuelle Familien einrichtete. Im Gegensatz zu Deutschland sei die Familiengründung Homosexueller durch Elternschaft ein weitverbreitetes und praktizierbares Verfahren in den USA, wozu das ganze »Spektrum der Nachwuchsbeschaffung in Anspruch« genommen wird: »künstliche Befruchtung, Adoption, Leihmütter, Pflegschaften oder gelegentlich sogar Sex mit einem Partner des anderen Geschlechts«. Unter dem »Gaybyboom« sieht der Spiegel »eine stille gesellschaftliche Revolution«. Die Vorhersage, die (Anerkennungs-)Verhältnisse könnten sich grundlegend verändern, wird von dem Versprechen auf die Aufnahme in einen bürgerlichen Diskurs abgefedert. Prominente hätten dafür gesorgt, dass auch »Nicht-Heteros ein ganz biederes

126 In denen von mir untersuchten Medienbeiträgen wird zwar die Frage, ob homosexuelle Elternschaft (rechtlich) zulässig sein sollte, mit Bezug auf das Kind diskutiert. Das führt aber vorderhand allgemein zu einer positiven Bewertung. Bezieht man andere Quellen mit ein, dann bröckelt ein solches Bild jedoch. So argumentiert Gerhard Armand in seinem Beitrag »Kultur, Kindeswohl und homosexuelle Fortpflanzung«, in: Leviathan (30. Jahrgang, 2002) entschieden konservativ. Das Kindeswohl vor Augen, kommt er zu dem Schluss: »Es muss einen daraus

entspringenden

normativen

Imperativ

geben,

der

homosexuelle

Fortpflanzung aus Interesse am Wohl der Kinder und der Kultur ablehnt und die technische Phantasie homosexueller Fortpflanzung als aggressive Parodie kritisiert und bändigt«, http://www.igg.uni-bremen.de/texte/Homo_Reprod.pdf [02.10.2009]. 127 Art. »Zwei Männer und ein Baby«, in Der Spiegel 4/2007. Die folgenden Zitate: ebd.

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Familienleben mit Pampers, Penatencreme und Plantschbecken führen können und wollen.« Deutlicher kann die Überführung anderer Lebensformen in den Raum des Bürgerlichen kaum ausgewiesen werden. Oder: »Es gibt wohl nichts, was Homosexuelle in den Augen von Heterosexuellen stärker ›normalisiert‹ als die Elternschaft.« Ändert sich mit einem solchen Diskursstrang nicht auch zwangsläufig die Vorstellung davon, was bürgerlich ist? Der Familienwunsch homosexueller Paare wird als etwas vermarktet, das erst durch die Reproduktionstechnologien möglich und realisierbar geworden sei. Um dieses Angebot entsprechend würdigen zu können, müssen homosexuelle Menschen nicht nur als eine gemeinsame Gruppe in Erscheinung treten, sie müssen vielmehr zunächst als Gegenkultur inszeniert werden, die sich dann durch die Familiengründung in die ›Mehrheitsgesellschaft‹ überführen lässt; eine bemerkenswerte Normalisierungsstrategie von Lebensverhältnissen im biopolitischen Wahrheitsspiel. »In den Vereinigten Staaten gibt es einen Kinderboom bei homosexuellen Paaren. Der Run auf eine eigene Familie begann Ende der achtziger Jahre nach dem Schock der AidsEpidemie. Kritik kommt nicht nur von Konservativen, viele Schwule fürchten um ihre Subkultur.«128

Gerade der Aids-Aspekt ist hier bemerkenswert, denn den Trend, die »HomoEhe« anzunehmen, interpretiert Butler etwa als Antwort auf Aids und auf den Promiskuitätsvorwurf.129 Einen Zusammenhang zum Kinderwunsch stellt auch die Psychologin Suzanne Johnson her, indem sie feststellt, dass mit der Möglichkeit, Kinder zu kriegen, keine Reduktion der homosexuellen Lebensform auf Sexualität mehr erfolge, sondern Homosexuelle nun als »vollständige Wesen«130 betrachtet werden. Die 1980er Jahre, seit denen verstärkt Kinder in homosexuellen Beziehungen geboren werden, fallen dabei nicht zufällig in die Zeit des »großen Aids-Sterbens«, denn dieses habe dafür gesorgt, dass auch der »durchschnittliche Amerikaner« »gezwungen« worden sei, Homosexuelle wahrzunehmen. »Damals entwickelte sich zum ersten Mal Empathie und Respekt für den Gemeinschaftsgeist der Schwulen und Lesben, die engagiert die Aids-Kranken pflegten und den politischen Kampf für Aufklärung und Heilung ausfochten.« Die durch die Aids-Toten entstandene Leere sollte gefüllt werden. Statt dem He-

128 Art. »Zwei Männer und ein Baby«, in: Der Spiegel 4/2007. 129 Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen, 2009:188. 130 Art. »Zwei Männer und ein Baby«, in: Der Spiegel 4/2007.

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donismus zu frönen, trugen sie fortan Verantwortung für Kinder. Damit geht eine Doppelstrategie einher: Zum einen verändert sich die Außenwahrnehmung der Homosexuellen, indem sie zum anderen bevölkerungspolitische Ziele erfüllen und für ›eigene‹ Nachkommen sorgen. Paradigmatisch tauchen hier wieder der homo ludens und der homo faber auf.

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Sowohl die Entscheidung für als auch die gegen ein Kind sind elementarer Bestandteil eines Rechts auf Selbstbestimmung. Sie sind Ausdruck eines Rechts auf die Verfügung über den eigenen Körper, das innerhalb des Diskurses als Recht auf Privatheit gehandelt wird. Als ein solches findet es jedoch in Deutschland keine explizite Gesetzeskraft.131 Inwiefern aber auch ohne spezifische rechtliche Fixierung ein solches Recht auf Privatheit die deutschen Medienbeiträge Eingang findet, macht die Auseinandersetzung mit dem Schwangerschaftsabbruch besonders transparent. Das Recht auf ein Kind, das habe ich bereits angedeutet, entfaltet seine Wirkkraft nur dann, wenn es flankiert ist von dem Recht gegen ein Kind. Im Kontext der Reproduktionsmedizin ist es besonders die Entscheidung gegen ein bestimmtes Kind, die ins Gewicht fällt. Mit den steigenden Möglichkeiten, eine Schwangerschaft herzustellen, wachsen gleichzeitig auch die Begründungszusammenhänge, eine solche zu beenden. Angesichts von genetischer Diagnostik sei es für Frauen schwieriger, die »Position der früheren Frauenrechtsbewegung – ›Mein Bauch gehört mir‹«132 – zu vertreten, stellt Regine Kollek im Spiegel fest.

131 Das Schutzgut des zivilrechtlichen Lebens auf Privatheit wird in der Rechtsprechung und Literatur nur sehr unscharf beschrieben. Hierzu: Amelung, Ulrich: Der Schutz auf Privatheit im Zivilrecht, 2002:159f. Was eine solche (rechtliche) Verbindung bedeuten kann, das mag hingegen die US-amerikanischen Verfassung offenlegen, in der sich ein solches implizit findet. Das hier formulierte Recht ist stark genug, einen Abort in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft zuzulassen. Unabhängig von der familiären Situation wird diese Entscheidung mit dem Verweis auf das Recht auf reproduktive Autonomie gewährt. Damit ist das Recht auf Privatheit ein Recht, das auch die reproduktive Freiheit einschließt und gewährleistet. Rössler, Beate: Der Wert des Privaten, 2001:173. 132 Art. »Leben ist ein Geschenk ohne Rückgaberecht«, in: Der Spiegel 48/2000.

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Bevor ich mich denjenigen Gerichtsprozessen zuwende, die – von Spiegel und Zeit abgebildet – Verhandlungen von Medizinerinnen und Medizinern und Eltern zum Gegenstand haben, trete ich einen Schritt zurück und bleibe einen Augenblick bei dem Recht, die Entscheidung gegen ein Kind zu fällen. Ein solches Verharren ist – auch wenn es weniger den medizinischen Konsequenzen geschuldet ist – dahingehend aufschlussreich, dass subkutan nicht nur die Frage nach der Legitimität des Schwangerschaftsabbruchs Ausdruck findet. Vergleicht man etwa die öffentliche Aushandlung angesichts des Schwangerschaftsabbruchs in den 1970er Jahren mit den Debatten von heute, dann fällt auf, dass im Gegensatz zu den 1970er Jahren nicht mehr allein Frauen als »Betroffene« wahrgenommen werden, sondern auch die anderen Akteure, wobei in diesem diskursiven Zusammenhang das Augenmerk auf die betroffenen Partner – die Männer – gelegt werden soll.133 Zum anderen wird offenbar, dass ein Diskurs von einem politischen in einen psychologischen Kontext überführt wurde. Einen ersten Hinweis auf eine Verschiebung gibt Kollek mit der Parole »Mein Bauch gehört mir«, mit dem seit den 1970er Jahren Frauen die Entscheidungsfreiheit im Bezug auf das von ihnen erwartete Kind erstritten hatten. Die Grundbedingungen hierfür zu schaffen fußte auf einer weiteren Forderung: »Das Private ist politisch«. Wie die Forderung nach einer solchen Transformation vom Privaten ins Öffentliche praktisch umgesetzt werden konnte, zeigt eine Medienaktion des Jahres 1971. In Frankreich veröffentlichte LNO134 im Frühjahr dieses Jahres ein Manifest, in dem sich 343 Frauen unter Beteiligung von viel Prominenz des Schwangerschaftsabbruchs bezichtigten. Diesem Beispiel folgend erklärten im Juni 1971 im Stern135 374 Frauen (wiederum unter Beteiligung vieler prominenter Frauen), sie hätten ihre Schwangerschaften abgebrochen. Im Frühling/Sommer 1971 wurde so eine breite Öffentlichkeit in den Diskussionsprozess involviert. Der Funke zwischen einem elitären Diskurs und den (potentiell) Betroffenen war ganz of-

133 Konstanze Plett stellte zwar bereits 1971 fest »und sogar Männer, die dem Klischee zufolge sich einer unerwünschten Schwangerschaft durch Nennung einer Adresse und Hinblättern einiger Geldscheine zu entledigen pflegten, stehen wenigstens dazu und bezichtigen sich »Ich habe eine Abtreibung veranlasst«. Dies.: »Erlaubnis – kein Verbot«, in: Giessener Anzeiger, 16.6.1971. Nichtsdestotrotz lassen sich anhand der heutigen Debatten signifikante Unterschiede ausmachen. 134 Art. »Le Manifeste des 343. Avortement. Notre ventre nous appartient«, in: LNO, No. 334 [05.-11.04.1971]. 135 Art. »Wir haben abgetrieben«, in: Der Stern, 06.06.1971.

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fensichtlich übergesprungen. Eine Welle von Solidaritätsbekundungen und Gegendemonstrationen fand statt, an der Hunderttausende teilnahmen und die zu einem der wichtigsten innenpolitischen Konflikte dieser Jahre zählte.136 Im Jahr 2009 zitierte die Zeit die Aktion der damaligen Aktivistinnen und verwies auf dem Deckblatt mit einer halbseitigen Photomontage auf einen Beitrag im Magazin, der den Titel trägt »Wir haben abgetrieben«. Nach über 30 Jahren war es an den Männern von Frauen, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hatten, ihre Betrauerungswürdigkeit öffentlich zur Schau zu stellen. So heißt es auf dem Cover: »Bis heute haben die Männer geschwiegen. Jetzt offenbaren einige, welche Rolle sie bei der Entscheidung spielten. Mehr als von Freiheit reden sie über Seelenqualen.«137 Mantel und Magazin zeigen beide Photos: Auf ersterem sieht man acht Männer, die mehr oder weniger sichtbar sind und deren Namen am unteren Bildrand erscheinen. Auch sie treten also aus der Anonymität heraus. Das Magazin eröffnet indes mit den Stern-Bildern aus den 1970er Jahren. Die Überschriften beider Bilder lauten identisch »Wir haben abgetrieben!« Während in dieser Form der Inszenierung die Männer durchaus den Platz für sich beanspruchen, die Abtreibung gleichsam mit »begangen« zu haben, blättert man das Magazin auf und stößt abermals auf Männerbilder. Dieses Mal versehen mit der Überschrift »Wir auch.« Bezeichnend für den Tenor dieser als Lebensbeichten inszenierten Statements liest sich die Ergänzung »Vor 38 Jahren sprachen Frauen erstmals öffentlich über ihre Abtreibung. Bis heute haben Männer zu diesem Thema geschwiegen. Wie leben sie mit der Entscheidung?« Verblüffend einmütig geben die betroffenen Männer hier preis, dass es die damaligen Partnerinnen waren, die die Entscheidung gegen ein Kind trafen, womit sie die Beziehung belastet hätten, so dass sich die meisten der Männer von ihnen trennten.138 Denn insbesondere rückblickend erscheint die Entscheidung für oder gegen ein Kind als Interessenskonflikt der beiden Partner, wobei die Männer sich der Entscheidungsgewalt der Frauen nicht entziehen konnten. So erklärt einer der Befragten: »Ich freute mich, aber sie wollte das Kind nicht haben.« Ein anderer: »Sie hat zweimal ohne mein Wissen abgetrieben. Ich war

136 Gindulis, Edith: Der Konflikt um die Abtreibung, 2003:101. 137 Art. »Wir haben abgetrieben!«, in: Die Zeit 8/2009. Die folgenden Zitate: ebd. 138 So heißt es etwa von einem heute als Schwangerschaftskonfliktberater tätigen Psychologen: »Meine Erlebnisse sind schon 40 Jahre her, aber die Gefühle, die sie auslösen, blieben präsent bis heute – Wut, Schuld und Ohnmacht. Zweimal wurde meine Frau schwanger von mir, zweimal hat sie die Entscheidung ohne mich getroffen.« Art. »Wir haben abgetrieben!«, in: Die Zeit 8/2009.

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fassungslos, enttäuscht, traumatisiert – und bin es heute noch.« Der Abbruch führt bei den Männern mehrheitlich zu psychischen Konsequenzen: »Nach der Abtreibung brach ich innerlich zusammen, ich hatte Heulkrämpfe.« Andere benennen weniger anklagend ihre Verantwortung und ihre dadurch entstehende Trauer. Dem Slogan »Mein Bauch gehört mir«139 halten diese Statements ein »Uns auch« entgegen. Anhand einer solchen Aussagemöglichkeit lässt sich meines Erachtens zeigen, dass eine therapeutische Sprache nicht nur allgemeines Gut ist, von dem etwa problemlos im medialen Kontext Gebrauch gemacht werden kann, sondern dass sie mit ihren eigenen Sprachregeln hier folgenreich auf einen anderen Diskurs stößt. Hier erscheint insbesondere Foucaults Blick auf den therapeutischen Diskurs deshalb aufschlussreich, weil er das als Selbstbefreiung gefeierte Projekt als Form von Disziplin und Unterwerfung vorführt. In seiner Lesart setzt die Entdeckung der Sexualität eine alte Tradition fort, in der Subjekte über den Weg der Beichte dazu gebracht werden, die Wahrheit über sich selbst auszusprechen. Es geht also darum, die Wahrheit über sich selbst zu finden. Diesem Projekt dienen etwa Psychoanalyse und Psychotherapie, deren Diskurs Eva Illouz als »politische Technologie des Selbst«140 beschreibt. Anknüpfend an Foucault geht sie davon aus, dass die Therapie dazu dient, bruchlos zugunsten und innerhalb eines Machtssystems zu funktionieren.141 Eine solche Selbstdarstellung, wie sie sich in dem Zeit-Beitrag dokumentiert, macht die Institutionalisierung einer therapeutischen Perspektive offensichtlich. Nicht nur überlappen sich Kultur und Wissen augenscheinlich. Das, was die Männer hier tun, ist nicht mehr und nicht weniger als eine »Inszenierung des Selbst« nach bestimmten erlernten Regeln, mit denen sie nun (endlich) ihre Geschichte erzählen (können). »Der therapeutische Diskurs bietet starke Argumente für die These, dass Sprache zentral für die Verfasstheit des Selbst ist, insofern es sich bei ihr um ein dynamisches Mittel handelt, um Gefühle zu erfahren und auszudrücken. Die Sprache definiert Gefühlskategorien, legt fest, was als »emotionales« Problem gilt, stellt die kausalen Bezugnahmen und Meta-

139 In Frankreich wird der Slogan nicht nur auf den Bauch, sondern auf den ganzen Körper bezogen (Notre corps nous appartient!). 140 Illouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele, 2009:13. 141 Illouz geht es (im Gegensatz zu Foucault) um die kritischen Fähigkeiten der Akteure.

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phern zur Verfügung, um diese Probleme zu verstehen, und beschränkt die Möglichkeiten, wie Gefühle ausgedrückt, verstanden und gehandelt werden können.«142

Therapeutische Diskurse bilden somit einen »Slang unserer Kultur«143. In der Kombination verschiedener Formen, in denen sich eine Kultur mit bestimmten Gefühlen beschäftigt und spezifische (sprachliche, wissenschaftliche, rituelle) Techniken entwickelt, um sie zu begreifen, wird ein solcher Stil begründet, und zwar genau dann, wenn eine neue Form von Zwischenmenschlichkeit entwickelt wird.144 Übertragen auf die beiden Kampagnen lässt sich schlussfolgern: Von Frauen wird verlangt, autonom zu sein, von Männern: emotional reflexiv und gesprächig. Die emotionale Sprache der Männer ist dabei eine kulturelle Ressource. Die mit dem Zeit-Beitrag zitierte Aktion wird ins Absurde gewendet. Das Bekenntnis der Frauen 1971 richtete sich gegen den Paragrafen 218 StGB mit dem Ziel, mit dieser Form der Selbstanklage den Schwangerschaftsabbruch dahingehend zum Politikum zu machen, dass sich die gesetzliche Regelung verändert. Die aktuelle Aktion indes dient vielmehr dazu, die zwischengeschlechtliche Konfrontationslinie zu markieren und damit dem Geschlechterkampf eine neue Facette hinzuzufügen. Nun sind es die Männer, die ihr Recht auf Mitbestimmung einklagen: »Seitdem denke ich, Männer sollten auch von Rechts wegen mitreden dürfen bei der Entscheidung.«145 Das klingt nicht anders, als wirke hier eine pronatalistische Biopolitik über die Artikulation von Rechtsansprüchen, die aus einem Trauma herrührt. Die hiermit angesprochene Verbindung zwischen Empörung, gegen ethische Grundsätze zu verstoßen, und der (potentiellen) Möglichkeit rechtlicher Intervention verdeutlicht, warum Luc Boltanski der Auseinandersetzung mit dem Schwangerschaftsabbruch die Grundbedingung zuschreibt, einen »radikalen Richtungswechsel« einzuleiten. Denn dieser impliziere die Notwendigkeit, moralische Argumente zu entwickeln, die imstande seien, eine Schnittstelle zu schaffen zwischen den juristischen Praktiken und den Prinzipien, die der gewöhnlichen Moral zugrunde liegen. Dabei lässt er jedoch die Abhängigkeit des Rechts von der Moral insofern nicht außer acht, als das Recht auch dafür Sorge

142 Illouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele, 2009:24. 143 Trilling, Lionel: Freud and the Crisis, (1955), zitiert nach Illouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele, 2009:24. 144 Illouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele, 2009:32. 145 Art. »Wir haben abgetrieben!«, in: Die Zeit 8/2009.

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zu tragen hätte, dass es im Verhältnis zu den moralischen Urteilen steht. Andernfalls liefe es Gefahr, seine Kraft einzubüßen.146 In ihrem auf den Zeit-Beitrag Bezug nehmenden Artikel postuliert Alice Schwarzer, es sei gut, dass die Männer nun ihr Schweigen brächen. Sie täten dies jedoch in einem ihnen dies ermöglichenden Klima. Die Frauen aber, mit denen sie über ihre Schwangerschaftsabbrüche gesprochen habe, seien »[e]rschütternd allein«147 gewesen mit der Situation. »Wer sollte das Recht haben, diesen Frauen das Austragen einer weiteren, ungewollten Schwangerschaft vorzuschreiben?! Und was wäre das für eine Beziehung, in der ein Mann eine Frau zum Austragen zwingt?!«148 Der Zwang der Mutterschaft sei vielmehr unvereinbar mit der Menschenwürde und der Selbstbestimmung. Damit ruft Schwarzer zwei Argumente auf, die jeweils auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Bereits im zweiten Szenario habe ich mich mit dem Verweis auf die Menschenwürde auseinandergesetzt. An dieser Stelle geht es jedoch nicht darum, zu fragen, ob Frauen Menschenwürde generell zukommt, sondern stattdessen zu markieren, dass der durch Männer verübte Zwang als Werkzeug zu werten sei, diese Würde zumindest zu verletzen. Eben weil der Menschenwürde ein so verbindlicher Charakter zugesprochen wird, kann jeder Angriff gegen sie demzufolge nur illegitim sein. Die Selbstbestimmung verweist hingegen auf eine physische und psychische Integrität. Die Bemühungen, den Paragrafen 218 StGB zu reformieren, seien getragen, so Schwarzer weiter, von »Leuten, die ihren persönlichen Glauben zum Gesetz machen wollen.« Dies hält sie aber auch deshalb für nicht durchsetzbar, weil »Deutschland [noch, J.D.] kein Gottesstaat, sondern ein Rechtsstaat« sei. Das Recht indes und die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft sei »Privatsache und kein Fall für das Strafrecht«.

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Wie gesagt: Der Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen ist die eine Seite. Ihn in den Blick zu nehmen kann auch deshalb hilfreich sein, weil die Grenzen zwischen individuellem und medizinischem

146 Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung, 2007:288. 147 Art. »Niemals Zwang«, in: Die Zeit 12/2009. 148 Ebd.

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Befund fließend sind. Das zeigt nicht zuletzt die Regelung des Paragrafen 218 StGB. Die Option, eine Behinderung bereits pränatal zu erkennen und somit die Entscheidung zu haben, dieses Kind nicht zu bekommen, bringt darüber hinaus ein weiteres Recht ins Spiel: Das Recht auf ein gesundes Kind. Als ein solches findet es keinen expliziten Ausdruck im Gesetz. Allerdings provoziert der Einsatz der PND seit den 1970er Jahren Klagen von Eltern, die aufgrund einer vermeintlich übersehenen Behinderung ihres Kindes Prozesse gegen die behandelnden Ärzte und Ärztinnen anstreben. Bereits 1979 hatte der BGH der Klage von Eltern eines Kindes mit Down-Syndrom auf Erstattung der Unterhaltskosten und den Ersatz des immateriellen Schadens stattgegeben. Die betreffende Frau war hinsichtlich ihres erhöhten Alters von 39 Jahren von dem behandelnden Arzt auch auf Nachfrage nicht über diesbezügliche Risiken aufgeklärt worden. Der BGH vertrat hierbei die Ansicht, dass die durch einen Schwangerschaftsabbruch zu verhindernde Gefahr sich in der Geburt des Kindes realisiert habe.149 Solche Prozesse sind kein auf Deutschland begrenztes Phänomen. In verschiedene Fallgruppen differenziert150 wird in hochtechnologischen Gesellschaften juristisch der Frage nachgegangen, inwieweit finanzielle Mehrkosten zu erstatten seien, und zentraler, ob ein Recht, nicht geboren zu werden, einzufordern sei. Fortpflanzung bildet damit einen Gegenstand zivilrechtlicher Auseinandersetzung.151 Besonders in den USA sind diese Prozesse zur Routine geworden, was sich auch daran ablesen lässt, dass Versicherungen dieses Berufsrisiko der Ärzte nicht mehr versichern wollen, erklärt der Spiegel.152 Mark Hughes sieht darin einen

149 Faerber, Georg: Wrongful life, 1988:90. Ein Jahr später entschied der BGH in zwei Verfahren über vermeintliche Ansprüche aufgrund der Geburt eines unerwünschten Kindes nach einer fehlerhaften Sterilisation. Mit dem Urteil vom 16.11.1993 liegt auch in der deutschen Rechtsgeschichte erstmals ein Fall von »wrongful conception« vor. Hierzu: Pahmeier, Lydia: Die Geburt eines Kindes als Quelle eines Schadens, 1997:6. 150 Terminologisch auch: wrongful conception; wrongful birth; wrongful life; Geburtsverletzung. 151 Hat eine Patientin bei einer ärztlichen Behandlung einen Schaden erlitten, so können ihr Schadensersatzansprüche sowohl aus Vertragsrecht als auchaus dem Deliktrecht zustehen. Riedel, Ulrike: Kind als Schaden, 2003:23. 152 Art. »Leben ist ein Geschenk ohne Rückgaberecht«, in: Der Spiegel 48/2000. Luc Boltanski weist umgekehrt darauf hin, dass Ärzte in den USA eine zeitlang umgekehrt Frauen ob ihres gesundheitsgefährdenden Verhaltens für das Kind verklagt ha-

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rein ökonomischen Aspekt »in einem Land mit zu vielen Anwälten, die nichts Vernünftiges zu tun haben.«153 Solche Prozesse machen jedoch offensichtlich, dass mit wachsendem Wissen darüber, was dem Embryo/dem Fötus schaden kann, auch die Verpflichtung ihm gegenüber wächst. Dabei geht es nicht allein um die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen, sondern um einen Lebensstil, wie etwa – ich habe dies schon diskutiert – die Vermeidung von übermäßigem Stress. Die Vielzahl von Untersuchungen, da sind sich Spiegel und Regine Kollek allerdings einig, gaukle eine »Gesundheitsgarantie«154 vor, die die Realität keinesfalls einlösen könne. Risiko und Verantwortung bilden den Hintergrund, vor dem die Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Es müsse an der Frau sein, zu entscheiden, ob sie schwanger werden und bis zur Geburt bleiben will. »Wie weit sie aber auch das Recht hat, über die Art dieses Kindes zu entscheiden, das ist die Frage«.155 Am Endpunkt der Entscheidungskette stehe schließlich die Schwangere, die angesichts des Angebots und durch die Möglichkeit, juristisch gegen ein »Misslingen« der Schwangerschaft vorzugehen, unter Druck stehe, »alle denkbaren Untersuchungen durchführen zu lassen – und im Zweifelsfall dann auch eine Abtreibung«. Andernfalls würde die Frau »von der Gesellschaft selbst dafür verantwortlich gemacht.156 Prozesse, die in Folge der Fortpflanzungsmedizin geführt werden, stellen jedoch in meinem Untersuchungszeitraum kein dominantes diskursives Ereignis dar. Sie dennoch zu berücksichtigen, ist der Möglichkeit geschuldet, anhand der sich hier profilierenden Aussagen auf einen besonderen Aspekt des Dispositivs Recht zu verweisen: Denn in der Zusammenführung von Justiz und Medizin artikuliert sich, wie Sagbarkeiten bezüglich des Rechtes auf ein gesundes Kind Einzug erhalten. Dieses tritt neben das Recht auf ein Kind bzw. das Recht gegen ein Kind. Dass die innere Logik, die Inanspruchnahme entsprechender Diagnoseverfahren führe zu einem gesunden Kind, innerhalb des Diskurses nicht allein durch die Prozesse zum Ausdruck kommt, habe ich bereits mehrfach ausgeführt. Die Institutionalisierung verleiht ihr jedoch eine bestimmte Autorität. Dass diese

ben, um sich vor möglichen Prozessen zu schützen. Boltanski, Luc: Soziologie der Abtreibung, 2007. 153 Art. »Wunderbare Kräfte«, in: Die Zeit 39/2000. 154 Art. »Leben ist ein Geschenk ohne Rückgaberecht«, in: Der Spiegel 48/2000. 155 Ebd. 156 Ebd.

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durch eine bestimmte Form der political correctness abgefedert wird, machen die Beiträge zusätzlich sichtbar. Im Juni 2002 veröffentlichte der BGH seine Entscheidung zu einem Fall, der in der Öffentlichkeit unter dem Titel »Kind als Schaden« verhandelt wurde.157 Eltern eines Kindes, das mit einer Behinderung zur Welt gekommen war, hatten Klage gegen die behandelnde Gynäkologin erhoben. Die Ärztin hätte die Eltern vor der Geburt über die Behinderung informieren müssen, so lautete die Anklage. Schließlich sei die Behinderung durch Ultraschalleinsatz erkennbar gewesen. Das Gericht verpflichtete die Ärztin, den gesamten Kindesunterhalt zu übernehmen. Unter dem Titel »Entsetzen im Kreißsaal«158 nahm sich der Spiegel des Themas an.159 Nach seiner Ansicht habe sich die »behandelnde Ärztin [...] offenbar auf unglaubliche Weise über die Beratungspflicht hinweg gesetzt.«160 Eine solche Sicht widerspricht jener der Ärztin, so der Spiegel weiter, die einen Abbruch als unzulässig betrachtet hatte, weil ab der 20. Schwangerschaftswoche (nachdem die Diagnose möglich war) der Schutz des Kindes gälte. Wir haben es hier also offensichtlich mit dem Recht auf Wissen bzw. dem Recht auf Entscheidungsmöglichkeiten zu tun, das nur unter der Hand zu einem Recht auf ein ge-

157 Unter dem irreführenden Titel »Kind als Schaden« werden vorrangig zwei voneinander zu unterscheidende Fälle diskutiert: Zum einen bezeichnet es jene Kinder, die trotz einer Sterilisation eines Elternteils auf die Welt kamen, zum anderen geht es um diejenigen Kinder, bei denen die Mediziner und Medizinerinnen pränatal eine Behinderung übersehen haben. Innerhalb der ausgelösten Kontroverse wurde immer wieder Bezug genommen auf das Urteil, das der Zweite Senat 1993 des BVG zur Fristenlösung zum Schwangerschaftsabbruch vorgelegt hatte und in dem es heißt: »Eine rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als Schadensquelle kommt von Verfassungs wegen nicht in Betracht.« Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993, Aktenzeichen 2 BvF 2/90, BVerfGE 88, 203. Der Erste Senat stellte konträr jedoch fest, dass eine Haftung der Ärzte sehr wohl angezeigt sei. »Die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt, jeden Menschen in seinem Dasein um seiner selbst willen zu achten, verbietet es, die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden zu begreifen.« (BVerfGE 93,375). 158 Art. »Entsetzen im Kreißsaal«, in: Der Spiegel 25/2002. 159 Die Familie wurde von der behandelnden Ärztin nicht informiert, dass ihr Sohn keine ausgebildeten Arme und Beine haben werde, woraufhin die Eltern einen Prozess gegen die Ärztin um Unterhalt für das Kind und Schmerzensgeld für die Mutter anstrebten. 160 Ebd.

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sundes Kind wird. Dieses einzufordern bedeutet dabei nicht (zwangsläufig), das behinderte Kind abzulehnen. Den Zwiespalt drückt die Mutter des Kindes aus: »Ich mag meinen Sohn nicht mehr missen, er ist unser Sonnenschein. Wenn ich nochmal in der Lage wäre, ich würde mich gegen das Kind entscheiden.«161 Zwei Jahre zuvor war in Frankreich ein Urteil ergangen, das eine weitere Dimension von solchen Prozessen offenlegt. Ich werde mit Blick auf die französischen Zeitschriften noch einmal darauf zurückkommen. Inwieweit die Einflussnahme der Biologie auf das Recht öffentliche Reibung evoziert, verdeutlicht, dass die Prozesse sich nicht auf den Gerichtssaal beschränken.162 Da das Verfahren jedoch auch die deutsche Presse umtrieb, widme ich mich bereits an dieser Stelle den entsprechenden Auseinandersetzungen. Deren Gegenstand ist die Tatsache, dass der Oberste Gerichtshof dem 17-jährigen Nicolas Perruche Schadensersatz für sein Leben zusprach.163 Dies zum Anlass nehmend führte der Spiegel ein Interview mit Regine Kollek unter der Überschrift »Das Leben ist ein Geschenk ohne Rückgaberecht«.164 Kollek konstatiert in diesem Zusammenhang, einen »Menschen – in welchem körperlichen und geistigen Zustand er auch sein mag – mit der Kategorie des ›Schadens‹ zu beschreiben, widerspricht dem Respekt, den wir jedem Menschen schulden.« In dem konkreten Fall müsse klar sein, dass die Behinderung von Nicolas Perruche nur dann hätte verhindert werden können, wenn der Junge nicht auf die Welt gekommen wäre, woraufhin der Spiegel pointiert: »Die Anwälte sehen das genauso: Nicolas sei um den Genuss

161 Ebd. 162 Wie bereits erwähnt ließ sich Frau Perruche während der Schwangerschaft auf Röteln untersuchen, mit dem Hinweis, sie werde bei einer Bestätigung des RötelnBefundes die Schwangerschaft abbrechen. Aufgrund der falschen Annahme des Arztes, sie sei gegen die Krankheit immun, kam ihr Sohn Nicolas schwerbehindert zur Welt. 163 In der Urteilsbegründung heißt es: »Da die durch den Arzt und das Labor begangene schuldhafte Vertragsverletzung es Frau X verunmöglicht haben, ihre Wahlmöglichkeiten bezüglich eines Schwangerschaftsabbruchs wahrzunehmen, um die Geburt eines behinderten Kindes zu verhindern, kann diese Ersatz des aus der Behinderung fließenden und durch die erwiesenen Pflichtverletzungen verursachten Schadens verlangen.« 164 Art. »Leben ist ein Geschenk ohne Rückgaberecht«, in: Der Spiegel 48/2000. Alle folgenden Zitate: ebd.

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einer ›therapeutischen Abtreibung‹ gebracht worden.« Damit werde das Urteil jedoch absurd, so Kollek, denn »nur wer geboren ist, kann überhaupt klagen«. 165 Durch das Urteil werde Nicolas Perruches Leben juristisch als nicht lebenswert eingeschätzt. Einer solchen Entscheidung hätte es für eine gewährleistete Versorgung des Jungen nicht bedurft, so Kollek weiter. Mit dem Fall Perruche stelle sich zumindest die Frage, ob »mit diesem Spruch unter der Hand ein Recht auf ein nicht behindertes Leben installiert worden«166 sei. Der Spiegel verweist auf das Urteil zum Paragrafen 218 StBG, in dem der eher konservativ besetzte zweite Senat bestimmt habe, dass die Geburt eines Kindes niemals ein Schaden sein könne. Ohne es an dieser Stelle explizit zu machen, steckt in einem solchen Verweis selbstverständlich ein Hinweis auf die unterschiedliche rechtliche Regelung.167 »Wer die Tatsache zu leben als Schadensfall im ökonomischen Sinne einstuft, gebraucht eine Rechtskategorie, die der Würde des menschlichen Lebens nicht angemessen ist.« Trotz der deutschen Vorbehalte lässt sich an den geschilderten Verfahren eine diskursive Dramaturgie ablesen, an deren Ende die von Kollek vollzogene Sagbarkeit des »Rechts auf ein gesundes Kind« steht. Eine Realität, die – wie schon zuvor gezeigt – dem Recht womöglich auf die Sprünge helfen wird.

165 Jedoch müssen Ärzte für ihre Fehler einen Ausgleich eines finanziellen »Mehraufwand[s], der für die Pflege des Kindes entsteht« leisten. Der Fehler bestand in dem konkreten Fall darin, der Mutter von Nicolas nicht »die korrekten Informationen über das mögliche Risiko« gegeben zu haben. 166 Art. »Leben ist ein Geschenk ohne Rückgaberecht«, in: Der Spiegel 48/2000. 167 Die Unstimmigkeit, die sich aus einem solchen Urteil ergebe, macht Kollek kenntlich, wenn sie feststellt, dass 1997 einer Frau, die nach einer misslungen Sterilisation ihres Mannes ein gesundes Kind bekam, 6.000 Mark als Schmerzensgeld und Unterhalt zugesprochen wurde.

13. Kapitel Konstellationen der Égalité – Spiegelung III

(1) E INLEITUNG Das sich diskursiv einschreibende Recht auf ein Kind bzw. gegen ein Kind kennt unterschiedliche Facetten: Es betrifft vordergründig das Recht der betroffenen Frauen, autonom über ihren Körper zu bestimmen. Darüber hinaus ist die Entscheidung für ein Kind bestimmten Anerkennungsverhältnissen unterworfen. Nicht jede Person, die ein Kind mittels der Inanspruchnahme medizinischer Verfahren wünscht, profitiert von den entsprechenden staatlichen Regelungen. Dass in den Aushandlungen damit im weiteren Sinne Rechte entstehen, die im engeren Sinne legislativ nicht bestehen, ist Teil des komplexen, vielschichtigen Dispositivs. Zu welchem Preis dies geschieht, habe ich am Beispiel homosexueller Elternschaft gezeigt. Schließlich tritt, ausgelöst durch entsprechende Gerichtsverfahren, ein Recht hervor, das die Anwendung von Verfahren im Sinne eines Konsequentialismus lesbar macht, der besagt, Gesundheit sei ein zu gewährleistendes Gut. Mit dem dritten Rechts-Szenario wird deutlich, inwiefern der individuelle Körper Schnittstelle zwischen Begehren und (bevölkerungs-)politischen Strategien ist. Auch aufgrund deren Vielschichtigkeit würde es zu weit führen, in der Spiegelung mit den französischen Beiträgen aus L’Express und LNO auf alle Aspekte gleichermaßen einzugehen. Daher gilt es, den französischen Diskurs anhand von besonderen Auffälligkeiten und diskursiven Verschiebungen zu entfalten. Ausgehend von der Reproduktionsautonomie vollziehe ich nach, wie die Regulierung von Konzeption und Kontrazeption sich als Realisierung von Wunschkindern etabliert (2). Vor diesem Hintergrund ist es möglich, Kinder als Zeichen der Liebe zu begreifen, da diese Ergebnis der individuellen Entscheidungsfreiheit und eben nicht des Zufalls sind. Auch in LNO und L’Express steht auf dieser

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Grundlage das Recht auf ein Kind zur Disposition. Dies vollziehe ich anhand von zwei Beispielen nach: Zum einen, indem ich eine bestimmte Gruppe von Menschen in den Blick nehme, denen, vormals ausgeschlossen, das Recht auf Kinder (zumindest innerhalb des Diskurses) zugesprochen wird: homosexuellen Paaren (3). Auffällig bereits auf einer quantitativen Ebene ist dabei, dass deren Rechte hier weitaus häufiger zur Sprache kommen als das in den deutschen Printmedien Zeit und Spiegel der Fall ist. Dem Recht auf ein Kind widme ich mich darüber hinaus im zweiten Beispiel anhand von Aushandlungsprozessen, die die Leihmutterschaft betreffen (4). Besonders hier wird ersichtlich, wie individuelle Ansprüche an die Grenzen staatlicher Regulierung stoßen. In einem weiteren Schritt nehme ich das Recht auf ein gesundes Kind in den Blick. Ein solches trat insbesondere innerhalb des Untersuchungszeitraums zutage, als die Amniozentese auch jenseits einer bestimmten Altersgrenze zur Disposition stand (5). Abschließend werfe ich einen Blick auf die Darstellung bestimmter Gerichtsprozesse, für die der »Fall Perruche« symptomatisch wurde (6) und führe die Ergebnisse aus dem dritten Szenario unter der Perspektive biopolitscher Strategien zusammen (7).

(2) R EPRODUKTIONSAUTONOMIE : D AS R ECHT GEGEN EIN K IND Eine Thematisierung der Entscheidung gegen ein Kind ist auch in der Auseinandersetzung der französischen Printmedien vorrangig dann gegeben, wenn Änderungen des positiven Rechts anstehen. Dies war beispielsweise 1995 der Fall, als das nach Simone Veil benannte Gesetz verabschiedet wurde. Inwiefern dabei eine Auseinandersetzung mit Reproduktionsautonomie generationenabhängig ist, das zeigt der Beitrag, den die Tochter von Elisabeth und Robert Badinter, Judith Badinter, unter dem Titel »Feministin, nein! Kämpfen, ja!« (Féministe, ah non! En lutte, oui!) verfasste.1 Als Vertreterin der auf die Frauenbewegung folgenden Generation kommt sie zu dem Schluss, dass das Recht auf Schwangerschaftsabbruch (le droit d’avortement) besonders wichtig sei. Mit den neusten Entscheidungen und Entwicklungen fühlen sie und ihre Freunde sich nun aber bedroht. Ihr Interesse am Recht auf Abtreibung vertrete sie jedoch (im Gegensatz zu ihrer Mutter) überraschenderweise nicht als Feministin; und zwar deshalb nicht, weil

1

Art. »Féministe, ah non ! En lutte, oui !«, in: LNO Nr. 1578 [02.-08.02.1995].

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die Rechte der Frauen sich einschreiben in den universellen Rahmen der Freiheitsrechte. Nicht alle jungen Frauen vertreten jedoch im Bezug auf den Schwangerschaftsabbruch eine solch liberale Haltung. Medienwirksam setzt sich beispielsweise Noëlia Garcia gegen Abbrüche ein. Der ihr gewidmete Titel in LNO macht dabei einiges deutlich: »Das Starlet der Anti-Abtreibung« (la starlette antiIVG).2 Allein aufgrund ihrer Wortwahl – sie spricht vom Schwangerschaftsabbruch als einer »Endlösung« (solution finale) – disqualifiziert sie sich auch nach Ansicht des Magazinbeitrags, der mit dem Rat, »Sei schön und halt die Klappe!« (Sois belle et tais-toi) endet. Den Selbstbestimmungsrechten der Frau werden dabei also zunächst nur auf der Diskursoberfläche die Rechte der Ungeborenen gegenüber gestellt. Es gilt also im Folgenden zu untersuchen, ob es sich hier nur um einige konservative Gegenstimmen handelt oder womöglich eine diskursive Strategie auszumachen ist. Eine klare bio- und bevölkerungspolitische Perspektive lässt sich beispielsweise in dem Beitrag »30 Jahre Wunschkinder« (trente ans d’enfant desirés) ausmachen. Er beginnt mit einem abschätzigen Zitat Pompidous bezüglich der Pille aus dem Jahr 1967, die nach ihrer Zulassung, so die Einschätzung von L’Express, die französische Gesellschaft mit weitreichenden Folgen verändert habe. Eine Generation nach den Babyboomern heißt es nun: »Erwünschtes Gebären« (naître désiré). Aus den Schicksalsfrüchten (fruits du destin) von einst seien heute von ihren Eltern erwünschte Kinder geworden (ils sont censés être desirés).3 Dies sei dem Umstand geschuldet, dass heute niemand mehr ungewollt schwanger werden müsse; schließlich gibt es ja die Pille. Diese nähme Frauen allerdings in die Pflicht, weil es nun ihrem verantwortungsbewussten Verhalten obliege, Bevölkerung zu konstituieren. Damit ergebe sich ein Rollentausch: Habe die Entscheidung, ob und wann Kinder zu bekommen seien, einstmals bei Gott gelegen, seien es heute die Frauen, die hierüber bestimmten (hier partagée avec Dieu).4 Den biopolitischen Grundton, der hier angeschlagen wird, begleitet ein Akkord, in dem die Liebe für das bevölkerungspolitisch gewollte pronatalistische Ziel in den Dienst genommen wird. So steht für René Frydman das Begehren (désir) eines Mannes und einer Frau im Mittelpunkt, wenn es darum geht, Re-

2

Art. »La starlette anti-IVG«, in: LNO Nr. 1649 [13.-19.06.1996].

3

Art. »Trente ans d’ enfants desirés«, in: L’Express No. 2394 [22.-28.05.1997].

4

Ebd. Wie bereits im Kapitel »Sexualität und Reproduktion im Zeitalter ihrer Separierbarkeit« diskutiert, wird die Möglichkeit männlicher Verhütung nicht expliziert.

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produktionsverfahren anzubieten.5 Kinder seien »Zeichen« ihrer Liebe, die die (primär: heterosexuelle) Beziehung aufwerten. Auf den Einwand von L’Express, ein solches Begehren stelle wohl kaum einen medizinischen Grund dar, der die Inanspruchnahme medizinischer Verfahren rechtfertige, führt der Gynäkologe aus, das Kinderkriegen sei heute eine freie Wahlentscheidung. Mit einer solchen begründe sich mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern (maintenant, l’homme et la femme sont dans une situation plus égalitaire).6 In einer solchen Einschätzung steckt zweierlei: Zum einen analogisiert Frydman medizinische (physische) und gesellschaftliche Defizite. Zum anderen betrifft der Verweis auf die Geschlechtergerechtigkeit traditionelle Vorstellungen von Familie. Besonders die Wahlmöglichkeiten von Frauen stellen dabei entscheidendes Rüstzeug dar. Anlässlich der Veröffentlichung des Buches »Der künstliche Uterus« (L’uterus artificiel) führte LNO ein Interview mit dessen Autor Henri Atlan. Dieser kündigte an, Frauen künftiger Generationen könnten sich entscheiden, ob sie ihr Kind selbst austragen oder es in einem künstlichen Uterus heranwachsen ließen. Letzteres böte die Möglichkeit, dem Ergebnis (dem Kind) schlank, dynamisch, beruflich aktiv entgegenzusehen.7 Für die einen stelle das ein verlockendes Angebot dar, andere sähen die Vorhersage der Apokalypse Wirklichkeit werden. Die einen sorgten sich um die Kinder, die anderen sähen eine fortschreitende Befreiung der Frauen, die mit der Anti-Baby-Pille dereinst begonnen habe. Die Inanspruchnahme (spekulativer) Technologien stellt zweifelsfrei in dieser Wahrnehmung einen Schritt in Richtung Emanzipation dar. Gegenwärtige Forschungen aus der Psychoanalyse und der Ethnologie scheinen die Wichtigkeit und die Essentialität der Mutter-Kind-Beziehung nachzuweisen. Das aber hält Atlan für nicht erwiesen. Er konstatiert stattdessen, wir wüssten in Wahrheit so gut wie nichts darüber, was dem Fötus passiert (en réalité, nous ne savons pas du tout ce qui se passe pour le fœtus).8 An die Stelle der einstigen Parole – ein Kind, wenn ich will, wann ich will (un enfant si je veux, quand je veux) – trete seiner Ansicht nach der Wahlspruch: ein Kind, wie ich will (un enfant comme je veux).9 Das Wollen, »ob« scheint in den Hintergrund zu treten. Diskursiv folgt

5

Art. »Nous luttons contre la fatalité des gènes«, in: L’Express No. 2705 [08-14.5.

6

Ebd.

7

Ein Hinweis liefert diese Vorhersage darauf, welche Eigenschaften Frauen nach einer

2003].

solchen Vorstellung in der modernen Welt zu erfüllen haben. 8

Art. »Fiction scientifique. La machine à bébés«, in: LNO No. 2109 [07.-13.4.2005].

9

Ebd.

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auf den Zusammenklang von Liebe und Bevölkerung nun also der Refrain, dass die Reproduktionsmedizin – und nicht die Kontrazeption – den eigentlichen Zugewinn an Autonomie bedeutet, natürlich zunächst einmal nur in heterosexuellen Beziehungen. Ein besonderes Kennzeichen des Diskurses in Frankreich ist es aber, dass es in einem weiteren Schritt in der Öffentlichkeit zwar als möglich gehandelt wird, das Versprechen der Fortpflanzungsautonomie von der Begrenzung der sexuellen Orientierung zu lösen, nicht aber von der Idee der Familie. Vor diesem Hintergrund fordern einige Wissenschaftler heute das Recht, Kinder zu bekommen, auch für diejenigen ein, die etwa aus medizinischen Gründen – wie bei schweren Fällen von Infertilität – andernfalls keine bekommen könnten (comme certains cas d’infertilité).10 Auch in Frankreich sind diesem Anliegen jedoch rechtliche Grenzen gesetzt. Die Inanspruchnahme der IVF ist etwa für Alleinstehende verboten, weshalb sowohl Singles als auch homosexuelle Paare beispielsweise nach Belgien fahren (müssen), um dortige Angebote zu nutzen (les femmes célibataires ou les homosexuelles, qui veulent un enfant vont en Belgique). In dem – hier: gerechtfertigten – Wunsch und der ihm folgenden Praktik im Vergleich zu den begrenzenden Regelungen mutmaßt L’Express einen Widerspruch, der darin besteht, das, was in Brüssel erlaubt ist, in Lille zu verbieten (Est-ce logique de l’interdire à Lille et de l’autoriser à Bruxelles). Besonders die räumliche Nähe in ihrer Kollision mit der rechtlichen Ferne provoziert Unverständnis. Eine solche Skepsis wird auch dadurch beflügelt, dass der Wunsch von (in erster Linie:) Paaren als ein legitimer gilt weil er (auch) Ausdruck einer zwischen unterschiedlichen Optionen getroffenen Wahl ist. Das führt den Gynäkologen Frydman dazu, sich für eine größere Wahlfreiheit auszusprechen (pour une grande liberté de choix).11 Eine solche Wahl besteht darin, unabhängig von individuellen Lebensumständen und physischer Konstitution die Entscheidungsmöglichkeit darüber zu besitzen, in welchen familiären Situationen man zu leben wünscht. Die Autonomie, Reproduktionsentscheidungen zu treffen, muss angesichts des Einsatzes von Reproduktionstechnologien flankiert sein durch Rechte. Diese Rechte stellen dabei in ihrer Forderung nicht weniger sicher als einen allgemeinen Gleichheitsanspruch. Jeder Person müsse es folglich offen stehen, sich für oder gegen ein Kind zu entscheiden. Die Infertilität als eigentlicher Grund für eine IVF tritt – und das ist Kennzeichen

10 Art. »Clonage Humain. Peut-on encore les arrêter?«, in: L’Express No. 2430 [29.14.2.1998]. Die folgenden Zitate: ebd. 11 Art. »Nous luttons contre la fatalité des gènes«, in: L’Express No. 2705 [08-14.5. 2003].

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dieses Diskurses – hinter die Gleichheits- und Autonomieforderung zurück. Insbesondere diese Gleichheitsforderung wird in zwei Kontexten hervorgehoben, wenn es nämlich um die Rechte homosexueller Eltern und um die Diskussion der Leihmutterschaft geht.

(3) D AS R ECHT AUF EIN K IND I: H OMOSEXUELLE E LTERNSCHAFT Mit der Resolution von 1994 hatte das Europäische Parlament seine Mitgliedsstaaten aufgerufen, einen juristischen Status für homosexuelle Paare zu formulieren. In einer in LNO unter dem Titel »Für eine legale Anerkennung homosexueller Paare« (pour une reconnaissance légal du couple homosexuel)12 abgedruckten Erklärung verwenden sich Intellektuelle, Vertreter aus Kunst, Gewerkschaften, Justiz und Medizin für die Gleichbehandlung von Homosexuellen. Ihre Erklärung richtet sich an den französischen Staat. Der rechtlichen Gleichstellung bzw. Angleichung homosexueller Partnerschaften an heterosexuelle folgte in der medialen Auseinandersetzung schnell die Diskussion um die Möglichkeit, homosexuellen Paaren auch Kinder zuzugestehen. Dies geht oft einher mit einem Einblick in die Lebensverhältnisse Einzelner. 1996 etwa erzählt LNO die Geschichte von Vincent, der mit zwei Vätern aufwächst, die eine Leihmutter aus den Niederlanden engagiert hatten. Anhand dieses Beispiels, in dem die Lebensform der Kleinfamilie propagiert wird, kommt der Beitrag zu dem Schluss, dass insbesondere schwule Männer in Reproduktionsfragen benachteiligt seien. Sie sind eben nicht »krank« (infertil), sondern in ihren Gleichheitsrechten eingeschränkt, sogar im Vergleich zu den Frauen homosexueller Orientierung. Für (lesbische) Frauen sei es in evidenter Weise leichter, den Kinderwunsch zu erfüllen (pour les filles, c’est evidement plus simple).13 Das ist die praktische, die biologische Seite, die das Recht an der Nase herumführt, indem sie im Zweifelsfall Sexualität für die Fortpflanzung in Kauf nimmt. Mit Blick auf die Forderung nach homosexueller Elternschaft stellt L’Express fest, wir lebten heute im Zeitalter der »Mehrelternschaft« (pluriparen-

12 Art. »Pour une reconnaissance légal du couple homosexuel«, in: LNO No. 1644 [09.15.05.1996]. 13 Art. »Mes parents s’entendent très bien. Être enfant d’homos«, in: LNO No. 1649 [13.-19.06.1996].

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talité).14 Wenn es schon möglich sei, zwei Väter zu haben, so führt das Magazin aus, nämlich einen biologischen und einen sozialen, was spräche dagegen, dass einer von diesen schwul sei (pourquoi l’un de ces parents ne pourrait-il être gay et voir ses droits reconnus)?15 Inwiefern das Konstrukt ›Familie‹ als Eintrittstor für die Einforderung von Gleichheitsrechten funktioniert, bringt die Situation nach der Verabschiedung der PACS zum Ausdruck. Nach dem Ehestand wird die Frage nach Kindern virulent. Explizit findet das Ausdruck in Titeln wie »Homos. Das Recht, Eltern zu sein« (Homos. Le droit d’être parents).16 Kann aber, gibt L’Express zu bedenken, das Gesetz das leisten, was die Natur nicht kann (mais la loi peut-elle accomplir ce que la nature ne fait pas)? Mit der erzielten rechtlichen Regelung ändere sich einiges, auch im Bezug auf die Anerkennung.17 Schon aber lockerten einige militante Homosexuelle die Bremse (militants gays rangent leur frein), indem sie forderten, auch sie wollten das Recht haben, Eltern zu sein (nous voulons le droit d’être parents).18 Das klinge nach Anmaßung. Bei entsprechenden Kundgebungen sei gefordert worden, so L’Express weiter, den Kindern Homosexueller dieselben Rechte und denselben Schutz einzuräumen wie anderen Kindern (nous élevons nos enfants et nous souhaitons qu’ils aient les mêmes droit et protection que les autres). Kinder von Homosexuellen sind offensichtlich bereits Teil der Realität. Sie zu schützen erfordert indes rechtlichen Regelungsbedarf. Auch ein solcher Hinweis ist aufschlussreich für das Verhältnis von bestehender rechtlicher Ordnung und Lebenswirklichkeit. Auch der Beitrag »Zwei Männer, zwei Frauen und eine Babytragetasche19« (deux hommes, deux femmes et un

14 Art. »Homos. Le droit d’être parents«, in: L’Express No. 2529 [07.-13.10.1999]. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Die Verschiebung des Gesetzentwurfs für die PACS war von einer Klausel abhängig, die nichtheterosexuellen Paaren das Recht verwehrt, Kinder zu adoptieren und reproduktive Technologien in Anspruch zu nehmen. Ein vergleichbarer Vorbehalt wurde kürzlich in Deutschland vorgeschlagen und angenommen. Hierzu: Butler, Judith: Die Macht der Geschlechternormen, 2009:180. Ihres Erachtens lässt sich in diesem Sinne eine Konvergenz der Argumentation, warum schwule und lesbische Paare keine Kinder bekommen sollten, und den Argumenten zur Einwanderung feststellen; in dem Sinn, dass es darum geht, was wahrhaft französisch sei. 18 Art. »Homos. Le droit d’être parents«, in: L’Express No. 2529 [07.-13.10.1999]. 19 Mit dem Begriff couffin (Babytragetasche) werden umgangssprachlich diejenigen Frauen bezeichnet, die als Leihmütter für andere Menschen/Paare Kinder austragen.

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couffin) unterstreicht dies, indem er feststellt, Homosexuelle würden nicht auf die Autorisierung ihres Kinderwunsches warten wollen. Die Konsequenz sei, dass sie heute vom Recht erwarteten, die Tatsachen anzuerkennen (aujourd’hui, ils demandent que le droit reconnaisse les faites)20; Fakten, die sie längst jenseits eines bestätigten Anspruchs realisiert hätten; Fakten, die Kinder sind. Der Beitrag betont dabei die Absurdität, die eine fehlende rechtliche Regelung mit sich bringt und geht damit von der normativen und normierenden Kraft des Faktischen aus. Auch Justizministerin Elisabeth Guigou nimmt in einem Interview in LNO das Verhältnis zwischen Regel und Realität in den Blick indem sie davor warnt, die Fakten mit dem Gesetz zu verwechseln. Es besteht ihres Erachtens zwar bei einigen dieser Paare (gemeint sind: homosexuelle Paare) ein Kinderwunsch. Diesen findet sie auch menschlich und respektabel (je trouve cela humaine et respectable). Ein Recht auf ein Kind lasse sich daraus allerdings nicht ableiten (mais il n’y a pas de droit à l’enfant).21 Das ist die eine Seite. Sie lebt von dem Zugeständnis des Kinderwunsches (unabhängig von der sexuellen Orientierung) bei gleichzeitiger Wahrung bestehender Regeln. Inwiefern dabei der Kinderwunsch auch hier als ein biologischer und gesellschaftlicher Wunsch wirksam wird, verdeutlichen Aussagen von lesbischen Frauen, die ihre Präferenz der Samenspende gegenüber der Adoption damit erklären, sie hätten wirklich Lust, Mütter zu sein, ein Kind auszutragen (vraiment envie d’etre meres, de porter un enfant).22 Eine Psychologin führt hierzu aus, die Sehnsucht nach einem Kind sei schließlich nicht an eine bestimmte Sexualität gebunden, sondern sie sei universell. In der Universalisierung des Kinderwunsches, die ihre Gültigkeit gleichsam auf naturrechtlicher Grundlage gewinnt, vereinen sich Egalitarismus und Pronatalismus. Aufgrund der Schwierigkeiten, beiden gleichermaßen gerecht zu werden, böte sich unter Umständen auch die Adoption an.23 Die Entkoppelung der

20 Art. »Deux hommes, deux femmes et un couffin«, in: LNO No. 2063 [20.-26.05. 2004]. 21 Art. »Ne confondons pas les faits et le droit«, in: LNO No. 1859 [22.-28.6.2000]. 22 Ebd. 23 Art. »Secrets et mesonge des parents gays«, in: LNO No. 1702 [19.-25.06.1997]. Im Adoptionsrecht für Frankreich heißt es seit 1966, dass Verheiratete und Alleinstehende adoptieren dürfen. Das heißt, das Recht erwähnt die sexuelle Orientierung nicht (le loi ne fait pas mention des préférences sexuelles), aber die Mehrzahl der Psychologen, die mit der Erstellung eines entsprechenden Profils beauftrag sind, lehen Homosexuelle ab; insbesondere Männer (mais la plupart des psychologues chargés d’evaluer le

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Elternschaft von der sexuellen Orientierung, die sich in diesem Narrativ als Steigerung der Fortpflanzungsautonomie kenntlich macht, endet aber an den Grenzen der Familie. Hier nämlich wird eine logische Verbindung von Ehe- und Familienstand konstruiert. In der Realisierung der PACS drücke sich der Wunsch homosexueller Paare aus, so LNO, sich nicht länger zu verstecken. Sie wollten nach und nach leben wie die ganze Welt (das ist dasselbe Motiv wie im Spiegel – die ganze Welt meint hier: die Welt der Heterosexuellen), und zu dieser Lebensweise zählten eben auch Kinder (ils réclament le droit d’avoir des enfants).24 Kinder stellen demnach ein Instrument der Gleichberechtigung dar. Sie sind die Manifestation eines auf Partizipation drängenden Selbstbewusstseins. Gesellschaft und Recht stehen sich hierbei besonders nahe. Ihr Verhältnis ist indes von einer Spannung gekennzeichnet: Muss das positive Recht mit der Forderung nach Elternschaft geändert werden? Muss die Gesellschaft das Fundament überdenken, auf dem sie bereits Jahrhunderte lang ruht (la société est-elle capable de repenser leurs fundaments sur lesquelles elle fonctionne depuis des siècles)? Der Verweis auf die Tradition stellt einen entscheidenden – auf Zurückhaltung pochenden – Einspruch dar, was an der Frage deutlich wird, bis zu welchem Grad das Gesetz den Wandel von Sitten oder deren Praktiken berücksichtigen müsse (jusqu’ à quel point la loi doit-elle accompagner les changements de moers ou leur servir de garde fou).25 Gerade wenn dies vor dem Hintergrund von Gleichheits- und Freiheitsrechten diskutiert wird, offenbart sich das Anliegen, hier Kontinuitäten nicht leichtfertig zu unterbrechen. Das impliziert eine weitere Spielart des Dammbrucharguments: Wenn wir uns abhängig davon machen, was gegenwärtige »Sitten« (von denen wir ja wissen, dass sie temporäre

profil des candidats à l’adoption écatent les homosexuels surtout ce sont des hommes). Art. »Parents homo: l’idée de Jospin«, in: L’Express No. 2660 [04.10.4.2002]. Auch der europäische Gerichtshof werde der französischen Administration recht geben, die die Zustimmung für die Adoption einem »militanten Homo« (militant homo) verweigerte. Viele Homo-Verbände fordern das Recht nach Akzeptanz zur Adoption, indem sie konstatieren, ein Kind könne sehr wohl und sehr gut von zwei Frauen oder zwei Männern großgezogen werden (qu’un enfant peut etre très bien élevé par deux femmes ou par deux hommes). Art. »Parents homo: l’idée de Jospin«, in: L’Express No. 2660 [04.-10.4.2002]. Wie soll sich das Gesetz verhalten? Soll es dem Begehren jedes einzelnen gerecht werden (a combler le désir de chacun)? 24 Art. »Quand les Homos veulent des énfants«, in: LNO No. 1859 [22.-28.6.2000]. 25 Art. »Homos. Le droit d’être parents«, in: L’Express No. 2529, [07.-13.10.1999].

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Phänomene sind) offenbaren, laufen wir dann nicht Gefahr, das Recht als solches zu untergraben? Die Sicherheit und Verlässlichkeit, die es garantiert, wäre damit dahin. Eben diesen zentralen Werten steht ein anderer Diskursstrang gegenüber, der statt der Gesellschaft und ihren Gesetzmäßigkeiten Individuen in den Mittelpunkt rückt. Denn widerspreche nicht die aktuelle Regelung dem Prinzip der Gleichheit? Wem solle man also heute das Recht zusprechen, Eltern zu sein (à qui doit-elle aujourd’hui donner le droit d’etre parent )?26 (Der Beitrag beantwortet diese Frage mittels unterschiedlicher Einzelgeschichten.27) Die große Frage, gibt Frydman zu bedenken, sei es, zwischen allgemeinen Gleichheitsrechten und einer individuellen Ordnung des Begehrens zu entscheiden (la grande question est de savoir s’il faut imposer des règles pour tenir compte des autres, ou bien favoriser des règles les désir de l’individu, en particulier de celui qui a les moyens de les énoncer et de les satisfaire).28 In der Beantwortung dieser virulenten Fragen steckt eine weite Dimension: Die des Verhältnisses von Gesellschaft und Wissenschaft. So konstatiert LNO, es bedürfe nicht nur Antworten aus Soziologie und Psychoanalyse, vielmehr sei eine gesellschaftliche wie politische Debatte notwendig. In einem ernsthaften Sinne habe diese allerdings bislang noch nicht begonnen (ces questions relèvent ni de la sociologie ni de la psychoanalyse, mais d’un débat de société: d’un vrai débat politique. Il ne fait pas commencer).29 Im Sinne meiner These vom Primat des öffentlichen Diskurses emanzipiert sich hier die öffentliche Aushandlung der Wissenschaft. Jenseits einer strukturellen und biologischen Ebene biete die Auseinandersetzung mit homosexueller Elternschaft dafür eine qualitative Dimension. Dass homosexuelle Eltern auch aufgrund ihrer bewussten Entscheidung gute Eltern seien, bringen etwa zwei Artikel anlässlich der »EuroPride« 1997 zum Ausdruck. Der eine trägt den Titel »Homo-Eltern, geliebte Kinder« (Parents homo, enfants aimés)30, der

26 Art. »Quand les Homos veulent des énfants«, in: LNO No. 1859, [22.-28.6.2000]. 27 1) Die lange Suche von Marc und Alain nach Mutterersatz (la longue quête de Marc et Alain. Recherchent mère de substitution; 2 Schwule und Leihmutter aus den USA). 2) Der Pakt zwischen Agnes und Didier, der drei Eltern und eine »Babytragetasche« vorsieht (le Pacte d’Agnes et Didier. Trois parents et un couffin). 2 Schwule, 1 Frau, die sich extra für die Schwangerschaft kennengelernt haben. 3) Schreibt Guillaume unter dem Titel »Eine super Familie« (une famille super!) über seine zwei Mütter. 28 Art. »Quand les Homos veulent des énfants«, in: LNO No. 1859 [22.-28.6.2000]. 29 Ebd. 30 Art. »Parents homo, enfants aimés«, in: LNO No. 1702 [19.-25.06.1997].

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andere »Geheimnis und Schwindel homosexueller Paare« (secrets et mensonges des parents gays).31 Der Vorteil homosexueller Elternschaft bestehe zweifelsfrei darin, dass, wenn sich diese Paare zu einem Kind entschlössen, man sicher sein könne, dass es sich hier um ein gewolltes Kind handle (couples homos, c’est que quand ils ont des enfants on est sûr qu’ils les ont voulus).32 Damit findet das Kind als Liebeszeichen eine weitere Bestätigung. Auch die zu Rate gezogenen Expertinnen und Experten kommen innerhalb des Beitrags zu einem ähnlichen Schluss, der aufgrund der rechtlichen Regelung vorerst ein folgenloser bleibt, weshalb lesbische Frauen mit einem Kinderwunsch nach Belgien, in die Niederlande33 oder nach Finnland führen. Schwule Männer versuchten stattdessen in den USA Verträge mit Leihmüttern zu schließen.34 Der Diskurs um die Rechte homosexueller Paare auf Elternschaft erhält Beglaubigung durch die von ihnen großgezogenen Kinder. Dies kann in unserem Kontext als indirekte konsequentialistische Argumentationsstrategie gelesen werden: Wenn die Kinder »gelingen«, gibt es keinen Grund für die Ungleichbehandlung der Eltern. So veröffentlicht LNO unter dem Titel »Die Stimmen der Kinder« (paroles d’enfants) drei Statements von Kindern, die mit homosexuellen Eltern aufwachsen.35 Sind sie aber, das erweist sich als die große Frage, Kinder

31 Art. »Secrets et mesonge des parents gays«, in: LNO No. 1702, [19.-25.06.1997]. Hier wird auf die in Frankreich ebenfalls verbotene Leihmutterschaft verwiesen. 32 Art. »Deux hommes, deux femmes et un couffin«, in: LNO No. 2063 [20.-26.05. 2004]. 33 Wo die sogenannten »Bébés Thalys« entstehen, benannt nach dem Zug, der zwischen Paris und Brüssel oder Amsterdam verkehrt. 34 Die Notwendigkeit, für den Kinderwunsch ins Ausland zu gehen, illustriert auch eine Fallgeschichte, die von zwei Frauen erzählt, die sich entschlossen hätten, zur Fruchtbarkeits-Behandlung nach Belgien zu gehen. Jedes Jahr machten sich viele Paare wie dieses aus Frankreich nach Belgien auf, erklärt Paul Devroey, der lange Zeit als Pionier der Reproduktionstechnologien galt. Sie würden es deshalb tun, weil die Bioethikgesetze die medizinisch assistierte Zeugung nur heterosexuellen (verheirateten oder nicht verheirateten) Paaren zusichern würde (aux seuls couples hétersexuels). Art. »Quand les Homos veulent des énfants«, in: LNO No. 1859, [22.-28.6.2000]. Am Beispiel einer Patchwork-Familie zweier Frauen und zweier Männer wird eine weitere Dimension von Recht deutlich: Sollte den biologischen Eltern etwas zustoßen, so hätten die Ko-Eltern (coparental) keine rechtliche Handhabe, das Kind zu behalten. Art. »Deux hommes, deux femmes et un couffin«, in: LNO No. 2063 [20.-26.05.2004]. 35 Art. »Paroles d’enfants«, in: LNO No. 1859 [22.-28.6.2000].

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wie die anderen auch (enfants d’homos, enfants comme les autres)?36 Jean-Pierre Winter (Psychoanalytiker) und Sabine Proktioris (Philosophin und Psychoanalytikerin) diskutieren dies kontrovers. Während er Kinder als Ergebnis eines sexuellen Kontakts zwischen Männern und Frauen betrachtet, ist für sie der Unterschied der Geschlechter eine mentale Konstruktion. Auch die Mehrheit der von LNO befragten Parlamentarier/Parlamentarierinnen und Senatorinnen/Senatoren gibt auf die Frage, ob man für oder gegen die Anerkennung von homosexueller Elternschaft sei, zu bedenken, ein Kind brauche Vater und Mutter zu seiner guten Entwicklung (Etes-vous pour ou contre la reconnaissance juridique des familles homoparentales).37 Die Reihe der entsprechenden Statements schließt allerdings Daniel Barrillo ab, der anknüpfend an die Frage der Anerkennung wissen will, in wessen Namen der Staat homosexuellen Paaren untersagen könne, Eltern zu sein.38 Gewichtiger als die Rechte derjenigen, die ihren Kinderwunsch erfüllen, gelten innerhalb dieses Arguments offensichtlich die Rechte derjenigen, die diesen »Projekten« entspringen. Wo also findet sich das Kindeswohl, das Interesse des Kindes wieder (où est le intérêt de l’enfant)?39 In seinem Beitrag »Man verspotte die Wirklichkeit« (on bafoue le réel) argumentiert Psychoanalytiker Winter aus Sicht des Kindes gegen die homosexuelle Elternschaft. Auch er bringt dabei das Recht ins Spiel. Jedoch macht er nicht jenes stark, das einem Kinderwunsch zu seiner Durchsetzung verhilft, sondern das derjenigen, die auf diese Weise geboren werden. Seines Erachtens besäße jedes Kind das Recht auf Vater und Mutter (le droit des enfants à avoir un père et une mère).40 Mutter und Vater zu haben geht hier aber über ein biologisches Verständnis hinaus und meint vielmehr eine Notwendigkeit, mit zwei unterschiedlichen Geschlechtern aufzuwachsen. In eine ähnliche Richtung wies die von 175 Abgeordneten der rechten Parteien UDF und UMP unterzeichnete Petition gegen die Adoption durch Homosexuelle. Seit Anbeginn der Zeit hätten Kinder schließlich Mutter und Vater, heißt es hier (depuis

36 Art. »Enfants d’homos, enfants comme les autres?«, in: LNO No. 1859 [22.-28.6. 2000]. 37 Ebd. 38 Art. »Homos, hétéros meme combat«, in: LNO No. 1859 [22.-28.6.2000]. 39 Art. »Deux hommes, deux femmes et un couffin«, in: LNO No. 2063 [20.-26.05. 2004]. 40 Art. »On bafoue le réel«, in : LNO No. 2063 [20.-26.05.2004].

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la nuit de temps, les enfants sont faits par des hommes et des femmes).41 Auch für die UMP steht dabei das Kindeswohl (das sich auch hier auf das Vorhandensein von Mutter und Vater stützt) im Vordergrund (l’UMP l’intéret de l’enfant, c’est plutot un père et une mère). Dagegen behauptet L’Express, drei Millionen Kinder lebten schließlich nicht bei beiden Elternteilen und 100.000 wüchsen bei homosexuellen Eltern auf (3 millions ne vivent pas avec leurs deux parents et 100 000 seraient éléves pas un parent gay).42 Bezogen auf die festgemachte Bedeutung von Familie lässt sich schlussfolgern: Solange Kinder in (legitimierten) Partnerschaften, deren Fundament sie seien, groß werden, spräche nichts gegen ein solches Leben.

(4) D AS R ECHT

AUF EIN

K IND II: L EIHMÜTTER

Nachdem ich mich auf eine bestimmte Gruppe von Menschen konzentriert habe, deren Recht, Kinder (mittels der Technologien) zu bekommen, zur Disposition steht, nehme ich nun eines der Verfahren genauer in den Blick, das angewandt wird, um physische, soziale und lebenspraktische Grenzen zu überschreiten: die Leihmutterschaft. Ihr Einsatz ist auch deshalb von besonderem Interesse, weil sich hier wieder biologische, rechtliche und gesellschaftliche Dimensionen überschneiden. Zunächst setzt ihre Anwendung voraus, dass diejenigen, die sie in Anspruch nehmen, die gegenwärtigen rechtlichen Regeln umgehen (mais les couples en mal d’enfant cherchent pat tous les moyens à contourner la législation).43 Wie

41 Art. »Législation : Adoption par des homos : le vrai-faux débat«, in: L’Express No. 2552 [01.-7.6.2000.] 42 Art. »Les gays et les enfants«, in: L’Express No. 2847, [26.1-1.2.2006]. Immer stärker wäre von den Kandidaten ein Einsetzen für das Recht des Kindes nach Mutter und Vater vernehmbar. Die Sozialisten böten zwar keine staatlichen Eintragungen, sie böten aber Homosexuellen die selben Rechte wie Hetero-Eltern. Daher würde Segolène Royale sich dafür einsetzen, dass die Vereinigung von schwulen und lesbischen Eltern in die Union nationale des associations familiales (UNAF) aufgenommen werde, was ihnen bislang verweigert wurde. Aber das Kriterium sei, so Hubert Brin von UNAF, nicht die Sexualität, sondern die Funktion als Eltern. 43 Ebd. Die Franzosen seien, so eine Umfrage der Agentur für Biomedizin, recht tolerant, was die Beantwortung dieser Frage betrifft. So würden 53 Prozent der Befragten die Leihmutterschaft autorisieren, 44 Prozent hielten dies sogar für bereits geschehen.

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bereits mehrfach festgestellt, stellt dabei die Reise ins liberalere Ausland eine Möglichkeit dar. Eine andere ist es, in Frankreich – unter der Hand – dem Recht auf ein eigenes Kind zur Geltung zu verhelfen. Denn auch hier finden sich »Bäuche zu mieten« (des ventres à louer). Auf genau diesen Praktiken liegt das besondere Augenmerk der französischen Berichterstattung. Das ist offensichtlich deshalb der Fall, weil diejenigen Frauen, die ihre Bäuche »vermieten«, die Vorstellung von Mutterschaft sowohl beflügeln (in dem Sinne, dass sie Mutterschaft möglich machen), als auch sie untergraben (indem sie biologische Mutter eines Kindes sind, für das sie fortan keine Sorge tragen werden). Die Debatte, die die Möglichkeit (der rechtlichen Fixierung) betrifft, bewegt sich dabei zwischen dem Recht auf und der Sehnsucht nach einem Kind (entre droit et désir d’enfant).44 Eine Auseinandersetzung mit Leihmutterschaft verlangt demnach herauszufinden, was Mutterschaft heute überhaupt bedeutet (que signifie le terme de mère aujourd’hui). Insbesondere die bereits gängige Praktik könne, so LNO, zu einem Überdenken von Mutterschaft (repenser la maternité)45 führen. Die Psychoanalytikerin Geneviève Delaisi weist in diesem Sinne in LNO darauf hin, dass das französische Recht die künstliche Befruchtung für Frauen zulässt, die keine Eizellen haben. Frauen ohne Gebärmutter hätten jedoch keinen Anspruch auf das Verfahren der Leihmutterschaft. Das sei schlicht ungerecht (profondément imjuste) und der Tatsache geschuldet, dass Mutterschaft sich durch den Bauch der Frau ausdrücke (dans notre système de reprentation, la maternité repose sur le ventre de la femme).46 Der Argumentationsstrang, der sich aus dem Material ergibt, besteht in der Forderung, dass es keinen Grund geben soll, Frauen aufgrund körperlicher Defizite ungleich zu behandeln. Ein die Leihmutterschaft thematisierender Beitrag beginnt mit einer Fallgeschichte einer Frau aus den Banlieus, die mit Mutter, Geschwistern und Kind in äußerst einfachen Verhältnissen lebt. Im Juni habe sie eine Annonce im Internet aufgegeben: »Ich möchte Leihmutter sein« (je veux être mère porteuse). Die Anzeige der Frau ist aufgrund der gesetzlichen Situation auch in Frankreich illegal (annonce parfaitement illégale). Bereits 1991 hatten der Oberste Gerichtshof (Cour de cassation) und dann die Bioethikgesetze 1994 festgestellt, dass die Leihmutterschaft nicht zulässig sei. Auch bei der Revision der Gesetze stand sie zwar zur Disposition, wurde jedoch, darauf habe ich bereits verwiesen, ebenfalls

44 Art. »Mères porteuses«, in: L’Express No. 2971 [12.-18.6.2008]. 45 Ebd. 46 Art. »Neuf mois, 15 000 euros. J.F. propose ventre à louer«, in: LNO No. 2142 [01.7.12.2005].

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abgelehnt.47 Das aktuelle Verbot entspräche, so ordnet LNO ein, dem Wunsch, eine Kommerzialisierung von Kindern zu unterbinden. Das Verfahren der Leihmutterschaft (gestation pour autri)48 werde daher wie der Verkauf eines Kindes behandelt. Nicht immer sei aber die finanzielle Not der Betroffenen ausschlaggebend für die Entscheidung, als Leihmutter tätig zu werden: Frauen, die ihre Bäuche »vermieten«, so L’Express, seien im Alter zwischen 25 und 35 Jahren. Oftmals seien sie berufstätig und wollten Paaren in Not helfen (veulent aider des couples en mal de bébé).49 Ihr Beweggründe seien also nicht (nur) egoistischer (monetärer) Art, sondern vielmehr in sich selbst altruistisch. Im Internet fänden sich in diesem Sinne Selbstauskünfte wie: »Ich bin dazu da, einem Paar die Freuden des Elternseins zu ermöglichen« (je suis là pour permettre à un couple de connaître la joie d’être parents), oder: »Ich möchte einem Paar jene Freude bieten, die ich mit meinen vier Kindern erlebe« (je voudrais offrir à un couple le bonheur que j’ai moi-même avec mes quatres petits). Mir geht es hier nicht darum, ob diese Äußerungen wahr sind oder wahrhaftig, es geht um die Sagbarkeit in einem diskursiven Kontext, in dem sich verschiedene Weisen von Gerechtigkeitskonzepten artikulieren; Gerechtigkeit als gleicher Zugang zur Reproduktion bis hin zur Gerechtigkeit, die auf die Erfüllung berechtigter Bedürfnisse ausgerichtet ist. Die Aufwertung des Elternseins geht in letzterer einher mit der Möglichkeit, das Glück der Elternschaft auch anderen zu gewähren.50

47 Dies gilt, wie gesagt, auch für die entsprechenden Auseinandersetzungen im Jahr 2011. http://lesactualitesdudroit.20minutes-blogs.fr/archive/2011/03/09/gestation-pour -autrui-ca-bouge-enfin.html [21.04.2011]. 48 Die Begriffe unterscheiden sich: In den meisten Fällen wird entweder von einer »Schwangerschaft für andere« (gestation pour autri) oder der »austragende Mutter« (mère porteuse) gesprochen. Frauen, die sich für Infertile einsetzen und Leihmütter vermitteln, bevorzugen, so LNO, den Ausdruck »Schwangerschaft für andere« (gestation pour autri). Zudem verweist LNO darauf, dass die Frauen, die man im Internet findet, sich »Die gute Fee für die Zukunft ihres Dreikäsehochs« nennen (la bonne fée de votre futur bout de chou). Art. »Neuf mois, 15 000 euros. J.F. propose ventre à louer«, in: LNO No. 2142 [01.-7.12.2005]. 49 Art. »Mère porteuses. Le marché clandestin«, in: L’Express No. 2828 [15.-21-9.2005]. 50 Vergleichsweise wenige der Frauen verweisen also auf ihre finanzielle Situation. Marie aber tut dies. Sie habe diesbezügliche Angebote von homosexuellen Paaren und Frauen nach der Menopause erhalten, führt sie aus (des couples homos, des femmes ménopausées). Konkreter heißt das: »Neun Monate, 15.000 Euro« (Neuf mois, 15 000

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Der Artikel führt dazu aus, dass und wie Leihmutterschaft trotz des Verbotes bereits heute konkret funktioniert: Das Kind werde geboren ohne Nennung des Vaters, der Mann gebe eine Beziehung mit der biologischen Mutter vor und adoptiere das Kind. Die Schwierigkeit, dass seine Frau keine (biologische) Verbindung mit dem Kind hat (mais Lucie n’a aucun lien avec lui)51 sei nur dadurch zu umgehen, dass der Mann sich zu einer außerehelichen Beziehung (une relation adultérine)52 bekenne, die er de facto nicht gehabt habe. Ein fingierter Seitensprung verhilft dem Recht der sozialen Mutter zu seiner Durchsetzung. Die Gründe für die Entscheidung, überhaupt eine Leihmutter in Anspruch zu nehmen, sind vielfältig. Auch hierfür stehen zahlreiche Fallbeispiele bereit. Caroline etwa sei ohne Uterus geboren. Sie habe ihr Glück erst in Belgien versucht, wo der Psychologe das Projekt mangels Reife zurückwies. In London schließlich habe das Ethikkomitee ihre Anfrage akzeptiert.53 Nicht aber nur denjenigen, die aufgrund der eigenen physischen Konstitution keine Kinder bekommen können, eröffne die Leihmutterschaft der öffentlichen Wahrnehmung nach Tür und Tor: Alle möglichen Gruppen erschlössen sich so Zugang zu Nachwuchs, so auch etwa alleinstehende Männer (Quelques hommes seuls, aussi, revendique leur besoiri impérieux d’enfant). Insofern findet dieser Diskursstrang seine auf die Geschlechtergerechtigkeit bezogene Erweiterung. Auf eine solche Möglichkeit zurückzugreifen erkläre sich nicht nur, wie oben bereits angeführt, dadurch, dass der Wunsch nach Kindern den Menschen eingeschrieben sei. Er erkläre sich auch aufgrund der Situation auf dem Adoptionsmarkt, die erbarmungslos sei. Zudem mache der wissenschaftliche Fortschritt glauben, dass heute jeder Kinder bekommen könne (en 2005 vivire sans enfant relève souvent de l’impensable, parce que l’adoption est devenue un marché impitoyable et le progrès de la science, une machine à croir que tout le monde doit désormais pouvoir procréer).54 Auch dies ist eine aufschlussreiche Einschätzung des Verhältnisses von Wissenschaft, Recht und Öffentlichkeit. Da die Inanspruchnahme bewusst erfolge und diejenigen, die sie initiieren, viel dafür investierten, seien die so entstehenden Babys, auch das ein immanenter Bestandteil des Diskures, Kinder des

euros. J.F. propose ventre à louer). Art. »Neuf mois, 15 000 euros. J.F. propose ventre à louer«, in: LNO No. 2142 [01.-7.12.2005]. 51 Art. »Mères porteuses«, in: L’Express No. 2971 [12.-18.6.2008]. 52 Ebd. 53 Art. »Mère porteuses. Le marché clandestin«, in: L’Express No. 2828 [15.-21-9.2005]. 54 Art. »Neuf mois, 15 000 euros. J.F. propose ventre à louer«, in: LNO No. 2142 [01.7.12.2005].

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Begehrens, des Willens und der Wissenschaft (Moi fils est l’enfant du désir, de la volonté et de la science).55 Die Leihmutterschaft rechtfertige sich auch aufgrund von Erfahrungswerten: Hélène und Jean hätten ein fünf Monate altes Baby adoptiert. Dieses Kind aber sei weggerannt und ward nie mehr gesehen. Jetzt hätten sie (immerhin beide über 50 Jahre) einen kleinen Jungen aus Kanada. Sie hätten ihren Nachbarn erklärt, dass sie ins Ausland gehen werden, um ein Kind zu bekommen, und dass es das leibliche Kind ihres Mannes sei. Sie, die Nachbarn, hätten das verstanden (j’ai dit mes voisins que j’allais la-bas chercher un bébé qui était le fils de mon mari. Ils ont compris).56 Das Kind ist nach dem Recht nicht Hélènes Kind, sondern nur das ihres Mannes. Denn auch in Frankreich ist ›Mutter‹ die Frau, die gebiert. Die Hoffnung, mit dem – zumindest seitens des Mannes – biologischen Kind würde ihnen eine solche Erfahrung erspart bleiben, ist dabei natürlich sehr aufschlussreich. Sie betont die Exklusivität der biologischen/genetischen Verwandtschaft, die der Familie zu ihrem Funktionieren verhilft, auch dann, wenn die Mutter biologisch/genetisch nicht Teil der Realisierung ist. In diesem Sinn lässt sich von einer Biologisierung der Familie sprechen, bei gleichzeitiger EntBiologisierung der Mutterschaft. Das Gelingen des Familienprojekts lässt sich über die Aufwendung von Mitteln herstellen. Was ist aber mit jenen, die dazu nicht in der Lage sind? Dieser Frage stellt sich die Geschichte eines Arbeiter-Paares (couple d’ovurirs).57 Die Frau habe ihren Uterus verloren. Beide verbinde ein Kinderwunsch, aber ihnen fehle schlicht das Geld, diesen im Ausland durch eine Leihmutterschaft zu realisieren. Die finanzielle Not des Paares findet in diesem Zusammenhang als Argument für die Legalisierung der Leihmutterschaft Verwendung; Leihmutterschaft erscheint als Privileg nur der Wohlhabenden, Kinder zu bekommen. Solche Überlegungen buchstabieren das Recht auf ein eigenes Kind explizit aus. Sie machen es zudem zu einem Recht der Gleichheit. Die Befürchtung, die mit einer Zulassung aber verbunden ist, betrifft abermals Unterprivilegierte: Durch die Möglichkeit, dass diese womöglich einem System der bezahlten Schwangerschaften zum Opfer fielen. Eine solche Befürchtung widerlegt jedoch ein von der Zeitschrift befragter Arzt, der auf freiwillige Spenden von Frauen in den USA verweist.

55 Ebd. 56 Art: »Mère porteuse. Le marché clandestin«, in: L’Express No. 2828 [15.-21-9.2005]. 57 Art. »Mères porteuses«, in: L’Express No. 2971 [12.-18.6.2008].

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Selbst aber diejenigen, die das Geld besitzen, ins Ausland zu gehen, sehen sich mit Folgeschwierigkeiten konfrontiert58: In der Fallgeschichte eines französischen Paares, das in Kalifornien eine Leihmutter gefunden hätte59, habe es beim Einschreiben der Pässe Schwierigkeiten gegeben. Nach der Geburt der Töchter hätten die Eltern im Konsultat nach dem Eintrag ihrer Kinder in ihren Pass gebeten; es sei zu einem Verfahren gekommen, das jedoch später eingestellt wurde. Dennoch: Das Gericht habe über die Anerkennung als Familie entschieden. Ihre Töchter hätten sie gefragt, so die Frau in L’Express, ob sie denn überhaupt eine Familie seien (mes filles nous demandent parfois si on est bien une famille). In Frankreich ergebe sich die Antwort auf diese Frage nicht von selbst (en France la réponse ne va pas de soi).60 Die Eltern seien empört gewesen darüber, dass die Staatsanwaltschaft die Geburt ihrer Töchter in Amerika als Lüge qualifiziere, und hätten sich entschlossen, die Sache vor den Gerichten Kaliforniens auszutragen. Dort nämlich sind die Dokumente rechtskräftig (que le ministère public qualité de « mensongers » les actes de naissance américain de leurs files parce qu’ils désignent Clara comme mère, le couple à décidé de porter l’affaire devant les tribunaux Califomie. Où ces documents sont conformes aux lois en vi-

58 Im Internet finden sich auch andere Geschichten, wenn etwa die Leihmütter das Kind nicht herausgibt. L’Express: »Ich will Ihnen das Kind nicht geben, es gehört mir. Sie haben kein Recht« (je ne veux pas vous donner le bébé, il est moi et vous n’avez aucun droit). Art. »Mères porteuses«, in: L’Express No. 2971[12.-18.6.2008]. 59 Ihre Erfahrungen hat das Paar unter dem Titel »Das Kinderverbot« (Interdits d’enfnats) veröffentlicht. Mennesson, Dominique; Mennesson, Sylvie: Interdits D’Enfants, 2008. In dem Buch schreibt das Ehepaar jeweils abwechselnd über ihre Erfahrungen, vom Kennenlernen über die Nachricht, biologisch keine gemeinsamen Kinder haben zu können, bis hin zum Engagement einer Leihmutter in den USA und den damit nach der Geburt der Kinder verbundenen Konsequenzen. 60 Art. »Mère porteuses. Le marché clandestin«, in: L’Express No. 2828 [15.-21-9.2005]. Auch in dem Beitrag »Leihmütter« (Mères porteuses : l’imbroglio judiciaire) geht es um dieses Paar. Bei der Rückkehr nach Frankreich hat die Staatsanwaltschaft sich ihrer angenommen. Nun hat das Paar die ersten beiden Verfahren gewonnen. Wird nun aber ein positives Votum einen Schritt in Richtung Legalisierung der Leihmutterschaft in Frankreich bedeuten (en direction de la légalisation de la GPA)? Vermutlich nicht, so ein Experte, aber zumindest werde die Debatte befeuert. Zwei Einstellungen des Verfahrens waren angekündigt. Art. »Mère porteuses: l’imbroglio judiciaire«, in: L’Express No. 2864 [25.-31.5.2006].

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gueur).61 Der Entscheidung, den Kinderwunsch im toleranteren Ausland (plus tolérante) zu realisieren, folgten, so auch ein weiteres Beispiel, Schwierigkeiten bei der Übertragung der amerikanischen Geburtsurkunde ins französische Register. Die soziale Mutter konstatiert, im rechtlichen Sinne habe sie keine Bedeutung für ihre Tochter (Légalement, je ne suis rien pour ma fille).62 Die emotionale Anerkennung als Mutter widerspricht offensichtlich dem rechtlichen Verständnis. Ein solches ist aber auch im Hinblick auf die Anerkennung der Familie ein hohes Gut. Der Frau, so L’Express weiter, bliebe die Hoffnung, dass in die Diskussion dieser rechtlichen Umstände Bewegung kommen werde. Das scheint insofern berechtigt, als dass auf Regierungsebene Verhandlungen in diese Richtung stattfinden. Auch Institutionen wie die Nationale Akademie der Medizin (Académie nationale de médicine) forderten, 2010 solle das Bioethikgesetz in Richtung einer Legalisierung geändert werden. Ein solches Anliegen konnte sich jedoch bislang nicht durchsetzen. Besonders von den Gegnern einer Zulassung wird auf die psychologischen Konsequenzen für alle Beteiligten – und insbesondere für diejenigen, die so geboren werden – verwiesen. Die Tochter eines der betroffenen Paare, führt L’Express hierzu aus, habe eine einfache Antwort gefunden: Ihre Mutter habe eben keinen Sack im Bauch (aucune sac dans son ventre)63, weswegen eine andere Frau sie ausgetragen habe (pour porter les bébés).64 Die Leihmutter ist Mittel und Zweck. Ihr Platz liegt weit außerhalb der Familie. Im französischen Diskurs durchdringen sich auf spezifische Weise das Recht auf ein Kind (in der hier besonders betonten Vorstellung von egalitaristischer Gerechtigkeit) und die biologistische Definition der Mutterschaft, die das positive Recht bestimmt. Einen Uterus zu haben wird zum entscheidenden Kriterium dafür, Mutter zu sein. Diese Form der »Gebärmutterschaft« lässt sich als weiterer Indikator für die bevölkerungspolitische Fixierung auf das Konzept der heterosexuellen Normalfamilie lesen. Nicht der spezifische nationale Kontext ist es nämlich, der hier ausschlaggebend für das positive Recht ist (schließlich könnten ja auch französische Frauen Leihmütter sein), sondern – das zeigt die mediale Auseinandersetzung – allein die Form des Mutterseins in der Familie oder (als »Frau ohne Kindsvater«) der defizienten Familie.

61 Art. »Mère porteuses: l’imbroglio judiciaire«, in: L’Express No. 2864 [25.-31.5.2006]. 62 Art. »Mères porteuses«, in: L’Express No. 2971 [12.-18.6.2008]. 63 Ebd. 64 Ebd.

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Eine ganz andere, in diesem Kontext aber einschlägige Dimension des Rechtes veranschaulicht jene, die das werdende Kind und seine Entstehung in den Blick nimmt. Auch hier durchdringen sich Biologie und Recht. Erstere bezieht sich in diesem Fall auf den Fötus, letzteres auf die schwangeren Frauen. Das ist genau dann der Fall, wenn es darum geht, wer welche Untersuchungen, die Aussagen über den physischen Zustand des Fötus erlauben, in Anspruch nehmen darf. Die französischen Bioethikgesetze sehen als Pränataldiagnostik (Artikel L. 162-16) eine Reihe von Untersuchungen vor, die das Auffinden von besonders schweren Erkrankungen oder Krankheitsanlgen zum Ziel haben (ayant pour but de détecter in utero chez l'embryon ou le foetus une affection d'une particulière gravité).65 Interessanterweise verzichtet das Gesetz auf den Terminus Krankheit (maladie). Der stattdessen verwendete Begriff affectation gibt stattdessen einen Hinweis auf eine »Krankheitsanlage« bzw. »Erkrankung«.66 Die Gesetze regeln weiterhin, wer zu welchen Untersuchungen berechtigt ist. 1996 avancierte die Auseinandersetzung um die Erweiterung pränataler Diagnostiken für Frauen unabhängig von einer bestimmten Altersgrenze zu einem virulenten Thema. Im Juni 1993 hatte sich das CCNE auf Initiative Bernard Kouchners bereits für eine Ausweitung der Amniozentese ausgesprochen, um auch Frauen unter 38 Jahren einen Zugang zu ermöglichen. Einen solchen sollten fortan unter der Gleichheitsperspektive alle Frauen haben, die dies wünschten. Im Sommer 1996 wurde bereits eine Liste der entsprechenden Zentren, in denen der Eingriff vorgenommen werden könnte, veröffentlicht.67 Alles schien entschieden, bis Gesundheitsminister Hervé Gaymard im Oktober 1996 beschloss, eine Studie in Auftrag zu geben. Diese kam zu dem Schluss, dass eine Ausweitung der Diagnostik eugenische Tendenzen beflügeln könnte. L’Express bietet jedoch ein weiteres Erklärungsmodell für die Ablehnung: Gaymard (für den der Embryo ab der Verschmelzung von Eizelle und Samen eine Person), so

65 http://www.legifrance.gouv.fr/affichCodeArticle.do;jsessionid=1F107FED25F3BAC8 23A60F4525DAB270.tpdjo14v_1?cidTexte=LEGITEXT000006072665&idArticle=L EGIARTI000006692577&dateTexte=20101005&categorieLien=id#LEGIARTI00000 6692577 [02.10.2010]. 66 Hennen, Leonhard; Sauter, Arnold: Präimplantationsdiagnostik. Praxis und rechtliche Regelung in sieben ausgewählten Ländern, 2004:62. 67 Bachelard-Jobard, Catherine: L’eugénisme, la science et le droit, 2001:126.

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klingt es hier an, könnte auch von monetären Interessen geleitet sein. Schließlich würde eine Ausweitung sich mit Kosten von 40 Millionen Francs niederschlagen. Die Frauen aber, das prophezeit das Magazin, würden diese Pille nicht schlucken (le même Hervé Gaymard – pour qui l'embryon est une personne dès le premier instant de la conception – vient encore de s'opposer à l'extension du dépistage de la trisomie 21 par amniocentèse pour les femmes de moins de 38 ans. Le prétexte? Devinez! 40 millions de francs de dépenses supplémentaires. Les femmes n'avaleront pas cette pilule-là).68 Vertreter der Nationalen Akademie der Medizin (Académie nationale de médecine), wie etwa deren Vorsitzender Claude Sureau, hielten der Ablehnung entgegen, es sei unlogisch, den Zugang vom Alter und nicht von der Biologie abhängig zu machen.69 Ein solcher Verweis beflügelt auch die Medien: Ein Schaukasten mit dem Titel »Die Diagnose vor dem 38. Lebensjahr« (le dépistage avant 38 ans. Trisomie 21: la signature qui manque) führt in LNO in diesem Sinne aus, 1996 habe jede Frau über 38 Jahren die Möglichkeit, sich zu Beginn ihrer Schwangerschaft mit einer Amniozentese zu vergewissern (Aujourd'hui, toute femme de plus de 38 ans peut se faire prescrire en début de grosse une amniocentèse).70 Als Erklärung heißt es, das Verfahren erlaube, Trisomie 21 zu erkennen. Das bedeute »Mongolismus« (c'est-à-dire le mongolisme).71 Die Altersgrenze sei jedoch willkürlich gesetzt. Mit steigendem Alter erhöhe sich zwar die Trisomie 21-Wahrscheinlichkeit, aber eine Gefahr bestehe in jedem Alter.

68 Art. »L’IVG, l’éthique et le portefeuille«, in: L’Express No.2332 [17.-24.10.1996]. 69 In einer Anhörung anlässlich der Revision der Bioethikgesetze argumentierte er im Jahr 2000 in der Nationalversammlung, es sei unvorstellbar, die Inanspruchnahme ausschließlich Frauen über 38 Jahren anzubieten, nicht aber jenen, die ein Risiko von 1 zu 250 tragen würden (je dois dire, en toute honnêteté, que nous nous étions fondés sur le fait qu’il était impensable d'accepter la prise en charge de l’amniocentèse pour une femme de plus de 38 ans et de ne pas l’accepter lorsqu’une femme présente un risque de 1 sur 250 mis en évidence par les marqueurs). http://www.assemblee-natio nale.fr/rap-info/i3208-22.asp [03.09.2010]. 70 Allein der Hinweis, der Eingriff sei am Anfang einer Schwangerschaft terminiert, entspricht, wie oben ausgeführt, nicht der gängigen Praxis. 71 Angesichts vom Down-Syndrom von »Mongoloismus« zu sprechen, entspricht bis in zur Mitte der 1990er Jahre in der westlichen Welt zwar der gängigen Sprachpraxis. Auffallend an den Beiträgen ist jedoch, dass dies erstens unhinterfragt geschieht und zweitens auch über die 1990er Jahre hinaus gebraucht wird. Zu einer solchen Verwendung: Rapp, Rayna: Testing the women, testing the fetus, 1999.

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Dass die Zahl der Trisomie-Kinder statistisch aber nicht abnehme, liege daran, dass immer mehr Frauen im Alter zwischen 35 und 37 Kinder bekommen würden, einem Alter, in dem das Risiko bereits gestiegen sei, sie aber keinen Zugang zur Amniozentese hätten (un âge où le risque est déjà élevé mais où elles n'ont pas automatiquement accès à l’ amniocentèse). Dem Argument der Wahrscheinlichkeit ist das der Lebenswirklichkeit schwangerer Frauen zur Seite gestellt: Ein ansteigendes Alter lässt sich als Tatsache und Grund für ein erhöhtes Risiko nicht von der Hand weisen. Daraus die Schlussfolgerung für eine Erweiterung zu ziehen, verbindet eine biologische Problemlage (Risiko) mit einer gesellschaftlichen (Demographie). Innerhalb der Beiträge spitzte sich die Debatte dahingehend zu, dass Trisomie 21 als diejenige Behinderung gehandelt wurde, die mittels der Diagnostik zu verhindern sei.72 LNO stellt konsequent die Frage zur Disposition, ob man allen Frauen – sogar vor 38 Jahren – erlauben solle, kein Kind mit Trisomie73 zur Welt zu bringen (Permettre à toutes les femmes –même avant 38 ans – e ne pas mettre au monde un enfant trisomique)?74 Zwar schließt sich der Einwand an, dass das ein »Qualitätstest« sei,75 aber die Frage wurde in Deutschland trotzdem so nicht gestellt. Der Erkennung des Down-Syndroms kommt in Spiegel und Zeit zwar ebenfalls eine prominente Position zu: Sie gilt als pars pro toto der Inanspruchnahme der PND, was nicht nur entsprechende Fallgeschichten zeigen. Dennoch, das habe ich im 12. Kapitel nachvollzogen, findet der explizite Anspruch auf ein gesundes Kind, denn nicht weniger impliziert die von LNO aufgeworfene Frage

72 Inwiefern dies aber nicht nur innerhalb der Medien Bedeutung erlangt, dokumentiert das Journal officiel de la République française. In einem Rencontre in der Nationalversammlung spricht der Abgeordnete M. Didier Mathus über »le droit au diagnostic de la trisomie 21« [http://:archives.assemblee-nationale.fr/10/cri/1996-1997-ordi naire1, 20.08.2010]. Siehe auch: Roegiers, Luc; Hubiont, Corinne: Décision en médicine foetal, 2004:122. 73 Trotz der unterschiedlichen Trisomien findet sich im Material immer wieder nur der Verweis auf diese, ohne den Befund (etwa durch die Ergänzung 21) zu spezifizieren. Anhand des Kontextes lässt sich aber zweifelsfrei feststellen, dass hier in erster Linie eben Trisomie 21 bzw. das Down-Syndrom gemeint ist. 74 Art. »Génétique : les pièges du «risque zéro»«, in: LNO No.1670 [07.-13.11.1996]. 75 Auf die Frage heißt es, natürlich solle man das. Aber, gibt LNO zu bedenken, erweitere das nicht den Anspruch an die Qualität der Kinder (Mais exigera-t-on bientôt des bébés accompagnés d’un label de qualité, avec garantie décennale, conformes Génétique : les pièges du «risque zéro »)?

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ja, auf der Diskursoberfläche keine vergleichbare Pointiertheit. Die Gründe für eine solche Nicht-Sagbarkeit sind sicherlich nicht monokausal. Sie lassen sich jedoch zum Teil mit den aus dem Eugenikvorwurf abgeleiteten diskursiven Regeln des zweiten Szenarios erklären. In einem Interview stellt Mattei fest, entgegen der allgemeinen Meinung76 sei er nicht dagegen, die Diagnose von Trisomie 21 auszuweiten. Alle Frauen, die das wünschten, sollten Zugang zu dem Test haben (toutes les femmes qui le sohaitent doivent avoir accès à ces tests).77 Das Recht auf ein Kind wird zum Recht auf ein gesundes Kind. Bezeichnenderweise ist weniger die Ausweitung der Amniozentese als die Erkennung von Trisomie 21 Thema des Gesprächs. Die Begründung, die Mattei für die Erweiterung liefert, entspringt (vordergründig) einem Gleichheitsgedanken: Frauen unter 38 Jahren seien nicht prinzipiell von der Untersuchung ausgeschlossen: Sie müssten im Zweifelsfall schlicht dafür zahlen. Durch eine solche Praktik entstehe eine Benachteiligung derer, denen das entsprechende Geld fehle. Mattei verspricht, nach einer Lösung zu suchen, die niemanden benachteilige (je m’engage dès aujourd’hui à trouver une solution qui ne lèse personne). Auf die Nachfrage, warum er sich hierfür (so viel) Zeit nehme, antwortet er, es handle sich schließlich um eine heikle Angelegenheit. Zum ersten Mal sei es in Frankreich der Fall, dass generell Untersuchungen angeboten würden, durch die bestimmt werde, welche Kinder auf die Welt kommen (qui a pour but, qu' on le veuille ou non, de mettre en oeuvre une sélection génetique des enfants à naître). Die Gefahr, die er sehe, bestehe insbesondere in einer eugenischen Gangart (une démarche eugénique). Diese Eugenik sei zwar sanfter als es etwa die medizinische sei, aber sie bleibe nichtsdestotrotz Eugenik (Un eugénisme doux, certes, à viage médical, mais un eugénisme quand même). Der Eugenik-Begriff ist also auch hier aufgefächert (sanft; medizinisch). Das allerdings vermag ihm nicht per se die Bedrohung zu nehmen. LNO relativiert, den Befürwortern der Ausweitung gehe es ja nicht um eine Verpflichtung; vielmehr bestehe das Ziel darin, allen einen Zugang zu ermöglichen. Zwischen beiden Begründungszusammenhängen, für und gegen die Ausweitung (wobei Matteis Eugenik-Verweis ja keine Ablehnung, sondern lediglich eine Warnung darstellt), verläuft die Konfrontationslinie zwischen Individuum und Gesellschaft. Das Recht auf ein gesundes Kind erhält seine Wirkkraft durch das Recht auf Inan-

76 Mattei war es, der federführend das von Gaymard in Auftrag gegebende Gutachten verfasste. 77 Art. »Génétique : les pièges du «risque zéro»«, in: LNO Nr. 1670 [07.-13.11.1996]. Die folgenden Zitate: ebd.

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spruchnahme diagnostischer Verfahren. Dieses wiederum wird befeuert durch ein egalitaristisches Gerechtigkeitsparadigma, das hier im Kontext des Eugenikdiskursstrangs, den ich im 11. Kapitel beschrieben habe, seine offensichtliche bevölkerungspolitische Dimension entfaltet. In diesem Diskursstrang geht es nicht mehr nur um die Herstellung von Bevölkerung, sondern auch um die Herstellung einer gesunden Gesellschaft.

(6) D AS R ECHT

AUF EIN GESUNDES

K IND (II)

Nur vor diesem Hintergrund lässt sich eine weitere Schicht des Rechtes auf ein gesundes Kind freilegen: Jenes, dem postnatal vor Gericht zur Geltung verholfen wird. Diejenigen, das habe ich bereits anhand der deutschen Beispiele illustriert, die dieses einfordern, hatten bereits Zugang zu den Verfahren. Jedoch, so lautet die Anklage in den Prozessen, mit denen ich mich abschließend in diesem Kapitel befasse, hätten die Untersuchungen nicht die entsprechenden Informationen zu tage gefördert, die den werdenden Eltern die Entscheidung gegen ein behindertes Kind ermöglicht hätten. Als Recht auf ein gesundes Kind lässt sich auch dieser Diskursstrang nur unterhalb der Oberfläche lesen: Indem Eltern (oder, wie ich anhand des Falls Perruche noch einmal beleuchten werde: auch die betroffenen Kinder) Klage gegen die behandelnden Ärzte und Ärztinnen auf Schadensersatz und/oder Schmerzensgeld führen, geht es vordergründig um einen materiellen Ausgleich, der durch einen Berufsfehler gerechtfertigt ist oder nicht. Dadurch, dass subkutan hierin aber ein Hinweis verborgen ist, die Geburt eines behinderten Kindes sei vermeidbar gewesen (und zwar durch den Schwangerschaftsabbruch), leitetet sich ein indirektes Recht ab. Das ist vorderhand dasjenige, Reproduktionsentscheidungen autonom treffen zu können. Es bedeutet aber in dieser Logik auch, dass Kinder nur unter bestimmten Konditionen zur Welt kommen. Das Recht auf ein gesundes Kind realisiert sich dabei fiktivrückwirkend78 als Recht auf kein Kind. Dies jedoch macht nur Sinn im bevölkerungspolitischen Kontext der Beförderung einer gesunden Bevölkerung, die jenseits der politischen Versuche, diese Orientierung auszubremsen, in der Öffentlichkeit ausgehandelt wird. In kaum einem europäischen Land sind wrongful-life/wrongful-birthProzesse so heftig umstritten wie in Frankreich. Das lässt sich besonders an der »fehlerhaften« Geburt nachvollziehen. Daher werde ich mich im Weiteren dar-

78 Graefe, Stefanie: Autonomie am Lebensende, 2007:88.

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auf beschränken, den zentralen »Fall Perruche« zu analysieren. Hieraus ergeben sich drei Vorteile: Zum einen knüpft die diskursive Aushandlung an die Überlegungen anlässlich der Berichterstattung von Spiegel und Zeit an. Zum anderen kennzeichnet der Fall Perruche eine strukturelle Verschiebung innerhalb des Diskurses: Ein solches Urteil wurde in Deutschland nicht gesprochen (wenngleich es auch hier zur Kenntnis genommen wurde). Darüber hinaus lässt sich an dem Beispiel zeigen, wie sich die bereits in den ersten beiden Szenarien entfalteten Rechtsansprüche auf Grundlage des positiven Rechts und eines ethisch/moralischen Gemeinschaftsverständnisses verdichten. Eine solche Verdichtung macht abermals den Charakter des Dispositivs kenntlich: Es handelt sich keineswegs um isolierte Phänomene. Ihre Wirkkraft erhalten diese diskursiven Rechte vielmehr durch das ständige Ineinandergreifen, indem das eine Recht vom anderen flankiert wird, und sich positive Rechte und aus spezifischen Gerechtigkeitsdiskursen gewonnene Rechtsforderungen verweben. Das Verfahren, in dessen Rahmen der Generalstaatsanwalt Sainte-Rosse unter dem Postulat vom Schaden des Lebens (préjudice de vie) bzw. vom Schaden, geboren worden zu sein (préjudice d’ être né) konstatierte: nicht geboren zu werden, sei einem Leben mit Handicap vorzuziehen, wurde unter anderem im Wahlkampf mittels der Medien stark polarisiert. Als einziges Oberstes Gericht eines westlichen Nationalstaates wurde in Frankreich dem Anspruch stattgegeben, nicht geboren werden zu wollen.79 In Folge dessen verabschiedete das französische Parlament 2002 ein von Mattei erarbeitetes und von Kouchner durchgesetztes Gesetz (loi Kouchner), welches nur noch Schadensersatzansprüche der Eltern, nicht aber der »geschädigten« Kinder vorsieht.80 Damit stellte der Gesetzgeber klar, »dass niemandem aus dem alleinigen Grund, geboren worden zu sein, ein Schadensersatz zukommt.«81

79 Dem Urteil des Court de la cassation im Jahr 2000 waren bereits einige andere vorausgegangen: 1992 tribunal de grande instance d’Evry; 1993 Court d’appel de Paris; 1999 Court d’appel d’Orléans. Für einen Überblick etwa: Cayla, Oliver; Thomas, Yan: Du droit de ne pas naître, 2002. Einen Überblick bietet zudem: http://www. senat.fr/evenement/dossier_perruche.html [02.03.2009]. 80 Bogner, Alexander: Grenzpolitik der Experten, 2005:195, hierzu auch: Fabre-Magnan, Murriel: Les techniques médicales entre résponsabilté et irresponsabilité: l’affaire Perruche, in: Supiot, Alain (Hg.): Tisser le lien social, 2004:334. 81 Schauer, Martin: »Wrongful birth« in der Grundsatzentscheidung des OGH, in: Recht der Medizin 5/2004.

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Vom Nachteil, geboren zu sein (de l’inconvénient d’être né) berichtete LNO 2002, den Fall Perruche zum Anlass nehmend. Dem kurzen Ereignisabriss ist zu entnehmen, dass die Behinderung von Nicolas beim Ultraschall vom Arzt übersehen wurde. Daraufhin heißt es, die Eltern seien entschädigt worden, das sei normal, das sei banal (ces parents sont indemniés. Normal. Banal même).82 Verwunderlich sei es aber, dass die Eltern im Namen ihres Kindes Klage erhoben hätten. Und genau dieser Umstand ist es ja auch, der das vielseitige Interesse an dem Fall bekräftigte, der damit in die Kategorie des wrongful-life gehört. Wenn mit dem Urteil das Kind als Schaden (dommage) klassifiziert sei, dann gelte es, so LNO weiter, in einem ersten Schritt zu klären, worin denn dieser Schaden genau bestehe: In der Behinderung oder dem Leben als solchem? Das Magazin weist, Antwort suchend, zwei Richtungen auf: Zum einen die Feststellung des Schadens und die Bekräftigung der Wiedergutmachungsforderungen (reparation).83 Zum anderen die Höherbewertung des Seins vor dem Nichts. Die Entscheidung des Cour de la Cassation, Nicolas Perruche zu entschädigen und sein Leben als Schaden zu klassifizieren (préjudice), hat eine Menge ethischer, medizinischer, sozialer und philosophischer Fragen hervorgerufen. Für Monate hatte das Urteil das Land aufgewühlt. Eine Welle von Protesten war die Folge. LNO unterscheidet diese in zwei Grundhaltungen: Einige hätten dabei die Gefahr der Eugenik beschworen (dérive eugéniste), für andere stellte das Urteil das Recht auf Abtreibung in Frage (remise en question du droit à l’avortement).84 Eine solche Einschätzung markiert abermals die Grenzlinie zwischen (Reproduktions-)Autonomie und Gattungsethik. Folgt man den unterschiedlichen Beiträgen von L’Express und LNO, so überwiegt offensichtlich letztere. Auch hier zeigt sich im Vergleich zu Deutschland die spezifische Rolle der Gerechtigkeit als Gleichheit. Verglichen mit der Ausweitung der Pränataldiagnostik kehrt sich das Kräfteverhältnis anscheinend um. In Folge des Falls hatten sich 200 Eltern von behinderten Kindern zusammengetan, um gegen die Entscheidung des Cour de Cassation zu protestieren.85 Ihnen ging es weniger darum, dass

82 Art. »De l’inconvénient d’être né«, in: LNO No. 1940 [10.-16.1.2002]. 83 Ebd. 84 Art. »L’après Perruche«, in: LNO No. 1941 [17.-23.1.2002]. Die folgenden Zitate: ebd. 85 In ihrer Analyse des öffentlichen Umgangs mit den Biotechnologien gelangen Nathalie Schiffno und Frédéric Varone zudem zu der Feststellung, dass allgemein die Berichterstattung über den Fall Perruche die Mobilisierung und Unterstützung von Inter-

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das Geborensein als Schaden klassifiziert wurde, sie forderten vielmehr eine gesetzlich verbindliche Lösung. Auch viele Gynäkologen wendeten sich gegen eine Klassifizierung, wie sie durch das Urteil bestimmt wurde: Anfang des Jahres 2002 hätten sie bereits aus Sorge vor finanziellen Konsequenzen mit einem PND-Streik gedroht (elle craignent de devoir supporter les conséquénces financières de ce type de pour suite – 20 millions de francs réclamés en tout dans l’affaire Nicolas Perruche – et de voir leurs primes d’assurance grimper de facon extravagante).86 Es offenbare sich die Trennlinie zwischen Über- und Unterversorgung. Zur ethischen und juristischen Dimension tritt damit explizit eine finanzielle. Besonders Eltern von Kindern mit einer Behinderung seien aufgrund des Urteils verletzt und schockiert, erklärt L’Express. In dem Urteilsspruch sähen sie damit mehr als die Entscheidung über einen Einzelfall, sie leiteten vielmehr Aussagen über ihr Leben bzw. das ihrer Kinder ab. L’Express illustriert diese Einschätzung anhand eines weiteren Fallbeispiels: Stephanies Mutter sei ebenso wie Nicolas Perruches Mutter während der Schwangerschaft an Röteln erkrankt. Diese Erkrankung sei verantwortlich dafür, dass Stephanie heute blind ist. Der Fall Perruche habe ihre, Stephanies, Perspektive auf ihre Einschränkung verändert: Vor dem Fall habe sie ihr Leben nie als Schaden begriffen (avant l’arret Perruche, jamais je n’avais envisagé ma vie comme un préjudice).87 Das habe sich durch das Urteil verändert. Damit offenbart sich der polysemische Charakter des Urteils: Aus der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes heraus werden weitere Leben beurteilt. Zum einen geschieht dies dadurch, dass sie öffentlich zur Disposition stehen. Zum anderen vollzieht sich, wie das Beispiel von Stephanie zumindest glauben macht, eine Aneignung bestimmter sich hier profilierender Einschätzungen, die dann selbst wieder Gegenstand der Berichterstattung werden. Kouchner konstatiert jedoch, dass die Entschädigung nicht gleichbedeutend sei mit der Anerkennung des Rechts, nicht geboren worden zu sein. Mit dem Prozess etabliere sich aber seines Erachtens das Gefühl, alles sei vorstellbar. Das meint genauer: jede Krankheit, jede Behinderung sei vorhersehbar. Frauen müssten jedoch, erklärt LNO mit Verweis auf den Gynäkologen Luc Gourrant, trotzdem wissen, dass durchschnittlich 60 bis 70 Prozent der Missbildungen (malfor-

essensverbänden zur Folge hatte. Dies.: Regulation publique des biotechnologies, 2005:52. 86 Art. »L’affaire Perruche«, in: L’Express No. 2647 [03.-9.1.2002]. 87 Art. »IMG: La tentation d’enfant parfait«, in: L’Express No. 2598 [19.-25.4.2001].

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mation) erkennbar seien. Davon beträfen 85 Prozent Aussagen über körperliche Missbildung (malformations des membres) und 42 Prozent solche über schwere Herzschäden (atteintes graves du cœur).88 In der öffentlichen Wahrnehmung sei der Fall Perruche zu einem Glaubenskrieg zwischen Lebensschützern und Feministinnen avanciert (guerre de religions entre prolife et féministes)89, zwischen Medizin und Recht (medical et droit d’usager).90 Anders hatte Bernard Kouchner die Delegierten der Nationalversammlung am 13. Dezember 2000 auf die Einheit gegen die Entscheidung eingeschworen: Rechts und links, Gläubige und Ungläubige, Gesunde und Behinderte, sie alle seien sich – erstmalig – bei diesem Urteil einig (pour la première fois, sans doute l’union s’est faire contre une décision: droite et gauche et croyants et non-croyants, valides et handicapés);91 und diese Einigung besteht in seiner Ablehnung. Hier kann man geradezu vom Erschrecken über die Sagbarkeit sprechen. Aus dem Urteil leiten sich zudem Folgen notwendig ab, die nicht (mehr) rein juristischen Charakters sind. Solche finden etwa Ausdruck in einem von L’Express veröffentlichten Manifest, verfasst von 17 prominenten Persönlichkeiten (Intellektuellen, Juristen und Medizinern).92 Es enthält die Forderung, Menschen mit einer Behinderung besser zu unterstützen; dies sei eine Notwendigkeit der nationalen Solidarität (devoir de solidarité nationale élementaire).93 Ein solches Postulat meint genauer, das Urteil stelle eine Bedrohung für all jene dar, die mit einer Behinderung leben. Sie zu schützen – etwas, dass das Urteil versäumt habe – leite sich aus einer gattungsethischen Perspektive ab. Aufschlussreich in diesem Sinne ist der Hinweis auf die nationale Solidarität. Denn eine (Selbst-) Verpflichtung müsste sich ja nicht per se auf den Nationalstaat begrenzen und schon gar nicht, wenn es hier um über die Legislative hinaus zeigende Dimensionen geht. Auf der Suche nach einem Verantwortlichen, der die finanziellen Folgen anstelle des Staates begleicht, verletze die Justiz die Prinzipien der Ethik, der Medizin und auch der Gesellschaft. Diese Nahtstelle zur Abtreibung lade zu einem ungeschützten Blick auf die Eugenik ein (voi d’un eugénisme sans gardefou).94 Inwiefern ein solcher mehr als ein Anblick sei, offenbare das Spannungs-

88 Art. »L’après Perruche«, in: LNO No. 1941 [17.-23.1.2002]. 89 Ebd. 90 Ebd. 91 http://www.assemblee-nationale.fr/11/propositions/pion2806.asp [02.01.2008]. 92 Zu den Unterzeichnern gehören Israël Nisand, Didier Sicard, Pierre-André Tanguieff. 93 http://www.assemblee-nationale.fr/11/propositions/pion2806.asp [02.01.2008]. 94 Art. »L’affaire Perruche«, in: L’Express No. 2647 [03.-9.1.2002].

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verhältnis zwischen Wahrscheinlichkeit und Sicherheit, dem jedes Jahr 7 000 Kinder zum Opfer fielen. Eröffne nicht dieser Schritt (dieses Urteil) eine klare Orientierung an der Eugenik, fragt auch LNO – und meint damit genauer das Recht des Menschen, die Gattung zu verändern –, indem er die »Unfähigen« selektiere (n’ouvre la voie à l’eugénisme, c’est-à-dire au droit pour l’homme d’améliorer l’espèce humaine en éliminant les inaptes et en sélectionnant les meilleurs).95 Polarisierend zwingt die Aushandlung über den Fall zur Positionierung. Ein LNO-Autor gibt in diesem Sinne freimütig zu, er verberge nicht, dass er dem Urteil Perruche von Anfang an feindselig gegenüber stand (je ne cacherai pas que je suis, depuis le début, hostile à l’arrêt Perruche). Er sei sogar erstaunt, Gläubige auf Seiten der Lebensschützer zu sehen. Der Kampf um das Leben werde nie ein exklusiv christlicher Wert sein; er sei ein humanistischer Wert (c’est une valeur humaniste). LNO beunruhigt zudem die Position des Rechts und des Urteils in der Gesellschaft. Die Errungenschaften der Unabhängigkeit des Rechts führten u.a. dazu, dass die Lösungen keine rein juristischen sei. Bei diesem Urteil hätten die Richter die Tendenz gezeigt, sich auf unverantwortliche Weise auf das Gesetzbuch zu stützen. Was uns aber bedrohe, sei nicht die Regierung der Richter, sondern die Tyrannei des Rechts (la tyrannie du droit). Das Urteil, darauf macht eine solche Bemerkung aufmerksam, ist gesprochen worden innerhalb einer demokratisch legitimierten Rechtsordnung. Die Gesellschaft sei folglich mit den eigenen Mitteln bekämpft worden. Und noch mehr: Das Vertrauen auf eine solche Grundlage führe in die Knechtschaft, die wiederum von herrschaftlicher Willkür gekennzeichnet sei und damit den Anspruch einer Demokratie ad absurdum führe. Was sage das über eine Gesellschaft und diejenigen Regeln aus, die sie sich gibt? In den Reaktionen, die dem Urteil folgten, ist scheinbar einhellig die Justiz diejenige, der nicht nur mit dem Richterspruch ein Fehlurteil unterlaufen sei, sondern die damit die Gesellschaft als solche düpiert habe. Aufgrund einer solchen Hierarchisierung von Entscheidungs- und Wirkungskreisen weist die »Gesellschaft« sich selber die Rolle eines Opfers in diesem Prozess zu, dessen Struktur es zu beklagen gilt. Vorderhand scheint in der Reklamation der eigenen Betrauerungswürdigkeit eine bevölkerungspolitische Dimension auf: Niemandem soll der Zugang zur Gesellschaft verwehrt bleiben. Unter der Hand allerdings

95 Art. »De l’inconvénient d’être né «, in: LNO No. 1940 [10.-16.1.2002]. Die folgenden Zitate: ebd.

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folgt dieser Diskurs der Logik der Beförderung der gesunden Bevölkerung. Sich hier vordergründig ganz auf Moral und Solidarität zu berufen, erzeugt offenbar ein moralisches Rollenspiel, in dem man sich des Applauses sicher sein kann, weil so klare Trennlinien zwischen ›gut‹ und ›böse‹ gezogen werden können – und auf der ›richtigen Seite‹ zu sein führt bekannter Maßen auch für das Publikum zu nichts anderem als: zur Katharsis.

(5) Z USAMMENFÜHRUNG In einer bestimmten Lesart lässt sich insbesondere die Aushandlung über den Fall Perruche als Intensivierung der Kontroverse über die Schutzrechte Einzelner in ihrem Spannungsverhältnis zu gesellschaftlichen Maximen lesen, wie ich sie im zweiten Szenario diskutiert habe. Beide Narrationsstrategien nebeneinander zu halten, ermöglicht jedoch einen weiteren Einblick in diskursive Formationsregeln, das dem Schutz (des Lebens) weitere Anforderungen hinzufügt. Zwischen beiden Erzählweisen liegt auch dann ein Unterschied, wenn auf ähnliche Parameter (wie z.B. Eugenik) rekurriert wird. Zusammenführend möchte ich daher zwei Aspekte in den Blick nehmen: Zum einen gilt es die Besonderheit, die in dem Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Paternalismus und Reproduktionsautonomie liegt, zu pointieren. Darüber hinaus sammle ich Indizien für eine Verschiebung zwischen den Beiträgen aus Deutschland und Frankreich. Dass diese sich lediglich punktuell festmachen lassen, haben die jeweiligen Darstellungen gezeigt. Sie liefern jedoch Anhaltspunkte für das Verhältnis zwischen Diskursivem und Nicht-Diskursivem. Während sich das Recht auf ein Kind vordergründig von einem bestimmten biologischen (biologistischen) Determinismus löst, bleibt es doch offensichtlich in dessen Strukturen verhaftet, die wiederum jedoch durch den Bezugspunkt Familie nur subkutan zur Geltung kommen. Die Flexibilisierung, ›Familie‹ herzustellen, kommt nichtsdestotrotz ohne den Verweis auf biologische/genetische Verbundenheit nicht aus. Anders kann die nachrangige Einschätzung von Adoptionen nicht verstanden werden. Inwiefern aber nicht zwingend beide Partner an der ›Produktion‹ des Kindes genetisch Anteil haben müssen, um die Geschichte zu einer Erfolgsgeschichte zu machen, offenbart die Auseinandersetzung mit der Leihmutterschaft besonders deutlich. Die Anerkennungsverhältnisse, die sich anhand der medialen Beiträge ausmachen lassen, betonen die Bedeutung derjenigen Lebensformen, die zumindest partiell in einer Überschneidung aus ›Familie‹ und ›Verwandtschaft‹ bestehen. Dazu kommt es auch deshalb, weil die ›Liebe‹ derjenigen, die das reproduktionsmedizinische Kinderprojekt initiieren, als

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Garant für die Qualität des Heranwachsens der Nachkommenschaft gilt. An diesem haben mehr Menschen ein Interesse, als diejenigen, die hieran faktisch partizipieren. Dass die ›Liebe‹ zu einer solchen Ausdrucksmöglichkeit gelangen kann, liegt indes an der Möglichkeit, mittels der Reproduktionstechnologien bewusste Entscheidungen zu treffen. Im Vergleich zu den Ausführungen aus Zeit und Spiegel artikuliert sich in LNO und L’Express wesentlich stärker egalitäre Gerechtigkeitsforderungen, die jedoch zum einen auch auf der Anerkennung von Kindern als Liebeszeichen fußen. Dem biologisch fixierten Kinderwunsch verhilft dieser Verweis dazu, allen, ohne Ausnahme, diesen quasi im Sinne des Naturrechts zu ermöglichen. Er ist Indiz einer pronatalistischen Strategie jenseits der rechtlichen Möglichkeiten. In dem Anspruch divergieren die Beiträge zumindest optional weniger. Die Emphase, die LNO und L’Express jedoch aufbieten, und die sich sowohl auf das Recht auf ein Kind, als auch auf die Verweigerung dieses Rechts bezieht, ist in Spiegel und Zeit weniger präsent. Das Recht auf ein Kind impliziert unter bevölkerungspolitischer Perspektive zwei Dimensionen: Es diskutiert den Anspruch jener, die sich Kinder wünschen, und es stellt zur Disposition, ob diejenigen, die in den erweiterten Kreis der Reproduktionsteilnehmerinnen geboren werden, hieran Schaden nehmen könnten. Auf einer Ebene stehen sich also Veranlagung und Entwicklung gegenüber. Beide betreffen vordergründig Individuen. Mit der Forderung, die Amniozentese auch unterhalb einer bestimmten Altersgrenze anzubieten, erhalten primär diejenigen, die von der Ausweitung ›profitieren‹, Aufmerksamkeit. Hier geht es darum, ein bestimmtes Kind – nämlich den Aushandlungen nach: dasjenige mit Trisomie 21 – nicht zu bekommen. In einer solch folgenreichen Konsequenz wurde in Zeit und Spiegel nicht argumentiert.

14. Kapitel Alles, was Recht ist

»Will man die Linien eines Dispositivs entwirren, so muß man in jedem Fall eine Karte anfertigen, man muß kartographieren, unbekannte Länder ausmessen – eben das, was er [Foucault, J.D.] als ›Arbeit im Gelände‹ bezeichnet.«1 Dieses Gelände ist für meine Überlegungen der öffentliche Reproduktionsdiskurs. Und die Linien des Dispositivs sind die des Rechts, die des positiven Rechts, die der etablierten Praktiken des Gewohnheitsrechts und die aus der Lebenspraxis gewonnenen Rechtsforderungen inklusive der in sie eingewobenen moralischen Überzeugungen. Die Arbeit im Gelände, die in dieser Arbeit als Expeditionsbericht dokumentiert worden ist, sollte keine sein, die rechtliche oder ethische Orientierung stiftet, sondern eher eine – um im Bild zu bleiben –, die eine geologische Karte hervorbringt, die verschüttete Schichten, verdichtete diskursive Verhältnisse, verhärtetes Sediment kenntlich macht. Denn gerade bei der Arbeit in einem Gelände, das noch immer deutlich in Bewegung ist, kommt es darauf an, in den Schichten, die sich umwälzen und verändern, eben auch jene Ablagerungen zu erkennen und einzuordnen, die von älteren Prägungen herrühren. Nur dann nämlich lassen sich diese Umwälzungen als solche verstehen. Dass der Reproduktionsdiskurs in Bewegung ist, zeigt sich naturgemäß an dessen Oberfläche. Mit dem BGH-Urteil zur PID hat in Deutschland eine politische, gesellschaftliche und rechtliche Neuorientierung eingesetzt. Dies zeigt sich besonders deutlich an den politischen Klärungsbemühungen im konservativen Lager, die seit Oktober 2010 im Gange sind und gegenwärtig noch zu keinem

1

Deleuze, Gilles: Was ist ein Dispositiv? 1991:153.

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Ende gekommen sind.2 Mit der Festlegung von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ein grundsätzliches Verbot der PID und der grundsätzlichen Forderung auf Freigabe der Diagnostik unter bestimmten Bedingungen durch die FDP hat sich in dieser Zeit eine Konstellation herausgebildet, die die Pole der politischen und rechtlichen Möglichkeiten absteckt. Dass eine Lösung zwischen den Polen zu finden sein muss, womöglich über ein Moratorium, das – wie es etwa von Teilen der SPD gefordert – eine gesellschaftliche Debatte ermöglicht, dürfte kaum überraschen. Dass dies, was uns politisch und rechtlich beinahe logisch erscheint, aber Folge jenes Prozesses ist, der in dieser Untersuchung als Normenverschiebung von der ›Heiligkeit des Lebens‹ zur ›Ethik des Heilens‹ in all seinen öffentlichen und rechtlichen Ausformungen beschrieben worden ist, kann man erst im Durchgang durch das Material behaupten. Es ist keineswegs selbstverständlich. Die Nationalakademie Leopoldina, achatech und die Unionsakademien haben am 17. Januar 2011 eine Stellungnahme veröffentlicht, an deren positivem Votum für eine begrenzte Zulassung der PID kein Zweifel besteht. Diese Stellungnahme hat für viel Aufregung gesorgt. Interessanterweise ist weniger das Verfahren PID an sich als die Sprachberechtigung derer, die über sie beraten, Grund für die Aufregung gewesen. Es hat sich eine Feuilletondebatte unter Federführung der Süddeutschen Zeitung entwickelt, deren Gegenstand schwerpunktmäßig Fragen von Autorität, Authentizität und Aufgabenverteilung der Politikberatung betrifft. So titelte etwa der Jurist und Historiker Dietmar Willoweit, bis 2010 Präsident der Bayerischen Akademie, »Zu viel Beratung«3. ErnstLudwig Winnacker, bis 2009 Präsident der DFG, stellte fest: »Zur Beratung verpflichtet«4 und Ottfried Höffe, Mitglied der vorbereitenden Arbeitsgruppe dieser PID-Empfehlung, erläuterte: »Entscheiden muss der Gesetzgeber«5. Hier wird deutlich, dass die ethisch-moralischen Aspekte gemeinsam mit dem konkreten rechtlichen Regelungsbedarf hinter den Biomacht-Kampf um die Deutungs- hier Beratungshoheit zurücktritt. Man kann dies als Indiz dafür deuten, dass sich ab-

2

Am 16. November 2010 votierte die CDU zwar auf ihrem Parteitag gegen eine Zulassung. Das knappe Ergebnis von 49 Prozent Befürwortenden zu 51 Prozent Ablehnenden verdeutlicht nichtsdestotrotz einen Kurswechsel, dessen Wirkungsweise auch die konservativen Lager erreicht hat. Wie gesagt werden seit April 2011 drei unterschiedliche Gesetzesvorschläge im Bundestag debatiert. Der Franktionszwang ist aufgehoben.

3

Art.: »Zu viel Beratung«, in: Süddeutsche Zeitung, 20.1.2011.

4

Art.: »Zur Beratung verpflichtet«, in: Süddeutsche Zeitung, 26.1.2011

5

Art.: »Entscheiden muss der Gesetzgeber«, in: Süddeutsche Zeitung, 25.1.2011.

A LLES , WAS R ECHT IST

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lehnenden Stellungnahmen (wie etwa jüngst von der EKD6) zum Trotz die Zustimmung zum Verfahren der PID eigentlich schon vollzogen hat, es aber offen ist, wie die Beratungshoheit ausfällt.7 Dies gründet in jener Normenverschiebung, die ohne den Rekurs auf das Dispositiv Recht nicht möglich gewesen wäre. Schaut man dann doch einmal in den Text der oben genannten Stellungnahme, stößt man auf mindestens zwei Hinweise für diese Etablierung. Erstens heißt es da: »Auf Grund gleichgelagerter Konfliktsituationen für die Frau sollte unter einschränkenden und definierten Bedingungen eine PID gesetzlich zugelassen und die damit verbundenen Folgen für den Embryo vom Gesetzgeber der PND und dem Schwangerschaftsabbruch gleichgestellt werden.«8

Die Rechtshomogenisierung – hier nicht mehr zwischen ESchG und Paragraf 218 StGB, sondern zwischen PID und PND – ist also erklärtes Ziel. Dass hier zwei Verfahren rechtlich gleichgestellt werden sollen, die die Gesundheit des Embryos bzw. Fötus in den Vordergrund stellen – und damit sein elementares Lebensrecht in den Hintergrund treten lassen – ist ein eindeutiges Indiz für meine Grundthese. Zweites Beispiel: »Eine der klaren Konfliktlösungen wäre der Verzicht betroffener Paare auf ein eigenes Kind, was möglicherweise Religionsgemeinschaften empfehlen könnten, von Seiten des Staates aber nicht verlangt werden kann. Einem staatlich verordneten Verzicht steht das Grundrecht eines jeden Menschen auf Fortpflanzung entgegen, das zu den wichtigsten Bereichen der persönlichen Lebensgestaltung und Lebensführung gehört.«9

6

Stellungnahme des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Präimplantationsdiagnostik. http://www.ekd.de/download/pm40_2011_stellungnahme.pdf [21.04. 2011].

7

Diese stand insbesondere auch deshalb zur Disposition, weil der Deutsche Ethikrat bereits eine Stellungnahme angekündigt hatte, die im März 2011 erschien. http://www.

8

ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-praeimplantationsdiagnostik.pdf [02.04.2011]. http://www.leopoldina.org/fileadmin/user_upload/Poltik/Empfehlungen/Nationale _ Empfehlungen/stellungnahme_pid_2011_final_a4ansicht.pdf [21.04.2011].

9

Ebd.

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Nicht nur sollen also konfligierende Gesetze harmonisiert werden, sondern das Ganze findet auch auf einer Basis statt, die ihre Legitimität aus dem Recht auf ein eigenes Kind gewinnt. Unter der Hand steckt hierin weit mehr als das Recht auf ein Kind, nämlich das Recht auf ein ›gesundes‹ Kind. Andernfalls wäre der Kontext PID hinfällig. Inwieweit ein solches Recht in den vergangenen fünfzehn Jahren ein Fundament gewonnen hat, habe ich in diesem Buch gezeigt. Anhand des Redens über PID lässt sich nachvollziehen, dass und wie die unterschiedlichen Rechte miteinander in Beziehung stehen. Nun könnte man sich fragen, ob dieses auf Deutschland bezogene zentrale Ergebnis nicht auch direkt im Durchgang etwa durch die eigentlichen bioethischen Debatten hätten erzielt werden können. Dagegen sprechen vornehmlich zwei Gründe, die erst durch die hier gewählte Untersuchungsperspektive, die printmediale Öffentlichkeit in den Blick zu nehmen, deutlich werden. Der öffentliche Diskurs ist erstens reichhaltiger als eine bioethische oder rechtstheoretische Abhandlung und zweitens sagt er nicht nur etwas über das normative Sollen einer Gesellschaft aus, sondern kann viel gründlicher die diskursiven Machtvollzüge darstellen, die die Aushandlungsprozesse bestimmen. Eine Normenverschiebung – wie ich sie im Unterschied zur Rede vom Paradigmenwechsel diagnostiziert habe – wird nämlich nicht allein durch rationale Argumente herbeigeführt, sondern sie ist ein Resultat viel komplexerer Aushandlungsprozesse, in denen kulturelle Prägungen, biopolitische Strategien und natürlich auch Argumente eine Rolle spielen. Die hier entfaltete Sichtweise von einem gesellschaftlichen »Wahrheitsspiel« steht der Vorstellung des Verhältnisses von Medien und Öffentlichkeit radikal entgegen, wie sie etwa Petra Gehring entfaltet, wenn sie fragt: »Senken sich Massenmedien tatsächlich wie ein Prägestock auf unser Bewusstsein herab? Werden Mediennutzer denn nicht auch immer ironiefähiger und raffinierter – und wachsen gewissermaßen mit den Tricks der Medienmacher mit?«10 Aus einer diskursanalytischen Perspektive sind das nachrangige Fragen, denn es geht um Sagbarkeiten, nicht um die Weisen, in denen Rezipienten Distanz zu dem gewinnen können, was in den Medien gesagt wird. Auch Distanz, Tricks und Raffinesse gehen von Sagbarkeiten aus: nur von etwas, was sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sagen lässt, kann man sich distanzieren. Die Entscheidung, anhand von Printmedien den gesellschaftlichen Umgang mit Reproduktionstechnologien und Genetik nachzuvollziehen und individuelle ›Erfahrungen‹ im Vergleich hierzu unberücksich-

10 Gehring, Petra: Medienwandel und Biopolitik als historisch-epistemologisches Thema. Petra Gehring im Gespräch mit Barbara Orland, in: Zeitenblicke 3/2008.

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tigt zu lassen, geht auch nicht davon aus, dass etwas zu einem Gegenstand der Berichterstattung in den Medien wird und dann automatisch Bedeutung für die einzelnen Subjekte erhält. Stattdessen habe ich zu zeigen versucht, dass sich in der Rekonstruktion unterschiedlicher sich hier artikulierender Narrative nicht nur die Geschichte des Umgangs mit Reproduktionstechnologien erzählen lässt, sondern vielmehr auch sichtbar wird, inwiefern Deutungshoheiten folgenreich miteinander ringen. Mir ging es also darum, nachzuvollziehen, was zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sagbar war, ohne dies gleichzusetzen mit einer direkten Spiegelung der Wirkungs- und Wirklichkeitsmächtigkeit. In keinem Fall bediene ich daher das »Klischee von den willenlosen Massen vor dem Fernseher«, das nach Ansicht Gehrings von Intellektuellen stamme, »die nur Bücherlesern eine Distanz zu Massenmedien zutrauen und überhaupt das Volk gern für unmündig (und daher durch Intellektuelle für befreiungsbedürftig) halten.«11 In meiner Herleitung und Erweiterung des Bioethik-Begriffs habe ich eine andere These vertreten: Ich halte die Medien durchaus für machtgenerierend, und zwar nicht nur, weil Menschen am Frühstückstisch durch sie auf Fragen der Reproduktion stoßen. Sie tragen zum einen durch das Aufgreifen, Weiterführen, und Initiieren von Themen ohne Frage dazu bei, dass bestimmte Überlegungen überhaupt erst breitenwirksam relevant bzw. virulent werden. Somit erzeugen die Medien Wissen, das sich explizit unterscheidet von den Wissensbeständen der Wissenschaften. Zum anderen lässt sich in den Brüchen und Diskontinuitäten eine zeitspezifische Vielschichtigkeit ausmachen. Gerade der Blick auf die Geschlechter hat dies deutlich gemacht; denn das als Autonomie gefeierte Projekt, über den eigenen Lebensentwurf zu verfügen, fordert nicht nur den Tribut des Eintritts in die heteronom-paternalistische Sphäre der Fortpflanzungsmedizin, sondern zeigt auch, dass der vermeintliche Anstieg emanzipativer Zugeständnisse eine Verhaftung in traditionellen Rollen voraussetzt bzw. diese befördert. Beim öffentlichen Sprechen über Reproduktion handelt es sich also um folgenreiches normatives Sprechen. Der Effekt, den dies zeitigt, besteht in der Mobilisierung von Kräfteverhältnissen, die letztlich auf das Individuum zurückwirken (können). Dies geschieht aber auf andere Weise, als es der Vorwurf Gehrings glauben macht. Durch unterschiedliche Codierungen, die Körper durch Narrative, Plots, Diskurse und entsprechende regulierte Praktiken, Bilder und Repräsentationstechnologien annehmen, produzieren sie Selbsttechnologien. Hier wird mitunter darüber entschieden, was gesellschaftlich intelligibel ist und

11 Ebd.

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was nicht. Ein Gerüst aus Normen dient dafür als Gradmesser. In diesem Sinn habe ich das Auftauchen und Verschwinden von Aussagen und ihren Modalitäten an einem öffentlichen Ort als signifikantes Instrument gewertet, eine Perspektive auf diese lebensbezogenen Normen zu gewinnen, festzuschreiben und zu tradieren. Insofern ist Matthias Vogel zuzustimmen, wenn er in kulturellen Aushandlungsprozessen und Tradierungen Macht als wesentlichen Faktor ausmacht und konstatiert, »dass institutionelle (zumal repressive) Macht Tradierungsprozesse Bedingungen unterwerfen kann, die die Spielräume für Variation und Innovation empfindlich einschränken.«12 Die Sagbarkeiten und Unsagbarkeiten im öffentlichen Reproduktionsdiskurs legen uns – nicht nur in diesem Diskurs, aber doch wesentlich geprägt durch ihn und die von mir herausgearbeiteten Strategien – fest auf bestimmte Vorstellungen dessen, was uns am nächsten ist: das Leben. Anhand der drei Szenarien, die sich damit befassen, was ›Leben‹ genauer bezeichnet, wird kenntlich, dass das Leben nichts historisch übergreifendes ist und auch keine lebensweltlich unverzichtbare und biographische Kategorie darstellt, sondern dass es sich eben um jenes hochmoderne Konstrukt handelt, das uns in Gestalt von Biowissenschaften, Biomedizin und Biodaten begegnet – und das unter modernen biotechnischen Bedingungen tatsächlich über seine eigene Form der Wertschöpfung verfügt.13 Dadurch, dass Lebensprozesse zu den Betätigungsfeldern der Macht gehören und diese auf die Bevölkerung zielen, erhalten sie eine Bedeutung, deren Voraussetzung Wissen darstellt, das sich alle Lebensprozesse einverleibt. An der Schnittstelle zwischen Natur und Kultur treten somit Prozesse und Vorgänge mit ihren kulturellen und sozialen Faktoren an die Oberfläche und machen insbesondere im Hinblick auf Vererbung bzw. intergenerationelle Übertragung eine Konzeptualisierung kultureller Faktoren in den Lebenswissenschaften sichtbar. Die von den Disziplinen geprägte politische Anatomie mittels der viel feineren Technik der Überwachung und Abgrenzung bildet die Grundierung, vor der sich dies ereignen kann. Dasjenige, was die ›biologischen Grundlinien‹ bildet, tritt so in eine strategische Politik, in eine allgemeine Machtstrategie ein. In diesem Sinn lässt sich von einer Politisierung des Ethischen sprechen. Die hier erzählten (Körper-)Geschichten bleiben jedoch politische Geschichten, denn

12 Vogel, Matthias: Geist, Kultur, Medien – Überlegungen zu einem nicht-essentialistischen Kulturbegriff, in: Dietz, Simone; Skrandies Timo: Mediale Markierungen, 2007:79. 13 Gehring, Petra: Was ist Biomacht?, 2006:33.

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es geht darum, wie Normen und Normalitäten generiert werden.14 Eine Klärung der Frage stellt beispielsweise in Aussicht zu wissen, wen es zu schützen gilt. Der Begriff des Lebens wird hier erweitert zu dem des Menschen bzw. zu dem der Person, bzw. zur Summe derer, die sich hierzu zählen oder die hierzu gezählt werden. Eine solche Ein- und Zuordnung ist ein – in meinem Verständnis – ›bioethisches‹ Hauptanliegen. Inwiefern die öffentliche Aushandlung zur Beantwortung der Frage mehr Antworten liefert als die üblichen Statuskriterien, wird paradigmatisch deutlich durch die Anthropomorphisierungen, wie ich sie im zweiten Szenario beleuchtet habe. Die Verleihung von Rechten erfolgt hier über die Integration in die Gemeinschaft durch die Mittel der Sprache. Ein Riss entsteht jeweils dort, »wo die Sprache auf das Fleisch trifft und dieses nicht ›in Text‹ aufzulösen vermag: nicht nur beim Tod, sondern unter anderem im Schmerz und im Begehren des verkörperten Subjekts.«15 Diese Befunde möchte ich anhand von drei Punkten zusammenfassen. Dazu nehme ich abschließend das Verhältnis der unterschiedlichen Rechtsformen und die sie erlaubenden und ermöglichenden Erzählweisen in den Blick (1). Darüber hinaus widme ich mich den Überschneidungen und Divergenzen, die sich in der Gegenüberstellung der Beiträge aus Spiegel, Zeit, LNO und L’Express manifestierten (2). Dabei widerspräche es dem Verfahren der Diskursanalyse, hieraus paradigmatische Schlüsse abzuleiten. Ergebnis einer solchen Betrachtungsweise muss es vielmehr sein, anhand von Formationsregeln neue Fragen zu stellen. Besonders die Asymmetrien im Umgang mit dem deutschen und dem französischen Material liefern letztlich hierfür nur Indizien. Sie loten aber nichtsdestotrotz ein Problemfeld aus, das nicht nur Rückschlüsse auf die jeweilige Zeit erlaubt, sondern das in seiner Vielschichtigkeit zeigt, dass hier weit mehr verhandelt wird als die Frage der Fortpflanzung im 21. Jahrhundert. Schließlich ordne ich vor der bereits aufgeführten Unterscheidung zwischen Konsens und Einigung die Ergebnisse ein und befrage sie auf ihre Relevanz hinsichtlich einer möglichen europäischen Homogenisierung (3). Der Ertrag dieser Untersuchung besteht dabei in der Zerstörung dreier naheliegender Illusionen, nämlich erstens der Illusion, dass die Eröffnung von Freiheitsspielräumen (Reproduktionsautonomie) mit der Befreiung oder Minimierung von Biomacht einher gehen könnte, zweitens der Illusion der Rationalität bioethischer Aushandlungsprozesse und drittens der Illusion der Verfahrensrationalität biopolitischer Einigungsprozesse. Positiv gewen-

14 Sarasin, Philpp: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, 2006:103. 15 Ebd.:119.

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det besteht der Gewinn der vorgelegten Diskursanalyse also darin, die Eigengesetzlichkeit des Reproduktionsdiskurses zu verstehen.

(1) P LURALITÄT

DER

R ECHTE

Das Reden über Rechte setzt jemanden voraus, für den oder von dem diese in Anschlag gebracht werden; jemanden, der sie für sich in Anspruch nimmt, sie einfordert oder jemanden, in dessen Namen sie eingefordert werden. Die herangezogenen Beispiele machen offensichtlich, dass eine Verbindung von Reproduktion(smedizin) und Rechten auf drei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist. Sie ist erstens Bezugspunkt für all jene, für die direkt oder indirekt Fragen der Reproduktion zur eigenen Lebenswirklichkeit zählen. Damit ist ihre Anwendung Ausdruck des individuellen Begehrens von autonomen Subjekten. Das gilt sowohl allgemein bezüglich der Entscheidung für oder gegen ein Kind als auch spezieller für diejenige für oder gegen ein bestimmtes Kind. Durch die Anwendung sowohl der PND als auch der PID geraten zweitens Ungeborene in den Fokus. Ob sie ein Recht auf Schutz bzw. ein Recht auf Leben besitzen, hängt auch von der Einschätzung ab, ob es sich bei ihnen um Subjekte oder Objekte handelt bzw. wessen Rechte in einer Konfliktsituation (wie dem Schwangerschaftsabbruch) obsiegen. Letztere changiert zwischen dem Recht auf Autonomie und dem Recht auf Lebens(schutz). Schließlich mischt sich drittens auch ein gesellschaftlicher Anspruch in die Redeweisen, der sich darin ausdrückt, dass bestimmte Verfahren deshalb erlaubt oder verboten sein sollten, weil ihre Anwendung Einfluss nimmt auf die Summe aller Individuen. In der Verschränkung und gegenseitigen Bezugnahme dieser Ebenen machen sich also unterschiedliche und konfligierende Rechtsansprüche geltend, die zwischen dem Recht, sein Leben nach den eigenen Maßgaben zu führen, dem Recht, ein ›gutes‹ Leben zu leben, dem Recht auf Schutz und demjenigen eines gesellschaftlich ausgehandelten Wertekanons angesiedelt sind. Ihre Legitimation beziehen sie dabei aus dem positiven Recht, dem Naturrecht und dem Gewohnheitsrecht. Dieses komplexe Zusammenspiel wird deutlich, wenn man die Bedeutungsverschiebungen der Begriffe Gesundheit und Krankheit und die sie erweiternden Kategorien der Lebensqualität und der Lebenszeit noch einmal zusammenfassend in den Blick nimmt. Designer-Babys dienen als Inbegriff einer vor eugenischen Tendenzen warnenden Bedrohung, vor einem sich über die Natur bzw. den Schöpfungsplan erhebenden Menschen. Dem Reproduktionsdiskurs wird man aber nicht gerecht, wenn man lediglich die Frage nach der ›guten‹ oder ›schlechten‹ Geburt ins Au-

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ge fasst. Bezogen auf die vergangenen fünfzehn Jahre lässt sich vielmehr eine Erweiterung des Lebensbegriffs ausmachen, die zwei unterschiedliche Dimensionen kennt: Die der Zeit und die der Qualität. (a) Indem immer mehr die Lebensqualität für die Rechtfertigung von bestimmten Anwendungen Pate steht, wird zugleich der Krankheitsbegriff erweitert. Dieser tritt aber nun auch gekleidet in ein Gewand spezifischen Leidens an der Diskursoberfläche auf. Mitunter werden diese psychischen Aspekte – wie bei der Infertilität – konstitutiv für die Krankheit. Physische Defizite erhalten so eine undefinierte psychische Komponente, deren Ansprüche jedoch nicht minder wirkungskräftig sind. Im Gegenteil: Sowohl der Rekurs auf das durch die Spätabtreibung verursachte Leiden der betroffenen Frauen, das innerhalb des ersten Szenarios als Argument für die Zulassung der PID firmierte, als auch das Leiden ungewollter Kinderlosigkeit (von Einzelperson und Paaren), wie ich es insbesondere im dritten Szenario entfaltet habe, fokussieren die bereits Lebenden. In der Welt des homo ludens und des homo faber müssen diese Leiden teilweise aus dem Dunstkreis des Pathologischen befreit werden, will man sie im Sinne einer Steigerung vermarkten. Das ist wohl die effizienteste Weise der Risikoüberwindung: Dem entgegenzutretenden Leiden liegen in dieser Wahrnehmung keine medizinischen Befunde zugrunde, sondern durch die Steigerung der Lebensqualität gerechtfertigte Wünsche von Individuen. Teilweise tun sie dies deshalb, weil erst die medizinische Diagnose eine Inanspruchnahme der Technologien rechtfertigt. Sie bildet die (unbesprochene) Basis, vor der sich die Steigerung der Lebensqualität ereignen kann. Bettina Bock von Wülfingen hat das bereits betont und etwa auf die Bedeutung von Leiden, Liebe und Identität in entsprechenden Legitimierungsstrategien hingewiesen.16 Die von mir entwickelten Szenarien erlauben es jedoch, in einem biopolitischen Sinne über die Divergenz individueller Gesundheitsvorstellungen hinauszugehen und die im Reproduktionsdiskurs aufscheinende und neue Freiheitsspielräume erschließende Fortpflanzungsautonomie in einem Umfeld der Biomacht zu sehen, in dem es um Kontrolle und Regulierung von Bevölkerung geht. Folgt man Barbara Orland in ihrer Feststellung, dass ungewollte Kinderlosigkeit gesellschaftlich als Krankheit wahrgenommen werden musste, um hieraus (Behandlungs-)Ansprüche ableiten zu können17, dann avanciert ungewollte Kinderlosigkeit zum Paarproblem. Die reproduktionsmedizi-

16 Bock von Wülfingen, Bettina: Die Genetisierung der Zeugung, 2006. 17 Etwa: Orland, Barbara: Die menschliche Fortpflanzung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit seit den 1970er Jahren, in: Technikgeschichte 13/1999.

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nisch entstehenden Kinder habe ich als Zeichen der Anerkennung derer gelesen, die sie bekommen (dürfen). Zugleich ist der Zugang zu Reproduktionstechnologie reguliert und verengt die Freiheitsspielräume derer, die nicht einer bestimmten Lebensform, nämlich der heterosexuellen Paarbeziehung, angehören. An sie ist die Anerkennung in diesem Kontext gebunden, sie ist der geeignete Ort bio-, das heißt bevölkerungspolitischer Wirksamkeit. Aufgrunddessen kann die Reproduktionsautonomie neben der Wunscherfüllung Einzelner zusätzlich ein gesellschaftliches Versprechen beinhalten, das anschlussfähig an das Paradigma der Lebensqualität ist. In der Auseinandersetzung mit Reproduktionstechnologien artikulieren sich evidenterweise auffallend mehr pro- als antinatalistische Deutungsmöglichkeiten. Diese fordern – vor der Schablone anwachsender individueller Autonomie – ihren Tribut durch die Ansprüche an einen bestimmten Lebensstil. Sie müssen intelligibel sein, müssen entsprechenden Normen zugeordnet sein, die sie wiederholen und ihnen so Bedeutung verleihen. Sie dürfen nicht als »ein vereinzelter oder absichtsvoller ›Akt‹ verstanden werden, sondern als die ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkung erzeugt, die er benennt.«18 Der Konflikt zwischen dem Zugeständnis, Kinder bekommen zu dürfen und der diesbezüglichen rechtlichen Regelung, wie sie Sozialgesetzbuch und Bioethikgesetze in Deutschland und Frankreich formulieren, entscheiden die öffentlichen Aushandlungen mehrheitlich zugunsten der Inanspruchnahme. Der Preis, den es für das integrativ-partizipative Angebot19 zu zahlen gilt, wird jedoch in einer anderen Währung als der des positiven Rechts beglichen: Mit der Aufwertung bzw. Neubewertung von ›Familie‹ und ›Verwandtschaft‹ erhalten Begründungszusammenhänge eine Wichtigkeit, in deren Folge Mutterschaft etwa ebenso flexibilisiert wie re-naturalisiert wird. Anhand der Beispiele lässt sich zudem zeigen, dass hier keineswegs ein geschlechtsloser Körper Gegenstand des Angebots ist. Es bleibt relevant, wessen Körper reproduziert werden soll.20 Im selben Maße, wie Fortpflanzung von Sexualität gelöst erscheint, wird sie sexua-

18 Butler, Judith: Körper von Gewicht, 1997:22. 19 Ein solcher Ansatz ist durch den etwa von Martha Nussbaum vertretenen capabilitiesAnsatz theoretisiert worden. 20 Ein solches Ergebnis stellt einen anderen Befund dar, als ihn Bettina Bock von Wülfingen in ihrer Untersuchung ausmachen konnte: »Dies gibt [...] den neuen Eltern und deren Körpern die Freiheit, abweichend zu sein.« Dies.: Genetisierung der Zeugung, 2006:263.

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lisiert. Die Exklusivität findet fortan ihren Ausdruck in der Entscheidung für ein gemeinsames (biologisches, genetisches) Kind. Der betriebene Aufwand des homo faber führt dabei aber nicht zu einer Exklusivität seiner Person, sondern vielmehr zur Unterwerfung unter eine bestimmte Norm, die ihm dadurch erlaubt, auch homo ludens zu sein. Statt Defizite zu fokussieren, geht es um eine Steigerung des offensichtlich vorhandenen Potenzials durch die Befähigung zur Anteilnahme. Ein solches Potential erweist sich als weniger messbar als es anhand von spezifischen (medizinischen) Werten möglich wäre. Betrachten wir die Reproduktionsmedizin und Genetik in der Summe ihrer Möglichkeiten, dann lässt sich die Bedeutung von Krankheit und Leid auch noch in einer weiteren Lesart ausbuchstabieren: Indem Menschen, die von einer bestimmten genetischen Disposition wissen, die sie auf ›natürlichem‹ Wege mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vererben würden, gilt der Einsatz von medizinischen Verfahren der Vermeindung potentiellen Leids. Dieses kann sich sowohl auf das Leben Zukünftiger als auch auf das seiner Eltern beziehen. Dass dabei ›Erfahrungen‹ Betroffener besondere öffentliche Legitimationskraft besitzen, haben die unterschiedlichen Beispiele gezeigt, die ich hinsichtlich der Normenverschiebung aufgedeckt habe. Genau sie sind es aber, die verdeutlichen, dass es hier um weit mehr geht als um die auf einen einzelnen Körper gerichteten Einschränkungen, die es mittels medizinischer Verfahren aus der Welt zu schaffen gilt. (b) Neben dem Begriff der Lebensqualität lädt sich der Begriff der Lebenszeit signifikant auf. Dieser suggeriert erstens, auch im gestiegenen Alter ließen sich Kinder realisieren. Ein solches Angebot gilt wiederum mehrheitlich als Steigerung der autonomen Lebensgestaltung (und damit ebenfalls der Lebensqualität), weil es – insbesondere – Frauen erlaubt, Karriere und Familie zu vereinen. Das Angebot des eingangs erwähnten FertiChecks illustriert eindrücklich, dass der Zugewinn an Zeit die betroffenen Frauen aber keinesfalls aus der Verantwortung entlässt. Vielmehr können sie nun auf einer prophylaktischen Basis die eigene Fertilität im Auge behalten. Das Wissen um die eigenen ›Fähigkeiten‹, so das Angebot, erlaubt eine exakte Bestimmung des ›richtigen Zeitpunkts‹. Das ist auch dann der Fall, wenn die Angebote flankiert werden von der Warnung vor einem übertriebenen Machbarkeitswahn. Indem Qualität und Quantität des humanen Kapitals so zu bewahren und zu beschützen sind, verwandelt sich das Macht-Wissen in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens. Denn auch das Versprechen, der ›richtige‹ Zeitpunkt sei wählbar, ist ein Zugeständnis an diejenigen, die sich bewusst für Kinder entscheiden. Lebenszeit erhält zwei-

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tens im Diskurs eine Bedeutung, wenn es darum geht, welche Krankheiten und Behinderungen (gegebenenfalls) durch eine PID diagnostiziert werden sollten. Das in Deutschland und Frankreich medial wahrgenommene Beispiel aus England, das die Geschichte eines Paares erzählte, welches die Suche nach der Veranlagung für Brustkrebs in Auftrag gab – eine Erkrankung die, wenn überhaupt, erst in gestiegenem Alter ausbricht –, entfaltete die Beziehung zwischen Lebenszeit und Lebensqualität eindrücklich. Im Gegensatz zu den pronatalistischen kommen antinatalistische Strategien insbesondere dann zum Tragen, wenn von einer gesellschaftlichen Warte aus über die Grenzen des Möglichen spekuliert wird. Aus einer solchen Perspektive rückt die Gattung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Inwiefern diese als folgenreiche Gegenstrategie zur individuellen Leidbekämpfung funktioniert, offenbart sich in den zwei zentralen Sorgen, durch die Anwendung bestimmter Technologien Eugenik zu befördern und (so) Menschenwürde zu verletzen. Insbesondere der letzte Hinweis birgt zwei Perspektiven: Den Verweis auf das einzelne (u.U.: potentielle) Subjekt und die Gefahr, mittels einer solchen Verletzung die Gattung als solche zu unterlaufen. Damit erhält die Anwendung eine Bedrohung für die Gattung (die unseren Interventionsbedarf rechtfertigt). Wie sehr eine solche Befürchtung legislative Gegenstrategien befähigt, markierte die der Installierung des Straftatbestandes »Verbrechen gegen die menschliche Gattung« (crime contre l’espèce humaine) vorausgehende Aushandlung in Frankreich. Sie verweist damit explizit auf den Zusammenhang von Individuen und Gesellschaft, auf einen Zusammenhang von den Rechten Einzelner und denen der Gemeinschaft. Dies kann umgekehrt auch in einer Verpflichtung münden. So formulierte Martha Nussbaum unlängst: »Denken wir noch etwas weiter und stellen uns vor, dass wir bereits im Mutterleib durch genetische Eingriffe sicherstellen könnten, dass das Kind nicht mit so schweren Beeinträchtigungen geboren wird – eine achtbare Gesellschaft müsste genau dies tun.«21 Nussbaum pointiert damit eine Position, die aus dem freigesetzten Wissen eine gesellschaftliche Verpflichtung ableitet; eine, deren Zieldimension auf Basis eines Risikobewusstseins Gesundheit bzw. Lebensqualität darstellt. Das ist in diesem Fall, in einem solchen Heilens-Szenario, vorderhand möglich, weil hier keine Interessenskonflikte auftauchen (was sollte gegen die Verhinderung von Leid sprechen?). Die Fokussierung auf das Ungeborene deutet also auf eine weitere semantische Spielart der Begriffe Gesundheit und Krankheit hin. Dies fragt zum einen nach der Zumutbarkeit sowohl für die Ungeborenen als auch für deren Eltern (und verbindet damit in

21 Nussbaum, Martha: Die Grenzen der Gerechtigkeit, 2010:268.

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gewisser Weise die ersten beiden von mir benannten Ebenen), und nimmt zum anderen die mit einer solchen durch Risikoeinschätzungen befeuerte wie entdramatisierte gesellschaftspolitische Relevanz in den Blick. Insbesondere aus letzterer kann dann sowohl eine Warnung wie auch eine Verpflichtung hervorgehen. Dass das Ineinandergreifen der drei unterschiedlichen Ebenen und der an sie gebundenen Begründungs- und Anforderungszusammenhänge viel mehr ist als Ausdruck individueller Einschätzung, wird zuletzt an den dem positiven Recht vorausgehenden Aushandlungsprozessen sichtbar. Die Komplexität des Dispositivs ›Recht‹ zeigt, dass Gesetze zumindest in Demokratien nicht ex nihilo entstehen und zusätzlich: wie sie entstehen. Die Aushandlung über sie in eine solche Untersuchung einzuschließen, erweitert aber die Frage nach Legalität/Illegalität. Das positive Recht ist in dieser Wahrnehmung nicht nur Initiator sondern auch Ergebnis solcher Aushandlungen. Die diese Arbeit leitende Idee der Normenverschiebung macht durch die beschriebene Steigerung der Lebensqualität und der Lebenszeit (und die mit diesen einhergehenden Rechten) eine gegenüber dem Normenkomplex der ›Heiligkeit des Lebens‹ und seinen klar zutage tretenden heteronomen Machtstrategien einen größeren Grad der Reproduktionsautonomie deutlich. Es wäre allerdings ein Fehlschluss zu glauben, dass mit dem Grad der Freiheit die Machtstrategien, die im Reproduktionsdiskurs auftreten, ihre Wirkkraft verlieren würden. Sie haben sich lediglich transformiert. Die Gründe darzulegen, warum man dieser Illusion weder epistemisch noch normativ erliegen sollte, war ein Ziel dieser Untersuchung.

(2) A NDERE L ÄNDER ,

ANDERE

R ECHTE ?

Ich hatte eingangs die Hypothese aufgestellt, dass der Reproduktionsdiskurs deshalb nationalstaatlich geprägt ist, weil im Sprechen über Reproduktion Diskursives und Nicht-Diskursives akkumuliert. Dass innerhalb der Berichterstattung zum einen Bezug genommen wird auf diskursive Ereignisse mit einer begrenzten lokalen Reichweite und zum anderen spezifische Regelungen zur Disposition stehen, galt mir als ein erster Hinweis für diese Hypothese. In der punktuellen Gegenüberstellung der unterschiedlichen Szenarien in der deutschen und der französischen Berichterstattung ließen sich (wie nicht anders zu erwarten) Überschneidungen wie signifikante Unterschiede ausmachen, die ich dann als ein empirisches Indiz für eine solche Hypothese gewertet habe. Einer Untersuchung, wie ich sie unternommen habe, geht es aber weder darum, einen engge-

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fassten Begriff von Nationalstaatlichkeit auszumachen, noch darum, eine trennscharfe Gegenüberstellung der deutschen und der französischen Berichterstattung zu präsentieren. Vielmehr war es das Ziel, über die Konfrontation unterschiedlicher Aussagesysteme und ihrer Bedingungen auf die Mehrdimensionalität des Diskurses zu verweisen und so eine Perspektive zu gewinnen, die sich von rein ethischen oder rechtlichen Begründungszusammenhängen löst. Ich halte einen solchen Blick auf Fortpflanzungsmedizin und Genetik auch deshalb für gewinnbringend, weil ihr Gegenstand – das menschliche Leben – an der Schnittstelle zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft angesiedelt ist. Das bedeutet: Er geht uns alle an. Die sich aber an eine solche triviale Einschätzung bindenden Aussagen, wie sie Zeit, Spiegel, L’Express und LNO hervorbringen, postulieren in ihrer Differenz einen Verweischarakter, der die explizierten Rechte und die Ebenen, auf denen diese angesiedelt sind, unterschiedlich gewichtet. Sie benennen zudem unterschiedliche Quellen für eine solche Bewertung. In einer vom Material ausgehenden Beschreibung musste es möglich sein, die »Transformation zu bestimmen, die den Übergang von einer Beschreibung zur anderen gestattet.«22 Ein solcher Anspruch rückt Brüche und Diskontinuitäten ins Zentrum, weil sie es sind, die Transformationen markieren. Dabei ging es mir darum, zu zeigen, dass die Diskontinuität nicht eine »monotone undenkbare Leere zwischen den Ereignissen darstellt, die man eilends durch die trübe Fülle der Ursachen oder durch die behände Bewegung des Geistes (zwei völlig symmetrische Lösungen) ausfüllen müsste, sondern, dass sie ein Spiel spezifischer voneinander unterschiedlicher Transformationen darstellt (von denen jede ihre eigenen Bedingungen, eigene Regeln und ihr eigenes Niveau besitzt), die untereinander gemäß den Schemata der Abhängigkeit verknüpft sind. Die Geschichte besteht in der deskripitven Analyse und in der Theorie dieser Transformationen.«23 Dass der – auch anhand der legislativen Bestimmung ablesbare – Umgang mit Reproduktionsmedizin in Deutschland und Frankreich divergiert, haben die Szenarien gezeigt. Aufschlussreich sind für mich die Begründungen, die für solche Unterschiede aufgeboten werden. 2010 konstatierte etwa Dieter Birnbacher: »Im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Ländern hat sich die deutsche Biopolitik bisher sehr zurückhaltend gegenüber den neuen Techniken wie der Präimplantationsdiagnostik […] und der Auswahl entwicklungsfähiger Embryonen […] verhalten. Diese

22 Foucault, Michel: Dits et Ecrits, Bd.I, 2001:756. 23 Ebd. :868.

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Techniken sind nicht bzw. noch nicht in Deutschland verfügbar und Paare, die sie in Anspruch nehmen wollen, sehen sich gezwungen, sie im Ausland vornehmen zu lassen. In Frankreich, unserem in seinen kulturellen und moralischen Traditionen vielleicht am nächsten verwandten Nachbarland, ist die erste Geburt eines Kindes nach Präimplantationsdiagnostik nahezu einhellig begrüßt worden.«24

Birnbacher verwendet hier einen Biopolitik-Begriff, wie ich ihn in meiner Einleitung verworfen habe. Bemerkenswert für mich an dieser Stelle ist jedoch Birnbachers Hinweis auf die deutsche Ablehnung. Denn eine solche lasse sich festmachen, obwohl kulturell und traditionell eine Nähe zu Frankreich bestehe. Damit weist Birnbacher einen Begründungszusammenhang für den Umgang mit der PID auf (Kultur/Moral), der aber offensichtlich (folgen wir der These von der Nähe) nicht ausreicht, den Unterschied zu erklären. Andernfalls müsste, bewegen wir uns auf einer strukturellen Ebene, die PID sowohl in Deutschland als auch in Frankreich gleichermaßen installiert und akzeptiert sein. Der unterschiedliche rechtliche Rahmen als Erklärung für die Differenz reicht nach der von mir durchgeführten Analyse nicht mehr aus. Auch die Kontroverse, die das BGH-Urteil bzw. die sich hieran anschließende Forderung auf Zulassung provoziert hat, negiert das. Hier zu glauben, die Rationalität der Bioethik (im engeren Sinne) alleine könne die Übertragbarkeit von Argumenten von einem Diskurskontext in den anderen leisten, stößt offensichtlich auch an Grenzen. Diese Illusion der Rationalität normativer Aushandlungen zu zerstören, war ein weiteres Ziel meiner Überlegungen. Mein Anliegen bestand eher darin, die Mehrschichtigkeit, die es zur Identifikation von Begriffen wie Kultur und Moral braucht, anhand des Materials in dem Sinn zu konkretisieren, als dass ich die unterschiedlichen Aussagen in einen Zusammenhang mit denen sie flankierenden Rahmenbedingungen gesetzt habe. Besonders deutlich treten nämlich die Unterschiede anlässlich der Aushandlung über die jeweiligen Rahmenbedingungen zu Tage. Vor allem das erste Szenario hat in diesem Sinn hiervon ausgehende diskursive Strategien anlässlich des positiven Rechts in den Blick genommen. Dass Frankreich mit den Bioethikgesetzen einen anderen Rahmen stiftet, als das Deutschland beispielsweise mit dem Embryonenschutzgesetz tut, ist die eine Seite. Dass sich aufgrund dessen auch jeweils unterschiedliche Geschichten anbieten, ist die andere. Welche Bedeutung

24 Birnbacher, Dieter: Menschewürde und Lebensrecht als Maßstäbe für PGB? Ein Kommentar aus pihlosophischer Sicht, in: Gethmann, Carl Friedrich; Huster, Stefan (Hg.): Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, 2010:13.

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kommt dem positiven Recht also im Reproduktionsdiskurs zu? Es ist auf jeden Fall Impulsgeber. Die Infragestellung bzw. die Novellierungsnotwendigkeit illustrieren dies. Darüber hinaus aber provoziert es Vergleiche. Das ist zum einen zwischen unterschiedlichen Gesetzen der Fall (etwa Paragraf 218 StBG und ESchG). Zudem dient der Verweis auf die Rechtsordnung der anderen als ein Beleg für ein anderes Verhältnis zwischen Recht und Realität. Diese Fragen betreffen auch diejenige, welche Antwort auf die universalistische Unterstellung im Bezug auf ›Leben‹, ›Körper‹, ›Mensch‹/›Person‹ auf europäischer Ebene getroffen werden. Wie virulent eine solche Auseinandersetzung ist, verdeutlicht u.a. das mehrfach erwähnte Problem des Reproduktionstourismus (das sich selbstredend nicht auf Europa beschränkt): Obwohl bestimmte Verfahren in Deutschland und Frankreich nicht angeboten werden, bedeutet das nicht, dass Bürgerinnen und Bürger nicht an ihnen partizipieren. Auf einer anderen Seite markiert das Reden über die Regeln der Anderen zugleich eine Positionierung innerhalb der eigenen rechtlichen und ethischen Standards. Dies kann legitimierend der Fall sein – wie es insbesondere anlässlich der PID offensichtlich wurde. Ursprünglich wie ein Spezialproblem wahrgenommen avancierte die PID durch ihre Verschränkung von Öffentlichkeit, Recht und Ethik zu einem geradezu exemplarischen Fall biopolitischer Strategien. Sie stellt dabei aber auch ein Beispiel für eine weitere Ebene dar: Hier geht es nicht nur darum, ob ihre Anwendung mit dem aktuellen Gesetz kompatibel ist, sondern, das machen die Verweise in den französischen Beispielen augenscheinlich, auch darum, wer Zugang zu ihr hat. Denn wenngleich prinzipiell die Inanspruchnahme mit den Bioethikgesetzen vereinbar ist, können nicht alle, die das wünschen, die PID in Anspruch nehmen. Drückt sich also in dem Verweis auf die Möglichkeiten der Anderen etwas wie eine Sehnsucht nach dem anderen Recht aus? Diese Frage lässt sich vorderhand nicht beantworten, denn neben ihrer Funktion als Druckmittel (ein Verbot zwingt Frauen ins Ausland; es macht die Scheinheiligkeit der (ethischen) Ansprüche transparent), dient insbesondere in Zeit und Spiegel der Blick auf den Nachbarn – und hier besonders Großbritannien – der Selbstvergewisserung der eigenen Ansprüche. Das Recht der Anderen befördert also das Reden über das eigene Recht und die Frage, wem was zugestanden werden sollte. Besonders das dritte Szenario hat für die Auseinandersetzung in LNO und L’Express in diesem Sinn einen Egalitarismus stark gemacht, wie er in Spiegel und Zeit zwar durchaus auch auftaucht (ebenfalls im Sinne der reproduktiven Freiheit), jedoch erfährt dort die auf der Ebene der Subjekte angesiedelte Plausibilität der Gleichheit eine Grenze; und zwar genau dann, wenn eine Konfliktsituation mit den Ungeborenen droht. Die sich so artikulierenden Argumente, die zum Normenkomplex der ›Heiligkeit

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des Lebens‹ gehören, verdeutlichen auch in der Kontrastierung, dass trotz der zunehmenden Bezugnahme auf die Leidbekämpfung keinesfalls die eine Norm die andere einfach rückstandslos ersetzt. Das Recht auf ein gesundes Kind als Recht auf Inanspruchnahme der Amniozentese einzufordern (und so einer antinatalistischen Strategie zu folgen), ist dementsprechend in Zeit und Spiegel eine Unsagbarkeit. Wie das dritte Szenario gezeigt hat, obsiegt in der Sprachpraxis der/die Schwächere in einer Konfliktsituation. Damit ist natürlich keinesfalls eine Aussage getroffen über entsprechende Praktiken, wie sie sich etwa nach einem positiven Befund ereignen. Stattdessen referiert entsprechende (Un-) Sagbarkeit auf die dritte von mir benannte Ebene. Sie macht damit auch mittels der Aussagen kenntlich, welches Bild über sich bedient und wie dieses im öffentlichen Raum installiert wird.

(3) E INIGUNG

UND

K ONSENS ? – D AS P ROJEKT E UROPA

Verbindend ist allen Medien, dass sie die Klaviatur aller drei Ebenen wechselseitig bespielen. Daraus eröffnet sich ein Hallraum, in dem subjektive Wünsche in einem größeren Kontext erklingen: in der Relationalität zwischen Subjekten und Bevölkerung. Die vorderhand erfolgende Bedürfnisbefriedung aller stellt die Basis des für die Denkbarkeit und Anwendung von Verfahren notwendigen guten Gewissens dar. Was bedeutet ein solcher Befund nun für die Perspektive, eine gemeinsame Verpflichtung, wie die europäische Bioethikkonvention, zu ratifizieren? Diesen Schritt sind bis Juni 2011 weder Frankreich noch Deutschland gegangen. Eine Untersuchung, wie ich sie mit der Diskursanalyse vorgelegt habe, möchte Gründe aufzeigen für die Divergenzen, wie sie sich eben offensichtlich auch auf transnationaler Ebene manifestieren. In diese ist das Spannungsverhältnis zwischen Konsens und Einigung eklatant eingeschrieben. Würde man nun glauben, man könnte durch Verhandlungsgeschick eine Einigung auf europäischer Ebene erzielen, säße man einer weiteren Illusion auf, der Illusion biopolitischer Verfahrensrationalität, die im Hintergrund der zitierten Überlegungen Birnbachers zu stehen scheint. An den sehr verschiedenen Prägungen, die die deutschen und der französischen Diskurse etwa durch den Begriff der Eugenik erfahren haben, gewinnt man vielmehr ein Bild davon, wie komplex und schwierig jene Aushandlungsprozesse sind, die vor einer Einigung, geschweige denn vor einem Konsens stehen. Vergegenwärtigen wir uns also die unterschiedlichen Schichten, die der Umgang mit dem Material freigelegt hat – etwa den Blick auf die Geschlechterverhältnisse, – den Umgang mit der (eigenen) Geschichte, – das Demokratiever-

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ständnis –, dann wird deutlich, dass die durch die Reproduktionsmedizin aufgeworfenen Fragen subkutan an andere Geschichten gebunden sind als die, die politischen Verfahren zur Verfügung stehen. Diese Geschichten stellen einen Teil des Gerölls dar, den es durch einen solchen Ansatz freizulegen galt. »Jede Gesellschaft schafft eine Reihe von Gegensatzsystemen – gut und böse, erlaubt und verboten, schicklich und unschicklich, kriminell und nichtkriminell. All diese für Gesellschaften konstitutiven Gegensätze reduzieren sich heute in Europa auf den einfachen Gegensatz zwischen ›normal‹ und pathologisch. Dieser Gegensatz ist nicht nur einfacher als die übrigen, sondern hat auch noch den Vorzug, dass er den Eindruck erweckt, es gebe eine Technik, mit deren Hilfe sich das Pathologische auf das Normale zurückführen lässt.«25

25 Foucault, Michel: Dits et Ecrits, Bd.I, 2001:793.

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Art. »Mit anderen Worten: Nein«, in: Die Zeit 49/2000. Art. »Ein eindeutiges Ja«, in: Die Zeit 1/2001. Art. »Die personale Würde ist in Gefahr«, in: Die Zeit 1/2001. Art. »Nur ein Zellhaufen?«, in: Die Zeit 1/2000. Art. »Gezeugt, nicht gemacht. Wann ist der Mensch ein Mensch?«, in: Die Zeit 4/2001. Art. »Rechte für Embryonen? Die Menschenwürde lässt sich nicht allein auf die biologische Zugehörigkeit zur Menschheit gründen«, in: Die Zeit 5/2001. Art. »Gezeugt, nicht gemacht«, in: Die Zeit 6/2001. Art. »Hättest Du mich abgetrieben?«, in: Die Zeit 7/2001. Art. »Gesucht: Der dritte Weg in der Biopolitik«, in: Die Zeit 9/2001. Art. »Der künstliche Mensche«, in: Die Zeit 12/2001. Art. »Check im Eikern«, in: Die Zeit 13/2001. Art. »Was kann, was darf der Mensch?«, in: Die Zeit 14/2001. Art. »Wir sind eine Wertepartei«, in: Die Zeit 17/2001. Art. »Zweierlei Moral«, in: Die Zeit 19/2001 Art. »Ein gewisses Maß an Tragik«, in: Die Zeit 21/2001. Art. »Schwanger auf Bewährung«, in: Die Zeit 21/2001. Art. »Ohne Frau kein Embryo«, in: Die Zeit 21/2001. Art. »Austragen statt töten«, in: Die Zeit 21/2001. Art. »Die Schlacht am Rubikon«, in: Die Zeit 22/2001. Art. »Nah am britischen Vorbild«, in: Die Zeit, 22/2001. Art. »Babytest im Labor«, in: Die Zeit 22/2001. Art. »Eine Debatte, noch keine Entscheidung?«, in: Die Zeit 23/2001. Art. »Altmodisch fortschrittlich«, in: Die Zeit 23/2001. Art. »Ohne Mutter keine Menschenwürde«, in: Die Zeit 24/2001. Art. »Die Abtreibungsfalle«, in: Die Zeit 25/2001. Art. »Der Staat und die Heiligkeit des Lebens«, in: Die Zeit 26/2001. Art. »Eine Haarbreite bis zum Klon«, in: Die Zeit 26/2001. Art. »Bremser am Drücker«, in: Die Zeit 26/2001. Art. »Post vom Kanzler«, in: Die Zeit 31/2001. Art. »Selektion ist nicht akzeptabel«, in: Die Zeit 31/2001. Art. »Frauen ohne gute Hoffnung«, in: Die Zeit 31/2001. Art. »Babytest im Labor«, in: Die Zeit 31/2001. Art. »Biopolitik als Glücksspiel«, in: Die Zeit 34/2001. Art. »Das Volk hat gesprochen«, in: Die Zeit 49/2001. Art. »Papa ist der beste Freund«, in Die Zeit 52/2001. Art. »Im Basar der Biopolitik«, in: Die Zeit 5/2002. Art. »Auf schiefer Ebene«, in: Die Zeit 5/2002.

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Art. »Gezeugt, nicht gemacht«, in: Die Zeit 9/2002. Art. »Das Leben wird’s richten«, in: Die Zeit 10/2002. Art. »Schwanger um jeden Preis«, in: Die Zeit 20/2002. Art. »Union debattiert über Präimplantations-Diagnostik«, in: Die Zeit 22/2002. Art. »Ein Wunsch, drei Sorgen«, in: Die Zeit 38/2002. Art. »Zeugung auf Probe«, in: Die Zeit 41/2002. Art. »Wiedervorlage«, in: Die Zeit 47/2002. Art. »Mutterglück im Rentenalter«, in: Die Zeit 5/2003. Art. »Zukunft ist anderswo«, in: Die Zeit 20/2003. Art. »Von der Ruhe der Seele«, in: Die Zeit 22/2003. Art. »Vater per Skalpell«, in: Die Zeit 46/2003. Art. »Babysehnsucht«, in: Die Zeit 25/2004. Art. »Projekt Genesis«, in: Die Zeit 08/2006. Art. »Im Zweifel für das Leben«, in: Die Zeit 4/2008. Art. »Würde ohne Zweifel«, in: Die Zeit 6/2008. Art. »Die Logik zerbricht«, in: Die Zeit 16/2008. Art. »Der große Unterschied«, in: Die Zeit 23/2008. Art. »Unverbindlich verboten. Die Suche der UN nach einem Klonkonsens ist gescheitert«, in: Die Zeit 9/2005. Art. »Alles, was geht?«, in: Die Zeit 37/2007. Art. »Das Land der Familie«, in: Die Zeit 18/2008. Art. »Der große Unterschied. Die Briten sind im Umgang mit Genforschung und Reproduktionsmedizin das liberalste Volk Europas – Ihr Antrieb ist pragmatische Neugier«, in: Die Zeit 23/2008. Art. »Die Zukunftskinder«, in: Die Zeit 23/2008. Art. »Wir haben abgetrieben«, in: Die Zeit 8/2009. Art. »Die trotzdem Geborenen«, in: Die Zeit 12/2009. Art. »Die Ausweitung der Grauzone«, in: Die Zeit 30/2009. Art. »Schwarz, gelb, frei?«, in: Die Zeit 41/2009. Art. »Verbotene Kinder«, in: Die Zeit 17/2010. Art. »Wie ein Untoter«, in: Die Zeit 20/2010. Art.»Prüfung am Beginn des Lebens«, in: Die Zeit 28/2010. Art. »Prüfung am Beginn des Lebens«, in: Die Zeit 28/2010. Art. »Sollen Gentests an Embryonen verboten werden?«, in: Die Zeit 29/2010. Art. »Guten Gewissens«, in: Die Zeit 43/2010. Art. »Um Leid zu verhindern«, in: Die Zeit 43/2010.

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Verwendete Artikel aus Der Spiegel Art. »Anti-Baby-Pille nur für Ehefrauen?«, in: Der Spiegel 9/1964. Art. »Bilanz: Nach wie vor zugunsten der Pille«, in: Der Spiegel 12/1970. Art. »Das Unbehagen an der Pille«, in: Der Spiegel 06/1977. Art. »Verführt die Pille zum Partnerwechsel?«, in Der Spiegel 06/1979. Art. »Pille dämpft die Lust am Sex«, in Der Spiegel 02/1979. Art. »Mensch, da ist ein Baby drin«, in: Der Spiegel 25/1981. Art.»Schamloser als die Nazis«, in: Der Spiegel 7/1983. Art. »Tun wir Frauen etwas Gutes?«, in: Der Spiegel 17/1992. Art. »Schlachtfest im Labor«, in: Der Spiegel 31/1996. Art. »Schwarzes Loch«, in: Der Spiegel, 33/1996. Art. »Jagt auf den Spermiator«, in: Der Spiegel 15/1999. Art. »Der Denker fällt vom Hochseil«, in: Der Spiegel 38/1999. Art. »Eingriffe in die Keimbahn«, in: Der Spiegel 1/2000. Art. »Entscheidung im Mutterleib«, in: Der Spiegel 4/2000. Art. »Verheißung oder Teufelswerk«, in: Der Spiegel 9/2000. Art. »Der Geist aus der Flasche«, in: Der Spiegel 15/2000. Art. »Die Medizin von morgen«, in: Der Spiegel 15-17/2000. Art. »Das perfekte Kind«, in: Der Spiegel 21/2000. Art. »Das Geheimnis des weiblichen Körpers«, in: Der Spiegel 30-33/2000. Art. »Die Menschenfabrik«, in: Der Spiegel 34/2000. Art. »Erotik in der Cyberwelt«, in: Der Spiegel 38/2000. Art. »Heiler aus der Retorte«, in: Der Spiegel 41/2000. Art. »Küss die Hand, gnädiges Ei«, in: Der Spiegel 48/2000. Art. »Kind in der Warteschleife«, in: Der Spiegel 4/2001. Art. »Konflikt am Kabinettstisch«, in: Der Spiegel 10/2001. Art. »Zeugung auf belgisch«, in: Der Spiegel 12/2001. Art. »Konflikt am Kabinettstisch«, in: Der Spiegel 12/2001. Art. »Wir sind besser als Gott«, in: Der Spiegel 20/2001. Art. »Ethischer Ernstfall«, in: Der Spiegel 21/2001. Art. »In zwei Jahren klinische Versuche«, in: Der Spiegel 22/2001. Art. »Vorsprung durch den Glauben«, in: Der Spiegel 24/2001. Art. »Das ist ein Riesengeschäft«, in: Der Spiegel 26/2001. Art. »Flaschenpost aus Übersee«, in: Der Spiegel 27/2001. Art. »Flucht ins Grundsätzliche?«, in: Der Spiegel 27/2001. Art. »Nachwuchs in der Warteschleife«, in: Der Spiegel 29/2001. Art. »Immer mehr Frauen entdecken die Mutterrolle«, in: Der Spiegel 29/2001. Art. »Unglückliche Freunde«, in: Der Spiegel 31/2001.

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Art. »Nicht alles Leben ist heilig«, in: Der Spiegel 48/2001. Art. »Pflicht zur Widernatürlichkeit«, in: Der Spiegel 48/2001. Art. »Angst vor dem Dammbruch«, in: Der Spiegel 49/2001. Art. »Auch die Pille ist künstlich«, in: Der Spiegel 50/2001. Art. »Laborbabys werden mehr geliebt«, in Der Spiegel 2/2002. Art. »Das Wunschkind«, in: Der Spiegel 2/2002. Art. »Babys auf Rezept«, in: Der Spiegel 4/2002. Art. »Wann ist der Mensch Mensch?«, in: Der Spiegel 5/2002. Art. »Heilungschancen...«, in: Der Spiegel 5/2002. Art. »Freie Wildbahn«, in: Der Spiegel 6/2002. Art. »Babys auf Rezept«, in: Der Spiegel 4/2002. Art. »Schnee von gestern«, in: Der Spiegel 32/2002. Art. »Ich will nicht Gott spielen«, in: Der Spiegel 1/2003. Art »Der gläserne Embryo«, in: Der Spiegel 8/2003. Art. »An der Grenze des Rechts«, in: Der Spiegel 3/2005. Art. »Weckruf aus Fernost«, in: Der Spiegel 21/2005. Art. »Fortschrittsglaube gegen Moral«, in: Der Spiegel 34/2005. Art. »Die Babygrenze«, in: Der Spiegel 46/2005. Art. »Wunschkind aus der Kälte«, in: Der Spiegel 16/2006. Art. »Zwei Männer und ein Baby«, in Der Spiegel 4/2007. Art. »Schwierige Meinungsbildung«, in: Der Spiegel 5/2008. Art. »Rohstoff der Menschenwürde«, in: Der Spiegel 7/2008. Art. »Geschäft mit der Hoffnung«, in: Der Spiegel 22/2008. Art. »Die Fabrik des Lebens«, in: Der Spiegel 38/2008. Art. »Schwangerschaft auf Probe«, in: Der Spiegel 1/2009. Art. »Selbstfindung für Diven«, in: Der Spiegel 46/2009. Art. »Konkurrenz für Gott«, in: Der Spiegel 1/2010. Art. »Das Ende einer Farce« , in: Der Spiegels 28/2010. Art. »Koalition streitet über Embryonenschutz«, in: Der Spiegel 28/2010. Art. Schwere Schäden«, in: Der Spiegel 43/2010.

Verwendete Artikel aus Le Nouvel Observateur Art. »Féministe, ah non ! En lutte, oui !«, in: LNO 1578, 02.-08.02.1995. Art. »L’ île où avorter est un crime«, in : LNO 1632, 15.-21.02.1996. Art. »Pour une reconnaissance légal du couple homosexuel«, in: LNO 1644, 09.15.05.1996. Art. »La starlette anti-IVG«, in: LNO 1649, 13.-19.06.1996.

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Art. »Mes parents s’entendent très bien. Être enfant d’homos«, in: LNO 1649, 13.-19.06.1996. Art. »La Tentation du bébé sans defaut«, in LNO 1670, 7.-13.11.1996. Art. »Génétique : les pièges du «risque zéro«, in : LNO 1670, 7.-13.11.1996. Art. »Secrets et mesonge des parents gays«, in: LNO 1702, 19.-25.06.1997. Art. »Parents homo, enfants aimés«, in: LNO 1702, 19.-25.06.1997. Art. »Dieu, la science et la vie«, in: LNO 1711, 21.-27.08.1997. Art. »L’embryon a-t-il une âme?«, in : LNO 1711, 21.-27.08.1997. Art. »Jacques Milliez : les dangers du «génétiquement correct « «, in : LNO 1802, 20.-26.05.1999. Art. »La polémique qui enflamme l’Allemange«, in : LNO 1822. 7.-13.10.1999 Art. »La vie est-elle une marchandise?«, in LNO 1835 10.-17.01.2000. Art. »Paroles d’enfants«, in: LNO 1859, 22.-28.6.2000. Art. »Ne confondons pas les faits et le droit«, in: LNO 1859, 22.-28.6.2000. Art. »Enfants d’homos, enfants comme les autres?«, in: LNO 1859, 22.-28.6. 2000. Art. »Homos, hétéros meme combat«, in: LNO 1859, 22.-28.6.2000. Art. »Quand les Homos veulent des énfants«, in: LNO 1859, 22.-28.6.2000. Art. »IVG. Repondre d’abord à la détresse«, in : LNO 1865, 3.-9.8.2000. Art. »Clonage humain. La la gêne éthique«, in : LNO 1869, 31.8-06.09.2000. Art. »Les déchirements de l’avortement«, in : LNO 1882, 30.11-6.12.2000. Art. »La science est-elle devenue folle?«, in : LNO 1921, 30.8-3.9.2001. Art. »L’homme infini«, in : LNO 1934, 29.11-5.12.2001. Art. »De l’inconvénient d’être né«, in: LNO 1940, 10.-16.1.2002. Art. »L’après Perruche«, in: LNO 1941, 17.-23.1.2002. Art. »Une sicence à la mode, la « biologie-fiction » «, in : LNO 1969, 01.07.8.2002. Art. »Les Materintés une politique de revonversion«, in: LNO 1989, 19.25.12.2002. Art. »Les mystère de la nouvelle Eve«, in: LNO 1991, 2.-8.1.2003. Art. »Menance pour la recherche? Haro sur le clone«, in: LNO 1995, 30.1-5.2. 2003. Art. »Clone est-il un crime?«, in: LNO 1994, 06.02.-13.02.2003. Art. »Deux hommes, deux femmes et un couffin«, in: LNO 2063, 20.-26.05. 2004. Art. »On bafoue le réel«, in : LNO 2063, 20.-26.05.2004. Art. »Des bébés sur catalogue », in: LNO 2071, 19.-26.08.2004. Art. »Les nouveaux combats de femmes«, in: LNO 2099, 27.1-4.02.2005. Art. »Fiction scientifique. La machine à bébés«, in: LNO 2109, 07.-13.4.2005.

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Art. »Neuf mois, 15 000 euros. J.F. propose ventre à louer«, in: LNO 2142, 01.7.12.2005. Art. »La controverse de l’embryon«, in : LNO 2171, 15.-21.6.2006. Art. »Que va-t-on raconter aux enfants?«, in: LNO 2171, 15.-21.6.2006. Art. »Plus morale que le clonage«, in: LNO 2250, 20.12.2007-02.01.2008 Art. »Le cardinal et le biologiste«, in: LNO 2264, 27.3-2.4.2008. Art. »Un état civil in utero?«, in : LNO 2287, 3.-10.9.2008. Art. »Bioéthique et politique«, in LNO 2322, 7.-13.05.2009. Art. »Le rapport sur les états généraux de la bioéthique a été remis à l’Elysee« : in: LNO 2028, 02.-09.07.2009. Art. »Bioéthique: vrai Etats géneraux ou belle operation de com?«, in: LNO 2028, 02.-09.07.2009. Art. »Moi, C., mère porteuse«, in : LNO 2348, 02.-11.11.2009. Art. »Produire de la peu de bébé«, in: LNO 2351, 26.11-03.12.2009.

Verwendete Artikel aus L’Express Art. »L’IVG, l’éthique et le portefeuille«, in: L’Express 2332, 17.-24.10.1996. Art. »Les scénarios d’une France ridée«, in: L’Express 2374, 02.08.01.1997. Art. »Trente ans d’ enfants desirés«, in: L’Express 2394, 22.-28.05.1997. Art. »Clonage Humain. Peut-on encore les arrêter?«, in: L’Express 2430, 29.14.2.1998. Art. »Gare aux biotechnocrates«, in: L’Express 2445, 14.-20.5.1998. Art. »Embryons sous haute surveillance«, in: L’Express 2446, 21.-27.5.1998. Art. »La course du clonage manipulé«, in : L’Express 2503, 24.-30.6.1999. Art. »Homos. Le droit d’être parents«, in: L’Express 2529, 07.-13.10.1999. Art. »Bioéthique: Pas de loi en catimini«, in : L’Express 2538, 24.2-1.3.2000. Art. »Femmes : »IVG vers une loi assouplie ?«, in : L’Express 2545, 13.-19.4. 2000. Art. »Législation : Adoption par des homos: le vrai-faux débat«, in: L’Express 2552, 01.-7.6.2000. Art. »La nouvelle bateille de l’IVG«, in: L’Express 2569, 28.09.2000-04.10. 2000. Art. »Jospin s’engage«, in: L’Express 2576 6.-13.12.2000. Art. »IMG: La tentation d’enfant parfait«, in: L’Express 2598, 19.-25.4.2001. Art. »Le manifeste des 17«, in: L’Express 2647, 03.-09.01.2002. Art. »L’affaire Perruche«, in: L’Express 2647, 03.-9.1.2002. Art. »Parents homo: l’idée de Jospin«, in: L’Express 2660, 4.-10.4.2002.

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Art. »Pour une loi exemplaire«, in : L’Express 2690, 23.-29.01.2003. Art. »Nous luttons contre la fatalité des gènes«, in: L’Express 2705, 08.-14.05. 2003. Art. »La bioéthique selon Mattei«, in: L’Express 2741. 4.-11.12.2003. Art. »L’embryon diverse l’Europe«, in: L’Express 2753, 5.-11.4.2004. Art. »Un cadre pour la médicine du futur«, in: L’Express 2828, 15.-21.05.2005. Art. »Mère porteuses. Le marché clandestin«, in: L’Express 2828, 15.-21-9. 2005. Art. »Progrès ou danger?«, in L’Express 2846, 18.-25.01.2006. Art. »Les gays et les enfants«, in: L’Express 2847, 26.1-1.2.2006. Art. »Mère porteuses: l’imbroglio judiciaire«, in: L’Express 2864, 25.31.5.2006. Art. »La tentation de l’eugenisme«, in: L’Express 2880, 14.-20.09.2006. Art. »Aujourd’hui, on veut des bébés à tout prix«, in: L’Express 2903 [22.28.02.2007. Art. »Mères porteuses vers la legislation ?«, in : L’Express 2971, 12.-18. 06.2008. Art. »2009, année bioéthique«, in: L’Express 3001, 08.01-14.01.2009. Art. »Mères porteuses »C’est de l’aliénation », in: L’Express 3020, 21.-27.05. 2009. Art. »Le Conseil d'Etat dit non aux mères porteuses«, in: L’Express 3022 30.0506.06.2009. Art. »Les Etats géneraux de la bioéthique font leur bilan.«, in: L’Express 3025, 02.-09.07.2009. Art. »Bioéthique: vrai Etats géneraux ou belle operation de com?«, in: L’Express 3025., 02.-09.07.2009. Art. »Des enfants marchandieses«, in: L’Express 3028, 25.06.-01.07.2009. Art. » Bébés sains à la carte«, in: L’Express 3027, 09.-15.07.2009. Art. »Bioéthique : comment les parlementaires veulent faire évoluer la loi «, in: L’Express 3072, 08.-15.02.2011.

Danksagung Im Kontext einer Untersuchung, die sich mit Fortpflanzung beschäftigt, stellt ‚Fruchtbarkeit’ einen Dreh- und Angelpunkt dar. Das gilt aber nicht nur inhaltlich. Denn zur Erstellung jeder wissenschaftlichen Arbeit braucht diese ein »fruchtbares« Klima, in dem sie wachsen und gedeihen kann. Für dieses Klima bin ich unterschiedlichen Menschen und Institutionen zu Dank verpflichtet. Ein solcher gilt in erster Linie den beiden Betreuerinnen meiner Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt: Inge Marszolek und Konstanze Plett. Beide haben sich aufgeschlossen und neugierig meinem Thema zugewandt und standen für zahlreiche Diskussionen bereit. Sie haben mich an jeweils unterschiedliche Institutionen herangeführt: Ich hatte während der gesamten Phase der Dissertation die Möglichkeit, Thesen und Texte in Inge Marszoleks Colloquium Werkstatt Kulturgeschichte auszuprobieren, sie zu verteidigen, zu retten oder auch zu verwerfen. Allen Menschen, die ich dort kennengelernt habe, an deren Arbeiten ich mitgewachsen bin, danke ich. Sie alle zu nennen, würde zu weit führen. Eine Ausnahme möchte ich trotzdem machen: Ich bedanke mich für das diskussionsfreudige, kritische und sehr freundschaftliche Zusammensein bei Yvonne Robel. Konstanze Plett hat mir die Tür zum Zentrum Gender Studies geöffnet. Auch dafür danke ich ihr sehr. Für die Möglichkeit, dort einen Büroplatz zu beziehen, für die gemeinsamen Gespräche, und die institutionelle Anbindung danke ich zudem Christine Eifler stellvertretend. Meine Dissertation wurde durch die Hans-Böckler-Stiftung gefördert, die damit nicht nur einen materiellen, sondern einen viel weiter reichenden Rahmen gestiftet hat, für den ich ebenfalls danken möchte. Viele Menschen gälte es zu nennen, deren Interesse, Geduld und warme Zugewandtheit diese Zeit begleitet und geprägt haben. Ich verzichte darauf, Familie, Freundinnen und Freunden auf diesem Weg zu danken. Und zwar deshalb, weil in manchen Situationen das gesprochene Wort mehr wiegt als das geschriebene. Eine Ausnahme mache ich: Ich danke von ganzem Herzen Thorsten Jantschek.

KörperKulturen Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.) Körperhandeln und Körpererleben Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld 2010, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1227-1

Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung 2008, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-227-6

Aubrey de Grey, Michael Rae Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung 2010, 396 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1336-0

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KörperKulturen Robert Gugutzer Verkörperungen des Sozialen Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen Dezember 2011, ca. 276 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1908-9

Sabine Mehlmann, Sigrid Ruby (Hg.) »Für Dein Alter siehst Du gut aus!« Von der Un/Sichtbarkeit des alternden Körpers im Horizont des demographischen Wandels. Multidisziplinäre Perspektiven 2010, 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1321-6

Paula-Irene Villa (Hg.) schön normal Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst 2008, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-889-6

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KörperKulturen Karl-Heinrich Bette Sportsoziologische Aufklärung Studien zum Sport der modernen Gesellschaft

Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte

März 2011, 260 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1725-2

November 2011, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Franz Bockrath (Hg.) Anthropotechniken im Sport Lebenssteigerung durch Leistungsoptimierung?

Gerrit Kamphausen Unwerter Genuss Zur Dekulturation der Lebensführung von Opiumkonsumenten

November 2011, ca. 220 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1868-6

2009, 294 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1271-4

Bettina Bock von Wülfingen Genetisierung der Zeugung Eine Diskurs- und Metaphernanalyse reproduktionsgenetischer Zukünfte 2007, 374 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-579-6

Karen Ellwanger, Heidi Helmhold, Traute Helmers, Barbara Schrödl (Hg.) Das »letzte Hemd« Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur 2010, 360 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1299-8

Nicholas Eschenbruch, Dagmar Hänel, Alois Unterkircher (Hg.) Medikale Räume Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit 2010, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1379-7

Mischa Kläber Doping im Fitness-Studio Die Sucht nach dem perfekten Körper 2010, 336 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1611-8

Swen Körner Dicke Kinder – revisited Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen 2008, 230 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-954-1

Swen Körner, Peter Frei (Hg.) Die Möglichkeit des Sports Kontingenz im Brennpunkt sportwissenschaftlicher Analysen September 2011, ca. 240 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1657-6

Martin Stern Stil-Kulturen Performative Konstellationen von Technik, Spiel und Risiko in neuen Sportpraktiken 2010, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1001-7

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