Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit [3. ed.] 9783868545708, 9783936096927


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German Pages 168 [165] Year 2008

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Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit [3. ed.]
 9783868545708, 9783936096927

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Zygmunt Bauman

Flüchtige Zeiten Leben in der Ungewissheit

Aus dem Englischen von Richard Barth

Hamburger Edition 3

mburger Edition HIS Verlagsges. mbH ttelweg 36 148 Hamburg w.Hamburger-Edition.de E-Book 2013 by Hamburger Edtion I BN 978-3-86854-570-8 © der deutschen Printausgabe 2008 by Hamburger Edition ISBN: 978-3-936096-92-7 © der Originalausgabe 2007 by Gius. Laterza & Figli Titel der Originalausgabe: »Modus vivendi. Inferno e utopia del mondo liquido« Redaktion: Paula Bradish Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Typografie und Herstellung: Jan Enns Satz aus der Stempel-Garamond von Dörlemann Satz, Lemförde

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Inhalt Einleitung Unerschrocken in die Brutstätte der Ungewissheiten

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Das Leben in der flüchtigen Moderne und seine Ängste

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Menschheit in Bewegung

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Der Staat, die Demokratie und der Umgang mit der Angst

84

I Einsamkeit vereint

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topia im Zeitalter der Ungewissheit

140

bliographie

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m Autor

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Einleitung Unerschrocken in die Brutstätte der Ungewissheiten

Zumindest im »entwickelten« Teil des Planeten sind derzeit einige folgenreiche, eng miteinander verwobene Umbrüche im Gang oder bereits abgeschlossen, die ein völlig neues, nie da gewesenes Umfeld für individuelle Lebensentscheidungen schaffen und uns vor eine Reihe von Herausforderungen stellen, die in der Geschichte ohne ispiel sind. Da wäre erstens der Übergang von der »festen« zur üchtigen« Phase der Moderne, in einen Zustand, in dem ziale Formen (Strukturen, die individuelle Entscheingsspielräume begrenzen; Institutionen, die darüber achen, dass Routineabläufe wiederholt werden; allgeein akzeptierte Verhaltensmuster) ihre Gestalt nur für rze Zeit behalten (und niemand etwas anderes erwart ), weil sie so schnell zerfallen, dass sie schon geschmoln sind, während sie noch geformt werden. Soziale Foren, bereits bestehende wie sich erst abzeichnende, haben kaum je lange genug Bestand, dass sie sich verfestigen können. Als Bezugsrahmen für menschliches Handeln und für langfristige Lebensstrategien sind sie aufgrund ihrer beschränkten Lebenserwartung untauglich – eine Lebenserwartung, die so kurz ist, dass keine Zeit bleibt, eine konsistente und kohärente Strategie zu entwickeln oder gar einen individuellen »Lebensentwurf« zu verwirklichen. Zweitens: die Trennung und bevorstehende Scheidung von Politik und Macht, jenem Paar, von dem seit 7

der Entstehung des modernen Staates und bis vor kurzem erwartet wurde, dass es seine nationalstaatliche Gemeinschaft erhalten würde, »bis dass der Tod sie scheide«. Die bisher existierenden Möglichkeiten des modernen Staates, effektiv zu handeln, verlagern sich zunehmend in den politisch unkontrollierten globalen (und in vielerlei Hinsicht exterritorialen) Raum, während die Politik, also die Fähigkeit, Ziel und Richtung des Geschehens zu beeinflussen, außerstande ist, auf globaler Ebene effektiv zu agieren, da sie nach wie vor lokal ausgerichtet ist. Das Fehlen politischer Kontrolle lässt die neu entfesselten Kräfte zu einer Quelle tiefer und im Prinzip unzähmbarer Ungewissheit werden, während die Machtl sigkeit der politischen Institutionen mit ihren Vorhaben d Initiativen ihre Relevanz für die täglichen Probleme r Bürger in den Nationalstaaten schwinden lässt, weslb man ihnen immer weniger Aufmerksamkeit schenkt. ie zwei miteinander verzahnten Folgen dieses Scheingsprozesses zwingen oder ermutigen den Staat, eine nehmende Zahl seiner einstigen Funktionen fallenzul sen, abzugeben oder (im politischen Jargon unserer ge) »outzusourcen«. Wenn der Staat sich von ihnen t nnt, werden diese Funktionen zum Spielball der notorisch kapriziösen und inhärent unberechenbaren Kräfte des freien Marktes, und /oder sie bleiben der privaten Initiative und der Fürsorge des Einzelnen überlassen. Drittens erodiert durch den allmählichen, aber konsequenten Abbau staatlicher Sicherungssysteme gegen Schicksalsschläge und individuelles Scheitern die Attraktivität des kollektiven Handelns, und die sozialen Grundlagen gesellschaftlicher Solidarität werden untergraben. Der Begriff »Gemeinschaft« als Bezeichnung für die Ge8

samtheit der Bevölkerung, die auf dem Gebiet eines souveränen Staates lebt, hat einen zunehmend hohlen Klang. Zwischenmenschliche Bindungen, vormals zu einem Sicherheitsnetz verwoben, für das sich ein erheblicher und kontinuierlicher Einsatz von Zeit und Energie ebenso lohnte wie das Hintanstellen unmittelbarer individueller Interessen (oder dessen, was im Interesse des Einzelnen zu sein schien), werden immer brüchiger und als vorübergehend betrachtet. Dass der Einzelne den Unwägbarkeiten des Waren- und Arbeitsmarktes ausgesetzt ist, fördert die Spaltung, nicht die Einheit; es begünstigt eine wettbewerbsorientierte Einstellung und degradiert Zummenarbeit und Teamwork zu temporären Strategien, e ausgesetzt oder aufgegeben werden müssen, sobald i re Vorteile verbraucht sind. Die »Gesellschaft« wird i mer häufiger als »Netzwerk« und nicht mehr als festfügte »Struktur« (und schon gar nicht als festgefügtes anzes« gesehen): Sie wird als Matrix wahrgenommen d behandelt, die aus zufälligen Verbindungen und ennungen sowie aus einer im Prinzip unendlichen Fülle öglicher Permutationen besteht. Viertens führt das Ende langfristigen Denkens, Planens d Handelns sowie die Auflösung oder Schwächung sozialer Strukturen, in denen solches Denken, Planen und Handeln auf längere Sicht verankert werden könnte, dazu, dass die politische Geschichte wie auch das Leben jedes Einzelnen zu einer Reihe kurzfristiger Projekte und Episoden aneinandergefügt wird, deren Anzahl im Grunde unendlich ist und die sich keineswegs zu Sequenzen verbinden, die mit Konzepten wie »Entwicklung«, »Reifung«, »Karriere« oder »Fortschritt« (die alle eine vorgegebene Abfolge implizieren), angemessen etikettiert 9

wären. Ein derart fragmentiertes Leben animiert eher zu »lateralen« denn zu »vertikalen« Orientierungen. Jeder Schritt muss die Antwort auf eine neue Verteilung von Chancen und Wahrscheinlichkeiten finden und erfordert damit andere Fähigkeiten und ein anderes Arrangement von Aktivposten. Vergangene Erfolge erhöhen nicht notwendigerweise die Wahrscheinlichkeit künftiger Siege und bieten erst recht keine Garantie dafür. Zugleich müssen Methoden, die in der Vergangenheit erfolgreich erprobt wurden, ständig überprüft und angepasst werden, denn sie könnten sich unter veränderten Umständen als nutzlos oder gar kontraproduktiv erweisen. Ein schnelles d gründliches Vergessen überholter Informationen und hnell veraltender Angewohnheiten könnte sich als für n nächsten Erfolg wichtiger erweisen als das Einprägen f herer Handlungsweisen und die Entwicklung von Strat gien, die auf in der Vergangenheit Gelerntem basieren. Fünftens wird dem Individuum die Verantwortung für aufgebürdet, jene Dilemmata aufzulösen, die durch i itierend flüchtige und sich ständig wandelnde Umnde erzeugt werden – man erwartet nunmehr, dass der nzelne ein »frei Wählender« wird, der sämtliche Konquenzen seiner jeweiligen Wahl trägt. Die Risiken, die jede Entscheidung mit sich bringt, mögen von Kräften verursacht werden, die jenseits des Begreifens und der Handlungsfähigkeit des Einzelnen liegen, und doch ist es das Schicksal und die Pflicht des Einzelnen, den Preis dieser Risiken zu zahlen, denn es gibt keine autorisierten Rezepte, die einen vor Irrtümern schützen könnten, wenn man sie nur ordentlich erlernte und pflichtschuldig befolgte beziehungsweise denen man im Fall eines Scheiterns die Schuld geben könnte. Die Tugend, die den In10

teressen des Einzelnen angeblich am besten dient, ist nicht die Konformität, wenn es um Regeln geht (von denen es ohnehin nur wenige gibt, die sich zudem nicht selten gegenseitig widersprechen), sondern Flexibilität: die Bereitschaft, Taktik und Vorgehensweise kurzfristig zu ändern, Verpflichtungen und Loyalitäten ohne Bedauern aufzugeben und Chancen wahrzunehmen, die sich aktuell bieten, anstatt den eigenen, vorgefassten Präferenzen zu folgen. Es ist an der Zeit zu fragen, wie diese Umbrüche das Spektrum der Herausforderungen verändern, mit denen sich Frauen und Männer bei ihren Lebensentscheidungen nfrontiert sehen. Dieses Buch stellt den Versuch dar, nau das zu tun: Fragen aufzuwerfen statt Antworten zubieten, oder gar so zu tun, als könnte man endgült e Antworten liefern, denn es ist die Überzeugung des utors, dass jede Antwort anmaßend, voreilig und mögl herweise irreführend wäre. Insgesamt gesehen ergibt h nämlich aus den oben genannten Umbrüchen die otwendigkeit des Handelns, der Planung von Handl ngen, des Kalkulierens der zu erwartenden Gewinne d Verluste dieser Handlungen sowie der Evaluierung i rer Ergebnisse unter den Bedingungen einer endemischen Ungewissheit. Alles, was der Autor dieser Zeilen versucht hat und wozu er sich berufen fühlte, war, die Ursachen dieser Ungewissheit auszuloten und dabei möglicherweise einige Hindernisse aufzudecken, die dem Verständnis dieser Ursachen im Wege stehen und unsere Fähigkeit schmälern, uns (einzeln, vor allem jedoch kollektiv) der Herausforderung zu stellen, die jeder Versuch, sie in den Griff zu bekommen, notwendigerweise darstellen würde. 11

Das Leben in der flüchtigen Moderne und seine Ängste »Wenn du den Frieden willst, sorge für Gerechtigkeit«, so eine Weisheit aus der Antike. Und Weisheit, im Gegensatz zu Wissen, veraltet nicht. Heute wie vor 2000 Jahren ist es der Mangel an Gerechtigkeit, der den Weg zum Frieden verstellt. Daran hat sich nichts geändert. Allerdings ist »Gerechtigkeit« heute im Gegensatz zur Antike ein globales Problem, das man im weltweiten Vergleich betrachten und beurteilen muss, und zwar aus zwei ründen. Erstens kann auf einem Planeten, der kreuz und quer n »Datenautobahnen« überzogen ist, nichts, das in i endeinem Teil des Planeten geschieht, tatsächlich in ner intellektuellen »Außenwelt« verbleiben. Es gibt ine »Terra Nullius«, keine weißen Flecken auf der geist en Landkarte, keine unerforschten oder gar unerf rschbaren Länder und Völker. Das Elend von Menhen an weit entfernten Orten und deren uns fremde bensweise oder die Verschwendungssucht von Menhen an anderen weit entfernten Orten und deren uns nicht minder fremde Lebensweise sind uns heute durch elektronisch übertragene Bilder auf ebenso lebendige und aufwühlende, beschämende oder erniedrigende Weise nahe wie die Not oder der zur Schau getragene Überfluss jener Menschen, denen wir täglich auf den Straßen unserer Stadt begegnen. Die Ungerechtigkeiten, die zur Formulierung von Gerechtigkeitsmodellen Anlass geben, beschränken sich nicht mehr auf die unmittelbare Nachbarschaft und speisen sich nicht nur aus der »relativen 12

Armut« oder »Einkommensvergleichen« mit Nachbarn oder Bekannten, die einen ähnlichen sozialen Status haben. Zweitens hat auf einem Planeten mit freiem Kapitalund Warenverkehr jedes Ereignis an einem bestimmten Ort einen Einfluss darauf, wie die Menschen an allen anderen Orten leben beziehungsweise zu leben hoffen oder erwarten. Es gibt nichts, von dem man ernsthaft annehmen könnte, dass es in einer materiellen »Außenwelt« verbleiben wird. Es gibt nichts, was tatsächlich indifferent – selbst unberührt und andere Dinge nicht berührend – sein oder lange bleiben könnte. Das Wohlergehen nes Ortes ist nie ganz unschuldig am Elend eines anden. Wie Milan Kundera treffend zusammenfasst, bedeut die durch die Globalisierung geschaffene »Einheit r Menschheit« in erster Linie, dass »man nirgendwohin tfliehen« kann.1 Wie Jacques Attali in »La voie humaine« darlegt, prof ieren von der Hälfte des Welthandels und von mehr als r Hälfte der weltweiten Investitionen nur 22 Staaten, i denen gerade einmal 14 Prozent der Weltbevölkerung l ben, während die 49 ärmsten Staaten mit zusammennommen 11 Prozent der Weltbevölkerung lediglich 0,5 Prozent des Bruttosozialprodukts der Welt erhalten; dies entspricht ziemlich genau dem Einkommen der drei reichsten Männer der Welt.2 Rund 90 Prozent des gesamten Reichtums der Erde befinden sich im Besitz von nur einem Prozent der Weltbevölkerung. Und es ist nichts in

1 2

Kundera, Kunst des Romans, S. 35. Attali, La voie humaine, S. 48.

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Sicht, was der weltweiten Flut der Einkommenspolarisierung – die weiter bedrohlich ansteigt – Einhalt gebieten könnte. Der Druck auf die Grenzen, der darauf abzielt, sie zu durchlöchern und zu demontieren, und den man gemeinhin »Globalisierung« nennt, hat Wirkung gezeigt: Mit wenigen Ausnahmen, deren Anzahl rapide sinkt, stehen heute die Tore aller Gesellschaften weit offen, materiell wie intellektuell. Wenn man beide Arten der »Offenheit« zusammennimmt – die intellektuelle und die materielle –, so wird deutlich, warum zu jedem Schaden, jedem relativen Mangel und jeder ostentativen Gleichgültigkeit e Kränkung ob der Ungerechtigkeit hinzukommt: das efühl, dass ein Unrecht geschehen ist, ein Unrecht, s danach schreit, wiedergutgemacht zu werden, das r allem aber die Opfer verpflichtet, ihre Leiden zu chen … Die »Offenheit« der offenen Gesellschaft hat eine neue deutungsnuance hinzugewonnen, von der Karl Popr nichts ahnte, als er den Begriff prägte. Wie bisher zeichnet er eine Gesellschaft, die sich offen ihre Mänl eingesteht und sich daher intensiv mit ihren bislang erforschten, ja ungeahnten Möglichkeiten beschäftigt. Darüber hinaus jedoch bezeichnet der Begriff eine Gesellschaft, die wie nie zuvor unfähig ist, mit einem Mindestmaß an Sicherheit den eigenen Kurs zu bestimmen und den einmal eingeschlagenen Weg gegen äußere Einflüsse zu verteidigen. War das Attribut »offen« einst ein geschätztes, aber zerbrechliches Produkt von mutiger, wenn auch anstrengender Selbstbehauptung, so wird es heutzutage meist mit einem unausweichlichen Schicksal assoziiert, mit den weder geplanten noch vorhergesehenen 14

Nebenwirkungen der »negativen Globalisierung« – das heißt, der selektiven Globalisierung von Handel und Kapital, Überwachung und Information, Waffen und Gewalt, Verbrechen und Terrorismus, die allesamt das Prinzip der territorialen Souveränität missachten und vor Staatsgrenzen nicht haltmachen. Eine »offene« Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die diesen »Schicksalsschlägen« schutzlos ausgeliefert ist. Stand das Konzept einer »offenen Gesellschaft« ursprünglich für die Selbstbestimmung einer freien Gesellschaft, die ihre Offenheit wertschätzt, so weckt es heute zumeist die erschreckende Vorstellung einer fremdbemmten, glück- und schutzlosen Bevölkerung, die Mächt n gegenübersteht, die sie weder kontrollieren noch ganz rstehen kann, und von denen sie überwältigt zu werden oht; einer Bevölkerung, die über ihre Schutzlosigkeit tsetzt und vom Streben nach undurchlässigen Grenzen d der Sicherheit der Individuen innerhalb dieser Grenn besessen ist. Dabei ist es eben jene Undurchlässigkeit r Grenzen und die Sicherheit der Menschen innerhalb rselben, die ihrem Zugriff entzogen bleiben, ja offenbar iben müssen, solange unser Planet ausschließlich der gativen Globalisierung unterworfen ist. In einem Zustand der negativen Globalisierung kann kein einzelnes Land und keine Gruppe ausgewählter Länder Sicherheit erreichen oder gar garantieren: nicht aus eigener Kraft und nicht unabhängig vom Rest der Welt. Ebenso wenig kann auf diese Weise Gerechtigkeit, als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden, erlangt oder gar garantiert werden. Die pervertierte »Offenheit«, die die negative Globalisierung den Gesellschaften aufzwingt, ist ja selbst die Hauptursache der Ungerechtig15

keit und damit indirekt die von Konflikten und Gewalt. In den Worten von Arundhati Roy: »Während die Elite sich auf der Reise an ihr imaginäres Ziel an der Weltspitze befindet, bewegen sich die Besitzlosen auf einer Spirale abwärts in Richtung Verbrechen und Chaos.«3 Das Vorgehen der Regierung der Vereinigten Staaten und ihrer verschiedenen Satelliten, die, wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds und die Welthandelsorganisation, nur notdürftig als internationale Institutionen getarnt seien, hätten, so Roy, als »gefährliche Nebenerscheinungen […] Nationalismus, Bigotterie, Faschismus und natürlich Terrorismus« hervorgebracht, die »mit m Projekt einer korporativen Globalisierung Hand in and gehen.«4 »Märkte ohne Grenzen«, das ist ein Rezept für Ungechtigkeit und für die neue Weltunordnung, in der e berühmte Formel von Clausewitz in ihr Gegenteil rkehrt wurde, so dass nunmehr die Politik zu einer rtsetzung des Krieges mit anderen Mitteln wird. Degulierung, die weltweit zu Gesetzlosigkeit führt, und affengewalt nähren und verstärken sich gegenseitig. ie eine andere antike Weisheit mahnt: inter arma silent l es (wenn die Waffen sprechen, schweigen die Gesetze). Bevor er Truppen in den Irak schickte, erklärte Donald Rumsfeld, dass »der Krieg gewonnen ist, wenn sich die Amerikaner wieder sicher fühlen können«.5 Seitdem wird diese Botschaft tagein, tagaus von George W. Bush wiederholt. Doch die Entsendung von Truppen in den 3 4 5

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Roy, Stupid White House, S. 15. Ebenda. Zit. nach Morgan, The Garrison State Revisited, S. 9.

Irak hat lediglich dazu geführt, dass seither die Angst vor Unsicherheit in den Vereinigten Staaten und anderswo weiter ansteigt. Wie eigentlich nicht anders zu erwarten, war das Gefühl der Sicherheit nicht das Einzige, was als Kollateralschaden dem Krieg zum Opfer fiel. Bald ereilte die persönliche Freiheit und die Demokratie das gleiche Schicksal. Um die prophetische Warnung Alexander Hamiltons zu zitieren: »Die gewaltsame Zerstörung von Leben und Eigentum als Teil des Krieges, die ständige Mühsal und dauernde Unruhe in einem Zustand kontinuierlicher Bedrohung werden auch besonders freiheitsl bende Nationen dazu bringen, sich Ruhe und Sicherit selbst durch Institutionen zu schaffen, die tendenziell i re bürgerlichen und politischen Rechte zerstören könn. Um sicher leben zu können, werden sie schließlich reit sein, das Risiko einzugehen, weniger frei zu sein.« 6 eute bewahrheitet sich diese Prophezeiung. Hat sie die Menschheit erst heimgesucht, dann entckelt Angst eine eigene Dynamik und folgt ihrer eigen Entwicklungslogik. Es bedarf dann wenig Aufmerkmkeit und kaum eines zusätzlichen Aufwands, damit unaufhaltsam wächst und um sich greift. In den Worten David L. Altheides ist das eigentliche Problem nicht die Angst vor Gefahren, sondern das, was sich aus der Angst entwickeln kann.7 Das gesellschaftliche Leben verändert sich, wenn die Menschen hinter Mauern leben, Wachen engagieren, gepanzerte Autos fahren, Tränengas

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Hamilton u. a., Die Federalist-Artikel, S. 40. Vgl. Altheide, Mass Media, Crime, and the Discourse of Fear.

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oder Pistolen mit sich herumtragen und Kampfsport betreiben. Das Problematische an diesen Verhaltensweisen ist, dass sie das Gefühl der Unordnung, das wir mit ihnen bekämpfen wollen, bestätigen und mit erzeugen. Angst veranlasst uns dazu, Maßnahmen zu unserer Verteidigung zu ergreifen. Durch diese wiederum wird die Angst unmittelbar greifbar. Es sind unsere Reaktionen, die düstere Vorahnungen zu alltäglicher Realität und aus dem Wort Fleisch werden lassen. Die Angst hat sich nun in unserem Innern festgesetzt und durchdringt unseren Alltag; sie bedarf kaum weiterer Reize von außen, denn die Handlungen, zu denen sie uns tagein, tagaus ranlasst, liefern ausreichend Motivation und Energie, mit sie sich selbst reproduziert. Unter all den Mechasmen, die darum wetteifern, dem Menschheitstraum nes Perpetuum mobile zu entsprechen, gebührt jenem h selbst reproduzierenden Gewirr aus Angst und aus r Angst geborenen Handlungen ein Ehrenplatz. Es scheint als wären unsere Ängste nun selbsterhaltend d selbstverstärkend geworden, als hätten sie eine Eigennamik entwickelt und könnten jetzt ausschließlich aus ener Kraft weiterwachsen. Diese scheinbare Autarkie i natürlich nur eine Illusion, genau wie bei zahlreichen anderen Mechanismen, die für sich das Wunder der permanenten, sich selbst erhaltenden Bewegung in Anspruch genommen haben. Es liegt auf der Hand, dass der Kreislauf aus Angst und angstgetriebenem Verhalten nicht so reibungslos funktionierte und an Geschwindigkeit gewänne, wenn sich seine Energie nicht beständig aus existenziellen Erschütterungen speisen würde. Derartige Erschütterungen sind nicht gerade neu. Sie haben die Menschheit durch ihre gesamte Geschichte be18

gleitet, denn in keinem sozialen Umfeld hat es für Menschen je einen narrensicheren Schutz vor »Schicksalsschlägen« gegeben (die so genannt werden, um Unglücke dieser Art von Widrigkeiten abzugrenzen, die der Mensch abwenden könnte; das Wort bezieht sich nicht so sehr auf die spezifische Art dieser Unglücke, sondern auf das Eingeständnis, dass der Mensch unfähig ist, sie vorherzusagen, geschweige denn, sie zu verhindern oder zu bändigen). Das »Schicksal« schlägt per definitionem ohne Vorwarnung zu, unbeeindruckt davon, was seine Opfer tun oder lassen mögen, um seinen »Schlägen« zu entkommen. Das »Schicksal« steht für die Unwissenheit d Hilflosigkeit des Menschen und verdankt seine ehrf rchtgebietende, furchteinflößende Macht ebendiesen hwächen seiner Opfer. Und wie es im Editorial zu nem Sonderheft der Hedgehog Review heißt, »wenn an existenziellem Trost mangelt«, neige der Mensch zu, sich an die »Sicherheit« zu halten »oder an die Vort uschung von Sicherheit«.8 Der Grund, auf dem unsere Zukunftsaussichten vereintlich ruhen, ist zugegebenermaßen schwankend: sere Arbeitsplätze und die Unternehmen, die sie reitstellen, unsere Partner und Freundeskreise, unsere gesellschaftliche Stellung sowie die Selbstachtung und das Selbstvertrauen, die damit verbunden sind. Der Begriff »Fortschritt«, einst die extremste Ausdrucksform eines radikalen Optimismus und das Versprechen universell geteilten, dauerhaften Glücks, ist mittlerweile am dystopischen, fatalistischen Gegenpol unseres Erwartungs-

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Vgl. Hedgehog Review, 5 (Herbst 2003), 3, S. 5.

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horizonts angekommen. Jetzt steht er für die Bedrohung durch unablässige, unausweichliche Veränderung, die statt Ruhe und Frieden nichts als Dauerkrisen und Anspannung verheißt und uns keine Pause gönnt. Der Fortschritt hat sich in eine Art endloses, ununterbrochenes »Reise nach Jerusalem«-Spiel verwandelt, bei dem ein Augenblick der Unaufmerksamkeit zum unumkehrbaren Ausscheiden, zur unwiderruflichen Exklusion führt. Statt großer Erwartungen und süßer Träume beschwört das Wort »Fortschritt« einen Zustand der Schlaflosigkeit voller Albträume vom »Abgehängtwerden« herauf, in denen man den Zug verpasst oder aus dem Fenster eines immer hneller fahrenden Autos fällt. Da wir das schwindelerregende Tempo der Verändengen nicht verlangsamen, geschweige denn ihre Richt ng vorhersagen oder steuern können, konzentrieren r uns auf das, was wir tatsächlich oder vermeintlich benflussen können, beziehungsweise wovon man uns eindet, dass wir es beeinflussen können: Wir versuchen s Risiko zu kalkulieren und zu minimieren, dass wir lbst oder die, die uns im Moment am nächsten stehen, n ungezählten und unzählbaren Gefahren zum Opfer f len, die uns in dieser undurchschaubaren Welt mit ihrer ungewissen Zukunft bevorstehen mögen. Wir sind ganz darin vertieft, »die sieben Anzeichen für Krebs« oder »die fünf Symptome einer Depression« auszuspähen oder Schreckgespenster wie Bluthochdruck, einen hohen Cholesterinspiegel, Stress und Fettleibigkeit zu vertreiben. Mit anderen Worten: Um die überschüssige Existenzangst abladen zu können, die ihrer natürlichen Ventile beraubt ist, suchen wir uns Ersatzziele. Fündig werden wir, indem wir umfangreiche Vorkehrungen da20

gegen treffen, den Zigarettenrauch anderer einzuatmen, fettreiche Nahrung oder »schlechte« Bakterien zu uns zu nehmen (während wir gierig die Flüssigkeiten schlürfen, die »gute« zu enthalten versprechen) und uns vor zu viel Sonne und ungeschütztem Sex hüten. Wer es sich leisten kann, wappnet sich gegen alle sichtbaren und unsichtbaren, gegenwärtigen oder vorhergesehenen, bekannten oder noch unbekannten, diffusen und doch allgegenwärtigen Gefahren, indem er sich hinter Mauern verschanzt, die Zugänge zu seinem Wohnbereich mit Kameras sichert, bewaffnete Wachen anstellt, gepanzerte Autos fährt (wie die berüchtigten SUVs), »gepanzerte« Kleidung trägt ( ie Schuhe mit dicken Sohlen) oder Kampfsportunterht nimmt. »Das Problem ist«, um noch einmal David Altheide zu zitieren, »dass diese Aktivitäten ein Gefühl r Unordnung bestätigen und mit erzeugen, das unser andeln selbst herbeigeführt hat.«9 Jedes zusätzliche hloss an der Eingangstür, mit dem man auf das neueste erücht über fremdländisch aussehende Verbrecher mit olchen in ihren Mänteln reagiert, jede weitere Revision s Speiseplans, mit der man auf den neuesten »Lebensittelskandal« reagiert, lässt die Welt noch gefahrvoller d furchterregender erscheinen und löst noch mehr defensive Verhaltensweisen aus – die leider ihrerseits dazu beitragen, dass die Angst sich selbst reproduziert. Aus Unsicherheit und Angst lässt sich einiges an wirtschaftlichem Kapital schlagen, und das geschieht auch. Die Werbung, so Stephen Graham, »hat die verbreitete Angst vor Terroranschlägen bewusst ausgenutzt, um

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Altheide, Mass Media, Crime, and the Discourse of Fear.

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den Verkauf von hochprofitablen SUVs weiter zu steigern«.10 Diese spritfressenden martialischen Monsterfahrzeuge mit dem denkbar unpassenden Namen Sport Utility Vehicle (etwa: Sport- und Nutzfahrzeug), die in den USA bereits einen Anteil von 45 Prozent an allen Autokäufen erreicht haben, finden als »Verteidigungskapseln« Einfahrt in den städtischen Alltag. Ein SUV ist »ein Zeichen von Sicherheit, das wie die bewachten Wohnanlagen, die ›gated communities‹, in die man sie so oft verschwinden sieht, in der Werbung als immun gegen das risikoreiche und unberechenbare Stadtleben draußen dargestellt wird. […] Solche Fahrzeuge scheinen e Angst zu dämpfen, die Angehörige der städtischen ittelklasse empfinden, wenn sie sich in ihrer ›Heimat‹dt bewegen – oder im Stau stehen.«11 Wie aus flüssigem Kapital, das in alles Mögliche invest rt werden kann, lässt sich aus dem Kapital der Angst j e Art von Profit schlagen, sei es wirtschaftlich oder litisch. Und selbstverständlich geschieht das auch. So mmt es, dass in allen möglichen Vermarktungsstrateen persönliche Sicherheit ein bedeutendes, vielleicht sor das bedeutendste Verkaufsargument geworden ist. In litischen Grundsatzerklärungen und Wahlkämpfen ist law and order, zunehmend reduziert auf das Versprechen persönlicher (genauer: körperlicher) Sicherheit, zu einem wichtigen, vielleicht zu dem wichtigsten Verkaufsargument geworden. Und im Kampf der Massenmedien um Einschaltquoten sind Berichte über Bedrohungen der

10 Graham, Postmortem City, S. 190. 11 Ebenda.

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persönlichen Sicherheit ein bedeutender, vielleicht der bedeutendste Aktivposten geworden, so dass das Kapital der Angst ständig aufgestockt wird und dessen Wert für politische und Werbezwecke weiter steigt. In den Worten Ray Surettes ähnelt die Welt, wie sie im Fernsehen dargestellt wird, einer Schafweide, auf der die »Bürgerschafe« von der »Schäferhunde-Polizei« vor »Verbrecherwölfen« beschützt werden.12 Der grundlegende Unterschied zwischen heutigen Erscheinungsformen von Ängsten und denjenigen, mit denen Menschen in vorangegangenen Epochen vertraut aren, ist vielleicht die Loslösung angstinspirierter andlungen von jenen existenziellen Erschütterungen, e die Angst erzeugen, die unseren Handlungen zuunde liegt. Anders ausgedrückt: die Verdrängung der ngst aus den Spalten und Rissen der menschlichen istenz, in denen das »Schicksal« ausgebrütet und formt wird, in jene Lebensbereiche hinein, die mit r eigentlichen Quelle unserer Besorgnis kaum mehr in ziehung stehen. Sosehr wir uns auch anstrengen mön und so ernsthaft und einfallsreich unsere Bemühunn sein mögen, es ist unwahrscheinlich, dass sie die Quelle neutralisieren oder zum Versiegen bringen können, und deshalb können sie unsere Besorgnis nicht beruhigen. So erklärt sich, dass sich der Teufelskreis aus Angst und angstgetriebenen Handlungen ungebremst weiterdreht – und doch seinem angeblichen Ziel nicht näher kommt.

12 Vgl. Surette, Media, Crime and Criminal Justice, S. 43.

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Formulieren wir explizit, was im bisher Gesagten impliziert wurde: Der Teufelskreis, von dem hier die Rede ist, hat sich verschoben, und zwar weg vom Bereich der »subjektiven« Sicherheit, das heißt von Selbstvertrauen und Selbstsicherheit oder einem Mangel an diesen, und hin zum Bereich der »objektiven« Sicherheit, also der Frage, inwieweit die eigene Person und ihr Umfeld vor Bedrohungen geschützt beziehungsweise ihnen ausgesetzt sind. Der erste Bereich ist den Unwägbarkeiten des Marktes überlassen worden, indem man ihm nach und nach den institutionalisierten, staatlich organisierten Schutz entgen hat. Damit ist er zu einer Spielwiese für globale äfte geworden, die sich der Kontrolle durch die Politik tziehen und den Betroffenen keine Chance lassen, gemessen zu reagieren oder sich wirksam vor ihnen schützen. Gemeinschaftlich organisierte Absicherunn gegen individuelle Schicksalsschläge, die im Lauf s letzten Jahrhunderts unter dem Namen Sozial- oder ohlfahrts«staat zusammengefasst worden sind, wern schrittweise abgeschafft oder so weit beschnitten, ss sie unterhalb der Schwelle liegen, jenseits deren sie n Gefühl der Sicherheit, und damit das Selbstvertrauen der Handelnden, bestätigen und aufrechterhalten könnten. Zudem bietet das, was von den noch vorhandenen Institutionen, die das einstige Versprechen verkörpern, noch übrig blieb, kaum Anlass zur Hoffnung oder gar zum Vertrauen darauf, sie könnten weitere bevorstehende Runden an Kürzungen überstehen. Jetzt, da die vom Staat eingerichteten und betriebenen Schutzmechanismen gegen existenzielle Bedrohungen nach und nach demontiert und die Mechanismen des kol24

lektiven Selbstschutzes, wie Gewerkschaften und andere Instrumente für kollektive Verhandlungen, vom Wettbewerbsdruck, der die Solidarität der Schwachen untergräbt, zusehends entmachtet worden sind, ist es Sache der Einzelnen, individuelle Lösungen für gesellschaftlich erzeugte Probleme zu suchen, zu finden und umzusetzen; all dies ganz auf sich gestellt und mit Hilfsmitteln und Ressourcen, die für diese Aufgabe völlig ungeeignet sind. Die politisch Mächtigen, die sich mit ihren Botschaften an Findige und Glücklose gleichermaßen wenden, verweisen auf »mehr Flexibilität« als alleiniges Heilmittel gen eine Unsicherheit, die doch schon jetzt unerträglich i , und zeichnen so die Aussicht auf noch größere Ungessheit, noch stärkere Privatisierung von Problemen, ch größere Vereinsamung und Machtlosigkeit und imer noch größere Ungewissheit. Sie schließen die Mögl hkeit einer gesicherten, auf gemeinschaftlicher Grundl e ruhenden Existenz aus und bieten somit keinerlei nreize für solidarisches Handeln. Stattdessen fordern ihr Publikum auf, sich ganz auf ihr persönliches Überl ben in einer heillos fragmentierten und zersplitterten d daher zunehmend unsicheren und unberechenbaren Welt zu konzentrieren, nach dem Motto: »Jeder ist sich selbst der Nächste, und die Letzten beißen die Hunde.« Weil der Staat sich von jenen Aufgaben zurückgezogen hat, die über weite Strecken des letzten Jahrhunderts seinen Anspruch auf Legitimität begründet haben, stellt sich die Frage nach seiner Legitimität völlig neu. Ein neuer Konsens unter den Staatsbürgern (»Verfassungspatriotismus«, um den Begriff von Jürgen Habermas aufzugreifen) kann heute nicht mehr auf die Weise hergestellt wer25

den, die vor nicht allzu langer Zeit üblich war: durch die verfassungsmäßige Zusicherung des Schutzes gegen die Unwägbarkeiten des Marktes, die dafür berüchtigt sind, den sozialen Status von Menschen zu ruinieren und ihr Recht auf soziale Anerkennung und persönliche Würde zu unterminieren. Weil die Integrität des Staates in seiner heute geläufigsten Form des Nationalstaates in Gefahr ist, wird fieberhaft nach einer dringend notwendigen, alternativen Legitimation gesucht. Angesichts des bisher Gesagten überrascht es kaum, dass derzeit eine alternative Legitimation staatlicher Autorität sowie eine neue politische Formel für Vorteile, e pflichtbewusste Staatsbürger erwarten können, neuerngs in den Versprechen des Staates gesucht werden, seine rger vor Gefahren für ihre persönliche Sicherheit zu schützen. An die Stelle des Schreckgespenstes vom zialen Abstieg, vor dem der Sozialstaat seine Bürger bewahren versprach, treten mit der politischen Forel des »personal safety state«, eines neu ausgerichteten icherheitsstaates«, Bedrohungen wie Pädophile auf f iem Fuß, Serienmörder, aufdringliche Bettler, Straßenuber, Stalker, Giftmörder, Terroristen oder – noch besr – all diese Bedrohungen vereint in der Gestalt des illegalen Einwanderers, vor dem der moderne Staat in seiner jüngsten Inkarnation die Untertanen zu beschützen verspricht. Im Oktober 2004 sendete BBC 2 eine Dokumentarreihe mit dem Titel »Die Macht der Albträume: Der Siegeszug einer Politik der Angst«. Autor und Produzent der Reihe war Adam Curtis, einer der angesehensten Produzenten seriöser Sendungen im britischen Fernsehen. Er wies darauf hin, dass der internationale Terroris26

mus zwar zweifellos eine sehr reale Gefahr darstelle, die im »Niemandsland« der globalen Wildnis ständig reproduziert werde. Ein erheblicher, wenn nicht sogar der größte Teil der offiziellen Einschätzungen des Gefahrenpotentials jedoch beruhe auf einem »Hirngespinst, das von Politikern übertrieben und verzerrt worden ist. Dies ist eine düstere Illusion, die sich unhinterfragt in Regierungen, Geheimdiensten und internationalen Medien auf der ganzen Welt verbreitet hat.« Es sei nicht allzu schwierig, die Gründe für die steile und spektakuläre Karriere dieser Illusion auszumachen: »In einer Zeit, in der die großen Ideen ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt haben, eibt Politikern nur die Angst vor einem Phantomgegr, um ihre Macht zu sichern.«13 Lange vor dem 11. September konnte man zahlreiche nzeichen für den bevorstehenden Wandel der Legitiation staatlicher Macht hin zum »personal safety state« obachten, auch wenn es offenbar für viele Menschen tig war, dass der Schock der einstürzenden Türme i Manhattan monatelang auf Millionen von Fernsehhirmen in Zeitlupe wiederholt wurde, ehe die Botschaft kam und Wirkung zeigte – und ehe sich Politiker die istenziellen Ängste der Menschen mit Hilfe der neuen politischen Formel zunutze machten. Der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich zwischen Jacques Chirac und Lionel Jospin glich einer öffentlichen Auktion, bei der sich beide Politiker mit Versprechungen zu überbieten suchten, im Kampf gegen das Verbrechen die

13 Zit. nach Beckett, The Making of the Terror Myth, The Guardian, 15. Oktober 2004, S. 2–3.

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Muskeln noch mehr spielen zu lassen, noch härtere und strengere Gesetze und immer ausgeklügeltere und phantasievollere Strafen für jugendliche wie erwachsene Straftäter sowie für die fremdartigen und befremdlichen »Unbekannten unter uns« zu erlassen. Als George W. Bush in der Auseinandersetzung mit seinem Herausforderer auf Härte im »Krieg gegen den Terror« setzte und der britische Oppositionsführer die »New Labour«-Regierung ins Wanken bringen wollte, indem er die von deregulierten Arbeitsmärkten ausgelösten, diffusen Existenzängste auf die Bedrohung durch fahrendes Volk und obdachlose Einwanderer lenkte, da fiel die von ihnen gesäte Angst f fruchtbaren Boden. Es war nach Meinung von Hugues Lagrange kein fall, dass seit Mitte der 1960er Jahre die spektakulärst n »Sicherheitspaniken« und der lauteste Aufschrei über igende Kriminalität, verbunden mit demonstrativ hart m Durchgreifen der Regierung und abzulesen unter derem an der sprunghaft gestiegenen Anzahl der Gef ngnisinsassen (die »Substitution des Sozialstaates durch nen Gefängnisstaat«, wie Lagrange es ausdrückt), in n Ländern zu beobachten waren, in denen die sozialen steme am schwächsten entwickelt waren (wie Spanien, Portugal oder Griechenland) sowie in Ländern, in denen Sozialleistungen drastisch gekürzt wurden (wie den Vereinigten Staaten oder Großbritannien).14 Eine signifikante Korrelation zwischen der Härte der Strafverfolgung und der Anzahl der Straftaten konnte in keiner vor dem Jahr 2000 durchgeführten Studie nachgewiesen werden.

14 Vgl. Lagrange, Demandes de sécurité.

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Dafür wurde in der Mehrzahl der Studien eine starke negative Korrelation festgestellt zwischen der »Gefängnisandrohung« auf der einen Seite und dem »marktunabhängigen Anteil der Sozialleistungen« und »dem prozentualen Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der für diese Leistungen aufgewendet wurde« auf der anderen. Alles in allem lassen die Ergebnisse keinen Zweifel aufkommen, dass der neue Fokus auf Verbrechen und auf Gefahren für die physische Sicherheit und den Besitz des Einzelnen eng verknüpft ist mit »dem allgemeinen Gefühl der Prekarität« sowie mit dem Prozess der ökonomischen Deregulierung und der damit verbundenen Verdrängung von sellschaftlicher Solidarität zugunsten der individuellen lbstverantwortung. »Wenn man in der Geschichte zurückgeht […], löst h der Mythos schnell in Luft auf, und man erkennt, ss wir es hier nicht mit neuen, furchteinflößenden onstern zu tun haben. Er bezieht sein Gift aus der ngst.«15 Mit diesen Worten kommentierte Adam Curtis e zunehmende Fixierung auf physische Sicherheit. ie Angst hat sich eingenistet; sie durchdringt den Alltag r Menschen im gleichen Maße wie die Deregulierung e Grundlagen der menschlichen Existenz erfasst und die Bastionen der Zivilgesellschaft fallen. Die Angst hat sich eingenistet – und so mancher Politiker kann der Versuchung nicht widerstehen, sich diesen scheinbar unerschöpflichen und sich ständig vermehrenden Vorrat zunutze zu machen, um verlorenes politisches Kapital

15 Zit. nach Beckett, Making of the Terror Myth, The Guardian, 15. Oktober 2004, S. 2–3.

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wiederzuerlangen. Und auch die Strategie, aus der Angst wirtschaftliches Kapital zu schlagen, ist fest etabliert: ja, sie lässt sich bis zu den Anfangsjahren des neoliberalen Angriffs auf den Sozialstaat zurückverfolgen. Dieser Versuchung nachzugeben – und die Möglichkeiten zu nutzen, von den enormen Vorteilen zu profitieren – wurde schon lange vor den Ereignissen des 11. September erprobt und getestet. In einer Studie, die den ebenso eindringlichen wie treffenden Titel »Der Terrorist, ein Freund staatlicher Macht«16 trägt, analysiert Victor Grotowicz, wie sich die Regierung der Bundesrepublik in den späten 1970er Jahren die Terroranschläge der Roten mee Fraktion (RAF) zunutze gemacht hat. Hätten ch 1976 nur sieben Prozent der Bundesbürger persönl he Sicherheit als zentrales politisches Thema angehen, so habe zwei Jahre später eine deutliche Mehrheit r Deutschen dies für sehr viel wichtiger gehalten als n Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Inflation. Im ufe dieser zwei Jahre habe die Nation auf ihren Fernhschirmen verfolgt, wie bei jeder Gelegenheit über die eldentaten der enorm anwachsenden Polizei- und Geimdienstapparate berichtet wurde und wie die Politiker h gegenseitig darin überboten, immer härtere Maßnahmen im kompromisslosen Krieg gegen den Terrorismus zu versprechen. Während jedoch der liberale Geist des Grundgesetzes mit seiner Betonung persönlicher Freiheitsrechte klammheimlich durch den zuvor einhellig abgelehnten staatlichen Autoritarismus ersetzt worden sei – und während Helmut Schmidt den Anwälten öffent-

16 Vgl. Grotowicz, Terrorism in Western Europe.

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lich dafür gedankt habe, dass sie darauf verzichteten, die Verfassungsmäßigkeit der Beschlüsse des Bundestags anzufechten –, hätten die neuen Gesetze vor allem den Terroristen in die Hände gespielt, indem sie deren öffentliche Sichtbarkeit und damit indirekt ihr Ansehen erhöht hätten, weit jenseits dessen, was sie aus eigener Kraft jemals hätten erreichen können. Die Wissenschaftler sind sich einig, dass die heftige Reaktion der Hüter von Recht und Gesetz die Popularität der Terroristen enorm gefördert hat. Man konnte sich des Verdachts nicht erwehren, dass der Zweck der neuen, strengen und betont unnachgiebigen Politik ganz offensichtlich nicht war, die terroristische drohung abzuwenden; in Wirklichkeit spielte dies nur e zweite Geige neben der eigentlichen, latenten Funkt n dieser Politik: Es ging darum, die Autorität des Staat von einem Bereich, den er weder effektiv kontrollieren nnte noch wollte, in einen anderen Bereich zu verlagern, o er auf spektakuläre Art und Weise seine Macht und tschlossenheit zum Handeln demonstrieren konnte, d zwar unter dem nahezu einmütigen Beifall der ffentlichkeit. Das augenfälligste Ergebnis der Anti-Terr-Kampagne war die Zunahme einer die gesamte Gellschaft durchdringenden Angst. Die Kampagne brachte die Terroristen ihrem eigenen Ziel – der Beschädigung jener Werte, auf die die Demokratie und der Respekt für Menschenrechte sich gründen – näher, als sie es sich hätten träumen lassen. Bleibt hinzuzufügen, dass die Auflösung der RAF und ihr Verschwinden aus der deutschen Gesellschaft nicht durch das repressive Vorgehen der Polizei erreicht wurde, sondern durch veränderte soziale Umstände, die der Weltanschauung und den Methoden der Terroristen nicht mehr zuträglich waren. 31

Genau das Gleiche ließe sich über die traurige Geschichte des Terrorismus in Nordirland sagen, der offensichtlich nicht zuletzt durch die harschen militärischen Gegenmaßnahmen der Briten am Leben erhalten wurde und weiter Zulauf erhielt. Dass er schließlich zusammenbrach, dürfte eher dem irischen Wirtschaftswunder zuzuschreiben sein sowie einem Phänomen, das mit »Materialermüdung« vergleichbar ist, als dem, was die britische Armee ausgerichtet hat beziehungsweise ausrichten konnte. Seither hat sich wenig geändert. Auch die jüngsten Erfahrungen zeigen, so die Analyse von Michael Meaer, dass die endemische Ineffektivität oder gar Kontraoduktivität militärischen Vorgehens gegen die modern Formen von Terrorismus nach wie vor die Regel i : »Trotz des ›Krieges gegen den Terror‹ […] scheint Alaida in den letzten zwei Jahren erfolgreicher gewesen sein als in den beiden Jahren vor dem 11. September 01.«17 Der bereits mehrfach zitierte Adam Curtis geht ch einen Schritt weiter, wenn er behauptet, Al-Qaida i ursprünglich wenig mehr gewesen als eine vage Idee, e auf die »Läuterung einer verdorbenen Welt durch ligiös motivierte Gewalt« hinauslief, und habe das Licht der Welt als Produkt anwaltlicher Tätigkeit erblickt. Ursprünglich habe die Organisation nicht einmal einen Namen gehabt, »bis die amerikanische Regierung Anfang 2001 beschloss, Bin Laden in Abwesenheit strafrechtlich zu verfolgen und sich dabei auf Mafiagesetze stützte, die

17 Vgl. Meacher, Playing Bin Laden’s Game, The Guardian, 11. Mai 2004, S. 21.

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die Existenz einer namentlich bekannten verbrecherischen Organisation voraussetzten«.18 So wie sich der Terrorismus heute darstellt, ist allein die Idee eines »Krieges gegen den Terror« eine irritierende contradictio in adjecto. Moderne Waffensysteme, konzipiert und entwickelt in einem Zeitalter territorialer Invasionen und Eroberungen, sind denkbar ungeeignet, um Ziele zu verorten, anzugreifen und zu zerstören, die extraterritorial, naturgemäß schwer zu fassen und höchst mobil sind: kleine Einheiten oder Einzelkämpfer mit leichter Ausrüstung, die ebenso schnell und unbemerkt m Ort des Angriffs verschwinden wie sie gekommen d und wenig bis gar keine Spuren hinterlassen. Angehts der modernen Waffensysteme der regulären Streitäfte werden die Reaktionen auf derartige Terrorangriffe unbeholfen ausfallen wie eine Rasur mit der Sense – hwerfällig und ungenau werden sie sich zwangsläuf auf ein sehr viel größeres Gebiet auswirken als der rroranschlag selbst, mehr zivile Opfer fordern, mehr ollateralschäden« verursachen und damit mehr Terror rbreiten, als die Terroristen es mit den ihnen zur Verfüng stehenden Waffen je vermocht hätten (der »Krieg gegen den Terror«, der nach dem Anschlag auf das World Trade Center erklärt wurde, hat längst sehr viel mehr Opfer unter der unschuldigen Zivilbevölkerung gefordert als der Anschlag, der ihn provoziert hat). Selbstverständlich ist dieser Umstand ein wesentlicher Bestandteil des

18 Zit. nach Beckett, The Making of the Terror Myth, The Guardian, 15. Oktober 2004, S. 2–3.

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Kalküls der Terroristen und die wichtigste Quelle ihrer Schlagkraft, die weit über das hinausgeht, was sie an Mitgliedern und Waffen aufbieten können. Im Gegensatz zu ihren erklärten Feinden müssen Terroristen die begrenzten Ressourcen, über die sie verfügen, nicht als Einschränkung empfinden. Bei der Ausarbeitung ihrer strategischen Ziele und ihres taktischen Vorgehens können sie die zu erwartenden, ja mit großer Gewissheit vorhersehbaren Reaktionen des »Feindes« bereits einkalkulieren, die die Auswirkungen ihrer eigenen Gräueltaten mit Sicherheit erheblich vergrößern werden. Wollen Terroristen unter der feindlichen Bevölrung Angst und Schrecken verbreiten, so werden die gnerische Armee und Polizei ohne Zweifel dafür sorn, dass dieses Ziel weit besser erreicht wird, als die Terristen selbst unter Ausnutzung all ihrer Kapazitäten es j könnten. Man kann Michael Meacher nur zustimmen: In der gel – und mit Sicherheit seit dem 11. September – unt werfen wir uns den Spielregeln Bin Ladens.19 Diese litik ist, wie Meacher zu Recht betont, ein fataler Fehl . Dass wir uns von Bin Laden die Spielregeln diktieren l sen, ist, so würde ich hinzufügen, insofern noch viel unverzeihlicher, als diese Politik zwar öffentlich mit der Absicht gerechtfertigt wird, die Geißel des Terrorismus auszurotten, in Wahrheit jedoch einer ganz anderen Logik folgt, die von dem abweicht, was der erklärten Absicht nach noch angemessen und gerechtfertigt erscheint.

19 Vgl. Meacher, Playing Bin Laden’s Game, The Guardian, 11. Mai 2004.

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Meacher wirft den Regierungen, die den »Krieg gegen den Terror« führen, vor, sie würden sich »weigern, darüber nachzudenken, was die Ursachen für diesen Hass sind: warum junge Menschen in großer Zahl bereit sind, sich in die Luft zu sprengen; warum 19 bestens ausgebildete junge Männer bereit waren, bei den Flugzeugentführungen vom 11. September sich selbst und Tausende ihrer Mitmenschen zu vernichten; und warum der Widerstand [im Irak] zunimmt, obwohl Aufständische ein enormes Risiko eingehen, getötet zu werden.«20 Anstatt sich Gedanken über diese Fragen zu machen, schaffen Regierungen Tatsachen und allem Anschein ch beabsichtigen einige, vor allem die Vereinigten Staat n, ihren Kurs unverändert fortzusetzen, wie die Ernenng des für seine Aussage »Die Vereinten Nationen gibt nicht« berüchtigten John R. Bolton zum amerikanihen UN-Botschafter deutlich gemacht hat. Wie Maue Druon festgestellt hat, verfügte die amerikanische gierung vor dem Irakkrieg lediglich über vier Geheimenten in Bagdad, die zudem allesamt Doppelagenten aren.21 Als die Amerikaner den Krieg begannen, waren überzeugt, dass die amerikanischen Truppen als Bef ier begrüßt und mit Blumen und offenen Armen empfangen werden würden. Doch »nach mehr als 10 000 toten Zivilisten, 20 000 Verletzten und einer noch größeren Zahl an Opfern bei der irakischen Armee hat sich die Lage, ein Jahr nach dem Angriff, weiter verschärft, weil grundlegende öffentliche Dienstleistungen nicht sicher20 Ebenda, S. 21. 21 Vgl. Druon, Les stratèges aveugles, Le Figaro, 18. November 2004, S. 13.

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gestellt sind, […] Arbeitslosigkeit grassiert und das unbedachte und massive Vorgehen des US-Militärs verheerende Folgen zeitigt«.22 Daraus kann man nur schließen, dass zwar ein Gedanke, der nicht in die Tat umgesetzt wird, zugegebenermaßen wirkungslos bleiben würde, gedankenloses Handeln sich jedoch als ebenso erfolglos erwiesen hat; abgesehen vom moralischen Verfall und all dem menschlichen Leid, das dieses Handeln zwangsläufig mit sich bringen musste. Terrorgruppen ist auf diese Weise kaum beizukommen. Im Gegenteil: Es sind gerade die Unbeholfenheit und das ebenso aufwendige wie kräftezehrende Vorgehen i res Gegners, die ihnen immer neuen Auftrieb verleihen. ber nicht nur die explizit gegen Terroristen gerichteten perationen sind von Maßlosigkeit gekennzeichnet. leiches gilt für die Warnungen und Mahnungen, die rtreter der Koalition gegen den Terrorismus an die ene Bevölkerung richten. Deborah Orr bemerkte beits 2004: »Zahlreiche Flüge werden abgefangen, ohne ss sich je herausstellt, dass eine tatsächliche Bedrohung stand […]. Panzer und Truppen wurden vor Heathrow stiert, und schließlich zogen sie ab, ohne überhaupt etas gefunden zu haben.«23 Oder nehmen wir den Fall der »Rizinfabrik«, deren Entdeckung in London 2003 umgehend »als ›schlagender Beweis dafür, dass die Terrorgefahr anhält‹ hinausposaunt wurde, obwohl von der

22 Vgl. Meacher, Playing Bin Laden’s Game, The Guardian, 11. Mai 2004, S. 21. 23 Vgl. Orr, A Relentless Diet of False Alarms, The Independent, 3. Februar 2004, S. 33.

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Forschungsstelle für biologische und chemische Kriegführung in Porton Down am Ende nicht nachgewiesen werden konnte, dass sich in der Wohnung, die doch angeblich eine so wichtige Basis von Terroristen war, jemals Rizin befunden hatte«.24 Wie Duncan Campbell von dem Prozess gegen die angeblichen »Rizin-Verschwörer« berichtete, hatte sich schon früh herausgestellt, dass das einzige Dokument, auf das sich die Anklage stützte, eine »genaue Kopie von Teilen einer Website in Palo Alto, Kalifornien« war.25 Eine Verbindung nach Kabul oder zu Al-Qaida konnte nicht nachgewiesen werden, und die Staatsanwaltschaft sah sich gezwungen, die Anklage fall nzulassen. Das hinderte jedoch den damaligen Inneninister David Blunkett nicht daran, zwei Wochen später verkünden: »Das internationale Netzwerk von Alaida, das werden die Gerichte in den nächsten Monaten stätigen, steht unmittelbar vor unserer Haustür und droht unser Leben«,26 während in den USA Colin well den angeblichen »Londoner Rizin-Ring« als Beeis dafür anführte, dass der Irak und Osama Bin Laden rrorzellen in ganz Europa unterstützen und leiten würn. Insgesamt wurden in Großbritannien bis Anfang bruar 2004 unter Anwendung der neuen Anti-TerrorGesetze 500 Menschen festgenommen, aber nur zwei von ihnen wurden verurteilt.

24 Campbell, The Ricin Ring That Never Was, The Guardian, 14. Februar 2005. 25 Ebenda. 26 Campbell u. a., Police Killer Gets 17 Years for Poison Plot, The Guardian, 14. April 2005.

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Nehme man all diese Dummheiten zusammen, so Orr, dann erscheine die Hypothese, hinter dem Anfachen der Terrorangst stünden mächtige Handelsinteressen, nicht ganz unglaubwürdig. Der Verdacht könnte sich erhärten, sobald mehr Datenmaterial zugänglich wird. Es gibt Anzeichen dafür, dass durch den »Krieg gegen den Terror« der weltweite Handel mit Handfeuerwaffen nicht ab-, sondern signifikant zugenommen hat (die Verfasser eines gemeinsamen Berichts von amnesty international und Oxfam schätzen, dass mit Handfeuerwaffen, den »wahren Massenvernichtungswaffen«, jedes Jahr eine halbe Million Menschen getötet werden).27 Ausführlich kumentiert ist der Profit, den amerikanische Firmen, e »Selbstverteidigungsausrüstung« herstellen und vert iben, aus der allgemeinen Angst schlagen; einer Angst, e durch die allgegenwärtige Präsenz derartiger Ausrüst ng ihrerseits verfestigt und vergrößert wird. Gleichohl gilt es noch einmal festzuhalten, dass der Krieg gen Terroristen, denen vorgeworfen wird, sie würden ngst säen, bis jetzt in erster Linie eines hervorgebracht t: Angst. Ein weiteres deutlich sichtbares Produkt dieses Kries sind weitreichende Beschränkungen persönlicher Freiheiten, Beschränkungen, die zum Teil seit der Unterzeichnung der Magna Charta ohne Beispiel sind. Conor Gearty, Professor für Menschenrechte an der London School of Economics, hat eine lange Liste von britischen Gesetzen erstellt, die Einschränkungen bürgerlicher Frei-

27 Vgl. Bowcott/Norton-Taylor, War on Terror Fuels Small Arms Trade, The Guardian, 10. Oktober 2003, S. 19.

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heiten mit sich bringen und unter der Rubrik »Anti-Terror-Gesetzgebung« verabschiedet worden sind. In seinem Urteil stimmt er mit zahlreichen anderen, ebenso besorgten Beobachtern überein: Es sei keineswegs sicher, dass »unsere bürgerlichen Freiheiten noch intakt sein werden, wenn wir sie an unsere Kinder weitergeben wollen«. Bisher hätten die britischen Gerichte die Repressionspolitik mitgetragen, zu der es laut Regierung »keine Alternative« gebe. Insofern, schließt Gearty, könnten »nur liberale Idealisten« und andere Leichtgläubige erwarten, dass die Judikative »in dieser Krisenzeit« eine Führungsrolle übernehmen werde, wenn es um die Vert digung bürgerlicher Freiheiten gehe.28 Die ungeheuerlichen Vorgänge im Gefangenenlager n Guantánamo oder im Gefängnis von Abu Ghraib – eignisse, die sich nicht nur fernab von Besuchern, sonrn auch von jeglichem nationalen oder internationalen cht zugetragen haben – und das langsame, aber unaufltsame Abgleiten ins Unmenschliche, das sich bei jenen ännern und Frauen einstellt, die diese Gesetzwidrigkeit n begehen oder überwachen – all das ist in der Presse so sführlich dargestellt worden, dass es hier nicht wiederlt werden muss. Worüber wir jedoch weniger oft nachdenken und selten etwas hören, ist, dass die Dämonen, die an jenen entlegenen Orten aufgetaucht sind, möglicherweise nichts anderes sind als besonders extreme, radikale und schamlose, unbändige und rücksichtslose Exemplare einer größeren Familie von Lemuren, die auf

28 Vgl. Gearty, Cry Freedom, The Guardian, 3. Dezember 2004, S. 9.

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den Dachböden und in den Kellern unserer eigenen Häuser herumspuken – in einer Welt, in der so gut wie niemand noch daran glaubt, dass es irgendeine Relevanz für das eigene Leben hat, wenn man in das Leben anderer eingreift. Anders ausgedrückt: in einer Welt, in der jedes Individuum ganz auf sich gestellt ist und die meisten einander nur Mittel zum Zweck sind. Mag sein, dass ein solchermaßen vereinzeltes Leben freudvoll und kurzweilig ist – doch ist es zwangsläufig auch geprägt von Risiken und Ängsten. In einer solchen Welt gibt es nur noch wenige Felsen, auf die Individuen im Kampf ums Überleben ihre Hoffnung auf Rettung ünden und an die sie sich im Falle persönlichen Scheit ns klammern können. Die zwischenmenschlichen nde sind angenehm locker, aber aus ebendiesem rund auch beängstigend unzuverlässig, und Solidarität üben ist ebenso schwierig, wie es schwer wird, ihre rzüge und mehr noch ihren moralischen Wert zu verhen. Der neue Individualismus, das Verkümmern zwihenmenschlicher Bande und das Welken der Solidarität d die eine Seite einer Medaille, deren andere die verhwommenen Konturen der »negativen Globalisierung« zeigt. In seiner gegenwärtigen, rein negativen Form ist Globalisierung ein räuberischer und parasitärer Prozess, der sich aus der Kraft nährt, die er aus den Körpern der Nationalstaaten und ihrer Bürger heraussaugt. Um noch einmal Attali zu zitieren: Die in Staaten organisierten Nationen »verlieren die Fähigkeit, die grundsätzliche Richtung der Entwicklung zu beeinflussen, und büßen im Prozess der Globalisierung all die Mittel ein, die sie brauchen werden, um ihr Schicksal in die Hand zu nehmen 40

und den zahlreichen Formen zu widerstehen, die ihre Ängste annehmen können«.29 Die Gesellschaft wird vom Staat nicht mehr geschützt – zumindest kann sie sich auf den ihr gebotenen Schutz kaum mehr verlassen. Sie ist nunmehr räuberischen Kräften ausgesetzt, über die sie keine Kontrolle mehr besitzt und die zurückzuerobern und zu zähmen sie alle Hoffnung oder Absicht aufgegeben hat. Vor allem deshalb stolpern Staatsregierungen, die in den Stürmen unserer Zeit tagein, tagaus ums Überleben kämpfen, mit ihrem Krisenmanagement von einer Ad-hoc-Kampagne und einer Notstandsmaßnahme zur nächsten und haben bei nichts anderes im Sinn, als bei den nächsten Wahlen der Macht zu bleiben; darüber hinaus verfolgen sie j och keine weitsichtigen Programme oder ehrgeizigen ele – ganz zu schweigen von Visionen, wie die langfrist en Probleme des Landes ein für alle Mal gelöst werden nnten. »Offen« und in beide Richtungen zunehmend hutzlos, verlieren Nationalstaaten ihre Macht, die sich i globalen Raum verflüchtigt, ebenso wie sie ihren polit chen Weitblick und ihr Geschick einbüßen, die mehr d mehr in den Bereich der individuellen »Politik der bensführung« verlagert und »subsidiarisiert«, das heißt dem Individuum überlassen werden. Das wenige, was an Macht und Einfluss in den Händen des Staates und der Staatsorgane verbleibt, schrumpft allmählich auf ein Maß, das vielleicht ausreichen würde, um ein größeres Polizeirevier auszustatten. Der reduzierte Staat kann kaum etwas anderes sein als ein »personal safety state«.

29 Attali, La voie humaine, S. 9.

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Nachdem sie sich aus einer Gesellschaft verabschiedet haben, die durch den Globalisierungsdruck gezwungen wurde, sich zu öffnen, driften Macht und Politik in entgegengesetzter Richtung immer weiter auseinander. Wie man Politik und Macht wieder zusammenbringen kann, ist die gewaltige Aufgabe, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach als größte Herausforderung dieses Jahrhunderts herausstellen wird. Die von allen denkbaren Antworten auf diese Herausforderung am wenigsten Erfolg versprechende dürfte diejenige sein, die beiden Ex-Partner im Domizil des Nationalstaates wieder zusammenzuführen. Auf einem negativ globalisierten Planeten sind alle undlegenden Probleme – die Metaprobleme, die bengen, wie alle anderen Probleme angegangen werden – obaler Natur, so dass Lösungen auf lokaler Ebene sgeschlossen sind. Es gibt keine lokalen Lösungen für obleme, die durch die Globalisierung verursacht oder rschärft werden, und es kann sie nicht geben. Will man acht und Politik wieder zusammenführen, so kann es, wenn überhaupt, nur auf globaler Ebene gelingen. ie Benjamin R. Barber so treffend formuliert hat: »Kein erikanisches Kind kann sich in seinem Bett sicher fühl n, solange sich Kinder in Karatschi oder Bagdad in ihren Betten nicht sicher fühlen können. Europäer werden sich ihrer Freiheit nicht lange brüsten können, wenn Menschen in anderen Teilen der Erde weiterhin benachteiligt und gedemütigt werden.«30 Es ist nicht mehr möglich, Freiheit und Demokratie nur in einem Staat oder 30 Barber, Jak ujarzmic´ kapitalism (Benjamin R. Barber im Gespräch mit Artur Domosławski, Gazeta Wyborcza, 24.–26. Dezember 2004, S. 20.

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einer Gruppe von Staaten umfassend zu sichern. In einer Welt voller Ungerechtigkeit, in der Milliarden von Menschen ein menschenwürdiges Leben verwehrt ist, wird die Verteidigung von Freiheit und Demokratie zwangsläufig genau die Werte korrumpieren, die zu verteidigen man ausgezogen ist. Die Zukunft von Freiheit und Demokratie kann nur auf globaler Ebene gesichert werden – oder überhaupt nicht. Von allen Dämonen, die sich in den offenen Gesellschaften unserer Zeit eingenistet haben, ist die Angst wohl der hinterhältigste. Es sind jedoch die Unsicherheit der Gegenwart und die Ungewissheit der Zukunft, e die überwältigendsten und unerträglichsten unserer ngste hervorrufen. Diese Unsicherheit und diese Unwissheit wiederum haben ihren Ursprung in einem efühl des Ausgeliefertseins. Wir scheinen die Kontrolle rloren zu haben, als Einzelne, als Gruppe oder als aat – und was noch schlimmer ist, uns fehlen die Instruente, mit deren Hilfe wir die Politik auf jene Ebene ben könnten, wo die Macht sich bereits niedergelassen t, so dass wir die Kontrolle über jene Kräfte wiederlangen könnten, die unser gemeinsames Schicksal stimmen und dabei unsere Möglichkeiten ebenso begrenzen wie unsere Entscheidungsspielräume; doch diese Kontrolle ist uns entglitten beziehungsweise aus den Händen gerissen worden. Bevor wir diese Instrumente nicht finden (genauer: schaffen), wird es nicht gelingen, den Dämon Angst auszutreiben.

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Menschheit in Bewegung Rosa Luxemburg bemerkte vor 100 Jahren, dass »die Kapitalakkumulation in ihren sachlichen Elementen tatsächlich an nichtkapitalistische Kreise gebunden«1 sei, sich jedoch alsbald daranmache, ebenjene Bedingungen zu assimilieren, die allein ihre Existenz garantieren könnten. Nichtkapitalistische Milieus sind ein fruchtbarer Boden, auf dem der Kapitalismus gedeihen kann: Das Kapital ernährt sich von den Überresten solcher Milieus, und obwohl dieses nichtkapitalistische Umfeld für die Akkumul ion von Kapital unentbehrlich ist, erfolgt diese nichtsstoweniger auf dessen Kosten und zehrt somit an iner Substanz. Es ist das inhärente Paradox des Kapitalismus und l ngfristig sein Verderben, dass er wie eine Schlange ist, e ihren eigenen Schwanz frisst. Man kann es auch anrs ausdrücken, in Begriffen, die Rosa Luxemburg nicht läufig waren, weil sie erst in den letzten ein bis zwei J hrzehnten geprägt worden sind, einer Zeit, in der der bstand des Schwanzes vom Magen sich schnell verrinrt hat und die Unterscheidung zwischen »Fresser« und »Gefressenem« zunehmend schwieriger wurde. Der Kapitalismus bezieht seine Lebensenergie aus einer Praxis, die man »asset stripping« nennt und die in jüngster Zeit vor allem im Zusammenhang mit der weitverbreiteten Praxis der »feindlichen Übernahmen« zutage tritt. Diese Praxis verlangt nach immer neuen Vermögenswerten, die

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Luxemburg, Akkumulation des Kapitals, S. 306.

ausgeschlachtet werden können – wird sie global angewandt, ist jedoch abzusehen, dass das Angebot früher oder später erschöpft oder so stark geschrumpft sein wird, dass ihr die Grundlage entzogen ist. Die bei der Zerschlagung eines Unternehmens veräußerten Vermögenswerte sind der Ertrag der Arbeit anderer Produzenten – doch mit jedem Produzenten, der seiner Vermögenswerte beraubt und vernichtet wird, nähern wir uns langsam, aber unweigerlich dem Punkt, an dem keine Vermögenswerte mehr übrig sein werden, die man zerlegen und veräußern könnte. Mit anderen Worten: Die Vision Rosa Luxemburgs ar, dass der Kapitalismus an Nahrungsmangel zugrunde hen, dass er gleichsam verhungern werde, sobald die l zte Weide des »Andersseins« abgegrast ist. Doch 0 Jahre später hat es den Anschein, dass ein fatales, ja elleicht das fatalste Ergebnis des weltweiten Siegeszugs r Moderne eine schwere Krise der Industrie ist, die enschlichen Abfall« entsorgt, denn mit jedem neuen rposten, den die Kapitalmärkte erobern, vergrößert h das Heer an Männern und Frauen, die bereits ihres rund und Bodens, ihrer Arbeitsplätze und ihrer sozial n Sicherungsnetze beraubt worden sind, um Tausende oder gar Millionen von Menschen. Die Misere der Armen überall auf der Erde, die von ihrem Land vertrieben wurden und in den rasant wuchernden Slums der nächstgelegenen Megalopolis ums Überleben ringen, wird von Jeremy Seabrook eindringlich beschrieben: »Die Armut ist weltweit auf der Flucht. Nicht, weil sie vom Reichtum vertrieben wird, sondern weil sie aus dem ausgelaugten, umgestalteten Hinterland verdrängt worden ist […]. Die von den Armen bestellte 45

Erde ist süchtig nach Dünger und Pestiziden und erbringt keinen Überschuss mehr, der sich auf dem Markt verkaufen ließe. Das Wasser ist kontaminiert, die Bewässerungskanäle verschlammt, das Brunnenwasser verschmutzt und ungenießbar […]. Die Regierung hat ihnen ihr Land weggenommen, um einen Badeort oder Golfplatz anzulegen oder um unter dem Druck von Strukturanpassungsprogrammen den Export landwirtschaftlicher Produkte zu steigern […]. Das Schulgebäude wurde nicht instand gehalten, die Ambulanz geschlossen. Wälder, in denen die Menschen seit jeher Brennholz und Obst sowie Bambus zum Reparieren ihrer Häuser gesammelt hatten, aren zu verbotenen Zonen geworden, bewacht von ännern in der Uniform einer paramilitärischen Privatf ma.«2 Die Anzahl der Menschen, die durch den weltweiten egeszug des Kapitalismus ihren Arbeitsplatz verloren ben, wächst unaufhaltsam und wird bald die Grenze ssen erreichen, was die Erde verkraften kann. Es wird i mer wahrscheinlicher, dass die kapitalistische Moderne ( eziehungsweise der moderne Kapitalismus) an ihren enen Abfallprodukten ersticken wird, die sie weder zu integrieren noch zu vernichten, noch zu entgiften vermag (die Anzeichen mehren sich, dass die schnell anwachsenden Müllberge zunehmend toxische werden). Während die krankmachenden Auswirkungen des Industrie- und Haushaltsabfalls auf das ökologische Gleichgewicht und auf die Selbstreproduktionsfähigkeit des Lebens auf der Erde seit geraumer Zeit Anlass zu gro-

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Seabrook, Powder Keg in the Slums, S. 10.

ßer Besorgnis geben (obwohl den Diskussionen viel zu selten Taten gefolgt sind), sind wir weit davon entfernt, die weitreichenden Folgen der zunehmenden Mengen von menschlichem Abfall auf die politische Balance und das soziale Gleichgewicht des menschlichen Zusammenlebens auf der Erde zu erkennen und zu begreifen. Es wird also höchste Zeit, dass wir damit anfangen. In einer solchen grundlegend neuartigen Situation hilft weder eine Überprüfung der Liste der üblichen Verdächtigen noch der Rückgriff auf gewohnte Vorgehensweisen, wenn man das Geschehen verstehen will – ein Geschehen, das jeden Bewohner der Erde betrifft, wenn auch auf höchst unterhiedliche Art und Weise. ie neue »Überfüllung des Planeten« – die globale Reicheite der Finanz-, Güter- und Arbeitsmärkte, der kapit gesteuerten Modernisierung und damit der modernen bensweise – hat zwei unmittelbare Konsequenzen. Die eine Konsequenz ist, dass jene Ventile blockiert d, die in der Vergangenheit den regelmäßigen und chtzeitigen Abfluss beziehungsweise die Reinigung r vergleichsweise wenigen modernisierten und sich odernisierenden Enklaven von ihrem »menschlichen Überschuss« ermöglichten, den der moderne Lebensstil unweigerlich in immer größerem Ausmaß produzieren musste: die überflüssige, überzählige Bevölkerung, der Ausschuss vom Arbeitsmarkt, der Abfall der marktorientierten Wirtschaft; all das, was die Recyclingkapazitäten übersteigt. Als sich der moderne Lebensstil erst einmal so weit verbreitet hatte (beziehungsweise mit Gewalt ausgedehnt worden war), dass er den ganzen Globus erfasst hatte und somit kein Privileg einer begrenzten Zahl aus47

gewählter Staaten mehr war, da wurde »leeres« beziehungsweise »Niemands«land (genauer gesagt, Gebiete, die aufgrund des globalen Machtgefälles von dem Teil, der bereits »modern« war, als leer und /oder herrenlos betrachtet und behandelt werden konnten), nachdem es mehrere Jahrhunderte als wichtigstes Ventil (oder Hauptdeponie) für die Entsorgung menschlichen Abfalls gedient hatte, immer knapper und ist heute fast vollständig verschwunden. Was die »überflüssigen Menschen« betrifft, die derzeit in den Ländern, die erst vor kurzem vor die Dampflokomotive der Modernisierung gesprungen (oder unter ihre Räder gekommen) sind, im großen Stil freisetzt werden, so hat es in diesen Ländern ein derartiges ntil nie gegeben; in den sogenannten »vormodernen« esellschaften, denen Abfallprobleme, ob menschliche er nichtmenschliche, fremd waren, gab es dafür keinen darf. Als Folge dieses Prozesses – der Blockierung des alten d fehlenden Bereitstellung eines neuen externen Ventils f r die Beseitigung menschlichen Abfalls – richten soohl die »alten Modernen« als auch die Neuankömml ge in der Moderne die scharfe Klinge der Ausschlussaktiken zunehmend gegen sich selbst. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten, nachdem die »Differenz«, die im Laufe der weltweiten Verbreitung des modernen Lebensstils auftrat beziehungsweise produziert wurde – jahrhundertelang als irritierendes, aber vorübergehendes und behebbares Ärgernis betrachtet und mehr oder weniger effektiv mit Hilfe von »anthropophagischen« (»menschenfressenden«) oder »anthropoemischen« (»ausspeienden«) Strategien (um ein Begriffspaar von Claude Lévi-Strauss zu verwenden) gehandhabt –, nunmehr in 48

die Länder zurückgekehrt ist, in denen die Modernisierung ihren Ausgang genommen hatte. Aber im eigenen Land sind die herkömmlichen Strategien, die in fernen Ländern entwickelt und erprobt wurden, völlig unrealistisch, und alle Versuche, sie im eigenen Land anzuwenden, bergen unwägbare, unvorhersehbare und damit angsteinflößende Risiken. Clifford Geertz hat in seiner pointierten Kritik die Wahl dargestellt, vor der wir heute stehen: zwischen »der Anwendung von Gewalt, um Konformität mit den Werten derjenigen zu erzwingen, die sie ausüben können« und »nichtssagender Toleranz, die nichts verändert, weil sich auf nichts einlässt«.3 Er stellt fest, dass die Macht, onformität zu erzwingen, nicht mehr zur Verfügung ht und »Toleranz« keine großmütige Geste mehr ist, it der die Reichen und Mächtigen zugleich ihre eigene rlegenheit und die Kränkung derjenigen, die sich durch ese gönnerhafte Haltung herablassend behandelt und leidigt fühlten, entschärfen könnten. In unseren Tagen, Geertz, »tauchen moralische Konflikte, die durch lturelle Vielfalt verursacht werden […] und die eheals […] in erster Linie zwischen Gesellschaften entstann sind, […] zunehmend innerhalb einzelner Gesellschaften auf. Gesellschaftliche und kulturelle Grenzen fallen immer seltener zusammen.«4 »Die Tage, als die amerikanische Stadt das Paradebeispiel für kulturelle Fragmentierung und ethnische Durchmischung war, sind definitiv vorbei. Das Paris der nos ancêtres les gaulois wird

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Geertz, The Use of Diversity, S. 82. Ebenda, S. 79.

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allmählich ebenso polyglott und polychrom wie Manhattan, und es könnte gut sein (zumindest fürchten das viele der gaulois), dass Paris früher einen nordafrikanischen Bürgermeister hat als New York einen hispanischen.«5 »Die Welt ähnelt an allen Ecken und Enden eher einem Basar in Kuwait als einem Club englischer Gentlemen […]. Les milieux sind allesamt mixtes. Die ›Umwelten‹ sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«6 Solange es möglich ist, den Bevölkerungsüberschuss (den Teil, der nicht in die »normale« Gesellschaft reintegriert und nicht für die Aufnahme in die Kategorie der »nützlichen« Gesellschaftsmitglieder wiederaufbereitet erden kann) regelmäßig aus einem bestimmten Gebiet entfernen, innerhalb dessen ein ökonomisches und soles Gleichgewicht angestrebt wird, sind Menschen, die m Abtransport entgangen sind und in dem betreffenn Gebiet verbleiben, für das »Recycling« beziehungseise für die »Rehabilitation« vorgesehen. Sie sind nur rübergehend »draußen«, der Zustand ihrer Exklusion i eine Abnormität, die ein Heilmittel und eine Therapie rlangt; man muss ihnen auf jeden Fall helfen, so schnell e möglich wieder »hinein«zukommen. Sie sind das rsatzheer an Arbeitskräften« und müssen in Form gebracht und erhalten werden, so dass sie bei nächster Gelegenheit in den aktiven Dienst zurückkehren können. All das ändert sich jedoch, wenn die Abflusskanäle für den Überschuss an Menschen verstopft sind. Je länger die »überflüssige« Bevölkerung im Land bleibt und mit dem

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Ebenda. Ebenda, S. 86.

»nützlichen« und »legitimen« Rest in Berührung kommt, desto weniger kann die beruhigende Eindeutigkeit der Trennlinien zwischen »Normalität« und »Abnormität«, zwischen vorübergehender Untauglichkeit und der endgültigen Zuordnung zum »Abfall« aufrechterhalten werden. Dem »Abfall« zugeordnet zu werden kann nicht mehr, wie zuvor, als Schicksal wahrgenommen werden, das auf einen relativ kleinen Teil der Bevölkerung beschränkt ist, sondern wird zu etwas, das jeden treffen kann – einer von zwei Polen, zwischen denen das gegenwärtige und zukünftige Sozialprestige jedes Einzelnen oszilliert. Die gewohnten Werkzeuge und Interventionsategien – entwickelt, um eine Abnormität zu handben, die, so die Wahrnehmung, temporär war und sich r auf eine Minderheit auswirkte, sind zu schwach und um geeignet, um dieser neuen Form des »Abfallproems« zu begegnen. So entmutigend diese und vergleichbare Rückschläge d Dilemmata uns erscheinen mögen, in verschärfter d besonders akuter Form treten sie in den Teilen der de auf, die erst kürzlich mit dem Phänomen einer berschüssigen Bevölkerung« und dem Problem seiner seitigung konfrontiert worden sind. »Kürzlich« heißt in diesem Fall mit Verspätung, zu einem Zeitpunkt, da die Erde bereits voll ist, es keine »leeren Länder« mehr gibt, die als Abfalldeponien dienen könnten, und sich alle Asymmetrien der Grenzen strikt gegen die Neulinge im Kreis der Modernen richten. Kein Land wird den Überschuss anderer Völker freudig begrüßen, und anders als in der Vergangenheit ist es ausgeschlossen, eine Aufnahme zu erzwingen. Im Gegensatz zu den Abfallproduzenten von einst, die globale Lösungen für lokal verursachte Pro51

bleme gesucht und gefunden haben, sind diese »Nachzügler der Moderne« gezwungen, lokale Lösungen für global verursachte Probleme zu finden – mit bestenfalls mageren, allzu oft jedoch nichtexistenten Erfolgsaussichten. Ob nun freiwillig oder erzwungen, die Kapitulation dieser Länder vor globalen Zwängen und die daraus resultierende Öffnung ihres Territoriums für den uneingeschränkten Kapital- und Warenverkehr gefährdete jene von Familien und Gemeinden geführten Betriebe und Einrichtungen, die einst bereit und in der Lage waren, alle neugeborenen Menschen aufzunehmen, zu beschäftigen und zu ernähren, und meist deren Überleben sicherstellt n. Die Neulinge in der Welt der »Modernen« erleben st jetzt jene »Trennung von Wirtschaft und Haushalt«, it all den sozialen Verwerfungen und all dem menschl hen Leid, die damit einhergehen. Diesen Prozess haben e Pioniere der Modernität vor Hunderten von Jahren rchgemacht, und in ihrem Fall war er dadurch etwas gemildert, dass globale Lösungen für ihre Probleme r Verfügung standen: ein Überfluss an »leerem« beziengsweise »Niemands«land, in dem man jenen Bevölrungsüberschuss problemlos abladen konnte, den eine n familiären und staatlichen Beschränkungen befreite Wirtschaft nicht mehr aufnehmen konnte. Dieser Luxus ist den Nachzüglern nachdrücklich verwehrt. Stammeskriege und Massaker, das Wuchern von »Guerilla-Armeen« oder Verbrecherbanden und Drogenhändlern, die sich als Freiheitskämpfer ausgeben und sich gegenseitig dezimieren, dabei aber den »Bevölkerungsüberschuss« (in erster Linie Jugendliche, für die es im Land keine Arbeit gibt und denen jegliche Perspektive verweigert wird) absorbieren und schließlich vernichten: 52

Dies ist eine der pervertierten »lokalen Scheinlösungen für globale Probleme«, auf die Nachzügler der Moderne zwangsläufig zurückgreifen müssen, oder besser: auf die sie unfreiwillig zurückgreifen. Hunderttausende, manchmal Millionen von Menschen werden aus ihrer Heimat vertrieben, umgebracht oder gezwungen, aus ihrem Land zu fliehen, um ihr Leben zu retten. Die vielleicht einzige florierende Industrie in den Ländern der Nachzügler (die doppelzüngig und oft in betrügerischer Absicht »Entwicklungsländer« genannt werden) ist die Massenproduktion von Flüchtlingen. Es waren die immer zahlreicher werdenden Produkte eser Industrie, die nach einem Vorschlag des britischen emierministers Tony Blair unter anderer Völker Tepch gekehrt werden sollten, indem man sie in der Nähe i rer Heimatstaaten in auf Dauer angelegten Übergangsl ern ablädt (die man ebenso doppelzüngig und oft in trügerischer Absicht »Schutzzonen« nennt), auf dass i re lokalen Probleme lokal bleiben und alle Versuche der achzügler, dem Beispiel der Vorreiter der Moderne zu f lgen und globale (also die einzig effektiven) Lösungen f r lokal erzeugte Probleme zu suchen, im Keim erstickt erden. Was der Premierminister eigentlich (wenn auch indirekt) vorschlug, war, das Wohlergehen seines Landes durch eine Verschärfung der ohnehin nicht zu bewältigenden »Bevölkerungsüberschussprobleme« der unmittelbaren Nachbarländer der Nachzügler, wo es nolens volens eine ähnliche Massenproduktion an Flüchtlingen gibt, zu sichern. Im Übrigen ist festzuhalten, dass der reiche Westen sich einerseits weigert, seinen Teil zur »Abfallbeseitigung« und zum »Abfallrecycling« beizutragen, andererseits 53

jedoch einiges tut, um die Produktion von Abfall anzukurbeln; nicht nur indirekt, indem er die prophylaktischen Maßnahmen zur Abfallvermeidung der Vergangenheit eine nach der anderen demontiert und mit der Begründung abschafft, sie seien »unproduktiv« oder »wirtschaftlich nicht tragfähig«, sondern direkt, durch Globalisierungskriege, die immer mehr Gesellschaften destabilisieren. Am Vorabend des Irakkrieges wurde die NATO von der Türkei gebeten, ihre Streitkräfte zu mobilisieren, um angesichts des bevorstehenden Angriffs die türkischen Grenzen zu sichern. Viele Vertreter der NATO-Staaten sprachen sich dagegen aus und brachten allerhand einfallsiche Einwände vor – aber niemand sagte öffentlich, dass e Gefahr, vor der die Türkei (so dachte man) geschützt rden musste, ein Flüchtlingsstrom von Irakern war, die rch die amerikanische Invasion heimatlos werden würn, und nicht ein Angriff der irakischen Armee, die von n Amerikanern zweifellos vernichtet und aufgerieben rden würde.7 Während des Golfkrieges, »als Saddam seine Kampfhubschrauber gegen die irakischen Kurden aussandte, versuchten diese über die Berge nach Norden zu entkommen, in die Türkei; aber die Türken verweigerten ihnen die Einreise. Sie wurden an den Grenzübergängen buchstäblich zurückgetrieben. Ich habe einen türkischen Beamten sagen hören: ›Wir hassen diese Leute. Das sind verdammte Schweine.‹ Wochenlang saßen die Kurden deshalb in den Bergen fest, bei zehn Grad minus. Die meisten hatten nur das, was sie bei ihrer Flucht am Leib trugen. Die Kinder litten am schwersten: Durchfall, Typhus, Mangelernährung […].« Vgl. O’Kane, The Most Pitiful Sights I Have Ever Seen, The Guardian, 14. Februar 2003.

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Bislang ist allen noch so intensiven Bemühungen, der Flut der »Wirtschaftsmigranten« Einhalt zu gebieten, ein durchschlagender Erfolg verwehrt geblieben, und vermutlich wird das auch so bleiben. Millionen verzweifeln ob des Elends, für das kein Ende in Sicht ist, und in einer Zeit, in der Wirtschaft und Verbrechen globalisiert sind, überrascht es kaum, dass kein Mangel an Unternehmern herrscht, die bestrebt sind, aus dieser Verzweiflung Kapital zu schlagen, um ein paar Dollar – oder auch ein paar Millionen – zu verdienen. So kommt es, dass die derzeitigen Umbrüche eine zweite schreckliche Auswirkung zeitigen: Millionen von Migranten, die auf den Spuren r »überschüssigen Bevölkerung« von einst wandeln, e von den Treibhäusern der Moderne freigesetzt worn war, diesmal allerdings in entgegengesetzter Richt ng und ohne die Unterstützung von conquistadores, ändlern und Missionaren. Die ganze Tragweite dier Entwicklung wird sich erst noch entfalten und muss i ihren Auswirkungen im Einzelnen noch verstanden erden. I Rahmen einer kurzen, aber heftigen Debatte, die 2001 i Verbindung mit dem Krieg in Afghanistan ausgetragen wurde, sann Garry Younge über den Zustand der Erde einen Tag vor dem 11. September nach. Er erinnerte sich an eine Schiffsladung afghanischer Flüchtlinge, die vor der australischen Küste daran gehindert wurden, an Land zu gehen (was 90 Prozent der Australier sehr begrüßten) und am Ende auf einer Insel mitten im Pazifik interniert wurden. »Interessant ist, dass es sich dabei um Afghanen handelte – wenn man bedenkt, wie sehr sich Australien jetzt in der Koalition engagiert, wie es sich nichts Erstre55

benswerteres vorstellen kann als ein freies Afghanistan und bereit ist, zur Befreiung des Landes seine Bomben einzusetzen […]. Interessant ist auch, dass wir [in Großbritannien] jetzt einen Außenminister haben, der Afghanistan mit den Nazis vergleicht, der aber damals, als er Innenminister war und eine Gruppe Afghanen [auf dem Londoner Flughafen] in Stansted landete, sagte, die Afghanen hätten keine Verfolgung zu befürchten, und sie zurückschickte.«8 Younge schließt daraus, die Welt sei am 10. September »ein gesetzloser Ort« gewesen, von dem Reiche wie Arme wussten, dass »Macht vor Recht« geht, dass die Reien und Mächtigen das internationale Recht (beziehungsise das, was sie darunter verstehen) jederzeit umgehen er ignorieren können, wenn es ihnen ungelegen kommt, d dass im globalen Raum nicht nur die Wirtschaft von ichtum und Macht dominiert wird, sondern auch die oral und die Politik sowie alles andere, was die Lebensdingungen auf diesem Planeten bestimmt. Etwas später sollte in einem vor dem Londoner High ourt verhandelten Fall geklärt werden, ob der Umgang itischer Behörden mit sechs Asylbewerbern legal war. iese waren vor Regimen auf der Flucht, die offiziell als »böse« eingestuft wurden, weil sie regelmäßig Menschen8

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Younge, A World Full of Gangsters, S. 19. Younge spielt auf 433 (überwiegend afghanische) boat people an, die im August 2001 vom norwegischen Frachter »Tampa« in australischen Gewässern aus Seenot gerettet wurden. Da Australien sich weigerte, die Flüchtlinge aufzunehmen, wurden sie schließlich auf mehrere Inseln verteilt. Der erwähnte britische Außenminister war Jack Straw. (Anm. d. Ü.)

rechte verletzen oder nachlässig mit ihnen umgehen – etwa der Irak, Angola, Ruanda, Äthiopien und der Iran.9 Kronanwalt Keir Starmer, der die sechs vertrat, informierte das Gericht unter dem Vorsitz von Richter Collins darüber, dass durch die Neuregelung des Asylrechts Hunderte von Asylbewerbern in Großbritannien so mittellos seien, dass sie außerstande sind, ihre Anträge weiterzuverfolgen. Sie müssten in der Kälte auf der Straße leben und seien hungrig, verängstigt und krank. Manchen bleibe nichts anderes übrig, als in Telefonzellen und Parkhäusern Zuflucht zu suchen. Ihnen werde weder Geld noch Unterkunft und Verpflegung gewährt. Einerseits dürften keine bezahlte Arbeit annehmen, andererseits verweire man ihnen den Zugang zu Sozialleistungen, und sie tten keinerlei Einfluss darauf, wann, wo (und ob) ihre ylanträge bearbeitet würden. Eine Frau, der die Flucht s Ruanda gelang, nachdem sie mehrfach vergewaltigt d misshandelt worden war, verbrachte die Nacht auf nem Stuhl in der Polizeiwache in Croydon – man hatte i r erlaubt zu bleiben, unter der Bedingung, dass sie nicht nschläft. Ein Mann aus Angola, dessen Vater erschossen d dessen Mutter und Schwester nach einer mehrfachen rgewaltigung nackt auf der Straße zurückgelassen worden waren, musste unter freiem Himmel schlafen, weil ihm jegliche Unterstützung verweigert wurde. In den von Keir Starmer vertretenen Fällen befand das Gericht, dass die Verweigerung von Sozialleistungen unrechtmäßig gewesen sei. Doch der Innenminister reagierte verärgert

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Vgl. Travis, Treatment of Asylum Seekers »Is Inhumane«, The Guardian, 11. Februar 2003, S. 7.

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auf das Urteil: »Ganz ehrlich, ich habe es satt, dass das Parlament über Fragen debattiert, nur damit hinterher die Richter alle Beschlüsse wieder aufheben […]. Wir werden das Urteil von Richter Collins nicht hinnehmen und Berufung dagegen einlegen.«10 Zu diesem Zeitpunkt waren bei den Gerichten 200 ähnlich gelagerte Fälle anhängig. Die Notlage der sechs von Keir Starmer vertretenen Asylbewerber war vermutlich eine Nebenwirkung der Überfüllung in den teils improvisierten, teils gezielt geplanten Lagern, in die Asylbewerber routinemäßig gebracht werden, sobald sie in Großbritannien landen. Die hl der obdach- und staatenlosen Opfer der Globalisieng steigt so schnell, dass Planung und Bau neuer Lager cht Schritt halten können. den unheilvollsten Folgen der Globalisierung gehört e Deregulierung von Kriegen. Die meisten kriegsähnl hen Handlungen, darunter die grausamsten und blutigst n, gehen heute von nichtstaatlichen Organisationen aus, e den staatlichen oder quasistaatlichen Gesetzen und i ernationalen Konventionen nicht unterworfen sind. Sie d zugleich das Ergebnis und eine der wichtigsten Ursachen der fortschreitenden Erosion staatlicher Souveränität wie auch der permanenten Grenzlandbedingungen im »suprastaatlichen« globalen Raum. Feindseligkeiten zwischen einzelnen Volksgruppen können aufbrechen, weil die Waffen des Staates geschwächt sind; Waffen, die im

10 Travis, Blunkett to Fight Asylum Ruling, The Guardian, 20. Februar 2003, S. 2.

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Falle der »jungen Staaten« mangels Zeit (oder Freiraum) nie entwickelt wurden. Einmal entfesselt, bewirken diese Feindseligkeiten, dass die staatlichen Gesetze, seien sie nun rudimentär oder fest etabliert, nicht mehr durchgesetzt werden können und im Grunde null und nichtig sind. Die Bevölkerung eines solchen Staates befindet sich dann in einem rechtsfreien Raum; jener Teil der Bevölkerung, der sich zur Flucht entschließt und den Schlachtfeldern entkommen kann, findet sich in einer anderen Art von rechtsfreiem Raum wieder, der des globalen Grenzlandes. Haben sie die Grenzen ihres Heimatlandes erst überschritten, verlieren Flüchtlinge zudem die Rückenckung durch eine anerkannte Staatsgewalt, die sie behützen, für ihre Rechte eintreten und sich bei anderen aaten für sie einsetzen könnte. Flüchtlinge sind Staatenl se, allerdings in einem völlig neuen Sinn: Ihre Staatenl sigkeit wird auf eine neue Ebene gehoben, weil eine atliche Autorität, auf die sich ihre Staatlichkeit bezien könnte, nicht oder nur schemenhaft vorhanden ist. e sind, wie Michel Agier in seiner aufschlussreichen udie über Flüchtlinge im Zeitalter der Globalisierung f tstellt, hors du nomos – sie stehen außerhalb des Gesets11 – nicht dieses oder jenes Gesetzes in diesem oder jenem Land, sondern des Gesetzes an sich. Diese neue Spezies von Ausgestoßenen und Geächteten ist ein Produkt der Globalisierung und der Inbegriff des Grenzlandgeistes (frontier-land spirit) der Globalisierung. Flüchtlinge sind in den Worten Agiers in einem Zustand des »liminal drift« geraten, das heißt, sie treiben ohne Halt in einem

11 Agier, Aux bords du monde, S. 55 f.

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Zwischenbereich und wissen nicht, ja können nicht wissen, ob dieser Zustand vorübergehend oder von Dauer ist. Selbst wenn sie für einige Zeit an einem Ort bleiben – sie befinden sich auf einer Reise, die nie zu Ende sein wird, weil das Ziel (ob Ankunft oder Rückkehr) immer unklar und ein Ort, den sie als endgültiges Ziel betrachten könnten, immer unerreichbar bleiben wird. Wo sie sich auch niederlassen, sie werden sich nie ganz von dem quälenden Gefühl des Übergangs, der Unbestimmtheit und der Vorläufigkeit frei machen können. Das Elend der palästinensischen Flüchtlinge, von denen viele nie ein Leben außerhalb der vor über 50 Jahren hastig i provisierten Lager kennengelernt haben, ist ausführlich kumentiert worden. Mit dem Voranschreiten der Glolisierung wuchern nun rings um die Krisenherde neue ( eniger berüchtigte und meist unbeachtete oder vergesne) Lager und geben einen Vorgeschmack auf das, was e UN-Flüchtlingskommission UNHCR verpflichtend rschreiben sollte, wenn es nach den Wünschen von ny Blair ginge. Es gibt zum Beispiel keinerlei Anzeichen für, dass die drei Lager von Dabaab in Kenia, in denen ehr Menschen leben als in der gesamten Provinz Garissa, o sie 1991/92 eingerichtet worden sind, bald geschlossen werden, und doch tauchen sie noch immer auf keiner Landkarte auf; offensichtlich werden sie, obwohl unbestreitbar eine Dauereinrichtung, nach wie vor als vorübergehende Erscheinung betrachtet. Das Gleiche gilt für die Lager in Ilfo (eingerichtet im September 1991), Dagahaley (März 1992) und Hagadera (Juni 1992).12

12 Ebenda, S. 86.

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Einmal Flüchtling, immer Flüchtling. Alle Wege zurück zum verlorenen (oder vielmehr nicht mehr existenten) Heimatparadies sind abgeschnitten, und alle Ausgänge aus dem Fegefeuer des Lagers führen in die Hölle. Die trostlose Abfolge unerfüllter Tage hinter dem Lagerzaun mag schwer zu ertragen sein, aber Gott verhüte, dass die eingesetzten oder selbsternannten Generalbevollmächtigten der Menschlichkeit, die dafür sorgen, dass die Flüchtlinge hinter dem Zaun und vor dem Verderben bewahrt bleiben, das Lager schließen. Und doch geschieht von Zeit zu Zeit genau das, weil die Machthaber verfügen, die im Exil lebenden Menschen seien ab sofort keine Flüchtl ge mehr, da es nun »sicher« sei, in die Heimat zurückkehren – an einen Ort, der ihnen längst nicht mehr eimat ist, der ihnen nichts zu bieten hat und von dem nichts erhoffen. So leben beispielsweise etwa 900 000 Menschen – auf r Flucht vor den von verfeindeten Stämmen verübten assakern und den Schlachten der nicht-zivilen Kriege ( ncivil wars), die jahrzehntelang in Äthiopien und itrea wüteten – im Norden und Westen des Sudan ( nschließlich der berüchtigten Region Darfur), in einem nd, das selbst verarmt und vom Krieg verwüstet ist. Dort trafen sie auf andere Flüchtlinge, die mit Schrecken an die Schlachtfelder im Südsudan zurückdenken.13 Laut eines UN-Beschlusses, der von den nichtstaatlichen Hilfsorganisationen gebilligt wurde, gelten sie nicht mehr als Flüchtlinge und haben daher keinen Anspruch auf

13 Vgl. Le Houerou, Ohne Zwang und ohne Wasser, Le Monde diplomatique, 16. Mai 2003.

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humanitäre Unterstützung. Allerdings weigern sich diese Menschen, diese Gebiete zu verlassen. Offensichtlich glauben sie nicht daran, dass es eine »Heimat« gibt, in die sie »zurückkehren« könnten, denn die Häuser, an die sie sich erinnern, wurden entweder niedergebrannt oder besetzt. Die neue Aufgabe für ihre humanitären Aufseher war daher, sie zur Rückkehr zu bewegen. Im Lager von Kassala wurde zuerst die Wasserversorgung abgestellt, dann wurden die Insassen mit Gewalt aus dem Lager getrieben, das, wie ihre Häuser in Äthiopien, anschließend dem Erdboden gleichgemacht wurde, so dass jeder Gedanke an eine Rückkehr sinnlos war. Das gleiche Schicksal eilte die Insassen von Un Gulsal, Laffa und Newsharab. Nach Augenzeugenberichten von Dorfbewohnern r Region vegetierten dort noch 8000 Flüchtlinge, nachm die Krankenstation der Lager geschlossen, die Wasrpumpe demontiert und die Schule geschlossen worden ar. Zugegeben, der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte ist hwer zu überprüfen. Fest steht allerdings, dass Hundertt usende bereits aus Flüchtlingsregistern und -statistiken rschwunden sind und weiter verschwinden, wenngleich ihnen nicht gelungen ist, aus dem Niemandsland der icht-Menschlichkeit zu entkommen. Auf dem Weg ins Lager werden zukünftige Insassen aller Merkmale ihrer Identität beraubt, mit einer Ausnahme: der Tatsache, dass sie Flüchtlinge sind, ohne Staat, ohne Zuhause, ohne Funktion und ohne Papiere. Innerhalb des Lagerzauns werden sie zu einer gesichtslosen Masse geformt, indem man ihnen den Zugang zu elementaren Grundvoraussetzungen verwehrt, aus denen man sich normalerweise eine Identität aufbaut. »Flüchtling« zu werden bedeutet, »die Mittel [zu verlieren], 62

auf denen die soziale Existenz beruht, einen Bestand an vertrauten Dingen und Personen, an die Bedeutungen geknüpft sind – Land, Haus, Dorf, Stadt, Eltern, Besitz, Arbeitsstellen und andere Orientierungspunkte im Alltag. Diese dahintreibenden, wartenden Kreaturen besitzen nur noch ihr ›nacktes Leben‹, dessen Fortsetzung von humanitärer Hilfe abhängig ist.«14 Was den letzteren Punkt betrifft, so gibt es reichlich Grund zur Besorgnis. Ist nicht die Figur des humanitären Helfers selbst, ob angestellt oder freiwillig, ein wichtiges Glied in der Kette der Exklusion? Manche haben Zweifel, ob die Hilfsorganisationen, die ihr Bestes tun, um Menhen aus den Gefahrenzonen herauszuholen, nicht unbesichtigt den »ethnischen Säuberern« in die Hände spiel n. Michel Agier fragt sich, inwieweit humanitäre Helfer cht ein »Werkzeug der Exklusion zu einem geringeren eis« und (wichtiger noch) ein Instrument sind, das das nbehagen, das der Rest der Welt verspürt, aufnehmen d zerstreuen soll, das die Schuldigen freisprechen und e Skrupel der Zuschauer besänftigen sowie dem Gefühl r Dringlichkeit und der Angst vor Unwägbarkeiten die härfe nehmen soll. Das Schicksal der Flüchtlinge in die ände humanitärer Helfer zu legen (und die Augen vor den bewaffneten Wachen im Hintergrund zu schließen) erscheint in der Tat als ideale Möglichkeit, das Unvereinbare miteinander zu vereinbaren: den überwältigenden Wunsch, den lästigen Menschenabfall loszuwerden und zugleich die eigene quälende Sehnsucht nach moralischer Rechtschaffenheit zu befriedigen.

14 Agier, Aux bords du monde, S. 94.

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»Vielleicht lässt sich das schlechte Gewissen, das durch das Elend des verdammten Teils der Menschheit ausgelöst wird, doch beruhigen. Um dies zu erreichen, genügt es, dem Prozess der Biosegregation – der bereits in vollem Gang ist – freien Lauf zu lassen, durch den Identitäten heraufbeschworen und festgeschrieben werden, denen der Makel von Kriegen, Gewalt, Exodus, Krankheiten, Elend und Ungleichheiten anhaftet. Die Träger des Stigmas werden aufgrund ihrer eingeschränkten Menschlichkeit, das heißt ihrer physischen wie moralischen Entmenschlichung, zuverlässig auf Distanz gehalten.«15 Flüchtlinge sind der Inbegriff von »menschlichem Abf l«, weil sie in dem Land, in dem sie angekommen sind d vorübergehend bleiben, keine nützliche Funktion erf llen und man weder beabsichtigt noch ihnen in Ausht stellt, sie in die neue Gesellschaft aufzunehmen und nzugliedern. Von ihrem derzeitigen Abladeplatz aus nnen sie weder vor noch zurück – es sei denn an ch weiter entfernte Orte, wie im Fall der afghanischen üchtlinge, die von australischen Kriegsschiffen zu einer I sel eskortiert wurden, die weit abseits aller ausgetreten Pfade lag. Das Hauptkriterium für die Auswahl der andorte dieser dauerhaft provisorischen Lager ist die Abgeschiedenheit, die sicherstellt, dass die giftigen Ausdünstungen des sozialen Verwesungsprozesses die Siedlungen der Einheimischen nicht erreichen. Außerhalb jener Orte wären die Flüchtlinge ein Stein des Anstoßes; innerhalb jener Orte fallen sie dem Vergessen anheim. Indem man sie dort festhält und jegliches Überschwappen

15 Ebenda, S. 117.

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verhindert, indem man dafür sorgt, dass die Trennung endgültig und unumkehrbar ist, wirken »das Mitleid der einen und der Hass der anderen« zusammen, um ein und denselben Effekt zu erzeugen: Abstand herzustellen und aufrechtzuerhalten.16 Was bleibt, sind einzig die Mauern, der Stacheldraht, die gesicherten Tore, die bewaffneten Wachen. Diese Eckpunkte definieren die Identität der Flüchtlinge – oder besser: Sie setzen ihrem Recht ein Ende, sich selbst zu definieren oder gar zu behaupten. Man neigt dazu, jeden Abfall, einschließlich des menschlichen, ohne Unterschied auf einen Abfallhaufen abzuladen. Die Kennichnung als Abfall macht aller Individualität, allen nterschieden und allen Eigenheiten ein Ende. Bei Abfall darf es keiner feinen Unterscheidungen und subtilen uancen, es sei denn, er ist für das Recycling bestimmt; ch die Aussichten der Flüchtlinge, durch Recycling leime und anerkannte Mitglieder der menschlichen Gellschaft zu werden, sind, gelinde gesagt, schlecht, vage d unendlich gering. Alle nötigen Maßnahmen, um e Dauerhaftigkeit ihrer Exklusion sicherzustellen, sind troffen. Menschen ohne Eigenschaften sind in einem menlosen Land abgeladen worden, und alle Wege vor oder zurück, die an sinnvolle Orte führen, an denen sozial dechiffrierbare Sinngehalte geschmiedet werden können und täglich geschmiedet werden, sind ein für alle Mal versperrt. Wo immer sie auch hingehen, Flüchtlinge sind unerwünscht und bekommen das auch zu spüren. Wer sich zu

16 Vgl. ebenda, S. 120.

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seinem Status als »Arbeitsmigrant« bekennt (also Menschen, die jenem Prinzip der »rationalen Entscheidung« folgen, das vom Chor der Neoliberalen stets in den höchsten Tönen gelobt wird, und dort ein Auskommen suchen, wo es zu finden ist, anstatt da zu bleiben, wo es keines gibt), wird von denselben Regierungen öffentlich an den Pranger gestellt, die alles unternehmen, damit »Arbeitsflexibilität« zur ersten Tugend ihrer Wählerschaft wird, und die alle einheimischen Arbeitslosen auffordern, sich in Bewegung zu setzen und dorthin zu ziehen, wo Arbeit nachgefragt wird. Die Unterstellung ökonomischer Motive färbt jedoch auch auf jene Neuankömml ge ab, die vor nicht allzu langer Zeit als Asylbewerber trachtet wurden, die ihre Menschenrechte wahrnehen, indem sie vor Diskriminierung und politischer Verf lgung fliehen. Aufgrund der Assoziationen, die immer eder damit verbunden werden, hat die Bezeichnung sylbewerber« einen abfälligen Beigeschmack bekomen. Die Staatsmänner der Europäischen Union verenden einen Großteil ihrer Zeit und ihrer Hirnkapazität rauf, immer ausgefeiltere Mechanismen zur Grenzherung zu entwerfen sowie die zweckdienlichsten Verf hren zu ersinnen, mit deren Hilfe man diejenigen wieder loswird, denen es auf der Suche nach Nahrung und Unterkunft trotzdem gelungen ist, die Grenzen zu überwinden. David Blunkett übernahm in seiner Zeit als britischer Innenminister die Vorreiterrolle und schlug vor, die Heimatstaaten von Flüchtlingen zu erpressen, indem man für Länder, die sich weigerten, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen, die finanzielle Hilfe kürzte. Und Blunkett hatte noch andere Ideen. So wollte er das Tempo der 66

Reformen forcieren und beschwerte sich, dass »wir immer noch zu langsam vorankommen«, weil es den anderen Politikern in Europa an Enthusiasmus mangele. Er forderte die Schaffung einer gemeinsamen europäischen »mobilen Einsatztruppe« und eines »Arbeitsstabes mit nationalen Experten, der gemeinsame Risikoanalysen ausarbeitet, in denen die Schwachpunkte der […] EUAußengrenzen identifiziert, das Problem der illegalen Einwanderung auf dem Seeweg erörtert und der Menschenhandel in Angriff genommen« werden sollte.17 Die tatkräftige Unterstützung von Regierungen und Pernlichkeiten des öffentlichen Lebens, die gängigen Vorteilen Vorschub leisten, weil sie den wahren Ursachen f r die existenzielle Verunsicherung ihrer Wähler nicht ins uge blicken wollen, hat dafür gesorgt, dass »Asylbewerr« heute jene Position einnehmen, die ehemals Hexen it dem bösen Blick und anderen skrupellosen Bösechten zukam, den boshaften Gespenstern und Koboln der Sagen von einst. In den modernen Legenden, e sich rasch ausbreiten, wird den Opfern des globalen bschiebungsprozesses die Rolle der »Hauptübeltäter« gewiesen und alles zusammengetragen und recycelt, was an haarsträubenden Horrorgeschichten überliefert ist, für die die Ungewissheit des städtischen Lebens heute wie einst eine stete und zunehmend gierige Nachfrage er17 Travis, UK Plan for Asylum Crackdown, The Guardian, 13. Juni 2002. Blunkett sprach von human trafficking und verwandte damit einen Begriff, der geprägt wurde, um das frühere, erhabene Konzept der passage, also des freien Grenzübertritts, zu ersetzen und zu diffamieren.

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zeugt hat. Martin Bright hat darauf hingewiesen, dass die berüchtigten Ausschreitungen gegen Immigranten in der britischen Stadt Wrexham »kein Einzelereignis« waren. »Angriffe auf Asylbewerber werden in Großbritannien zur Norm.«18 In Plymouth zum Beispiel sind derartige Übergriffe an der Tagesordnung. »Sonam, ein 23-jähriger Bauer aus Nepal, kam vor acht Monaten nach Plymouth. Wenn der zurückhaltende junge Mann lächelt, sieht man, dass er zwei Zähne verloren hat – nicht bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen in seinem Heimatland, sondern auf dem Nachhauseweg vom Laden an der Ecke im Stadtteil Davenport.«19 Die Feindseligkeiten der angestammten Bevölkerung, e Weigerung staatlicher Behörden, Neuankömmlinge unterstützen, die bei ihrer Einreise keinen Asylantrag stellt haben, die Kürzung der Mittel für »humanitären hutz« und die strikte Abschiebungspolitik, die sich gen »unerwünschte« Flüchtlinge richtet (2002 wurden i sgesamt 10 740 Menschen abgeschoben, im Juni 2003 arteten 1300 auf ihre Abschiebung), haben zu einem utlichen Rückgang der Asylanträge geführt – von 8900 i Oktober 2002 auf 3600 im Juni 2003. David Blunkett i terpretierte die Zahlen triumphierend als untrügliches Zeichen für den erfreulichen Erfolg der Regierungspolitik und als schlagenden Beweis dafür, dass »harte« Maßnahmen »Wirkung zeigen«. Wirkung zeigen sie in der Tat. Allerdings wies das Refugee Council, der Flüchtlingsrat, darauf hin, dass es kaum als »Erfolg« gelten 18 Bright, Refugees Find No Welcome, The Guardian, 29. Juni 2003, S. 14. 19 Ebenda.

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könne, wenn man »einfach nur Menschen an der Einreise in das Vereinigte Königreich hindert«. Schließlich könne es sein, dass »einige dieser Menschen unsere Hilfe dringend brauchen«.20 Migranten, die trotz aller aufgebotenen List nicht umgehend wieder abgeschoben werden können, sollten, so der Vorschlag der Regierung, in Lager eingewiesen werden, die sich in möglichst abgelegenen Landesteilen befinden (ein Schritt, durch den der verbreitete Glaube, »Migranten wollen oder können nicht in unser Wirtschaftsleben integriert werden« zur selffulfilling prophecy werden würde). Wie Gary Younge bemerkt, laufe s Vorgehen der Regierung darauf hinaus, »überall in roßbritannien Reservate einzurichten und Flüchtlinge i liert und schutzlos zusammenzupferchen«.21 Asylchende, schließt Younge, würden sehr viel wahrscheinl her Opfer von Verbrechen als Täter. In Afrika sind 83,2 Prozent der Flüchtlinge, die von r UNHCR erfasst sind, in Lagern untergebracht, in ien 95,9 Prozent. In Europa sind bislang nur 14,3 Pront der Flüchtlinge in Lagern eingesperrt. Aber derzeit steht wenig Hoffnung, dass Europa seinen Vorsprung i dieser Frage noch lange aufrechterhalten wird. Flüchtlinge sind ins Kreuzfeuer geraten oder besser gesagt in eine Zwickmühle. Aus ihrem Heimatland sind sie gewaltsam vertrieben worden oder aus Angst geflohen, 20 Travis, Tough Asylum Policy, The Guardian, 29. August 2003, S. 11. 21 Younge, Villagers and the Damned, The Guardian, 24. Juni 2003.

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doch in allen anderen Ländern weist man sie ab. Sie ändern nicht den Aufenthaltsort, sie verlieren ihre Heimat auf Erden und werden in ein Niemandsland, an die »nonlieux« Marc Augés oder in die »nowherevilles« Joel Garreaus katapultiert oder auf die »Narrenschiffe« Michel Foucaults verladen, dahintreibende »Orte ohne Ort, ganz auf sich selbst angewiesen, in sich geschlossen und zugleich dem unendlichen Meer ausgeliefert«22 – oder (wie Michel Agier sagen würde) in eine Wüste, die per definitionem ein unbewohnter, unwirtlicher Ort ist, der kaum je von Menschen aufgesucht wird. Lager für Flüchtlinge oder Asylbewerber sind provisoche Einrichtungen, die zur Dauerlösung werden, weil e Ausgänge versperrt sind. Noch einmal: Die Insassen n Flüchtlings- oder »Asylbewerber«lagern können cht dahin zurück, wo sie hergekommen sind, weil die nder, die sie verlassen haben, sie nicht zurückhaben ollen, ihre Lebensgrundlagen zerstört, ihre Häuser ausraubt, dem Erdboden gleichgemacht oder beschlaghmt sind. Doch sie können auch sonst nirgendwohin, nn keine Regierung wird sich freuen, wenn Millionen bdachlose ins Land strömen, und jedes Land wird alles ternehmen, um die Neuankömmlinge daran zu hindern, sich niederzulassen. Was ihren neuen, »dauerhaft provisorischen« Aufenthaltsort betrifft, so sind die Flüchtlinge »an diesem Ort, aber nicht von dort«. Sie gehören nicht wirklich dazu in dem Land, auf dessen Territorium ihre Behausung errichtet oder ihre Zelte aufgeschlagen worden sind. Vom Rest

22 Foucault, Von anderen Räumen, S. 942.

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des Gastlandes sind sie durch einen unsichtbaren Schleier aus Misstrauen und Missgunst getrennt. Sie hängen fest in einem luftleeren Raum, in dem die Zeit stehengeblieben ist. Sie haben sich weder niedergelassen noch sind sie auf der Durchreise; sie sind weder Sesshafte noch Nomaden. In den gewohnten Begriffen, mit denen man menschliche Identitäten beschreibt, sind sie unaussprechlich. Sie sind die Mensch gewordenen »Unentscheidbaren« Jacques Derridas. Für Leute wie uns, die für ihre Kunst der Reflexion und Selbstreflexion gerühmt werden und stolz darauf sind, sind sie nicht nur Unberührbare, sondern Undenkbare. In einer Welt, auf der es von rein virtuellen emeinschaften nur so wimmelt, sind sie Unvorstellbare. nd die anderen, die sich selbst echten oder scheinbar hten Gemeinschaften zurechnen, sprechen ihnen das cht ab, vorstellbar zu sein, und wollen gerade dadurch ubhaft machen, dass sie sich doch größte Mühe gegen haben, sie sich vorzustellen. Flüchtlingslager haben eine neue Qualität aufzuweisen: ne »erstarrte Vergänglichkeit«, einen dauerhaft provisochen Zustand, eine Zeit, die sich aus Einzelmomenten sammensetzt, von denen keiner als Bestandteil der auerhaftigkeit durchlebt wird oder gar als Beitrag dazu. Langfristige Entwicklungen und deren Konsequenzen liegen für Bewohner von Flüchtlingslagern außerhalb ihres Erfahrungsbereichs. Bewohner von Flüchtlingslagern leben, buchstäblich, von Tag zu Tag, und das Bewusstsein, dass Tage sich zu Monaten und Jahren zusammenfügen, findet in die Abläufe des Alltags keinen Eingang. Wie die Menschen in den Gefängnissen und »Hyperghettos«, die Loïc Wacquant untersucht und anschaulich beschrieben hat, baden Flüchtlinge im Lager »in der Verzweiflung, die 71

sich zwischen den Mauern zusammenbraut« und lernen, ganz »in der Unmittelbarkeit des Augenblicks, von einem Tag auf den anderen zu leben, oder eher zu überleben [(sur)vivre]«.23 In den analytischen Begriffen von Loïc Wacquant könnte man sagen, dass Flüchtlingslager die charakteristischen Merkmale des »Gemeinschaftsghettos« des Zeitalters von Henry Ford und John Maynard Keynes mit denen des »Hyperghettos« unserer Ära des Postfordismus und Postkeynesianismus vermischen und in sich vereinen.24 Waren »Gemeinschaftsghettos« sich weitgehend selbstversorgende und selbstvermehrende »Mini-Gesellschaften«, ren soziale Schichtung, funktionelle Arbeitsteilung und I stitutionen zur Befriedigung der ganzen Bandbreite von dürfnissen in der Gemeinschaft die Gesamtgesellschaft i Miniaturform abbildeten, so sind »Hyperghettos« alles dere als autarke Gemeinschaften. Sie sind sozusagen nhäufungen von »abgeschnittenen Fadenenden« – nstliche und eklatant mangelhafte Ansammlungen n Zurückgewiesenen; keine Gemeinschaften, sondern ggregate; topographische Verdichtungen, die aus sich raus nicht lebensfähig sind. Sobald die Eliten der »Geeinschaftsghettos« den Absprung geschafft hatten und das Netzwerk aus Gewerbe und Handel, das (wenn auch nur mit knapper Not) den Lebensunterhalt der restlichen Bevölkerung des Ghettos sicherte, nicht mehr am Laufen hielt, traten staatliche Träger der Fürsorge und Kontrolle (zwei Bereiche, die in der Regel eng verknüpft sind) auf 23 Wacquant, Symbiose fatale, S. 43. 24 Vgl. Wacquant, The New Urban Color Line; ders., Ilias im schwarzen Ghetto.

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den Plan. Die Insassen der »Hyperghettos« hängen an Fäden, die von jenseits der Ghettogrenzen aus bewegt werden und die ihrer Kontrolle vollständig entzogen sind. Michel Agier hat in Flüchtlingslagern einige Kennzeichen von »Gemeinschaftsghettos« wiedergefunden, allerdings vermischt mit den Merkmalen des »Hyperghettos«.25 Man darf vermuten, dass eine solche Kombination dazu führt, dass die Bewohner noch enger an das Lager gefesselt sind. Zwei Faktoren, die beide für sich genommen eine enorme Kraft entfalten, überlagern und verstärken sich hier gegenseitig: der Pull-Faktor, der die Einwohner eines »Gemeinschaftsghettos« zusammenhält, d der Push-Faktor, der die Ausgestoßenen eines »Hyrghettos« zusammendrängt. Im Verein mit der brodelnn und schäumenden Feindseligkeit des Umfeldes erzeun sie eine übermächtige Zentripetalkraft, der man sich um widersetzen kann, so dass die berüchtigten Methon der Kommandanten und Aufseher von Konzentrat nslagern oder Gulags beinahe überflüssig erscheinen. n Flüchtlingslager kommt mehr als jeder andere künstl h geschaffene soziale Mikrokosmos dem von Erving offman beschriebenen Idealtypus der »totalen Institut n«26 nahe: Es bietet, durch aktives Tun oder passives Unterlassen, ein »totales Leben«, aus dem es kein Entrinnen gibt, und verstellt damit letztlich den Zugang zu jeder anderen Lebensform. Die Dauerhaftigkeit der Übergangslösung; die Haltbarkeit des Provisorischen; die objektive Determiniert-

25 Vgl. Agier, Between War and City. 26 Vgl. Goffman, Asyle.

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heit, die sich nicht in dem subjektiven Empfinden widerspiegelt, dass Handlungen Folgen haben; das permanente Fehlen einer ausreichend definierten sozialen Rolle (oder besser das Hineingeworfensein in den Fluss des Lebens ohne den Anker einer sozialen Rolle); diese und verwandte Aspekte des Lebens in der flüchtigen Moderne sind allesamt von Michel Agier aufgedeckt und dokumentiert worden. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit man Flüchtlingslager als Laboratorien betrachten kann, in denen (möglicherweise ohne Absicht, aber deshalb nicht wenir nachdrücklich) die neue, »dauerhaft provisorische« bensform der flüchtigen Moderne getestet und erprobt rd. Flüchtlinge und Einwanderer, die »von weit her« mmen und sich in der Nachbarschaft ansiedeln woll n, eignen sich hervorragend für die Rolle der Strohppe, die man stellvertretend für das ganze Spektrum »globalen Kräften« verbrennen kann, Kräfte, die daf r gefürchtet und gehasst werden, dass sie ihr Werk ne Rücksicht auf diejenigen tun, die von den Folgen troffen sind. Schließlich sind in der globalisierten Welt Asylbewerber und »Wirtschaftsflüchtlinge« das kollektive Ebenbild (das Alter Ego? die Mitläufer? Spiegelbilder? Karikaturen?) der neuen Machtelite, die weithin (und nicht ohne Grund) verdächtigt wird, der wahre Bösewicht in diesem Drama zu sein. Genau wie diese Elite sind auch sie an keinen festen Ort gebunden, unstet und unberechenbar. Genau wie diese Elite sind sie der Inbegriff des unergründlichen »Raums der Ströme«, in dem die gegenwärtige Prekarität der menschlichen Existenz 74

wurzelt. Sorgen und Ängste, die vergeblich nach anderen, angemesseneren Ventilen suchen, gleiten an naheliegenden Zielen ab, nur um in Form verbreiteter Ressentiments und Ängste vor den »Fremden nebenan« wieder an die Oberfläche zu kommen. In einer direkten Auseinandersetzung mit der anderen Verkörperung der Exterritorialität – der globalen Elite, die jenseits aller menschlichen Kontrolle dahintreibt – kann die Unsicherheit weder entschärft noch zerstreut werden. Diese Elite ist viel zu mächtig, als dass man sie direkt angreifen und herausfordern könnte, selbst wenn man sie genau lokalisieren könnte (was unmöglich ist). Flüchtl ge dagegen sind in ihrer Glück- und Hilflosigkeit n deutlich sichtbares, unbewegliches und leichtes Ziel, überschüssige Wut abzuladen, selbst wenn sie in inem Zusammenhang mit den Qualen und Ängsten r noch größeren Qualen stehen, die diese Wut ausgel st haben. Dem ist hinzuzufügen, dass die »Etablierten« angehts eines Zustroms von »Außenseitern« (um die einägsamen Begriffe von Norbert Elias zu verwenden) en Grund haben, sich bedroht zu fühlen. Sie repräntieren nicht nur das »große Unbekannte«, das alle »Fremden« verkörpern, diese besondere Spezies von Außenseitern, die Flüchtlinge, konfrontiert uns mit dem Kriegslärm und dem Gestank von ausgebrannten Häusern und geplünderten Dörfern an fernen Orten, und das muss die Ansässigen zwangsläufig daran erinnern, wie leicht etwas in den Kokon ihrer sicheren und vertrauten (sicheren, weil vertrauten) Routine eindringen oder ihn zerstören kann und wie trügerisch die Sicherheit ist, die ihre eigenen Häuser bieten. Der Flüchtling ist, wie 75

Bertolt Brecht in seinem Gedicht »Die Landschaft des Exils« schrieb, »ein Bote des Unglücks«. Die 1970er Jahre waren das Jahrzehnt, in dem jene »glanzvollen 30 Jahre« zu Ende gingen, die geprägt waren vom Wiederaufbau nach dem Krieg, von sozialem Frieden und dem Zukunftsoptimismus, der die Auflösung des kolonialen Systems und die Entstehung zahlreicher »neuer Nationen« begleitete. Damit wurde der Weg frei für die »schöne neue Welt« der verschwundenen oder löchrig gewordenen Grenzen, der Informationsüberflutung, der zügellosen Globalisierung, des Konsumrauschs i reichen Norden sowie des »zunehmenden Gefühls der rzweiflung und der Exklusion in weiten Teilen der rigen Welt«, das sich aus »der Zurschaustellung von ichtum auf der einen Seite und bitterer Not auf der deren« speist.27 Im Rückblick kann man diese Zeit als nen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der euzeit betrachten. Am Ende dieses Jahrzehnts hatte h das Umfeld, in dem Frauen und Männer sich den erausforderungen des Lebens stellen, klammheimlich d doch radikal verändert, so dass noch vorhandene Lensweisheiten ihre Gültigkeit verloren und Lebensstrategien einer gründlichen Überarbeitung und Revision unterzogen werden mussten. Die Verhinderung von »globalen Lösungen für lokal verursachte Probleme«, genauer gesagt, die derzeitige Krise der »Industrie zur Beseitigung menschlichen Abfalls«, wirkt sich nicht nur auf die Behandlung von

27 Hall, »Out of a Clear Blue Sky«, S. 13 f.

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Flüchtlingen und Asylbewerbern in den Staaten aus, an die sich Migranten auf der Suche nach Brot, Trinkwasser und Schutz vor Gewalt wenden. Sie verändert auch radikal die bedrängte Lage der »intern Ausgegrenzten« innerhalb dieser Staaten. Eine besonders verhängnisvolle Entwicklung beim Umgang mit den »intern Ausgegrenzten« (die man in Großbritannien nun als »underclass« bezeichnet) wurde schon relativ früh erkannt und ist seither eingehend beschrieben worden: Gemeint ist der Übergang von einem »Sozialstaat« nach dem Modell einer Gesellschaft der Inklusion zu einem Staat der »Strafjustiz«, der »Bestraf ng«, der »Verbrechensbekämpfung« und der »Exklun«. So beobachtet beispielsweise David Garland »eine ürbare Bedeutungsverschiebung weg vom Wohlfahrtsodell und hin zum Strafmodell. […] Der Strafmodus i nicht nur wichtiger geworden, sondern auch prononrter, sanktions- und sicherheitsorientierter. […] Der ohlfahrtsmodus hat nicht nur an Bedeutung eingebüßt, ndern ist stärker an Bedingungen geknüpft, risikobeusster und auf Verstöße ausgerichtet […]. Im offiziellen rachgebrauch werden die Straftäter […] seltener als sol benachteiligte Bürger dargestellt, die Unterstützung benötigen. Stattdessen beschreibt man sie als schuldige, in gewissem Maße gefährliche Individuen, die es nicht besser verdienen.«28 Loïc Wacquant stellt eine »Neudefinition des staatlichen Auftrags« fest: Der Staat »zieht sich aus der Sphäre der Wirtschaft zurück und beruft sich dabei auf die Not-

28 Garland, The Culture of Control, S. 175.

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wendigkeit, sein gesellschaftliches Engagement auf die Ausweitung und Stärkung der strafrechtlichen Intervention zu reduzieren«.29 Ulf Hedetoft beschreibt den gleichen Aspekt dieser 30 Jahre alten Veränderung von der entgegengesetzten (aber eng damit verknüpften) Seite, die auf die »extern Ausgegrenzten«, die potentiellen Einwanderer abzielt. Er beobachtet, dass »die Grenzen zwischen uns und ihnen heute rigider« gezogen werden als je zuvor. In Anlehnung an Andreas und Snyder30 argumentiert Hedetoft, dass Grenzen nicht nur selektiver geworden sind und vielfältigere Formen angenommen, sondern sich zu einer t »asymmetrischer Membran« entwickelt haben: Sie möglichen die Ausreise, dienen jedoch als »Schutz r der unerwünschten Einreise von Elementen aus der deren Richtung«.31 Zu diesem Zweck wurden die hermmlichen Kontrollstellen entlang der territorialen renzen durch weit vorgeschobene Vorposten ergänzt, m Beispiel in den Ausreisehäfen und Flughäfen anderer aaten: »Durch eine Verschärfung der Kontrollmaßnahen an den Außengrenzen sowie – ebenso wichtig – rch strengere Regeln bei der Visavergabe in Auswandengsländern des ›Südens‹ […] haben [Grenzen] ebenso wie Grenzkontrollen vielfältigere Formen angenommen und finden nicht nur an den traditionell dafür vorgesehenen Stellen […], sondern auch in Flughäfen, Botschaften und Konsulaten, in Zentren für Asylbewerber sowie im virtuellen Raum statt, in Form einer engeren Zusammen29 Wacquant, Comment la »tolérance zéro« vint à l’Europe. 30 Vgl. Andreas/Snyder, The Wall around the West. 31 Hedetoft, The Global Turn, S. 151 f.

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arbeit zwischen Polizei und Einwanderungsbehörden der jeweiligen Länder.«32 Als wollte er Hedetofts These umgehend mit Beweisen untermauern, schlug der britische Premierminister Tony Blair bei einem Treffen mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Ruud Lubbers, »Schutzzonen« für potentielle Asylbewerber vor, die möglichst heimatnah eingerichtet werden sollten, also in sicherer Entfernung von Großbritannien und anderen reichen Staaten, die vor nicht allzu langer Zeit noch ihre bevorzugten Ziele waren. Im typischen »Neusprech« der Ära nach der »Great Transformation« sagte Innenminist David Blunkett, Blair und Lubbers hätten sich über e »neuen Herausforderungen für die Industrieländer« terhalten, die sich dadurch ergäben, dass »manche das ylrecht als Weg in den Westen nutzen« (in den Begriff n dieses Neusprechs könnte man sich ebenso gut über e Herausforderungen beschweren, die sich für die Anssigen daraus ergeben, dass schiffbrüchige Seeleute das ttungssystem als Weg ans trockene Ufer nutzen). Im Augenblick hat es den Anschein, dass Europa und ine Vorposten in Übersee (wie die Vereinigten Staaten d Australien) Antworten auf ungewohnte Probleme suchen, indem sie zu ebenso ungewohnten Maßnahmen greifen, die in der europäischen Geschichte kaum je angewandt wurden; Maßnahmen, die eher nach innen gerichtet sind als nach außen, eher zentripetal als zentrifugal, eher implosiver als explosiver Natur – zum Beispiel, dass sie sich eingraben und sich auf sich selbst zurückziehen,

32 Ebenda.

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Zäune errichten, die mit einem Netzwerk aus Nachtsichtgeräten und Überwachungskameras ausgestattet sind, mehr Beamte an den Grenzübergängen und mehr patrouillierende Grenzschützer einsetzen, die Maschen der Einwanderungs- und Einbürgerungsgesetze enger ziehen, Flüchtlinge in streng bewachten und abgelegenen Lagern festhalten und andere Einwanderer schon unterwegs abfangen, lange bevor sie die Landesgrenzen erreichen und eine Chance haben, ihren Status als Flüchtlinge oder Asylbewerber geltend zu machen – kurz, ihre Länder gegen die Massen abschotten, die an ihre Tür klopfen, aber ziemlich wenig bis gar nichts unternehmen, um dien Druck auf ihre Grenzen zu verringern, indem sie die rsachen bekämpfen. Naomi Klein beobachtet eine immer ausgeprägtere und sich greifende Tendenz (mit der EU als Vorreiter, doch e USA ziehen rasch nach) zur »mehrfach abgesicherten gionalfestung«: »Ein Festungskontinent ist ein Block s Staaten, die sich verbünden, um gegenüber anderen ndern vorteilhafte Handelsvereinbarungen durchzutzen, und zugleich die gemeinsamen Außengrenzen eng kontrollieren, um Menschen aus jenen Ländern an r Einreise zu hindern. Wenn es einem Kontinent jedoch ernst ist mit seinem Festungscharakter, dann muss er innerhalb seiner Mauern auch ein oder zwei arme Länder aufnehmen, denn irgendjemand muss schließlich die Dreckarbeit machen und die schweren Lasten tragen.«33 Die NAFTA, der um Kanada und Mexiko erweiterte Binnenmarkt der USA (»Neben Öl«, so Naomi Klein,

33 Klein, Fortress Continents, The Guardian, 16. Januar 2003.

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»sind es vor allem ausländische Arbeitskräfte, die die Wirtschaft im Südwesten [der USA] in Gang halten«), hat im Juli 2001 ein Zusatzabkommen mit der Bezeichnung »Plan Sur« geschlossen, in dem die mexikanische Regierung sich zur massiven Überwachung ihrer Südgrenze verpflichtet hat. Auf diese Weise wurde die Flut an verarmtem menschlichem Abfall aufgehalten, die sich aus lateinamerikanischen Ländern in die USA ergoss. Seither hat die mexikanische Polizei Hunderttausende von Einwanderern abgefangen, eingesperrt und deportiert, bevor sie überhaupt die Grenze der USA erreichen konnten. Was die Festung Europa betrifft, so sind laut Klein olen, Bulgarien, Ungarn und die Tschechische Reblik die Leibeigenen der Postmoderne; dort werden i Niedriglohnfabriken Autos, Elektronik und Kleidung f r 20 bis 25 Prozent der Kosten produziert, die in Westropa dafür anfallen«.34 Innerhalb der Festungskontinte ist »eine neue gesellschaftliche Hierarchie« etabliert orden, die dem Versuch einer Quadratur des Kreises ichkommt, weil sie ein Gleichgewicht zwischen eklat nt widersprüchlichen und doch zentralen Prinzipien strebt: zwischen luftdichten Grenzen und leichtem gang zu billigen, anspruchslosen und pflegeleichten Arbeitskräften, die alles annehmen, was sie angeboten bekommen; zwischen ungehindertem Handel und dem Nähren ausländerfeindlicher Stimmungen, jenem Strohhalm, an den sich Regierungen klammern, die angesichts des Souveränitätsverlustes der Nationalstaaten ihre bröckelnde Legitimationsgrundlage zu retten suchen. »Wie

34 Ebenda.

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schottet man sich gegen Menschen ab und bleibt dennoch im Geschäft?«, fragt Naomi Klein. Ihre Antwort: »Kein Problem. Zuerst dehnt man die Grenzen aus, und dann macht man dicht.«35 Von allen Finanzhilfen, die die Europäische Union an die Staaten Ost- und Mitteleuropas transferiert hat, noch bevor sie Mitglieder der Union geworden waren, wurden vor allem jene Mittel höchst bereitwillig und ohne zu feilschen gezahlt, die für hochmoderne Technologie bestimmt waren, mit deren Hilfe die Ostgrenzen der Beitrittskandidaten, die alsbald die Ostgrenzen der »Festung Europa« sein würden, undurchlässig gemacht werden sollten. Vielleicht sind die beiden Trends, die sich hier abichnen, einfach nur zwei verwandte Erscheinungsforen ein und derselben erhöhten, geradezu zwanghaften rge um die Sicherheit; vielleicht kann man sie beide mit r Verschiebung des Gleichgewichts zwischen omniäsenten Tendenzen zur Inklusion beziehungsweise zur klusion erklären; vielleicht sind sie aber auch vonnander unabhängige Phänomene, die ihrer je eigenen gik folgen. Was auch immer ihre unmittelbaren Urchen sein mögen, beide Trends haben offensichtlich die iche Wurzel: die weltweite Verbreitung des modernen Lebensstils, die mittlerweile die entlegensten Gebiete der Welt erreicht hat, so dass sich die Trennung zwischen »Zentrum« und »Peripherie«, genauer gesagt zwischen der »modernen« (oder »entwickelten«) und der »vormodernen« (oder »unterentwickelten«, »rückständigen«) Lebensweise, mehr und mehr auflöst – eine Trennung,

35 Ebenda.

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die ein Kennzeichen des größeren Teils der Geschichte der Neuzeit war, einer Ära, in der die Revision überlieferter Traditionen auf einen relativ kleinen, wenn auch ständig anwachsenden Sektor des Erdballs beschränkt blieb. Solange er vergleichsweise klein war, konnte dieser Sektor das so entstandene Machtgefälle als Sicherheitsventil nutzen, um sich vor einer Überhitzung zu schützen; der Rest der Welt diente als Abladeplatz für den giftigen Abfall der eigenen fortschreitenden Modernisierung. Doch jetzt ist die Erde voll; das bedeutet unter anderem, dass Prozesse, die für die Moderne typisch sind, wie das Schaffen von Ordnung und der wirtschaftliche Forthritt, überall stattfinden, so dass überall »menschlicher bfall« produziert und in immer größeren Mengen ausstoßen wird; allerdings gibt es jetzt keine »natürlichen« üllkippen mehr, die der Lagerung und dem möglichen cycling dienen könnten. Der Prozess, den vor 100 Jahn als Erste Rosa Luxemburg voraussah (auch wenn ihn hauptsächlich in ökonomischen, nicht in explizit zialen Begriffen beschrieben hat), ist an seine äußerste renze gestoßen.

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Der Staat, die Demokratie und der Umgang mit der Angst In den vergangenen Jahren haben vor allem in Europa und seinen ehemaligen Dependancen, überseeischen Ablegern, Zweigstellen und Ablagerungen (sowie in einigen anderen »entwickelten Ländern«, die mit Europa eher wahlverwandt als verwandt sind) auf die Außenwelt gerichtete Ängste und Sicherheitsobsessionen1 wie nirgendwo sonst Karriere gemacht. Betrachtet man diesen Befund losgelöst von anderen mbrüchen, die zur selben Zeit vonstattengegangen sind, steht man vor einem Rätsel. Denn, wie Robert Castel i seiner Analyse der derzeitigen, von Unsicherheit gehrten Ängste sehr richtig ausführt, leben wir »zuminst in den entwickelten Ländern […] fraglos in Gesellhaften, die zu den sichersten zählen, die es je gab«.2 nd doch, trotz aller »objektiven Beweise« sind ausgechnet wir Verwöhnten und Verhätschelten unsicherer d ängstlicher, neigen stärker zu Panik, fühlen uns leicht bedroht und beschäftigen uns leidenschaftlicher mit em, was unsere Sicherheit betrifft, als die meisten anderen Gesellschaften der Geschichte. Einer, der sich eingehend mit dem Rätsel von offensichtlich ungerechtfertigten Ängsten beschäftigt hat, war Sigmund Freud. Für ihn lag des Rätsels Lösung in der un1

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In der englischsprachigen Diskussion wird neuerdings der Begriff securitarianism verwendet, von security (Sicherheit) und totalitarism (Totalitarismus). Castel, Stärkung des Sozialen, S. 7.

erschütterlichen Weigerung der menschlichen Psyche, die Logik der Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Menschliches Leid (und ebenso die Angst vor dem Leiden, jene verdrießliche Form des Leidens, die uns wohl am meisten belastet) werde verursacht durch »die Übermacht der Natur, die Hinfälligkeit unseres eigenen Körpers und die Unzulänglichkeit der Einrichtungen, welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln«.3 Was die ersten beiden Ursachen betrifft, die Freud anführt, so fällt es uns nicht allzu schwer, uns damit abzufinden, dass unseren Möglichkeiten Grenzen gesetzt d, die wir nicht überwinden können: Wir wissen, dass r die Natur niemals vollkommen beherrschen werden d dass unsere sterblichen Körper niemals unsterblich er gegen den unbarmherzigen Strom der Zeit immun in werden – daher sind wir bereit, uns zumindest auf esem Gebiet mit der »zweitbesten Lösung« zufriedengeben. Allerdings kann das Wissen um diese Grenzen s ebenso stimulieren und aktivieren, wie es uns depriieren und lähmen kann: Wir können nicht alles Leid aus r Welt schaffen, aber doch einen Teil davon, und einen deren Teil lindern; in jedem Fall lohnt es sich, es immer und immer wieder zu versuchen. Also bemühen wir uns nach Kräften, und unsere immer neuen Versuche nehmen den größten Teil unserer Energie und Aufmerksamkeit in Anspruch, so dass wenig Zeit bleibt für trauriges Sinnieren und für die Sorge, dass einige im Grunde wünschenswerte Verbesserungen für immer außerhalb unserer Reich-

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Vgl. Freud, Unbehagen in der Kultur, S. 444.

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weite liegen, so dass wir mit all unseren Bemühungen nur wertvolle Zeit vergeuden. Völlig anders liegen die Dinge dagegen bei der dritten Art von Leid: dem Elend, das tatsächlich oder vermeintlich gesellschaftliche Ursachen hat. Alles, was menschengemacht ist, kann auch von Menschen verändert werden. Deshalb akzeptieren wir in solchen Fällen keinerlei Grenzen für die Umgestaltung der Wirklichkeit. Wir weisen es strikt von uns, dass unseren Bemühungen ein für alle Mal festgelegte Grenzen gesetzt sein könnten, die man nicht mit hinreichender Entschlossenheit und gutem Willen überwinden könnte. Wir wollen »nicht gelten lassen, nnen nicht einsehen, warum die von uns selbst gehaffenen Einrichtungen nicht viel mehr Schutz und ohltat für uns alle sein sollten«.4 Folglich ist jedes gesellhaftlich bedingte Unglück eine Herausforderung, ein ll von Missbrauch und ein Ruf zu den Waffen. Wenn r »tatsächlich verfügbare Schutz« und die Unterstütng, die uns zugute kommen, diesem Ideal nicht gerecht erden, wenn unsere Beziehungen immer noch nicht unren Wünschen entsprechen, wenn die Regeln nicht so d, wie sie sein sollten (und unserer Meinung nach sein nnten), dann neigen wir zu dem Verdacht, dass zumindest ein verwerflicher Mangel an gutem Willen vorliegt. In den meisten Fällen gehen wir sogar von dunklen Machenschaften aus, von einem Komplott, einer Verschwörung, von kriminellen Absichten, einem Feind vor den Toren oder unter dem Bett, von einem Übeltäter, dessen Name und Adresse es noch aufzudecken und den es vor

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Freud, Unbehagen in der Kultur, S. 444 f.

Gericht zu stellen gilt. Kurz: von böswilliger Absicht. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Castel: »Der Grund für die heutige Unsicherheit wäre dann nicht der Mangel an Sicherheitsleistungen, sondern vielmehr deren Kehrseite – gleichsam ihr Schatten, der in eine soziale Welt hineinreicht, die sich rund um ein endloses Streben nach Schutz und eine verzweifelte Suche nach Sicherheit organisiert hat.«5 Die schmerzliche und unheilbare Erfahrung von Unsicherheit ist ein Nebeneffekt der Überzeugung, dass absolute Sicherheit möglich ist, wenn man nur über die entsprechenden Fähigkeiten verfügt und sich ausreichend anstrengt (»Es kann gelingen«, »Wir können es schaff n«). Wenn sich also herausstellt, dass es nicht gelungen i , dann kann man dieses Versagen nur unter Verweis auf ne heimtückische Tat in böswilliger Absicht erklären. Es uss in diesem Drama einen Bösewicht geben. Die moderne Variante der Unsicherheit, so könnte an sagen, ist entscheidend geprägt von der Angst vor enschlicher Bosheit und menschlichen Übeltätern. Sie ist rchsetzt von Misstrauen gegenüber anderen Menschen d ihren Absichten und der Weigerung, auf die Bestängkeit und Verlässlichkeit der Beziehungen zu unseren itmenschen zu vertrauen. Letzten Endes beruht sie auf unserer Unfähigkeit und /oder unserer mangelnden Bereitschaft, diese Beziehungen zu etwas Dauerhaftem und Verlässlichem und damit zu etwas Vertrauenswürdigem zu machen. Schuld an diesem Zustand ist nach Ansicht Castels die Individualisierung in der Moderne. An die Stelle des en-

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Castel, Stärkung des Sozialen, S. 9.

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gen Beziehungsgeflechts von Gemeinschaften und Körperschaften, die einst Schutzvorkehrungen festlegten und über deren Einhaltung wachten, die im Eigeninteresse, der Selbstsorge und der Selbsthilfe des Einzelnen lag, ist die moderne Gesellschaft getreten, die auf den Treibsand der Kontingenz gebaut ist. In einer solchen Gesellschaft sind Gefühle der existenziellen Unsicherheit und diffuse Ängste vor schwer greifbaren Gefahren zwangsläufig endemisch. Wie bei den meisten anderen Umwälzungen der Moderne kam auch hier Europa die Vorreiterrolle zu, wo man sich deshalb auch zuerst mit dem Phänomen der erwarteten und in der Regel unguten Konsequenzen n Veränderungen auseinandergesetzt hat. Das zermürnde Gefühl der Unsicherheit hätte jedoch nicht so sch Platz gegriffen, wenn es in Europa nicht gleichzeitig zwei weiteren Entwicklungen gekommen wäre, die h erst später, und mit unterschiedlicher Geschwindigit, auf andere Teile der Erde ausgedehnt haben. Die ste war, um in der Terminologie Castels zu bleiben, die ablierung eines »hohen Werts«6 der Individuen, die n den Fesseln des dichten Netzwerks sozialer Bindunn befreit worden waren. Doch eine zweite Entwicklung folgte: eine nicht vorauszusehende Labilität und Verletzlichkeit ebendieser Individuen, die nunmehr den Schutz verloren hatten, den ihnen das dichte Netzwerk sozialer Bindungen in der Vergangenheit in selbstverständlicher Weise geboten hatte.

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Ebenda, S. 30.

Mit der ersten Entwicklung tat sich vor den Augen der Menschen eine aufregende und verführerische Weite auf, in der sie die neu entdeckten Künste der Selbstkonstituierung und Selbstverwirklichung erproben und mit ihnen experimentieren konnten. Doch die zweite Entwicklung versperrte den meisten Individuen den Eintritt in dieses attraktive Territorium. De iure ein Individuum zu sein (per Gesetz oder durch das Salz persönlicher Schuld, das in die Wunde der gesellschaftlich verursachten Ohnmacht gestreut wurde) garantierte keineswegs Individualität de facto, und vielen mangelte es an Ressourcen, um die mit der ersten Entwicklung implizierten Rechte im mpf um ihre Individualität einzusetzen.7 Die Folge ar eine Heimsuchung, die man als Angst vor der eigenen nzulänglichkeit bezeichnet. Für viele, wenn auch nicht e, der per Dekret zu Individuen Erklärten war Unlänglichkeit keine dunkle Vorahnung, sondern nackte alität – doch die Angst vor der eigenen Unzulänglichit wurde zur universellen, oder beinahe universellen ankheit. Ob man die Tatsache der eigenen Unzulängl hkeit nun schon real erfahren oder bisher das Glück gebt hatte, sie auf Distanz halten zu können, das Gespenst r Unzulänglichkeit suchte alle Mitglieder der Gesellschaft heim und ließ sie nicht mehr los. Der moderne Staat sah sich demnach von Anfang an mit der gewaltigen Aufgabe des Umgangs mit der Angst konfrontiert. Da die moderne Revolution das alte Netzwerk zerrissen hatte, musste er aus dem Nichts ein

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Vgl. die ausführlichere Diskussion dazu in: Bauman, Individualized Society.

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neues, schützendes Netz aufbauen, und er musste es instand halten, während die von ihm selbst propagierte, fortschreitende Modernisierung es permanent bis an die Grenzen der Belastbarkeit dehnte und beschädigte. Entgegen einer weitverbreiteten Ansicht stand am Beginn des »Sozialstaats«, auf den die Entwicklung des modernen Staates unweigerlich hinauslief, nicht die Umverteilung von Reichtum, sondern Schutz (die kollektive Absicherung gegen individuelles Unglück). Für Menschen, die ihres wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Kapitals beraubt worden sind (mithin aller Ressourcen mit Ausnahme ihrer Arbeitskraft, die der Einzelne von sich aus cht einzusetzen vermag), »kann es nur einen kollektin Schutz geben oder gar keinen«.8 Anders als die schützenden sozialen Netze der Voroderne wurden die vom Staat entworfenen und veralteten Netzwerke entweder bewusst und nach einem f ten Plan konstruiert, oder sie entwickelten sich aus enem Antrieb aus den anderen großangelegten Proj ten heraus, die für die Moderne in ihrer »festen« Phase t pisch waren. Beispiele für die erste Kategorie waren ohlfahrtsstaatliche Einrichtungen und Sozialleistungen, n staatliches oder staatlich unterstütztes Gesundheitsund Schulwesen, der soziale Wohnungsbau sowie Arbeitsgesetze, die die Rechte und Pflichten beider Vertragspartner eines Arbeitsvertrages festlegten und so das Wohlergehen und die Ansprüche der Arbeitnehmer schützten. Das wichtigste Beispiel für die zweite Kategorie war die Solidarität innerhalb von Fabriken, Gewerk-

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Ebenda, S. 46.

schaften und Berufsgruppen, eine Solidarität, die »auf natürliche Weise« Wurzeln schlagen und gedeihen konnte im vergleichsweise stabilen Umfeld der »fordistischen Fabrik«, jenem Inbegriff der festen Moderne, an den die meisten fest gebunden waren, die »über kein anderes Kapital verfügten«. In einer »fordistischen Fabrik« bestanden zwischen Kapital und Arbeitskraft gegenseitige und langfristige Beziehungen, durch die beide Seiten voneinander abhängig waren, was ihnen jedoch zugleich ermöglichte, vorauszudenken und die Zukunft zu planen, sich langfristig festzulegen und in die Zukunft zu investieren. Aus diesem rund war die »fordistische Fabrik« Austragungsort heft er Konflikte, die im Hintergrund permanent brodelten d schwelten und sich von Zeit zu Zeit in offenen Feindligkeiten entluden (wegen der Aussicht auf ein langf stiges Arbeitsverhältnis und der gegenseitigen Abhängkeit erschien die direkte Konfrontation als sinnvolle I vestition und als ein Opfer, das sich auszahlen würde). nd doch war dieser Typ Fabrik zugleich ein sicherer ort für das Vertrauen in die Zukunft, und damit für rhandlungen, Kompromisse und die Suche nach einem nsensorientierten Modus der Koexistenz. Da es eindeutig vorgeschriebene Laufbahnen und ermüdende, aber beruhigend beständige Routinen gab, Veränderungen in der Arbeitsorganisation langsam vonstatten gingen, einmal erworbene Fähigkeiten lange ihren Nutzen behielten und somit die in einem Arbeitsfeld erworbenen Erfahrung sehr geschätzt wurde, konnte man die Risiken des Arbeitsmarktes auf Distanz halten, die Unsicherheit unterdrücken, wenn auch nicht ganz ausschalten, und Ängste in den Randbereich von »Schicksalsschlägen« und 91

»verhängnisvollen Unfällen« verdrängen, so dass nicht der gesamte Alltag von ihnen durchdrungen war. Vor allem jedoch konnten die vielen Menschen, deren einziges Kapital in ihrer Arbeitskraft bestand, sich ganz auf das Kollektiv verlassen. Solidarität schmiedete ihre Arbeitskraft zu einer Art »Kapitalersatz« – zu einer Form von Kapital, von dem man nicht ohne Grund hoffte, dass es die vereinte Macht des restlichen Kapitals aufwog. Kurz nachdem das britische Parlament in der Nachkriegszeit mit Hilfe von umfassenden Gesetzen den »Wohlfahrtsstaat« etabliert hatte, unternahm Thomas H. Marshall den berühmten und denkwürdigen Versuch, e Logik zu rekonstruieren, die der allmählichen Ausf rmulierung individueller Rechte zugrunde lag. Seiner arstellung zufolge wurzelte dieser Prozess im Traum von r persönlichen Freiheit, der in einen langwierigen Kampf gen die Willkürherrschaft von Königen und Fürsten f hrte.9 Was für die Könige und Fürsten das gottgegebene cht war, Regeln nach Belieben zu verkünden und außer aft zu setzen und damit letztlich ihren eigenen Launen d Einfällen zu folgen, bedeutete für ihre Untertanen, ss sie auf Gedeih und Verderb vom königlichen Wohlollen abhängig waren, ein Wohlwollen, das sich kaum von der Unberechenbarkeit des Schicksals unterschied. Die Folge war ein Leben, das von permanenter und heilloser Unsicherheit geprägt und ganz von den unergründlichen Schwankungen der königlichen Gunst abhängig war. Die Gunst des Königs beziehungsweise der Königin zu erlangen war schwierig genug – noch schwieriger war, sie nicht zu verlieren. Wie schnell war sie verspielt, und sie 9

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Vgl. Marshall, Bürgerrechte, S. 40 ff.

dauerhaft zu sichern war unmöglich. Die Unsicherheit kehrte als ein demütigendes, bleibendes Gefühl der Machtlosigkeit wieder, an dem sich erst etwas änderte, als das Verhalten der Souveräne vorhersagbar wurde, weil es gesetzlichen Regeln unterworfen war, die die Souveräne selbst nicht nach Gutdünken und ohne die Zustimmung der betroffenen Untertanen verändern oder aussetzen durften und /oder konnten. Mit anderen Worten: Persönliche Sicherheit konnte nur dadurch erlangt werden, dass man Spielregeln einführte, die für alle Mitspieler bindend waren. Zwar wurde durch die allgemeine Gültigkeit der Regeln nicht jeder zum Gewinner; wie zuvor hatten mane Spieler Glück und manche Pech, gab es Gewinner und rlierer. Aber zumindest waren die Spielregeln festgelegt, an konnte sie erlernen, und sie konnten nicht mitten im iel nach Lust und Laune verändert werden. Und die Genner mussten nicht den neidischen Blick des Königs f rchten, denn die Früchte ihres Sieges gehörten für immer d ewig ihnen: Sie wurden ihr unveräußerlicher Besitz. Man kann sagen, dass der Kampf um persönliche chte von denjenigen getragen wurde, die bereits zu den lücklichen gehörten oder zumindest darauf hofften, im nächsten Mal zu den Gewinnern zu zählen, und die ihren glücklich erworbenen Besitz absichern wollten, ohne sich immerzu beim Souverän einschmeicheln und sich seiner Gunst versichern zu müssen – ein kostspieliges, beschwerliches und, was am schlimmsten war, völlig unzuverlässiges und nie abgeschlossenes Bemühen. Was Marshall zufolge als Nächstes auf der Tagesordnung stand, war die Einforderung politischer Rechte, also die Forderung nach einer substanziellen Rolle bei der Gesetzgebung. Das war der nächste logische Schritt, 93

nachdem die persönlichen Rechte durchgesetzt worden waren und verteidigt werden mussten. Doch aus dem gerade Gesagten ergibt sich, dass beide Arten von Rechten, die persönlichen und die politischen, nur gemeinsam errungen und gesichert werden konnten; es war kaum denkbar, sie getrennt voneinander zu erlangen und zu genießen. Offenbar bedingen sie sich gegenseitig, sie gleichen in dieser Hinsicht der Henne und dem Ei. Die Sicherheit der Person und des Eigentums sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass Menschen erfolgreich um ihr Recht auf politische Partizipation kämpfen können, doch kann man diese Sicherheiten nur dann gut ablieren und darauf vertrauen, dass sie überdauern wern, wenn diejenigen, denen sie zugute kommen, einen nfluss auf die ihnen zugrunde liegenden Gesetze haben. Man kann sich seiner persönlichen bürgerlichen Rechte cht sicher sein, wenn man seine politischen Rechte cht ausüben und ihnen im Gesetzgebungsprozess ewicht verleihen kann. Und die Aussichten, ihnen ewicht zu verleihen, werden trübe sein, wenn die eigen, durch die persönlichen Rechte geschützten (wirthaftlichen und gesellschaftlichen) Vermögenswerte cht groß genug sind, um in den Kalkulationen der Mächtigen Berücksichtigung zu finden. »Armut […] bringt Verzweiflung und Untertänigkeit hervor und zwingt uns, all unsere Energie in den Kampf ums Überleben zu investieren. Wir sind ständig dazu verführt, trügerischen Versprechungen auf den Leim zu gehen«10 –

10 Flores d’Arcais, Ist Amerika noch eine Demokratie?, Die Zeit, Nr. 4 vom 20. Januar 2005, S. 39.

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eine Erkenntnis, die schon für Marshall auf der Hand lag, im Lichte der jüngsten politischen Entwicklungen jedoch von Paolo Flores d’Arcais noch einmal mit Nachdruck formuliert werden musste. Die Verflechtung und das Zusammenspiel von persönlichen und politischen Rechten sind ein Privileg der Mächtigen – der Reichen, nicht der Armen, derjenigen, die bereits sicher sind, wenn man sie nur in Ruhe lässt, nicht derjenigen, die Unterstützung von außen brauchen, um Sicherheit zu erlangen. Das Wahlrecht (also indirekt und zumindest in der Theorie das Recht, die Zusammensetzung der herrschenden Gremien mitzubestimmen und damit die Regeln, an die die herrschten gebunden sind) kann nur von denen in nvoller Weise ausgeübt werden, die über »Zugang zu onomischen und kulturellen Ressourcen« verfügen, »vor der freiwilligen und unfreiwilligen Knechthaft« geschützt zu sein, die den autonomen Willen ( nd /oder dessen Delegierung) schon im Keim erstickt. Da nimmt es nicht wunder, dass diejenigen, die über e Ausweitung des Wahlrechts das Dilemma lösen wollt n, dass persönliche Rechte nur durch die Ausübung litischer Rechte errungen werden können, lange Zeit s Wahlrecht in Abhängigkeit von Vermögensstand und Bildung beschränken wollten. Aus damaliger Sicht lag es auf der Hand, dass nur diejenigen »vollkommene Freiheit« genießen konnten (das heißt, das Recht, am Gesetzgebungsprozess mitzuwirken), die ohne Einschränkung »Eigentümer ihrer eigenen Person«11 waren – Menschen

11 Macphearson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, S. 161.

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also, deren persönliche Freiheit nicht von Grundherren oder Arbeitgebern beschnitten wurde, von denen ihr Lebensunterhalt abhing. Nachdem das Prinzip der politischen Repräsentation erfunden und begeistert oder resigniert Akzeptanz gefunden hatte, wehrten sich die Verfechter und Vorkämpfer dieses Projekts mehr als 100 Jahre lang mit allen Mitteln dagegen, das Wahlrecht über die besitzende Klasse hinaus auszudehnen. Nicht ohne Grund betrachtete man Pläne für eine solche Ausdehnung nicht als Triumph der Demokratie, sondern als Angriff auf sie (wobei der Widerstand vermutlich von der stillschweigenden Annahme befeuert wurde, dass die sitzlosen das Geschenk der politischen Partizipation um zur Verteidigung von Besitz und gesellschaftlichem ng nutzen würden – jenem Bereich persönlicher chte, an dem sie selbst keinen Anteil hatten). Geht man von der von Marshall angenommenen l gisch-historischen Abfolge von Rechten aus, dann ist f tzustellen, dass die Demokratie bis zum (und einhließlich des) Stadium(s) der politischen Rechte ein lektives und sehr exklusives Abenteuer ist; dass auf dier Stufe die Macht (kratos), die das Volk (demos) in der emokratie zum Erlassen und Ändern von Gesetzen hat, auf wenige Privilegierte beschränkt ist, während die große Mehrheit des Volkes, für die die Landesgesetze verpflichtend sein sollten, nicht nur in der Praxis, sondern nach den Buchstaben des Gesetzes vom politischen Prozess ausgeschlossen bleibt. Schließlich umfasste, wie John R. Searle uns in Erinnerung gerufen hat, das Inventar an »gottgegebenen«, das heißt unveräußerlichen Rechten, das die Gründerväter der amerikanischen Demokratie zusammengestellt 96

haben, keineswegs »die gleichen Rechte für Frauen – nicht einmal das Wahlrecht oder das Recht auf Grundbesitz – und beinhaltete ebenso wenig die Abschaffung der Sklaverei«.12 Wobei Searle diese Eigenschaft der Demokratie (die Tatsache, dass sie sozusagen ein Privileg ist, das umsichtig und sparsam gewährt werden muss) nicht für etwas Vorübergehendes und Kurzlebiges hält, das wir heute hinter uns gelassen hätten. So wird es laut Searle immer Ansichten geben, die zahlreiche, ja sogar die meisten Menschen abstoßend finden werden, weshalb die Chancen schlecht stehen, dass es jemals absolute und völlig uneingeschränkte Redefreiheit geben wird, die eigentl h allen Bürgern aufgrund ihrer politischen Rechte zuhen sollte. Es gibt aber eine noch grundsätzlichere nschränkung: Wenn politische Rechte auch dazu betzt werden können, jene persönliche Freiheit zu verfest en und zu untermauern, die auf wirtschaftlicher Stärke ruht, so werden sie doch kaum dazu beitragen, den abenichtsen persönliche Freiheit zuzusichern, denn die ben keinen Anteil an den Ressourcen, ohne die diese eiheit weder errungen noch in der Praxis genossen wern kann. Wir haben es hier also mit einer Art Teufelskreis zu tun: Viele Menschen haben nur wenig bis gar keinen Besitz, für den es sich tapfer zu streiten lohnen würde, und deshalb ist es aus Sicht der Besitzenden weder nötig noch geboten, sie mit den politischen Rechten zu betrauen, die sie dazu befähigen würden. Da diese Menschen jedoch aus ebendiesem Grund nicht in den exklusiven Kreis der

12 Searle, Social Ontology and Free Speech.

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Wahlberechtigten aufgenommen werden (und in der gesamten Geschichte der modernen Demokratie waren einflussreiche Kräfte am Werk, die dafür gekämpft haben, dass dieser Ausschluss dauerhaft ist), sind ihre Aussichten gering, die materiellen und kulturellen Ressourcen zu erlangen, die sie bräuchten, um für die Verleihung politischer Rechte in Frage zu kommen. Ihrer eigenen Entwicklungslogik überlassen, würde die »Demokratie« vermutlich nicht nur in der Praxis, sondern ganz offiziell und explizit eine im Wesentlichen elitäre Angelegenheit bleiben. Allerdings gibt es, wie Paolo Flores d’Arcais zu Recht festhält, nicht nur einen, sondern zwei mögliche uswege aus diesem Dilemma: »entweder, indem man s Wahlrecht tatsächlich auf diejenigen beschränkt, die reits über entsprechende Ressourcen verfügen, oder inm man die Gesellschaft allmählich so ›revolutioniert‹, ss aus diesen Privilegien – Wohlstand und Bildung – für e verbriefte Rechte werden«. Vom zweiten Ansatz ließ sich Lord Beveridge inspiren, als er einen Wohlfahrtsstaat entwarf, der eine fassende Verkörperung von T. H. Marshalls Konzept r sozialen Rechte darstellt – jenes dritte Glied in der bfolge der Rechte, ohne welches das Projekt Demokratie unvollendet bleiben muss. »Ein substanzielles Wohlfahrtsprogramm«, fasst d’Arcais mehr als ein halbes Jahrhundert nach Beveridge seine Sichtweise zusammen, »sollte ein wesentlicher und von der Verfassung geschützter Bestandteil jeder Demokratie sein.« Ohne politische Rechte können Menschen sich ihrer persönlichen Rechte nicht sicher sein. Aber ohne soziale Rechte werden politische Rechte für einen erheblichen Teil derer, denen sie nach den Buchstaben des Gesetzes zugestanden werden, 98

ein unerreichbarer Traum, eine nutzlose Fiktion oder ein schlechter Scherz bleiben. Werden ihnen keine sozialen Rechte zugesichert, können die Armen und Mittellosen die politischen Rechte, die sie auf dem Papier besitzen, nicht wahrnehmen. Dann werden sich die Ansprüche der Armen auf das beschränken, was die Regierung ihnen zugesteht und was diejenigen für akzeptabel halten, die über das wahre politische Gewicht verfügen, um an die Macht zu kommen und an der Macht zu bleiben. Solange sie mittellos sind, werden Arme niemals eigenständige Rechtssubjekte sein, sondern allenfalls Empfänger von Transferleistungen. Lord Beveridge war zu Recht davon überzeugt, dass ine Vision einer umfassenden, kollektiv gebilligten Verherung für alle die zwingende Konsequenz des liberal n Gedankens und die unumgängliche Voraussetzung f r eine liberale Demokratie sei. Auf einer ähnlichen Anhme beruhte auch Franklin Delano Roosevelts Kriegsklärung an die Angst. Die Wahlfreiheit birgt ungezählte und unzählige Risin des Scheiterns. Viele werden diese Risiken für unert glich halten; sie werden erfahren oder befürchten, dass persönlich nicht damit fertig werden. Für die meisten Menschen wird Wahlfreiheit ein kaum erreichbares Phantom und ein ewiger Wunschtraum bleiben, es sei denn, die Angst vor dem Scheitern wird durch ein gemeinschaftlich organisiertes Versicherungssystem gelindert, ein System, auf das sie vertrauen und auf das sie sich im Falle eines Unglücks verlassen können. Solange die Wahlfreiheit ein Phantom bleibt, kommt zu den Qualen der Hoffnungslosigkeit noch die Demütigung der Glücklosigkeit hinzu; schließlich ist die jeden Tag aufs Neue auf die 99

Probe gestellte Fähigkeit, mit den Herausforderungen des Lebens fertig zu werden, die eigentliche Werkstatt, in der Selbstvertrauen geformt oder zerstört wird. Ohne ein kollektiv gebilligtes Sicherungssystem fehlt für die Armen und Untätigen (und überhaupt die Schwachen, die am Rande der Exklusion stehen) der Anreiz, sich politisch zu engagieren – oder gar an dem Spiel demokratischer Wahlen teilzunehmen. Von einem politischen Staat, der nicht gleichzeitig ein Sozialstaat ist und sich weigert, ein solcher zu werden, ist Rettung nicht zu erwarten. Ohne die Garantie sozialer Rechte für alle wird eine große – und aller Wahrscheinlichkeit nach steigende – nzahl von Menschen ihre politischen Rechte für nutzl s und ihrer Aufmerksamkeit nicht wert erachten. Sind litische Rechte notwendig, um soziale Rechte zu ablieren, so sind soziale Rechte unerlässlich, damit die litischen Rechte weiterhin wirksam bleiben. Die beiden chte brauchen einander, um zu überleben; nur gemeins m können sie ihren Fortbestand sichern. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Gesellschaften it jeder Ausdehnung des Wahlrechts einen weiteren hritt in Richtung eines umfassenden – »vollkommen« – Sozialstaats gemacht haben, auch wenn dieses Endziel nicht von vornherein in den Blick genommen wurde und es vieler Jahre und einiger hart umkämpfter, aber immer ehrgeizigerer Gesetze bedurfte, bis seine Konturen sich deutlich abzeichneten. Dadurch, dass das Wahlrecht auf neue Bevölkerungsschichten ausgedehnt wurde, bewegte sich der »Durchschnittswähler«, dessen Zufriedenheit die politischen Parteien im Auge haben mussten, wenn sie erfolgreich sein wollten, immer mehr in Richtung der ärmeren Schichten des sozialen Spek100

trums. An einem bestimmten Punkt kam es unweigerlich, wenn auch ziemlich unerwartet, zu einer grundlegenden Veränderung. Eine Grenze war überschritten worden, die Grenze zwischen denjenigen, die nach politischen Rechten strebten, um sicherzustellen, dass ihnen die persönlichen Rechte, die sie bereits genossen, weder entzogen noch streitig gemacht wurden, und denjenigen, die politische Rechte brauchten, um persönliche Rechte zu erlangen, die sie noch nicht besaßen, und die diese persönlichen Rechte gar nicht hätten wahrnehmen können (ebenso wenig wie politische), wenn ihnen nicht zugleich soziale Rechte zugestanden worden wären. An diesem Punkt kam es im politischen Prozess zu nem Richtungswechsel, der einen echten Wendepunkt rstellte. Anstatt die politischen Institutionen und Verf hren wie bisher der sozialen Realität anzupassen, machte sich die moderne Demokratie zur Aufgabe, politische I stitutionen und Verfahren dazu einzusetzen, die soziale alität zu reformieren. Mit anderen Worten: Anstatt s Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte zu wahr n, strebte man danach, es zu verändern. Paradoxerweise nd man dabei vor der Herausforderung, das bisrige Vorgehen umzukehren: Das Überschreiten dieser Schwelle brachte die neue und bislang unbekannte Aufgabe mit sich, politische Rechte dazu zu nutzen, persönliche Rechte zu realisieren und zu garantieren, anstatt sie lediglich zu bestätigen und zu stärken. Anstatt aus einer bereits ausgebildeten »Zivilgesellschaft« zu erwachsen, die sich nach einem politischen Schutzschild sehnt, sah sich das Staatswesen in der neuen Form des »Sozialstaates« der Herausforderung gegenüber, das Fundament für eine Zivilgesellschaft neu zu legen beziehungsweise 101

das bestehende so zu erweitern, dass es auch jene Teile der Gesellschaft umfasste, die bislang außen vor gelassen worden waren. Die spezifischen Ängste der Moderne erblickten das Licht der Welt im Zuge der ersten Runde der »Deregulierungcum-Individualisierung«, in dem Moment, als die Bande zwischen Verwandten und Nachbarn, deren Knotenpunkte Gemeinschaften oder Körperschaften gewesen waren, gelockert oder zerrissen wurden – Bande, die für die Ewigkeit geknüpft schienen oder jedenfalls seit Urzeiten Bestand hatten. In der festen Moderne neigte man einem Umgang mit der Angst, der darauf hinausl f, die irreparabel beschädigten »natürlichen« Bande rch künstliche Pendants in Form von Vereinigungen, ewerkschaften und vorübergehenden und doch quasi uerhaften Zusammenschlüssen zu ersetzen, die durch meinsame Interessen und tägliche Routinen zusamengehalten wurden. Solidarität sollte Zugehörigkeit als chtigster Schutzschild gegen ein zunehmend risikolastetes Schicksal ersetzen. Als die Solidarität sich zusehends verflüchtigte, bedeut e das das Ende für diese Art des Umgangs mit der Angst, die für die feste Moderne typisch war. Jetzt befinden wir uns in einer Phase, in der diese modernen, künstlichen und kollektiv verwalteten Schutzmechanismen gelockert, abgebaut oder auf andere Weise außer Kraft gesetzt werden. Europa, der erste Kontinent, auf dem die Moderne einer Generalüberholung unterzogen wurde und der erste, der das ganze Spektrum der Konsequenzen zu spüren bekam, macht derzeit, ähnlich wie die Vereinigten Staaten, die »Degerulierung-cum-Individua102

lisierung, Teil zwei« durch – dieses Mal allerdings unfreiwillig, unter dem Druck der Globalisierung, die weder zu steuern noch zu kontrollieren ist. Dieser zweiten Stufe der Deregulierung folgten jedoch keine neuen gesellschaftlichen Formen des Umgangs mit der Angst. Die Aufgabe, mit den Ängsten zurechtzukommen, die durch die neuen Unsicherheiten ausgelöst werden, ist, wie die Ängste selbst, dereguliert und »subsidarisiert«. Das heißt, man hat sie lokalen Initiativen und Bemühungen überlassen und größtenteils privatisiert; sie sind in erheblichem Maße in den Bereich der »life politics« verlagert worden, der letztlich der Sorge und dem nfallsreichtum des Einzelnen überlassen ist, sowie dem f ien Markt, der alle Formen gemeinschaftlicher (politiher) Einflussnahme oder gar Kontrolle zutiefst verabheut und sich ihnen weitgehend entzieht. Wird Solidarität durch Wettbewerb ersetzt, sind die nzelnen ganz auf die eigenen, jämmerlich mageren und fensichtlich unzureichenden Ressourcen angewiesen. ie Verwahrlosung und Zersetzung kollektiver Bande t sie ungefragt zu Individuen de iure gemacht, obwohl i re Lebenserfahrung sie lehrt, dass in der derzeitigen uation praktisch alles ihrem Aufstieg zu den von der Theorie postulierten de-facto-Individuen entgegensteht. Zwischen der Quantität und Qualität der Ressourcen, die nötig wären, um tatsächlich eine selbstfabrizierte und trotzdem verlässliche und vertrauenswürdige Sicherheit sowie echte Freiheit von Angst zu erlangen, und der Gesamtmenge an Werkstoffen, Werkzeugen und Fähigkeiten, die Individuen vernünftigerweise zu erwerben und zu behalten hoffen können, gähnt eine (allem Anschein nach größer werdende) Kluft. 103

Robert Castel spricht in diesem Zusammenhang von der »Wiederkehr der gefährlichen Klassen«.13 Allerdings ist festzuhalten, dass es zwischen ihrem ersten und zweiten Auftauchen allenfalls partielle Übereinstimmungen gibt. Die ursprünglichen »gefährlichen Klassen« bestanden aus dem vorübergehend ausgeschlossenen und noch nicht wieder integrierten Bevölkerungsüberschuss, den der immer rasantere wirtschaftliche Fortschritt einer »sinnvollen Aufgabe« und die immer raschere Pulverisierung sozialer Netzwerke jeglicher Absicherung beraubt hatten. Nichtsdestotrotz hoffte man, dass es zu gegebener Zeit gelingen würde, sie wieder zu integrieren, so ss ihr Unmut sich auflösen und ihr Interesse an der esellschaftsordnung« wiederhergestellt sein würde. Zu n neuen »gefährlichen Klassen« dagegen zählen jene, e als untauglich für die Reintegration erkannt und die f r nicht assimilierbar erklärt worden sind, weil man sich ine sinnvolle Aufgabe vorstellen kann, die sie nach der ehabilitierung« ausfüllen könnten. Sie sind nicht nur erschüssig, sondern überflüssig. Sie sind dauerhaft ausgrenzt – einer der wenigen Fälle, in denen die flüchtige oderne die Entstehung von etwas »Dauerhaftem« nicht r duldet, sondern aktiv fördert. Die heutige Form der Exklusion wird nicht mehr als Ergebnis vorübergehenden und reparablen Unglücks wahrgenommen; ihr haftet etwas Endgültiges an. Immer häufiger ist die Exklusion heute eine Einbahnstraße (und wird als solche wahrgenommen). Sind Brücken erst einmal abgebrochen, ist es unwahrscheinlich, dass sie je wieder aufgebaut werden.

13 Castel, Stärkung des Sozialen, S. 65.

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Was die heutigen Ausgegrenzten zu »gefährlichen Klassen« macht, ist die Tatsache, dass ihr Ausschluss unwiderruflich ist und ihre Chancen, Einspruch dagegen einzulegen, letztlich aussichtslos sind. Die Unwiderruflichkeit der Exklusion ist eine unmittelbare, wenngleich unerwartete Folge des Zerfalls des Sozialstaats als Netz bewährter Institutionen und, wichtiger noch, als ein Ideal und ein Projekt, das als Messlatte für die Wirklichkeit und als Handlungsanstoß dient. Schließlich deuten die Erosion dieses Ideals und die Auszehrung beziehungsweise der Verfall dieses Projekts darauf hin, dass die Aussicht auf Erlösung schwindet d das Einspruchsrecht verweigert wird; infolgedessen hwindet allmählich die Hoffnung, und der Wille zum iderstand verkümmert. Statt arbeitslos zu sein (ein griff, der eine Abweichung von der Norm impliziert, beit zu haben, also ein vorübergehendes Leiden, das heilt werden kann und wird), wird der Zustand ohne beit zunehmend als das empfunden, was das englische edundancy« suggeriert – ein Zustand desjenigen, der rückgewiesen wurde, der als überflüssig, nutzlos und beitsunfähig gebrandmarkt und zur »ökonomischen ntätigkeit« verdammt worden ist. Keine Stelle zu haben impliziert, dass man entbehrlich ist und entsorgt werden kann, vielleicht sogar bereits unwiderruflich entsorgt worden ist, ein Abfallprodukt des »wirtschaftlichen Fortschritts« – jenes Prozesses, der letzten Endes darauf hinausläuft, die gleiche Arbeit zu leisten und das gleiche wirtschaftliche Ergebnis zu sichern, nur mit einer kleineren Belegschaft und geringeren »Arbeitskosten« als zuvor. Die Arbeitslosen von heute – und insbesondere die Langzeitarbeitslosen – sind nur einen kleinen Schritt 105

entfernt vom Absturz in das schwarze Loch der »underclass«: Frauen und Männer, die in keine der traditionellen gesellschaftlichen Kategorien fallen; Individuen, die aus allen Gesellschaftsklassen ausgeschlossen sind und keine der anerkannten, nützlichen und unverzichtbaren Aufgaben erfüllen, denen »normale« Mitglieder der Gesellschaft nachkommen; Menschen, die keinen Beitrag zum gesellschaftlichen Leben leisten, abgesehen von Dingen, auf die die Gesellschaft sehr gut verzichten könnte, und von deren Verschwinden sie sogar profitieren würde. Ebenso klein ist der Schritt, der die »Überflüssigen« von Kriminellen trennt: Die »underclass« und die riminellen« sind nichts weiter als Unterkategorien der usgegrenzten, der »nicht gesellschaftsfähigen« oder gar sozialen Elemente«, die sich eher dadurch voneinander terscheiden wie sie offiziell klassifiziert und behandelt erden, als durch ihre eigene Einstellung und ihr Verhalt n. Genau wie die Arbeitslosen werden Kriminelle (also ejenigen, die in Gefängnissen einsitzen, angeklagt sind d auf ihr Verfahren warten, unter polizeilicher Überachung stehen oder einfach nur im Vorstrafenregister führt werden) nicht mehr als vorübergehend vom noralen gesellschaftlichen Leben Ausgeschlossene betrachtet, die bei nächster Gelegenheit »umgeschult«, »rehabilitiert« und »in die Gesellschaft reintegriert« werden müssen, sondern als dauerhaft Marginalisierte, für das »gesellschaftliche Recycling« Untaugliche, die man langfristig von der Gemeinschaft der Gesetzestreuen fernund davon abhalten muss, Schaden anzurichten.

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In Einsamkeit vereint Ein bewohntes Gebiet wird als »städtisch« charakterisiert und als »Stadt« bezeichnet, wenn es eine vergleichsweise hohe Bevölkerungsdichte sowie intensive Interaktion und Kommunikation aufweist. Heute ist die Stadt zugleich der Ort, an dem uns gesellschaftlich bedingte und gezüchtete Unsicherheiten in einer stark komprimierten und daher besonders greifbaren Form begegnen. Darüber hinaus fällt an »städtisch« geprägten Orten die intensive menschliche Interaktion mit der Tendenz zusammen, ss die aus Unsicherheit geborene Angst sich Ventile d Objekte sucht, an denen sie sich entladen kann – obich diese Tendenz nicht immer charakteristisch für sole Orte gewesen ist. Wie Nan Ellin, eine der scharfsinnigsten Erforscherinn und Analytikerinnen zeitgenössischer städtischer ends, darlegt, war der Schutz vor Gefahren »einer der chtigsten Anreize, Städte anzulegen, deren Grenzen t von riesigen Mauern oder Zäunen gebildet wurden – n den Dörfern im antiken Mesopotamien bis hin zu n mittelalterlichen Städten und den Siedlungen der amerikanischen Ureinwohner«.1 Die Mauern, Wassergräben und Palisadenzäune markierten die Grenze zwischen »uns« und »den anderen«, zwischen Ordnung und Wildnis, Frieden und Krieg: Feinde waren diejenigen, die auf der anderen Seite der Stadttore bleiben mussten und

1

Ellin, Fear and City Building, Hedgehog Review, 5 (2003), 3, S. 43.

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sie nicht passieren durften. Seit ungefähr 100 Jahren jedoch wird die Stadt nicht mehr als »Ort relativer Sicherheit« wahrgenommen, sondern »eher mit Gefahr als mit Sicherheit« assoziiert.2 In einer seltsamen Umkehrung ihrer historischen Funktion und entgegen den ursprünglichen Absichten von Städtebauern und den Erwartungen von Stadtbewohnern sind unsere Städte heute dabei, sich innerhalb kürzester Zeit von Zufluchtsorten vor Gefahr zur wichtigsten Gefahrenquelle zu entwickeln. Diken und Laustsen behaupten sogar, dass sich die jahrtausendealte »Beziehung zwischen Zivilisation und Barbarei umkehrt: as Stadtleben wird zum Naturzustand, der von der errschaft des Schreckens gekennzeichnet ist und von gegenwärtiger Angst begleitet wird.«3 Man könnte also sagen, dass beinahe sämtliche Gefahnquellen in die Städte übergesiedelt sind und sich dort edergelassen haben. In den Straßen unserer Städte begnen sich heute nicht nur Freunde und Bekannte auf gstem Raum, sondern auch Feinde, vor allem aber die hwer fassbaren und mysteriösen Fremden, die bedrohl h zwischen diesen beiden Extremen changieren. Der ieg gegen die Unsicherheit, und insbesondere gegen Gefahren und Risiken für die persönliche Sicherheit, wird in unseren Tagen innerhalb der Städte geführt, dort werden die Schlachtfelder abgesteckt und Frontlinien gezogen. Stark bewehrte Schützengräben (unpassierbare Zufahrtsstraßen) und Bunker (befestigte und streng be-

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Ebenda. Diken/Laustsen, Zones of Indistinction, S. 291.

wachte Gebäude oder Gebäudekomplexe), die Fremde fernhalten, ausschließen und ihnen den Zutritt verwehren sollen, werden zusehends zu den markantesten Kennzeichen moderner Städte – auch wenn sie viele Erscheinungsformen annehmen und Architekten sich große Mühe geben, derartige Bollwerke möglichst unauffällig in die Stadtlandschaft einzupassen, um den Notstand, in dem die nach Sicherheit süchtigen und doch in ständiger Unsicherheit schwebenden Stadtbewohner täglich leben, zu »normalisieren«. »Je mehr wir uns von unserer unmittelbaren Umgebung loslösen, desto abhängiger werden wir von der berwachung jener Umwelt […]. In vielen städtischen ebieten der Welt dienen Häuser dem Schutz ihrer Beohner, nicht der Integration von Menschen in die Geeinschaft«, wie Gumpert und Drucker feststellen.4 Zur vorzugten Strategie im städtischen Kampf ums Überl ben entwickelt sich immer mehr die Trennung beziengsweise das Abstandhalten. Die Ergebnisse dieses mpfes lassen sich auf einem Kontinuum einzeichnen, ssen Pole von freiwilligen Ghettos auf der einen Seite d unfreiwilligen auf der anderen gebildet werden. adtbewohner, die mittellos sind und deshalb von den übrigen Einwohnern als potentielle Gefahr für ihre Sicherheit angesehen werden, werden zunehmend aus den freundlichen und angenehmen Stadtteilen vertrieben und drängen sich in ghettoartigen eigenen Vierteln. Stadtbewohner, die über entsprechende Mittel verfügen, kaufen

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Gumpert/Drucker, The Mediated Home in a Global Village, S. 428 f.

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sich dagegen in eigene – ebenso ghettoartige – Viertel ihrer Wahl ein und hindern alle anderen daran, sich dort niederzulassen. Darüber hinaus tun sie alles, was in ihrer Macht steht, um ihre Lebenswelt von den Lebenswelten der übrigen Stadtbewohner abzuschotten. Zusehends verwandeln sich diese Freiwilligenghettos in exterritorialen Garnisonen oder Vorposten. »Während die Bewohner ihren Kommunikationsbereich auf den internationalen Raum ausdehnen, schotten sie zugleich ihre Häuser mit Hilfe einer immer ›intelligenteren‹ Sicherheitsinfrastruktur vom öffentlichen Leben ab.«5 »Weltweit findet man mittlerweile in fast allen Städten ume und Bereiche, die mit anderen ›wertvollen‹ Räuen, sei es am anderen Ende der Stadt oder über natiole, internationale und sogar globale Entfernungen hineg, aufs engste vernetzt sind. Doch gleichzeitig findet an an solchen Orten nicht selten eine spürbare und achsende Entfremdung von räumlich nahen, sozial und onomisch aber weit entfernten Orten und Menschen.«6 Die Abfallprodukte der neuen Exterritorialität jener ivilegierten urbanen Räume, die von der globalen Elite wohnt und genutzt werden – gleichsam das »innere Exil«, das durch »virtuelles Verbundensein« hergestellt, manifestiert und aufrechterhalten wird –, sind abgehängte und verlassene Räume, »Geisterbezirke«, wie Michael Schwarzer sie nennt, Orte, an denen »Albträume an die Stelle von Träumen getreten und Gefahren und Gewalt

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Graham/Marvin, Splintering Urbanism, S. 285. Ebenda, S. 15.

alltäglicher sind als anderswo«.7 Wenn der Abstand auf Dauer unüberwindlich bleiben soll, um die Gefahr zu bannen, dass die Reinheit einer Gegend durch eine undichte Stelle kontaminiert wird, bietet sich eine Politik der Nulltoleranz an sowie die Verbannung der Obdachlosen aus den Räumen, in denen sie zwar ein Auskommen haben, zugleich jedoch auf verstörende und aufdringliche Weise sichtbar sind, an andere, begrenzt zugängliche Orte, wo weder das eine noch das andere zutrifft. »Strolche«, »Stalker«, »Herumtreiber«, »aufdringliche Bettler«, »fahrendes Volk« und andere Unbefugte haben sich zu den finstersten Gestalten in den Albträuen der Elite entwickelt. Als Erster hat Manuel Castells darauf hingewiesen, ss zwischen den Lebenswelten der beiden Kategorien n Stadtbewohnern eine wachsende Polarisierung und n fortschreitendes Abreißen der Kommunikation zu beachten sind: »Der Raum des höheren Rangs verfügt in der Regel er einen Zugang zur weltweiten Kommunikation und ausgedehnten Netzwerken, die offen sind für weltumannende Nachrichten und Erfahrungen. Am anderen de des Spektrums finden sich segmentierte, oft ethnisch definierte lokale Netzwerke, die auf ihre Identität als wertvollste Ressource zur Verteidigung ihrer Interessen, und letztlich ihres Daseins, angewiesen sind.«8 Das Bild, das uns hier vor Augen geführt wird, zeigt zwei getrennte und voneinander geschiedene Lebenswel-

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Schwarzer, The Ghost Wards. Castells, Informational City, S. 228.

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ten. Nur die zweite ist geographisch begrenzt und lässt sich mit dem Instrumentarium orthodoxer topographischer, alltäglicher und nüchterner Begriffe fassen. Die Bewohner der ersten Lebenswelt mögen zwar, wie die anderen, körperlich an einem Ort sein, doch sind sie nicht wirklich von dort – mit Sicherheit nicht im Geiste, aber wann immer sie wollen, also recht oft, auch körperlich nicht. Die Menschen des »höheren Rangs« gehören nicht zu dem Ort, den sie bewohnen, weil ihre Angelegenheiten woanders zu erledigen sind (oder vielmehr, weil sie frei flottieren und schweben). Jenseits des Bedürfnisses, in uhe gelassen zu werden, um sich voll und ganz ihren schäftigungen widmen zu können, und der gesichert n Verfügbarkeit gewisser Dienstleistungen, die für den t glichen Komfort (wie auch immer sie diesen definieren ögen) unentbehrlich sind, haben sie ganz offensichtl h kein weitergehendes Interesse an der Stadt, in der sie i ren Wohnsitz haben. Die Stadtbevölkerung ist weder i re Klientel noch die Quelle ihres Reichtums oder ein ündel, dem sie Schutz und Fürsorge gewähren und f r das sie Verantwortung übernehmen, wie einst die dtischen Eliten, Fabrikbesitzer oder Kaufleute, die mit Konsumgütern und Ideen handelten. Im Großen und Ganzen sind die städtischen Eliten unserer Tage an den Problemen »ihrer« Stadt desinteressiert, denn sie ist nur ein Ort unter vielen anderen, deren Probleme vom Cyberspace aus betrachtet – der eigentlichen, wenn auch virtuellen Heimat dieser Eliten – allesamt klein und unbedeutend sind. Zumindest haben die Eliten es nicht nötig, sich dafür zu interessieren, und niemand kann sie gegen ihren Willen dazu zwingen. 112

Die Lebenswelt der anderen, »unteren Ränge« der Stadtbewohner ist das genaue Gegenteil. Im krassen Gegensatz zur Oberschicht zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie von jenem weltumspannenden Kommunikationsnetzwerk, mit dem die Menschen der »oberen Ränge« verbunden sind und auf das ihr Leben ausgerichtet ist, völlig abgeschnitten sind. Die Stadtbewohner der unteren Ränge sind »dazu verdammt, an einem Ort zu bleiben« – und deshalb kann und muss man davon ausgehen, dass ihre Aufmerksamkeit und ihre Sorgen, einschließlich ihrer Unzufriedenheit, ihrer Träume und Hoffnungen, sich ganz auf »lokale Probleme« richten werden. Für sie rd der Kampf ums Überleben und um einen anständin Platz in der Welt innerhalb der Stadt, in der sie leben, öffnet, geführt und manchmal gewonnen, meist jedoch rloren. resa Caldeira schreibt über das geschäftige und rasant achsende São Paulo, die größte Stadt Brasiliens: »São ulo ist heute eine Stadt der Mauern. Überall hat man nstliche Barrieren errichtet – um Häuser, Wohnblocks, rks, Plätze, Bürokomplexe und Schulen […]. Eine ue Ästhetik der Sicherheit prägt alle Arten von Gebäuden und unterwirft alles einer neuen Logik der Überwachung und der Distanz […].«9 Jeder, der es sich leisten kann, kauft sich ein Apartment in einem Block mit Eigentumswohnungen, der als Einsiedelei gedacht ist, die zwar physisch innerhalb der Stadt liegt, sozial und im Geiste jedoch außerhalb. »Diese

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Caldeira, Fortified Enclaves, S. 307 f.

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geschlossenen Gemeinschaften sind als eigene Welten gedacht. Die Werbung für sie verspricht eine vollendete Lebensform, die eine Alternative zu der Lebensqualität darstellen soll, die die Stadt mit ihrem heruntergekommenen öffentlichen Raum bietet.«10 Das herausragendste Merkmal dieser Wohnanlagen ist ihre »Isolation und Entfernung von der Stadt […]. Isolation heißt Trennung von denen, die als sozial minderwertig angesehen werden«, und, wie Planer und Immobilienmakler betonen, »der entscheidende Faktor, um dies zu gewährleisten, sind Sicherheitsmaßnahmen. Das bedeutet, dass rings um die Wohnanlagen Zäune und Mauern errichtet, die Eingänge nd um die Uhr bewacht und eine ganze Reihe weiterer rkehrungen und Maßnahmen getroffen werden, […] den anderen den Zutritt zu verwehren.«11 Wie wir alle wissen, haben Zäune zwei Seiten … Ein un teilt einen ansonsten gleichförmigen Raum in ein rinnen« und ein »Draußen«, aber was für die auf der nen Seite des Zaunes »drinnen« ist, ist für die auf der deren Seite »draußen«. Die Bewohner von Wohnanlan schotten sich gegen das abstoßende, Unbehagen versachende, vage bedrohliche, weil hektische und raue adtleben »draußen« ab und schaffen eine Oase der Ruhe und Sicherheit »drinnen«. Gleichzeitig jedoch sperren sie alle anderen von den sauberen und sicheren Orten aus, deren Standard mit Zähnen und Klauen zu verteidigen sie willens und entschlossen sind, und sperren sie in eben jene schäbigen und heruntergekommenen Straßen

10 Ebenda, S. 309. 11 Ebenda, S. 311.

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ein, denen sie selbst um jeden Preis zu entkommen suchen. Der Zaun trennt das »freiwillige Ghetto« der Reichen und Mächtigen von den vielen unfreiwilligen der Armen und Mittellosen. Für die im freiwilligen Ghetto sind die anderen Ghettos Räume, die »wir nicht betreten«. Für die in den unfreiwilligen Ghettos ist der Bereich, in dem sie eingesperrt sind (weil sie von anderswo ausgeschlossen werden), der Raum, »den wir nicht verlassen dürfen«. Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt meiner Argumentation zurück: Obwohl sie ursprünglich erbaut wurden, um allen ihren Einwohnern Schutz zu bieten, erden Städte heutzutage eher mit Gefahr assoziiert als it Sicherheit. Um noch einmal Nan Ellin zu zitieren: er Angstfaktor hat [beim Bau und der Umgestaltung n Städten] definitiv an Bedeutung gewonnen, wie man der steigenden Zahl von Sicherheitssystemen, abgehlossenen Autos und Haustüren, der Beliebtheit von › ewachten‹ und ›gesicherten‹ Wohnanlagen für alle Alt s- und Einkommensgruppen und der immer strengen Überwachung öffentlicher Räume ablesen kann, ganz schweigen von den endlosen Berichten über Gefahren i den Massenmedien.«12 Tatsächliche und mutmaßliche Bedrohungen für die Sicherheit der eigenen Person und des Eigentums werden zunehmend zu einem entscheidenden Kriterium, das bei der Abwägung der Vor- und Nachteile eines Wohnortes berücksichtigt wird. Außerdem sind sie zum wichtigsten Faktor der Marketingstrategien für Immobilien gewor-

12 Ellin, Shelter from the Storm, S. 26.

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den. Zukunftsangst, die Sorge um die eigene gesellschaftliche Stellung und existenzielle Unsicherheit – jene allgegenwärtigen Begleiterscheinungen des Lebens in der »flüchtigen Moderne«, deren Ursachen bekanntermaßen an entlegenen Orten zu finden und der Kontrolle des Einzelnen entzogen sind – machen sich allzu oft am nächstbesten Ziel fest und werden auf die Sorge um die persönliche Sicherheit umgelenkt. Diese Sorge wiederum verdichtet sich ihrerseits zu dem Drang, sich von anderen abzugrenzen beziehungsweise sie auszuschließen, was unweigerlich zur Folge hat, dass Kriege über die Nutzung städtischer Räume (urban space wars) geführt werden. Wie aus der aufschlussreichen Untersuchung von even Flusty, einem scharfsinnigen Stadtplanungs- und chitekturkritiker, hervorgeht, ist die Bereitstellung von ienstleistungen im Zusammenhang mit diesen Kriegen, i sbesondere der Entwicklung von Mitteln, um tatsächl hen und mutmaßlichen Missetätern den Zugang zu bemmten Räumen zu verwehren und sie auf Distanz zu lten, bereits das am schnellsten wachsende Aufgabenf d von innovativen Architekten und Städteplanern in merika geworden. Zu den neuesten Erfindungen der adtplaner, die mit besonderem Stolz beworben und vielfach nachgeahmt werden, gehören »verbotene Räume«, »die mögliche Nutzer abfangen, abwehren oder herausfiltern sollen«.13 Der Zweck von »verbotenen Räumen« besteht explizit darin, zu teilen, zu trennen und auszuschließen, und nicht darin, Brücken, Durchgänge und Treffpunkte zu bauen, Kommunikation zu fördern und

13 Flusty, Building Paranoia, S. 48 f.

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auf andere Art die Bewohner einer Stadt zusammenzubringen. Die architektonischen beziehungsweise stadtplanerischen Erfindungen, die Flusty aufzählt, sind die technisch weiterentwickelten Entsprechungen der vormodernen Wassergräben, Wehrtürme und Schießscharten der Stadtmauern. Nur werden sie nicht errichtet, um die Stadt und ihre Bewohner gegen Angriffe von außen zu verteidigen, sondern um die verschiedenen Gruppen von Einwohnern voneinander zu trennen und fernzuhalten (und um dafür zu sorgen, dass sie nichts anstellen) – und um die einen vor den anderen zu schützen, nachdem man i nen durch den Akt der räumlichen Isolation die Rolle r Widersacher zugewiesen hat. Zu den verschiedenen rmen von »verbotenen Räumen«, die Flusty aufzählt, hören »rutschige Räume« (slippery space), das heißt äume, die aufgrund von verschlungenen, weiten oder f hlenden Zufahrtswegen unerreichbar sind«; »stachlige ume« (prickly space), also »Räume, in denen kein annehmer Aufenthalt möglich ist, weil sie von in die ände eingelassenen Sprinklern verteidigt werden, die enschen vertreiben sollen, oder weil Fensterbretter geschrägt sind, damit sich niemand daraufsetzt«, und »nervöse Räume« (jittery space), das sind »Räume, die man nie unbeobachtet nutzen kann, weil sie aktiv von Patrouillen und /oder Kameras überwacht werden, deren Bilder an Sicherheitsposten weitergeleitet werden«. Diese und andere Formen von »verbotenen Räumen« erfüllen nur einen – allerdings vielschichtigen – Zweck: die exterritorialen Enklaven vom zusammenhängenden Territorium der Stadt abzuschneiden; mit anderen Worten: kleine, kompakte Festungen zu errichten, innerhalb deren 117

die Mitglieder der supraterritorialen globalen Elite zusätzlich zu ihrer geistigen auch ihre körperliche Unabhängigkeit und Entkoppelung vom konkreten Ort pflegen, kultivieren und genießen können. Innerhalb der Stadtlandschaft sind »verbotene Räume« zu Marksteinen der Auflösung des ortsgebundenen, gemeinschaftlichen Zusammenlebens geworden. Man kann die Abspaltung der neuen Elite (die lokal angesiedelt, aber global ausgerichtet und mit ihrem Wohnort nur lose verbunden ist) von ihren einstigen Verbindungen mit der lokalen Bevölkerung und die daraus resultierende geistige Kluft, beziehungsweise die mangelfte Kommunikation zwischen den Lebenswelten derer, e sich abgesondert haben, und derer, die zurückgel sen worden sind, mit gutem Grund als die grundl endsten gesellschaftlichen, kulturellen und politischen mbrüche bezeichnen, die mit dem Übergang von der esten« zur »flüchtigen« Phase der Moderne verknüpft d. Es liegt viel Wahrheit im bisher skizzierten Bild der get nnten Lebenswelten. Aber es ist nicht die ganze Wahrit. Unter den Aspekten, die bislang fehlen oder unterlichtet sind, ist der gewichtigste (mehr als andere, viel bekanntere Aspekte) für das wohl entscheidende (und langfristig vermutlich folgenreichste) Merkmal des gegenwärtigen städtischen Lebens verantwortlich: Gemeint ist das enge Zusammenspiel zwischen dem Globalisierungsdruck und der Art und Weise, in der die Identitäten von urbanen Standorten ausgehandelt, geformt und umgestaltet werden. Auch wenn die Art und Weise, wie der »obere Rang« sich davonstiehlt, diesen Schluss nahelegt: Es wäre ein 118

Fehler, sich die »globalen« und die »lokalen« Erscheinungsformen der heutigen Lebensumstände und life politics so vorzustellen, als existierten sie in zwei voneinander getrennten und hermetisch abgeschlossenen Räumen, die nur ansatzweise und gelegentlich miteinander kommunizieren. In seiner 2001 veröffentlichten Untersuchung widerspricht Michael Peter Smith einer Auffassung (die ihm zufolge unter anderem von David Harvey oder John Friedman vertreten wird),14 die einer »dynamischen, aber ortsunabhängigen Logik des globalen wirtschaftlichen Austausches« ein »statisches Konzept von Ort und lokaler Kultur« gegenüberstellt, das dann als »Lebensort« des n-der-Welt-Seins« »idealisiert« wird.15 Smith dagegen i der Meinung, dass »Orte keineswegs eine statische ntologie des ›Seins‹ oder der ›Gemeinschaft‹ wideriegeln, sondern dynamische Konstruktionen, die ›im tstehen begriffen‹ sind«. In der Tat ist es nur in der ätherischen Welt der Theorie öglich, den abstrakten, »irgendwo im Nirgendwo« hwebenden Raum der global operators und den greifban, ganz im erreichbaren »Hier und Jetzt« verwurzelten um der »Einheimischen« klar voneinander abzuenzen. Die städtische Realität lässt solch fein säuberliche Unterscheidungen schnell zu Makulatur werden. Grenzziehungen im bewohnten Raum sind Gegenstand permanenter Auseinandersetzungen, und die Beute, um die in Kämpfen entlang zahlreicher kreuz und quer verlaufender Frontlinien gestritten wird. Jede Grenzziehung 14 Friedman, Where We Stand; Harvey, From Space to Place and Back Again. 15 Smith, Transnational Urbanism, S. 54 f.

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ist vorläufig und provisorisch; man muss ständig damit rechnen, dass Grenzen neu gezogen oder beseitigt werden, und ebendeshalb dienen Grenzen als natürliches Ventil für die große Bandbreite an Ängsten, die ein Leben in Unsicherheit gebiert. Die kontinuierlichen und doch vergeblichen Bemühungen, die irritierend instabilen Grenzen zu befestigen und zu stabilisieren, haben nur einen einzigen nachhaltigen Effekt: das Recycling diffuser Ängste zu spezifischen Vorurteilen, Gruppenantagonismen, gelegentlich aufflammenden Konfrontationen und permanent schwelenden Feindseligkeiten. Außerdem kann in unserer sich immer schneller globalisierenn Welt niemand von sich behaupten, er sei ein echter obal operator. Das Höchste, was die Mitglieder der Elite n Globetrottern, die über weltweiten Einfluss verf gen, erreichen können, ist die Erweiterung ihres Bewengsradius. Wenn es ihnen zu heiß wird und sich die Umgebung i rer Stadtresidenzen als zu gefährlich und zu schwer in n Griff zu bekommen erweist, ziehen sie einfach wodershin. Damit steht ihnen eine Möglichkeit offen, e ihren (räumlich) nahen Nachbarn verwehrt ist. Die ption, sich eine angenehmere Alternative zu örtlichen Unannehmlichkeiten zu suchen, ermöglicht ihnen einen Grad an Unabhängigkeit, von dem andere Stadtbewohner nur träumen können, und den Luxus einer vornehmen Gleichgültigkeit, den andere sich nicht leisten können. Ihr Interesse daran und ihr Einsatz dafür, »die städtischen Angelegenheiten in Ordnung zu bringen«, sind in der Regel weniger umfassend und vorbehaltlos als bei denjenigen, deren Spielraum für die einseitige Auflösung lokaler Bindungen deutlich kleiner ist. 120

All das bedeutet jedoch nicht, dass die global vernetzte Elite auf ihrer Suche nach »Sinn und Identität« – Dinge, die sie genauso dringend braucht und ersehnt wie alle anderen – den Ort, an dem sie (wenn auch nur vorübergehend und »bis auf weiteres«) lebt und arbeitet, völlig außer Acht lassen kann. Wie alle anderen Männer und Frauen sind sie unweigerlich Teil der Stadtlandschaft, und all ihre Aktivitäten sind wohl oder übel in ihrem jeweiligen Ort verankert. Als global operators mögen sie im virtuellen Raum umherschweifen, aber als handelnde Menschen sind sie tagein, tagaus an den physischen Raum gebunden, in dem sie operieren, an ein Umfeld, das rch das Ringen der Menschen um Sinn, Identität und nerkennung vorgegeben ist und ständig neu definiert rd. Menschliche Erfahrungen werden immer an Orten prägt und gesammelt; hier wird versucht, das Leben it anderen zu teilen, und hier werden Sinngehalte für s Leben konzipiert, aufgenommen und verhandelt. nd wenn menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte reif n, wenn Menschen in der Hoffnung auf Erfüllung leben d das Risiko eingehen, enttäuscht zu werden – und t sächlich werden sie meistens enttäuscht und ihre Wünhe im Keim erstickt –, so findet dies stets an bestimmten Orten statt. Daher ist die Stadt die zeitgenössische Bühne beziehungsweise das Schlachtfeld, auf dem globale Kräfte und hartnäckig ortsgebundene Bedeutungen und Identitäten aufeinandertreffen, zusammenprallen, miteinander ringen und einen befriedigenden oder zumindest erträglichen Ausgleich suchen – eine Form der Koexistenz, von der man hofft, sie werde einen dauerhaften Frieden bringen, die sich jedoch in der Regel als bloßer Waffenstill121

stand entpuppt, als kurze Atempause, in der beschädigte Verteidigungswälle repariert und neue Kampfeinheiten aufgestellt werden. Nicht ein einzelner Faktor, sondern diese Konfrontation ist es, was in der Stadt der »flüchtigen Moderne« die Entwicklung in Gang setzt und ihre Richtung bestimmt. Und über eines sollten wir uns klar sein: Von dieser Konfrontation kann jede Stadt betroffen sein, wenn auch nicht jede im gleichen Maße. Michael Peter Smith erinnert sich, wie er auf einer Reise nach Kopenhagen innerhalb einer einzigen Stunde an »Grüppchen von Einwanderern aus der Türkei, Afrika und dem Nahen Osten« vorbeigemmen sei, »mehrere verschleierte und unverschleierte auen« beobachtet, »Schilder in verschiedenen nichtropäischen Sprachen« gelesen und »in einem englischen b gegenüber vom Tivoli-Park ein interessantes Geräch mit einem irischen Barkeeper« geführt habe.16 iese Erfahrungen, so Smith weiter, hätten sich als nützl h erwiesen, als er einige Tage später in Kopenhagen nen Vortrag über transnationale Verflechtungen gehalten be und »ein Zuhörer behauptete, Transnationalismus i ein Phänomen, das auf ›globale Städte‹ wie New York er London zutreffen möge, jedoch wenig relevant sei für eher abgeschottete Orte wie Kopenhagen«. Die wahren Mächte, die die Bedingungen bestimmen, unter denen wir alle handeln, schweben heute frei im globalen Raum, während unsere politischen Institutionen nach wie vor im Wesentlichen an den Grund und Boden gebunden sind; sie sind, wie zuvor, lokal.

16 Ebenda, S. 108.

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Weil sie lokal ausgerichtet sind und es auf absehbare Zeit auch bleiben werden, sind politische Institutionen, die im städtischen Raum agieren, dort, wo das Drama der Politik täglich inszeniert wird, oft auf verhängnisvolle Weise geschwächt; ihnen mangelt es ganz erheblich an der Fähigkeit zu handeln, und zwar vor allem an der Fähigkeit, effektiv und souverän zu handeln. Die Kehrseite dieser relativen Entmachtung der lokalen Politik ist der Mangel an Politik im exterritorialen Cyberspace, der Spielwiese der wahren Mächte. Es gehört zu den verwirrendsten Paradoxien unserer Zeit, dass trotz der rasant fortschreitenden Globalisierung seres Planeten die Politik dazu neigt, auf eine hingengsvolle und selbstgewisse Art lokal zu agieren. Aus m virtuellen Raum vertrieben – oder vielmehr nach wie r vom virtuellen Raum ausgeschlossen –, greift sie imer wieder auf Angelegenheiten zurück, die »in Reichite liegen«: lokale Probleme und Nachbarschaftsbeziengen. Den meisten von uns scheint es die meiste Zeit, als ien lokale Probleme die einzigen, die wir »ändern« könn – bei denen wir etwas beeinflussen, reparieren, verbesrn oder umlenken können. Nur bei lokalen Angelegeniten können wir davon ausgehen, dass unser Handeln oder Nichthandeln »etwas bewirkt«, denn bei jenen anderen, »überregionalen« Angelegenheiten gibt es »keine Alternative« (zumindest werden unsere politischen Führer und alle anderen »Experten« nicht müde, uns das zu erzählen). Allmählich hegen wir den Verdacht, dass die »globalen Probleme« angesichts der erbärmlich unzureichenden Mittel und Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, so oder so ihren Lauf nehmen werden, egal, was wir tun oder was wir uns sinnvollerweise vornehmen könnten zu tun. 123

Doch auch wenn die verborgenen Wurzeln und Ursachen vieler Probleme zweifellos globaler Natur sind und an weit entfernten Orten liegen – Gegenstand politischer Überlegungen werden sie nur durch ihre lokalen Ableger und Auswirkungen. Die globale Luft- und Wasserverschmutzung – ähnlich wie die globale Produktion »überflüssiger« Menschen und Flüchtlinge – wird erst dann zu einer politischen Frage, wenn eine Giftmülldeponie, ein Flüchtlingslager oder ein Asylbewerberheim in unserer unmittelbaren Nachbarschaft entsteht, in »unserem eigenen Hinterhof«, beängstigend nahe an unserem Zuhause, aber damit eben auch ermutigenderweise in unserer eichweite«. Die zunehmende Kommerzialisierung s Gesundheitswesens, offensichtlich eine Folge des unrmherzigen Wettbewerbs zwischen supranationalen armakonzernen, wird erst dann als politische Frage htbar, wenn ein örtliches Krankenhaus immer weniger istungen anbietet oder die Altersheime und psychiatrihen Kliniken vor Ort geschlossen werden. Es waren die wohner einer einzigen Stadt, New York, genauer von anhattan, eines einzigen Stadtteils dieser riesigen Stadt, e mit den Verwüstungen fertig werden mussten, die der obal erzeugte Terrorismus verursacht hat. Und nun müssen die Stadträte und Bürgermeister anderer Städte Verantwortung für die Sicherheit des Einzelnen übernehmen, obwohl sie Kräften schutzlos ausgeliefert sind, die weit jenseits der Reichweite einer einzelnen Stadt liegen und die aus der Deckung ihrer weit entfernt liegenden Schlupfwinkel heraus angreifen. Und durch die weltweite Vernichtung von Lebensgrundlagen und das Entwurzeln alteingesessener Bevölkerungsgruppen zeichnet sich die Aufgabe am politischen Horizont ab, jene bunt schillern124

den »Wirtschaftsflüchtlinge« zu integrieren, die die einst eintönigen Straßen bevölkern … Kurz gesagt: Städte sind zu Abladeplätzen für global verursachte und entstandene Probleme geworden. Die Bewohner von Städten und ihre gewählten Vertreter sehen sich zunehmend mit einer Aufgabe konfrontiert, die sie beim besten Willen nicht lösen können: lokale Lösungen für global verursachte Probleme und Dilemmata zu finden. Daher also kommt das Paradox einer zunehmend lokalen Politik, in einer Welt, die immer stärker von globalen Entwicklungen geformt und umgestaltet wird. Wie astells feststellt, ist unsere Zeit mehr und mehr geprägt n der intensiven (man könnte auch sagen: zwanghaften d zunehmend übertriebenen) »Produktion von Sinn d Identität: meine Nachbarschaft, meine Gemeinde, eine Stadt, meine Schule, mein Baum, mein Fluss, mein rand, meine Kirche, mein Frieden, meine Umwelt«. lötzlich einem globalen Wirbelwind schutzlos ausgel fert, halten die Menschen sich an sich selbst.«17 Und j mehr sie sich »an sich selbst halten«, so möchte ich hinfügen, desto schutzloser sind sie dem »globalen Wirlwind« ausgeliefert, und umso weniger sind sie in der Lage, lokale und damit vermeintlich eigene Bedeutungen und Identitäten zu definieren, geschweige denn zu behaupten – zur großen Freude der global operators, die keinen Grund haben, die Schutzlosen zu fürchten. Wie Castells an anderer Stelle andeutet, führt die Schaffung eines »Raums der Ströme« zu einer neuen,

17 Castells, Die Macht der Identität, S. 67.

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globalen Hierarchie der »Beherrschung-durch-die-Androhung-des-Rückzugs«. Der »Raum der Ströme« kann sich »an jedem Schauplatz der Kontrolle entziehen«, wohingegen (und weil!) der »Raum der Orte« fragmentiert und lokalisiert ist, so dass er der Vielseitigkeit des Raums der Ströme zusehends machtlos gegenübersteht. »Die einzige Möglichkeit der Orte, Widerstand zu leisten, besteht darin, dass sie den Strömen, von denen sie überschwemmt werden, die Landeerlaubnis verweigern, was lediglich dazu führt, dass sie an einem benachbarten Ort landen, mit der Folge, dass rebellische Gemeinden übergangen und marginalisiert werden.«18 Das Ergebnis ist, dass die lokale Politik – und inssondere die städtische Politik – heute hoffnungslos überl tet ist, weit über das hinaus, was sie bewältigen und l sten kann. Sie soll nun die Folgen einer außer Kontrolle ratenen Globalisierung entschärfen und ist dabei auf ittel und Ressourcen angewiesen, die aufgrund ebeneser Globalisierung heute erbärmlich unzureichend d. Daher die permanente Ungewissheit, auf deren rundlage alle politischen Akteure handeln müssen, eine ngewissheit, die Politiker manchmal eingestehen, meist ns jedoch dadurch zu kaschieren versuchen, dass sie öffentlich ihre Muskeln spielen lassen und sich als Maulhelden aufführen, deren Rhetorik oft umso forscher und lautstärker ausfällt, je glückloser sie agieren und je weniger sie ausrichten können.

18 Castells, Grassrooting the Space of Flows, S. 20 f.

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Was auch immer Städten in ihrer Geschichte widerfahren ist und so drastisch sich ihre räumliche Struktur, ihr Erscheinungsbild und ihr Lebensstil im Laufe der Jahre und Jahrhunderte auch verändert hat, ein Merkmal ist bis heute unverändert geblieben: Städte sind Orte, wo Fremde in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander wohnen und leben. Als fester Bestandteil des Stadtlebens trägt die permanente und allgegenwärtige Präsenz von Fremden in Sichtund Reichweite dazu bei, dass ein erhebliches Maß an ständiger Ungewissheit alle Aktivitäten der Stadtbewohner begleitet. Diese Präsenz, der man sich unmöglich für l nger als einen kurzen Moment entziehen kann, ist eine e versiegende Quelle der Angst sowie von Aggression, die meist unter der Oberfläche schlummern, jedoch i mer wieder hervorbrechen. Diese allgegenwärtige, wiewohl unterschwellige Angst r dem Unbekannten sucht verzweifelt nach überzeunden Ventilen. In den meisten Fällen werden die aufgeuten Ängste auf eine bestimmte Kategorie von »Ausl ndern« abgeladen, die als Inbegriff des »Fremdartigen« sgewählt werden: für das Ungewohnte und Undurchhtige der Lebenssituation, das Unbestimmte der Risiken und die Unbekanntheit der Bedrohungen. Indem die Stadtbewohner eine bestimmte Kategorie von »Ausländern« aus ihren Häusern und Geschäften verjagen, treiben sie, zumindest vorübergehend, das furchteinflößende Gespenst der Ungewissheit aus; stellvertretend für das schreckliche Monster der Unsicherheit verbrennen sie eine Strohpuppe. Grenzbefestigungen, die angeblich gegen »Asylbetrüger« und »reine Wirtschaftsflüchtlinge« errichtet werden, dienen in Wirklichkeit dazu, die 127

schwankende, unstete und unvorhersehbare Existenz der drinnen Wohnenden zu befestigen. Doch das Leben in der flüchtigen Moderne wird immer unberechenbar und launisch bleiben, egal, wie »unerwünschte Ausländer« behandelt werden oder was ihnen zugemutet wird, und so ist die Erleichterung meist von kurzer Dauer, und die Hoffnungen, die man an das »harte und entschlossene Durchgreifen« geknüpft hatte, werden ebenso schnell zunichte gemacht, wie sie geweckt wurden. Der Fremde ist per definitionem ein Akteur, der von Absichten geleitet wird, über die man bestenfalls spekulieren, bei denen man sich jedoch nie ganz sicher sein nn, sie erfasst zu haben. Wann immer Stadtbewohner r einer Entscheidung stehen und abwägen, was sie tun d wie sie sich verhalten sollen, der Fremde ist in jeder leichung die unbekannte Größe. Deshalb löst die Genwart von Fremden Unbehagen aus, selbst wenn sie cht zur Zielscheibe unverhohlener Aggressionen oder fen und aktiv ausgelebter Ressentiments werden, denn erschwert die Vorhersage der Erfolgsaussichten und uswirkungen von Handlungen. Dass man den Lebensraum mit Fremden teilt, dass an in ihrer unerbetenen und doch aufdringlichen Nachbarschaft lebt, ist ein Zustand, dem Stadtbewohner sich kaum, wahrscheinlich sogar unmöglich entziehen können. Die Nähe zu Fremden ist ihr Schicksal, ein dauerhafter modus vivendi, der tagtäglich geprüft und überwacht, erprobt und erneut geleistet werden muss, mit dem man experimentiert, bis man (hoffentlich) eine Form findet, die das Zusammenleben mit Fremden genießbar und ihre Gesellschaft erträglich erscheinen lässt. Die Notwendigkeit, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, 128

ist ein nicht verhandelbares Faktum; wie man ihr als Stadtbewohner jedoch begegnet, das ist der Entscheidung des Einzelnen überlassen. Und irgendeine Art von Entscheidung wird täglich getroffen, sei es aktiv oder passiv, absichtlich oder kampflos; sei es, indem man sich bewusst entscheidet oder indem man blind und mechanisch den gewohnten Verhaltensmustern folgt; sei es auf der Grundlage von Diskussionen und gemeinsamen Überlegungen oder indem man auf Methoden zurückgreift, die derzeit als bewährt gelten (weil sie gerade in Mode und noch nicht diskreditiert sind). In diesem Zusammenhang sind auch die oben zitierten architekt nischen Entwicklungen zu sehen, die Steven Flusty schreibt: als Hightech-Manifestationen einer allgegenärtigen städtischen »Mixophobie«. Mixophobie ist eine weitverbreitete und leicht vorrsagbare Reaktion auf die schwindelerregende, furchtnflößende und nervenaufreibende Vielfalt an Menhentypen und Lebensstilen, die sich auf den Straßen r Städte unserer Tage ein Stelldichein geben, nicht nur i den offiziell als »Problemviertel« oder »soziale Brennnkte« deklarierten (und daher gemiedenen) Stadtt len, sondern in den »normalen« (sprich: nicht durch »verbotene Räume« geschützten) Wohngebieten. In dem Maße, in dem städtische Milieus von der Vielstimmigkeit und kulturellen Vielfalt des Zeitalters der Globalisierung erfasst werden – ein Prozess, der sich in Zukunft eher noch intensivieren als abschwächen dürfte –, werden die Spannungen, die durch die verwirrende und irritierende Fremdheit dieses Umfelds verursacht werden, den Drang zur Abschottung wahrscheinlich noch verstärken. 129

Entlädt sich dieser Drang, können die wachsenden Spannungen (vorübergehend, aber wiederholt) abgebaut werden. Und mit jeder erneuten Entladung wird die Hoffnung erneuert, die beim letzten Mal enttäuscht wurde: dass man, selbst wenn die entmutigenden und verunsichernden Unterschiede sich als unüberwindlich und unlösbar erweisen, vielleicht wenigstens ihrem Stachel das Gift entziehen könnte, indem man jeder Lebensform einen eigenen, ebenso in- wie exklusiven, gut markierten und bewachten physischen Raum zuteilt. Vielleicht könnte man, anstelle dieser Radikallösung, zumindest für sich, seine Anverwandten und andere eute wie uns« ein Territorium sichern, das von diesem illosen Durcheinander frei ist, das andere Gegenden r Stadt plagt. Mixophobie äußert sich in einem Streben ch Inseln der Ähnlichkeit und Gleichheit mitten im eer der Vielfalt und der Differenz. Die Wurzeln dieser Mixophobie sind banal, unschwer szumachen und leicht zu begreifen, wenn auch nicht bedingt leicht zu verzeihen. Für Richard Sennett ist ieses ›Wir‹-Gefühl, das ein Ausdruck eines Verlangens i , einander ähnlich zu sein«, eine Möglichkeit, »der otwendigkeit aus dem Weg zu gehen, tiefer in den anderen hineinzuschauen«. Es verspricht, so könnte man sagen, einen gewissen geistigen Trost: die Aussicht, das Zusammensein erträglicher zu machen, indem es uns das ständige Bemühen erspart, zu verstehen, zu verhandeln und Kompromisse einzugehen, das ein Leben mit und inmitten von Differenz erfordert. »Dem Prozess der Herausbildung einer kohärenten Vorstellung von Gemeinschaft wohnt der Wunsch inne, die tatsächliche Partizipation zu vermeiden. Dass man sich ohne gemein130

same Erfahrungen miteinander verbunden fühlt, liegt in erster Linie daran, dass Menschen Angst vor der Partizipation haben, vor den Gefahren und Herausforderungen, die sie mit sich bringt, vor dem Schmerz.«19 Das Streben nach einer »Gemeinschaft von Gleichartigkeit« ist ein Anzeichen für den Rückzug nicht nur von der Andersartigkeit draußen, sondern auch von einem Engagement in der anregenden, aber turbulenten, belebenden, aber mühevollen Interaktion im Innern. Die Anziehungskraft einer »Gemeinschaft von Gleichartigkeit« ist die einer Art Versicherungspolice gegen die Risiken, mit denen das tägliche Leben in einer vielstimmigen Welt haftet ist. Das Eintauchen in die »Gleichartigkeit« nn die Risiken, denen man dadurch aus dem Weg gen will, nicht verringern oder gar abwehren. Wie alle lliativtherapien verspricht es bestenfalls einen Schutz r einigen unmittelbaren und besonders gefürchteten uswirkungen. Wählt man die Flucht als Mittel gegen die Mixophobie, hat das eine ganz eigene, ebenso heimtückische wie hädliche Konsequenz: Je ineffektiver die vermeintliche erapie ist, desto mehr wird sie zu einem selbsterhalt nden und sich selbst verstärkenden System. Sennett erklärt, warum das so ist (ja, so sein muss): »In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich das Wachstum amerikanischer Großstädte so entwickelt, dass ethnisch geprägte Viertel relativ homogen geworden sind. Es scheint kein Zufall zu sein, dass die Angst vor Außenstehenden ebenfalls gewachsen ist, bis zu einem Punkt, an dem diese eth-

19 Sennett, The Uses of Disorder, S. 39, 42.

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nischen Gemeinschaften abgeschnitten worden sind.«20 Je länger Menschen in einer gleichförmigen Umwelt leben – in der Gesellschaft von »ihresgleichen«, mit denen sie nüchterne, oberflächliche Kontakte pflegen, ohne das Risiko von Missverständnissen einzugehen und ohne die irritierende Notwendigkeit, zwischen unterschiedlichen Bedeutungswelten zu übersetzen –, desto wahrscheinlicher wird es, dass sie die Kunst »verlernen«, gemeinsame Bedeutungen auszuhandeln und einen angenehmen modus covivendi zu finden. Da sie die Fähigkeiten, die ein erfülltes Leben inmitten der Differenz erfordert, vergessen oder es versäumt haben, sie sich anzueignen, nimmt kaum wunder, dass es bei denen, die die Fluchttherapie vorzugen und praktizieren, zunehmend Entsetzen ausl st, wenn sie sich vorstellen, Fremden Auge in Auge genüberzutreten. Fremde erscheinen immer furchteinf ßender, weil sie immer unbekannter, unverständlicher d weniger vertraut werden und weil der Dialog und e Interaktion, die ihre »Andersartigkeit« in die eigene benswelt integrieren könnten, abreißen oder gar nicht st stattfinden. Das Streben nach einer homogenen, umlich isolierten Umwelt mag durch die Mixophobie sgelöst worden sein, was der Mixophobie jedoch als Rettungsweste dient, ihr Nahrung gibt und allmählich zu ihrer wichtigsten Stütze wird, ist das Praktizieren räumlicher Trennung. Aber die Mixophobie ist nicht der einzige Kombattant auf dem städtischen Schlachtfeld. Das Leben in einer Stadt ist bekanntlich eine ambivalente Erfahrung. Es ist

20 Ebenda, S. 194.

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attraktiv und abstoßend zugleich. Und was die Lage des Stadtbewohners noch misslicher macht und dazu führt, dass sie noch schwieriger zu verbessern ist: Es sind die gleichen Aspekte des Stadtlebens, die – abwechselnd oder gleichzeitig – anziehend und abstoßend wirken. Die verwirrende Vielfalt der städtischen Umwelt ist zwar eine Quelle der Angst (vor allem für diejenigen unter uns, die ihr »vertrautes Umfeld« verloren haben und durch den destabilisierenden Prozess der Globalisierung in einen Zustand akuter Ungewissheit versetzt worden sind). Und doch ist es ebendieses kaleidoskopartige Funkeln und Glitzern der städtischen Kulisse, stets neuartig d überraschend, das ihren kaum zu widerstehenden harme und ihre verführerische Kraft ausmacht. Sich mit dem endlosen, blendenden Spektakel der adt auseinanderzusetzen wird daher nicht ausschließl h als Fluch wahrgenommen; ebenso wenig empfindet an es als ungeteilten Segen, eine Zuflucht vor ihm zu ben. Im gleichen Maße, in dem sie Mixophobie sät und hrt, löst die Stadt auch Mixophilie aus. Das Stadtleben i – auf intrinsische und irreparable Weise – eine ambival nte Angelegenheit. Je größer und heterogener eine Stadt, desto mehr Anziehungspunkte kann sie unterhalten und anbieten. Die enorme Dichte an Fremden ist zugleich ein abstoßendes Moment und ein äußerst starker Magnet, der immer neue Scharen von Männern und Frauen anzieht, die des monotonen Lebens auf dem Dorf oder in der Kleinstadt überdrüssig sind, von sich endlos wiederholenden Routinen genug haben – und die der Mangel an Möglichkeiten beziehungsweise das Fehlen einer Perspektive zur Verzweiflung treibt. Die städtische Vielfalt verspricht Chan133

cen, eine Vielzahl von unterschiedlichen Chancen, Chancen für alle Fähigkeiten und jeden Geschmack. Je größer die Stadt, desto wahrscheinlicher wird es also, dass sie eine wachsende Zahl von Menschen anziehen wird, die jene Chancen und Aussichten auf Abenteuer, die sich ihnen in kleineren Orten bieten – wo man weniger tolerant gegenüber Eigenheiten ist und geiziger mit den Freiheiten, die gewährt oder auch nur toleriert werden –, ausschlagen, sowie Menschen, denen all das in kleineren Orten verweigert wird. Offenbar hat auch die Mixophilie, wie die Mixophobie, die Tendenz, sich selbst zu verstärken und weiterzuverbreiten. Es ist unwahrscheinlich, ss sich im Zuge der städtischen Erneuerung und der mgestaltung des städtischen Raumes eine von beiden schöpft oder an Vitalität verliert. Mixophobie und Mixophilie koexistieren nicht nur in jer Stadt, sondern auch in jedem einzelnen Stadtbewohner. gegeben, es handelt sich um eine prekäre Koexistenz, oll Schall und Wahn« – doch für diejenigen, die mit der mbivalenz der flüchtigen Moderne konfrontiert sind, ist alles andere als »eines Toren Fabel«. Da Menschen, die einander fremd sind, noch sehr l nge miteinander werden auskommen müssen, egal, welche verschlungenen Wege die Geschichte der Städte noch nehmen mag, kommt der Kunst, friedlich und glücklich mit der Differenz zu leben und von der Vielfalt der Anregungen und Chancen zu profitieren, die Schlüsselposition unter den Fähigkeiten zu, die ein Stadtbewohner lernen und anwenden können muss (und sollte). Angesichts der zunehmenden Mobilität im Zeitalter der flüchtigen Moderne, des beschleunigten Wechsels der Akteure, der Handlungsstränge und der Szenerie der 134

städtischen Schauplätze erscheint eine vollständige Ausrottung der Mixophobie wenig wahrscheinlich. Aber vielleicht kann man etwas unternehmen, um den jeweiligen Anteil von Mixophobie und Mixophilie zu beeinflussen und die verwirrenden Auswirkungen der Mixophobie zu begrenzen, nicht zuletzt die quälende Angst, die sie erzeugt. Architekten und Stadtplaner könnten in der Tat einiges tun, um die Zunahme von Mixophilie zu fördern und die Anlässe für mixophobische Reaktionen auf die Herausforderungen des Stadtlebens zu reduzieren. Umgekehrt können sie einiges tun – und leider geschieht genau das –, um die gegenteiligen Effekte zu erzielen. Wie wir bereits gesehen haben, ist die Trennung von ohngebieten und öffentlich zugänglichen Räumen – so raktiv sie in wirtschaftlicher Hinsicht für Bauunterneher als schneller Weg zum Profit und so attraktiv sie für i re Kunden als einfaches Mittel gegen die von der Mixoobie ausgelösten Ängste sein mag – die Hauptursache r Mixophobie. Die angebotenen Lösungen schaffen die obleme erst, die sie angeblich beheben, oder verschärf n sie sogar: die Erbauer von »gated communities«, der eng bewachten Wohnanlagen, und die Architekten von erbotenen Räumen« schaffen, vermehren und verstärken die Nachfrage, die sie zu befriedigen vorgeben, und die Bedürfnisse, die sie zu stillen versprechen. Mixophobische Paranoia nährt sich aus sich selbst und wird so zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wird die räumliche Trennung als radikales Heilmittel gegen die Gefahr, die Fremde darstellen, angeboten und aufgegriffen, dann wird das Zusammenleben mit Fremden von Tag zu Tag schwieriger. Homogene Wohnviertel zu schaffen und Kommunikation und Geschäftsbeziehungen 135

zwischen ihnen auf das unvermeidbare Minimum zu reduzieren, ist ein narrensicheres Rezept, um das Bedürfnis nach Exklusion und Trennung zu fördern und zu verstärken. Eine solche Maßnahme mag den Schmerz, den an Mixophobie leidende Menschen ertragen müssen, vorübergehend lindern, doch als Heilmittel ist sie selbst pathogen, verschlimmert die Krankheit und verringert die Heilungschancen, so dass immer neue und höhere Dosen vonnöten sind, um den Schmerz auf einem erträglichen Niveau zu halten. Die soziale Homogenität des Raums, noch durch räumliche Trennung betont und untermauert, senkt die Toleranz der Bewohner für Diffenz und vervielfacht so die Anlässe für mixophobische aktionen, was dazu führt, dass das Stadtleben »risikofälliger« und somit quälender erscheint, anstatt sicherer d damit entspannter und angenehmer. Eine entgegengesetzte Strategie in Architektur und adtplanung – nämlich die vermehrte Gestaltung offer, einladender und freundlicher öffentlicher Räume, die reizvoll sind, dass alle Gruppen von Stadtbewohnern regelmäßig aufsuchen und sie bewusst und gern iteinander teilen würden – würde sich positiver auf die rankerung und Förderung einer mixophilen Stimmung auswirken. Wie Hans-Georg Gadamer in »Wahrheit und Methode« darlegte, entsteht Verständnis füreinander durch eine »Verschmelzung der Horizonte«, und zwar der kognitiven Horizonte, die sich im Zuge des Erwerbs von Lebenserfahrung ausbilden und ausdehnen. Diese »Verschmelzung«, die die Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen ist, kann nur das Ergebnis gemeinsamer Erfahrungen sein; und gemeinsame Erfahrungen sind undenkbar ohne Räume, die man miteinander teilt. 136

Die schlimmsten Ängste unserer Zeit erwachsen aus existenzieller Ungewissheit. Ihre Wurzeln reichen viel tiefer als die Lebensbedingungen in unseren Städten, und alles, was man innerhalb der Stadt, auf der Ebene des städtischen Raums und des städtischen Umgangs mit Ressourcen tun könnte, um diese Wurzeln zu kappen, greift viel zu kurz. Die Mixophobie, die das Zusammenleben der Stadtbewohner belastet, ist nicht der Ursprung ihrer Ängste, sondern das Produkt einer perversen und irreführenden Interpretation ihrer Ursachen; eine Manifestation der verzweifelten und am Ende ergebnislosen Versuche, den Schmerz zu lindern, den die Angst auslöst, i dem man den Ausschlag beseitigt und irrtümlich glaubt, e Krankheit geheilt zu haben. Was Hoffnung aufkeimen l st, ist die Mixophilie, die im städtischen Leben ebenso t f verwurzelt ist wie ihr mixophober Widerpart: nicht r die Hoffnung, das Leben in den Städten – ein Leben, s den Umgang und die Interaktion mit einer enormen, elleicht unendlichen Vielfalt von Fremden erfordert – nnte einfacher und sorgenfreier sein, sondern auch ne Hoffnung darauf, die Spannungen abzubauen, die s ähnlichen Gründen auf globaler Ebene entstehen. Wie bereits erwähnt, sind Städte heutzutage Abladeplätze für global verursachte Probleme. Man kann sie jedoch auch als Laboratorien betrachten, in denen tagtäglich Mittel und Wege erfunden, erprobt, memoriert und verarbeitet werden, die dazu dienen, mit der Differenz zu leben – Mittel und Wege, die von den Bewohnern eines zunehmend überfüllten Planeten erst noch gelernt werden müssen. Es kann gut sein, dass die Arbeit an einer »Verschmelzung der Horizonte« im Sinne Gadamers, jener unverzichtbaren Voraussetzung für Immanuel Kants 137

Idee einer »Vereinigung der Menschheit«, auf der städtischen Bühne ihren Anfang nimmt. Auf dieser Bühne kann es gelingen, die apokalyptische Vision Samuel P. Huntingtons von unüberwindbaren Konflikten und dem unausweichlichen »Kampf der Kulturen«21 zu übersetzen in harmlose und nicht selten erfreuliche, tief befriedigende tägliche Begegnungen mit jener Menschlichkeit, die sich hinter den beängstigend fremdartigen Bühnenmasken der unterschiedlichen und einander fremden Rassen, Nationalitäten, Götter und Liturgien verbirgt. Kein Ort ist besser geeignet als die gemeinsam genutzten Straßen einer Großstadt, um zu entdecken und zu lern, dass, wie Mark Juergensmeyer es ausdrückt, die äkularen ideologischen Ausdrucksformen der Rebell n« dieser Tage zwar tendenziell »von religiös geprägten I eologien abgelöst« werden, dass jedoch »die Beschwern – Gefühle der Entfremdung, der Marginalisierung d der sozialen Frustration – meist die gleichen sind«,22 er alle trennenden und spaltenden konfessionellen renzen hinweg.

21 Huntington, Kampf der Kulturen. 22 Juergensmeyer, Is Religion the Problem?

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Utopia im Zeitalter der Ungewissheit Selbst die Glücklichsten unter uns (oder, einer verbreiteten und von Neid geprägten Ansicht der Unglücklichen zufolge, die Glückspilze) haben alles andere als ein sorgenfreies Leben. Wenige von uns würden von sich behaupten, dass ihr Leben in jeder Hinsicht so verläuft, wie sie es gerne hätten, und selbst diese wenigen haben hin und wieder ihre Zweifel. Wir alle kennen unerfreuliche und unangenehme Situationen, in denen Menschen oder Dinge uns Sorgen reiten, die wir nicht erwartet und uns ganz sicher nicht wünscht haben. Was diese Widrigkeiten (oder »Schicklsschläge«, wie wir sie manchmal nennen) besonders l tig macht, ist die Tatsache, dass sie ohne Vorwarnung er uns hereinbrechen; wir rechnen nicht mit ihnen, d oft wollen wir einfach nicht wahrhaben, dass sie berstehen. Sie treffen uns, wie man sagt, »wie ein Blitz s heiterem Himmel« – also können wir keine Vorkehngen treffen und die Katastrophe abwenden, denn wer chnet schon bei strahlend blauem Himmel mit einem onnerschlag … Dass diese Schläge so plötzlich kommen, so unregelmäßig, dass sie die unangenehme Angewohnheit haben, aus jeder beliebigen Richtung aufzutauchen – all das bewirkt, dass sie unvorhersehbar, und dass wir ihnen schutzlos ausgeliefert sind. Solange Gefahren so überaus launisch und unberechenbar sind, sind wir für sie eine leichte Beute; es gibt wenig bis nichts, was wir tun können, um sie zu verhindern. Diese Aussichtslosigkeit ist beängstigend. Ungewissheit gebiert Angst. Kein Wunder, 139

dass wir immer wieder von einer Welt ohne Unfälle träumen. Einer geordneten Welt. Einer berechenbaren Welt. Keiner Welt mit Pokerface; auch wenn manche Philosophen, wie Gottfried Wilhelm Leibniz, völlig zu Recht darauf hingewiesen haben, dass eine »vollkommene Welt« nicht vollkommen wäre, wenn sie nicht ein gewisses Maß an Bösem enthielte, so sollte es doch begrenzt bleiben auf zuverlässig abgeschirmte, genauestens verzeichnete und streng bewachte Gehege, damit man weiß, was was ist, was wo ist und wann man damit rechnen muss, dass etwas passiert – und darauf vorbereitet sein kann, wenn es eintrifft. Kurz: Wir träumen von einer verlässlichen Welt, ner Welt, der wir trauen können. Einer sicheren Welt. Seit dem 16. Jahrhundert bezeichnet man solche äume gemeinhin als »Utopie«, ein Begriff, den wir Sir omas Morus verdanken. Er wurde in einer Zeit geägt, in der althergebrachte und vermeintlich zeitlose aditionen zu bröckeln begannen, in der überlieferte Sitt n und Gebräuche erste Anzeichen von Altersschwäche igten und Rituale sich als schäbig erwiesen, in der e Gewalt um sich griff (so zumindest erklärten sich die enschen die zahllosen ungewohnten Anforderungen d Vorgänge, die auch die bis dahin für allmächtig gehaltenen Mächte nicht in Schach halten konnten, weil sie zu widerspenstig und /oder schwer handhabbar waren, und zu mächtig und hartnäckig, als dass man sie auf althergebrachte und vermeintlich bewährte Weise hätte bezähmen können). Thomas Morus brachte seine Vision einer Welt ohne unvorhersehbare Bedrohungen in einer Zeit zu Papier, als das Improvisieren und das mit Risiken und Irrtümern behaftete Experimentieren bereits auf der Tagesordnung standen. 140

Thomas Morus wusste nur zu gut, dass sein Entwurf einer Welt ohne Unsicherheit und diffuse Ängste, mochte er auch den Rahmen für ein glückliches Leben beschreiben, nur ein Traum war. Er nannte den Entwurf »Utopia«, was auf zwei griechische Wörter verweist: eutopia, was »guter Ort«, und outopia, was »nirgendwo« bedeutet. Seine zahlreichen Schüler und Nachahmer dagegen gingen mit mehr Entschlossenheit oder weniger Umsicht zu Werke. Sie lebten bereits in einer Welt, in der die Menschen, zu Recht oder Unrecht und zum Besseren oder Schlechteren, davon überzeugt waren, dass sie die nötige Weisheit besaßen, um eine bessere, angstfreie Welt zu entwerfen, und die erforrliche Klugheit, um das unvernünftige »Ist« auf das Niau des von der Vernunft vorgegebenen »Soll« zu heben. iese Überzeugung verlieh ihnen den Mut und den nötin Unternehmungsgeist, beides in Angriff zu nehmen. In den folgenden Jahrhunderten war die moderne Welt ne optimistische Welt, eine Welt, die auf dem Weg nach topia war. Es war zugleich eine Welt, die davon überugt war, dass eine Gesellschaft ohne Utopie unerträgl h und folglich ein Leben ohne Utopie nicht lebenswert i . Im Zweifelsfall konnte man sich auf die Autorität der ügsten und am meisten bewunderten Köpfe der Zeit berufen. Zum Beispiel auf Oscar Wilde: »Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.«1 1

Wilde, Der Sozialismus, S. 35.

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Im Rückblick würde man den letzten Satz allerdings gern korrigieren – und zwar in zweifacher Hinsicht. Erstens war der Fortschritt nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr eine Jagd nach Utopien. Utopien spielten die Rolle einer Hasenattrappe, die von den Rennhunden eifrig gejagt, aber niemals gefangen wird. Und zweitens glich der sogenannte Fortschritt meist eher dem Bestreben, von gescheiterten Utopien wegzulaufen, denn dem Versuch, noch nicht erprobte Utopien einzuholen; einem Weglaufen von etwas, was »nicht so gut wie erwartet« war, keinem Eilen vom »Guten« zum »Besseren«; einem Bemühen, das weniger von der Hoffnung auf zukünftiges lück angetrieben wurde als von Misserfolgen der Verngenheit. Allzu oft erwies sich ein Zustand, der zur Verrklichung einer Utopie deklariert wurde, nicht als das sehnte Paradies, sondern als hässliche Karikatur eines unschtraums. Der mit Abstand wichtigste Grund, erut in See zu stechen, war nicht die Anziehungskraft desn, was man eventuell noch erreichen könnte, sondern der iderwille gegen das, was man erreicht hatte … Von der anderen Seite des Ärmelkanals ließ sich eine einung vernehmen, die gut zu der von Oscar Wilde sste. Sie stammte von einem weiteren klugen Mann, Anatole France: »Ohne die Utopien früherer Zeiten würde die Menschheit noch immer nackt und armselig in Höhlen wohnen. Es waren Anhänger einer Utopie, die den Umriss der ersten Stadt zeichneten […]. Aus kühnen Träumen wird segensreiche Realität. Die Utopie ist das grundlegende Prinzip allen Fortschritts und der Aufbruch in eine bessere Zukunft.« Zu der Zeit, als Anatole France geboren wurde, waren Utopien offensichtlich so fest im kollektiven Bewusstsein 142

und im Alltag verankert, dass ihm eine menschliche Existenz ohne Utopie nicht nur minderwertig und zutiefst fehlerhaft, sondern schlicht unvorstellbar erschien. Für Anatole France, wie auch für viele seiner Zeitgenossen, stand außer Frage, dass wir heute noch in Höhlen hausen würden, wenn nicht sogar die Höhlenmenschen schon Utopien gehabt hätten. Wie sonst wäre es möglich, hätte Anatole France gefragt, dass wir auf den Pariser Boulevards von Georges-Eugène Haussmann entlangspazieren? Es hätte nie eine »erste Stadt« gegeben, wenn ihr nicht die »Utopie einer Stadt« vorausgegangen wäre! Zu allen Zeiten haben Menschen ihre eigene Lebensweise auf dere Lebensformen projiziert, um sie zu verstehen – f r jene Generationen, die so erzogen und geprägt waren, ss sie sich von unerprobten Utopien leiten und von beits diskreditierten antreiben ließen, wäre eine solche age eine rein rhetorische gewesen und ihr Wahrheitshalt pleonastisch. Dennoch gilt – im Gegensatz zur Auffassung von natole France, die darauf beruhte, was unter seinen itgenossen als gesunder Menschenverstand galt –, dass topien gleichzeitig mit der Moderne das Licht der Welt blickten und nur im Klima der Moderne atmen und sich entfalten konnten. In erster Linie ist eine Utopie das Bild eines anderen Universums, das sich von dem unterscheidet, das wir kennen oder von dem wir gehört haben. Sie antizipiert außerdem ein Universum, das seinen Ursprung allein menschlicher Weisheit und Hingabe verdankt. Doch bis zum Anbruch der Moderne war die Vorstellung, dass Menschen die bestehende Welt durch eine andere ersetzen können – eine Welt, die vollkommen menschenge143

macht wäre –, dem menschlichen Denken weitgehend fremd. Die zermürbend monotone Selbstreproduktion vormoderner Formen menschlichen Lebens, in der Veränderungen so langsam vonstatten gingen, dass man sie kaum bemerkte, bot wenig Inspiration und noch weniger Anregung darüber nachzudenken, wie alternative Lebensweisen auf dieser Erde aussehen könnten, außer in Gestalt der Apokalypse und des Jüngsten Gerichts, die beide göttlichen Ursprungs sind. Um die menschliche Vorstellungskraft an das Reißbrett heranzuführen, an dem die ersten Utopien entworfen wurden, musste es zuchst zu einem beschleunigten Verfall der Fähigkeit r Welt der Menschen kommen, sich selbst zu reproduren – ein Verfall, der als Geburt der Moderne in die eschichtsbücher einging. Zwei Bedingungen mussten erfüllt sein, damit utopihe Träume das Licht der Welt erblicken konnten. Erst ns das überwältigende (wenn auch diffuse und vorerst ausgesprochene) Gefühl, dass die Welt aus den Fugen raten war und ohne Generalüberholung schwerlich eder in Ordnung gebracht werden konnte. Zweitens e Zuversicht, dass die Menschheit in der Lage war, dieser Aufgabe gerecht zu werden, der Glaube, dass »wir Menschen es schaffen können«, da wir schließlich mit der Vernunft begabt sind, herauszufinden, was auf der Welt schiefläuft und wie ihre kranken Teile ersetzt werden können, und da wir die Fähigkeit besitzen, die nötigen Werkzeuge und Waffen zu konstruieren, um die entsprechenden Pläne in die Tat umzusetzen. Kurz, Voraussetzung war die Zuversicht, dass die Welt unter der Regie des Menschen so verändert werden könnte, 144

dass sie zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse besser geeignet sein würde – wie auch immer diese Bedürfnisse beschaffen waren oder in der Zukunft beschaffen sein mochten. Man könnte sagen, dass die vormoderne Einstellung gegenüber der Welt der des Wildhüters glich, während sich die moderne Weltanschauung und der Umgang mit der Welt am ehesten mit der Metapher des Gärtners beschreiben lassen. Die Hauptaufgabe des Wildhüters ist es, das seiner Aufsicht unterstellte Land vor allen menschlichen Eingriffen zu schützen, um sozusagen das »natürliche leichgewicht« zu verteidigen und aufrechtzuerhalten, j e Inkarnation der unendlichen Weisheit Gottes oder r Natur. Zu diesem Zweck muss der Wildhüter von ilderern aufgestellte Fallen umgehend entdecken und brauchbar machen, sowie fremden, unbefugten Jägern n Zutritt verwehren, damit der Fortbestand des »nat rlichen Gleichgewichts« nicht gefährdet wird. Die Tät keit des Wildhüters beruht auf der Überzeugung, dass am besten ist, die Dinge sich selbst zu überlassen; in rmodernen Zeiten beruhte sie auf dem Glauben, die elt sei eine von Gott erschaffene Kette des Seins, in der jede Kreatur ihren rechtmäßigen und sinnvollen Platz hat, auch wenn der Verstand des Menschen nicht ausreicht, um die Weisheit, die Harmonie und die Ordnung des göttlichen Plans zu verstehen. Anders der Gärtner: Er geht davon aus, dass es ohne seine permanente Aufmerksamkeit und seinen Einsatz gar keine Ordnung auf der Welt gäbe (zumindest nicht in dem kleinen Teil der Welt, der seiner Aufsicht anvertraut ist). Der Gärtner weiß am besten, welche Arten von 145

Pflanzen auf dem von ihm bestellten Stück Land wachsen sollten und welche nicht. Er denkt sich zuerst eine sinnvolle Anordnung aus und sorgt dann dafür, dass diese Vorstellung auf das Land übertragen wird. Er zwingt dem Land seinen vorgefassten Plan auf, indem er das Wachstum der erwünschten Pflanzenarten fördert (in der Regel sind das die Pflanzen, die er selbst gesät oder angepflanzt hat), und alle anderen Pflanzen, die nunmehr als »Unkraut« gelten, herausreißt und vernichtet, weil ihre unerbetene und unerwünschte – unerwünschte, weil unerbetene – Anwesenheit nicht mit der Harmonie des Gesamtplanes in Einklang zu bringen ist. Gärtner sind demnach besonders leidenschaftliche und f hmännische (man möchte fast sagen: professionelle) höpfer von Utopien. Das Bild des Gärtners von der rfekten Harmonie, das zunächst als Blaupause in seim Kopf entsteht, ist das Ziel, an dem Gärten am Ende i mer ankommen, ein Sinnbild für die Art und Weise, e die Menschheit dem Postulat Oscar Wildes zufolge i mer in »Utopia« ankommt. Wenn heute immer wieder vom »Niedergang« oder m »Ende der Utopien« oder »dem Verschwinden der opischen Imaginationskraft« die Rede ist, und diese Schlagwörter oft genug in zeitgenössische Kontroversen eingestreut werden, dass sie sich im allgemeinen Bewusstsein einnisten und als selbstverständlich betrachtet werden, dann liegt das daran, dass die Haltung des Gärtners derzeit von der des Jägers abgelöst wird. Im Gegensatz zu den beiden Typen, die vorherrschten, bevor er auf den Plan trat, kümmert den Jäger das »Gleichgewicht der Dinge« herzlich wenig, ob es sich dabei nun um ein »natürliches« oder ein künstlich her146

gestelltes handelt. Jäger haben nur ein einziges Ziel: »Beute« zu machen, um ihre Jagdtaschen zu füllen. Sie kämen niemals auf den Gedanken, sich dafür zuständig zu fühlen, dass das Angebot an Wild in einem Wald nach (und trotz) ihrer Jagd wieder aufgestockt wird. Wenn alles Wild in einem Waldstück nach einer besonders einträglichen Jagd erlegt ist, wenden sich die Jäger einfach einem anderen, relativ unberührten Gebiet zu, in dem es noch von potentiellen Jagdtrophäen wimmelt. Nun könnte ihnen ja in den Sinn kommen, dass es irgendwann in ferner und unbestimmter Zukunft keine unberührten Wälder mehr geben könnte; aber selbst wenn ihnen der edanke käme, würden sie das nicht als drängendes oblem betrachten – und ganz sicher nicht als ihr Proem. Eine Gefahr, die so fern in der Zukunft liegt, wird hließlich kaum den Ertrag des aktuellen Beutezugs gef hrden, auch nicht des nächsten, so dass es doch gewiss inen Grund gibt, warum ich, nur ein Jäger unter vielen, er wir, nur eine Jagdgemeinschaft unter vielen, uns desegen Sorgen machen, geschweige denn etwas dagegen ternehmen sollten. Heutzutage sind wir alle Jäger, oder man sagt uns, dass r Jäger sein sollten, und ruft uns dazu auf beziehungsweise zwingt uns, uns wie Jäger zu verhalten. Tun wir das nicht, laufen wir Gefahr, von der Jagd ausgeschlossen oder gar (Gott bewahre!) unsererseits zu Freiwild degradiert zu werden. Und wenn wir uns umschauen, dann sehen wir in erster Linie andere einsame Jäger wie uns, oder Jäger, die in Rudeln jagen, wie wir selbst es gelegentlich versuchen. Wir müssten schon sehr lange suchen, wenn wir einen Gärtner ausfindig machen wollten, der sich eine vorbestimmte Harmonie jenseits seines eigenen 147

Gartenzauns vorstellt und sich dann daranmacht, sie umzusetzen (Sozialwissenschaftler diskutieren die Tatsache, dass es heute vergleichsweise wenig Gärtner gibt, dafür aber eine wachsende Zahl an Jägern, unter dem akademischen Begriff der »Individualisierung«). Wir finden ganz sicher nicht sehr viele Wildhüter, oder auch nur Jäger mit Überresten der Weltsicht des Wildhüters – und das ist der Hauptgrund, warum Menschen mit einem »ökologischen Gewissen« so alarmiert sind und nach Kräften versuchen, uns andere wachzurütteln (dieses langsame, aber stetige Aussterben der Wildhüter-Philosophie, in Verbindung mit dem Niedergang der Gärtnerriante, ist das, was Politiker als »Deregulierung« aneisen). an kann sich ausmalen, dass es in einer Welt, die überegend von Jägern bevölkert ist, wenig Raum für utopihe Überlegungen gibt; im Übrigen würde der Entwurf ner Utopie, sollte ein solcher zur Diskussion gestellt erden, von kaum jemandem ernst genommen wern. Wenn man also wüsste, wie man die Welt besser achen könnte, und wenn man sich diese Aufgabe ernstft stellte, dann wäre die eigentlich schwierige Frage: Wer verfügt über die nötigen Ressourcen und das nötige Durchsetzungsvermögen, um zu tun, was getan werden muss? In früheren Zeiten waren es die Regierungen souveräner Nationalstaaten, die über den entsprechenden Einfallsreichtum und die Entschlossenheit zum Handeln verfügten. Doch »Staaten haben«, wie Jacques Attali in »La voie humaine« feststellte, »ihren Einfluss darauf, wie die Dinge sich entwickeln, ebenso an die Globalisierungs148

kräfte verloren wie die Mittel, mit denen sie die Welt zu einem bestimmten Ziel führen oder eine Verteidigung gegen die verschiedenen Varianten der Angst organisieren könnten«.2 Und die »Globalisierungskräfte«, die den Nationalstaaten viele ihrer einstigen Kompetenzen entrissen haben, sind nicht gerade bekannt für Instinkte, Strategien oder Einstellungen, die für »Wildhüter« oder »Gärtner« typisch sind. Sie bevorzugen eher die Jagd und die Jäger. Insofern erscheint es durchaus angemessen, dass »Roget’s Thesaurus«, ein Nachschlagewerk für Jäger, das zu Recht für das sorgfältige Nachzeichnen von Veränderungen im Gebrauch von Wörtern bekannt ist, »utopisch« ittlerweile in unmittelbarer Nachbarschaft zu »wirklichitsfremd«, »phantastisch«, »fiktional«, »schimärisch«, nrealistisch«, »unvernünftig« und »irrational« auflistet. leben wir also tatsächlich das Ende der Utopien? Ich glaube, wenn die Utopie sprechen könnte und endrein so geistreich wäre wie Mark Twain, würde sie rmutlich darauf beharren, dass die Berichte von ihrem bleben ein wenig übertrieben seien … Und sie hätte en Grund dazu, so zu reden. »Google« meldet zum ichwort »Utopia« 4 400 000 Treffer (wenn Sie diese Zeil n lesen, sind es wahrscheinlich schon viel mehr); eine beeindruckende Zahl, selbst für die notorisch exzessiven Verhältnisse des Internets, die wohl kaum auf einen verwesenden Leichnam hindeutet, nicht einmal auf einen Körper, der in den letzten Zügen liegt. Aber sehen wir uns die aufgeführten Websites etwas genauer an. Die erste und wohl beeindruckendste infor-

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Attali, La voie humaine, S. 9.

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miert den geneigten Surfer: »Utopia ist mit mehr als 80 000 Mitspielern eines der größten kostenlosen, interaktiven Internetspiele der Welt.« Außerdem findet man, hier und da eingestreut, Einträge zur Geschichte utopischer Ideen und Hinweise auf Institutionen, die einschlägige Kurse anbieten, die sich vor allem an Liebhaber von Antiquitäten und Sammler von Kuriositäten richten. Die Mehrzahl dieser Einträge bezieht sich auf Thomas Morus selbst, den Urahn der ganzen Idee. Insgesamt stellen diese Websites jedoch eine Minderheit dar. Ich möchte nicht behaupten, dass ich alle 4 400 000 Links nachverfolgt hätte (ein derartiges Vorhaben wäre rmutlich das Utopischste unter allen utopischen Proj ten), aber nachdem ich mir eine statistisch vertretbare fallsstichprobe angesehen hatte, war mein Eindruck, ss der Begriff »Utopie« vor allem von Firmen aus n Bereichen Touristik, Innenarchitektur, Kosmetik und ode vereinnahmt worden ist. Eines haben diese Webes gemeinsam: Sie bieten alle individuelle Dienste an, e sich an Individuen wenden, die individuelle Bedürfsse befriedigen wollen oder eine individuelle Lösung f r individuelle Probleme suchen. Ein weiterer Eindruck, der sich bei mir eingestellt hat: In den seltenen Fällen, in denen auf solchen kommerziellen Websites das Wort »Fortschritt« auftaucht, bezieht es sich nicht mehr auf ein Vorwärtsdrängen. Es impliziert keine Jagd nach einem rasend schnellen Ziel mehr, sondern eine Bedrohung, der man nur mit Glück entkommen kann; es weckt das dringende Bedürfnis, vor der Katastrophe wegzulaufen, die einem im Nacken sitzt … »Utopia« bezeichnete ursprünglich ein begehrtes und fernes Traumziel, dem der Fortschritt am Ende all die150

jenigen näher bringen sollte, konnte und würde, die auf der Suche nach einer Welt waren, die den menschlichen Bedürfnissen besser gerecht würde. In zeitgenössischen Träumen dagegen scheint sich das Bild des »Fortschritts« vom Diskurs der gemeinsamen Optimierens zu dem des individuellen Überlebens verlagert zu haben. Fortschritt wird nicht mehr im Kontext eines Vorwärtsdrängens gedacht, sondern mit dem verzweifelten Versuch in Verbindung gebracht, im Rennen zu bleiben. Wer sich des Fortschritts bewusst ist, muss auf der Hut und ständig wachsam sein: Wenn wir hören, dass »die Zeit fortschreitet«, dann löst das Ängste aus, zurückgelassen zu wern, aus einem immer schneller fahrenden Zug zu fallen er auf der »Reise nach Jerusalem« in der nächsten unde keinen Stuhl zu ergattern. Wenn wir zum Beispiel l en, Brasilien sei »in diesem Winter das einzige Urlaubsl, das Sonne verspricht«, dann bedeutet das, dass wir im nächsten Winter tunlichst vermeiden müssen, dort getroffen zu werden, wo alle Sonnenhungrigen im letzt n Winter anzutreffen waren. Oder wir lesen, dass wir sere »Ponchos ablegen« müssen, die doch letztes Jahr modern waren, weil die Zeit nun einmal fortschreitet d jetzt die allgemeine Auffassung vorherrscht, dass man mit einem Poncho »aussieht wie ein Kamel«. Oder man teilt uns mit, dass man Nadelstreifenjacketts und T-Shirts – die letzte Saison ein »Muss« waren, mit dem man unbedingt gesehen werden musste – nicht mehr trägt, einfach, weil mittlerweile »jeder Nobody« damit herumläuft. Und so weiter und so fort. Die Zeit verrinnt, und es kommt darauf an, Schritt zu halten. Wenn man nicht untergehen will, muss man mitsurfen, das heißt, man muss so oft wie möglich Garderobe, Einrichtung, 151

Tapeten, Aussehen, Gewohnheiten – kurz, seine Identität – wechseln. Ich brauche wohl nicht eigens hinzuzufügen, dass diese neue Fixierung darauf, Dinge wegzuwerfen, abzulegen und loszuwerden, anstatt sie uns anzueignen, hervorragend zur Logik unserer auf Konsum ausgelegten Wirtschaft passt. Würden die Leute bei ihrer Kleidung, ihren Computern, Handys und Kosmetika von gestern bleiben, dann wäre das eine Katastrophe für ein Wirtschaftssystem, dessen Hauptsorge und die conditio sine qua non seines Fortbestehens ist, dass einmal verkaufte Produkte so schnell wie möglich als »Abfall« deklariert erden; einem Wirtschaftssystem, in dem Abfallbeseiting zu den innovativsten Industriezweigen zählt. Mehr und mehr wird daher die Flucht zum Lieblingsiel unserer Tage. Semantisch betrachtet ist die Flucht s genaue Gegenteil der Utopie, aber psychologisch i sie unter den gegebenen Umständen der einzige verf gbare Ersatz: In gewisser Weise ist sie sogar eine morne, aktualisierte, auf den neuesten Stand gebrachte rm der Utopie, die den Gegebenheiten unserer deregul rten, individualisierten Konsumgesellschaft angepasst orden ist. Niemand kann heute noch ernsthaft glauben, man könne die Welt zu einem lebenswerteren Ort machen; man kann nicht einmal den lebenswerten Ort, den man sich selbst vielleicht mühsam geschaffen hat, wirksam schützen. Wir werden die Unsicherheit nicht mehr los, egal, was wir tun. »Glück« zu haben bedeutet heute in allererster Linie, das »Unglück« auf Distanz zu halten. Was bleibt, um alle unsere Sorgen und Mühen zu absorbieren und den Großteil unserer Kräfte und Aufmerksam152

keit zu binden, ist der Kampf gegen das Verlieren: Man muss wenigstens versuchen, unter den Jägern zu bleiben, denn die einzige Alternative besteht darin, sich inmitten der Gejagten wiederzufinden. Wenn wir den Kampf gegen das Verlieren richtig und mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg führen möchten, dann müssen wir unsere ungeteilte Aufmerksamkeit sieben Tage die Woche und 24 Stunden am Tag darauf verwenden, und vor allem müssen wir in Bewegung bleiben – so schnell sein wie möglich … Der russisch-amerikanische Dichter Joseph Brodsky hat das Leben, das der Zwang zur Flucht in Gang gesetzt und befördert hat, anschaulich beschrieben. Das Schickl derjenigen, die man zu Verlierern abgestempelt hat, e Armen, die aus dem Konsumreigen ausgeschieden d, ist ein Leben, das von gelegentlichen Rebellionen, er mehr noch von Drogenabhängigkeit geprägt ist: enn ein Mensch sich Heroin in die Vene spritzt, so tut das im Prinzip aus dem gleichen Grund, aus dem Sie h ein Video kaufen«, sagte Brodsky im Juli 1989 vor udenten des Dartmouth College. Und über die Besitnden, zu denen die Studenten des Dartmouth College äter gerne gehören wollen, sagte er: »Sie werden langweilt sein von Ihrer Arbeit, Ihren Ehepartnern, Ihren Geliebten, von der Aussicht aus Ihrem Fenster, den Möbeln oder der Tapete in Ihrem Zimmer, von Ihren Gedanken, von sich selbst. Also werden Sie nach Fluchtmöglichkeiten suchen. Abgesehen von den selbstbezogenen Spielereien, die ich bereits erwähnt habe, werden Sie es vielleicht mit einem anderen Job, einer neuen Wohnung, einer anderen Firma, einem anderen Land, einem anderen Klima versuchen, Sie werden vielleicht Promiskuität, Alkohol, Reisen, Kochkurse, Drogen, Psychoana153

lyse ausprobieren […]. Vielleicht werden Sie all diese Dinge gleichzeitig tun, und eine Zeitlang könnte das funktionieren. Bis, ja, bis Sie eines Tages in einem Schlafzimmer mit neuer Tapete aufwachen, in einer neuen Familie, in einem anderen Staat und einem anderen Klima, inmitten eines Stapels von Rechnungen Ihres Reisebüros und Ihres Seelenklempners, doch mit dem gleichen schalen Gefühl, wenn das Tageslicht durch das Fenster in Ihr Zimmer dringt […].«3 Nach Auffassung von Andrzej Stasiuk, eines hervorragenden polnischen Romanciers und besonders scharfsinnigen Analytikers der Situation des modernen Menhen, ist in unseren Tagen »die Möglichkeit, jemand deres zu werden« der Ersatz für Konzepte wie Seelenil oder Erlösung, die heute von den meisten abgelehnt er geringgeschätzt werden. »Durch Anwendung verschiedener Techniken können r unsere Körper verändern und nach bestimmten Must n neu gestalten […]. Wenn man so durch die Hochnzmagazine blättert, bekommt man den Eindruck, ss sie im Grunde alle die gleiche Geschichte erzählen – er die Möglichkeiten, die eigene Persönlichkeit neu zu finden, angefangen bei Ernährung, Umgebung, Wohnung, bis hin zur Veränderung unserer Persönlichkeitsstruktur. Häufig wird für derartige Anleitungen der Deckname ›Sei du selbst‹ benutzt.«4 Dieser These stimmt auch Sławomir Mroz˙ ek zu, ein bekannter polnischer Autor, der viele Länder und Kul-

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Brodsky, Listening to Boredom, S. 12. Stasiuk, Tekturowy samolot, S. 58 f.

turen aus eigener Erfahrung kennt: »Wenn wir in früheren Zeiten unglücklich waren, dann gaben wir Gott die Schuld, der damals noch der Manager der Welt war; wir unterstellten, dass er die Geschäfte nicht ordentlich führe. Also haben wir ihn gefeuert und uns selbst als neue Geschäftsführer eingesetzt.« Allerdings, so Mroz˙ ek, ein entschiedener Freidenker, der Kleriker und alles Kirchliche hasst, liefen die Geschäfte auch unter der neuen Führung nicht besser. Denn wenn der Traum beziehungsweise die Hoffnung auf ein besseres Leben ausschließlich auf unser eigenes Ego ausgerichtet ist und sich darauf beschränkt, an unserem eigenen Körper oder unserer eigenen Seele rumzubasteln, dann »gibt es keine Grenze für unseren rgeiz und die Versuchung, dieses Ego immer weiter schwellen zu lassen, vor allem jedoch keine Grenzen akzeptieren […]. Man sagt mir: Erfinde dich selbst, twirf dein Leben selbst und führe es ganz so, wie du llst, in jedem Augenblick und von Anfang bis zum de! Aber kann ich einer solchen Aufgabe gerecht wern? Ohne Hilfe, ohne Ausprobieren und Anproben, ne Irrtümer und mehrere Anläufe, und vor allem: ne Zweifel?«5 An die Stelle des Schmerzes über eine allzu eingeschränkte Wahlfreiheit ist heute ein keineswegs geringerer Schmerz getreten – wobei der Schmerz jetzt dadurch ausgelöst wird, dass wir uns permanent entscheiden müssen, ohne Vertrauen auf bereits getroffene Entscheidungen und ohne Zuversicht, dass weitere Entscheidungen uns dem Ziel in irgendeiner Weise näher bringen werden.

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Mrozek, ˙ Małe listy, S. 101, 273.

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Mroz˙ ek vergleicht die Welt, in der wir leben, mit einem »Marktstand mit schicken Kleidern, der umringt ist von Menschen, die ihr Selbst suchen […]. Man kann die Kleider wechseln, sooft man will, also genießen die Suchenden eine herrliche Freiheit. […] Lass uns weiter nach unserem wahren Selbst suchen, das ist ein Heidenspaß – vorausgesetzt, dass wir das wahre Selbst niemals finden. Denn wenn wir es finden würden, wäre der Spaß zu Ende […].«6 Der Traum, dass man der Unsicherheit etwas von ihrem Schrecken nehmen und dem Glück Dauer verleihen kann, indem man das eigene Ich wechselt, und dass man s eigene Ich wechseln kann, indem man die Kleidung echselt, ist die »Utopie« der Jäger – eine »deregulierte«, rivatisierte« und »individualisierte« Version der früren Visionen von der guten Gesellschaft, einer Gesellhaft, die der Menschlichkeit ihrer Mitglieder zuträglich i . Jagen ist eine Vollzeitaufgabe, die reichlich Aufmerkmkeit und Energie verbraucht und wenig bis gar keine it für anderes lässt; dadurch wird die Aufmerksamkeit n der Endlosigkeit der Aufgabe abgelenkt, und der oment des Innehaltens, in dem man der Unmöglichkeit i s Auge sehen müsste, die Aufgabe jemals zu Ende zu bringen, wird ad calendas graecas verschoben. Wie Blaise Pascal schon vor Jahrhunderten mit prophetischem Weitblick erkannt hat, wollen die Menschen »durch irgendeine angenehme und neue Leidenschaft, die sie ausfüllt, oder auch durch das Spiel, die Jagd, irgendein anziehendes Schauspiel und schließlich durch jenes, was man Zer-

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Ebenda, S. 123.

streuungen nennt«, davon abgelenkt werden, darüber nachzudenken, wer sie eigentlich sind. Wir Menschen wollen der Notwendigkeit entfliehen, »an unsere unglückliche Lage« zu denken, und deshalb haben wir »die Jagd lieber als die Beute«. Der »Hase würde uns nicht vor dem Gedanken an den Tod und dem Elend bewahren« oder darüber nachzudenken, welche gewaltigen, unlösbaren Probleme unser aller Lage aufwirft, »die Jagd jedoch bewahrt uns davor«.7 Die Sache hat allerdings einen Haken: Wenn man einmal damit angefangen hat, wird das Jagen zu einem Zwang, einer Sucht, einer Obsession. Einen Hasen zu legen wäre eine Antiklimax; es würde die Aussicht, einer weiteren Jagd teilzunehmen, nur noch verführischer erscheinen lassen, hat man doch festgestellt, ss die Hoffnungen, die mit der Jagd einhergehen, das hönste (das einzig Schöne?) an der ganzen Sache war. ird der Hase erlegt, so kann man das Ende dieser Hoffngen erahnen – es sei denn, man plant für den folgenn Tag eine weitere Jagdpartie und macht sich gleich am chsten Morgen erneut auf. Ist das das Ende der Utopien? In einer Hinsicht ja, mlich insofern, als die Utopien der beginnenden Moderne einen Punkt anvisierten, an dem die Zeit zum Stillstand kommen würde, ja, an dem die Zeit als Geschichte aufhören würde zu existieren. Im Leben eines Jägers jedoch gibt es einen solchen Punkt nicht, an dem man sagen könnte, dass die Aufgabe erledigt, der Fall aufgeklärt, die Mission erfüllt wäre – so dass man sich jetzt »glück-

7

Pascal, Zerstreuung, S. 96 f.

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lich und zufrieden bis ans Ende seiner Tage« auf den Rest des Lebens freuen könnte. Hinzu kommt, dass die Aussicht auf ein Ende der Jagd in einer Gesellschaft von Jägern keineswegs verlockend, sondern bedrohlich wirkt – ist dieses Ende doch nur in Form der persönlichen Niederlage und der Exklusion vorstellbar. Die Jagdhörner werden auch in Zukunft den Beginn eines neuen Abenteuers ankündigen, das Bellen der Hunde wird weiterhin die süße Erinnerung an vergangene Jagdausflüge wachhalten, die anderen werden weiterjagen, und die allgemeine Spannung wird kein Ende nehmen … Nur ich werde danebenstehen, nicht ehr erwünscht und von den Freuden der anderen ausschlossen: nur ein passiver Beobachter auf der anderen ite des Zaunes, der bei dem Fest zusieht, aber nicht itfeiern darf oder kann, der den Anblick und die Geräuhe bestenfalls aus der Ferne genießen oder sich erzählen l sen kann. Wenn das ständige und fortgesetzte Jagen eine neue rm der Utopie ist, so ist sie – im Gegensatz zu den topien der Vergangenheit – eine Utopie ohne Ende. ach herkömmlichen Standards ist sie eine wahrlich zarre Utopie: Die Anziehungskraft der ursprünglichen Utopien beruhte auf ihrem Versprechen, allen Mühen ein Ende zu bereiten; die Utopie der Jäger ist der Traum von Mühen ohne Ende. Eine seltsame, unkonventionelle Utopie – aber nichtsdestotrotz eine Utopie, die den gleichen unerreichbaren Preis in Aussicht stellt wie alle anderen Utopien, nämlich die ultimative und radikale Lösung für alle menschlichen Probleme der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und das ultimative, radikale Heilmittel für alle Sorgen 158

und Mühen des menschlichen Daseins. Unkonventionell ist diese Utopie vor allem deshalb, weil sie das Land der Lösungen und Heilmittel aus der »Ferne« ins »Hier und Jetzt« geholt hat. Anstatt auf eine Utopie hin zu leben, bietet man Jägern die Möglichkeit, in einer Utopie zu leben. Für die Gärtner lag die Utopie am Ende des Weges; für die Jäger ist sie der Weg selbst. Gärtner stellten sich das Ende ihres Weges als nachträgliche Rechtfertigung der Utopie und als ihren endgültigen Triumph vor. Für Jäger kann das Ende ihres Weges nur in der endgültigen, schmachvollen Niederlage der gelebten Utopie bestehen. as das Ganze noch schlimmer machen würde: Es wäre gleich eine zutiefst persönliche Niederlage und ein hlagender Beweis für das eigene Scheitern. Da wenig gar keine Aussicht besteht, dass die anderen ihrerseits s Jagen aufgeben, kann sich die Nichtteilnahme an der f rtgesetzten Jagd nur wie die Schmach der eigenen klusion und damit (vermutlich) der eigenen Unzulängl hkeit anfühlen. Eine Utopie, die aus der verschwommenen »Ferne« in s unmittelbare »Hier und Jetzt« gerückt worden ist, ne Utopie, die gelebt wird, anstatt auf sie hin zu leben, ist gegen alle Prüfungen immun; sie ist praktisch unsterblich. Aber diese Unsterblichkeit ist mit der Gebrechlichkeit und Verwundbarkeit all derer erkauft worden, die sie verzaubert und dazu verführt hat, sie zu leben. Anders als die Utopien von einst gibt die Utopie der Jäger dem Leben keinen Sinn, weder einen echten noch einen vorgetäuschten. Sie dient lediglich dazu, die Fragen nach dem Sinn des Lebens aus den Köpfen der Lebenden zu vertreiben. Da sie das Leben in eine endlose Abfolge 159

von selbstbezogenen Handlungen verwandelt, von denen jede als Ouvertüre zur nächsten gelebt wird, bieten sich keine Gelegenheiten, über Sinn und Richtung des Ganzen nachzudenken. Wenn (falls) sich eine solche Gelegenheit schließlich bietet, nämlich in dem Augenblick, in dem man aus dem Jagdleben ausscheidet oder von ihm ausgeschlossen wird, dann kommt dieses Nachdenken in der Regel zu spät, als dass es sich auf die Lebensführung auswirken würde – die eigene ebenso wenig wie die der anderen –, und somit auch zu spät, um sich gegen seine derzeitige Form aufzulehnen und seine Richtigkeit wirksam in Zweifel zu ziehen. ist schwierig, nein, unmöglich, dieses unvollendete, i provisierte Stück, das seine Handlungsstränge erst ch und nach entwickelt, auf halbem Wege zusammenfassen – ein Stück, bei dem wir alle abwechselnd oder ichzeitig Statisten, Requisiten und handelnde Akteure d. Aber niemand kann für sich in Anspruch nehen, die Dilemmata der Mitspieler besser auf den Punkt bringen, als es Italo Calvino bereits getan und in ie unsichtbaren Städte« Marco Polo in den Mund gel t hat: »Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, das erst noch kommen wird. Wenn es eine gibt, ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden. Es gibt zwei Arten, nicht unter ihr zu leiden. Die erste fällt vielen leicht: die Hölle zu akzeptieren und so sehr Teil von ihr zu werden, dass man sie nicht mehr sieht. Die zweite ist riskant und erfordert ständige Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft: zu suchen und erkennen zu lernen, wer und was inmitten 160

der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Dauer und Raum zu geben.«8 Man kann natürlich darüber streiten, ob sich das Leben in einer Gesellschaft von Jägern wie ein Leben in der Hölle anfühlt; die meisten erfahrenen Jäger werden sagen, dass es durchaus seine angenehmen Seiten hat, ein Jäger unter Jägern zu sein … Aber kaum jemand wird bestreiten, dass viele die Art wählen, die »vielen leicht« fällt, und damit »so sehr Teil von ihr werden«, dass sie sich über ihre bizarre Logik nicht mehr wundern und über ihre allgegenwärtigen, penetranten und in den meisten Fällen unrealistischen Ansprüche nicht mehr ärgern. enso außer Zweifel steht, dass Männer und Frauen, e darum ringen, herauszufinden, »wer und was inmitt n der Hölle nicht Hölle ist«, mit Druck von allen Seit n konfrontiert sein werden, der sie dazu bringen soll, h mit dem abzufinden, was sie beharrlich eine »Hölle« nnen.

8

Calvino, Die unsichtbaren Städte, S. 174.

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Zum Autor:

Zygmunt Bauman ist Professor emeritus für Soziologie an der Universität Leeds. 1992 erhielt er den Amalfi-Preis für Soziologie und wurde 1998 mit dem Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet. Sein umfangreiches, auch in deutscher Sprache vorliegendes Werk beschäftigt sich mit der Ambivalenz der Moderne, der Postmoderne sowie den Auswirkungen der Globalisierung. Zuletzt erschien in der Hamburger Edition »Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne«.

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